Bürgertum und Nationalismus. Betrachtungen zur deutschen Kultur 3959354851, 9783959354851

Durch den technischen Fortschritt bedingt, versprach das 19. Jahrhundert durchgreifende Rationalität der Lebens- und Gem

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Bürgertum und Nationalismus. Betrachtungen zur deutschen Kultur
 3959354851, 9783959354851

Table of contents :
Bürgertum und Nationalismus Betrachtungen zur deutschen Kultur
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kapitel 1 Bürgertum und Nationalismus – Anmerkungen zum Kulturverständnis des Bürgertums
Kapitel 2 Das Faustische Prinzip und der tiefe Fall
Zwischenbetrachtung: Völkischer Nationalismus und beginnende Götterdämmerung
Kapitel 3 Von der Höhe und dem Profanen:Das Bürgerliche und das Genialische
Kapitel 3.1 Bildungsbürgertum und Besitzbürgertum – Kulturkritische Anmerkungen zu Fontanes JennyTreibel und Thomas Manns Buddenbrooks
Kapitel 3.2 Utopie und Regression
Kapitel 3.3 Zum Verfall des Bildungsbürgertums
Kapitel 4 Stefan George – Ein heimlicher König im Neuen Reich
Exkurs: Kosmiker und Boheme – Kulissenzauber im Wahnmoching –
Kapitel 5 Welt erhellen und erträumen
Zwischenbetrachtung: Romantische Weltsichten und Nationalismus
Kapitel 6 Die Idylle einer repressiven Bürgerlichkeit –Träume vom Besonderen
Kapitel 7 Bauernmythos, Volkskunde und bürgerliche Regression – von Volkskörper und Mutterboden
Kapitel 7.1 Volkskunde als pädagogische Quellenwissenschaft und Gemeinschaftsideologie
Kapitel 7.2 Bewältigungskultur eines unsicheren Daseins – von der Geborgenheit der Idylle
Kapitel 8 Historismus als Gegenwart – Richard Wagners Meistersinger und von den Tröstungen des Gestrigen
Kapitel 8.1 Protestantischer Ernst und steingewordene Gegenwart
Kapitel 9 Nationalismus und völkischer Rassismus
Kapitel 9.1 Die Psychopathologie in der Rassentheorie Gobineaus
Kapitel 9.2 Psychologische Aspekte des Rassismus
Kapitel 9.3 Rosenbergs „Rassenmythos“ des 20. Jahrhunderts
Kapitel 9.4 Rassismus und Antisemitismus als affirmative Ideologie der Entfremdung
Kapitel 9.5 Am Vorabend des Nationalsozialismus – Rassestaat und Volksgemeinschaft
Kapitel 10 Verherrlichung des Krieges und der Kampf gegen Humanität und Vernunft
Kapitel 11 Spätbürgerlicher Bildungsbegriff, Pathos und Herrschaft
Exkurs: Albert Speer ein deutscher Bildungsbürger von innen betrachtet oder die technizistische Unmoral
Kapitel 12 Nationalismus versus Aufklärung und Emanzipation
Kapitel 13 Der „ewige“ Untertan
Kapitel 14 Kriegsbegeisterung und „Heiliges Vaterland“
Kapitel 15 Von den Wirrungen bürgerlichen Selbstverständnisses
Kapitel 16 Untertan, autoritärer Charakter und Massenmörder
Exkurs: Der Pedant des Schreckens: Facetten einer Existenz zwischen Massenmord, Germanenmythos und Esoterik
Kapitel 17 Die Ernüchterung der Zivilisation und von der Nähe des Gewesenen
Kapitel 18 Geschichte im Widerstreit von Funktionalismus oder Intentionalismus
Kapitel 18.1 Revisionismus als Versuch einer „Vergangenheitsbewältigung“
Kapitel 18.2 Die restaurative Rolle nach Rückwärts als Zukunftskonzept
Kapitel 19 Ausblicke und Hoffnungen
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Der Autor

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Foerster, Manfred J.: Bürgertum und Nationalismus. Betrachtungen zur deutschen Kultur, Hamburg, disserta Verlag, 2018 Buch-ISBN: 978-3-95935-485-1 PDF-eBook-ISBN: 978-3-95935-486-8 Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2018 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden und die Diplomica Verlag GmbH, die Autoren oder Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für evtl. verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Alle Rechte vorbehalten © disserta Verlag, Imprint der Diplomica Verlag GmbH Hermannstal 119k, 22119 Hamburg http://www.disserta-verlag.de, Hamburg 2018 Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis Einleitung .......................................................................................................... 7 Kapitel 1 Bürgertum und Nationalismus – Anmerkungen zum Kulturverständnis des Bürgertums ............................................ 12 Kapitel 2 Das Faustische Prinzip und der tiefe Fall .................................. 20 Zwischenbetrachtung: Völkischer Nationalismus und beginnende Götterdämmerung ....................................................................... 26 Kapitel 3 Von der Höhe und dem Profanen: Das Bürgerliche und das Genialische ............................................................................. 32 Exkurs: Kosmiker und Boheme – Kulissenzauber im Wahnmoching – ....... 82 Kapitel 4 Stefan George – Ein heimlicher König im Neuen Reich .......... 87 Kapitel 5 Welt erhellen und erträumen ...................................................... 98 Zwischenbetrachtung: Romantische Weltsichten und Nationalismus ....... 115 Kapitel 6 Die Idylle einer repressiven Bürgerlichkeit – Träume vom Besonderen ......................................................................... 121 Kapitel 7 Bauernmythos, Volkskunde und bürgerliche Regression – von Volkskörper und Mutterboden ......................................... 131 Kapitel 8 Historismus als Gegenwart – Richard Wagners Meistersinger und von den Tröstungen des Gestrigen ........... 163 Kapitel 9 Nationalismus und völkischer Rassismus ................................ 180 Kapitel 10 Verherrlichung des Krieges und der Kampf gegen Humanität und Vernunft .......................................................... 213 Kapitel 11 Spätbürgerlicher Bildungsbegriff, Pathos und Herrschaft ... 229 Exkurs: Albert Speer ein deutscher Bildungsbürger von innen betrachtet oder die technizistische Unmoral ............................................... 241 Kapitel 12 Nationalismus versus Aufklärung und Emanzipation ........... 275 Kapitel 13 Der „ewige“ Untertan ................................................................ 282 Kapitel 14 Kriegsbegeisterung und „Heiliges Vaterland“ ........................ 292

Kapitel 15 Von den Wirrungen bürgerlichen Selbstverständnisses ........ 298 Kapitel 16 Untertan, autoritärer Charakter und Massenmörder ........... 306 Exkurs: Der Pedant des Schreckens: Facetten einer Existenz zwischen Massenmord, Germanenmythos und Esoterik .......................... 313 Kapitel 17 Die Ernüchterung der Zivilisation und von der Nähe des Gewesenen................................................................................... 331 Kapitel 18 Geschichte im Widerstreit von Funktionalismus oder Intentionalismus ......................................................................... 338 Kapitel 19 Ausblicke und Hoffnungen........................................................ 353 Anmerkungen................................................................................................. 363 Literaturverzeichnis ...................................................................................... 386 Der Autor ...................................................................................................... 399

Einleitung In dieser Abhandlung soll der Leser auf eine vergleichende Zeitreise mitgenommen werden, die den Versuch unternimmt historische Phänomene, die zur Verheerung ziviler Umgangsformen beigetragen haben aufzuzeigen und mit der Gegenwart in Beziehung zu setzen. Deren Wurzeln liegen in spezifischen kulturgeschichtlichen Entwicklungen des deutschen Bürgertums, die insbesondere auf dessen politisches Verständnis eingewirkt haben. In besonders verheerender Weise hat das völkisch-nationale Denken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu beigetragen, die Moralvorstellungen der Aufklärung und des deutschen Idealismus zu zerstören. Ein überheblicher und zugleich fanatischer Nationalismus, der unter der Herrschaft des Nationalsozialismus mörderische Dimensionen annahm, hat das Grundvertrauen in die allmähliche aber unaufhaltsame Besserung der menschlichen Gesellschaft schwer erschüttert. Jene Ideenformationen, die zum Nationalsozialismus hinführten kamen aus den groß- und kleinbürgerlichen Milieus des wilhelminischen Obrigkeitsstaates. Dort wurden sie rezepiert und weiterverbreitet und somit bis in die höchsten Bildungskreise gesellschaftsfähig gemacht. Insofern waren sie Ausdruck eines allmählichen Zerfalls bürgerlicher Kultur im 19. Jahrhundert. Die Visionen der klassischen Bildung, die sich über die Aufklärung im deutschen Bildungswesen fortsetzte, blieben spurenlos und Gottfried Ephraim Lessings Appelle an die Humanität schienen vergeblich gewesen zu sein. Das, was in die Gegenwart hineinreicht ist, daß die weit ältere Erkenntnis der ständigen Bedrohtheit aller zivilisierten Anstrengungen zur Gewißheit geworden ist. Mehr als die sichtbaren materiellen und geopolitischen Folgen hat ein verheerender Nationalismus – und in seinem Gefolge das Dritte Reich – das lange herrschende moralische Verständnis und die Verbindlichkeit ethischer Normensysteme erschüttert. Vor dem Hintergrund dieser historischen Beben, die ein chauvinistischer Nationalismus ausgelöst hat, müssen daher patriotische Gesinnungen, verbunden mit Forderungen nach einer partikularistischen Leitkultur, mehr als kritisch betrachtet werden. Obgleich die deutsche Gegenwart eine neue Geschichte ist, die ihren Anfang mit dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ nahm, so sind dennoch Kontinuitäten, teils unreflektiert und verdrängt und teils unbewußt wirksam, deren Wurzeln in den kollektiven Zeiterscheinungen einer verspäteten, und immer noch mit einem Minderwertigkeitskomplex behafteten Nation zu liegen scheinen und der sich in einer fremdenfeindlichen Einstellung in Kreisen der Bevölkerung und teils verborgen in politischen Haltungen bemerkbar macht. Auch hierin besteht eine gewisse historische Kontinuität, die ihre Wurzeln in den unseligen Ideenformationen des 19. und 20. Jahrhunderts hat. Deren Ideologien und verborgenen Mentalitäten, die den unterschiedlichen Epochen des damaligen Deutschen Reiches zugrunde lagen und gesellschaftliche und 7

politische Verwerfungen auslösten, wirken nach, wenngleich oftmals als Abwehr gegen alles Fremde. So wird der Begriff des Nationalismus und das, was sich dahinter an Sehnsüchten nach Geborgenheit und Ängsten vor fremd erscheinenden Kultureinflüssen verbirgt, zum Zwecke der Restaurierung eines regressiv besetzten Begriffes im verschleiernden Gewande der „Leitkultur“ und eines scheinbar „positiven Patriotismus“ als etwas in die Zukunft weisendes gewendet. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion erhebt sich sogleich die Frage, ob wir uns aufgrund unserer Vergangenheit überhaupt noch Patriotismus leisten sollten, oder wir statt dessen nicht besser daran täten, europäisch und kosmopolitisch zu denken. Nach einer Phase der nationalen Bescheidenheit, die aufgrund des Zusammenbruches des „Dritten Reiches“ nach 1945 die Felder der bundesdeutschen Politik bestimmten und vor allem in der Außenpolitik jenem martialischen und imperialem Erscheinungsbild, welches die Deutschen seit Generationen zuvor auf der Weltbühne dargestellt hatten, widersprachen, steht zu befürchten, daß sich unter den gegenwärtigen Bedingungen von Migrationsproblemen sowie fundamentalistischen Tendenzen längst überwunden geglaubte Irrationalismen in den gesellschaftlichen Diskurs einschleichen. Gestützt wird diese Vermutung durch ein zunehmendes Anwachsen des offenen und verborgenen Rechtsradikalismus, der allerdings kein ausschließlich ostdeutsches Phänomen ist. So bewegt sich der empirische Anteil rassistischer und fremdenfeindlicher Einstellungen in der Bevölkerung laut Untersuchungen, die über längere Zeiträume durchgeführt worden sind, ständig um die 23%, mit steigender Tendenz. Überdies wird der Ruf nach einer Entsorgung der Vergangenheit immer lauter, der sich mitunter auch hinter dem Versuch verbirgt, die nationalsozialistischen Verbrechen des Völkermordes zu historisieren, um ihren singulären Charakter abzustreiten. Eine höchst umstrittene Vorgehensweise, das moralische und materielle Ausmaß dieser Verbrechen zu relativieren und die vor allem durch die Position des Historikers Ernst Nolte im sogenannten Historikerstreit in den späten 80er Jahren zum Ausdruck gebracht wurde. Ein säkularisierter Nationalismusbegriff versteckt sich hinter den unverhohlenen Forderungen nach Leitkultur und Patriotismus, und der Ansicht, daß der Nationalsozialismus eine „bedauerliche Entgleisung der Geschichte“ gewesen sei1 und man dem wiederentdeckten Nationalbewußtsein am Besten dadurch diene, daß man diese Periode der deutschen Geschichte ausklammere und statt dessen sich auf diejenigen Traditionen beziehen sollte, die vor dem „Dritten Reich“ die kulturellen Leistungen der Nation geprägt haben. Dabei wird nur allzu leicht übersehen, daß hierzu eben auch jene unseligen Mentalitäten und Ideologien gehören, welche die deutschen Diktaturen in beiden deutschen Staaten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg erst ermöglichten. Jene Traditionen aber, auf die sich die Verdrängungsbefürworter gerne berufen, weisen auf eine lange und teils elende deutsche Geistesgeschichte hin und 8

haben stets dazu beigetragen, daß sich ein aufgeklärtes und selbstbewußtes Bürgertum nicht entfalten konnte. Dies wurde unter anderem dadurch verhindert, daß ganze Generationen von Universitätslehrern, schriftstellernden Pseudopropheten und vaterländischen Vereinsvorsitzenden nicht nur dem deutschen Untertanengeist und einer pseudoreligiösen Vaterlandsverehrung zusprachen, sondern auch zu der beispiellosen Verrohung humaner Werte, der Korrumpierung sittlicher Maßstäbe und einem omnipotenten Herrenmenschentum beigetragen haben und es nur eines mächtigen Wortführers bedurfte, um den Ideen und Prospekten zerstörerische Taten folgen zu lassen. Und nach wie vor, scheint die Emanzipation des Bürgers, oder genauer gesagt, der Emanzipation einer selbstbewußten Zivilgesellschaft kein bedeutsames Thema der Gegenwart zu sein, wie es auch in der Vergangenheit keines war, mit Ausnahme in der kurzen Phase der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt. Der Ruf nach „mehr Demokratie wagen“, ist unter den spar- und ordnungspolitischen Sachzwängen einer nur noch verwaltenden Politik untergegangen. Insofern drängt sich immer mehr der Eindruck auf, daß die Politik unter den gegenwärtigen Bedingungen außerstande ist, den Bestand einer Zivilgesellschaft in der Gegenwart und für die Zukunft zu sichern, wozu neben politischer Mündigkeit auch soziale Gerechtigkeit gehört um den inneren Frieden einer menschlichen Gemeinschaft auf Dauer zu erhalten. Da dies aber nach wie vor im Argen liegt, verfehlt sie eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Denn vornehmste Aufgabe der Politik in einer demokratischen Gesellschaft ist, Hannah Arendt zufolge, der Emanzipation des Menschen den Weg zu ebnen, da ansonsten der Bestand einer Zivilgesellschaft genau so gefährdet wird, wie die Menschheit durch die Atombombe. Da aber ein derartiger hoher Anspruch an die Politik offensichtlich nicht mehr zu erfüllen ist, kommen einer entzauberten Alltagspolitik die Gespensterdebatten um Leitkultur und Patriotismus gelegen, lenken sie doch von den tatsächlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen ab. Aus psychohistoriographischer Sicht ist festzustellen, daß sich unter der kollektiven Wucht eines hemmungslosen Nationalismus, welcher unter anderem auch das Ergebnis einer regressiven Erziehung und Sozialisation war, jene devote Mentalität entfalten konnte, die eine der wesentlichen Erscheinungsformen des autoritären Charakters darstellt, wie er aufgrund einschlägiger Untersuchungen von Theodor W.Adorno u.a. seinerzeit in den USA definiert wurde. In den Biographien zahlreicher hochrangiger NS-Täter läßt sich diese Charakterstruktur nachweisen. Indessen sind die Auswirkungen solcher subjektiver Deformationen sowie die Taten welche durch sie hervorgebracht wurden, nicht alleine aus der persönlichen Veranlagung dieser Täter zu erklären. Es bedurfte daher gesellschaftlicher und politischer Voraussetzungen und eines entsprechenden ideologischen und pervertierten moralischen Bezugsrahmens, um solche Verbrechen, zu ermöglichen. Dieser Bezugsrahmen entwickelte sich mittels tief in der Gesellschaft verankerten 9

völkisch-nationalen Traditionen, die zu einem allmählichen Zerfall humanitärer Gesinnungen führten. Somit gehören die Veranlagungen zum autoritären Charakter und deren spezifische gesellschaftlichen Voraussetzungen zu den Elementen einer totalitären Herrschaft, wie wir sie im „Dritten Reich“ erlebt haben. Am extremen Beispiel Himmlers wird deutlich, daß ganz normale bürgerliche Gewohnheiten ausreichen, wenn auch mitunter verschroben anmutend, um unter den Bedingungen des Totalitarismus aus Biedermännern Verbrecher entstehen zu lassen. Nachdem diese ernüchternde Erkenntnis Gewißheit wurde, war das Erstaunen darüber um so größer, daß es hierzu nicht psychopathologischer Monster aus den Untiefen des menschlichen Charakters bedurfte, wie vielfach nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches angenommen wurde. Vielmehr war es die platte Normalität, die in Menschen wie Himmler und Höß und zahlreichen anderen Nazitätern zum Vorschein kam. Die weiteren Ausführungen lassen die Vermutung aufkommen, daß es die typischen deutschen Kollektiveigenschaften sind, die zum historischen Erscheinungsbild des „ewigen“ Untertanen und dessen Neigungen zu totalitären Systemen geführt haben. Indessen zeigen auch andere geschichtliche Erfahrungen, daß es ebenso anders gelagerte Voraussetzungen sein können, welche diese Anfälligkeiten bewirken und die nicht ausschließlich dem deutschen „Kollektivcharakter“ geschuldet sind. Der blinde Hunger nach orientierenden Gewißheiten basiert nur zum Teil auf jenen eigentümlichen Merkmalen, die neben anderen, den totalitären Drang auslösen. Hierbei muß offen bleiben, ob diesem Drang überhaupt zu widerstehen ist, da er einer anthropologischen Bereitschaft zur Reduzierung von Komplexität entgegenkommt und nach einfachen Lösungen Ausschau hält. Dies allein kann jedoch nur durch die Menschen selbst beantwortet werden, die, neben aller unvermeidlichen Fremdbestimmung, immer auch Teil und Träger ihrer Geschichte sind. Die vorliegenden Ausführungen beanspruchen nicht eine umfassende systematische Darstellung der historischen Entwicklung der bürgerlichen Kultur zu einem aggressiven und übertriebenen Nationalismus, der schließlich im Nationalsozialismus endete. Es sollen lediglich verschiedene Erscheinungsformen und Wirkungsweisen, die sich im kulturellen Kontext bemerkbar gemacht haben und die bürgerliche Zivilgesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert beeinflußten, aufgezeigt werden. Heinrich Mann hat in seinem Roman Der Untertan, die sozialpsychologische Übereinstimmung zwischen einem autoritär angepaßten und zugleich entmündigten Individuum und einer rigiden Gesellschaftsstruktur anschaulich beschrieben. In Albert Speers „technizistischer Unmoral“ (Fest) treffen wir auf den Prototyp des unpolitischen und moralischen Angelegenheiten gegenüber neutralen Technokraten der Macht 10

In der vorliegenden Charakterstudie über Himmler ,den Pedanten des Schreckens, offenbart sich der perverseste Typus des deutschen Untertanen, der jemals politischen Einfluß ausgeübt hat und der wie kaum ein anderer, skrupelloses Machtstreben mit völkisch romantischen Schwärmereien zu verbinden wußte. Sich mit ihm zu beschäftigen, rechtfertigt seine personale Banalität, die aus der „Mitte der Gesellschaft“ kommt und nicht dem Monströsen eines im Grunde abnormalen Charakters geschuldet ist. Auch er ist, wie zahlreiche andere, ein Beispiel für ein moralisch und sittlich korrumpiertes Bürgertum. Die einzelnen Kapitel entbehren eines systematischen Zusammenhanges. Dieser war auch nicht beabsichtigt. Sie verstehen sich als herausragende Aspekte einer vielschichtigen Topographie der Kultur des Deutschen Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert.

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Kapitel 1 Bürgertum und Nationalismus – Anmerkungen zum Kulturverständnis des Bürgertums Anmerkungen zum Kulturverständnis des Bürgertums. Das Leben als Kunst, Literatur und in Schönheit. Der ästhetische Schein. Napoleon der große „Magnetiseur“. Enthemmung des Subjekts. Rückzug in romantische Weltsichten. Die Natur als Welterlebnis. Der Mensch wird zum Maß aller Dinge. Nationalismus als Perspektive der Zukunft. Hoffnung auf nationale Größe und die Ernüchterung der Wirklichkeit. Politische Ohnmacht und Überschreiten der Horizonte. Der Kampf als Lebensentwurf. „Eines mag diese Geschichte uns zu Gemüte führen: daß es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das Gute im Unglück, in Schuld und Untergang“ (Thomas Mann: Deutschland und die Deutschen, Oktober 1945) Im Mittelpunkt des bürgerlichen Welt- und Selbstverständnisses im 19. Jahrhundert standen Bildung und Respekt vor den Wissenschaften im Zeichen der Klassik und als Ergebnis der Aufklärung. Einerseits versuchte man aus dem eigenen Verständnis heraus, die Welt zu erschließen, andererseits war man einem universalen Wertekanon von Moral, Sitte und Konventionen verhaftet. Dem lag das klassische humanistische Bildungsideal zugrunde. Der Bildungsbürger besaß ein enges Verhältnis zur ästhetischen Kultur: Kunst, Literatur, Musik. Allerdings konnte sich das deutsche Bildungsverständnis nicht auf die Grundhaltung einer politischen Mündigkeit stützen, sondern bezog sich auf eine kulturelle Sphäre, in der jenseits von Emanzipation, mannigfaltige Bildungsinhalte das gesellschaftliche Leben dominierten. Bildung diente daher in erster Linie eben nicht einer demokratischen Erziehung, die als Ideal den politisch emanzipierten Bürger in einer offenen Gesellschaft vor Augen hatte, sondern der Individualisierung und Selbstverwirklichung des Subjekts inmitten klassischer und ideeller Bildungsinhalte, die im Großen und Ganzen ohne politischen Bezug blieben. Und er sollte auch nicht hierdurch zu einem politisch mündigen Bürger werden. Andererseits führten derartige innergesellschaftlichen Konstellationen dazu, dem Ich-Bewußtsein einen ungeheuren Spielraum seiner Verwirklichung einzuräumen, zumal die Erfahrung gezeigt hatte, daß mit Napoleon Bonaparte, dem „Ich-Kometen“ 1 und großen „Magnetiseur“, der sich über alle Konventionen erhoben hatte um nach seinem Willen Politik zu machen, dem Ich keinerlei Grenzen gesetzt sind. In der romantischen Phantasie konnten die Grenzen konventioneller Moral und Sitte 12

überwunden werden. Napoleon hatte der Welt gezeigt, wozu der Wille zur Macht eines einzelnen ausreicht um den gesamten europäischen Kosmos auf den Kopf zu stellen und die bisherigen Wertordnungen zu verwerfen. Ein enthemmtes Ich-Bewußtsein konnte sich in Anlehnung an den großen Korsen in unterschiedlichen Dimensionen entfalten. Zum einen schuf es einen impressionistischen Raum romantischer, innengeleiteter Erfahrungen, die Welt so zu sehen, wie es die eigene Phantasie gestattete. Zum Anderen aber expandierte dieses Bewußtsein über seine eigenen Grenzen hinweg und dasjenige, was vorher noch Phantasie war, stellte sich im Zuge eines aufkommenden Biologismus nunmehr als anthropologisches Programm oder politische Mission heraus. Der Weg von der romantischen Phantasie bis zu den Vorstellungen über einen neuen Menschentypus, den der politische Totalitarismus des 20. Jahrhunderts so dringend benötigte, war so weit nicht, wie die Romantiker ursprünglich ahnen konnten. Rüdiger Safranski zufolge trug Napoleons kometenhafter Aufstieg als zeitweise beherrschende politische Kraft in Europa dazu bei, dem romantischen Denken Auftrieb zu verschaffen, da hierdurch dem subjektiven Geist keinerlei Grenzen seiner Vorstellungskraft und Phantasie auferlegt wurden.2 Freilich, Napoleon überschritt die subjektiven Grenzen eines romantischen Bewußtseins, welches noch in der Phantasie verweilte; er expandierte vielmehr sein Ich in die Weiten des politischen Raumes. Durch ihn wurde alles machbar, was sich Machttrieb und Herrschaftsambitionen eines enthemmten Ichs nur vorstellen konnte. Im Zuge der Enthemmung des romantischen Bewußtseins unter dem machtpolitischen Einfluß den der große Korse der staunenden Welt hinterlassen konnte, überschritt das romantische Denken seine engen subjektivistischen Grenzen. Nur den eigenen Tiefen zu folgen, sich auf die Abstiege ins eigene Zentrum zu verlassen, bei der die Vernunft ins Taumeln geriet, konnte jedoch auf Dauer keine Antworten auf die drängenden Fragen liefern. Vieles was außerhalb des eigenen Selbst lag, blieb unsichtbar und entzog sich dem subjektiven Handlungskreis. Die selbstgeschaffenen romantischen Bilder waren nicht dazu geschaffen, die Impressionen, die sie entworfen hatten, zu überschreiten, oder sie in die gesellschaftliche Wirklichkeit zu verlängern. Auf die profanen Probleme, mit denen das Bürgertum zu kämpfen hatte, über die mangelnde Emanzipation bis hin zu den sozialen Ungleichheiten, wußten auch die romantischen Götter keine Lösungen anzubieten. Auf der Suche nach Grenzüberschreitungen konnte man endlich den subjektiven Horizont impressionistischer Weltbetrachtungen verlassen und sich den großen, vermeintlich brennenden Fragen menschlicher Existenz zuwenden. Es genügte nicht mehr die göttliche Schöpfung in romantischer Verzückung zu bestaunen, sondern vielmehr versuchte man selber die Rolle eines Gestalters des Universums zu übernehmen. Die Steigerung dieses romantischen Enthusiasmus verkörperte sich in der fiktiven Gestalt des Alban von E. T. A. Hoffmann, der die Welt nur noch als einzige öde Finsternis sah, in der er schalten und walten 13

konnte wie es ihm beliebte. Weltenlenker und Weltzerstörer zugleich, Erschaffer neuer Gesetze und Regeln, Konstrukteur eines neuen Menschentypus, den die völkischen Nationalisten einige Jahrzehnte später herbeisehnten. Über die Prämisse der Sinngebung des Lebens setzte sich Alban rücksichtslos hinweg, für ihn zählte nur die Lust an der Macht. Selbst ein so kritischer Denker wie Nietzsche erlag am Ende seines wachen Lebens den Gewalt- und Vernichtungsphantasien eines enthemmten Subjektivismus. Er sah es als eine der wesentlichen Aufgaben der Zukunftsgestaltung menschlichen Zusammenlebens an, „jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um, durch Züchtung und andererseits durch Vernichtung von Millionen mißratener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zugrunde zu gehen an dem Leid, das man schafft und dessen gleichen noch nie da war“.3 Hier war bei aller romantischer Metaphysik sehr viel an kalter, technokratischer Rationalität in den Gedankenwelten vorhanden, jene Rationalität und humane Kälte, die ein Jahrhundert später auch zu den mentalen Grundlagen der nationalsozialistischen Ideologie zählen werden und die Goebbels einmal als „Stählerne Romantik“ bezeichnen wird. Wenn Alban dem Magnetiseur auch davor graute, daß diese Visionen einmal eintreten sollten, wie er seinem Freund Overbeck mitteilte, und die Wirklichkeit sie widerlegen würde, so ist es tatsächlich so gekommen, wie er vorausgesagt hatte. Und auch jene Größe der Energie von der er sprach und die über jede Moral erhaben schien, hat sich spätestens dann eingestellt, als es den Tätern des millionenfachen Völkermordes gelungen ist, ihr Gewissen von der unendlichen Schuld, die sie angehäuft hatten, freizuhalten. Die Romantiker hingegen bestaunten die Schönheiten der Natur, die sie als göttliche Werke ansahen und sahen sich eins mit dem Kosmos. Er genügte ihrem Weltbild nach Harmonie und Ganzheitlichkeit seelischer Schönheit. Aber nicht alle Romantiker besaßen dieses kindliche Gottvertrauen. E. T. A. Hoffmann, mit dem die frühe Romantik des 19. Jahrhunderts zu Ende ging, kam ohne religiösem Glauben aus. Der von den Romantikern übernommene enthemmte Subjektivismus, der dem späteren völkisch-nationalistischen Gedankengut zu Grunde lag, wollte selber Weltgestalter und Neuschöpfer der Menschheit werden. Über die Allmacht einer gottentfernten Subjektivität, die sich nur aus sich selber heraus definierte, sollte die Neugestaltung des nationalen Kollektivs vorgenommen werden. So reichte denn auch das romantische Spektrum von kontemplativer Naturbetrachtung bis hin zu den abenteuerlichen und verwerflichen Ideen einer sozialdarwinistischen Anthropologie, die in einem positivistischen Biologismus einmündete und das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft auf den Grundlagen von Rasse und Vererbung vollständig neu ordnen wollte. Und in diesen Ideenwelten warf Hitler bereits seinen Schatten voraus. Als er dann endlich die politische Bühne betrat, geschah dies nicht durch beliebige historische Zufälligkeiten, sondern 14

war der vorläufige Höhepunkt einer inhumanen geistesgeschichtlichen Entwicklung. In seinen bösen Träumen und romantischen Phantasien ahnte das 19. Jahrhundert etwas schon von der Herkunft einer dämonischen Gestalt, wie der seinigen. In der fiktiven Figur des Magnetiseurs Alban hat E.T.A.Hoffmann sie als Prinzip eines hemmungslosen Willen zur Macht antizipiert, die über jeden Sinn hinausgeht und nur noch ihren eigenen Zweck verfolgt. Hoffmann läßt seinen Alban die Philosophie des Willens zur Macht als quasi religiöse Angelegenheit im Angesicht des Göttlichen verkünden: “Alle Existenz ist Kampf und geht aus dem Kampf hervor. In einer fortsteigenden Klimax wird den Mächtigen der Sieg zuteil, und mit dem unterjochten Vasallen vermehrt er seine Kraft.“ 4 Zwar kennt der Magnetiseur Gott noch als den Fokus an, in dem sich alles Geistige sammelt, jedoch durch sein Streben nach umfassender Macht will er selber zum göttlichen Prinzip werden. Gott soll nicht mehr länger Schicksal sein, sondern eine magische Politik wird den Kosmos und die Menschen beherrschen, so will es Alban. Denn „das Streben nach jener Herrschaft“, schreibt Alban in seinem Brief an Theobald, „ist das Streben nach dem Göttlichen, und das Gefühl der Macht steigert in dem Verhältnis seiner Stärke den Grad der Seligkeit“.5 Hoffmann hatte die Figur des Alban auf Napoleon Bonaparte projiziert. Was sich jedoch in dessen Gestalt ankündigte und was der Dichter nicht ahnen konnte, überstieg im 20. Jahrhundert bei weitem den Größenwahn des großen Korsen. Der politisch unmündige Bürger fand hingegen sein Universum in den romantischen Entwürfen einer kosmologischen Weltdeutung, in der alles durch die Phantasie denkbar und möglich schien. Da die reale Welt unerreichbar blieb, verlagerte sich der romantische Aufbruch des Bürgertums in die Sphären von Bildung und Kunst. So wie Napoleon kraft seines Willens einst die reale Welt eroberte, eroberte das romantische Denken die Welt der Phantasie und Metaphysik. Zugleich war damit die Abkehr vom Politischen und Alltäglichen vorgezeichnet. Einem romantischen und ideellen Enthusiasmus waren keinerlei Beschränkungen durch die reale Welt auferlegt. In den Gefilden der Metaphysik durfte sich das romantische Bewußtsein ungehemmt entfalten. Eben weil die große Welt der Politik, dem Bürger verschlossen war, er dort nichts mitzureden hatte und ihm darüberhinaus auch eine politische Mündigkeit vorenthalten blieb, hielt um so intensiver die psychische Innenwelt des bürgerlichen Subjekts beides bereit, in Einsamkeit den Weltschmerz im Herzen und die Freiheit im eigenen Kopfe. Entweder fühlte man sich in seiner eigenen Binnenwelt erhaben oder idyllisch; entwarf große Prospekte über die politische Welt, oder man verkroch sich vor ihr, sank hinab in die eigenen Impressionen. Fluchtschneisen des Privaten in die romantischen Gefilde einer künstlerischen Parallelwelt eröffneten sich als Alternativen zum Alltäglichen. Damit war man zufrieden und fühlte sich wohl, dem eigenen Weltschmerz zum Trotze. Mitunter waren es jedoch mehr als nur Fluchtschneisen; die Romantiker 15

errichteten vielmehr eine eigene Welt, die sie der unromantischen, politischen entgegenstellten. Rüdiger Safranski hat die Romantik treffenderweise ein „Feuerwerk einer triumphierenden Subjektivität“ genannt. 6 Die Romantiker glaubten, mit ihrem innengeleiteten Blick, die Geheimnisse der Welt zu enthüllen. Hierbei gerät das eigene Bewußtsein zur Phantasie, der die Sprache kaum zu folgen vermag. Daher fühlt sich die Romantik zur Musik hingezogen und findet in sie vollkommenste Formen ihrer unsagbaren Ausdruckskraft. Flaubert hat die Metaphysik bürgerlicher Denkfluchten in den Gefilden von Literatur und Naturverklärung mit den Worten umschrieben: „als Bürger leben und als Halbgott denken“. La Rochefoucauld floh noch in den Salon der gepflegten gesellschaftlichen Kommunikation, nachdem er im Kampf gegen die französische Regierung gescheitert war, er blieb bei seiner Flucht in gewisser Weise noch weltnah. Der unpolitische Bürger wandte sich von der Wirklichkeit ab und zog sich ins Private seiner häuslichen Gepflogenheiten zurück. Man mußte schon von der Welt der Aristokratie, des politischen Mitspracherechtes und der Freiheit ausgeschlossen sein, um mit Werther auszurufen: „ Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!“7 Freilich war das geistige Leben Deutschlands, wie die französisch- schweizerische Schriftstellerin Madame de Stael (1766-1817) bemerkte, geprägt von der politischen Zersplitterung, dem Fehlen urbaner Zentren, die der egozentriert wirkenden Bürgerlichkeit Kosmopolitisches hätten entgegensetzen können. Und somit tat sich in den zahlreichen kleinen und mittleren Obrigkeitsstaaten eine gewiß nicht unsympathische Szenerie vielfältiger Sonderlichkeiten auf, vom Verschrobenen und Bizarren bis hin zum Genialischen. Auch dies waren Zugeständnisse eines ungehemmten Individualismus im deutschen Kultur- und Geistesleben, welches einerseits diesem ungehemmten Individualismus Vorschub leistete und daß zu einer Zeit, wo Revolution angezeigt gewesen wäre, andererseits aber jene Vielfalt entstand, die innerhalb des deutschen Kultur- und Geisteslebens ohne Beispiel ist. Da dem Bildungsbürgertum das politische Mitspracherecht versagt blieb, sollte sich die Erlösungshoffnung, welche sich in dem klassischen Bildungsverständnis verbarg, nur als eine utopische Hoffnung der Selbsterlösung erweisen, die sich auch nicht durch romantische Fluchten einstellte. Bildung wurde daher aus ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang gerissen und in den privaten, außergesellschaftlichen Raum gestellt. Sie diente somit nicht der Emanzipation des Individuums, sondern seiner Selbsterbauung im „stillen Kämmerlein“. In den späteren geschichtlichen Phasen waren das individuelle Glück und die private Zufriedenheit, die man den Gütern der Bildung entnahm, die Folge der Verdrängung massiver Probleme, die das aufbrechende Industriezeitalter in die Beschaulichkeiten des Bürgertums projizierte. Einher ging dies mit einer gewissen Weltfremdheit, die Thomas Mann zu Anfang des 20. Jahrhunderts ausdrücklich in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen mit dem Hinweis verteidigte, daß sie die künstlerische Kreativität frei läßt und nicht auf die 16

Gesichtspunkte des politischen Nutzens einschränkt. Damit erfuhr die politische Abstinenz des Bildungsbürgertums nicht nur eine zusätzliche Bekräftigung, sondern Thomas Mann brachte das Bildungsverständnis auf den Punkt seines zeitgeschichtlichen Bewußtseins, das er als ein mit sich identisches Unpolitisches verstand. Für ihn waren das Unpolitische und das Bürgerliche eins. Jene romantische Exklusivität, die frei sein sollte vom Alltäglichen, sich ganz dem Dionysischen hingebend und die Thomas Mann verteidigte, ging einher mit der Vernachlässigung und bisweilen Verächtlichmachung der Normalität gewöhnlicher Lebensregeln, welche die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens bilden. Selbstverständlich hat Thomas Mann solche Konsequenzen nicht gewollt oder in Erwägung gezogen. Ihm ging es darum, eine von den tagespolitischen Interessen unabhängige Kunst zu entfalten, die über den allgemeinen Dingen steht. Da, wo Alltäglichkeiten ins Spiel kommen, sind sie durch eine metaphorische Ästhetik verhüllt, so etwa in seinem Faustus-Roman, auf den noch zu sprechen sein wird. Infolge der weitverbreiteten politischen Abstinenz des Bürgertums im 19. Jahrhundert wurden die vernunftgeleiteten Regeln, in denen die Würde und die Freiheit der Menschen geschützt sind, preisgegeben zugunsten hoher unerreichbarer Ideale und großer Ideenprospekte, die ausgehend von den Träumen des Schönen, Wahren und Guten, bis hin zu den Vorstellungen nationaler Auserwähltheit führten. Dienten die Ideen des Wahren, Guten und Schönen noch der inneren Beschaulichkeit und folgten den ästhetischen Gesetzen des „goldenen Schnitts“, so trieben die Träume von Auserwähltheit jene niederen Instinkte in den Vordergrund, die man durch die Ästhetik überwunden glaubte. In dem Glauben, daß die Ästhetik die Moral ersetzen könne, schuf man sich eine Welt, worin das Dunkle und Abgründige ausgesperrt blieb. Um des schönen romantischen Scheins willens, versuchte man die oftmals deprimierende politische Gegenwart zu verdrängen. Die romantische Einbildungskraft, die Expressivität der ihr innewohnenden Phantasie, der enthemmte Tiefsinn,8 welcher das Dionysische ausschöpfen möchte bis auf den Grund; diese enthemmte Suche nach der sinnbetäubenden Geborgenheit ihrer Bilder und Impressionen trug dazu bei, tradierte moralische Ordnungen eines universalistischen Moral- und Wertekataloges und die vernunftgeleiteten Ideen der Aufklärung zu untergraben. Ihre hemmungslose Individualität, sich die eigene Welt im Kopfe zurechtzulegen, machte sie anfällig für inhumane Tendenzen, die außerhalb ihrer „schönen Welt“ jedoch teils unbemerkt in Berufung auf sie, allmählich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. Der romantische Aufbruch war nicht die Ursache dieses Verfalls. Aber in ihren Nischen ließen sich die Träume von Grandiosität, die keine moralischen Grenzen mehr kennen, gut unterbringen. Einem hemmungslosen Individualismus setzte sie keinerlei Schranken, alles war möglich; zumal in der romantischen Phantasie. Und es bedurfte nur entsprechender utopischer Gesellschaftsmodelle, um sie Wirklichkeit werden zu lassen. 17

Die romantische Geisteshaltung, welche schöpferische Originalität und subjektive Ausdrucksformen höher schätzte als gesellschaftlich verbindliche Normen und Werte hatte im Deutschland des 19. Jahrhunderts Hochkonjunktur. Auch als die ursprüngliche Romantik in den 30 er Jahren des 19.Jahrhunderts ihrem allmählichen Ende entgegenging, wirkten die phantasiebeladenen und unrealistischen Impressionen noch nach. Nachdem die literarische Form der Romantik gewissermaßen ausgedient hatte, um von einer sozialkritischen und realistischen literarischen Avantgarde abgelöst zu werden, fand sie vor allem im deutschsprachigen Raum ihre „Heimstätte“ in der Musik, der eigentlichen romantischen Kunstform. Dennoch erschienen im deutschsprachigen Raum weiterhin romantische Werke und in anderen künstlerischen Genres kam sie erst Recht zur Geltung, wie beispielsweise in der Musik Robert Schumanns, Carl Maria von Weber, Peter Cornelius und Franz Schubert, um nur einige zu nennen. Im Unterschied zur französischen Literatur der nachromantischen Epoche, die bedingt durch die sozialrevolutionäre „Vorreiterrolle“ Frankreichs sich relativ frühzeitig den Themen der Zeit zuwandte, fand die Literatur in Deutschland erst später Anschluß an die sozialkritische europäische Literatur. Hier war es vor allem Theodor Fontane, der den kritischen Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts verkörperte. Im Deutschen Reich entwickelte sich als eine starke geistige Strömung, die mitunter alle anderen überdeckte, die ursprüngliche romantische Geisteshaltung unter den historischen Bedingungen des wilhelminischen Obrigkeitsstaates zu epigonalen Formen völkisch-nationalistischer Ideenformationen. Ihre Grundstimmungen beeinflußten auch die Vorstellungen über Nation, über die Herkunftsgeschichte des Volkes, welches ein Wert an sich darstellte und Bürgertum. Nach Herbert Marcuses Verständnis besteht der affirmative Charakter der Kultur darin, daß in der bürgerlichen Epoche die Welt des Geistigen als ein selbständiges Reich der Werte, jenseits der Zivilisation, die gesellschaftliche Wirklichkeit überhöht. Ihr entscheidender Beitrag liegt in ihrem Versprechen, eine ewig bessere und wertvollere Welt zu bejahen, die sich von den alltäglichen Mühen unterscheidet, die jedoch ohne die Tatsächlichkeiten zu verändern, von jedem Individuum her, von innen her realisiert werden kann. Mit anderen Worten: Es läßt sich demzufolge innerhalb der Kultur leben, ohne in der tristen Welt der Mühsale gegenwärtig zu sein. In diesem Sinne antwortet sie auf die Not des einzelnen mit der allgemeinen Menschlichkeit, deren Ideale und Freiheiten, ohne diese aber konkret werden zu lassen. Die Schönheit der Seele kompensiert das materielle Elend und die „äußere Knechtschaft“ erfährt ihre Erlösung durch die innere Freiheit.9 Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts hingegen hat die bürgerliche Kultur vereinnahmt und in den kulturpolitischen Dienst seiner Ideologien gestellt. Er hat sie aus den Höhen einer Metaphysik des Erhabenen und Ästhetischen in die Niederungen einer völkisch-romantischen „Blut- und Bodenmetaphysik“ heruntergeholt. Sein Interesse galt nicht mehr einem Universalismus des Wahren, Schönen und 18

Guten. Er entlastete die Kultur von der Verantwortung die Zivilisation zu beseelen, wie Marcuse meinte, sondern die Ästhetik verknüpfte sich unter seinem Einfluß mit den Auffassungen seiner ihn tragenden Ideologien. Die „Kultur“ des Nationalismus war daher nicht mehr Welt ohne in ihr zu „selbst“ sein, vielmehr interpretierte sie eine eigene Welt aus ihren Vorurteilen und hybriden Selbstüberschätzungen. Der Nationalismus und vor allem der spätere Nationalsozialismus interpretierte Kultur in seinem Ideologieverständnis und ließ auch nur dasjenige als Kultur gelten, welches mit seinen völkischrassischen Stereotypen übereinstimmte. Das, was ihm vorausging, war das Scheitern der Romantiker an ihren eigenen Inszenierungen. Indem sie sich ihre Götter selber schufen, steckten sie in einem Dilemma: „Sie sollen an das glauben, was sie selbst gemacht haben“. 10 Das, was sie selber hergestellt haben, sollten sie als „etwas Empfangenes erleben“.11 Als Bewunderer ihrer eigenen Werke standen sie vor der Rampe, obwohl sie zugleich deren Drahtzieher sind um sich selbst zu verzaubern.

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Kapitel 2 Das Faustische Prinzip und der tiefe Fall Leverkühn und die deutsche Katastrophe. Jenseits von Mittelmaß. Nur im Enormen liegt Genialität. Grenzen werden gesprengt. Der Mensch wird sich selbst zum Gott. Die Katastrophe als Ernüchterung. Leverkühn ein deutsches Schicksal. Ethischer Nihilismus. Faustische Versuchung und ästhetische Beschreibung. „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ (Goethe: Faust I) Manch einer bemüht sich immerfort Grenzen zu sprengen und über das Eigentliche hinauszusteigen. Oftmals endet es in Größenwahn und grenzenloser Hypertrophie des Denkens und Handelns und der Selbstüberschätzung, die offensichtlich eine deutsche „Tugend“ ist. Erfaßt solches die gesamte Gesellschaft, so geraten leicht sämtliche gültigen Werte und Normen ins Wanken oder werden pervertiert. Wenn sich Nationen darauf einlassen, so ist das Unglück für diejenigen um so größer, die von solchem Wahn betroffen sind, weil sich gegen sie der Größenwahn richtet. Für diejenigen, die dem Wahn verfallen sind, ist es der Anfang vom Untergang oder Verstrickungen in größte Schuld. Das, was als Erlösung erhofft wird, erweist sich dann als tiefer Sturz ins Bodenlose, welcher allenfalls noch als Mythos einer „Götterdämmerung“ eine letzte Verklärung erfährt. Die Figur des Faust, sowohl bei Goethe als auch verkörpert in Thomas Manns Roman Dr.Faustus ist eigentlich etwas Archetypisches der deutschen Kollektivsseele. In ihr verdichten sich die typischen Ambivalenzen des deutschen Charakters in dem Spagat zwischen Genialität, romantischem Enthusiasmus, Größenwahn und tiefem Fall. Nicht von ungefähr pendelt das Prinzip des Genialischen im deutschen Kulturraum und gelegentlich auch anderswo, zwischen den Polen hoher kultureller und geistiger Leistungen, wie wir sie etwa bei Thomas Mann, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller oder in der Welt der Musik bei Ludwig van Beethoven und Gustav Mahler vorfinden und spießbürgerlicher Beschränktheit bis hin zu den Vernichtungsobsessionen der Nationalsozialisten, die in der Person Hitlers ihren „Magnetiseur“ besaßen. Nicht von ungefähr hat Thomas Mann die Figur des Adrian Leverkühn, im Roman das Sinnbild des faustischen Prinzips, als Parabel deutscher Geschichtskontinuität und deren Verwicklungen ins Dämonische und Abgründige verstanden wissen wollen. Und nicht zufällig deutet der Name Leverkühn auf die Bezeichnung „lebenskühn“ hin, die von Thomas Mann bewußt suggeriert werden sollte. Eine Lebenskühnheit war 20

damit gemeint, welche sich auf einem schmalen Grat zwischen Genialität und bodenlosem Absturz definiert, jederzeit bereit, als Preis für den Erfolg seine Identität zu verlieren und zu scheitern. Das Thema des Romans handelt von einer „deutschen Tragödie“, wie Thomas Mann betonte, die jedoch bei näherem Hinsehen keine wirkliche Tragödie gewesen ist, sondern vielmehr ein selbstverschuldetes Drama. Eine Tragödie kommt ohne besonderen Anlaß über die Menschen, das, was sich im Deutschland des 20. Jahrhundert ereignete war indes durch grenzenlose Selbstüberschätzung und Verachtung anderen gegenüber gewollt. Jenes vermeintliche Schicksal ist nicht über Leverkühn und erst recht nicht über Deutschland gekommen, sondern es wurde in grenzenloser Selbstüberschätzung herausgefordert. Das genialische Prinzip hatte sich in seiner hemmungslosen Verachtung moralischer Prinzipien selbst zum Absturz gebracht. Somit bezieht sich der Roman auf jene kulturhistorischen und geistesgeschichtlichen Wurzeln, die zum Nationalsozialismus geführt haben und wissentlich Bestandteile des deutschen Kulturlebens waren. Thomas Mann hat sie in den „wandervogelgeprägten“ Gesprächen des Studenten Adrian Leverkühn mit seinen Kommilitonen, in den erzreaktionären, antihumanen und zivilisationsfeindlichen Reden des Dr. Chaim Breisacher und anhand der faschistoiden Gesprächsrunden bei Dr. Sixtus Kridwiß dargestellt. Wenngleich das Grundthema des Faustdramas bei Goethe die Verstrickungen des Menschen in seine Doppelnatur zum Ausdruck bringt, der zwischen Zweifeln und Streben nach Höherem in schöpferischem Tatendrang die Grenzen seiner verführbaren Existenz bis ins letzte auslotet, so läßt sich der Widerstreit seiner Doppelseele in allen Facetten in Richtung eines Kollektivs ausdeuten. Dann dürfte Faust ebenso als ewig Suchender und Ringender nach Wahrheit und Größe, wie auch als Metapher zum Verständnis einer kulturgeschichtlichen Parallelität des deutschen Sonderweges in seiner historischen Überschätzung betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund schilderte Thomas Mann das Schicksal des kalten aber hochbegabten Musikers Leverkühn. Dessen persönliche Tragödie wird in Beziehung gesetzt zu der Katastrophe, die Deutschland verschuldet hat. Leverkühns persönlicher Teufelspakt findet seine kollektive Entsprechung in dem Pakt Deutschlands mit dem Teufel, oder genauer gesagt, mit den teuflischen, inhumanen und mörderischen Prinzipien, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus durchbrachen. In seinem kalifornischen Exil vollendete Thomas Mann im Januar 1947 seinen Roman Dr. Faustus, die fiktive Biographie des Komponisten und Musikers Adrian Leverkühn, welchem im Roman eine Lebenszeit von 18851940 eingeräumt wird. Die zweite Erzählebene durch den Biograph Seranus Zeitblom verkörpert und Thomas Mann als Autor, beginnt ihre Niederschrift über das Leben des Adrian Leverkühn im Jahre 1943. Zeitblom läßt im Rückblick auf Leverkühns Lebensweg immer wieder Kommentare und Begebenheiten zu den Kriegsereignissen einfließen. Durch diesen Kunstgriff, Erzähltes im Roman mit den äußeren Ereignissen in Beziehung zu setzen, 21

parallelisiert Thomas Mann Adrian Leverkühns Schicksal mit dem Deutschlands. Thomas Mann schrieb den Roman zu einem Zeitpunkt, als sich Europa auf dem Höhepunkt des Krieges und der millionenfachen Vernichtung befand und sein literarisches Vorhaben dem allgemeinen Lebensgefühl entsprach, düster, traurig und unheimlich, der Dinge wegen, die da auf die Menschen zukamen. Doktor Faustus spiegelt stellvertretend für eine ganze Bürgerschicht, in der Figur des genialen bürgerlichen Künstlers, des Tonsetzers Adrian Leverkühn, für den möglicherweise Friedrich Nietzsche Pate gestanden hat, in symbolischer Weise den bodenlosen Abstieg der Kunst und des Bürgertums im allgemeinen, das Ende des humanen Denkens, des Vernunftbegriffs und der Enthemmung des Sinnlichen in einem Szenario wider, an dessen Ende 55 Millionen Kriegstote, davon 25 Millionen Zivilisten, 15 Millionen in Konzentrationslagern, davon 11 Millionen ermordet, darunter 6 Millionen Juden, über 10 Millionen Menschen auf der Flucht und über 5 Millionen Wohnungen zerstört waren; in einer Apokalypse, in der ein ganzer Kontinent im Feuerschein einer Götterdämmerung ohne Beispiel von Grund auf verändert wurde, die der Furor des Nationalsozialismus angerichtet hatte. In diesem Furor schließlich war die bürgerliche Kultur und Zivilisation zu ihrem Ende gekommen. Jene Kultur, welche Thomas Mann der kalten, unpersönlichen Zivilisation entgegengestellt hatte, versagte ebenso vor den Ursachen des unaufhaltsamen Abstiegs, wie alle Mahnungen humaner Geister, die schon frühzeitig hatten Schlimmes kommen sehen. Leverkühn droht, an seinen eigenen genialischen Ansprüchen zu zerbrechen. Beide, Leverkühn als Künstler und Deutschland politisch betrachtet, geraten in eine Krise, die durch Starrheit und Leere bestimmt ist. Um wieder an die vitalen Quellen des Lebens heranzukommen, schließen sie, gleich Goethes Faust einen Teufelspakt. Die letzten Sätze des Romans bringen es auf den Punkt. Der Erzähler im Roman, der Altphilologe und Pädagoge Seranus Zeitblom, ein auf Vernunft und Harmonie gerichteter Charakter, resümiert, das Michelangelo Gemälde des Engelsturzes vor Augen, über den Zustand Deutschlands in der Nacht des Dritten Reiches: „ Heute stürzt es, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand und mit dem anderen ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu Verzweiflung. Wann wird es des Schlundes Grund erreichen? Wann wird aus letzter Hoffnungslosigkeit, ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnung tragen? Ein einsamer Mann faltet seine Hände und spricht: Gott sei eurer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland“. Leverkühn ein Spiegel der deutschen Seele, einer Seele des Genialischen und zugleich des Zerstörerischen, entweder zu hoch oder zu tief, wandelnd auf höchsten Höhen oder Absturz in tiefste Abgründe, Untergang oder Neuerschaffung des Abendlandes, Weltengott oder einsam Ringender, Götterdämmerung oder gottähnliche Allmacht, enthemmte Sinnlichkeit oder enthemmte Sachlichkeit, im ewigen Widerstreit zwischen Apollinischem und Dionysischem, statt Bezug und Realismus zu den Dingen, 22

träumen in unendliche Fernsichten, welche unerreichbar bleiben. Deutschland sucht die Revolution gegen alle humanen Traditionen, die Enthemmung aller moralischen Prinzipien im dionysischen Rausch, in dem alles machbar wird und der aus den Fugen geraten ist. Es sucht die Befreiung von allen wirklichen und eingebildeten Gefahren, denen es sich ausgesetzt sieht. Es möchte den Umbruch aller Dinge, Leverkühn sucht die künstlerische Inspiration. Verraten haben beide die humane Vernunft und sich hiermit der Versuchung einer dämonischen Irrationalität hingegeben; deswegen droht ihnen, von den Mächten der Finsternis heimgesucht zu werden. Während der Musiker Leverkühn die Gesetze der Polyphonie und Harmonie aufgab, hat sich Deutschland der Vernunft widersetzt und alle tradierten Werte von Humanität und Ethik über Bord geworfen. Der Teufel verspricht dem Tonsetzer ihm die Kraft zur rauschhaften Barbarei zu geben, so wie sie Nietzsche zur Zeit des Zarathustra heimsuchte, um die vom „Kultus abgefallene Kultur wieder ins Elementarische zurückzuführen“.1 Doch Leverkühn widersetzt sich dem Irrationalen. Anstatt ins Elementarische des Irrationalen zu versinken, wendet er sich musikalisch der nüchternen Sachlichkeit der Zwölf-Tontechnik zu, jener streng an die Vorgaben moderner Strukturen angepaßten Kompositionsweise. Offensichtlich unter dem Einfluß der musikphilosophischen Reflexionen von Theodor W.Adorno konnte Thomas Mann sein Konzept des enthemmten Irrationalismus bei Leverkühn nicht mehr aufrecht erhalten. Leverkühn entscheidet sich für eine enthemmte Sachlichkeit, bei der die Musik selbst auf eine reflexive Spitze getrieben wir, bei der Musik nicht mehr um ihrer selbst Willen geschaffen wird, sondern den strukturellen Gesetzen einer außermusikalischen Welt folgt. Am Ende besteht die Krise des künstlerischen Schaffens bei Leverkühn darin, das er unter seinem Intellektualismus leidet, welcher seiner Musik die polyphone Kreativität raubte. Die apollinische Sachlichkeit und Rationalität droht die dionysische Kreativität zu überwältigen. Damit erleidet Leverkühn jenes Schicksal, von dem Gustav Mahler noch verschont blieb. Seinerzeit warnte Sigmund Freud in einem therapeutischen Gespräch Mahler davor, allzu tief in die innerpsychischen Reflexionen einzusteigen, da ein derartiges Unterfangen auf Kosten des musikalischen Reichtums der Ausdruckskraft seiner psychischen Bilder gehen würde und der Musik somit jenes sinnliche, transzendente Element abhanden kommt. Deutschland hingegen stürzte für lange Zeit in Inhumanität und Finsternis. Leverkühn tritt uns als ein Bild des Niederganges bürgerlicher Kultur, der Vernunft und des Endes eines traditionellen Humanismus entgegen Wie in einem Gleichnis sollte sich der katastrophale, historische Rückfall eines hochentwickelten Geistes und einer hochgeschätzten Kultur in ihren archaischen Urzuständen zeigen. Der genialische Künstler Leverkühn spiegelt in seinem Niedergang den freien Fall eines Kollektivs wider, das sich eben so genialisch sah und niemals daran geglaubt hatte, so tief zu fallen. 23

Thomas Mann hat seinen Roman als Parabel des Niederganges Deutschlands im Spiegel eines künstlerischen Lebens konzipiert, in dem sich auch vieles seiner eigenen Lebensstimmung befindet, was von Anfang an das Aufregende an diesem Buch für ihn sein sollte.2 Ein Künstlerroman also, – worin in den Handlungssträngen auch Personen seiner eigenen Biographie abgebildet sind, wie in der Figur des Knaben Echo, der seinen Enkel Frido verkörpert – und zugleich Gesellschaftsroman der untergehenden Ideale von Humanismus und Zivilisation zu Gunsten einer unmenschlichen Tyrannei. Nun aber fällt der Zusammenhang zwischen romantischem Geist und verbrecherischer Politik auseinander. Der Vergleich trifft auf die Wirklichkeit des Dritten Reiches nicht mehr zu. Die Untaten der Nationalsozialisten sind nicht aus weltfremdem Idealismus begangen worden, wie Thomas Mann des öfteren behauptete und dessen Wurzeln im notorischen deutschen Tiefsinn liegen, für den metaphorisch die Figur des Leverkühn steht. Jene Verbrechen geschahen infolge weit vordergründigerer Voraussetzungen. Hannah Arendt stellte bei ihrem ersten Deutschlandbesuch 1950 treffenderweise fest, daß die Zerstörung Deutschlands und die Ermordung der Juden nicht aus den Ereignissen herzuleiten sind, „die zur Vertreibung Adam und Evas aus dem Paradies geführt haben“, sondern in den Taten des Naziregimes und seiner folgsamen Bevölkerung.3 Als der Roman, der den Untertitel „Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn“ trug, im Sommer 1947 erschien, wurde er überwiegend mit Ehrfurcht und Zustimmung aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt war die Statistik des Grauens ins öffentliche Bewußtsein gerückt und hatte konkrete Gestalt angenommen. Die Bevölkerung wurde mit den Verbrechen konfrontiert, die in den befreiten Konzentrationslagern Dachau, Buchenwald, Flossenbürg und Bergen-Belsen geschahen. Gleichwohl bot sich durch den Roman eine Metapher an, hinter der man sich dem Grauen stellen konnte ohne an der Schuld zu zerbrechen. Nicht sie, die Bevölkerung, sahen sich als Schuldige, vielmehr denn als Verführte dämonischer Kräfte, die sich ihrer politischen Naivität bemächtigt hatten. Thomas Manns sublime Darstellungsweise und der hintergründige Duktus einer schicksalhaften Verflechtung, welcher das Werk durchziehen, schienen den Leser nicht nur mit dem Grauen zu versöhnen, sondern ihm auch einen Weg aus Schuld und Mitverantwortung zu eröffnen. Auf die Parallelität zwischen Leverkühn und Deutschland hatte Thomas Mann in seinen Kommentaren wiederholt hingewiesen. Über den Held seines Romans, der den zeitlichen Rahmen zwischen 1884 bis 1945 umgrenzt (Thomas Manns eigene Epoche), schrieb er in einem Brief vom 12.2 1949 an Albert Oppenheimer, daß Leverkühn ein außerordentlich stolzer, kluger und kühler Geist sei, eigentlich zu klug für die Kunst und daher sinnlicher Enthemmung bedürfe, um sein kreatives Potential auszuschöpfen und dieses kann im ideellen Rahmen des Buches nur das Böse bewirken. Mit Leverkühns Sündenfall ist auch – gewissermaßen – auf der politischen Ebene des Buches 24

auf die faschistische Intoxikation der Völker angespielt, die immer dann auftritt, wenn der Boden unter den Füßen zu wanken beginnt. In Kenntnis des wahren Ausmaßes der Geschehnisse droht jedoch der beabsichtigte Zusammenhang zwischen dem Schicksal des Musikers Leverkühn und Deutschlands durch die sublime Ästhetik einer poetischen Sprache und deren Umsetzung in künstlerische Färbungen, welcher sich Thomas Mann bedient, zu verschwinden. Nunmehr gilt nicht nur, den Faschismus als verheerende politische Pest zu begreifen, als eine Entgleisung des Ästhetischen, sondern die Welt ist mit der größten selbst inszenierten humanen Katastrophe konfrontiert. Was für die Kunst gelten mag, gerät auf derartig unfaßbare Verwerfungen der Zeit übertragen, als unbeabsichtigte Banalisierung der Ereignisse. Wenngleich Thomas Mann sich gegen eine höhere Interpretation zum Zwecke der Ästhetisierung der schrecklichen Dinge, die im Deutschland des Dritten Reiches geschehen sind, in seinem Roman verwahrt hat, so bietet sich nüchtern betrachtet, für den Pakt mit dem Bösen und dem letztendlichen Untergang keine Parallele an. Hiervor versagen alle Metaphern. Liest man das Schicksal des Leverkühn als eine Parabel hemmungslosen Größenwahns, dann wäre sowohl seine Krise als auch der Untergang des „Dritten Reiches“ die „Erlösung“ von Wahn und Allmacht.

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Zwischenbetrachtung: Völkischer Nationalismus und beginnende Götterdämmerung „Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er angehört, stolz zu sein [...].Übrigens überwiegt die Individualität bei weitem die Nationalität, und in einem gegebenen Menschen verdient jene tausendmal mehr Berücksichtigung als diese. Dem Nationalcharakter wird, da er von der Menge redet, nie viel Gutes ehrlicherweise nachzurühmen sein. Vielmehr erscheint nur die menschliche Beschränktheit und Verkehrtheit in jedem Lande in einer anderen Form und diese nennt man den Nationalcharakter.“ (Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, 1851) Über die Deutschen schrieb Goethe einmal, daß es ihr Charakter sei, der sie über alles schwer werden ließe, „und daß alles über sie schwer werde“. Die Angst vor der Bürde der Zukunft, die Leere der Gegenwart und die Schwere des Lebens überhaupt, verhinderte stets bei den Deutschen die Leichtigkeit des Seins. Immerzu mußte alles grundsätzlich und das Kollektiv betreffend existentiell durchdrungen werden, um jenes trügerische Selbstbewußtsein zu erreichen, welches das Leben als Deutscher erst lebenswert macht. Immer geht es um Alles oder Nichts und die Deutschen haben erst sehr spät gelernt, im politischen Alltag Kompromisse zu schließen. Ohne dieses Grundsätzliche ist alles nach „welscher Art“ flach, zersetzend und des Nachdenkens nicht wert, wie es bei Hans Sachs in den Meistersingern anklingt. Dem deutschen Geist geziemt es nicht, leicht und unbeschwert über die Dinge des Lebens hinwegzuschreiten, wie dies den romanischen Menschen eigentümlich ist. Über die deutsche Politik, die Ausdruck dieser kollektiven Unruhe und Schwermütigkeit war, schrieb im Jahre 1860 die Londoner Times: „Die Launen der deutschen Politik sind solcher Art, daß wie ihnen nicht mehr zu folgen vermögen. Es ist nutzlos, nach Profundität Ausschau zu halten, wo aller Wahrscheinlichkeit nach nur Pedanterie herrscht, oder nach einer greifbaren Absicht, wo vielleicht nur der Wunsch besteht, irgendeine traumhafte historische Idee zu verwirklichen. Wäre die Art der Deutschen wie unserer Art – würden sie von praktisch denkenden Staatsmännern regiert anstatt von Zuchtmeistern und Sophisten –, könnten wir uns vorstellen, sie hätten irgendein 26

ferneres Ziel in Sicht. Aber da wir wissen, was sie sind, sehen wir in ihrem Verhalten nur ein weiteres Beispiel jener Schwäche und Perversität, die ihnen so viele Mißgeschicke gebracht hat“.1 Es war jedoch nicht nur der Umstand, daß die Deutschen von Zuchtmeistern regiert wurden und sie damit nie zu politischer Mündigkeit finden konnten, sondern ihr vergebliches Bemühen eine Nation zu sein, und die Konzentration darauf, nationale Identität zu erlangen um jeden Preis, verhinderte über lange Zeiten an den Errungenschaften von Aufklärung und Liberalität teilzuhaben. Denn für nationales Selbstwertgefühl gilt ironischerweise das gleiche wie für erhabenen Stil und ästhetisches Empfinden, wer sich darum bemüht, hat sie erst gar nicht. Schiller und Goethe, die ein geringes Vertrauen in die politischen Fähigkeiten ihrer Landsleute hatten, verfaßten in ihren Xenien aus dem Winter 1795/96 die eindringliche Warnung an das deutsche Volk, angesichts des durch die französische Revolution ausgelösten Nationalismus: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, / Deutsche, vergebens; / Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus“.2 Schiller als Historiker des dreißigjährigen Krieges war sich mit Goethe bewußt, daß die Deutschen einen heillosen, sich selber vergewaltigenden Respekt vor jeder Obrigkeit besaßen und insofern sich schwer taten, ein gelassenes, politisches Selbstbewußtsein zu entwickeln. Mit ihrer Mahnung wollten sie zum Ausdruck bringen, daß ihre Landsleute erst dann nach nationaler Macht streben sollten, wenn sie die erforderliche bürgerliche und moralische Freiheit errungen hätten, um diese Macht unter Kontrolle zu halten. Eine der verheerenden Ideenformationen des 19. Jahrhunderts, die aus diesen kollektiven Unzulänglichkeiten indirekt hervorgingen waren die des Nationalismus in der Auffassung eine ausgewählte Nation sein, verbunden mit rassisch völkischen Elementen. Hierbei wirkte sich deren Verankerungen in romantischen Denkweisen und Geisteshaltungen besonders fatal auf die weitere Entwicklung bürgerlichen Kulturverständnisses aus. Nicht nur die politischen und militärischen Komplexe waren hiervon infiziert, sondern der Nationalismus bemächtigte sich auch weite Teile des Besitz- und Bildungsbürgertums. In dieser sozialen Schicht fand er seine kongeniale Heimat. Der Nationalismus in Deutschland bereitete somit mehr als andere politische und geistige Strömungen im 19. Jahrhundert die humane Verrohung des Bürgertums vor. Und dies stand in Einklang mit der offiziellen Politik. Die von Thomas Mann in seinem Roman Doktor Faustus in Szene gesetzte Analogie des „deutschen Schicksals“ mit dem Größenwahn Adrian Leverkühns, konnte nur vor dem Hintergrund dieser nationalen Wahnhaftigkeit glaubhaft dargestellt werden, was bei kritischen Zeitgenossen auch den Erfolg dieses Romans begründete. Ideologisch betrachtet setzt der Roman am Endpunkt dieser nationalistischen Wahnbewegungen an, gewissermaßen dort, wo sich die verhängnisvollen „Früchte“ dieser historischen Fehlentwicklungen in ihrer ganzen zerstörerischen Dimension zeigten. Dieser nationalistische Irrsinn war die Antwort auf die Angst vor der Revolution, die seit der Französischen 27

Revolution das gesamte 19. Jahrhundert hindurch weite Teile des Adels und des Großbürgertums erfaßte. Der Eindruck, daß Revolutionen wie Naturgewalten über die Menschen komme, in deren Folge zwangsläufig Schreckensherrschaft, Zerstörung und Chaos entstehen, hat generationenlang, namentlich in Deutschland den freiheitlichen Gedanken korrumpiert und jenen „Fanatismus der Ruhe“ 3 bewirkt, der bis 1918 jeden Umsturzversuch und jede revolutionäre Veränderung mit dem Ruf nach Ordnung und Sicherheit unterdrückte. Theodor Fontane, der den Niedergang des Adels und den Aufstieg des Bürgertums im 19. Jahrhundert mit Skepsis beobachtet hat, stellte die Freiheitsresistenz des bürgerlichen Bewußtseins in folgendem Gedicht fest: „Freiheitlich freilich. Aber zum Schlimmsten/ Führt der Masse sich selbst Bestimmen/ Und das Klügste, das Beste, Bequemste/ Das auch freien Seelen weitaus genehmste/ Heißt doch schließlich, Ich hab’s nicht Hehl/ Festes Gesetz und fester Befehl“. Die Maxime einer undemokratischen und antiliberalen Staatsauffassung lautete von je her, daß Sicherheit und Ordnung vor jeder Freiheit stehe. Wenn schon Freiheit ermöglicht wird, dann nur unter den Regeln einer strengen Ordnung, die Sicherheit verheißt und kein Risiko zuläßt. Und gelegentlich tauchen solche Formulierungen, ohne daß sich ihre Vertreter dessen bewußt sind, in den Wahlparolen einschlägiger rechtskonservativer Parteien auf. Das Bürgertum schwankte ständig zwischen dem Wunsch nach Freiheit und politischer Anerkennung und der Tendenz, ihr kulturelles Eigenleben, weit ab von den alltäglichen Belastungen führen zu können. Da letztlich das politische Mitspracherecht versagt blieb, sah es seine vornehmliche politische Aufgabe darin, sich über einen unkritischen und schließlich destruktiven Nationalismus als Staatsbürger zu definieren. In den Ideenformationen eines völkischen Nationalismus sahen sich alle, ohne Ansehen und Standesunterschiede als Träger einer heiligen nationalen Aufgabe. Der Abstieg des Bildungsbürgertums aus idealistisch-romantisierenden Höhenlandschaften über muffig-spießbürgerlichen Provinzialismus bis hin in die düstere Verbrechenswelt des „Dritten Reiches“ wurde begleitet von den Wegweisern Nation, Nationalismus und Rassismus und enthielt viele Verzweigungen und Kehren, die letztlich nicht nur in den ideologischen sondern auch in den politischen Abgrund geführt haben. An seinen Wegrändern entstanden ideelle Formationen, die auf das Schlimmste hindeuteten, was sich in der deutschen Geschichte jemals ereignen würde. Anfangs stand die konservative Demokratiekritik dem ursprünglich demokratisch akzentuierten Nationalismus mißtrauisch gegenüber. Erst die Verbindung mit der Machtstaatsidee des Deutschen Kaiserreiches in der „verspäteten Nation“ 4 hat den Aufstieg eines „plebejischen Konservatismus“, d.h. eines Konservatismus, der sich auch in den untersten sozialen Schichten einer großen Zustimmung erfreute, begünstigt. In dessen Kielwasser konnte sich ein deutsch-völkischer und antisemitischer Pangermanismus entwickeln.5 Freilich war das ein verschlungener Weg, dessen gedankliche Ausprägungen sich zwischen traditionalistischen und national28

liberal-modernistischen Varianten bewegten. Der ältere Nationalgedanke bei Herder (1744 – 1814) rühmte noch die Vielfalt der Völker und ihre unterschiedlichen Kulturen, seine Idee einer weltgeschichtlichen Sendung der Völker und Nationen stand noch ganz im Zeichen eines verbindenden Universalismus im Dienste des Fortschritts zur allgemeinen Humanität 6 Doch bei Friedrich Wilhelm Jahn (1778 -1852), dem deutschen Turnvater, wird er schon zugespitzt und in völkisch-nationalistische Dimensionen umgeformt. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts entfernte sich der Nationalgedanke immer mehr von seinen demokratischen und altliberalen Vorstellungen und wurde vom inneren Antrieb einer Verfassungsbewegung zum Motor eines modernen Machtstaatsgedankens mit weitreichenden außenpolitischen und imperialen Absichten. Einer der bedeutendsten Wegbereiter zu dieser Entwicklung war der ursprünglich liberale Historiker Heinrich von Treitschke (1834 – 1896). An ihm läßt sich die schroffe Abkehr von demokratischem Denken zu einer potentiell antidemokratischen Richtung besonders deutlich nachvollziehen. Und zwar „nach innen in der Rechtfertigung elitärer statt parlamentarischer Herrschaft, nach außen in der Betonung der Verschiedenartigkeit der Völker und Rassen sowie der besonderen nationalen Sendung, deren sich die Deutschen bewußt werden müßten“.7 Im Unterschied zu den Nationalismen anderer europäischer Staaten, mit Ausnahme Italiens, unterschied sich die deutsche Variante des Nationalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert dadurch, daß es ein organisierter Nationalismus war, der weite Teile des gesellschaftlichen und privaten Lebens überformte. Gelegentlich nahm er Ausmaße einer Staatsreligion an, die nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrang und viele Menschen in seinen Bann zog. In seiner Radikalität war er in ideologischer Hinsicht, seinen Gruppenbildungen, seinen politischen Strategien und Agitationen und insbesondere in der Verwendung völkischer Metaphern und Symbolen systematisch organisiert. Weit weniger bezog er sich auf eine geistige und kulturelle Vergangenheit, welche trotz ihrer regionalen Verschiedenheiten dennoch einen gemeinsamen, kollektiven Hintergrund vorweisen konnte und das Selbstverständnis des Bürgertums in den deutschen Kleinstaaten prägten. Vielmehr leitete der Nationalismus seine ideologische Begründung aus der mythischen Vorstellung einer germanischen Kontinuität ab, die als spezifisch kulturelles und soziales Erbe aufgrund der Zugehörigkeit zu einer „überlegenen“ Rasse behauptet wurde, und welches lediglich fremden Einflüssen zufolge in zeitweiliger Vergessenheit geriet oder durch christlich-jüdische Einflüsse überdeckt wurde. Hierbei übersah das im Nationalismus befangene Denken die Verschiedenheiten der regionalen Kulturen und Traditionen, wie sie aus der Geschichte der deutschen Kleinstaaten und Königreiche über die Jahrhunderte entwickelt wurden. Ebenso leugnete der völkische Nationalismus Einflüsse anderer Kulturen und ignorierte beharrlich nationenübergreifende Ideen, wie die Aufklärung und die Errungenschaften der französischen Revolution. Insofern 29

war dem deutschen Nationalismus von vorneherein eine mythische Überwölbung seiner politischen und biologistischen Begründungen anzumerken, die im Fortgang der geschichtlichen Ereignisse im späten 19. Jahrhundert und darüberhinaus ihm seine besondere Dauerhaftigkeit sicherten. Im Zuge imperialistischer und machtpolitischer Strömungen gelang es, getragen durch die Staatsideologie des preußischen Wilhelminismus, solche absurden Konstruktionen zu identitätssichernden Symbolen für die Menschen zu verankern. Seine politisch pragmatische Durchschlagskraft behielt er bis in nahezu alle Schichten der Gesellschaft im Deutschen Kaiserreich und in gewissen Kreisen während der Weimarer Republik aufrecht, und vor allem im „Dritten Reich“, wo die Ideologie der arischen Rassenzugehörigkeit zu einem besonderen Merkmal nationalsozialistischer Innen- und Außenpolitik wurde. Indem er die menschenrechtlichen Grundprinzipien programmatisch aufkündigte, stand er jedoch im Gegensatz zu dieser, und über allen sonstigen Ideologien und konkurrierenden Weltanschauungen war er ausschließlich volksdeutsch geprägt. Seine staatsbürgerliche Grundauffassung bezog er aus dem Begriff des sogenannten Volkstums, mit der Behauptung über besondere rassische und ethnische Merkmale zu verfügen und denen ein elitärer Charakter über andere Nationen zugesprochen wurde. Für das Erstarken rassischer Ideale war vor allem das Wiedererwachen eines nationalen historischen Bewußtseins von grundlegender Bedeutung. Dieses Bewußtsein bezog sich auf einen kulturhistorischen Kanon des Volkstums im Sinne einer zwar unhistorischen aber um so hartnäckiger behaupteten Kontinuität rassischer Dispositionen, welche die Grundlage der Nation bilden sollten. Damit wurde Geschichte und Werdegang eines Volkes, bzw. des jeweiligen Volkstums zum falschen Mythos, der heutzutage in den ethnischen Konflikten im früheren Jugoslawien wiederum virulent geworden ist, und über den Adorno gesagt hat, daß der zweite Mythos stets unwahrer erscheint, als der ursprüngliche und deshalb der Manipulation der Massen dient. Das Nationale verstand sich als eine umfassende politische Begriffsbestimmung, welche sich in ihren innen- und außenpolitischen Tendenzen auf projizierte Feindbilder fixierte. Wenngleich diese Tendenzen auch nicht immer zum Gegenstand offizieller Tagespolitik erhoben wurden, so waren dennoch deren mentale und ethische Implikationen durch generationenlange Erziehung und Sozialisation im kollektiven Bewußtsein verankert. Dessen kulturhistorische Wurzeln lagen in einem germanisch-völkischen Verständnis zu Anfang des 19.Jahrhunderts, welches bereits auch Fichte in seinen Reden an die Nation vertrat und sodann unter dem Einfluß sozialdarwinistischer Lehren, eine zusätzliche rassespezifische Bedeutung erhielt. Tatsächlich finden sich in den Schriften der völkischen Kritiker Fichtes Grundgedanken seiner Reden an die deutsche Nation wieder. Fichtes Ausspruch: „Charakter haben und deutsch sein ist ohne Zweifel gleichbedeutend“,8 wurde zu einem der Kernsätze des späteren Nationalismus. Die ausgesprochen chauvinistische Ausrichtung des Nationalis30

mus in den folgenden Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts bezog er aus dem antimodernen, antidemokratischen und antiliberalen Ideengut weiter Teile der bürgerlichen Intelligenz. Hierbei fand der nationale Wahn zunehmend Unterstützung in konservativen Besitz- und Herrschaftsschichten, die hierin die Möglichkeit erblickten, ihren Besitz und Einfluß in der Gesellschaft auszuweiten. Darüberhinaus fand er auch Anklang, zumindest zeitweise, in den vom Modernisierungsprozeß benachteiligten und durch Wirtschaftskrisen verunsicherten Bevölkerungsteilen, vorzugsweise im Heer der unteren Angestellten und Arbeiter. Außenpolitisch wurde die nationale Hybris von einem imperialistischen Denken und einer erstaunlichen Selbstherrlichkeit über die eingebildete Größe des „Deutschseins“ geprägt, was letztlich neben anderen Faktoren, über den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 gegen den „Erbfeind“, schließlich zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges geführt hat.

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Kapitel 3 Von der Höhe und dem Profanen: Das Bürgerliche und das Genialische Vom Pantheon in den Niederungen des Alltäglichen oder von der Entzauberung des Besondern. Gustav Mahler: Musik als Welt- und Gottverständnis. Elfenbeinturm und neurotische Befindlichkeit. Im Alltag des Zauberers. Empfindungen eines Großschriftstellers. Sofern Schopenhauer und Wagner als genialische Geister angesehen werden, was sie in gewisser Weise auch zu sein scheinen, so spricht Thomas Mann dem Bürgerlichen die Genialität ab, oder sieht zumindest hierin einen Widerspruch. Denn zu sagen, durch Schopenhauer, Goethe und vielleicht auch noch Wagner, erhalte man eine bürgerliche Erziehung oder sie selbst gar befänden sich in bürgerlicher Sphäre, scheint eine widersinnige Behauptung zu sein. Und dennoch sind genialische Geister, wer immer das auch sein mag, Thomas Mann zufolge, Kinder des Bürgertums. Goethe schuf imposante Literatur und Dichtungen, und auch die Tatsache daß seine Interessen weit über die Sphären des kunstvollen Schreibens bis in naturwissenschaftliche Forschungen hinausgingen, verschaffte ihm den Ruf als Dichterfürst und universales Genie. Andererseits war er auch Bürger genug, um sich mit all denjenigen profanen Annehmlichkeiten zu umgeben, die einem wohlhabenden Großbürger zu Anfang des 19. Jahrhunderts nun einmal zugestanden wurden. Und auch Goethes wacher Geist schien in keinem Widerspruch zur bürgerlichen Behaglichkeit zu stehen. Dem Bürgertum war schon immer die Nähe zum Künstlerischen, Außerordentlichen und vor allem zum romantischen Enthusiasmus nicht fremd. Das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts lebte geradezu davon, sich in diesem Umfeld zu bewegen und hieraus sein Selbstbewußtsein zu beziehen. Und nicht von ungefähr etablierte Theodor Fontane in seinem Roman Jenny Treibel den Opernsänger Krola als Vertreter des Künstlertums inmitten eines spießigen, großbürgerlichen Umfeldes, welches Kunst nur als Prestigeobjekte verstehen konnte. In der Geschichte des Bürgertums ist das allzu Menschliche und „Übermenschliche“ nachzuweisen. Beides konnte es vorweisen, gelegentlich die Genialität, sowie bürgerliche Behaglichkeit, Aristokratisierung durch Besitzanhäufung und wirtschaftlicher Macht, aber eben so, wie selbstverständlich, spießbürgerlicher Kleingeist. Schopenhauer entstammte einer hanseatisch-kaufmännischen Familie und seine pedantische Unwandelbarkeit und Pünktlichkeit mag seiner bürgerlichen Herkunft geschuldet sein. Schopenhauers Wahlspruch: „nicht dem Vergnügen, sondern der Schmerzlosigkeit geht der Vernünftige nach“, deutet auf alles andere hin, als eine unstete Existenz am Rande ständiger Ausschweifungen und 32

verführerischer Abgründe. Auch mag seine wissenschaftliche Selbstdisziplin eher einer kaufmännischen Arbeitsauffassung zu entsprechen, als daß sich in ihr Züge eines kaum faßbaren Genies vermuten ließen, welches über alle bürgerlichen Tugenden erhaben scheint. So schrieb er stets in den beiden ersten Morgenstunden und teilte Goethe mit, „daß Treue und Redlichkeit die von ihm aus dem Praktischen ins Theoretische und Intellektuelle übertragenen Eigenschaften seien, die das Wesen seiner Leistungen und Erfolge ausmachen“.1 All dies ist ein Beleg für die Bürgerlichkeit seines Lebens, wie es auch ein Beleg für die bürgerliche Geistigkeit jener Epoche war. Bei Wagner überwiegen das Bourgeoise und Parvenühafte, was über seine mitunter kleingeistige Bürgerlichkeit wie ein exotisch anmutender Mantel sich legte. Thomas Mann plädiert dafür „über dem Dämonischen, Genialischen und Feuerflüssig-Vulkanischen“ in seinen Werken das „altdeutsche Element, Handwerksfromme und Sinnig-Arbeitssame“ nicht zu übersehen. Richard Wagners kosmopolitischer Impetus wiederholt sich bei Richard Strauß, wogegen sein „deutschbürgerlicher Teil“ seine Fortsetzung in dem „KäppchenMeistertum“ der Meistersinger und im „Treuefleiß“ seines musikalischen Nacheiferers Engelbert Humperdinck findet. Und wie steht es um Gustav Mahlers Genialität? Gewiß, sein Charakter der für andere oftmals schwer zu ertragen war, trug Züge des Exaltierten, wie sie in der Regel nur bei genialen Ausnahmepersönlichkeiten vorzufinden sind. Für manch einen galt er allem Ernst als Heiliger. Darüber mag man unterschiedlicher Meinung sein und es scheint auch reichlich übertrieben, ihm dieses Etikett aufgrund seiner außerordentlichen Musikalität und seines Charisma zu verleihen. Ein Heiliger war er nicht, obgleich er seine Musik als diejenige quälende Auseinandersetzung mit Gott ansah, die Heilige auszeichnet. Aber er war ein genialer Sinfoniker und außergewöhnlicher Mensch, besessen von seiner Musik, mit einer leidenschaftlichen Liebe zur Natur und zur Schöpfung, die er in seinen Kompositionen einfangen wollte. Etwas Einmaliges ging schon alleine von seiner äußeren Erscheinung aus. Bruno Walter, der später einige Sinfonien Gustav Mahlers uraufführte und zuvor die Kritiken über die Erstaufführung der Ersten Sinfonie gelesen hatte, in der die Rede von Maßlosigkeiten, Sterilität und Trivialität war, schrieb über seine erste Begegnung über diesen exaltierten Musiker: „Und da stand er nun in Person [...] bleich, mager, klein von Gestalt, länglichen Gesichts, die steile Stirn von tiefschwarzem Haar umrahmt, bedeutende Augen hinter Brillengläsern. Furchen des Leides und des Humors im Antlitz, das, während er mit einem anderen sprach, den erstaunlichsten Wechsel des Ausdrucks zeigte, eine gerade so interessante, dämonische, einschüchternde Inkarnation des Kapellmeisters Kreisler, wie sie sich der jugendliche Leser E. Th. A. Hoffmann’scher Phantasien nur vorstellen konnte“.2 Mahler war indes kein Dämon der Musik, eher ein Besessener der Musik, in der Auffassung, durch sie ein persönliches religiöses Programm zu hinterlassen. Jedoch mit dämonischem 33

Eifer arbeitete er als Kapellmeister 1894 in Hamburg um das Niveau der Staatsoper auf höchstmöglichem Niveau zu heben. Als Komponist trug er faustische Züge, die ihn veranlaßten zu sehen, „was die Welt im innersten zusammenhält“. Seine Musik verstand er als Fragen nach dem Zustand der Welt und als brennende Anklage an den Schöpfer. Ihre Widersprüchlichkeit empfand er in dem Trauermarsch seiner 1.Sinfonie und dem anschließenden Sturm des Finalsatzes in einer faszinierenden musikalischen Ausdrucksform, welche die üblichen Vorstellungen über thematische Kontinuität und Harmonielehre sprengte. In seiner Musik konnte er jenen Horizont erfassen, vor denen der Verstand kapituliert. Viele sahen Mahler als größten Sinfoniker des 20. Jahrhunderts. Die ihn gekannt und erlebt haben, waren von seinem Charisma und seiner Persönlichkeit fasziniert. Teils wurde er leidenschaftlich geliebt, bewundert, vergöttert und gehaßt. Orchestermusiker, die unter seiner unerbittlichen Strenge und Perfektion litten, planten schon mal, ihm aufzulauern um ihn zu verprügeln. Kaum jemanden ließ er gleichgültig, seine Musik forderte entweder rückhaltlose Zustimmung hervor oder grundsätzliche Ablehnung. Kritiker warfen ihm vor, daß er auch nicht davor zurückschrecken würde, Hämmer und Metallstäbe als musikalische Ausdrucksmittel in seinen schwerverständlichen Sinfonien einzusetzen. Dennoch hat er die Musik des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderer Komponist beeinflußt und Maßstäbe gesetzt. Pierre Boulez schrieb, daß an Mahlers Sinfonien keiner mehr vorbei kommt, der über die Zukunft der Musik nachdenkt. Seine Musik rief extreme Reaktionen hervor, da sie alle Extreme umfaßte. Neben einer brachialen Polyphonie von rauschhaften Klangwelten, mitunter von bizarrer Ausdruckskraft, finden sich in seinen Sinfonien kammermusikalische Elemente der Stille, Entrücktheit und Kontemplation, musikalische Miniaturen von erhabener Schlichtheit und Demut vor der Schöpfung und der Zerbrechlichkeit des Menschen. In seinen Kompositionen finden sich alle Gegenpole von euphorischer Hochstimmung, tiefer Depression, Trauer, Idealismus und Askese wieder. „Welche Eigenschaften sich auch immer in seiner Musik entdecken lassen, die diametral entgegengesetzten sind auch darin enthalten. Von welchem anderen Komponisten kann man das schon sagen“, bemerkte einmal Leonard Bernstein.3 Und Paul Brekker befand über ihn, daß er einer „der rücksichtslosesten Despotennaturen“, einer „der stärksten geistigen Potenzen unseres öffentlichen Lebens“ gewesen sei, mit den leidenschaftlichsten Energien ausgestattet und mit einem Willen von „unbeugsamer Härte, von unausweichlicher Widerstandskraft“ und einem „Temperament von dämonischer Gewalt“. Fürwahr alles Attribute, die auf einem genialischen Charakter hindeuten, der sich unter einer „unscheinbaren, schwächlichen Hülle“ verbirgt.4 Mahler selbst sah sich als Instrument auf dem das Universum spielte. Kurz vor der Vollendung seiner Dritten Sinfonie in d-moll schrieb er an die Sopranistin Anna Bahr-Mildenburg: „Nun aber denke Dir ein so großes Werk, in welchem sich in der Tat die ganze Welt spiegelt – man ist sozusagen 34

selbst nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt [...]. Meine Symphonie wird etwas sein, was die Welt noch nicht gehört hat! Die ganze Natur bekommt darin eine Stimme [...] mir ist manchmal selbst unheimlich zumute bei manchen Stellen, und es kommt mir vor, als ob ich das gar nicht gemacht hätte.“5 So etwas kann nur jemand schreiben, der sich von höheren Mächten berufen und auserwählt sieht, Genialisches zu leisten. Mahler wurde gelegentlich von seiner Inspiration dermaßen überwältigt, daß er sich als Gottgleich fühlte Bezeichnend ist hierbei eine Episode, die sich zwischen ihm und dem Dirigenten Bruno Walter zugetragen haben soll, der Mahler in seinem Komponierhäusel, in den österreichischen Alpen gelegen, besuchte und das herrliche Alpenpanorama bestaunte. Mahler bemerkte, daß er, Bruno Walter sich diese herrliche Schöpfung der Natur nicht mehr anzusehen brauche, da er sie in seiner Vierten Symphonie gerade „wegkomponiert“ habe. Über seine Dritte Sinfonie schrieb Arnold Schönberg nach ihrer Uraufführung im Jahre 1904:“ Ich fühlte das Kämpfen um die Illusionen; ich empfand den Schmerz des Desillusionierten, ich sah böse und gute Kräfte miteinander ringen, ich sah einen Menschen in qualvoller Bewegtheit nach innerer Harmonie sich abmühen; ich spürte einen Menschen, ein Drama, Wahrheit, rücksichtsloseste Wahrheit!“ Schönberg sah Gustav Mahler als einen großen Menschen, bei dem es nichts Nebensächliches gibt. Zwei Jahre nach Mahlers Tod im Jahre 1911 glaubte Arnold Schönberg in einer Gedenkrede „fest und unerschütterlich daran“, in ihm „einer der größten Menschen und Künstler“ zu sehen. In seinen Augen war Mahler ein Genie. So erklärte er die Entwicklung Mahlers von einem anfänglich unbedeutenden Kapellmeister zum überragenden Komponisten der modernen Spätromantik damit, daß im Gegensatz zum Talent, welches die Fähigkeit zum Erlernen besitzt, das Genie von vorneherein seine zukünftigen Fähigkeiten besitzt. Und da sich diese Fähigkeiten über sein ganzes Leben erstrecken, gleicht kein einzelner Moment dem anderen. Jedes Stadium ist daher Vorstufe zu weiterer Entwicklung, was sich anhand des musikalischen Gesamtwerkes Mahlers nachweisen ließe.6 Mahlers Grundthema seines Lebens wie auch seiner Musik ist das Fortschreiten zu immer neuen Zielen, auch wenn diese oftmals im Dunklen liegen, bis hin zu jenem Ziel, wo sich der Lebenskreis schließt. In vielen thematisch-musikalischen Einzelheiten läßt sich dies nachweisen. Erinnert sei an das Motiv des Wanderers, das Mahler seit seiner Jugend kompositorisch fesselte. Die Soldaten, die ewig marschieren müssen, der fahrende Gesell, der ins Ungewisse zieht „Ich bin ausgegangen in stiller Nacht [...] hat mir niemand ade gesagt [...]“, die Trauermärsche in seinen Sinfonien und die Abschiedsklage im Lied von der Erde: „Wohin ich geh’? Ich geh, ich wandre in die Berge. Ich suche Ruhe für mein einsam’ Herz“. Und am Ende des Lebens in dem schlichten Lied Urlicht im vierten Satz der 2. Sinfonie, der sogenannten Auferstehungssinfonie, der Weg zu Gott, bei dem sich alle Wege schließlich treffen. Zu dieser finalen Deutung menschlicher Existenz bedient sich Gustav Mahler der schlichten, frommen Worte aus Des 35

Knaben Wunderhorn: „O röschen rot! Der Mensch liegt in größter Not!/ Der Mensch liegt in größter Pein! / Je lieber möchte’ ich im Himmel sein [...]./Ich bin von Gott und will wieder zu Gott! / Der liebe Gott wird mir ein Lichtlein geben, / Wird leuchten mir bis in das ewig selig Leben!“ Hier trifft sich das demütige Wissen um die Endlichkeit des Menschen und die tiefe religiöse Hoffnung auf Erlösung im ewigen Leben, worin sich auch das Genialische, Titanhafte und Exzentrische letztlich wiederfindet. In seiner Arbeitsauffassung war Gustav Mahler hingegen bürgerlich diszipliniert und von pedantischer Gewissenhaftigkeit. Als Kind jüdischer Eltern im kleinbürgerlichen Milieu im böhmischen Dorf Kalischt geboren, kam er aus der explosiven Mitte der Kaiserlich-Königlichen Donaumonarchie, mit all ihren kulturellen und gesellschaftlichen Spannungen und Widersprüchlichkeiten. In seiner Kindheit lernte er viele tschechische Volksweisen kennen, die er später in seine Kompositionen einbezog.7 Freilich war seine bürgerliche Arbeitsauffassung, – während der Theaterferien ein geordneter Tagesablauf mit festen Zeiten, in denen er komponierte – kein Widerspruch zu seiner zweifelsohne genialischen musikalischen Veranlagung und seinem unvergleichlichen Charisma, mit der er andere in seinen Bann zog. Gustav Mahler ist der Beweis dafür, daß die höchsten künstlerischen und geistigen Leistungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts aus dem kulturellen Rahmen des Bürgertums hervorgingen, dessen Ressourcen unerschöpflich schienen. Und was ist mit Thomas Mann, Genie oder Weltbürger? Was seine literarischen Werke betrifft, hat er genialisches geleistet. Seine Kunstfertigkeit befähigte ihn, verschiedene Bezugsfelder des Gesellschaftlichen, Künstlerischen und Literarischen miteinander in Beziehung zu setzen und zu einem Handlungsfaden zu verschränken. So etwa in seinem Doktor Faustus, der unterschiedliche Romanfacetten vereinigt. Vordergründig betrachtet handelt es sich um einen Künstlerroman. Am 25. Juni 1948 teilte er seinem Verleger Peter Suhrkamp mit, daß es eine Art Lebensbeichte, ein zutiefst religiöses Werk sei, was er da zu Papier gebracht hätte. Als Epochenroman, in dem zwei Weltkriege und die dunkle Ära des Nationalsozialismus eine Rolle spielen, bezeichnete er ihn 1947 gegenüber Erich von Kahler. Außerdem wollte er den Doktor Faustus als eine Fassung des Faust-Mythos verstanden wissen, als Münchener Gesellschaftsroman zu Beginn des 20. Jahrhundert und als eine romanhafte Auseinandersetzung mit der Musik, die er mit seiner Sprache wiedergeben wollte. Damit hat er die Vielschichtigkeit und Staffelung der Bedeutungsebenen in bis dahin nicht gekannte Höhen getrieben; wahrhaft die genialische Leistung eines universalistisch gebildeten Schriftstellers und sprachlichen Ästheten, verbunden mit einer brillanten literarischen Dramaturgie. Dennoch, Thomas Mann war, wie die vorgenannten, ein typischer Vertreter des Bildungsbürgertums, voller Ehrgeiz und Disziplin, getragen von jener protestantischen Leistungsethik, die im Schicksal der Familie Buddenbrook anklingt und es ihm ermöglichte, ein großes schriftstellerisches Gesamtwerk zu hinterlassen. Schon 36

alleine seine sprichwörtliche Disziplin, regelmäßig eingehaltene Stunden mit seiner schriftstellerischen Arbeit am Schreibtisch zu verbringen, sich einem geordneten Tagesablauf zu unterwerfen, deutet auf seine Herkunft aus einer kaufmännischen Besitzbürgerfamilie hin, in der Ordnung, feste Regeln und ein gewisser Wille zur Leistung, Voraussetzungen zur persönlichen Selbstverwirklichung und Vermehrung des materiellen Reichtums bilden. Die Anordnung seines Schreibtisches unterlag ebensolchen Ordnungs- und Gewohnheitsprinzipien, wie seine gesamte Lebensführung. Bei seinen mehrfachen Umzügen in neue Wohnstätten oder genauer gesagt in repräsentative Refugien bestand er auf die Instandsetzung seines Arbeitszimmers vor jeder anderen Einrichtung der übrigen Wohnräume, nebst Büchern und sonstigem Zubehör. Seine Tagebücher enthüllen ihn freilich als einen Menschen, dem die alltäglichen Unbilden genau so zusetzten, wie sie auch normale Durchschnittsbürger gelegentlich heimsuchen. Marcel Reich- Ranicki schreibt über ihn, daß er empfindlich wie eine „Primadonna und eitel wie ein Tenor“7 gewesen sei. Ohne direkt am Leben teilzuhaben, hat er es dennoch mit präziser Schärfe beschrieben. Ihm war die Darstellung des Menschlichen ungleich wichtiger als die Teilnahme am Menschlichen. Jenes Minimum an menschlicher Erfahrung, die sich normalerweise aus einer empathischen Hinwendung zu anderen Menschen einstellt und zu der er kaum in der Lage war, kompensierte er in genialer Weise durch ein „Maximum an Literatur“. Beobachter erschien es, als seien andere Menschen nur insoweit von Interesse wenn sie ihm als Vorlagen seiner Romanfiguren dienten. Heinrich Mann erwähnte in einem Brief vom 5. Januar 1918 an seinen Bruder Thomas dessen „wütende Leidenschaft für das eigene Ich“. Ihr verdanke er „einige enge, aber geschlossene Hervorbringungen“, doch auch „die Unfähigkeit, den wirklichen Ernst eines fremden Lebens je zu erfassen“8 Sicherlich ist dieser Vorwurf seines erzürnten Bruders eine maßlose Übertreibung, denn die Feinfühligkeit und die scharfe Beobachtungsgabe, mit der Thomas Mann seine Romanfiguren zeichnete, widerlegt solches. Thomas Mann war schon in der Lage den wirklichen Ernst eines fremden Lebens mit großem Einfühlungsvermögen zu erfassen und zu beschreiben. Die Charakterisierungen seiner Romanfiguren in den Buddenbrooks belegen dies. Seine Egozentrik erlaubte ihm hingegen nicht sich mit den Schicksalen anderer Menschen, selbst mit denen aus seiner unmittelbaren Umgebung, zu identifizieren. Sein Maß an Einfühlungsvermögen bezog sich allenfalls darauf, in abstrakter Form den konstruierten Charakter seiner Romanfiguren darzustellen, auch dann, wenn er sie seinem unmittelbaren Umfeld entnommen hatte. Den Eskapaden seines ältesten Sohnes Klaus stand er befremdlich distanziert gegenüber, ohne zu reflektieren, daß diese auch möglicherweise etwas mit seiner Vaterrolle zu tun haben könnten. Auch die innere Not Golos übersah er, wie er ebenso wenig dessen literarische und wissenschaftliche Leistung als Historiker zur Kenntnis nahm. Die Geburtstage seiner Kinder Elisabeth und Michael vergißt er, obgleich er darauf achtet, seine 37

Geburtstage gebührend zu feiern. Sein Lieblingsenkel Frido wird in der Gestalt des Knaben Echo in Doktor Faustus adaptiert. Er läßt ihn aufgrund einer unheilbaren Krankheit, deren Verlauf er mit präziser Genauigkeit beschreibt, eines fürchterlichen Todes sterben. Auch in diesem Fall versagt sein Einfühlungsvermögen sich vorzustellen, welche psychischen Auswirkungen die Adaption eines geliebten Menschen als Romanvorlage unter solchen tödlichen Umständen nach sich zieht. Im Nachhinein muß er darüber wohl auch ein schlechtes Gewissen empfunden haben, denn wohlwissend, daß eine „literarische Ermordung“ leicht zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden kann, schrieb er 1955 in einem Brief: „Gottlob hat der Kleine seine Ermordung durch den Bösen gut überstanden. Er ist jetzt schon fast fünfzehn geworden[...]. Er weiß nichts davon, daß ihn einmal der Teufel geholt, aber ich fühle mich immer etwas in seiner Schuld und freue mich an jedem Jahr, um das er älter wird“.9 Irgendwann, vielleicht nicht gerade mit fünfzehn Jahren, hat Frido den Roman seines Großvaters gelesen und es ist ihm mehr als befremdlich erschienen, daß er als kleines Kind einer Romandramaturgie als leibhaftige Vorlage gedient hat, die mit seinem fiktiven Tode endete. In seinem autobiographischen Roman Professor Parsifal schrieb er jedenfalls, daß ihn Zeit seines Lebens der Tod des „Echos“ verfolgt habe. Thomas Mann mußte selber um die suggestive Kraft seiner Literatur und insbesondere seines Doktor Faustus gewußt haben. Während er noch an dem Roman arbeitete ereilte ihn eine lebensgefährliche Erkrankung und mußte deswegen an der Lunge operiert werden. So wie seine Mutter im Alter von siebzig gestorben war, glaubte er auch, im Alter von 71, also im Jahre 1945, zu sterben. Der Gedanke ließ ihn nicht los, daß das Schreiben dieses „düsteren“ Romans und seiner Erkrankung mit seinen Todesphantasien zusammenhingen. In fast allen seinen Werken ziehen sich das Sterben und der Untergang maßgeblicher Romanfiguren wie ein roter Faden hindurch. Und immer ist der Tod, mit dem Sterben eines nahen Verwandten symbolisch verknüpft. Ob ihm diese schicksalhaft anmutenden Gleichungen selber bewußt waren, mag bezweifelt werden. In seinen Tagebüchern und Briefen finden sich hierzu keine Hinweise. Aus psychologischer Sicht besaß Thomas Mann die Genialität, seine unbewußten Ängste und traumatischen Schattenbilder, ohne sie reflektieren zu müssen, in Literatur niederzuschreiben, um ihrer zerstörerischen Substanz zu entgehen. Und so ist er, überwiegend auf der Sonnenseite des Lebens stehend, gemessen an den tragischen Schicksalen seiner engsten Familienangehörigen, die zum Teil durch Selbstmord endeten, noch einigermaßen glimpflich davongekommen. Es sind jene egozentrisch ausgemalten Facetten, die das Bild eines um sich selbst kreisenden Genies zeichnen. In seinen Tagebüchern finden sich zahlreiche Hinweise darauf, daß er zwar imstande war, auf fremdes Leben einzugehen, aber kaum bereit dazu war, es sei denn, er benötigte solcherart Einfühlungen für das Buchprojekt, an dem er gerade arbeitete. Es waren eher die belanglosen, alltäglichen Unannehmlichkeiten, die er für wichtig genug 38

erachtete, sie in seinen Tagebuchaufzeichnungen zu erwähnen, als die menschlichen Katastrophen, die sich um ihn herum ereigneten. Aufgrund der Tatsache, daß Künstler, wie auch Schriftsteller unser Leben bereichern, lösen ihre Persönlichkeiten und das, was wir in ihnen sehen wollen, durchweg positive Assoziationen aus. Oftmals neigt man dazu, die Größe ihrer Persönlichkeit mit der Bedeutsamkeit ihrer künstlerischen Werke gleichzusetzen. Nicht selten freilich verbirgt sich hinter der Identität als Künstler ein oftmals schwer zu ertragener Charakter. Aber vielleicht sind sie gerade wegen ihrer charakterlichen Unzulänglichkeiten zu diesen ungewöhnlichen Leistungen fähig. Der Versuch eigene Konflikte zu bewältigen, die Balance zwischen dem Leben als Künstler, Schriftsteller, Dichter und dergleichen und den alltäglichen Anforderungen aufrecht zu erhalten, mögen sie noch so unbedeutend und in ihrer Tragweite geringfügig sein, überlagert eine wirkliche Anteilnahme am Schicksal anderer Menschen oder gar der unmittelbaren Umgebung. Alles dreht sich in egozentrischer Befangenheit um die eigene Person, deren kleinliche Marotten und Indispositionen. Desgleichen gilt auch für Thomas Mann. Es ließe sich daher über ihn sagen, daß er kein sehr angenehmer Mensch gewesen sei, für seine unmittelbare Umgebung eher schwierig, mitunter unnahbar und in gewisser Weise „abstoßend“. Aber in dieser Hinsicht ist er kein Einzelfall, über Goethe, Rilke, Brecht, Wagner und Heine könnte man ähnliches behaupten und als sympathisch werden nur diejenigen Genies bezeichnet, über die man fast gar nichts weiß, „Wolfram von Eschenbach etwa oder Shakespeare“.10 Auf den ersten Blick erscheint manches an ihm parvenühaft und spießig. In Wirklichkeit verbarg sich dahinter jedoch eine schiere Eitelkeit, die zum Theatralischen neigte, eine Leidenschaft für das Komödiantische enthielt. Stets spiegelte sich in seinen Tagebuchaufzeichnungen die Rolle wider, die er glaubte spielen zu müssen und die für ihn nur die Hauptrolle in allen Inszenierungen des täglichen Lebens sein konnte. Ihm war an einem Lebensrahmen gelegen, der sich seiner Person angemessen und würdig genug präsentierte und in dem er seine Auftritte inszenieren konnte, egal ob es sich hierbei um Vorträge, Gesellschaftsabende oder Interviews handelte. Immer war er darum bemüht, Eindruck zu hinterlassen, denn wo er auftrat, war der Mittelpunkt des Geschehens. In seinen Tagebüchern läßt Thomas Mann sich über die tägliche Wahl seiner Anzüge und Krawatten eben so aus, wie er die unleidlichen Unpäßlichkeiten beklagt, die ihm gelegentlich seine Verdauungsprobleme bereiteten. Seinen Tagebüchern wird ausführlich anvertraut, welchen Frack er zu diversen Gelegenheiten trug und wie es um den Zustand der Terrassen und Salons seiner Gastgeber bestellt war, und ob sie auch den Ansprüchen nach Repräsentation seiner Person geeignet erschienen. Niemals erfahren wir, welches Kleid seine Ehefrau Katja trug, ob ein langes oder kurzes, seidenes oder wollenes, ob sie dazu Hüte trug oder nicht. Gewiß ist ihm mit Stolz nicht entgangen, wie sie sich selbst im steten Hintergrund seiner alles überstrahlenden Person sah und sich bescheiden Frau Thomas Mann nannte. Neben allem Außerordentlichen 39

und gewiß Genialischem traten immer wieder Züge fast schon kleinlicher Geltungssucht hervor, die eher dem Charakter eines Kleinbürgers entsprechen und weniger einem „Aristokraten“ der Literatur anstehen. Wann immer sich auch eine Gelegenheit bot, bestand er darauf, unabhängig von den jeweiligen Stimmungen und Launen, die ihn heimsuchten, aus seinen entstehenden Werken vorzulesen, selbst wenn dies, was gelegentlich der Fall war, nur vor einem Zuhörer stattfand. In Princeton begnügte er sich zur Not mit einem mehr oder weniger zufällig anwesenden Gast, wobei er auch bei solchen Gelegenheiten größten Wert auf Zustimmung legte. Einwänden, wenn sie auch noch so vorsichtig und devot vorgetragen wurden, bescheinigte er in seinem Tagebuch „kleinliches Gebaren“. Seinem Tagebuch vertraute er an, daß er anläßlich eines Theaterbesuches in Zürich, wo Shakespeares Heinrich IV aufgeführt wurde, in der Pause „mit Genuß Kaffee getrunken“ habe, dabei mit keinem Wort erwähnt, welchen Eindruck die Aufführung auf ihn hinterlassen hatte. Auch jeder Gang zum Friseur und die Art und Weise seiner dort stattfindenden Haarbehandlung ist es wert, für die Nachwelt niedergeschrieben zu werden. Sein Gesundheitszustand, der ihm ständig zu schaffen macht, wird mit peinlichster Genauigkeit dem Tagebuch anvertraut. Eben so gibt sein Tagebuch Auskunft darüber, wie es hinter der Fassade seines arroganten und mit Ironie und Würde zur Schau getragenen Auftretens in der Öffentlichkeit bestellt war. Unschwer ist hinter dem, was er während eines Aufenthaltes im März 1933 im schweizerischen Kurort Lenzerheide vermerkte, der von Selbstzweifeln und Ängsten geplagte Neurotiker zu erkennen: „Nach dem Erwachen zunehmender Erregungs- und Verzagtheitszustand, krisenhaft, von 8 Uhr an unter K’s Beistand. Schreckliche Excitation, Ratlosigkeit, Muskelzittern, fast Schüttelfrost u. Furcht, die vernünftige Besinnung zu verlieren. Unter dem Zuspruch von K’s mit Hilfe von Luminaletten u. Kompressen langsame Beruhigung [...].“ Nachdem ein Arzt hinzugezogen wurde, bleibt Thomas Mann im Bett „und verweilt im Hindämmern“.11 Todesnachrichten über andere werden, wie beispielsweise im Falle Stefan Georges kommentarlos registriert. Andere wiederum lösen Äußerungen aus, die nicht dem Toten gelten, sondern auf ihn selbst bezogen sind, wie etwa beim Tode Jakob Wassermanns: „Warum hinschreiben, daß der Tod des Generationsgenossen und guten Freundes die Frage, wie lange ich selbst noch leben werde, recht lebhaft wachruft“? Als eine Zeitung den Tod Wassermanns erwähnt und dabei beiläufig feststellt, daß dieser mit der deutschen Literatur fast nichts zu tun gehabt habe, fragt er: „Ist das auch mein Nekrolog?“ 12 Alles was er seinen Tagebüchern anvertraut handelt stets von ihm selbst, seinen Ängsten, Dämmerzuständen, Depressionen und dem Ekel, den er vor diesen Unbilden empfindet und den ihm das alltägliche Leben zu bereiten schien. Vor allem die Verdauung bereitet ihm Probleme und medizinischen Mitteln schien da wenig Erfolg beschieden zu sein. Bisweilen klagt er über „Durchfall“ oder auch wechselweise über „Verstockung des Unterleibs“ und „hartnäckiger Konstipation“. 40

Dies alles ist von solcher Bedeutung für sein Dasein als Großschriftsteller, wie gleichfalls der Erwerb „leinener Unterhosen“ verdient, erwähnt zu werden. Selbst 1933, als seine und Deutschlands Zukunft dunkel bedroht wurde, notierte er den Umstand, daß er im Badezimmer stehend, sich rasiert und Zigarren und Zigaretten gekauft habe. Obwohl er längst als einer der größten Schriftsteller des Jahrhunderts galt, war er nach Anerkennung und Selbstbestätigung nahezu besessen. Dankbar notierte er jede Begegnung mit Menschen, die ihn erkannten und sich über seine Bücher freundlich ausließen. Während einer Atlantik-Überfahrt im Mai 1934 beklagt er das „besonders niedrige geistige Niveau“ seiner Tischgesellschaft und läßt auch keinen Zweifel darüber aufkommen worauf er dieses vernichtende Urteil zurückführt, nämlich aus dem Umstand, daß jenen Mitreisenden seine Existenz völlig unbekannt sei. Also gekränkte Eitelkeit, die gewisse „Empfindungen von Beschämung“ bei ihm hervorrufen. Andererseits vermerkt er in aller Ausführlichkeit, wenn ihm anläßlich von Vorträgen oder Lesungen enthusiastischer Beifall entgegengebracht wurde. So heißt es im November 1933, daß man ihn mit „stärkstem, lang andauerndem Applaus“ empfangen habe. Ist der Applaus hingegen zu kurz, so ist er hierüber in „kindischer Weise verstimmt“. Alles was ihm widerfährt, ob positiv oder negativ besetzt, wird von ihm mit dem Kern seiner Persönlichkeit, seiner künstlerischen Existenz untrennbar verbunden. Es geht ihm allem Anschein nach immer um Sein oder Nichtsein seines Selbstverständnisses, welches vom Urteil und den „schicksalhaften“ Umständen des Alltäglichen abhängig zu sein scheint. Er fühlte sich sehr geschmeichelt, wenn man ihn in die Nähe zu Goethe brachte, so wie der ungarische Religionswissenschaftler Karl Kerenyi, der 1937 deswegen nach Küßnacht gekommen sei, wie er schrieb, „um eine Pflicht des in Europa Reisenden zu erfüllen, wie einst der Aufenthalt in Weimar es war“.13 In seinem Tagebuch vermerkte er mit gewissem Stolz „hübsch, hübsch“. Die renommierte Yale University beabsichtigte ein Archiv mit Dokumenten über sein Leben und Werk einzurichten und teilte ihm dies mit. Thomas Mann kommentierte, daß derartige Briefe seinerzeit Goethe empfangen habe und bekannte aufrichtig wie bedeutungsvoll: „Ich schiele“.14 Man hat Thomas Mann dieses „Schielen“ als eitles Getue oftmals verübelt und ihm Hochmut und Größenwahn vorgeworfen. Vermutlich war es nur das Anlehnen an einer bedeutenden Persönlichkeit der deutschen Literaturund Geistesgeschichte, um die neurotischen Qualen der eigenen Grenzen und Unsicherheiten zu kompensieren. Thomas Manns Enthüllungen stehen scheinbar nicht nur im Widerspruch zu dem Bild eines ironisierenden Weltmannes der Literatur, sondern auch des disziplinierten Systematikers, der mit nahezu zwanghafter Akribie, seine täglichen drei Stunden am Schreibtisch verbrachte, um eine Manuskriptseite zu produzieren. Das letztere erinnerte eher an einen Beamten, als an einen Künstler, der mit den bürgerlichen Regeln von Ordnung und arbeitsamer Systematik gewöhnlich eher auf Kriegsfuß steht, als daß sie ihm entsprächen. 41

Aber selbst diese profanen Banalitäten, deretwegen er zur Feder griff, um sie seinen Tagebüchern anzuvertrauen, stellten keinen Widerspruch zu seinen außerordentlichen künstlerischen Fähigkeiten dar. Sie bildeten vor dem Hintergrund seines Lebenswerkes nur einen nebensächlichen Aspekt seiner facettenreichen Persönlichkeit. Thomas Mann ist der Beweis dafür, daß sich Genialisches und Bildungsbürgerliches, und selbst das politische Engagement, welches er während seiner Emigration in den Vereinigten Staaten an den Tag legte, nicht einander ausschließen. Die Werke von Thomas Mann und Gustav Mahler, sowie vieler anderer bedeutender Denker und Dichter deren Namen aufzuzählen, den Rahmen sprengen würde, machen deutlich, zu welch außerordentlichen geistigen und künstlerischen Leistungen das Bürgertum im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert fähig gewesen ist. Hierauf hätte es sein Selbstbewußtsein beziehen müssen, statt sich einen hemmungslosen Nationalismus auszuliefern. Der Historiker Peter Gay hat in seinem Buch Die Republik der Außenseiter den verzweifelten und letztlich vergeblichen Kampf eines großen Teils der damaligen künstlerischen und geistigen Elite in der Weimarer Republik gegen den rasenden Siegeszug des Nationalismus, der inzwischen zum Faschismus geworden war, aufgezeigt.15 Am Ende dieses Widerstandes gab es nicht nur eine verlorene Demokratie, sondern eben so ein verlorenes, sich selbst um seine Kultur gebrachtes Bürgertum. Dringender denn je, bemühten sich dennoch die kritischen und aufgeklärten Intellektuellen um Antworten auf eine Erneuerung des Menschen zu finden. Jedoch schien eine Lösung infolge des Siegeszuges des Kapitalismus und der Bedrohung, die durch die totale Automatisierung der Arbeitswelten, sowie der zunehmenden Merkantilisierung der gesellschaftlichen Lebenswelten einherging in weiter Ferne gerückt. Hinzu kam die offenkundig unheilbare Dummheit und Resistenz der Oberschicht und des verbleibenden Adels, sowie des hilflosen, apolitischen Spießbürgertums, die einer Demokratisierung der Gesellschaft entgegenstanden. Und so war es kein Wunder, daß ein großer Teil der Führungseliten des Nationalsozialismus aus den Reihen gebildeter Akademiker kam, die nicht selten eine klassische und humanistische Bildung genossen hatten.

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Kapitel 3.1 Bildungsbürgertum und Besitzbürgertum – Kulturkritische Anmerkungen zu Fontanes JennyTreibel und Thomas Manns Buddenbrooks Salonkultur und Spuren des Frühkapitalismus. Bürgertum und Bourgeoisie. Plüsch und Plunder. Theater an der Oberfläche. Bürgerlichkeit als falsches Selbst. Leistungsethik und die Neurasthenie der Zeit. Zur Moral des Frühkapitalismus. Spuren der Entfremdung. In seinen Betrachtungen eines Unpolitischen hat sich Thomas Mann zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Begriff des „Bürgers“ auseinandergesetzt, der nach seiner Auffassung durch das Literatentum, welches in einer „übersetzten Welt lebt und webt, auf schmählichste verderbt worden“ ist. Die Übersetzung aus dem französischen Begriff des bourgeois, wie die Pariser boheme ihn sah, verkennt den romantischen Zauber, welcher dieser Lebensart innewohnt, und wurde statt dessen als „Lieblingsschimpfwort unserer Literatenschaft“ benutzt, was sicherlich auch mit der weitverbreiteten Franzosenfeindlichkeit zu tun hatte, die bereits Heinrich Heine beklagte. Der Begriff des Bürgers stand im 19. Jahrhundert für das Amusische, Engherzige und auf Nützlichkeit Bedachte, „welcher gerade gut genug dazu war, durch den Anblick seiner kümmerlich gravitätischen Sattheit der Sammetflausherrlichkeit des artistischen Libertins immer neue Lust sich selber einzuflößen“. Die deutsche Romantik besaß kein adäquates Wort um den Begriff des Bohemiens mit seinen Inhalten von Kunst, Liberalität und Musischem zu füllen. Sie sprach dagegen vom Philister; „aber es mit „Bürger“ zu übersetzen, ist ein Literatenunfug“. Der Philister ist ein wesentlich unromantischer Mensch, zum deutschen Bürgertum hingegen gehört ein romantisches Element, denn „der Bürger ist romantischer Individualist, denn er ist das Produkt einer überpolitischen oder doch vorpolitischen Epoche einer Humanitätsepoche [...]. Der Philister (dagegen, Anm.d.d.Verf.) ist Spießbürger, ist Staatsbürger und nichts als das, nichts darüber hinaus [...]“.1 Er möchte für alle berechenbar bleiben, sein Leben führt er ohne Anspruch an Transzendenz, alles tut er um des irdischen Lebens willen. Dieses möchte er gerne immer als derselbe durchleben mit einer statischen unwandelbaren Identität, im Sinne einer Arretierung seiner Gewohnheiten und Ansichten, sich ganz der Nützlichkeit verschrieben haben. Dem Philister fehlt es an Phantasie und romantischer Tiefe. Das Normalmaß genügt ihm, um ein zufriedenes, selbstgefälliges Leben zu führen, in dem sich alles um seine Ressentiments dreht. In ihm sehen wir bereits einen Vorläufer des späteren Besitzbürgers, der Kultur und Kunst nur noch als Statussymbole seiner eigenen Beschränktheit betrachtet, und weit mehr den angepaßten Untertanen, der sich um der Anpassung nach oben hin willen stetig selbst verleugnet und ein „falsches 43

Selbst“ besitzt. 2 Über die Philister schrieb Novalis: „Poesie mischen sie nur zur Notdurft unter, weil sie nun einmal an eine gewisse Unterbrechung ihres täglichen Laufs gewöhnt sind. In der Regel erfolgt diese Unterbrechung alle sieben Tage, und könnte ein poetisches Septanfieber heißen“. 3 Aus Sicht des Künstlers, zumal des Romantikers, erscheint die bürgerliche Welt mit ihren Prinzipien von Gewinn und Verlust, ihrer merkantilen Weltanschauung, verbunden mit einem ökonomischen und gesellschaftlichen Nützlichkeitsdenken, als eine einzige Sphäre des Unheiligen, die sich gegen die angebliche Reinheit und Lauterkeit der Kunst an sich richtet. Indem das Bürgerliche die Kunst benutzt, entweiht sie diese. Dennoch kamen auch die romantischen Kunstformen nicht umhin, sich auf dem Markt der Nützlichkeit und des Profites feilzubieten. Die Genremalereien des 19. Jahrhunderts sind sichtbare Zeichen der notwendigerweisen Merkantilisierung von Kunst. Deswegen bemerkt auch der Ritter Gluck in dem gleichnamigen Roman von E.T.A. Hoffmann mit Blick auf den bürgerlichen Kunstmarkt, etwas „Heiliges den Unheiligen“ verraten zu haben. Der Besitzbürger des 19. Jahrhunderts sah Kunst in ihren verschiedensten Ausdrucksformen nur unter den Gesichtpunkten ihrer Zweckmäßigkeit als Statussymbol für das profane Leben, gewissermaßen als Ausdruck seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung. Erfüllte sich dieser Anspruch nicht, gab es für ihn keinen nachvollziehbaren sinnvollen Zugang. So erzählt E.T.A. Hoffmann von einem tüchtigen Kommerzienrat, daß dieser nach dem Anhören einer Sinfonie seinen sichtlich beeindruckten Nachbarn fragt: „und was, mein Herr, beweist uns das [...]?“ 4 So wenig wie der Philister bemerkt, daß er einer ist, so stolz ist der Bildungsbürger auf seinen Fundus an Bildung und Kultur und bemerkt beizeiten nicht, daß auch er allmählich es dem Besitzbürger an gesellschaftlichen Ansehen und materiellem Wohlstand gleich tun möchte. Für den Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl hat das Besitzbürgertum das Bürgertum als politisches Element des Staates verraten und in diesem Verrat liegt seine Unmündigkeit begraben. So beklagte Riehl den Stumpfsinn gegen jegliches soziale Interesse, eine gewisse Gleichgültigkeit gegen alles öffentliche Leben überhaupt. Er sah einen großen Teil des modernen Bürgertums aus der Gesellschaft „förmlich ausgeschieden“ indem sich der einzelne in die „vier Wände seines Privatlebens“ zurückgezogen hat. „Die Schicksale des Staates und der Gesellschaft wecken nur noch insoweit seine Teilnahme, als ihm ein persönlicher Vorteil dabei ins Auge springt, als sie ihm Stoff zur Unterhaltung oder wohl gar Anlaß zu gelegentlicher Prahlerei bieten. Man faßt diese ganze große Sippe unter dem Namen der Philister zusammen“. 5 In Bezug auf den deutschen Bürger führte Jahrzehnte später Thomas Mann in optimistischer Weise aus: „Der deutsche Bürger ist heute Staatsbürger, Reichsbürger, und der Krieg arbeitet mit Macht an der Vollendung seiner politischen Erziehung. Aber nie wird er Staatsphilister, Reichsphilister sein, nie glauben lernen, daß der Staat Zweck und Sinn des menschlichen Daseins sei, 44

daß die Bestimmung des Menschen statt in humanistischen Denkgebäuden im Staat aufgehe. „Deutsche Bürgerlichkeit“ war für Thomas Mann immer auch „deutsche Menschlichkeit, Freiheit und Bildung“. Thomas Mann meinte dies in der Tradition humanistischer, vernunftgeleiteter Aufklärung. Vom kommenden Sündenfall des Bildungsbürgertums, welches er sicherlich vor Augen hatte als er diese Zeilen schrieb, ahnte er damals noch nichts. Es sollte sich zeigen, daß eben dieser Bürger zum Philister regrediert und seinen Selbstzweck in der pseudoreligiösen Verherrlichung des Obrigkeitsstaates fand und seinen Kotau vor dessen machtvollen Symbolen leistete, welche die wilhelminische Gesellschaft prägten und dieser Prozeß begann nicht erst zu Thomas Manns Zeiten. Einen wesentlichen Anteil an dieser fatalen Entwicklung hatten die deutsche Gelehrtenschaft und insbesondere die Historiker, die durch ihre chauvinistische Einstellung dem Philistertum Vorschub leistete. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 und den nachfolgenden liberalen Hoffnungen des gebildeten Mittestandes, die gänzlich in den adelsständischen Strukturen der deutschen Kleinstaaten untergingen, zog sich das Bürgertum auf die gesellschaftlichen Ebenen des Geldverdienens und Geldausgebens zurück. Ein Dasein, welches auf Dauer nicht zufriedenstellen konnte und den gleichen „horror vacui“ hervorrief, den Dolf Sternberg in seinem Buch Panorama- oder Ansichten vom 19. Jahrhundert beschrieb. Die Leere ihres Lebens versuchte das saturierte Bürgertum sie mittels kitschiger Symbolik zu überbrücken, in dem sie die Innendekorationen ihrer Wohnräume mit ausgestopften Pfauen, Hirschgeweihen, Fellen, Trophäen verschiedenster Art, Bildern, Vasen, bemalten Tellern und sonstigen Behängen ausstatteten, so daß dort keine Leerräume mehr übrig blieben. Die deutsche Professorenschaft, von den kapitalistischen Besitzgütern ausgeschlossen, zog sich in ihr privates Gelehrtendasein zurück. Während im übrigen Europa etliche Staaten demokratische Verhältnisse einleiteten, blieb Deutschland ein Staat, „in dem Entscheidungen über Lebensart und Freiheiten der Bürger weiterhin von Personen und Organen getroffen wurden, die nicht der Kontrolle des Parlaments oder des Volkes unterlagen. Und die große Mehrheit des Volkes lehnte sich gegen diesen Zustand nicht auf“.6 Der liberale Historiker Theodor Mommsen sprach angesichts solcher politischer Lethargie von einem pseudokonstitutionellen Absolutismus unter dem die Deutschen lebten und den sie innerlich akzeptiert hätten.7 Nach der Reichsgründung im Jahre 1871 gingen selbst die republikanischen und demokratischen Traditionen der Gelehrtenschaft, welche die Paulskirchenversammlung beeinflußt hatten, zurück. Der von oben gewünschte Konformitätsdruck an die politische und gesellschaftliche Einstellung des Bürgertums, betraf ebenso auch die deutsche Gelehrtenschaft bis in die Universitäten hinein. Liberale und demokratisch gesinnte Gelehrte, wie der Historiker Theodor Mommsen oder Rudolf Virchow blieben die Ausnahmen. Den Universitäten wurde die Aufgabe zugesprochen, „den Staat an seine allgemeine und sittliche Natur zu erinnern und ihm Wege zu weisen“.8 45

Damit war aber auch der Weg einer engen Komplizenschaft zwischen Obrigkeitsstaat und Gelehrtenschaft in ideologischer Hinsicht vorgezeichnet. Im zweiten Deutschen Kaiserreich besaß Deutschland einen Überfluß an Professoren, die zumeist politisch zwar naiv und beschränkt waren, was sich vor allem in der Beurteilung praktischer und öffentlicher Angelegenheiten zeigte, die aber gewissermaßen als Ausgleich zu ihrer untergeordneten gesellschaftlichen Stellung einem rüden Nationalismus verfielen. Eifrig waren sie darum bemüht, in der gesellschaftlichen Hierarchie nach oben zu kommen, an deren Spitze freilich der Offiziersstand und die Adelsklasse standen. Diesen klassenspezifischen Unterschied versuchten sie daher durch Servilität, Eitelkeit und vor allem in einem übertriebenen Nationalismus, der sich in einem Militarismus und Chauvinismus durch die Feder ihrer teilweise haßerfüllten Traktakte ausdrückte, zu kompensieren. Zwar war ihre geistige Haltung zu politischen Gegenwartsprobleme indifferent bis hin zur Teilnahmslosigkeit, was sie aber nicht daran hinderte, ein Gefühl der Überlegenheit über andere Völker und Kulturen zu entwickeln. Mit dieser Attitüde der Überlegenheit verachteten sie insbesondere die lateinischen Rassen, welche sie als moralisch korrupt, degeneriert und dekadent hielten. Der im 19. Jahrhundert stets virulente Franzosenhaß, der seinen Ursprung in der napoleonischen Besetzung hatte, wurde in großen Teilen der deutschen Professorenschaft in außerordentlicher Weise gepflegt. Nach 1871 fand ihre chauvinistische Haltung in den unzähligen Sedangedenktagen, die noch während der Weimarer Republik veranstaltet wurden, den gegebenen Anlaß einem militärisch- vaterländischen Patriotismus, nach dem Motto: „wir Deutsche fürchten Gott und sonst niemand auf der Welt“, das Wort zu reden. Aus ihrem Minderwertigkeitskomplex heraus, entwickelten sie einen Haß auf die westlichen Demokratien mit ihren „elenden“ parlamentarischen Auseinandersetzungen. Jeder, der außerhalb ihres Furor teutonicus stand wurde auf das heftigste bekämpft. Es verwunderte schon, welche Aggressionen bei ansonsten braven und biederen Universitätslehrern, Professoren und Gymnasialprofessoren freigesetzt wurden, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit zu solchem ermunterte. Den wirklichen sozialen Ungerechtigkeiten, von denen sie selbst teilweise betroffen waren, standen sie mehr oder weniger teilnahmslos gegenüber. Diese Phänomene waren für sie uninteressant und entsprachen nicht ihrer innengeleiteten Weltsicht, die Thomas Mann in seiner Novelle Unordnung und frühes Leid treffend am Beispiel des Geschichtsprofessor Cornelius aufgezeigt hatte. Dieser hatte zu verstehen gegeben, daß Professoren der Geschichte die Geschichte nicht lieben, sofern sie geschieht, sondern sofern sie geschehen ist, da in der Attitüde realitätsabgewandter Vornehmheit die geschichtlichen Umwälzungen der Gegenwart als gesetzlos und unhistorisch empfunden werden. Was Professor Cornelius stellvertretend auf die Geisteshaltung des Bildungsbürgertums bezog, war indes durchgängiges Wesensmerkmal der professoralen Gelehrtenschaft im späten 19. Jahrhundert. Fernab von den sozialen und politischen Gegenwarts46

problemen bemühte man unentwegt den deutschen Traum von Auserwähltheit, Überlegenheit der Rasse und des Volkstums und konnte oder wollte nicht wahrhaben, wie die Welt sich da draußen veränderte. Der Auszug des Bildungsbürgertums aus universalhumanistischen Denkgebäuden hin zu den nationalistischen und rassistischen Ideenformationen vollzog sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts und wurde insbesondere durch die Reichsgründung unter der Vorherrschaft Preußens befördert. Aus dem kultur- und bildungsbeflissenen Bürger der fürstlichen und königlichen Kleinstaaten wurde der angepaßte Untertan im preußischen Obrigkeitsstaat, und wir werden noch sehen wie eine derartige Mentalität sich gewisser Projektionen und Verschiebungen bedient, um seiner eigenen Ohnmacht nicht bewußt zu werden. Im Gegensatz zu einem patriotischen Verständnis, welches sich auf die unterschiedlichen kulturellen und sozialen Lebenswelten der Menschen in den unterschiedlichen deutschen Regionen bezog, besaß der nationalistische Anspruch einen autoritären und exklusiven Charakter, der andere Lebensformen nicht zuließ und statt diese anzuerkennen, unentwegt Feindbilder schuf. An allererster Stelle waren dies die Juden und der französische Nachbar. Im Deutschen Kaiserreich verfiel daher das Bürgertum unter dem Einfluß eines rigiden Nationalismus einer bemerkenswerten Regression hinter dem die tradierten Wertvorstellungen der Bürger in den deutschen Kleinstaaten nicht mehr sichtbar wurden. In seinem Buch Von Bismarck zu Hitler hat Sebastian Haffner sie als friedliche, kulturbeflissene Bürger beschrieben, die für niemanden in Europa eine Gefahr darstellten. In ihren Fürstentümern und kleinen Königsreichen waren die Deutschen friedlich und kulturbeflissen und schauten gelassen auf die übrigen Nationalstaaten und Großmächte herab. Man war in gewisser Weise stolz Schleswig-Holsteiner, Schwabe, Badenser, Sachse, Hesse oder Rheinländer zu sein, mit all den charakterlichen Eigenheiten, den Bräuchen und teils eigenwilligen Dialekten, die sie einander unterschieden. In ihren privaten Räumen durften sie, allerdings weit von politischen Ambitionen entfernt, einfach Mensch sein und ihren kulturellen und literarischen Neigungen nachgehen. Jedenfalls galt diese Lebensart für das Großbürgertum und mit gewissen Einschränkungen für weite Teile des sogenannten Bildungsbürgertums. Dem Bildungsbürgertum war das Politische fremd; es stand dem Politischen fremd gegenüber, weil Bildung niemals als politische Bildung verstanden wurde. Denn der, wer den „furor philosophicus“ im Leibe hat, so Nietzsche, wird keine Zeit für den „furor politicus“ aufbringen und wird sich wohlweislich hüten, sich in die Politik einzumischen. Im 19. Jahrhundert richtete sich das zu Wohlstand gekommene Bürgertum mit den nachempfundenen Requisiten adeliger Wohnkultur ein. Man lebte ein Leben voller poetischer Beschaulichkeit und weit abgeschirmt von den Sorgen und Nöten des alltäglichen Daseinskampfes, dem die unterprivilegierten Massen im aufkommenden Industriezeitalter ausgesetzt waren, und vor allem 47

lebte man unpolitisch. Diese apolitischen, idyllischen Lebenswelten einer, scheinbar auf Ewigkeit ausgerichteten selbstzufriedenen Bürgerlichkeit, hielten sich auch im in der Epoche der Frühindustrialisierung. Freilich mit dem Unterschied, daß sich aus dem Bürgertum eine besitzende Klasse entwickelte, die historisch betrachtet zum aufstrebenden Besitzbürgertum zählte und ihr Selbstverständnis weniger aus den Bildungs- und Kulturkonzepten des deutschen Idealismus und der Aufklärung bezog, als aus ihrer wirtschaftlichen Machtstellung. Was den Lebensstandard anbelangte, betrachteten sich bestimmte gesellschaftliche Kreise saturiert und in ihrem Wohlstand gesichert. Durch wirtschaftlichen und industriellen Fortschritt brachte das Bürgertum, zu denen sich auch die Handwerker und Kaufleute zählten, es mitunter zu beträchtlichem privaten Reichtum, von dem allerdings die Masse im beginnenden Frühkapitalismus ausgeschlossen blieb. Die besonders erfolgreichen unter ihnen stiegen in die neuentstandene Klasse des Geldadels auf, und nicht wenige gelangten durch Geld, wirtschaftliche Macht und Einfluß in den unteren Adelsstand in Gestalt eines Barons. Aus dem Zerfall geburtsständischer Klassen und sozialer Rangordnungen entstand eine neue Bildungsschicht, die, obwohl unscharf und heterogen neben dem noch herrschenden Adelsstand ihre gesellschaftliche Rolle behauptete. Man begnügte sich damit, mit Hilfe eines vorherrschenden Lebensstils und einer stillschweigende Konvention über das Richtige und Schickliche, sich in den gegebenen Zuständen einzurichten. Es war eine Welt der verlogenen Äußerlichkeiten, fassadär und aufgesetzt, inmitten von Plüsch und Pomp und doppelbödiger Moral. Siegmund Freud hat sie um die Jahrhundertwende in ihrer Triebverborgenheit und doppelbödigen Moral entlarvt. Etikette und konventionelle Höflichkeit begleiteten den Dialog und bestimmten den Gang der Gespräche und die Umgangsformen. Herrenzimmer, die um so zigarrenrauchgeschwängert wurden, je illustrer die Gäste waren und je länger der Palaver anhielt. Dinertafel waren die bevorzugten häuslichen Zentren gepflegter bildungsbeflissener Zusammenkünfte, bei denen gelegentlich nicht nur über die Geschäfte, sondern auch über die herausragenden politischen Ereignisse gesprochen wurde. Frauen waren hierbei zumeist ausgeschlossen. Ihnen waren die Damenkränzchen vorbehalten, mit Bridge, Gesang, gemeinsamen Stickereien, bei denen man sich über die ehrenamtlichen Tätigkeiten austauschen konnte, samt dem Kaffee und den Kuchenbergen, die man zu sich nahm. Geistiger Austausch fand anhand von neuester Literatur statt, sofern sie nicht sozialkritisch oder in moralischer Hinsicht bedenklich daher kam. Man beriet sich über die aktuellen Moden und die besten Schneider und Konditoren und pflegte informell die Karriere des Hausherrn und Gatten. Dies alles füllte viele Nachmittage der Zerstreuung und weiblichen Kontaktpflege. Die Frau blieb da, wo der Patriarch des Hauses sie hinhaben wollte, in der Wohnstube, inmitten von Stuck, Plüsch und dem pompösen Möbeldekor des Historismus mit Palmenzierat und Porzellanfiguren im Damenzimmer, dem stillen Hintergrund patriarchalischer Regentschaft. Zur 48

Bekräftigung ihrer konventionellen Rolle blieb den Damen des gehobenen Bürgertums vorbehalten sich mit noch so ausgefallenen karitativen Tätigkeiten abzugeben, wie etwa die Gattin des Oberstaatsanwaltes Mississippi in Dürrenmatts Theaterstück Die Ehe des Herrn Mississippi, die unter Zuhilfenahme von Gebetstexten und erbaulichen Bibellesungen Licht in das Dunkel der Gefängnisse und selbstredend in die Herzen der Gefangenen zu bringen versuchte. Auch solches geschah nicht ohne Sinn für die Karriere des Hausherrn und vielleicht auch, um das soziale Gewissen zu beruhigen. Das Bürgerliche wohnte nicht nur, sondern „machte ein Haus“, was bedeutete, daß man sein Haus und den damit verbundenen Lebensstil nicht nur lebte, sondern zu repräsentieren wußte, und wer auf der sozialen Rangordnung oben stand, machte ein „großes Haus“. Einladungen ergingen zu einem festgeschriebenen Ablauf, der vorsah, sich an bestimmte Regeln des sogenannten Anstandes zu halten. Antrittsbesuch und jeder andere Besuch fanden in gepflegter Steifheit und Distinguiertheit statt und zu vorgeschriebenen Tageszeiten. Jene an Komik grenzende Szenerie in den Buddenbrooks, wo Bendix Grünlich als künftiger Brautbewerber der Haustochter Tony den obligatorischen Antrittsbesuch vollzieht, artige Komplimente bezüglich der blumenreichen Dekoration des opulenten Wohnsalons macht und so ganz nebenbei die Garderobe der Tochter lobt, „ach das putzt ungemein“, womit er deren Halsschleife meint, war so romanhaft poetisch nicht, sondern entsprach durchaus den aufgesetzten floskelhaften Redewendungen, welche die Etikette abverlangte. Lange zu bleiben, galt als unschicklich und Zeichen schlechten Benehmens. Etikette war angesagt und trug zur gesellschaftlichen Reputation bei, wobei der Einsatz vorzüglicher Manieren im sozialen Umgang als eine hehre Tugend der bürgerlichen Lebensweise galt und über alle sonstigen moralischen Normen stand. Theater- und Opernbesuche, zumeist im Abonnement, erwiesen sich als äußeres Merkmal von kultureller Kompetenz und Bildung, von denen die Arbeiterschicht schon wegen der unüberhörbaren Sprachbarrieren ausgeschlossen blieb. Das Theaterabonnement galt als bevorzugtes Kennzeichen einer exklusiven Gesellschaft anzugehören, die unter sich blieb und andere ausschloß, die nicht ihrem sozialen Stand entsprachen. Relativ hohe Eintrittskosten und Vorstellungen, die bis in den späten Abend andauerten und sich mit den frühen Arbeitszeiten der Arbeiter und unteren Angestellten nicht vereinbaren ließen, bildeten über lange Zeit die letzten Bastionen, jene von den Tempeln der Kultur und Bildung fernzuhalten. Selbst wenn das Theater die Gebrechen der Gesellschaft abhandelte, fand sich jenes intellektuelle Publikum wieder, denen derartige Probleme fremd waren. Alle, die am industriellen Fortschritt in der einen oder anderen Weise teilhatten, reklamierten den Begriff des Bürgerlichen, so daß er in seinen sozialen Konturen immer unscharfer wurde. Bürgerlich, das war mithin im Ansatz schon ein Gebäude, unter dessen Dach sich viele wiederzufinden glaubten. Kaufleute, Verwaltungsbeamte, Handwerker, der Bankier und der 49

Unternehmer, die Handlungsgehilfen, die bald zu Angestellten wurden und sich standesmäßig von den Arbeitern unterscheiden wollten, und sich auch durch ihr äußeres Erscheinungsbild im Berufsleben durch Anzug und Stehkragen von diesen abhoben. Sie alle fühlten sich in ihrem Bewußtsein als Bürgerliche. Bürger waren jene, die in weißem Hemd, Gehrock und Stehkragen auftraten. Damit wurde der Begriff des Bürgerlichen mehr zu einem Unterscheidungsmerkmal hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbildes, als zu einer soziologischen Kategorie, welche die bestehenden Ungleichheiten hätte aufzeigen können. Für die Wohlhabenden boten sich adelige Lebensformen an, die sich in dem Wunsch nach Nobilitierung erworbener Reichtümer mit dem Nachahmungsbedürfnis der unteren Schichten kreuzte. Inmitten einer Welt des äußeren Scheins konnte die bürgerliche und noch mehr die kleinbürgerliche Familie die Illusion des privaten Glücks leben, harmonisch aber zugleich patriarchalisch und so autoritär und undemokratisch wie die gesamte Gesellschaft im wilhelminischen Obrigkeitsstaates. Einzig in den Häusern des Großbürgertums gab es festliche Gelegenheiten in Form des Diners, einem dem höfischen Leben abgeschauten repräsentativen Ritual mit der großen Dinertafel als Mittelpunkt des Geschehens. An der großen Dinertafel, mit dem Niveau von fürstlicher Haushaltsführung mit entsprechendem Dienstpersonal, fand Weltläufigkeit und autoritätsferne Geselligkeit statt, bei der offen und gelegentlich auch politisch geredet wurde. „Es führte Gebildete und Ungebildete, Vielbesitzende und Wenigbesitzende zusammen, Gönner und arme Verwandte, Adel, Künstler, Offiziere und Geistlichkeit [...]. Die große Tafel schuf den gemeinsamen Bezug“,9 und über die gewiß vorhandenen gesellschaftlichen Unterschiede jener hinweg, die daran teilnehmen durften. Wer etwas gelten wollte und sich zu den Stützen der Gesellschaft zählte, nahm diese Veranstaltungen in Anspruch. Es war geradezu Pflicht, wollte man sich dem Establishment zugehörig fühlen, ständiger Gast an der großbürgerlichen Tafel zu sein. Zu reden hatten freilich nur die Männer, die Patriarchen und Stützen der herrschenden Gesellschaftsordnung. Sie übten sich in der Herrschaft des gepflegten Wortes und waren doch politisch so gut wie ohne wesentlichen Einfluß. Hier, in dieser durchweg festlichen Kulissenwelt repräsentierte sich der Typus der Epoche, der aus dem Gegensatz zwischen Privatheit und Öffentlichkeit entstanden war und sich mit Poesie, Innerlichkeit, sichtbarem Luxus und Dienstpersonal umgab. Es war die Welt der Kaufmannsdynastie in den Buddenbrooks von Thomas Mann, welche in Lübeck den bürgerlichen „Adel“ bildeten, oder die der Jenny Treibel, in Theodor Fontanes gleichnamigen Roman. Deren Lebensstil zeigte einen deutlichen Hang zur Äußerlichkeit. In einem Brief an seinen Sohn hebt Fontane das „Hohle, das Phrasenhafte, Lügnerische und Hartherzige des Bourgeois-Standpunktes“ hervor, welche Anlaß für seinen Roman boten. Im Mittelpunkt des Romans steht die aus kleinen Verhältnissen stammende Jenny Treibel, die durch Verheiratung mit dem Fabrikanten Treibel zur „Kommerzienrätin“ aufgestiegen ist. 50

So wie das wirtschaftliche Streben des erfolgreichen Fabrikanten reinem Zweckdenken unterworfen ist, bezieht er diesen ökonomischen Standpunkt auch auf seine politischen Tendenzen: „Sie wissen, unsereins rechnet und rechnet und kommt aus der Regulardetri gar nicht mehr heraus, aus den alten Ansatze: “wenn das und das soviel bringt, wieviel bringt das und das“[...] nach demselben Ansatz hab’ ich mir auch den Fortschritt und Konservatismus berechnet und bin dahinter gekommen, daß mit der Konservatismus [...] besser zu mir paßt, mir besser kleidet.“ Zwar schwärmt Jenny Treibel „fürs Romantische, Ideale, Poetische Ästhetische, Ethische und Etepetetische“,10 bleibt aber im Wesentlichen der materiellen Sicherheit eines saturierten Besitzbürgertums verhaftet, die trotz gelegentlicher Anwandlungen von Poesie und Kunst der einzige Wertmaßstab für sie bleibt. Eines Besitzbürgertums, welches nicht mehr in den Inhalten einer vormals bürgerlichen Kultur integriert war, sondern sie lediglich als Stelzen zum Trug und Schein ihrer gesellschaftlichen Reputation benutzte. Ausstattung und Einrichtung der Treibelschen Villa sind auf die Zurschaustellung des wirtschaftlichen Vermögens und der damit verbundenen Stellung des Kommerzienrates Treibel angelegt. Im Baustil, wie auch in den repräsentativen Umgangsformen spiegelt sich die Orientierung am Geschmack und den Gepflogenheiten des Adels unverkennbar wider. Typisch für das Besitzbürgertum des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist auch die räumliche Trennung von Arbeitswelt und Privatsphäre, welche durch die bauliche Anordnung der Treibelschen Fabrik- und Wohnobjekte zum Ausdruck kommt und als Merkmal der Arbeitswelten und deren Separierung vom Privaten im Frühkapitalismus galt. Die Villa der Treibels, erbaut im Stile eines adeligen Gutsherrenanwesens auf Treibelschen Gelände, lag in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer BerlinerBlau-Fabrikation. Bei Nordwind allerdings wirkte sich deren Lage, infolge der zwangsläufigen Geruchsbelästigung, als Nachteil für das Anwesen aus, erfüllte jedoch ihren Zweck, den Reichtum und die wirtschaftliche Macht der Treibels sichtbar vor Augen zu führen. Der Patriarch versuchte diesen Nachteil dadurch zu umgehen, indem er von Zeit zu Zeit den Schornstein der Fabrik immer höher bauen ließ. Treibels „Villa war ein Hochparterrebau, mit aufgesetztem ersten Stock, welcher letztere jedoch, um seiner niedrigen Fenster willen, eher den Eindruck eines Mezzanin als einer Beletage machte“. Angeblich war die Villa von einem friedericianischen Baumeister erbaut worden und unverständlich erschien, daß es Treibel deswegen seit 16 Jahren „in der unvornehmen und aller frischen Luft entbehrenden alten Jacobstraße ausgehalten“ hatte. In den Speisesaal gelangte man durch ein Empfangszimmer, welches den Blick auf einen parkähnlichen Garten freilegte. Hierin plätscherte ein Springbrunnen und auf einer daneben stehenden Stange saß ein Kakadu. „Der Speisesaal selber war von schöner Einfachheit: gelber Stuck, in denen einige Reliefs eingelegt waren, reizende Arbeiten von Professor Franz. Seitens der Kommerzienrätin war[...] Reinhold Begas in Vorschlag gebracht worden, aber von Treibel, als seinen 51

Etat überschreitend abgelehnt worden. „Das ist für die Zeit, wo wir Generalkonsuls sein werden [...]“. Jene Welt des großbürgerlichen Ambientes sollte jedoch in ihrer Pracht und äußeren Repräsentanz vor den Augen Unbefugter verborgen bleiben, wie sie gleichwohl den Eindruck des Außergewöhnlichen und Hervorgehobenen nach außen hin zur Schau stellte. So schildert Theodor Fontane in Frau Jenny Treibel die Vorbereitungen zu einem Empfang bei den Treibels. „Das Diner war zu sechs Uhr festgesetzt; aber bereits eine Stunde vorher sah man Hustersche Wagen mit runden und viereckigen Körben vor dem Gittereingange halten. Die Kommerzienrätin, schon in voller Toilette, beobachtete von dem Fenster ihres Boudoirs aus all diese Vorbereitungen und nahm auch heute wieder, und zwar nicht ohne eine gewisse Berechtigung, Anstoß daran. „Daß Treibel es auch versäumen mußte, für einen Nebeneingang Sorge zu tragen! Wenn er damals nur ein vier Fuß breites Terrain von dem Nachbargrundstück zukaufte, so hätten wir einen Eingang für derart Leute gehabt. Jetzt marschiert jeder Küchenjunge durch den Vorgarten, gerade auf unser Haus zu, wie wenn er miteingeladen wäre. Das sieht lächerlich aus und anspruchslos, als ob die ganze Köpenicker Straße wissen solle: Treibels geben heut ein Diner. Außerdem ist es unklug, dem Neid der Menschen und dem sozialdemokratischen Gefühl so ganz nutzlos neue Nahrung zu geben.“ Sie sagte sich das ernsthaft, gehörte jedoch zu den Glücklichen, die sich nur weniges andauernd zu Herzen nehmen [...]“.11 Frau Jenny Treibel stammte als Tochter eines Materialwarenhändlers ursprünglich aus ärmlicheren Verhältnissen. Durch ihre Heirat mit dem Berliner Fabrikanten Treibel ist sie aus kleinbürgerlichen Verhältnissen ins Besitzbürgertum aufgestiegen. Nunmehr spielt sie die Rolle einer typischen „Neureichen“, die gar nicht so recht weiß, mit ihrem erworbenen Status umzugehen. Nach außen gibt sie gerne vor, keinen Wert auf materiellen Reichtum zu legen, so sagt sie an einer Stelle im Roman: „daß Geld eine Last ist und das Glück ganz woanders liegt“, nämlich „kleine Verhältnisse, das ist das, was alleine glücklich macht“. Vermutlich steht ihr Sinn danach, in die geistigen Räume des Bildungsbürgertums vorzudringen, sich der Poesie zuzuwenden, die sie vor allem im „gesungenen Lied“ sieht. Wenn sie auch selber diesen Ansprüchen nicht genügt, so wünscht sie ihrem Sohn eine gebildete Frau: „Wissen und Klugheit und überhaupt das Höhere –darauf kommt es an. Alles andere wiegt keinen Pfifferling. Es ist ein Elend mit den Äußerlichkeiten“. Sie redet jedoch anders als sie handelt und drängt schließlich ihren Sohn zu einer Heirat mit einer langweiligen, aber reichen Frau. Zuvor hatte Corinna, die Tochter des Professor Schmidt mit allen Mitteln versucht, den Sohn der Treibel, Leopold, für sich zu gewinnen. Corinna möchte aus der Enge ihres Elternhauses ausbrechen und mit Leopold Treibel eine gute Partie eingehen, die ihr gesellschaftliches Ansehen und materiellen Reichtum verspricht. Mit ihrem Charme und Esprit versucht sie den leicht zu beeinflussenden Leopold in die Ehe zu locken. Eine gemeinsame Landpartie und zwei Abendgesellschaften 52

reichen aus um die heimliche Verlobung zu beschließen. Jenny Treibel hingegen versteht es, die Heirat zu verhindern. Bei ihrem Sohn wiederholt sich das Gleiche, wie es sich in ihrem Leben ereignet hatte, als sie das Werben des jungen Willibald Schmidt ausschlug und statt dessen die Heirat mit Treibel einging. So wie sie, eine Liebesheirat mit einem intellektuellen Bildungsbürger zugunsten einer „Besitzehe“ aufgab, so verhindert sie die Ehe ihres Sohnes mit Corinna, da diese aufgrund ihres materiellen Status nicht in der Lage ist, das Vermögen der Treibels zu verdoppeln. Beständig spricht Jenny Treibel vom „Höheren“ und davon, daß es besser sei, seinen Gefühlen zu folgen und in kleinen Verhältnissen zu leben, entscheidet sich jedoch für den materiellen Wohlstand. Zwar fühlt sie sich zur Oper hingezogen, pflegt aber den für die wilhelminische Zeit typischen unkritischen Wagnerkult. Gleichwohl möchte sie die Wohnräume ihrer Villa mit denjenigen Requisiten ausstatten, die den Reichtum und die wirtschaftliche Macht sichtbar demonstrieren. Die Auswahl der Gemälde, welche die Wohnund Eßräume der Treibel’schen Villa schmücken, werden indes nicht nach künstlerischen Gesichtspunkten ausgesucht, sondern durch ihren materiellen Wert bestimmt. Sie dienen, wie auch der Modus der stetigen Einladungen, repräsentativen Zwecken. Die regelmäßige Einladung der Majorin von Ziegenhals und des Hoffräulein von Bomst, die beide mit dem kaiserlichen Hofe verbunden sind, sollen adeligen Glanz in das bürgerliche Ambiente bringen. Und die Anwesenheit des Opernsängers Adolar Krola, mit dem sie gemeinsam musiziert, sowie den Mitgliedern der Gelehrtenfamilie Schmidt soll die Beziehung der Treibels zu Kunst und Wissenschaft unterstreichen. Diese Widersprüchlichkeit zwischen ideellem Schein und äußerer Repräsentation machen deutlich, daß Bildung, Wissenschaft und Kunst letztendlich für sie nur äußere Werte sind. Sie dienen eben so wie jene zur Schau gestellten Statussymbolen, welche der Ausstattung ihrer Villa dienen, der Aufwertung ihres bürgerlichen Standes, der letztlich doch noch hinter dem des Adels zurückbleibt.12 Der Gelehrte Professor Schmidt durchschaut diese Widersprüchlichkeit im Wesen seiner Busenfreundin und ehemals Angebeteten Jenny Treibel, die er freilich bei anderer Gelegenheit als „Musterstück einer Bourgeoise“ bezeichnet, und dementsprechend hart fällt sein Urteil aus: „ [...] es ist eine gefährliche Person und um so gefährlicher, als sie’ s selber nicht recht weiß und sich aufrichtig einbildet, ein gefühlvolles Herz und vor allem ein Herz „für das Höhere“ zu haben. Aber sie hat nur ein Herz für das Ponderable, für alles, was ins Gewicht fällt und Zins trägt, und für viel weniger als eine halbe Million gibt sie den Leopold nicht fort [...]“. Die frühbürgerliche Maxime, mehr sein, als zu scheinen, den äußeren Dingen der Welt die Selbstgewißheit innerer Würde entgegenzusetzen, verkehrt sich bei den Treibels in ihr Gegenteil. In Jennys Sprachgebaren offenbart sich das bourgeoise ihres gesamten Benehmens, welches den materiellen Kern durch eine schöngeistige Pseudologie verbergen möchte. Professor Willibald Schmidt durchschaut die 53

Vereinnahmung ihres Sozialcharakters durch die bourgeoisen Manieren: „Unentwegt [...] herrliches Modewort, und nun auch schon bis in die Villa Treibel gedrungen [...]. Eigentlich ist meine Freundin Jenny auch geradezu wie vor vierzig Jahren, wo sie die kastanienbraunen Locken schüttelte. Das Sentimentale liebte sie schon damals, aber doch immer unter Bevorzugung von Courmachen und Schlagsahne [...]. Nun ist das Püppchen eine Kommerzienrätin und kann sich alles gönnen, auch das Ideale, und sogar „unentwegt“. Ein Musterstück von einer Bourgeoise.“ Alles, was unter der Besitzmaxime gerät, pervertiert in den gewandelten ökonomischen und geistigen Verhältnissen des Bürgertums. Der Springbrunnen genau so wie die exotischen Pflanzen im Wintergarten, der gepflegte sprachliche Umgangston und der stilvollen Ausstattung von Garderoben, Wohnzimmern und kulturellen Interieurs. Theodor Fontane selber sah das Bourgeoise kritisch, wenn nicht gar mit einer gewissen Verachtung. An den in den Gründerjahren zu Wohlstand gekommenen Aufsteigern stört ihn insbesondere die „protzige Zurschaustellung ihres neuerworbenen Reichtums“.13 So kritisiert er „Vater Bourgeois“, der sich für 1000 Taler hat porträtieren lassen und nun von aller Welt verlangt, dieses „Geschmiere“ für einen echten Velazquez zu halten. Und „Mutter Bourgeois“ stellt den Kauf einer Spitzenmantille als kulturelle Höchstleistung ihrer Lebensform in das Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit. Der Bourgeois ist nach Fontanes Ansicht zu einer wirklich vornehmen Haltung, wie sie beim Adel anzutreffen ist, nicht in der Lage. Sein vorderrangiges Interesse ist auf eine Überbewertung materieller Güter gerichtet, welches statt auf wirklich kultivierten Attitüden, eine „Geldsackgesinnung“ zutage fördert. Jenny Treibel verkörpert in ihrer Widersprüchlichkeit die Ambivalenz des Großbürgertums, das zwischen Besitz und äußerer Statussymbolik und der Teilhabe an den klassischen Bildungsgütern schwankt und letztlich das Profanere und Materielle dem Geistigen vorzieht. So hört man im Salon der Treibels bei jedem Diner ein von der Gastgeberin Jenny vorgetragenes Lied, welches einstens ihre Jugendliebe Willibald Schmidt ihr angedichtet und gewidmet hatte. „Glück, von deinem tausend Losen / Eines nur erwähl ich mir, / Was soll Gold? Ich liebe Rosen / Und der Blumen schlichte Zier. / Und ich höre Waldesrauschen, / Und ich seh’ ein flatternd Band – Aug’ in Auge Blicke tauschen, / Und ein Kuß auf deine Hand / Geben nehmen, nehmen geben, / Und dein Haar umspielt der Wind, / Ach, nur das ist Leben, / Wo sich Herz zum Herzen find’t.“ Schmidts Verse sind ein Liebesbekenntnis und zugleich eine Heiratswerbung, der aber die umworbene Jenny ihrerseits nicht nachgekommen ist. Zwar fühlt sie sich durch die poetische Werbung geschmeichelt, heiratet aber dennoch in die Bourgeoisie-Familie der Treibels ein. Doch nebenher besteht bei ihr ein Verlangen nach Poesie, nach den Idealen und schöngeistigen Inhalten erlesener Kultur, die sie aber selber nicht kreativ nutzen kann. Eine wirkliche Verinnerlichung der in der Kunst enthaltenen Werte, eine inhaltliche Auseinandersetzung und kritische Reflexion findet bei ihr nicht statt. Die 54

persönlichkeitsbildende Komponente in der klassischen Vorstellung von Bildung und Kunst hat auf ihr Wesen und ihre Haltung keinen Einfluß. Deshalb beschränkt sich ihr Bedürfnis darin, dem äußeren Schein entsprechend, gewissermaßen als dekorative Beigabe ihrer festlichen Dinerveranstaltungen, die Schmidtschen Liebesverse mit der Klavierbegleitung des reich verheirateten Opernsängers Adolar Krola untermalt, regelmäßig darzubieten. Das, was ursprünglich im Kontext einer zwischenmenschlichen Beziehung gedacht war und auf die tiefen Gefühle seines Verfassers hinweist, wird von Jenny Treibel als Staffage ihres großbürgerlichen Renommiergehabe instrumentalisiert. Das, was ursprünglich eine tiefere, innere Gefühlregung hervorgebracht hatte, dient nun nur noch zur Unterstreichung der gesellschaftlichen Stellung. Bei den Treibels drückt sich in exemplarischer Weise die Nachahmung aristokratischer Salonkultur mit exklusiver Intimität aus, die charakteristisch für das Großbürgertum ist, welches durch Besitz und Kapital in den gesellschaftlichen Stand gekommen war. Freilich gelang es diesem nur unter großen Anstrengungen, wenn nicht oftmals vergeblich, die alten Ideale und Werte des Bürgerlichen mit dem neuen Selbstbewußtsein einer besitzenden Klasse zu verbinden. Somit bleibt vieles nur äußerlich, oberflächlich, schlicht, mit anderen Worten ganz in der Weise modehafter Parvenüattitüden. In Theodor Fontanes Roman werden die unterschiedlichen Lebenswelten des sogenannten Besitzbürgertums und des Bildungsbürgertums aufgezeigt. Zum letzteren zählt die Familie des Professor Willibald Schmidt, die anders als die Treibels auf jede äußerlichen Statussymbole verzichtet. Dementsprechend stellt sich die Inneneinrichtung des Schmidtschen Hauses eher bescheiden und schlicht dar, wie gleichwohl auch dessen äußeres Erscheinungsbild einen eher vernachlässigten Eindruck hinterläßt. Beispielsweise könnte die Hausfassade einen neuen Anstrich benötigen und das Namensschild mit seinem fast unleserlichen Namenszug bedarf ebenfalls einer dringenden Erneuerung. Im Gegensatz zu dem zu Wohlstand gekommenen Besitzbürgertum spielen im Bildungsbürgertum des späten 19. Jahrhunderts derartige Äußerlichkeiten keine Rolle. Hier zählen die sogenannten inneren Werte, die über die Institutionen humanistischer Bildung und schöngeistiger Interessen vermittelt werden. Der „goldene Schnitt“ in der Malerei als äußeres Erkennungsmerkmal harmonischer Darstellungen bildet zugleich die Struktur einer inneren geistigen Haltung. An ihm orientiert sich das geistige Auge des wissenden Gelehrten, seines ästhetischen Empfindens, welches erhaben über die profaneren Dinge steht. Alles muß zueinander in einem rechten Maß stehen und nichts Unebenes darf die Harmonie stören. Das Bildungsbürgertum, welches sich aus der höheren Beamtenschaft, der Geistlichkeit und Gelehrtenschaft, Schriftstellern, Künstlern, der Richterschaft und freien akademischen Berufen zusammensetzte stand dem kapitalistischen Lebensstil und den materialistischen Attitüden des Besitzbürgertums größtenteils kritisch gegenüber, arrangierte sich jedoch mit den gegebenen Verhältnissen und fiel dabei zunehmend in die Bedeutungs55

losigkeit. Der Führungsanspruch, welcher bisher im geistigen und kulturellen Leben dem Bildungsbürgertum zufiel, verlor unter der Entwicklung kapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse an Einfluß auf das gesamte Bürgertum. Auch in gesellschaftlicher Hinsicht wurde die Rolle des Bildungsbürgertums durch den wachsenden Einfluß des Besitzbürgertums zurückgedrängt. Die beiden Zugehörigkeitskriterien des Bürgertums seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, Bildung und Besitz, gelangten zu einer neuen Dimension in ihrem Verhältnis zueinander. Entgegen dem Bildungsbürgertum, das sich weiterhin von politischen Aufgaben entfernt hielt und dem Staat teilnahmslos gegenüberstand, griff das Besitzbürgertum, bedingt durch wachsende wirtschaftliche Macht und teils mit erheblichem Kapital ausgestattet, in staatliche Angelegenheiten ein und paßte sich als zweitrangige Klasse dem Adel an. Im Bildungsbürgertum wurden weiterhin die humanistischen und geistigen Ideale aus der Frühzeit ihres gesellschaftlichen Aufstiegs im Begriff der Kultur gepflegt. Im Zuge eines akademischen Spezialisierungs- und Professionalisierungsprozesses lagen jedoch die Gewichte der Bildung nicht mehr eindeutig auf geistig-humanistische Inhalte. Die zunehmende Bedeutung von Technik und Naturwissenschaft schuf neben den tradierten Formen eines neuhumanistisch orientierten Bildungsbürgertum eine Schicht von Spezialisten, die einen eigenen Bildungsbegriff für sich in Anspruch nahmen, sich aber gleichwohl dem Bildungsbürgertum zugehörig fühlten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnte in Bezug auf Bildung und Besitz nicht mehr von zwei voneinander getrennten Sphären gesprochen werden. Auch das Besitzbürgertum wandte sich denjenigen Bildungsgütern zu, die vordem zum wesentlichen Bestandteil bildungsbürgerlicher Lebensgewohnheiten gehörten. Bildung und Besitz wurde als Einheit gesehen, die gleichermaßen zum Lebensstandard des Großbürgertums zählte, und der Gegensatz von Bildung und Besitz erwies sich als zu vordergründig betrachtet. Bildung schuf die Voraussetzung zum Besitzstreben, wie eben so der Besitz die Inanspruchnahme von Bildung und Kultur als Bekräftigung eines saturierten Wohlstandes unterstrich.14 Die Werke der Literatur, der klassischen Musik und Malerei, sowie der bildenden Künste überhaupt nahmen Einzug in die Villen und Häuser des besitzenden Bürgertums. Der Erwerb akademischer Bildung wurde für das Besitzbürgertum zu einer zentralen Voraussetzung zur Behauptung einer bestimmten gesellschaftlichen Position. Inzwischen zum Großbürgertum aufgestiegen, vertrat das Besitzbürgertum auf seiner Werteskala das Idealbild eines Staates und der Nation als höchste Priorität, deretwegen man politisch aktiv werden konnte. Daß eine solche Haltung oftmals mit einer Geringschätzung jener humanistischen Werte verbunden war, die während langer Epochen vom Bildungsbürgertum gepflegt und verteidigt wurden, führte zu einem allmählichen Zerfall dieser idealistischen Ideen. Freilich bezog sich das politische Freiheitsverständnis des klassischen Besitzbürgertums auf die Akkumulation des staatlich geschützten Privateigentums und das hierdurch die Spaltung der 56

Gesellschaft in Klassen bewußt in Kauf nahm. Durch den Hinweis auf die vorgegebenen Autoritäten in Staat und Gesellschaft suchte man sich ideologisch abzusichern und trug somit zur Verfestigung obrigkeitsstaatlicher Strukturen bei. Hingegen wurde das humanistische Selbstbild des Bürgertums durch die Anpassung an das politische und militärische Selbstverständnis der großbürgerlichen Herrenschicht und des Adels abgelöst. Im Zuge der Nachahmung adeliger Lebensformen durch das Besitzbürgertum, von der bereits die Rede war, entstand das Phänomen der „Feudalisierung oder Aristokratisierung“ des Bürgertums, welches Ausdruck des gewachsene bürgerlichen Selbstbewußtseins darstellt, verbunden mit der Absicht, in jene politischen, militärischen und gesellschaftlichen Räume vorzudringen, die bislang nur dem Adel vorbehalten waren. Insgesamt betrachtet handelte es sich hierbei um einen Prozeß der Selbstverleugnung und Gebrochenheit mit den ursprünglichen Idealen, einer inneren Distanzierung hierzu und einer gleichzeitigen Veräußerung oder genauer gesagt Verflachung der Lebensformen. Hierdurch büßte die bürgerliche Welt- und Lebensanschauung ihren eigentlichen ursprünglichen Entwicklungsbezug ein und wurde zu einer statischen Angelegenheit, die sich nur noch an den Begriffen wie Nation und Kaiserreich orientierte. Das seinerzeit weit verbreitete irrationale Verständnis von Politik, welches sich in der rechten Gesinnung für das Vaterland und in der Verehrung von Kaiser und Reich erschöpfte, zeigte sich als unverkennbares Merkmal groß-, beziehungsweise besitzbürgerlichem Politikverständnis. Identität wurde nicht mehr aus dem eigenen Selbstverständnis einer gewachsenen Biographie hergestellt, sondern in der entfremdeten Weise untertanenhafter Anpassung.15 Der hierdurch einhergehende Rückgang der bildungsbürgerlichen Integrationskräfte und Verinnerlichungsprozesse bildeten den historischen Hintergrund dessen, was im Gründungszeitalter an Lebenskrisen und Konflikte in die Lebenswelten des Bürgertums einbrach, bis hin zu psychischen Deformationen, wie wir sie anhand der Familie Buddenbrook noch beobachten werden. Der von Max Weber bemerkte Zustand der Neurasthenie als Ausdruck der Entfremdung des Selbst unter den Anforderungen eines leistungsneurotischen Kapitalismus, verbunden mit einem positivistischen Verständnis von Individuum und Gesellschaft in der der Einzelne unter den Gesetzen eines frei flottierenden Warenmarktes bewertet wurde, hatte hier in dieser Übergangszeit seine Wurzeln. Aber darüberhinaus war die Blütezeit des Kapitalismus nicht nur durch die Entfremdung des Menschen von sich selbst und seinen äußeren Produkten geprägt, sondern eben so entwickelte sich, parallel dazu, jener Zerfall humaner Orientierungen, die schließlich in den menschenfeindlichen Ideenformationen des völkischen Nationalismus und des Rassismus im späten 19. Jahrhunderts einmündeten. Außerdem wurde alles was diese spießbürgerliche Welt, die Nation und den Staat und damit verbunden, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Privilegien bedrohten, auf das heftigste bekämpft. So sah das Besitzbürgertum in den Ideen der Sozialdemokratie nicht nur einen 57

Angriff auf den eigenen Besitzstand, sondern bekämpfte sie auch wegen ihrer staatszersetzenden und antinationalistischen Tendenzen. Insgesamt gelang es dem deutschen Bürgertum nicht – trotz wirtschaftlicher Prosperität –, eine eigenständige politische bürgerliche Kultur zu entwickeln. Adelige besetzten nach wie vor Schlüsselstellungen in Staat und Politik und achteten akribisch darauf, daß nur Standesgleiche in die freiwerdenden Positionen nachrückten. Daher waren sowohl dem Besitzbürgertum, als auch dem Bildungsbürgertum der gesellschaftliche Aufstieg nur möglich, indem es adeligen Lebensweisen nacheiferte. Statt eine liberale Bürgerlichkeit zu entwickeln, die auf einem eigenen Standesbewußtsein gegründet hätte, übernahm es die feudalen Strukturen des Adels. Im Besitzbürgertum führte dies zu einer prunkvollen, am äußeren Glanz orientierten Darstellungs- und Lebensform, verbunden mit nicht vererbbaren Titeln, wie Kommerzienrat, Baurat und dergleichen mehr. Beim Bildungsbürgertum fand ein Rückzug in die privaten Räume innerer geistiger Erbaulichkeit, Zugehörigkeit zu exklusiven akademischen Zirkeln und Standesvereinigungen und der Aneignung von Ehren- und Amtstiteln wie „Geheimrat“ „Medizinalrat“ oder „Studienprofessor“. Nur den Wenigsten war vergönnt, durch Einheirat in eine ärmere oder gar verarmte Adelsfamilie dennoch einen adeligen Status zu erlangen, der sich auch im Namen niederschlug. Im Gegensatz zu Thomas Mann Buddenbrooks scheint in Fontanes Roman Frau Jenny Treibel das Thema der Decadence, des psychischen und wirtschaftlichen Niederganges keine Rolle zu spielen. Bei Fontane sind alle wohlauf, erfreuen sich ihrer jeweiligen Situation und sind bemerkenswert vital, indem sie mit Vehemenz ihre jeweiligen Interessen verfolgen. Über allen schwebte kein Geruch der Verwesung, allenfalls läßt sich ein Hauch des „fin de siecle“ verspüren. Aber dies galt für die allgemeine bürgerliche Situation in jener Epoche, in der beide Romane angesiedelt sind, und die mit dem Ersten Weltkrieg ihr Ende fand. Doch die Unruhe der Zeit, die Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeit, von der Nietzsche gesprochen hatte, warf auch auf diese großbürgerliche Binnenwelt ihre drohenden Schatten. Nicht nur in gesellschaftlicher Hinsicht kündigte sich eine Zeitenwende an. Thomas Mann sah das Nietzsche Ideal des „großen Subjekts“ und die damit verknüpfte „Herrenmoral“ für hysterisch und überzogen an, auch wenn er dessen Zusammenhang mit realen wirtschaftlichen und sozialen Zuständen nicht erkennen konnte. Die Neurasthenie der Zeit, welche offensichtlich aus der rastlosen Tätigkeit im Rahmen einer frühkapitalistischen Leistungsethik herrührte, hat er in seinem Roman Buddenbrooks vornehmlich im persönlichen Bereich der Lübecker Kaufmannsfamilie angesiedelt. Das, was psychische Kollateralschäden der Wettbewerbsgesellschaft an Deformationen und Persönlichkeitsbrüchen hinterließen, sah er familienbiographisch vermittelt und nicht so sehr als das Ergebnis einer gewinnmaximierenden Kultur des Frühkapitalismus. Dennoch hat er die religiöse Einfärbung des 58

Wirtschaftsliberalismus vorweggenommen, die Max Weber ab 1903 in seinem Werk Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus beschrieben hat. Mehr oder weniger unbeabsichtigt hat Thomas Mann in den Buddenbrooks neben der luziden psychologischen Schilderung eines Familiendramas auch den Blick auf die Lebenswelten unter der Verdinglichung frühkapitalistischer Bedingungen freigelegt. Obgleich die Buddenbrooks in erster Linie als Familienroman gedacht waren, in dem sich eigene Familienangehörige widerspiegelten, so hat der damals gesellschaftsferne Autor, unbeabsichtigt oder nicht, eine sozialkritische Studie des Frühkapitalismus entworfen, in der freilich nicht die Ungleichheit von Kapital und Arbeit im Vordergrund steht, sondern der Focus auf die fragile Ich-Verfassung der Protagonisten gerichtet wird. Ohne Thomas Mann psychologische Absichten zu unterstellen, so war es gerade seine Entfernung von den äußeren Bedingungen die ihn zu solchen Scharfblicken verleitete und somit seine eigene Introspektion um so unverstellter das neuroasthenische Leiden der damaligen Zeit wahrnehmen ließ. Technischer Fortschritt und ein gnadenloser Wirtschaftsliberalismus mit sozialdarwinistischen Ideen – die historischen Vorboten des heutigen „Raubtierkapitalismus“ –, welche sich auf das Recht des Stärkeren bezogen, stellten die bislang geltenden Tugenden bürgerlich-kaufmännischer Ethik in Frage. Und so spiegelt sich in der Familie der Buddenbrooks und vornehmlich in der Beziehung der beiden Brüder Thomas und Christian der allmähliche Niedergang einer tradierten Bürgerlichkeit wider, in der die Gesetze kaufmännischer Ethik, welche später Max Weber in seinem Begriff der „Protestantischen Ethik“ beschrieben hat, noch Gültigkeit besaßen. Der Roman spielt in der Epoche der wirtschaftlichen Prosperität der aufbrechenden Moderne, wo unternehmerischer Individualismus es zu Wohlstand, gesellschaftlichem Ansehen und mitunter sogar zu unermeßlichem Reichtum gebracht hatte. Gleichzeitig wurde der Übergang in frühkapitalistische Denkweisen sichtbar, welche auf hemmungsloses Besitzstreben und Gewinnmaximierung auf Kosten kaufmännischer Tugenden, gerichtet waren. Damit verbunden ist zugleich der wirtschaftliche Niedergang der Kaufmannsdynastie Buddenbrook, die sich dem Grundsatz ihres Gründers verpflichtet sahen: „ Mein Sohn, sey mit Lust bei den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können“.16 Diese Maxime und Mahnung zugleich, als deren Verfasser der Großvater Jean Buddenbrook genannt wird, zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung des Romans. Doch schon bald ist von ihm zu hören, daß die „Geschäfte [...] ruhig“ gehen, „ach allzu ruhig“. Jean Buddenbrook, dessen Zeit vor dem Roman liegt, begründete Ende des 18. Jahrhunderts die Kaufmannsdynastie durch einen Getreidehandel und taucht nur im Rückblick auf. Sein Sohn Johann vermag noch weitestgehend diesen Grundsätzen zu folgen, wenngleich sich durch dessen Vermittlung hinsichtlich der Verheiratung seiner Tochter Tony mit dem windigen Geschäftsmann Bendix Grünlich bereits der moralische 59

Niedergang abzeichnet. Außerdem sind Johann Buddenbrooks sonstigen geschäftlichen Unternehmungen von Sorgen eingetrübt. Hinzu kommt, daß ihm seine Arbeiter als Anhänger der freiheitlichen Ideen der 1848er Revolution gegenüber treten und demokratische Verhältnisse im patriarchalisch geführten Familienbetrieb einfordern. Sein ältester Sohn Thomas schließlich führt die Geschäfte lustlos, mit beständiger Unruhe, täglicher und nächtlicher Sorge, eine ungewisse Zukunft vor Augen. Als Thomas schließlich zum Senator aufsteigt, erlebt die Familie der Buddenbrooks ihren gesellschaftlichen Höhepunkt. Die Geschichte der Buddenbrooks ist die Geschichte einer von Generation zu Generation zunehmend zerfallenden großbürgerlichen Familie des Besitzbürgertums und ihres Unternehmens. Dem ökonomischen Niedergang der Firma Buddenbrook geht der ihrer Familienmitglieder voraus. Die ehemals robuste Kaufmannsmentalität wird durch die Tendenz zur Vergeistigung einiger ihrer wesentlichen Mitglieder beeinträchtigt. An ihnen zeigt sich die offensichtliche Unvereinbarkeit bildungsbürgerlicher Interessen mit der Gewinnmaximierung kaufmännischen Besitzstandes. Johann Buddenbrook, der autoritäre Patriarch der Dynastie verfällt gegen Ende seines Lebens in für die Geschäfte unangemessene, ausufernde religiöse Meditationen, über die er ausführlich in der Familienchronik berichtet, und bei der Konsulin artet Christentum in bigotte Frömmelei aus. In der nachfolgenden Generation rät die inzwischen ehelos gewordene Schwester Tony ihrem Bruder Thomas zu riskanten Geldgeschäften, die auch prompt zu Verlusten führen. Trotz allen Ansehens wird Thomas Buddenbrook seine Existenz als Kaufmann und Senator der Hansestadt Lübeck immer mehr zur Last. In der Mitte seines Lebens findet er Trost in der pessimistischen Philosophie Schopenhauers, die nicht gerade dazu angetan ist, kaufmännische Dynamik und unternehmerischen Optimismus zu entfalten. Jenes Kapitel „Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens“ in Schopenhauers Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ vermittelt ihm eine völlig neue Sicht auf die Dinge. Der ehemals nüchtern und rational denkende und handelnde Kaufmann wird verletzbar und beginnt Gefühle zu zeigen. In seinem Testament verfügt er die Auflösung der Firma Buddenbrook, da sich in seinem Sohn Hanno kein Nachfolger findet. Die Führung des Unternehmens fällt Thomas Buddenbrook immer schwerer und immer weniger gelingt es ihm, sich mit seiner Kaufmannsrolle zu identifizieren. Seine zunehmende Schwäche und Erschöpfung verbirgt er in einem außerordentlichen Hang zum Repräsentieren. Als er heiratet, fällt seine Wahl auf die hochkultivierte Gerda Arnoldsen, in Lübeck eine fremd wirkende aparte Schönheit aus Amsterdam, eine Künstlerin, die in ihrer Freizeit auf ihrer kostbaren Stradivari musiziert und der Familie der Buddenbrooks wesensmäßig fremd bleibt. Unter ihrem Einfluß gerät auch der gemeinsame Sohn Hanno, sehr zum Mißfallen seines Vaters, nicht gerade zu einer Kaufmannsnatur. Er erweist sich von Geburt an als kränklich und sensibel und hat offensichtlich die künstlerische Veranlagung seiner Mutter geerbt. In 60

jungen Jahren fällt er einer Typhuserkrankung zum Opfer. Gerda und Thomas Buddenbrook entfremden sich immer mehr voneinander, zumal es Thomas schwer fällt, die musikalischen Neigungen seiner Gattin zu würdigen. Die wesentlich jüngere Gerda hinterläßt nach wie vor einen attraktiven Eindruck, während Thomas trotz seiner Eitelkeit und seines korrekten Äußeren immer mehr verfallen und verbraucht wirkt. Daß er außerdem seinen Sohn Hanno an die Kunst verliert, von dem er sich die Nachfolge seiner Firma erhoffte, wie es schon immer Brauch war, macht dem Senator sehr zu schaffen. Die Seelenverwandtschaft seiner Gattin zu dem hochmusikalischen Leutnant von Throta führt ihn zusätzlich in eine tiefe Vereinsamung. Obwohl er sich in einem Alter befindet, in dem normalerweise die Gedanken an den Tod noch nicht mit jener Vehemenz ins Bewußtsein drängen, wie dies in späteren Lebensabschnitten häufig der Fall ist, setzt er sich zunehmend mit seinem eigenen Tod auseinander. Er begreift sich als schwächlich, schwankend und hinsichtlich seines Lebensentwurfes als gescheitert. Sich seiner traurigen Rolle immer bewußter werdend, erkennt er die Diskrepanz zwischen seinem selbstentworfenen Ideal-Ich und den deprimierenden äußeren Umständen, die keine Selbstverwirklichung mehr zulassen. Nach einem Zahnarztbesuch verlassen ihn alle Kräfte und er verunglückt auf dem Heimweg, um bald darauf im Kreise seiner Familie zu sterben. Schon zuvor begann er durch die Philosophie Schopenhauers beeinflußt, sein eigenes Leben zu bezweifeln und folgerichtig seinen Tod zu akzeptieren. Nach dem frühen und plötzlichen Tod von Thomas steht nunmehr kein geeigneter Nachfolger für die Firma zur Verfügung, da auch sein Bruder Christian als Nachfolger nicht in Frage kommt. Daher wird sie gemäß dem Testament des Thomas Buddenbrook aufgelöst und das Haus in der Mengstrasse, Symbol des Erfolges und der gesellschaftlichen Stellung der Buddenbrooks, an einen aufsteigenden Konkurrenten verkauft. Die Familie zerstreut sich, einzig die Schwester Antonie, genannt Tony, deren Lebensinhalt Familie, Firma und gesellschaftliche Stellung war, bleibt in einem Haus am Rande der Stadt zurück. Von Generation zu Generation wird das Sterbealter der jeweiligen Geschäftsübernehmer immer jünger und deren Tod immer qualvoller, was als eine Metapher für den Verfall der Familie mit ihren Traditionen und Werten verstanden werden kann.. In den beiden gescheiterten Ehen der Schwester Tony Buddenbrook zeigt sich indes durch deren betrügerischen Ehemänner, dem Kaufmann Bendix Grünlich und später Alois Permaneder, einem grobschlächtigen bayerischen Geschäftsmann, der Verfall von Sitte und Anstand in besonders auffallender Weise. Bendix Grünlich hatte sich aufgrund manipulierter Bilanzen als seriöse Geschäftsbeziehung zum Hause Buddenbrooks empfohlen und erhoffte sich durch die Beziehungen zur Familie ein gewisses Renommee. Schon nach kurzer Zeit wirbt er unverhohlen um die Hand der Tochter Tony, die sich durch sein manieriertes Auftreten abgestoßen fühlt. Grünlich macht ihr nach einigen Wochen einen Antrag und läßt dabei jede Konvention und Distanz vermissen, 61

indem er in aufdringlicher Weise sein Leben mit der Annahme des Heiratsantrages verbindet, ja, sein nahes Ende ankündigt, sollte Tony ihn abweisen. Erst auf Druck des Vaters unterwirft sich Tony der Familientradition und willigt in die Heirat mit dem angeblich steinreichen Kaufmann Grünlich ein, von der sich die Buddenbrooks eine „vorteilhafte Partie“ erhoffen. Durch die Heirat mit Tony erhält dieser eine erkleckliche Mitgift, die er beabsichtigt zur Abwendung seines drohenden Bankrottes zu verwenden. Nach dem Bankrott folgt die Scheidung und die Spur Grünlichs verliert sich. Grünlichs Bankier Kesselmeyer nimmt in der Schlußauseinandersetzung zwischen Grünlich, ihm selbst und dem Konsul Buddenbrook immer mehr mephistophelische Züge an, da er jeder geschäftsmäßigen Seriosität bar wissentlich zum Bankrott und den betrügerischen Manipulationen beiträgt und damit das Haus Buddenbrook in eine unmögliche Situation manövriert. Auch die zweite Ehe Tonys steht unter einem unglücklichen Stern und scheitert. Kaum hat der Ehemann die Mitgift erhalten, zieht er sich von allen Geschäften zurück und frönt dem Müßiggang in Bierkneipen. Tony ertappt ihn dabei, wie er in alkoholisiertem Zustand nächtens über die Köchin Babette herfällt. Nachdem sich Alois Permaneder über einen längeren Zeitraum in abstoßender Weise gegenüber seiner Ehefrau verhalten hat, gibt ein in gepflegter Konversation unter keinen Umständen wiederzugebendes Schimpfwort, welches er seiner Frau Antonie an den Kopf wirft, den Ausschlag. Eine einzige Schimpfkanonade von äußerster Unanständigkeit aus dem Munde Permaneders treibt die unwiderrufliche Zerrüttung auch der zweiten Ehe der Antonie Buddenbrooks auf ihren krisenhaften Höhepunkt. Wurde Permaneder in den vorherigen Kapiteln als ein gutmütiger, ehrlicher und einfacher Mensch beschrieben, den Tony als schlicht aber grundgut empfindet, so offenbart sich in einem Wutausbruch, der in den Worten gipfelt: „Geh zum Deifi, Sauluada, dreckats“, sein wahrer Charakter. Tief schockiert verläßt ihn Tony und flüchtet zurück nach Lübeck in die Geborgenheit der Konsulfamilie, wo sie fortan unverheiratet bleibt. Tony Buddenbrook, die man zu einer Ehe mit einem hochstaplerischen Luftikus überredet, den man für eine gute Partie gehalten hatte, wird Opfer der Familientradition, durch standesgemäße Heirat den Besitz zu vermehren. Unter fortschrittlicheren Aspekten betrachtet, wäre die Heirat mit Tonys Jugendliebe, dem Medizinstudenten Morton Schwarzkopf, die angemessener gewesen, zumal dieser es in Breslau zu einem berühmten und wohlangesehenen Arzt gebracht hatte. Jedoch die damals üblichen Standesunterschiede, auf deren Einhaltung peinlichst Wert gelegt wurde, verhinderten eine Liebesheirat, sowohl zwischen Tony Buddenbrook und Morton Schwarzkopf, als auch zuvor zwischen Thomas Buddenbrook und der mittellosen Anna Iversen. Die Buddenbrooks, stellvertretend für das Besitzbürgertum, werden hierbei weniger Opfer einer dekadenten Kultur am Ende des 19.Jahrhunderts, als vielmehr der Regeln des Frühkapitalismus der Moderne, wo die tradierten 62

kaufmännischen Tugenden stetig in Vergessenheit geraten. Nicht mehr Solidität, Ehrlichkeit, Sorge um die Zukunft des Unternehmens und die Bereitschaft Gewinne zu investieren, die patriarchalische Sorge um die Belegschaft, freilich undemokratisch, in gewisser Weise jedoch nicht unsympathisch, bilden die ausschließlichen Grundpfeiler unternehmerischer Tugenden. Vielmehr gerät das bürgerliche Subjektverständnis im „fin de siecle“ unter der Herrschaft eines expandierenden Wirtschaftsliberalismus, der die sozialen Beziehungen nur noch unter markttechnischen Gesichtspunkten sieht. Dieser gnadenlose Konkurrenzkampf, bei dem nur die Starken überleben, schlägt als Seelenschicksal auf die Psyche der beiden Protagonisten in aller Schärfe durch. Christian und sein Bruder Thomas Buddenbrook sind diesem Druck auf Dauer nicht gewachsen und gehen, jeder auf seine Weise, seelisch und körperlich daran zugrunde. Sie leiden an einer Störung des Selbst. Zur Zeit als Thomas Mann seinen Roman schrieb, wurde eine derartige Störung von den meisten Ärzten als Neurasthenie beschrieben. Diese Krankheit galt als seelische Reaktion auf die rasanten Modernisierungsschübe und deren Entfremdungsprozesse im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts; hervorgerufen durch das beschleunigte moderne Leben und nicht zuletzt durch die hektisch gewordenen Arbeitsprozesse und dem unerbittlichen Konkurrenzdruck, dem alle am Arbeitsprozeß Beteiligten ausgeliefert waren. Zu den Hauptsymptomen gehören Willensschwäche und Antriebslosigkeit, mangelnde Kohärenz des Selbst und als deren Folge Arbeitsunfähigkeit. Christian verliert jede Fassung und wird zum Clown, den niemand mehr ernst nimmt, selbst die Untergebenen in der Firma seines Bruders nicht. Der andere, Thomas erliegt einem selbst geschaffenen disziplinarischen Überdruck und stirbt am Herzinfarkt. Thomas Buddenbrook, der Anfangs viel Erfolg hat und alle Anforderungen eines Kaufmannsleben erfüllte, erliegt allmählich dem Druck seiner selbst gewählten Askese. Diese innerweltliche Askese, die keinen Bezug auf Göttliches benötigt, ist im Wirtschaftsliberalismus säkularisiert und der entstehende Kapitalismus wird auf ihr aufbauen. Sie internalisiert sich als innere Ordnungs- und Arbeitsdisziplin im eigenen Selbst; sie ist gewissermaßen individuiert und somit Kern der Persönlichkeit und zugleich deren zerstörende Substanz. Während die „Verrücktheiten“ Christian Buddenbrook der Protest gegen diese kapitalistische Welt sind, wird Thomas Buddenbrook in anderer Weise an ihr zerbrechen. Trotz seiner Askese, oder vielleicht gerade wegen ihr, läßt seine Spannkraft nach und er verliert viel Geld bei seinen Geschäften. Als Gegenmittel verordnet er sich ein stählernes Korsett innengeleiteter Disziplin, ein methodischer Selbstzwang in dessen Zentrum die Arbeit steht. So arbeitet Thomas Buddenbrook ohne Unterlaß, wie ein Getriebener, der seine rastlose Tätigkeit als Betäubungsmittel seiner überstrapazierten Nerven benötigt, ähnlich betäubend wie die schweren russischen Zigaretten, die er in großer Zahl raucht. Er versucht alles unter Kontrolle zu bekommen, seine Physiognomie, die fortan als Berufsmaske jede innere Regung verleugnet; eine „künstlich, 63

festgehaltene Miene der Wachheit, Umsicht, Liebenswürdigkeit und Energie“. Thomas Mann beschreibt naturalistisch genau, „ wie der eigene Leib die Muskeln des Mundes und der Wangen“ in ein stahlhartes Gehäuse zwingt. Mit der Zeit entwickelt Thomas Buddenbrook ein „Leistungs- und Durchhalteprogramm, in dem die Tugenden der protestantischen Ethik pervertieren in reines Erfolgsdenken“.17 In dem Konflikt zwischen Thomas und Christian Buddenbrook geht es im Kern um eine Erbauseinandersetzung. Der Nachlaß der verstorbenen Konsulin Buddenbrook steht zur Disposition. Das bedeutet, daß das Erbe und damit die Zukunft des Unternehmens in zunehmend schwierigen Zeiten gesichert werden müssen. Mißbilligt wird vor allem die Liaison Christian Buddenbrooks mit Aline Puvogel. Aus Sicht der Familie eine etwas zweifelhafte Dame aus noch zweifelhafterem Milieu, in dem sich auch Christian bewegt. Hinzu kommt, daß Christian, eine Künstlernatur ohne rechtes Ziel und Lebensplan, geplagt von Hypochondrie gerne Schauspieler werden möchte; ein nicht gerade wunschgemäßer und anerkannter Beruf in den Perspektiven, die eine gesellschaftlich hochangesehene Kaufmannsfamilie im Lübeck des späten 19. Jahrhunderts besaß. Da das dritte Kind der Puvogel von ihm ist, beabsichtigt er sie zu heiraten. Thomas Buddenbrook, Senator und Oberhaupt der Familie sieht darin den Höhepunkt des moralischen und sozialen Zerfalls seines Bruders. Christians leichtfertiges Leben, das Zweifel aufkommen läßt ob er das Erbe übernehmen kann, zumindest in den Augen seines nüchtern denkenden Bruder Thomas, fällt aus dem Rahmen der übernommenen Wertvorstellungen einer protestantischen Ethik, die nach der Buddenbrookschen Tradition gemäß geeignet erscheint, Christians Leben zu stabilisieren. Diese, welche sich durch Arbeit und Schuld auf dem Boden der Selbstverantwortung auszeichnet, führt ihm Thomas vor Augen und die sodann auf jenen zurückfällt, wenn er diesen moralischen Anspruch nicht zu erfüllen vermag. Er bedeutet ihm unmißverständlich: „Arbeite! Höre auf, deine Zustände zu hegen und zu pflegen und darüber zu reden! [...]. Wenn du verrückt wirst – und ich sage dir ausdrücklich, daß das nicht unmöglich ist – ich werde nicht imstande sein, eine Thräne darüber zu vergießen, denn es wird deine Schuld sein, deine allein“. Zu Erfüllung dieses in einem konventionellen Glaubensrest verankerte Postulat, wie es in den Kaufmannsfamilien der norddeutschen Hansestädte üblich war, muß man jedoch psychisch in der Lage sein. Und dieses Postulat nimmt keine Rücksicht auf subjektive Gebrechen. Selbst der Schwache soll seine Schwachheit nur dadurch überwinden, indem er sich diesem eigenverantwortlichen Auftrag unterwirft. So fordert es die protestantische Ethik und setzt darauf, daß Gott dem Starken zugetan ist und dem Schwachen nur dann hilft, wenn er sich selber zu helfen imstande ist. Der Typus der Zeit war nicht derjenige, der infolge subjektiver diffuser Schwäche zerbrach, sondern der bis zum Rande der Erschöpfung arbeitende „Leistungsethiker“, wie ihn Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen beschrieben hatte. 64

Zusammenbrechen darf man nur unter der Last einer übertrainierten und überbürdeten Leistungsbereitschaft. Dies gilt als Aufopferung im Dienste einer Selbstdisziplin, die den Charakter adelt und die persönliche Lust nicht kennt, aber nie und nimmer unter den Leidenszwängen einer subjektiven psychischen Schwäche auseinanderbricht. Für Christian hingegen erscheint diese Moral, welche niemals ins Wanken geraten darf, angesichts seiner persönlichen Misere paradox. Er ist außerstande einem Anspruch zu folgen, der eine Kompetenz voraussetzt, über die Christian Buddenbrook nicht verfügt, nämlich Arbeitsfähigkeit und Selbstdisziplin. Ungeachtete dessen, ob er die Unfähigkeit hierzu selbst verursacht hat oder vielmehr einer psychischen Labilität zu verdanken hat, gleichwohl hat er nach Auffassung der herrschenden Meinung dafür die Verantwortung zu übernehmen und die Folgen zu tragen. Aber wie kann er sich durch Arbeit selbst heilen, wo er aufgrund seiner psychischen Situation erst gar nicht zur Arbeit fähig ist. „Arbeite!“ So ruft er verzweifelt aus. „Wenn ich aber nicht kann? Wenn ich es nun aber auf die Dauer nicht kann, Herr Gott im Himmel?!“. Vergeblich dringt sein Ruf nach der Allmacht Gottes, die in vergangenen Zeiten auch noch irdische Ausweglosigkeit durch ihre Vorsehung ins Gleichgewicht brachte. Inzwischen ist die transzendente Hoffnung auf göttliches Walten säkularisiert und der einzige Ausweg aus dem individuellen Dilemmata bietet ein gnadenloser Wirtschaftsliberalismus unter dem Postulat: „übernimm selbst die Verantwortung für dich, indem du arbeitest und Erfolg hast. Jeder ist seines Glückes Schmied; geschäftliches Scheitern ist Ausdruck persönlicher Schwachheit!“ Obgleich solches auf den historischen Wirtschaftsliberalismus bezogen ist, läßt sich die Aktualität derartiger Postulate unter den gegenwärtigen Bedingungen eines frei flottierenden Geldmarktes nicht übersehen. Der in seinen Grundsätzen unveränderlicher Kapitalismus ist auch heutzutage in seinen Grundmustern der Jahrhundertwende um 1900 gut erkennbar. Heutzutage heißt es „Selbstverantwortung“ und „Recht auf Arbeit“, auf eine Arbeit, welche längst nicht mehr für alle erreichbar wird. Im Roman ist es Christian Buddenbrook, der diese Maxime nicht zu erfüllen vermag; in unseren Tagen ist es der Chor der Langzeitarbeitslosen, welcher das Recht auf Arbeit widerlegt. Individuelles Unglück und Krankheit soll durch die Kraft desselben Individualismus überwunden werden, der zerbrochen ist. All dies kann Christian Buddenbrook nicht leisten. Während Thomas Buddenbrook trotz aller wirtschaftlichen Sorgen und psychischen Belastungen die äußere Fassade noch aufrecht erhalten kann – sein Willen zur Macht ermöglicht ihm sogar zum Senator aufsteigen –, bricht sie bei seinem Bruder Christian zusammen. Seine ererbte Nervenkrankheit läßt ihn verrückt werden und bringt ihn schließlich in die Nervenanstalt. Christian stellt die konträre Gegengestalt zu seinem Bruder Thomas Buddenbrook dar und verkörpert mehr als jede andere Figur des Romans, die Zerbrechlichkeit des Individuums unter der Last einer kompromißlosen Leistungsethik unter den stahlharten Bedingungen des 65

Wirtschaftsliberalismus. In den Augen seines Bruders Thomas begeht Christian die „schwerste Sünde“ unter den Anforderungen der protestantischen Leistungsethik, nämlich sich auf dem Besitz ausruhen und dem Müßiggang und einer unverantwortlichen „Zeitvergeudung“ nachzugehen. Hiermit verfehlt er das Gebot der asketischen Selbstdisziplin und Pflichterfüllung, nach Max Weber „das einzige Mittel, Gott wohlgefällig zu leben“.18 Ihm fehlen das persönliche Gleichgewicht bei der Einhaltung gesellschaftlicher Konventionen und der Leistungssinn, der die Grundzüge des Charakters von Thomas ausmachen. Christian Buddenbrook ist das Enfant terrible der Familie. In der Gesellschaft mit anderen Menschen erweist er sich als takt- und schamlos, den er versucht sich mit extravaganten, lächerlichen Anekdoten und Späßen in den Vordergrund zu stellen. Aber seine mitunter infantilen Auswüchse sind auch der Protest gegen eine strenge, hierarchische Struktur von Familie und Gesellschaft mit ihren atemberaubenden Regeln, die jede Kreativität zu ersticken drohen. Sein Schritt in die berufliche Selbständigkeit endet mit einem finanziellen Fiasko. Das letzte was der Leser über ihn erfährt, ist das Aline Puvogel ihn aufgrund von Wahnideen und Zwangsvorstellungen in eine Anstalt einweisen läßt. Christian Buddenbrook ist jedoch im Roman nicht nur die bemitleidenswerte Gegenfigur zu seinem erfolgreichen Bruder Thomas. In der Auseinandersetzung mit seinem Bruder spiegelt sich auch der Konflikt zwischen dem konservativen Dichter und Repräsentanten Thomas Mann und seinem Bruder, dem linken Gesellschaftskritiker und progressivem Literaten Heinrich wider, die in je unterschiedlicher, teils widersprüchlicher Weise den Zeitgeist sahen und zu ihm Stellung bezogen. Insofern stellen die Buddenbrooks, neben dem übergreifenden Motiv eines Familienzerfalls auch eine Vorwegnahme jener gesellschaftlichen Konflikte und rasanten Veränderungsprozesse dar, in deren Kielwasser die tradierten Ordnungen allmählich zerbrachen und die Art und Weise wie bedeutenden Literaten und Denker der Epoche zu diesen kollektiven und individuellen Ungleichzeitigkeiten Stellung bezogen haben. Jene exaltierte Innerlichkeit, die nach außen distinguiert und stilvoll erschien und über den Dingen zu stehen schien, war die Welt des Bildungsbürgers und des Großbürgertums, der Wohlhabenden und Besitzenden in einer Gesellschaft voller innerer Widersprüche und sozialer Unvereinbarkeiten. Hier konnten sie den wahren Zustand der Gesellschaft vergessen und über sie hinwegsehen. In der merkantilen Atmosphäre des Frühkapitalismus, in der Wohlhabenheit über alles ging, trug Bildung und Kultur dazu bei, die Gräben zwischen den Besitzenden und den auf Arbeit und Lohnerwerb Angewiesenen zu vertiefen. Mit anderen Worten: der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit war unübersehbar, so sehr man sich auch darum bemühte ihn durch Rituale der Anständigkeit, Disziplin und Gehorsam zu überdecken. Es war eine künstliche Welt vorgetäuschten sozialen Friedens, der nur für die Besitzenden galt. „Der Kult der Bildung hatte etwas Mystisches“, erinnerte sich der anglophile Harry 66

Graf Keßler. In sich verwoben und romantische Nischen ausfüllend mangelte es diesen Bildungskonzeptionen vielleicht an jene angelsächsische Weltläufigkeit, über die sich mehr vermitteln läßt, als Angepaßtheit und bürgerliche Exklusivität, in der zwar die Sphären von Dichtern und Denkern beschworen wurden, zugleich aber die gesellschaftliche Realität ausgespart blieb. Jedoch an Geschmack fehlte es, jedenfalls in den Augen des Grafen, dem die englische Noblesse mehr zusagte als die aufgesetzte und oftmals verkrampfte Bildungsbeflissenheit des deutschen Bürgertums, die mit Prunk, reichlich überheblicher Ideologie und aufgesetztem Pomp daherkam.

Kapitel 3.2 Utopie und Regression Von Höhenflug und Flachland. Germanenkultur und von der Leere des Lebens. Hoffnungen des Chauvinismus. Reichsromantik und Kontinuitätsmythos. Kulissenzauber des Patriotismus. Der Obrigkeitsstaat und seine Feindbilder. Das 19. Jahrhundert ist zu Recht das Zeitalter des Bürgers genannt worden. Nicht des selbstbewußten Citoyen, dieser kam im Deutschen Reich preußischer Prägung wohl nicht so recht zur Geltung. Jedoch das Bild eines Bürgers, der sich zwischen Bildung, Arbeit die ihren Lohn abwarf, sowie Gelderwerb und Kultur gut einzurichten wußte, entsprach durchaus dem rigiden kollektiven politischen Bewußtsein jener Epoche. Die arkadischen Idylle, in denen sich das gehobene Bürgertum und der Adel eingerichtet hatten, waren indes längst zum Täuschungsbild einer dem allmählichen Verfall geweihten Gesellschaftsform geworden. Jahrzehnte zuvor, als 1918 das gesamte Ensemble an nationaler Großmannssucht zusammenbrach, ließ sich für kritische Beobachter die Zerbrechlichkeit einer selbsttäuschenden historischen Kontinuität erkennen, die trotz preußisch-militärischer Adlersymbolik und Beschwörungen an die mythische Kraft der „Germania“ keinen inhaltlichen Bestand mehr versprach. Sedantage und siegestrunkene Kaiserhuldigungen suggerierten eine nationale Sicherheit, die ebenso wie sie sich darstellte, bereits den Keim ihrer Selbstzerstörung in sich barg. In den patriotischen Einstellungen des Bürgertums waren daher schon jene Züge angelegt, die Jahrzehnte später ihre verhängnisvolle Wirkung entfalten sollten und tiefgreifende demokratische Entwicklungen verhindert haben, oder sie in ihren Ansätzen zerstörten. Gewisse Verfallserscheinungen des damaligen Bürgerlichen waren für einen aufmerksamen Zeitgenossen unschwer zu übersehen. Zunehmend blies der Wind des politischen Protestes in den letzten Kaiserjahren schärfer und aus unterschiedlichen Richtungen, aus der konservativen, liberalen und vor allem aus der organisierten Arbeiterschaft. Aber alle besannen sich dennoch auf die bestehenden bürgerlichen Werteformen, wenngleich sie der Monarchie zumeist 67

ablehnend gegenüberstanden. Und so war am Ende des 19. Jahrhunderts die deutsche Gesellschaft auf ihrem Weg zur Demokratisierung noch nicht sehr weit gekommen. Selbst avantgardistische Formen wie der Jugendstil oder der Kreis der Kosmiker in München blieben folgenlos und bedeuteten für die Zeitgenossen nicht mehr, als der letzte Entwurf der bürgerlichen Idylle und der ästhetische Protest gegen die moderne Industrielandschaft mit ihrer funktionalen Glas und Betonarchitektur, als daß er ein Mittel zur Bewältigung der Krise gewesen wäre. Auch die Jugendbewegung, gedacht und verstanden gegen die spießbürgerliche Welt des saturierten Bürgertums, kam aus ihren spätromantischen Fluchtschneisen und Naturidyllen nicht hinaus, zumindest nicht in politischer Hinsicht. Ihr Wanderliederbegeisterung und die offenen Schillerkragen konnten mit dem revolutionären Elan ihres Vorbildes, dessen Kleidungsstück sie trugen, nicht mithalten. Der Historiker Harry Graf Keßler hat in seinen Tagebüchern 1918 bei seiner Wanderung durch das Berliner Königsschloß angesichts des Zerstörung höfischer und adeliger Requisiten die Morbidität der untergegangenen Epoche beschrieben, die jedoch in ihren Schatten längstens noch nicht zu Ende war. Für ihn war das, was er dort vorfand, eine treffende Symbolik für das innere und äußere Erscheinungsbildes einer längst überfälligen und zugrunde gegangenen Lebensform, die aber in ihren mentalen und politischen Spuren, so befürchtete er, noch weiterwirken würde. „Die Nippesschränke des Kaisers sind leer, die Glasscheiben zerschlagen. Was den Matrosen an den Plünderungen zuschulden kommt, scheint nicht festzustellen. Die Privaträume, Möbel, Gebrauchsgegenstände, übrig gebliebene Andenken und Kunstobjekte der Kaiserin und des Kaisers sind so spießbürgerlich nüchtern und geschmacklos, daß man keine großen Entrüstung gegen die Plünderer aufbringt, nur Staunen, daß die armen, verschreckten, phantasielosen Wesen, die diesen Plunder bevorzugten im kostbaren Gehäuse des Schlosses zwischen Lakaien und schemenhaften Schranzen nichtig dahinlebend weltgeschichtlich wirken konnten. Aus dieser Umwelt stammt der Weltkrieg oder was an Schuld am Weltkrieg den Kaiser trifft: aus dieser kitschigen, kleinlichen, mit lauter falschen Werten sich und andere betrügenden Scheinwelt seine Urteile, Pläne, Kombinationen und Entschlüsse. Ein kranker Geschmack, eine pathologische Aufregung die allzu gut geölte Staatsmaschine lenkend. Jetzt liegt diese nichtige Seele hier herumgestreut als sinnloser Kram. Ich empfinde kein Mitleid, nur, wenn ich nachdenke, Grauen und ein Gefühl der Mitschuld, daß diese Welt nicht schon längst zerstört war, im Gegenteil, in etwas anderen Formen überall noch weiterwirkt“.3 Bedeutende Denker in der damaligen Zeit ahnten, daß der Bestand der bürgerlichen Gesellschaftsformen nicht mehr von langer Dauer sein würde. Nietzsche bezeichnete die Epoche in treffender Weise als den Zustand der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, womit er meinte, daß der humane und soziale Fortschritt mit dem technischen nicht Schritt halten würde. Nicht so sehr das Zeitalter heftiger Kriege und Revolutionen, das Jacob 68

Burckhardt nach 1870 den Völkern in Europa voraussagte, war hiermit gemeint, sondern der radikalste Ausdruck eines Bewußtseins, welches sich von allen bisherigen Traditionen zu lösen begann und einer beginnenden Endzeit des Humanen zusteuerte. Alexis de Tocqueville gar bemerkte warnend, daß der Geist der Freiheit, der die Zeitgenossen beseelt nicht unbedingt als freiheitlich zu erkennen sei und am Ende des Aufruhrs, der die Throne schwanken läßt, die Inhaber der Staatsgewalt mächtiger sein werden, als zuvor. Jene unangenehmen teutonenhaften Züge, die für die übrigen Nationen in Europa zur ständigen Bedrohung werden sollten, traten erst in der NachBismarck-Ära auf, als das Deutsche Reich sich anschickte ein imperialistischer Nationalstaat zu werden. Sie sollten nicht nur das außenpolitische Bild prägen und im Ausland das Bild des „häßlichen Deutschen“ zeichnen, sondern bestimmten vor allem das gesellschaftliche und kulturelle Klima. Das Kaiserreich mit seinem preußischen Militarismus wurde zum Krebs- und Kriegsgeschwür auf dem Kontinent. Mit Säbelrasseln und morbider Befangenheit, die systematisch das kulturelle Leben zu ersticken drohten und mit einem tiefen Mißtrauen gegen alles, was nicht deutsch war, wurden, um den Preis eine Großmacht sein zu wollen, die geistigen Traditionen zerstört. Anstelle der vielfältigen kulturellen Traditionen der unterschiedlichen Kleinstaaten, entdeckte man eine angebliche germanisch-deutsche Kontinuität, welche zum Maßstab des geistigen und kulturellen Lebens erhoben wurde und die regionalen Eigentümlichkeiten der Kleinstaatenkulturen überdeckte. Die Germania des Tacitus, eine ethnologische Darstellung der Germanenkultur mit durchaus sympathischen aber realhistorisch überholten Verhaltensmustern, die ehedem durch ihre Stilisierung unrealistisch waren, wurde zu ewigen deutschen Tugenden verklärt. Diese richteten sich gegen die Verfallserscheinungen des römischen Katholizismus, wie gleichwohl als Kompensation für die nicht erreichte bürgerliche Autonomie. Darüberhinaus trug die These von der behaupteten historischen Kontinuität dazu bei, die Notwendigkeit sozialer Veränderungen zu verdecken. Nach Bismarcks Abdankung, als das Deutsche Reich in das Zeitalter des Imperialismus eintrat, verengte sich das Nationalbewußtsein auf imperiale Wunschträume, wurde zunehmender rassisch und völkisch und fiel alsbald mit der Idee des expandierenden Machtstaates zusammen. 1891 gründete sich der Alldeutsche Verband mit seiner offenen Kriegsverherrlichung und Feindschaft gegen Frankreich und gegen das „Slawische“, wodurch erste Anzeichen eines rassisch begründeten Nationalismus erkennbar wurden. Diese Wendung zu deutscher Weltmachtund Kolonialpolitik fiel in zeitlicher Hinsicht mit einem zunehmenden Kulturpessimismus und der Leugnung progressiver, fortschrittlicher Entwicklungsmöglichkeiten zusammen, als deren Sprecher sich vor allem Julius Langbehn hervortat. In seiner programmatischen Schrift aus dem Jahre 1890 Rembrandt als Erzieher, welche einen starken Einfluß auf Teile der späteren Jugendbewegung ausübte, verbindet er seinen unverhohlenen 69

Rassismus und der Anklage gegen den Intellektualismus und moderner Kultur mit der Forderung nach einer sittlichen Erneuerung Deutschlands durch Geschichte, d.h. bei ihm Historismus der Germanenkultur, Politik und Kunst um jeden Preis. Gleichwohl war für kritische Beobachter damals zu erkennen, wie schwer vermittelbar es sein würde, eine eindimensionale Kontinuität deutschen Wesens zum Germanischen nachzuweisen. Die Verarmung der deutschen Kultur, die damit zwangsläufig einherging, war kaum zu übersehen. Jenseits des christlichen Mittelalters, in den teutonischen Wäldern, glaubte man erst eine deutsche Kultur zu entdecken und Rembrandt, die Edda und Shakespeare mußten germanisch adoptiert werden, um zu einer halbwegs vernünftigen Vergangenheit zu kommen. Jene historischen Galerien, die Richard Wagner oder Paul de Lagarde entwarfen, waren nicht einer ausschließlich deutschen Gewohnheit zuzurechnen. Auch in anderen europäischen Kulturen wurden historische Bilder zu Gegenwartsbewältigung stets bemüht. Die deutsche Eigentümlichkeit des Historismus bestand jedoch darin, anders orientierte Geschichtsbilder zu tabuisieren. Der Kontinuitätsmythos mit seiner ständigen Berufung auf die Verwurzelung im Germanischen, fungierte daher in erster Linie als Schutz- und Abwehrmechanismus gegen politische und geistige Überfremdung von außen und innen. Er richtete sich daher sowohl gegen avantgardistische Strömungen in Philosophie, Kunst, Architektur und Literatur als auch gegen fremde kulturelle Einflüsse anderer Nationen und Ethnologien, welche schon infolge der geopolitischen Lage des Deutschen Reiches ihre Auswirkungen auf das deutsche Kultur- und Geistesleben hatten. Unter dem Deckmantel einer geschichtlichen Kontinuität oder Wiederbelebung, die als Historismus in Kultur, Kunst und vor allem in der Architektur Einzug hielt, vollzog sich der Umzug aus den Bereichen geschichtlicher Sinnhaftigkeit in eine geschichtslose Orientierungslosigkeit. Diese aber stand liberalen und demokratischen Strömungen teilnahmslos gegenüber, welche für die Ausgestaltung moderner Gesellschaften von entscheidender Bedeutung gewesen wären. Insofern war der Historismus mit seiner Replik in Vergangenem der Versuch, das voraufklärerische Denken von Weltdeutung bewußt in die Gegenwart zu bringen. Es lag daher in der Absicht der Vertreter und der Ideologen dieser geschichtlichen Kontinuität, in einer Epoche der sozialen Entzweiung und der Klassengegensätze, die Lebenswirklichkeit als Ganzes zu interpretieren und die widerstrebenden Teile von Politik, Ökonomie und Ethik im Zeitgeist einer regressiven Orientierung am Vergangenen zu reintegrieren. Im Zuge der Reformation richtete sich der Kontinuitätsmythos gegen das römische Papsttum, im 17. und 18. Jahrhundert gegen Frankreich als politischmilitärischer Gegner, gegen die französische klassizistische Kultur als geistigen Gegner; 1806; 1870/71 und schließlich 1914- 1918 wiederum gegen Frankreich als klassischen „welchen“ Erbfeind. Die spätere antisemitische Stoßrichtung, wie sie im rassisch-völkischen Nationalismus um die Jahrhundertwende, nach 70

dem ersten Weltkrieg und mit einer eliminatorischen Ausprägung im Dritten Reich zum Ausdruck kam, ist hingegen nur noch eine Ergänzung zu den jahrhundertlangen beschworenen „gestrigen“ Gegenwelten.4 In seinem Kern richtet sich der Kontinuitätsmythos immer gegen wirkliche oder eingebildete Gegner und bleibt deshalb unverständlich, wenn man seine manipulative Kompensationsfunktion und somit seine soziale Bedeutung von den wirklichen Problem abzulenken, außer Acht läßt. Der Frankfurter Sozialphilosoph und bedeutende Vertreter der „Kritischen Theorie“ Max Horkheimer hat aufgezeigt, welche sozialpsychologische Rolle in diesem Zusammenhang die Wiederbelebung des germanischen Altertums spielte, nämlich „das seiner selbst nicht gewisse individuelle Denken mit den modernen Formen der Massenmanipulation zu versöhnen“.5 Das heißt mit anderen Worten, um mit Hilfe der germanischen Kontinuitätslegende von den wahren und wirklichen Problemen der Gesellschaft, nämlich den sozialen Ungerechtigkeiten, abzulenken. Womit auch gemeint sein kann, daß durch die ständige Regression auf den vergangenen Mythos, der als falscher wiederkehrt, sich auch die Etablierung faschistischer Perspektiven vorbereiten läßt. Andere europäische Nationen reagierten auf die wachsende Industrialisierung und Verstädterung ihrer Gemeinwesen weitaus rationaler und versuchten die damit verbundenen Probleme ohne nationalem Pathos anzugehen. In ihren Gemeinwesen herrschte weniger jene Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, von der Nietzsche in weiser Voraussicht gesprochen hatte, zumindest was die Bürgerrechte betrifft. Hingegen die Deutschen, immer noch im Banne des Absolutismus befangen, einer typischen Regierungs- und Gesellschaftsform der Agrarländer, übten sich in romantische Fluchten und Verdrängungen. In einer Zeit, wo Dampfmaschinen und Elektrizitätswerke begannen das Gesicht der Nation zu prägen, flüchtete der Kleinbürger, von den politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, in die Welt der Sagen und Mythen. Man erfreute sich an den uralten Sagengestalten der germanischen Mythologie, welche pädagogischen Vorbildcharakter annahmen, an Kriemhild, Brünhilde und Wotan, sah in dem tumben Helden Siegfried das Vorbild germanischer Wehrhaftigkeit und Aufrichtigkeit und träumte unter den Eichen und Dorflinden buchstäblich den Traum der germanischen Altvorderen. Inmitten dieser historisierten Gegenwelt, die immer häufiger die rauhe Wirklichkeit überzeichnete, sollten die Menschen ihrer mißlichen sozialen Lage nicht bewußt werden. Um der Wirklichkeit zu entgehen, knüpfte man an typische germanische Eigentümlichkeiten an, die natürlicher Ausdruck einer im Grunde primitiven Gesellschaftsform waren und in ihrer Adaption in die Gegenwart sich gegen technischen Fortschritt und bürgerlicher Emanzipation richtete. Der Bürger verlor den Glauben an seinen Wert und als Ausflucht vor seinem drohenden Identitätsverlust blieb ihm nichts anders übrig, die deprimierende Realität als Täuschung der Geschichte zu verurteilen und einen Kosmos zu erfinden, der jenseits dieser lag und in dem er sich heimisch fühlen durfte. 71

Wenn das entmündigte Subjekt schon nicht in der Lage war, sein Dasein als psychische Selbsttäuschung zu erkennen, so mußte die Realität unwirklich sein und die Wirklichkeit in jenen Zeiten liegen, wo noch scheinbar Einklang zwischen ihm und seiner Gemeinschaft bestand.

Kapitel 3.3 Zum Verfall des Bildungsbürgertums Der deutsche Nationalismus auf dem Weg zum Nationalsozialismus. Die Ideen explodieren. Heinrich Heine und das deutsche Wintermärchen. Donnergrollen und Wotan erwacht. Das Ende der Hoffnungen. Die Nation als Weiheveranstaltung. Wahn und Wirklichkeit. Gedenkreden und falscher Pathos. Albrecht Dürer. Sedanlächeln und nationale Hybris. Melancholie und Resignation. Heinrich Heine, der bekanntlich seinen Lebensmittelpunkt 1831 nach Ausbruch der französischen Julirevolution nach Paris verlagerte, sah den deutschen Nationalismus mit Schrecken und Sorge zugleich. Für ihn war er mehr als nur ein „Wintermärchen“, jene kritische Auseinandersetzung mit den Mentalitäten und gesellschaftspolitischen Zuständen seines Vaterlandes. In Deutschland ein Wintermärchen unterschied Heine sehr genau, zwischen seiner Liebe zu Deutschland und seiner Verachtung der Untertanengesinnung: „Sie stelzen noch immer so steif herum, / So kerzengerade geschniegelt, / So hätten sie verschluckt den Stock. / Womit man sie einst geprügelt.“ Den Wunsch nach deutscher Einheit, der sich in der Gründung eines Zollvereins nach außen und der Zensur im Inneren als obrigkeitsstaatliche Repressalie erschöpfte, fand seinen beißenden Spott. Mit Blick auf die Franzosen sagte er, daß man sie nicht bekämpfen, sondern sie vielmehr in der Freiheit ihrer Institutionen übertreffen sollte. Seine Art des Patriotismus war die, das zu vollenden, was die Franzosen an bürgerlichen Freiheiten begonnen haben und sie hierbei noch zu übertreffen. Als man um 1840 begann Die Wacht am Rhein zu singen und gegen die Ansprüche Frankreichs auf das Elsaß und die linksrheinischen Gebiete, Beckers Lied intonierte: Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein, warnte Heine vor einem Nationalismus, der zwar Deutschland von seinen Feinden befreien sollte, nicht aber zur Freiheit der Bürger führte. Im Wintermärchen unterscheidet Heine sehr genau zwischen seiner Liebe zu Deutschland. Überdies sah er mit luzider Schärfe voraus, daß diese Art von Nationalismus über kurz oder lang zu einem Antisemitismus führen würde. Vielleicht ahnte ihn auch deshalb, da er selber antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war und die Tatsache seiner Konvertierung zum christlichen Glauben ihm wenig hilfreich zur Seite stand. Der Franzosenfresser, so Heine, „frißt gewöhnlich den Juden hinterher, um einen guten Geschmack zu haben“.1 Die Weltstadt Paris 72

mit ihrem aufklärerischen Klima der Offenheit und bürgerlichen Freiheit inspirierte Heine zu scharfsinnigen politischen Essays und Analysen. In seiner Schrift Französische Zustände aus dem Jahre 1832 versuchte er seinen deutschen Landsleuten gegen deren Vorurteile Frankreich und den Franzosen Deutschland näher zu bringen. Hierbei gelangen ihm Analysen von beinahe prophetischer Qualität, so etwa im Schlußwort seines Werkes aus dem Jahre 1834 Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, welches er an die Adresse der Franzosen richtete und 99 Jahre vor der Machtergreifung jener, die auch seine Bücher verbrennen sollten. Nicht nur daß er die Wiederbelebung des Germanenmythos voraus ahnte, sondern ebenso sah er den hiermit verbundenen Gang der deutschen Kultur in die Abgründe einer politischen und ideologischen Apokalypse ohnegleichen voraus: „Das Christentum – und das ist sein schönstes Verdienst – hat jene brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut [...].Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bey diesem Geräusch werden die Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihre königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.“2 In zahlreichen unseligen Traktaten und philosophischen und literarischen Schriften kündigte sich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das germanische Donnergeraune unüberhörbar an. Nur langsam kam der germanische Sturm- und Brausegott Wotan in Fahrt, immerhin galt es zunächst die Restbestände der Aufklärung und den Einfluß, den die französische Revolution auch in den deutschen Kleinstaaten hinterlassen hatte, zu überwinden. Zunächst mußten die restaurativen Bestrebungen der nachnapoleonischen Epoche politische Wirklichkeit werden. Aber dann, nach der Reichsgründung 1871 kam er in immer schnelleren Schritten und mit immer größerem Getöse, um sich sodann, um so bedrohlicher für andere Nationen und Volksgruppen, zu einem Unwetter zu entfalten. Die nationalen Gedenktage dienten einzig dem Zweck, völkisch-germanische Kontinuitäten zu beschwören und es gab wohl kaum eine Festrede, die entweder in Universitäten oder anläßlich akademischer Feiern von Vereinen abgehalten wurden, die nicht dem germanischen Urgeist huldigten und auf die eingebildete Auserwähltheit des deutschen Volkes hinwiesen. Zu dieser Festtagskultur gehörte wie selbstverständlich auch, in unvermeidlichen Nebensätzen, die jüdische und welsche Gefahr zu erwähnen, durch die sich die völkischen Nationalisten bedroht sahen. 73

Mit wachsender Militanz des völkisch-nationalen Bewußtseins nahm auch die rethorische Schärfe dieser Reden zu. Selbst Dürer-Gedenkveranstaltungen mußten dafür herhalten, den „deutschen Wotan“ zu seinem Sieg über den französischen Erzfeind zu feiern und Albrecht Dürer bei dieser Gelegenheit als deutschen Nationalhelden darzustellen. So sprach der zweite Bürgermeister von Nürnberg anläßlich der Feier zum 400. Geburtstag von Albrecht Dürer von einer neuen, wunderbaren Wirklichkeit: „Zu Boden liegt vernichtet der vorher höhnende Feind. Die geraubten Brüder im Elsaß und Lothringen sind wieder unser und Deutschland ist groß, Deutschland ist ein mächtiges – ein einiges geworden“.3 Innerhalb eines Denkens, welches jegliches Wirken Dürers in den Dienst teutonischer Selbstgefälligkeit stellte und unter den Gesichtspunkten nationalen Stolzes interpretierte, war es nicht verwunderlich, daß Kultur und Kunst in den Dienst nationaler Selbstbeweihräucherung genommen wurden. Demgemäß hieß es in der weiteren Rede: „Es ist das neue Kunsterwachen des deutschen Volkes, das in Erinnerung an den großen deutschen Mann sich aufs Neue zu seiner künstlerischen Mission zusammenschart“.4 Aber dieses Schicksal teilte Dürer mit anderen Geistesheroen der deutschen Kulturgeschichte. Ob Dürer, Goethe, Schiller, Beethoven oder Luther, alle wurden nationalpolitisch mißbraucht. In ihnen sah man weniger die bedeutenden Künstler und Denker des christlichen Abendlandes, als vielmehr die großen Deutschen, die Deutschesten aller Deutschen, die geistigen Führer auf dem Weg zu einer großen Nation und somit Sinnbild und Vorbild für dasjenige an Größe, welches man anstreben wollte. Ihre außerordentlichen künstlerischen Produkte wurden politisch adaptiert und gleichgesetzt mit der Wucht imperialer Bestrebungen, die das Deutsche Kaiserreich und späterhin der Nationalsozialismus im Auge hatten. Die tradierten Bildungsgüter wurden im Verständnis der Nationalisten zur nahtlosen Idealisierung deutscher Sonderlichkeiten adaptiert und ideologiepolitisch verfremdet. Das Dürerbild, welches nationalistisch gezeichnet wurde, war durchaus vielschichtig angelegt. Als persönliches Vorbild galt im Deutschen Kaiserreich immer noch der christologische Dürer der romantischen Ära. Für den Hausgebrauch des Bürgertums reichte es aus, seine Werke in unzähligen Nachbildungen, Kopien und durch die moderne Drucktechnik gefertigten Reproduktionen zu besitzen. Dürer in jedes bürgerliche Haus, als betende Hände oder sitzender Hase unterstrich seine Rolle als Lehrmeister mittelständischer Geschmacksbildung. Und da er darüberhinaus als nationaler Heros verehrt wurde, verbanden sich mit ihm auch jene Sehnsüchte nach Größe und Vollkommenheit der Nation. Dürer galt als Inbegriff deutscher Kunstfertigkeit und über ihn hieß es auch für den einfachen Bürger, des allgemeinen Gefühls von Stolz und Erhabenheit teilhaftig zu werden. Wer Reproduktionen von Dürer besaß, wußte sich eins mit dem pseudokulturellen Trend der Mittelmäßigkeit. 74

Vor allem die deutschen Professoren haben mit dazu beigetragen, daß das deutsche Philistertum nach 1871 das überhebliche „Sedanlächeln“ bei allen nur denkbaren Anlässen stets zur Schau trug. Jenes Gefühl der Überlegenheit über andere Nationen und Kulturen wurde fester Bestandteil kollektiven Bewußtseins. Diese staatstragende Verachtung für die angebliche moralische Korruption und als degeneriert erachteten lateinischen „Rassen“, für die man das Schimpfwort des „Welschen“ verwendete, welches alles an individueller Kreativität dieser Menschen unter der Wucht nationaler Verachtung einebnete, wurde zur nationalen Pflicht eines jeden „anständigen“ Staatsbürgers. Der Historiker Theodor Mommsen, der 1902 für seine Römische Geschichte den Literatur-Nobelpreis erhielt, war voller Verbitterung und Sorge um das Bild, welches der Nationalismus über Deutschland abgab. Er sah sehr wohl, daß dieser aggressive Nationalismus alle demokratischen Bestrebungen überdeckte und einem pseudokonstitutionellen Absolutismus Vorschub leistete. Eingedenk der revolutionären Hoffnungen von 1848, die er noch selbst miterlebt hatte, stellte er fest, daß das Volk „nichtswürdig und rückhaltlos“ geworden sei und statt sich den liberalen und demokratischen Idealen der Aufklärung anzuschließen, einem destruktiven Nationalismus auf den Leim gegangen ist. Und dieser Nationalismus war kaum denkbar ohne permanenten Haß auf alles Nichtdeutsche. Er brachte sogar jenen absurden Stolz hervor, der sich darin zeigte, alle Welt zum Feinde zu haben, nach dem Motto: „viel Feind, viel Ehr“. Solcher Nationalismus machte auf Dauer furchtlos und unkritisch angesichts der Gegenwartsströmungen und übersah, welch verhängnisvolle Unterströmungen für das eigene Gemeinwohl in ihm schlummerten. Sich selbst Mut zu machen, oder diesen vorzutäuschen, in einer Welt voller eingebildeter Feindschaften, denn die Losung „wir Deutsche fürchten nur Gott und sonst nichts auf der Welt“, entwarf ein Selbstbildnis voller Haß, verdrängten Minderwertigkeitsgefühlen, Unterwürfigkeit und einer grenzenlosen Hybris, die sich immer deutlicher gegen andere Nationen und im eigenen Land gegen die Schwächeren richtete Ideologiekritisch läßt sich daher eine Synchronizität zwischen dem wachsenden Rekurs auf germanische Traditionen und Urbilder und dem zunehmenden Chauvinismus des deutschen Nationalismus im späten 19. Jahrhundert feststellen. Als Beispiele seien an dieser Stelle nur die inhumanen Ideenwelten eines Julius Langbehn, des Historikers Heinrich von Treitschke oder Houston Stewart Chamberlain erwähnt, deren Schriften sich allesamt im deutschen Bürgertum großer Beliebtheit erfreuten. Und für Heinrich von Treitschke war Luther in die Welt gekommen, damit Gott endlich deutsch zu den Deutschen rede, so daß man glauben möchte, Gott und die Bibel seien ausschließlich für die Deutschen in die Religionsgeschichte eingetreten. Nachdem die Einheit des deutschen Staates erst möglich geworden ist, so Treitschke, seit die letzten Staatsgebilde der römischen Kirche von deutschem Boden verschwunden sind, so ist der Reformation jenes Band zu verdanken, daß in den Tagen der Zerrissenheit durch die neue deutsche Sprache alles 75

zusammenhält. Denn „Was selbst dem Zauber unserer ritterlichen Dichtung nicht gelungen war, den deutschen Norden unter die Herrschaft der hochdeutschen Sprache zu beugen, das gelang erst, als die schöne Lieblingsstätte des Minnegesanges, die Wartburg, zum zweiten Male unserem Volke teuer ward und von dort die ersten Bücher der deutschen Bibel ausgingen – die Heilige Schrift –, übertragen mit strenger Treue durch einen wahlverwandten religiösen Genius und doch so ganz verdeutscht, so ganz beseelt von dem Hauch deutschen Gemütes, daß wir uns heute das Bibelwort in anderer Fassung kaum noch denken können. Gleich den Italienern empfinden wir unsere Schriftsprache mit einem Male durch die Tat eines Mannes. Es liegt aber im Wesen des Genius, das Notwendige, das einfach Nützliche zu wollen. Wie Dante nicht willkürlich neuerte, sondern nur die Volkssprache seiner toskanischen Heimat adelte und durchgeistigte, so hegte auch Luther nur schlicht und recht die Absicht, von seinem ganzen Volke verstanden zu werden, damit Gott deutsch zu den Deutschen rede“.5 Zu der allmählichen Transformation des völkischen Nationalismus zum späteren Nationalsozialismus, der auf allen diesen Ideenformationen aufbauen konnte, trugen auf literarischem Gebiete die Schriften von zur damaligen Zeit bedeutenden Historikern und Schriftstellern, neben zahlreichen populärwissenschaftlichen haßerfüllten Traktaten erhebliches bei. Wenngleich Hannah Arendt zu dem Schluß kommt, daß der Nationalsozialismus und Hitler nicht aus den kulturpolitischen Traditionen der deutschen Geschichte erklärt werden kann, da der Hitlerismus gleichsam hierdurch sanktionierte werde, so läßt sicht nicht übersehen, daß an seinem Aufstieg und vorübergehenden Erfolg wesentliche Erscheinungen des deutschen Geisteslebens ihren Anteil hatten.6 Nicht das Zusammenbrechen der Weimarer Republik und die Folgen der Weltwirtschaftskrise waren die ausschlaggebenden historischen Ereignisse, sondern sie waren nur die auslösenden Momente, die einer historisch gewachsenen brachialen Gewalt die Türen öffnete. Im Zuge der Wiederbelebung germanisch-heidnischer Ursprünge durch das Dritte Reich ging es hingegen in erster Linie nicht um die Reaktivierung mythisch-magischer Denkformen, die dem Nationalsozialismus als ideologische Deutungslehre oftmals als dessen genuiner Bestandteil unterstellt wurden, ebenso wenig um die Restauration längst vergangener Inhalte und Lebensformen, die sich ohnehin mit dem technisch-wirtschaftlichen Komplex des Dritten Reiches nicht vereinbaren ließen, wie sehr auch Himmler und Rosenberg solches im Blick hatten, sondern um die Umfunktionierung des Mythischen zum Zwecke faschistischer Herrschaft. Faschistische Herrschaftsformen bedürfen der magischen Wirkung von Mythen, nicht aus historischem Interesse, sondern aus Gründen ihrer propagandistischen Wirkung auf die breiten Massen. Der Mythos bindet unterschiedliche soziale Gruppierungen aneinander und indem er auf seine angebliche Kontinuität verweist, suggeriert er gemeinsame soziale Wurzeln, wo in Wirklichkeit Chancenungleichheit und 76

mangelnde materielle Voraussetzungen der realen Biographie der Menschen den Ausschlag für die gesellschaftliche Stellung geben. In erster Linie verstand der völkische Nationalismus die germanischen Mythen und deren Wiederbelebung als Weltanschauung im Sinne einer Neuorientierung völkischnationalen Bewußtseins. Wenngleich sich solches gegen die technischrationalen Anforderungen der Moderne richteten, vor der man in die Welt der Mythen und Sagen flüchten wollte, so waren es dennoch Versuche, der Entfremdung des Individuums etwas vermeintlich Substantielles entgegenzusetzen, von dem man glaubte, daß es letztendlich mit den modernen Anforderungen vereinbar sei. Germanisches Interieur und moderne Waffentechnologie, sowie eine hochkomplizierte Industrialisierung schienen im deutschen Kaiserreich nach 1871 keine Gegensätze zu bilden. Gewiß blieben dahinter nüchterne Weltsicht, Modernität der Ideen und Ziele sowie demokratisches Bewußtsein unterentwickelt; aber dies waren schon immer mit Argwohn behaftete politische Elemente, welche im Obrigkeitsstaat keinen Platz hatten. Statt dessen ging es darum, die verloren geglaubte Größe der germanischen Altvordern neu zu beleben. Die regressiven Merkmale der nationalsozialistischen Bewegung, einer Weltanschauung, die sich nicht nur rückwärtsgewandter Symbolik bediente, sondern auch eine Vergangenheit bemühte, die selbst unter den Verhältnissen totalitärer Herrschaft nicht adaptiert werden konnte, da ihre Herrschaftsinstrumente erst durch die Strukturen moderner Massengesellschaft möglich wurden7 und erst durch sie hervorgebracht werden konnten, bildeten dagegen nur die äußere Staffage, einer in Wirklichkeit modernen Form totalitärer Herrschaft im zwanzigsten Jahrhundert. Die Verwendung germanischer Symbolik anläßlich der Selbstinszenierungen des Regimes waren im Grunde nicht mehr als theatralische Versatzstücke aus der Requisitenkammer des Vorgestrigen zur mentalen Sinnbetäubung der Massen und kamen über die Bedeutung von Propaganda und Faszination nicht hinaus. Totalitäre Herrschaftsformen benutzen Vergangenes um ihren Machtmythos zu begründen, jedoch nicht zu ihrer Legitimation. In ihrem Kern sind sie, wie Hannah Arendt ausführte, Erscheinungen der modernen Massengesellschaft und ohne diese nicht denkbar. Weit bedeutsamer war daher die ideologische Bindungskraft als integrativer Faktor des Systems Nationalsozialismus im Sinne einer Pseudologie, um diesen in möglichst weiten Kreisen der Bevölkerung zu verankern. Für den nationalsozialistischen Umgang mit dem Germanenmythos und seiner regressiven Umdeutung historischer Phänomene gilt daher was Mussolini über den italienischen Faschismus gesagt hat: „Wir haben unseren Mythos geschaffen. Der Mythos ist ein Glaube, eine Passion. Es ist nicht notwendig, daß er eine Wirklichkeit sei. Er ist durch die Tatsache real, daß er ein Ansporn ist, ein Glaube, daß er Mut bedeutet“.8 Noch 1933, im Angesicht des Nationalsozialismus, sah Gottfried Benn mit Erstaunen jene „Vollkommenheit, mit der bei diesem Aufbruch der nationalen Macht gewisse geistige Probleme 77

[...] versinken und [...] die Klarheit, mit der andere bedeutungsvolle erstehen“. Im Gegensatz vernünftiger Geschichtsdeutung und dem „Fortschritt im zivilisatorischen Sinne“ herrsche „heute die Bindung rückwärts als mystische und rassische Kontinuität“.9 Die programmatischen Grundlagen, auf denen die Nationalsozialisten aufbauen konnten wurden durch das inhumane Gebräu der ideologischen Formationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelegt. Im Zuge der Militarisierung der Gesellschaft, die vor allem im Deutschen Reich preußischer Herkunft ihren Höhepunkt hatte, wurden chauvinistische Weltsichten zum affirmativen Element der Kultur und verdrängten die humanistischen Ideale, die bislang die bürgerliche Kultur in den deutschen Kleinstaaten bestimmten. Jedoch war bereits das bürgerliche Bildungsverständnis in den deutschen Kleinstaaten von chauvinistischen Einbildungen nicht frei. Hier schon fühlten sich die Deutschen als die gebildetste Nation der Erde, deren Bildungsgrundlagen indes insoweit nur unvollständig sein konnten, da man sich nicht offen und frei über Bürgerrechte verständigen durfte und somit eine demokratische Bildung nicht vorhanden war. 10 Da ihnen demokratische Grundrechte von einer rigiden Obrigkeit verweigert wurden und statt dessen mit der Entstehung des Deutschen Kaiserreiches ein dumpfer Nationalismus anstelle von Emanzipation und Freiheit das gesellschaftliche Klima bestimmte, erwies sich der Weg vom Bildungsbürger über die Spießbürgerlichkeit zur Barbarei unter den Bedingungen einer Massengesellschaft nicht so weit, wie der ursprünglich hohe kulturelle Standard des Bildungsniveau hätte vermuten lassen. Und von daher betrachtet, scheint die These nicht so abwegig zu sein, daß die Barbarei sich nicht in einem Gegensatz zur Bildung entwickeln konnte, sondern eben wegen dieser Bildung. Der von oben verordnete Nationalismus wurde dagegen zur Fassade einer partikularen Kultur, die andere ausschloß und hinter der sich leicht Träume eines ungehemmten Imperialismus, Rassenhaß und Barbarei formierten. Im Malstrom dieser ungezügelten Mentalitäten und verheerenden Sichtweisen, welche auf die geschichtlichen Ereignisse einwirkten, gingen humane und demokratische Ideen allmählich unter, oder verloren zunehmend an Bedeutung. Am nationalen Mythos zerbrach das Bildungsbürgertum als große gesellschaftliche Hoffnung gegenwärtiger und künftiger Lebensgestaltung. Nicht zuletzt trugen die sozialen Ungleichheiten und Klassenunterschiede in der aufkommenden Massengesellschaft ein übriges dazu bei, die Werte humaner Bildung, wie sie sich in den Dimensionen von Aufklärung, Romantik, Biedermeier, Realismus und Expressionismus entwickelt hatten, hinter kleinbürgerlichen Fassaden verschwinden zu lassen. Auch das bürgerliche Ideal der Familie, der Biedermeierepoche entnommen und weiterhin als ideelle Keimzelle der Gesellschaft betrachtet und in der Erziehung und Sozialisation vornehmlich noch über Bildungsinhalte vermittelt wurde, wich einer ins Absurde getriebenen Dressur, die ihre erzieherischen 78

Maßstäbe aus der Kasernenhofmentalität des preußischen Militarismus bezog und lediglich einen Kadavergehorsam hervorbrachte. Den Ursprung zu dieser Entwicklung sieht der Historiker Otto W.Johnston in der nachnapoleonischen Zeit nach dem Wiener Kongreß, wo aus unterschiedlichen Gründen die Heranbildung eines bürgerlichen politischen Bewußtseins unterbunden worden ist. Immerhin schien für die knapp 2 Millionen Rheinländer durch die französische Besetzung unter Napoleon eine wirkliche Neuzeit angebrochen zu sein, denn sie wurden französische Bürger und kamen damit in den Genuß freiheitlicher Rechte, die ihnen bis dahin verwehrt waren. Napoleon leitet den Zusammenbruch feudaler Herrschaftsstrukturen ein. Feudalherrschaft, Leibeigenschaft und Fronbauerntum konnten abgeschafft werden, Zunftzwang und Hörigkeit fanden ein Ende; im Gerichtswesen galt unter Napoleons Herrschaft die Gleichheit aller vor dem Gesetz, unabhängig von Stand und Religion. Des weiteren wurde die Folter abgeschafft, desgleichen die entwürdigende Prügelstrafe, welche bislang unter dem Einfluß des preußischen Vorbildes das Erziehungswesen beherrschte. Die Geistlichkeit verlor ihre Aufsicht über die Schulen oder es wurden ihr durch die Einrichtung der Zivilehe enge Grenzen gesetzt, die juristischerseits die Dominanz über das Ehewesen erhielt. All dies hatte nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft über Europa und insbesondere über die deutschen Kleinstaaten keinen Bestand mehr und die Macht der Restauration setzte sich durch. Augenscheinlich liegen in diesen, für das Bürgertum ungünstigen Entwicklungen eine der wesentlichen Gründe, die einen Start in die Neuzeit der Aufklärung und Demokratisierung verhindert haben. Als Gegenbewegung entwickelte sich unter dem zunehmenden Einfluß des expandierenden Preußens der Nationalmythos und unterband fortan demokratische und liberale Tendenzen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, so konstatierte Johnston, begannen die intellektuellen Mythenproduzenten die deutsche Nationalität zu kreieren und hierunter ist vor allem Kleists Katechismus der Deutschen zu nennen. Und der romantische Dichter Joseph von Eichendorff hegte die Hoffnung, daß das deutsche Leben aus seinen „verschütteten geheimnisvollen Wurzeln wieder frisch ausschlagen“ möge, „das ewige Alte und das ewige Neue“ sollte „zu Bewußtsein und Ehre kommen“.11 Der Bezug auf das „ewige Alte“ enthüllte sich bei näherem Hinsehen als kulturelle Regression auf die germanische Herkunft und das „ewige Neue“ sollte sich als der moderne preußische Verwaltungsstaat mit samt seinem Militarismus herausstellen. Im preußischen Militär- und Verwaltungsstaat, in dessen expansivem und aggressivem Politikverständnis, in seinem rigiden gesellschaftlichen Klima, geprägt durch militärische Attitüden und arroganter Junkermentalität lag der eigentliche Ursprung der „deutschen Krankheit“. Wenngleich die preußischen Verwaltungsstrukturen Sinnbild der Korrektheit und Unbestechlichkeit waren, so herrschte auch in ihnen die typische deutsche Untertanenmentalität subalterner und führender Beamte. In diesem Sinne stellte Helmut Plessner fest, 79

daß der Deutsche nicht diese scharfe Disziplin brauche „im Militärbereich, Fachberuf, in öffentlicher Organisation, wenn er nicht in seiner Substanz allzusehr das Gegenteil davon hätte. Warum nimmt sie so leicht Schärfe und Verbissenheit an, warum wird sie in allem gewaltsam, wenn nicht um etwas anderes, das gefährlich werden kann, weil es das tiefere Wesen ist, niederzuhalten?“12 Im obrigkeitsstaatlichen preußischen Beamtenstaat mit seinen hierarchischen Strukturen und Regeln, seiner unerträglichen „Militärpädagogik“, welche den Staat zu einen willfährigen Haufen von Ameisen machte, mit seiner abstoßenden „Uniformierung“ humaner Umgangsformen, lagen die Wurzeln der bedingungslosen und unkritischen, gehorsamen Anpassung an willkürlich erlassenen Direktiven. Zugleich waren derartige „staatsbürgerliche“ Untertaneneigenschaften Restbestände des Feudalismus, der nicht mehr ausschließlich durch den Adel repräsentiert wurde und in gewisser Weise als „säkularisierter“ Feudalismus bezeichnet werden kann der Grund, warum Deutschland den Pfad der Moderne verlassen hat, den andere vergleichbaren Industrienationen gegangen waren. Obgleich der Adel zunehmend an gesellschaftlicher Macht einbüßte, verblieb das aufstrebende Bürgertum in hierarchischen Strukturen. Das Besitzbürgertum übernahm im gesellschaftlichen Bereich die Herrschaftspraktiken des Adels Als politischer Gegenentwurf konnte sich die Demokratie nicht so recht verwirklichen. Preußen, zur damaligen Zeit ein moderner Verwaltungs- und Militärstaat, war daher auch die Antwort auf die Ideen der französischen Revolution die im Deutschen Reich nicht Fuß fassen konnten. In Großbritannien, Frankreich und in den Niederlanden wurden die Macht der politischen Elite und Institutionen durch die bürgerliche Revolution, die zugleich die lang ersehnte Emanzipation des Bürgertums mit sich brachte, gebrochen, währenddessen Deutschland einen Sonderweg beschritt, der schließlich in der 12 jährigen Herrschaft des Nationalsozialismus gipfelte. Beides, Germanenkult und Preußenmentalität wirkte in einer Zeit, wo die wirtschaftliche Prosperität und der industrielle Fortschritt unaufhaltsam voranschritten seltsam deplaziert und in der die Requisiten der Germanenkultur wie Reste einer untergegangenen, imaginären Welt erschienen. Da aber beides sich einander ausschloß, entstand aus den widerstrebenden Elementen eine „wunderlich komponierte Vaterländerei; ein imaginäres Deutschland, was weder recht vernünftig noch recht historisch war“13 und über dessen Selbstverständnis noch zu sprechen sein wird. Obwohl diese beiden unterschiedlichen Entwürfe von ihrer Charakteristik her unvereinbar waren, und alleine schon durch ihre permanente kulturelle und politische Präsenz die Gegenwart belasteten, so ist es ein Jahrhundert später den Nationalsozialisten gelungen, diese widerstrebenden Elemente zu einer politischen Ideologie zu verschmelzen und zur Staffage ihres politischen Programms zu transformieren. Mythenproduzenten wie der Freiherr von Eichendorff und Kleist sahen hingegen ihr Anliegen als Befreiung von napoleonischer Herrschaft und somit 80

als Beitrag zur Bildung einer souveränen Nation, die ihren eigenen Weg gehen wollte, was aber die von ihnen entworfenen Mythen nicht vor dem politischen Mißbrauch späterer Generationen und insbesondere durch den rassischvölkischen Nationalismus bewahrt hat. Den fatalen Zusammenhang zwischen radikalem Nationalismus und einer romantisierenden Weltsicht, der im Nationalsozialismus seinen Höhepunkt fand, versuchte im Jahre 1930 Thomas Mann, nach Hitlers erstem großem Wahlerfolg dem deutschen Mittelstand nahezubringen. In einem Appell an die Vernunft warnte er vor einem Bündnis mit dem „Unbewußten, Dynamischen, Dunkelschöpferischen“, dem „Seelendunkel“ und der „heilig gebärerischen Unterwelt.“14 Diesen Zusammenhang, den Thomas Mann angesichts des unaufhaltsam scheinenden Aufstieges Hitlers und der Nationalsozialisten vor dem Hintergrund eines romantischen radikalen Nationalismus sah, konnten die politischen Romantiker im 19. Jahrhundert nicht erahnen noch. Jene Denker und Literaten, die auf der nationalistischen Welle des völkisch-romantischen Geistes schwammen, wie Gottfried Benn, übersahen auch die bedrohlichen Schatten, die der Nationalsozialismus auf die Weimarer Republik warf. In ihrer Absicht lag es nicht, den Nationalsozialisten zur Macht zu verhelfen. Ihr völkischer Nationalismus war vielmehr eine verspätete romantische Wirklichkeitsflucht, die auch die drohenden Schatten des aufkommenden Nationalsozialismus beharrlich übersah. Hierbei erlagen sie den dunklen Aspekten der Romantik, den Kräften von Irrationalität, Weltflucht, resignierender Melancholie und Tod.15

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Exkurs: Kosmiker und Boheme – Kulissenzauber im Wahnmoching – Am Beispiel des Kreises der Kosmiker im München um die Jahrhundertwende zeigen sich die verschlungenen Pfade philosophischen Denkens und literarischer Kunstfertigkeit. Andererseits mögen sie als Beispiele für die Vielfältigkeit der deutschen Kultur- und Geistesszene stehen, die sich mitunter auch in bizarren Gebilden äußerte. Daß sie hierbei bewußt oder in naiver Verkennung der wahren Absichten des völkischen Nationalismus zum Teil auch auf jene germanischen Blut- und Auserwähltheitsformeln zurückgriffen, um ihrer Philosophie der Avantgarde die notwendige „Bodenhaftung“ zu verleihen, zeigt einmal mehr, wozu die Weltfremdheit gebildeter Bürgerlichkeit führen kann, auch oder gerade dann, wenn sie im Gewande des Bohemienhaften und somit Unbürgerlichen auftritt. In einer gänzlich, von der bürgerlichen unterschiedenen Welt lebten die Kosmiker und der Kreis um Stefan George. Der Kreis der Kosmiker im München zu Anfang des 20. Jahrhunderts um den Philosophen Alfred Schuler, dem auch zeitweilig Stefan George und Ludwig Klages angehörten, verknüpften ihre lebensphilosophischen Betrachtungen mit einer ausgeprägten Geist- Technik- Zivilisations- Feindlichkeit,1 die sich vor allem, neben Stephan Georges literarischen Einflüssen, in der Jugend- und Wandervogelromantik bemerkbar machten. Sie begründeten eine literarische und geistige Gegenwelt zu der aufkommenden Massengesellschaft mit all ihren geistigen Verflachungen und kulturellen Einebnungen. Kunst und Literatur sollten vor demokratischen Zugriffen bewahrt bleiben und nur einer avantgardistischen Elite vorbehalten sein. Ludwig Klages, der den Geist der Modernen als Widersacher der Seele verstand, befand sich in einer Phase der psychischen Zerrissenheit als er auf Stefan George und seinen Kreis in München stieß. Klages und George fanden schnell Sympathie füreinander und führten alsbald hitzige Debatten über die zeitgenössische Kunst, wenngleich Stefan George Klages heftigen Antisemitismus nicht teilte, der schließlich später zur Trennung mit dem Kreis der Kosmiker führte. Klages philosophische und wenn man so will, biogenetische Grundlage seiner rassisch affizierten Philosophie war die Aufteilung der Menschen in „Belanglose“ und „Enorme“, die sich nach der „Blutbeschaffenheit“ orientierte. Klages gedachte sich selbst den Status des „Enormen“ zuzuschreiben, während er den Juden die „Belanglosigkeit“ als ethologisches Kriterium zuordnete.2 Unabhängig von seiner Bekanntschaft mit Stefan George freundete sich Klages mit Hans Hinrich Busse an und gründete mit ihm 1896 die „Graphologische Gesellschaft“. Vermutlich durch die Vermittlung Karl Wolfskehl traf Stefan George 1893 auf den Kreis der Kosmiker, die im Münchener Schwabing eine bizarre Künstlerszene bildeten. Sie propagierten und praktizierten die freie Liebe, der sie jedoch eine kultische, 82

metaphysische Bedeutung beimaßen. Sie verehrten einen heidnischen Eros, der im Gegensatz zur herkömmlichen Erotik, kosmisch oder genauer gesagt weltschöpferisch sein sollte. Die Kosmiker sahen als sich Gruppe bedeutsamer Eingeweihter, da sie sich zu denjenigen zählten, die noch zum erotischen, sinnenhaften dionysischen Rausch fähig waren. Dies alles wurde gedacht und diskutiert im Schwabing der Jahrhundertwende. Schwabing war zu dieser Zeit das künstlerische und geistige Zentrum der Szenerie einer nicht uninteressanten Boheme, welche an gewollter Provokation und Unbürgerlichkeit die der zwanziger Jahre in Berlin noch übertraf. Leidenschaftlich diskutierte man über Kunst und die übrige Welt. Hier wurde gefeiert, gelebt, geliebt und in bacchantischen Festen romantisches und antikes Vergangenes theatralisch inszeniert. Man gebärdete sich genial und verachtete das Verstandesmäßige des normalen Bürgerlichen. Der kosmische Rauschzustand dieser Szene, welcher innerhalb fester Rituale ablief, enthüllte sich über weite Strecken als eine avantgardistische Lebensweise im Dauerzustand. In Atelierfesten und nächtelangen Diskussionen betätigten sich eine ganze Schar von Intellektuellen, Künstlern, Gruppen, alle nur denkbaren esoterische Zirkel und literarische Kreise, dazu verkrachte oder verbummelte Existenzen, Weltverbesserer und wildgewordene Metaphysiker. Es handelte sich hierbei gewissermaßen um den Einbruch der Mystik in eine starre, engstirnige und positivistisch wissenschaftsgläubigen Welt, die sich gegen die offizielle Kultur im wilhelminischen Deutschland richtete. Mehr noch, zugleich war es die Wiederkehr der romantischen Sehnsucht nach dem Geheimnisvollen, Unfaßbaren und Schöpferischen, welche sowohl auf die vergangenen Bilder der Mythen und Sagen zurückgriff, als sie mit der gleichen Ernsthaftigkeit auch utopischer Prospekte einer neuen, ästhetischen Welt des Geistes entwarf. Die Schriftstellerin, Malerin und Lebenskünstlerin Franziska zu Reventlow, die „Königin“ von Schwabing selber im Zentrum des bunten Treibens stehend, hat in ihrem 1913 erschienen Roman Herrn Dames Aufzeichnungen den Stadtteil nördlich des Siegestores den Namen „Wahnmoching“ gegeben, der Schwabing weniger als einen Münchener Stadtteil denn als einen Geisteszustand bezeichnet. In dieser quirligen und geräuschvollen Szenerie waren die prominentesten und geheimnisvollsten die Gruppe der Kosmiker. Sie alle, Wolfskehl, Klages, Schuler und George mit ihrem Hang zu Okkultismus und Mystizismus einte eine seltsame Mischung aus Irrationalismus, Schwärmerei, ästhetischem Anspruch, Zivilisationskritik und Lebensfreude. In geistiger Hinsicht beabsichtigten sie vom „Belanglosen“ zum „Enormen“ emporzusteigen. Schulers gelegentliche okkultistische Anwandlungen gingen soweit, daß er allen Ernstes daran dachte, den geisteskranken Nietzsche mit der Vorführung korybantischer Tänze aus seiner geistigen Umnachtung zu befreien. Das Vorhaben scheiterte letztlich daran, da Schuler das Geld fehlte, um die hierzu notwendige kupferne Tanzausrüstung herstellen zu lassen.3 Um diese sonderbare Mischung auf einem breiten Kontinuum von Okkultismus, 83

Mystik, Philosophie, und Dichtung drehte sich das bunte Schwabinger Treiben, oftmals genug in recht bizarren Ausdrucksformen. Alfred Schuler stand dem Gedankengut der Mythenforschung um Johann Joseph von Görres und Johann Jacob Bachofen, dem Schöpfer der Mutterrechtstheorie nahe, außerdem hatte er sich im okkulten Schrifttum von den frühen Gnostikern bis Svedenborg kundig gemacht. Schuler und die übrigen Kosmiker suchten in ihren philosophischen Spekulationen und in lyrischen Beschwörungen, wie etwa bei Stefan George, nach einer mythischen Alternative zur nüchternen modernen Welt. Ludwig Klages sah das Heil der Zukunft im Germanischen, Schuler hingegen vertraute auf die Renaissance des Römischen, beiden gemeinsam ist der Glaube an die kosmische Widergeburt und Feindschaft gegen das Juden- und Christentum. Als Heilmittel gegen die Krankheiten der modernen Welt empfahl Schuler die antiken Mysterien, deren Botschaft aber nur dem sinnenhaft empfindenen Menschen zugänglich sei. Daneben predigte er den Hetärismus und die Männerliebe. Die dunklen Mächte gegen die Schuler ankämpfte, manifestieren sich vor allem im Mammonismus des Industriezeitalters. Sie drohen durch ihren blindwütigen ökonomischen Aktivismus und ihrer hemmungslosen Gier die Erde in eine Mondlandschaft zu verwandeln. Schuler und Klages entwickelten aus Nietzsches Kulturpessimismus, Bachofens Mutterrecht und Urreligion eine Lehre, wonach die abendländische Welt dem Verfall und der Verderbnis ausgeliefert ist. Verursacher dieser Verderbnis sind das Christentum und das „molochitische Judentum und in dessen Folge der Rationalismus und technische Fortschritt der Moderne. Schuler entdeckte bei Bachofen die Sawistika, das Hakenkreuz, welches fortan eine wesentliche Rolle in der Symbolik der Kosmiker einnimmt. Daneben galt bei Schuler das Blut, bzw. die „Blutleuchte“ als zentrale Metapher seiner Weltanschauung. Als Träger der „Blutleuchte“ bezeichnete Schuler diejenigen Personen von denen er annimmt, daß sie in ihrem Blut ein Fluidum führen, das aus heidnischen und kosmischen Substanzen der Vergangenheit besteht. Jene Träger der „Blutleuchte“ gelten als Auserwählte. Die Bewahrer der ursprünglichen unverdorbenen Reinheit, die Sachverwalter der „rassischen Blutleuchte“, werden von den Aktivisten der dunklen Mächte mit ihrem Haß verfolgt. Diese Feinde des reinen Blutes, die historischen „Lichträuber“ treten bei Schuler noch nicht als die Juden auf. Diese dafür haftbar zu machen, geschieht erst bei Ludwig Klages, der die Lehre seines Freundes von den kosmischen Bewahrern der reinen Ursprünge in Richtung eines handfesten Antisemitismus weiterspinnt. Dem ganzen modernen Spuk, wie sie es bezeichneten, kann nur durch Regression auf die heidnischchthonischen Ursprüngen entgegengewirkt werden. In diesen Ursprüngen leben noch Menschen, in denen die noch unverdorbenen Seelensubstanzen wirken und die zu den Führern der Menschheit auserkoren sind, womit Schuler und Klages sich in erster Linie selbst meinten. 84

Die den Lichtkreisen des Weltalls zugewandten Mystiker, welche in geheimbündlerischen Konstellationen die kalte Gegenwart zu überwinden hofften, gerieten mitunter in beabsichtigte Komik, wenn sie anläßlich von Karnevalsfesten die Münchener Szenerie um die Anwesenheit von mythischen Gestalten bereicherten. Rosenmontags wurden aus den ernsthaft problematisierenden Philosophen und Exzentrikern des Mystizismus vorübergehend antike Sagen- und Heldengestalten. In Wolfskehls Wohnung in der Schwabinger Leopoldstraße 87 fand ein antiker Maskenzug statt, bei der die Kostümierung nicht zufällig gewählt war, stand sie doch in einem tieferen Bezug zu den mythologischen Urgründen der Weltsichten ihrer Träger. Dann trat Stefan George als Cäsar auf, der Dichter Henry von Heiseler gab den Hermes, Schuler verwandelte sich in die Urmutter Gaia und aus Wolfskehl wurde vorübergehend Dionysos. Auf Tigerfellen lagernd, blies man die Panflöte und entzündete blauschimmerndes Ampellicht. Aus den Münchener Randbezirken lud man junge Damen als Nymphen ein und in Ermangelung echter Germanen sollten jene urwüchsigen Bauernburschen aus dem Münchener Umland den dringend benötigten germanisch heidnischen Urgeist verkörpern. Eingeleitet wurde das ganze Spektakel mit einem feierlichen Umzug, während dem geheimnisvolle Verse angestimmt wurden, die man in einem eigentümlich nasal klingenden Tonfall vortrug, wobei man alle Silben gleichmäßig und ins Unendliche ausdehnte. Der Umzug hinterließ bei den Besuchern ein ungemein wirkungsvolles Bild und durch den eigenartigen Gesang entstand eine fast beklommen weihevolle Stimmung liturgischen Ausmaßes. So geheimnisvoll wie der gesamte Maskenzug klangen auch die Verse, weniger durch ihre Worte, als durch die kryptische Art ihres Vortrages: „ Wir sind gewohnt / wo es auch thront, / Hinzubeten es lohnt. / Wie unser Ruhm zum Höchsten prangt / Dieses Fest anzuführen, / Die Helden des Altertums / Ermangeln des Ruhms, / Wo und wie er auch prangt, / Wenn sie das Goldene Vlies erlangt. / Wir sind die Kabiren“.4 Zwei Tage später nimmt George an dem berühmten Münchener Scharfrichterball teil, wo er erkannt wird und im Mittelpunkt stürmischer Ovationen steht. Wenngleich solches Treiben auch einen recht skurrilen Eindruck erweckte, so lag dem Ganzen doch ein tieferer Sinn zugrunde und das, was sich für Außenstehende wie bloße, ungeübte Komik ansah, war durchaus ernst gemeint. Der George-Kreis verstand die antiken Vorbilder, in denen sie in den Bacchanalien auftraten, als „Lebensgluten“, die noch das wahre Leben verkörpern und dem man in dieser Form den Lebensgluten nacheifernd, nahe kommen mußte, indem man eben spätrömische Feste feiert. Thomas Mann sprach mit Blick auf diesen mystischen Festrausch in seinem Doktor Faustus von der andauernden „Maskenfreiheit“ im Schwabing vor 1914. Und dies war sicherlich nicht nur wortwörtlich gemeint. Der heute fast vergessene Romancier Oscar A.Schmitz hat 1903 an der antiken Karnevaleske bei Karl Wolfskehl teilgenommen. In seinem 1912 erschienen Roman Bürgerliche Boheme wird aus dem 85

Faschingsfest ein Sommerfest und Wolfskehl erscheint hier als Österrot. Am Ende heißt es: „Sie wollen Mädchen und Epheben bleiben und den unentschiedenen, berauschenden Spannungszustand der Jugend bis über die Lebensreife hinaus verlängern [...]. Wir sind an die Grenzen solchen heute möglichen heidnischen Daseins gelangt, wie es Österrot nennt, und dies Fest ist die letzte Ausschöpfung. Oh, wenn wir nur stark genug sind, aufzuhören, ehe der Rest schal wird.“ 5 Sehr bald schon wird der Rest tatsächlich schal. Durch noch so rauschendes Bacchanal ließen sich die ideologischen Unterschiede zwischen den Kosmikern auf Dauer nicht verbergen. Da sich der Jude Karl Wolfskehl der zionistischen Bewegung zuwandte geriet er hierüber in Differenzen mit Schuler und Klages, die inzwischen einem radikalen Antisemitismus verfallen sind. Als Ende 1903 sich bei beiden ihr Antisemitismus zuspitzte auf die Frage, wer Schuld sei am Untergang der heidnischen Kulturen, aus deren geistige, mythische Substanz sie eine neue Religiosität entfalten wollten, lautet ihre Antwort: die Juden. Wenn dem so ist, was wird dann aus den jüdischen Freunden in Schwabing und was wird aus Wolfskehl, ihrem jüdischen Mitkosmiker? An Stefan George stellen sie diese Fragen und fordern den radikalen Bruch mit Wolfskehl. George weigert sich und verläßt den Kreis der Kosmiker, der bald darauf an Bedeutung verliert. Franziska zu Reventlow verläßt München und schreibt 1913 in Ascona ihren Schwabingroman Herrn Dames Aufzeichnungen. 1913 ist das Jahr, wo Hitler nach München kommt. Ein Jahr später beginnt der Erste Weltkrieg und im Gegensatz zu den Bohemien aus Schwabing werden jenem nicht Künstlertreffen und philosophische Kreise zu Lehranstalten seines Lebens, sondern die Schützengräben an der flandrischen Front.

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Kapitel 4 Stefan George – Ein heimlicher König im Neuen Reich Auf dem Zauberberg im literarischen Elfenbeinturm. Ästhetik der Sprache gegen profanen Universalismus. Ideologie des Elitären. Das Neue Reich und seine heimlichen Herrscher. Der Ruf nach dem Führer. Ein Kreis der Auserwählten. Schönheit als Kunstform. Schillers Renaissance des ästhetischen Staates. Es war 1913 an einem heißen Frühlingstag in Heidelberg als ein hochgewachsener Mann dessen Antlitz wie gemeißelt erschien, mit federndem, majestätischem Gang, fast wiederum schwebend, durch die Menge der hastenden Menschen schritt. Eine seidene, gelbe Jacke umwehte seinen schlanken Körper und auf dem Haupte trug er seltsam leicht und fremd einen großen Hut, unter dem sein dichtes braunes Haar hervorquoll. In der Hand wirbelte ein kleiner dünner Stab, so als ob dieser das Zepter einer ungewußten Hoheit sei. Die Blässe seiner Wangen gab der ganzen Erscheinung etwas Statuenhaftes, Göttliches, menschlich Unwirkliches. Die kühne Nase und das stark ausgeprägte Kinn, die hohe Stirn und die tiefliegenden dunklen Augen lassen Leidenschaft und Machtsinn erahnen. Sein gesamtes Äußeres erweckte bei den erstaunten Betrachtern die Attitüden eines Herrschenden, der sich in überirdischen Sphären zu bewegen vermochte und dabei gleichsam über das Profane zu schreiten schien. Mit großer Leichtigkeit und dennoch mit Entschiedenheit durcheilte er die Menge. Auf Edgar Salin, damals noch Student in Heidelberg, hinterließ vor allem der Blick des Fremden einen tiefen Eindruck; es war, als würde ein Blitz ihn treffen. Und nun stellte sich Gewißheit ein: war es ein Mensch, dann war es Stefan George, der Dichter und Seher, König im „Neuen Reich“ eines heimlichen und geheimen Deutschlands und dichtender, musischer Held in unheroischen Zeiten. Nur jemand wie ihn umgab eine solch geheimnisvolle Aura. Jenen Eindruck, den Stefan George auf den jungen Salin machte, war indes nichts Ungewöhnliches. Es gab durchaus einen bestimmten musischen und intellektuellen Typus, auf den George unwiderstehliche Faszination ausübte und die ihm eine breite Anhängerschaft sicherte. Salin, der in Heidelberg Wirtschaftswissenschaften und Jurisprudenz studierte gehörte zeitweise dem Georgekreis an und wurde später Professor für Wirtschaftswissenschaften in Basel.1 Stefan George wurde am 12. Juli1868 in Büdesheim bei Bingen geboren, das inmitten einer weinfrohen, lieblichen Landschaft liegt und die wegen ihrer sonnigen und heiteren Lage, den Beinamen „Rheinhessische Toskana“ trägt. Im augenfälligen Kontrast besaß George nichts von der offenen, charmanten und unkomplizierten Lebeart, die den Menschen dieser Region zugeschrieben wird. Von der Erscheinung Georges, vor allem von seinem Gesicht, muß eine 87

erschreckende, dämonische und zugleich faszinierende Wirkung ausgegangen sein. Seine Augen waren von dunklen großen Augenhöhlen umgeben und um seinen ebengestreckten Mund lag ein eigentümlicher zitternder, lächelnder Zug. Über seinem ganzen Gesicht ruhte eine Klarheit und innere Überlegenheit, die nur aus dem Kampf mit großen Stürmen kommt. Dabei sprach er langsam mit Enthusiasmus, ohne einen Widerspruch zu dulden. Seinem ganzen Wesen lag etwas Imperatorisches zugrunde. So beschrieb der Schwede Gustav Uddgren George, den er 1893 in Berlin kennenlernte. Sabine Lepsius berichtet über einen gemeinsamen Spaziergang auf dem Hergottsberg, wo ihr der Inhalt der Gespräche mit George nicht mehr erinnerlich sind, wohl aber den Eindruck den er bei ihr hinterließ: „[...] ich hatte Stefan George noch niemals in der Natur erlebt, in der ich nun in völliger Einsamkeit mit ihm wandelte. Eine plötzliche unheimliche, ich möchte fast sagen böse Wirkung ging von ihm aus, die mich ihn als unmenschlich empfinden ließ [...]. Er gehörte nicht zu dieser idyllischen Natur. Der gelbe Ginster, der in Blüte stand und einen Hügel wie vergoldet erscheinen ließ, entzückte mich und ich sah fragend nach dem Freunde, der unbekümmert um die Herrlichkeit des Sommers, wie ein gefährlicher Dämon neben mir herging. Für ihn gab es kein Idyll“.2 Gleichwohl war Stefan George zu einer außerordentlichen lyrischen Ausdruckskraft fähig. So zählt das Gedicht vom totgesagten Park aus dem „Jahr der Seele“, mit dem er diesen Zyklus einleitete, zu den schönsten Zeugnissen lyrischer Landschaftsmalerei. Hugo von Hofmannsthal, der mit George 15 Jahre befreundet gewesen war, stellte es in seinem Gespräch über Gedichte im Jahre 1903 vor: „Komm in den totgesagten park und schau. / Der schimmer ferner lächelnder gestade./ Der reinen wolken unverhofftes blau/ Erhellt die weiher und die bunten pfade. / Dort nimm das tiefe gelb. Das weiche grau/ Von birken und von buchs. Der wind ist lau./ Die späten rosen welkten noch nicht ganz. / Erlese küsse sie und flicht den kranz. / Vergiss auch diese letzten astern nicht. / Den purpur um die ranken wilder reben. / Und auch was übrig blieb von grünem leben/ Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.“3 Dem literarischen Kreis um Stefan George gehörten unter anderem Karl Wolfskehl, Friedrich Gundolf und die bereits erwähnten Ludwig Klages und Alfred Schuler an und späterhin die Gebrüder Stauffenberg, die alle ausnahmslos einer Ideologie des Elitären anhingen und zudem aus ihrem Herzen heraus antidemokratisch dachten und redeten. Unter den Söhnen des liberalen, wohlhabenden Bürgertums findet er jene Anhängerschar, die seine Gefolgschaft wird. Durch Georges unbedingter Wille zur Macht mit Hilfe der Dichtung läßt aus einer Schar dichtungsbeflissener Literaten den Kreis begeisterter und gläubiger Jünger entstehen. Und so wird aus einer Gruppe Gleichgesinnter eine nach Rangordnungen organisierte Gefolgschaft, wobei der Wert des einzelnen sich aus dessen Nähe zum Meister herleitet. Nicht die Gesetze der Gesellschaft sind für diesen auserwählten Kreis verbindlich, sondern das, was der charismatische Meister zu sagen hat. Somit versammelte 88

sich um die zentrale Figur Georges eine bunte Gesellschaft eigenwilliger, teils hochbegabter junger Menschen, die sich exaltierten literarischen und geistigen Prophetien hingaben und auf einem irrationalen Mystizismus gründeten. Sie fühlten sich einer literarischen Geistesaristokratie verpflichtet, die ein neues Reich des Dichterischen errichten wollte. George und sein Kreis, beeinflußt durch den französischen Symbolismus Stéphane Mallarmé und Paul Verlaine, verfaßten ihre Dichtung frei von jeglicher Zweckgebundenheit und Profanisierung. Durch den Einfluß der Symbolisten entwickelte George eine Abneigung gegen den in Deutschland verbreiteten Realismus und Naturalismus. Nicht die äußeren Dinge dienten seiner Dichtung, sondern die Schönheit des künstlerischen Ausdrucks war Zweck genug, das Unsagbare der „inneren Welt“ auszudrücken. Georges Verse waren daher getragen von der Vorstellung einer Schönheit, die zum Zweck und Ideal der Kunst wird („l’art pour l’art“). Für denjenigen, der außerhalb einer solchen Kunstform stand hörten sich seine Texte mitunter verschwommen und unverständlich an und auch ihr literarischer Ästhetizismus, der sich in einer eigentümlichen Sprache und Grammatik niederschlug, war nur für Eingeweihte ersichtlich. Diese Exklusivität war von George und seinem Kreis bewußt gewollt. Der Kreis um George war der Ansicht, daß nur aus dem geistig-mystisch Elitären eine neue Ordnung erwachsen kann, die sich mächtig über die geistzersetzende Vernunft entfaltet. Im Gegensatz zu Nietzsche, der in der Einsamkeit das Denken vorzog, suchte George das Neue Reich, in dem er sich als unumschränkter Herrscher, gemeinsam mit einer auserwählten Schar junger Männer und mit denen er die Verewigung kultureller Werte anstrebte. Sein Programm beabsichtigte um des Neuen Reiches willen, ein heimliches Reicht der Dichtkunst zu schaffen, seinen „ästhetischen Staat“, der sich als das „Geheime Deutschland“ verstand. Ein Deutschland, welches er als „Gegenreich“ zum realen Alltag errichten wollte. Durch innige persönliche Beziehungen und aus der geistigen Substanz vergangener Mythen sollte Inspiration und dichterische Kraft erwachsen Doch abgesehen von Georges phänomenaler dichterischer Leistung, sollte dieses neue Reich eine „Fata Morgana „ bleiben, die nur Auserwählte sehen konnten. Die Idee des ästhetischen Staates, die schon bei Schiller aufleuchtet, worin die Menschen mit einer Idee zusammentreffen, blieb ein Staat des Scheins der nie Wirklichkeit werden kann, immer nur Traum und Phantasie bleibt. Wer ihn als Realität wünscht, gilt als Schwärmer. Das „geheime Deutschland“ stand nach Auffassung von Kantorowicz, einem jüdischen Historiker, der ebenfalls dem Georgekreis angehörte, dem jüngsten Gericht und dem Aufstand der Toten stets unmittelbar nahe. Es war die geheime Gemeinschaft der Dichter und Weisen, der Helden und Heiligen, die Deutschland hervorgebracht und die sich Deutschland dargebracht haben. Von seiner mittelalterlichen Vergangenheit erstreckte es sich in die Gegenwart der Weimarer Republik, als ein geistesaristokratisches Projekt unpolitischer Politik. Georges „Neues Reich“ eines „Geheimen Deutschland“ wandte sich gegen den Materialismus der 89

Weimarer Republik und gegen den kalten Positivismus der empirischen Wissenschaften. In sorgfältig inszenierten Gesprächsrunden entwickelte er für sein Publikum fein gemeißelte und tiefsinnige Gedichte, welche zugleich das Prätentiöse und die Schwermut seines Denkens widerspiegeln. In den literarischen Zirkeln Europas wurden seine Verse gelesen, die zum Teil ans Preziöse heranreichten und der Ästhetik eines arroganten Intuitionismus verhaftet blieben. Diese unverwechselbare Eigenwilligkeit kam nicht nur durch die oftmals schwer verständlichen Abstraktionen seiner Gedanken zum Ausdruck, sondern schlug sich eben so in neuartigen Wortbildungen nieder, die jeglichen Sprachkonventionen entgegenstanden. George war der Ansicht, daß jedem begabten Künstler einmal die Sehnsucht befalle, sich in einer Sprache auszudrücken, „deren die unheilige Menge sich nie bedienen würde, oder die Worte so zu stellen, das nur der Eingeweihte ihr hehre Bestimmung“ zu erkennen vermag.4 Wenn die Dichtkunst sein Königreich war, so sollte es sich auch von anderen unterscheiden und ganz auf seine Gedankenwelt ausgerichtet sein. Seine früh entwickelte Haltung, sich die Rolle eines Ausnahmemenschen zuzuschreiben, ließ ihn über alle Konventionen hinwegschreiten. In seinen Augen besaß die Kunst die gleiche sakrale Aufgabe wie die Religion, Geheimnisse zu etablieren, die sich nur Auserwählten erschließen. Für George war daher Dichtung eine Kunstreligion, eine säkularisierte Form einer „Erlösungsästhetik“. In priesterliche Gewänder gehüllt, trat er vor seinem auserwählten Publikum und trug seine Verse vor. Im Anschluß an solche Lesungen empfing er einzelne Zuhörer zu Audienzen in einem Nebenzimmer. Stefan George verstand sich als unumschränkter Herrscher in diesem Reich der dichterischen Empfindungen, in dem man den Auslegungen der Werke Goethes und den Wiedergaben von Shakespeare einen großen Wert zukommen ließ und er entschied darüber, wem Zugang zu diesem Reich des Elitären eröffnet werden sollte. George sah sich als Bewahrer der Kultur über eine Umwertung der Werte zu wachen, die ins Oberflächliche und Unbedeutende abzugleiten drohten. Seine Jünger wurden von ihm mit Versen beglückt, die zwar deren Beifall fanden, jedoch für Außenstehende und weniger sinnliche und nüchtern denkende Menschen mitunter voller glutvoller unverstandener Peinlichkeiten waren. Dennoch haben Georges literarische Einflüsse und noch weniger sein Charisma, etliche seiner Anhänger nicht davon abhalten können, mit Enthusiasmus in den Ersten Weltkrieg zu ziehen, vielleicht auch, um dort nach dem ersehnten Neuen Reich Ausschau zu halten. Sehr bald mußte George erkennen, daß Deutschland im Gegensatz zu Frankreich den Dichtern keinen besonderen Einflußbereich zugestand. Oder anders formuliert, angesichts der geringen Bedeutung, die der Literatur in der deutschen Öffentlichkeit zukam, erkannte daher George, daß sein auf Veränderung und Erneuerung gerichtetes Wirken keinen sonderlichen Einfluß auf den Lauf der Dinge nehmen würde. Stefan George hat sich mit einem radikalen Antisemitismus niemals identifizieren können, dennoch unterschied er zwischen „Ariern“ und 90

„Semiten“. Trotz seines frenetischen Appells an die edle Natur des einzelnen, an die Qualität und seiner Vorlieben für das Kultische war er doch selber kein Rassist. Seine Neigungen gingen in die Richtung einer alles überstrahlenden geistigen Führergestalt, welche die Ketten der bürgerlichen Konventionen sprengt. So heißt es in seinen Versen, die den neuen Staat und ein neues, überzeitliches elitäres Recht herbeirufen: „ Den einzigen der hilft den Mann gebiert. Der sprengt die Ketten fegt auf trümmerstätten- die ordnung geisselt die verlaufnen heim- Ins ewige recht wo grosses wiederum gross ist- Herr wiederum herr zucht wiederum zucht er heftet- Das wahre sinnbild auf das völkische Banner- er führt durch sturm und grausige signale- Des frührots seiner treuen schar zum werk- Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich“.5 Dieser neue Staat, der gleichgesetzt werden darf mit neuer Gesellschaftsordnung und einer neuen Hierarchie, soll jedoch nicht durch die Dichter gegründet werden. Diese waren nur die Wegbereiter für denjenigen, der zur Führung bestimmt ist. Das Neue Reich, von dem George und seine Anhänger träumten, sollte im George-Kreis vorgedacht, vorgedichtet und in Rückbesinnung auf die germanischen Wurzeln als „heimliches Deutschland“ praktiziert werden. George sah sich hierin als Herrscher in einem besseren Deutschland und als Erzieher einer neuen Jugend. Obgleich er von Trümmerstätten spricht und seine Weckrufe an die Gegenwart bisweilen kriegerisch klingen, steht er dem ausbrechenden Weltkrieg fast schon teilnahmslos gegenüber. George läßt sich daher schwerlich in die Reihen derjenigen Intellektuellen einreihen, die im Ersten Weltkrieg den patriotischen Aufbruch feierten. Das Aufeinanderprallen der Massen, das ungeheuere technische Zerstörungspotential, das sinnlose jahrelange Morden in den Schützengräben, welches von Ernst Jünger in den höchsten Tönen besungen wurde, ist nicht sein Krieg. Statt in die allgemeine Kriegsbegeisterung einzufallen, die in erschreckender Weise auch eine Vielzahl von Intellektuellen erfaßte, prophezeite er für Deutschland einen düsteren Ausgang. Und so warnt er: „Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein/ Nur viele untergänge ohne würde [...] erkrankte Welten fiebern sich zu ende/ in dem getob“.6 Daher verfehlt auch die wütende Polemik Walter Mehrings den eigentlichen Charakter Stefan Georges. Mehring schildert wie George auf dem Olymp der Kriegsdichter die Harfe spielt und zusieht, wie seine „Siegfriedlustknaben“ in den Weltkrieg ziehen.7 In Wirklichkeit verachtete George den Krieg, eben weil dieser seine jungen Anhänger verschlang. Im Gegensatz zu den Befürwortern des Krieges, die diesen als den großen Erneuerer, den „Vater aller Dinge sehen“, sieht George nicht den Krieg als Auftakt einer neuen „besseren Welt“. Nicht nur der materiellen Dinge die zugrunde gingen, sondern auch um der tradierten geistesaristokratischen Werte wegen, empfand George das katastrophale Kriegsende, das angerichtete Chaos und die allgemeine Zerstörung als Bestätigung seiner Visionen. Die Moderne, die nach 1918 mit Vehemenz aufbrach, sah er als Bedrohung für die Welt des Geistigen an. Seine 91

Sturmsignale die er aussendet, beziehen sich nicht auf Materialschlachten, sondern auf die Kraft einer expressiven Geistigkeit. Sein Kampffeld ist das der Worte und Lyrismen. So bleiben ungeachtet des Krieges und seiner Schrecken die Zusammenkünfte des Kreises bestehen. Die Ästhetik des Geistigen darf vor den Dämonen der Zerstörung und des Unterganges ganzer Kulturen, was sich lange zuvor ankündigte, nicht kapitulieren. Vielleicht resultierte seine Abneigung nicht zuletzt aus der Enttäuschung darüber, daß ein großer Teil seiner „edlen, geistigen Jünger“ voller Begeisterung in diesen Krieg zogen. Mit denen, die in den Krieg mußten, wurde enger brieflicher Kontakt gehalten. Diejenigen, die auf Urlaub sind, werden über den Aufenthaltsort des Meisters informiert und haben sich bei ihm einzufinden. Für seine Abneigung und zugleich Nüchternheit spricht, daß er nicht in der Begeisterung des Kriegsanfanges schon die Zeichen künftiger Erneuerung sieht. Krieg ist für ihn nicht die reinigende, archaische Urkraft, die alles Morsche und Unbeständige hinwegfegt. Den Krieg sieht er nicht als das eigentliche Unheil an, er ist nur dessen Symptom. Das Unheil liegt in dem, was zum Krieg geführt hat, alleine hierin liegt das morsche Übel. In den Blättern für die Kunst veröffentlicht er 1917 sein Gedicht Der Krieg in dem es am Ende lautet: „Vorweg geweint.heut find ich keine mehr./ Das meiste war geschehen und keiner sah./ Das trübste wird erst sein und keiner sieht./ Ihr lasst euch pressen von der äussern wucht./Dies sind die flammenzeichen nicht die kunde./ Am streit wie ihr ihn fühlt nehm ich nicht teil.“8 George verachtete den Krieg und die Gewalt, auch wenn manches in seinen Versen zweideutig klingen mag, was den Streit der Literaturwissenschaft ausgelöst hat. George verachtete den Krieg schon deswegen, da dieser sich gegen das Leben richtet und vor allem gegen die Herrschaft der erhabenen Kultur. „Was ist IHM mord von hunderttausenden/ Vorm mord am Leben selbst? Er kann nicht schwärmen/ von heimischer tugend und von welcher tücke./ Hier hat das Weib das klagt der satte bürger/ Der graue bart ehr schuld als stich und schuss/ Des widerparts an unsrer söhn und enkel/ Verglasten augen und zerfeztem leib.“ Das Gedicht endet mit der prophetischen Aussage, daß er in Deutschland jenes Neue Reich sieht, in dem das Griechische im Germanischen fortlebt. Dennoch, vieles bei ihm bleibt in jener eigentümlichen Schwebehaltung, die einen einfachen Umgang mit seinen Gedichten ausschließen. Widersprüchlichkeit zu seiner Ablehnung kriegerischer Gewalt tritt spätestens dann auf, wenn man Zeilen wie diese liest, die seinem Gedicht Krieg entnommen sind: „Die ihr die fuchtel schwingt auf leichenschwaden / Wollt uns bewahren vor [...] der Blut –schmach! Stämme / Die sie begehn sind wahllos auszurotten / Wenn nicht ihr bestes gut zum banne geht“.9 Trotz aller ästhetischen Abfederung lassen sie sich nicht nur als dichterische Verse lesen, sondern in ihnen dringt auch ein unverkennbares politisches Programm zum Vorschein. Und so darf nicht übersehen werden, daß ein Autor nur dann so ungebrochen rassistische Begriffe wie Blut, Rasse und Stamm benutzen kann, wenn er nicht selbst von der Vorherrschaft einer bestimmten Rasse überzeugt 92

ist. Daß aber sprengt den Rahmen des literarischen Konzeptes einer geistigen Aristokratie, die nur im Konzert der widerstreitenden künstlerischen und dichterischen Auffassungen den Ton angeben möchte. Und doch war er kein Vorläufer der Nationalsozialisten, wie man ihn fälschlicherweise bezeichnet hat, denn sein Gedicht Krieg enthält auch Gedankengänge, die sich nicht mit den Nazis in Verbindung bringen lassen. So heißt es an anderer Stelle: „Keiner der heute ruft und meint zu führen / Merket wie er tastet im verhängnis – keiner / Erspäht ein blasses glühn von morgenrot“.10 Zu den Nationalsozialisten, die wie er nach den germanischen Urgründen Ausschau hielten, behielt er trotz aller Herrschaftsattitüden eine erhabene Distanz. Nicht zuletzt deshalb, da sie nur ein unästhetisches und verzerrtes Abbild seiner verschwommenen Ideale im Sinn hatten und auch ihre Vorstellungen vom Neuen Reich, kein Reich der Geistigkeit sein sollte. Gleichwohl brachten ihn seine Ideen des Völkischen, vielleicht auch nur unbeabsichtigt, in die Nähe jener Apologeten, die dem völkischen Wahn des Nationalsozialismus den Weg ebneten, obwohl seinem Kreis bedeutende jüdische Dichter und Denker angehörten. Auch diese verhängnisvolle Konstellation zählt zu den tragischen Zusammenhängen einer nationalsozialistischen Vorgeschichte des deutschen Geisteslebens. 1933, unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers zog sich George nach Minusio in der Schweiz in sein selbstgewähltes Exil zurück, da er sein Ansehen nicht den Nazis zur Verfügung stellen wollte. In der verschwommenen Mystik seiner dichterischen Sendung lagen aber auch jene offenen Deutungsmuster, die sehr schnell zum ideologischen „Steinbruch“ für gänzlich unedle Absichten werden konnten. Und so war es gewiß kein Zufall, daß die intellektuellen Eliten der Nazis George für sich in Anspruch nahmen. Goebbels gar gedachte 1933 betont feierlich Georges Geburtstag und setzte als höchste literarische Auszeichnung den Stefan-George-Preis ein. In aller erdenklichen Weise versuchten die Machthaber ihn für ihre Zwecke zu gewinnen. An den Hochschulen und Universitäten galt er eine Zeitlang als der Dichter der neuen Zeit und des „Dritten Reiches“, was wohl George nicht identisch mit seinen literarischen Entwürfen vom Neuen Reich verstand. Unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers, dem Reichstagsbrand im Frühjahr 1933 und in Zusammenhang mit seinem 65. Geburtstag treten die Schattenseiten des georgeschen Jüngerkreises zu tage. Manche bedrängen ihn, sich der neuen Bewegung anzuschließen, wie sie selber beim Meister die Erlaubnis holen, in die Partei eintreten zu dürfen. Andere wiederum verteidigen seine Ideen und achteten darauf, sie in keiner Weise mit dem Regime in Verbindung zu bringen. Vehement lehnen sie es ab, das Dritte Reich als Erfüllung des Neuen Reiches zu deuten, gewissermaßen als politische Erfüllung des dichterischen Strebens ihres Mentors. Um ihn herum entbrennen Intrigen und Kleinkriege, von lange bestehenden Eifersüchteleien begleitet, die vor dem neuen politischen Hintergrund ausgetragen werden. Obgleich im 93

Zentrum dieser Auseinandersetzungen, bleibt der Dichter seltsam starr und unbeweglich, als sei er von einer inneren Lähmung befallen, oder als werde ihm sein eigener Jüngerkreis allmählich zu eng. Ernst Bertram, ein bis dahin ergebener Anhänger, jedoch bekannte sich 1933 öffentlich zu Hitler und feierte George, damals bereits schwer erkrankt, im Namen des neuen Staates. Zu allem diesen und zu weitaus Schlimmeren hat der Dichter in seinem Schweizer Exil stets geschwiegen. Man hat sein Schweigen als stummen Protest gegen die Machthaber des „Dritten Reiches“ verstanden, was nicht das Seinige war. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet, kann man sein Schweigen als mangelnden Mut zum eindeutigen Bekenntnis – sei es für oder gegen den Nationalsozialismus –, oder als Ausdruck „Georgescher Erhabenheit“ deuten und die ihn als „Ausnahmemenschen“ über den Dingen stehen ließ. Eben so wahrscheinlich ist, daß er jene abwartende „Schwebehaltung“ einnimmt, die auch sein literarisches Werk durchzieht; in der Erwartung daß etwas geschieht und der Hoffnung auf das Kommende, welche Veränderung bewirkt. Momente der Entschlossenheit wechseln sich ab mit Augenblicke voller Passivität in Erwartung erhoffter oder befürchteter, von außen kommender, Umwälzungen. In einem Beitrag in der deutschen Emigrationszeitschrift Die Sammlung, äußerte 1934 Klaus Mann unter dem Titel Das Schweigen Stefan Georges die Hoffnung, „daß sein Schweigen Abwehr bedeutet“, denn, so Klaus Mann, „wird (er) sich nicht vermischen und verwechseln lassen. Hitler – und Stefan George: das sind zwei Welten, die niemals zueinander finden können. Das sind zwei Arten Deutschland“. Für Klaus Mann stand fest, daß Stefan George niemals den Weg in eine demokratische Zukunft weisen würde, schon wegen seines antidemokratischen Ethos wegen. Aber daß er den Nationalsozialisten den Weg in Deutschlands Verderben aufgezeigt hätte, war eben so für ihn undenkbar. Seine Lehren waren vielmehr dazu angetan, einen „reinigenden und korrigierenden Einfluß auf unser Leben“ auszuüben“, die bei seinen „völkischen Anhängern“ ihre „sittigende Wirkung“ verfehlten. Für Klaus Mann „verkündete“ und „verkörperte“ George „inmitten einer morschen und rohen Zivilisation [...] eine menschlich-künstlerische Würde, in der Zucht und Leidenschaft, Anmut und Majestät sich vereinen“. Klaus Mann war sich gewiß, daß Stefan George „enden“ würde, „wie er gelebt hat“ – mit dem untrüglichen Wissen um Reinheit, Lauterkeit und echtem Adel, das uns der kostbarste, unveräußerlichste Teil seines Wesens schien“. Und er hegte nicht ganz unberechtigt die Zuversicht, daß er sich „gegen dies neue Deutschland in derselben Geste“ verharren würde, „die ihm das alte abnötigte: das Haupt weggewendet von einem Geschlecht, das sich täglich in eine noch tiefere Schuld verstrickt, als die es war, von der er es reinigen wollte“.11 Klaus Mann stellte fest, daß eine große Schar unseliger und verhängnisvoller Professoren George nahe standen und seine Gedanken in Richtung einer heiligen Sendung, die sie unverhohlen Krieg nannten, trieben. Und es war auch Klaus Mann bekannt, daß etliche von den jungen deutschen Faschisten die Verse Georges 94

wie ihre Bibel betrachteten, wenngleich sich auch einige von ihnen, wie die Gebrüder Stauffenberg, von Hitler ab 1942 abwandten. 12 Jedoch, darf man einem, dem Ästhetizismus verpflichteten Dichter den Vorwurf machen, wenn seine Werke durch ganz unästhetische Absichten mißbraucht werden? Theodor W.Adorno sah in Georges Dichtungen den Kernbestand ästhetischen Denkens. Was Georges Einstellung zum Krieg und den politischen Katastrophen betraf, unterschied Adornos zwischen dem frühen George und dem George, der das Gedicht „Der Krieg“ verfaßte. Dem jungen George seien reine Gedichte gelungen, in denen die Poesie zur Vollendung gebracht und hierdurch ein Reich subjektiver Empfindungen gestaltet wurde, ohne sie an politische Absichten zu verraten und damit falschen sozialen Tendenzen auszuliefern.13 In gewisser Weise sah sich George nicht nur als König in einem heimlichen Reich, sondern auch als ein erhabener Beobachter, der über solches wie politische Ideologien, so problematisch sie auch sein mochten, zu schweben schien. Seine Poesie war in ihrer Veranlagung unpolitisch gemeint, auch wenn sie in politischer Hinsicht für manch einen verwertbar werden konnte. Sein Schweigen ist daher ähnlich deutungsoffen, wie seine Verse. Sicher ist, daß es George niemals möglich gewesen wäre, von seiner Geisteshaltung und Gesinnung her sich mit der Sache des Nationalsozialismus zu identifizieren, mit dem, was als „Drittes Reich“ daherkam. Er selbst lehnte das „Dritte Reich“ ab, es entsprach in keiner Weise seinen Vorstellungen eines Neuen Reiches. Allerdings sahen viele seiner Anhänger im Nationalsozialismus jene Werte und Entwürfe verwirklicht, denen auch ihr Meister anhing. Sitte, Männlichkeit und heroisches Führertum waren nur gar zu verführerische Attribute, die aus dem Reich des Geistigen auch in die düsteren Sphären eines totalitären Staatsentwurfes hineinreichten und somit manche naive Gläubige anfällig werden ließen. Sein Tod gegen Ende des ersten Jahres der Hitlerherrschaft war metaphorisch betrachtet, die Kapitulation des erhabenen Geistigen vor der Brutalität des Dämonischen. Es war nicht die Kapitulation vor der Vernunft, die George stets bekämpfte, sondern das Eingeständnis, letztlich gegen die Mächte des Bösen durch die Kraft der Lyrik nichts ausgerichtet zu haben. Stefan Georges pseudoreligiöse Wirkung seiner politischen Lyrik auf der Ebene des Dichterischen und Literarischen war hingegen bedeutsam. In seinem Gedichtband Das Neue Reich hat er den Kampf gegen die Demokratie und die Führerideologie in erlesener poetischer Sprache besungen. Ihre weitausschweifenden Gefühle und stilisierten Gedanken fielen bei den Intellektuellen der Nazi-Bewegung auf fruchtbaren Boden, wenngleich so verschieden, so viel niedriger angesiedelt auch die geistige Welt der völkischen Bewegungen und der Umgebung um Hitler auch sein mochte. Indem er sich Themen zuwandte wie Führertum und einer geistesaristokratischen Oligarchie das Wort redete, mußte seine Lyrik zwangsläufig auch in jene Fahrwasser geraten, die er von seiner geistigen Haltung her vermeiden wollte. Inwieweit er zu den literarischen und ideologischen Wegbereitern faschistischer Politik 95

gehörte, ist an dieser Stelle nicht zu klären. Auch auf George trifft zu, daß die irrationalen Abstiege in die Welt der erhabenen Spekulationen, die sich erstaunlich weit von der Realität entfernt haben, dennoch sehr leicht zu ideologischen Vorlagen gänzlich unedler Interessen werden können. Weit mehr als George und nicht unbeabsichtigt, hat jedoch ein anderer Ästhet der „stählernen Romantik“, Ernst Jünger, dem nationalsozialistischen System jene Ideen und Anhängerschaften zugeliefert, die seinen Aufstieg ermöglichten. Klaus Mann war der Ansicht, daß von George und seinem Kreis „Fäden“ ins „Lager des Feindes“ führen würden. In Georges Schriften war schon alles angeführt, was die „neue deutsche Ideologie“ benötigte. „Hier ist alles schon da, ausgeführt mit einem Glanz und einer Reinheit, vor der die Größen von Goebbels Gnaden schweigend in die Knie brechen müßten: der Führergedanken in seiner radikalen Pointierung; der Kult des heroischen Jünglings; die Verherrlichung der Zucht, des heldischen Todes; das antiMaterialistische; die Wiederentdeckung jenes „geheimen Deutschland“ mit seiner Landschaft, Sitte und Sprache; die romantische Begeisterung für das Mittelalter. All das ist da, gegenwärtig – wenngleich dargestellt, gefeiert, gefordert, besungen in einer Sprache, die jenen schwer zugängig sein dürfte, die da ihren Browning entsichern, wenn sie das Wort „Kultur“ hören. Aber so dumm sind sie doch nicht, daß sie spürten, diese Propagandachefs einer blutigen Sache, was hier für sie zu holen wäre, welcher Schatz hier für sie bereit läge und daß hier endlich Einer, als Einziger von höchstem Niveau zu finden ist, von dem es aussieht, als ob er die innere Möglichkeit hätte, einer der Ihren zu sein [...]. Und mit einem gewissen Entsetzen erfährt man, daß die Führer des Dritten Reiches zwischen ihren Reitpeitschen, Todesurteilen und Rundfunkreden die Photographie Georges auf ihrem Schreibtisch aufgebaut haben sollen, neben der Napoleons und Adolf Hitlers.“ 14 Und Stefan George schwieg dazu, mit bedrückender Wucht, sein Neues Reich, dort nicht wiederzuerkennen. Am 4.Dezember 1933 starb George im Alter von 65 Jahren nach langer Krankheit in Locarno. Freunde, darunter Schenk Graf von Stauffenberg, welcher am 20. Juli 1944 versuchte Deutschland von Hitler zu befreien, hielten an seinem Grab in Minusio die Totenwache. Die meisten seiner Jünger überlebten ihn. Als seine Zauberlehrlinge konnten sie die Geister nicht mehr vertreiben, die sie einstens gerufen hatten. Manche von ihnen wurden Nationalsozialisten, wenn auch nur vorübergehend wie die Gebrüder Stauffenberg, die, wie andere auch, Opfer wurden, andere wiederum gingen ins Exil, wie Karl Wolfskehl oder schwiegen, wie der Meister selbst. Das, was Denker und Literaten wie Schuler, Wolfskehl, Klages und George an Zukunftsvisionen zu Papier brachten, fand in der breiten Öffentlichkeit kaum einen Widerhall, auf die bürgerlichen Bildungsschichten verfehlten sie allerdings ihre Wirkung nicht. Insofern besaßen ihre denkerischen und literarischen Entwürfe Macht im Reich des Geistigen. Ihre Literatur und 96

Philosophie war ein geistiges Spiel mit dem Feuer des Prätentiösen und Außerordentlichen, mit dem unheimlich anmutenden Theoriengebräu und den ideologischen Formationen im ausgehenden 19. Jahrhundert, vorbehalten einer elitären Minderheit von exaltierten Avantgardisten und hemmungslosen Metaphysikern, die sich als Vordenker geistiger Erneuerung in einer materiellen Welt begriffen, in der die tradierten Normen in sich zusammenbrachen. In ihrer Absicht lag es dem Heroismus des Geistigen Raum zu verschaffen, der mit den Gemeinheiten der Realität nichts zu tun hatte. George sah sich eins mit jenem Wirkungskreis von Literaten, welche ihre Kunst als Antwort auf die Massengesellschaft verstanden wissen wollten und als ästhetischen Entwurf gegen die zunehmende Demokratisierung von Kunst und Literatur, wodurch jeder sich bemüßigt sah, mitzureden. Ein französischer Literaturkritiker bemerkte hierzu treffend, daß die reine Kunst in diesen Zeiten der Verunsicherungen immer mehr zum Besitz einer Elite, einer zwar bizarren, in gewisser Weise „krankhaften“, aber dennoch charmanten Aristokratie wurde. George und sein Anhängerkreis waren keinesfalls Rassisten. Ihr mystischvölkisches Verständnis, dem Germanenkult nicht abgeneigt, blieb frei von den rassischen Herrenmenschenträumen eines völkischen Nationalismus. Ihn und seinen Kreis auch nur in dessen Nähe zu rücken, hieße George nicht verstanden zu haben. Die Legitimation für Herrschaft und Macht bezog George und sein Kreis aus der Erhabenheit des Geistigen. Jedoch daß George wie kein anderer „Endzeitdichter“ den herrscherlichen Menschen in den Mittelpunkt des Universums stellte, trafen sich unbeabsichtigt schwärmerische Lyrik und nationalistische Machtideologie, und dies machte seine Lyrik so anfällig für unlyrische Absichten. In jedem geschichtlichen Ereignis erblickten George und sein Kreis ein Mittel, um künstliche Erregung zu erzeugen, indem die Wirklichkeit romantisch und heroisch überblendet und Moral durch Ästhetik ersetzt wurde. Wenngleich George und seine Jünger nie den Einfluß entfalteten, den sie ursprünglich beabsichtigten, so betrieb der „Entdecker“ einer heroischgeistigen Jugend die Kunst als Macht, so wie einst Napoleon die Macht als Kunst. In der romantischen Perspektive von Wagner, Nietzsche und George erscheint Hitler als ein Mann seiner Epoche und hört auf, lediglich ein Wirrkopf zu sein, sondern auch Produkt eines zwiespältigen Kulturverständnisses des deutschsprachigen Bürgertums.

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Kapitel 5 Welt erhellen und erträumen Bürgerliche Gefühlswelten – Romantischer Enthusiasmus und Perspektiven der Erbaulichkeit- das verborgene Panische bei Caspar David Friedrich. Die Suche nach dem Geheimnisvollen. Mondbeglänzte Welterfahrung. Romantischer Enthusiasmus und Tod. Jenseits der Welt des Sichtbaren. Zufälle sind unser Schicksal. Von Wunderbarem und dunklen Gewölben. Mesmerismus und Geisterbeschwörungen. Fremde in der Nacht .Von doppelten Böden und geheimnisvollen Verliesen. Das Panische im bürgerlichen Idyll. Schuberts Resignation vor der Welt. Der dunkle Kosmos wird erleuchtet. Freikugeln und Erlösung. Am Ende des 18. Jahrhunderts verblassen die Lichter der Aufklärung, und die Hoffnung endlich Klarheit in die Komplexität von Welt und Kosmos zu erlangen, schwindet. Zwar ist die göttliche Allmacht über die Natur und den Menschen entzaubert, aber dennoch blieb vieles im Nebel des Unerklärbaren. Die Tiefe des menschlichen Lebens und seine Dunkelseiten lassen sich auch nicht gänzlich durch die Aufklärung erfassen, die mit dem Anspruch auftrat, alles vorhersehbar und planbar zu sehen. Nach wie vor gab es noch weiße Flecken auf der Landkarte der menschlichen Erkenntnis. Jenseits von Aufklärung und logischem Weltverständnis müssen es noch Bereiche geben, so glaubten die Romantiker, in denen sich Zufälliges ereignet, in denen noch nicht alles den Gesetzen der Logik unterworfen ist und die dem Menschen unendliche Rätsel seiner Existenz aufgeben. Dem rationalen Denken traute man nicht mehr ausschließlich zu, alles dasjenige, welches zwischen „Himmel und Erde“ stattfindet, erklären zu können. Manches von dem entzog sich der menschlichen Beobachtung und dem empirischen Verständnis und blieb trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse der damaligen Zeit geheimnisvoll. Entgegen der optimistischen Annahme der Aufklärung, daß über aller Dunkelheit die Vernunft obsiegt die eine friedvolle Welt ermöglicht, bringen die 80er und 90er Jahre des 18.Jahrhunderts Kriege und wirtschaftliche Krisen. Der Macht der rationalen Aufklärung ist nicht mehr zu trauen, da sie die unvorhergesehenen Brüche und Krisen nicht beseitigen kann. Während die erste Phase der französischen Revolution noch von der Vernunft getragen wurde, indem sie unmittelbar an die Aufklärung anknüpfte, kam in dem was danach folgte, die dunkle Natur des Menschen zum Vorschein, welche ihre „eigenen Kinder frißt“. Die terroristischen Folgen im Kielwasser des Revolutionsgedankens mußten wohl als Zeichen gedeutet werden, daß die Geschichte sich nicht mehr alleine aus der Vernunft heraus begründet. Nur allzu leicht waren die die dunklen Seiten des menschlichen Lebens übersehen worden, die weit mehr als die Vernunft die Geschicke lenkten. Jene 98

Aufbruchsstimmung, die aus der Euphorie der befreienden Revolution das gesellschaftliche Klima beherrschte, verflog zusehends und Melancholie und Skepsis gegenüber der Zukunft stellte sich ein. Das Leben ist unsicherer geworden und die aufklärerische Kraft der Vernunft war scheinbar nicht mehr in der Lage, verläßliche Blicke in die Zukunft zu werfen. Im deutschen Sprachraum fiel ihr, im Gegensatz zur französischen Gesellschaft, ohnehin nur eine vergleichsweise bescheidene Rolle zu. Entsprechend diesem Unterschied nationaler Mentalitäten, sprach Nietzsche im Rückblick ein Jahrhundert später von der „Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung“. 1 Denn ihre Frühzeit war längst noch nicht von den Fesseln der Scholastik befreit und dasjenige, was sich der Fesseln entledigte, konnte allenfalls als „säkularisierter Protestantismus“2 bezeichnet werden. Eines Protestantismus, der infolge der Reichsgründung von 1871 den Pakt mit dem Thron einging und gewissermaßen die wilhelminische „Staatsreligion“ bildete und in deren Kern die Frage nach der Bestimmung des Menschen stand, der durch die Vernunft erschlossen werden kann. Einer Vernunft freilich, die weniger eine sprengende als vielmehr eine dienende Funktion besaß. Die Restauration- als Gegenbewegung der revolutionären Aufbruchsstimmung-, die wieder zu den alten Strukturen zurückmöchte, verspricht Sicherheit und Hoffnung auf bessere Zeiten. Die strahlende Sonne der Aufklärung und des revolutionären Elans ist verflogen und hinterläßt nur noch dunkle Schatten dessen, was sie zuvor überstrahlte. Freilich bleiben die dunklen Triebe des Menschen noch unergründlich und geheimnisvoll, auch wenn beispielsweise Fedor Dostojewski sie ins Zentrum seiner Romanhandlungen stellte und sein Wissen über die menschlichen Abgründe zu erstaunlichen Einsichten vor der Zeit der Psychoanalyse führte. Ansonsten herrschen über die Macht des Unbewußten und seiner dunklen Triebe nur Ahnungen und die Befürchtung, auf etwas Dämonisches und Schicksalhaftes zu stoßen, wenn man ihrer gewahr wird. Die Phantasie durchbricht die Grenze, welche das rationale Denken der menschlichen Erkenntnis gesetzt hat und man vermutet hinter den sichtbaren Dingen unbekannte Mächte. Das Vertrauen in ein aufgeklärtes Denken ist erschüttert und so beginnen die Romantiker damit, das Denken und die Phantasie auf das Ungeheuere und Zufällige einzustimmen, „ das in uns und um uns geschieht“.3 Und immer wird der romantische Enthusiasmus durch den Tod begleitet. Seine Allgegenwärtigkeit war ein besonderes Kennzeichen romantischer Literatur und Dichtung im frühen 19. Jahrhundert. Auch er darf im Kontext der Romantik als Symbol der Weltabgewandtheit angesehen werden. In ihm sind alle alltäglichen, unlösbaren Probleme aufgehoben. Als Löser aller Probleme und elementarste aller Mächte kam er in den Märchen der Gebrüder Grimm zu den Menschen und sprach mit ihnen. Im Märchen vom Gevatter Tod begegnet er uns als Freund und versöhnt uns mit dem Unabänderlichen. In einer Geschichte des Dichters Clemens von Brentano spricht er im Schlaf zu dem braven Kaspar, um ihm sein bevorstehendes Ende 99

anzukündigen. In Schuberts Liederzyklus Die Winterreise spricht er zu dem verlassenen Liebenden durch die Blätter des Lindenbaums: „Komm her zu mir, Geselle, Hier findest du deine Ruh!“ Die Gedanken des stolzen Reiters in Hauffs Gedicht beschäftigen sich mit der Frage: “Morgenrot, Morgenrot, Leuchtest mir zum frühen Tod? Bald wird die Trompete blasen. Dann muß ich mein Leben lassen, [...].“ Den Rückzug des Menschen aus der realen Welt wird nirgends so deutlich zum Ausdruck gebracht, wie in der letzten Strophe des Rückerts Liedes, vertont von Gustav Mahler, Ich bin der Welt abhanden gekommen: „Ich bin gestorben dem Weltengetümmel / Und ruh in einem stillen Gebiet / Ich leb allein in meinem Himmel, in meinem Lieben, in meinem Lied.“ Der Tod als Vorwegnahme eines friedlichen Lebens im Jenseits, eine Hoffnung, die alle diejenigen befällt, die noch den irdischen Mühsalen gegenüberstehen. Da läßt sich selbst noch aus dem Tod des heißgeliebten Kindes Trost und Zuversicht entnehmen, so wie in den Kindertotenliedern von Gustav Mahler, nach Texten von Friedrich Rückert: „Sie sind uns nur vorausgegangen. / Und werden nicht wieder nach Haus verlangen! / Wir holen sie ein auf jenen Höhn / Im Sonnenschein! Der Tag ist schön!“ Jene Verherrlichung des Todes hing eng mit einem grundlegenden Pessimismus zusammen, der die romantischen Strömungen begleitete und verhängnisvollste Formen annehmen konnte. Einer der führenden Dichter der Romantik, Ludwig Tieck schrieb in seinen Anmerkungen zu Novalis Romans Heinrich von Ofterdingen über den Tod vieldeutig: „Die Menschen müssen sich selbst untereinander töten, das ist edler, als durchs Schicksal zu fallen. Sie suchen den Tod [...].“ Romantisches Empfinden, das war Ambivalenz zwischen Verzweiflung und Hoffen, zwischen Licht und Schatten und der Sorge, daß diese Traumwelt einmal zu Ende gehen und sich etwas Neues, Unbekanntes und Bedrohliches einstellen würde Joseph von Eichendorff hat diese Spannung und das ständige Schwanken zwischen Aufbruch, Melancholie und Resignation in seinem Roman Ahnungen und Gegenwart aus dem Jahre 1816 wiedergegeben: „Mir scheint unsere Zeit dieser weiten ungewissen Dämmerung zu gleichen! Licht und Schatten ringen noch ungeschieden in wunderbaren Massen gewaltig miteinander, dunkle Wolken ziehn verhängnisschwer dazwischen, ungewiß ob sie Tod oder Segen führen, die Welt liegt unten in weiter, dumpf stiller Erwartung. Kometen und wunderbare Himmelszeichen zeigen sich wieder, Gespenster wandeln wieder durch unsre Nächte...alles weist wie mit blutigen Finger warnend auf ein großes, unvermeidliches Unglück hin“.4 Und gleichsam wie ein Prophet kommender Apokalypse: „Denn aus dem Zauberrauche unserer Bildung wird sich ein Kriegsgespenst gestalten, geharnischt, mit bleichem Totengesicht und blutigen Haaren“.5 Vielleicht war dieses Dunkle, der dem Tod identische Schrecken, der unter der Oberfläche lauerte, das wesentliche Element der romantischen Welt. Thomas Mann verband mit Romantik weniger das frohe Wandern eines Taugenichtses oder die Volkslieder, sondern vielmehr deren dunklen Seiten, welche von der 100

Unterwerfung der romantischen Intellektuellen unter den geheimnisvollen Kräften herrührte, die sich nachts hinter den Bäumen regten. Für ihn war daher die Romantik eine „schwächliche Schwärmerei, die mit Macht gegen den Geist hält“.6 Ihrem Wesen nach waren die Romantiker unpolitische Naturen, die weder die Fragen der Zeit begriffen, noch den Prozeß, durch welchen diese gelöst werden konnten. Dies war nicht weiter verwunderlich, bildete doch die Romantik als künstlerische Lebenshaltung ein Gegenentwurf zur Realität der wirklichen Verhältnisse in der restaurativen nachnapoleonischen Ära, die sich schlecht in Deckung mit den romantischen Dunkelwelten bringen ließen. Politisch betrachtet war die Romantik der ersten Epoche der Versuch, dem Dilemma der bürgerlichen Machtlosigkeit zu entkommen. Anstelle der Aufklärung, die von einem sozialen Menschenbild ausging und die die Anerkennung individueller Rechte im Rahmen einer sozialen Gemeinschaft forderte, fühlten die Romantiker sich einem Individualismus verhaftet, der das Recht auf Selbstverwirklichung über die Regeln der menschlichen Sozietät stellte. Das Genie als personifizierte Verwirklichung aller Möglichkeiten, die das Leben jenseits von Konventionen und Gesetzen aufzubieten hatte, bot die Idealgestalt eines romantischen Individualismus. Dieses „Geniefieber“, von dem Goethe in seinen Erinnerungen sprach, nahm mitunter bizarre Formen an und diente als Erklärung und Entschuldigung für jedes exzentrische Verhalten. An der Überbetonung der Individualität hatte Goethe selber einen beträchtlichen Anteil. Wenngleich er in einem gewissen Sinne ihr „Vater“ 7 war, so übte er in seinen späteren Jahren häufig Kritik an den Romantikern. Dennoch beeinflußte wohl kaum ein Roman nachhaltiger romantische Strömungen in jener Zeit wie Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, die Geschichte von einem Jüngling, welcher auszog sein Selbst zu finden. Die Betonung der Bildung des Helden in diesem Roman, mit anderen Worten, seine Entwicklung zur Individualität unter Vernachlässigung der Realitäten des menschlichen Lebens, die umfassende Poetisierung des Lebens selbst, d.h. die menschliche Existenz nur noch unter dem Blickwinkel von Poesie und Dichtung zu betrachten, wirkte sich auf die Weltanschauung der Romantiker aus. Unter Goethes Einfluß machten sich viele Gestalten der romantischen Dichtung auf den Weg in die weite Welt, um sich selbst zu entdecken und ihre Identität zu vervollkommnen. Diese literarischen Reisen nahmen mitunter mystische Bedeutungen an, da sich die romantischen Wanderer in der Gewalt übermächtiger Gewalten sahen, die sie durch sinnenhaft erlebte Ereignisse überwältigten. Joseph von Eichendorff schildert Aus dem Leben eines Taugenichts, wie seine Hauptfigur plötzlich von aller alten Freude und Wehmut und Erwartung überwältigt wird und sich gezwungen sieht, fortzugehen: „fort [...] von hier, und immer fort, soweit der Himmel blau ist“.8 Die Welt der Romantiker war nicht die reale Welt, in der die gewöhnlichen Menschen wohnten. Jene Welt voller lästiger Probleme, existentieller 101

Bedrohungen, die größte Anstrengungen erforderten, sie zu bewältigen. Die Welt, in der sich die Romantiker heimisch fühlten, war die der Phantasie und Träume, in der die Regeln der Vernunft und Logik nichts galten, statt dessen unverhoffte Begegnungen erwartet wurden. Als er zum ersten Male Rom erblickte, sah der Taugenichts in Eichendorffs Novelle eine Stadt voller romantischer Schönheit, die wie ein schlafender Löwe unter unzähligen funkelnden Sternen friedlich da lag. Den Schrecken, der unter der Oberfläche lauerte und den die Romantiker so vehement von städtischen Gebilden Abstand nehmen ließ und sie in die Harmonie des Waldes und der Natur brachte, übersah der junge Taugenichts. Was er sah, war eine Traumstadt, auf die er sein romantisches Harmoniebedürfnis projizierte. Zumeist führte der Weg der Romantiker aus den Städten hinaus in den Wald, den deutschen Wald der Märchen und Sagen, Ort und Zuflucht vor den Sorgen, die das städtische Leben bereitete. In ihm fanden sich alle Naturgeheimnisse und Naturwohltaten beisammen. Im Wald der Romantiker indes fanden sich nicht nur wohltuendes Grün und klare, helle Bäche. Es war auch ein bedrohlicher Wald, voller Gefahren und undurchschaubaren Verführungen. Der Wald der Märchen war ohnehin ein Wald, in der sich Kinder verirrten, von Hexen bedroht und verzaubert wurden, um zu guter Letzt durch glückliche Umstände erlöst zu werden. Was die kalte bürgerliche Welt in den Städten den Menschen anrichtete, mußte im romantischen Verständnis der geheimnisvolle und zauberhafte Wald im metaphorischen Sinn wieder lösen und befreien. In Webers Freischütz ging der Jägerbursche Max um eines Zaubers willen in den Wald, der ihn zum Meisterschützen machen sollte. Bei diesem Vorhaben verlor er beinahe seine Seele an den wilden Jäger Samiel, der in der Welt der Jäger ein Abgesandter der Hölle ist. Sigmund wurde in Hundings Hütte erschlagen, die sich im Wald befand und im Wald gab es die Lichtung mit ihrer Quelle, wo Hagen Siegfried mit seinem Speer tötete. In der Stunde der Dämmerung, wenn sich die Dunkelheit auf den Wald legte und alles in eine schaurige Szenerie hüllte, begann die Stunde der Furcht, wie sie Eichendorff in seinem Gedicht empfand: „Dämmrung will die Flügel spreiten, / Schaurig rühren sich die Bäume, / Wolken ziehen wie schwarze Träume – Was will dieses Graun bedeuten? [...]. Was heut müde gehet unter, / Hebt sich morgen neugeboren. / Manches bleibt in Nacht verloren – Hüte dich, bleib wach und munter!“ Zumeist war die geheimnisvolle Welt der Romantiker voller dunkler Seiten und überraschenden Wendungen, bis hin zum Übernatürlichen. In diesen Sphären der Metaphysik waren sie ständig auf der Suche nach einem erlösenden Gegenstand oder Ereignis. Ausgelöst durch emotionale Impressionen begaben sie sich auf den Weg, um die sprichwörtliche „Blaue Blume“ zu finden, dem geheimnisvollen Symbol ihrer unstillbaren Sehnsucht. Nach einer Begegnung mit einem Fremden und einer schlaflosen Nacht bricht Heinrich von Ofterdingen in dem gleichnamigen Roman von Novalis auf, um dieses geheimnisvolles Etwas zu finden. „Er lag unruhig auf seinem Lager und 102

gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fernab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nicht anders dichten und denken. So ist mir noch nie zumute gewesen: es ist, als hätt’ ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert; denn in der Welt, in der ich sonst lebe, wer hätte sich da um Blumen bekümmert, und gar von einer so seltsamen Leidenschaft zu einer Blume hab’ ich damals nie gehört“. Nicht die materiellen Dinge, der äußere Glanz der profanen Welt sind es, die Ofterdingen so unruhig aufbrechen lassen. Diese Welt braucht er nicht und ist daher imstande um seiner Selbstverwirklichung willen in einer metaphysischen Geborgenheit, von der er nicht wissen kann, ob es sie überhaupt gibt, zu vergessen. Heinrich von Ofterdingen ist ein Bildungsroman der Romantik wo die Suche nach der blauen Blume zum Symbol der typischen Weltabgewandtheit der Romantiker deutlich wird. Sie sprachen daher auch von einer inneren Welt, die sie der äußeren entgegenstellten, wobei die Poesie das geeignete Mittel war, diese innere Welt „in ihrer Gesamtheit“ (Novalis) darzustellen. Die Romantiker fühlten sich zu den chthonischen, irrationalen und dämonischen Kräften hingezogen, denen sie ihr Lebensschicksal überließen. Der junge Ludwig Tieck hoffte deshalb auf überraschende Wendungen und Begegnungen und machte auf seinem Gang zur Schule Umwege, welche die Wahrscheinlichkeit von Begegnungen erhöhen. So wie er, hofften viele durch unberechenbare Zufälle des Augenblicks ihr Glück zu machen. Den Prozeß der eigenen Lebensgestaltung nur durch die Kraft planbarer Rationalität zu steuern, reicht nicht aus. Die Vorstellung, daß Zufälle das Leben weit mehr beeinflussen, als das „gemessene Schreiten des aufgeklärten Fortschritts“, drängte den rationalistischen Geist zurück 1792 kann sich Friedrich Schlegel einer solchen zufälligen Begegnung rühmen und schreibt an seinen Bruder: „Das Schicksal hat einen jungen Mann in meine Hand gegeben, aus dem alles werden kann“.9 Dieser junge Mann war Novalis, der an ein Wunder glaubte, als er auf Schlegel traf. Das Wunderbare und Geheimnisvolle konnte wieder als ungelöstes Rätsel eines letztlich unüberschaubaren Kosmos auftreten, den auch ein aufgeklärtes Denken nicht aufzuschlüsseln vermochte. Geschichtsspekulativ dachte man, daß Geschichte nicht allein einem Prozeß dialektischer Widersprüche unterschiedlichen Interessen und Zielen unterworfen ist, sondern daß hierbei jene Zufälligkeiten und dunklen Mächte beteiligt sind, denen auch das Individuum mehr oder weniger willkürlich ausgeliefert scheint. Der ehemalige Freudschüler und Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung wird diese Zufälligkeiten ein Jahrhundert später als die geheimnisvolle Synchronizität psychischer und kollektiver Prozesse im engen Verbund mit archetypischen Phänomenen bezeichnen, wobei die letzteren die ersteren steuern und zu seiner Theorie der Archetypenlehre erheben.10 Ein „roter“, unsichtbarer Faden zieht sich durch die Geschicke der Nationen und Gesellschaften und wer diesen 103

Faden erkennt, braucht sich nicht mehr als geschichtslosen Unwissenden beschimpfen zu lassen. Herder scheint ihn zu kennen oder davon zu wissen, denn er fragt: „Gibt’s einen Faden der Entwicklung menschlicher Kräfte durch alle Jahrhunderte und Umwandlungen in der Hand des Schicksals, und kann ihn ein menschliches Auge bemerken – welches ist er?“.11 Trotz aller bisherigen Aufklärung, oder vielleicht gerade wegen ihrer normativen Überzeugungskraft, die jeglicher Phantasie im Wege stand, findet man wieder Gefallen am Spekulativen, an der Dunkelheit, die alles umdüstert. Erstrahlte die Erkenntnis im Lichte der Aufklärung in gleißender Helligkeit, die anscheinend alles durchschaubar und durchsichtig machte, so kann nunmehr das Helle nicht mehr ohne die Dunkelseiten der Dinge gesehen werden. Da, wo es licht und hell ist, wo das blühende Leben erwacht, tritt sogleich dessen Verderbnis in Erscheinung: „es fiel ein Reif in Frühlingsnacht“, heißt es in einem damals beliebten Volkslied. Diese Lust am Geheimnisvollen und Morbiden, wie sie in der bürgerlichen Kultur zu Anfang des 19. Jahrhunderts auftrat, ist Ausdruck eines tiefgreifenden Mentalitätswandels, der den Glauben an die Transparenz und Kalkulierbarkeit von Welt und ihren geschichtlichen Prozessen zunehmend zurückdrängte. An die Wundermacht des Schicksals wird wieder geglaubt, an eine Art säkularisierter Daseinsbestimmung und die Hochstapler vom Schlage eines Cagliostro oder Wunderheiler, – wie der Thüringer Teufelsaustreiber Gaßner – werden zu „mythischen Figuren“; oder in Leipzig der Gastwirt Schrepfer, der als Totenbeschwörer auftritt, erlangen eine kurze Berühmtheit.12 Auch ist es die Zeit der sogenannten Bundesromane, die den literarischen Trend bestimmen. Mit wohligem Grausen erzählen sie von mysteriösen Geheimgesellschaften und ihren gruseligen Machenschaften. E.T.A. Hoffmann versteht es, deren geheimnisvolles Tun virtuos in Szene zu setzen. Geheime Priesterbünde streiten gegen die finsteren Mächte der sternflammenden Königin der Nacht in Mozarts Oper Die Zauberflöte, die ganz im Zeichen der Vorlieben für das Widersprüchliche und Okkulte der damaligen Epoche steht. In der Welt der verschlossenen Pforten und geheimen Kammern, hinter denen sich Unheil verbirgt, kämpft zumeist immer das Böse gegen das Gute. Für die Lichtgemeinschaft um den Herrscher Sarastro standen die Freimaurer Pate als eine ideelle Gemeinschaft der Humanität, denen sich Mozart verbunden fühlte. Der Held Tamino muß mehrere Prüfungen über sich ergehen lassen, durch unterirdische Gänge wandeln, wo Feuerschlünde und Wasserfluten auf ihn warten, um endlich die Prinzessin Pamina in seine Arme schließen zu können. Erlösung tritt erst dann ein, wenn die Dunkelheit der Nacht besiegt ist. Allein die Zauberflöte schützt Tamino und Pamina vor der Verderbnis, ein Symbol für eine unsichtbare Macht, die als „Schicksalsfaden“ es gut mit uns meint. Freilich sind auch hier wiederum die alten Gegensätze bemüht, welche die Welt des Gestrigen einteilten und für das Individuum überschaubar machten. Das Gute kämpft gegen das Böse, das männliche „lichte“ Prinzip gegen das „dämonische“ Weibliche. In Goethes Wilhelm 104

Meister stoßen wir auf die geheime Turmgesellschaft, womit die Tradition der Bundesromane bereits beim Klassiker Goethe begründet wird. Zumeist sind es einzelne Personen, die ungewollt in die Fangstricke dubioser Gestalten geraten, denen sie zufällig begegnen, von ihnen in dunkle Verließe und Höhlen verbracht werden, bei flackernden Licht, konfrontiert mit bleichen Gesichtern, die an Gespenstergesellschaften erinnern. Hier treffen sie auf doppelte Böden und geheime Türen und ständig begegnen sie nächtens unbekannten Emissäre mit schmalem Gesicht und dünnen Lippen, die sie für ihre Zwecke einzufangen trachten. Reale Bezugsobjekte dieser Trivialliteratur waren das geheimnisvolle Wirken der Bünde von Jesuiten, Freimaurern, der Illuminaten und der Rosenkreuzler.13 Es war eine Literatur, die auf der Vorstellung von der Existenz dubioser Verschwörungstheorien aufbaute. Jene Vorstellung, die sich bis auf den heutigen Tag gehalten hat und die immer dann ins Spiel gebracht wird, wenn empirische Beweise nicht mehr ausreichen etwas Ungeheuerliches erklären zu müssen und man annimmt, daß in Wahrheit nur geheime Kräfte oder undurchsichtige Gruppen und Individuen den Verlauf von Geschichte beeinflussen. Die Verschwörungstheoretiker der damaligen Zeit glaubten zu wissen, wo die Drahtzieher komplexer geschichtlicher Ereignisse wie etwa die französische Revolution sitzen, nämlich in Ingolstadt, wo sich das Hauptquartier der Illuminaten befand, und die von dort aus die Ereignisse in Frankreich steuerten. Die Lust am Geheimnisvollen war sowohl bei denen verbreitet, die Geheimbünde bildeten, als auch bei denjenigen, die sich davor fürchteten und überall Verrat und mörderische Intrigen witterten. Novalis stellte die Verbindung zwischen der Dunkelheit des Geheimnisvollen und dem romantischen Spekulationsgeist her: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem endlichen einen unendlichen Sinn gebe, so romantisiere ich es“14 Jede Verwicklung scheinbarer Zufälle wurde mit der Aura des Ungewöhnlichen und Absonderlichen umgeben. So heißt es in dem Roman Der Genius von Karl Grosse aus dem Jahre 1791, daß aus Zufällen immer auch eine unsichtbare Hand hervorblickt, „welche vielleicht über manchem unter uns schwebt, ihn im Dunkeln beherrscht, und den Faden, den er in sorgloser Freiheit selbst zu weben vermeint, oft schon lange vorausgesponnen haben mag“.15 Indes, was die Romantik noch als kühne phantasievolle Träumerei hervorlockte, brachte später, als das Jahrhundert fortschritt, auch andere, weniger romantisch begabte Geister auf den Plan. Das, was dem romantischen Gemüt angesichts der Begrenztheit seiner Existenz oft so schmerzhaft ins Bewußtsein drängte und als Ausweg erschien, die große Weltkatastrophe, der Tod und der Untergang, wurde für andere, wie beispielsweise einem militanten Nationalismus, zur Perspektive der Zukunft. Bis in die einfachen Schichten der Bevölkerung war die Aufklärung ohnehin nicht vorgedrungen und die Geistesaristokratie übte sich trotz der Vorherrschaft der Vernunft in Tischrücken und okkulten Praktiken, wie der Baseler Kreis um 105

den Arzt Carl Gustav Carus (1789-1869). Die okkulte Schrift Die Seherin von Prevorst (1829) von Justinus Kerner beförderte das spiritistische Interesse gehobener bürgerlicher Kreise. Ebenfalls mit dem Reich der Geister befreundet waren der Schweizer Arzt und Magnetiseur Franz Anton Mesmer und der Augenarzt Heinrich Jung-Stilling. Nicht ohne Einfluß auf jene spiritistischen Praktiken in der damaligen Zeit blieben die „sieben Bände von Swedenborg“, dem nordischen Geisterseher, der einst auch den jungen Goethe nachhaltig beeindruckt hatte. Die hochangesehene Familie des Großvaters von Carl Gustav Jung, des späteren Schweizer Tiefenpsychologen und Begründer der psychologischen Archetypenlehre, Samuel Preiswerk, veranstaltete allwöchentlich Seancen, bei denen die Stimmen verstorbener Verwandten zu hören waren. Jungs Kusine Helene Preiswerk fungierte dabei als somnambules Medium. Das uralte Haus der Preiswerks lag inmitten eines fast schon verwahrlosten Gartens und galt bei den Anwohnern als Spukhaus und die Preiswerk-Sippe wissen um das Unheimliche und parapsychologischen Vorgängen, die außerhalb einer vernunftmäßen Erklärung liegen. Deren ominöse Beziehung zu den Seelen verstorbener Familienmitglieder hatte Tradition und nicht zuletzt wurden auch Jahrzehnte später Carl Gustav Jungs tiefenpsychologische Spekulationen hiervon beeinflußt. In dem Maße, wie die Kraft der Aufklärung nachließ und man ihr nicht mehr alles Unbekannte zur Erhellung anvertraute, suchte man in der Phantasie den Ausweg vor der Bedrohung durch das Unerklärliche. In der Phantasie war man frei und durfte den Bedrohungen alles Mögliche unterstellen, auch wenn es noch so absurd schien. Solches ist nicht mehr ein Skandal angesichts des rationalen Denkens, ein Schatten oder eine Täuschung wie der Glaube an die Vernunft behauptete, sondern ein Reiz der Bewußtseinserweiterung verspricht und der über das rationale Denken hinausgeht. Die Romantiker beginnen Interesse an den geheimnisvollen Dingen zu zeigen, das stärker ist, als an seine ernüchternde Aufklärung. Man schätzt das Unerklärliche nicht nur weil das rationale Denken sich hieran erproben läßt, sondern auch, „weil es der Aufklärung trotzt“.16 Und so ist es nur recht, wenn manches im Dunkel der Nacht verborgen bleibt, wie es unter anderem bei Eichendorff heißt, denn solche Sichtweisen als schicksalhafte Verknüpfungen von Individuum und Welt beflügelte die romantische Phantasie der Dichter und Maler des beginnenden 19. Jahrhunderts. Es war aber auch die Stunde der spekulativen romantischen Philosophie Schopenhauers, Carus und Johann Jakob Bachofen, dem Basler Mutterrechtstheoretiker, auf die ein halbes Jahrhundert später die großen tiefenpsychologischen Schulen Sigmund Freud und Carl Gustav Jung aufbauen werden. Während bei Freud sich das naturwissenschaftliche Interesse mit der Theorie psychologisch verorteter unbewußter Prozesse verband, bleiben in Jungs tiefenpsychologischer Archetypenlehre wesentliche Aspekte der menschlichen Selbstbestimmung an die Tiefen archaischer Schicksalsmächte gebunden. Freud beschreitet den Weg rationaler Erkenntnis der menschlichen Psyche und überwindet somit das 106

„Dunkeldenken“ der frühen Romantiker. Jung hingegen bleibt Zeit seines Lebens den romantischen Spekulationen über das Wesen der menschlichen Seele verhaftet und verlagert die Stätte der Auseinandersetzung des Individuums mit dessen biographischen Schicksal in die unteren Kammern des kollektiven Unbewußten, in denen undurchsichtige und übermächtige Archetypen den Ton angeben. Was den Illuminaten und Verschwörungsliteraten die bleichen, dünnlippigen Gestalten der dunklen Kellergewölbe sind, ist bei C. G. Jung die Numinosität undurchsichtiger Archetypen, welche in den tiefen Verliesen des kollektiven Unbewußten hausen.

– Das Panische im bürgerlichen Idyll – Der oftmals verzweifelte Versuch, die dunklen Triebe im eigenen Ich zu bändigen und Herr über sich selbst zu sein, prägte das Gefühlsleben jener Epoche. Trotz dunkler Schicksalsmächte dennoch ein Gefühl der Freiheit zu besitzen, Herr im eigenen Hause zu sein, ließ die Phantasie in unendliche Weiten ausbrechen, auch wenn sie in der Realität unerreichbar blieben. Schwermut und das Ringen um das stille Glück, der Schwerkraft des Alltäglichen zu entfliehen und dabei die dämonischen Kräfte und Triebe, die ein Jahrhundert später Sigmund Freud mit luzider Schärfe als Urbestandteile der menschlichen Psyche diagnostizieren wird und die immer wieder dem Menschen Schmerzen der Lust, Sehnsucht, Enttäuschung und der Trauer bereiten, hinter sich zu lassen, um ganz im schönen Schein des Unwirklichen aufgehen zu können. Wunschträume des Bürgerlichen, aber wo und wodurch sollte man sie einlösen? Der Sommer wird als endlich gesehen und vermag die Dunkelheit des Winters nicht aufzuwiegen. Bevor die Sonne untergeht, möchte man sich in der Idylle der Geborgenheit im Hier und Jetzt zurückziehen. Trost verheißen die Miniaturen des augenblicklichen, gefühlvollen Erlebens: der Sternenhimmel, der aufgehende Mond in der Berglandschaft, die untergehende Sonne am Meer, aber auch die verblühende, letzte Rose eines mit allen Sinnen erlebten Sommers. „Verweile doch, du bist so schön“ ist das Lebensmotto eines Augenblicks, in dessen Impressionen sich alle irdische Mühsal vergessen läßt. Indes ist die Schwermut in der Epoche der Romantik nicht nur den Dichtern und Malern vorbehalten. Mehr oder weniger fand man sie in jedem menschlichen Antlitz. In den Zeiten der Restauration überwogen die krisenhaften Ereignisse, die sich über das Bürgertum des Biedermeier legte. Jene Krisen waren hervorgerufen durch die nationale Enttäuschung, das Gefühl innere Unfreiheit, verbunden mit dem Verlust an Individualität und religiöser Sicherheit. Da das Große nicht mehr in Erfüllung ging, suchte man Halt im „Kleinen“, in den Miniaturen der Kunst und der erbaulichen Dichtung, die als Inseln der Geborgenheit Halt und Haltung versprachen. Und dennoch ließen sich die inneren und äußeren Bedrängnisse nicht übersehen. Die Cholera wütete, große Teile der Bevölkerung in den deutschen Kleinstaaten verarmten 107

und die Restauration verhinderte ein öffentliches freies geistiges und politisches Leben. Wirtschaftliches Wachstum und bürgerliche Prosperität wurden durch die Kleinstaaterei verhindert. Den meisten Menschen der Biedermeiergeneration, zumal das Bürgertum, befiel das Gefühl einer nicht enden wollenden Krise ausgesetzt zu sein. Auswege aus dieser hoffnungslosen Situation sah man in den Tugenden der Standhaftigkeit, dem Mut im Kleinen, in der Bescheidenheit und politischen Entsagung die Sanftheit zu finden, welche im wirklichen Leben verloren schien. In dieser Sinnkrise, die durch den Verlust an religiöser Sicherheit noch zusätzlich verstärkt wurde, versprachen einzig die Idylle der Kunst und Natur Trost und Orientierung inmitten der politischen und sozialen Gefährdungen. Das Individuum zog sich auf sich selbst zurück, sich selbstbescheidend um sich von der Außenwelt auf sein Inneres zurückzuziehen und trotz dunkler Mächte ein froher, selbstgenügsamer Mensch zu sein. Die Liebe zur Natur und zum verspielten Ambiente der bürgerlichen Wohnkultur wurde in den Mittelpunkt des Lebens gestellt. Anstelle von Gesellschaftsbezug tritt Introvertiertheit als Leitideal und Fluchtweg des deutschen Kleinstaatenbürgers. Wie sehr Lebensgefühl der damaligen Epoche mit dem Interieur des Biedermeiers verwoben war, zeigt der Schriftsteller Karl Gutzkow in seiner 1852 erschienenen Erzählung Aus der Knabenzeit. Hinter den verschlossenen Türen biedermeierlicher Wohnkultur blieben die Sinnkrisen und lärmenden, politischen und sozialen Unbequemlichkeiten des bürgerlichen Alltages außen vor. „ Welch ein Reiz liegt in der traulichen Geselligkeit eines gebildeten Hauses! Kein Patschuli oder Moschus und doch ein eigner Duft, keine strahlenden Lüster und doch ein heller Glanz! Die Ordnung und die Pflege verbreiten überall eine Wärme und Behaglichkeit, die neben den äußeren Sinnen auch das Gemüt ergreift. Die kleinen Arbeitstische der Frauen am Fenster, die Nähkörbchen mit den kleinen Zwirnrollen, mit den blauen englischen Nadelpapieren, den buntlackierten Sternchen zum Aufwickeln der Seide, die Fingerhüte, die Scheren, das aufgeschlagene Nähkissen des Tischchens, nebenan das Piano mit den Noten, Hyazinthen in Treibgläsern am Fenster, ein Vogel in schönem Messingbauer, ein Teppich im Zimmer, der jedes Auftreten abmildert, an den Wänden die Kupferstiche, die Beseitigung alles nur vorübergehend Notwendigen auf entfernte Räume, die Begegnungen der Familie unter sich voll Maß und Ehrerbietung, kein Schreien, kein Rennen und Laufen, die Besuche mit Sammlung empfangen, abends der runde, von der Lampe erhellte Tisch, das siedende Teewasser, die Ordnung des Gebens und Nehmens, das Bedürfnis der geistigen Mitteilung [...] im Zusammenklang aller dieser Akkorde liegt eine Harmonie, ein sittliches Etwas, das jeden Menschen ergreift, bildet und veredelt.“17 Die Erbauungskultur des 19. Jahrhunderts bot verschiedene, „wärmende“ Rezepturen an, um Wege der Verinnerlichung des Subjekts inmitten eines bedrohlichen Umfeldes, oder besser gesagt, individuelle Fluchtwege 108

beschreiten zu können. Und dennoch boten solche Rezepturen der Innerlichkeit nur scheinbare Sicherheit und Gewißheit darüber, dem Alltag entfliehen zu können. Die Bilder von Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge entwerfen eine Welt, die man mit in all seiner Sinnlichkeit begreifen kann, die unmittelbar die Echtheit des eigenen Gefühls widerspiegelt, ohne das sie jene Geborgenheit vermitteln könnte, welche der naive Glauben vergangener Kindheitstage vermittelte. Somit steht das Individuum der Natur mit der Nüchternheit einer Lebenserfahrung gegenüber, welche durch alle Lebenskrisen hindurch gegangen ist. Der Blick geht in die unendlichen Fernen einer menschenleeren Landschaft. Es gibt keine Idylle, die Sicherheit versprechen, zumal sie jeder genrehaften zuckrigen Lieblichkeit entkleidet sind, wie wir sie in der späteren kleinbürgerlichen Gartenlaubenlyrik bei Ludwig Richter antreffen. Hinter der vordergründigen Idylle lauert das Panische, die Perspektivlosigkeit einer Zeit, in der die Bezüge auf göttliches Walten verlorengegangen sind. Statt lichter Tempel religiöser Frömmigkeit bilden dunkle Gemäuer, Beinhäuser und tiefe Gräber die Stätten in denen der Mensch sich wiederfindet. 1841 erscheint Ludwig Feuerbachs Hauptwerk Das Wesen des Christentums, wonach nicht Gott den Menschen, sondern der Mensch Gott nach seinen Vorstellungen geschaffen habe. Die Zweifel darüber, daß die Welt im Göttlichen begründet ist, sind unüberhörbar. Damit geht zugleich jene Transzendenz verloren, die eine Hoffnung nach dem Tode aufweist. Mit Hegel läßt sich daher feststellen, daß der Tod, das Furchtbarste ist, „und das Tote festzuhalten, das, was die größte Kraft erfordert“.18 Aus der Zeitepoche des Biedermeier geht der spätere Realismus hervor, der ohne Gottesbezug, agnostisch-atheistisch orientiert ist. Am Ende der Säkularisierung scheint Gott tot zu sein. Er verheißt keinen Trost mehr, also muß er in den Weiten einer unbegreiflichen Natur gesucht werden, die alles andere ist, als idyllisch. Da, wo die Idylle vermutet wird, tritt gleichsam als deren Verletzbarkeit und Endlichkeit der panische Schrecken als Gegenbild auf. Dessen Bedrohungen und Ungewißheiten wird der Mensch als Betrachter der Landschaften entgegengestellt, die symbolisch gemeint sind. Sie spiegeln die Unendlichkeit der Schöpfung und die Zerbrechlichkeit und bisweilen Hoffnungslosigkeit des Menschen wider. Angesichts der Naturgewalt erscheint der Mensch als hilfloses und endliches Wesen. Als passiver Zuschauer läßt er deren urtümliche Kraft und Unfaßbarkeit über sich ergehen. Die Landschaften bei Friedrich und Runge vermitteln Entsagung und Erwartung zugleich. Bei Friedrich geschieht dies durch eine schwermütige, introvertierte Art, in der seine Bilder über bloße Abbildungen der Natur hinausweisen. Sie vergegenständlichen vielmehr das Unfaßbare, das metaphysische Empfinden. Friedrichs Introvertiertheit vermag jedoch über eine Egozentrik hinauszublicken, die mehr ist als nur die Beschränktheit eines auf sich fixierten Ichs. Die Bilder sind nicht nur romantische Spiegelungen, sondern sie sprengen den Rahmen des subjektiven Empfindens. Caspar David Friedrich verkörpert den typischen Romantiker, 109

introvertiert, weltscheu und naturverbunden und dennoch schweift die Phantasie über vordergründige Impressionen, über das unmittelbar Erlebbare hinaus. Die Natur sah er demzufolge als Spiegel der menschlichen Seele, wie gleichwohl sich seelische Zustände in den Impressionen wiederfinden, welche die naturhaften Eindrücke bildlich erlebbar machen. Demzufolge sind seine Werke nicht bloße Abbilder der Natur, sondern sie vergegenständlichen das Unerreichbare, das metaphysische Empfinden. Die Berge, die er malt, sind Symbole für die Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens, bei dem die Höhen immer unerreichbar bleiben. Sie sind die Symbole für die in die Weite des Horizontes geworfenen unendlichen Ziele. Seine Gebirgsmalereien weisen in die schier unendlichen Möglichkeiten der menschlichen Phantasie, welches durch die hohen Gebirgsketten scheinbar seine Begrenzung erfährt. Gewiß, dahinter verbergen sich Ungewißheit, aber auch die Perspektiven, daß dort die Welt noch nicht zu Ende scheint. In der romantischen Phantasie lassen sich derartige Begrenzungen überwinden. So ist seine Botschaft auch die der Hoffnung, daß alles möglich werden kann und nichts durch die Schwerkraft der Materie erdrückt wird. Zugleich ist aber auch jene Sicherheit entschwunden, die sich noch in den Malereien des 18. Jahrhunderts ausdrückte. Im Gegensatz zu diesen, wo der Mensch noch eingebettet in einen göttlichen Kosmos dargestellt wurde, scheint er nun in eine bedrohliche und zugleich perspektivische Szenerie gestellt. Bei Friedrich verliert sich diese Sicherheit angesichts der Gewalt seiner Landschaften. Anstelle schaurig-schöner Erhabenheit, wie sie die Bilder des 18. Jahrhundert noch vermitteln konnten, entstehen bei Caspar David Friedrich eindringliche Dokumente menschlicher Grenzerfahrungen. Der Wanderer über dem Nebelmeer in dem 1818 entstandenem gleichnamigen Gemälde schaut nicht nur auf eine imposante Landschaft; der Wanderer kennt den gefährlichen Abgrund zu seinen Füßen, der dem Betrachter durch das Nebelmeer verborgen bleibt, er ist gewissermaßen Wissender einer unsichtbaren Gefahr inmitten eines scheinbar undurchdringlichen Chaos. Aber er ist sich dieses Chaos bewußt, es trifft ihn nicht unvermittelt. In der Natur verbirgt sich für Friedrich ein sehr persönliches mystisch-religiöses Ereignis. Er setzt die Natur mit dem Göttlichen gleich, in dem sich seine Figuren beim Betrachten der Naturereignisse versenken. Die dunkle irdische Gegenwart in der sie sich befinden, verbindet sich mit dem hellen, überirdischen Jenseits. Jene Ferne, die in seinen Bildern den Hintergrund seiner Motive bildet, wird als Symbol einer hellen Zukunft betrachtet. Für den Kulturhistoriker Hermann Glaser sind Caspar David Friedrichs Bilder Augenblicke des „Grauen und Grünens“, wo bald die Angst größer, bald die Hoffnung größer ist.19 Neben allen romantisch naturalistischen Aussagen, die Friedrichs Werke enthalten, kommt in ihnen in verschlüsselter künstlerischer Form die kollektive Stimmungslage des Bürgertums zum Ausdruck. Hinter der Metaphorik seiner Bilderwelten ist die Sinnkrise der aufbrechenden Moderne spürbar. Somit war 110

es nicht verwunderlich, daß sich seine Bilder in jener Epoche großer Beliebtheit erfreuten. Als nach den Befreiungskriegen die Stimmung in ein reaktionäres Verhalten der Regierungen umschlug, stießen seine Bildthemen späterhin auf Ablehnung. Caspar David Friedrich war nicht nur ein romantischer Künstler einer kontemplativen Romantik und damit typisch für das Bürgertum des Biedermeier, vielmehr hat er in seinen Werken auch patriotische und somit politische Metaphern bildhaft zum Ausdruck gebracht, die ihn als einen Anhänger der Befreiungsbewegungen auszeichneten. Daher sind viele seiner Bilder Allegorien auf die patriotische Stimmung in der Zeit der Befreiungskriege in den deutschen Staaten und der Enttäuschung über die anschließende Restauration. In den realistischen und gefühlvollen Darstellungsweisen seiner Landschaftsbilder spiegelt sich durch die Anordnung der Farben und Objekte seine politische Einstellung wider. Sein Bild der Einsame Baum aus dem Jahre 1821 möchte er als Synonym für das durch Napoleon besetzte Deutschland verstanden wissen. Die Umgebung des durch die Besetzung der Franzosen beschädigten Baumes, deutet durch das aufgehende Tageslicht auf eine bessere Entwicklung hin. Das Bild Das Eismeer 1823/1824 symbolisiert durch seine scharfkantigen Eisschollen, die auf dem Meer umhertreiben und das Schiff in den Untergang zwingen, das Ende der Hoffnungen auf freiheitliche und demokratische Verhältnisse, die sich mit dem aufbrechenden Patriotismus nach dem Ende Napoleons verbanden. In seinem berühmten Gemälde Kreidefelsen auf Rügen von 1819 malt Friedrich durch die Anordnung der Farben blau, weiß und rot am unteren Bildrand das Symbol der französischen Flagge. Der alte Mann im blauen Rock und der schwarze Zylinder, der für die Reaktion steht, verdeutlicht wohin es aus der Sicht des Malers mit den französischen Besatzern und der Reaktionären gehen wird. Vom nächsten Windstoß werden sie in den Abgrund geweht werden oder genauer gesagt, das Meer, welches als Metapher für die unendliche Zeit steht, wird über sie hinweggehen. Kaum eine Kunstform wie die Musik vermag der Sehnsucht und Traurigkeit, ja dem gesamten Ensemble menschlicher Gefühlsregungen so authentisch Ausdruck zu verleihen. Die Musik der Romantik trug das ihrige dazu bei, in Zeiten der Depression und Hoffnungslosigkeit eine lichtere und bessere Welt zu errichten, auch wenn sie, wie im Liederzyklus Die schöne Müllerin bei Franz Schubert als endliches Mühsal und befreienden Tod erscheint. Der Liederzyklus Die schöne Müllerin ist eine Metapher auf den langen Weg romantischer Hoffnung, der schließlich im Dunkel des Todes endet. Schuberts Müllerbursche ist voller Tatendrang und romantischem Enthusiasmus aufgebrochen, die Welt und die Liebe zu erobern. Bei aller romantischen Leichtigkeit bleibt er eine tragische Figur. An der leichtfertigen Spielerei der schönen und koketten Müllerin zerbricht sein Optimismus und ihm bleibt nur der ewige Frieden, den er im Tod sucht. Der Bach, bislang romantischer Mittler seiner Hoffnungen, Freund und Begleiter seiner Wanderungen wird ihm zum kühlen, nassen Grab. Im letzten Lied heißt es: „ Gute Ruh, gute Ruh!/ Tu die 111

Augen zu! / Wandrer, du müder, du bist zu Haus. / Die Treu ist hier, / Sollst liegen bei mir, [...].“ Doch was die weitflächigen Perspektiven, die Horizonte und Bergsilhouetten in den Bildern Caspar David Friedrichs als unerreichbare Fernen aufzeigen, in denen man nicht zu Hause sein kann, scheint auch bei Schubert keine Heimstätte zu werden und der Tod letztlich auch keine Erlösung, denn am Ende heißt es: „Schlaf aus deine Freude, schlaf aus dein Leid! / Der Vollmond steigt, Der Nebel weicht, / Und der Himmel da oben, wie ist er so weit!“20 Ihre Heimat ist die reale Welt nicht, in ihr mag sie nicht lange verweilen. Um der romantischen Sehnsucht Ausdruck zu verleihen, welche die träumende Seele nicht mehr im diesseits halten kann, verfaßte Eichendorff sein „Mondnacht-Gedicht. In den wenigen Zeilen spiegelt sich der Empfindungsreichtum der frühen Naturromantik wider. Alles scheint in einander überzugehen, zwischen Himmel und Erde gibt es keine Übergänge. Die romantische Impression sieht sie in einem außerordentlich schönen Bild verschmelzen. Doch auch in dieser Harmonie des Irdischen und des Himmlischen findet die romantische Seele keine Ruhe. Sie strebt aus ihrem irdischen Dasein hinaus in die Transzendenz, da, wo Einsamkeit und Stille zuhause sind. Robert Schumann ein führender Vertreter der Musikromantik hat diese Verse in einer berückenden Musik vertont. Es beginnt: „Es war als hätt’ der Himmel die Erde still geküßt / Daß sie im Blütenschimmer / Von ihm nur träumen müßt’“ Und es endet mit der romantischen Sehnsucht: „ Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus.“ In Max Webers Oper Der Freischütz wird gegen Ende der dunkle romantische Kosmos durchbrochen. Obgleich Webers Freischütz die deutsche romantische Oper sui generis ist, neben der die Opern der Romantiker Adalbert Lortzing und Kurt Marschner verblassen, wird gegen Ende der Handlung der romantische Zauberspuk gebrochen. An seiner Stelle tritt eine naive, kindliche Gottgläubigkeit, die Gott als schützende, aber auch geheimnisvolle Macht sieht, die den romantischen Menschen aus seinen Verstrickungen erlöst. Der Gott der Romantiker ist nicht nur ein beschützender Gott. Die Romantiker benötigten einen ästhetischen Gott, der die Welt, welche zwar dem dämonischen Zauber entronnen ist, wieder ins Geheimnisvolle hüllt. Nur so konnte man dem aufkommenden Nihilismus entgehen. Dieser „romantische“ Gott läßt sich daher nicht in Frage stellen, sondern sein Walten bleibt unergründlich. Nicht von ungefähr läßt Weber den Eremiten, als Abgesandter des göttlichen Vertrauens, zur rechten Zeit und an der richtigen Stelle erscheinen, neben Agathe, die ohne ihn, Opfer der siebten Freikugel geworden wäre, so, wie es Kaspar im Verbund mit Samiel beabsichtigte. Zuvor aber erscheint dem Jägerburschen Max – einem typischen romantischen Protagonisten –, angesichts der Verflechtungen im Nebeldunst von Zauberwelt und Teufelsbeschwörungen die aufgehende, helle Sonne bedrohlich. Gleich zu Anfang der Oper klagt deswegen Max, Liebling und Eidam des fürstlichen Erbförsters Kuno, den morgigen 112

Probeschuß vor Augen: „Oh, diese Sonne, wie furchtbar steigt sie mir empor!“.21 Die Helligkeit der Sonne, wird im romantischen Kontext als Abwehr gegen das Rationale und gegen die Macht der Vernunft und Aufklärung gefürchtet, da sie die melancholischen Dunkelzonen freilegt und die Schwäche des Jägerburschen Max enthüllt, welcher ohne die verbotenen Freikugeln nicht mehr trifft. Die Opernhandlung durchzieht daher über weite Strecken, bis zum strahlenden Finalsatz, jene melancholische, mollverhangene Traurigkeit, welche die Romantiker für ihre Kultur der Weltvergessenheit so dringend benötigten. So treten in der Oper immer wieder düstere Mollklänge auf, die das drohende Unheil und das stetige Grauen musikalisch zum Ausdruck bringen und die ihre Höhepunkte in der Wolfsschluchtszene und schließlich im dritten Akt bei der Übergabe des „Jungfernkranzes“ an die Braut Agathe finden. Diese Szene hat Weber musikalisch treffsicher untermalt. Nach dem beschwingten und hellen Chorgesang der Brautjungfern kündigt sich unmittelbar ein drohendes Unheil an. Nachdem die Brautjungfern ihren Gesang beendet haben: „Wir winden dir den Jungfernkranz, aus veilchenblauer Seide“, liegt in der Schachtel, statt des Jungfernkranzes ein „Totenkranz“. Die ominösen sieben Freikugeln, die aus dem unglücklichen Max einen treffsicheren Schützen machen sollen, verschafft sich der Bräutigam mit Hilfe seines Jagdgenossen Kaspar, der mit dem Teufel im Bunde steht. Von diesen Freikugeln weiß man zu berichten, „daß sechse treffen“, die siebte hingegen „äfft“, d.h., sie gehört dem Teufel, der ihren Lauf bestimmt und dieser wird sie am Ende auf Kaspar lenken. In der Wolfsschluchtszene treten alle romantischen Traum- und Phantasiegebilde in Erscheinung und überwältigen das wache Bewußtsein. Düstere Abgründe tun sich auf und man glaubt in einen Höllenpfuhl zu schauen. Von Kugel zu Kugel steigert sich das dramaturgische Geschehen auf der Bühne. Wetterwolken und bleiches Mondlicht, welches auf gespenstige Nebelbilder fällt, Mutters Geist erscheint, so, wie sie einst im Sarg lag und möchte Max vom Ort des Grauens zurückholen; dunkle Waldvögel fliegen heran und umkreisen die Stätte des Zaubers; ein schwarzer Eber bricht durchs Gebüsch; Wasserfälle stürzen vom Fels; Flammen schlagen aus der Erde und Irrlichter zeigen sich auf den Bergen. Das wilde Heer des Bösen erscheint im Hintergrund; der dürre Baum verwandelt sich in die Gestalt des Samiels, dem Vertreter der Hölle, der seinen Lohn von Kaspar fordert. Im Finale der Oper tritt mit dem Eremiten ein Abgesandter eines monotheistischen Glaubensverständnisses, ein Übermittler einer neuen Welt von Sinndeutung auf, welches dem Aberglauben abschwört, der Liebe und dem Leben zugeneigt ist und die Bezug auf eine Transzendenz nimmt, die ausschließlich an die Werke der Menschen rückgekoppelt wird in der Verantwortung für seine Entscheidungen selbst einzustehen, statt sich okkulten Mächten hinzugeben. „Wer legt auf ihn so schweren Bann“, so fragt der Eremit und im gleichen Atemzug: „ Ist’s recht, auf einer Kugel Lauf / Zwei edler Herzen Glück zu setzen?“ Nicht als „Deus ex machina“ betritt der Eremit die 113

Bühne des düsteren Geschehens, sondern als Verkünder göttlichen Willens, d.h. im übertragenen Sinne die Ratio der Vernunft, dem Logos des Geistes, der jener irrationalen Welt aus Wolfsschluchten, Freikugeln, Teufelspakten und Zaubergebräu widerspricht und ihr den Garaus macht. Der Irrglauben der Finsternis muß vor der Kraft der Vernunft und der Liebe kapitulieren. „Es findet nie der Probeschuß mehr statt!“ so fordert es der Eremit. Dem unterwirft sich auch der fürstliche Landesherr Ottokar: „Dein Wort genüget mir. Ein Höherer spricht aus dir“. In dieser Szene ist freilich die Säkularisierung noch nicht angedeutet, noch gelten göttliche Gesetze mit denen die irdischen in Einklang stehen müssen. Aber dennoch liegt in dieser Szene eine deutliche Absage an das Irrationale und Okkulte, welche zuvor die Menschen in ihrem Bann hielt. Insofern bricht Webers Oper mit der obskuren Dunkelseite der Romantik und verhilft ihrer lichten, hellen und lebensfrohen Seite zum Durchbruch. Jener Seite der Romantik, die sich durch naiver, kindlicher und folkloristischer Gottgläubigkeit auszeichnet und auch in den Wunderhornliedern zu hören ist. Das Panische muß dem Idyll des Friedens und der Liebe weichen. Die dunklen Mollklänge, welche die Oper über weite Strecken durchziehen, lösen sich im strahlenden C-Dur des Finalsatzes auf. Über dämonisch-romantische Dunkelwelten haben die Vernunft und die Liebe gesiegt. Diesen allein ist es gegeben den von menschlichem Aberglauben und Unzulänglichkeit geknüpften Knoten zu entwirren und die Lösung im Geiste einer höheren Weltordnung herbeizuführen. Die Figur des Kaspar, ein Adlatus des Bösen und der Magie muß vergehen und hinabstürzen in eine unendliche Dunkelheit von tiefer Schuld und Sünde. Allein, der nicht unedle, wenngleich schwache Jägerbursche Max und die „engelreine“ Agathe, sie durften nicht Beute eines schicksalhaften Verhängnisses werden. Doch auch hier wird das Patriarchalische als letzte gültige Instanz beibehalten, die den gläubigen Menschen in Abhängigkeit höherer Mächte hält, zwar keiner dämonischen, jedoch verkörpert durch den Eremiten als Sprachrohr göttlicher Allmacht. Aber immerhin heißt es im Schlußchor: „wer rein ist von Herzen und schuldlos im Leben, darf kindlich der Milde des Vaters vertrauen“. Dem Chaos der Höllenschlünde und den verwirrenden Verknüpfungen einer geheimnisvollen romantischen Sehnsucht wird die feste Struktur einer von Gott gewollten patriarchalischen Ordnung entgegengestellt. Insofern befindet sich Webers Freischütz im unpolitischen Kontext einer Naturromantik des frühen 19. Jahrhunderts, in der man von einer universal-humanistischen Sicht der Dinge ausging.

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Zwischenbetrachtung: Romantische Weltsichten und Nationalismus Was in Webers Freischütz noch im romantischen Verständnis als Übergang in eine andere, lichtere Welt zum Ausdruck gelangt, in die Welt einer befreienden Phantasie, welche Erlösung von den dunklen Mächten der Finsternis verspricht und welche sich gegen alles urtümlich Erdhafte, Dämonische und Irrationale richtet, gerät unter dem Kulturverständnis spießbürgerlicher Provenienz zu tragikkomischen Bewältigungsstrategien, den Belastungen des Gegenwärtigen durch Flucht zu entkommen. In den kulturellen Niederungen verkitschter Erbauungskunst wurde eine künstliche Welt errichtet, die statt einer Auseinandersetzung mit der triebhaften Natur den biederen Alltag des Spießbürgerlichen verklärte. Nicht die Sublimierung dunkler Triebe war das Ansinnen jenes Kulturverständnisses, sondern die Verschiebung dieser Kräfte in die Scheinwelten der Spießbürgerlichkeit und eines verschleiernden Nationalismus. Und dies geschah in einer Weise, die die wirklichen Probleme und offenkundigen gesellschaftlichen Brüche übersah und statt dessen trauliche Ersatzrefugien bereithielt. In diesen Ersatzräumen ließen sich nicht nur Ressentiments und projektive Scheinwelten unterbringen, sondern Vergangenes als Gegenwärtiges huldigen. In den populären Zonen der Volkskultur war daher weniger von lebensphilosophischen Entwürfen der Daseinsbewältigung die Rede, sondern hier wurde romantisierender Wirklichkeitsverzerrung das Wort geredet, wie es in ähnlicher Weise Jahrzehnte später die Nationalsozialisten betrieben und nicht selten trat platter Größenwahn zum Vorschein. In sentimental kitschigen Versen verherrlichte man alles was deutsches Wesen war und das „Deutsche über alles“ wurde gelobt und besungen. Am deutschen Wesen, so wurde gefordert, sollte die übrige Welt genesen und man konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß es auf der Welt etwas anderes gab, was dem Deutschen gleichwertig wäre. Bei jeder nur passenden Gelegenheit rezitierte man die kitschig trotzigen Verse des „Deutschland, Deutschland über alles“, die ihre literarische Karriere später als Deutschlandhymne krönen sollte und die seinerzeit Hoffmann von Fallersleben in politischer Verbannung auf der Insel Helgoland niedergeschrieben hatte, um darin seinen tiefen Schmerz über den Verlust der Heimat zum Ausdruck zu bringen. Vor allem die erste Strophe hatte es den völkisch Nationalen angetan, da in ihr auch die Expansionsbestrebungen unverhüllt benannt wurden. Dieses schlichte, naive Lied besang zwar die Nation und die Freiheit („Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand, / blüh im Glanze dieses Glückes, blühe deutsches Vaterland“), aber mit unverkennbarer politischer Ambivalenz. Von Sprachlichen und vom Musikalischen her bot es sich geradezu zu seiner Pervertierung an. Der Rhythmus seiner pathetischen Wortwahl, die rhetorische Banalität der gereimten Sätze, die Klischees der Worte und Bilder und die Primitivität der 115

Melodie, vor allem wenn sie von Militärkapellen gespielt wurde, entsprachen der „Kunstsinnigkeit“ des nationalistisch gesinnten Kleinbürgers. Nationalistische Gefühle durften sich in ihrem imperialen Gehabe in der ersten Strophe wiederfinden, die sich als besonderes Unglück für Deutschland erweisen würde. Je nach Standpunkt oder Absicht konnte man die erste Strophe weglassen oder die dritte hervorheben um mit dem „Humanismus der dritten“ den „Nationalismus der ersten“ abzuschirmen.1 Am liebsten sehnte man sich nach einem Reich, dessen Grenzen noch jenseits der Maas und der Memel gelegen hätten, bis in andere Kontinente hinein, damit man endlich den alten Kolonisationskomplex loswerden könnte und in einer Reihe mit England und Frankreich stünde. Denn der Reichskanzler Bethmann von Hollweg hatte einst gesagt, daß man niemanden seinen Platz streitig machen wolle, aber man wollte auch einen Platz an der Sonne der Kolonialmächte. Die erste Strophe, von überheblicher und chauvinistischer Textgestaltung, wenngleich es Hoffmann von Fallersleben auch nicht so gemeint hatte, wie die Nationalisten sie verstanden, so galt sie doch als stete Verpflichtung ihres „heiligen Vaterlandes“, ihres „Deutschland, Deutschland über alles in der Welt“ Verständnisses. Dies alles war einem überheblichen Nationalismus geschuldet, der sich im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten, wie Norwegen, Italien oder Belgien nicht nur auf das eigene Land bezog, sondern sich in erster Linie immer in Konkurrenz zu anderen Nachbarstaaten sah. Deutsch zu sein, zu denken und deutsch zu handeln, bezog sich in erster Linie immer gegen die anderen und weniger darauf, auf seine eigenen Leistungen ohne Überheblichkeit Stolz zu sein. Länder oder ethnische Gebilde mit weit weniger imperialistischen Ambitionen, wie Norwegen, Böhmen, Finnland, Slowenien brachten ihren nationalistischen Stolz und ihr neu entdecktes Selbstbewußtsein in anderen Formen als militärische zum Ausdruck. Die Komponisten Edvard Grieg, Jan Sibelius, Anton Dvorak, Friedrich Smetana und Leo Janacek und in gewisser Weise auch Gustav Mahler stehen für eine tiefe Bindung an ihre Heimatländer, die sich in ihren Kompositionen niederschlugen und frei von chauvinistischen Motiven waren, ebenso wie in Henrik Ibsens Peer Gynt Drama. Eben weil diese Komponisten in ihren Sinfonien, Konzertstücken und Bühnenmusiken fein ziselierte folkloristische Motive einarbeiteten, ohne dabei die große Linie zu verlieren, gaben sie ihrer Liebe zur Heimat und ihr nationales Selbstbewußtsein auf eine liebenswürdige Art Ausdruck und in denen sich sehr vieles der Mentalitäten und Kulturen der Menschen widerspiegelt. Peer Gynt, eines der eigenartigsten Dramen Ibsen, zu dem Edvard Grieg die Musik schrieb, überrascht ebenso durch die Vorwegnahme wesentlicher Einsichten der Tiefenpsychologie wie durch seine Phantastik und Neigung zum Epischen. Griegs Peer Gynt Suiten I und II spiegeln die schwermütigen und exotisch ausgemalten Szenen des Stationendramas wider. Ohne pathetischen Anklang, mit einem reizvollen nordischen Kolorit untermalt, verdankt die Musik Griegs in ihrer kunstvollen Schlichtheit ihre 116

außergewöhnliche Volkstümlichkeit, die neben den romantischen Elementen auch den norwegischen Nationalstolz in einer bescheidenen und den Menschen zugewandten Weise ausdrückt. In seiner Suite Hochzeit auf Troldhaugen kommt die ganze Fröhlichkeit und Ungezwungenheit seiner norwegischen Heimat zum Ausdruck, ohne in eine steife Feierlichkeit zu verfallen. „Bach und Beethoven haben auf den Höhen Kirchen und Tempel errichtet“, schrieb Grieg im hohen Alter, „ich wollte Wohnstätten für die Menschen bauen, in denen sie sich heimisch und glücklich fühlen“. In Jan Sibelius Kompositionen, vor allem in seiner Finnlandia drückt sich die Demütigung seiner Landsleute aus, die unter der Zwangsherrschaft der Russen leben mußten. Als im Februarmanifest von 1899 die Russen beschlossen, die finnische Autonomie endgültig zu beseitigen, schloß sich Sibelius der finnischen Freiheitsbewegung mit seiner Komposition der Finnlandia an, in der gleichermaßen die unendliche Weite der Wälder und Seen seines Landes, als auch das leidenschaftliche Begehren nach Freiheit und Autonomie musikalisch zum Ausdruck gebracht wird. Es verwundert daher nicht, daß die Russen die Uraufführung am 3.November 1899 unter dem Titel Finnlandia verboten haben. Unter dem Titel Impromptu dirigierte Sibelius die Uraufführung seines nationalen Epos. Kontemplative Elemente, die Schwermütigkeit der unendlichen Wälder Finnlands, revolutionärer Aufbruch, aber auch nationaler Stolz klingen in seiner Karelia Suite an. Sie ist eine romantische Stimmungsmusik im Tonfall finnischer Volkslieder und Tanzweisen In den Werken der „musikalischen Nationalisten“, die im eigentlichen Sinne Patrioten waren, finden sich immer wieder romantische naturhafte Szenerien, wie etwa in Smetanas Aus Böhmens Hain und Fluren, oder beispielsweise in Gustav Mahlers 3. Sinfonie, 1. Satz: Der Frühling zieht ein; 2.Satz: Was mir die Blumen erzählen. In etliche seiner Musikwerke hat Mahler, neben allen musikalischen Neuerungen, die für das damalige Publikum provokativ wirkten, auch volksliedhafte Elemente seiner böhmischen Heimat vertont. Der Rückgriff der romantischen Musiker auf nationale Elemente geschah selbstverständlich und ohne vaterländisches Pathos, einzig getragen von ihrem Melodienreichtum. Selbst ein so großer Erneuerer wie Claude Debussy schrieb bewußt eine spezifisch französische Musik gegen Wagner und dessen „teutonische Musik“. Dies alles traf das Herz des spießigen Kleinbürgers indes nicht. Er sehnte sich nach Herzwarmseligkeiten und konnte weder mit abgründigen Aphorismen der Leidenschaft und des Todes etwas anfangen, noch daß ihn die existentielle Tiefe der Bilder eines Caspar David Friedrich erreicht hätte. Wonach ihm der Sinn stand war sogenannte Kunst oder das, was er dafür hielt, die sich ihm in einem völkischen Gewande darbot. Und vor allem wollte man mit Wärme umgeben werden, mit regionaler Stallwärme, die schon immer bis auf den heutigen Tag als eine Art Adelsprädikat für gesellschaftliche oder politisch beschränkte Herkunft gilt. Und so war es nicht verwunderlich, daß es Stimmen gab, die einer kosmopolitischen Ausweitung der deutschen Seele Einhalt 117

gebieten und ihren, den europäischen Kultureinflüssen ausgesetzten Verirrungen Fundierung in heimatlicher Erde geben wollten: „ Die irrende Seele der Deutschen, welche sich künstlerisch jetzt in allen Erd- und Himmelsgegenden umhertreibt, muß sich wieder an den heimatlichen Boden binden; der holsteinische Maler soll holsteinisch, der thüringische thüringisch, der baierische baierisch malen;“2 so forderte es der deutsche „Volkserzieher“ Julius Langbehn, Rembrandtdeutscher genannt, in seinem völkischen Aufklärungswerk Rembrandt als Erzieher. Dies hatte aber weder etwas mit jener Heimatliteratur zu tun, die aus einer echten Naturverbundenheit mit Schärfe und Humor die ländlichen Gepflogenheiten schilderte, noch stand diese „verbauerte“ völkische Dichtung in der Tradition der ländlichen Idylle, wie sie die Romantik hervorbrachte und aus der Ungeborgenheit des menschlichen Daseins erwuchs und entsprechend tiefgründig angelegt war. Statt dessen klang mit brünstiger Sehnsucht der Ruf der Heimat- und Bauernliteraten: Heimat, Meine Heimat! Vor allem wenn die bäuerlichen kargen Gestalten von der schweren Feldarbeit dem Zuhause entgegenstrebten, im glühenden Abendrot, goldgelbe Ähren tragend und schweren Schrittes über die heimatliche Scholle gingen. In ihnen brauste reines, kraftvolles Blut, von den Ahnen ererbt und zu Hause wartete die liebliche Maid, wenn ihr geliebter Held aus welchem „TandLand“ zurückkehrte, heim zu „Käthe und Kate“.3 Allesamt schritten sie hinter dem Pflug, einschließlich der Ahnen lange Reihe. Überhaupt spielte der Ahnenkult im romantisch nationalistischen Denken eine große Rolle und sollte den Hintergrund der nachfolgenden Blut- und Bodenmystik bilden. 4 Den Anstoß hierzu gab auf literarischem Gebiet der Roman Ahnen von Gustav Freytag, eine Abhandlung in 6 Bänden und im Zeitraum von 1872-1880 entstanden und gegen Liberalismus und Demokratie gerichtet mit eindeutig voraufklärerische Wirkung. Sein unglückseliger, penetranter Germanismus ließ ein Werk entstehen, welches nicht ohne wesentlichen Einfluß auf ein Heer minderwertiger Literaten blieb, die dem Spießbürger eine heile Welt von fahnenseliger Glückseligkeit versprachen, mit Schützenfesten als Inbegriff kulturellen Hochgefühls und einer „Romantik des Stammbaumes , den man fein säuberlich nach Dienstschluß auf Büttenpapier mit dem Seufzer des ›Bineigentlich-zu etwas-Besserem-berufen‹ aufzeichnete“.5 Die Ahnen, das war die Verpflichtung sich immer seiner bodenstämmigen Herkunft bewußt zu bleiben und die Nachkommen von jeglicher Vermischung mit anderen Kulturen und Rasse, vor allem der welchen, fernzuhalten. In dieser unechten und verlogenen Szenerie wird das deutsche Idyll bodenlos und chauvinistisch. Die Seelenenergie, die bislang introvertiert blieb, fand ihr Ventil in einem Hass auf alles „Welche“ nach der Niederwerfung Deutschlands durch Napoleon. In diese emotionale Gemengelage stimmten auch zahlreiche Dichter und Denker ein und verweilten für Jahrzehnte im Gehäuse nationalistischer Phraseologie, in dem Philosophie und Krieg, Leier und Schwert keine Gegensätze mehr waren. Andere wiederum, wie Jean Paul forderten dazu auf, sich nicht in die 118

Unwägbarkeiten des politischen Alltages zu begeben, sondern zu Hause zu bleiben: „Die nötige Predigt, die man unserem Jahrhundert halten kann, ist die, zu Hause zu bleiben“.6 Das hieß mit anderen Worten, sich auf sich selbst zu beschränken und den „Inneren Frieden“ zu pflegen, wie Grillparzer meinte. Freilich begnügten sich die Spießbürger noch damit, nationale Vormachtstellungen und rassische Ausgewähltheit in bierseligen Kneipenstuben und in heimelig trauter Kachelofengemütlichkeit auszuleben. Allenfalls versuchte man in der Phantasie das zu finden, was die Wirklichkeit vorenthielt. Die ursprüngliche Romantik war noch von einem Gedanken eines universalistischen Humanismus beseelt; der Nationalismus, welcher sich romantisch verstand, sah nur noch alles unter dem verengten Blickwinkel eines pseudoreligiösen Sendungsglaubens, bei dem Rasse und Blut wesentliche Elemente seiner Begründungen darstellten. Erst der entfesselte Kleinbürger des 20. Jahrhunderts vermochte die literarischen und philosophischen Phantasien in handfeste Taten umzusetzen. Erst durch ihn wurde ab 1933 das Wort zur Tat. Kein Geringerer als Nietzsche sah für die Zeit nach 1871 auf der Grundlage eines chauvinistischen Nationalismus die hemmungslose Metamorphose des deutschen Geistes zugunsten des Reichsgedankens mit all seinen schrecklichen Folgen voraus.7 Und Jahre zuvor erkannte bereits Heinrich Heine, früher als manche seiner Zeitgenossen, den zerstörerischen Zug im deutschen Nationalismus, mit seinem unentwegten Germanenkult und seiner Regression auf Rasse und Blutsverwandtschaften als Merkmale eines Nationenbegriffes. Anders als der französische Nationalismus entfernte sich der deutsche zusehends von den Idealen der Demokratie und bürgerlichen Freiheit, um statt dessen eine Kultur der Überheblichkeit und der Anpassung zu entwickeln. In ihr verspürte Heine einen unergründlichen Haß auf alles Fremde, wie er in dem Gedicht Diesseits und jenseits des Rheins mit beißendem Sarkasmus beschrieb: „Aber wir verstehen uns bass, / Wir Germanen auf den Hass. / Aus Gemüts Tiefen quillt er, / Deutscher Hass! Doch riesig schwillt er, / Und mit seinem Gifte füllt er / schier das Heidelberger Faß.“ 8 Im Gegensatz dazu war die Aufklärung weltbürgerlich gesinnt und auch der Universalismus der ursprünglichen Romantik ließ nationalistische Enge und Engstirnigkeit eines überheblichen Chauvinismus nicht zu. Herder gar lehnte in seinem Konzept, in dem die Stimmen der Völker zusammenklingen den Begriff des Nationalismus ab, da kein Volk von Gott auserwählt sei und der Nationalismus täusche vor, eine partikularistische Wahrheit als universalistisch auszugeben.9 Als endlich 1871 das „alte“ neue Kaiserreich ausgerufen wurde, schien der nationale Bau vollendet, die Restauration in einen national patriotisch gefärbten Obrigkeitsstaat abgeschlossen. Die Schwermut als Erlebnis innerer und äußerer Gefährdungen war weggefallen und durch patriotische Sekundartugenden ersetzt. Wo zuvor noch die Auseinandersetzung mit den inneren Trieben sublimiert wurde, schlägt nun deren Energie in Gewalt um. Im Antisemitismus befreit sie sich von den letzten moralischen Skrupeln und legitimiert Haß und 119

Grausamkeit als nationale Pflicht. Auch der Intimbereich bleibt von diesen Erosionen nicht verschont. Die Geliebte wird zum Geschlechtstier, die Frau zur Gebärmaschine und über einer verlogenen Familienidylle thront der Mann als Patriarch. Der Spießer, Phänotypus des nationalistisch gesinnten Bürgers, der mehr Untertan als denn Staatsbürger war, verdrängte in sich die Menschlichkeit. Seine Triebe absorbiert er nicht mittels Sublimierung und Verdrängung, sie wuchern vielmehr im Verbotenen und im Verborgenen. Professor Unrat, ein Zerrbild des humanistischen Bildungsbürgers läßt grüßen. Freuds Psychoanalyse ist ausgezogen, die dunklen Schleier bewußter gesellschaftlicher Lügen und unbewußter Verdrängungen wegzuziehen, das Unbehagen an der Kultur aufzudecken. Die Stunde der doppelbödigen Moral ist gekommen und wird weiter die gesellschaftlichen Normen auflösen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit, wie der national gesinnte Spießer sie haben wollte wurde immer mehr zur Selbstlüge, mit der er auf Dauer auch nicht glücklich leben konnte, da sie sein Dasein letztlich nicht verschönerte und ihn selber immer mehr von sich entfremdete. Und selbst jene spießbürgerliche Heimeligkeit zwischen Schrebergartendasein und Kuhglockengeläut wird immer unheimlicher, denn die spießbürgerliche Seele ist „von den Primärtugenden der Humanität leergefegt“.10 So wäre angesichts dieser durchaus negativen Entwicklung mit Rilke festzustellen, „ [...] daß wir nicht sehr verläßlich zu Hause sind in der gedeuteten Welt“.

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Kapitel 6 Die Idylle einer repressiven Bürgerlichkeit – Träume vom Besonderen Der Obrigkeitsstaat und seine Verheißungen. Herbert Marcuses Kulturverständnis. Wider einer romantischen Weltsicht. Bruchstellen der Romantik. Kitsch und Alltag. Verneinung der Transzendenz.. In der Gartenlaube schlummern die dumpfen Triebe. Spießbürgerliche Ansichten. Professor Unrat. Alles ist Deutsch und Deutsch über Alles. Die Enklave der heiligen Familie. Im Treibhaus des Untertanen. Nach Herbert Marcuse1 besteht der affirmative Charakter der Kultur darin, daß in der bürgerlichen Epoche die Welt des Geistigen als ein selbständiges Reich der Werte, jenseits der Zivilisation, die gesellschaftliche Wirklichkeit überhöht. In entscheidender Beitrag liegt in ihrem Versprechen, eine ewig bessere und wertvollere Welt zu bejahen, die sich vom Alltäglichen unterscheidet, die jedoch, ohne die Wirklichkeit zu verändern, von jedem Individuum, von Innen her, realisiert werden kann. Im Reich der Kultur kann der Bürger „bei sich sein“, ohne in der „Welt des Alltages“ zu sein Darin lag der außerordentliche Wert bürgerlichen Kulturlebens, welches unter die Rigide des völkischen Nationalismus zu einer verlogenen Wirklichkeitsverkitschung verkam. Das Kulturverständnis des Nationalismus stellte alles in den Dienst einer grenzenlosen Verehrung des Pompösen, Militärischen und einer naiven Auffassung von Tradition und geschichtlicher Überlieferung. Die Angst davor, mit den Herausforderungen der Moderne nicht fertig zu werden, führte weg vom universalistisch-romantischen Denken vergangener Jahre hin zu einem Eklektizismus, der historische Repliken als Versatzstücke einer Kulissenwelt benutzte. Die Romantik, eine anrührende und beglückende Geistes- und Kulturströmung, deren Poesie, Sprach- und Bilderwelten zum Schönsten gehört, was Literatur, Musik und Malerei im deutschen Kulturkreis zu bieten hatte, wurde unter diesem Eklektizismus zur karikaturhaften Verkitschung ihrer selbst. Aus der romantischen Hochkultur, die einer tieferen Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen der nachnapoleonischen Ära entsprang und in ihrem romantischen Enthusiasmus die Kraft des Ichs erlebte 2 und dieses im Zentrum ihrer kosmischen Deutungen und ihres Verständnisses von Individuum und Gesellschaft stellte, wurde eine verkitschte Massenkultur für den Zeitgeschmack. Im Deutschen Reich preußischer Herkunft und Mentalität war deshalb vor allem Marschmusik, hybride Staatsverehrung, Obrigkeitskult, Gartenlaubenlyrik und die bombastisch schwülstigen Operngemälde Richard Wagners angesagt, dessen Schwärmerei für germanische Gottheiten dem Geist der Zeit entsprach. Das Bewußtsein des deutschen Kleinbürgers 121

überschwemmte gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine breite Flut pangermanischer Literatur. Darüberhinaus wurden die trutzhaften blonden Männer verherrlicht, die in ihren golden funkelnde Pickelhauben und glänzenden, goldbehangene Uniformen stets streng und ganz und gar militärisch drein blickten und den jungen Mädchen das Entzücken auf ihre roten Wangen trieben, wie es in Oscar Straussens Musikstück Die Musik kommt anklang, und, wie sollte es auch anders sein, die deutschfrohen Maiden, welche in den unzähligen Haustraktaten und Gartenlaubenlyrismen wahre volkstümliche Triumphe feierten. Hier war unentwegt von alter Burschenherrlichkeit die Rede, von silberfließenden Wiesenbächlein, dampfender Gartenscholle und fruchtbaren, golden wogenden Ährenfeldern und Heidelberger Butzenscheibenromantik. Verliebte junge Paare schauten Hand in Hand stumm und andächtig in den Mond oder sonstwo hin. Wo man sich umblickte blühten Vergißmeinnicht und blaue Blumen über die liebliche Vögelein zwitscherten und stets rechtzeitig errötende Mädchen auf ihren Liebsten warteten. Heimelig auch die pausbäckigen Kindlein, die so gar nicht dem Elend der Massen entsprachen mit ihrer hohen Kindersterblichkeit; Glückskind mit Lamm und Glockenblümlein im putzigen Händchen grapscht nach dem Schmetterling und über allem nichts als blauer Himmel mit weißen Zuckerwölkchen. Eia popeia, was raschelt da im Stroh; eine durch und durch heile Welt von paradiesischem Ambiente. Artiges Töchterlein, barfüßig, schlicht im leinenen Kleid, arm aber brav, gefolgt vom weißen Spitz bringt den Schnittern Brot und Krug aufs Feld. Zuckrig überstreute Armut wird zum Markenzeichen der Fluchtbewegungen in abseitige Idylle und zur Überdeckung des Elends resultierend aus frühkapitalistischer Ausbeutung; Trugbilder entwürdigender Erbauung zur Befriedigung der Massen. Es waren Szenerien und Landschaften, die nicht schöner entworfen sein könnten, wenn sie nicht so unwahr die gesellschaftliche Wirklichkeit überformt hätten und hinter denen sich die geistige Dumpfheit einer Spießermentalität verbarg. In den Perspektiven von Pausbäckigkeit und blauen naiven Kinderaugen wurde das reale Elend bildhaft verdrängt. Obgleich in den unteren und mittleren Schichten des Bürgertums, wofür diese verkitschte Erbauungskultur in erster Linie gedacht war, Kinderarbeit und Prügelorgien nach wie vor an Aktualität nichts eingebüßt hatten. Allerdings die gesellschaftliche Rolle, welche man der Frau im Zeitalter kleinbürgerlichen Parvenügehabens zuwies, schlug sich in ihrem emanzipationsfeindlichen Duktus in allen Schichten der wilhelminischen Bevölkerung nieder. Im Vordergrund mädchenspezifischer Erziehungsziele standen Gemütsbildung durch Stricken, Sticken, Kochen, Gedichtrezitation und etwas erbauliche Literatur und gleichermaßen Erbauungstheologie. Ihr fester Platz war die Familie in Küche, am heimischen Herd und in gehobenen Kreisen Haus, Eßzimmer und vielleicht noch der Salon für gepflegte Matineen. Demgegenüber galten die Wünsche des Mannes als ungeschriebene eherne Gesetze. 122

An der systematischen Verdummung und Entwürdigung der deutschen Frau war insbesondere die Gartenlaube beteiligt. Schon alleine ihr Titel suggerierte die heile Welt idyllischer Gartenkolonien, in denen der Spießbürger inmitten von geometrisch angelegten Rabatten und zurechtgestutztem Strauchwerk sich seine eigene Welt zurechtlegte. Alles war überschaubar und nichts konnte dieses geordnete Paradies der Selbstzufriedenheit erschüttern. Hier durfte der Kleingärtner Herr über die Schöpfung sein und sie nach seinen Vorstellungen gestalten oder genauer gesagt vergewaltigen, freilich nur unter dem Diktat streng festgelegter Regeln. Der posthume Namensgeber der Schrebergärten, der Orthopäde und Volkserzieher Moritz Schreber galt bezeichnenderweise als fanatischer Pädagoge, wenn es darum ging, den Kindern Haltung und aufrechten Gang beizubringen. So wie später die Rabatte der nach ihm benannten Gartenkolonien, sollte auch die Körperhaltung mittels Apparaturen, die er an seinen Kindern ausprobierte, strengen Ordnungsprinzipien folgen, seinem Grundsatz entsprechend, daß nur bei einem geraden Rücken auch ein aufrechter Geist anzutreffen wäre. Die Natur muß gerade und geometrisch sein, damit der Geist sich entfalte und gesund bleibt. Leider lösten dererlei praktizierte Prinzipien bei seinen Söhnen das Gegenteil aus. Während sein ältester Sohn Gustav Selbstmord verübte, endeten solche Prozeduren für seinen Sohn Paul in einer Nervenklinik. Schritt für Schritt schob die Gartenlaube als Familien- und Hauszeitschrift ethische und soziale Fehlvorstellungen auf scheinbar unpolitische Weise ins Gemüt des Spießbürgers. Ihre kitschigen, wie unterwürfigen Darstellungen der weiblichen Rolle am heimelig trauten Herd der Gemütlichkeit vor dem Hintergrund einer sentimentalen Butzenscheibenromantik, gerieten im gesellschaftlichen Denken zur politischen Anthropologie geschlechtsspezifischer Rollenverteilung im wilhelminischen Obrigkeitsstaat. Wie einem unsichtbaren Gesetz folgend waren die Platitüden stets dieselben. Eugenie Marlitts Heldinnen, der, sich selbst als liberal bezeichnenden Starautorin des Gartenlaubenkitsches, waren immerdar zarte und unbedarfte Mägdlein aus ärmlichen Verhältnissen, die von lüsternen Lebemännern oder reichen Aristokraten umworben wurden. Auf der Seite ihrer naiven Heldinnen tapfer stehend, bot sie bedenkliche Kompromißlösungen an, die mit ihrer liberalen Einstellung wenig Gemeinsames hatten. Entweder fand das gute arme Mädchen den guten reichen Aristokraten oder der böse, aber reiche Aristokrat wurde durch die reine Mädchenliebe geläutert und schlichtweg ein rundum guter Mensch und das Mägdlein durfte fortan die Schloßherrin spielen, sehr zur Freude der Dienerschaft, welche bislang unter den Launen ihres Herrn gelitten hatte. Im spießigen Kosmos der Gartenlaube wurde der adelige Held als Idol schwacher und schlichter Weiblichkeit präsentiert. Nur der heroische Mann konnte der Frau die Erfüllung ihres Lebens geben und sie zu wahrer Seelenfähigkeit führen. „Das Weib bekommt volle Individualität“, so philosophierte einst Richard Wagner, „erst im Moment der Hingebung; es ist 123

das Wellenmädchen, das seelenlos durch die Wogen seines Elementes dahinrauscht, bis es durch die Liebe eines Mannes erst die Seele empfängt“.3 Wagners Germanenmythos, mit dem er die ekstatischen Paarungen seiner Götter und Helden besang, trugen das ihrige zur Arretierung der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung der patriarchalischen Gesellschaft bei. Als ein Reporter der Gartenlaube die Autorin Eugenie Marlitt eines Tages besuchte, „drückt er einer Schriftstellerin die Hand, die in ihren Dichtungen einen so unerschrockenen Kampf aufgenommen hatte mit der buntfarbig gleißenden Heuchelei, mit der Jämmerlichkeit einer herzlosen Religiosität, die nur in äußerem Formelkram und einschläfernder Selbstbeweihräucherung sich bläht, und mit den längst verrotteten, längst verurteilten Ansprüchen eines Standes, der sich umsonst gegen die freiheitlichen Forderungen der Gegenwart stemmt“.4 Den deutschen Bürgern im 19. Jahrhundert hätte es besser angestanden Wilhelm Büchner, Gottfried Keller, Theodor Fontane oder Adalbert Stifter zu lesen, ganz zu schweigen von Karl Marx und dem überaus sozialkritischen Gerhard Hauptmann. Dem kleinbürgerlichen Bewußtsein entsprach indes eben diese sprachliche Unbedarftheit und einschläfernde Seelenbeweihräucherung, die unter einer buntfarbigen Heuchelei die liberale Absicht der Autorin in kitschigen Szenarien überdeckte. Dies machte sie als Erbauungsliteratur für die Ansprüche kleinbürgerlicher Bildungsvorstellungen weit attraktiver, als sich mit denjenigen Schriften auseinanderzusetzen, die schonungslos den Finger in die gesellschaftlichen Wunden legten. Die Literatur der Jahrhundertwende und der nachfolgenden Jahrzehnte hat diese heuchlerische Bürgerwelt der Plüschära, ihre Doppelbödigkeit und verlogene Moral zu ihrem zentralen Anliegen gemacht und ihre unterschwellige Triebverdrängung aufgedeckt. Insbesondere die Schriften von Sigmund Freud zeigten die Anatomie einer Gesellschaft mit ihren verdrängten Lüsten, Projektionen und verborgenen Trieben, die unter der Kruste der Zivilisation kaum aufzuhalten waren. Dort, wo sie durchbrachen verdeckte sie der Kitsch und Schund der Spießergesellschaft, in der Sinnenglut auf Plüsch, in der Halbund Lebewelt von Bars und Bordellen, in jenen Milieus, in denen sich Heinrich Manns „Professor Unrat“ bewegte. Und wenn auch dies nicht mehr möglich schien oder nicht mehr genügte, in den Phantasien vom Übermenschentum und Wagnerschem Tristanwahn und Wälsungenblut, hinter denen sich rohe Sexualität verbarg und die, als Seelenharmonie getarnt, wie in Wagners Biographie zum Alibi für Ehebruch wurden.5 Dies alles brach durch in der Atmosphäre schwüler Stimmungen und doppelter Böden, wie sie in Wagners Tannhäuser, Tristan und Isolde und den Walküren zu erleben waren. Den Andeutungen von begieriger Sexualität entsprach das inzestuöse Gewoge auf der Bühne, begleitet von dem musikalischen Getöse im Orchestergraben. Vor der Jahrhundertwende hatte man kaum gewagt, Sexualität unverholen dramatisch aufzuzeigen; somit blieb in den Musikwerken Wagners vorerst alles 124

noch in drohenden und zugleich verlockenden Andeutungen, die Seelenwelten öffneten, welche ansonsten wohlweislich verschlossen blieben. Schnitzlers Reigen und Wedekinds Die Büchse der Pandora lieferten auf ihre Art Beiträge zu einem verklemmten, wie gleichwohl erwachenden Umganges mit den verborgenen Gelüsten einer ganzen Spießergeneration am Ende des 19. Jahrhunderts. Und zudem ließ die Richard Strauss Oper Salome im wahrsten Sinn des Wortes die Schleier der Konventionen fallen und sorgte für Aufregung unter den philisterhaften Moralisten. Selbst der dekadente Charme im Rosenkavalier sorgte im wilhelminischen Deutschland für moralische Entrüstung und fiel einem Aufführungsverbot durch die deutsche Kaiserin anheim. Im Gegensatz zur Romantik, die eine poetische universalistische Sicht auf die Natur, ihre Geheimnisse und Schönheit richtete und der Mensch jener Epoche sich darin in seiner Existenz geborgen fühlte, verstand der deutsche Kulturspießer die Natur ausschließlich als deutsch und als Staffage seiner eingebildeten Sonderstellung. Im Naturverständnis der Romantik betrachtete der weltabgewandte und von den politischen Entscheidungen entmündigte Bürger sie als Refugium seiner Weltflucht. In gewisser Weise findet sich dieser Aspekt auch in den Gartenlaubenlyrismen wieder, nur in der kitschigen Form eines falschen Scheins, welcher die Gegenwartsprobleme überwölbt und den Bürger als passiven Konsumenten eines verzerrten Welt- und Naturverständnisses zurückläßt. Dem Bildungsbürger der romantischen Epoche hingegen galt die Natur als Stätte psychischer Geborgenheit, die ihn seine entmündigte Stellung in den Gefilden politischer Machtinteressen vergessen ließ. Die Demütigungen durch den Adelsstand ließen sich in der stillen Beschaulichkeit einer sanften Naturidylle vergessen. Sonnenuntergänge, mondscheinbeschienene Hügellandschaften und die sprichwörtliche Blaue Blume trösteten über die Erniedrigungen, die der bürgerliche Stand erleiden mußte hinweg. Goethe hat in seinem Roman Werther die Flucht des Bürgers in die Tröstungen durch die Natur in jener Szene geschildert, wo der Graf höflich und bestimmt Werther aus dem Salon weist, da man unter sich sein wollte.“ Der Graf drückte meine Hände mit einer Empfindung, die alles sagte. Ich strich sacht aus der vornehmen Gesellschaft, ging [ ...] und fuhr nach M [...], dort vom Hügel die Sonne untergehen zu sehen und dabei in meinen Homer den herrlichen Gesang zu lesen, wie Ulys von trefflichen Schweinehirten bewirtet wird. Da war alles gut“. Der Mensch des romantischen Naturverständnisses fand hierin seine innere Erfüllung, wenngleich auch ihm die gesellschaftliche, oder genauer gesagt die politische Anerkennung versagt blieb. Die „Romantik“ des Spießbürgers hingegen verschleierte das eigene materielle Elend und söhnte ihn mit den entwürdigenden Bedingungen aus, unter denen er leben mußte, indem sie ihm eine Welt des Kitsches und der beschwichtigenden Rührseligkeiten vorgaukelte. Damit verschwieg sie seine soziale und mitunter wirtschaftliche Not. 125

In unerträglicher Selbstüberschätzung pries man die deutsche Frau den deutschen Wein, so wie in der zweiten Strophe des Deutschlandliedes und wie selbstredend den deutschen Sang, der so friedfertig und unböse, wie die Sängerkreise behaupteten, nicht immer klang. Mägdelein wurden geküßt, weil sie sich den spießbürgerlichen Vorstellungen entsprechend als echte deutsche Mädels erwiesen und damit dem Idealbild deutscher Manneszucht entsprachen. Mitunter wurden sie auch nur deswegen verehrt und zugleich begehrt weil sie zufällig und keusch am deutschen Rhein beheimatet waren Weit weniger zufällig avancierte der Rhein zum deutschen Schicksalsstrom, an dessen linkes Ufer sich die Nation gegenüber dem Erzfeind, wie unter einem angestammten Zwang, meinte behaupten zu müssen. Und diesen urdeutschen Strom sollten die Franzosen nie und nimmer haben, denn dort stand die deutsche Wacht, den Blick gegen Frankreich gerichtet und allzeit bereit, dem verhaßten Erzfeind die Stirn zu bieten. Dieser Nationalismus, der inzwischen zur einzig gültigen Kulturform erhoben wurde, fand seine Krönung im Wort deutsch. Als Adjektiv bedeutete es die höchste Eigenschaft, die einem sterblichen Wesen zukam, als Substantiv galt es als Begriff an sich, der alle übrigen überstrahlte. Alles wurde nur noch mit ausschließlich deutschen Augen betrachtet. Selbst Wilhelm Tell, der Schweizer Nationalheld erklärte man kurzum zum Deutschen, da in dem Schweizer Kanton Uri deutsch gesprochen wurde. Deutsch wurde auch Johanna von Orleans und selbstverständlich war auch der Faust urdeutsch, da das Genialische und Überragende des Menschengeschlechtes, welches er verkörperte, ebenfalls nur aus dem deutschen Geist und Blut hervorgehen konnte. Sogar ein Selbstmord, wenn er denn von einer völkisch bedeutsamen Person vorgenommen – wie Moeller van den Bruck –, geriet zum „germanischen Tod“, und somit zu etwas Besonderem. Man forderte den deutschen „Kunstsonntag“, weil „wir das tüchtigste Volk auf allen Gebieten des Wissens und der schönen Künste“ sind.6 Der liberale Politiker und Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung Julius Fröbel hielt der Deutschtümelei der völkischen Fanatikern ihren Zerrspiegel vor, in dem er meinte: „Welches Volk hat wie das deutsche das Beiwort immer im Munde, welches seinen eigenen Charakter bezeichnet? ›Deutsche Kraft‹, ›deutsche Treue‹, ›deutsche Liebe‹, ›deutscher Ernst‹, ›deutscher Gesang‹, ›deutscher Wein‹, ›deutsche Tiefe‹, ›deutsche Gründlichkeit‹, ›deutscher Fleiß‹, ›deutsche Frau‹, ›deutsche Jungfrauen‹, ›deutsche Männer‹ [...]. Der Deutsche verlangt von sich ganz extra, daß er deutsch sein soll, als ob ihm freistände, aus der Haut zu fahren – grade wie er von seinen Männern extra verlangt ›männlich‹, von seinen Weibern, ›weiblich‹ , von seinen Kindern ›kindlich‹, von seinen Jungfrauen ›jungfräulich‹ zu sein. Der deutsche Geist steht gewissermaßen immer vor dem Spiegel und betrachtet sich selbst, und hat er sich hundertmal besehen und von seinen Vollkommenheiten überzeugt, so treibt ihn ein geheimer Zweifel, in welchem das innerste Geheimnis der Eitelkeit beruht, abermals davor. – Was 126

ist dies alles anders als die Selbstquälerei eines Hypochonders, dem es an Bewegung fehlt, und dem nur durch Bewegung zu helfen ist?“7 Freilich war an Bewegung, d.h. Flexibilität und Öffnung des verkappten Nationalverständnisses nichts zu spüren. Vielmehr reichte der germanische teutonische Mythos längst nicht mehr aus, um dem deutschen Selbstbewußtsein jenen Schein von Auserwähltheit zu suggerieren, mit dem sich die völkischen Kreise über die europäischen Realitäten hinwegtäuschen ließen. So erhoben die wildgewordenen nationalen Enthusiasten, neben der Betonung auf angebliche deutsche Charaktermerkmale, auch das germanisch arische Blut zum typischen Merkmal reinsten Deutschtums. Schlichte biographische Herkunftslinien wurden daher zu metaphysischen Schicksalswegen transformiert, auf denen sich edelste Gattungen auf dem Weg in die Menschheitsgeschichte begaben. Germanentum hieß zugleich Träger und Vererbter des edelsten Blutstammes zu sein, dessen sich ein Volk rühmen durfte. Germanisches Blut gehörte indes nicht nur zum Kostbarsten, was menschlicher Organismus in sich barg, sondern aus ihm sprachen auch die kulturellen Erben einer ruhmreichen geistvollen Vergangenheit. Demzufolge hieß es in einer Ausgabe Die neue Front, herausgegeben von Moeller van den Bruck aus dem Jahre 1922: „Das Blut in seiner Unverfälschtheit ist wahrer Mittler zwischen Geist und Tat. In ihm lebt der tiefste Sinn unserer Mythen, unserer Sagen und Märchen. In ihm sprechen die deutschen Wälder und Ströme“.8 Die Vorstellung des „deutschen Wesens“, untrennbar mit seiner blut- und bodenmäßigen Herkunft verknüpft, durfte sich über eine lange Zeit hinweg einer ungebrochenen Popularität erfreuen und in gewissen gesellschaftlichen Kreisen sogar bis auf den heutigen Tag. Nicht nur im 19. Jahrhundert pflegten die studentischen Korporationen einen besonderen Blutkult, denn in der Mensur hatte sich die „Wahrheit des Blutes“ zu erweisen. So schwärmte ein Professor namens Konrad Biesalski in der Deutschen Corpszeitung der Februarausgabe aus dem Jahre 1961 (!): daß „jene heilige heldenhafte Erregung vorhanden ist, die wir an den Vätern der Vorzeit bewundern, die jeder durchmachen muß, der in Erfüllung des getanen Schwurs und in deutscher Gefolgstreue für die gewählten Farben ritterlich sein Blut vergießt, das nun einmal ein besonderer Saft ist. Alles, was zur Wesenheit unseres Volkes gehört, kommt hier wieder aus dem Urgrund der Persönlichkeit leuchtend hervor, und wer die Prüfung bestanden hat, ist ein deutscher Mann geworden“.9 Erst durch den Blutzoll, im Kampf mit den Feinden entrichtet, wird der deutsche Mann geadelt, und zum Übermenschen, wie Siegfried erst durch das Drachenblut unverwundbar gegen seine Feinde wurde. Blutzoll und Krieg waren eng miteinander verbundene nationale Phänomene, welche die deutsche Männlichkeit im späten 19. Jahrhundert erst ausmachte, auch dann, wenn Tod und Trauer damit verbunden waren. Mannwerdung geschehe erst durch den Krieg, „wo das Schwert behaupten müsse, was das Schwert einst gewonnen habe“.10 Jenen Häusern, in denen die Söhne im Krieg gefallen waren, „gehörte dann ein Blatt im schwellenden Kranz des deutschen 127

Ruhmes“.11 Im Kampf, bei dem das Blut in Strömen floß, fand die eigentliche Bewährungsprobe des deutschen Charakters statt. Und Langbehn meinte, daß das arische Blut ein „aristokratisches Blut“ sei und von allem menschlichen Blut, den höchsten Anteil an „sittliches Gold“12 in sich berge. Während im zweiten Deutschen Kaiserreich das deutsche Blut noch relativ mäßig dahinfloß, oder wie der rechtslastige Schriftsteller F. G. Jünger glaubte zu hören, in „einer großen Melodie“,13 wurde es im 20. Jahrhundert und in den Rechtskreisen der Weimarer Republik zu einem bedrohlichen Fluß, der im Dritten Reich über seine Ufer trat und alles was sich ihm in den Weg stellte, vernichtete. Solcherart unkritische und zugleich martialische Huldigung des „Deutschtums“ als nationalistisches Prädikat war immer auch mit einem handfesten Antisemitismus verbunden, der hinsichtlich psychischer Qualitäten unterschied zwischen dem mystischen Erleben des arischen Menschen und dem Unvermögen des jüdischen Menschen zu tiefschürfender Auseinandersetzung mit seiner Geschichte. So behauptete man, daß ausschließlich der Germane im Gegensatz zu dem jüdischen Menschen zu mystischen Erlebnissen fähig sei. Freilich verstand sich der Antisemitismus nicht nur als kulturgeschichtlicher Kampf gegen das Judentum, vielmehr richtete sich sein Hauptanliegen darauf, die arische Rasse vom jüdischen Einfluß in biologischer Hinsicht freizuhalten. Hierbei ging es dann jedoch immer um Leben oder Tod, um Aufstieg, Größenwahn und Reinheit der Rasse oder ihrer „Bastardisierung“ und ihrem Untergang ins Nichts der Geschichte. Wenngleich es aus historischer Sicht weder eine besondere Qualität des „Deutschtums“ gab, was ohnehin ein sehr fragwürdiger Begriff darstellte, noch ausschließlich der Germane, sofern es ihn überhaupt gab, zur Mystik fähig sein sollte, so hinderte dies nicht den Schwiegersohn Richard Wagners, Houston Stewart Chamberlain daran, die These aufzustellen, daß die gesamte heutige Zivilisation und Kultur das Werk des germanischen Menschen sei. Einmal antisemitisch in Fahrt geraten, behauptete er unter großer Zustimmung seiner zahlreichen Leserschaft, daß der Jude einer minderwertigen Rasse angehöre, der Germane hingegen werde ganz vom großen Rätsel des Daseins gefangen, nicht nur als ein rationalistisches Problem, sondern vielmehr als großes zwingendes Lebensbedürfnis. Und so wie er stets nach tieferen Sinn des Lebens fragt, bleibt sein Ruf nicht ungehört, denn: „geheimnisvolle Stimmen vernimmt er; die ganze Natur belebt sich, überall regt sich in ihr das Menschenverwandte. Anbetend sinkt er auf die Knie, wähnt nicht, daß er weise sei, glaubt nicht den Ursprung und den Endzweck der Welt zu kennen, ahnt aber eine höhere Bestimmung, entdeckt in sich den Keim zu unermeßlichen Geschicken, den Samen der Unsterblichkeit“.14 Unter der mystischen Gewalt dieses Glaubens an die Unsterblichkeit der germanischen Seele war es auch nicht verwunderlich, daß man derartige Phantombilder auch auf geschichtliche Ereignisse übertrug. Angesichts des Kyffhäuser, dem deutschesten Zauberberg und „nationaler“ Ruheraum des Kaiser Barbarossa, unter dessen Herrschaft nach dem damaligen Verständnis Deutschland ein 128

einiger Nationalstaat war und nach dem man sich vor 1871 wieder sehnte, schwärmte der Dichter Wilhelm Raabe 1860, daß es keine Nation gäbe, die solcherart Berggipfel aufweisen könne. Aber nicht nur dieser Berggipfel hatte es den nationalistisch Gesinnten angetan, sondern man wartete vor allem auf die Wiederauferstehung dieses Herrschers und damit auf eine Restauration des Deutschen Kaiserreiches. Und über Ludwig Ganghofer, dem Dichter und Beschwörer deutscher Alpenwelten, in der die rauhe Wirklichkeit durch schneebedeckte Gletscherkulissen verdeckt wurde, glänzte gar eine „deutsche“ Sonne. Selbstredend war auch das Weihnachtsfest ein ausschließlich deutsches und nirgendwo wurde es mit derartig triefender Sentimentalität und falschem Pathos gefeiert, wie in den deutschen Landen. Und von den deutschen Eichen träumten bereits die Sänger der napoleonischen Befreiungskriege, die nie nimmer von uns weichen und uns immer nahe sein sollten, wie Mond und Sonnenschein. Was hier freilich noch als Aufbruchsstimmung in die Unabhängigkeit vom napoleonischen Joch besungen wurde, geriet unter der Ideologie des staatstragenden Nationalismus zum Schlachtruf gegen andere europäische Nationen und vorzugsweise gegen die Ideen der französischen Revolution. Aber ansonsten war man, in seiner nationalen Hybris befangen, hoffnungslos rückständig, was wiederum auch typisch deutsch sein sollte. Denn selbstverständlich rangierte eine strikte Trennung zwischen den sozialen Aufgaben der Geschlechter, so daß sich nicht nur eine vertikale Klassengesellschaft herausbildete, sondern auch in horizontaler Hinsicht die Rollen arretiert waren. In jenen Zeiten der Innerlichkeit sah das weibliche Geschlecht seinen angestammten Platz ausschließlich in der Küche, am Herd und bei ihrer unzähligen Kinderschar, wie es sich für eine züchtige deutsche Hausfrau gehörte. Das Herz des deutschen Spießers erfreute sich über ein Jahrhundert an dieser Schlammflut des Kitsches und der falschen Gefühlswelten, die nicht nur in den Bildern von Ludwig Richter entworfen wurden, sondern die auch Aspekte deutschen bürgerlichen Kulturlebens widerspiegelte. Thomas Mann nannte die verquaste Lyrik eine Dichtung und Weltsicht der „Sekurität“, die mit sozialen wie politischen Verdrängungskomplexen behaftet war, da sie Zonen machtgeschützter Innerlichkeit bereithielt, und dem dauerhaften Untertanen jene Freuden des Lebens kompensieren halfen, die ihm von der Obrigkeit verwehrt blieben. In der deutschen Wohnstube, in der „Enklavenatmosphäre der „heiligen Familie“ konnte der männliche deutsche Untertan jene Macht über Kinder und Frau ausüben, an die zu entfalten, ihn ansonsten das profane Leben da draußen hinderte. Hier konnte der Patriarch sein eigenes Binnenreich schaffen, in der er ganz Herrscherchen sein durfte und sich mit monarchischen Attitüden ausstattete; hier war er sich selbst der Kaiser und alleinige, von Gott gegebene Autorität und keiner stand über ihn. In diesem Refugium privater Tyrannei durfte er schalten und walten wie er wollte und die rigiden Normen des preußischen Obrigkeitsstaates im wahrsten Sinne des Wortes in handfeste 129

Erziehungspraktiken umsetzen. Die bürgerliche Familie des deutschen Kaiserreiches spiegelte den Idealtypus einer menschlichen Gemeinschaft wider, wie sie Ferdinand Tönnies der strukturellen Kälte und emotionalen Leere der Gesellschaft in seiner Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft entgegengestellt hat. Sie sollte der Hort bürgerlicher Intimität und privaten Glücks sein und war doch auch oftmals die Brutstätte, in der jenes pädagogische Klima wirkte, welches jede kindliche Kreativität und Individualität zermalmte und was zu jenem Sozialisationstypus führte, der jederzeit und für alles was die Obrigkeit anordnete, sich verwenden ließ, bis hin zur kollektiven Barbarei im Nationalsozialismus. Die Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller hat in treffender Weise dieses Klima als „Schwarze Pädagogik“15 bezeichnet, die nur gebrochene Persönlichkeiten hervorbrachte. Das zersetzende Gift dieses inhumanen Klimas ungeachtet, schwärmte Theodor Körners postpubertäre Lyrik von deutschem Wein, der Liebe und dem wehrhaften Schwert des deutschen ritterlichen Wesens und zu guter Letzt von der sprichwörtlichen deutschen Eiche, dem Sinnbild des wehrhaften Deutschen, ähnlich so stark und aufrecht, unbeugsam und jedem Sturm trotzend wie sie. Dies alles ging dem Gemüt des deutschen Spießers sehr zu Herzen. In dieser Atmosphäre von Ignoranz und Unvernunft konnten sich allmählich jene Sozialpathologien entfalten, in deren treibhausartiges, schwüles Klima der Typus des deutschen Untertanen prächtig gedieh. Zu den Merkmalen des völkischen Nationalismus gehörte auch das wachsende Interesse an germanischer und pseudogermanischer Mythologie, welches durch den Einfluß J.Grimms Deutscher Mythologie von 1835 ausgelöst wurde. So wie das Individuum der romantischen Epoche sein Ich entdeckte und Unbewußtes in Bild, Musik, und Sprache zum Ausdruck brachte, entdeckte man im aufkommenden Nationalbewußtsein seine kollektiven Wurzeln. Alles wurde einer Mythologisierung unterworfen, deren Wurzeln in die Verklärung des Germanischen zurückreichten. Die Ergebnisse waren mitunter von grotesker Schlichtheit, wenn beispielsweise behauptet wurde, daß die Mythengestalt Edda die Urmutter aller deutscher Sagen und Dichtung sei und somit die Schöpferin der deutschen Kultur. Jene Mythologiemanie des 19. Jahrhunderts, die sich sinnfällig mit pseudowissenschaftlichen Tiefenschürfungen in germanisch-arischen Urwelten verband, sollte in ihrer extrem völkischen Tendenz zum direkten Vorläufer der unsinnigen nationalsozialistischen Symbol- und Ahnenforschung werden, wie sie insbesondere Rosenberg und Himmler mit ihrem Germanenwahnsinn inszenierten. Der allseits verbreitete Germanenkult nahm mitunter derartige bizarre Formen an, so daß der Germanist Moritz Haupt mit beißendem Spott bemerkte, es werde demnächst kein roter Hahn und kein stinkender Bock auf der Welt davor sicher sein, zu einer germanischen Göttergestalt erklärt zu werden.16

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Kapitel 7 Bauernmythos, Volkskunde und bürgerliche Regression – von Volkskörper und Mutterboden Die Idee des „Volkstums“. Nachnapoleonische Verwirrungen. Träumen auf der Scholle und die Angst vor der Verstädterung. Romantik des Bäuerlichen. Volk und Bestimmung. Volkstum im nationalen Gewand. Bäuerliche Kulturanthropologie. Blut und Boden. Die Ahnen schreiten hinter dem Pflug. SSAhnenkult. Jakob Kneips Bauernwelt. Wider den welschen Ungeist. Auf der Suche nach der deutschen Sonderstellung. Umtriebe eines Minderwertigkeitskomplexes. Nach den Erfahrungen mit der Herrschaft des Nationalsozialismus ist in der Retroperspektive geschichtlicher Entwicklungen nicht zu übersehen, daß bereits im frühen 19. Jahrhundert Grundlinien einen faschistoiden Denkens gezogen wurden. Ob sie bewußt und mit voller politischer Absicht geschahen, bleibt dahingestellt. Jedoch unverkennbar haben sie dem deutschen Obrigkeitsstaat ideologische und moralische Argumente geliefert und diesen systemimmanent gestärkt und jene Emanzipation des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert verhindert, die zu politischer Mitbestimmung und demokratisch liberalen Denkweisen geführt hätten. Die begriffliche Vorstellung vom „Neuen Reich“, wie sie Stefan George dichterisch entfaltete, hatte ihre Wurzeln bereits in der Romantik. Seitdem zeichnete sich im Zuge der Säkularisierung religiöser Bindungen eine kompensatorische Sakralisierung der Volksidee ab. Säkularisierung und Volkstumsideologie hängen somit ideengeschichtlich eng zusammen. Volk, Volkstum, Volksgesundheit und die spätere nationalsozialistische Metapher von der Volksgemeinschaft sind die säkularisierten Innerlichkeiten einer zunehmenden Entfremdung von wirklichen humanen Werten im aufbrechenden Industriezeitalter mit seiner Verstädterung und Pluralität. Das „Volk“ wurde mit den Attributen der ewigen Dauer, Heiligkeit und Autorität versehen und mit einer pseudoreligiösen Begrifflichkeit ausgestattet, die es über alle sonstigen Werten stellte. Konkreter als das imaginäre innere „Reich“ daß George und sein Kreis erträumte, war da schon Moeller von den Brucks Formel Vom „Dritten Reich“. Dieses „Dritte Reich“, sah sich als Nachfolge des untergegangenen ersten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und sollte in der unmittelbaren Nachfolge des Bismarckschen Kaiserreiches entstehen, gedacht als ein Reich der großdeutschen Einigung und innergesellschaftlichen Befriedung, in der sich alles auf den völkisch-germanischen Ursprung zurückführen ließe. Moeller von den Bruck charakterisierte dieses Reich als Utopie religiöser Prägung, es war mehr Weltanschauung als Wirklichkeit und infolgedessen sollte in den Augen 131

der völkischen Nationalisten der Reichsgedanken dem Illusionistischen entrückt und politisches Programm werden. Das Reich, war jenes staatliche Gebilde, welches über alle Individualität steht und in dem der Einzelne nur noch als Element einer Masse gesehen wird. Die tatsächliche Anonymität wird unter dem Begriff der Volksgemeinschaft verschleiert, die so etwas wie Solidarität und Gemeinsinn im positiven Sinn vortäuschen möchte, obgleich die Funktion der Volksgemeinschaft in nichts anderem besteht, als politische Verfügungsmasse der Herrschenden zu bilden. Unter den Nationalsozialisten nahm dann die Utopie konkrete politische Gestalt an. Das „Großdeutsche Reich“ fand seine Verwirklichung durch die militärisch-expansive Eroberungspolitik Hitlers und die innergesellschaftliche Befriedung, welche Moeller von den Bruck zufolge noch durch den Rekurs auf germanische Ursprünglichkeit erreicht werden sollte. Es gelang den Nazis zum einen durch den Druck der totalitären Herrschaftsverhältnisse und zum anderen, wenn auch nur dem äußeren Schein nach, durch die zynische Politik der Volksgemeinschaft. Darüberhinaus hielten die pseudoreligiöse Begrifflichkeiten ein hohes Maß an Identifikationsmöglichkeiten bereit, die von den realen sozialen Problemen ablenken sollten. Alles in Allem waren diese regressiven Ideen eine Absage an den Anforderungen der Moderne, in der demokratische Mitbestimmung und Teilhabe an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln angezeigter gewesen wären, als der Rückgriff auf archaisch bäuerliche Lebenswelten. Und hierin stimmten die Nationalsozialisten mit den Ideen der Volkskunde im 19. Jahrhundert überein. Die Entfaltung der Volkskunde als eine kulturanthropologische Sichtweise und das deutsche Bürgertum im 19. Jahrhundert sind nicht voneinander zu trennen. Was zunächst wie ein Widerspruch aussieht, handelte doch die Volkskunde überwiegend von vorbürgerlichen Lebenswelten, insbesondere von bäuerlichen Kulturen, erweist sich bei näherem Hinsehen als regressive Reaktion des Bürgertums auf die Ungleichzeitigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland. Innerhalb eines Spannungsfeldes zwischen Feudalismus und Kapitalismus, Absolutismus und Demokratie, Kleinstaaterei und geeintem wilhelminischen Machtstaat, zunehmender Industrialisierung mit allen Begleiterscheinungen der aufbrechenden Moderne in Politik, Kultur und Wissenschaft blieben dem Bürgertum die staatsbürgerlichen freiheitlichen Rechte versagt. In Frankreich hatte die Revolution einen Prozeß in Gang gesetzt, der für die europäischen Staaten von weitreichender Bedeutung war. Beseitigung der Feudalherrschaft, Aufbau eines vom Bürgertum getragenen Staatswesens, welches auch vorübergehend in den französisch besetzten linksrheinischen Gebieten zum Tragen kam, die Proklamation bürgerlicher Freiheitsrechte und die Freisetzung revolutionärer Energien, vor allem des vierten Standes. Die Eroberung der deutschen Provinzen durch Napoleon in den Jahren 1805/1806 brachte die „Selbstentleibung Deutschlands“, wie Achim von Arnim stellvertretend für viele seiner Zeitgenossen ausdrückte.1 Die Folge 132

war der teilweise Zusammenbruch der feudalistischen Strukturen in Preußen und Österreich. Jedoch führten die Reformen eines Freiherrn von Stein, einem prononcierten Gegner der Französischen Revolution und Hardenberg, der sich an der napoleonischen Präfekturverfassung orientierte Preußen nicht in Demokratie, sondern in einem Bürokratismus, der vom Adel und einer kleinen bürgerlichen Schicht getragen wurde. Die demokratischen Ansätze verebbten, als die französischen Armeen geschlagen wurden und ihre Kontrolle über die besetzten Gebiete aufgeben mußten. Auch wenn es später im deutschen Südwesten zu Freiheitsbestrebungen kam, die 1848 scheiterten, blieb dem Bürgertum der politische Einfluß versagt. Lediglich innerhalb literarischen Zirkeln wurden die Ideen der Freiheit weiterhin gepflegt, ohne daß sie besonderen Einfluß auf die politischen Prozesse der nachnapoleonischen Ära in den deutschen Kleinstaaten sowie in Preußen gehabt hätten. Es gab freilich auch Stimmen, welche sich nach der Zeit vor der Französischen Revolution zurücksehnten. E.T. A. Hoffmann stellte in der bürgerlichen Welt der Nachrevolution den Verlust der Mannigfaltigkeit fest und es schien so, als hätte die Emanzipation und Aufhebung feudaler Formen der Sehnsucht nach festen ständischen Strukturen und Privilegien Auftrieb gegeben von denen der vierte Stand ausgeschlossen blieb. Unter den Romantikern machte sich Langeweile breit und Friedrich Schlegel entdeckte gar in dem Verlust an Mannigfaltigkeit die epochale Wirkung der Französischen Revolution und sah eine postrevolutionäre Gleichförmigkeit heraufkommen. In seiner Erzählung Die Majoratsherren aus dem Jahre 1820 stellte von Arnim voller Sehnsucht rückblickend auf vergangene, vorrevolutionäre Zeiten fest: „Wir durchblättern eben einen älteren Kalender, dessen Kupferstiche manche Torheiten seiner Zeit abspiegeln. Liegt sie doch jetzt schon wie eine Fabelwelt hinter uns! Wie reich erfüllt war damals die Welt, ehe die allgemeine Revolution, welche von Frankreich den Namen erhielt, alle Formen zusammenstürzte; wie gleichförmig arm ist sie geworden! Jahrhunderte scheinen seit jener Zeit vergangen, und nur mit Mühe erinnern wir uns, daß unsere früheren Jahre ihr zugehörten“.2 Napoleons Einfluß auf die politische Neugestaltung hatte in dieser Hinsicht den romantischen Enthusiasmus ernüchtert in dem er die alten Strukturen niederriß und die gesellschaftlichen Formen gewissermaßen rationalisierte und säkularisierte. Und wenn jene Fabelwelten unwiderruflich verlorengegangenen schienen, so war es an der Zeit, neue Fabellegenden und Mythen zu produzieren um aus ihnen ein neues politisches Selbstverständnis zu entwickeln. Auch sah man die Poesie durch den Individualismus gefährdet, in dem das öffentliche Leben unter der napoleonischen Herrschaft versank. Schelling schreibt 1804 nach dem Untergang des alten Reiches: „Wo alles öffentliche Leben in die Einzelheit und Mattheit des Privatlebens zerfällt, sinkt mehr oder weniger auch die Poesie herab in diese gleichgültige Sphäre [...] Mythologie ist nicht in der Einzelheit 133

möglich, kann nur aus der Totalität einer Nation, die sich als solche zugleich als Identität – als Individuum – verhält, geboren werden.“ 3 Zuflucht bot indes die Volkskunde als ideologisch regressive Kompensation verlorengegangener Hoffnungen, welche die Französische Revolution und Jahrzehnte später die gescheiterte Revolution von 1848 ausgelöst hatten. Somit geriet die Kritik an der industriellen Revolution, am Kapitalismus und am Machtstaat, der den Bürger in politische Abstinenz zwang zu einer hilflosen Kulturkritik gegenwärtiger gesellschaftlich-bürgerlicher Verhältnisse.4 Ein Großteil der bürgerlichen Intelligenz hatte anfangs die Französische Revolution noch als Aufbruch und Fanal in eine neue Ära der Freiheit begrüßt, zog sich jedoch angesichts des jakobinischen Terrors immer mehr von diesen Ideen zurück. Am Anfang des 19. Jahrhunderts war Deutschland, trotz des technischen Fortschrittes immer noch ein agrarischer Ständestaat mit patriarchalischen Strukturen und schwach ausgebildeten kapitalistischen Wirtschaftsformen. Dies trug mit dazu bei, daß die gesellschaftlichen Formationen versteinerten und die Entwicklung produktiver Kräfte stagnierte. Hof, Adel, Kirche, Gutsbesitzer und Offiziersstand sind in den deutschen Kleinstaaten die bestimmenden Kräfte. Die vorübergehende „Freiheit“ der Bauern, die infolge der französischen Besetzung aus der Leibeigenschaft entlassen wurden, war nur eine relative Freiheit und erwies sich nur als kurzzeitig. Um jedoch den Ansprüchen einer wachsenden Industrialisierung zu genügen und zum Zwecke einer leistungsfähigen Wirtschaft kam man nicht umhin, die Bauern aus ihrer Leibeigenschaft zu entlassen und den Zunftzwang aufzuheben. Für die bäuerliche Bevölkerung, die zuvor unter der Fronherrschaft der Großgrundbesitzer und des Landadels standen war es nur eine relative Emanzipation aus den fremdbestimmten Abhängigkeiten, die gegen die Entfremdungstendenz des Frühkapitalismus ausgetauscht wurde. Entweder wurden die freien Bauern von ihren kapitalistisch operierenden Gutsbesitzern ausgekauft, oder sie bildeten das massenweise Reservoir disponibler, „freier“ Arbeiter für die Industrie in den städtischen Ballungsgebieten, mit all ihren sozialen Verwerfungen. Die durch die französische Fremdherrschaft angestoßene politische vernünftige Überlegung einer bürgerlichen Freiheit, die dem Gemeinwesen zunutze gekommen wäre, verengte sich zu einer nationalen Dimension. Selbst die fortschrittlichen Intellektuellen erkannten nicht, daß die Emanzipation des Bürgers durch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen verhindert wurden, und nicht einem über Deutschland verhängtem Schicksal geschuldet waren. Jene chauvinistischen Pamphlete und irrationalen Polemiken, die im frühen 19. Jahrhundert von Denkern wie Kleist, Körner, Arnim, Görres, Arndt und Jahn vorgetragen wurden, stießen in diese schicksalhafte Kerbe. Um 1810 hatte bereits Jahn den Begriff der Nation durch die Bezeichnung Volkstum eingedeutscht. „Ihre Thesen gehören schon im engeren Sinne zur Genese der Volkstumsidiologie“.5 134

Gesellschaft im Deutschland des beginnenden 19. Jahrhunderts bedeutete ungebrochen wie im Absolutismus, Herrschaft von Wenigen über die Mehrheit der Bevölkerung. Schon recht bald sollte sich zeigen, daß je unseliger der Zustand eines Volkes ist, um so romantischer und mystischer werden seine Visionen. Das Heimweh nach dem verlorenen Paradies und nach der Ursprünglichkeit des einfachen, naturverbundenen Lebens, wird um so dringlicher, je repressivere Formen die Gesellschaft annimmt. Der Mythos einer ungebrochenen Germanenkontinuität, der dazu diente, die nationalistischen Gefühle zu fördern, produzierte die reale Ohnmacht des Bürgers in eine intellektuelle und brachte es auf diesem Wege zustande, die Ohnmacht, d.h. die politische Unfreiheit zu erhalten. Zweck des ungebrochenen Germanenmythos war, die Welt unbeweglich zu halten und dem Bürgertum jenen Prototypen eines Geschichtsverständnisses anzubieten, das ihm erlaubt zu leiden, aber ohne die Bedingungen, denen es ausgesetzt ist, zu verändern.6 Die Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten findet daher im Nationalismus ihr Surrogat für die Entfremdung des Subjekts. Nationalismus und falschverstandene Naturromantik trösten über verfehlte bürgerliche Emanzipation hinweg. Jene fehlgeschlagene Vorstellung, daß der Verlauf der Geschichte die Emanzipation des bürgerlichen Standes herbeiführen könnte, führte zu der irrigen Auffassung, daß einzig aus der Naturgeschichte heraus, aus dem vielfältigen Arsenal von Volksbräuchen, Blutabstammungen und Bodenhaftungen die Identität eines Volkes gelingen kann Auch dies waren mehr als genug Gründe, sich dem Germanentum und seinen archaischen Lebensformen und Weltsichten als ideelle Urform zuzuwenden. Somit ist die Aufwertung der unterprivilegierten Schichten eng mit deren sinnlichen Vorstellungskraft von Gefühl und Empfindung verbunden, wie sie sich in Märchen, Volkssagen und Mythen ursprünglich äußern. Während in der vorromantischen Epoche noch der emanzipatorische Charakter überwiegt, kommt es in der nachnapoleonischen Epoche zu einer sentimentalen Rückbesinnung auf die ursprünglichen Kräfte, die im Gegensatz zu dem Unbehagen über den gegenwärtigen Zustand als das Bessere verstanden werden. So heißt es bei Herder: „Es ist wohl nicht zu zweifeln, daß Poesie und insonderheit Lied am Anfang ganz Volksartig d. i. leicht, einfach, aus Gegenständen und in der Sprache der Menge, so wie der reichen und für alle fühlbaren Natur gewesen“.7 Schubart war der Ansicht, daß zur Volkspoesie sowohl das „echte“ Volkslied, als auch die gelungene Dichtung des Gebildeten gehört, sofern sie das Gütesiegel der Popularität tragen. Erst unter dem Einfluß des Nationalismus verlagerte sich der Begriff der Volkspoesie, der die literarische Grundlage der Volkskunde bildete, auf jene spätromantische Natur-, Bauern- und Schollenverklärung als Gegenbewegung zur Aufklärung. Unter dem Einfluß des völkischen Nationalismus und als Gegenbewegung zur Aufklärung und den Ideen der französischen Revolution, sowie der zunehmenden Verstädterung der Lebenssituationen vieler Menschen begann 135

eine thematische Hinwendung zur Verklärung ländlicher Lebensformen. Und diese Lebensform wird in der Vorstellung des völkischen Nationalismus in erster Linie durch den deutschen Bauer verkörpert. Der Zusammenbruch der bürgerlichen Welt und die Niederlage von 1918 und die daraus resultierenden Ängste vor der Zukunft führten zu einer Transformierung romantischer Ideen in Richtung einer völkisch-nationalistischen Mythologisierung des bäuerlichen Lebens. Die Sehnsucht nach dem Gemeinschaftsleben unverdorbener Bauern auf dem Lande erweist sich daher als „organologische“ Pseudoalternative zum Schreckgespenst der Masse, vor dem sich vor allem das Bürgertum fürchtete, da im Zeichen des Frühkapitalismus auch bürgerliche Schichten Gefahr liefen, in die Verelendung städtischer Massenquartiere zurückzufallen. Wenn überhaupt noch eine menschliche Gemeinschaft für möglich gehalten wurde, dann war sie nur im naturnahem Bauerntum auf dem Lande zu verwirklichen und keinesfalls in den Großstadtwüsten, wo das entwurzelte „Proletariat“ hauste. Bei Gottfried Benn hieß es Jahrzehnte später: „Die Rückführung der Nation aus den Großstädten aufs Land, die Erziehung zu einem neuen Ackergefühl, vielleicht wird das ihr neuer Sinn. Von guter Rasse sein heißt Heimatgefühl haben“.8 Nur im Bauernleben schienen die ursprünglichen heilenden Kräfte zu wirken und nicht wenige dachten, daß auch die Wüsteneien der Großstädte nicht auf Ewigkeit angelegt seien und eines Tages auch das Land wieder seine Rechte und seine Ehre bekommen würde.9 Nur der wahre, ursprüngliche naturnahe Geist setzte sich auf Dauer durch und gebe dem Volkstum seine Würde. Der Geist des einfachen, natürlichen Lebens, welcher organologischem Denken zugrunde lag und worin alles auf die Natur zurückverwiesen wird, diente kultur- und gesellschaftspolitisch betrachtet der Bewahrung herrschender Zustände. Organologisches Denken richtete sich gegen die bestehende politische und soziale Wirklichkeit und legitimierte sie zugleich. Damit entstand eine Grundfigur konservativ-bürgerlichen Denkens. Was sich bei Herder noch als nüchterne Kritik an den Herrschaftsstrukturen der spätfeudalistischen Gesellschaft verstehen ließ, kulminiert in der romantischen Volkskunde in der Sehnsucht nach der integrativen Volksgemeinschaft. Der Mythos von der Volksgemeinschaft verkommt zur Beschwichtigungsideologie um die Massen von den geschichtsbildenden Faktoren der Zeit abzulenken, und dies waren in erster Linie die ungleichen Besitzverhältnisse. Zuvor sinnierte Herder an anderer Stelle, Volk sei etwas, was wir Deutsche, soviel wir auch davon schwatzen und schreiben, weniger haben werden und vielleicht auch nimmer haben werden, denn der Begriff Volk im alten Griechenland, als Bürger gemeint, habe „gemeiniglich“ den Charakter von „Pöbel“ und „Canaille“ angenommen.10 Der Volkskunde war schon immer die Neigung anzumerken, eine heile, vorkapitalistische Welt zu beschwören und damit von den antagonistischen Gesellschaftsverhältnissen abzulenken. Ihr war die Anstrengung anzumerken, infolge historisch- unhistorischer Sehnsucht nach rückwärts, von der 136

Gegenwart überwältigt zu werden und in den mythischen Ursprüngen deutschen Volkstums zu verharren ohne jedoch die sozialen Dimensionen nur unzureichend erkannt zu haben. Ihr Leiden an der Gegenwart, das seinen Ausweg in das Unbewußte und Archetypische nimmt und dem Biologischen einen determinierenden Aspekt zuweist, bleibt jedoch ohne Rückbezug auf die reale gesellschaftliche Entfremdung des Menschen unverstanden. Man begnügte sich damit, durch die postulierte Bindung an Blut und Boden dem Bewußtsein unzufriedener Gesellschaftsschichten ein naturhaftes und scheinbar historisches Verwurzeltsein zu vermitteln. Insofern kam der Volkskunde eine historisierende, museale Rolle in einer von Turbulenzen und sozialen Verwerfungen geschüttelten Gesellschaft zu, die sie als solche nicht erkennen wollte. Ihre Aufgabe bestand unter anderem auch darin, die Entwicklung eines politischen Bewußtseins zu verhindern, beziehungsweise, dieses rückzubilden. Auf sie traf zu, was Max Horkheimer bemerkte, das seiner selbst willen gewisse „individuelle Denken mit den modernen Mitteln der Massenmanipulation zu versöhnen“,11 um sie als ideologische Kraft eines heimlichen Widerstandes gegen die bürgerliche Zivilisation zu nutzen. Durch die Gebrüder Grimm, deren Tätigkeit als Sprachforscher und Mythologen und Sammler volkstümlicher Traditionen, gelangte die Volkskunde zum ersten Mal zu ihrer wesentlichen Bedeutung. Ihre Erklärung aus der Geschichte und Gegenwart eines Volkes spielte, wie bei vielen Vertretern der Romantik, hierbei eine zentrale Rolle. Deren sozialpsychologischen und kulturhistorischen Inhalte erklärten sich aus der Manifestation seines Überbaues, der Poesie In diesem Zusammenhang bemerkte Ludwig Uhland, daß „das Volk ohne Beziehung seiner Poesie nur unvollständig erkannt wird“.12 Hierbei konnte sie sich auf die Volkspoesie der Märchen und Mythen berufen, die aus der Historie entfaltet wurden und welche die Gebrüder Grimm in der Verschränkung der Begriffe Volk, Natur, Geschichte, Poesie und Leben gesehen haben. Wilhelm Grimm war der Ansicht, daß „Poesie und Historie ungetrennt von einem Gemüt aufbewahrt und von einem begeisterten Munde verkündet wurden. Beide vereinigen sich darin, das Leben mit all seinen Äußerungen aufzufassen und darzustellen“.13 Poesie, Märchen und Mythen wurden immer in Beziehung zum Leben verstanden, denn aus ihm sind sie aufgestiegen und zu ihm kehren sie zurück, „wie die Wolken zu ihrer Geburtsstätte, nachdem sie die Erde getränkt haben“.14 Aus diesen Worten wird deutlich, daß das erkenntnisleitende Interesse der Volkskunde, die sich auf die Romantik der Märchen und Mythenwelten bezog, stets immer auf das Ursprungliche, Elementare gerichtet war. Somit versteht sich im volkskundlichen Denken die Kategorie „Ursprung“ zugleich historisch, sozial und psychisch.15 Nur das Ursprüngliche und Frühe, das, was vor der zivilisatorischen Überformung der Neuzeit ungebrochen schien, wird als wertvoll angesehen. Das, was danach kam, bedeutete Abstieg, Verfall, Verderbnis und Verlust. Damit gewinnt die Kategorie des Ursprünglichen 137

eindeutige, aber auch bildungsfeindliche Konturen. Freilich bleiben die Sehnsüchte der Gebrüder Grimm, sofern sie sich auf die Märchenwelten beziehen, in einem unwirklichen Raum der Zeitlosigkeit und Unbestimmtheit, gewissermaßen bilden sie etwas „Schwebend Unhistorisches“ aus. Sie richten sich zwar auf Vergangenes, sind jedoch nirgendwo historisch zu fixieren. Ihre archetypischen Welten scheinen immer und überall zu existieren, ohne wirklichen Bezug zu den tatsächlichen Gegebenheiten der Realität. Ihr Topos richtet sich auf eine „gute alte Zeit“, die eine beträchtliche Ausweitung bis hin zur Volkskunde mit ihren naturromantischen und völkischen Attitüden erfährt. Die Gegenwart wird unter diesen Relikten subsummiert und wendet sich in andachtsvoller Verehrung dem verlorengegangenen Paradiese zu. In Anbetracht der Auffassung der Gebrüder Grimm, daß die Volkspoesie in Gestalt ihrer Märchen und Mythen dem kollektiven Unbewußten entstammen und somit das sogenannte „Naturgefühl“ des Volkes widerspiegelten, wird verständlich, daß auch die Volkskunde diesen archaischen Bereichen nicht ablehnend gegenüber stand und sie ins Zentrum ihrer kulturhistorischen Betrachtungen stellte. Auch in moralischer Hinsicht stellten sich die Dinge eindeutig dar. Nur die Volkspoesie bewahrte die Keuschheit, Sittlichkeit und die Unschuld der einfachen Leute. Daß auch in den unteren Schichten so manche Obszönität stattfand, wurde von den Vertretern der Volkspoesie offensichtlich übersehen.16 Auch bleibt die Antwort auf die Frage offen, in welchem sozialen Kontext und zu welcher historischen Zeit diese paradiesischen Zustände angesiedelt gewesen sind. So bleibt nur die Vermutung, daß Jacob Grimm hierbei eine vorfeudale, organische und herrschaftsfreie Ständegesellschaft aus germanischer Frühzeit im Blick hatte. Und so sehr es sich hierbei um eine Fiktion handelte, so wird doch die Sehnsucht nach Veränderung, wenngleich auch in der Regression deutlich. Eine solchermaßen regressive Utopie, welche die sozialen Probleme ausklammerte, veranlaßte Karl Marx zu bemerken: „Gutmütige Enthusiasten [...] Deutschtümler von Blut und Freisinnige von Reflexionen, suchen unsere Geschichte der Freiheit jenseits unserer Geschichte in den teutonischen Urwäldern. Wodurch unterscheidet sich aber unsere Freiheitsgeschichte von der Freiheitsgeschichte des Ebers, wenn sie nur in den Wäldern zu finden ist?“17 Waren es ursprünglich noch romantische Elemente, welche den Trend der Volkskunde bestimmten, so setzten sich im Zuge des aufkommenden Nationalismus immer deutlicher völkische Ansichten durch, die auf altvordere germanische Lebenswelten zurückgriffen. Hierdurch wurde der universalistische Anspruch eines romantischen Kulturverständnisses, welcher der frühen Romantik noch innewohnte, durchbrochen und statt dessen eine partikulare Kultur völkisch nationalistischer Besonderheiten die andere ausschloß, in Szene gesetzt. Der Bauer der Romantik war noch der Mittler zwischen Naturverständnis und Aufbruch in eine Welt der Freiheit und Phantasie. Seine Lebensformen befanden sich gewissermaßen in Einklang mit 138

dem romantischen Naturverständnis. Im Zeichen des Nationalismus wurde er zur typischen deutschen Figur, Sinnbild und völkisches Vorbild des Lebensgefühls. Das ländliche Leben gehörte zur Romantik, wie deren Enthusiasmus und Traumwelten. In der ländlichen Idylle sah man die Fluchschneisen angelegt, in die sich die Naturromantiker zurückziehen durften. Unter der Ägide des völkischen Nationalismus hingegen entstand der Mythos vom Bauer als tragende Figur der deutschen Geschichte. Vor allem wurde dieser Mythos unablässig durch die Germanistik bemüht, die sich als eine Art folkloristischer Historienforschung verstand. Im Bauerntum, so behauptete man, lebten noch jene unverfälschten „blutreinen“ und „bodenständigen“ Eigenschaften, welche das Germanentum seit ihren Ursprüngen vor allen anderen Rassen ausgezeichnet hatte. War der Rekurs auf bäuerlichgermanische Urgründe zunächst eine Art Fluchtbewegung und ein Ausweichen vor den Problemen, die mit der Industrialisierung zusammenhingen und die das bürgerliche Unbehagen an den gesellschaftlichen Verhältnissen spiegelte, so standen vor allem Jahrzehnte später unter den Nationalsozialisten die Vorstellungen bäuerlicher Lebensformen im Vordergrund kulturpolitischer und gesellschaftspolitischer Ideologie, die allerdings nicht so ernsthaft gemeint war, wie sie die Propaganda vorgab. Gleichwohl bestand ihr vornehmlicher Zweck darin, einen arisch-germanischen Ahnenmythos mit der rassischen Ideologie von „Volk ohne Raum“ vermitteln zu können, welcher dem Resonanzboden künftiger militärischer Eroberungsplänen deren kulturhistorische Legitimation zuwies. Unter dem Einfluß der Nationalsozialisten fand gewissermaßen eine Wiederbelebung der Volkskunde im Sinne einer zweiten Mythologie statt. Damit sie wirksam werden konnte, mußte sie sich auf einem Mittelweg zwischen vager Erzählkunst und praktischer Konkretisierung bewegen. In zahlreichen germanischen Symbolen des SS-Staates kam dies zum Ausdruck. Die historischen Realitäten dienten dazu, das System mit Bildern und Signalen anzureichern; sie aber dann im einzelnen zu verifizieren, gelangte selbst der aufwendig betriebenen SS-Ahnenforschung nicht und es lag auch nicht in ihrem Interesse, dafür zu sorgen. Der Rekurs auf Vergangenem diente einzig dem Zweck, die faschistische Herrschaft ideologisch abzusichern, so wie die ursprüngliche Volkskunde einst den preußischen Obrigkeitsstaat abgesichert hatte. Den Nationalsozialisten wäre es allerdings kaum gelungen, den literarischen Markt mit den einschlägigen Bauernromanen, Blut- und Boden Traktaten und Germanenmythen zu überschwemmen und diese Ideologie gesellschaftsfähig zu machen, wenn nicht schon zuvor eine Prädisposition dieser Weltanschauung im deutschen Geistesleben bestanden hätte. Hier war vor allem durch die Schriften von Herder und Klopstock beträchtliches vorbereitet worden, auf die sich die Regressionsreformer des 19. Jahrhunderts beriefen. Überwiegend besaßen die idealistischen Vorstellungen des Nordens und seines sogenannten Menschentypus einen entscheidenden Einfluß auf die Germanistik, die sich als germanische Alterswissenschaft verstand. Daß die 139

Ideologie der Befürworter nordischer Lebensweisen betont antieuropäisch und gegen die Schönheiten und Erkenntnissen von Kunst und Wissenschaften ausgerichtet waren und zudem in apologetischer Schwärmerei ausartete, ließ sich nicht von der Hand weisen. Auch war ihr chauvinistischer Grundzug unverkennbar, der die männlichen, „germanischen“ Tugenden stets in den Vordergrund stellte. Von einem solchermaßen verklärten und in Wirklichkeit unrealistischen Norden und seinen Menschen schrieb beispielsweise Herder: „Freilich verachten sie Künste und Wissenschaften, Üppigkeit und Feinheit – die die Menschen verheert hatten; aber wenn sie statt der Künste Natur, statt der Wissenschaften gesunden nordischen Verstand, statt der feinen starke und gute, obgleich wilde Sitten brachten und das alles nun zusammengärte – welch ein Ereignis. Ihre Gesetze, wie atmen sie männlichen Mut, Gefühle der Ehre, Zutrauen auf Verstand, Redlichkeit und Götterverehrung! Ihre Feudaleinrichtung, wie untergrub sie das Gefühl volkreicher, üppiger Städte, baute das Land, beschäftigte Hände und Menschen, machte gesunde und eben damit auch vergnügte Leute. Ihr späteres Ideal über die Bedürfnisse hinaus – es ging auf Keuschheit und Ehre, veredelte den besten Teil der menschlichen Neigungen [...]“.18 Neben den antisemitischen und rassischen Beiklängen, lagen die sozialpsychologischen Ursachen dieser Hinwendung zum Ländlichen in der weitverbreiteten Angst vor den Problemen, die mit der Industrialisierung entstanden waren. Es war eine Art sozialpsychologischer Regression eines ganzen Kollektivs vor der übermächtig erscheinenden Komplexität der aufbrechenden Moderne, mit all ihren multikulturellen Implikationen und unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Wertauffassungen. Unfähig mit jener Leichtigkeit des Seins oder mit der sprichwörtlichen angelsächsischen Gelassenheit den Anforderungen der Zeit zu begegnen, versank man in teutonischer Schwerblütigkeit und trügerischer Schollengewißheit. Als Antwort auf diese scheinbar unlösbaren sozialen Konflikte versuchte man daher in die angeblich intakten Idylle des bäuerlichen Landlebens auszuweichen, von dem man suggerierte, daß der Mensch sich noch in einem Urzustand befand, den Elementen und der Natur ausgesetzt, aber frei, wobei das Leben noch im Rhythmus der Naturgesetze stabil und berechenbar blieb und die Traditionen der Vorfahren noch Geltung besaßen. Somit war die Flut tendenziöser bäuerlicher Blut- und Bodenliteratur, die den Büchermarkt überschwemmten, eine Art Fluchtbewegung als Folge des bürgerlichen Unbehagens an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Hierbei war eine gewisse Idealisierung aus Ressentiments und Zivilisationsfeindlichkeit zu erkennen: die angebliche Harmonisierung der Zeit und der Geschichte durch Verweis auf den ländlichen, bäuerlichen Jahresablauf und die archaische Bindung an die Scholle, als mütterlicher Urgrund der Rasse und Vorfahren. Der Bauer in der Lesart völkisch-germanischer Literatur bestellte nicht nur im Schweiße seines Angesichtes den Boden, sondern mit ihm ziehen gleichsam seine Ahnen den Pflug. So heißt es in einem Gedicht des katholischen Schriftstellers Jakob 140

Kneip aus dem Jahre 1934: „ Hinterm Pflug, in gleichem Schritt, / Hoch am Himmel schreitest du / Von Jahrhundert zu Jahrhundert. / Und der dunkle Zug der Ahnen / Schreitet in der Furche mit: Von Jahrhundert zu Jahrhundert [...].“19 Im Mittelpunkt bäuerlicher Tätigkeit standen indessen nicht die äußeren, harten Lebensbedingungen. Von Bodenpreisen und wirtschaftlichen Spekulationen war nicht die Rede. Der Bauer wurde vielmehr als mythologisierte Figur verklärt, als Säer, Pflüger und Schnitter, sowie Herr über Hof und Land in der Verantwortung für das Erbe seiner Vorfahren und Wegbereiter des Wohlergehens seines Volkes. Im Kontext nationalsozialistischer Ideologie sollte er zusätzlich noch die Rolle des Sachverwalters und Gebieter über die bäuerlichen Wehrdörfer in den eroberten Ostgebiete übernehmen, die unter dem Programm vom „Volk ohne Raum“ wichtige militärpolitische Zielsetzungen erhielten. Jakob Kneip sah, frei von diesen militärischen Absichten, die bäuerliche Arbeit noch als eine besondere Form einer Naturfrömmigkeit, die er zu einem kultischen Gottesdienst unter freiem Himmel, unmittelbar dem Auge Gottes ausgesetzt, stilisierte. Ausschlaggebend für die Bildung des pseudoreligiösen Blut- und Bodenmythos, der in Hauptsache von den Nationalsozialisten betrieben wurde, war die Konzeption vom ewigen Bauerntum, einer Auffassung, die einem Staatsgebilde oder einer Nation nur solange Überlebenschancen einräumt, wenn deren hauptsächlicher Bestand durch eine „erbgesunde Bauernschaft“ gesichert erscheint. Aus einem in Wirklichkeit kargen Leben wurde somit eine „so tun als ob“ verschleierte Naturgläubigkeit als Volkskultur produziert. Jahrzehnte zuvor finden sich in dem Roman Porta Nigra des besagten Jakob Kneip, worin die schlichte profane bäuerliche Tätigkeit zu einer gottesdienstähnlichen, vertrackten Naturfrömmelei erhoben wird, folgende Zeilen: „Da wogt auch aus Hirschwiesen, hinterm Walde, die erste Morgenglocke zu ihm her; und von all dem Glanz und Klang schier überwältigt, tritt Martin, zur Andacht gesammelt, an den Acker, stellt den Gaul an die Furche und ergreift den Pflug, der nun vor ihm im Acker steht und seiner wartet. Schauer überkommen ihn in dem Augenblick, wie seine Hand es berührt: das uralt-heilige Werkzeug, damit sich der Mensch die Erde zur Dienerin, zur blühenden Spenderin, zur fruchtreichen Ernährerin macht, bis er selber zu ihr hinabsinkt und selber wird – ein Teil von ihr. Und er nimmt eine Handvoll Erde, von der wir genommen sind und zu der wir alle wiederkehren –, hält sie prüfend und nachdenklich gegen die Sonne und streut sie opfernd der Leuchtenden entgegen, die, über dem Kopf des Pferdes stehend, Pflug und Pflüger mit Licht übergießt. Und opfernd spricht er zur großen Sonne:› Schenke Leben, senke Fruchtbarkeit in diesen Grund; heb heraus aus der Furche, was zu dir drängt, daß es dich deines warmen Lichtes erfreue, du Mutter alles Lebendigen‹“20 Wenngleich Jacob Kneip den Ideologien der Nationalsozialisten ablehnend gegenüberstand, sogar von ihnen diskriminiert wurde, so bot seine Lyrik durchaus Versatzstücke an, die sich leicht in die 141

nationalsozialistische Propaganda vom bäuerlichen Landleben als Dienst für die Volksgemeinschaft integrieren ließen. Der sorgsam gepflegte Bauernmythos verkitschte nicht nur die alltäglichen Plackereien landwirtschaftlicher Tätigkeiten, sondern hing auch eng mit einer irrationalistischen Deutung des Menschen zusammen. Der Mensch ist ursächlich nicht Ergebnis seiner sozialen Biographie, vielmehr bezieht er sein Selbstbewußtsein aus dem Umstand seiner boden- und blutmäßigen Abstammung. Formen des Grundbesitzes, Bedingungen unter denen die schweißtreibende Tätigkeit auf Hof und Acker vonstatten gehen werden, indem sie nicht hinterfragt werden, in diesem Blutund Bodenmythos absolut gesetzt und bilden die metaphysischen Voraussetzungen des Bauerntums. Die bäuerliche Wirklichkeit sah freilich anders aus, und so tragen diese Traktate das Stigma des Irrealen und Kitschigen. Aber es gab auch das Kontrastprogramm zu dem Bild des aufrechten Landmannes, dem nichts mehr am Herzen zu liegen scheint, als das Wohl seiner Äcker und seines Hofes. In Form sogenannter „welscher“ Versuchung treten auch an ihn gelegentlich die Verlockungen selbstzerstörender Leidenschaften heran, die ansonsten nur den Städter heimsuchen. Die Volksschullehrerin Berens-Totenohl schildert solches – nicht ohne voyeuristischen Beigeschmack – in ihrem Roman Der Femhof. Der junge Bauer Wulf wird in jungen Jahren des öfteren von einer wild leidenschaftlichen Zigeunerin heimgesucht und läßt sie Nacht für Nacht in seine Kammer kommen, wo es schamlos-brünstig zugeht, wie die Autorin versichert: „Hei, wie es in ihm loderte, wenn drunten unterm Fenster im Nachtdunkel die schwarze Hexe kauerte und hinaufgirrte zu ihm! Wenn er die Fensterflügel aufriß und sie zu sich zog! Wenn er ihr in das wilde Gelock griff, und dem wilden Herzschlag des Weibes den eigenen wilderen entgegenjagte, wenn sein Blut in den rasenden Wirbel ihrer Feuer hineinstürzte und sich mit ihr im Rausch verlor! Nächtelang, wochenlang! Dann schrien die Eulen draußen ihr ›Huhuhhh!‹ umsonst, die Wasser brausten vergebens ihren Warngesang, ihren Sang von Flut und Not und Verhängnis“.21 Schließlich siegt das „Gesunde“. Wulf löst sich aus diesem Rausch und jagt die Zigeunerin vom Hof. Falls einmal die sexuelle Begierde den bäuerlichen germanischen Menschen erfaßt, dann hat er sich ihrer zu erwehren, denn im Blut-Bodenmythos der völkisch germanischen Dichtung gilt die sexuelle Leidenschaft als artfremd. Sexualität gilt nur der Fortpflanzung der eigenen Art und somit der Erhaltung der Sippe. Nicht nur bei Schriftstellern wie Berens-Totenohl brodelte es dumpf und metaphysisch. Wenn es auch bspw. bei Hermann Stehr, einem Schriftsteller von erheblich größerer Qualität als im Falle der Vorgenannten weniger um sexuelle Ausschweifungen und den Verführungen böser Fleischeslust ging, so ist die Welt seiner Protagonisten von geheimnisvollen Vorgängen umgeben, die tief unter dem wachen Bewußtsein ihre archetypische Aura entfalten: „Die Erde ist Gottes. Der Mensch kann ihr nichts anhaben. Sie schluckt seine Dörfer ein, verwischt die Quadern seiner Städte wie Kreideschrift. Staaten huschen gleich 142

geräuschvollen Einbildungen über sie hin, ohne Spuren zu hinterlassen. In ihren Urwäldern graben wir Götterbilder unter den Wurzeln tausendjähriger Bäume aus, deren Ursprung und Sinn niemand weiß“. Stehr zeichnet das archetypische Bild vom ewigen Bauern, der versponnen, gottsuchend und tief ins Metaphysische verstrickt, seiner Tätigkeit nachgeht. Beim Gang über seinen Acker frommen Gedanken anhängt, gepeinigt von Zweifeln und heiliger Unrast, wie der Bauer auf dem Sintlinger Hof in seinem Roman Der Heiligenhof aus dem Jahre 1918: „Ein Weib weiß nichts von den grauen Tieren der Luft, mit denen ein Mann ringen muß, wenn er auf dem Wege bleiben will, auf den ihn ein hohes Erwarten gestellt hat. Wonach er in Unrast immer langen muß, das trägt sie als unerworbene Sicherheit in der Seele“.22 Daß auch bürgerliche Autoren von dem Ideal bäuerlicher Stärke und Trotz, Bedachtsamkeit, bäuerlicher Schwere und von der Metaphysik der Schollenverbundenheit infiziert waren, zeigen die Verse von Ina Seidel, die ebenso dieser epidemisch um sich greifenden Weltanschauung des Deutschen und Unklaren, des unkritischen Absinkens in die Metaphysik des Blut- und Bodenmythos verfallen war, wie die originären Blut- und Bodenliteraten des völkischen Nationalismus: „Des Menschen Nacken, der gebeugt sich strafft, / Bei Stoß und Druck der Muskeln rhythmisch Spiel. / Sein Händepaar, eins mit dem Spatenstiel, / Sein Fuß, vernietet mit des Eisens Kraft, / Wind, der des Grabenden Gelock aufstört. / Und in sein loses Hemd fährt, das sich bauscht. – Der Schollen Knirschen, unbewußt gehört. / So wie der schwere Atem eigner Brust, / So wie die Lerche träufelnder Gesang – Verschmolzen in Bewegung, Drang und Lust / Mensch, Werkzeug, Acker, – Wolke, Wind und Klang“.23 Bevorzugter Gegenstand der Volkstumsliteratur im frühen 20. Jahrhundert war der deutsche Bauer, der als Prototyp des deutschen Menschen, oder genauer gesagt, des deutschen Mannes galt. Dieser ist im Gegensatz zu Menschen anderer Nationen begnadet und zugleich belastet mit dem historischen Schicksal seiner Vorfahren. Ihm ist kein Land gegeben, es ist ihm von Gott nicht geschenkt, sondern nur verheißen, wie es in einem Gedicht von Johannes Linke heißt. Und somit gehört zum Mythos des harten, kämpferischen deutschen Menschen und Bauern schicksalhaft auch der Mythos vom „Volk ohne Raum“. Erfolgreicher als alle nationalsozialistischen Kulturprogramme waren die Betrachtungen des Schriftstellers Hans Grimm, der 1926 in seinem Roman Volk ohne Raum die Lebensgeschichte des Cornelius Friebott, eines Bauernsohnes aus dem Weserbergland beschreibt, dem die beengten Verhältnisse der heimischen Scholle zwingen, in die Stadt zu gehen, schließlich in die weite Welt bis nach Südafrika, wobei Grimms eigene Erfahrungen als Kaufmann in Kapstadt eingeflossen sind. Grimms Roman ist eine Mischung aus den Ideen imperialer Kolonialpolitik und dem typischen deutschen Minderwertigkeitskomplex, ein Volk ohne Raum zu sein, eine Nation, der es durch ein historisches Schicksal verwehrt bleibt zu expandieren und seine 143

„vorbildliche Wesensart“ der ganzen Welt zum Heile darzubieten. So heißt es unter anderem: „Vor diesem Buche müssen Glocken läuten...Und wenn die metallenen Stimmen dröhnen und schüttern oder auch nur beraubt und eintönig gellen und plärren zwischen Maas und Memel und zwischen Königsau und Etsch und im südlichen Afrika, dann sollen freilich alle Mann in Deutschland die Arme heben...der deutsche Mensch braucht Raum um sich und Sonne über sich und Freiheit in sich, um gut und schön zu werden. Soll er bald zwei Jahrtausende umsonst darauf gehofft haben?“24 Grimms Konzept ist so einfach, wie ebenso der vermeintlichen Schmach der Weimarer Zeit angemessen. Gebt den Deutschen Kolonien, so fordert er, wozu ihre Sonderstellung sie berechtigt. In den Ohren der völkischen Nationalisten und erst recht der Nationalsozialisten waren dies bevorzugte Anliegen, die nach politischen Programmen verlangten. Um die Sonderstellung des deutschen Menschen zu betonen, sein faustisches Wesen zu unterstreichen, wurde Geschichte zum Mythos transformiert. Wenn trotz aller Bemühungen nicht alles an Großem in der Weltgeschichte als deutsch ausgegeben werden konnte, so wurde es als germanisch in Anspruch genommen. Für diese vermeintliche Sonderstellung der Deutschen erbrachten vor allem die Volkstumsdichter die Beweise aus der Geschichte, und deutsche Geschichte wurde als germanische Geschichte verstanden, als ein schicksalhafter Werdegang eines Volkes, dessen Gang durch die Historie infolge der Niederlage der Sachsen durch den Frankenkaiser Karl des Großen zu ihrem Ende kam und das germanisch-deutsche Reich zerbrach. Und so konnte es nicht ausbleiben, daß sich die Vertreter neogermanischer Träume nach dem ursprünglich Germanischen zurücksehnten. Hermann der Cherusker und Widukind wurden unter dem Zeichen eines völkischen Nationalbewußtseins zum literarischen Unterrichtsstoff deutschgermanischer Bildungsideale ins Zentrum schulischer Bildung gestellt.

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Kapitel 7.1 Volkskunde als pädagogische Quellenwissenschaft und Gemeinschaftsideologie Instrumente einer affirmativen Kultur der Unterdrückung. Aufbruch zu neuen Ufern. Riehls soziologische Feldforschung. Ländliche Lebensentwürfe und die Antwort auf die Moderne. Verschleierung gesellschaftlicher Ungleichheiten. Ideologie des einfachen Lebens. Riehls Naturgesetz: Bescheidenheit und Frömmigkeit. Familie als Reproduktionsstätte privatkapitalistischer Verhältnisse. Kollektiver Mutterboden. Das Volk ist Alles und Alles ist das Volk. Die bäuerlich-folkloristische Volkskunde war kein ausschließliches Programm völkisch- nationalistischer Bestrebungen im späten 19. Jahrhundert oder gar der nationalsozialistischen Gruppierungen während der Weimarer Republik. Ihre Wurzeln reichten bis in die Mitte des 19. Jahrhundert zurück, wo das wissenschaftliche Interesse an den Strukturen und Besonderheiten menschlicher Gemeinschaften sich zunehmend entwickelte. Insofern darf die Volkskunde in methodologischer Hinsicht als Vorläuferin der modernen Soziologie1 angesehen werden. Ihr erkenntnisleitender Wert bestand darin, sich den Lebensverhältnissen der einfachen Leute zuzuwenden, jedoch ohne sie einer kritischen Analyse zu unterziehen. Bereits im Jahre 1858 hielt der Wiesbadener Journalist und Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl, ein Zeitgenosse von Marx und Engels einen programmatischen Vortrag mit dem Thema: Die Volkskunde als Wissenschaft.2 Hierbei ging es darum, der Volkskunde im „Vorhof der Staatswissenschaften“ einen wissenschaftlichen Status zu verleihen. Von diesem Zeitpunkt an wurde der Begriff der Volkskunde als Wissenschaftsbegriff gewissermaßen hoffähig. Riehls wissenschaftliches Interesse galt der „Gesittung“ des deutschen Volkes, wozu die Volkskunde als beobachtende Wissenschaft sich den Bräuchen, Besonderheiten wie Wandertheatern, den Milieus der Gaukler und Spitzbuben und den Lebenswelten der sogenannten kleinen Leute zuwandte. Riehls Methode war die der teilnehmenden Beobachtung, in dem er sich so nah wie möglich an den Lebenswelten dieser Milieus aufhielt, eine Art Feldforschung in spezifischen Milieus. Seine besondere Aufmerksamkeit galt daher den ländlichen Lebensformen, die er den zersetzenden Tendenzen städtischer Industrialisierung entgegensetzte. Die Industrialisierung mit ihrer Verstädterung ursprünglich naturnaher Erlebniswelten sah er als eine familienzerstörende Entwicklung an und den Nährboden für den „sozialistischen Geist der Gleichmacherei“. Riehls Vorliebe, das Bestehende und konkret Vorhandene für das einzig richtige zu halten, welches er freilich als unveränderbar ansah, verhinderte eine Reflexion über die Ursachen sozialer Ungerechtigkeiten und gesellschaftlicher Unterschiede, die über das 145

Bestehende hinaus eine zukunftsorientierte Perspektive entwerfen könnte. Hierdurch verhinderte sein Denken im Bestehenden eine Theorie des sozialen Wandels, welcher Gesellschaft als eine dynamische Form des Fortschrittes in jeglicher Hinsicht auffaßt. Insofern läßt sich Riehls Volkskunde als eine reaktionäre Lehre im Kontext des völkisch-nationalen Spektrums bezeichnen. Riehls Volkskunde war in ihrem restaurativen Gehalt für den späteren Faschismus von Bedeutung, da dessen propagandistisches und politisches Anliegen darin besteht, über alle sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten hinwegzutäuschen und den sogenannten Volkskörper als ein homogenes organisches Gebilde auszugeben. Dem Faschismus geht es in dieser Hinsicht darum, gesellschaftliche und politische Bedingungen in biologische Grundkonstanten aufzulösen und hierin traf er sich mit dem Gesellschaftsverständnis der Volkskunde. Seine Effektivität als totalitäres Herrschaftsinstrument bezieht der Faschismus vor allem aus der systematischen Verschleierung individueller und sozialer Unterschiede, um somit die Massen an sich zu binden. Daher bedurfte es nur einer Auffrischung volkskundlichen Theorien durch den Faschismus im 20. Jahrhundert. Denn wie die Volkskunde selber, leugnet die faschistische Ideologie – und in deren Gefolge der Nationalsozialismus – soziale Differenzierungen und wertet das Individuelle zugunsten einer ganzheitlichen Vorstellung des imaginären „Wir“ ab, dessen Wurzeln in Rasse und Volk behauptet werden. Da sich das Individuelle nicht gänzlich leugnen läßt, erlangt es nur dann eine gewisse Bedeutung, wenn es sich als höchste Ausdrucksmöglichkeit eines Volkskörpers zu erkennen gibt. Gleichwohl wurde der Persönlichkeit des Menschen und seiner Individualität jeder personale schöpferische Wille abgesprochen, dem es nicht gelänge, „aus der durchgehenden Einheit von Blut, Gefühl und Geist zu leben“. Und dies war nach Auffassung der Volkskunde nur einer „diffusen Volksgemeinschaft“ mit ihrer blutsmäßigen „Instinktsicherheit“ vorbehalten.3 Diese Ideologie inhaltlich abzustützen, war einer der vornehmsten Aufgaben der „wissenschaftlichen Volkskunde“, die nicht nur in Fachkreisen Beachtung fand, sondern in ihren populärwissenschaftlichen Beiträgen Einzug in die breiten Schichten des Bürgertums im späten 19. Jahrhundert und während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hielt. So wie die Volkskunde sich darum bemühte, außerhalb des Kapitalismus zu stehen, versuchte sie sich eben so vom Faschismus fernzuhalten. Jedoch indem sie sich ihm zu entziehen suchte, so sehr verfiel sie ihm; abgesehen davon, daß sie als sogenannte „wertfreie“ Wissenschaft dem Faschismus die Legitimation zu dessen gefährlichen propagandistischen Inhalten verschaffte und somit zu ihrer Adaption durch totalitäre Systeme förmlich einlud. Indem sie einen fragwürdigen Wissenschaftsbegriff formulierte, der jenseits aller ideologischen Absichten seine erkenntnisleitende Funktion behauptete, legitimierte sie sich selber als eine anthropologische und geschichtsphilosophische Grundlagendisziplin, die sie geradezu für politische und weltanschauliche Ideologien gleichermaßen anfällig wie interessant 146

machte. Wenngleich der Entstehungszeitraum der Volkskunde unter dem Einfluß Heinrich Wilhelm Riehl in der Epoche des preußischen Obrigkeitsstaates und der adelsständischen deutschen Kleinstaaten fiel, die nicht als faschistisch zu bezeichnen sind, so lieferte seine Lehre dennoch systemerhaltende Argumente, welche die standesmäßen Ungerechtigkeiten fortschrieben. Der „innere Motor“, welcher dem organischen Gebilde des Volksganzen die notwendige Produktions- und Schöpferkraft verlieh, fand im romantischen Mythos von der „Volksseele“ seinen Ausdruck. Nicht die politischen Rahmenbedingungen des preußischen Obrigkeitsstaates und die Produktionsbedingungen im Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit determinieren die sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten einer Gesellschaft, sondern die mythische, archaische Beschaffenheit der „Volksseele“, die aus ihrer Verbundenheit mit Blut und Boden ihren historischen Auftrag bezieht. Dem Druck technologischer Sachzwänge und der hierdurch verursachten Unmündigkeit durch die frühkapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse, die zu jener Entfremdung des Individuums in der Moderne führten und die Herbert Marcuse in seinem Buch Der eindimensionale Mensch4diskutiert hat, wurden im Fokus einer märchenhaft anmutenden Volkskunde keinerlei Beachtung geschenkt. Riehl sah sehr wohl, daß der Arbeiter der frühkapitalistischen Produktionsbedingungen kein Bürger, aber auch kein Bauer ist, denn seine Produkte die er herstellt sind seiner geistigen Mitwirkung entzogen, die seinen „persönlichen Geist widerspiegeln könnten. „Die Fabrik bringt massenhaft gleichförmige Arbeitsstücke“, auf deren Funktion, Aussehen und Zustandekommen der Arbeiter keinen Einfluß besitzt, geschweige denn, daß er an der Wertschöpfung dieser Produkte angemessen beteiligt wird. Als Trost bleibt ihm daher nur die Arbeit an sich.5 Die Entfremdungsmechanismen und die Ausbeutungsverhältnisse der arbeitsteiligen Warenproduktion scheinen Riehl nicht unbekannt zu sei, denn diese sind auch für ihn kaum zu übersehen, angesichts des Elends breiter Bevölkerungsschichten. Was jedoch kritisch begann, endet in einem unbewußten Zynismus, wenn er folgert, daß dem Arbeiter nur bleibt, „neidlos, entsagungsvoll und um Gotteswillen“ zu arbeiten und sich einer mittelständischen Leistungsideologie zu unterwerfen. Armut schändet indes nicht, so Riehl, und daß es Arme und Reiche gibt, ist nicht das Ergebnis gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern ein Naturgesetz.6 In einer Zeit, in der arbeitsteilige und schließlich kapitalistische Produktionsverhältnisse bestehen und in deren Folge die Entfremdung des Menschen voranschritt, bot die Volkskunde mit ihren folkloristischen Elementen eine Ersatzkultur, die mehrere Aufgaben zu erfüllen hatte. Indem sie sich als germanische oder nationale Kultur begriff, entfernte sie sich von den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie täuschte eine Welt vor, deren Inhalte und folkloristischen Angebote zwar vom Individuum „von innen 147

her“ rezepiert werden konnte, ohne aber jede Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse herbeizuführen. In dieser Welt durfte der Mensch im Zeitalter des Obrigkeitsstaates emotional heimisch werden, ohne an ihr in direkter Weise beteiligt zu werden. Volkskultur unter den vorgenannten Aspekten bot sich infolgedessen als geeignetes repressives Instrument der Unterdrückung des Bürgertums und vornehmlich der unteren und mittleren Klasen im wilhelminischen Kaiserreich an. Die Rezeption der sogenannten Volkskultur durch die Massen wurde somit zu einem Akt der Feierstunde und nationalen Erhebung. Volkskultur wurde somit zur Staatskultur. Zum einen kompensierte sie durch ihre naturale bäuerliche Gefühlswelt den Verlust der ursprünglich heilen bürgerlichen Welt, zum anderen vermittelte sie als Ersatzkultur eine schöne Scheinwelt, ausgestattet mit Bräuchen, Trachten und Tänzen und dem Absingen von Volksliedern, eine „Fülle ästhetisch-theatralischer Eigenschaften, womit ein gesteigertes Repräsentationsbedürfnis der Menschen befriedigt“ wurde.7 Zudem festigt die Volkskunde mit ihren folkloristischen Darbietungen die jeweilige Gruppe, der suggeriert wird, „sie komme in den Genuß sozialer und personaler Selbstverwirklichung, die ihr in Arbeit und Freizeit sonst verweigert werden“.8 Ohne daß die Betroffenen wirklich an den Verteilungsmechanismen in der kapitalistischen Gesellschaft beteiligt werden, sehen sie sich dennoch als unverzichtbarer Bestandteil des völkischen Gemeinschaftsideals. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich faschistische Systeme dieser Vorteile bedienen, um die sozial ordnende und entlastende Funktion von Sitte, Brauch und Lied für die Durchsetzung ihrer Herrschaft und Verschleierung sozialer Ungerechtigkeiten zu nutzen. Die Machthaber des Dritten Reiches haben sich diesen Umstand zunutze gemacht, indem sie die verschiedensten Berufs- und Interessensgruppen in straff geführte nationalsozialistische Verbände einzubinden wußten. Aber nicht nur dort verstanden es die Machthaber sich ihrer zu bedienen, sondern in der Endphase des 2. Weltkrieges als Goebbels den „totalen Krieg“ ausrief, bezog er sich ausdrücklich auf die völkisch-nationalen Bindungskräfte der Volkskunde mit ihrem Begriff von der „Volksgemeinschaft“, indem er zur Mobilmachung der Bevölkerung die Formulierung: „Nun Volk steh auf, und Sturm brich los“,9 benutzte. Der Volkskunde im Sinne Riehls ist es mit ihrem Rekurs auf Vergangenes, welches als eine „gute alte Zeit“ beschrieben wurde und mit jener nostalgischen Liebe zu den Ursprüngen organisch gewachsener Volkskultur, ähnlich ergangen, wie Heinrich Heine für die Romantik feststellte, die aus den Wunderelixieren mittelalterlicher Volksweisheiten ihre Lebenskraft schöpfen wollte: „statt aber nur einige Tropfen zu trinken, tat sie einen so großen langen Schluck, daß sie durch die höchstgesteigerte Wunderkraft des verjüngenden Tranks nicht bloß wieder jung, sondern gar zu einem ganz kleinen Kinde wurde“.10 Jedoch der Umstand, daß das unkritische Traditions- und Kontinuitätsbedürfnis, welches sich ebenso auf den späteren Germanenkult beziehen läßt, zu einer unkontrollierten und schließlich deprimierenden 148

Regression wurde, erklärt sich aus den Abwehrtendenzen gegen den aufkommenden kapitalistischen Industrialisierungsprozeß und der damit verbundenen Angst vor Entfremdung und Verlust ursprünglich gesicherter sozialer Kontakte. Somit antwortete die Volkskunde auf die revolutionären sozioökonomischen Prozesse in reaktionärer Weise als konservative Heilslehre. Dabei ist ihr offensichtlich entgangen, daß die Moderne mit all ihren schmerzlichen Veränderungsprozessen und sozialen Verhältnissen Produkte der Menschen dieser Epoche waren. Freilich ignoriert sie diese historische Tatsache und wendet sich von den tatsächlichen sozialen Verhältnissen ab und entwirft statt dessen eine affirmative Kultur der Beschwichtigung. Dem Kapitalismus indolent wie ebenso ablehnend gegenüber, zielte Riehls Volkskunde kulturgeschichtlich einzig auf die sozialen Urbilder, die er in den Bereich von Sitte und Sittlichkeit verankerte. „Die Volkskunde soll objektiv untersuchen, was der unantastbare Urgrund menschlicher Gesittung bei den Völkern, und was unser eigenes, freies und wechselndes Gebilde ist, welches sich auf jenen Granitpfeilern aufbaut“.11 Die wichtigsten Pfeiler menschlicher Gesittung waren Riehl zufolge die Familie als die kleinste Zelle dieses idyllischen sozialen Organismus und die Stände, womit er freilich die damaligen sozialen und politischen Ungleichheiten festschrieb. Fern von jeder Kritik an den frühkapitalistischen Verhältnissen sah er in der bürgerlichen Familie die wichtigste ideologische Reproduktionsstätte des privatwirtschaftlichen Gesellschaftssystems. D.h., daß gerade in der Familie jene Werte zu vermitteln sind, die gesamtgesellschaftlich betrachtet als „ewige“ Richtlinien der Unter- und Einordnung des Individuums in den autoritären Obrigkeitsstaat zu gelten haben, welcher in den frühkapitalistischen Arbeits- und Produktionsbedingungen sein Äquivalent findet. Somit bedingt die Struktur der Familie, wie Riehl sie sah, das soziale System und konserviert es zugleich über die Generationen hinweg, so daß gleichermaßen auch hierdurch der Bestand des Staates und der Nation mit seinen Wirtschaftsbedingungen und Herrschaftsstrukturen gesichert erscheint. Die vorbehaltlose Anerkennung von Autorität und Herrschaft im patriarchalischen System von Familie präformiert und sichert die Anerkennung von Autorität und Herrschaft im gesamtgesellschaftlichen Rahmen. Innerhalb seines Denksystems erschien es daher nur allzu folgerichtig, daß sich sein Bild von der Familie an der göttlichen Ordnung der Unterordnung der Frau unter dem Mann orientierte, denn: „indem aber Gott der Herr Mann und Weib schuf, hat er die Ungleichheit und Abhängigkeit als eine Grundbedingung aller menschlichen Entwicklung gesetzt“.12 Auf eine für ihn unerfindlichen Weise änderten sich die sozialen Strukturen dennoch, denn es machte sich „ein Vordrängen der Frauen auf dem offenen Markt, ein Hereinpfuschen namentlich in die geistigen Berufe der Männer bemerkbar“.13 Unter diesen Aspekten betrachtet, muß daher Riehl als einer der wichtigsten Apologeten einer aufs Kleinbürgertum zugeschnittenen, hierarchisch-autoritären Familienideologie im 19. Jahrhundert gesehen werden, 149

die bis in den Faschismus hinein, nicht ohne beträchtliche Wirkung auf den gesellschaftlichen Zustand blieb. So konnte es Jahrzehnte später nicht ausbleiben, daß Riehls Ansichten über die Familie als tragende Instanz eines auf Ordnung und Unterordnung festgefügten Gemeinwesens bei den Nationalsozialisten auf offene Ohren stieß. Die Aussage aus Hitlers Programm aus dem Jahre 1932 könnte ebenso gut von Riehl stammen:“ das letzte Ziel einer wahrhaft organischen und logischen Entwicklung muß immer wieder in der Bildung der Familie liegen. Sie ist die kleinste, aber wertvollste Einheit im Aufbau des gesamten Staatsgefüges“.14 Wilhelm Reich hat mit Recht darauf hingewiesen, daß der Faschismus ein originäres Interesse an der Aufrechterhaltung und generativen Reproduktion kleinbürgerlicher Familienidylle hat, da in den ersten fünf Lebensjahren des Individuums, dessen Sozialcharakter dauerhaft geprägt wird und sich hierdurch die ideologische Reproduktion eines Gesellschaftssystems vollzieht.15 Riehls reaktionäre Idylle fanden ihren Höhepunkt in dessen nationaler Auffassung des Begriffes „Volk“, den er als einen ausschließlich national fixierten Begriff verstand. Volkskundliche Studien, die sich auf „höchst kindische und widersinnige Sitten und Bräuche, über Haus und Hof, Rock und Kamisol und Küche und Keller“ beziehen, verwarf er, denn sie sind in Riehls Augen für sich allein betrachtet, nichts anderes als „eitler Plunder“. Erst durch ihre Beziehung „auf den wunderbaren Organismus einer ganzen Volkspersönlichkeit“ erhalten sie „erst ihre wissenschaftliche wie ihre poetische Weihe“.16 Sein obskurantistischer Topos von der „organischen Volkspersönlichkeit“ reduzierte komplizierte Sozialzusammenhänge auf einen gemeinsamen Nenner, der des naturalisierten Terminus des „Mutterbodens“. Damit war die organisch zusammengehörige Unterschicht alles geschichtlichen Volkslebens gemeint; der archetypische Urgrund, aus dem die Kultur, die Sitten und Gebräuche eines Volkskörpers sich über Generationen entwickeln. Daß damit letztendlich auch die Rasse gemeint sein könnte, diese Folgerung ergab sich aus dem Ideengebräu des völkischen Nationalismus gleichsam wie von selbst. Vor allem aber war die Volkskunde eine Betrachtungsweise, die das Deutsche ausschließlich betonte, denn sie sollte zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis führen, die deutsch ist und eindringlich „davon überzeugen, daß es nichts Größeres und Schöneres in allem Menschentum gibt als das ›deutsche Volkstum‹, und will durch diese Erkenntnis die tiefe und ernste Liebe wecken, die Quelle aller großen Taten ist“.17 Nicht das Wissen war ausschlaggebend, sondern der schlichte Glauben an die gemeinsamen Wurzeln, die aus dem Mutterboden erwachsen. Im Gegensatz zu Jacob Grimms Auffassung über die Volkskunde, in der sich weltbürgerliche und nationale Tendenzen vereinigten, so verselbständigten sich bei Riehl nationalistische Elemente, so daß Volkskunde und Nationalismus schließlich untrennbar miteinander verwoben blieben. Dies zeigte sich vor allem im Nationalsozialismus mit aller Deutlichkeit durch die indoktrinäre Verwendung der Begriffe Volks150

gemeinschaft, Volkskörper, Volkswillen, Volksganzes, Volkstum und Heimat, Volk im Werden, Jungvolk, Volk und Rasse, Volk ohne Raum, wobei letzteres die Hinwendung zur Bodenideologie des völkischer Bauernmythos postuliert. Volkskunde im Riehlschen Geiste lieferte dem Nationalismus des 19. Jahrhundert die volkstümlichen Aspekte zu im Sinne einer folkloristischen Verschleierung der wahren gesellschaftlichen Verhältnisse. Von Riehl freilich nicht beabsichtigt bereitete sie den Boden auf, von dem die Nationalsozialisten Jahrzehnte später ihre Früchte ernten sollten. Indem sie in den zentralen Bereich schulischer Erziehung gestellt wurde, bot sie für die Nationalsozialisten die Gelegenheit zur systematischen Indoktrination im Dienste ihrer Weltanschauung. Über die Heimatkunde, die in geschickter Weise an die Heimatbindung anknüpfte ließen sich antizivilisatorische Affekte vermitteln und in den Dienst der Vereinnahmung durch den totalen Staat stellen. Nationalsozialistische Volksschullehrer griffen diese Konzeption mit Begeisterung auf und erklärten die Volkskunde zu einer bedeutenden pädagogischen Grundlagenwissenschaft, ohne die eine nationale Erziehung nicht mehr denkbar sei. Dies war insofern mehr als tragisch, da die Volkskunde als pädagogisches Curriculum in diesem Geiste Eingang in die schulische Elementarbildung weiter Kreise der unteren und mittleren Bevölkerungsschichten fand. Volkskunde wurde über den Umweg eines pädagogischen Curriculums hierdurch zu einer konformistischen Hilfswissenschaft des Obrigkeitsstaates, eine perfekte Manipulationstechnik, die aus der intimen Kenntnis der „natürlichen Instinkte des Volkes heraus, dieses in seiner Unmündigkeit festhalten hilft“.18 Weit davon entfernt liberales und demokratisches Denken zu befördern, geschweige denn eine gesellschaftskritische Position einzunehmen, ergriff Riehls Auffassung der Volkskunde aus einem Spektrum möglicher Traditionsbildungen die bei weitem reaktionärste und die in ihren Spuren noch bis über die Weimarer Republik und das Dritte Reich hinaus sichtbar blieb. Die unter Ludwig Erhard postulierte „formierte Gesellschaft“ in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, bezog sich historisch auf die Traditionen von Formierungstheorien einer deutsch-konservativen Soziallehre, deren Wurzeln in Riehls Volkskunde liegen. Hierbei stützte sie sich auf Schlagwörter, die in direkter Linie aus der Volkstumsideologie hervorgegangen sind. Begriffe wie: „freies Zusammenwirken aller Gruppen und Interessen in Unterordnung gesamtgesellschaftlicher Ziele“; „Bindung an das Gemeinwohl“; bis hin zu der suggerierenden Formel vom „Bewußtsein gegenseitiger Abhängigkeit“ zum Wohle aller. Gleichwohl verschleiern sie, diesmal unter den politischen Vorgaben eines demokratischen Systems, die nach wie vor bestehenden Ungleichheiten im Verhältnis von Kapital und lohnabhängiger Arbeit, wie gleichwohl auch von gegenseitiger Abhängigkeit der Beherrschten und der Herrschenden keine Rede sein kann. Pflegte die traditionelle Volkskunde Riehls die Mythenbildung völkisch-nationaler Kontinuität, so traten über die Hintertüre einer Sozialideologie die 151

Verdummungsvokabeln zeitgemäßer sozialer Mythenbildungen in das gesellschaftliche Bewußtsein.19 Die Soziologin Helge Pross hat hierzu bemerkt, daß Gemeinschaftsideologien immer noch mit einem breiten Anhang rechnen können, „und nur zu leicht finden sie den Beifall derer, die dann dafür bezahlen müssen“.20 Wie sehr aber die mythisch behaftete Begrifflichkeit im Denken der Rechtskonservativen verhaftet blieb und sozialintegrative kosmopolitische Sichtweisen verhinderte oder zumindest in den Hintergrund drängte, zeigte sich darin, daß man in Kreisen der NPD, CDU und CSU noch im Jahre 1970 den Argwohn gegenüber der Volkskunde beklagte, da ihre Begriffe wie Volkstum, Bodenständigkeit, Stamm, Gemeinschaft, Sitte und Brauch durch die nationalsozialistische Inanspruchnahme geschändet seien, aber ohne die sich schlechterdings auch keine moralischen Postulate für ein Gemeinwesen formulieren lassen.21 Für das Bürgertum im 19. Jahrhundert unter dem Einfluß nationalistischer Tendenzen war indes die Volkskunde Riehls eine „Bauernkunde im bürgerlichen Geist“, was ein erschreckendes Bild auf die geistige Verfassung des deutschen Bürgertums im späten 19. Jahrhundert wirft. Beharrende Momente, über alle Jahreszeiten hinweg, die stetige Kontinuität bäuerlicher Tätigkeit, allen Unbilden der Natur zum Trotz, waren Riehls Vorbilder für die Gesittung des gesamten Volkes: „Bauernarbeit und Bauernsitte sind das Knochengerüst der Volkspersönlichkeit...Die Bauern sind, was wir waren“ [...] und der wahre Kern des gemeinen Mannes, aber war und ist mir der Bauer“. Und dieser „Kern des deutschen Volkes, der gemeine Mann“ ist selbst nach den Wirren der Revolution von 1848 bei klarem Kopfe geblieben und hat „sich trotz aller Wühler und Heuler als die ausgleichende soziale Macht“ bewährt.22 Riehls unkritische Sicht auf die wahren sozialen Verhältnisse im Frühkapitalismus fand ihren Ausdruck in einer naiven Verkennung der Besitzverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit. So heißt es bei ihm: „deutsch“ arbeiten bedeutet, die „sittliche Hoheit“, die „lauterste sittliche Größe“ der Arbeit verwirklichen, denn „aus der persönlichen Arbeit erwächst nothwendig der persönliche Besitz“.23 In Anbetracht, daß Riehl sehr wohl die Ausbeutung im Frühkapitalismus kannte, klangen solche Elogen auf die Bedingungen entfremdeter Arbeit wie Hohn. Den kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen stand er gleichgültig bis ablehnend gegenüber, allenfalls daß er auf außerirdische Entschädigungen verweist, denn wer ausgebeutet wird, findet im christlichen Himmel Trost, denn „die Plage ist nicht endlos“.24 Ihr Äquivalent fand Riehls religiöse Bemäntelung repressiver Arbeitsbedingungen in Webers Begriff von der protestantischen Ethik, die es als besondere Auserwähltheit des Besitzbürgertums ansah, über Reichtum und wirtschaftliche Prosperität zu vefügen.25 Was den Ausgebeuteten der himmlische Trost verhieß, erhielten die Besitzenden infolge ihrer „Besitzfrömmigkeit“ mittels göttlicher Gnadenakte bereits auf Erden in Form von Geschäftstüchtigkeit und Wohlstand. Zu seinen Lebzeiten waren Riehls Schriften in bürgerlichen Bildungskreisen außerordentlich populär, so erreichte 152

sein Familienbuch mit ihrer „Volkswartbund-Moral“26 insgesamt sechzehn Auflagen. Als typischer Bildungsbürger stand er außerhalb des Kapitalismus und dessen sozialpolitischen Auswirkungen auf die breite Masse der Bevölkerung. Jenseits von den realen ausbeuterischen Bedingungen entwarf er seine reaktionären Idylle von arbeitsamen Volkstum und bäuerlicher Schollengläubigkeit. Hierdurch manifestierte sich im völkisch nationalen Denken die Gleichzeitigkeit des gesellschaftlich und ideologisch Ungleichzeitigkeiten, Kapitalismuskritik als Kulturkritik gegen die Tendenzen der Moderne mit ihren Verstädterungen der Lebensformen, die in „völkischer Gesundheit und Sitte ihren Trost findet“.27 Indes war mit der Volkskunde als deskriptives Moment gesellschaftlicher Zustände keine Kritik an jenen Verhältnissen zu leisten, welche sie unkritisch als Idylle des wahren deutschen Menschen vorgab. Riehls Bemühungen waren, die Volkskunde als Wissenschaft vom einfachen Leben zu etablieren und so verwunderte es nicht, daß sie auch in erzieherischer und schulpädagogischer Hinsicht zum Tragen kam. Noch im Jahre 1925 nannte das Geleitwort der neugegründeten Zeitschrift für deutsche Bildung die zentrale Funktion von Volks- und Heimatkunde im Rahmen umfassender völkischer Erziehung, „die Bildung des Deutschen zum Deutschen, die Verwurzelung der deutschen Einzelseele in der deutschen Volksseele.“ Hierbei ging es in erster Linie um eine Erziehung zum bewußten Staatsbürger, der jedoch nur über den Weg des deutschen Volksbewußtseins ging. Dieser Weg führte nur über die Erziehung zum deutschen Heimatbewußtsein, denn in der Heimat liegt das Geheimnis aller Urkräfte völkischen Staatslebens begründet „Von der engen Heimat zum deutschen Volk, und vom deutschen Volk zum deutschen Staat, das ist der Weg, den unsere Jugend gehen soll“. Alles in allem ging es der Volkskunde um eine Erziehung zur Staatstreue, die alles andere war, als Erziehung zur Mündigkeit und Demokratie. Zum Untergang der Weimarer Republik mögen auch diese deutschtümelnde Tendenzen in Literatur und Erziehungskonzepten das ihrige beigetragen haben.28 Demgegenüber haben die deutschen Beiträge zu internationalen Märchen- und Mythenforschungen von Wilhelm Wundt, die eben so zur Volkskunde gezählt werden können, nichts Nationalistisches an sich und sind vielmehr von einem Glauben an die Universalität archetypischer Phänomene geprägt, die sie als Elementargedanken der Menschheitsgeschichte angesehen haben. Auch sie waren, wie die herkömmliche Volkskunde an den wirklichen sozialen Problemen der Zeit nicht interessiert, eine Orientierung an den Nöten der teils verarmten Schichten ist auch bei ihnen nicht zu bemerken, was gleichermaßen auch für die Gebrüder Grimm gilt. Der Unterschied zwischen gutgläubigen Märchen- und Mythenforschern in der Tradition der Brüder Grimm und den Trommlern des Nationalismus innerhalb der Volkskunde ist nur ein gradueller. Ihre gemeinsame Kontinuität besteht darin, daß sich beide Ansätze immer deutlicher zu einer unfassenden „Deutschtumswissenschaft“29 im Dienste einer 153

nationalpolitischen Erziehung entwickelten, wobei dies in der Absicht der einen lag und die anderen ohne ihr Zutun nationalistisch vereinnahmt wurden. Nicht zuletzt durch die Einflüsse von Autoren wie Riehl, entdeckte man die Volkskunde als „pädagogische Quellenwissenschaft“ und integrierte deren fragwürdige Theorien in den Fächern Deutsch, Religion und Heimatkunde ein, die ganze Generationen von Volksschulabsolventen unterrichteten.. Eine Sammlung didaktischer Unterlagen für den Volkskundeunterricht an den Volksschulen befaßte sich mit dem Thema „Germanisches Gottesgefühl im christlichen Religionsunterricht. Das Spektrum solcherart „Wissensvermittlung“ erstreckte sich vom schlichten Baum- und Waldglauben der Germanen über „nordische“ und „altsächsische“ Frömmigkeit bis hin zur „deutschen Weihnacht“.30 Dem Ganzen lag eine folkloristische Vorstellung von Volk, Boden und Blutmythos zugrunde, welcher in der Absicht nationalistischer und späterhin nationalsozialistischer Ideologie die wirklichen sozialen Unterschiede überdecken sollte. Somit bediente der Kult des Germanenmythos mit seiner behaupteten Kontinuität und völkischen Bedeutsamkeit nicht nur die Sehnsucht nach Vergangenem, sondern weitaus mehr beanspruchte sie die nationalsozialistische Propaganda im Sinne einer, die sozialen Unterschiede leugnenden „Gesellschaftslehre“, die sich als völkische Rassegemeinschaft verstand. Um das ursprünglich Germanische und völkische Bewußtsein sollte eine neue Lehre errichtet werden, die ein Schutzwall gegen die drohende Zerstörung eines „ganzen völkischen Seins“ bilden. Im Zuge dieser kulturellen Regression auf die germanischen Vorfahren konnte nicht ausbleiben, daß damit zugleich der Wunschtraum von einer Rückorientierung hochkomplexer gesellschaftlicher Wirklichkeiten in archaisch anmutende Lebenswelten bäuerliche Urformen einher ging. Urtümliche Folklore unverdorbener Bauernvölker, womit die Germanen gemeint waren, wurde zur heilbringenden Gegenwelt einer kapitalistischen Wirklichkeit der Gesellschaft gegenübergestellt. Die germanophilen völkischen Schriftsteller orientierten sich an eine angebliche historische Kontinuität, so daß seinerzeit der Mythenforscher Justus Möser behauptete, daß man die Beschreibung Tacitus über die Germanen bis auf die heutige Stunde auf die niedersächsischen Bauern anwenden könne. Angesichts solcher merkwürdigen Interpretationen geschichtlicher Fakten, welcher die Kultur der damaligen Zeit ausgesetzt waren, stellte Max Scheler fest, daß den Menschen nichts mehr anders übrig bleibe, „sich in einen Winkel der Natur zu flüchten, um hier den Menschen und seine Geschichte zu beklagen, die Urvergangenheit des Menschen und ihre letzten Reste in Mythos, Sage, Märchen, Brauch zu bewundern und sich [...] zurückzuversenken in die entflohenen Tage der urtümlichen Seele“.31 Inmitten der bäuerlichen Idylle blieb die kalte Welt des Frühkapitalismus außen vor, denn in der bäuerlichen Welt schienen noch die „heilenden Kräfte“ des Mythos zu wirken und eine natürliche „Ursprünglichkeit“ gegenwärtig zu sein. Der Bauernstand gebar den „wahren 154

deutschen Menschen; denn dieser ist immer Bauer gewesen [...] zu dem man berufen sein muß, Gnade mithin, die eine Bereitschaft zur Anschmiegung an die natürlichen Bedingungen der Heimat voraussetzt“.32 Der Bauernstand wurde demnach auch nicht als soziale Kategorie wahrgenommen, sondern er fungierte als Symbol einer beschaulichen Gemeinschaftsideologie, die dem Boden und dem Blut der Ahnen verhaftet blieb und eine exklusive Kultur entwickelte, die andere ausschloß. Der Wert oder Unwert eines Bauern zeigte sich nicht daran, ob er sein Handwerk verstand, sondern wieweit er mit seiner ganzen Person, mit Leib und Seele der Scholle, den Mysterien von Stirb und Werde, von Saat und Ernte verbunden war. Bauer ist man aufgrund seiner Herkunft und des Blutes.33 Gottfried Benn bemerkte, daß infolge des Bauernmythos eine Kultur der „Vereinzelung, der „Idiotie“ der weißen Menschenrasse“ herausgekommen sei. „Eine grausam unerbittliche Maschine walzte Kultur dahin über Sage und Traum, Musik, nackte Schönheit, Sonnenund Sternenglauben, Baumkultur, Feldkult, fromme Einfalt, Sinnbild, Sitte, Brauch, Sang und Lied“.34 Freilich auch Gottfried Benn sah die Rückführung der Nation aus den Großstädten aufs Land als einzigen Weg aus der Trostlosigkeit der Moderne in eine regressive Zukunft, in der die Erziehung zu einem neuen Ackergefühl, „seinem deutschen Volk“ vielleicht neuen Sinn vermittelt. So schrieb er nach Hitlers Machtübernahme an Klaus Mann: „Ich erkläre mich persönlich für den neuen Staat, weil es mein Volk ist, das sich seinen Weg bahnt. Wer wäre ich, mich auszuschließen ... Aus ihm stammen die Ahnen, zu ihm kehren die Kinder zurück. Und da ich auf dem Land und bei den Herden groß wurde, weiß ich auch noch, was Heimat ist. Großstadt, Industrialismus, Intellektualismus, alle Schatten, die das Zeitalter über meine Gedanken warf, alle Mächte des Jahrhunderts, denen ich mich in meiner Produktion stellte, es gibt Augenblicke, wo dieses ganze gequälte Leben versinkt, und nichts ist da als Ebene, Weite, Jahreszeiten, Erde, einfache Worte – Volk“. Jene rückwärtsgewandte „historisch-unhistorische Sehnsucht“,35 die bis in die germanische Frühzeit reichte, wurde indes von Gottfried Benn und den anderen Protagonisten des völkischen Nationalismus nicht in dem Sinne politisch verstanden, wie sich derer später die Nationalsozialisten bemächtigten. Was der unpolitische Bildungsbürger im Kaiserreich und in der Weimarer Republik schwärmerisch verkündete und in naiver Verkennung profaner Gegenwartsprobleme als probaten Zukunftsentwurf einer künftigen völkischen Gemeinschaft entwarf, ohne je an die Folgen zu denken, wurde zum Kernstück faschistischer Geschichts- und Gesellschaftsdeutung. Das Postulat germanischdeutscher Kontinuität und die Bindung an Blut und Boden „sollten ein neues, naturhaft-materielles und quasi historisches Verwurzeltsein unzufriedener Gesellschaftsschichten herbeiführen“.36 Was für die einen zur kritischen, wenn auch restaurativen Auseinandersetzung über die Zeitläufe der Moderne gemeint war und in heroisch anmutenden Bildern einer stilisierten Vergangenheit 155

entworfen wurde, geriet unter einem nationalistischen Furor zum Resonanzboden unseliger inhumaner Ideenprospekte mit tödlichem Ausgang. Der historische Rekurs auf eine imaginäre germanische Kontinuität war die ideologische Waffe der Nationalsozialisten, um alle vorhandenen Ungleichheiten und Standesunterschiede einzuebnen und die sogenannte Volksgemeinschaft vorzutäuschen. Erst der Nationalsozialismus setzte die historisierende Mythenbildung in politischer Absicht ein und unterschied sich hierdurch von vorausgegangenen romantisch-völkischen Tendenzen, die den germanischen Mythos als ideologische Begründung des Nationenbegriffes benutzten. Schon bald gingen Germanenkult und Rasseanthropologie eine überraschende Wechselbeziehung ein, die davon ausging, daß die ursprüngliche Rasse des Menschengeschlechtes die germanische sei und jener im Dritten Reich von Himmler ins Leben gerufenen SS-Ahnenerbe lag daran, dies anhand aufwendiger Forschungsexpeditionen, die bis nach Tibet und Indien reichten, nachzuweisen. In die bizarre Kulturlandschaft des 19. Jahrhunderts im Zeichen des völkisch-germanischen Denkens paßten ebenso jene Operngemälde des Ring der Nibelungen, die Richard Wagner im Rückgriff auf die germanische Ahnen- und Mythologiegeschichte entwarf und die später zur Lieblingsmusik Hitlers avancierte, sowie die sentimental anrührigen Impressionen der flachen „Heideromantik“ eines Hermann Löns. Beides, exaltierter Germanenkult im Operngewand und pseudoromantischer Kitsch wurde in den Dienst völkischer Ersatzreligion gestellt. Bauerntum und Rasseideologie wurden auf den Altar nationalsozialistischer Mytheninszenierungen gestellt, die von den Aufmärschen der Nürnberger Reichsparteitagen, wo auch die Arbeiter der heimischen Scholle mit dem Spaten in der Hand auftraten, bis hin zu den „Bühnenweihfestspielen“ auf dem Bayreuther „Hügel“, der unter der Regentschaft der Schwiegertochter Wagners Winifred, sehr zum Gefallen Hitlers, zu einer nationalsozialistischen Kultstätte erhobenen wurden.

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Kapitel 7.2 Bewältigungskultur eines unsicheren Daseins – von der Geborgenheit der Idylle Ludwig Richters Bilderwelten gegen das Panische. Das Ende des romantischen Enthusiasmus. Waldeinsamkeit und Dorfidylle. Von hohen Gipfeln in den Kleingarten. Die Flucht in die Gartenlaube. Behaglichkeit und Spießertum. Ludwig Richters schützende Refugien. Der träumende Bürger. Das Böse schlummert unbemerkt. Der zerbeulte Mozart. Heines Zornesröte. Verklärte die Romantik im Zuge einer bürgerlichen Individualisierung und als Gegenentwurf auf die Rationalität der Aufklärung die Natur als Fluchtstätte des bedrohten Ichs, so ergötzte sich die epigonale „Trivialromantik“ in der Epoche des nationalen Erwachens im 19. Jahrhundert an Mondschein- und Waldeinsamkeitspoesie und an den Erbaulichkeiten in der Dorfidylle eines Ludwig Richter. Hierin entstand das Bild der züchtigen Hausfrau, von lieblichen Kindern und Haustieren umgeben, inmitten einer unwirklichen, paradiesisch anmutenden Gegenwelt zur dunklen Ungewißheit der realen Welt und ihren Gefährdungen, welche die aufbrechende Moderne dem romantischen Menschen schreckhaft vermittelte. Die „heilige“ Familie galt als ideale menschliche Gemeinschaft und wurde als Bastion gegen die rauhe Gesellschaft errichtet, obwohl sie Produkt derselben war. Anfang des 19. Jahrhunderts war das Weltbild aus den Fugen geraten. Nichts war mehr in seiner tradierten Gewißheit gültig. In seinen Bilderwelten unternahm Ludwigs Richter den Versuch, jene verlorengeglaubte Einheit des Menschen mit dem göttlichen Kosmos wieder herzustellen. Durch die Aufklärung waren die Glaubensfesten erschüttert und erzeugten Leere und Angst. Jean Pauls apokalyptische Alpträume spiegelten die Ängste vor der Dunkelheit des Nichts, der Ungewißheit und vor der Leere der entzauberten Bilder wider. In seiner Erzählung Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal, läßt er den Erzähler am Lebensende des Schulmeisterlein noch einmal auf das Trauerhaus und den Totenacker zurückblicken und feststellen: „fühlt ich unser aller nichts und schwur, ein so unbedeutendes Leben zu verachten, zu verdienen und es zu genießen“.1 Trotz und allem, auch im Nichts läßt es sich noch einrichten, man muß nur lernen, es zu übersehen. Auf Gott war kein Verlaß, da man zu erkennen glaubte, daß nicht Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen, sondern der Mensch selber sich Gott zu Recht gelegt hat. Am Ende des Säkulums triumphierte Nietzsche: „Gott ist tot“. Zweifel kommen auf, daß die Welt ausschließlich im Göttlichen begründet liegt. Neuer Halt wird gesucht der sich im Hier und Nun findet. Im Grenzgebiet, im Nebelraum des „Noch nicht“ und des „Nicht mehr“, wendet man sich einem Zwischenraum zu der Sicherheit verheißt, dem Idyll, aus dem jedoch jeglicher 157

romantischer Enthusiasmus gewichen ist. Doch das Idyll ist stets bedroht, das Idyllische in der Bedrohung, das Bedrohliche des Idyllischen bedeutet Heiterkeit auf dem Boden der Schwermut, Melancholie und Resignation und der ständigen Angst vor dem unabänderlichen Tod. Wenn es zutrifft, daß das Idyll, der Augenblick des Vergessens realer Bedrohungen ist, wie der Kulturwissenschaftler Hermann Glaser ausführt,2 dann besteht seine Tiefendimension darin, daß die in ihm „lokalisierte“ Lebensfreude „durch Todesbewußtsein evoziert“ wird. Oder milder ausgedrückt, das Bewußtsein über den drohenden Untergang der bürgerlichen Epoche verstärkte die Idylle und bestimmte daher den Augenblick über die Freude des noch Gegenwärtigen, um das kommende Unheil zu verdrängen. Der Gott Pan schläft noch. Im Idyll schlummert beides, die Angst vor dem panischen Wiedererwachen, das alle Hoffnung auf Harmonie unter sicher begräbt. Aus der Gewißheit, daß alle Harmonie durch den Tod bedroht ist, wird dem Gegensatz von Leben und Tod in den idyllischen Miniaturen ein wehmütiges Bekenntnis zum Dasein entgegengestellt. Kaum einer hat so treffend diese Idylle bürgerlicher Resignation und Schwermut in ihrer Ambivalenz in Bildern festgehalten wie Ludwig Richter und zugleich mit ihnen die Verweilnischen des Topos einer bedrohten Geborgenheit beschworen. So schreitet auf einem seiner Bilder der Brautzug aus der Tiefe des dunklen Waldes in den heiteren Frühling. Die Bewegung der vorauseilenden Kinder in die offene, helle Landschaft, verschweigt die Bedrohung der Dunkelheit, aus der das Brautpaar bald das Licht erreichen wird. Ihm folgen diejenigen, die noch ganz im Schatten ihrer Herkunft stehen. Richters Bilder signalisieren meist: „Der Lenz ist angekommen. Und er scheint zu bleiben; denn der Winter ändert daran nichts. Ihr Auskommen haben die Jungen und die Alten, die Frauen und die Männer; die Enten, Lämmer, Hunde“. Im Hier ist es gut zu bleiben, ausruhen in enthobener Stunde, die Welt um sich da draußen vergessen; oft auch auf dem Polster der Platitüde. Statik und Zeitlosigkeit als Garanten irdischen Glücks, inmitten von Plüsch und banalem Plunder. Ach, wenn alles nur so bliebe, nichts in Bewegung gerate, geschützte Ordnung die Sicherheit verspricht, dann wäre das Leben zu ertragen. Der Weg derjenigen, die noch unterwegs sind, endet häufig im Umgrenzten, damit ihnen nichts passiert. Über das nahe Ziel des gesicherten Beharrens führt nichts hinaus. Der Zerbrechlichkeit des Glücks wird statt mit Neuordnung und dynamischem Aufbruch mit Verdrängung und Festhalten am Gewohnten begegnet. „Ein-Bergung, Runde, überwölbte Enklaven. Das Liebespaar unter dem Busch. Das Mädchen auf dem Wiesenfleck. Die Wanderer, die Wallfahrer am Brunnen. Heckenumsäumte Waldeinsamkeit. Maria und Joseph am Abendfeuer in der Felsnische. Genoveva vor schützender Höhle“.3 Alles idyllische Inseln, die sich nicht nur inmitten einer stürmischen Gegenwart befinden, gewissermaßen als deren Gegensätzliches, sondern gleichsam mit ihr verschmelzen. Die moderne Welt so scheint es, ist identisch mit der 158

Geborgenheit in der Natur. Nur in der Idylle weltfremder Geborgenheit läßt sich die rauhe Wirklichkeit übersehen. Deren Gegensätze verdecken die spätromantischen Idylle um jeden Preis. Nichts steht im Widerspruch zu ihr. Weltverständnis und Naturerlebnis sind eins. Eine traute Fata Morgana bürgerlicher Selbstzufriedenheit, offenbar ohne Konflikte, da man sie nicht sehen möchte. „Hier ist mit Fels- und Baumkulisse eine Barriere gegen die „Welt“ aufgerichtet, ein trauliches Klein-Arkadien nach Gessnerschem Zuschnitt mit Höhle, sonnigem Rasenplatz und kühlem, klarem Bächlein ausgegrenzt, das den Verfolgten Schutz und Lebensmöglichkeit bietet.“4 Dasjenige, was das Leben bedroht, bleibt draußen und wird nicht wahrgenommen. Richters Bilderwelten unterscheiden sich von der stillen, kontemplativen Naturromantik eines Caspar David Friedrich darin, daß die Natur, wo sie doch Stille und Frieden vermitteln soll, zur Stätte der Bedrohung wird, ohne daß dies als solches von den Personen wahrgenommen wird. Während bei Caspar David Friedrich in den Abendphantasien seines Bildes Der Mönch am Meer das Panische durchbricht, erscheinen bei Ludwig Richter die „Abendhimmel“ seiner Idylle frei von Angst. Er bannt das Oberflächenfrösteln schauerlicher Romantik in einen zuckrigen Oberflächenzauber. Nicht die romantische Geborgenheit des Biedermeier, sondern die Bedrohtheit des Menschen in einer unwohnlichen und rauhen Natur, welche idyllisch umkleidet ist, gerät zur unbewußten Botschaft seiner Bilder. Indem die Idylle auf die Spitze getrieben sind, werden sie zu einer irrealen Gegenwelt von Poesie und Weltfremdheit. Soll man dieser Welt entfliehen oder sie aushalten? Soll man sich in ihr wohnlich einrichten oder den Dingen auf den Grund gehen, um sie zu verändern? Ludwig Richter entgeht einer tieferen Auseinandersetzung durch den Oberflächenzauber seiner märchenhaft anmutenden Bilderwelt. Alles scheint erstarrt, zeitlos und immerwährend, alles Bewegliche gerinnt zum Statischen; die Elbe am Schreckenstein erscheint wie ein ruhender See, fast bewegungslos vollzieht sich die Überfahrt. Der Wanderer eilt vom dunklen, wolkenverhangenen Gipfel zu Tal, mit Kind und Hund, ängstlich in die dunkle drohende Tiefe blickend, hastet am Abgrund entlang, wird man noch heil nach Hause gelangen? Haus und Hof warten, bieten Geborgenheit, schützen vor den Gefahren der Nacht. Ach, wenn man doch schon ankäme! Weisen Friedrichs Landschaftsbilder in die Weiten einer romantischen Phantasie, die Grenzräume überwindet, so wirkt bei Richter alles statisch, eingegrenzt und bedrückend resignativ ohne Entwicklung. Seine Bilder verschweigen die dynamische Spannung, die zwischen der Bedrohung und Unberührtheit seiner Miniaturen liegt und der er selber ausgesetzt war. Infolge des schweren Sterbens seiner innig geliebten Tochter, das ihn tief erschüttert, meldete sich auch bei ihm die rauhe Wirklichkeit. Der Tod als Antwort auf die umschützende Natur, jener allgegenwärtige Gleichmacher, vor dem auch die Heckenidylle umsäumter Wiesen, schützende Waldlichtungen und überwölbte Felsenrefugien nicht mehr helfen. Doch in seiner Verdrängungskunst vermag Richter bei allem Schmerz 159

noch Bilder zu entwerfen, die das mit dem Tod verbundene Elend hinwegzaubern möchten. In seinen Erinnerungen schreibt er hierzu: „Der Arzt hatte mir und meiner Frau mitgeteilt, daß eine Rettung unserer lieben Marie nicht zu hoffen sei. Noch jetzt steht das Bild mir lebhaft vor der Seele, wie ich in der Laube sitzend die schlanke bleiche Gestalt langsam auf und ab gehen sehe und ihr Blick zuweilen wie fragend auf mich ruht, „ob Vater wohl weiß, daß ich bald sterben werde?“ während die Lippe schwieg. Zu ihren Füßen aber wiegte sich ein lachender Tulpenflor und an der grünen Gartenwand leuchten die roten und weißen Rosen in Fülle“.5 Trotz aller erschütternden Gewißheit über den nahen Tod seiner geliebten Tochter bricht der Augenblick einer naiven Schlichtheit durch, der das bewußtlose Glück höher schätzt als das unglückliche Bewußtsein. Die Diskrepanz zwischen menschlichem Leid und den Tröstungen, welche die unberührte Natur verheißt, wird überdeckt im Sinne Jean Pauls, daß man kleine Freuden höher schätzt als große, den Schlafrock des Verdrängens höher als den Bratenrock des Gegenwärtigen. Und vielleicht auch die Hoffnung, daß sich das eine durch das andere vergessen läßt. Richters Bilderwelten haben mehr als anderen, vergleichbaren Kunstwerke die spießerhaften Mentalitäten jener Zeit wiedergegeben und unbewußt die zerbrechliche Schicht dieser scheinbar heilen Welt aufgezeigt, deren dunklen Seiten als kommende Schrecken sie nur mühsam verbergen konnten. Sie haben aber auch den Weg in sentimental gefärbte Innerlichkeiten aufgezeigt, den zu gehen, den meisten Menschen im aufkommenden Frühkapitalismus mit seinen ausbeuterischen Methoden nicht erspart blieb, sollten sie nicht an den Verhältnissen zerbrechen. Ludwig Richters Bilderwelten waren für das Kleinbürgertum allemal besser zu verstehen und auch für den Augenblick tröstlicher, als die scharfsinnigen Analysen des Gesellschaftskritikers Karl Marx, was ein Merkmal des mangelnden politischen Bewußtseins gilt. Richters Idylle sind die Folge der Naivität mit der er seine rückwärtsgewandte Utopie bildhaft als genrehaften Idealismus umsetzt und insofern systemstabilisierend. Sie sind aber auch, und deswegen waren sie in jener Epoche und zum Teil darüberhinaus so hartnäckig erfolgreich, das Ergebnis der spießbürgerlichen Konstante im deutschen Sozialcharakter. Die verspätete Nation pflegte die erbauliche Beschaulichkeit als Ausdruck natürlicher Ordnung, die aus der kleinsten Familienzelle in die Gemeinschaft hineinwächst. Alles was jenseits dieser Eigenwelt existiert, Gesellschaft, Staat, insgesamt die moderne Welt mit all ihren sozialen und moralischen Herausforderungen hat den deutschen Spießer nicht zu kümmern. Demokratie und Pluralität, Aufbruch und Erneuerung, Mitbestimmung und Aufbegehren gegen die selbstverschuldeten Fesseln, dies alles ist ihm fremd und widernatürlich. Mit Richters Wunderbuch als Hauspostille in der Hand, läßt sich ebenso gut Wirklichkeit bewältigen, ohne an ihr zu zerbrechen; auch wenn die offenkundigen Widersprüche unübersehbar vor Augen treten. Was in der Ferne geschieht will man nicht wissen, die spießbürgerliche Feierabendwelt als Dauerzustand soll abgeschirmt 160

bleiben, auch wenn es unten in den Niederungen der Psychoarena des Werktäglichen anders zugeht. Noch Jahrzehnte nach seinem Tode im Jahre 1884 ist er erstaunlich populär geblieben. Die ständigen Neuausgaben der von ihm illustrierten Märchenbücher haben seinen Traum der regressiven Utopie stets visualisiert und aktualisiert. In den hektischen Jahren des technischen Fortschritts, in der die gesellschaftlichen Räume statt durch das warme Kerzenlicht einer versunkenen Nostalgie durch die kalte Gasbeleuchtung der Moderne erhellt wurden, wo die Vögel immer leiser sangen und die Maschinen immer lauter dröhnten, in den wechselvollen Jahren der Weimarer Republik und als im Nationalsozialismus der Widerstand und die innere Emigration schwerfielen, war Ludwig Richter als Gewährsmann einer verklärten Vergangenheit, die wider besseres Wissen, die gute alte Zeit genannt wurde, zur Stelle. Aber zugleich half er mit Gemütswerten das humanitäre Vakuum auszufüllen, welches mit dem Fortschritt der Moderne einherging. Das Barbarische, welches sich in unterschiedlichsten Facetten im gesellschaftlichen Raum ankündigte verschweigt er in seinen bildhaften Utopien, statt dessen idyllisiert er sie. In dem Maße, wie die autoritäre Persönlichkeit eine Sehnsucht nach dem heimeligen-unheimlichen Idyll verspürt, tritt neben der Ästhetisierung der Barbarei deren Idyllisierung auf. Bei allem theatralischen Zauberwerk zerbrachen in der nationalsozialistischen Wirklichkeit solche Bilder und hervorkam die nackte Brutalität in Gestalt einer ganz und gar unästhetischen Fratze des Dritten Reiches. Die Nazis bemächtigten sich der sinnbetäubenden Wirkungen, welche dererlei Idylle auf die unbewußte Psyche ausüben. Mit ihren Lichtdomen anläßlich der Reichsparteitage und Gedenkveranstaltungen schufen sie, im Schutz der Dunkelheit, raffiniert ausgeklügelte Szenarien die jeden kritischen Zugang hemmten, in ähnlicher Weise schutzverheißende Gegenwelten vor den eingebildeten Feinden völkischer Idylle, nur mit dem Unterschied, daß sie diesmal die Realitäten des Terrors und des Totalitarismus bedienten. Die gewiß nicht unbedeutende Leistung der Idylle für das Geistes- und Kulturleben hatte auch ihre spießbürgerliche Kehrseite, wobei die Übergänge zwischen wahren und falschen Idyllen fließend sind und unmerklich das eine in das andere übergeht. Jene Enge einer in sozialer und materieller Hinsicht unbefriedigenden Existenz, die man durch die Idylle eines Ludwig Richter zu überwinden hoffte oder zumindest verdrängte, wurde somit zu einem Leben in der Furche spießbürgerlicher Selbstzufriedenheit. Ludwig Richters Bilderwelten sind einer romantischen Ambivalenz geschuldet, welcher dieser Kulturrichtung innewohnte. Zum einen die geistigen Höhenflüge eines romantisch enthemmten Ichs in die bunte Welt der Metaphysik, des Unbewußten und der schöpferischen Spekulationen, zum andern die Gefahr den Boden unter den Füßen zu verlieren und sich in der Tiefe einer spießbürgerlichen Saturiertheit einzurichten. Vom romantischen Taumel erfaßt, nicht mehr fähig seine Emanzipation auch im gesellschaftlichen Raum zu 161

erstreiten. Die Sphärenflüge in die Gefilde erlesener Kultur gingen zu Ende und man vertraute auf die Schwerkraft zufriedener Sattheit des Gemüts. Ein Leben wie aus zweiter Hand schien vollends zum Glücklichsein zu genügen. Jahrzehnte später hat Antoine de Saint Exupery in Wind Sand und Sterne den Verlust an Kultur und kreativer Individualität in der aufkommenden Massengesellschaft mit der Metapher eines „ermordeten Mozart“ beschrieben, der in jedem kreativen Kind durch die Schicksale seiner Biographie stirbt und wie alle anderen, vom Hammer des Lebens zerbeult wird.6 Und so wie die Kreativität in jedem Menschen stirbt, das „Kind Mozart“ nicht mehr gefragt ist, begnügt man sich mit den Kopien des Eigentlichen, regrediert das Wesentliche unter der Hand des Spießbürgers an den Maßstäben einer Massenkultur. Gottfried Keller mit seinen Novellen über die Leute von Seldwyla, Wilhelm Busch und vor allem Heinrich Heine haben die beschränkte und bisweilen bösartige „Biedermannmoral“ fassadärer bürgerlicher Kulturidylle aufgedeckt. Das Ideal des deutschen Spießbürgers, der sich mit weniger als dem Durchschnittlichen zufrieden gab und der mit weißer Nachtmütze auf dem Kopfe, im Schlafrock und mit weißer Tonpfeife im Munde an einem lauen Sommerabend vor seiner Haustüre sitzend darüber sinniert, es wäre doch recht hübsch, wenn es immerfort so weiter ginge, ohne daß ihm das Pfeifchen ausginge und er in die Endlosigkeit hineinträumen könne, ohne von all den lästigen Unannehmlichkeiten da draußen berührt zu werden. Ein solches Bild trieb dem sensiblen Heine die Zornesröte der Angst ins Gesicht. In dieser Welt des weltabgewandten Kitsches der Gartenlaube, der Erbauungs- und Kultschrift deutscher Kleinbürgerlichkeit und Herrschaftsinstrument des Frühkapitalismus, verlor das Idyll seine ursprüngliche ethisch-moralische Berechtigung an Stelle von „triefender Süße und milder Blödigkeit“ Dies traf den Geschmack der Massen und darüberhinaus den offiziellen Geist des „Wilhelminismus“.7

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Kapitel 8 Historismus als Gegenwart – Richard Wagners Meistersinger und von den Tröstungen des Gestrigen Der unromantische Zeitgeist: Historismus und Ständegesellschaft. Steingewordene Gegenwart. Der Staat auf dem Piedestal. Opernbühne und Rassenideologie. Wagners landläufiger Antisemitismus. Festwiesenseligkeit und Judenhaß. Beckmesser und der „ewige“ Jude. Prügelszenen und Mondlicht. Nietzsche über Wagner. Der Prophet und sein Vollstrecker. Meyerbeer und Schumann. Schwermut gegen die Leichtigkeit des Seins. Deutsch-Sein und rheinbewußt gegen das Französische. Vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, der den Historismus wie selbstverständlich als gegenwärtig gültigen Bestandteil der bürgerlichen Kultur im 19. Jahrhundert verstand, war diesem freilich die Anstrengung anzumerken, „alles über alle Zeiten zu wissen und sie zu verstehen, bis der eigene Ort der Existenz sich aufzuweichen drohte in einem unaufhaltsamen Relativismus [...]. Was Ranke noch als Glück, Nietzsche dann aber als ein Fluch ansah, diese Mitgift des Historischen, bedeutete in Wahrheit nichts anderes als die Aneignung der Welt nach rückwärts – parallel zu der imperialen Eroberung der Welt da draußen, der sich die fremden Völker unterwerfen mußten“.1 Nietzsche hegte den Verdacht, daß der Historismus einen Mangel an Lebenskraft kompensieren sollte. Hierbei denke man sich eine Kultur, so Nietzsche, „die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Kulturen sich kümmerlich zu nähren verurteilt ist- das ist die Gegenwart [...]“.2 Das Unbehagen in modernen Zeiten leben zu müssen, deren Komplexität sich kaum noch ertragen ließ, führte dazu, daß das Vergangene zum Gegenwärtigen stilisiert wurde; Tradition wird somit zur beherrschenden Kraft, Rückwärtsgewandtheit zur Flucht vor der Zukunft. Eine geschichts- und gesichtslose Gegenwart verweist auf die idealisierten Eigenschaften ihrer eigenen Vergangenheit, ohne zu reflektieren, daß ihr gegenwärtiger Zustand Produkt dieser Vergangenheit ist. Und so wird alles Gestrige verherrlicht und geschönt und in einem ästhetischen Schein gehüllt. Übermaltes Holz täuschte Marmor vor, Gerichtsgebäude riefen Erinnerungen an venezianische Dogenpaläste hervor; Fabriken und Lagerhallen sahen aus wie mittelalterliche Burgen, und vor dem Börsenportal hielten Nachbildungen griechischer Säulen Wache. Was nach Alabaster und kunstvoll verarbeitetem Holz aussah, war in Wirklichkeit geschickt drapierter Gips, so zerbrechlich wie unecht. Auch der kaiserliche Wille zur Macht, der sich im Anschluß an den Spiegelsaal in Versailles 1871 einstellte, war mehr Wille als wirkliche Macht. Einzig 163

begründet auf einen, inzwischen zur kulturellen Tradition erhobenen völkischen Nationalismus, der sich über alles Nichtdeutsche erhaben sah. Bei näherem Hinsehen und vor allem im Focus kritischer Zeitgenossen erwies sich diese als Kompensation nationaler Minderwertigkeitsgefühle, nicht weniger als tönerne Gebilde, mit viel Hurrageschrei und marschmusikmäßigem Tamtam, allenfalls geeignet die bürgerlichen Massen zu unterdrücken und ihnen ein Gefühl von Stärke vorzuspiegeln, die sie in Wirklichkeit nicht besaßen. Darin war man sich freilich einig, mehr auszusehen und mehr vorzustellen als die Wirklichkeit hergab. Als kultureller Rettungsanker in den stürmischen Zeiten des gesellschaftlichen Aufbruchs und Umbruchs bot sich der Historismus an, jene Gewißheit alles über vergangene Zeiten zu wissen und zu verstehen, um die eigene Gegenwart zu relativieren. Deswegen fühlte man sich in der aufbrechenden Moderne um so sicherer, wenn das Gewand historischer und träumerischer Regression über die Unzulänglichkeiten einer trostlosen Gegenwart geworfen wurde. Gleichzeitig versuchte man die fehlende bürgerliche Emanzipation durch die Verherrlichung historischer Phänomene zu überdecken. Indem alle Bürger in der ein oder anderen Weise an historisierende Projekte teilhaben durften, konnten sie sich mit den undemokratischen Verhältnissen arrangieren, in der Gewißheit, Träger und Mitgestalter großer kollektiver Ereignisse zu sein, deren Inszenierung Botschaften stabiler Ordnungen vermittelte. Entweder sah man sich als Protagonisten und Fußvolk inmitten folkloristischer Umzüge, die zu allen möglichen nationalen Anlässen Historisches in die Gegenwart darstellten, oder man bewunderte die nationalen Gedenkstätten, die auf eine zwar ruhmreiche aber längst versunkene Vergangenheit hindeuteten und deren Zweck einzig darin bestand, die nationale Überheblichkeitsstimmung auf dem Laufenden zu halten. Man bedurfte daher Festlichkeiten, Umzüge und Feierlichkeiten, die sich inmitten einer rationalisierten Umwelt an Vergangenem orientierten und hierbei jene Denkund Mentalitätsmuster abriefen, die durch Aufklärung und Säkularisierung überwunden schienen. Der Staat selber wurde auf dem Podest einer pseudoreligiösen Verehrungskultur erhoben. Der Historismus als kollektive Verdrängungskultur macht die Fluchtschneisen zu den geschönten Vorwelten und falschen Göttlichkeiten der Vergangenheit zur Hauptbahn des Gegenwärtigen; somit erträgt er die gegenwärtige Welt nicht wie sie ist; er leugnet oder kaschiert ihre unabänderlichen Realitäten. Das Dunkel der Wirklichkeit, im leuchtenden Glanz des Gestrigen gesetzt, eröffnet den Blick auf eine scheinbar organisch gewachsene Sicherheit. In musikalischer Hinsicht boten die Opern Richard Wagners jene Idylle, die der Historismus als Antwort auf die Komplexität der Moderne, der Verstädterung mit ihren Entfremdungstendenzen und der zunehmenden Industrialisierung und der hierdurch verbundenen Arbeitsteilung und Versachlichung beruflicher und sozialer Rollen bereithielt. Solcherart Glanz und Festlichkeit als Ausdruck und Ritual gewachsener Ordnungen vermittelte 164

dem verunsicherten Bildungsbürger unter anderem Wagners „Meistersinger“,3 der deutschesten aller Opern Richard Wagners, vor allem deshalb, weil sich in folkloristischen und bunten Szenarien die deutsche Kleinbürgerlichkeit der mittelalterlichen Handwerkszünfte und deren Gebräuche in die Moderne des technischen Fortschritts im 19. Jahrhundert transportieren ließen. Auch wußte keiner so gut wie Wagner alle Register des Theaterzaubers zu ziehen, um germanisch Vergangenes in die Gegenwart mit unvergleichlich pompösem Aufwand von Text, Kulisse und Musik zu inszenieren. Seine Massenszenen, der theatralische Pomp und die brachiale Musik waren Herausforderungen für große Bühnen, die dem dramaturgisch vorgeschriebenen Bühnenspektakel gewachsen waren und zugleich die Chance, Wagner aus der musikalischen Winkelecke herauszubringen und auf den Olymp des Bayreuther „Hügels“ zu stellen. Daß hiermit zugleich ein gewisser Niedergang der Kultur verbunden schien, fiel bereits Nietzsche auf, der kurz vor der Eröffnung der ersten Festspiele in Bayreuth schreibt: „Seltsame Trübung des Urteils, schlecht verhehlte Sucht nach Ergötzlichkeit, nach Unterhaltung um jeden Preis, gelehrtenhafte Rücksichten, Wichtigtun und Schauspielerei mit dem Ernst der Kunst von seiten der Ausführenden, brutale Gier nach Geldgewinn von seiten der Unternehmenden, Hohlheit und Gedankenlosigkeit einer Gesellschaft...dies alles zusammen bildet die dumpfe und verderbliche Luft unserer heutigen Kunstzustände“.4 Wagners unvergleichlicher Opernerfolg beim deutschen Publikum resultierte nicht zuletzt daraus, daß seine Opernwerke an die Sagenund Märchenwelten anknüpften, die schon immer dem romantischen Bewußtsein der deutschen Kulturseele entgegenkamen. Sich Wagners Musik hinzugeben, galt in den Zeiten des Nationalismus gewissermaßen als Pflichtaufgabe eines jeden bildungsbeflissenen Bürgers. Und merkwürdigerweise gehörte es zur Krönung in der Karriere eines jeden deutschen Operntenors, seine tenorale Erfüllung durch die Interpretation von wagnerschen Heldentenorrollen zu finden und dies am liebsten in Bayreuth, dem germanischen Pantheon der deutschen Opernwelt, selbst auf die Gefahr, stimmlich daran zu zerbrechen, wie es etlichen Sängern auch ergangen ist. In seiner schwülstigen Darstellung von Götter- und Heldengeschichten fand das politisch indolente Bürgertum in den Wagneropern eine mythische Wiedergabe seiner historischen Sonderrolle. Wagners wirrer „Sozialismus“ im Ring machte auch Karl Marx fassungslos, der offenbar nicht verstehen konnte, warum die Menschen sich hierfür mehr interessiert zeigten, als für seine wissenschaftliche Abhandlung über das Verhältnis von Kapital und Arbeit in den Zeiten des Frühkapitalismus.6 Freilich, sieht man hierin ein beklagenswertes Beispiel für die Abneigung der Deutschen für Vernunftargumente zugunsten irrationaler Vernebelungen, so ist sein Ärger zu verstehen, denn Vernunftargumente hat Wagner seinen Anhängern keine geboten, wenn es darum ging, die psychischen Eigenheiten der Figuren in seinen Werken zu erfassen. Ebenso wie ganze Generationen von Kritikern an 165

der Motivation vieler Charaktere im Ring gescheitert sind und ein angesehener Musikkritiker zu der Auffassung gelangte, diese Figuren seien nicht mehr, als „angemalte Marionetten“.7 In Wagners pompöses Bühnenweihspiel Parsifal erscheint der Kernpunkt der Handlung noch verworrener, da nicht recht zu erkennen ist, worin denn nun eigentlich der Sündenfall des „reinen Tor Parsifal, durch Mitleid wissend“ besteht. Aber Wagners eigenes Wissen um seine genialische Begabung, ließ ihn zu der Auffassung gelangen, daß es ihm überlassen bleibe, in Anlehnung an E.T. A.Hoffmanns Erzählung Der goldene Topf die reale Welt als etwas Gespenstisches zu betrachten, d.h. die Realität durch mystische Spekulationen zu ersetzen und sie als Abbilder seiner Phantasie widerzuspiegeln. Und dergleichen Spekulatives kommt musikalisch, sowie wie durch die Widersprüchlichkeiten der Handlung in seinen Meistersingern in reichem Maße zum tragen. Wagners Ansicht zufolge, war die „jüdische Rasse“ der „geborene Feind der reinen Menschheit und alles Edlen in ihr“ und daß gerade die Deutschen „an ihr zugrunde gehen werden“, dessen war er sich bewußt. Wie er sich eben so als den vielleicht „letzten Deutschen“ sah, der sich gegen den „bereits alles beherrschenden Judaismus aufrechtzuerhalten wußte“.8 Um seinen Antisemitismus auszuleben, war ihm jede geistige Gemeinheit recht, die nur genug ressentimentbeladen daherkam. Juden seien die schlechteren Musiker und ihnen mangelte es, Herz und Seele anzusprechen, daher lasse jüdische Kunst, insbesondere die sogenannte jüdische Musik, oder genauer gesagt, Musik von jüdischen Sinfonikern komponiert den Zuhörer gleichgültig und bleibe stets trivial. In geschickter Weise gelang es ihm, die idealisierten Versatzstücke mittelalterlicher Biederkeit mit den uralten antijüdischen Vorurteilen in Szene zu setzen, um hieraus ein kulturpolitisches Programm zu entwerfen. Folgerichtig galten daher Die Meistersinger zu der damaligen Zeit als eine außerordentlich populäre Oper, in welcher der Wagnersche Antisemitismus unverholen zum Ausdruck gelang und die ihre Beliebtheit bis in die heutigen Tage ungebrochen beibehalten hat. Während der wilhelminischen Epoche versuchte man im Spannungsfeld von tradierten Lebensformen und modernistischen Zeiterscheinungen den kulturellen und psychischen Verunsicherungen durch regressive Utopien zu begegnen, die im Einstigen angesiedelt waren und welche zudem auf das typische deutsche Erbe mittelalterlicher Ständekultur basierte. In Zeiten einer ständig beschworenen Franzosenfeindlichkeit konstruierte Wagner zudem jene typische kulturelle Gegensätzlichkeit des entweder oder, das Deutsche gegen das RomanischWelsche, die biedere Festwiesenseligkeit gegen die charmante, geistreiche Salonkultur der französischen Aristokratie und des Bürgertums als einen andauernden Kulturkampf, bei dem es schlichtweg ums nationale Überleben ging. Jene Kunst zu leben, welche die romanische Kultur als eine Kultur der Leichtigkeit des Seins auszeichnete, erschien dem gemütsschweren 166

Germanenkult schon immer suspekt und mitunter sogar verworfen und vor allem dekadent. Diese Abneigungen standen daher ganz im Zeichen des kulturellen Programms des völkischen Nationalismus, zu dessen Legitimation man im Erzfeind jenseits des Rheins die geeignete Projektionsfläche fand, um den gewünschten politischen Effekt als Bindungsmasse einer disparaten Gesellschaft unterbringen zu können. Da eine unbestimmte Angst vor einer ungewissen Zukunft, infolge der rasanten technischen und wirtschaftlichen Entwicklung gerade im Bürgertum des ausgehenden 19. Jahrhunderts virulent wurde, konnte man sich nicht mehr ausschließlich auf Tradition und geschichtliches Erbe verlassen. Die entstehenden Leerräume fürchtend, trug man in Ermangelung aufgeklärter Kultur, die historischen Versatzstücke in geradezu fetischistischer Absicht weiter, in der Hoffnung, sie als etwas Bleibendes zu etablieren. Die Institutionalisierung der Wagner Opern als ständiges Festspielereignis in Bayreuth, der germonophilen Weihestätte deutscher Opernherrlichkeit, war freilich nicht nur kulturmusikalisch gemeint. Vielmehr sollte in regelmäßiger Folge die Kontinuität deutscher Geschichte bis in ihre germanischen Urgründe stets neu belebt werden. Da in den Meistersingern, neben ihren antisemitischen Konnotationen, der Kontinuitätsmythos autoritärer Herrschaftsformen auf Ewigkeit, als kaum versteckte Botschaft enthalten war, ließ sich hierdurch ein verheißungsvoller Gegenentwurf zur kalten Rationalität des aufbrechenden Industriezeitalters entfalten und gleichzeitig ein Gegenbild zur drohenden Demokratisierung und Liberalisierung der Gesellschaft beitragen. Insoweit trat die Oper zu einem Zeitpunkt ins öffentliche Bewußtsein, in der die traditionellen Strukturen zunehmend von Auflösung bedroht wurden. Eindrucksvolle Aufzüge von „Herren und Knechten“, – Meistern, Lehrbuben und Gesellen – in den exorbitant ausgestatteten Fahnenkulissen der Festwiese im dritten Akt der Oper symbolisieren bürgerliche Freude und Eintracht gegen die dissonante Gesellschaft des Maschinenzeitalters, ganz den Feierlichkeiten der Wilhelminischen Epoche nachempfunden. Hier scheinen die hierarchischen Strukturen des Oben und Unten noch intakt; hier gibt es keinerlei unüberschaubares Nebeneinander und sozialistische Gleichmacherei, worin die Klassenunterschiede nicht mehr zu erkennen sind. Alles ist wohlgeordnet und, in unverrückbar festen Strukturen auf Ewigkeit angelegt, verankert. Nichts ist den Zufällen und Brüchen, die der soziale Wandel mit sich bringt, unterworfen. Anheimelnde Szenerien täuschen Einigkeit und Frieden vor, wo doch der Neid und Haß untereinander sich nur schwer verbergen lassen, die dann auch irgendwann ausbrechen und die Opernbühne in eine Kampfstätte jeder gegen jeden verwandelt. Diese Szenarien deckten sich mit dem bürgerlichen Verständnis im späten 19. Jahrhundert, die sonntägliche Sehnsucht des Bürgers über alle gesellschaftliche Klassen und Unterschiede zu einer Feierlichkeit zu erheben, welche die Realitätsängste und alle sozialen Unterschiedlichkeiten mit Hilfe magisch beschworener Vergangenheitsbilder zu verdrängen suchte. Als 167

demaskierender Kontrast das Gegenbild: der Sängerwettstreit, der sich als kleinlicher Intrigenhandel herausstellt, voller Vorurteile und Neid, dem krampfhaften Bemühen um das Grundsätzliche und dem Kampf untereinander, die eigenen Privilegien festzuhalten. Diente Richard Wagners „germanophiles“ Bühnenfestspiel für drei Tage und einem Vorabend: Walküre, Götterdämmerung, Rheingold und Siegfried dem völkisch-rassischen Nationalismus zur kulturpolitischen Ideologisierung germanischer Kontinuität, so symbolisierten die Meistersinger den regressiven Mythos, den das Bürgertum im Deutschen Reich des 19. Jahrhunderts in seiner Sehnsucht nach Harmonie und ganzheitlicher Ordnung so dringend benötigte und sie deshalb auf Historisches zurückgreifen ließ. Deshalb bot sich gerade Wagners Meistersinger an, da die Oper spätmittelalterliche Rituale, welche Homogenität vortäuschten, in die Gegenwart transportierte. Thomas Mann stellte in der wagnerschen Opernseligkeit der Gründerjahre, den Rausch und die „seelische Entgleistheit“ fest, in die ihn diese moderne Kunst versetzte und die man erlebt und erkannt haben muß, um diese Zeit zu verstehen. Wagners Opernmusik war eine ausgesprochen „deutsche Kunst“. Nirgendwo überzeugender, als in seiner Musik, zeigte sich das erdrückende und bedrückende Übergewicht der deutschen Kultur, was ihr von der ganzen Welt zugeschrieben wurde. Alles war in ihr enthalten, Heldentum und Gottessuche, romantischer Enthusiasmus, Ahnenkult, Feuerzauber und metaphysischer Furor. Untergang und Größenwahn schienen in Wagners Musikdramen ihren universellen Ausdruck gefunden zu haben. Während der wilhelminischen Epoche erreichte die Popularität der Meistersinger als deutscheste aller Opern ihren vorläufigen Höhepunkt, um unter dem Nationalsozialismus als „Kultoper“ der braunen „Bewegung“ eine Renaissance zu erleben. So wurde sie stets an den Vorabenden der Nürnberger Reichsparteitage als staatstragendes festliches Opernereignis in Anwesenheit von Hitler und der gesamten Führungspersonage des Dritten Reiches aufgeführt. Auch im preußischen Deutschen Reich wurde immer wieder das historische Erbe bemüht und das einmal Errungene als Bestand für die Zukunft gesehen. Optimistischer Fortschrittsglauben brach sich an dem überlieferten Feudalismus, welcher in einem modernen Industriestaat mehr als deplaziert erschien. Untergangsstimmungen und Ängste vor der Zukunft bei gleichzeitiger Suche nach Größe und bürgerlicher Freiheit, die stets auf der Strecke blieb, Flucht in spätromantische Nischen, welche Literatur, Musik und Malerei bereithielten, bestimmten das gesellschaftliche Klima. Zur Bewältigung dieser schier unlösbaren Ambivalenzen wurde daher der Mythos einer einstigen, harmonischen Ständegesellschaft beschworen, in der den Handwerkszünften eine ordnungsstiftende Bedeutung zukam. Der deutsche Rebell Richard Wagner, der sich zuvor in flammenden Pamphleten gegen die herrschende Ständegesellschaft wandte und 1848 das Jahr kommen sah, wo die gesamte Adels- und Ständekaste dem Untergang geweiht sein würde, schuf mit den 168

Meistersingern eine Festoper, die im Einst der städtischen Zünfte des 16. Jahrhundert angesiedelt war. Nürnberg, als ehemalige kaiserliche Reichshauptstadt erwies sich als der geeignete Ort, wo noch die letzten Reste dieses Einst schimmerten. Denn Nürnberg hatte sich vor Jahrhunderten bereits erfolgreich gegen die Ansiedlung von Juden zur Wehr gesetzt. Im 16. Jahrhundert lebte dieses Einst noch in kräftigster Fülle und die Rangordnungen waren unverrückbar gesichert. Lehrbube, Geselle und Meister bildeten eine Gewißheit von Unterordnung, Schutz und Herrschaft. Hier waren die Rangordnungen noch klar geregelt und in einer unverkennbaren symbolischen Bedeutung als Drama auf der Opernbühne gegen die frühen liberalen und sozialistischen Regungen des späten 19. Jahrhundert der Gleichheit und Freiheit als kulturpolitisches Programm aufgeboten. Wagners Meistersinger bot den geeigneten Rahmen, diese endgültigen „Wahrheiten“ von Ordnung, Herrschaft und Macht für die Bürger des 19. Jahrhunderts darzustellen. In den städtischen Gemeinwesen hatten die Handwerkszünfte und die Kaufleute, die Hanse, das Sagen. Sie bildeten die städtischen Machtzentren und waren die ersten emanzipierten Bürger, die ihre Emanzipation jedoch wie einen Besitz habgierig in ihren Händen hielten und nicht mit denen teilen wollten, die wirtschaftlich und sozial unter ihnen standen oder nicht ihrem Stand angehörten. Dort wo die Zünfte walteten, hatte das Volk nichts dreinzureden und eben so durfte nicht jeder hergelaufene Ritter dichten und singen wie er wollte und ein ahnungsloses „Volk beschwatzen“, dem allerdings von Seiten der Meister auch das Mitspracherecht beim Gesangswettbewerb versagt blieb. Was ursprünglich als Affront gegen den Ritterstand und somit gegen den Adel verstanden werden durfte, stellte sich in Wirklichkeit als Neuauflage neuer hierarchischer Ordnungen heraus und der gegenwärtige Wilhelminismus mit seinem rigiden Frühkapitalismus als eine Fortführung der wirtschaftlichen handelspolitischen Blütezeit des mittelalterlichen Ständewesens, welches sich bei näherem Hinsehen als ein Ausbeutungssystem der unteren und mittleren Volksschichten herausstellte. Aus dem 16. Jahrhundert wurden die Privilegien ständischer Klassen auf die Gegenwart des 19. Jahrhunderts übertragen. Anstelle des Volkes, des demokratischen Rechtes, entschieden vier Merker, allesamt Meister der Handwerkszünfte, was des meisterlichen Singens sich würdig zu erweisen hatte. Denn, „was deutsch und echt, wüßt’ keiner mehr, lebt’s nicht in deutscher Meisterehr“ weiß Hans Sachs zu singen. Die Privilegierten blieben unter sich und das Volk, wie eh und je draußen. Hier atmete noch unverfälschter deutscher Geist vor dem Hintergrund der „teuflischen Dreieinigkeit“: die Börse, der Jude und die französische Kokotte“.9 Das, was die Oper so anschaulich für die kleinbürgerliche Gesellschaft machte, war die Vortäuschung eines Kosmos einer gegliederten und organisch gewachsenen Gemeinschaft, die zudem einsichtig die hierarchische Ordnung dieses kleinständischen Systems widerspiegelte, um sie als selbstverständlichen Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse darzustellen. Handwerkerzünfte wurden 169

als Gegenentwürfe einer immer komplexer werdenden arbeitsteiligen industriellen Wirklichkeit beschworen. Aus der modernen Schuhfabrik des 19. Jahrhunderts mit ihren Massenarbeitsplätzen wurde die trauliche Schusterwerkstatt des Hans Sachs, in der die Sphären von Arbeit, Familie und Freizeit noch ungetrennt blieben und der Handwerker sein Produkt noch in Gänze erleben durfte. Hier trat der Meister noch als bildungsvermittelnder Dienstherr und familienführender Patriarch auf, verantwortlich für das sittliche und materielle Wohlergehen von Frau, Kinder, Gesellen und Lehrbuben. Die immerwährenden Werte von Anstand, Gehorsam und Disziplin wurden durch ihn allemal repräsentiert und gleichermaßen eingefordert. Solche ganzheitlichen Vorstellungen standen ganz in der Tradition voraufklärerischen Denkens und lieferten der adeligen und großbürgerlichen Ständegesellschaft des 19. Jahrhunderts ihre moralischen Legitimationen. Hans Sachs als der „Gutsherr“ der Handwerkszünfte und Vorbild aller Deutschen, nicht nur der Kunst verpflichtet, sondern vielmehr vergleichbar dem preußischen Adel, der die Stützen einer rigiden Klassengesellschaft bildete. Die Festlichkeit erscheint als Fiktion, welche die Aggressionen und moralischen Defizite verschleiert, die unter der Decke des derbbürgerlichen Humors, dem nicht zu trauen ist, unschwer zu erkennen sind. Neidische Häme und Spott über das Unverstandene sind in der Szene des Sängerwettbewerbs stets gegenwärtig und treffen Walther von Stolzing, einem jungen Ritter aus Franken, welcher den Mut aufbringt gegen die üblichen Regeln am Sängerwettstreit teilzunehmen und der bei seiner Vorstellung bekennt, zur „Frühlingszeit in Waldesflur“ von Finken und Meisen das Singen gelernt zu haben. „Oho, von Finken und Meisen lerntet ihr Meisterweisen, dann wird es wohl auch danach sein“, kommentiert der jüdische Stadtschreiber Beckmesser hämisch den Vortrag, den Wagner mit allen abstoßenden Attributen versehen hat, die dem Opernfreund bereits in der Gestalt des Mimen aus den Nibelungen bekannt sind, um ihn als dilettantischen „Musikjuden“ unübersehbar und unüberhörbar vorzuführen. Der Kulturhistoriker Hans Mayer deutete die Meistersinger als ein tief zwiespältiges Werk am Rande der Umdüsterung entlangschreitend.10 List und Intrige sind an der Tagesordnung, böse Aggressionen bestimmen ein Klima des Terrors und der Verachtung, das tagsüber noch unter der Decke gehalten wird, aber nächtens mit voller Wucht ausbricht. In den wilden nächtlichen Schlägereien brechen Wut und bislang verdrängte Verachtung hervor, die man bei Lichte besehen nicht für möglich gehalten hätte. Von Gruppe zu Gruppe, wie innerhalb der Gruppe, alles schlägt wild um sich; verdrängte Rivalitäten, Neid und kollektiver Haß prügeln aufeinander ein; die Weber auf die Gerber; diese auf die Schneider, die Gürtler, die Spengler, die Zinngießer. Freilich ist das Chaos hierarchisch gegliedert; stellvertretend für ihre Lehrherren prügeln sich erst die Lehrbuben, die Gesellen kommen dazu und zuletzt schlagen sich die Meister untereinander. Erst den Frauen gelingt es, das Chaos zu beenden. 170

Das friedensstiftende Element des ordnungsstiftenden Geistes bändigt die „totale Entfesselung der Materie“.11 Als Verursacher des nächtlichen Aufruhrs hat Wagner den Juden ausgemacht, jenes „Ferment der Dekomposition“, das der Historiker Theodor Mommsen so bezeichnet hat und der das Deutschtum mit „welcher Falschheit“ zu zersetzen droht. Die Figur des Beckmessers führt mit Beklemmung vor Augen, wie sich der Dichter und Komponist den „ewigen Juden“ vorgestellt hat, jenen Menschentyp, der im „Volk“ nur Aufruhr und Chaos verursacht. Beckmesser bringt Nürnberg zur Raserei und stört die spießbürgerliche Friedensfassade. Hans Sachs warnt in seinem Schlußgesang vor den welschen Eindringlingen und zeichnet dabei das Bild eines Deutschlands, das von welscher Falschheit überrumpelt, sich selbst verliert. Jedoch, so hofft Hans Sachs, selbst wenn das Reich im welschen Gestank untergehen würde, die reine deutsche Kunst bleibt bestehen. In ihr, so der Revolutionär Wagner, offenbare sich die wahre Natur, zeige sich das reine deutsche Blut, seine ewige Botschaft. Reiche können vergehen, die „Gottähnlichkeit“ der Rassesubstanz bleibt ewig bestehen. Und eben dies zu zeigen, darin besteht das „Heilige“ deutscher Kunst. Wagner läßt seinen Beckmesser als einen Menschentypus erscheinen, welcher Verderbnis an der „wahren deutschen“ Kunst begeht, und beim Volk nur Ekel auslöst. Und diese destruktive Rolle hat der Meister aus Sachsen nun einmal dem Juden zugedacht, der jenen verderblichen Dunst verbreitet, den auch Schopenhauer, ein anderer Mentor des damals geläufigen Judenhasses, glaubte zu bemerken. In der Figur des Beckmessers tritt uns ein fratzenhaftes Zerrbild des Juden vor Augen, so, wie ihn sich der Antisemit im 19. Jahrhundert vorstellte. Wagners Antisemitismus ist unübersehbar, auch wenn er ihn im Gewande einer Figur verhüllt, die selbst auf der Opernbühne mehr Karikatur darstellt, als denn wirkliche Personen widerspiegelt. Für den damaligen völkischen Nationalismus kam sie zum passenden Augenblick, was zur Popularität der Oper Beträchtliches beitrug. Die verführerische Wirkung der Meistersinger, deren haßerfüllte Botschaften sich im folkloristischen Getümmel verbergen, ist auf den ersten Blick nicht erkennbar, da sie von der Festwiesenseligkeit und dem derben Spaß, der die Oper durchzieht, übertönt wird. Und deshalb kommt ihr eine fatale propagandistische Wirkung zu, welche sich Jahrzehnte später die Nationalsozialisten geschickt zu nutzen machten, in dem sie diese Oper stets als Auftaktfeierlichkeit ihrer Nürnberger Reichsparteitage aufführen ließen. Wie überhaupt die Meistersinger im Dritten Reich als tiefster Ausdruck der deutschen Seele verstanden wurde. Es ist jenes dumpfe Biedermännische, unter dessen dünner Decke scheinbarer Wohlanständigkeit sich ein unergründlicher Haß auf alles Fremde verbirgt. Die mittelalterliche bürgerliche Szenerie über alle Zeiten gedacht und welche Gediegenheit, Sauberkeit, Wohlanständigkeit und Ehrfurcht ausstrahlen sollte, wird unversehens zur Fallgrube für alles Fremde und „Andersartige“. Über allem legt Wagner eine burleske Dramaturgie des Verharmlosenden. Und somit scheint Nächtens mildes Mondlicht auf 171

die Gassen, das spitzweghaft die Prügeleien in ein versöhnlicheres Licht taucht, als es die Aggressionen vermuten würden. Selbst das „ewige jüdische Feindbild“, der Beckmesser, kommt noch glimpflich davon, darf sich unter das Volk mischen und wird allenfalls Objekt des Hohnes und des Spottes. Insofern führt ein direkter Weg von der Opernbühne Richard Wagners zu den NaziSchergen der SA, die Juden „spaßeshalber“ die Bärte abschnitten und sie mit Zahnbürsten die Rinnsteige im Berlin und Wien der dreißiger Jahre putzen ließen. Der Galgen, an dem der Jude hängen sollte, bleibt in den Meistersingern in Form von Fahnenmasten nur angedeutet, überzeichnet von Festtagsjubel und handwerklich-biederem Alltag mit seinem Höhepunkt auf der fahnengeschmückten Festwiese auf der die Metaphorik der Fahnenstangen dem, vom Orchesterrausch der Musik Betäubten verborgen bleibt. Wagner hat diese brutale und abstoßende Immanenz in der Jubelatmosphäre um Hans Sachs, begleitet von deutschem Fliederduft und Aufmarschprunk musikalisch geschickt überzeichnet. Hans Sachs, der „wahre“ Deutsche, der autoritäre Widergänger des wilhelminischen Kaiser, warnt, trotz aller Turbulenzen um das Ansehen seines Standes bemüht: „verachtet mir die Meister nicht“, zumal in Zeiten, da Deutschland durch „welschen Dunst“ vernebelt wird. Auch hier wiederum eine antisemitische Spitze des musikalischen Revolutionärs Wagner. Was noch in den Meistersingern als Ehrdarbietung der Handwerkszünfte anklingt, gerät unter der Rezeption im gesellschaftlichen Klima des preußischen Obrigkeitsstaates unversehens zur Ideologie adelsständischer Herrschaft und beschränkter Bürgerlichkeit, welche des projektiven Feindbildes des „ewigen Juden“ oder des „welschen“ Fremdlings bedurfte. Auf der Basis des Antisemitismus in Wagners musikalischen „Gesamtkunstwerken“ mit ihren stabgereimten Librettos, in denen er immer wieder „germanische“ Lebenswelten beschwor und insbesondere an seinen Meistersingern konnte Hitlers politischer „Mythologiewahn“, in dem er sich als Vollstrecker Wagnerscher Prophezeiungen verstand, nahtlos anschließen. Die Art, wie Beckmesser, der geistlos schlaue Intrigant mit Walther von Stolzings Poesie umgeht – in den Augen der Nazis die Metapher für arische Kunst und unverdorbenem, von artfremden Einflüssen freiem Geist, – deutet in jene Richtung, in welcher auch die nationalsozialistischen Kulturpolitik eines Goebbels einschlug, in dem sie die jüdische Kunst als Verballhornung, entartet und geistigen Diebstahl diskriminierte. Mehr noch, Beckmessers Angriffe auf den hehren Gesang des Walther von der Vogelweide versteht sich im Sprachgebrauch der Nazis, als die „schmierige“ Hand des „parasitären Juden“, der die arische Kunst, sobald er sie in seinen Händen bekommt, besudelt und in den Dreck zieht. Das, was die Nazis in die Tat umsetzten, erscheint bei Wagner vorgedacht. Zunächst vergriff sich der Widersacher des Ritters aus Franken nur an der Melodie des Vortrages. Nach 1861 beschloß Wagner seinem „Typenjuden“ auch dessen Worte zu verballhornen, indem er Stolzings Verse umdeutete, jedoch in einer Weise, die dem unverhohlenen Antisemitismus des 172

Meisters aus Sachsen Rechnung trägt. Unter den Händen Beckmessers verwandelt sich Stolzing Hymne „Morgendlich leuchtend im rosigem Schein“ – jenes schöne Liebeslied an Eva gerichtet –, in ein abstoßendes Pamphlet der Häßlichkeit, welches die dem Juden unterstellten Gemeinheiten widerspiegelt. Für Hitler und Goebbels später ein Beleg für die „entartete“ jüdische Kunst. Beckmesser verdreht die gestohlenen Worte Stolzings nicht nur, sondern er „entartet“ sie in dem er sie in unfreiwilliger Komik zu einem Zeugnis seiner Frevelhaftigkeit und minderen Kunstsinnigkeit entstellt. So wird aus „Morgendlich leuchtend“ und jenem „Paradiesgarten“, wohin der verliebte Ritter eingeladen wurde und in welchem ihm die Luft von „Blüt und Duft geschwellt erschien“, durch den Dieb Beckmesser, der die wahre Poesie dieser Verse nicht zu entdecken vermag, ein selbstverliebtes „Morgen ich leuchte im rosigen Schein“, und von dem, der auf Freiersfüßen wandelte eitle Pedant hofft, von Blut und Duft – vermutlich das seiner hold duftenden Braut, die er zu besitzen gedenkt –, „geschnellt in die Luft“ zu werden, womit er sicherlich einen freudigen Luftsprung meint. So heißt es jedenfalls in der textlichen Urfassung der Meistersinger. Würde man Wagners Judenhaß als die Hand deuten, die solche Verse schrieb, so erscheinen sie als eine makabre, metaphorische Andeutung der millionenfachen Vernichtung, die im Schein der Krematorien von Auschwitz und anderswo endete. Wagner hat die Endfassung schließlich abgeändert in: „von Blut und Duft geht schnell die Luft“, was noch absurder klang, als das vorherige. Aber dies geschah nicht aus einer textlichen Unzulänglichkeit des Komponisten, vielmehr war es die geplante Absicht Wagners, durch die Dramaturgie des Opernwerkes den Juden als künstlerischen Dilettanten hinzustellen. Zur Erheiterung der Zuschauer verdrehte Beckmesser im Verlaufe seiner Gesangsdarbietung Walthers Schilderung „ein Garten lud mich ein, Gast bei ihm zu sein“, in ein entlarvendes „im Garten lud ich ein Mastvieh und Schwein“, womit allzu deutlich, die Konnotation des Juden als gieriger Viehhändler auf der Opernbühne Gestalt annimmt. Selbst Wagner war dies in seiner Urfassung dann doch des Guten zuviel und somit milderte er es in der Endfassung in ein nur noch sinnlos läppisches „im Garten lud ich ein garstig und fein“. Die etwas gedrechselte Version Stolzing, dem am „duft’ger Zweige Saum“ eine Frucht „mit holden Prangen“ von einem Baum „herrlich“ dargeboten wird, singt Beckmesser, sehr zum Entzücken der Festgemeinde, ungewollt als Andeutung seines eigenen Todesurteils, von dem er freilich in der Oper noch verschont bleibt, was sich aber Jahrzehnte später erfüllen sollte; und so heißt es bei ihm: „Mich holt am Pranger der Verlanger, auf luft’ger Steige kaum, häng ich am Baum“. Von dem er sogleich, statt der goldenen Frucht Stolzings „Geld und Frucht“ holt. Wie ließe sich auch das Stereotyp über den geldgierigen Juden gekonnter und zugleich unverfänglicher ausdrücken, als durch die dramaturgischen Vorgaben komischer und bewußt beabsichtigter dilettantischer Auftritte einer Operngestalt. Rein zufällig war solches Textgut nicht geschrieben; denn wenn es nach Wagners Willen gegangen wäre, hätten 173

die Juden schon damals an den sprichwörtlichen Bäumen gehangen. Freilich hatte der angedeutete Tod durch Erhängen, dem man sogenannten Kunstfrevlern androhte, bereits Tradition. Das gleiche Schicksal wünschte Robert Schumann dem überaus erfolgreichen Opernkomponisten und Juden Giacomo Meyerbeer an den Hals. Dessen zu damaliger Zeit überaus populärer Oper Die Hugenotten schickte Schumann 1836 einen tödlichen Verriß hinterher, in dem die antisemitischen Metaphern des Bayreuther Meisters ansatzweise vorweggenommen wurden. Schumann schrieb unmißverständlich: „mit leichter Mühe, kann man Rossini, Mozart und andere Vorbilder in Meyerbeers Musik“ nachweisen. Was aber unzweifelhaft auf Meyerbeer hinweist, so Schumann, „ist jener berühmte, fatal meckernde unanständige Rhythmus, der fast alle Themen der Oper durchzieht“. Es sind dieselben Charaktereigenschaften, die Wagner musikalisch auch dem Beckmesser, und in seinen Nibelungen, dem Zwergen Mime unterlegt. Alles an Minderwertigem wird Meyerbeers Musik unterstellt. „Gemeinheit, Verzerrtheit, Unnatur, Unsittlichkeit, Unmusik“, glaubt der relativ mittellose Schumann im Werk des wohlhabenden Opernkomponisten zu entdecken und faßt seinen ganzen Ärger und Neid hierüber in einem enthüllenden Satz zusammen: „Es kann nicht ärger kommen, man müßte denn die Bühne zu einem Galgen machen, und dem äußersten Angstschrei eines von der Zeit gequälten Talents folgt im Augenblicke die Hoffnung, daß es besser werden muß“.12 Mit anderen Worten, nur der Tod des „ewigen Juden“ – Ahasvers Heimgang – bringt der Welt, und bei Schumann ist immerhin noch die musikalische Welt gemeint, die Erlösung. Hingegen bei Wagner sollte er das Ende des Judentums bedeuten. Wagners Meistersinger bildete alles dasjenige ins Metaphorische ab, was unter dem Nationalsozialismus bittere Realität für die jüdische Bevölkerung werden sollte. Insofern bedurfte es nur eines Vollstreckers, der Wagners musikalische Visionen Wirklichkeit werden ließ. Auch in Hitlers Staat blieb der Galgen vorläufig nur angedeutet. Hinter der festseligen Kulissenwelt der Reichsparteitage blieb er noch unsichtbar, nur in unscharfen Umrissen für denjenigen erkennbar, der in den Nürnberger Rassegesetzen mehr sah, als formale juristische Regularien für die künftigen Lebensgewohnheiten einer zur Minderheit erklärten Gruppe. Selbst die Rassegesetze suggerierten für eine Vielzahl der Bevölkerung lediglich die administrative Regelung des Miteinanders der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung. Und nicht wenige jüdische Menschen glaubten dies mit dem verzweifelten Optimismus, daß es alles gar nicht so schlimm kommen würde. Hitler wollte seine opernhaften Inszenierungen auf den „Festwiesen“ des Nürnberger Reichsparteitaggeländes ungestört feiern und der heiligen deutschen Kunst und vor allem der deutschen „Rasse“ zum Durchbruch verhelfen. Wer es in den Jahren vor Kriegsbeginn noch als Jude in Deutschland aushielt und immer noch daran glaubte, daß mit den Rassegesetzen nun ihr Status endlich geklärt sei und die Bedrohungen nicht wahrhaben konnte, der wurde zunehmenden Repressalien ausgesetzt. Zwar wie 174

Beckmesser vorläufig nicht umgebracht, aber der allgemeinen Ächtung ausgesetzt, bis er sich irgendwann im Exil verlor, seinem Leben selber ein Ende setzte oder in die Konzentrationslager im Osten abtransportiert wurde. Ähnlich wie im Trubel der Festwiese in der deutschesten aller Volksopern, ging das Schicksal der Geächteten in aufpeitschenden Paradefanfaren, verhüllenden Lichtdomen und aufmarschierenden Fahnenkolonnen unter. Wie sehr sich der Wagnerverehrer Hitler jene Hoffnung des Hans Sachs zueigen gemacht hatte, daß, wenn im Dunst das heilige römische Reich zergehen sollte, „uns bliebe gleich die heil’ge deutsche Kunst!“, zeigte sich daran, daß er immer noch dann über Stadtmodelle, Entwürfe von Bayreuther Bühnenkulissen und Museumsplänen brütete, derweil draußen die realen Städte mit ihren Museen und Opernhäusern im Bombenhagel untergingen. Wenn schon nicht das reale Deutschland mehr zu retten sein werde, so sollte die hehre deutsche Kunst allen Widerständen zum Trotz auf ewig überleben. Wagners Antisemitismus steigerte sich in den letzten Jahren des Meisters. In Phantasien träumte er von der Auslöschung des Judentums. Am Schluß seines Aufsatzes Erkenne dich selbst fordert er fast ein Jahrhundert vor Auschwitz unmißverständlich die mörderische „Endlösung“ der Judenfrage. In der Hoffnung, daß das deutsche Volk sich endlich selbst erkennt, wird es keine Juden mehr geben, so Wagner, dessen Bayreuther Blätter nach seinem Tode endgültig zur Plattform eines fanatischen und eliminatorischen Antisemitismus werden sollten. In Bayreuth installierte sich in Folge des völkischen Wagnerkultes nicht nur eine Weihestätte deutscher Opernkunst, sondern im Kreise des Wagnerclans unter Einfluß des englischen Antisemiten Houston Stewart Chamberlains entstand ein repräsentatives Zentrum deutschen Judenhasses. Und dies sicherlich ganz im Geiste des sächsischen „Gesamtkunstwerkschaffenden“, der solche verderbliche Gedanken begonnen hatte, aber dabei geschickt genug war, sie in seinen Musikwerken nur in Metaphern und mythologischen Versatzstücken anzudeuten. Nietzsche zufolge wird der geschichtliche Umzug vom Einst des Mittelalters in die Gegenwart des 19. Jahrhunderts von Wagner in seinen Meistersingern insbesondere durch die Ouvertüre intoniert. Frei von südlicher Anmut, Leichtigkeit, Helligkeit und Grazie, aber ebenso frei vom italienischen Verismus der La Boheme oder der Tosca eines Puccini, des Bajazzo eines Leoncavallo oder der Cavalleria rusticana von Mascagni, welche die Alltagsprobleme der einfachen Leute naturalistisch auf der Opernbühne darzustellen vermochten und damit echte Identifikationsobjekte für das zumeist kleinbürgerliche Publikum in Szene setzten. Wagners Musik dagegen derb, plump mit dem Hang zum Barbarischen und zugleich Feierlichem; „etwas Deutsches im schlimmsten und besten Fall, etwas auf eine deutsche Art Vielfaches, Unförmliches und Unausschöpfliches; eine gewisse deutsche Mächtigkeit und Überfülle der Seele, welche keine Furcht hat, sich unter dem Raffinements des Verfalls zu verstecken“. Für Nietzsche stellte die Atmosphäre 175

der Meistersinger den Gegensatz zur Zivilisation dar, das Deutsche gegen das Französische. „Ein rechtes echtes Wahrzeichen der deutschen Seele, die zugleich jung und veraltet, übermürbe und überreich noch an Zukunft ist. Diese Art Musik drückt am besten aus, was ich (Nietzsche, Anm.d, .d.Verf.) von den Deutschen halte: sie sind von vorgestern und von übermorgen – sie haben noch kein Heute“.13 Der Musikkritiker Hanslick sprach nach der Premiere der Meistersinger im Jahre 1860 von einer Art Krankheit, einer Musik, welche die Realität aufzulösen vermochte und einen narkotischen Zustand der Suggestibilität herbeiführte.

Kapitel 8.1 Protestantischer Ernst und steingewordene Gegenwart. Heines Nachtigallenwahnsinn. Den Blick auf den Erzfeind. Luthertum und Staatsmacht. Denkmäler der Vergangenheit. Historismus als Verschleierung. Bastionen der Restauration. Da man in den regressiven musikalischen Utopien eines Richard Wagners, außer handfestem Rassismus und Historisierung von Vergangenem die herzerwärmende Harmonie nicht finden konnte, denn die Oper war nach wie vor der bürgerlich gehobenen Bildungsschicht vorbehalten, begnügte man sich hinsichtlich des Massengeschmacks mit dem volkstümlichen Kitsch einer epigonalen, nationalistischen Spätromantik, mitunter auch in Stein gehauen und Stahl gegossen oder in Liedern und Versen besungen und beschrieben. Zudem boten sich in Wagners Opern durchweg Heldengestalten oder Gottheiten als sinn- und identitätsstiftende Vorbilder an, die jedoch ohne wesentliche Wirkung auf die Mehrzahl der Bevölkerung blieben. Oper war, im Gegensatz zu Italien, keine Volksangelegenheit und dem entsprachen auch die Themen. Mehr noch, die Oper als großbürgerliche Kultveranstaltung, zumal die Bayreuther Festspiele, trugen zu gegebenen Anlässen zur Vertiefung der Klassengegensätze bei. Dörfliche Familienidylle, kleinbürgerliche Lebenswelten, „Nachtigallenwahnsinn“, wie Heinrich Heine es nannte, wald- und märchenhaft untermalte Daseinsbeschreibungen bildeten für die breite Masse hingegen eine verzweifelte Alternative zur Technisierung und Verstädterung und der hierdurch zunehmenden Rationalisierung und Entfremdung menschlicher Beziehungen. Diese, mitunter verschrobenen Innenansichten einer gesellschaftlichen Mentalität, waren bisweilen nicht ohne den naiven Charme einer schlichten Daseinsdeutung, die ein Refugium der biederen Zufriedenheit hätte sein können, wenn nicht ein aggressiver nationalistischer Hagestolz gewesen wäre, der sich gegen alles richtete, was nicht diesem Bild entsprach. Von vorneherein fehlte diesem Bild die Leichtigkeit des Seins und statt dessen überwogen auf der Palette nationaler Selbstzufriedenheit markante 176

und aggressive Farbenmischungen und die Attitüden eines protestantischen Leidensernstes. Die Gegensätze waren unverkennbar: der gekonnte, morbide Charme des Rosenkavalier gegen die nihilistische Untergangsstimmung in Wagners Götterdämmerung, die Starrheit tradierter Grundsätze, mögen sie auch noch so irrational geworden sein; Moliere gegen Kleist, Beaumarchais’ und Mozarts Figaro, der sprühende, intelligente Rebell als Gegenfigur zum saturierten und in die Jahre gekommenen Grafen Almaviva, gegen Wagners Hans Sachs, dem wahren deutschen Heros mit seinem belehrendem und autoritärem Gehabe, das mit vollem Ernst und Wichtigkeit sich in Szene setzte. Die Leichtigkeit des Seins gegen den Schmermut des Grundsätzlichen und eines dauerhaften Kampfes ums Dasein. Jene auffällige philosophische Schwerblütigkeit deutschen Ernstes gegen die lichte, pastellfarbene Heiterkeit romanischer Kultur. Und somit paßte in dieses mitunter kitschige deutschtümelnde Bild, jener „deutsch-rheinbewußte“ Haß auf alles Französische, der über alle Klassen hinweg einte und über den schon Goethe in seinem Faust in Auerbachs Weinkeller vernehmen ließ, daß kein Deutscher den Franzmann leiden mag, aber seine Weine gerne trinkt. Über alledem thronte die Germania auf den Rheinhöhen bei Rüdesheim, den Blick gegen den Erbfeind gerichtet, als steingewordener Inbegriff und Vorbild germanisch-völkischer Wehrhaftigkeit. Wie überhaupt allerorten pompöse Denkmäler zu besichtigen sind, deren Figuren überdimensionierte Über-Ichs verkörpern, welche den verunsicherten und vom Zeitgeist überwältigten Individuen eine gewisse Stabilität verheißen, ohne daß sich mit ihnen wirkliche Beziehungen herstellen lassen würden. Neben den Denkmälern historischer Ereignisse wurden wie selbstverständlich auch jenen ihren Platz zugewiesen, die das Bildungsbürgertum aus dem geschichtlichen Arsenal einer vermeintlich ruhmreichen Vergangenheit auf dem Piedestal der nationalen Verehrung stellte; die Heroen von gestern und vorgestern, Albrecht Dürer als Held mittelständischer Gebildetheit und Martin Luther, der Held des Glaubens und der protestantischen Gegenbewegung, den der Zeitgeist je nach Standpunkt als konservativen Revolutionär oder revolutionären Reaktionär sah, als einen Mann der Zeit, der Religiöses streng vom Weltlichen und Politischen trennte und mit seiner Zwei-Reiche-Lehre dafür gesorgt hatte, daß den Regierenden nicht ins Handwerk gepfuscht wurde und das Volk außen vor blieb. Im Fahrwasser protestantischer Frömmigkeit entstand eine Innerlichkeitstheologie gegen Modernität, Urbanisierung und wissenschaftlicher Aufklärung. Das Luthertum erwies sich als Bastion gegen liberale Tendenzen und bejahte kritiklos die Staatsmacht, der man mit devotem Enthusiasmus diente. Im Wilhelminismus wurde, entgegen einer aufklärerischen Säkularisierung noch einmal der Versuch unternommen, Staat und Religion politisch zu synthetisieren, diesmal unter der Ägide des preußischen Protestantismus. Um dies in der Reichshauptstadt auch nach außen hin sichtbar zu demonstrieren, ließ Kaiser Wilhelm II in Anlehnung an den Petersdom in Rom den Berliner 177

Dom als Wahrzeichen protestantischer und staatlicher Machtentfaltung errichten. Aus einer ursprünglichen christlichen Bescheidenheit, wird das evangelische Pfarrhaus zum Ort sentimentalen Gefühlsüberschwanges und schwelgerischen Frömmelei. Freilich in der Generation bedeutender Söhne evangelischer Pfarrhaushalte zeigten sich rebellische Verweigerungen, den väterlichen Vorbildern zu folgen. Hermann Hesse, erzogen in der strengen Atmosphäre seines pietistischen Vaterhauses, entfloh als 15 jähriger dem evangelisch-theologischen Seminar Maulbronn; Nietzsche gar, der ebenfalls aus einem Pfarrhaus kam, formulierte die schärfste Kritik gegen die christlichen Religionen. Und Gottfried Benn schrieb in Berlin das Hohn- und Spottlied „Pastorensohn“ als späten Abgesang auf seine evangelische Herkunft und entzauberte die „staatstragende“ Idylle des evangelischen Pfarrhauses in der Wilhelminischen Epoche. Gleichwohl vermittelte der Anblick gestriger Heroen, wie bei den übrigen steingewordenen geschichtlichen Vorbildern, das kontinuierlich Gefühl der Erhabenheit und nationalen Erhebung, das über die profane Werktagswelt mit ihren sozialen und ökonomischen Krisen hinweghalf. Denkmäler und Denkmalskomplexe in Form ganzer Gebäude, wie die Regensburger Walhalla von 1842, die Bavaria in München, die Befreiungshalle in Kelheim, die Siegessäule in Berlin (1873), nach dem Sieg über Frankreich errichtet, das Hermanndenkmal im Teutoburger Wald (1875); das Denkmal Wilhelms I. an der Porta Westfalica (1896), das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig (1913), „waren Ausdruck gleichermaßen des nationalen Pathos wie des Stolzes auf technisch-monumentale Leistungen“.1 Inmitten ständigen Wandels und einer Zeit rascher Wechsel wollte man Vergangenheit als „Bleibendes“ in Stein bewahren. Gemessen an der desolaten ökonomischen Situation der unteren Arbeiter- und Angestelltenschichten wurde für den nationalen Pomp ein unverhältnismäßig hoher Aufwand an Material und Kosten verursacht. So benötigte man alleine für die Germania samt Thronsessel mit Adlerköpfen und die sie flankierenden Figuren „Krieg“ und „Frieden“ 75 Tonnen Metall. Das gesamte Denkmal kostete 1,2 Millionen Goldmark, wovon „das deutsche Volk“ 1 Million spendete! Geschichte in Stein gemeißelt und in Metall gegossen, auf das sie immer so bliebe in ihrer glorreichen Verzückung, welche von Staatswegen angeordnet war und dem die Massen, vor allem das Bürgertum nur allzu bereitwillig folgten, vermittelte doch dies alles den Eindruck, Historisches ließe sich festhalten um die Zukunft zu verweigern. Aber es gab auch andere Stimmen. Reinhold Küchler, einer der Attentäter, welche anläßlich der Einweihungsfeierlichkeiten in Anwesenheit des Kaisers ein Attentat verübten, sagte vor Gericht: „Als nach dem sogenannten glorreichen Krieg die neue Ära begann, da sollte eine bessere Zeit anbrechen. Für die Arbeiter hat jedoch die neue Ära nicht das mindeste gebracht. Die Arbeiter darben nach wie vor, sie sind und bleiben nach wie vor die verachtete Klasse, sie arbeiten bloß für die oberen Zehntausend. Sie bauen die schönsten Paläste und wohnen in den 178

armseligsten Hütten“.2 In den „Fluchtburgen“ der affirmativen Kultur, den überall neu entstandenen Museen, setzten sich in bildungsmäßiger Hinsicht die zeitlosen Idylle fort, nur diesmal in der Verehrung von Vergangenem. Vergangenheit wurde zur regressiven Präsentation für die Gegenwart aufgewertet, ohne die Originalität des Kreativen zu erreichen. Herbert Marcuse sprach in diesem Sinne davon, daß die Kunst für den Bürger seit mindestens einem Jahrhundert nur noch in musealer Form existiert.3 Daher war das Museum die geeignete Stätte, um die Diskrepanz von der Faktizität des Alltages mit einem tröstlichen Rekurs auf eine würdige, jedoch vergangene Welt zu verbinden. In der Gegenwart war man indes in eine rationalisierte Welt umgezogen, die zunehmend von technischer und wirtschaftlicher Expansion begleitet wurde. Ihren kalten Funktionalismus, in dem Pragmatismus und Materialismus vorherrschten, fürchtete man und deshalb umhüllte man sie mit den Exponaten einer regressiv erträumten Geschichte. Diese sollte den Eindruck stilloser Gegenwart verhindern und so war es gewiß kein Zufall, daß die werktäglichen Bauten, Wasserwerke, Fabrikgebäude, Börsen, Banken, Schulen und Lagerhallen mit dem Stilarsenal vergangener Epochen überworfen wurden. Was Nietzsche als Flucht ansah, die Übernahme des Historischen in die Gegenwart, war im Grund nichts anderes, als die Aneignung der Welt nach rückwärts um den liberalen Fortschritt, der sich zaghaft bemerkbar machte, zu hemmen. Aus den Schulstuben, Gelehrtenkabinetten, Zirkeln, nationalen und vereinsmäßigen Fahnenweihfestveranstaltungen und an den Stammtischen der Kneipenstuben brachen kühne Frührots- und Morgenrittsbegeisterungen hervor, jedoch mit weit weniger ästhetischer Qualität ausgestattet, wie sie Stephan George in seiner literarischen Suche nach dem neuen Reich hymnisch herbeischrieb. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnte man den Eindruck gewinnen, die ganze Nation befände sich in einer einzigartigen Aufbruchsstimmung und es nur eines Anlasses bedurfte, um den aufgestauten patriotischen Gefühlen entsprechende Taten folgen zu lassen. Und so war es gewiß kein Zufall, daß sich unter dem lyrischen Geraune immer wieder militärische Phantastereien zu Wort zu meldeten, welche sich in Liedern mit gefühlvoll pathetischer Ausdrucksform, wie die Wacht am Rhein, Fern bei Sedan, Die Rosse von Gravelotte und ähnliches, was das deutsche Liedgut der KommerzGesangsbücher zu bieten hatte, bemerkbar machten. So allmählich begannen die Deutschen aus ihrer Welt der falschen Gefühle auszubrechen und in eine Welt des Barbarischen zu wechseln. Aus den heimeligen Spießbürgern wurden unheimliche Deutsche. Nicht mehr lange, klang es dann unverhohlen, vollkommen unromantisch und schon gar nicht idyllisch, dafür aber um so drohender: „und heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“.

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Kapitel 9 Nationalismus und völkischer Rassismus Houston Stewart Chamberlains Kulturkritik. Propheten und Vollstrecker. Wegbereiter nationalsozialistischer Rassenpolitik. „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ oder „Vor dem Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher“. Antisemitismus als affirmative Kultur der Entfremdung. Rassenträume und anthropologischer Nihilismus. Rassenbiologie als Gesellschaftstheorie. Das Volk ist die Nation. Chamberlains neue Weltordnung. Christus als arischer Prophet. Die Angst vor der kulturellen Vielfalt. Das Wiederbeleben des historischen Bewußtseins im 18. Jahrhundert führte zu einem Erstarken des rassischen Ideals, welches sich mit völkischen und imperialistischen Ambitionen verband. Von daher war dieses Bewußtseins, welches sich auf die germanischen Altvordern berief, für die weitere Entfaltung des Nationalismus, und hier insbesondere in Deutschland, von grundlegender Bedeutung. Es postulierte Gesetzmäßigkeiten einer organischen Entwicklung, die Eingang in eine rassenspezifische Anthropologie fanden und somit auf die Entwicklungsgeschichte von Ethnologien übertragen wurden.1 Als entscheidender Faktor des soziokulturellen Prozesses wurde der Weg eines „Volkes“ durch die Zeit erachtet, d.h. mit anderen Worten, nur dasjenige „Volk“, welches sich auf eine historische Kontinuität berufen konnte, war sich seiner Bestimmung gewiß, die oftmals alle Anzeichen von nationaler Auserwähltheit enthielt. Damit wurde gewissermaßen unter der Hand eine Definition von Volk und Nation vorgegeben, die sich ausschließlich an Blutund Bodenabstammung orientierte und kulturelle Dispositionen, die im Austausch mit anderen Kulturen ihr spezifisches Gepräge erhielten, blieben hierbei unberücksichtigt. Daß Kultur und Sprache durch einen dynamischen Austauschprozeß unterschiedlicher historischer Entwicklungslinien entsteht und zu dem wird, was letztlich die besonderen Eigenheiten jeweiliger Ethnologien auszeichnet, wurde schlichtweg geleugnet. Man insistierte vielmehr auf eine Kontinuität ursprünglicher rassisch ethnologischer Grundlagen, deren gültige Existenz nach wie vor behauptet wurde, obgleich die Geschichte in Wirklichkeit anderes lehrte. Bei näherem Hinsehen waren diese Grundlagen bereits durch die Pseudotheorien rassisch-völkischer Geister bereits dermaßen idealisiert und stilisiert, so daß sie eigentlich verfremdete regressive Utopien einer vergangenen Welt darstellten, die zum Zwecke der Legitimation der Gegenwart benutzt wurden. So wurde beispielsweise die germanische Kultur dermaßen verklärt, daß völkisch- nationale Ideologen in ihr den Ursprung jedweder Kultur sahen. Im Zuge dieser Auffassung von Nationalismus ging es daher nicht darum, daß ein Volk eine individuelle Geschichte aufweisen konnte, die infolge interkultureller Einflüsse über die 180

Jahrhunderte entstanden ist, sondern Geschichte war einem göttlichen Plan unterworfen und wurde somit zum nationalen Mythos. Wenn aber Geschichte, wie angenommen wurde, durch einen göttlichen Plan beeinflußt wird, dann war der Weg zur Annahme schicksalhafter Bestimmung einer „Rasse“ oder eines „Volkes“ nicht sehr weit und somit konnten biologistische und naturhaft vorgegebene Faktoren in die Entstehungsgeschichte menschlicher Gemeinschaften einbrechen, denen sich moralische und soziale Imperative zu unterwerfen hatten. Das Gesetz des Handelns bestimmten daher nicht mehr die Vernunft und ein moralischer Universalismus, sondern Moral und Ethik wurden in einem partikularistischen Sinn, der sich nur auf die jeweilige Rassenund Volkszugehörigkeit bezog, von einem unabänderlichen biologistischen Plan abgeleitet. Damit waren erste Schritte zu einer umfassenden Verschiebung des moralischen Referenzrahmens getan, den die Nationalsozialisten Jahrzehnte später zur Rechtfertigung ihrer Völkermorde benötigten. Das über weite Strecken vorherrschende romantische Denken, welches diesen ausschließlichen „Blut- und Bodennationalismus“ noch nicht sah, wurde in dem Moment vergiftet, wo es sich mit einem ungebundenen Szientismus verband, der die Moral aus der Biologie ableitete. Rassehygienikern wie Wilhelm Schallmayer, die im Sinne dieses völkischen Nationalismus argumentierten, behaupteten, daß Individuen, die für das Gattungsinteresse keinen Wert mehr darstellen, in der Natur zwangsläufig einer baldigen Vernichtung zugeführt werden. Hierdurch wurde eine Sichtweise geboren, die den rassisch-völkischen Geschichtsbetrachtungen zusätzlichen Aufschwung verliehen. An der moralischen Korrumpierung einer wissenschaftsgläubigen Welt trug vor allem der Biologismus einen erheblichen Anteil. Selbst Thomas Huxley, ein Schüler Darwins warnte davor, den sittlichen Fortschritt einer Gesellschaft nicht mit der Nachahmung kosmischer Prozesse zu begleiten. Der Rassismus des 19. Jahrhunderts, der sich in das 20. Jahrhundert zu einem eliminatorischen Antisemitismus ausweitete,2 zeigte sich vor allem in einer mystischen Vorstellung von der Rasse, welche die stets vorhandenen subjektiven Vorurteile über die angebliche Ungleichheit der Menschen so ausdehnte, daß alle Erkenntnisse der Aufklärung und des modernen wissenschaftlichen Denkens restlos korrumpiert wurden. Ein vulgärer Sozialdarwinismus, den später auch die Nationalsozialisten vertraten, behauptete hartnäckig die Ungleichheit der Rassen bei Hervorhebung der germanisch-arischen Rasse. Die Deutschen nannten diesen darwinistischen Rassismus „Rassen- und Gesellschaftsbiologie“, bei der den „richtigen“ Erbfaktoren eine wesentliche Bedeutung zukam.3 Durch sie konnte die Gesellschaft in höher- und minderwertige Menschen eingeteilt werden. Indem Maße wie rassenspezifische Elemente, so absurd sie auch erschienen, in die Ideologien des völkischen Nationalismus einflossen, war es kein weiter Weg mehr zu der Rassenideologie eines Alfred Rosenberg, dem späteren Chefideologen der NSDAP, der sich in erster Linie auf Houston Stewart 181

Chamberlains Antisemitismus berief. Chamberlain (1855-1927) verband den Rassenmystizismus Richard Wagners, Gobineaus und den übrigen antisemitischen Strömungen des 19.Jahrhunderts zu einer kulturpessimistischen Rassenlehre. Demzufolge waren nur die „Arier“ und insbesondere die Germanen zu großen schöpferischen Leistungen fähig und die sodann vom Verfall heimgesucht werden, falls sie sich mit anderen, sogenannten „minderwertigen“ Rassen vermischen sollten. Chamberlain zufolge trat die germanische Rasse als Retter der Menschen und als Erbe der untergegangenen griechischen und römischen Kultur in die Geschichte ein. Das germanische Ethos war infolge der christlichen und jüdischen Kulturüberschwemmung über die Jahrhunderte versunken und nur eine auf rassisch-völkische Exklusivität bedachte nationale Politik konnte ihn wiederbeleben. Für das Erstarken einer rassischen Idealvorstellung über Kultur und Gesellschaft war das Wiedererwachen eines historischen Bewußtseins von grundlegender Bedeutung. Die römische Kultur war in dieser Lesart geschichtlicher Ereignisse einzig an der Rassenvermischung ihrer Bevölkerung zugrunde gegangen und die gesamte Zivilisation sah Chamberlain durch die jüdischen „Weltzersetzer und Weltverschwörer“ bedroht. Daß das römische Reich vielmehr an seiner imperialen Größe, die zunehmend unkontrollierbar wurde, zugrunde gegangen ist, wurde indes von Chamberlain nicht in Betracht gezogen. Seine Gedankenkonstruktionen wurden noch wie bei Gobineau und Lagarde von einer religiös getönten Kulturphilosophie überwölbt, in der vom „germanischen Christentum“ die Rede war. Im Lichte des arischen Idealtypus und seiner germanischen Seele erschien Christus bei Chamberlain als arischer Prophet. Dies alles war nicht nur eine pseudoreligiöse Erlösungslehre, sondern entsprach auch dem Geschmack gebildeter Kreise.4 Zudem ergänzten sich diese Ansichten mit dem sich immer mehr verstärkenden völkischen Nationalismus, der die eigene „Rasse“ in den Mittelpunkt seiner Kulturanthropologie stellte. Für Chamberlain waren, neben allen anderen Rassen die Juden die wahren Feinde der Arier, „ein asiatisches Volk, das mit den Germanen zugleich in der europäischen Geschichte auftauchte“.5 Nach seiner Ansicht waren die Juden materialistisch, legalistisch und bar jeder Toleranz und Moral. Die Juden galten ihm als Teufel und die Germanen das „erwählte Volk“. Als Beweis dafür bezog sich Chamberlain auf das Alte Testament.6 Bereits der junge Johann Gottlieb Fichte beklagte diesen Umstand in Deutschland, und bezeichnete die alttestamentarische Religion als eine Religion, die auf Nationalismus und Haß gründe und der die Ideale von Freiheit und Gleichheit ihr fremd seien.7 Der rassisch indoktrinierte Kampf der Kulturen sollte letztlich mit dem Sieg über die Juden enden. Wenngleich dieser Sieg auch nicht zu einer sozialen und wirtschaftlichen Veränderung führen würde, wie später die Nationalsozialisten vermuteten, so sollte eine Revolution des Geistes ausbrechen, in deren Folge die „arischen Rassenseele“ die Welt beherrschen würde. Hierdurch entstünde eine neue Kultur und die Degeneration des Geistes hätte ein Ende. Nur der 182

deutsche Geist war in der Lage, die große Tradition der Literatur und der gesamten Kultur wiederzubeleben, die Chamberlain in den vergangenen Jahrhunderten entdeckte. Vorbilder wie Beethoven, Michelangelo und Shakespeare würden geistesgeschichtlich und kulturell die Zukunft der Rasse bestimmen.8 Chamberlains Buch Grundlagen des 19. Jahrhunderts aus dem Jahre 1899 stieß vor allem im deutschen Sprachraum auf breite Zustimmung, vom Kaiser bis zum Oberlehrer! Mit seiner Rassenlehre bekam der Rassismus in Deutschland und in Europa als Kultur- und Geschichtsideologie seine umfassendste und einflußreichste Selbstdarstellung. Im Gegensatz zu den praktischen Plänen der Rassenbiologen, die sich um die Rassenreinheit und die Erbgesundheitslehre sorgten, fand der Rassenmystizismus Chamberlains „seinen Höhepunkt in einer ausführlichen Kulturkritik“.9 Während die Rassentheoretiker sich auf die Sterilisation als Teil ihres Erbgesundheitsprogramms beschränkten, sah die extreme Kulturkritik im Kampf der Arier gegen die Juden eine Auseinandersetzung auf Leben und Tod, der sich zwischen kreativen und unkreativen Rassen abspielte. Chamberlain postulierte diesen Kampf auf Leben und Tod nicht nur zwischen zwei sich aneinander ausschließenden Rassen, sondern zwischen zwei Weltanschauungen.10 Tatsächlich waren diese obskuren Ideen von einer wirklichen Kulturkritik weit entfernt. Im Zentrum der Rassentheorien stand ein jüdisches Stereotyp, was mit der Wirklichkeit jüdischer Lebenswelten nichts gemein hatte und vielmehr metaphysische Ausmaße annahm. In der Lesart dieser Stereotypen erschien der Jude ungeistig und nichtkreativ, katzenartig, verschlagen, raubgierig, materialistisch, um nur einige wenige zu nennen. Emile Zola stellte in J’accuse (1898) den entpersönlichenden Charakter dieser Stereotypen fest. Über die Affäre Dreyfuß schrieb er, „daß Dreyfuß für seine Feinde kein Mensch, sondern eine Abstraktion gewesen sei“.11 Hitler selber war von Chamberlains Ideen nicht so sehr begeistert, da sie ihm zu mystisch erschienen. Sein machtpolitisches Konzept der Rassenauseinandersetzung war weniger durch Pseudoreligiosität erfüllt, als vielmehr von machttaktischen und strategischen Überlegungen in Bezug auf eine Projektionsfigur, die nach innen seinen Totalitarismus absichern half. Dennoch war Chamberlain von Hitler tief beeindruckt, als er ihm 1923 in Bayreuth begegnete. „Hier stand ein Mann“, so schrieb er, „mit dem Mut, der an Martin Luther erinnerte“. Als Chamberlain hochbetagt 1927 starb, war er davon überzeugt, in Hitler den Propheten entdeckt zu haben, „der die Arier zum Sieg führen werde“.12

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Kapitel 9.1 Die Psychopathologie in der Rassentheorie Gobineaus. Gobineaus Kampf der Kulturen. Biologismus und Psychopathologie der Rassenlehre. Gobineaus Essay über die Ungleichheit der Rassen. Rassenlehre als universalistische Weltlehre. Vorausgegangen waren den rassistischen Ideen Chamberlains die kulturphilosophischen Essays des französischen Grafen Arthur Comte de Gobineau (1816-1882), der die damals weitverbreitete Angst vor der Vielfalt der Rassen formulierte und den Untergang aller Kulturen in der Promiskuität des Blutes sah. Er wies mit seiner Rassenlehre den Weg, den der Rassismus zur Erklärung zeitgenössischer Probleme gehen sollte. Sein Rasseideal war die arische Rasse, die er als eigentliches kreatives Moment in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit behauptete. Damit faßte er die Ergebnisse der Anthropologie und Sprachwissenschaften seiner Zeit zusammen, die in Anlehnung an Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums in der klassischen griechischen Skulptur den arischen Idealtypus verkörpert sahen. Dieser wurde als mutig, stark, edel, fleißig, ehrlich, ausgeglichen und gesund dargestellt. Hierbei fällt auf, daß dieser Tugendkanon von Eigenschaften sich an dem bürgerlichen Mittelstand anlehnte, welcher begann, sich den Bildungshorizont der klassischen Antike anzueignen. Der Mythos vom Arier als „Edelmensch“ wurde zur nationalen Ideologie des Mittelstandes mit der gleichzeitigen Rückbesinnung auf die nationale Geschichte, der eigenen kulturellen Herkunft und der eigenen Sprache. Diente der Mythos vom Arier zunächst noch als Abgrenzung gegenüber den Kolonialvölkern, den „Schwarzen“ und „Gelben“, mit denen Europa im Zuge seiner Kolonialpolitik konfrontiert wurde, so wurden die im Mythos enthaltenen Abgrenzungen und Bewertungstendenzen auch allmählich auf die Juden übertragen.1 Damit solche Ideen Popularität erlangten und zur Staatsdoktrin avancierten, mußten sie propagiert und Bestandteil des gesellschaftlichen Konsens werden. Und dies geschah in der Weimarer Republik, wo die rassistische und antisemitische Literatur des 19. Jahrhunderts eine ungehemmte Verbreitung erfuhr. In Deutschland mag der Umstand der schmählichen Niederlage von 1918 mit dazu beigetragen haben, über die Rezeption rassistischer und antisemitischer Schriften das verlorengegangene nationale Selbstwertgefühl aufzuwerten. Somit fand der überhebliche Dünkel des untergegangenen Kaiserreiches, ein auserwähltes Volk und eine auserwählte Nation zu sein, in der Herabsetzung anderer Kulturen und Rassen seine Fortsetzung. Die Machwerke von Dühring, Chamberlain, Langbehn, Lagarde und Gobineau waren in billigen Volksausgaben für jedermann zugänglich, der sie lesen wollte. Im Glauben, daß nur die Rasse Kultur hervorbringe, fürchtete Gobineau durch die Etablierung von Nationalstaaten und die Gründung von Reichen ihren 184

Untergang. Seine Kulturphilosophie, die er in einem vierbändigen Werk Essay über die Ungleichheit der Rassen 1855 niederlegte, basierte auf einer christlich-antijüdischen konservativen Grundkonzeption, die auch weite Kreise der gebildeten Adels- und Bürgerschichten im 19. Jahrhundert erreichte. Gobineaus Denken war indes nicht schöpferisch, sondern synthetisch. Er vermischte Anthropologie, Linguistik und Geschichtsphilosophie zu einem eklektizistischen Gebräu, welches ihm als Gerüst seiner Rassentheorie diente. Die ausschließliche Rassezugehörigkeit sollte den Gang der Völker durch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erklären, gleichgültig welche historischen Strömungen die jeweiligen Kulturen beeinflußt haben. Ob Renaissance, Klassik, Romantik oder Idealismus, die spezifische Rassenzugehörigkeit prägten die gesellschaftlichen und kulturellen Standards und Umgangsformen. Seine Ansichten scheinen auch auf Richard Wagners kulturpessimistischen Antisemitismus nicht ohne Einfluß geblieben zu sein. Wagners Antisemitismus ging soweit, daß er die musikalische und künstlerische Qualität an der Rassenzugehörigkeit festmachte und demzufolge jüdische Musiker als minderwertig ansah. Gobineau ging von einer vollkommenen „Urrasse“ aus, nämlich der „nordischen“, „arischen“ oder „germanischen Rasse“. Karl Ludwig Schemann, einem Mitglied des Bayreuther Kreises um Cosima Wagner, übersetzte das Werk ins Deutsche. Cosima Wagner empfahl Gobineaus Essay ihrem Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain und bestärkte ihn damit in seinem Antisemitismus. Den Nationalsozialisten diente unter anderem der vierbändige Essayband zur Legitimation ihrer Rassenpolitik. Gobineau war Rassist, aber kein Antisemit. Für ihn bestand die Menschheit aus weißer, schwarzer und gelber Rasse, die allesamt ihre eigene Kultur geschaffen hat. Die „gelbe Rasse“ erschien ihm materialistisch und pedantisch und von einem unkreativen Drang nach Wohlstand besessen. Auch sollte sie seiner Meinung nach keine Vorstellungskraft besitzen und demnach zu metaphysischen Gedankengängen unfähig sein. Freilich diese Behauptung war so neu nicht; bereits Friedrich Schlegel hatte sie über die chinesische Sprache aufgestellt. Wohl aber war die „gelbe Rasse dazu ausersehen, sich in Handel und Handwerk zu verwirklichen“.2 Sie besaß jene Eigenschaften, die Gobineau zufolge der Bourgeoisie zumaß, welche „das echte, auf Regionalismus, Adel und Bauerntum beruhende Frankreich vernichtet“ 3 hatte. Die sogenannte „schwarze Rasse“ stattete Gobineau mit jenen Merkmalen aus, die auch heutzutage im rassischen Denken aufgeführt werden: „Wenig intelligent, jedoch mit überentwickelter Sinnlichkeit, was ihnen eine natürliche und erschreckende Macht verlieh“.4 Für ihn waren sie gleich dem entfesseltem Mob, der während der französischen Revolution gemeinsam mit dem bürgerlichen Mittelstand die alten Herrschaftsstrukturen zum Einsturz gebracht hatten um das aristokratische Frankreich zu vernichten, nach dem er sich so sehr zurücksehnte. Und somit war es nicht verwunderlich, daß Gobineaus 185

Rassentheorien just zu dem Zeitpunkt auftraten, wo die alten gesellschaftlichen und bürgerlichen Strukturen zusammenbrachen, das Zeitalter des technischindustriellen Fortschrittes sich ankündigte, mit allen seinen sozialen Verwerfungen, der Vermassung der Städte mit ihren Entfremdungstendenzen, der Verarmung weiter Bevölkerungskreise, einhergehend mit dem Aufstieg eines neuen Geldadels, ohne aristokratischer Tradition. Insofern verstand sich Gobineaus Rassenlehre als Antwort auf die bedrohliche Moderne und indem sie sich als Kulturkritik ausgab, lieferte sie dem verunsicherten Bürger regressive Möglichkeiten der Kompensation seiner epochalen Ängste. In der weißen Rasse sah Gobineau Frankreich verkörpert, jene Tugenden des Adels: Liebe zur Freiheit, Ehre und Geistigkeit. Die Herrschaft des Adels, der durch Freiheit und Ehre sich auszeichnete, sah Gobineau weniger durch Gewalt legitimiert als durch seine unanfechtbaren Tugenden. Indes war auch der Adel inzwischen moralisch korrumpiert. „Zentralisation und Gewaltherrschaft hatten das aristokratische Vorbild abgelöst [...] und das Volk war falscher Führung aufgesessen“.5 Die Arier, die seiner Meinung nach zunächst in Indien die geistige und politische Elite bildeten und dann das teutonische Erbe formten, bildeten in seinen Augen das Gegenstück zum Materialismus, den er heftig bekämpfte. Seine Sorge galt, daß sich die weißen Rassen in ihrem Materialismus immer mehr den gelben Rassen und dem Mob annähern, ihre ursprüngliche Kultur verlorengeht und schließlich die niederen Rassen das nächste Stadium der Geschichte beherrschen werden. Gegen Ende des 19. Jahrhundert wurden seine Rassenideen gegen die Juden benutzt und im deutschen Sprachraum zur Wiederbelebung des Germanenmythos rezepiert um die „ewige Überlegenheit der Deutschen“ zu behaupten.6 Während Gobineau über einen längeren Zeitraum in Vergessenheit geriet und erst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem Einfluß faschistischer Systeme wiederentdeckt wurde, blieb dennoch die Wirkung seines Denkens auf die öffentliche Diskussion in Frankreich gering. Selbst für die intellektuelle Clique um die rechtsradikale Zeitung Je suis parout, einer kleinen Gruppe französischer Faschisten um Pierre-Antoine Costeau, der ihn 1933 als Vorläufer faschistischen Denkens bezeichnete, blieb Gobineau eine Randfigur. Trotz des weitverbreiteten Antisemitismus in den Reihen der französischen Rechten spielte er in deren Weltanschauungen keine wesentliche Rolle mehr. Im Gegenteil, Maurice Barrès, einer ihrer mächtigsten Vertreter griff Gobineau an, weil dieser „mehr für einen kosmopolitischen Adel eintrat als für die nationale Einheit“. Hingegen auf der anderen Rheinseite machte sich sein verhängnisvoller Einfluß bemerkbar.7 Gobineau entwarf sein Werk in der Hoffnung, dem Niedergang aristokratischer Kultur durch eine pseudowissenschaftliche einer offensichtlich zweifelhaften Rassenanthropologie zu begegnen, in dem er der weißen Rasse die kulturschöpfende und kulturtragende Rolle zuwies. In dem Maße, wie er andere Rassen als minderwertig erklärte, brachte er jene Kräfte auf den Plan der Geschichte oder 186

bestärkte sie in ihrem Rassismus, die er stets gefürchtet hatte. Jene raubenden und plündernden Massen, der verführte Mob sowie das engstirnige, eigensüchtige und autoritätshörige Bürgertum welche skrupellosen Führen in den Totalitarismus des Dritten Reiches folgten, bedienten sich zur Legitimierung ihrer eingebildeten historischen Vorzugsstellung eben dieser rassenideologischen Vorurteile, die Gobineaus Werk durchziehen und den späteren Rassisten zum Vorbild gereichten. So unterstützte ihn der Bayreuther Kreis um die Wagnerfamilie, welcher mit Erfolg rechte Gruppierungen in Deutschland infiltrierte. Der Alldeutsche Bund, dessen überwiegende Mitglieder Lehrer waren, griff Gobineaus Gedanken auf sorgte für deren Verbreitung in schulischer und gesellschaftlicher Erziehung. Freilich paßten der Bayreuther Kreis und der „Alldeutsche Bund“ sich den deutschen Verhältnissen an und pervertierten sie in Richtung eines massiven Antisemitismus. Die gelbe und die schwarze Rasse spielte hierbei keine Rolle mehr, sondern die völkischen und rassistischen Phantasien zielten nunmehr auf die jüdische Bevölkerung, die man wegen ihrer Opposition zum Militarismus und Expansionismus für den Niedergang der Nation verantwortlich machte. So verwendete man Gobineaus Verdammung der gelben und schwarzen Rasse als Argumentationshintergrund gegen die Juden. Nach Meinung der Bayreuther Blätter hatte Gobineau den „urgermanischen Geist“ erweckt, „der in der Wiege Asiens großgezogen worden war“.8 Solches Geschriebene war nicht nur eine mächtige Waffe in den Händen der Antisemiten, sondern galt auch als Beweis für die arische Überlegenheit der Deutschen.

Kapitel 9.2 Psychologische Aspekte des Rassismus Ein Feindbild wird errichtet. Rassismus und Antisemitismus als Massenwahn. Die Flucht in die Feindbilder oder die psychologische Entlastung. Im Großen und Ganzen durchzieht Gobineaus Gedankengebäude eine psychopathologische Aura, das unter einer literarisch eloquenten Oberfläche seinen wahren Charakter nicht verbergen kann. Sein Werk hielt jene Projektionsflächen bereit, die in Zeiten des politischen und wirtschaftlichen Umbruchs den Opfern sozialer Verwerfungen geeignete Entlastungsräume eröffneten um das eigene Elend zu vergessen. Nicht von ungefähr erfreute sich daher seine Theorie im deutschen Sprachraum einer gewissen Popularität. Gerade in Deutschland hatte die Liberalisierung und Demokratisierung bürgerlicher Schichten nicht mit dem technisch-industriellen Fortschritt mithalten können. Gesellschaftspolitisch befand sich Deutschland im Zeitalter des Frühkapitalismus noch im Zustand einer paternalistischen Agrarkultur von Adeligen und Großgrundbesitzern mit ihren festen Rangordnungen und 187

undurchlässigen sozialen Klassen. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wie Nietzsche treffend diese Epoche auf Deutschland bezogen genannt hatte, verstärkte die sozialen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten, so daß eine breite Schicht der Bevölkerung am prosperierenden Wohlstand der Besitzklassen nicht teilhaben konnte. Diese, für den Einzelnen schwer zu durchschauenden gesellschaftliche Entwicklungen, mit ihren Massenverelendungen in den aufstrebenden Städten bei gleichzeitiger politischen Abstinenz des Bürgertums trugen mit dazu bei, daß sich die Vorurteile gegen alles Fremde steigerten. Immer dann, wenn die Sicherheit des Individuums oder der Gesellschaft durch katastrophale Ereignisse erschüttert werden, treten Antisemitismus und Rassismus als sozialpsychologische Kompensationsmuster offen zutage. Da es dem Einzelnen außerordentlich schwerfällt sich auf dramatische Veränderungen einzustellen, geraten die psychischsoziale Balance und die bisher gültigen ethischen Standards einer Gesellschaft ins Wanken. Diese relative Unfähigkeit sich den neuen Realitäten anzupassen, welche die psychosozialen Störungen auslösen, hängt davon ab, inwieweit das Ich durch seine prämorbide Konstitution bereits so geschwächt ist, daß es aus Gründen der inneren Stabilisierung seiner Psyche den Fluchtweg in die infantile Regression antritt. Auf die Gesamtgesellschaft bezogen läßt sich nicht übersehen, daß im Frühkapitalismus die politischen Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich liberale und demokratische Veränderungsbestrebungen über einen langen Zeitraum verhindern konnten. Gesellschaftliche Deprivation und psychische Regression hängen unmittelbar zusammen, in dem das Eine das Andere bedingt. Darüberhinaus muß vor dem Hintergrund einer traditionell repressiven Erziehung und eines obrigkeitshörigen gesellschaftlichen Klimas davon ausgegangen werden, daß es einem großen Teil der deutschen Bevölkerung an Selbstbewußtsein und bürgerlichem Stolz gefehlt hat, was entwicklungspsychologisch betrachtet, unerläßliche Voraussetzungen zu einer ausbalancierten Psyche und einer stabilen Ich-Identität sind. Die Projektion des eigenen Elendes und der damit einhergehenden Haßgefühle auf andere Objekte, stellt daher psychologisch betrachtet eine Regression des Ichs auf einer infantilen Entwicklungsstufe dar, um sich dem übermächtigen strafenden ÜberIch-Ideal zu entziehen und wenn dies durch ein Kollektiv geschieht, haben wir es streng genommen mit einer Massenpsychose zu tun. Indem rassistische Projektionen auf andere geworfen wurden, ersparte man sich Schuldgefühle im Leben versagt zu haben und zugleich dienten sie der Abwehr der Erkenntnis, in die Unmündigkeit durch politische und soziale Indolenz hineingeraten zu sein. Dient der Antisemitismus einerseits dazu, kollektiv auftretende pathologische Störungen zu überwinden, so stellt er andererseits eine beträchtliche Gefahr für den Fortbestand der Zivilisation dar, obwohl sein Auftreten eng mit dieser verbunden scheint. Als der Antisemitismus 1890 im Deutschen Reichstag offiziell repräsentiert war, stellte der liberale Parlamentarier Eugen Richter fest: „Wenn wir dieser Bewegung erlauben, größer zu werden, zerstören wir die 188

Säulen, auf denen unsere Kultur ruht“.1 Daß der Antisemitismus den Zivilisationsprozeß umkehren und die antisemitische Persönlichkeit auf das „Stadium des primitiven Kannibalismus zurückwerfen kann“,2 hat die deutsche Geschichte, mehr als jede andere gezeigt. Wenn der Antisemitismus eine Regression auf ein früheres Stadium menschlicher Entwicklung als Gattungswesen ist, so darf angenommen werden, daß diese Rückentwicklung im kollektiven Zivilisationsprozeß eine Störung im Verhältnis von Individuum und Kultur bedeutet. Individualpsychologisch betrachtet ist der Antisemitismus und Rassismus eine psychopathologische Charakterstörung, ein Rückfall auf jenes ontogenetische wie phylogenetische Entwicklungsstadium des Ichs, bzw. der Menschheitsgeschichte, „in dem der Haß, der Vorläufer der Liebesfähigkeit, die Beziehungen zur Umwelt regierte. Es ist dieser pathologische Haß, unter dem die menschliche Rasse leidet, und der, neben anderen Krankheitszuständen, den Antisemitismus erzeugt“.3 Der französische Mediziner und Schriftsteller Gustave le Bon entdeckte lange vor Freud, daß in der Moderne der Massenmensch auf dem Vormarsch ist. Die tieferen psychologischen Ursachen dieser Entwicklung, die Freud 1921 in seiner Massenpsychologie beschrieb, konnte Le Bon noch nicht erahnen. In der Moderne mit ihren arbeitsteiligen Produktionsabläufen, bei denen der Mensch sich von seinem Produkt entfremdet, da er den vollständigen Produktionsablauf nicht mehr beeinflussen kann und er gewissermaßen nicht mehr „Herr“ über das Objekt ist, sieht sich der Einzelne gezwungen, psychisch über seine Verhältnisse zu leben, da die Entfremdungsmechanismen stärker sind als die Bedürfnisse nach Liebe, Zuneigung und Anerkennung. Hierdurch werden ihm jene kreativen und schöpferischen Erlebnisse versagt, die Freud zufolge hervorragende Momente der Sublimierung destruktiver und sozial unerwünschter Neigungen bilden. Daher gibt es für ihn nicht genügend Möglichkeiten zur Entladung seiner destruktiven Neigungen, welche durch die Frustrationen und Entsagungen des täglichen Lebens ausgelöst werden. Nach Herbert Marcuse ist ein kennzeichnender Zug der modernen Industriegesellschaften, daß sie das Bedürfnis nach Befreiung unterdrücken und statt dessen sogenannte falsche Bedürfnisse wecken.4 Diese Bedürfnisse werden dem Individuum von außen herangetragen und entsprechen dem Sozialisationstypus der Moderne, einer außengeleiteten Lebensweise, die sich von den eigentlichen Bedürfnissen nach menschlicher Zuneigung entfernt hat.5 Hierdurch sollen die Entfremdung und psychische und soziale Unfreiheiten verschleiert, oder genauer formuliert, ein Bewußtsein über die außenbestimmten Zwänge verhindert werden. Wenn der Mensch in der Massengesellschaft des modernen Zeitalters aber kein Bewußtsein über seine Knechtschaft hat, gelingt es ihm auch nicht, sich davon zu befreien. Denn alle „Befreiung hängt vom Bewußtsein der Knechtschaft ab, und das Entstehen dieses Bewußtseins wird stets durch das Vorherrschen von Bedürfnissen und 189

Befriedigung verhindert“.6 Marcuses Ansatz ließe sich im Hinblick auf den entmündigten Charakter von Stereotypen dahingehend ergänzen, daß es im Interesse der herrschenden Ideologie liegt, zur Befriedigung destruktiver Neigungen geeignete Feindbilder als kollektives Angebot für die Massen bereitzustellen. Die Flucht in die Masse, begleitet von projektiven Feindbildern, bietet daher dem Individuum die Gelegenheit sein destruktives Ich auszuleben, ohne dabei Schuld und Scham zu empfinden und hierbei zugleich seine Entfremdung und innere Unfreiheit zu übersehen. Außerdem wirkt die Mobilisierung gegen einen äußeren Feind oder das, was man dafür hält, als „mächtiger Antrieb zu Produktion und Beschäftigung und erhält so den (vergleichsweise, Anmerkung durch den Verf.) hohen Lebensstandard. 7 Vor diesem psychosozialen Hintergrund betrachtet und unter Berücksichtigung entfremdender Strukturen der modernen Industriegesellschaft stellt sich der einzelne Antisemit oder Rassist nicht als ein Psychotiker im eigentlichen psychopathologischen Sinn dar. Nicht er ist psychopathologisch, sondern lediglich regrediert auf einer niederen Entwicklungsstufe seiner Persönlichkeit. Sein antisemitischer Haß ist pathologisch. Erst wenn er sich dem Massenwahn anschließt und Bestandteil der Masse wird, verliert er jene individuellen Eigenschaften, die seine Normalität ausmachen. Seine Teilhabe als fanatisches Mitglied einer Masse, die sich rassistischem Wahn hingibt, macht ihn erst hinsichtlich seiner rassistischen Einstellung zu einem psychotisch agierenden Individuum. Eine entscheidende Rolle bei der Erzeugung des rassistischen Wahns spielt die Ideologie, welche einen Führer ersetzen kann. An Stelle des populistischen Demagogen tritt die antisemitische oder rassistische Idee, welche in der Massengesellschaft durch Hilfe der Massenkommunikation Verbreitung findet. In der Hand geschickter Politiker erlangen sie historische Bedeutung.8 Starken und zur totalen Herrschaft entschlossenen Regimes bedienen sich, ohne Rücksicht auf deren Wahrheitsgehalt, dieser Ideen um sie als Ideologie oder partikularistische Weltanschauungslehre machtpolitisch zu nutzen. Unter dem Nationalsozialismus bildeten diese Stereotypen die geistigen Voraussetzungen zum Rassenwahn, welcher sich der öffentlichen Meinung bemächtigte und lieferten somit der Massenbewegung die Argumente. Die nationalsozialistische Propaganda diente dazu, „das bewußte Ich des Antisemiten dem Einfluß seines irrationalen Unbewußten auszuliefern“.9 Dieser künstlich erzeugten Irrationalität ist die Realität nicht mehr zugänglich. Dennoch wird eine Diskontinuität in der subjektiven Wahrnehmung sichtbar, die zwischen dem Juden im allgemeinen und dem Juden im einzelnen, den man persönlich kennt, unterscheidet. Somit kann der intellektuelle Antisemit oder Rassist behaupten, „daß er die Juden haßt“, aber einige seiner besten Freunde Juden sind.10 Diese Abspaltung ermöglicht ihm zwischen seiner „Normalidentität“ und seinem pathologischem Ich hinsichtlich des Rassenwahns zu trennen. Pathologisch agiert er nur, wenn er sich dem Rassenwahn anschließt. Als Beispiel sei hier 190

nur der Historiker Heinrich von Treitschke genannt, der mit zahlreichen intellektuellen Juden freundschaftlich verkehrte, aber in seiner völkischnationalistischen Einstellung immer mehr zum haßerfüllten Antisemiten wurde. Der Antisemitismus und der Rassismus, wie er in zahlreichen Traktaten des 19. Jahrhunderts vermittelt wurde, verbunden mit der Heroisierung der eigenen Nation und Kultur bot die geeigneten psychosozialen Einstellungsmuster, das eigene Dilemma zu verdrängen und statt dessen auf die als minderwertig erachteten Völker und Kulturen herabzusehen. Aus der Psychopathologie des Vorurteils ist bekannt, daß man dem eigenen Elend am leichtesten dadurch ausweichen kann, indem man seine eigene bedrohte Existenz an einer willkürlich erstellten Rangordnung orientiert, welche die eigene Rasse über alle anderen Kulturen erhebt.11 Gobineaus Rassismus bot dem Individuum die Möglichkeit, der eigenen individuellen Regression zu entgehen und in die kollektive Sicherheit pathologischer Vorurteile einzutauchen. Sigmund Freud hat in seiner Massenpsychologie deutlich gemacht, daß die Flucht des Einzelnen in der Anonymität einer Massenbewegung getragen wird, von der Furcht psychische Diffusion zu erleiden.12 Unter normalen Umständen bietet die Gruppenbildung ein mächtiges Kollektiv-Ich, welches die Sublimierung aggressiver Triebenergien für ein höheres, dem Gemeinwohl dienendes Ziel ermöglicht. Pathologisch ist eine Gruppenbildung wie etwa im oben beschriebenen Massenwahn dann, wenn sie dem „ohnmächtigen Individuum vor allem dazu verhilft, unsublimierte und uneingeschränkt destruktive Triebenergien abzuführen, ein Bedürfnis, das sich einstellt, wenn die Selbsterhaltung gefährdet ist“.13 Die Verschmelzung des Einzelnen mit dem Wahn der Masse bietet somit die Möglichkeit, den individuellen Wahn bei sich selber zu vermeiden. Demnach ist die Flucht in die Massenpsychose eines kollektiven Antisemitismus oder Rassismus nicht nur eine Flucht vor der Realität, sondern auch vor dem individuellen Wahnsinn insoweit, wie soziale und gesellschaftliche Mängelsituationen psychische Labilität hervorrufen können. Voraussetzung hierfür ist eine selbstunsichere Ich-Struktur, wie sie in Deutschland durch repressive Erziehung und Sozialisation über Generationen befördert wurde.14 Daher ist die Gefahr einer Massenpathologie zu verfallen um so größer, je gebrochener und morbider die Ich-Identität eines Individuums ist. Wie wir gesehen haben traf dies im Deutschland des 19. Jahrhunderts auf den Großteil der Bevölkerung zu. Nicht nur Gobineaus eigene Ängste und Phantasien traten in seiner Rassentheorie zutage, sondern seine Rassentheorie als Kulturkampf spiegelte auch die kollektiven Ängste einer in Auflösung begriffenen Individualgesellschaft wider. In dem Maße wie sich derartige Stereotypen verfestigten, das gesellschaftliche Klima prägten und teils auch in propagandistischer Weise von den herrschenden Klassen des Adel, der Erziehungs- und Bildungsinstanzen und des Militärs benutzt wurden, durfte sich das verunsicherte Individuum in der Massengesellschaft aufgewertet fühlen, da sich durch die 191

Rassentheorie eine scheinbare Rangordnung der Völker und Kulturen als verbindliches Ordnungssystem etablierte. Neben dem entwerteten Juden, Chinesen, Afrikaner oder Slawen erhält auch der noch so entmündigte und ausgebeutete Mob jene herrschaftsgemäße Schicksalsbestimmung einer auserlesenen Rasse anzugehören. Gobineaus Rassentheorien, wie zahlreiche andere Werke dieses Genres über Dühring, Richard Wagner, Paul de Lagarde, Houston Stewart Chamberlain, Adolf Stoecker, Julius Langbehn, dem sogenannten Rembrandtdeutschen bis zu Theodor Fritschs Handbuch der Judenfrage, das zum Leitfaden der Nationalsozialisten avancierte, erfüllten ihre Funktion als Herrschaftsinstrument und zugleich als Fluchtschneisen vor der unerbittlichen sozialen und wirtschaftlichen Realität, denen die überwiegende Bevölkerung ausgesetzt war. Auf das Dritte Reich bezogen bedeutete dies, daß der antisemitische und rassistische denkende Massenmensch durch seine Teilhabe am Kollektiv-Ich der Masse sein Über-Ich-Ideal in zwei Teile spalten konnte, ohne dabei verwirrt zu werden. Folglich spaltete er dieses in den Führer, den er liebte und in den Juden, den er haßte.15 Hierbei spielte es keine Rolle, ob er konkrete Erfahrungen mit Juden oder Angehörigen fremder Kulturen gemacht hatte, denn zum Rassismus und Antisemitismus bedarf es nicht der konkreten Begegnung, da beides ein Produkt einer pathologischen Psyche ist.16 Gustave le Bon, der als Begründer der Massenpsychologie gilt, beschrieb 1895 in seinem Buch Psychologie der Massen den Mechanismus der Psychopathologie, den sich ein totalitäres System und dessen Führer zum Zwecke seiner Herrschaft über die Massen zunutze macht. So, als hätte er Hitler vorausgeahnt führt er hinsichtlich der machttaktischen Instrumentalisierung des Stereotyps aus: „Die Überredungsmittel der Führer sind, abgesehen von ihrem Nimbus, die Faktoren, die wir schon wiederholt aufgezählt haben. Um sie geschickt zu handhaben, muß der Führer, wenigstens unbewußt, die Psychologie der Massen erfaßt haben und wissen, wie man zu ihnen zu sprechen hat [...]. Er muß eine besondere Beredsamkeit besitzen, die aus energischen Behauptungen, die nicht zu beweisen sind, und eindrucksvolle, von ganz allgemeinen Urteilen umrahmten Bildern zusammengesetzt ist.“17 In den Traktaten der rassespezifischen Antisemiten dominierten neben patriotischen Ideen, vor allem kulturpessimistische und demokratiefeindliche Grundzüge. Die Attraktivität derartiger Schriften lag darin begründet, die Verfallserscheinungen der Moderne, der „Welterklärung, der Kultur- und Politikschau“ aus einer Ursache heraus erklären zu wollen, und deren Lösung im Kampf der „arischen Rassen“ gegen die „Minderwertigen“ bestand.18 Hierin lag die Besonderheit einer Rassenlehre, die sich neben biologistischen Elementen als Entstehungsgeschichte des Kampfes der Ethnien und Völker untereinander verstand, bei der das Naturgesetz stets den Überlebensanspruch des Stärkeren betonte. Die rassenideologischen Konzepte, die mit dem nationalistischen Machtbegriff der europäischen Kolonialmächte korrespondierten, behaupteten, daß bestimmte rassische und nationale Eigenschaften den 192

Fortschritt innerhalb der Völker und im Gesamten der Menschheit fördern würden. Nicht zuletzt beruhten auch die europäische Kolonialpolitik und der völkisch- rassische Nationalismus auf diese rudimentär rassistische Fortschrittsidee, die Ethnien klassifizierte und ihre kulturellen, physischen und politischen Unterschiede betonte. Obgleich diese Ideen keineswegs neu waren, und auch kein ausschließlich deutsches Problem darstellten, denn „völkische Überlegenheitsgefühle“ sind in fast allen Kulturkreisen zu finden und es hat sie zu allen historischen Epochen gegeben, lösten sie sich aus ihrem ursprünglichen Bezugsrahmen. Jener historisch verankerte „christlichuniversalistische sowie der aufklärerische menschheitsgeschichtliche Fortschrittgedanke relativierte den potentiellen Rassismus; aber mit der nationalistischen und kulturkritischen Auflösung umfassender universalistischer Bezugssysteme zumal im Verlauf des 19. Jahrhunderts konkretisierte sich das historisch- politische Potential des Rassismus, und die wissenschaftlichbiologischen Erkenntnisse im Vorfeld des Darwinismus dienten noch zur manipulativen Verstärkung dieser Tendenzen“19 Der Übergang zum militanten Rassismus mit seinen Vernichtungs- und Unterdrückungstendenzen wie er in der Weltanschauungslehre des Nationalsozialismus zum Vorschein kam, beruhte insbesondere auf den Gedanken einer naturgegebenen Ungleichheit. Konkret bedeutete dies die „Radikalisierung angeblich politischwissenschaftlicher Erkenntnisse über die ›Verschiedenheit‹ der Rassen – von der neutralen Beobachtung zur einseitigen Doktrin“.20

Kapitel 9.3 Rosenbergs „Rassenmythos“ des 20. Jahrhunderts Die Entwurzelung der Kultur als Kampfbegriff. Rassistisch-völkische Ideen im Aufbruch. Ideologie der Völkervernichtung. Rosenbergs Visionen unter dem Galgen. Die rassistischen und biologistischen Grundkonstruktionen des völkischen Nationalismus, welche sich unter anderem auf die sozialdarwinistische Evolutionslehre bezogen, wurden im obigen Sinn durch den späteren Chefideologen der NSDAP Alfred Rosenberg in Richtung einer rassistischen Auslesephilosophie verstärkt. Unter Rosenberg wurde dem romantischen Volkstumsbegriff die biologische und rassische Komponente hinzugefügt und als Weltanschauungslehre des Nationalsozialismus adaptiert. Sieht man den Nationalsozialismus, neben seinen politischen und weltanschaulichen Implikationen auch als eine Bewegung des nationalen Ressentiments an, so erschien es den Nazi- Ideologen nur konsequent, spezifische rassen- und erbbiologische Ideenformationen des 19. Jahrhunderts programmatisch zu nutzen. Ein besonders abschreckendes Beispiel ideengeschichtlicher 193

Transformierung zu politischer Propaganda im Gewande pseudophilosophischer Kulturkritik lieferte eben dieser Alfred Rosenberg, der als „dilettierender Philosoph“ in den zwanziger Jahren dem Nationalsozialismus die ideologischen Weihen geben wollte.1 Sein literarisches Vorbild fand er in Chamberlain, dessen populären Grundlagen des 19. Jahrhunderts den Rassismus, „arisches“ Christentum, Idealismus und Lebensphilosophie zu einer höchst seltsamen, jedoch um so wirkungsvolleren Geschichtsphilosophie zusammengefügt hatte. Vor allem kam es Rosenberg darauf an, die in der Moderne verstärkt auftretende Völkervielfalt und die zunehmende Individualisierung der Lebensformen, die sich in unterschiedlichen kulturellen und künstlerischen Richtungen und Schulen ausdrückte, als Gefahr für den Fortbestand der arischen Kultur darzustellen. Was Emile Durkheim noch als Vereinsamung des modernen Menschen diagnostizierte und in einem System sozialer Kontrolle zu lösen suchte, ohne an die politisch-ideologischen Folgen einer totalitären Kollektivierung zu denken, faßten die Vorreiter des Totalitarismus im Schlagwort von der „Entwurzelung“ zusammen. Und als Antwort auf diese „Entwurzelung“ rekurrierten sie auf rassisch-völkischen Ideenformationen, deren Kulturverständnis ein partikularistisches war und sich gegen den universalistischen Anspruch einer weltoffenen und pluralen Kulturauffassung richtete. Durch die Einbindung in politische und sozialdarwinistische Programme, wie etwa im italienischen Faschismus oder im Nationalsozialismus, trug es eindeutig nationalistische Züge. Die große Reihe der führenden nationalistischen Demagogen reichte von Maurice Barres, dem Verkünder des französischen Rechtsradikalismus über Mussolini, dem entlaufenen Sozialisten, zu Hitler, der verkannten Künstlernatur und Goebbels, dem verhinderten Intellektuellen, bis hin zu Rosenberg, dem Pseudophilosophen, die allesamt mit dem Begriff der „Entwurzelung“ ihre politisch-ideologischen Ziele verfolgten. Hierzu dienten ihnen insbesondere rassistische Vorurteile, die als Gefahr für eine neue Verwurzelung in die Volksgemeinschaft und eines neuen Glauben bemüht wurden.2 Rosenbergs eigenwillige Interpretation kultureller Evolutionsprozesse lieferte dem Nationalsozialismus die rassenideologischen Vorgaben zu einem eliminatorischen Antisemitismus. Dem „Germanentum“ räumte er eine geschichtliche Vorragstellung ein und befand sich hierin im Einklang nationalsozialistischer Ahnenforschungsprogramme. In seinem Machwerk Der Mythos des 20. Jahrhunderts schrieb er unter anderem: „Daß alle Staaten des Abendlandes und ihre schöpferischen Werte von den Germanen erzeugt wurden, war zwar schon lange allgemeine Redensart gewesen, ohne daß vor Chamberlain daraus die notwendigen Konsequenzen worden wären“. Rosenberg verstieg sich sogar zu der Behauptung, daß, wenn das „germanische Blut“ aus dem europäischen Kulturkreis einmal verschwinden würde, sodann auch die „gesamte Kultur des Abendlandes mit untergehen müßte“. 194

Die Gefahr für das arische Blut vermutete Rosenberg vor allem in der multikulturellen „Wüstenei“ der Großstädte mit ihren modernen Lebensformen, so warnte er: „Entweder steigen wir durch Neuerleben und Hochzucht des uralten Blutes, gepaart mit erhöhtem Kampfeswillen, zu einer reinigenden Leistung empor, oder aber die letzten germanisch-abendländischen Werte der Gesittung und Staatenzucht versinken in den schmutzigen Menschenfluten der Weltstädte, verkrüppeln auf dem glühenden unfruchtbaren Asphalt einer bestialisierten Unmenschheit oder versickern als krankheitserregender Keim in Gestalt von sich bastardierenden Auswanderern in Südamerika, China, Holländisch-Indien, Afrika“. Rosenberg sah zwischen dem alten Rom und dem abendländischen Christentum und der neuen germanischen Zeit unter dem Zeichen des Hakenkreuzes eine Epoche, „die gekennzeichnet wird durch hemmungslose Rassenvermischung, d.h. Bastardisierung, durch Aufquirlen alles Kranken, durch übersteigerte sinnliche Ekstasen, durch aufgeblähten syrischen Afterglauben und durch das Fiebern aller Menschenseelen eines ganzen Erdkreise“. Unter Bezug auf Chamberlain nannte er diesen Zustand schlicht „Völkerchaos“, welchem nur durch das Germanentum zu begegnen sei.3 Dies war selbst Goebbels zuviel mystisches Geschreibsel ohne politische oder kulturelle Verwertbarkeit; denn in seinem machttechnischen und propagandistischen Konzept spielte der Rückgriff Rosenbergs auf das „Triebhafte, Dämonische, Geschlechtliche, Ekstatische und Chthonische“4 keine Rolle. Wenngleich Hitler für Rosenbergs absurdes Theoriengebräu nur ein Achselzucken übrig hatte, so täuschte dies nicht über dessen wahre Bedeutung im Dritten Reich hinweg. Teils im Widerspruch zu Himmler, aber oftmals in den grundsätzlichen Rassefragen mit diesem einig, galt er den vier Siegermächten im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß als einer der Hauptverbrecher des Dritten Reiches. Rosenberg wurde mit zehn weiteren Angeklagten zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 durch den Strang hingerichtet. Der, welcher jahrzehntelang den Haß gegen fremde Kulturen und Völker gepredigt hatte, verlieh im Angesicht des Galgens seiner Hoffnung Ausdruck, daß die Völker „ohne Vorurteile, ohne böse Gefühle und ohne Haß“ im „gegenseitigen Verstehen“ in Zukunft miteinander auskommen mögen! 5 Die jüdische Projektionsfigur aller Schlechtigkeit der Welt, der „ewige Jude“ in seiner ihm unterstellten Verderbtheit nahm in den Rassenideologien des völkischen Nationalismus und schließlich in der Weltanschauungslehre der Nationalsozialisten metaphysische Dimensionen an. Hierdurch wurde der Kampf gegen die Juden einmal mehr als „Kampf gegen die Finsternis gesehen, in dem es nur Sieg oder Untergang gab“.6 Das urchristliche Bild des Juden als Hostienschänder und Weltverderber wandelte sich zu einer erbbiologischen Gefahr für die gesamte Menschheit, die nicht nur die Reinerhaltung artspezifischer Rassen gefährdete, sondern auch kultur- und staatszersetzend interpretiert wurde. „Die Juden sind unser Unglück“ war die einfache Formel im Dritten Reich vor der drohenden Gefahr der „Verjudung“ von Kultur und 195

Sitte und des Ursprungs allen menschlichen Übels, wie Goebbels und Streicher des öfteren anführten. Chamberlains zuvor propagierter Rassekrieg, zunächst als kulturanthropologisches Gedankengebäude errichtet, fand in der millionenfachen Vernichtung des europäischen Judentums seine praktische Umsetzung. Dahinter stand der fanatische Glaube an rassistische Ideen, die sich nicht nur in der Geschichte des deutschen Bürgertums und seines Geistesadels über die Jahrhunderte entwickeln konnte, sondern auch in der gesamten europäischen Gesellschaft in den oberen und unteren Schichten Verbreitung fanden. Der europäische und im Besonderen der deutsche Rassismus waren weit verbreitet und annektierten viele kultur- und geisteswissenschaftliche Strömungen; er erwies sich hierdurch als „sehr anziehend Leuten gegenüber, die überhaupt keine Rassisten waren oder deren Rassismus höchst ambivalent war“.7 Aber eines war diesen Strömungen gemeinsam und auch denjenigen, die sich von diesen beeindrucken ließen, sie richteten sich gegen die Vernunft und Aufklärung. Am Beispiel des Antisemitismus wird die „politische Qualität fremdenfeindlicher Konstrukte deutlich“.8 die auf alle möglichen Feindbilder ausdehnbar sind. An die Stelle der Juden können genau so andere Minderheiten und Volksgruppen treten und in der Realität des Dritten Reiches waren neben den jüdischen Bevölkerungsgruppen auch andere Randgruppen zur Vernichtung vorgesehen. Antisemitismus und ‚Rassismus wie gleichwohl Fremdenhaß bedingt sich gegenseitig und agiert auf einer Kontinuitätslinie unterschiedlicher Stärken von Haß und Verachtung und es bedarf nur eines äußeren Anlasses um diesem Haß auch entsprechende Gewalttaten folgen zu lassen. Daher stehen Antisemitismus und Rassismus als „Chiffren für antiaufklärerischen Eifer, für irrationalen Fanatismus, für die Abwehr von Vernunft“.9 Wurden antisemitische Ideen zunächst noch im Fanatismus des mittelalterlichen Antijudaismus religiös begründet, so trugen sie im Zeitalter des Nationalismus immer deutlichere rassenspezifische Züge, welche in einem unerbittlichen Vernichtungswillen gipfelten. Hitlers „Endlösung der Judenfrage“ bildete den Schlußpunkt beispielloser Ideenformationen von Rassismus, Spiritualismus, Geheimwissenschaften und kosmischen Überlebenskämpfen einer sich selbst auserwählten Herrenrasse. Der Massenmord setzte die Rassentheorien in die Praxis um. Die verhängnisvollen Ideen dilettierender Philosophen und völkischen Kulturkritiker erfüllten ihre Funktion als Resonanzboden fanatischer Demagogen und ihrer gewissenloser Helfer.

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Kapitel 9.4 Rassismus und Antisemitismus als affirmative Ideologie der Entfremdung „Und an Allem ist der Jude schuld“. Streichers üble Judenhetze. Rassentheorie als sexuelle Verdrängungsideologie. Weiningers jüdischer Selbsthaß. Weininger und Hitler, eine tragische Übereinstimmung. Jenseits aller kulturellen und religiösen Werte, die sich unter den Bedingungen des Kapitalismus als bloße fiktive Selbsttäuschung erwiesen, wird der Rassismus zur Ideologie des Bürgertums oder genauer gesagt, zur Ersatzlegitimation eines enttäuschten Kleinbürgertums. Nachdem die traditionellen kognitiv kulturellen Standards den wachsenden Ungerechtigkeiten des beginnenden Industriezeitalters keine befriedigende Antwort vermitteln konnten, wurde die biologische Schicht des Menschen als letztes Refugium der Daseinsdeutungen und der Frage nach der menschlichen Existenz freigelegt. Führende Vertreter sozialdarwinistischer Lehren, wie Paul de Lagardes, Julius Langbehn, Eugen Dühring beschritten mit ihren rassistischen Auffassungen den ideologischen Pfad des Inhumanen, der sich im Zuge nationalistischer und imperialistischer Bestrebungen bis in die politischen Programme ausweiten sollte. Dühring sprach 1880 in seinem Buch Die Judenfrage bereits von „blutradikal“ und forderte die Ausmerzung des jüdischen Lebens.1 Anders dagegen Nietzsche, der in aller Deutlichkeit gegen „jene verlogene Rassen-Selbstbewunderung“ polemisierte, „welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt“2 Im Rassismus und im populären Sozialdarwinismus präsentierte sich die Kehrseite einer harmonisierenden Gesellschaftsideologie eines saturierten Bürgertums, auf welches der völkische Nationalismus zurückgreifen konnte. Sicherlich hatte neben den modernistischen Zeiterscheinungen, welche eine Entfremdung des Menschen in seinen gesellschaftlichen Bezügen zur Folge hatte, auch der Imperialismus mit seiner Kolonialpolitik zur Popularisierung rassistischer Theorien beigetragen. Jene Herrschaft über die Kolonialvölker war nicht nur von dem wirtschaftlichen Nutzen den diese für die Kolonialmächte abwarf getragen, sondern in ihr kam auch die eingebildete biologische Vorzugsstellung einer zur Herrschaft berufenen „Rasse“ zum Vorschein. Himmlers spätere Pläne zur Besiedelung und Germanisierung des Ostens, verbunden mit der Versklavung der dort ansässigen Menschen war von ihrer politischen Grundauffassung her nichts anderes, als die Neuauflage kolonialer Herrschaftspolitik im Gewande nationalsozialistischen Rassenwahns; zumal diesen imperialen Bestrebungen die Vorstellung vom „Volk ohne Raum“ zugrunde lag, die neben ihrem geopolitischen Nutzen auch die materielle Versorgung des Hitlerstaates auf Dauer sichern sollte. 197

Das soziale Leben wird zum brutalen Kampf um das Dasein erklärt, in dem der Stärkere zu seinem durch Blut und Boden angestammten Recht kommt. Damit ist eine neue Spielart gefunden, die Natur unter die Brutalität der totalen Leistungsgesellschaft des Kapitalismus zu subsumieren und als letzte Bindung bleibt nur noch das naturhafte Dasein „als Halt in einer völlig vergötterten Welt übrig“3 Um diese Vergötterung auch sozial und psychisch zu verankern bedurfte es eines Feindbildes, auf dem die wirtschaftlich benachteiligten Schichten ihr Enttäuschungsreservoir projizieren konnten, die ohnehin von den Erträgen der Kolonialpolitik nicht oder kaum profitierten. Aus kulturhistorischer und religionsgeschichtlicher Erfahrung bot sich der jüdische Mitmensch, als „ewiger Jude“ diffamiert, geradezu an. Indem der „Jude“ als Repräsentant einer weltoffenen, in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, „Zirkulationssphäre“ galt, fungierte er in kleinbürgerlichen und teils auch in proletarischen Kreisen, an die der wirtschaftliche Fortschritt vorübergegangen war, als Sündenbock „in dem umfassenden Sinn, daß ihm das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet wird“.4 Einerseits war die jüdische Minderheit im Deutschen Reich so groß, daß man sie als Abladeplatz sämtlicher Ressentiments und zur Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen benutzen konnte, und ihre gesellschaftlich privilegierte Stellung aufgrund ihrer beruflichen und kulturellen Erfolge unübersehbar. Andererseits war die jüdische Gemeinschaft, gemessen an der Gesamtbevölkerung wiederum so klein, daß ihre Diskriminierung keinen beträchtlichen Schaden an der Volkswirtschaft anrichtete. Die jahrhundertlange Ghettoexistenz trug ein Übriges dazu bei, aus Unwissenheit über die wahren Lebens- und Kulturformen der Juden, die absonderlichsten Schauergeschichten zu verbreiten, welche den Antisemitismus verstärkten. Hartnäckig hielt sich vor allem die Vorstellung Geruch und Rasse seien ein aufeinander bezogenes Charaktermerkmal, welches den Juden einen grundsätzlich schlechten Geruch unterstellt. So glaubten nicht wenige Biologen und Rassetheoretiker wie beispielsweise der Begründer des Wiener Zoos, Gustav Jäger, daß der „jüdische Geruch“ besonders unangenehm sei und man den Juden an seinem Geruch erkennen könne. 1881 verband er den Ursprung der Seele „mit den alles Leben und Denken bestimmenden, in chemischen Prozessen erzeugten Gerüchen“, die in allen Rassen unterschiedlich seien und forderte, daß einige jüdische Kinder wegen ihrer „fauligen Ausdünstung“ nicht mit christlichen Kindern zusammen kommen dürften, womit er zugleich die Meinung eines Schuldirektors aus dem Jahre 1809 wiederholte.5 Das Gebot der Rassenreinheit, als regressives Instrument der Meinungsbeeinflussung war dazu geeignet, die aus dem Kleinbürgertum stammende sexuelle Verdrängungsideologie und ihren Tabuierungen als Herrschaftsinstrument der Herrschenden festzulegen und damit die patriarchalisch kapitalistische Gesellschaftsordnung zu stabilisieren. So absurd auch der Zusammenhang zwischen Rasse und Sexualität objektiv betrachtet sich auch 198

darstellt, um so hartnäckiger wurde er von einschlägigen Rassetheoretikern vertreten. Drei Jahre nach Chamberlains Buch Grundlagen des 19. Jahrhunderts erschien ein weiteres Machwerk, welches einen künstlich konstruierten Zusammenhang zwischen Geschlecht und Charakter aufzeigen wollte. Der Verfasser war der Österreicher Otto Weininger der sich 1903 dem Thema rassespezifischer Sexualität zuwandte. Weininger war Jude und sein Versuch, Arier und Juden gegenüber zu stellen um einen Idealtypus zu entwerfen, der auf Sexualität und Rasse aufbaute, dürfte auf jüdischen Selbsthaß beruhen. Unmittelbar nach Veröffentlichung seines antijüdischen Buches beging Weininger Selbstmord. Bis 1919 hatte sein Buch Geschlecht und Charakter 18 Auflagen erreicht und fand von Skandinavien bis Italien ein aufnahmebereites breites Publikum. Der Erfolg des Buches war sicherlich darauf zurückzuführen, daß ein junger Jude antijüdische Ansichten eines einschlägigen Antisemitismus in der Öffentlichkeit vertrat und publizierte, was der allgemein herrschenden Stimmung in der Bevölkerung entgegenkam. Weininger behauptete, der arische Mann verfüge über die Klarheit des Denkens, zeige Entschiedenheit, nur er sei in der Lage, sich zu metaphysischen Höhen seines Glaubens aufzuschwingen, wogegen sowohl den Frauen als auch der jüdischen Rasse diese Eigenschaften fehlen. Da der Jude als Angehöriger einer minderwertigen Rasse zu Höherem nicht in der Lage sei, verkehre er Sexualität in Wollust, was wiederum dem Fehlen höherer Fähigkeiten zugeschrieben wurde. Dem Juden mangele es an Glauben, auch besitze er keine Seele, habe keine Vorstellungen von höheren Ordnungen und unfähig sich in einem Staatswesen einzufinden. Weiningers Ansicht nach regiere die Anarchie in einer Welt ohne Gesetze und Moral. Das „degenerierte Zeitalter“, wie er seine Zeit nannte, kenne nur die Korruption und würde durch die Halbwelt verkörpert. Keuschheit sei zugunsten einer unablässigen Pflicht zum Beischlaf verdrängt, ohne jegliche sittlichen Bindungen. Um diesem Zustand ein Ende zu setzen, müsse eine neue Religion begründet werden, die zwischen Judaismus und Christentum, zwischen Geschäft und Kultur, Mann und Frau, Art und Persönlichkeit klar unterscheide.6 Von einem Juden vorgetragen, erschienen solche Analysen absurd. Mehr noch, Weininger war der Ansicht, daß nur ein Jude die negativen Seiten seiner Rasse erkennen könne. Der Rassismus seiner Theorie stand jedoch im Widerspruch, sein eigenes Jüdisch-Sein zu überwinden. Tragischerweise lag Weiningers Buch in Einklang mit allen fanatischen nichtjüdischen Rassisten und Antisemiten und Hitler selber nutzte Weiningers irrationale Theorie um seinen eigenen Judenhaß zu untermauern. So hat er dessen Sexualthese übernommen, denn für Hitler verband sich das Bild des kaftantragenden Juden mit Schläfenlocken sofort mit der Vorstellung primitiver Sexualität. In Hitlers Mein Kampf lesen wir von dem „lüsternen und lauernden Judenbengel“, der an jeder Straßenecke arischen Jungfrauen auflauert um sie zu vergewaltigen. Es ist anzunehmen, daß Weiningers Antisemitismus ihn nicht vor nationalsozialistischer Verfolgung hätte schützen können, falls er das Dritte 199

Reich noch erlebt hätte. Denn für die Nazis zählte alleine der Umstand Jude zu sein, um der Vernichtung zugeführt zu werden. Der Jude als Objekt des rethorischen und wirklichen Dreinschlagens bot dem triebbeschränkten und in sozialer Hinsicht zu kurz gekommenen Kleinbürger die Gelegenheit, seinen allgemeinen Antihumanitätsaffekt zu enthemmen. In diesem Sinne hat Wilhelm Reich das Gebot der Reinheit von Rasse und Blut als „eine Erscheinung der durch die patriarchalische und privatwirtschaftliche Gesellschaft bedingten Sexualverdrängung und Sexualscheu“ gedeutet.7 Denn die sexuelle Vermischung der herrschenden Klasse mit der beherrschten bedeutete eine Erschütterung der zentralen ideologischen Stützen der Klassengesellschaft im preußischen Wilhelminismus. Somit gesellte sich zu dem rassistischen Faktor noch ein systemstabilisierender hinzu, der die Massen an das Herrschaftssystem binden konnte. Der Nationalsozialismus hat es verstanden, die Vermischungsthese, die sich ursprünglich auf ein imaginäres Gefährdungspotential für die ständische Klassengesellschaft im Wilhelminismus bezog, zu einem generellen universalistischen Daseinskampf auszuweiten um damit den Mythos von der arischen Volksgemeinschaft zu beleben. Daher mußte die verdrängte Sexualität auf ein imaginäres Feindbild gelenkt werden, dem man unterstellte, durch Vermischung den Bestand der arischen Gesellschaft zu gefährden. Im Dunkel wirrer sexueller Mythen und rassischer Hintertreppentheorien wurde das Fundament eines bestialischen Antisemitismus gelegt und auf dem der Nationalsozialismus seine Weltanschauung und spätere Politik festlegen konnte. Die Aufteilung der Gesellschaft in Beherrschende und Beherrschte, verbunden mit einer rassischen Rangordnung, predigte gegen Ende des 19. Jahrhundert der preußische Hofideologie und führender deutsche Historiker Heinrich von Treitschke, welcher befand, daß die Masse immer Masse bleiben müsse und daher keine Kultur ohne „Dienstboten“ möglich sei und deshalb „Millionen ackern, schmieden und hobeln müssen, damit einige Tausende forschen, malen und dichten können“.8 Treitschkes Einfluß auf das politische und gesellschaftliche Denken im Hinblick auf den wachsenden Antisemitismus und der Verfestigung antidemokratischer autoritärer Strukturen in jener Zeit war außerordentlich, denn seine Schriften wurden vielfach gelesen und rezepiert. Letzten Endes sind Rassismus und ebenso der Nationalismus projektive Ideologien, welche die soziale Sehnsucht von ihrem eigentlichen Grund wegführen und neutralisieren. Das über Generationen gepflegte Rassemysterium verwandelte den Juden in ein Prinzip des Bösen, des Ashasverus, der für alle Ungleichheiten der Moderne verantwortlich gemacht wurde. In der Legende ist der Ashasverus ein Jude, der Christus zum Kreuz getrieben hat und sich weigerte, ihm Trost zu spenden. Daher ist er dazu verdammt als Heimatloser und Entwurzelter in der Welt umherzuziehen, weder leben oder sterben kann und gefürchtet ist, da er als Vorbote des Schreckens und der Verzweiflung gilt.9 Eben jener Schrecken, die auch die breite 200

Bevölkerung angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche im Zeitalter der Moderne fürchteten. Somit wurde das ruhelose Zeitalter und der ruhelose, ewig wandernde Jude, der Ashasverus, welcher in der Welt umherirrt und Unheil stiftet zur Verkörperung einer verzweifelten Modernität. Anstatt diese Ungleichheiten einem aufgeklärten Bewußtsein zuzuführen, wurden sie unter dem Druck des rassisch-völkischen Nationalismus aus dem rassischen Arsenal eines vulgären Sozialdarwinismus abgeleitet und somit jeder kritischen Reflexion entzogen. Daher war es möglich im Bewußtsein ein ausgebeuteter Arbeiter und Kleinbürger zu sein und sich gleichzeitig als Mitglied einer auserwählten Rasse zu fühlen. Im Grunde genommen, Verlierer des kapitalistischen Wettbewerbs zu sein und dennoch einer vermeintliche Elite anzugehören. Dieses mittelalterliche Bild vom „bösen Juden“, dem mystischen Ashasverus verblaßte nicht im Verlaufe der Jahrhunderte, selbst die Aufklärung konnte es nicht gänzlich beseitigen, es wurde „vielmehr zum Symbol für die Verdammnis des jüdischen Volkes“.10 Anhand dieses mystischen Bildes läßt sich der Zusammenhang zwischen dem antisemitischem Stereotyp vom ruhelos wandernden Juden als ewiger Außenseiter und vermeintlichen „Störenfried“ sogenannter arischer Kulturen aufzeigen. Insofern bot sich der Stereotypus des „ewig wandernden“ Juden in einer Zeit zunehmender Industrialisierung und verwirrender gesellschaftlicher Veränderungen als ein regressives Instrument der Verdrängung eigener Unzulänglichkeiten geradezu an. Gerade in Krisenzeiten verdichten sich Vorurteile und Stereotypen zu geschlossenen Feindbildern, die zur Beförderung bestimmter politischer Absichten durch die Propaganda ins kollektive Bewußtsein transportiert werden. Für den Aufbau und zur Instrumentalisierung solcher Feindbilder „ist immer ein Kristallisationskern von Realität oder von auf allgemeinen Konsens beruhender Überzeugung als Pseudorealität [...]“notwendig denn, „ein Körnchen Wahrheit solcher Wahrheit muß dem Vorurteil zugrunde liegen, damit es breite Wirkung entfalten kann“.11 Die Zeugnisse des Rassismus in Deutschland reichen weit zurück. Bereits Friedrich Ludwig Jahn betrachtete die „Erziehung zum „Volkstum“, als „Volkserziehung“, indem sie den alten Stamm mit dem Schutzstoff der Reinrassigkeit impft um hierdurch ein neues veredeltes Volk aufzuziehen. Der „deutsche Turnvater“ sah sich in gleichem Maße wie er die Leibesertüchtigung fördern wollte, auch als Sachverwalter der deutschen Sprache. Um 1810 hatte er um den Begriff Nationalität einzudeutschen, deshalb den Ausdruck „Volkstum“ gebildet. Schleiermachen sprach in ähnlicher Absicht von „Volksgemeinschaft“, was bei ihm noch harmlos und im Gegensatz zu Jahn auch unpolemisch und unpolitisch klang. Jahn verband allerdings seine Fürsorge für die deutsche Sprache mit einer ausgesprochenen haßerfüllten Abneigung gegen alles „undeutsche“ und „nichtdeutsche“ und vor allem gegen das „jüdische“. Heine nannte den deutschtreuherzigen, freilich naiven Turnvater einen „idealischen Flegel“, der befürchtete, daß die „jüdischen 201

Unholde“ den deutschen „Volkstumswald“ abholzen würden, was es zu verhindern galt. Jahns Pädagogik verstand sich daher als eine ausgesprochen völkisch-nationale Erziehung, die ganz auf das Deutschtum ausgerichtet war. Hierbei griff er auf eine popularisierte Brauchtums- und Volksgeschichte zurück, die von allen fremdsprachlichen und fremdkulturellen Einflüssen freigehalten wurde. Mit ihrer Hilfe sollte die germanische Ursprungstradition wiederbelebt werden. Es ist daher nicht verkehrt, den völkischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts, der seine ideologischen und pädagogischen Wurzeln in Jahns Begriff des „Volkstums“ hatte, als eine der Vorstufen zum Nationalsozialismus zu bezeichnen. Insofern schien es einer gewissen völkischen „Vernunftstimmigkeit“ zu entsprechen, wenn Goebbels im März 1933 vor den Intendanten und Direktoren der Rundfunkgesellschaften formulierte: „Am 30. Januar ist endgültig die Zeit des Individualismus gestorben. Die neue Zeit nennt sich nicht umsonst Völkisches Zeitalter. Das Einzelindividuum wird ersetzt durch die Gemeinschaft des Volkes Wenn ich in meiner politischen Betrachtung das Volk in den Mittelpunktstelle, dann lautet die nächste Konsequenz daraus, daß alles andere, was nicht Volk ist, nur Mittel zum Zweck sein kann [...] das Volk als Ding an sich, das Volk als den Begriff der Unantastbarkeit, dem alles zu dienen und dem sich alles unterzuordnen hat.“12 Freilich stellte sich die Formulierung des „Volk an sich“ nicht so eindeutig dar, wie man hätte vermuten können. So gab es unterhalb der Führungsspitze rivalisierende ideologische Machtzentren, die um die Bedeutungshoheit dieses Begriffes stritten. Die Romantischen verstanden in ihrer nationalsozialistischen Konzeption das Völkische als einheitliches Sprachvolk, währenddessen die realistischen Vertreter der „nationalsozialistischen Revolution“ den Begriff des Volkes ausschließlich rassischbiologisch gelten lassen wollten. Dem letzteren widersprach Goebbels vehement, da mit dem romantischen Volkstumsbegriff rassenbiologisch kein Staat zu machen war. Hiefür waren die von den Nazis protegierten „Wissenschaften“ der Rassenkunde und Eugenik gefordert und nach Meinung Goebbels auch besser geeignet, zumal sie auch dem weltanschaulichen Programm der Partei entsprachen. Das wiederum mißfiel Rosenberg, dem Parteiideologen der NSDAP, der in seinem Mythos des 20. Jahrhunderts das Triebhafte, Dämonische, Gestaltlose, Geschlechtliche, Ekstatische und erdhaft Chthonische als Bestandteile eines romantisch affizierten völkischen Nationalismus ins Gespräch brachte und für den die Leistung der Romantik in der Entdeckung des Mythischen bestand, was er gleichbedeutend mit rassisch verstand. Darin sah er einen zusätzlichen Grund, das Volkstum, die Kultur und das „Völkische an sich“ mit jenen mythischen Requisiten der Vergangenheit zu befrachten, die durch die Aufklärung und den technischen Fortschritt längst in Vergessenheit geraten waren. Goebbels, der das Buch einen „philosophischen Rülpser“ genannt hatte bemerkte hierzu nur, daß, wenn es nach Rosenberg ging, die ganze Kultur nur noch aus Thing, Feuerrädern, Germanenkult und 202

ähnlichem Schwindel bestehen würde. Sofern er selber derartige Riten beschwor, so dienten sie lediglich seiner geschickt inszenierten Propaganda, an die er selbst kaum glaubte. Für Goebbels war daher auch der Begriff der Romantik lediglich dem Ensemble sozialdarwinistischer Weltanschauungen unterzuordnen. Insofern ließ er nur eine sogenannte stählerne Romantik gelten, die sich den Aufgaben des modernen Zeitalters stellt und hierbei rücksichtslos und mit eiserner Entschlossenheit gegen die „Schwachheiten“ angeht, welche das „Volksganze“ bedrohen. Die Formel von der „stählernen Romantik“ benutzte Goebbels zwar um dem technisch-modernistischen Komplex des Nationalsozialismus als Weltanschauungslehre eine romantische Grundierung zu geben, damit sie nahtlos an deren völkischen Traditionen anknüpfen konnte, in Wirklichkeit bediente er sich jedoch einer verzerrten Auffassung romantischer Elemente, die eher einer epigonal pervertierten Adaption romantischer Grundhaltungen zugerechnet werden müssen, als daß sie zu ihrem eigentlichen Repertoire gehören. Goebbels Formel von der stählernen Romantik, die er im übrigen von Lenin übernommen hatte und die Jahre zuvor bei Ernst Jünger indirekt auftaucht, bezog sich weit weniger auf die romantische Tradition, als vielmehr auf jene biologischen und rassistischen Formationen die sich im trüben positivistischen Ideengebräu des späten 19. Jahrhundert im wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskurs entfalten konnten. Diese waren jenem omnipotenten Ich geschuldet, das aus einer Überschätzung des wissenschaftlichen Denkens, welches frei sein sollte von jeglicher ethischen Verantwortung, solche inhumanen anthropologischen Modelle erst entwickeln durfte. Diese Formationen waren angetreten den Menschen neu zu modellieren, ihn umzuformen zu dem Typus, den die totalitären Systeme des 20. Jahrhundert zur Etablierung ihrer Macht so dringend benötigten. Jene Träume von germanischer Archaik und Erdverbundenheit waren in Wirklichkeit daher regressiv verortete Kalkulationen, um dem ganzen Unternehmen Nationalsozialismus eine historische Legitimation zu verleihen. Auch die Anleihen an die Germanophilie des 19. Jahrhunderts war eben sowenig als Begründung haltbar, da dieser, bei aller völkischen Exklusivität, der rabiate Biologismus und Rassismus fehlte. Freilich, die spätromantische Kritik an den technischen Fortschritt, wie sie von Ludwig Klages vorgetragen wurde, konnte sich innerhalb der nationalsozialistischen Nomenklatur nicht durchsetzen. Vom vermeintlichen Untergang der Seele im technischen Zeitalter wollte man nichts hören. Allenfalls sollte die Seele, was auch immer hierunter zu verstehen war, sich mit den modernen Anforderungen der Zeit versöhnen, was unter anderen bedeutete, daß sie sich von ihren bürgerlichen „Fesseln“ der Humanität und Moral zu verabschieden habe. Selbst Himmlers Visionen von der Arisierung weiter Gebiete im Osten, dienten im Grunde genommen nur der Verschleierung handfester Imperialpolitik im völkischen Gewande. Völkischer Nationalismus wie Sozialdarwinismus waren von der kleinbürgerlichen Schmutzangst und 203

Triebfeindschaft besetzt, die sich auch in den späteren rassistischen Ausfällen in Streiches Hetzblatt Der Stürmer niederschlugen. Wenngleich sich auch intellektuellere Parteigenossen gegen diese Hetzte wandten, da sie um das Ansehen der Bewegung fürchteten, so unterstützte Stürmers Hetzblatt dennoch in beträchtlichem Maße die nationalsozialistische Propaganda gegen die jüdische Bevölkerung. Bei Jahn sollte der drohenden Schmutz- und Triebanfälligkeit durch nichtarische und fremdkulturelle Einflüsse mittels eines muskelturnerisch gestählten Körper begegnet werden, der so ganz nebenbei auch für militärische Aufgaben vorbereitet wurde. „Wir verjüngen uns in der Jugend, die uns lieben und hassen lehrt“ verkündete er um festzustellen, daß „unser irdisches Höchste [...] Volk und Vaterland“ ist, „alles Hehre und Heilige erscheint in diesem Namen“.13 Im Jahre 1815 äußerte sich Ernst Moritz Arndt in ähnlicher Weise, wenn er davon sprach, daß die Deutschen nicht durch fremde Völker verbastardet seien und im Gegensatz zu anderen Völkern in ihrer Reinheit geblieben sind. Erst aus dieser Reinheit haben sie sich Art und Natur „nach den stetigen Gesetzen der Zeit langsam und stilvoll entwickeln können; die glücklichen Deutschen sind ein ursprüngliches Volk“.14 Dem stellte er die Auffassung gegenüber, daß Humanität und Kosmopolitismus zu verfluchen seien und jener „allerweltliche Judensinn“, der als höchste Stufe der menschlichen Bildung gepriesen werde. Fichte hingegen hielt es für durchaus berechtigt, daß die deutsche Nation das Ziel haben müsse, sich das ganze Menschengeschlecht einzuverleiben. Solcherart Irrlehren, im Gewande wissenschaftlicher Traktate vorgetragen, verstärkten den Chauvinismus und bedienten darüberhinaus die rassistischen Vorurteile im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die sogenannte Humanität wurde als Irrweg abgetan und sollte erst dann wieder Geltung erlangen, „wenn wir politisch, sittlich, gesundheitlich und kulturell reformiert sind, und danach wird sie ihre Grenzen finden müssen an dem Gesetz, daß der Gesundheit des Volkes jedes Opfer gebracht werden muß“.15 Die späteren Ideologen des „Dritten Reiches“ brauchten die vorhandenen Muster nur noch zu wiederholen, um festzustellen, daß die Gesamtheit der Menschheit, diese zahlreichen großen und kleinen Kulturen, nur ein historisches Zwischenstadium ist, was letztlich in wenigen, führenden Nationen aufgeht, womit sie den nationalsozialistischen Staat meinten. Um die Jahrhundertwende gewann der Antisemitismus unter dem Einfluß des englischen Ideologen Houston St.Chamberlain zunehmend an Einfluß auf das Denken der damaligen Zeit und damit auf nationalistische Tendenzen. Allerdings verbanden sich nationalistische Ideen und rassistische Tendenzen bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts und wurden vor allem durch Joseph Arthur Gobineau vertreten, der die ständische Ungleichheit der Menschen und die Herrschaft des Adels als naturgegeben rechtfertigte. Die imperialistischen und autoritären Ideen des späteren 19. Jahrhunderts und die rechtsnationalen und völkischen Kreise des 20. Jahrhundert transformierten die herrschenden 204

Rassetheorien zur potentiellen Kampfideologie der neuen herrschenden Klasse, der Bourgeoisie, womit sie Einzug in die breiten Bevölkerungsschichten hielt. Daß derartige Konstruktionen, wie die universelle Bedeutung der germanischen Nordrasse, welche Chamberlain und in seinem Gefolge Rosenberg vertraten, jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrten und wenig mit der Wirklichkeit zu tun hatten, war aufgeschlossenen Zeitgenossen nur allzu deutlich und verstand sich von selbst. Dennoch hielten die deutschen Rassentheoretiker von Ludwig Schemann über L.F.Clauß bis zu Hans F.K.Günther daran fest, daß Rassen dauerhafte biologische Zustände sind, obwohl die genetische Forschung als auch die empirische Beobachtung zeigen konnten, daß eine biologische Rasse niemals konstant bleibt, sondern immer einem Prozeß ständiger Veränderungen unterworfen ist. Und so wurde aus einer stammesgeschichtlichen Flexibilität und dem Anpassungsvermögen sich durch kulturelle und soziale Adaptionen und Assimilationen zu verändern, eine mythische Schicksalsbestimmung. Völkisch rassischer Nationalismus, der davon ausging, daß Geschichte und Kultur einer naturhaften Bestimmung unterworfen ist, ging einher mit einem Haß auf die traditionelle bürgerliche Kultur, diese wird daher verdammt und verleugnet, weil durch sie gesellschaftliche und individuelle Prozesse eingeleitet werden, die einer naturhaften Auffassung vom Werden menschlicher Gemeinschaften entgegenstehen. Damit wird implizit der Weg dazu versperrt, die Geschichte in eigener Verantwortung vernünftig zu gestalten. Vor diesem ideologischen Hintergrund konnte daher Hitler in seinen politischen Visionen immer wieder von der Macht der Vorsehung sprechen, die eben so schicksalhaft über die Politik und deren Protagonisten kommt, wie die biologisch-rassisch Determinanten über die gesamte Menschheit. Der völkische Nationalismus definierte auf dem ideologischen und pseudowissenschaftlichem Paradigma der Rassentheorie die Zugehörigkeit der Menschen im Sinne von Bluts- und Rassenzugehörigkeit und insofern war es daher selbstverständlich Staatsbürger anderer Nationen, die unter den spezifisch deutsch-völkischen Rassekriterien fielen, als sogenannte Volksdeutsche zu bezeichnen, die irgendwann ins Staatsgebiet des Deutschen Reiches „heimgeführt“ werden sollten. Nicht mehr das Staatsvolk galt als Nation, vielmehr wurden die charakteristischen Merkmale einer Nation durch die Auffassungen hinsichtlich eines rassisch determinierten Volkstums definiert. Somit transformierte sich der bis dahin gängige politische Nationenbegriff zu einem ethnischen, und nahm unter dem Einfluß völkischrassischer Denkweisen Züge einer staatspolitischen Lehre an. Hierdurch eröffnete sich dem Nationalismus eine neue nationalpolitische Frontstellung, die sich als Sammelbewegung von rechts verstand und den liberalen und demokratischen Kräften den Kampf ansagte. In ihm fanden sich antimoderne Gruppen der literarischen, geistigen und künstlerischen Intelligenz zusammen, wie sich gleichermaßen auch jene, von Modernisierungsprozessen und 205

Wirtschaftskrisen benachteiligten Bevölkerungsschichten diesen Ideenwelten zuwandten. Ideengeschichtlich kann der völkische Nationalismus auch als Antwort auf den unvollendeten deutschen Nationalstaat betrachtet werden, indem er versuchte, mit einem volksdeutsch legitimierten kulturpolitischen Programm vorhandene Schwächen nach außen und durch eine Ausgrenzung seiner Gegner im Inneren die verfehlte Einheit und den fehlgeschlagenen Imperialismus zu kompensieren.16 Darüberhinaus war es indes nichts ungewöhnliches, daß der völkische Nationalismus antisemitischen Tendenzen anhing, denn diese Tendenz war bereits in seinen sozialdarwinistischen Ansichten vorgedacht und in der konkretisierten Absicht, andere Ethnien von vorneherein auszuschließen. Ganz im Geiste dieser antidemokratischen Tendenz gründete sich 1893 in Hamburg der „Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband“, welcher nicht unverhofft von Hamburger Antisemiten ins Leben gerufen wurde. Er richtete mit antisemitischen Parolen seine agitatorische Tätigkeit gegen die erfolgreiche jüdische Berufskonkurrenz. Den deutschen Juden, die nichts anderes wollten, als in diesem Sprach- und Kulturraum zu leben und zu arbeiten, kamen solche exklusiven Organisationen wie eine Replik in längst überwunden geglaubten Zeiten vor. Zu diesem Zeitpunkt durften sie auf eine fast hundertjährige Emanzipation zurückblicken, welche die Beschränkungen auf typisch „jüdische“ Berufe, wie Geldverleiher und Hausierer aufgehoben hatte. Das Bewußtsein der gebildeten Juden, Deutsche wie die übrigen zu sein, kam weder aus einer überängstlichen Tarnung oder Selbstverleugnung, sondern aus der Teilhabe an einer Kultur, die Kosmopoliten wie Kant, Goethe und Schiller hervorgebracht hatte. Und sie haben, wie die Kulturgeschichte beweist, nicht nur an dieser Kultur teilgenommen, sondern sie vielmehr in außerordentlicher Weise Maße bereichert. Sie waren eben so wohlhabend und reich oder arm, wie die übrigen Bürger; sie waren gebildet oder philisterhaft, wie das Bürgertum insgesamt.

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Kapitel 9.5 Am Vorabend des Nationalsozialismus – Rassestaat und Volksgemeinschaft Der Antisemitismus wird politikfähig. Volk ohne Raum und Himmlers Wehrdörfer. Zuckmayers Einsichten. Treitschkes Haß wird populär. „Die Juden sind unser Unglück“. Görings Reichbürgergesetz von 1935, legalisierter Terror. Die Nation wird zum Rasseverband. „Wer ein Jude ist, bestimme ich“ (Karl Lueger 1844-1910, Bürgermeister von Wien) Insofern es dem Nationalsozialismus Jahrzehnte später gelingen konnte, einer Gesellschaft, die voller innerer politischen Widersprüche und sozialer Ungleichheiten war, wie sie sich noch während der Weimarer Jahre darstellte, vorzutäuschen, sie sei eine organische Volksgemeinschaft, konnte er in dieser Hinsicht auf eine lange völkische Tradition zurückgreifen. Der Nationalsozialismus, wie der völkische Nationalismus leugnete die sozialen Differenzierungen einer pluralen Gesellschaft und sprach statt dessen von Rasse und Volk. Hierzu wurde ein indifferenter Wir-Begriff konstruiert, der ebenso die Bürgergesellschaft leugnete, wie er auch soziale Klassenunterschiede einzuebnen versuchte, und der überdies über Propaganda und gelegentlichen Massenveranstaltungen vermitteln sollte, daß das Interesse der Bevölkerung und der Nation auch das des einzelnen ist; wie umgekehrt, das Interesse des einzelnen im Volksganzen aufgehoben wird. Zugleich wurde das Bürgerliche als eigenständige und eigenwillige Kultur- und Bildungsform geleugnet und auf die germanisch-bäuerliche Herkunftskultur verwiesen, die in den Augen der Nationalsozialisten die eigentliche deutsche Kultur- und Lebensform darstellte. Volkstum, Volksfeiern, Deutsches Volksgut, Junges Volk, Volk im Werden und „Volk steh auf“ waren beliebte Propagandabegriffe und dienten der Etablierung einer bäuerlichen Volkstumskultur, in denen germanischen Mythen und Sagen ein bildungsmäßiger Stellenwert eingeräumt wurden. Hermann der Cherusker und seine Bedeutung für die Entfaltung des germanischen Bewußtseins waren beliebte Aufsatzthemen für gymnasiale Oberstufen. Und Himmler ging in seinen Bestrebungen dem Ganzen zusätzlich noch einen religiösen Anstrich zu verleihen sogar so weit, im Rückgriff auf einen Germanenmythos eine staatstragende „Religion“ zu etablieren, deren oberste Repräsentanten der SS- „Orden“ sein sollte. Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten hatte die Blut- und Bodenkultur vergangener Epochen Hochkonjunktur. Die buchstäbliche Antipathie Hitlers und der Nationalsozialisten gegen die bürgerliche Kultur- und Wirtschaftsgesellschaft waren unter anderen auch Ausdruck einer sozialpathologischen 207

Abreaktion von im Leben zu kurz gekommenen Individuen. Ihre Vorbehalte trafen sich mit einer anachronistischen „Physiokraten-Romantik“, der Vorstellung von einer autarken, auf Blut und Boden gegründeten Staatsordnung, die einem mythosnahen Bauerntum huldigte. Auch diese Strömungen konnten im deutschen Sprachraum auf eine lange Tradition verweisen, die bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichte und auf den völkisch-nationalen Vorstellungen von Heroismus und Auserwähltheit der germanischen Rasse basierte. Deren Aufgabe sollte darin bestehen, der kargen Scholle in harter Arbeit die Lebensgrundlagen abzuringen. In Himmlers „Wehrdörfer-Visionen“ vom Lebensraum im Osten tauchten derartige bodenverhaftete Ideen wiederum auf, die als geopolitisches Konzept den nationalsozialistischen Minderwertigkeitskomplex vom „Volk ohne Raum“ kompensieren sollten. Über allem stand die irrationale Sehnsucht nach alter Germanenherrlichkeit, deren dörfliches Ambiente auch der Architektur der von Speer und Himmler geplanten Wehrdörfern als Vorbild diente. Wie sich unschwer erkennen läßt, waren völkischer Nationalismus und Rassenideologie, sowie die sozialdarwinistische Auffassung von der Verdrängungsnotwendigkeit sogenannter minderer Völker nicht voneinander zu trennen und fanden später in Himmler ihren kongenialen Sachverwalter. Der völkische Nationalismus bemühte den Mythos von der germanischen Kontinuität der deutschen Kultur, indem er behauptete, sie sei immer germanisch geblieben. So wie der deutschen Kultur eine eigenständige Kontinuität unterstellt wurde, so vertrat man auch die Auffassung einer sogenannten Reinrassigkeit des germanischen Blutes. Damit leugnete man bewußt oder unbewußt die tatsächlichen Diskontinuitäten und ethnischen Einflüsse, welche seit Jahrhunderten in Wirklichkeit der deutschen Kultur ihr Gepräge gegeben hatten. Für die Nationalsozialisten hingegen, waren diese Diskontinuitäten lediglich störende Elemente, die das wahre deutsche Wesen verfremdeten und in einer artfremden Weise überformten und die es auszumerzen galt. Auf psychologischer Ebene argumentierte in den dreißiger Jahren in ähnlicher Weise der Schweizer Psychotherapeut Carl Gustav Jung, indem er behauptete, die germanische Seele hätte trotz tausendjähriger Überformung durch christlich-jüdische Einflüsse, dennoch im kollektiven Unbewußten ihre schöpferische und kulturelle Kraft erhalten. Carl Zuckmayer hat in seinem Bühnenstück Des Teufels General diese angebliche, aus dem „rein germanischen“ sich selbsterzeugende ethnische und kulturelle Kontinuität in einer sehr anschaulichen Weise ad absurdum geführt und zwar in dem Dialog zwischen General Harras und Hartmann, wo es um die „Reinrassigkeit“ dessen Stammbaumes geht. Hartmann: „Wegen einer Unklarheit in meinem Stammbaum, Herr General. Meine Familie kommt nämlich vom Rhein.“ Harras: „[...].Vom Rhein – noch dazu. Vom Rhein. Von der großen Völkermühle. Von der Kelter Europas! Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein 208

schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor seiner Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. – Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das alles hat am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt – und – und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, und – ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein – das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse. Seien Sie stolz darauf, Hartmann [...].“1 Dem Pluralismus des deutschen Geistes- und Kulturleben setzte der völkische Nationalismus die Eindimensionalität einer erdhaften urtümlichen Folklore germanischer, unverdorbener Bauernvölker als archaische Gegenwelt entgegen. In der Reduzierung auf das einfachste und primitivste wurde die Reichhaltigkeit einer über die Jahrhunderte gewachsenen Kultur geleugnet. Der Brauchtumspflege als gezielt eingesetzte gemeinschaftsverbindende Inszenierung sollte die Rolle einer tröstenden und ausgleichenden Funktion zukommen. Diese war nicht nur als sentimentale Replik auf eine nicht wiederholbare Vergangenheit gedacht, welche dem drohenden Auseinanderbrechen kleinstädtischer und dörflicher Strukturen entgegenwirken sollte, sondern auch als Kompensation der zunehmenden Entfremdung und Vermassung der Menschen in den Industriegroßstädten des Frühkapitalismus gemeint. Insofern erstaunt nicht, daß Jahrzehnte später der Nationalsozialismus die scheinbar sozial ordnende und entlastende Rolle von germanischem Brauchtum, Sitte und Volkslied als folkloristische Gegenwelt zur Wirklichkeit des Alltages im Dritten Reich für seine propagandistischen und politischen Zwecke benutzte. Ein besonders übler Nationalismus, der zudem antisemitische Züge trug, ging im späten 19. Jahrhundert von dem liberalen Berliner Historiker Heinrich von Treitschke aus. Als Befürworter der Bismarckschen Einigungspolitik und späteren Reichsgründung besaß er im Bürgertum einen erheblichen Einfluß, was die außerordentliche Popularität seines Antisemitismus erklärt. Seine Ausfälle gegen das deutsche Judentum sind von der Sorge getragen, daß die deutsche Kultur, welche auf eine tausendjährige germanische Gesinnung beruhe, durch den zunehmenden jüdischen Einfluß, insbesondere der Zuwanderungen aus dem Osten Europas in ihren Bestandteilen bedroht werde. 209

In seinen Preußischen Jahrbüchern, bezieht er bis Januar 1880 immer wieder gegen die Juden Stellung. Obwohl von jüdischen Freunden umgeben, welche mittlerweile, wie die meisten jüdischen Bürger nicht nur längst in der deutschen Kultur integriert waren, sondern deren bedeutende Träger wurden, stellt er diese als Ausnahme in der Regel dar und den Juden im allgemeinen als zersetzenden Feind des Deutschen. Sein antisemitischer Haß gipfelte schließlich in dem Satz: „ Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Mund: die Juden sind unser Unglück!“2 Letzteres wurde Jahrzehnte später zur Auftaktformel der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Der Antisemitismus stellte die äußerste Form der Verketzerung des „Artfremden“ und „Nichtariers“ in ideologischer und praktischer Hinsicht dar. Er ist daher die typischste Ausprägung einer Sündenbock-Ideologie, die aus sozioökonomischen Gründen ein Feindbild benötigt. Da die sozioökonomischen Bedingungen zu Anfang und gegen Ende der Weimarer Republik für den überwiegenden Teil der Bevölkerung alles andere waren, als zukunftsverheißend waren, stellten sich Verlust- und Bedrohungsängste ein, welche die Nationalsozialisten für ihre politischen Ziele instrumentalisierten. Sie hatten deswegen Erfolg mit dieser Strategie, weil ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung an die Pseudorealität der „jüdischen Überfremdung“ und „Zersetzung“ Deutschlands glaubte. Über Generationen waren diese Feindbilder aus dem Ideenarsenal des Sozialdarwinismus und des völkischrassischen Nationalismus durch die Erziehungsinstitutionen weitergegeben worden. Am Beispiel des Antisemitismus läßt sich daher deutlich aufzeigen, „daß Fremdenfeindlichkeit als Mittel der Politik mit Hilfe nahezu beliebig einsetzbarer Projektionen“3 immer dann funktioniert, wenn weite Teile der Bevölkerung von der Teilhabe an politischen, wirtschaftlichen und sozialen Prozessen ausgeschlossen bleiben. An Stelle der Juden können genau so andere Minderheiten treten, da in der Austauschbarkeit der Aggressionsobjekte die politische Qualität fremdenfeindlicher Konstrukte deutlich wird. „Sie stehen als Chiffren für antiaufklärerischen Eifer, für irrationalen Fanatismus, für die Abwehr von Vernunft“.4 Sah der völkische Nationalismus in der Dominanz des Rassebegriffes das konstituierende Merkmal der sogenannten Volksgemeinschaft auf das sich das Staatsverständnis ideologisch gründete, so entsprach der Nationalsozialismus diesem Blut- und Bodenmythos in rechtspolitischer Hinsicht durch die Nürnberger Rassegesetze von 1935. Diese Gesetze auf dem Nürnberger Reichsparteitag von Göring eingebracht, beseitigten faktisch die Begriffe der Nation als auch des Staatsbürgers. Das für moderne Staaten konstitutive gleiche Recht aller Staatsbürger, welches sich über deren Zugehörigkeit definierte, galt für die nationalsozialistische Auffassung von der Volksgemeinschaft nicht mehr. Fortan gab es „Staatsbürger“ erster und zweiter Klasse, wobei im Zuge 210

fortschreitender Entrechtung den letzteren in jeglicher Hinsicht das Existenzrecht abgesprochen wurde. Im Reichsbürgergesetz vom 15.9.1935 wurde die deutsche Bevölkerung in Reichsbürger „deutschen und artverwandten Blutes“ und „minderberechtigte Staatsangehörige“ unterteilt. Am gleichen Tag erließ man das sogenannte Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, das auf der Ideologie beruhte, daß die „Reinheit“ des deutschen Blutes oder genauer gesagt, des „Deutschseins“ schlechthin, die Voraussetzung zum Fortbestand des Deutschen Reiches ist, und dem „deutschen Volk“ die Zukunft für alle Zeiten sichert.5 Damit war die Nation durch die verfassungsrechtliche Herabstufung zu einem Rasseverband politisch entmündigt. Aus der Nation war das Volk geworden, das nicht mehr als politisches Gemeinwesen, sondern als Rasseverband aufgefaßt wurde. Aus dem Staatsbürger war der Volksgenosse geworden, der sich nur über die Rasse definierte, und aus dem ehemals deutschen Nationalstaat wurde ein autoritärer Führerstaat in dem Juden und Angehörige fremder Völker keine Lebenschancen erhielten. Von Seiten der Bevölkerung erhob sich gegen die Entrechtung staatsbürgerlicher Identität kein Widerspruch. Statt dessen suchte der Kleinbürger im Mythos des Rasseverbandes seine Zuflucht und Ruhe vor der Aufklärung durch den Logos der Vernunft. Auch in dieser Hinsicht war Deutschland eine verspätete Nation, an der die Hoffnungen der Aufklärung spurenlos vorbeigegangen waren. Auch in anderen europäischen Staaten, wie etwa in Frankreich, gab es einen ausgeprägten Antisemitismus, neu an dieser Art staatlichen Terrors war jedoch, daß der Antisemitismus durch die Nürnberger Gesetze gesetzlich legitimiert wurde. Vor dem Mythos des Blutes und der Rasse kapitulierte die Vernunft, der Zoon politicon galt nichts mehr im Deutschland des nationalen Wahns, der sich im Dritten Reich als Durchbruch niederster Instinkte herausstellen würde. Aus Sicht des völkischen Nationalismus war Volksgemeinschaft nur innerhalb dörflich-bäuerlicher Gemeinschaften möglich und nicht in den zivilisatorischen Wüsteneien der Großstädte, wo das entwurzelte Proletariat hauste und Technik und Industrialisierung wüteten. In Gottfried Benn fand diese Lebensform einen überzeugten literarischen Verkünder, wenn er davon sprach, das bäuerliche Leben bei den Herden dem städtischen vorzuziehen. Bei dieser nationalistisch getönten Hymne auf den Bauernstand ging es allerdings nicht darum, das Bauerntum in seinem realen Zusammenhang als soziale Kategorie zu begreifen, sondern der Bauer fungierte als Symbol des wahren deutschen Menschen, nur der inneren Berufung und der deutschen Scholle verhaftet. Bauerntum galt als innere Haltung, als priesterliche Berufung zum Volksganzen und nicht als bloßer Erwerbszweig. Das zentrale Motiv solcher völkischen Visionen war der Traum „bäuerlicher Urgemeinschaft“, „jenseits der Entfremdungen kapitalistisch-arbeitsteiliger, warenproduzierender Industriegesellschaft“.6 Das 19. Jahrhundert ist neben dem, was es an technischen Errungenschaften und kulturellen Hochleistungen wie Klassik und Romantik hervorbrachte, auch 211

das Jahrhundert in dem sich übelsten Formationen zu Wort meldeten und jene ideologische und pseudowissenschaftliche Saat gelegt wurde, die Jahrzehnte später in der größten Katastrophe der Menschheitsgeschichte schrecklich aufgehen würde. Auf fast allen Ebenen des geistigen und kulturellen Lebens gab es bedeutende oder zumindest einflußreiche Vordenker, die im späten 19. Jahrhundert jene Ideenstränge formten, die zum Transmissionsriemen des weltanschaulichen Programms der nationalsozialistischen Bewegung wurden. Und somit war in ideengeschichtlicher Hinsicht der Schritt von einem fanatischen völkischen Nationalismus zum Nationalsozialismus nicht so weit, wie manche dieser Vordenker auch nur erahnen konnten. Unter den wirtschaftlichen und politischen Bedingungen am Vorabend des „Dritten Reiches“ zeigte sich aus dem Blickwinkel des völkisch-rassischen Kontinuitätsmythos der Nationalsozialismus als die zu Ende gedachte Form nationaler Auserwähltheit.

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Kapitel 10 Verherrlichung des Krieges und der Kampf gegen Humanität und Vernunft Ernst Jünger: Der neue Mensch. Der Krieger als Bürger der Zukunft. Schützengräben, Stellungskrieg und Stahlgewitter. Der Krieg als heroisches Erlebnis. Kriegslyrik und Tod. Georg Heyms Kriegsbegeisterung. Franz Jungs Trottelbuch gegen den Krieg. Stählerne Romantik. Der Krieg: Vater aller Dinge. Ästhet oder moderner Magnetiseur des Schreckens. Die Lust an der Apokalypse. Friedrich Georg Jünger und sein Traum von der „Blutgemeinschaft“. Am Rande der Verderbnis. Der Krieg bot schon immer Anlaß ihn in literarischen Versen und Hymnen zu verherrlichen. Vor allem der Erste Weltkrieg hat unzählige Erzählungen und Romane hervorgebracht, die ihn sentimentalisierten und zugleich das Bild eines tapferen Soldaten zeichneten, der in einer rauhen aber ehrlichen Männerwelt lebt und zu geeigneten Gelegenheiten sein tiefes deutsches Gemüt zeigt. Insbesondere die Bedeutung der Kriegserlebnisse für das Selbstbewußtsein der Deutschen zu Anfang des 20. Jahrhunderts im Sinne nationalistischer Verklärungen hat nicht nur Schriftsteller wie Ernst Jünger oder den über seine schwäbische Heimat populären Georg Schmückle zu emphatischen Schilderungen schlimmster Kriegserlebnisse angeregt und deren Auflagen in die Höhe getrieben. In ihren Schriften trafen sich gestörtes nationales Bewußtsein und die Scham über die unehrenvolle Niederlage von 1918, die jedenfalls von einem großen Teil der Deutschen als solche empfunden wurde. Zweifellos waren es die politischen Umstände unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges, die dieser Literatur zum Erfolg verholfen haben. Der größte Teil des Bürgertums stand der Weimarer Republik gleichgültig wenn nicht sogar ablehnend gegenüber. Reaktionäre und revisionistische Tendenzen hatten Hochkonjunktur, zumal konservativ-nationalistische Kreise die Legende der unbesiegten Reichswehr behaupteten, die nur durch politische Fehlentscheidungen um ihren verdienten militärischen Gesamterfolg gebracht worden sei. So erstaunt nicht, daß sich zahlreiche Literaten bemüßigten fühlten, der kapitulierten Armee nachträgliche poesievolle Denkmäler zu setzen, die auf eine große Resonanz ihrer Leserschaft stieß. Insofern bedurfte es auch nicht erst eines Führerbefehls und Minister-Erlaß ab 1933 um sie als wahrhaft deutsche Literatur in einer Art kulturellen Vierjahresplan zu integrieren.1 Kriegsliteratur, die sich auf den Ersten Weltkrieg bezog, wurde unmittelbar nach dem Zeitpunkt ihres Entstehens ein fester Bestandteil bürgerlicher Lektüre und Glorifizierung vergangener soldatischer Tapferkeit und Größe. Daß neben den Schilderungen soldatischer Tapferkeit auch sentimentale und zu Herzen 213

rührende Sequenzen nicht zu kurz kamen, dafür sorgte Werner Beumelburgs Roman Die Gruppe Bosemüller, bei dem die Leser emotional voll auf ihre Kosten kamen. Beumelburg gehört zu den Autoren, die in Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg einstiegen und gegen den politischen Status der Weimarer Republik argumentierten. Polemisierend gegen das pazifistische Segment in Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues war er sich dennoch bewußt, daß der Krieg für den Soldaten an der Front tatsächlich die Erfahrung entmenschlichter, sinnloser Gewalt bedeutete. In dieser Hinsicht unterschied er sich von Ernst Jüngers heroischem Nihilismus. In seinem Roman Die Gruppe Bosemüller aus dem Jahre 1929 inszeniert Beumelburg eine Kleingruppe, die sein Erzähler von außen beobachtet. Der Schauplatz des Geschehens ist Verdun. Im Gegensatz zu Jüngers Stahlgewittern beschreibt er den Materialkrieg mit all seinen scheußlichen Details, ohne ihn ihm jene Erneuerung und Stahlbäder zu sehen, die vergleichsweise militantere Dichter der heroisierenden Kriegsliteratur vermuteten.2 Beumelburg überträgt die grausame Realität des Kampfgeschehens und der äußeren Umstände, welche die verschworene Kleingruppe „zusammengeschweißter“ Kameraden begleiten, ins Romantische mit einer ans Kitschige grenzenden Sprache. Ein junger Kriegsfreiwilliger wird von einem erfahrenen Soldaten bemuttert, ein anderer verzichtet zugunsten seines Kameraden auf Urlaub, der eine steht für den anderen ein und so fort. Der unbefangene, naive Leser kommt erst gar nicht auf den Gedanken, „der Krieg sei furchtbar und menschenunwürdig“, sondern „des Menschen höchstes Glück“ liege im „Erleben der Kameradschaft“ und dies sei nur im Kriege möglich.3 Den gesamten Roman durchzieht eine „pubertäre“ Heldenstimmung“ in einer Männerwelt echter Kerle, denen aber zu Weihnachten bei dem Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ Tränen der Rührung kommen. Eine solche Szene wird mit anheimelnder, fröstelnder Gemütlichkeit, die so falsch wie schaurig ist, ausführlich erzählt: „Die Flocken tanzen durch die Zweige und häufen sich fein säuberlich auf den Lattenrosten, ein weißer Strich neben dem anderen. Sie hüpfen gegen die Scheiben, schmelzen und machen den nachfolgenden Platz. Drüben auf der Schreibstube liegt es schon handbreit. Der kurze Schornstein qualmt eifrig, ab und zu quirlt ein Funke dazwischen. Das tanzt und hüpft und flockt und weht in lautloser Emsigkeit, und es macht besonderen Spaß, in die Höhe zu schauen und zu sehen, wie die kleinen Dinger aus dem großen grauen Nichts hervorschaukeln [...].“4Voll von triefender Sentimentalität wird folgende Szenerie beschrieben, die im Zeichen der typischen deutschen Weihnachtsseligkeit steht und die sich auch dann noch bemerkbar macht, wenn die Welt ringsum in Scherben fällt: „Der Heilige Abend verläuft still. Ein Weihnachtsbaum brennt. Ackels hat ihn besorgt. Lesch hat vergessen, sich darum zu bekümmern. Ackels steht voll Andacht vor seinem Baum, hat die Hände gefaltet und singt. ‹Ich habe noch nie einen so schönen Baum gesehen›, sagte er nachher in seiner ruhigen, breiten Art zu Braschke. Der Hauptmann ist aufgestanden und will eine Rede halten. Er sagt 214

aber nur: ‹Kameraden [...].› Dann stockt er und kann nicht mehr weiter. Er neigt den Kopf vornüber und setzt sich wieder hin. Braschke macht ein verlegenes und trauriges Gesicht. Er hat alles so umsichtig vorbereitet, er hat an alles gedacht. Und nun ist es doch nicht so. Nachher sagt der Hauptmann, daß mit dem heutigen Tage der Unteroffizier Bosemüller zum Vizefeldwebel befördert, und daß die Pioniere Schwartkopf, Geppert, Lesch und Siewers zu Gefreiten ernannt worden sind. Er gibt allen die Hand und gratuliert ihnen. Auch Braschke kommt und drückt ihnen die Hand. Vor dem Gefreiten Siewers bleibt der Hauptmann stehen und sagt: ‹Lieber Siewers, Sie werden im Januar zum Offizierskursus in die Heimat kommandiert. Machen Sie die Sache weiterhin so gut wie bisher, Sie sind mit Ihren siebzehn Jahren früh zum Manne geworden.› Erich Siewers steht stramm vor dem Hauptmann und sieht ihm in die Augen. ‹Und dann [...]› sagt der Hauptmann stockend, ‹hätte ich eigentlich noch ein Eisernes Kreuz erster Klasse zu verleihen. Aber es ist zwei Tage zu spät gekommen [...].› Es ist so still, daß man vom Weihnachtsbaum das leise Knistern der Lichter hören kann.“5 Im leisen Knistern der weihnachtlichen Lichter, die in auffälligem Kontrast zu dem wirklichen Geschehen des Krieges beschrieben werden, endet der Roman Die Gruppe Bosemüller in einem herzzerreißenden Abschluß. Beumelburgs literarischer Appell an das deutsche Gemüt verhallte nicht ungehört. 1933 erreichte das Buch eine Auflage von immerhin 30 000 Exemplaren. In dem Roman Glaube an Deutschland von Hans Zöberlein wird Bosemüllers Elegie trotzig sentimentaler Weihnachtsstimmung noch um ein vielfaches übertroffen. Die tödlichen Konsequenzen des Stellungskrieges werden zum Anlaß genommen, vor dem Hintergrund des Weihnachtsfestes nie geahnte Gefühle, wenn auch in einer schwer zu ertragenen rührseligen Verzerrung, hervorbrechen zu lassen. Nach einem fehlgeschlagenen englischen Sturmangriff bergen deutsche Soldaten einen schwer verwundeten Engländer aus dem Drahtverhau und schaffen ihn in ihrem Unterstand. „Flüsternd ging die Unterhaltung; eine unsichtbare Hoheit war mit dem verwundeten Feind bei uns eingekehrt. Wir brauchten nicht erst den Sanitäter zu fragen, wir sahen, daß dem Tommy der Tod im Gesicht stand, das merkwürdig hübsch und bubenhaft war, gar nicht recht passend zu der hünenhaften breiten Gestalt [....]. Ein paar angstvoll irre Augen gingen im engen Raum umher, und dann flüsterte der Feind: ‹I thank you, comrades›. Ich knöpfte seinen schweißnassen Rock unter dem Schneemantel auf und erschrak, wie ich die ganze Brust auf der rechten Seite von einer Handgranate aufgerissen fand, das geknickte Gebein hervorstand [....]. Wie ihm unser Sanitäter weißen Zellstoff darüber legte und mich bedeutsam dabei ansah, ging ein unmerklich feines Lächeln, das leise Wimmern unterbrechend, über das todgeweihte Gesicht. Und noch einmal – da sah er das kleine Christbäumchen vor sich im Eck. Das hatte sogar der Gustl bemerkt, der finster den Engländer angestarrt hatte, würgend heiser meinte er: ‹Geh, zünd’ts ihm den Christbaum noch einmal an – in seiner letzten Stund! › 215

Das tat ich mit zitternden Händen, und alle wurden still und wagten kaum zu atmen. Da klang wieder wie vor Stunden von der Treppe her silbern fein die Mundharmonika vom Schmied-Martl auf und trug noch einmal die ‹Heilige Nacht› zu uns herein. Aber wir konnten nicht mitsingen, wir mußten immer den Tommy anschauen, wie er mit dem letzten Licht seiner Augen das brennende Bäumchen umfing und nach der Melodie horchte wie nach einer glücklichen Botschaft. ‹I thank you, comrades!›, lispelte er noch einmal und freute sich über sein ganzes Bubengesicht [...]. Oben gingen ein paar behutsam hinaus in die Nacht. Bei der dritten Strophe ging er hinüber in Frieden auf Erden“.6 Sicherlich hat es im Krieg auch menschliche Verhaltensweisen gegenüber dem verwundeten und wehrlosen Feind gegeben. Jedoch legitimiert ihn dies nicht als Nachweis universeller Menschlichkeit darzustellen. Denn dort, wo innerhalb weniger Sekunden Zehntausende durch die perfekte Kriegstechnik getötet wurden, hat die Bergung weniger Verwundeter nur symbolischen Charakter und kann die verabscheuungswürdige Tatsache des Krieges nicht ignorieren. Und das Schlimme an dieser Art der Literatur ist, daß diese Unmenschlichkeit mit falscher Idylle sentimental überzuckert wurde, um sie hierdurch noch verehrungswürdig zu machen. Das Buch, 1931 aufgelegt im NSDAP-Verlag Eher, München erzielte eine Auflage von nahezu dreiviertel Millionen und diente als Vorlage des 1934 gedrehten Propagandafilms Stoßtrupp 1917. Nach Ende des Ersten Weltkrieges schloß sich Zöberlein der Freikorps Epp an, das an der Niederschlagung der Räterepublik in Bayern beteiligt war. Am 9. November 1923 nahm er, inzwischen Mitglied der NSDAP, an dem Hitler-Ludendorff-Putsch in München teil. Mit welchem nationalistischen Enthusiasmus der Erste Weltkrieg kollektive Gefühlswelten freilegte, beschreibt der Literaturwissenschaftler Herman Pongs im Jahre 1939 in seinem Werk Das Bild Der Dichtung; II Band, Voruntersuchungen zum Symbol: „Der Ausbruch des Weltkrieges 1914 hat mit der Wucht eines Urstoßes die Grundkräfte freigelegt, die im Volke liegen. Volk, das ist der Mensch im gewachsenen Gefüge. Gehört es zum Wesen der Masse, daß ihr das Bewußtsein des Gefüges geschwunden ist, so wird die heilige Dauer des allverpflichtenden Gefüges dem Menschen nirgends stärker ins Bewußtsein eingedrückt als wenn Volk im Krieg auf Leben und Tod um die Existenz kämpfen muß. Das Blutopfer, das von jedem gefordert wird, macht das Volksgefüge als Vertretung der göttlichen Macht bewußt, die das letzte Opfer fordern darf. So wird jedes starke Gefühl ins Überpersönliche gehoben, stellvertretend für viele und reif, einzugehen in symbolische Gestalt. Der Einzelne wird der vom Volksgeist Getragene; mehr als sonst je ist die IchBewußtheit von unbewußten Grundschichten aufgenommen und über sich hinaus ins Überpersönliche geführt. Soweit echte Existenz sich als „Entscheidung“ darstellt, haben wir hier im natürlichen Zusammenfall des unbewußten und des bewußten Lebenswillens zur Gesamtentscheidung des Beweis echter Existenz für ein ganzes Volk“.7 Als der Erste Weltkrieg nun 216

endlich ausbrach, begrüßte ihn die bürgerliche Jugend als Befreiung aus seinem fast vierzig Jahre währenden Friedens, den man als langweilig, öde und vor allem als Stillstand empfand. Die begeisternden Kriegsanhänger erlagen der Illusion, daß durch diesen Krieg eine innere Wandlung sich vollzöge, die zu einem besseren und höheren Leben führen würde. Im Jahre 1910 notierte der junge Schriftsteller Georg Heym in seinem Tagebuch: „Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man diesen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Friede ist so faulig, ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln“.8 Für Heym erscheint der Krieg als Erlösung und Schrecken zugleich, ausgestattet mit allen Attributen von Größe und Macht, die sich auf das gelangweilte und sinnentleerte Individuum übertragen. Der Krieg, daß ist in Heyms Visionen die Hoffnung auf gewaltige Ereignisse, die die Menschheit verändern und das Gewaltige und Zerstörerische eines aus den Tiefen aufsteigenden Götzen Mars, dem er in seinem Gedicht Der Krieg huldigt. „Aufgestanden ist er, welcher lange schlief, / Aufgestanden unten aus Gewölben tief. / In der Dämmerung steht er, groß und unbekannt, / Und den Mond zerdrückt er mit der schwarzen Hand.“9 Von Seiten der literarischen Vertreter gab es bedeutende Vordenker, die Anfang des 20. Jahrhunderts neben den völkisch-nationalen Ideen, das Bild vom kriegerischen Herrenmenschen als Genotypus des neuen Zeitalters entwarfen. In ihren Erzählungen mischten sich Weltkriegserlebnisse mit den Visionen eines neuen Zeitalters und einer durch Kampf und Zerstörung gehärteten Gesellschaft. Bar jeglicher Traditionen, die schlagartig in den Orkus der Geschichte stürzten, wußte sich dieser neue Typus nicht nur als Krieger zu verstehen, sondern in den Augen rechtsextremer Kampfbünde verkörperte er den Idealtypus eines Herrenmenschen, wie er Jahrzehnte später in den Vorstellungen Himmlers über die SS als „Neuer Orden“ seinen Niederschlag fand. Im Typus des kriegserfahrenen Individuums, welches alle zivilisatorischen Beschränkungen hinter sich gelassen hat, da der Erste Weltkrieg mit seinem bis dahin nie gekannten Zerstörungsfuror alles außer Kraft gesetzt hatte, wurde ein Gegenbild zum bürgerlichen Individuum geboren. Nachdem sich der Pulverdampf auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges verzogen hatte, galten die kulturellen Errungenschaften der Zivilisation nicht mehr viel. Alle diejenigen, die mit emphatischer Begeisterung in diesen Krieg gezogen waren, um die letzten Reste eines romantischen Abenteuers zu suchen, kamen als entromantisierte Zyniker zurück, mit tiefer Verachtung für die bürgerliche Welt. Für die Freuden des bürgerlichen Alltages und auch für den humanistischen Geist waren diese Abenteurer des Krieges nicht mehr zu begeistern. Ohnehin hatte die humanistische Idee in den Materialschlachten ihren Bankrott erlebt. Von ihr war nicht mehr viel übrig geblieben und erst recht nicht für diejenigen, die aus den Kriegserlebnissen eine neue Welt 217

schaffen wollten. Wie sehr die gewaltigen Materialschlachten des Ersten Weltkrieges humane Tugenden zerstört hatten, zeigte sich in dem Zynismus, der sich gegen bürgerlich-liberale Lebenswelten richtete. Um ihrem Tun überhaupt noch einen irgendwie transzendenten Sinn zu verleihen, verklärten sie ihre Kriegserlebnisse zu heroischen Opfern, die für das neue Menschenbild erbracht werden mußten. Somit konnte der ehemalige Frontoffizier und rechtslastige Schriftsteller Kurt Hotzel mit Stolz behaupten, daß ihr Tun die reine Zerstörung gegen eine Zeit war, die ohne diese Taten eine unauslöschliche Schmach bedeutet hätte. Und Ernst von Salomon, ein Freikorpskämpfer und Beteiligter am Mord an dem Weimarer Außenminister Walther von Rathenau schrieb 1938, daß der Weltkrieg die romantische Pathetik kurz und klein geschlagen habe. Sie beschritten den Weg aus der Romantik heraus zu einer neuen, bislang ungeahnten Form eines völkischen Romantizismus, aus dem eine stählerne Menschennatur hervorgehen sollte. Aber es gab nicht nur auf der äußersten rechten Seite solche revolutionär nihilistischen Anwandlungen, auf der militant anarchistischen Seite der extremen Linke agierte der Kommunist und Schriftsteller Franz Jung, der vorübergehend dem Kreis der Dadaisten angehörte. Sein Buch über den Kampf der Geschlechter, Das Trottelbuch wurde seinerzeit als Höhepunkt expressionistischer Literatur gefeiert. Er plädierte für einen Anarchismus, der sich der Maschinen zu bedienen weiß und sich insofern auf der Höhe des technischen Zeitalters befand. Nach seiner Auffassung kann der Staat, wie immer er auch konstruiert sein mag, niemals die Kristallisation des Lebendigen und des Lebens sein, also gehört er abgeschafft und an seiner Stelle etwas völlig Neues setzen. Was dieses Neue sein sollte, blieb in Jungs psychoenergetischem Konzept unklar; außer daß die Institutionen sich dem Rhythmus des Lebens anpassen sollen und alles in Schwingungen versetzen, die aus starren Gesellschaften lebendige Gemeinschaften entstehen lassen. Nachdem er zusammen mit dem Kommunisten und späteren Westberliner Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter einen Bombenanschlag auf ein Berliner Regierungsgebäude unternommen hatte, verließ er 1924 die KPD, war fortan als Geldmakler tätig und finanzierte die Aufführung von Brechts Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Dies alles täuschte nicht darüber hinweg, daß sich auch Jungs Wirken, wie das der rechten Szene gegen die Demokratie Weimars richtete.

– Nihilistischen Visionen bei Ernst Jünger: Der neue Mensch – Wer der sentimentalen und dumpf spießigen Ausführungen eines Zöberlein oder Beumelburg überdrüssig wurde und sich nach literarisch schillernden Kriegsbeschreibungen sehnte, war bei Ernst Jünger bestens aufgehoben. Dieser zählte zu den literarischen Befürwortern einer Welt des kriegerischen Herrenmenschentums, der seine eigenen Kriegserlebnisse während des ersten 218

Weltkrieges zu einer grundsätzlichen Neubestimmung des Menschen umdeutete und dies in einer intelligenten und stilistisch hinreißenden Weise verstand. Waren die literarischen Begeisterungsstürme vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch von einer gewissen nationalen Ergriffenheit gezeichnet, die auch so bedeutende Literaten wie Thomas Mann erfaßte, so galt die Nachkriegsliteratur eines Ernst Jüngers eindeutig der Glorifizierung des Krieges nach der Niederlage von 1918. Ernst Jünger ging es hierbei nicht um realistische Kriegschilderungen, die abschreckend sein sollten, sondern er sah im Krieg eine Naturgesetzlichkeit des Menschen zu seiner Neubestimmung und künftigen gesellschaftlichen und politischen Rolle. In seiner ersten literarischen Phase als Kriegsschriftsteller und als intellektueller Propagandist eines neuen, kriegerischen Nationalismus entwarf er lustvoll, ästhetisierend und eitel den Weg in den zivilisatorischen Abgrund eines großen und bislang in seinen Dimensionen nie gekannten Krieges. Ernst Jünger gilt daher als wichtiger Exponent aus dem rechten Lager des Aufruhrs gegen die bürgerliche Welt. Seine Antibürgerlichkeit ist in sich jedoch ein Widerspruch, denn zwar gegen das Bürgerliche gewendet, verzichtet er nicht auf jene elitäre Attitüde, die dem Bildungsbürgertum des 19. und beginnenden 20. Jahrhundert charakteristisch anhaftete. Den Mythos vom Frontsoldaten verstand er in intelligenten und stilistisch hinreißenden Worten zu beschwören. Aber darin lag auch seine verführerische Absicht begründet, den Krieg als Neuorientierung eines Menschenbildes zu verharmlosen und der angesichts eines unaufhaltsamen evolutionären Fortschritts der Moderne seine tiefe Berechtigung findet. Demnach war für ihn der Krieg der Ausgangspunkt einer gewalttätigen Symbiose von Technik und menschlicher Natur, er kann auch, so Jünger, eine dramatische Wandlung bewirken. Wenngleich seine Ansichten reaktionär waren, so sah er im Krieg erst den Mechanismus des Fortschrittes, welcher alle bisherigen humanen Traditionen über Bord werfen und einen technisch verfügbaren Menschern schaffen würde. Erst durch das Stahlgewitter des Krieges gehärtet kann der Mensch zu seiner wirklichen Größe finden und eine neue Gesellschaft formen, in welcher dem „zersetzenden“ Geist der Vernunft kein Raum gewährt wird. Sein Idealbild des Menschen entsprach genau dem, welches die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts so dringend benötigten, welches mehr als ideologische Vorgaben und politischen Begründungen Voraussetzung und Träger dieser absoluten Staatsform ist. Der Erste Weltkrieg war für ihn nicht, wie viele andere glaubten, das Ende, „sondern Auftakt der Gewalt. Er ist die Hammerschmiede“, und Beginn einer neuen Ära, so dachte Jünger, „der die Welt in neue Grenzen und neue Gemeinschaften zerschlägt. Er ist das glühende Abendrot einer versinkenden Zeit und zugleich Morgenrot, in dem man zu neuem, größerem Kampfe rüstet“. Dieser Kampf mußte allerdings in den Augen Jüngers zuerst gegen die „Wertungen eines losgelösten und selbstherrlich gewordenen Geistes“, geführt werden, „in der Zerstörung der Erziehungsarbeit, die das bürgerliche Zeitalter am Menschen geleistet hat“.10 In 219

der mächtigen Organisation des rechtsextremen „Stahlhelms“ hat Jünger 1930 publizistisch in intellektuell exponierter Weise gewirkt und dort seine Gedanken niedergelegt. Sie trafen auf eine breite Anhängerschaft, der von der Demokratie enttäuschten und die, wie Jünger, ähnliche Kriegserlebnisse gemacht hatten. Im Völkischen Beobachter propagierte er bereits 1923 die völkische Revolution gegen die bürgerliche Kultur, gegen Kapitalismus und westlichen Liberalismus. So spricht er vom Blut der Nation das im Kampf vergossen wird, denn über die Opfer hinweg entsteht die wahre Freiheit des Ganzen. Es ist schwer vorstellbar, daß dies Hitler und die Nationalsozialisten nicht gelesen haben, so daß Ernst Jünger durchaus als einer der exponiertesten Wegbereiter des Nationalsozialismus angesehen werden darf. Für Ernst Jünger gab es daher als Gegenentwurf nur den Nihilismus des Kriegers, der die Welt neu ordnet, den Krieger über den Bürger stellt, die Materialschlachten über den demokratischen Diskurs. Er knüpfte an Eichendorffs metaphorischen Schlachtruf „Krieg den Philistern“ an.11 Seine Krieger suchten das Außergewöhnliche nicht in den romantischen Gefilden, wie sie Eichendorff und andere Romantiker beschrieben haben; sie nahmen nicht den poetischen Kampf gegen die rationale und kalte Bürgerlichkeit auf, um der entzauberten Welt die Geheimnisse der „Blauen Blume“ in Traum und Poesie entgegenzusetzen, ihre Welt war die einer unbewußten Todessehnsucht und des Tötens, welche das Gegenwärtige in Stücke schlägt. Ihr einstiger romantischer Enthusiasmus, mit dem sie in den Ersten Weltkrieg gezogen waren mit der Erwartung eines ritterlichen Kampfes im alten Stil, verblaßte angesichts des tödlichen Ernstes der bis dahin unvorstellbaren Materialschlachten. Das einzig Romantische an diesem literarischen Nihilismus war jene Warnung, die in den Liedern der Jugendbewegung anklang: „ Wildgänse rauschen durch die Nacht/ Mit schrillem Schrei nach Norden-/ Unstete Fahrt! habt acht, habt acht! Die Welt ist voller Morden“. Jüngers „stählerne Romantiker“ hielten sich nicht in den Träumen von Poesie und Imagination auf, sondern ihre Wirklichkeit lag im Reich des Todes und des Tötens. Als Freikorpsmitglieder kämpften sie gegen die Weimarer Demokratie, beteiligten sich an Putschversuchen und begingen den einen oder anderen Fememord. Letztlich bildeten sie jenes militante Milieu, mit dem sich Hitler umgab und dem er in ideologischer Hinsicht selber entstammte. Bei Ernst Jünger lagen Regression und Utopie dicht beieinander, wenn er den Triumph der Ratio über die Zerstörung des Geisteslebens feiert und als beste Antwort auf den Hochverrat des Geistes, die Vernichtung desselben forderte. Jünger galt als der bedeutendste und zugleich verführerischste Vordenker einer ideologisierenden Kriegsverherrlichung, welche die patriotische Begeisterung der Kriegsfreiwilligen in einen kultivierten Ästhetizismus des Todesgrauens literarisch transformierte, um somit über Jahrzehnte die Generationen mit einem selbstherrlichen Heroismus zu versorgen, der es ihnen gestattete, die bürgerliche Welt der „Krämerseelen“ mit 220

Füßen zu treten. „Uns war es noch vergönnt, in den unsichtbaren Strahlen großer Gefühle zu leben, das bleibt uns als unschätzbarer Gewinn“, schreibt er in seinen Kriegserinnerungen In Stahlgewittern. Seine verführerische Sprache vermochte neben den realistischen Schilderungen des tödlichen Alltages in den Schützengräben noch die Faszination des Heldischen auszumalen und dem Ganzen noch einen heroischen Glanz männlicher Auserwähltheit zu verleihen. In seinem Vorwort zur dreizehnten Auflage seines Buches In Stahlgewittern im Jahre 1931 schreibt der erfahrene Infanterie-Leutnant und Frontkämpfer, eine Autorität im Stoßtrupp- und Grabenkampf, vierzehnmal verwundet und mit dem Orden Pour-le-Merite ausgezeichnet: „Das Bild des Krieges war nüchtern, grau und rot seine Farben; das Schlachtfeld eine Wüste des Irrsinns, in der sich das Leben kümmerlich unter Tage fristete. Nachts wälzten sich müde Kolonnen auf zermahlenen Straßen dem brandigen Horizont entgegen [...] Ruinen und Kreuze säumten den Weg. Kein Lied erscholl, nur leise Kommandoworte und Flüche unterbrachen das Knirschen der Reimen, das Klappern der Gewehre. Verschwommene Schatten tauchten aus den Rändern zerstampfter Dörfer in endlose Laufgräben. Nicht wie früher umrauschte Regimentsmusik ins Gefecht ziehende Kompanien. Das wäre Hohn gewesen. Keine Fahnen schwammen wie einst im Pulverdampf über zerhackten Karrees. Das Morgenrot leuchtet keinem fröhlichen Reitertage, nicht ritterlichem Fechten und Sterben. Selten umwand der Lorbeer die Stirn des Würdigen. Und doch hat der Krieg seine Männer gehabt! Helden, wenn das Wort nicht wohlfeil geworden wäre, Draufgänger, unbekannte, eherne Gesellen, denen es nicht vergönnt war, vor aller Augen sich an der eigenen Kühnheit zu berauschen [...]. Sie waren die Überwinder der Furcht; selten ward ihnen die Erlösung, dem Feind in die Augen blicken zu können, nachdem alles Schreckliche sich zum letzten Gipfel getürmt und ihnen die Welt in blutrote Schleier gehüllt hatte. Dann ragten sie empor zu brutaler Größe, geschmeidige Tiger der Gräben, Meister des Sprengstoffs. Dann wüteten ihre Urtriebe mit den kompliziertesten Mittel der Vernichtung [...].So arbeiteten und kämpften sie, schlecht verpflegt und gekleidet, als geduldige, eisenbeladene Tagelöhner des Krieges...Das war der deutsche Infanterist im Kriege. Gleichviel, wofür er kämpfte, sein Kampf war übermenschlich. Die Söhne waren über ihr Volk hinausgewachsen. Mit bitterem Lächeln lasen sie das triviale Zeitungsgewäsch, die ausgelaugten Worte vom Helden und Heldentod. Sie wollten nicht diesen Dank, sie wollten Verständnis.“12 Doch auch wenn die Mühlen des Krieges begannen langsamer zu mahlen, waren seine heroischen Krieger bewundernswert. Dann verbrachten sie ihre Tage „in den Eingeweiden der Erde, vom Schimmel umwest, gefoltert vom Uhrwerk fallender Tropfen [...] entklirrten sie dem Pesthauch schwarzer Höhlen, nahmen ihre Wühlarbeit wieder auf oder standen, eiserne Pfeiler, nächtelang hinter den Wällen der Gräben und starrten in das kalte Silber zischender Leuchtkugeln [...]. So arbeiteten und kämpften sie, schlecht verpflegt und gekleidet, als geduldige, eisenbeladene Tagelöhner des Krieges“.13 Und wenn seine Krieger 221

aus dem Kampfgeschehen zurück in die Zivilisation kamen, dann schauten sie „ungläubig auf das Leben, das strudelnd in seinen gewohnten Bahnen floß. Dann stürzten sie sich hinein, um keine Minute der kurzen Tage ungenutzt verfließen zu lassen, tranken und küßten. Mit der ihnen zur Lebensform gewordenen Rücksichtslosigkeit schwangen sie in tollen Nächten den Becher, bis ihnen die Welt versank. Da ließ man die gefallenen Freunde leben und scherte sich den Teufel um den nächsten Tag“. Ernst Jünger verstand es mit realistischen Worten die Schrecken des Krieges darzustellen und zugleich das ganze Geschehen und die hierin involvierten Personen mit der Metaphysik einer überzeitlichen heldenhaften Aura auszustatten. Sein heroisch-mythisches Bild des Frontsoldaten, frei von lächerlichem aufgesetztem Nationalismus, war gerade darum von einer faszinierenden und verführerischen Wirkung auf die jungen und begeisterungsfähigen Menschen der damaligen Zeit und hat sicherlich mit dazu beigetragen, diese Generation für die paramilitärischen Verlockungen des aufkommenden Nationalsozialismus anfällig zu machen. Jüngers Mythologisierung des Krieges als ein überzeitliches existentielles Erlebnis war nicht unbeabsichtigt, denn sein Vorwort endet mit den Sätzen: „Möge dieses Buch dazu beitragen, eine Ahnung zu geben von dem, was ihr geleistet. Wir haben viel, ja vielleicht alles verloren. Eines bleibt uns: die ehrenvolle Erinnerung an euch, an die herrliche Armee und an den gewaltigsten Kampf, der je gefochten wurde. Sie hochzuhalten inmitten dieser Zeit weichlichen Gewinsels, der moralischen Verkümmerung und des Renegatentums ist stolzeste Pflicht eines jeden, der nicht nur mit Gewehr und Handgranate, sondern auch mit lebendigem Herzen für Deutschlands Größe kämpfte.“14 Was Jünger als große Gefühle beschreibt hat indes wenig mit Patriotismus und nationalem Pathos zu tun. Ihm geht es um die Transzendenz des bürgerlichen Lebens in ein metaphysisches Heldentum, in dem der Einzelne nur zu sich selbst kommen kann. Er huldigt jenen ekstatischen Augenblicken, die sich an die Grenze zum Tod einstellen, welcher erst dem Leben Größe verleiht. Sein vordergründiger Nationalismus, welcher in der Verherrlichung des deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg vermutet werden kann, war nur die Ausdrucksform jener heroischen Todesverachtung, die sein gesamtes Werk durchzieht und die er als unausweichlich für die Charakterbildung der deutschen Männlichkeit beschreibt. Von einem gescheiterten Angriff in der Nähe von Cambrai berichtet er voller Enthusiasmus: „Nun hat es mich endlich auch erwischt Gleichzeitig mit der Wahrnehmung des Treffers fühlte ich, wie das Geschoß ins Leben schnitt[...]. Und seltsamer Weise gehört dieser Augenblick zu den ganz wenigen, von denen ich sagen kann, daß sie wirklich glücklich gewesen sind. In ihm begriff ich, wie durch ein Blitz erleuchtet, mein Leben in seiner innersten Gestalt“. In den Stahlgewittern des Weltkrieges zerbrach die bürgerliche Hülle und übrig blieb der „gehärtete“ Kern einer Person, welcher Kultur und Wohlbehagen verächtlich gegenüberstand. 222

Angesicht solcher Radikalität gab es für demokratische „Spielereien“ keinerlei Platz. Erstaunlich war es allemal, daß solche Entwürfe der Kriegsbegeisterung und Kulturverachtung im Frieden – einem fragilen zwar – der Weimarer Republik entstanden und sich diese Menschen inmitten einer kriegsfreien Zeitspanne als ein Geschlecht von Kriegern empfanden, um in der Nähe des Todes die höchsten Wonnen menschlicher Selbstgewißheit zu erleben. Sein Menschenbild war das eines Kriegers von planetarischen Ausmaßen, der berufen ist, aus den Erfahrungen des Krieges künftig auch die politischen Geschäfte zu besorgen. Große Teile der Frontkämpferbünde, die später in die SA eintraten, schlossen sich dieser Auffassung an und machten sie zu ihrem landsknechtartigen politischen Programm. Aus der Erfahrung ihrer wilden Schlachten bezogen sie ihre Legitimation zur Politik des Faschismus. In ihnen verdichteten sich alle Ressentiments gegen die bürgerliche Gesellschaft der Zeit vor 1918 und die sie ungebrochen auf die neue Zeit übertrugen. Der Typus des stahlharten, kriegserprobten Frontkämpfers, der ohne Rücksicht nicht nur mit der Keule polemischer Tiraden auf die Zeit einschlägt, sondern jederzeit seinen Worten Taten folgen ließ und nicht vom Krieg lassen kann, um diesen von den Fronten des ersten Weltkrieges in die Zivilgesellschaft zu verlängern, proklamierte den Kampf als nationalen Auftrag. Im Verbund mit Ernst Jüngers literarischen Erinnerungen markierten sie die Republik und alles dasjenige was an demokratischer Kultur mit ihr verbunden war als den eigentlichen Feind. Die Kriegserlebnisse und ihre mythische Erhöhung ins Existentielle hinein wurden in diesen Kreisen daher zu einem entscheidenden Leitmotiv für die Protesthaltung gegen die Weimarer Republik. Deren Demokratie sahen sie als bürgerliche Schwäche an, dem Zeitgeist nicht mehr angemessen und schon antiquiert, bevor sie überhaupt Geschichte werden konnte. Eines Tages, so hofften sie, werden Historiker auf eine Revolution zurückblicken können, die, aus den ideologischen Strömungen der Weimarer Republik heraus, endgültig den zaghaften demokratischen Bestrebungen den Garaus gemacht hat. Wenn es auch viele sich überkreuzende Strömungen gab, die in ihrer Gesamtheit nicht einheitlich waren, so blieb Jünger doch davon überzeugt, daß die antidemokratische Ideenbewegung machtvoll und schließlich auch geschichtsmächtig sei. Die Unruhe der Zeit und das unsicher gewordene Leben könne diesen Ideen immer weniger Widerstand entgegenbringen und die heroische Aufbruchsstimmung, die er aus Kriegserlebnissen ableitete, forcierte den Untergang der Demokratie. Nicht die Parteien als Einrichtungen einer demokratischen Zivilgesellschaft sind in der Lage, die Nation zu führen. Vielmehr liegt die Zukunft des Staates in den Händen der kriegserfahrenen Kampfbünde, so Jünger. Daher brachten masochistische Selbstdenunziationen den Geist auf den Weg zur künstlichen Rückzüchtung oder wie Adorno es nannte, „antiideologische Ideologien zu liefern“.15 Jüngers Verherrlichung des Krieges ist überaus ichbezogen, aus einer egozentrierten Perspektive und der psychischen Bedeutung, die das Inferno des Weltkrieges für ihn hatte. Von 223

einer bisweilen landsknechtartigen Gleichgültigkeit gegenüber der moralischen Problematik des Tötens, spricht er sich für einen heroischen Nihilismus aus, der Kampf, Blut und Grauen als Erlebnis feiert. Den Krieg verstand er als archimedischen Punkt, von dem aus die Welt und die Dinge des Lebens wie aus einem Guß zu deuten sind. Jüngers „heroischer Nationalismus“ unterschied sich vom völkischen darin, daß er die nationale Ideologie mit einer ausgesprochenen Zustimmung des Krieges als „Vater aller Dinge“ verband, antizivilisatorisch und inhuman. In seinem Roman Der Kampf als inneres Erlebnis zitiert er in verfälschendem Sinne das Wort Heraklits „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“.16 Dieser neue Nationalismus definierte sich dadurch, daß er ein neues Verhältnis zu den elementaren Dingen aufwies, „zum Mutterboden, dessen Krumme durch das Feuer der Materialschlachten wieder aufgesprengt und durch Ströme von Blut befruchtet ist“.17 Ernst Jüngers Idealvorstellung des Krieges und sein Bild vom heroisch-mythischen Frontsoldaten war frei von den lächerlichen Nationalismen der Kriegervereine, die sich vor und nach dem Ersten Weltkrieg bildeten, obgleich sein Einfluß auf die Frontkämpferbünde der frühen Jahre der Weimarer Republik nicht unbeträchtlich blieb. Gerade darum waren seine Hymnen auf den Krieg von einer gefährlichen und faszinierenden Wirkung auf die Generation junger, begeisterungsfähiger Menschen, wie sie in den Nachkriegsjahren des Ersten Weltkrieges auftraten. Seine Wirkung auf die Jungenbünde der zwanziger Jahre war enorm und sein Begriff vom Krieger als Erneuerer und Lenker der Nation wurde zum Leitbild extremer bündischer Gruppen und ihres Elitebegriffes, wie er letztlich in den Vorstellungen der Hitlerjugend und des „SS-Adels“ unter Heinrich Himmler Eingang fand. Indem Ernst Jünger in seinen Kriegsromanen In Stahlgewitter,, Der Kampf als inneres Erlebnis und Feuer und Blut das Frontgeschehen als ein auf Kameradschaft und inneres Erleben ausgerichtetes Gemeinschaftsgefühl darstellte und in heroischen Bildern beschwor, vermittelte er eine antibürgerliche und demokratiefeindliche Gesinnung. Krieg verstand er nicht als Ausdruck tiefster menschlicher Aggressionshandlungen, vielmehr sah er ihn als ein Naturgesetz. Hierzu bediente er sich einfacher Formeln, die den Menschen auf ein Wesen des bloßen biologischen Überlebens reduzierte: Darwins These vom Kampf um das Dasein und Überleben des Stärkeren und Nietzsches Wille zur Macht. Diese Formeln werden in seinem Roman In Stahlgewittern mit der Skrupellosigkeit eines Stoßtruppführers gehandhabt, der nur ein Ziel kennt, daß der Vernichtung des Gegners, der Pazifisten und Humanisten.18 Der Krieg ist das Produkt des unausrottbaren Tierischen im Menschen, welches auch nicht durch Zivilisation zu bändigen ist. Damit wird der Krieg der Diskussion entzogen und als ehernes biologisches Gesetz für sakrosankt erklärt. Im Gefolge des Sozialdarwinismus, wo nur das Überleben der Stärkeren zählt, ist der Krieg Ausdruck eines wahren biologischen Vergnügens und Gesellschaften, welches sich auf dieses Gesetz einrichten, 224

haben von vorneherein einen Wettbewerbsvorteil.19 Die politischen und soziokulturellen Ursachen und Folgen spielen keine Rolle, vielmehr gelangt durch den Krieg die männlich-kriegerische Urkraft zum Vorschein und habe alle Hoffnungen auf Fortschritt des Humanen als trügerisch entlarvt.20 Jünger möchte durch die Verherrlichung des Krieges die Zivilisation zum Stillstand bringen und nicht als eine Gegenkraft bewerten, die möglicherweise dazu verhilft, Kriege zu verhindern. Die Wirkung der Bücher von Ernst Jünger erklärte sich nicht zuletzt dadurch, daß er den Krieg als Zeichen der Vitalität und Zeichen männlich-kriegerischer Urkraft feierte. Zugleich verstand sein literarisches Können, die Grausamkeiten geschilderter Fronterfahrungen in einer poetischen und ästhetisierenden Weise darzustellen, welche im Kontrast zur platten Brutalität ihrer Inhalte standen und sich insofern von den übrigen Machwerken deutscher Kriegsliteratur unterschieden.21 Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches wurde Ernst Jünger, dessen Schriften sich nach wie vor einer gewissen Popularität in rechtskonservativen Zirkeln erfreuen, nach der Verantwortlichkeit des Schriftstellers gefragt. Ausweichend beschrieb er seine Position im Vorwort zu Strahlungen: „Wir sehen den Steuermann bei der Betrachtung der Instrumente, die allmählich glühender werden, den Kurs bedenken und sein Ziel. Auch untersucht er die Wege, die möglich sind, die äußersten Routen, auf denen die praktische dann scheitern wird. Die erste geistige Erfassung der Katastrophe ist fürchterlicher als die realen Schrecken der Feuerwelt. Sie ist das Wagnis nur der kühnsten, lastbarsten Geister, die den Dimensionen, wenngleich nicht den Gewichten des Vorgangs angemessen sind. So zu zerbrechen war das Schicksal Nietzsches, den zu steinigen heute zum guten Ton gehört. Nach dem Erdbeben schlägt man auf die Seismographen ein. Man kann jedoch die Barometer nicht für die Taifune büßen lassen, wenn man nicht zu den Primitiven zählen will.“22 Freilich war Ernst Jünger nicht nur der Seismograph, welcher die inhumanen Strömungen sensibel erfaßte. Seine Literatur in der Pose exakter Deskription trug beträchtlich dazu bei, diesen inhumanen Ideenformationen einen hohen künstlerischen und sprachlichen Status zu verschaffen um sie somit für die bürgerlichen Bildungsschichten aufzubereiten. Insofern war sein ästhetischer Manierismus mehr als der künstlerische Ausdruck einer entgleisten bürgerlichen Intelligenz, sondern Wegbereiter faschistischen Gedankengutes in der Tradition des futuristischen Manifestes eines Marinetti aus dem Jahre 1909. Auch wenn er später versucht hat, sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren, so hat sein literarisches Werk den faschistischen Frontkämpferbünden die notwendige ideologische Unterstützung geboten und sie bis in die bürgerlichen Kreise hinein hoffähig gemacht. Und es gab kaum einen unter den expliziten nationalsozialistischen Schriftstellern, der dies in einer vergleichlich ästhetischeren Weise des Wortes hätte leisten können. Die Entwicklung des Nationalismus in Deutschland und dessen völkische und rassische Auswüchse fand ideologisch seinen vorläufigen Höhepunkt 225

darin, in der These, daß die Ehre und Würde der Nation nur durch den Willen zur nationalen Selbstbehauptung und der ständigen Bereitschaft zum Krieg als gesichert gelten könnte. Viel vertrauter als die Idee des Friedens, die gerne als „Humanitätsduselei“ oder als pazifistische Naivität abgetan wurde, war daher in Deutschland die Idee des Krieges als einer Fügung des Schicksals, der man sich zu stellen habe. Das nationalistische Gefühl sollte nicht mehr nur durch die völkische Idee und ihres Rekurses auf mythische Vergangenheit befördert werden, sondern Ausgangspunkt war nunmehr der Krieg als Zerstörer des Bestehenden und Gestalter der Zukunft. Ein Beobachter der deutschen Jugend konnte daher zu Recht im Jahre 1932 feststellen, daß „viel Jugend“ den Krieg bejaht, „aus Grundsatz und Weltanschauung“, in einer „romantischen Verzückung...in hohen und höchsten Tönen, als etwas Hehres und Heiliges, fast der Religion gleich [...]“. 23 In Anbetracht solcher Begeisterung ergab es sich zwangsläufig, daß der Krieg grundsätzlich als etwas Positives, um des nationalen Überlebens willen Notwendiges angesehen wurde. Infolge dessen sah man ihn auch nicht mehr als ein Ereignis an, welches zu verhüten die vornehmste Aufgabe der Politik sein sollte. Jüngers Visionen von Zukunft waren freilich von allem „bürgerlichen Ballast“ entsorgt. Vielmehr verstand er, den „Heroismus“ der stählernen Krieger in eine Verächtlichmachung der zivilen Welt und ihrer Werte umzudeuten. „Dem Elementaren aber, das uns im Höllenrachen des Krieges seit langen Zeiten zum ersten Male wieder sichtbar wurde, treiben wir zu. Wir werden nirgends stehen, wo nicht die Stichflamme uns Bahn geschlagen, wo nicht der Flammenwerfer die große Säuberung durch das Nichts vollzogen hat. Weil wir die echten, wahren und unerbittlichen Feinde des Bürgers sind, macht uns seine Verwesung Spaß. Wir aber sind keine Bürger. Wir sind Söhne von Krieger und Bürgerkrieger, und erst wenn dies alles, dieses Schauspiel der in Leeren kreisenden Kreise, hinweggefegt ist, wird sich das entfalten können, was noch an Natur, an Elementarem, an echter Wildheit, an Fähigkeit zu wirklicher Zeugung mit Blut und Samen in uns steckt. Dann erst wird die Möglichkeit neuer Formen gegeben sein“.24 Bemerkenswert genug daher war die Tatsache, daß man in Anbetracht solcher Kriegsverherrlichungen sich nicht scheute, 1982 dem ungoetheschen und bürgerfeindlichen Ernst Jünger, freilich ein bemerkenswerter Stilist, den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt zu verleihen. Jünger hat sich selbst Zeit seines Lebens selbst in einem Maße stilisiert, das es schwierig macht, ihn hinter seinem symbolischen Manierismus einzuordnen in Anbetracht dessen, was er wirklich meinte. War er ein tiefgründiger moderner Autor des Abgründigen, der mit luzider Schärfe nur das aussprach was längst Realität war und in noch schlimmeren Formen Realität werden sollte. Vielleicht gar ein neuzeitlicher E.T.A.Hoffmann, dessen Magnetiseur Alban gewisse Ähnlichkeiten mit seinem Bild des Kriegers aufweist. Oder war er nur ein ästhetischer Vorbereiter und ideologischer Zulieferer weit größerer Schrecken, als sie E.T.A. Hoffmann ahnen konnte. Jedenfalls zieht sich in 226

pragmatischer Hinsicht eine direkte Linie von seinem Kriegermodell zu den Schläger- und Vernichtungstruppen des Dritten Reiches. Über allem Denkbaren war er ein abgründiger Exponent der Gegenaufklärung, dem ein demokratischer Regierungschef zu dessen hundertsten Geburtstag besser nicht seine Aufwartung hätten machen sollen. 1926 schrieb der jüngere Bruder von Ernst Jünger und nationalsozialistische Schriftsteller Friedrich Georg Jünger im Sinne des regressiven Denkens des völkisch-rassischen Nationalismus: „Der neue Nationalismus besitzt keine kritischen, analysierenden Neigungen. Er will keine Toleranz, denn das Leben kennt sie nicht. Er ist fanatisch, denn alles Blutmäßige ist fanatisch und ungerecht. Er legt keinen Wert darauf, sich wissenschaftlich zu begründen [...], denn die Wissenschaften schwächen das Leben durch gerechte Würdigung. Die Stärke einer Geistgemeinschaft liegt in ihrer Rechtfertigung. Eine Blutgemeinschaft rechtfertigt sich nicht, sie lebt, sie ist da, ohne die Notwendigkeit einer intellektuellen Rechtfertigung zu empfinden“.25 Auch er bejahte, wie sein älterer Bruder, den Geist der Frontgemeinschaft aus der er, wie zahlreiche andere Frontsoldaten das Recht ableitete, Deutschland im Sinne ihrer grundlegenden Erlebnisse neu zu gestalten und zu regieren. Bei ihnen wirkte die erste Phase der Kriegsbegeisterung, die im August 1914 nahezu die ganze Bevölkerung erfaßte trotz der schrecklichen Kriegserfahrungen oder gerade wegen dieser Erfahrungen auch nach Kriegsende weiter. Thomas Mann nannte diese Aufbruchsstimmung am Rande der Verderbnis und des permanenten Todes in seinem Roman Doktor Faustus eine „Heroische Festivität“, die den Weg in eine lange erstrebte Volksgemeinschaft begleitete. Der vereinfachten Denkweise der Frontsoldaten und dem mentalen Hochgefühl, mit welchem sie den Krieg erlebt hatten, entsprach die simple Übertragung des militärischen Prinzips auf den Staat. So wie in den Räumen von Militär und Krieg bedingungslos geführt und gehorcht wird, muß auch der Staat ohne störende Zwischeninstanzen, wie Parteien und institutionell praktizierte Gewaltenteilung, von einer Stelle aus geführt werden. Dieses vereinfachte Modell hatte seine Entsprechung in der bündischen Idee der deutschen Jugendbewegung und dem durch sie geforderten künftigen Staat. Deren Idee eines „Jungenstaates“ war die Ausweitung der bündischen Struktur der Jugendgruppe auf den Staat in seiner Gesamtheit, denn was sich in der Jugendbewegung im Prinzip von Führung und Gefolgschaft bewährt hatte, müßte sich auch auf einen modernen Volksstaat übertragen lassen. Das, was sie ihren Bund nannten, war alles das, was sie miteinander verband und sie in einer gegensätzlichen Welt bestehen ließ. Im Bund sahen sie ihren Jugendstaat, der in den Staat der Zukunft hinübergeführt werden und in dem das verwirklicht werden sollte, was sie dort erfahren hatten. Die Anhänger des Volksstaatsgedanken bestritten der Weimarer Republik energisch das Recht, das in ihren Augen kümmerliche Staatsgebilde einen Volksstaat zu nennen. Sie wollten vielmehr die sozialen Klassenunterschiede, die nach wie vor vorhanden 227

waren, durch das bündische Prinzip im Sinne einer Volksgemeinschaft überwinden. In ihren Augen war der Staat die monolithische Einheit des gemeinsamen politischen Willens des Volkes, der in der Bestimmung eines Führers seinen machtpolitischen Ausdruck fand. Dies alles richtete sich in erster Linie gegen die Demokratie Weimars und den liberalen Tendenzen des 20. Jahrhunderts. Alles Vorherige hatte nun endlich in diesen Zeiten des revolutionären Aufbruchs, eines nihilistischen zwar, seinen fruchtbaren Boden gefunden. Die Saat des vorigen Jahrhunderts und der letzen Jahrzehnte begann aufzugehen. In der Weimarer Republik begann sie mächtig zu keimen mit ihren Begriffen von Volk, Volkstum, Gemeinschaft und Organismus, den Elementarbegriffen der antidemokratischen Bewegungen. Alle diese Grundbegriffe waren auf ihr Gegenbild der bestehenden politischen und sozialen Situation in der Weimarer Republik gerichtet, ohne selber Wirklichkeit zu sein. Sie wurden immer als Waffen gegen die Wirklichkeit eingesetzt. Die Ernte fand im Totalitarismus des „Dritten Reiches“ mit seinen verheerenden Vernichtungsorgien statt.

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Kapitel 11 Spätbürgerlicher Bildungsbegriff, Pathos und Herrschaft Bildung, ein bürgerliches Privileg. Bildungswelt als Parallelwelt. Herren und Knechte. Die klassische Bildung im gesellschaftlichen Widerspruch. Im Wind des Nationalismus. Goethes Hermann und Dorothea, eine deutsche Vision. Menzel und die bürgerliche Kultur. Patriarch und Arbeiter: Twerstens Roman Hanseaten: ein Spiegel der Zeit. Das Romantische im Dienste des Unromantischen. Wilhelminismus und Niedergang. Kunst und Kultur als hohler Schein. „Wo kam die schönste Bildung her / und wenn sie nicht vom Bürger wär?“ (Goethe: Zahmen Xenien) Entgegen den kulturpolitischen Eigentümlichkeiten des völkischen Nationalismus mit seinen unverkennbar rassistischen Tendenzen, seiner biologistischen Anthropologie und der paranoiden Abgrenzung gegen alles was undeutsch, modernistisch und universalistisch war, bildete die Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch jenen Resonanzboden, auf dem sich biedermeierisches Bildungsbürgertum entfalten konnte. Die kulturellen Leistungen in Literatur, Dichtung, Musik und Malerei, die Philosophie und die Wissenschaften überhaupt besaßen im 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert in den Kreisen des Bürgertums einen unvergleichlich hohen Stellenwert, der sich über einen längeren Zeitraum im gesellschaftlichen Kontext behaupten konnte. Der deutsche Sonderweg, der besagt, daß im Deutschen Reich die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung nicht in einem ganzheitlichen, emanzipatorischen bürgerlichen Konzept zusammenfielen, hat dazu geführt, daß jenseits der klassischen humanistischen Bildungsinhalte die politische Emanzipation keine Rolle spielte. Diesen Sonderweg beschreitend ist es dem Bürgertum in Deutschland nicht gelungen, etwa im Gegensatz zu England, neben dem wirtschaftlichen Erfolg auch die politische Macht zu erringen. Vor allem den Zeitströmungen entsprechende erforderliche demokratische Strukturen, die in anderen europäischen Staaten längst politischer Alltag geworden war, stellten sich nicht ein; ein Umstand an dem letztlich auch die Weimarer Republik scheiterte. Statt dessen behaupteten sich nach wie vor die traditionellen Eliten aus Adel und dem preußischen Junkertum. Feudalistische Strukturen bestanden nach wie vor; es schien, als sei die Zeit in Deutschland vor der Aufklärung stehengeblieben. Die vom höfischen Geschehen und dessen Machtchancen ausgeschlossenen bürgerlichen Kreise entfalteten daher einen kulturellen Kanon eigener Art, zum einen um sich von der Adelsgesellschaft abzuheben, zum anderen um ihrem Stand zumindest in kulturell-geistiger Hinsicht einen Platz in der Gesellschaft zu sichern. Das Bürgertum suchte sich 229

deshalb Refugien und Räume gesellschaftlicher Repräsentation, in denen es sein durch Bildung und Wohlstand gewachsenes Selbstbewußtsein ausleben konnte. Wenngleich die soziokulturellen Standards, die höfischen Gepflogenheiten des Umganges von den adeligen Kreisen übernommen wurden, so könnten sie dennoch als Ersatz der fehlenden Machtteilhabe an den administrativen und politischen Privilegien des Adels verstanden werden und in gewisser Weise Ausdruck eines bürgerlichen Selbstbewußtseins und weniger als Nachahmungsrituale. Im Mittelpunkt standen neben den kulturellen Interessen, Fragen bürgerlicher Moral, guter Manieren und des Anstandes im gesellschaftlich-geselligen Verkehr.1 In wirtschaftlichen Kreisen entwickelte sich eine kaufmännische Ethik, deren Normengefüge bis in den Frühkapitalismus reichte. Wohlstand, wirtschaftliche Macht und ein gesichertes Weltbewußtsein in städtisch-bürgerliches Leben konnte sich in diesen Zeiten entfalten, wenngleich das Bürgertum von den Schlüsselstellungen des Staates, in denen die Entscheidungen über politische Angelegenheiten fielen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ausgeschlossen blieben. Die Bildungswelt des Bürgers im 19. Jahrhundert glich daher einer Parallelwelt, in der das gesamte Reich kaum zu finden war. Goethe und Schiller fragten in Rückblick auf das Jahr 1797 in ihrem Xenienalmanach „Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden./ Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf“.2 Im Gegensatz zu den Verankerungen ständisch vorgegebenen Ungleichheiten, wie der Adel sie über Jahrhunderte praktizierte, galten als bürgerliche Ideale Humanität und Gleichheit. Beethoven vertonte Schillers Hymne an die Ideale des Humanen, der Gleichheit und Brüderlichkeit unter den Menschen, ohne Ansehen ihres Standes: „Seid umschlungen Millionen“. Dessen ungeachtet verkündete der Kanon der höfisch-aristokratischen Gesellschaft nach wie vor die Ungleichheit der Menschen. Trotz aller humanistischen Ideale bürgerlicher Bildungsgüter läßt sich in dieser Epoche ein innerer kultureller Gestaltwandel erkennen, der sich zunehmend von diesen Idealen entfernte und sich in nationalistische Richtungen bewegte. Als Reaktion auf die gescheiterte Revolution von 1848, deren ideologische Ursprünge in der französischen Revolution von 1797 zu finden sind, entwickelte sich ein allmählicher Nationalismus, der die Nation höher schätzte als die Verwirklichung des Individuums. Das Individuum sollte seine Selbstverwirklichung nicht mehr über die Rezeption traditioneller Bildungsinhalte erlangen, sondern seine Bestimmung als Subjekt ergab sich aus der Identifikation mit Nation und Staat. Zudem übernimmt eine Mehrheit des Bürgertums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die negativen Vorbehalte der preußischen Militärkaste gegen Humanität, Bildung und musischen Interessen, die immer mehr zum gesellschaftlichen Umgangston werden. Alles das, was das Bürgertum des 18.Jahrhunderts hoch geschätzt hatte, verfiel unter dem Geist des zunehmenden Militarismus und einer chauvinistischen Überheblichkeit. Außerdem überträgt das wirtschaftlich 230

erfolgreiche Bürgertum, sich seiner wachsenden wirtschaftlichen Macht immer bewußter, die vormals adeligen Rangordnungen von Herrschaft und Knechtschaft auf das wirtschaftliche und soziale Leben, indem eine neue Schicht lohnabhängiger Arbeiter und Angestellten entsteht. Somit verlagerten sich die Herrschaftsverhältnisse des Adelsstandes in die bürgerliche Gesellschaft hinein, die neue Ungleichheiten schuf. Aber nicht nur die Formen der Macht wurden adaptiert, sondern ebenso die Geringschätzung musischer und humanitärer Phänomene, welche adelige Kreise und die gesellschaftsbestimmende Schicht der Offizierskaste im preußischen Militarismus zum Ausdruck brachten. War das Bürgertum der Romantik noch einer Kultur der Innerlichkeit und gesellschaftlichen Melancholie verhaftet und die sich gewissermaßen als Heimstätte subjektiv seelischer Befindlichkeiten verstand, als Entfaltung des Ichs, so schien das Bildungsbürgertum gegen Ende des 19. Jahrhunderts für den Chauvinismus eines sadistisch projektiven Nationalismus zunehmend anfällig zu werden, der seine Wirkungskraft im existentiellen Dauerkampf mit anderen Kulturen, Nationen und schließlich Rassen zu behaupten versuchte und in dem der einzelne nicht mehr zählte. Die romantische Kultur schuf ein Raum der Innerlichkeit – des Ich-Bewußtsein und der Zentralisierung dieses Ichs im eigenen Selbst, – in dem es seine eigenen Träume ungehemmt entfalten konnte. Die romantischen Philosophien eines Schopenhauers und Carus unterstützten diese Sichtweisen und blieben auf die tiefenpsychologischen Schulen Sigmund Freuds und Carl Gustav. Jungs nicht ohne Einfluß. Deren Entdeckung des Unbewußten markierten bei allen Unterschiedlichkeiten ihrer erkenntnistheoretischen Positionen Wendepunkte im Verständnis des Individuums und seiner Psyche. Im Verständnis der Romantiker waren Selbst und romantisches Empfinden eins und mit sich identisch, ohne Haß auf die Welt da draußen oder Ablehnung anderer Weltsichten. Sie war daher auch eine Kultur der Selbstbescheidung auf die eigene Identität und nicht auf die Vernichtung anderer gerichtet und schon gar nicht eine Massenbewegung, die sich auf den Fetisch nationaler Verehrung bezog. Der Verrat des Bildungsbürgertums am historischen Kulturprozeß bestand darin, soweit man ihn als bewußtes Ereignis konstatieren darf, jene immanten Werte eines universal-humanistischen Kanons zugunsten einer grenzenlosen Verherrlichung von partikularen Weltsichten und den inhumanen Vorgaben eines autoritären Obrigkeitsstaates im Stich gelassen zu haben. Über die bürgerlichen Bildungsgüter, die sich mit unterschiedlichen Inhalten und Tendenzen in allen sozialen Schichten entfaltete, wurden die Herrschaftsverhältnisse manifestiert. Konservative sahen sie als verfestigendes Instrument ihrer gesellschaftlichen Stellung und als Absicherung ihrer traditionellen Privilegien. In den Kreisen von Gewerkschaften, Arbeiterbünden und der Sozialdemokratie wurde die Bildung als Möglichkeit zur Emanzipation und Mitbestimmung gesehen. Demnach schrieb man der Arbeit eine bildende und zugleich befreiende Wirkung zu, übersah jedoch, daß die alten 231

Machtverhältnisse weiterbestanden und akzeptiert wurden, wenn sie sich im Mythos des Nationalismus verankern ließen So wird die aristotelische Opposition zwischen einer Tätigkeit der Freien in Muße und beschaulicher Priviligiertheit und der nutzbringenden zweckgerichteten Tätigkeit der Unfreien unterlaufen und eingeebnet. Der bürgerliche Bildungsbegriff leugnete somit das klassische Machtverhältnis von Herr und Knecht. Die Bildungseuphorie des 19. Jahrhundert trug somit nicht zur Überwindung der bürgerlichen Klassengesellschaft bei, sondern verstärkte die sozialen und wirtschaftlichen Arretierungen, welche auch die Chance auf Bildung beeinflußten. Die Kluft zwischen den gesellschaftlich Privilegierten und den Deklassierten wurde größer, zumal die Zugangsvoraussetzungen zu den gesellschaftlichen Bildungsgütern vom sozialen Status der Betroffenen abhingen. Teilhabe an den Bildungsgütern war in erster Linie eine Frage des wirtschaftlichen und sozialen Status. So wurde der Masse der Bevölkerung der Besuch weiterführender Bildungseinrichtungen, wie Gymnasien und Universitäten vorenthalten; für diese blieb die sogenannte Volksschule übrig, so daß Karrierestränge bereits durch Herkunft und Geldmittel frühzeitig gelegt wurden. Kritiker der bürgerlichen Bildung, wie Friedrich Nietzsche dekuvrierten diese kulturelle Aushöhlung von Erziehung, wobei das entstandene Vakuum durch Surrogate gefüllt wurde, zu denen die Verpflichtung auf einen mystischen Nationalismus gehörte, welcher die ursprünglichen Bildungsinhalte überwölbte. Getragen von den Ideen der Klassik und des deutschen Idealismus besaß dennoch Bildung im Deutschen Kaiserreich einen unvergleichlich hohen Stellenwert, der sich politisch zwar in einem reichlich ausgestatteten Bildungsetat niederschlug, aber zur politischen Emanzipation des Bürgertums recht wenig beitragen konnte. Vermutlich erkannte man die identitätsstiftende Funktion einer, durch den obrigkeitsstaatlichen Nationalismus in Anspruch genommenen Bildung. Bildung wurde somit zum Transmissionsriemen der nationalistische Interessen auf bürgerliche Bildungsinhalte übertrug. Im deutschen Bildungsbegriff, wie auch in der bürgerlichen deutschen Kultur überhaupt, wurde die Veredelung des Selbst als sittliches Gesetz gefordert und Bildung als Weg zur Selbsterziehung betrachtet. Die klassische deutsche Bildung unterlag hierin einem doppelten Irrtum: daß diese Veredelung, was auch immer darunter verstanden wurde, durch kognitive Bildungsinhalte geschehen sollte, aber jedoch übersah, daß soziale Kompetenz und moralisches Handeln immer auch von der Entwicklung psychosozialer Eigenschaften, wie beispielsweise Empathie, Solidarität und Toleranz abhängig ist. Diese werden aber nicht ausschließlich durch die Vermittlung von kulturellen Bildungsgütern gefördert, sondern vielmehr durch Erziehungspraktiken, welche die Entfaltung des kindlichen Selbst, der Anerkennung seiner Emotionen und Bedürfnisse zulassen. Eine derartige Erziehung kam indes im Deutschen Reich wilhelminischer Ausprägung fast kaum vor, beziehungsweise sie hätte der 232

herrschenden Meinung widersprochen. Trotz aller humanistischen Bildungsinhalte ist es daher der deutschen Bildungsideologie nicht gelungen, gänzlich inhumane Tendenzen und Praktiken zu verhindern. Des weiteren entsprach die, in bürgerlichen Kreisen weitverbreitete Auffassung der Realität, daß je höher der Grad an humanistischer Bildung, um so höher wäre auch das moralische Bewußtsein ausgebildet und um so sicherer würde sich die soziale Kompetenz des Individuums als vergesellschaftetes Wesen einstellen. In der Annahme dieser vermeintlichen Kongruenz lag somit ein weiterer Irrtum klassischer bürgerlicher Bildungsvorstellungen im 19. Jahrhundert, dessen Auswirkungen noch ein halbes Jahrhundert später zu bemerken waren. Ein hoher Bildungsgrad und die Gefühlsroheit, mit der im Dritten Reich Terror und Völkermord verübt wurden, waren deshalb kein Widerspruch, wie die Persönlichkeitsprofile zahlreicher hochrangiger, akademisch vorgebildeter Nazitäter zeigen konnten. In dem Maße, wie der bürgerliche Bildungsbegriff völkisch-nationalistischen Interessen unterlag, diente er in erster Linie dazu, angepaßte und kritiklose Staatsbürger zu produzieren. Die Entfaltung individueller Stärken und Begabungen hingegen kamen im Konzept einer nationalistischen Bildungspädagogik nicht vor. Daß zwischen dem klassischen Prinzip des Bildungsidealismus und dem Realitätsprinzip schier unüberbrückbare Widersprüche herrschten, sind nicht diesem Idealprinzip anzulasten, sondern betreffen vor allem die gesellschaftliche Wirklichkeit der aufkommenden Massengesellschaft, die über Bildungsinhalte alleine nicht mehr zu erreichen war, zumal breite soziale Schichten von ihr ausgeschlossen blieben. Zu ihrer Integration in das Konzept des Nationalismus bedurfte es daher eines kollektiv verbindlichen Bezugsrahmens, der sich in der grenzenlosen Verehrung nationalistischer-völkischer Symbolik fand. Daß die klassischen Bildungsgüter letztlich ohne breite Wirkung blieben, spricht nicht gegen sie, sondern spricht um so schlimmer für die Wirklichkeit. Zwei Aspekte der bürgerlichen Bildungskonzeption im späten 19. Jahrhundert spielten eine wesentliche Rolle: die Ästhetik eines harmonischen Seins, welches auf rationale Ideale zurückgreifen konnte und das Bild eines schöpferischen Genies, welches sich auf den schmalen Grat zwischen außerordentlicher Geistigkeit und dämonischem Wahnsinn bewegt und das über alle Konventionen schwebte, d.h. auch über die moralischen Implikationen gesellschaftlicher verbindlicher Regeln. Überdies traten in der klassischen bürgerlichen Bildung zwei untrennbare Gegensätze auf, welche emanzipatorischen Bestrebungen entgegenstanden. Zum einen vermittelte Bildung auch die Kategorien von Ordnung und Disziplin, ohne sie, wäre nach der damaligen Auffassung die Bildung obsolet geworden, zum anderen verherrlichte sie die sehnsüchtige Weltflucht der Dichter und stand damit einer politischen Emanzipation im Wege. Die Emanzipation des Bürgertums, die man gelegentlich und mit Argwohn bedacht, von der Bildung erhoffte, fand daher im politischen Raum so gut wie nicht statt. In wirtschaftlicher Hinsicht 233

blieb sie indessen nicht ohne Folgen, eben weil das Bürgertum durch sie, es zu wirtschaftlicher und kultureller Blüte brachte. Darüberhinaus förderte die bürgerliche Bildung die Assimilation des deutschen Judentums, das im wissenschaftlichen und kulturellen Bereich überaus produktiv war und von dem das deutsche Geisteswesen in einer nie dagewesenen Weise profitieren konnte. Und so war es gewiß kein Zufall, daß 50% der Nobelpreisträger in den Naturwissenschaften jüdische Menschen waren, die einen ausgezeichneten internationalen Ruf genossen.3 Das Pathos des Nationalistischen überformten die Bildungsinhalte. Die Geistesheroen der deutschen Kultur wie Schiller, Goethe und Albrecht Dürer wurden als nationale Helden und deren Werke dienten der Unterstreichung nationalistischer Ideen. Schillers Lied von der Glocke wurde im 19. Jahrhundert zu einem bevorzugten Lehrstück deutschtümelnde Germanistik. Heinrich Düntzer, der seine Erläuterungen zu den deutschen Klassikern „dem deutschen Volk darbrachte“ meinte zu Goethes Hermann und Dorothea, hieraus spreche „echt deutsche Tüchtigkeit und Innigkeit beruhende Häuslichkeit“. Hermann verkörpere, so Düntzer, „echt tüchtiges redliches Wesen“; er beharre „fest auf dem bestehenden, das er mit aller männlichen Kraft zu bewahren sich gerüstet fühlt; als echter ruhiger Deutscher will er nicht jener ungeheuren Bewegung, welche alles vernichtet hat, sich schwärmerisch anschließen, sondern fest auf deutschem Sinne und deutschem Boden jedem Feind zum Trotz beharren.“ In der Person des Pfarrers treffen wir auf den Inbegriff einer „reinen auf edler Bildung ruhenden deutschen Humanität, welche über alle Beschränkungen des Lebens erhaben, unverrückt dem Wahren und Guten zugewandt bleibt.“4 Völlig zu recht sprach bereits 1836 Wolfgang Menzel von einer „Huldigung aufs Spießbürgertum“. 5 Kultur und Bildung zog sich zurück in die konventionellen Refugien oberflächlicher Rituale, die dem Schönen, Wahren und Guten in Formen des äußeren Scheins huldigten ohne je danach zu fragen, inwieweit diese Ideale auf die gesellschaftliche Wirklichkeit des Frühkapitalismus zu übertragen wären. Dagegen herrschten in der nichtästhetischen Welt, jenseits von Kultur und Erbauung die Gesetze der Härte, des Gewinnstrebens und der Unerbitterlichkeit und Gleichgültigkeit der Herrschenden gegenüber den Bedürfnissen der Beherrschten. Norbert Elias zitiert aus dem Roman Hanseaten aus dem Jahre 1909 von Rudolf Herzog, einem populären Vertreter der gehobenen Unterhaltungsliteratur, jene Szene, in der die Arbeiter bei ihrem Chef Karl Twersten, Besitzer und Leiter einer Hamburger Werft, vorstellig werden, mit der Bitte, einen durch Sturm und Wetter erlittenen Arbeitsausfall nicht vom Lohn abzuziehen. Hierbei kommt es zu folgender Unterredung: „Sagt mal, begann er und musterte sie scharf, „ihr seid doch wohl alle Soldat gewesen. Matrosen. Um so besser. Dann werdet ihr wohl wissen, was Disziplin bedeutet. Und das wißt ihr alten Kerls so gut wie ich, daß auf einer Werft Disziplin zu herrschen hat wie an Bord. Denn hier treffen geschäftliche und politische Angelegenheiten zusammen. Also ich 234

brauche nur euren Forderungen nachzugeben, und ich öffne der Disziplinlosigkeit alle Lucken. Weshalb? Nun, von euch dreien sprech’ ich nicht. Ihr habt Ehre im Leib, und ich kenn’ euch lang genug. Aber es könnte tagtäglich Hunderten von Drückebergern einfallen, sich mit Wind und Wetter zu entschuldigen, wenn sie ein paar Stunden später zur Werft kommen möchten. Es brauchte nur heute bekannt zu werden: das zieht; wir kriegen’s doch bezahlt! Und ihr Fleißigen und Anständigen, ihr wäret die Dummen [....]. Nein, Leute, ich brauche euch nichts mehr zu sagen. Ihr seid keine grünen Jungens und wißt: Disziplin muß sein. Ob’s weh tut oder nicht. Muß sein!“ „Stimmt!“ sagte der Schmied und setzte mit einem Ruck seine Mütze auf [...] Also holt’s aus den Überstunden wieder heraus. Das ist abgemacht.“ „Abgemacht, Herr Twersten. Und entschuldigen Sie man bloß die Störung.“ 6 Die bürgerliche Devise lautete: „weich in der Kunst und eisern im Leben“ zu sein. Und es gab nichts Fataleres in der Vorstellung des bürgerlichen Herrschenden, ein Schwächling zu sein, der außerstande ist, zuzupacken, wo es um Ehre, Gewinn und Machterhalt geht. Als seine größte Sorge gilt, wehmütigen Regungen nachzugeben, wo die Grenze des noch menschlich erträglichen bereits überschritten ist, wie Heinrich Himmler in seiner berüchtigten Posener Rede im Oktober 1943 versicherte – einem der furchtbarsten Sprachdokumente, die im deutschen Sprachraum jemals an die Öffentlichkeit gerichtet wurde –, daß das millionenfache Morden an Juden keinen seelischen Schaden verursacht habe, „und wir dabei anständig geblieben sind, das ist ein niemals zu schreibendes Ruhmesblatt“.7 Die Vorstellung einer humanen Bildung, wie sie sich in den Perspektiven von Aufklärung, Idealismus, Naturalismus, Expressionismus und Realismus entwickelt hatten, verschwand im spießbürgerlichen Milieu. Soweit diese literarischen und kulturellen Strömungen nicht vom offiziellen Geist bestimmt wurden, kündigten sie von der Würde und Freiheit des Menschen. Dieser sollte frei von staatlichen und kirchlichen Gängeleien sein, ohne Vorurteile und das Recht auf angemessene Bildung und geistiger Selbstverwirklichung haben. Die Klassiker der deutschen Literatur: Schillers Kabale und Liebe, sein Wilhelm Tell, Maria Stuart, seine philosophischen Schriften und seine Gedanken zur Ästhetik als ideale Basis des Staates, Lessings Nathan der Weise, Goethes Humanismus im Faust und in seiner Iphigenie schienen eine Epoche humanistischer und edler Gesinnungsvielfalt anzukündigen. Das Bildungsbürgertum als große Hoffnung gesellschaftlicher Humanität und Liberalität, dies alles ging im nationalen Mythos unter. Vor dem Hintergrund eines stetig wachsenden Nationalismus verfiel das Bildungsbürgertum einer Kulturvariante, die affirmativ dem Obrigkeitsstaat seine psychologischen und ideologischen Begründungen zulieferte und die letztlich immer mehr zum Instrument totaler Herrschaftsformen wurde. Schließlich wurde sie selber nur noch zur Fassade hinter der sich, zunächst noch unmerklich, jedoch späterhin immer deutlicher und sichtbarer die Barbarei formierte. Zunächst war sie noch 235

ideologisch und äußerte sich in literarischen Traktaten, deren schwülstiger Stil den Logos betäubte. Der reaktionäre Staatsrechtler und zukünftiger Zulieferer nationalsozialistischer Gesetzgebungen Carl Schmitt, hat mit unverhüllter Offenheit zugegeben, daß alles Romantische in den Dienst anderer unromantischer Energien steht und sich in einen dienstbaren Begleiter fremder Macht verwandelt.8 Das Romantische selber war damit zwar nicht gemeint, wohl aber das Ergebnis ihrer Umdeutungen und Inanspruchnahme durch gänzlich unromantische Geister. Die Wesenszüge der Romantik, ihre Neigung zu Märchen und zum Unbewußten, ihren Hang zum Irrationalismus und zum Geheimnisvollen, das sich der empirischen Wirklichkeit entzieht, ihre Verbindung zum Naturhaften und Kindlichen kann als der Versuch gesehen werden, Unvereinbares miteinander zu versöhnen und den ganzen Kosmos der menschlichen Seele, sowie der irdischen und überirdischen Wirklichkeit zu erfassen. Die Romantik kannte keinen Widerspruch zwischen Herz und Intellekt, Gefühl und Geist, Tag und Nacht, Realität und Surrealität. Ihre grundsätzliche Offenheit eröffnete in mancherlei Hinsicht jedoch die Möglichkeit, hinter ihren ganzheitlich gedachten Bildern, eine verhängnisvolle Politik zu betreiben, an der die Germanistik nicht unbeteiligt geblieben war. Hierzu wurden die romantischen Inhalte aus ihrem ursprünglichen dialektischen Zusammenhang gerissen und bestimmte Einzelzüge isoliert, wie etwa Gefühl, Subjektivismus, Irrationalismus und in den Dienst einer verhängnisvollen Ideologie gestellt. Eine verschwärmte Bildungsbarbarei, nannte Thomas Mann jene Kulturvariante, die sich aus einer gewissen Philologen-Ideologie, Germanistenromantik und Nordgläubigkeit zusammensetzte und die versuchte in einem Idiom von mystischer Biederkeit mit rassisch-völkischen und bündischheldischen Vokabeln auf die Deutschen einzureden. Der Weg dahin führte über eine Reduktion des Bildungsbürgertums zum spießbürgerlichen Untertan, dessen außengeleitete Lebensweise die politische Voraussetzung zur Etablierung der Massengesellschaft bildete. Im spießbürgerlichen Milieu der Massengesellschaft gingen die Ideen des Guten, Schönen und Wahren zugunsten der Verherrlichung von Gewalt und Grausamkeit unter, so daß die Zerstörung des politischen und gesellschaftlichen Konsenses zugleich die Zerstörung der Vernunft und des Geistes war. Indem der Nationalismus den Geist und die Individualität zerstörte, bot er die Voraussetzungen für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Auf der Folie derartiger Denkweisen reduzierte sich der einzelne zu einem fragmentierten und entfremdeten Subjekt in der Masse „gesichtsloser“ Individuen in der der angepaßte Spießer über den aufgeklärten Bürger kommt und der sogenannte Volksgenosse über den Staatsbürger obsiegt, indem er ihn aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein verdrängt. Das zugrundeliegende Mentalitätsmuster ist eine „Spießerideologie“, die mit schwülstigen Attitüden rückwärtsgewandt daherkommt, ihr mangelt es, im Gegensatz zu echter Kultur an Phantasie und Kreativität, durch sie wird 236

Kultur lediglich zur Fassade eines totalitären Herrschaftsapparates, ohne daß die Masse dies bemerkt; Mythos ersetzt den Geist und die Vernunft der Aufklärung, und regressive Verdrängungskomplexe treten an die Stelle von Bestrebungen nach Emanzipation und Autonomie. Dem Ganzen haftete etwas eigentümlich Endzeitliches an, dessen mystisch Regressives schon durch den Titel des Buches Das Dritte Reich von Moeller van den Bruck zum Ausdruck kam, in dem es unter anderem hieß: „Der deutsche Nationalismus ist Streiter für das Endreich. Es ist immer verheißen. Und es wird niemals erfüllt. Es ist das Vollkommene, das nur im Unvollkommenen erreicht wird...Es gibt nur Das Reich. Der deutsche Nationalismus kämpft für das mögliche Reich.“9 Der Kleinbürger im Wilhelminismus besaß keine Kultur im wirklichen Sinne, aber er fühlte sich als Kulturträger der Nation. Im Bewußtsein, die Klassiker zu „besitzen“, verstand man sich als auserwähltes Kulturvolk, vor allem Frankreich gegenüber, dessen Kultur man als Zivilisation verachtete und dabei sie um so mehr zu fürchten. Die Nation verehrte Goethe und Schiller, ohne sich mit deren Weltoffenheit und Freiheitsdrang zu identifizieren. Im Zuge des nationalistischen Ideologieprozesses wurden die herausragenden Elemente der Werke Goethes, das Humanitätsstreben, das Primat der Idee und des Geistes bei aller Wirklichkeitsnähe, die Hervorhebung des Sozietätsgedankens und sein universeller kosmopolitischer Anspruch ins KraftvollBrutale, Rassisch-Körperhafte und Völkisch-Nationale pervertiert. In ähnlicher Lesart verstand daher Oswald Spengler in seinem Werk Der Untergang des Abendlandes das Faustische gleichbedeutend in einer ideologischen Verengung als das Deutsche-Nordische schlechthin. An Goethe klammerte man sich mit nationalem Stolz. Zum Einen trug er dazu bei, sich im Verein mit Schiller als Volk der Dichter und Denker zu fühlen. Andererseits erblickte man in der Gestalt des Faust das höchste Symbol seiner selbst, stets strebend sich bemühend, tatkräftig, wissenschaftsgläubig und vor allem genial. Im Zeichen eines fragwürdigen nationalen Bewußtseins wurden jene Zweifel übersehen, die Faustens Genialität stets begleiten, und die Verführbarkeit, Endlichkeit und Zerbrechlichkeit seiner zwiespältigen Persönlichkeit wollte man geflissentlich nicht wahrhaben. Jedem sein Goethe, war die Losung des Spießbürgertums und wenn er nur als hohler „Gipskopf“ auf der Konsole im bürgerlichen Wohnzimmer stand. Hauptsache man konnte zu ihm aufblicken und sich in der hehren Außerordentlichkeit eines nationalen Götzen sonnen, da man selber Durchschnitt war, während dessen das Gemüt zu Hause auf Plüsch lag. Hermann Hesse hat im Steppenwolf ein solches Goethebild beschrieben: „Einen charaktervollen, genial frisierten Greis mit schönen modelliertem Gesicht, in welchem weder das berühmte Feuerauge fehlte noch der Zug von leicht hofmännisch übertünchter Einsamkeit und Tragik“.10 Was Goethe im Taumel nationalistischer Berauschtheit widerfuhr, geschah auch mit Schiller und so wurde er in den Dienst nationaler Verkitschung genommen und dem leeren Pathos der offiziellen Sprache des 19. und 20. Jahrhunderts gleichgestellt, die 237

strukturell an die Redefiguren der epigonalen Romantik anknüpfte. In Wirklichkeit pervertierte man zu allen möglichen vaterländischen Anlässen die Schillersche Sprachkunst, indem man deren tieferen Sinn übersah und statt dessen ihn zum „Moraltrompeter“ und Vorkämpfer nationaler Einheit herabwürdigte. So hieß es beispielsweise in einer Rede anläßlich seines 100. Geburtstages in der Lesart spießbürgerlichen ästhetischen Scheins: „Wie das Auge des Volkes das festliche Gepränge liebt, mit dem mächtigen Herrscher sich umgeben, so liebt seine Seele den Glanz und die Pracht der Schillerschen Sprache, die Majestät seines Ausdrucks, das von Gold und Purpur strahlende Gewand der Herrschaft im Reich des Geistes“.11 Solche nationalistisch gefärbten Lobeshymnen, dienten dazu, auf die empirische, vermeintliche chaotisch-sinnlose Gegenwart, mit den Worthülsen mystifizierenden Geraunens, eine Welt des „schönen Scheins“ zu projizieren. Deren Inszenierungen lag die Vorstellung einer Synthese von griechisch-römischer Klassik und Deutschtum zugrunde welche ihrem Anspruch nach, dem Schönheitsideal erhabener Schlichtheit huldigte, dabei aber den aufgesetzten Pathos nationaler Überheblichkeit und Weltfremdheit nicht verleugnen konnte. Zu offensichtlich wandte sich derartiges gegen die „Verhäßlichung“ einer modernen Welt, die im schroffen Gegensatz zu Requisiten einer beschworenen Vergangenheit stand. Es war in der bildenden Kunst die Zeit des „Goldenen Schnittes“ als kunstvolle Fassadenstruktur, welche Stimmungen, Bilder und Handlungen als Manifestationen des Erhabenen und Edlen vortäuschen wollte. In Wirklichkeit kamen sie über die Gebärden eines hohlen Scheins, der sich edel und erhaben gab, nicht hinaus. Im Gegenzug dazu, wurde alles was dem Bedürfnis nach polierter und seichter Problemlosigkeit nicht entsprach als häßlich und entartet diskriminiert. Das Kleinbürgertum stattete sich mit Kopien dieser Oberflächenkultur aus und bekämpfte alles mit geifernder Leidenschaft, was sich als Abbildung der häßlichen Realität, der anderen Seite des Lebens herausstellte. Nichts sollte das ästhetische Ambiente bürgerlicher Wohnkultur stören. Der Vorsitzende der Alldeutschen Heinrich Claß forderte daher 1912 die „reine Kunst“ zu verbieten und alle kranken Neigungen, die sich der Maske der Kunst bedienen, von der Öffentlichkeit auszuschließen. Im Verständnis der wilhelminischen Kultur kam daher nur reine, unverfälschte naturalistische Kunst in Frage, welche die Wirklichkeit in Bildern des Heroischen und Pompösen im photographischen Stil abmalte. Die „künstlerische“ Botschaft lautete: germanische Kunst ist nur naturalistisch, unverfälscht und durch die Rassenanlage vorgegeben. Von der Klassik übernahm man den Gedanken der Kalokagathie – der Harmonie von Seele und Leib –, des erwünschten Zusammenklanges einer schönen Seele in einem schönen Körper. Bereits die Turnerbewegung unter Jahn verstand das klassische Bildungsideal in fälschlicher Weise; aus dem Anruf an die Götter, um einen gesunden Geist in einem gesunden Körper zu bitten, wurde die apodiktische Formel „mens sana in corpore sana“. Verband 238

man im 19.Jahrhundert noch die Vorstellung eines reinen Körpers in alabasterne oder marmorne Weiße dargestellt, mit moralischer Sauberkeit und seelischer Reinheit, so verknüpfte der Nationalsozialismus den gesunden und kraftvollen Körper mit seinem rassisch-arischen Ideal. Aus dem Ideal, daß trotz eines schönen Körpers auch hierin eine schöne Seele beheimatet sein sollte, wurde die Oberflächlichkeit einer einseitigen Körperverherrlichung, die sich nicht nur in den heroischen Standbildern der nationalen Mythenhelden niederschlug, sondern in gerade Linie zu den rassistischen Prospekten des 19. und 20. Jahrhunderts führte. Unter Rückgriff auf die klassischen Dichter und Denker wurden Prospekte von imaginären Sinnverheißungen errichtet, die die aufkommenden politischen und sozialen Brüche eines überkommenen autoritären Nationalstaates überdecken sollten und dem man eine unpolitische Gefühlskultur entgegenstellte. In dieser traf Vieles und Unterschiedliches zusammen: neben einem eigensinnigen Ausdruck von heroischem Pathos, religiösem Gefühl und romantischem Subjektivismus, ebenso weltumspannende humanistische Ideen. Typische Kennzeichen des bürgerlichen Zeitalters an der Schwelle zum ungehemmten Nationalismus waren die Unversöhnlichkeit zwischen dem Ich und der äußeren Welt, die voller ungewohnter Realitäten war, welche sich in den Unvereinbarkeiten und Widersprüchen der gesellschaftlichen Mentalitäten und politischen Antagonismen widerspiegelten. Über allem war die überschwengliche Hinwendung zu einem „Volksganzen“ ungebrochen, die psychologisch betrachtet, jene Leerräume des Individuellen ausfüllen sollte, zu der die Gesellschaft infolge ihrer strukturellen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht imstande war. Im ersten Drittel des 19.Jahrhunderts hatte Heine mit luzider Schärfe vorausgesehen, daß der deutsche Patriotismus und die deutsche Nationalität siegen würden, gleichzeitig jedoch auch, die volkstümlich germanisch christliche-romantische Schule, die „neu-deutschreligiös-patriotische Kunst“.12 Eine patriotisch gesinnte Kunstauffassung wußte alles unter der Gewalt eines nationalvölkischen Geschichtsverständnisses sich zu bemächtigen, was das reiche Füllhorn des Geistes und der deutschen Sprache je über die Menschheit ausgeschüttet hatte. In der monumentalen Verherrlichung der literarischen Geister, denen allerorten Platz und Geltung eingeräumt wurde, waren indes die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten störend und deshalb versuchte man sie aus dem Bewußtsein des heroischen Gedenkens zu verbannen. Überformender patriotischer Gedenkenskult wurde gegen die Solidarität mit den Ausgestoßenen aufgeboten, die nicht an den Bildungsgütern teilhaben, geschweige denn, ein menschenwürdiges Leben führen konnten. Im Nebeldunst dieses unkritischen Verehrungspomps konnte daher Jacob Grimm in seiner Schillerverherrlichung fordern, überall Schillerdenkmäler zu bauen, wobei er sich eins mit einem rigorosen „LiteraturDarwinismus“ dafür aussprach, das Geld, welches man hungernden Dichtern und Dichterwitwen, gemäß der „Schillerstiftung des deutschen Volkes“ zuteil 239

werden lassen wollte, für die Denkmäler zu verwenden. „An mehr als einem Platz, zu Marbach und anderswo, würden von Künstlers Hand geschaffene Bildsäulen Schillers aufzurichten sein und dann einem dauernden Freudenfeuer gleich leuchten im Lande; laßt uns den Kostenaufwand dafür und für die Salbe der Weihe nicht abgefordert werden zur Niederlage in den allverschlingenden immer hungrigen Armensäckel“.13 Es mag nicht unerwähnt bleiben, daß Jacob Grimm hiermit nicht alleine stand und seine Forderung nicht ungehört blieb, war es doch schon immer ein Kennzeichen des autoritären Obrigkeitsstaates, über das Elend der Realität, das Gewand historischen Pomps zu werfen. Am Beispiel Schillers kann man ermessen, wie sehr ein überragender Denker und Dichter für eine spießbürgerliche Kultur, die einer unkritischen und naiven Verherrlichung von Obrigkeit folgt, mißbraucht wurde, indem man ihn auf den Altar der nationalen Beweihräucherung stellte. In einem „Lesebuch heißt es in ähnlicher Weise, daß er – Schiller – jedes „jugendliche frische Gemüt ergreife“ und wie kein anderer prophetenhaft alles „Gemeine an der Brust des heranwachsenden Jünglings wegtilgend und mit heiligem Feuer verzehre“.14 Das heilige Feuer war schon immer eine beliebte Metapher im Sprachgebrauch völkischer Romantiker, die es als ständiges Erleuchten der eigenen Rasse und Kultur verstanden wissen wollten und darin im exaltierten Kontext der Nationalsozialisten übereinstimmten, wo Phrase auf Phrase zu einem willkürlichen Wortrausch im propagandistischen Sinne verschmolzen wurde. Das Schillerpathos des 19. Jahrhunderts hatte sich zunehmend verselbständigt, wobei das Klischee einer sich selbst überlassenen Phrasendrescherei, die sich von den eigentlichen Inhalten längst entfernt hatte, dominierte. Und somit lassen sich bis zu Hitlers demagogischen Auftritten als „Trommler“ in der Frühzeit der NSDAP, von Anbeginn des 19. Jahrhunderts über die schwärmerischen Worthülsen des völkischen Nationalismus kaum wesentliche Unterschiede innerhalb der offiziellen Sprachgewohnheiten im öffentlich politischen und kulturellen Raum erkennen.

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Exkurs: Albert Speer ein deutscher Bildungsbürger von innen betrachtet oder die technizistische Unmoral „Die Aufgabe, die ich zu erfüllen habe, ist eine unpolitische. Ich habe mich solange in meiner Arbeit wohlgefühlt, als meine Person und auch meine Arbeit nur nach der fachlichen Leistung gewertet wurde [...].“ (Albert Speer in einer Denkschrift an Hitler gegen Ende des Krieges) Würde man Speers Entlastungsargument zum Anlaß einer psychohistoriographischen Betrachtung über sein Leben und Wirken im Dritten Reich nehmen und ihn außerhalb der politischen Ereignisse beurteilen, hieße, wie gelegentlich gesagt wird, „Hamlet“ ohne den Prinzen von Dänemark aufzuführen. Speers zwiespältige Rolle im Machtgefüge des Dritten Reiches wird nur allzu deutlich, wenn wir seinen Charakter und Werdegang vor dem Hintergrund der turbulenten Ereignisse betrachten, die der Epoche vor und zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft ihr außerordentliches Gepräge gegeben haben. Technischer Fortschritt und moralische Kompetenzen, die auseinanderfielen, je mehr das erstere voranschritt, haben dieser Epoche ein Klima der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen beschert und die technische Rationalität als Wesensmerkmal totalitärer Herrschaftsformen in den Vordergrund gerückt. Gerade jene technische Attraktivität des modernen Zeitalters, mit allen Erscheinungen einer Massengesellschaft, welches traditionelle Strukturen grundsätzlich veränderten, hat zur Verführbarkeit breiter bürgerlicher Besitzund Bildungsschichten beigetragen. Wie wir noch feststellen werden, war Speers Rolle in diesem epochalen Klima moralischer Indolenz gar nicht so uneigentlich dem Wesen des „Dritten Reiches“ angemessen. Speer repräsentierte einen Typus, ohne den der Nationalsozialismus und jede andere Staatsform des Totalitarismus weit weniger erfolgreich gewesen wären. Im Rückzug auf eine fachliche Existenz waren Fachleute wie Speer frei von rechtlicher Schuld im eigentlichen Sinn, da sie keine Gesetze erließen, keinerlei Willkürakte durchführten oder eigenhändig Menschen verhafteten oder umbrachten. Vielmehr zogen sie sich auf angeblich unpolitische Positionen zurück, um sich eine „vorwurfsfreie Existenz“ (Fest) zu sichern. Aber im Grunde genommen waren sie blinde, uneinsichtige Marionetten, willfährig und zugleich entschlossen lediglich ihre Pflicht zu tun, wenngleich sie auch der Selbsttäuschung erlegen sind, hierbei unkorrumpiert gewesen zu sein. Indem sie sich vom Tagesgeschehen fernhielten, war es ihnen möglich, ihre funktionale Machtposition ohne parteiinterne Hausmacht auszuüben oder in die durchgängige Bestechlichkeit korrupter Parteibonzen zu verfallen. Der Nationalsozialismus war neben seinen inhumanen und archaischen Grundzügen eine vergleichsweise moderne Bewegung, die aus den regressiven Ideologieformationen des 19. Jahrhunderts und dem technisch-bürokratischen 241

Fortschritt des 20. Jahrhunderts sein ideologisches und machttechnisches Potential schöpfte. Nicht so sehr seinen extrem vorgetragenen und umgesetzten Vernichtungsobsessionen verdankte er seine Attraktivität und erstaunliche Sogwirkung auf die bürgerliche Schicht, sondern seiner eigentümlichen Mischung aus weltanschaulicher Regression und den technisch-rationalen Begleiterscheinungen der Modernen. Aus beiden widersprüchlichen historischen Phänomenen bezog er seine suggestive Anziehungskraft, mit der er sowohl die Massen an sich binden konnte, als auch die technischen Eliten und Funktionsträger in Wirtschaft und Verwaltung. Sowohl Fanatikern sozialdarwinistischer Überwältigungstheorien, den Anhängern echatologischer Endzeitprophetien, fanatischen Nationalisten, hemmungslosen Romantikern und wildgewordenen Metaphysikern, wie sie sich um Heß und Rosenberg scharten, sowie in Himmlers Ahnenforschung wiederfanden. Demokratiegegnern und sozial Abgeglittenen, als auch der breiten Schicht technischer und bürokratischer Berufsgruppen des sogenannten Mittelstandes bot der Nationalsozialismus aus seinem Repertoire an üblem Ideengebräu und seinem skrupellosem Zugriff auf moderne Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen psychische und soziale Projektionsflächen. Insofern war der Nationalsozialismus eine Massenbewegung, oder genauer gesagt, eine politische Bewegung, deren Ideen recht unterschiedliche Interessengruppen anzogen und zudem eine suggestive Wirkung auf die Massen ausübten. Seine technischrationalen Programme, welche vorgaben, den Wohlstand der gebrochenen Mittelschicht nicht nur wieder herzustellen, sondern ihn auch langfristig zu sichern und sozialpsychologische Perspektiven für den Einzelnen zu eröffnen, ebnete ihm den Durchbruch in das mittelständische Bürgertum und somit in die Mitte der Gesellschaft. Neben der vollkommenen Ausschöpfung der modernen technischen Mittel, welche seinerzeit zur Verfügung standen, nutzte der nationalsozialistische Staat zur Durchsetzung seiner archaischen Politik alle Möglichkeiten der modernen Verwaltungsbürokratie in denen zweckrationales Handeln, arbeitsteilige Kompetenzen und hierarchisch gegliederte Entscheidungsebenen wesentliche Merkmale administrativer Machtentfaltung darstellten. Weit mehr als die dumpfen Blut- und Bodenideologien der nationalsozialistischen Gralshüter vom Schlage eines Himmler, Heß, Streicher oder Rosenberg bestimmten daher die technisch rationalen Aspekte moderner Verwaltungs- und Wirtschaftsstrukturen das Erscheinungsbild des „Dritten Reiches“. Himmlers eschatologische Visionen vom Überlebenskampf der arischen Rasse und dessen dumpfe Verquastungen von Mensch, Boden und Blut wurden durch den zweckrationalen Bürokratismus, der den kontinental durchgeführten Völkermord organisierte, überholt. Wenn gleich auch der Historiker Martin Broszat behauptet, daß die enormen Anstrengungen der volkisch-rassischen Propaganda das Denken mit den Elementen nationalsozialistischer Rassentheorien imprägniert habe,1 so haben sie doch nicht die psychologische Tiefenwirkung auf die Täter der bürgerlichen 242

Mittelschicht ausgeübt, die ausgereicht hätte, aus diesen Gründen das Mordhandwerk zu legitimieren. Jene Ideologien waren nur liturgische Versatzstücke, die den nüchternen Mechanismen von Vernichtung und Terror einen zusätzlichen Sinn verleihen sollten und in den Prospekten von Auserwähltheit und rassischer Vorsehung ihre absurden Begründungen herleiteten. Die von einer archaischen Ideologie getragenen Vernichtungsprogramme kamen in ihrem millionenfachen Umfang nur deswegen zustande, weil sie im wesentlichen durch diese rational durchorganisierten Handlungsabläufe in handfeste Mordprogramme realisiert werden konnten und in sogenannten, arbeitsteiligen „normalen“ Arbeitsabläufe zur Durchführung gelangten und über Dienstanweisungen, behördliche und militärische Erlasse, Verordnungen und Tagesbefehlen administrativ abgesichert wurden. Damit unterschieden sie sich von den mittelalterlichen Pogromen, die aus einem spontanen Berserkertum entstanden. Der Soziologe Harald Welzer hat diesen rationalen Umsetzungsprozeß und den hiermit verbundenen moralischen Referenzrahmen in seinem Buch Täter, Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden ausführlich an Hand verschiedener sozialpsychologischer und organisationsoziologischer Modelle und Untersuchungen beschrieben. An der Durchführung dieser Mordprogramme beteiligten sich nicht nur fanatische und überzeugte Rassisten. Ebenso selbstverständlich stellten sich für diese „Aufgaben“ von Hause aus unpolitische „Technokratennaturen“ zur Verfügung, bar aller moralischen Skrupel und ohne ideologischen Ballast. Für diese reichten zu ihrer unideologischen Motivation, jene aus dem System hervorgegangenen „Sachzwänge“ einer sich scheinbar verselbständigenden administrativen Maschinerie aus, um tätig zu werden. Obwohl der Völkermord tendenziell lange, bevor er zur Durchführung kam, geplant war und in unzähligen Reden, Pamphleten und haßerfüllten Ressentiments vorweggenommen wurde, beteiligten sich an ihm unpolitische Naturen, die sich aufgrund ihrer Tätigkeitsmerkmale wie zufällig in der Mordmaschinerie wiederfanden. Gerade diese Tätergruppe reklamierte für sich eine Schuldentlastung aus den Zufälligkeiten beliebiger Sachzwänge, die sie dem Regime und seinen spezifischen Umständen anhafteten und aus denen, ihrer Sichtweise gemäß, letztlich der millionenfache Völkermord resultierte. Da sie sich zufällig von der Geschichte in jene Geschehnisse hineingestellt sahen, entwickelten sie kein Tatbewußtsein, sondern fühlten sich vom Schicksal gleichsam überrollt. Aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft kommend, konnten sie sich nach dem Zusammenbruch auch wiederum problemlos in die Mitte der Gesellschaft zurückbegeben. Jedoch nicht die Geschichte schafft Verbrechen oder eine verbrecherische Politik, sondern konkrete Individuen haben mit ihren Interessen, ihren Handlungen, ihrem moralischen Versagen und Verführbarkeiten die Geschichte millionenfachen Verbrechens geschrieben. Jeder dieser Akteure war in der einen oder anderen Weise daran beteiligt ohne daß sich deren angehäufte Schuld relativieren ließe. Sie alle 243

verstanden sich als „Rädchen im Getriebe“, ohne auch nur im entferntesten daran zu denken, dieses „Getriebe“ zu boykottieren. Für manche unter ihnen waren die Einflüsterungen und Verlockungen eines ungehemmten Ehrgeizes, der ihnen die Leiter ihrer Karriere bereitstellte allzu mächtig, um sich von den Restbeständen eines moralischen Gewissens in die Schranken weisen zu lassen. In dieser Indolenz und moralischen Schwäche aber liegt das Bedrückende und zugleich Ernüchternde über den menschlichen Charakter, der offenbar unter rationalen Bedingungen und mit der notwendigen inneren funktionalen Distanz beliebig manipulierbar erscheint. Hitlers gelegentliche Visionen vom „Termitenstaat“ gingen von dieser Verfügbarkeit aus, welche den Menschen nur noch in Sinnzusammenhänge begrenzter Zweckrationalität sah und ihn für jede Aufgaben nutzbar machen sollte. Die Hintergrundüberzeugungen eines ethischen Subjektivismus, der geringschätzig auf die öffentlichen Belange hinabsah und ihnen jegliche moralischen Verpflichtungen absprach, war für viele der Funktionsträger und Eliten des „Dritten Reiches“ ein durchgängiger Charakterzug. Jene kulturhistorische Trennung des deutschen Bürgertums in öffentliche und private Moral zu unterscheiden und das eine mit dem anderen auszuschließen, machte es dem Regime relativ leicht, unideologische und unpolitische Menschen für ihre Taten zu gewinnen. Deren politische „Naivität“, die ihren Berufsalltag stets immer begleiteten und ihnen keinerlei Rechenschaft über die Folgen ihres Handelns auferlegte, bilden wesentliche subjektive „Kraftfelder“ aus, womit totalitäre Systeme immer rechnen dürfen und einen wesentlichen Teil ihres Erfolges hiermit aufbauen können. Ohne deren Mitwirkung als technische und bürokratische Fachleute in Wirtschaft, Militär und Verwaltung wäre es dem Regime nicht gelungen, in so kongruenter Weise, die ideologischen Ziele auf die Zweckmäßigkeiten staatlichen Handelns zu adaptieren. Historiker haben immer wieder auf den permanenten Einfluß der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie auf die Einstellung der Bevölkerung hingewiesen.2 Es ist unbestritten, daß die Feindbilder ihre Wirkung auf die Mehrheit der Bevölkerung nicht verfehlt haben, zumal in geschickter Weise greifbare Projektionsbilder der eigenen Mittellosigkeit entgegengesetzt wurden. Auf das Engagement des mittleren und höheren Bürgertums hingegen war ihr Einfluß unwesentlich, denn weit mehr sorgte die Modernität des nationalsozialistischen Staatsapparates für die Attraktivität in dieser Schicht der Bevölkerung. Allenfalls diente der persönliche Bezug auf jene Feindbilder der Beschwichtigung des eigenen Gewissens. Behördenleiter, Juristen in unterschiedlichen staatlichen Positionen, Lehrer und Hochschullehrer, lokale Verwaltungschefs, Dezernenten und Polizeivorsteher, kurz, nahezu die gesamte Funktionselite des Deutschen Reiches haben vorbehaltlos ihre Dienste dem System zur Verfügung gestellt. Auch daß unmittelbar nach der Machtübernahme der Umsturz aller bislang gültigen rechtsstaatlichen Normen erfolgte, hat sie nicht daran gehindert, gewissenhaft und pflichtergeben 244

ihren Tätigkeiten nachzugehen. Selbst der liberal gesinnte Rudolf Diels, einem engen Mitarbeiter des sozialdemokratischen preußischen Innenministers, stellte sich ab 1933 in den Dienst des neuen Regime, in dem er seine fachlichen Kenntnisse dem Aufbau der politischen Geheimpolizei widmete, der später so bezeichnenden „Gestapo“, welche in den Jahren der Schreckensherrschaft, deren eifrigste „Todesschwadron“ wurde. Obwohl die nationalsozialistische Bewegung eine totale Politisierung der Gesellschaft verfolgte, indem sie fast alle Lebensbereiche ihrer Ideologie unterordnete, bedurfte sie der technischrationalen Mithilfe ideologisch indolenter Personen, die sich auf die angebliche Sachlichkeit vermeintlich unpolitischer Aufgaben zurückziehen durften und nur der Effizienz ihrer Tätigkeiten verpflichtet waren. Diese Doppelstrategie des Regimes lag in dessen Absicht, um nach den Turbulenzen der Weimarer Demokratie und dem Dauerstreit der Parteien wieder zu straffen Entscheidungsprozessen zurückkehren zu können und entsprach dem sehnlichsten Wunsch der Entscheidungsträger in Wirtschaft und Verwaltung. Speers „Verwunderung darüber, daß Hitler ihn nie zu einem Eintritt in die Partei aufgefordert habe, offenbart, wie wenig er diese Strategie bis zuletzt durchschaut hat.“3 Die traditionelle Trennung von öffentlicher und privater Moral und die zur nationalen Kultur gehört, stellte somit den Nationalsozialisten einen loyalen und verläßlichen Staatsapparat zur Verfügung, der somit zur „Verdinglichungsmasse“ des „Dritten Reiches“ wurde. Die Abspaltung privater Moral in eine technische Dimension, über deren Auswirkungen keine Rechenschaft mehr abgelegt werden braucht und die hierdurch zu einer öffentlichen wird, ist eine wesentliche Voraussetzung ihrer Verfügbarkeit für noch so „unmoralische“ Aufgaben und entspricht in geradezu idealer Weise den Bestrebungen totaler Herrschaftsformen, die Menschen zu verdinglichen und ihre Identität mit den Entscheidungsprozessen und deren Rollen gleichzusetzen. Eine technisch-bürokratische „Hypermoral“, die ihren eigenen Gesetzen folgt, macht es moralisch indifferenten Individuen relativ leicht, sich für jeden nur denkbaren Sachzwang, mag er auch noch so verwerflich sein, zur Verfügung zu stellen. Bereits 1933, unmittelbar nach der Machtübernahme, war erkennbar wie relativ geräuschlos die Anpassung zahlloser Menschen vonstatten ging, die ihren technischen und organisatorischen Sachverstand dem neuen Regime zur Verfügung stellten. Gerade dieses „Einschnappen“ des bürokratischen Mechanismus in die vollzugstechnischen Umsetzungen des Regimes, bildete als wesentlicher Faktor nationalsozialistischer Konsolidierungsprozesse eine Parallele zur Etablierung moderner Machtergreifungsprozesse, wie schon Max Weber in seinen Studien über Analysen und Strukturen moderner Bürokratien erkannt hatte.4 Meist unmerklich und verborgen gehen die Prozesse der Demoralisierung in den modernen sozialen Strukturen vor sich. Und ebenso unbemerkt schleichen sich solcherart Deformierungen in die Psyche einzelner Individuen ein, sobald 245

diese bereit sind, eine Trennung zwischen privater und öffentlicher Moral zu ziehen. Um übergeordneten Interessen zu dienen, auch wenn in einem subjektiven Verständnis unmoralisch erscheinen, werden Skrupel beiseite geschoben und zu Gunsten vermeintlich objektiver Sachzwänge das eigene Gewissen ausgeschaltet. Dem technischen Fortschritt wird unter spezifischen Machtinteressen ein Eigenleben jenseits aller moralischen und ethischen Bedenken zugeschrieben. Das was durch wissenschaftlichen Fortschritt möglich wird, erscheint genau so wertfrei wie die Technik selbst und die ihnen zugrunde liegenden Erfindungen. Im Verlaufe seines atemberaubenden Aufschwunges in den letzten hundert Jahren hatte der technische Fortschritt eine eigene Moral entwickelt. Nicht nur die Technik wurde zur wertfreien „Zone“ erklärt, sondern auch deren Verwendung im Zuge ideologisch vorgegebener Ziele. Und so wie es keine „bösen“ Erfindungen gibt, bleibt auch der technisch rationale Genius von moralischen Forderungen unberührt. Moralische Bedenken existieren daher im Rahmen seiner Tätigkeit nicht, da die Technik, der er sich zur Verfügung stellt, eine Macht an sich darstellt. Sie dient keiner fremden Macht, sie ist aus dem Stadium des Herrschaftsinstrumentes herausgetreten und längst selber Herrschaftsträger geworden. Die verbindlichen Wertmuster werden durch eine technizistische Unmoral, die nur ihre eigenen Zwecke verfolgt, abgelöst. Hieraus eröffnet sich für diejenigen, die ihren Dienst im Namen eines verbrecherischen Systems stellen ein Ausweg, sich von subjektiver Schuld befreit zu sehen. „Schuld“, wenn überhaupt, besteht nur darin, in diesem System gelebt und seine Tätigkeit verrichtet zu haben, oder mit anderen Worten, am falschen Ort zur falschen Zeit gelebt zu haben. Auf diesen Verschiebungsmechanismus moralischer Gleichgültigkeit, welche als Neutralität kaschiert wurde, haben sich unter anderem zahlreiche Nazirichter und Juristen nach dem Kriege herausgeredet, indem sie vom Positivismus der nationalsozialistischen Rechtsnormen überzeugt waren. Die Facetten des modernen Zeitalters im Erscheinungsbild des Nationalsozialismus traten jedoch nicht erst zu Beginn des Krieges und den darauf folgenden Vernichtungsprogrammen zu tage, sondern sie bestimmten von Anfang an das Auftreten des Regimes als totalitäre Herrschaftsform. Der Totalitarismus, Hannah Arendt zufolge, eine Erscheinung der modernen Massengesellschaft, bedarf zu seiner Etablierung der uneingeschränkten Vorherrschaft des technischen, bürokratischen und wirtschaftlichen Komplexes. Ohne diesen kann er seine Durchschlagskraft nicht entfalten und seine ideologische Substanz verbliebe statt dessen auf dem Niveau einer pseudoreligiösen Randerscheinung. Erst durch die technischen und bürokratischen Voraussetzungen wird die Ideologie zur kalten Machtentfaltung eines Systems und sichert dessen Herrschaft. Im nationalsozialistischen Verständnis von Gesellschaft und Kultur wurde programmatisch der uralte geistesgeschichtliche Widerstand gebrochen, der sich gegen eine Gleichberechtigung von Technik und Kultur wandte und das 246

letztere über das erstere stellte. Für die Nationalsozialisten bestanden zwischen beiden Ebenen keine Widersprüche, solange die kulturellen Inhalte den technischen Vernichtungsprogrammen ideologisch adaptiert waren, in dem Sinne, daß sie der Praxis der Rassenpolitik den erforderlichen Überbau lieferte. Kultur und Bildung verstanden sich unter der Herrschaft des Dritten Reiches nicht zweckfrei, nur um der Selbstverwirklichung des Individuums zu genügen, sondern als Mittel der Propaganda, die der Umsetzung der Ideologie den äußeren, populistischen Bezugsrahmen lieferte. Da sie mit der Tradition von Bildung und Kultur gebrochen hatten, verstanden sie sich als Pragmatiker des Fortschritts und der konkreten Handlung, die frei war von allem geistigen und moralischen „Ballast“ und unnützen Reflexionen. Kultur hatte ihr da nicht dreinzureden, sondern nur ihre Politik zu bekräftigen. Wenn er das Wort Kultur höre, „so entsichere er seinen Revolver“.5 In diesen Worten eines ehemaligen Freikorpskämpfers und späteren SA-Mannes spiegelte sich jene Verachtung der Kultur wider, die bezeichnend war, für den Haß auf alles Konventionelle und Bürgerliche und die aufräumen wollte mit allen abendländischen Traditionen und nur noch dem bloßen Existenzkampf huldigte. Hierzu bedurfte es nicht der kulturellen und moralischen Implikationen abendländischer Zivilisation, sondern lediglich der Mittel eines technischen Fortschrittes, deren Wirkungsweisen keinen moralischen Imperativen unterlagen und welcher nicht anders verstanden wurde, als das Instrumentarium im Dauerkampf des Stärkeren gegen die Schwächeren, in der Lesart eines vulgären Sozialdarwinismus. So wie die technischen Voraussetzungen die vergleichsweise modernen Bestandteile eines politischen Konzeptes bildeten und auch in vielen Demonstrationen des Regimes nach außen hin sichtbar wurden, waren sie außerordentlich attraktiv für jene Generation junger Männer des enttäuschten Bürgertums, die sich als Avantgarde der Moderne begriffen. Wenngleich es auch unterschiedliche Motive gab, sich dieser Bewegung anzuschließen, so waren der Bruch der Traditionen und die Ablehnung demokratischer und liberaler Lebensformen, derer man überdrüssig war, ein starker Beweggrund an die Modernität eines im Grunde archaischen Politikverständnisses zu glauben. Im weitesten Sinne gab es auch Anzeichen eines sozialpsychologisches Aufstandes gegen die Vaterbilder der damaligen Zeit. Der Nationalsozialismus als weltanschauliche Bewegung benutzte in populistischer Hinsicht den VaterSohn-Konflikt vor dem Hintergrund zusammenbrechender Traditionen. Dieser Konflikt bildete den Transmissionsriemen, welcher unredliche und verwerfliche Ideenwelten mit dem Emanzipationsanspruch der jüngeren Generation zusammenbrachte. Der Anschluß Albert Speers an den Nationalsozialismus unter ausdrücklicher Mißbilligung seines Vaters, war gewiß kein Einzelfall. Aus psychologischer Sicht ist der Nationalsozialismus von dem Psychoanalytiker Hans Müller-Braunschweig als eine Revolte gegen den symbolischen Vater in Gestalt des technisch-industriellen Komplexes der 247

Moderne gedeutet worden.6 Hierbei übersieht Müller-Braunschweig jedoch, daß es gerade diese Eigenheiten der Moderne waren, die den Aufstieg der Nationalsozialisten begünstigten und die jüngere Generation in ihren Bann zog. Gewiß bezog der Nationalsozialismus aus dem Protest der Jungen gegen die Alten ein Großteil seiner psychologischen Dynamik; jedoch ohne ein „juveniles Gegenmodell“ anzubieten, wäre die Revolte ohne weitreichenden politischen Folgen geblieben. Auf nahezu allen Feldern der politischen Selbstdarstellung war der Nationalsozialismus den etablierten Parteien der Weimarer Republik überlegen. Seine Ziele und propagandistischen Darstellungen bezogen sich auf eine Zukunft, die weit mehr als alle übrigen Parteien, populistische Antworten auf die damals drängenden Fragen der Gegenwart bereithielten, wenn sie sich auch noch so verwerflicher Mittel bedienten und ihre weltanschaulichen Prospekte mit den tradierten humanistischen Bildern der Vergangenheit nicht das Geringste zu tun hatten. Seine Mobilisierungsmasse bezog die nationalsozialistische Bewegung aus jener Schicht der aufstrebenden mittleren und höheren Angestellten, die gegen tradierte gesellschaftliche Normen und überholt geglaubte Vaterbilder zu Felde zogen. Der Nationalsozialismus sprach in seiner Programmatik nicht nur den sozial gefährdeten Mittelstand an, sondern war auch von einer unvergleichlichen Anziehungskraft auf die jüngere Generation, die mit den überkommenen Vaterbildern der Kaiserzeit nichts mehr anzufangen wußte. Indem der Nationalsozialismus eine Ideologie des Aufbruchs in eine neue, wenn auch diffuse Zukunft vertrat, welche die unbewußten und verdrängten Ängste vor diesen autoritären Vaterbildern ansprach, sahen etliche hierin die Chance zur Emanzipation. In geschickter Weise hat die Propagandamaschinerie diese Ängste verstärkt und gewissermaßen zum Aufstand der Söhne gegen ihre Väter aufgerufen. Die individual- und sozialpathologische Übereinstimmung zwischen dem Nationalsozialismus und jener Nachkriegsgeneration der Enttäuschten und Verbitterten und zugleich Rebellierenden wird von diesem Ansatzpunkt her greifbar. Ihre väterlichen Ersatzbilder fanden sie in der vergleichsweise jungen Führungspersonage der NSDAP, die anders als ihre gebrochenen Väter, voller Dynamik, Aggression und politischem Tatendrang auftraten. Im Nationalsozialismus fand daher die junge Generation in der Endphase der Weimarer Republik jene Projektionsflächen ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen, statt wie bisher, den morbiden Vorgaben einer kraftlos gewordenen Vätergeneration zu folgen. Viele dieser Generation sahen im Dritten Reich eine Chance zu beruflichem und gesellschaftlichem Aufstieg, den sie unter den sozialpolitischen Bedingungen der Weimarer Republik glaubten nicht realisieren zu können. Und wie viele dieser Zeitgenossen trieb es auch den jungen Architekten Albert Speer in unmittelbarer Nähe zu dieser Bewegung. Weniger aus ideologischen Gründen, mit den obskuren Inhalten konnte er wenig anfangen, außer daß ihn die Person Hitler während einer Redeveranstaltung in Berlin faszinierte und er 248

daraufhin in die NSDAP eintrat.7 Hitlers soziale und wirtschaftliche Zukunftsvisionen die versprachen, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, hinterließen auf den stellungslosen Speer einen tiefen Eindruck und hiervon erhoffte er sich, wie etliche andere auch, eine berufliche und soziale Perspektive. In den hohen Erwartungen, die er an die Machtübernahme Hitlers knüpfte, aber auch in der Aufbruchsstimmung und enthusiastischen Ahnungslosigkeit mit der er bis zuletzt dem Regime folgte, bis hin zu den Enttäuschungen und verdrängten Schuldanteilen und dem Gefühl einem Verbrecherregime gefolgt zu sein, verkörperte er einen technisch-rationalen Typus ohne Anzeichen eines moralischen Gewissens, in dem sich nicht wenige der Funktionsträger des Dritten Reiches wiedererkannt haben. Speers Typus des unbefangenen, technisch versierten Gefolgsmann eines verbrecherischen Systems hat in der unpolitischen Selbstverständlichkeit mit der er diese Rolle ausführte, den Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Staates vernebelt. Schon frühzeitig hat er seine Rolle aus dem politischen Zusammenhang lösen wollen und sich lediglich als unbefangenen Künstler und Technokraten gesehen. Vor allem in den Jahren seiner Spandauer Haft und die Zeit danach, hat er in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, als sei er rein zufällig in das Zentrum dieses verbrecherischen Systems um Hitler geraten. Die Rolle als apolitischer, nicht systemtypischen Funktionsträger, der entgegen allen persönlichen Bekundungen dennoch ungeheuere Macht und Einfluß im Verlaufe seiner Karriere entfalten konnte und dennoch das Erscheinungsbild einer integren Persönlichkeit abgab, hat wie kaum ein anderer, bei kritischen Beobachtern im Inneren wie auch im Ausland Zweifel an der verbrecherischen Wucht des Regimes hervorgerufen. Gerade weil er sein Wirken, mit Hartnäckigkeit von jedem politischen Verdacht frei halten ließ, war dieses außerordentlich bedeutsam für das äußere Erscheinungsbild des „Dritten Reiches“ als fortschrittliche und moderne Staatsform. Dieser lieferte er die technisch-rationale Legitimität ihrer inhumanen Zielsetzungen. Seine bombastischen Lichtdome und sinnbetäubende Inszenierungen der Reichsparteitage verschleierten die dumpfe archaische Ideologie, die sich unter all dem oberflächlichen Kulissenzauber des Regimes verbarg. Obwohl er aus einer angesehenen Mannheimer Architektenfamilie kam, hatten auch ihn die Folgen der Weltwirtschaftskrise in beruflicher Hinsicht aus der Bahn geworfen. Er entstammte einer Generation, der die Abwendung von dem grauen Einerlei der Wirklichkeit und vor der liberalen Gleichmacherei des großstädtischen Pluralismus und seiner unruhigen sozialen Realität zum Drehund Angelpunkt ihrer gesellschaftlichen Stellung wurde. Diese restaurativen Grundströmungen fanden innerhalb der breiten Jugendbewegung ihren mystisch-romantischen Niederschlag. Obgleich Speer nach eigenem Bekunden einer solchen Bewegung niemals angehörte, so ist seinen Erinnerungen zu entnehmen, daß er dennoch von deren Ideen nicht unberührt blieb. So ist zu vermuten, daß dieser unpolitische und spätromantische Zeitgeist, nicht ohne 249

Wirkung auf sein politisches Desinteresse geblieben ist. Speer entsprach in seinem apolitischen Erscheinungsbild der Selbstverliebtheit des weltabgewandten, narzißtischen Romantikers. Eines Romantikers freilich, der unverhofft zu ungeahnter Macht gekommen war. Selbst in seiner Biographie, die er während seiner Spandauer Haftzeit verfaßte, konnte der Eindruck eines vom politischen Geschehen abgewandten und gleichgültigen Melancholikers nicht verblassen. Insofern erschien seine Biographie als der Versuch einer nachträglichen Schuldabweisung und der Selbstinszenierung einer zufälligen persönlichen Tragödie eines unglücklich verstrickten Künstlers, der ins Zentrum der millionenfachen Verbrechen geriet. Übers Hitlers Judenhaß, den er schon frühzeitig bemerkte, sah er geflissentlich hinweg. Er betrachte ihn im Stile einer Art von Selbstbeschwichtigung, als eine jener nicht ernstzunehmenden Marotten, die den abrupt auftretenden Gefühlswallungen des Diktators geschuldet waren. Vermutlich verlor sich seine ansonsten scharfe Beobachtungsgabe in der Nähe seines Förderers. Die Ernsthaftigkeit solcher noch tödlich werdenden Äußerungen wollte oder konnte er nicht wahrhaben, wie auch seiner wachen Intelligenz, mit der er sich in der durchgängig ordinären Intrigenszenerie des „Hofes“ bewegte, auch die millionenfachen Vernichtungsorgien angeblich entgangen sind. Andererseits bejahte er das Regime mit seiner unmittelbaren Entschlossenheit zum kurzen Prozeß, wonach Hitlers Wort das Gesetz war.8 Von Gefühlsanfälligkeiten blieb auch er nicht verschont. Nicht nur daß er sie gut darzustellen wußte, ohne von ihnen betroffen zu sein, gelang es ihm auch, sie zu theatralischen Versatzstücken seiner Verführungskünste einzusetzen. Unzählige Ehrenfahnenveranstaltungen, Totenfeiern und die jährlich stattfindenden Reichsparteitage trugen die Handschrift seiner sinnbetäubenden Inszenierungen mit Hilfe von Lichtdomen, Fahnengalerien und flammenden Opferschalen, die dem Ganzen liturgische Aspekte verleihen sollten. Hier konnte er jene Gefühlswelten ausleben, die er persönlich nicht an sich heranließ. Speer war Verführter und Verführer zugleich. „Ich war damals mitgerissen“, gab er an, und hätte nicht gezögert, Hitler überall zu folgen. Von seinen ehemaligen Gegnern wurde er erstaunlicherweise als umwerfend menschlich beschrieben, obgleich er keinerlei Interesse am Schicksal seiner Sklavenarbeiter in der Kriegsproduktion zeigte oder gar Empathie für sie empfunden hätte. Allerdings wußte er sehr zutreffend, was „man“ fühlen mußte, um die Stellung, die er innehatte auszubauen, und sie gegen die zahlreichen Intrigen des braunen Sumpfes zu behaupten. Speer, der sich selber als unpolitischen Fachmann verstand und der das Intrigenspiel der täglichen Machtpolitik nur unzureichend beherrschte, gelang es aufgrund seiner Beobachtungsgabe, sich stets den Intrigen und Machtkämpfen seines braunen Umfeldes zu entziehen, vor denen ihn auch gelegentlich nicht die Gunst seines Förderers schützen konnte. Speer war nicht nur ein Meister der Verführung und der Herstellung von propagandistischen Kulissenwelten, sondern auch seine eigenen Gefühlswelten wußte er geschickt 250

darzustellen, ohne sich dabei in ihnen zu verlieren. Das gesamte Repertoire an Gefühlsposen und Stimmungsdarstellungen war ihm vertraut und er beherrschte es geschickt, dieses in Szene zu setzen, wenn es ihm zu seinem Vorteil gereichte. Aber er besaß keine innere Identität, die zu wahren Gefühlen fähig gewesen wäre. Gitta Sereny, die Speer während des Nürnberger Prozesses beobachten konnte, kam zu dem Schluß, daß er niemals wirklich etwas erklärt hatte, weder im Prozeß, noch in seinen Büchern oder Gesprächen, die sie mit ihm zum Zwecke ihrer Biographie über ihn führte. Sie sah in Speer einen Mann, der von seinen Fähigkeiten her nicht unmoralisch oder gar amoralisch war, sondern etwas unendlich Schlimmeres werden konnte, ein moralisch erloschener Mensch, für den Moral überhaupt keine sinnvolle Kategorie darstellte.9 Er war lediglich zur Entstellung von Gefühlen in der Lage, die er unter dem Deckmantel einer Ideologie der unbegrenzten Machbarkeit zielgerichtet einzusetzen wußte. Überpersönlichen Zielen gegenüber war er stets aufgeschlossen, und er besaß die entsprechende Verbindlichkeit, diese auch gegen Widerstände durchzusetzen, mit einem untrüglichen Spürsinn den Fallstricken zu entgehen, die ihm von Seiten seines intriganten Umfeldes ausgelegt wurden. Es verwundert daher nicht, daß er ohne parteiinterne Hausmacht sich so nachhaltig im inneren Zirkel um Hitler bis kurz vor dem Untergang behaupten konnte. Mit Hitler konnte er in einer Art künstlerischer Beeinflussung in einer Weise umgehen, die den vergleichbaren Satrapen der Nazi-Nomenklatur versagt blieb, wie ungekehrt Hitler mit Speer einen Kontakt pflegte, der gelegentlich dessen ansonsten übliche Unnahbarkeit aufhob. Joachim Fest ist der Meinung, daß er Hitlers Gefühl bewegen konnte wie sonst niemand und dies sicherlich durch ihr gemeinsames Interesse an Architektur. In dem jungen Speer sah Hitler vermutlich sein eigenes Alter ego des verhinderten Künstlers und Architekten. Immer wenn Speer mit neuen Entwürfen auftauchte, blühte Hitler auf und ließ alles stehen und selbst interne Gespräche mit seinen Vasallen wurden aus diesem Anlaß unterbrochen. Daß er jedoch mildernd auf den Diktator eingewirkt haben soll, wie Fest vermutet, 10 ist an dieser Stelle zu bezweifeln, zumal sich hiefür keine stichhaltigen Beweise finden lassen. In einer Denkschrift an Hitler, die er gegen Ende des Dritten Reiches an Hitler verfaßte, betonte er ausdrücklich das vermeintlich Unpolitische an seiner Rolle: „Die Aufgabe, die ich zu erfüllen habe, ist eine unpolitische. Ich habe mich so lange in meiner Arbeit wohlgefühlt, als meine Person und auch meine Arbeit nur nach der fachlichen Leistung gewertet wurde“.11 Für Fest stand hinter solchen Überzeugungen ein ethischer Subjektivismus, der geringschätzig auf die öffentlichen Dinge herabsah und die Moral ausschließlich als eine Sache der privaten Existenz verstand. Speer sah nur den begrenzten Kosmos seiner technizistischen und fachlichen Zwecke und überließ das Feld der Politik denjenigen, die sich darum streiten mochten. Hierbei übersah er bewußt oder unbewußt, daß seine Rolle und Aufgabe eine zutiefst politische war, ohne die der Totalitarismus des Dritten Reiches sich 251

nicht in der Weise hätte entwickeln können. Im Dritten Reich verkörperte kaum ein anderer wie er den Typus des spezialistisch verengten Experten der, ohne daß er es wahrhaben möchte, sich mitten im Zentrum der Machtentfaltung bewegte. Innerhalb der Führungsriege um Hitler gehörte Speer zu den herausragenden Personen und auf den vorderen Plätzen. Anfänglich war sein Platz eher im privaten Umfeld des Diktators zu finden und der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt. Erst seine Ernennung zum Rüstungsminister hat seine Stellung innerhalb von drei Jahren populär gemacht und ihn weit nach vorne gebracht und wie er selber vermutete, bis auf den „Zweiten Platz“ des Regimes. Seine außerordentliche Organisationsfähigkeit hat überdies dem in Wirtschafts- und Rüstungsangelegenheiten zuständigen Göring in die zeitweise Bedeutungslosigkeit versinken lassen. Inmitten der specknackigen und feisten Polittypen wie Bormann, Göring, Ley, Frank und etlichen anderen mit ihren breiten Gesäßprofilen und grobschlächtigen Physiognomien stach seine Distinguiertheit und blendende Erscheinung hervor und vermittelte den Eindruck, als habe er sich wie zufällig in diesem Sumpf minderer Charaktere verirrt. Jenes Erscheinungsbild unübersehbarer Brutalität, welches wie selbstverständlich Hitler und den meisten seines „Hofstaates“ umgab, suchte man bei ihm vergeblich. Neben den braunen und schwarzen Uniformträgern schien er der einzige Zivilist zu sein. Über all die Jahre seines Wirkens inmitten des Machtzentrums hat er sich, abseits vom politischen Geschehen, von den Intrigen und Eifersüchteleien des „Hofes“ um Hitler ferngehalten. Sein selbstbewußtes Auftreten signalisierte den Abstand, den er zu den unterwürfigen Vasallen wie Bormann, Ribbentrop, Ley und Streicher hielt und den er sichtbar nach außen demonstrierte. Historiker haben den Grund seines Hochmutes nicht ganz zu Unrecht darin gesehen, daß er wohl Hitlers „unglückliche Liebe“ war und sich diesem gegenüber mehr als alle anderen des Personage private Attitüden herausnehmen durfte. Indes ist eher anzunehmen, daß es die betonte Rückkoppelung an seine großbürgerliche Herkunft, seinen weltmännischen Geschmack und seine Eitelkeit war, aus der er wie selbstverständlich seine Ausnahmestellung herleitete. Auch vermied er, wenn immer es möglich war, Uniform zu tragen, wie die meisten der Führungsriege um Hitler. Selbst dieser, dem dies mißfiel, konnte ihn nicht davon abbringen, sich auch im äußeren, kleidungsmäßigen Erscheinungsbild von den Übrigen abzuheben. Dennoch gehörte er dazu und schloß, wenn immer es zu seinem Vorteil gereichte, Pakte und Koalitionen mit diesen verachtungswürdigen Leuten, von denen er sich nie weit genug entfernt aufhielt. Da er frei war, von jener dumpfen Aura, die fast jeder der führenden Personage um sich verbreitete und ihrer Herrschaft den zweifelhaften Glanz des „Nicht-ganz-Geheueren“ (Fest) gab, galt er für viele Zeitgenossen und selbst nach seiner Entlassung aus der 20 jährigen Haft in Spandau, als sauberer, unbestechlicher und integrer Nazi, der mit den Gemeinheiten des Regimes nur schwerlich in Verbindung 252

gebracht werden konnte. Zudem vermittelte sein nach außen hin unpolitisches Auftreten, den Eindruck eines naiven Künstlers und verführten Mitläufers. Ein Umstand, der nach dem Zusammenbruch nicht wenigen der Nazitäter als entlastender Ausweg aus ihrer eigenen Schuldverstrickung sehr gelegen kam. Speers Mischung aus Distanz und Zugehörigkeit, haben etliche, die so wie er, dem Regime bedingungslos gefolgt sind, auch zur nachträglichen Relativierung ihrer Mitschuld und Verantwortung veranlaßt. In seiner scheinbar nur sachdienlichen Hingabe, in seiner unpolitisch erscheinenden Tüchtigkeit, die unabhängig davon was sie bewirkte, immer mit einer inneren moralischen Abwesenheit zu den Zielen und Absichten des Regimes auftrat, haben sich zahlreiche Nazitäter mit Vorliebe wiedererkannt. Wenn bei den ewig Gestrigen und den heimlichen und unheimlichen posthistorischen Verehrern des „Dritten Reiches“ die Rede auf die sogenannten „guten Taten“ des Nationalsozialismus kam und gelegentlich noch kommt: die Autobahnen, die immer wieder exemplarisch zitierte Arbeitsbeschaffung, die angebliche Sicherheit auf Deutschlands Straßen und Plätzen zu nächtlicher Stunde, die bald redensartlich werdende „vorbildliche“ Familienpolitik, dann taucht, wie zur Bekräftigung der „guten Seiten“ des öfteren auch der Name Albert Speer auf. In ihm sahen sie den Garanten jener posthistorischen Legendenbildung, daß es inmitten eines verbrecherischen Systems auch noch den „guten“ Menschen gab, der zudem angesichts der Untaten, obwohl in unmittelbarer Nähe des Machtzentrums, ahnungslos sein konnte. Speers Betonung seiner rein technischen Aufgaben als Rüstungsminister, sowie früheren künstlerischen Tätigkeit in den Jahren als Reichsbaumeister und Lieblingsarchitekt Hitlers haben indes die Legende eines führenden Funktionärs und Machtträgers des Dritten Reiches gewebt, der zwar am Tische der Macht saß, aber von deren Speisen unberührt blieb. In dieser Hinsicht war Speers Auftreten in der Nachkriegsgeschichte, bis hin zu der geschickten Vermarktung seiner Memoiren, ohne Beispiel. Wie kaum ein anderer hat er diesen Typus des spezialistisch verengten Menschen und dessen technokratische Amoral verkörpert und über weite Strecken aufrechterhalten können und dem System eine zweifelhafte Attraktivität für völlig unpolitische Naturen nachgeliefert. Darin, daß er – bewußt oder unbewußt – einen negativen Beitrag zur Unfähigkeit kollektiver Trauerarbeit in den Jahren der frühen Bundesrepublik geleistet hat, besteht seine zweite Schuld, nämlich die der fehlenden Einsicht und Reflexionsunfähigkeit. Noch vor dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß und späterhin in seinen Erinnerungen und Spandauer Tagebücher hat er sich unermüdlich auf seine „unpolitischen“ Aufgaben berufen, in denen er lediglich wirtschaftliche und technische Implikationen sehen wollte. Seinem Bewußtsein sind hingegen die Verfolgung von Minderheiten, Konzentrationslager, Versklavung und Ausbeutung von Fremdarbeitern bis zu deren Vernichtung scheinbar entgangen. Diese Perspektiven von unermeßlichem menschlichem Leid blieben seinem 253

technokratischen eindimensionalen Charakter verschlossen. In der Trennung von privater und öffentlicher Moral wurde Speers Verankerung in einem großbürgerlichen Herkunftsmilieu nur allzu deutlich. Auf den Vorhalt des Gerichts, daß ihm als gebildeten Menschen der völkerrechtswidrige Charakter der Fremdarbeiterverschleppung nicht aufgegangen sei, erwiderte er lapidar, daß er als Architekt und Techniker seine Rechtskenntnisse nur aus Tageszeitungen entnehmen könne. Die von ihm vor Gericht vertretene prinzipielle Gewaltablehnung resultierte eher aus der rationalen Planung komplexer Arbeitsabläufe, bei denen Terror sich nur in störender Weise auf die ständigen Leistungssteigerungen ausgewirkt hätte, als denn aus echten ethischen und moralischen Bedenken, die aus einer tiefen Gewissensbildung hervorgegangen wären. Albert Speer war in dieser Hinsicht ein typischer Vertreter in den Traditionen des deutschen Bildungsbürgertums. Seine technokratische Pflichterfüllung, die weit über das Übliche und Notwendige hinausging verband sich mit einer gewissen Realitätsferne, von der noch zu sprechen sein wird, bei gleichzeitiger Politikenthaltung. Über seine Person und seine Rolle im Dritten Reich und die steten Ambivalenzen seiner Gratwanderung zwischen Opportunismus und Distanz zu den schmutzigen „Tagesgeschäften“ des Regimes, erschließt sich ein tieferes Verständnis des Nationalsozialismus und seiner Breitenwirkung in der Öffentlichkeit, wie kaum bei einem anderen der engsten Führungsriege um den Hitler. Seine bombastischen Entwürfe, in den Jahren als Hitlers Lieblingsarchitekt, löschten das Individuum als Subjekt durch die Gleichförmigkeit der unzähligen Nachtweihfeiern, die er in Szene setzte, und die überdimensionierten Prachtbauten einer faschistischen Architektur aus. In Massenveranstaltungen und angesichts dieser menschenfeindlichen Architektur reduzierten sich die Menschen zu Objekten staatlicher Willkür und bedingungsloser Herrschaft, welche dem Regime als Staffage und zugleich als Verfügungsmasse künftiger Welteroberungspläne dienen sollten. Speers Wirken diente, bei aller sich selbst einredenden Politikfremdheit dem Hitlerstaat zur Aufrechterhaltung seiner Macht und zur Durchsetzung von Terror und Gewalt. In ihm nur den weltfremden werksversessenen Künstler zu sehen, den Doppelgänger Adrian Leverkühn, hieße seine kritische Wachsamkeit und Intelligenz den Fallstricken gegenüber, die innerhalb des Machtzentrums um ihn herum ausgebreitet waren, zu übersehen. Er war klug genug, eine gewisse Distanz zu den Organisationen des Terrors zu halten. So weigerte er sich hartnäckig, in Kenntnis der vorhandenen Verbrechen der SS, jemals einen Ehrenrang dieser Organisation anzunehmen, um sich somit den Aufdringlichkeiten des Systems zu entziehen. Dennoch bewegte er sich in einer für ihn „idealen Welt“, wie er noch gegen Ende des Krieges bemerkte. Am meisten war Speer von sich selbst überzeugt und insofern unfähig, sich und seine Rolle im Dritten Reich auf ihren wesentlichen moralischen Kern hin zu reflektieren. In den Verhören des Nürnberger Prozesses gegen die 254

Hauptangeklagten war er der einzige, welcher eine Mitverantwortung für die Naziverbrechen übernahm, obgleich er stets betonte, weder an ihnen beteiligt gewesen, noch von ihnen gewußt zu haben. Seine freiwillig übernommene Schuldrolle, die er gegen den entschiedenen Widerstand der übrigen Angeklagten, vor allem gegen Görings heftige Ausfälle, zur Schau stellte, sah er einzig und allein in der Tatsache begründet, Mitglied dieser Regierung gewesen zu sein. Mit anderen Worten, das Schicksal hatte ihn zur unrechten Zeit am falschen Platz gestellt. In Spandau schrieb er später, dieses formelle Eingeständnis der Verantwortung entwickelte sich erst zur persönlichen Schuld, als er während des Prozesses die Zeugenaussagen über den millionenfachen Mord an den Juden erfuhr. Sicherlich von Speers Gesamtschuldbekenntnis nicht ganz unbeeindruckt schrieb Jahrzehnte später die New York Times in ihrem Nachruf von Speers außerordentlicher „Menschlichkeit“ inmitten eines unmenschlichen Systems. Augenscheinlich war auch sie zum posthumen Verehrungsopfer seiner Begabung zur öffentlichen Täuschung geworden. Für Alexander Mitscherlich war Speers Bekenntnis der Anfang seiner „Lebenslüge“, an die er unverdrossen bis an sein Lebensende arbeitete. Unabhängig davon, ob er wirklich von all den Verbrechen gewußt hat – und historische Fakten sprechen dafür – und wie weit entfernt er von diesen systematischen morden gewesen sein mag, trifft ihn insofern persönliche Mitverantwortung und Schuld, da er nicht nur seine Arbeit in unmittelbarer Nähe des politischen Ausgangszentrums fortsetzte, sondern beispielsweise für die „Entjudung“ der Wohnungen für 40000 Juden in Berlin verantwortlich zeichnete, die sodann ihrer Vernichtung in den Konzentrationslagern des Ostens zugeführt wurden. In seinen Erinnerungen schreibt er mit aristokratischer Distanziertheit von Gefühlen, die man eigentlich zu besitzen hat, wenn man in solchen Situationen hineingestellt ist. Aber bei aller Wortgewandtheit und sprachlichen Ausflüchten wird deutlich, daß er diese Gefühle nicht besaß und lediglich imstande war, über sie in abstrakter Weise zu reflektieren. Sein vorgetäuschtes Reflexionsvermögen blieb dem Wesentlichen gegenüber verschlossen. Seinerzeit, vor Drucklegung seiner Autobiographien Erinnerungen und der Spandauer Tagebücher, waren Joachim C. Fest und der Verleger Jobst Wolf Siedler seine „vernehmenden Lektoren“, wie sie sich selber bezeichneten. Trotz intensiver Insistierung auf den Kern Speerscher Gefühlswelten konnten sie ihm nichts Endgültiges entlocken. Sie scheiterten an Speers unterkühlten Ausflüchten und beinahe zwanghaften Rationalisierungen. Speer war außerstande, mit den Gefühlen zu leben und sie als seine eigenen Schattenanteile anzuerkennen. Deren Sinn und moralische Konsequenzen waren ihm bewußt. Aber er wich der widerspruchsvollen Spannung aus, in der er erkannt hätte, wie groß sein Identitätsbruch war, der darin bestand, Dinge zu organisieren und die Augen davor zu verschließen angesichts dessen, was an Leiden und Elend hierdurch ausgelöst wurde. Seine einzige Ausrede über die 255

furchtbare Situation seiner Zwangsarbeiter im Mittelbau Dora war, daß er meinte, sie hätten sich im Gegensatz zu den KZ-Häftlingen ernährungsmäßig besser gestanden. Ihm mangelte es offensichtlich an seiner Empfindung für die Widersprüche zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte und aus humanitären Gründen nicht zu geschehen hat. Über diesen moralischen Widerspruch setzte sich Speer, gleichsam in der Attitüde eines technizistischen Managers des unbedingt Machbaren skrupellos hinweg. Hinsichtlich seiner lektorischen „Vernehmungen“ bekannte Fest später: „Die Gespräche mit Speer handeln vom Rätsel seines Lebens. In den Widersprüchen, die es begleiten und schließlich ganz und gar beherrschten, hat Speer selber sich so ausweglos verfangen, daß er im Fortgang der Zeit, wie mir zunehmend deutlicher zu Bewußtsein kam, immer weniger irgendeine halbwegs überzeugende Antwort darauf hatte. Am Ende wurde er sich selbst zum größten Rätsel“.12 Eines dieser Rätsel war, wie ein Mensch mit derartiger sozialer und familiärer Herkunft und den moralischen Maßstäben seiner großbürgerlichen Erziehung, einer dermaßen inhumanen Herrschaft verfallen und sich in deren unmittelbaren Machtzentrum behaupten konnte. Dieses Rätsel bezieht sich ausschließlich auf die Persönlichkeit Speers als bürgerliches Subjekt, welches von seiner Intelligenz her jederzeit über ein moralisches und ethisches Repertoire verfügen müßte, solches zu durchschauen. Aber hierin liegt der eigentliche Grund seines widersprüchlichen Charakters, der die kollektiven Verwirrtheiten jener Epoche widerspiegelten. Eben weil dieses Bürgertum in moralischer Hinsicht durch die Errungenschaften der Moderne anfällig für eine zweckrationale Verwendung verschiedenster Funktionalitäten geworden war und sich jederzeit in die Dienste eines autoritären Systems stellte, verschloß sich diesem jener Widerspruch und hiervon blieb auch Speer nicht verschont. In Alles was ich weiß 13 wollte er in seinen Erinnerungen seine Aussagen vor dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß zur Sprache bringen. Die inneren und widersprüchlichen Antriebskräfte blieben ihm anscheinend ein Rätsel – hierüber wollte oder konnte er nichts sagen. Wenn er etwas aussagte, so waren seine Eingeständnisse auf eine merkwürdige Art pflichtschuldig und seelenlos; sie schienen wie auswendig gelernt und ließen jegliche Authentizität vermissen. Als Ausrede seines Unbeteiligtseins an den eigenen emotionalen Arretierungen gab er an, kein Mensch könne über so viele Jahre hin immer nur die eigene Schuld beteuern und dabei aufrichtig wirken.14 In Wirklichkeit hatte er zu keinem Zeitpunkt seine eigene Schuld erkannt oder gar beteuert, sondern, das was er zu sagen wußte, war lediglich Ausdruck seiner unablässigen Fluchten, um der eigenen Identität nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Albert Speers Biographien sind daher ein treffendes Beispiel der Selbstdarstellung eines Menschen, der weiß, was zur rechten Zeit und Gelegenheit zu fühlen ist, aber in der eigenen Wirklichkeit nichts fühlt, außer seinen Narzißmus. Die jahrelange Identifikation mit einem verbrecherischen System, deren Zielvorstellungen er in konkrete Projekte umsetzte, die stromlinienförmige 256

Anpassung an die Erfordernisse des Zeitgeistes brachten Beträchtliches an Destruktivität unter der glatten und verbindlich erscheinenden Fassade eines eleganten Technokraten zum Vorschein. Speer entsprach daher in kongenialer Weise dem Typus des erfolgreichen und rational handelnden Organisators administrativer und technisch industrieller Produktionsabläufe. Einem unpersönlichen Ziel ergeben, genügte er dem modernen Erscheinungsbild des Nationalsozialismus, welches in seinen konkreten praktischen Auswirkungen weit bedeutsamer für die Ziele des Regimes war, als die verquere Pseudoreligiösität des Himmlerschen Urgermanismus und dem Humbug seiner Thingkultur mit ihren dumpf wabernden Blut- und Bodenverehrungskulten. In gewissem Sinn gehörte er der Kaste von apolitischen Fachleuten an, die bedenkenlos ihr Wissen dem Regime jederzeit zur Verfügung stellten. Auf diese Weise hat er dem Machteroberungskurs Hitlers den Weg geebnet. Ohne ihn wäre die technische und zeitweise militärische Durchschlagskraft des Regimes nicht möglich gewesen. Als Rüstungsminister stellte er die Rüstungsindustrie auf die breite wirtschaftliche Ebene einer allumfassenden Kriegsproduktion und unterstützte damit den von Goebbels 1944 propagierten „totalen Krieg“. In den Augen des englischen Historikers Hugh Trever-Roper waren die späteren Rechtfertigungsbemühungen Speers auch ein Indiz für die unpolitische Haltung Deutschlands nach dem Ende der Hitlerherrschaft. Für ihn ist Speer die repräsentative Erscheinung für dieses System totaler Herrschaft, da kaum ein anderer in herausragender Position wie der seinigen, so unverdrossen loyal und gedankenlos dem Regime gedient hat, obgleich er sich in ideologischer Hinsicht nicht involviert sah. Für Sebastian Haffner war Speer keiner der auffälligen pittoresken Nationalsozialisten gewesen, wie etwa Göring, Himmler oder Goebbels. Jedoch verband sich seine Person mit der eines unersetzlichen Managers, „eines Typus, der in steigendem Maße in allen kriegsführenden Staaten wichtig wird: der reine Techniker [...] der kein anderes Ziel kennt, als seinen Weg in der Welt zu machen [...] das Fehlen von psychologischem und seelischem Ballast und die Ungezwungenheit, mit welcher er die erschreckende Maschinerie unseres Zeitalters handhabt“, läßt ihn und die jungen Männer seines Naturells „äußerst weit gehen [...] die Himmler und Hitler mögen wir loswerden. Aber die Speers, was immer im einzelnen mit ihnen geschieht, werden lange mit uns sein“.15 Nicht nur Totalitarismen benötigen diesen Typus, sondern sie werden, je technischer und administrativer die Abläufe moderner Verwaltungs- und Wirtschaftssysteme werden, unverzichtbar für jedes politische System. Und dies ist das, in moralischer Hinsicht, Ernüchternde an der Zweckrationalität arbeitsteiliger Abläufe und Machtstrukturen. Speer, den Haffner als einen kleinen glattgesichtigen Techniker der Macht beschreibt, verkörperte nicht nur den Prototyp des „Aufstiegs der Angestellten“ im Dritten Reich, sondern sein moralisch indolenter Charakter ist in den heutigen 257

postmodernen Strukturen wirtschaftlicher Macht und politischer Herrschaft mehr als denn je gefragt. Trotz seiner blendenden Erscheinung war Speer ein amoralischer Mensch mit einer angepaßten und „verbogenen“ Identität. Seine Angewohnheit, auf alle in der Umgebung Hitlers voller arroganter Verachtung herabzusehen, zeigt die Ambivalenz seiner sozialen und moralischen Attitüden. Sehr wohl wußte er um die Primitivität und den derb-brutalen Charakter der braunen Paladine, die in nächster Nähe Hitler umschwärmten. Schon von seiner sozialen und bildungsmäßigen Herkunft fühlte er sich dieser lakaienhaften Funktionärsclique weit überlegen, was ihn aber nicht daran hinderte, sich in deren Verstrickungen und politischen Machenschaften einzulassen und mit ihnen gelegentlich zu paktieren. An ihren unterwürfigen Huldigungsritualen und „postpubertärem“ Ergebenheitsverhalten mochte er sich nicht beteiligen. Schließlich war er der einzige, der mit Hitler, aufgrund der homoerotischen Zuneigung, die ihm widerfuhr, auf annähernd gleicher Ebene verkehren durfte.16 Wie sehr im gruppendynamischen Ergebenheitstheater um Hitler eine Ausnahmerolle spielte, schilderte der Schriftsteller Günther Weisenborn, der Mitte der dreißiger Jahre Hitler mit einigen bevorzugten Paladinen erlebte und dabei Speers Unnahbarkeit und herausgehobene Stellung beobachtete: „Es war ein sonderbares Schauspiel. Wenn der Mensch, den sie Führer nannten, und der heute abend das schlichte Weltkind mit den gutartigen Augen spielte [...] einige Worte sprach, so beugten sich alle umsitzenden Paladine ergeben vor [...]. Es war, als habe ein warmer Wind der Ergebenheit die stolzen Halme lautlos gebogen, so daß ich nur noch die gefalteten Specknacken unserer Reichsführung zu Gesicht bekam [...]. Der dickgesichtige Hitler nahm die Ergebenheitswelle auf, und er seinerseits beugte sich diskret jenem Speer entgegen, der rechts von ihm saß und gelegentlich einige artige gelangweilte Worte sprach. Was an Huldigung dem Hitler entgegenwogte, leitete er an Speer weiter, es schien Speer eine Art bewunderter Geliebter zu sein, und er war es, der die Huldigungen kassierte, als seien sie Kleingeld“. 17 Selbst als Speer das wahre Gesicht nationalsozialistischer Amoralität und Gewaltverherrlichung in praxi entgegentrat, bei passender Gelegenheit und gegen Ende zunehmend durch Hitlers unverhohlenen Rassismus und Zerstörungswahn, welcher im Herbst 1944 durch den Befehl der „Verbrannten Erde“, dem sogenannten „Nero-Befehl“ offenkundig wurde, vermochte er sich nicht aus dem braunen Sumpf zu lösen. Erst bei seiner letzten Begegnung mit Hitler im April 1945 in der gespenstischen Szenerie des untergehenden Führerbunkers wurde ihm allmählich klar, auf welche Person er sich da eingelassen hatte, die ein „Unkönig Midas“ war, der alles, was er je berührte „nicht in Gold, sondern in Kadaver verwandelte“.18 Ohne jemals von der Mordlust seiner braunen Weggefährten besessen zu sein, verkörperte er die Doppelgesichtigkeit des Dritten Reiches mit dessen Modernität, deren scheinbarer Gegensatz sich in den obskuren, verschrobenen 258

Zügen der herrschenden Ideologie aufhob, wo unentwegt von Völkerfraß, germanischen Blutwällen und völkisch-rassischer Weltheilung die Rede war. Speers selbstgewählte Isolation seines intelligiblen Charakters, fernab von jeglichem Skrupel, der normalerweise das moralische Gewissen in die Waagschale wirft, war eine der entscheidenden Voraussetzungen seiner uneingeschränkten Dienstbarkeit, mit der er den Herrschaftsbestrebungen des Regimes sehr weit entgegenkam. Wie bei keinem anderen der Funktionseliten trifft auf ihn der Phänotypus eines technisch verengten Menschen zu. Dabei war er keineswegs dumm oder gar zu einfältig, um Gewissensqualen nicht zu bemerken. Speer war sensibel und intelligent genug; allerdings profitierte er zu seiner Selbstrechtfertigung von der gemeinhin allen Künstlern und Technikern zugestandenen Gleichgültigkeit gegenüber den gesellschaftlichen und moralischen Folgen ihres Wirkens, so daß ihm alle Anfechtungen aus politischem Ursprung erspart blieben. Gegen Ende der Hitlerherrschaft, als er die Ausweglosigkeit seiner selbstverannten apolitischen Haltung erkannte, halfen auch die verzweifelten Denkschriften nicht, den Konsequenzen seiner Politik auszuweichen, die er an vorderster Linie mitzuverantworten hatte. Der englische Historiker Hugh R. Trever-Roper hat ihn, nicht zuletzt wegen der verborgenen Destruktivität seiner unstimmigen Identität, als den wahren Verbrecher Nazideutschlands bezeichnet, denn „er vertrat, stärker als irgendein anderer, jene verhängnisvolle Philosophie, die Deutschland verheert und die Welt beinahe in den Untergang getrieben hat“.19 Er sah in ihm denjenigen aus nächster Umgebung Hitlers, der die nationalsozialistische „Revolution“, welche alle politischen und sozialen Verhältnisse in Deutschland umgestürzt hatte, um die industrielle Revolution ergänzte, und damit den totalen Führerstaat erst vollendete. Nicht ohne Stolz vermerkte Speer als Rüstungsminister, daß nunmehr „die gesamte Produktionskraft des Großdeutschen Reiches [...] von einer einzigen Zentralstelle eingesetzt und gelenkt“ 20 wird. 1942 wurde Speer Rüstungsminister und stellt sogleich große Teile der Industrie auf Kriegsproduktion um. Der Krieg, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits in einem hoffnungslosen Zustand befand, wurde in erster Linie durch Speers Management der Rüstungsproduktion um etliches verlängert. Bei seinen Vernehmungen durch die Alliierten auf Schloß Kransberg im Taunus und vor Gericht in Nürnberg kehrte Speer immer wieder zum dem Problem persönlicher Verantwortung zurück. Speers löste sein eigenes moralisches Dilemma mit folgenden Worten: „Es gibt meiner Ansicht nach zwei Verantwortungen, die eine Verantwortung ist für den eigenen Sektor, dafür ist man selbstverständlich voll verantwortlich. Darüberhinaus bin ich persönlich der Meinung, daß es für ganz entscheidende Dinge eine Gesamtverantwortung gibt und geben muß, soweit man einer der Führenden ist, denn wer soll denn sonst die Verantwortung für den Ablauf der Geschehnisse tragen [...? ]“21 Erst spät hat er sich wie einer merkwürdigen Gebanntheit, in einem Akt später Verrechnung zu seiner selbstverständlichen Pflicht bekannt, 259

der Verantwortung dessen, was zu verantworten war, nicht weiter auszuweichen. Wie tief er sich in die Machenschaften des Dritten Reiches eingelassen hatte, sowohl unreflektiert als auch fatalistisch anmutend, wird in einem Dialog mit dem amerikanischen Verhöroffizier Captain Burt Klein deutlich. Speer schilderte emotionslos und mit jener ihm eigenen Distinguiertheit die Machtverhältnisse des Regimes, seine Beziehung zu Hitler und die Besonderheiten, die sich hieraus für seine eigene Rolle ergaben, als ihn der Offizier unterbrach: „Herr Speer, ich verstehe Sie nicht. Sie sagen uns, Sie hätten schon Jahre gewußt, daß der Krieg für Deutschland verloren war. Jahrelang sagen Sie, hätten Sie die schrecklichen Machenschaften dieser Gangster in Hitlers und ihrer Umgebung mit angesehen. Die persönlichen Ziele dieser Männer waren die von Hyänen, ihre Methoden die von Mördern, ihre Moral die der Gosse. Sie wußten das alles und planten mit diesen Leuten zusammen und unterstützten sie mit aller Kraft. Wie können Sie das erklären? Wie können Sie das rechtfertigen? Wie ertragen Sie es, mit sich selbst zu leben?“.22 Zunächst schwieg Speer betreten, nach einer Weile meinte er, der Captain verstehe nichts von dem Charisma eines Mannes wie Hitler, er begreife auch nichts vom Leben in einer Diktatur, der allgegenwärtigen Angst und von dem Spiel mit der Gefahr, das dazu gehöre. Da war sie wieder, die stete Flucht, der eigenen Wahrheit ins Gesicht zu sehen, mit jener verengten und auf die „technizistische Subjektivität“ reduzierten Moral des Amoralischen, die fest treffenderweise als „technizistische Unmoral“ bezeichnet hat. Speer sah indes seine Rolle als Dirigent der nationalsozialistischen Technokratie weit weg von jeglicher Politik des Dritten Reiches. 23 In der Person Albert Speers spiegelte sich mehr als bei allen anderen NaziGrößen der Prototyp des „nichtwissenden“ und „nichtwissenwollenden“ unpolitischen deutschen Bildungsbürger wider, der sich allenfalls als taktisch berechnender und beredter Konstrukteur seiner eigenen Karriere politisch in Szene zu setzen wußte. Seine apolitische und auf das Technische verengte Haltung diente zugleich der subjektiven Begründung, ohne weiteres Dinge zu tun, deren Tragweite sowohl in politischer als auch in moralischer Hinsicht in ihren Folgen außerhalb seiner persönlichen Zuständigkeit fiel. Daß er somit den verbrecherischen Absichten des Regimes uneingeschränkt diente, konnte oder wollte er nicht nachvollziehen. Hierdurch sah er sich von seinem technizistisch verengten Moralverständnis in jeglicher Hinsicht entlastet; deshalb war er auch zutiefst überrascht, als er in einer Reihe mit Jodl, Heß, Rippentrop, Göring, Keitel und sechzehn anderen der braunen Nomenklatur als einer der Hauptkriegsverbrecher zur Verantwortung gezogen wurde. Gerade wegen seiner nach außen hin betont unpolitischen Einstellung der Reichsführung und ihrer Politik gegenüber war er ein idealer Funktionsträger, der immer und überall zu verwenden war. Er selbst hat diese moralische Nische als Flucht vor der Wirklichkeit, wohl in naiver Verkennung der Situation nach der Kapitulation, für sich in Anspruch genommen. So waren im Mai 1945 seine 260

Phantasien diesbezüglich so weit gediehen, daß er allen Ernstes davon ausging, die Alliierten würden ihn bei der Neugestaltung Deutschlands einbeziehen. Auch in diesen Tagträumen ließ er sich von seiner politischen und moralischen Abstinenz leiten und übersah die schwere Hypothek, die er infolge seiner Tätigkeiten im Dritten Reich angehäuft hatte. Jobst Wolf Siedler bezeichnete ihn als den Typus des „idealistischen Deutschen“, bar jedweder moralischen Verantwortung. Inmitten der braunen Satrapen und in Gemeinschaft unzähliger Täter stand er indes mit solcher Charakterstaffage ausgestattet, nicht alleine. Speer stellte, ebenso wie zahlreiche subalterne Befehlsempfänger, sein Wissen und Können in den Dienst der Hitlerherrschaft. Darin unterschied er sich in keiner Weise von dem Millionenheer der Täter, Helfershelfer und engagierten Mitläufern des Systems. Waren die „termitenartigen“ Massentäter für die Durchführung der Mordaktionen ihrem Wesen nach ersetzbar durch andere, willige Helfer, so war Speers hervorgehobene Rolle für die technischbürokratische Etablierung des wirtschaftlich-militärischen Industriekomplexes im Hinblick auf die außenpolitischen Absichten des Regimes unverzichtbar. Das geräuschlose Einschnappen in den bürokratischen Mechanismus , welches sich in den staatlichen Institutionen auf fast allen Ebenen vollzog, beruhte psychologisch betrachtet, auf der Einebnung der individuellen Ethik des Gewissens zugunsten einer staatlich vorgegebenen Hypermoral. In dieser Form vulgärer Gleichschaltung des subjektiven und zugleich des kollektiven Gewissens, war das Egalitätsprinzip der nationalsozialistischen Bewegung unschwer zu erkennen. Hierin kamen endlich all diejenigen verblendeten und inhumanen Formationen zum Tragen, welches die sozialdarwinistischen und völkisch-rassischen Theorien über die Institutionen von Bildung und Erziehung lange genug über Generationen innerhalb des gesellschaftlichen Kontextes vorbereitet hatten. Die nationalsozialistische Bewegung, die fälschlicherweise sich selbst als Revolution bezeichnete, verstand sich, neben ihren eher vernebelnden Phraseologien einer egalitären Volksgemeinschaft, in allererster Linie als eine „Kultur“ des Nihilismus, in der alle bisher gültigen Werte in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Die Volksgemeinschaft wurde hingegen auf die Moral der Gosse eingeschworen, wie der Verhöroffizier Burt Klein treffenderweise bemerkte. Dazu gehörte wie selbstverständlich die bedingungslose Aufkündigung des individuellen Gewissens zugunsten eines kollektiven Kadavergehorsams gegenüber „Führer“ und „Volksgemeinschaft“. Die nahezu vollständige Gleichschaltung der Funktionseliten in den Staatsapparaten war das Ergebnis der konsequenten Umsetzung des Herrschaftsanspruches der hitlerschen Politik im Inneren wie in ihren außenpolitischen Zielen. Rechtsstaatliche Prinzipien wurden weitestgehend aufgekündigt und die technologischen und administrativen Abläufe in den Institutionen dem Pflichtgehorsam der Volksgemeinschaft im Führerstaat untergeordnet. In dieser radikalen Egalisierung von individuellen und kollektiven Interessen, die in Wirklichkeit ideologisch politische Interessen des 261

Machtapparates waren, lag die Gewähr dafür, daß die staatlichen Institutionen unter den Postulaten von absolutem Befehl und Gehorsam, Pflichterfüllung bei gleichzeitiger Eliminierung von Moral und Anstand bis zuletzt reibungslos funktionieren konnte. Einzig der von Speer organisierte Boykott gegen den „Nero-Befehl“ darf als nennenswerter Widerstand führender Funktionseliten gegen Hitlers Befehle in der Schlußphase des Dritten Reiches bezeichnet werden. Hier ist allerdings auch nicht der Verdacht von der Hand zu weisen, daß dies nicht ohne Eigennutz von Seiten Speers geschah, träumte er doch bereits davon, am Wiederaufbau der zertrümmerten Nation mitwirken zu dürfen. Wie dem auch sei, aus historischer Sicht ist dies die einzige Aufkündigung eines strikten Führerbefehls. Erst spät, sehr spät kam sie. Speer versagte Hitler die Gefolgschaft und suchte zu retten, was noch zu retten war. Deshalb wurde er am 23. April 1945 am Vorabend des endgültigen Zusammenbruchs im Führerbunker bei Hitler vorstellig. Da Hitler stur blieb und sich auch ansonsten unmöglich verhielt, nahm Speer im letzten Moment die Sache selber in die Hand, nachdem er bereits Wochen vorher die Ausführung des Befehls weitgehend verhindern konnte. Dies wirft im großen und ganzen ein etwas milderes Licht auf seine Person, zumindest in den letzten Kriegsmonaten, als er immer mehr erkannte, auf welch verderblichen „faustischen Pakt“ er sich in all den Jahren eingelassen hatte. Dennoch verschleiern seine moralischen Ausflüchte, von denen er sich in den Jahren nach dem Krieg nie hat befreien können, seine tatsächliche Bedeutung und Rolle an der Seite Hitlers. In seinen Erinnerungen zeichnet er unverdrossen ein Selbstbild, das glauben macht, daß er von all dem, was rings um ihn herum geschah, nichts gewußt habe. Inmitten der Schar brauner Paladine des sogenannten Familienkreises in der Führerresidenz auf dem Obersalzberg war er von sich selbst überzeugt, seine angeblich weiße Weste von den Schmutzflecken nationalsozialistischer Alltagspolitik rein zu halten. Aber letztlich gibt es keine Moral in der Unmoral eines Umfeldes, auf das man sich eingelassen hat. So wenig wie es ein richtiges Bewußtsein im falschen Sein gibt, so wenig vermag man sich als Moralist zu behaupten, wenn die Dinge, welche man tut, zutiefst unmoralisch sind. Ihm ist unbewußt geblieben, wie sehr seine technizistische Amoralität ihn unmerklich korrumpierte. Unversehens geriet er immer mehr in den Sog der Hofgesellschaft um Hitler und Bormann. Seine erstaunliche Vorzugsstellung beruhte sicherlich auf eine homoerotische Bindung Hitlers zu ihm, die aber im Verborgenen blieb. Mitunter wurde sie von seinen Mitarbeitern wahrgenommen, sie nannten Ihren Chef Hitlers „unglückliche Liebe“24 und bemerkten, daß beim Führer Fröhlichkeit und glückliche Stimmung immer dann aufkam, wenn sein Liebling in seiner Nähe weilte. Später hat sich Speer darüber beklagt, daß Hitler seine Wertmaßstäbe und sein Gefühlsleben korrumpiert habe. Dennoch bleibt die Frage offen, ob beides nicht schon zu dem frühen Zeitpunkt, als Hitler ihn zu seinem engen 262

Mitarbeiter ernannte, in dem Maße korrumpiert war, um bedenkenlos alle moralischen Skrupel über Bord zu werfen und gleichsam, ähnlich dem Pakt zwischen Faust und Mephisto, sich dieser dunklen Macht zu verschreiben. Auch hier gibt er sich der geschickten Selbsttäuschung und Verschleierung seiner wahren Rolle hin und entwirft das Selbstbild eines arglos Verführten. Inzwischen ist dies anhand neuerer historischer Forschungen gründlich widerlegt worden. Selbst der renommierte Publizist und Speer-Biograph Joachim Fest mußte gar zugeben, von ihm an der „Nase herumgedreht“ worden zu sein.25 Albert Speer gehörte zu der Generation junger Männer, die in der Zeit von 1900 bis 1910 geboren wurden. Sie hatten, teils noch als Kinder, den Ersten Weltkrieg, das Scheitern der Revolution von 1918/1919 und als Jugendliche die entbehrungsreiche Zeit der Inflation 1923 erlebt. Ihre Vätergeneration war durch die Kriegserlebnisse und extreme politische Wirren in ihrer nationalen Identität gebrochen und sah sich außerstande, noch etwas Wesentliches zur gesellschaftspolitischen Entwicklung jener Nachkriegsjahre beizusteuern. Die junge Generation hingegen, die den Krieg nicht als Realität erlebt hatte, sah in ihm ein einzigartiges „Sportereignis“.26 Sie konnten Politik und die Spielregeln der Gesellschaft nie als etwas anderes begreifen, als einen fortwährenden Kampf von äußerster Brutalität, wobei das Starke über das Schwache obsiegt. Was ihnen fehlte, war „jenes Talent zum Privatleben und für privates Glück“,27 was ohnehin bei den Deutschen, auch in guten Zeiten, weitaus weniger entwickelt ist, als bei anderen Völkern; Liebesfähigkeit, Bescheidenheit und Liebe zum Detail, Empathie und Sinn für die Freuden der Zivilisation. Hierüber konnte diese Generation kaum verfügen, da ihnen jeglicher Bezug zu Werten und Traditionen fehlte. Ihre Identität verstanden sie antibürgerlich mit alldem, was dazugehörte und von ihnen abgelehnt wurde, wie beispielsweise Religion, Kunst, Familiensinn, Kreativität, Redlichkeit, Verantwortungsgefühl, gute Manieren und Erziehung zur Menschlichkeit; kurzum alles dasjenige, was im Vorlaufe des historischen Kulturprozesses als unabdingbare Grundlagen zivilisierte Gesellschaften erworben wurde. Nur vor diesem nihilistischen Hintergrund war es möglich, die Familie in ihrem humanen Kern zu zerstören, und sie als Institution zur Sicherung „erbreinen“ Nachwuchses zu degradieren. Daneben nahm sich die Absage allen Denkens und statt dessen der chronische Hang zu unentwegtem Marschieren nur allzu selbstverständlich aus. Den endlosen Weihefeiern der Nationalsozialisten, ihren beschwörenden völkischen Ritualen in haßerfüllten bombastischen Massenveranstaltungen lieferte Speer die erforderlichen Kulissen. Wie zahlreiche anderer seiner Generation sah er im Nationalsozialismus die Chance, Karriere zu machen. So wie er, waren viele gebannt von den beruflichen und sozialen Möglichkeiten, die ihnen das Regime eröffnete. Diese Generation hat in entscheidender Weise und in Schlüsselpositionen das System getragen und wie Speer maßgeblich am Aufstieg und an der Machtkonsolidie263

rung der Nationalsozialisten mitgewirkt, obgleich er hinter seiner Selbststilisierung als „unpolitischer“ Technokrat den unbedingten Gestaltungswillen geschickt verbarg. Wie Speer strickten auch die übrigen der sogenannten unpolitischen Fachleute nach dem Zusammenbruch an der Legende, sie seien unideologisch gewesen, in der Hoffnung, auch nach dem Krieg wieder Verwendung unter demokratischen Verhältnissen zu finden, was letztlich auch für die Mehrzahl der ideologisch „Unbelasteten“ zutraf und wovon Speer noch vor Prozeßbeginn in Nürnberg träumen durfte, um dann eines Besseren belehrt zu werden. Indessen hat der Filmemacher Heinrich Breloer zusammengetragen was Historiker in letzter Zeit über Speer herausgefunden haben. Das Ergebnis ist vernichtend. Speer war keineswegs der Verführte, sondern Antreiber des Holocaust und Initiator der die Zwangsarbeiter vernichtenden Rüstungsproduktion, die unter seiner Leitung auf Hochtouren lief. Zudem ging die Gründung der Konzentrationslager Mauthausen und Flossenbürg, in denen Vernichtung durch Arbeit betrieben wurde, auf sein Verbrechenskonto zurück. Wäre dies alles bereits in Nürnberg den Alliierten bekannt gewesen, die seinen Prozeß nur sehr ungenügend vorbereitet hatten, so wären er mit Sicherheit zum Tode verurteilt worden und der Nachwelt seine „Erinnerungsverdrängungen“ und Spandauer „Selbstmythen“ erspart geblieben., mit denen er die Hintergründe des Nazi-Systems und seine eigene Rolle mehr vernebelte als aufdeckte. Selbst Joachim Fest hat sich in seiner Hitler-Biographie von den Speerschen Interpretationen und Geschichtsklitterungen leiten lassen und in seinem Buch „Der Untergang“ kommt er noch als ein Edel-Nazi daher: „ein Gentleman unter Lumpen und Mördern“.28 Nein, Speer war kein unpolitischer Verführter, er stand in einer Reihe mit den größten Verbrechern des Nazi-Regimes. In gewissem Sinn war er sogar der Nazi-Verbrecher „par exelence“, da er wie kein anderer der vulgären Szenerie vortäuschen wollte, seine Hände in moralischer Unschuld und politischer Unwissenheit zu waschen, obgleich tief in Verantwortung und Schuld verstrickt. Seine Ablehnung der demokratischen Strukturen der fragilen Weimarer Republik brachte ihn in das nähere Umfeld Hitlers. Ab 1933 stellte er sein technisches und künstlerisches Können vorbehaltlos in den Dienst des nationalsozialistischen Staates. Als Architekt war zu diesem Zeitpunkt relativ bedeutungslos und mittelmäßig, ohne besondere Anzeichen architektonischer Kreativität, gleichwohl aber froh über eine parteiinterne Fürsprache für sein erstes Bauprojekt, die Ministerwohnung Goebbels bauen zu dürfen. Als späterer Rüstungsminister war er im vollständigen Dienst des „Bösen“ äußerst effizient und skrupellos. Er lebte nur noch in Zahlen, Rüstungsmaschinen und Ziffern über steigende Kriegsproduktionen; das Schicksal seiner ausgebeuteten Fremdarbeiter interessierte ihn in keiner Weise. Joachim Fest vermutete zu recht, daß er sich in seinem selbstinszenierten „technischen“ Autismus in eine der Maschinen verwandelte, die er produzieren ließ und dabei vermied, die 264

Ziele, denen er diente, in moralischer Hinsicht auf den Prüfstand zu stellen. Nach außen erweckte er den Anschein eines „anständigen und sauberen Nationalsozialisten“, der, wenn es ihn denn überhaupt gab, die sogenannten „guten ideellen Seiten“ des Systems verkörperte und der trotz aller Widerwärtigkeiten im Gegensatz zu der korrupten Kamarilla vom Schlage eines Görings, eines Franks oder eines Streichers unbestechlich und integer blieb. In Wirklichkeit bereicherte er sich in ungeahntem Maße an der Verschleuderung arisierten jüdischen Vermögens und Immobilien, deren Konfiszierung er wesentlich betrieb. In seinen Erinnerungen, die durch die „lektorischen Vernehmungen“ seines Verlegers Jobst Siedler und dem späteren Speer-Biographen Joachim Fest mit „drängenden Fragen“ wesentlich beeinflußt wurden, 29 erwähnte er die Vorliebe Hitlers, sich stets hinter verhangenen Fenstern aufzuhalten. Speer deutete dies als Angst davor, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren. Somit konnte Hitler ungestörter in seiner eigenen Wahnhaften Wirklichkeit leben, inmitten kitschig pompöser Heldenverehrung, wabernder Siegfriedlohe und germanischem Wagnerkult, in dem er seine Wiener Rienzi-Reminiszenzen aufleben ließ, und schließlicher Götterdämmerung in der Düsternis seines Unterganges. Lauter obskure Insignien die von je her zu seinen existentiellen geistigen Grundlagen zählten. Sie bildeten seit seinen Wiener Jugendjahren das „granitene Fundament“ seiner Weltanschauung, 30 das er seitdem unbeirrbar beibehielt. Die Lichtblicke in dieser absurden und irrealen Welt verschafften ihm Speers omnipotente Entwürfe einer faschistoiden Architektur von überwältigender Grandiosität der zukünftigen „Welthauptstadt“ Germania, an der sich der verhinderte „Architekt“ Hitler berauschen konnte. Währenddessen das reale Berlin in Schutt und Asche versank. Inzwischen befand sich auch Speer, ohne es wahrhaben zu wollen, hinter den verhangenen Fenstern seiner technizistisch verengten Wirkungswelt. Hitlers Wahnwelt, die immer offenkundiger hervortrat, je länger der Krieg andauerte, fand ihr Vollendung in der gespenstischen Atmosphäre des Führerbunkers unter der zusammenbrechenden Reichkanzlei, wo er, der Realität gänzlich entfremdet, nur noch über die hoffnungslosen Restbestände fast schon imaginärer Geisterarmeen befehligte, und sich in den geifernden Durchhalteparolen des bis zuletzt fanatischen Goebbels als einen bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus „kämpfenden“ Führer sah. Sich der Verbrechen durchaus bewußt, die er und die übrigen Nazi-Größen in ihrem zwölfjährig andauernden Amoklauf durch die Geschichte angerichtet hatten, ahnte Goebbels die Rolle, in der man ihn und seinesgleichen in der Welt so oder sehen würde, bereits am 14. November 1943, in dem er in seinem Tagebuch notierte: „Was uns betrifft, so haben wir die Brücken hinter uns abgebrochen. Wir können nicht mehr, aber wir wollen auch nicht mehr zurück. Wir sind zum Letzten gezwungen und darum zum Letzten entschlossen [...]. 265

Wir werden als die größten Staatsmänner in die Geschichte eingehen oder als ihre größten Verbrecher.“ 31 Im Sommer faßte Speer die Geheimdienstprotokolle seiner ersten Vernehmungen durch den amerikanischen Captain Hoffding auf Schloß Kransberg im Taunus zu einem autobiographischen Manuskript zusammen, fest davon überzeugt, daß er nicht wie die übrigen – Raeder, Schacht, Ribbentrop, Dönitz, Keitl, Jodl, Heß, Göring u.a. – vor das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal gestellt würde. Seine Ausführungen sind von bemerkenswerter Offenheit und Apologetik, die er sich später nicht mehr hat leisten wollen. Was seine Offenheit betrifft, wollte er sich sicherlich in Aussicht späterer Verwendung, sich den Alliierten andienen, worin er sich allerdings gründlich täuschte. Vor allem seine Aussagen über Hitler sind apologetisch, sie zeichnen ein Bild des Diktators, was der Legendenbildung eines „gütigen“ und um das Wohl seiner Mitarbeiter besorgten Führers entspricht. Zu seinen Manuskripten, die er beabsichtigte zu veröffentlichen und die in weiten Teilen in seinen Erinnerungen eingeflossen sind, bemerkt er einleitend: „Trotz diesem für die Welt und Deutschland tragischem Geschehen ist die Ausarbeitung recht leidenschaftslos und nüchtern ausgefallen. Ich bin kein Schriftsteller, der seine Gefühle aufdecken kann. Ich habe das erste Mal versucht, eine derartige geschlossene Arbeit durchzuführen. Bisher ist meine „schriftstellerische“ Tätigkeit über einige Denkschriften nicht hinausgegangen“. In weiser Voraussicht über das, was noch über ihn und die anderen hereinbrechen könnte, formuliert er schuldrelativierend: „Nachträglich diese Zusammenhänge klarzustellen, ist nicht so schwer, wie bei ihrem Ablauf selbst einen klaren Kopf zu behalten. Viele der führenden, die damals auf das Äußerste verwirrt waren (!!! d. Verfasser) und versagten, müßten jetzt zu ähnlichen Ergebnissen kommen können.“32 Was bei diesen Aussagen und Selbstrechtfertigungen hervorsticht, ist die typische Relativierung ungeheuerlicher Verbrechen, die Speer einer griechischen Tragödie gleich, mit dem schicksalhaften Hauch eines tragischen, d.h. unabwendbaren Vorganges zu verschleiern versucht, wie gleichwohl er von Verwirrungen spricht, wo es in Wahrheit um kaltblütig geplante Mordprogramme ging. Speer gefiel sich nach dem Zusammenbruch und unter dem Eindruck der zwanzigjährigen Haftstrafe, die er in Spandau bis zum Herbst 1966 verbüßen mußte, in der Rolle eines unentwegten Mahners, der sich selber jedoch weitgehend an den Verbrechen des Dritten Reiches unbeteiligt sah. Mit Akribie und verbindlichem Charme wußte er das in den Medien mittlerweile populäre Bild des „anständigen“ Nazi, der wie durch Schicksalshand geführt, auf seinem verbrecherischen Kontinuum den führenden Part gespielt hatte, geflissentlich weiter zu zeichnen. In seinem Nachwort seines Bestsellers Erinnerungen, der 1969 zum erstenmal erschien, gefällt sich einer der größten Verbrecher des Dritten Reiches darin, die Welt vor derartigen Auswüchsen zu warnen. 266

In ähnlicher Weise sah sich auch Eichmann angesichts des Galgens bemüßigt, vor Gericht in Jerusalem der Jugend ein warnendes Beispiel zu geben, wohin Gehorsam und blinde Pflichterfüllung im Dienste eines verbrecherischen Systems führen. Hier wie dort waren es untaugliche Versuche, in sentimentalem Selbstmitleid den eigenen Verbrechen noch einen irgendwie brauchbaren Sinn zu verleihen. So verstand Speer die Niederschrift seiner Erinnerungen, mit denen er fortan kokettierte, als Warnung für künftige Generationen mit den „gelehrsamen“ Worten eines menschenliebenden Moralisten: „Mit diesem Buch beabsichtige ich nicht nur, das Vergangene zu schildern, sondern auch vor der Zukunft zu warnen“. Und in seinem Vorwort heißt es: „Diese Erinnerungen sollen einige der Voraussetzungen zeigen, die fast zwangsläufig zu den Katastrophen führten, in denen jene Zeit zu Ende ging; es soll sichtbar werden, welche Folgen es hatte, daß ein Mensch allein unkontrollierte Macht in Händen hielt; deutlich werden sollte auch, wie dieser Mensch beschaffen war“. Und seine Selbstlügen aufdeckend gesteht er, entgegen seinen späten „Einsichten“, ein: „Vor Gericht in Nürnberg habe ich gesagt, wenn Hitler Freunde gehabt hätte, dann wäre ich sein Freund gewesen“. 33 Indessen aufgedeckt haben seine Erinnerungen nichts Wesentliches, sie haben vielmehr dazu beigetragen, die Fragen nach subjektiver Schuld und Mitverantwortung unzähliger schuldig gewordener Täter und Eliten zu verschleiern. Insofern hat sein Buch dazu verholfen, den großen „Frieden“ mit den Tätern zu schließen, der die Nachkriegsepoche der Bundesrepublik schwer belastet hat. Darüber hinaus kamen Speers Erkenntnisse allemal zu spät und am unrechten Ort und konnten nicht mehr dasjenige aufwiegen, auf was sie sich im Rückblick bezogen. Erst durch eine Zeugenaussage vor Gericht in Nürnberg wurde Speer klar, was sein Mitwirken am millionenfachen Völkermord letztendlich für ihn bedeuten sollte: „Ich werde nie das Dokument vergessen, das eine jüdische Familie zeigt, die in den Tod geht: Der Mann mit seiner Frau und seinen Kindern auf dem Bild...hat meinem Leben Substanz entzogen. Es hat das Urteil überdauert“.34 Seine Erinnerungen, die nicht zuletzt aus den oben genannten Gründen mit viel Lob bedacht wurden, haben den Blick in erheblichem Maße verstellt. Tatsächlich haben viele Lobredner Speerscher Biographien übersehen, daß hier die Legende von der vermeintlichen „Tragik“ des unpolitischen Fachmannes, der unter einem „Parsifalkomplex“ leidet, nur allzu verklärt wird, und dem man wohlwollend konzediert, an den Verbrechen der Politik nicht teilgenommen zu haben. Der Historiker Bracher stellt hingegen fest, daß Speers Rolle nicht einem unglücklichen Zufall geschuldet war, der zur unrechten Zeit eine naive und unpolitische Figur in das Zentrum verbrecherischer Machenschaften gestellt hat, sondern das kalkulierte Ergebnis einer im Grunde gespaltenen Identität, die sich nahtlos mit den gewollten Ambiguitäten des Systems arrangierte. 35 Speers Aufstieg und Wirken an führender Stelle war in Wahrheit weder Zufall noch geschichtliches Mißverständnis, sie waren vielmehr Folge 267

der strategischen Gesellschaftspolitik der Nationalsozialisten, die ihre Elemente der Macht aus radikaler Politisierung entpolitisierter Spezialisierung einerseits bezogen und andererseits, rückwärtsgewandte Verwirrungen aufgreifend, einer Ideologie reaktionärer politischer Romantik und Verherrlichung des technischen Fortschrittes huldigte. Die eigentliche Essenz nationalsozialistischer Ideologie und Machtpolitik, die Inkonsistenz von Theorie und Praxis, stellte daher nicht, wie vordergründig vermutet, eine Schwächung des Systems dar, sondern in der geschickten Synthese dieser unterschiedlichen Ansätze lag die verblüffende Wirkung ihrer totalen Herrschaft. Bis in die Führungsspitzen bildete sich die spezifische Doppelgesichtigkeit des Parteienund Machtapparates aus, die in der strategischen Besessenheit eines Goebbels, im technokratischen und rationalen Kalkül Speers und in den sektiererischen Narrheiten eines Rudolf Heß zum Ausdruck kam und insbesondere durch Heinrich Himmler personifiziert war, der sich neben einer kalten und menschlich befremdlichen Ernsthaftigkeit, mit der er seinem Vernichtungsauftrag nachkam, eine obskure Gedanken- und Vorstellungswelt erhalten hatte. Speers Erinnerungen und seine Spandauer Tagebücher stießen bei ihrem Erscheinen auf großes Interesse, nicht zuletzt auch in der Fachwelt. Manch einer erhoffte sich durch sie Aufschluß über die verborgenen Mechanismen des hitlerschen Macht- und Herrschaftsapparates zu erhalten. Bemerkenswert an diesem System der Machtsteuerung war, daß über alle chaotisch anmutende Überorganisation und wechselseitige Konkurrenzen, die von Hitler bewußt gewollt waren, einerseits die Umsetzung von Herrschaftswillen in konkrete politische Praxis reibungslos funktionierte, andererseits aber die sehr unterschiedlichen, sich gegenseitig bekämpfenden und zuweilen auseinanderstrebenden Interessen und subjektiven Motive letztlich dann doch auf die Zentripetalkraft des hitlerschen Machtzentrums ausgerichtet blieben. Hierzu gehörte zweifelsohne Speer ebenso wie Bormann, der braune Strippenzieher über Protektion, Einfluß und dem direkten Zugang zu Hitler. Da Speer zu alledem eine stets abgehobene und, wie er glauben ließ, neutrale Haltung bewahrte, konnte er auch – weder in historischer Hinsicht, noch aus psychologischem Blickwinkel heraus – nichts Erhellendes über das wüste Konglomerat von Intrigen, sich ausschließenden Motiven, Gefühlswallungen und handfesten divergierenden Interessenslagen der braunen Hofgesellschaft aussagen. Zu dem gruppendynamischen Phänomen, welches sich darin äußerte, daß die teilweise zentrifugalen Strömungen immer wieder zurückgeholt und um so fester in das Kraftzentrum eingebunden wurden., ist von Speer kaum etwas Bedeutendes zu hören; deshalb erscheinen auch seine Memoiren nur sehr bedingt geeignet, eine Analyse des Nazi-Regimes zu leisten. Aus historischer Sicht sind schon wegen ihrer apologetischen Grundstimmung mehr als fraglich. Über ihren erkennbaren Anekdotenstatus hinaus enthalten sie wenig zur Erklärung der nationalsozialistischen Wirkungs- und Entstehungsgeschichte. Ebenso schweigen sie sich über jenen sonderbaren Umstand aus, daß der 268

Totalitarismus des Dritten Reiches neben seinen straffen ideologischen Voraussetzungen gerade in seiner Widersprüchlichkeit erfolgreich sein konnte, obgleich er in seiner politischen Praxis widersprüchlich und diffus erschien. Speers Memoiren sind daher lediglich weitere Beiträge seiner fortwährenden Selbsttäuschungen, sowie über das wahre Gesicht des Regimes und seiner Potentaten. Andererseits mag das Unvermögen Speers, seine unmoralische Verstrickung in das System so darzustellen, wie es seiner eigenen Bedeutung entsprach, ein Beleg dafür sein, wie tief er darin verflochten war, ohne sich dessen bewußt gewesen zu sein. Die Rolle des unpolitischen Technokraten traf sich in vorzüglicher Weise mit dem Nationalsozialismus, der als Idee des Apolitischen und Antipolitischen gegen die demokratischen Strukturen der Weimarer Republik zu Felde gezogen war. Der Nationalsozialismus war bei aller Absicht der Radikalisierung des privaten und öffentlichen Lebens eine antipolitische Bewegung, der die Politisierung der Gesellschaft und damit die Emanzipation des Bürgers als Idee der Aufklärung höchst zuwider und feindselig erschien. In ihrer Konsequenz, die Vielfältigkeit, Meinungsdivergenz und die unterschiedlichen Interessenslagen auf die einfache Formel einer homogenen und bewußtseinsreduzierenden Form zu bringen, die sämtliche moralischen Skrupel ausklammerte, waren sich der nationalsozialistische Machtapparat und Speer insofern einig, als das dieser seine Subjektivität im Sinne technizistischer Verengung reduzierte und sich somit von politischer Mitverantwortung freisprach. Daher erscheint Speer als idealer Verwertungstypus nationalsozialistischer, autoritärer Herrschaftsansprüche, welche jedem totalitären System gerecht werden. Sein Lebensweg, der ihn in nächster Nähe des Machtzentrums brachte, war in seiner Konsequenz nicht ein Zufallsprodukt jener Zeiterscheinung, sondern entsprach ganz und gar dem Modernitätsanspruch, den die Umsetzung nationalsozialistischer Herrschaftsideologie in konkrete Machtstrukturen erforderte. Dennoch sah er in Hitler eines dieser „unerklärlichen geschichtlichen Naturereignisse“, die über die Menschheit in gewissen Zeitabständen hereinbrechen. Später gelangte er immerhin zu der Erkenntnis, daß Hitler das Produkt einer geschichtlichen Situation war; sicherlich sah er seine eigene Rolle unter den gleichen mythologisierenden und „tragischen“ Bedingungen. Unablässig hielt er sich an der Behauptung des Nichtwissens und Nichtwissenwollens fest. Ein beredtes Beispiel solch kunstfertiger Verdrängungsarbeit ist die stets von ihm geleugnete Anwesenheit bei Himmlers berüchtigter Posener Rede im Oktober 1943, deren Kenntnis er damit bestritt, erst in Nürnberg von den Gaskammern erfahren zu haben, und bis dahin nicht fähig war, sich den millionenfachen Völkermord an den Juden vorzustellen. Gleichwohl ist er zum aktiven Beteiligten geworden, da er seine Arbeit für Hitler fortsetzte, obwohl er zu diesem Zeitpunkt von dem lange geplanten und fast vollendeten Völkermord wußte, unabhängig davon, ob er in Posen anwesend war oder nicht.36 269

Zunächst schien es so, als würde er sich zu der Gesamtverantwortung bekennen, um damit seinen eigenen Schuldanteil einzuräumen. Vor dem Nürnberger Tribunal hielt er es für seine Pflicht, als ehemaliges Mitglied des Regimes die Mitverantwortung für die gesamten Verbrechen des Nationalsozialismus zu übernehmen. Später, in Spandau, hat er geäußert, daß sich die Mitverantwortung zu dem Gefühl der persönlichen Schuld wandelte, als er im Verlaufe des Prozesses von den Morden an den Juden erfahren habe. Trotzdem bleibt die Frage offen, ob er erst dann davon erfuhr, oder ob ihm erst zu diesem Zeitpunkt das gesamte Ausmaß seiner Verstrickungen bewußt wurde. Daß er die Verbrechen offensichtlich beizeiten gebilligt hat, geht aus einer eidesstattlichen Erklärung Speers aus dem Jahre 1977 eindeutig hervor, in der es u.a. heißt: „Der Nürnberger Prozeß bedeutet für mich noch heute einen Versuch, zu einer besseren Welt vorzustoßen [...]. Ich halte es darüber hinaus heute noch für richtig, die Verantwortung und damit die schuld für alles auf mich zu nehmen, was nach meinem Eintritt in die Hitler-Regierung am 8. Februar 1942 (als Rüstungsminister in der Nachfolge von Todt, Anm. d. Verf.) an Verbrechen, im generellen Sinne, begangen wurde. Nicht die einzelnen Fehler belasten mich, so groß sie auch sein mögen, sondern mein Handeln in der Führung. Daher habe ich mich für meine Person im Nürnberger Prozeß zur Gesamtverantwortlichkeit bekannt und tue dies auch heute noch. Meine Hauptschuld sehe ich immer noch in der Billigung der Judenverfolgungen und der Morde an Millionen von ihnen.“ 37 Diese und andere Aussagen, die er gegenüber dem Direktor des südafrikanischen jüdischen Board of Depuities machte, welchem er auf Anfrage im April 1977 die Hintergründe der Massenmorde und sein Wissen darum genauestens darstellte, gehören zu den offensten Worten, die Speer zu seiner eigenen Rolle je gesprochen hat. Gleichwohl muß im nachhinein und bei heutigem Kenntnisstand seine Beteiligung an den Verbrechen und die Art und Weise, wie er sich stets dazu geäußert hat, in einem anderen Licht betrachtet werden, in welchem das bloße Eingeständnis seiner Billigung erscheint. Seine Strategie in Nürnberg, die eigene Schuld zu bannen, indem er seine persönliche Verantwortung auf die Unverbindlichkeiten des Verallgemeinernden und Grundsätzlichen verschob, hat ihn vor dem sicheren Galgen bewahrt. Von daher sind die heftigen Ausfälle Görings zu erklären, dem sehr wohl nicht entgangen war, daß sich ein Mittäter auf Kosten der übrigen durch die Übernahme kollektiver Verantwortung und Schuld entlasten wollte. An diesem Mythos der Schuldeinsicht, indem er auf eine abstrakte Ebene „kollektiver Verantwortungsethik“ auswich, hat Speer in seinen Erinnerungen und darüber hinaus bis zu seinem Tode im Jahre 1981 unverdrossen weitergewoben. Seine Bücher wurden sicherlich nicht zuletzt deshalb ein Erfolg, weil sie, wie auch seine Persönlichkeit, Verhaltensmuster aufboten, die jener Generation, die subjektiv tief in Schuld verstrickt war, Entlastungsräume einer dem Vergessen und Verdrängung geschuldeten Bannung eigener Verantwortlichkeiten eröffneten. Speer wurde somit zum 270

Symbol des allgemeinen Verdrängens, welches auch die kollektive Verleugnung von Schuld, Mitverantwortung und Trauer verantwortete. Hierin fand er Beifall, vor allem von den ewig gestrigen Apologeten des Nationalsozialismus. Diese Haltung ließ ihn zum wichtigsten „Exkulpator“ 38 des Dritten Reiches werden, denn wenn schon einer der mächtigsten Männer vom Holocaust nichts gewußt haben wollte, wie konnte da der einfache „Volksgenosse“, der Täter, der sich als Rädchen im Getriebe empfand, der Mitläufer und Mitwisser im Nachhinein zur Verantwortung gezogen werden? Indem Speer die Dinge von der Warte eines distanzierten Beteiligten ansprach hat er versucht, sie für sich zu bannen; Bannung durch Benennung in einer Weise, die seine eigene Person gleichsam als Schimäre neben den Verbrechen stellte. Damit war für ihn alles gesagt und selbst die späteren hartnäckigen lektorischen „Vernehmungen“ seiner Biographen Siedler und Fest brachten immer nur endlose Verwindungen und moralische Brüche zum Vorschein. Speers Reminiszenzen kreisten unablässig um die abstrakt verorteten Fragen von Gesamtverantwortung, Verantwortung und Schuld. Indes konnte er nicht erklären, weshalb er diesem Regime auch dann noch diente, als in seinen Ahnungen schon dasjenige ins Bewußtsein drängte, was er stets zu verdrängen trachtete. Dies war der unauflösliche gordische Knoten seiner „Lebenslüge“.39 Joachim Fest erkannte alsbald, daß „Speers Lebensweg mit all den Selbsttäuschungen, falschen Ergriffenheiten und moralischen Verhärtungen, die dazu gehörten, weitaus repräsentativer war, als er je begriffen hat, und daß er eine wichtige Facette zum Bild der deutschen Verwirrung besteuert, die Hitler erst ermöglicht hat und vielleicht fast unmöglich gemacht hätte“.40 Wenngleich ihn Fest einen orientierungsschwachen Überläufer genannt hat, so mag dieses Urteil auf jenem Kenntnisstand beruhen, den er und Jobst Siedler als vernehmende Lektoren Ende der sechziger Jahre über Speer hatten, als sie darangingen, seine Erinnerungen biographisch vorzubereiten, so muß heutzutage dieses Urteil gründlich revidiert werden. Denn Speer war weit mehr als nur ein Überläufer, der sich zufällig in diese politische Richtung verirrt hat. Vielmehr war er in politischer Hinsicht ein bornierter Idealist, der sich jedem überlegenen System angedient hätte. Seine persönliche Loyalität, die er einem als Verbrecher erkannten Verwüster bis zuletzt schuldete, gibt den Blick in einen „deutschen Abgrund“ frei, in dem sich jedoch sehr viele befanden, die, wie er, einem Massenmörder gegenüber noch gewisse Konventionen beibehielten und die aufzeigen, warum die Deutschen von Hitler bis zuletzt nicht loskamen. Es stellt sich daher die Frage, ob es überhaupt Vorkehrungen gegen solche Verluste von Maßstäben und Werten geben kann, oder ob Vorkehrungen gegen den kollektiven Verlust an humanen Orientierungen gänzlich unmöglich erscheinen, oder ob sich, allen Widerwärtigkeiten zum Trotz, um mit Adorno zu sprechen, dennoch mit Erziehung dagegen etwas unternehmen läßt.41 271

Nach dem Zusammenbruch am 8. Mai 1945 befanden sich Speer und die sogenannte geschäftsführende Regierung, der unter anderem Dönitz als Nachfolger Hitlers in seiner Funktion als Reichspräsident, Keitel, Schacht, Raeder angehörten, in einer absurden Situation. Von den Alliierten untergebracht in Schloß Glücksburg in Schleswig Holstein, in dem auch die Vertreter der Siegermächte residierten, hielten sie vormittags ihre geisterhaften „Kabinettssitzungen“ ab, um nachmittags in gepflegter Atmosphäre den Verhöroffizieren, die den Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß vorbereiteten, Rede und Antwort zu stehen. Am 23. Mai 1945 wurden Speer und die übrigen Mitglieder der Regierung Dönitz zu ihrem großen Entsetzen verhaftet und über Umwege durch verschiedene alliierte Gefangenenlager schließlich nach Schloß Kransberg im Taunus zu weiteren Verhören gebracht. Erst hier dämmerte Speer, daß auch er vor das Nürnberger Tribunal gestellt werde und man ihn demzufolge mit den übrigen Hauptangeklagten als Kriegsverbrecher sah. Dennoch waren seine Einlassungen von bemerkenswerter Offenheit, so als wollte er sich schon damals von dem Druck seiner nationalsozialistischen Vergangenheit befreien. Auf diese Weise wurde Speer zu einer Hauptquelle für den englischen Historiker Hugh Trever-Roper, der im Auftrag des britischen Geheimdienstes die Situation der letzten Tage von Hitler recherchierte, um Klarheit über den Tod des deutschen Diktators zu erlangen. 1947 veröffentlichte er die Ergebnisse in Buchform. Dies gilt nach wie vor als Standartwerk über die Endphase des Dritten Reiches.42 Vor dem Nürnberger Gericht hat sich Speer mit großem Geschick dem drohenden Galgen entzogen, den die russische Delegation vehement gefordert hatte. Mit einer an Fatalismus grenzenden Selbstaufgabe hat er das Todesurteil dadurch vermieden, daß er es aufgrund seiner Bekenntnisse in Kauf nahm. Man hat ihm das später als raffinierte Taktik ausgelegt, mit der er den Alliierten Gerichtshof und späterhin die Öffentlichkeit getäuscht habe. Das Nürnberger Gericht verurteilte ihn, in seiner damaligen Unkenntnis des gesamten Verbrechensrepertoire Speers, wegen seiner Beteiligung am Zwangsarbeiterprogramm zu 20 Jahren Haft, die er in Spandau bis zum letzten Tag verbüßte. Wären dem Gericht allerdings jene Fakten bekannt gewesen, die inzwischen durch neuere historische Forschungen aufgedeckt sind, so etwa seine undirekte Beteiligung an der „Endlösung der Judenfrage“ in Auschwitz, wäre er dem Galgen sicherlich nicht entkommen. In jüngster Zeit sind Dokumente aufgetaucht, aus denen eindeutig hervorgeht, daß Speer nicht nur ein Rädchen im Getriebe der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie war, sondern einer ihrer Antreiber.43 Er hat nicht nur von Auschwitz geahnt, nachdem ihm sein Freund, der Gauleiter von Schlesien, Hanke, entsprechende Andeutungen gemacht hatte, vielmehr sind die Mittel für die Bauten der sogenannten „Sonderbehandlung“ in Auschwitz, was nichts anderes bedeutete, als Vergasungen im großen Umfange, über seinen Schreibtisch als Rüstungsminister gelaufen. Es ist schwer vorstellbar, daß für jemanden wie 272

ihm, der in der euphemistischen Sprachregelung des Dritten Reiches zuhause war, die Bedeutung des Begriffes Sonderbehandlung unverständlich geblieben sein soll, zumal diese aus den Unterlagen, die ihm vorlagen, hervorging. Darüberhinaus war er als oberster Bauherr des Regimes für die Errichtung des KZ – Struthoff im Elsaß verantwortlich, das als Arbeits- und Vernichtungslager fungierte und in dem die Steinbrüche abgebaut wurden, die man zur Herstellung der „Welthauptstadt“ Germania benötigte. Auch in diesem Konzentrationslager wurde, wie auch in den Speerschen Lagern Flossenbürg und Mauthausen, systematisch Vernichtung durch Arbeit an zahllosen Häftlingen betrieben. Alles das, was mit der millionenfachen Vernichtung von Menschenleben zusammenhing, hat Speer gewußt und an erster Stelle mitinitiiert. Speer war nicht nur der wahre Verbrecher des Dritten Reiches, wie Hugh Trever-Roper ihn bezeichnete, sondern dessen größter Lügner, der bis an sein Lebensende die Öffentlichkeit über seine wahre Person und Rolle im Dritten Reich getäuscht hat. Insoweit sind seine Biographien im historischen Sinn betrachtet nichts wert, außer in psychologischer Hinsicht: ob er diese Lügen bewußt und mit kalter Berechnung behauptet hat, oder ob sie die verleugneten Schatten seiner unendlichen Verdrängungsversuche sind? Diese Frage wird wohl mit endgültiger Sicherheit niemals mehr beantwortet werden können. Mit dem gleichen Organisationstalent, mit dem er in den letzten Kriegsjahren die Rüstungsproduktion hochtrieb und hierdurch einen aussichtslos gewordenen Krieg verlängern half, arbeite er bereits während seiner Spandauer Haftzeit an der Verstrickungslüge eines Unpolitischen in einem verbrecherischen System. Sein Verleger Jobst Siedler hat ihn noch wohlwollend als einen „Engel, der aus der Hölle kam“ bezeichnet. Auch er ist, wie Joachim Fest ein Opfer der Täuschungsbilder geworden, an denen Speer ein Leben lang gezeichnet hat. Indes hat er den Mythos einer unpolitischen und verführten Künstlernatur durch die, ihr immanente Widersprüchlichkeit selber entzaubert. In der Hölle kann es keine Engel geben, allenfalls reißende Wölfe in Schafspelzen. Das Urbild des „anständigen Nazis“, welchen so vielen in der frühen Bundesrepublik ihre subjektive Schuld verdrängen ließ, ist zerbrochen.44 Es entlastet daher Speer nicht, was Joachim Fest annimmt, daß sein sicherer „Bürgerinstinkt“ ihn von den übrigen Nazigrößen trennte und je größer die Diskrepanz zwischen seiner bürgerlichen Moral und der NS-Unmoral geworden sei, desto mehr habe Speer verdrängen müssen. Freilich, dasjenige was Fest als Verdrängung aus den Restbeständen bürgerlicher Skrupel glaubt auszumachen, ist in Wirklichkeit die Skrupellosigkeit einer opportunistischen Haltung, die Speer immer schon zu eigen war und die in beizeiten in das braune Umfeld gebracht hatte. Speer wurde 1966 nach Verbüßung seiner Strafe entlassen. Alle Gesuche um vorzeitige Entlassung wurden aufgrund von sowjetischen Einwänden stets abgelehnt. Speer veröffentlichte seine Memoiren als Erinnerungen und Spandauer Tagebücher in Buchform. Obgleich auch hier immer wieder die 273

gleichen Verwindungen und Schuldfluchten zutage traten, waren sie subjektive Einblicke hinter den dunklen Kulissen des Dritten Reiches, zu einem Zeitpunkt, als in der Bundesrepublik über diese Epoche deutscher Geschichte weitgehend hinweggeschwiegen wurde. Heute sind sie nur noch die Restbestände verzweifelter Selbsttäuschungen, was aber nicht daran gehindert hat, sie im Zuge der medialen Speer-Renaissance in der ersten Dekade des neuen Jahrtausend neu aufgelegt zu werden. In einem Punkt bleiben sie jedoch nach wie vor aktuell, in der Person Speers spiegelt sich, wie in kaum einer anderen politischen Figur, ein Stück deutscher Sozialbiographie vor dem Hintergrund tradierter Verwirrtheiten wider. In Speers sozialer Identität verdichten sich wesentliche Facetten der politischen und kulturhistorischen Irrwege des deutschen Bürgertums. Waren Hitler und die Nomenklatur seines unmittelbaren Umfeldes das Ergebnis fanatischer und inhumaner Ideenformationen des 19. Jahrhunderts, so zeigt sich am Beispiel Speers die chronische Anfälligkeit des Bildungsbürgertums für derartige Prospekte und seiner Verführbarkeit durch totalitäre Systeme. Auf Speer trifft zu, was Nietzsche einmal bemerkte, wonach man nicht lange in einem Abgrund blicken kann, ohne daß der Abgrund auch in einem selber blicke. Seine großbürgerliche Herkunft mit ihrem privilegierten sozialen und familiären Hintergrund verknüpft mit klassischen Inhalten humanistischer Bildungsprospekte, hat ihn nicht daran gehindert, sich einer derart bösartigen, „sich ihrer Barbarei brüstenden Herrschaft so besinnungslos“45 anzuschließen. Auch dies wirft die Frage auf, ob die tradierten und erprobten humanistischen „Sicherungsinstanzen“ überhaupt solches verhindern können, oder ob es überhaupt Vorkehrungen gegen einen derartigen Verlust aller gültigen Maßstäbe geben kann. Letztlich ist Speer allen drängenden Fragen damit ausgewichen, indem er gemeint hat, man solle ihm nicht immer wieder unbeantwortbare Fragen stellen.46

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Kapitel 12 Nationalismus versus Aufklärung und Emanzipation Von der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Die Revolution findet nicht statt. Aufbruch und Weltumseglung. Jules Verne. Phantastische Visionen der Zukunft. Der Staat als Organismus. Goebbels „Stählerne Romantik“. Victor Klemperers Irrtum. Jene Hoffnung auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die aus den Erkenntnissen der Aufklärung und den Ideen der Französischen Revolution erwuchs, konnte sich im deutschen Sprach- und Kulturraum kaum durchsetzen. Die Revolution von 1848, die pragmatisch an die Errungenschaften der französischen Revolution anknüpfte, war auf breiter Ebene gescheitert. Aufklärung und die Ideen der französischen Revolution waren angetreten, den Bürger aus den Fängen von Feudalismus und dumpfer Mystik zu befreien, um seine gesellschaftliche und politische Emanzipation einzuleiten, welche im Bild des selbstbewußten Citoyens seinen Ausdruck findet. Die Vorstellungen von Bildung und Kultur verwandelten sich Jahrzehnte später im protestantischen Kulturmilieu des Wilhelminischen Kaiserreiches in einen unreflektierten Nationalismus, der fortan die Sphären von Kultur und Bildung bestimmen sollte. Unter den wirtschaftlichen und politischen Bedingungen bot sich dieser pseudoreligiöse Nationalismus als Identifikationsobjekt des Bildungs- und Besitzbürgertums an. Im Zuge frühkapitalistischer Strukturen verlagerte sich das Interesse gegen Ende des 19. Jahrhundert in ein einseitig ausgerichtetes merkantiles Denken, welches dazu beitrug neue Ungleichheiten eines „bürgerlichen Feudalismus“ zu schaffen. Systemkritiker wie Karl Marx entlarvten die bürgerliche Kultur als affirmatives Element, welches diese sozialen Ungleichheiten manifestiert.1 Die bürgerliche Kultur wurde hierbei selbst unter die Räder des Nationalismus genommen und ihrer ursprünglichen Bedeutung entzaubert. Als Kultur galt nur dasjenige, was dem Meinungsbild des imperialistisch getönten Nationalismus und damit dem Kult um „Volk und Vaterland“ diente. Die Zerstörung des Bildungsbürgertums durch den Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert und seiner bildungsmäßigen und kulturellen Werte erfolgte geistesgeschichtlich betrachtet unter Anleitung zahlreicher Stützen und Spitzen der Gesellschaft, freilich nicht in chronologischer Abfolge, sondern mit zeitlichen Verwerfungen über den Gesamtzeitraum. D.h. sie geschah im Prinzip während unterschiedlicher Epochen und über die sozialen Klassen hinweg und wies somit klassische Züge eines kulturellen Niederganges auf, wie er in der Geschichte der Menschheit zahlreiche Kulturen getroffen hat. Der hierdurch eingetretene Substanzverlust für die deutsche Kultur war so verheerend und tiefgreifend, daß erst mit dem 275

Zusammenbruch des Deutschen Reiches ab 1945 sich alle Möglichkeiten eröffneten, wieder eine Kulturnation zu werden. In politischer Hinsicht erfüllte sich das Bild des selbstbewußten Citoyens nicht und statt dessen führte ein gerader Weg zum Phänotypus des angepaßten Untertanen. Es ist daher davon auszugehen, daß im Zuge dieses regressiven Prozesses einer erneuten Entmündigung des Menschen auch jene humanen Vorgaben auf der Strecke blieben oder in partikularistischer Absicht verzerrt wurden, die den Weg in die Aufklärung erst ermöglicht hatten. Nicht nur die Aufklärung war in ihrer substantiellen Bedeutung für das Denken der Menschen zugrunde gegangen, sondern auch die mentalen und geistigen Vorausstzungen, die sie einst erst ermöglichten. Die Atmosphäre der Restauration und Reaktion schuf den Hintergrund künftiger obrigkeitsstaatlicher Manipulationen des entmündigten Individuums. Der Mensch in der Epoche der Aufklärung plante für das Hier und Heute und verstand es, sein Dasein in Harmonie mit dem Gegenwärtigen einzurichten, dabei glücklich zu sein und seine Ratio zu gebrauchen. Mit deren Hilfe gewann er Einblicke und Überblicke in die Regeln und Gesetze der Natur. Die Welt erschien ihm geordnet, gegliedert und vollkommen. Deren Abläufe erschließen sich ihm und ihre Vollkommenheit bedeutet für ihn Harmonie und so ist alles in der für ihn bestmöglichsten Weise eingerichtet. So sehr er sich auch inmitten dieser Harmonie sah, so war es ihm dennoch möglich eine exzentrische Positionalität einzunehmen, von wo aus er die Welt um sich herum betrachten und entdecken konnte. Es war auch die Zeit der großen Entdeckungen, bei denen der Erkenntnisdrang der Aufklärung nachwirkte und die im Gegensatz zu vorherigen Epochen das Ziel hatten, der Welt die letzten Geheimnisse zu entreißen und hierbei nichts dem Zufall zu überlassen. Mit festen Vorstellungen über die Ziele brach man in unbekannte Dimensionen auf, in der Gewißheit alle Vorzüge des technischen und wissenschaftlichen Fortschrittes nutzen zu können. Jene Entdecker und Forscher, die sich in bislang unerforschte Gebiete begaben, waren neben ihrem unvergleichlichen Enthusiasmus auch von gewissem nationalem Stolz erfüllt, der ihre mitunter waghalsigen Unternehmungen beflügelte. In England gründeten sich Vereinigungen und Komitees, welche die Expeditionen unterstützten und beträchtliche Summen zu deren Finanzierung aufbrachten. Dabei wurden diese Expeditionen auf der Grundlage der damaligen naturwissenschaftlichen, geographischen und kartographischen Erkenntnisse durchgeführt, so daß Zufallsentdeckungen, wie Jahrhunderte zuvor im Falle Columbus ausgeschlossen blieben. John Franklin versuchte 1847 die Nordpassage zu ergründen, um einen verkürzten Seeweg nach Asien zu finden. Jedoch zuvor, am 29.September 1839 verließen die beiden Schiffe „Erebus“ und „Terror“ England um unter dem Oberkommando von Roß und Croziers die Antarktis zu erforschen. Den südlichen Polarkreis überschritten sie am 1.Januar 1841. Am 15. Februar erreichten sie den 76. Breitengrad und näherten sich dem Punkt, wo sie magnetischen Pol vermuteten 276

um 65 Meilen. Obgleich Packeis sie daran hinderte, weiter vorzudringen, hatten sie einen entscheidenden Schritt zur Erforschung des Südpols getan, von dem 1925 der Norweger Amundsen bei seiner erfolgreichen Suche nach dem Südpol profitieren konnte. Insgesamt blieben Roß und Croziers fast drei Jahre in den arktischen Regionen des Südpols und verließen das Reich des ewigen Eises nur, um erlittene Havarien auszubessern oder ihre erschöpfte oder erkrankte Mannschaft zu regenerieren. Mit den Schiffen „Erebus“ und „Terror“ begleitete Roß 1847 John Franklin mit den beiden Polarschiffen auf seiner vergeblichen Suche nach der Nordwestpassage.2 Der britische Forscher John Hanning Speke erreichte 1858 den Viktoriasee, in der Hoffnung den Verlauf des Nils nachzuweisen. Ihm taten es Sir Samuel White Baker 1864 und wenig später der Angloamerikaner Sir Henry Morton Stanley nach, der Deutsche Georg August Schweinfurth erforschte 1868 bis 1871 die westlichen Zuflüsse des Weißen Nils. Jene Unternehmungen dienten jedoch nicht ausschließlich dem wissenschaftlichen Forscher- und Entdeckerdrang, sondern ihnen lagen eben so nationale imperiale Expansionsbestrebungen zugrunde, so daß ein regelrechter Wettlauf der aufstrebenden Industrienationen einsetzte, der Welt die letzten Geheimnisse zu entreißen. Der französische Diplomat Ferdinand de Lesseps baute den Suezkanal, den er 1869 fertigstellte. James Watt, ein Vermessungstechniker und Erfinder aus Schottland entwickelte die Dampfmaschine und schuf somit die technischen Voraussetzungen des industriellen Fortschrittes zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Aber nicht nur konkrete Entdeckungen wurden in dieser Zeitepoche des wissenschaftlichen Aufbruchs gemacht, sondern auch in der Phantasiewelt der Schriftsteller und Dichter wurden Prospekte einer visionären Zukunft entworfen. Bis dahin ungeahnte technische Möglichkeiten nahm der Schriftsteller Jules Verne in seinen Romanen vorweg. Er war nicht nur der Erfinder des Sciense-fictionRomans, was ihm beizeiten ein literarisches Denkmal einbrachte, Jules Verne verstand sich vielmehr als Autor „wissenschaftlich belehrender Romane“. Der Leser wird über Fauna, Flora, Geographie und Geschichte der in seinen Erzählungen bereisten und entdeckten Länder informiert, wenn auch manches der blühenden Phantasie des Autors geschuldet ist. Die Handlungsabläufe wurden von Verne mit Schilderungen der jeweiligen Landschaften und historischen Begebenheiten untermalt, so daß der Leser nicht nur in den Bann spannender Geschichten gezogen, sondern überdies mit Informationen geographischer oder historischer Natur versorgt wurde. In seinem 1860 erschienen Roman Kapitän Hatteras nahm er die Entdeckung des Nordpols vorweg, wenngleich er dort in einer märchenhaft geschilderten Gegend den Polpunkt in der Mitte eines tätigen Vulkans beschrieb. Seine Technik- und Fortschrittsgläubigkeit resultierte nicht alleine aus seiner reichhaltigen Phantasie, vielmehr entstammte sie sorgfältig recherchierten Möglichkeiten und vieles an dem, was er visionär entwarf, wurde hinterher technische Wirklichkeit. Seine Romane 20.000 Meilen unterm Meer und Die Reise zum 277

Mond oder In achtzig Tagen um die Welt sind von der Wirklichkeit längst überholt worden. Schier aussichtslose Situationen, in denen die Personen seiner Handlungen stets geraten, werden durch den Sachverstand und einer humanistischen Haltung, die einem bestimmten Protagonisten eigen ist gelöst, und der in selbstloser Absicht hierdurch die übrigen vor Elend und sicherem Untergang bewahrt. Vernes Vorstellungen eines idealen Menschenbildes, welches sich in einer nahezu altruistischen Weise in der Beherrschung technischer Abläufe zum Wohle aller niederschlägt, tritt vor allem in der Figur des Dr. Clawbonny in seinem Roman Kapitän Hatteras exemplarisch zum Vorschein. Jules Verne pädagogisches moralisches Anliegen war der Philosophie der Aufklärung geschuldet, sowie getragen von der Vorstellung, daß sich technisches und naturwissenschaftliches Wissen durchaus mit edler Humanität verbinden kann. Aus der Kenntnis und Beherrschung der technischen und naturwissenschaftlichen Abläufe, aufgrund derer erst die Endeckung unbekannter Welten möglich wurde, sollte sich auch ein neues, von der Vorstellung der edlen Menschlichkeit getragenes Verständnis des Menschlichen untereinander entfalten. Und so waren die Belehrungen seiner Romanhelden immer von der Idee eines aufgeklärten, edlen und guten Menschenbildes getragen, dem Wahren, Schönen und Guten zugetan, welches sich zumeist immer an die jüngeren Personen in seinen Erzählungen richtete. Darüberhinaus galt Vernes Interesse den wirklichen Erforschungen im 18. und 19. Jahrhundert. In zwei Bänden schilderte er in anschaulicher Weise die gigantische Geschichte der Entdeckungen, der somit viele der kühnsten Taten wagemutiger Pioniere der Neuzeit festgehalten hat. Ohne deren Leistungen wären auf lange Zeit noch immer weiße Flecken auf den Landkarten des Globus geblieben. Im Großen und Ganzen verstand sich der Mensch der Aufklärung also emanzipiert inmitten eines Kosmos, dessen „Geheimnisse“ sich ihm zunehmend enthüllten. Imperialistische Bestrebungen und ein einseitiger Nationalismus, der sich gegen andere richtet, waren ihm fremd. Die Geisteslandschaft der Aufklärung glich einem hellerleuchteten Erdenrund, über den die Sonne der Vernunft ihrer Klimax entgegenstrebt. Was hinter dem Erfahrungsbereich des Denkhorizontes liegt ist klar abgegrenzt und interessiert so sehr nicht, als daß sich aus ihrer spekulativen Schattenwelt Ideen hätten produzieren lassen. Der Mensch der Aufklärung wird von seiner Ratio geleitet, ihm ist die Sinnenhaftigkeit des barocken Menschen fremd. Diesem blieb die Welt weitgehend fremd, chaotisch zwielichtig und unergründlich. Das aufgeklärte Individuum ist Träger eines Bewußtseins, mit dem es Regeln und Gesetzmäßigkeiten erkennen kann, die Ordnung in das vermeintliche Chaos bringen und die Unberechenbarkeit sogenannter schicksalhafter Gewalten obsolet erscheinen lassen. Realität ist das, was der Verstand und die Klarheit wissenschaftlicher Erkenntnis wahrnehmen. Es ist die Geburtsstunde des Empirismus. Gleichzeitig mit der Entdeckung der Vernunft wird der Wert der 278

Individualität und der Person als unverwechselbare Identität eines Menschen erkannt. Aufklärung, so Kant, „ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! lautete also der Wahlspruch der Aufklärung.“3 Die Aufklärung hatte indes auch ihre naiven Seiten, die von anheimelnder moralischer Einfachheit gekennzeichnet war und im Rahmen einer volkstümlichen Populäraufklärung, die ganz dem „gemeinen“ Menschen zugewandt, zur Geltung kam. Matthias Claudius vertrat im Wandsbecker Boten, einer von 1771 bis 1775 von ihm herausgegebenen „moralischen Zeitung“ die Auffassung, daß man nur den Menschen vernünftig ansprechen solle und man sich daraufhin wundern würde, wie er dies begreift. Auch die Romantik trug das ihrige zur Emanzipation des Menschen bei. Die Entdeckung des Ichs, seines Bewußtseins und die Welt des Unbewußten, derer man sich erwehren oder in ihr aufgehen kann. Die Vorwegnahme wesentlicher Einsichten der beiden klassischen tiefenpsychologischen Schulen Siegmund Freuds und Carl Gustav Jungs durch die romantische Spekulation, verstand sich unter psychologischen Gesichtspunkten gewissermaßen als Emanzipation des Ichs im eigenen Selbst. Das romantische Selbst verstand sich eben so in sein eigenes Inneres zu versenken, wie die Tiefenpsychologie ein halbes Jahrhundert später es zur wissenschaftlichen Methode erhob. Sowohl Aufklärung als auch die Romantik haben die unverwechselbare Individualität des Menschen gefördert, seinem Ich-Bewußtsein Geltung verschafft, mit dessen Hilfe er die Räume des wissenschaftlichen Kosmos und die Welt der Phantasie und des Unbewußten durchschreiten konnte. Gemessen an diesen durchaus modernistischen und humanen Ideenwelten bilden Aufklärung und die Phantasmagorien des Rassismus und Nationalismus unvereinbare individuelle und kollektive Deutungsräume, da sie einem aufgeklärten Bewußtsein im Wege stehen. Um den Nationalismus ideologisch zu unterfüttern, mobilisierte man die brauchbaren romantischen Ressourcen. Novalis träumte davon, ein christliches Reich deutscher Nation wiederherzustellen als Baustein zu einem christlichen Europa. In der Adaption romantischer Elemente wollten die Nationalsozialisten ein großdeutsches germanisches Reich, wozu ihnen der romantische Mythos vom Reich gelegen kam. Der verderbliche Nationalismus deutscher Ausprägung hatte die Fortschritte der Aufklärung wieder eingeebnet, so als es hätte es sie nie gegeben und dem Faschismus einer Massenidentität das Wort geredet. Aufklärung, Selbstbewußtsein und Weltbewußtsein wichen reaktionären und restaurativen Strömungen, die im Kielwasser des Nationalismus schwammen. Wissenschaftsfeindlichkeit, ein diffuser Haß auf den technischen Fortschritt, 279

empathische Naturliebe einhergehend mit einer naiven Verklärung archaischbäuerlicher Lebenswelten, sowie völkische und rassische Vorurteile bildeten ein pathologisches Syndrom, welches die Errungenschaften der Aufklärung vergessen ließen. Die Bilder der ursprünglichen Romantik verblaßten. Im Zuge des Nationalisierungsprozesses verlief der Übergang dieser Bilder, die noch universalistischen Charakter besaßen, in Richtung einer epigonalen Romantik, welche Goebbels einmal als Stählerne Romantik“ bezeichnen sollte und die in den Dienst völkisch-rassischer Prospekte gestellt wurde. Goebbels Vorstellung von der Stählernen Romantik bezog sich im Gegensatz zu den völkischen Vertretern auf den technisch-industriellen Komplex des Dritten Reiches. Bei der Eröffnung der Automobilausstellung 1939 sagte er: „Wir leben in einem Zeitalter, das zugleich romantisch und stählern ist, das seine Gemütstiefe nicht verloren, andererseits aber auch in den Ergebnissen der modernen Erfindung und Technik eine neue Romantik entdeckt hat“.4 Viele Ideen der Romantiker wurden von den völkischen Kritikern übernommen. Die Auffassung vom Staat als Organismus, die Idealisierung einer ständischen und religiösen Organisation der Gesellschaft,5 sowie Schellings Auffassung, daß in einem höheren Element alle Gegensätze aufgehoben würden.6 Hierin lag bereits der spätere Begriff der „Volksgemeinschaft“ verborgen. Sie sollte die metaphysische Instanz sein, in der sich alle sozialen, politischen und kulturellen Gegensätze zu einem einheitlichen Geist verflüchtigen, den sie die völkische Ideologie nannten. Weit bedeutsamer war, daß sie auch die bei den „deutschen Romantikern übliche ästhetische und geistige Auffassung von Politik und Geschichte und deren Verachtung für empirische, materielle Fakten übernahmen“.7 Aus diesem Grunde wurden die drei führenden deutschen Kulturpessimisten Lagarde, Moeller von den Bruck und Julius Langbehn fälschlicherweise als Romantiker bezeichnet. Hierbei wurde aber übersehen, daß sie sich zwar diese romantischen Elemente in unterschiedsloser und völlig entgegengesetzten Traditionen aneigneten, weil sie ihnen zufällig bekannt waren, jedoch die humanistischen und kosmopolitischen Ideen der Romantiker nicht zur Kenntnis nahmen. Thomas Mann hat daher den Rechten vorgeworfen, daß sie sich lediglich der Romantiker bedienten um die Weimarer Republik herabzusetzen.8 Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches verfiel auch Viktor Klemperer dem Irrtum, Nationalsozialismus und Romantik hätten übereinstimmende Gemeinsamkeiten. Er schrieb: „Ich hatte und habe das ganz bestimmte Wissen um die engste Verbundenheit zwischen Nazismus und deutscher Romantik in mir [...]. Denn alles, was den Nazismus ausmacht, ist ja in der Romantik keimhaft enthalten: die Entthronung der Vernunft, die Animalisierung des Menschen, die Verherrlichung des Machtgedankens, des Raubtiers, der blonden Bestie.“ 9 Georg Lukacs sieht die Romantik als den verhängnisvollen Wendepunkt in der deutschen Geistesgeschichte, über die humanistische Vernunft habe die irrationale Enthemmung des Lebens gesiegt und damit dem nationalsozialistischen Irrsinn in die Hände gespielt.10 Tatsächlich waren als 280

Ideengeber für nationalistische und nationalsozialistische Strömungen jene Aspekte der Romantik bedeutsam, die einer romantischen Organismusvorstellung in bezug auf Staat und Gesellschaft anhingen, wie sie von Friedrich Ludwig Jahn im Begriff des Volkstums und im Begriff der Volksgemeinschaft durch Friedrich Schleiermacher und Adam Müller zum Ausdruck kamen.11

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Kapitel 13 Der „ewige“ Untertan Ein Herbarium des deutschen Mannes. Kleine Könige, Untertanen und nationaler Rausch. Generalangriff auf die Humanität. Heinrich und Thomas Mann, zwei unterschiedliche politische Ansichten. Adornos manipulativer Charakter. Ein Sozialcharakter der Devotion. „Dieses Buch Heinrich Manns, heute, Gott sei Dank, in aller Hände, ist das Herbarium des deutschen Mannes. Hier ist er ganz: in seiner Sucht befangen zu befehlen und zu gehorchen, in seiner Roheit und in seiner Religiosität, in seiner Erfolgsanbeterei und in seiner namenlosen Zivilfeigheit.“ (Kurt Tucholsky) Das Böse als kollektiver Zustand manifestiert sich nicht erst da, wo es geschieht, sondern in seinen Voraussetzungen, die zu ihm führen. Zumeist kommen diese verborgen, unauffällig und als Banalitäten von Gewohnheiten im Alltäglichen zum Vorschein. Der Umschlag bürgerlicher Humanität in bürgerlichem Nationalismus mit all seinen inhumanen Tendenzen vollzieht sich anfänglich geräuschlos. Bildungsbürgertum und Nationalismus dürfen als gesellschaftliche Phänomene zweier unterschiedlicher kollektiver Charaktere im Wesen der Deutschen Nation im ausgehenden 19. Jahrhundert angesehen werden. In jeweils unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Epochen prägten sie das Bild der Nation, ohne hierbei an Virulenz einzubüßen. Bezog das Bildungsbürgertum seine hauptsächlichen Wurzeln aus dem deutschen Idealismus und den romantischen Strömungen des frühen 19. Jahrhunderts, so entwickelte sich der Nationalismus aus dem Bewußtsein eines Minderwertigkeitskomplexes, der in Hauptsache dadurch bedingt war, daß die deutsche Nation vermeinte, im Konzert der übrigen Nationalstaaten, eine untergeordnete Rolle zu spielen. Hinzu kam, daß die Deutschen im Zeitalter des Imperialismus schwerlich mit dem opulenten Besitz von Kolonien mithalten konnten und von vergleichsweise kleineren Staaten wie Holland, Belgien oder Spanien hierin übertroffen wurden. Unter den Bedingungen nach wie vor bestehender feudaler Strukturen, die in einer aufgeklärten, industriellen Gesellschaft überflüssig geworden wären, flüchtete man daher in die Unfreiheit eines kollektiv verordneten Nationalismus obrigkeitsstaatlicher Ausprägung oder in die Hülle des gesellschaftlichen Konformismus. Und so waren die nationalistischen Strömungen in ihren verschiedenen Ausdrucksformen des Völkischen und Rassischen Anzeichen dafür, daß das Scheitern revolutionärer emanzipatorischen Ideen tiefer im Bewußtsein seine Spuren hinterlassen hatte, als auf den ersten Blick erkennbar wurde. Im kulturellen und mentalen Klima des Kaiserreiches und der Weimarer Republik haben sich diese Besonderheiten im 282

gesellschaftlichen Kontext niedergeschlagen. Sie fanden einerseits ihren Ausdruck in den ambivalenten Impressionen eines Deutschlands der lyrischen, romantischen Dichtung und Kunst, der humanistischen Philosophie, und während der Weimarer Republik in der Vorstellung eines friedfertigen Weltbürgers, den die Republikaner als zukunftsweisendes Modell eines Staatsbürgers vor Augen hatten und der kosmopolitisch redete und dachte. Andererseits aber wirkte in einer Art visionärer Parallelkultur nahezu ungebrochen und virulent militärische Prahlerei, eine kriecherische Unterwerfung unter die Obrigkeit, eine krankhaften Vorliebe für das Formale und Grundsätzliche sowie der imperialen Abenteuerlust, um die innere Minderwertigkeit durch expansive Abenteuer im Äußeren zu kompensieren.1 Nach Innen war hingegen ein sogenannter Hurrapatriotismus angesagt und jedermann hatte ihn zu befolgen. Diesen schilderte Heinrich Mann in seinem Roman Der Untertan in anschaulicher Weise in jener Szene, wo die Hauptperson Diederich Heßling den Hut schwenkend und mit tiefen Bücklingen unablässig Hurra brüllend neben der kaiserlichen Kutsche ein her läuft. Als der Kaiser ihn erblickte, freilich, irritiert ob solcher devoten Bezeugungen, war diese flüchtige Begegnung für Heßling in diesem Moment das größte Glück auf Erden und er fühlt sich in einem unendlichen Maße aufgewertet. Aber nicht nur gegenüber dem Kaiser waren solcherart Ehrerbietungen angesagt; allen Uniformträgern, den militärischen zumal, und notfalls auch vor jeder Fahne anläßlich diverser patriotischer Festveranstaltungen wurden solche unterwürfigen Haltungen eingenommen und gehörten zum Repertoire eines anständigen Bürgers im Deutschen Kaiserreich. Für den Außenstehenden schien Deutschland aus einer einzigen Schar hüteschwenkender und patriotisch gesinnter Untertanen zu bestehen, die vor jeder nationalen Symbolik in ehrfürchtiger Erstarrung verfielen. Überhaupt wurde das gesellschaftliche Klima vom Geist der Uniformen beherrscht, der seine Wurzeln im preußischen Militarismus hatte mit seiner Vorliebe für Orden, Ehrenzeichen, Flaggen und Uniformen, Tressen eben so wie für blankpolierte Uniformknöpfe über deren makelloses Aussehen eine strenge Unteroffizierspädagogik wachte. Der bevorzugte Rhythmus dieser Zeit drückte sich in Marschmusik aus, verbunden mit einem ewigen Paradieren, Exerzieren und borniertem Herumstolzieren. In jenem Untertan, wie ihn Heinrich Mann in der Figur des Diederich Heßling charakterisierte, zeichnete sich die bürgerliche Variante und der sozialpsychologische Phänotypus einer Generation ab, dem die späteren Henker und barbarischen Knechte des nationalsozialistischen Totalitarismus folgten. In dieser apokalyptischen Satire auf das Bildungsbürgertum lotet Heinrich Mann die Untiefen, der vom Nationalismus pervertierten „kollektiven Seele“ aus. Kurt Tucholsky hat 1919 den Roman das „Herbarium des deutschen Mannes“ genant, stellvertretend für eine ganze Generation hybrider Männlichkeit bei gleichzeitiger geistiger und mentaler Impotenz. In seinem 283

Aufsatz Reichstag von 1911 hat Heinrich Mann den deutschen Spießbürger mit den Attributen eines im Grunde widerwärtigen Typus beschrieben, als imperialistischen Untertanen, Chauvinisten und in der Masse verschwindenden Machtanbeters, des Autoritätsanbeters wider besseren Wissens und „politischen Selbstkasteiers“. Der unheldische Held der Erzählung, Diederich Heßling, ist ein weiches Kind, „das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt“.2 Seine Mutter, die unschicklicherweise Romane liest, für die damalige Zeit eine handfeste Provokation, da Romane keine Kultur sind und schon gar keine deutsche, wie die Herkunft des Begriffes bereits erahnen läßt, scheint ihn zu verwöhnen und für das Leben untauglich zu machen. In den Dämmerstunden versucht man sich gemeinsam an Klavierspiel, Märchenerzählen und Gesang. Wenn es ans Politische geht, sind solche Träumereien vergessen, aus denen man die letzten Tropfen Gefühlsduseligkeiten herauspreßt. Solches ist nur für den Feierabend und an den Sonntagen gedacht, dann ist echte deutsche Stimmung angesagt, deutsches Liedgut und WagnerOpern, die Diederich so sehr schätzt. Heinrich Mann schildert in seinem Roman den unaufhaltsamen Aufstieg eines Schwächlings zum Untertan und provinziellen „Herrgott“. Diederich Heßling dient sich in konsequenter Angepaßtheit nach oben. Über die studentische Korporation in Berlin und in der Verschmelzung mit den national-konservativen Stimmungen steigt er zum Fabrikherren, Stadtverordneten und Familienpatriarchen hoch. Als Sohn eines kleinen Papierfabrikanten, einem Exemplar des aufstrebenden Besitzbürgertums, studiert er im kaiserlichen Berlin Chemie und promoviert zum Doktor der Chemie. Selbstverständlich wird er Korpsmitglied in einer der reaktionären studentischen Verbindungen. Er übernimmt die väterliche Fabrik, heiratet und zeugt Kinder, wie es sich für einen anständigen deutschen, männlichen Staatsbürger gehört. Auch strebt er eine politische Karriere an, obwohl sein politisches Verständnis nicht über das Niveau der Stammtische hinausreicht, an denen er im Verein mit Gleichgesinnten seine Vorurteile und wirren Halbwahrheiten ausbreitet. Mit Hochmut schaut er auf die Sozialdemokratie und den jüdischen Liberalismus herab, die für ihn die Vorstufen des Bösen darstellen. Der Liberalismus, zumal der kosmopolitische jüdische, bringt sein starres Unterordnungsweltbild durcheinander, und Respektlosigkeit, Unordnung und Auflösung befürchtet er als kommendes Unheil, wenn die verhaßten Sozialdemokraten an die Macht kommen sollten. Später als machtvoller Unternehmer weiß er, wie man das Arbeitergesindel anfaßt, deutsche Sitte und Zucht verlangend. Die Erschießung eines demonstrierenden Arbeiters auf offener Straße feiert er als etwas Heroisches, „sozusagen Majestätisches“, das „ohne Urteil mitten“ im „bürgerlichen Stumpfsinn“ geschieht. “Für mich, sagte er, schnaufend vor innerer Erregung, hat dieser Vorgang etwas direkt Großartiges [...]. Daß da einer, der frech wird, einfach abgeschossen werden kann, [...] auf offener Straße [...]. Da sieht man doch, was Macht heißt“, stellt er begeistert fest. Heßlings gradlinige 284

„Deutschheit“ kennt keinerlei Kompromisse; seiner Geliebten gibt er den Laufpaß, weil sie in ihrer fehlenden Reinheit seinem moralischen Empfinden entgegensteht. Von ihr mag er keine Kinder erwarten, denn „kein Mensch kann von mir verlangen, daß ich so eine zur Mutter meiner Kinder mache, dafür habe ich zuviel soziales Gewissen.“ Seine Hochzeitsreise mit einer geldschweren Bürgerstochter steht unter den Zeichen nationaler Gesinnung. Sie führt ihn und seine Braut nach Rom, den Spuren des Kaisers folgend, der sich dort aufhält. Bei jeder sich passenden Gelegenheit betätigt er sich als hutschwenkender Hurra-Rufer. „Diederich schwenkte den Hut, er brüllte auf, daß die Herren im Wagen ihr Gespräch unterbrachen. Der rechts neigte sich vor- und sie sahen einander an, Diederich und sein Kaiser. Der Kaiser lächelte kalt prüfend mit den Augenfalten, und die Falten am Mund ließ er ein wenig herab. Diederich lief ein Stück mit, die Augen weit aufgerissen, immer schreiend und den Hut schwenkend, und einige Sekunden lang waren sie, indes ringsum dahinten einen fremde Menge ihnen Beifall klatschte, in der Mitte des leeren Platzes und unter einem knallblauen Himmel ganz miteinander allein, der Kaiser und sein Untertan.“ Als Heßling nach einer Denkmalfeier für Kaiser Wilhelm I. am Haus des sterbenden alten Buck vorbeigeht, einem unzeitgemäßen 48er Revolutionär, dessen Ansehen und Stand in der Stadt durch Heßling untergraben wurde, vermeint dieser, in ihm den Teufel zu erkennen. Ein Gewitter kommt auf und beendet das Fest vorzeitig und unplanmäßig. Das Unwetter wirkt wie ein Strafgericht des Himmels über den Wilhelminismus. Wenn er auch nicht der Teufel höchstpersönlich ist, so ist doch der typische Untertan in der Figur des Heßling ein Sendbote aus dem Reich des zerstörten deutschen Bildungsidealismus, einer der philiströsen Kleingeister, die am Sündenfall der deutschen Kultur eifrig mitgewirkt und den Boden der Gewalt und des Terrors bereitet haben. Kurt Tucholsky schrieb über den Roman, der mehr war, als nur eine Satire und welcher in intellektuell kritischen Kreisen großen Anklang fand: „Dieses Buch Heinrich Manns, heute, Gott sei Dank, in aller Hände, ist das Herbarium des deutschen Mannes. Hier ist er ganz: in seiner Sucht zu befehlen und zu gehorchen, in seiner Roheit und in seiner Religiosität, in seiner Erfolgsanbeterei und in seiner namenlosen Zivilfeigheit. Ein Stück Lebensgeschichte [...]. Aber das ist nicht nur Diederich Heßling oder ein Typ. Das ist der Kaiser, wie er leibte und lebte. Das ist die Inkarnation des deutschen Machtgedankens, da ist einer der kleinen Könige, wie sie zu Hunderten und Tausenden in Deutschland lebten und leben [...].“3 Freilich, historisch betrachtet übersteigt die widerliche Figur ihre eigene romanhafte Metaphorik, denn sie ist darüberhinaus die personifizierte Verrohung des deutschen Bürgertums, welches sich das Drama seines kulturellen und moralischen Niederganges selbst bereitet hat. Im Verlaufe dieses moralischen Niederganges sind all diejenigen humanen Werte der Freiheit, Menschlichkeit und Toleranz eines Schiller, Goethe oder Gotthold Ephraim Lessing in ihrer Breitenwirkung spurenlos geblieben. In seinem Roman entwarf Heinrich Mann 285

das Schreckensbild eines vom obrigkeitsgläubigen Untertanengeist beherrschten Landes. Eines Landes, welches aufgrund seiner kollektiven psychischen Verfassung die besten Voraussetzungen zur späteren totalitären Herrschaftsform des Nationalsozialismus bot. Aus dem Untertanengeist des Deutschen Kaiserreiches führte insofern ein direkter Weg in den Totalitarismus des „Dritten Reiches“. Stellvertretend für jene bereits erwähnte Verächtlichmachung von Geist, Aufklärung und kritischer Reflexion erlaubt sich Heßling einem geistvollen Zeitgenossen gegenüber zu sagen: „ Ihre Skepsis und Ihre schlappe Gesinnung sind nicht zeitgemäß. Mit – er blies durch die Nase –, mit Geist ist heute nichts zu machen. Die nationale Tat –, ein Faustschlag auf den Tisch, hat die Zukunft!“ In der Figur des Diederich Heßling begegnet uns jener traurige, armselige und inhaltsleere Mensch, den man später als typischen Faschisten bezeichnen würde. Dennoch, der Roman muß den Nerv vieler Zeitgenossen getroffen haben, die ähnliches wie Heinrich Mann erahnten. Wie einen Spiegel hielt Heinrich Mann dem „bürgerlichen Deutschen“, als dessen Charakterstudie er die Hauptperson seines Romans verstanden wissen wollte, dessen verkommenen und devoten Verhaltensweisen vor Augen. Bereits 1906 hatte er sich mit dem Stoff beschäftigt und ihn als Gesellschafts- und Sittenbild des deutschen Bürgertums, eines „hofsfnungslosen Volkes“ unter der Regierung Wilhelms des Zweiten, wie er es selbst bezeichnete, konzipiert. Obwohl 1914 bei Kriegsausbruch zunächst verboten, erschien der Roman 1918, und binnen vier Wochen nach seiner Erscheinung auf dem Büchermarkt waren 80 000 Exemplare verkauft. Diederich Heßling wurde zur Symbolfigur für das, was in der neuen Republik überwunden werden sollte. Die, die daran glaubten, wurden wenig später bitter enttäuscht. Heinrich Manns Roman schildert nicht nur den Charakter einer fiktiven Romanfigur, sondern in ihm kommt auch jene Skepsis und Bitterkeit zum Ausdruck, die auch den Schriftsteller befiel, wenn er sich als Zeitgenosse dieser unseligen inhumanen Gesellschaft sah. Es ist daher mehr als nur die literarische Abrechnung mit einer Epoche; sein Roman ist das Zeugnis eines Außenseiters, der sich über allen äußeren Schein den Sinn für die verlorengegangene Menschlichkeit bewahrt hat und über deren Verlust leidet. Es war auch das Bekenntnis zu einer positiven Utopie einer Republik des Geistes, jenes Geistes und jener Kultur, die im Bürgertum verlorengegangen waren. Für alle, die ähnlich dachten, war er zum Vorkämpfer der Revolution und zum Repräsentanten deutscher Kultur geworden. Im Gegensatz zu seinem Bruder Thomas, der sich noch in den Betrachtungen eines Unpolitischen mehr als skeptisch gegen Politik und Demokratie gewandt hatte, war Heinrich ein revolutionärer Verfechter linker Positionen. Nie hatte er aufgehört die Mißstände anzuprangern, die im Kaiserreich bestanden und entgegen allen Hoffnungen bis in die Weimarer Republik und darüberhinaus fortwirkten. Und so mußte er bereits 1919 konstatieren, daß die Lügen des Kaiserreiches samt 286

seinem Personal übernommen wurden. Daher beklagte er auch, daß die Aussöhnung mit den Siegern und der Aufbau eines neuen Europas des Geistes und der Kultur nicht statt gefunden hatte, dagegen Ausverkauf an die Großindustrie, die schon das Kaiserreich getragen und Deutschland in einen unseligen Krieg manövriert hatten, dessen schmähliches Ende Heinrich Mann schon 1914 voraussagte. Trotz aller erstaunlichen Klarsicht bleiben dennoch Heinrich Manns Gedanken über die Zukunft Deutschlands seltsam verworren und widersprüchlich. Einerseits fordert er die Abschaffung der Pressefreiheit, andererseits tritt er für die Herrschaft der „geistigen Arbeiter“ ein, die ohne Pressefreiheit kaum denkbar ist. Vom deutschen kulturellen Erbe erwartet er eine Erneuerung, obgleich er die französische Kultur weit aus höher schätzt als die deutsche. Nicht nur sein Bruder Thomas stand seinen politischen Aufrufen kritisch gegenüber, auch Kurt Tucholsky bemerkte, daß Heinrich in seinen Werken, wie etwa in den Romanen Die Armen und Der Kopf in diesen Zeiten etwas merkwürdig Distanziertes an den Tag legte, das zu den wirklichen Problemen keinen Zugang eröffnete Seine Appelle an die Vernunft, an die Einsichtsfähigkeit der Menschen, die er zu einer Gesellschaft aufrief, an die er selbst nicht so recht glaubte, lassen ihn als einen unpolitischen Rebellen erscheinen, der gegen das Bestehende angehen wollte, ohne sich ernsthaft politisch zu engagieren oder politisch ernsthafte Vorstellungen zu entwickeln. Dennoch war sein direkter politischer Einfluß während der Weimarer Republik größer als der seines Bruders Thomas, vor allem deshalb, weil er nie aufhörte, die desolaten sozialen Verhältnisse anzuprangern. Oder war er trotz der politischen Karikatur eines Diederich Heßling, die er mit luzider Schärfe zeichnete, ein unpolitischer Mensch, weit weniger politisch als sein Bruder Thomas? War ihm der Roman der Untertan geistige Nische genug, um den konkreten Alternativen gegenüber der Unterdrückung eines freien Geistes und einer liberalen Gesellschaft aus dem Wege zu gehen? Jedenfalls hat er selbst in der Emigration keine konkreten Vorstellungen entwickeln können, den Faschismus zu bekämpfen. In seinem Selbstverständnis sah er sich indes als Schriftsteller in einer politischen Rolle, so daß er an Thomas Mann schrieb: „Literatur ist niemals nur Kunst, eine bei ihrem Entstehen schon überzeitliche Dichtung gibt es nicht. Sie kann so kindlich nicht geliebt werden wie Musik. Denn sie ist Gewissen – auch aus der Welt hervorgehobene und vor sie hingestellte – Gewissen. Es wirkt und handelt immer.“ 4 Über Heßling sagte Kurt Tucholsky, daß er einer der vielen kleinen Könige sei, wie sie in Deutschland leben, getreu dem kaiserlichen Vorbild, ganze Herrscherchen und ganze Untertanen. Alle Personen des im Kaiserreich spielenden Romans, die Aristokraten und Bürger, Unternehmer und Richter, Offiziere und Beamte, Lehrer und Geistliche, Arbeiter und Arbeiterführer, Politiker und Huren sind die personifizierten Symbole einer zur Spießbürgerlichkeit degenerierten Kultur und manche von ihnen sind 287

Schlüsselfiguren zum tieferen Verständnis einer regressiven Gesellschaft, in der die Individuen zu fragmentierten Charaktermasken verkommen sind. Joachim Fest sprach von der Hauptperson Diederich Heßling von einer ins „Mythologische gesteigerten Sozialmarionette“, die den Eindruck erwecke, „der Untertan sei immer nur der andere.“5 Marcel Reich-Ranicki bemerkte über die Hauptperson in Heinrich Manns Roman, daß man nach gut einem Drittel ihn gar nicht mehr zu Ende lesen brauche, da alles weitere vorhersehbar sei.6 Heßling verhält sich in den unterschiedlichsten Lebenslagen wie ein Untertan sich eben zu verhalten gewohnt ist; ein Beamter handelt wie ein Beamter im kaiserlichen Obrigkeitsstaat und ein Major sagt, was ein Major der kaiserlichen Armee zu sagen hat. Tatsächlich deckt Heinrich Mann, wenngleich auch mit unvergleichlichem literarischen Zynismus und gelegentlich auch mit Haß eine Gesellschaft auf, deren Mentalitäten dazu beigetragen haben, Deutschland und der übrigen Welt die schrecklichste menschliche Katastrophe zu bereiten, die jemals über die Menschheit hereingebrochen ist. Insofern trägt der Roman einen prophetischen Zug, der wie durch ein Brennglas die gesamte deutsche Malaise am Beispiel der stereotypen Reaktionen und Handlungsabläufe phänotypischer Figuren aufzeigt. Kollektiver Kadavergehorsam preußischer Provenienz, identitätsimmanente Subalternität, Gehorsam bis zum letzten, moralische Doppelbödigkeit und philisterhaftes Bildungsgebaren, alles das verdichtet sich in der Figur des Diederich Heßling. Seine unterwürfige und devoten Attitüden sind nicht gelegentlicher Natur, gewissermaßen unliebsamen und unangenehmen Situationen angepaßt, denen gegenüber die schwache Identität verbietet, sich anders zu verhalten, sondern habituelle Facetten seines angepaßten Charakters. Demzufolge entspringen sie nicht einem wohlüberlegten Kalkül, in einer bestimmten Situation das für ihn günstigste Verhalten zu inszenieren; vielmehr reagiert er bei allen denkbaren Gelegenheiten mit der gleichen Marionettenhaftigkeit, gleichsam fremdbestimmt durch die rigiden Vorgaben gesellschaftlich internalisierter Umgangsformen, die Anpassung und Unterwerfung als höchste Bestandteile menschlicher Identität verstehen und als Produkte einer deformierten Erziehung und Sozialisation im Alltag stets hervortreten. Obgleich Heinrich Manns Roman unter den Voraussetzungen von Parlamentarismus im wilhelminischen Zeitalter angesiedelt ist, so liegt dennoch das Schwergewicht der Macht und des gesellschaftlichen Diskurses in den Händen der monarchisch-militärischen Obrigkeit, die ein Sozialsystem privilegiert, welches der absterbenden Klasse der ostelbischen Junker, den grundbesitzenden Adel in ökonomischer und sozialer Hinsicht standesgemäß entgegenkommt und ihnen über Hof, Regierungsgeschäfte, Verwaltung und Heer einen maßgeblichen Anteil an der Herrschaft sichert. Diese Gesellschaft, im wilhelminischen Geist tief verwurzelt, ist trotz aller parlamentarischen Gepflogenheiten eine devote Angelegenheit, eine Gesellschaft geprägt durch die Vertikalität von Oben und unten, bestimmt von der restlosen Anpassung des 288

Bürgers an diesen politischen und sozialen Herrschaftsformen. Sie haben deren Normen übernommen und sind selbst zu Trägern, Nutznießern und Garanten dieses Systems geworden, so sehr sie auch seine Produkte sind. Am Beispiel des Diederich Heßling hat Heinrich Mann exemplarisch vorgeführt, wie der Sozialcharakter der staatsbürgerlichen Devotion entsteht und wie er agiert. Welches Ausmaß an Unterwürfigkeit nach oben und Brutalität nach unten ihm innewohnt und in welcher Weise er dumm und zugleich gerissen, korrupt und korrumpierend, sentimental und er dennoch voller pathetischer Attitüden auftritt, einfältig, charakterlos, angepaßt und stets bereit, den Anordnungen der Obrigkeit Folge zu leisten, andererseits jedoch voll innerer Minderwertigkeit und verdrängter Aggressivität ist. Somit scheint er erfolgreich in den Augen der alten, seriösen und ehrenwerten Figuren jener Zeit zu sein, weil das Herrschaftssystem Untertänigkeit, wie vom Schlage eines Heßling prämiert und dieser es zu seinem Vorteil ausnutzt. Gleichwohl zerstört die Untertänigkeit gegenüber autoritären und inhumanen Systemen jegliches Selbstbewußtsein oder läßt es erst gar nicht aufkommen. Der Untertänige ist ein lebenslanger, trotzig gegen die väterliche Autorität Pubertierender. Da er sie nicht zu seiner Selbstentwicklung überwinden kann um sich von ihr zu distanzieren, identifiziert er sich mit der Aura ihrer Macht, verkörpert durch den Obrigkeitsstaat, und unterwirft sich ihr restlos bis zur Selbstverleugnung. Dieses typisch deutsche Pubertätsverhalten, was in jenen Zeiten ein kollektives Phänomen war, besteht aus einem sonderbaren Gemisch aus offener Auflehnung, aus zynischer Entscheidung zum Bösen und unterwürfigem Gehorsam, den Hang zu romantischer Vereinsamung und hoffnungsloser Verzweiflung, an den Weltbildern der Erwachsenen zu Grunde zu gehen.7 In den Persönlichkeitsprofilen zahlreicher Nazitäter und auch heutiger Politiker lassen sich einige dieser Wesensmerkmale nachweisen. Für die ersteren bedeutete ihre Mitgliedschaft in den nationalsozialistischen Organisationen ein nihilistischer Protest gegen die herrschende Vätergeneration, den sie nicht anders unterbringen konnten, als in den Institutionen von Terror und Mord. Somit besteht ein enger psychologischer Zusammenhang zwischen der Bereitschaft zur Unterordnung in totalitären Systemen und deren inhumanen Tendenzen, sowie der Identifikation mit einem Kollektiv oder einer Führergestalt. Unter den systemimmanenten Verhältnissen einer parlamentarischen Demokratie läßt sich dieser Anpassungsprozeß bis in die Parteienstrukturen und der Unterordnung ihrer Mitglieder verlängern. Psychologisch betrachtet hat sich in dieser Hinsicht nicht viel verändert. Die Verdinglichung eines Menschen, der sich in einem totalitären Kollektiv selber seiner Identität beraubt und ein falsches Selbst lebt, führt dazu, amorph und gesichtslos zu werden wie die kollektive Masse und andere wie eine amorphe Masse zu behandeln. Der oftmals verwendete Begriff vom „Parteisoldaten“ deckt eine noch so sorgfältig verborgene Machtstruktur schonungslos auf und führt einen demokratischen Konsens ad absurdum. In dem Moment wo 289

Parteienstrukturen über die Entscheidungskompetenz von Individuen bestimmt, läßt sie totalitäre Herrschaftsformen durchschimmern. Diederich Heßling ist nicht nur in widerlicher Weise ein angepaßter Untertan, sondern in dem Maße, wie er angepaßt erscheint, ist er unglücklich und einsam, einer mit dem niemand zu tun haben will. Die vergebliche Suche nach menschlicher Zuwendung und Anerkennung kompensiert er mit hemmungsloser Gier nach Macht und Einfluß über diejenigen, die unter ihm stehen, obgleich er niemals aus seiner Subalternität heraustritt. So wie er sich von den Moral- und Normvorstellungen einer rigiden Gesellschaftsordnung manipulieren läßt und sein gesamtes Dasein danach ausrichtet, wobei er sich immer mehr von sich selbst entfremdet, manipuliert er andere im Namen eines inhumanen Systems. Theodor W. Adorno hat diesen Charakterzug einen „manipulativen Charakter“ genannt, der stets ein falsches Selbst lebt.8 Dieser Charakter zeichnet sich durch Formalismus und Organisationswut aus, durch die Unfähigkeit, überhaupt unmittelbare menschliche Erfahrungen zu machen, durch eine gewisse Art von Emotionslosigkeit, durch überwertigen Realismus in einem Leben des äußeren Scheins, ohne wirkliche innere Selbstsicherheit. Im Charakterbild des Untertan äußert sich die merkwürdige Kombination von idealisiertem Pathos auf alles was deutsch und des Kaisers ist, sowie gehorsame Unterwerfung, was dazu führt, daß er hart mit sich selbst und mit anderen verfährt, aber ohne innere Autorität. Der Untertan ist in seinem tiefsten Kern der ewig Unselbständige, der in seiner persönlichen Unreife immer einer väterlichen, oder genauer gesagt einer höheren Autorität bedarf, an die er sich anlehnen darf. Ohne deren „Schutz“ ist er nichts, besitzt er keinen Selbstwert. Einerseits neigt er aus revolutionierendem Zynismus zum Bösen und Grausamen gegenüber Schwächeren, andererseits besitzt er eine seltsame Neigung, väterliche Autoritäten in Gestalt von Obrigkeiten mystisch zu erhöhen und romantisch zu verklären, indem er ihnen diejenigen Eigenschaften unterstellt, die er bei sich selber schmerzlich vermißt. Den Vätern jener Epoche mangelte es an echter Autorität, die sich auf die Integration kultureller Werte und Ideale hätte stützen können. Statt dessen war die väterliche Autorität durchweg auf pädagogische Praktiken von äußerer Härte ausgerichtet, die von rigiden gesellschaftlichen Erziehungsmustern abgeleitet wurde. Die Unterdrückung eigener und fremder Gefühle galt als selbstverständlich, wobei Disziplin und Härte gegen sich selbst und gegen andere als höchste männliche Tugenden galten, vor allem dann, wenn sie in militärische Attitüden auftrat. Deshalb war deren Herrschaft und väterliche Strenge nicht von jener Zärtlichkeit und Würde geprägt, die aus einem echten Interesse herrührt, Erziehung wurde nicht als eine Möglichkeit und Hilfe zur Selbstverwirklichung des Kindes verstanden, sondern man sah sie als eine Instanz an, die den kindlichen Willen zu brechen hatte, um so einer rigiden Gesellschaftsordnung die angepaßten Individuen zuzuliefern, gleich den Vätern, denen einst selber in diesem Erziehungsklima die Persönlichkeit gebrochen wurde. Eben so setzte 290

die Schulpädagogik die autoritären väterlichen Muster fort. Stefan Zweig sah das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer in einem Unten und Oben, ohne jede Möglichkeit eines befriedigenden Zusammenhanges, der ein selbständiges Denken gefördert hätte. Die Lehrer saßen oben, zwischen Katheder und Schulbank, die unsichtbare Barriere der „Autorität“, die jeden mitmenschlichen Kontakt verhinderte. Emotional von ihren Schülern getrennt, fragten und ordneten die Lehrer an, gemäß dem behördlich vorgeschriebenen Lehrplan, und die Schüler mußten antworten und gehorchen.9 Es gab viele Erzieher aber keine Erziehung zur Mündigkeit. Sklavisch an ihren Lehrplänen gebunden, förderten sie die Anpassung an die Obrigkeit. Kritische Reflexion und Selbstständigkeit des Denkens waren ihnen ebenso verwehrt, wie sie es bei ihren Schülern zu unterbinden wußten. Schulen und Universitäten wurden zu uneinnehmbaren Bastionen der Restauration und eines reaktionären Verständnisses von Individuum und Gesellschaft. Die abstrakte bürgerliche Moral, welche mit Hilfe des deutschen Aufsatzes einexerziert wurde, „diente allein einer Vorstellung vom Staate, die jede liberale und individuelle Regung zu unterbinden“ wußte. Der Schuldirektor herrschte unumschränkt als „Polizeipräsident“. Eine mittlere Katastrophe, welche auf die gesamte Familie einstürzte, trat immer dann ein, wenn das Klassenziel nicht erreicht wurde.10 Thomas Mann stellte in den Betrachtungen eines Unpolitischen fest: „Als Knabe personifizierte ich mir den Staat gern in meiner Einbildung, stellte ihn mir als eine strenge, hölzerne Frackfigur mit schwarzem Vollbart vor, einen Stern auf der Brust und ausgestattet mit einem militärisch-akademischen Titelgemisch, das seine Macht und Regelmäßigkeit auszudrücken geeignet war: als General Dr. von Staat.“11

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Kapitel 14 Kriegsbegeisterung und „Heiliges Vaterland“ Hurrapatriotismus und die Fallen der Intellektuellen. Das Ende der Autoritäten. Ethik des Kampfes. Faustische Überheblichkeit, Ehre, Kaiser, Vaterland und Tod. Kriegsbegeisterte Hochschullehrer. Lyrische Kriegsapologetik und die Verführung der Massen. Spätestens nach dem Zusammenbruch der alten Traditionen des Deutschen Kaiserreiches nach 1918, als sich neue Lebensformen bemerkbar machten, konnten diese rigiden väterlichen Identifikationsmuster, keine sinnvollen Orientierungen mehr vermitteln; es entstand eine Gesellschaft der „falschen Väterlichkeit“.1 In der Ablehnung des väterlichen Vorbildes wandte sich der ewig pubertierende Untertan daher imaginären Größen zu, wie Vaterland, Ehre, Gehorsam, Ideologie, und die allesamt mystisch überhöht erschienen. Sein Autoritätsbild entbehrte der väterlichen Vermittlung wirklich ideeller Werte, wie sie im historischen Kulturkanon des Ich-Ideals über Generationen und in unterschiedlichen politischen Epochen verankert sind, da die Väter selber diese Wertvorstellungen nicht besaßen. Somit fehlte dieser Generation jene Facetten, die aus einer Erziehung herrühren, welche sich in allererster Linie an humanen menschlichen Werten orientiert und nicht an den Symbole des äußeren Scheins. Vielmehr kam deren Identitätsverständnis nicht über die militärisch affizierten Gewohnheiten eines Feldwebels oder eines subalternen Beamten hinaus. Jeglicher Wert des Menschen wurde an militärischen Maßstäben festgemacht. Eine durchaus gängige Frage in der wilhelminischen Epoche war: „Haben Sie gedient?“ Berufliche und gesellschaftliche Karrieren hingen weitgehend davon ab, ob man dem „General Dr. von Staat“ auch als Offizier und dergleichen gedient hatte. Ein Mensch ohne diesen biographischen Umstand galt als minderwertig und besaß kaum eine gesellschaftliche Reputation. In dessen Leben tat sich eine Lücke auf, die durch nichts anderes geschlossen werden konnte. Dem entsprechend propagierte man ein Leitbild des jugendlichen strammen Offiziers, der vor „Blut und Eisen“ strotzte und über die schlappe Haltung eines Zivilisten, zumal wenn er als schöngeistig galt, unendlich erhaben schien. Sittliche Gesinnung, eiserne Nerven, forsches Auftreten und strahlende, männliche Schönheit in sich vereinigte und im Krieg den großen Erzieher der Jugend und Erneuerer sah, „der die Menschheit auf ihrem Weg zur Höherentwicklung begleitete [...]. Und wehe dem Volke, das längere Zeit hindurch seiner heilenden und hegenden Hand entraten muß“.2 Der deutschen Frau hingegen blieb es überlassen, am heimischen Herd ihre männlichen Kinder zu jenen heldenhaften Kriegern zu erziehen, welche die Nation so dringend zu ihrer „Höherentwicklung“ benötigte. Demgegenüber traten humanistische Gesinnung, ein künstlerischer und kulturell bewanderter Geist in 292

den Hintergrund. Im Zeichen des technischen Fortschrittes und der wirtschaftlichen Expansion war nicht nur im deutschen Bürgertum, sondern gleichfalls auch in anderen europäischen Staaten im Bürgertum ein Gefühl chauvinistischer Überlegenheit gegenüber den Arbeitern, den Frauen und außereuropäischen Völkern verbreitet. Unter dieser überheblichen Stimmung verkannte man die Herausforderungen der Moderne, so daß die demokratische und soziale Entwicklung nicht mehr mit den wirtschaftlichen und technischen Errungenschaften Schritt halten sollte. Man hatte sich weit von der emanzipatorischen Einstellung entfernt, unter denen die modernen Nationen einst angetreten waren und deren Ziel in der Verwirklichung politischer Demokratie und in dem sozialen Ausgleich der Klassen bestanden hatte. Dennoch hatten die Frauenbewegungen und die gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Kräfte ihre Ansprüche auf nationale Gleichberechtigung vehement eingefordert. Daß diesen Bestrebungen ein militanter Nationalismus entgegengestellt wurde, der solche Unterschiede überdecken sollte, läßt den Verdacht entstehen, daß die bürgerlich-adligen Führungseliten deshalb den Weg in den Krieg wählten, „weil sie glaubten nur so ihre privilegierten Positionen sichern zu können“.3 Am Vorabend des Ersten Weltkrieges war die nationalistische Stimmung so weit verbreitet, daß sie bis in intellektuelle Kreise eindringen konnte, die sich eben so wenig von diesem kollektiven Wahn distanzierten, wie die übrige Bevölkerung. Als der Krieg sichtlich nicht mehr verhindert wurde, standen die Herzen der Dichter und Jünglinge in hellen Flammen. Alle eilten zu den Waffen um an dem großen nationalen Reinigungsprozeß teilzunehmen. Von einem nationalen Glücksgefühl beseelt, zogen sie wie in einen „Wettstreit in den Krieg, frohlockend mit tiefaufquellendem Jauchzen“,4 wie Thomas Mann bemerkte, wobei sie sich im Draufschlagen und Sterben fürs heilige Vaterland als Meister erwiesen. Für sie gab es nichts seligeres, als „vom Feind erschlagen“ zu werden. Erst der Heldentod auf dem Schlachtfeld adelte den deutschen Jüngling. In der Meinung in einen Verteidigungskrieg zu ziehen, eilten auch die Arbeiter zu den Waffen, zumal die Fraktion der Sozialdemokratie im Reichstag der Bewilligung von Kriegskrediten zugestimmt hatte. Die rasante Entwicklung nationalistischer, imperialistischer und rassistischer Ideen in Verbund mit dem Militarismus des Kaiserreiches hatte erst die Bereitschaft zu einer kriegerischen Auseinandersetzung geschaffen. Der Krieg wurde, wie der Kampf der Rassen untereinander, als „Kampf um das Dasein“ gesehen. In den Köpfen und öffentlichen Reden und Diskussionen existierte dieser Krieg bereits, bevor die Truppen marschierten. Und so war es kein Zufall, daß er so selbstverständlich hingenommen wurde, als er endlich ausbrach. „Deutschland und der nächste Krieg“ hieß ein Erfolgstitel aus dem Jahre 1912, in dem ein Major namens Friedrich von Bernhardi unter anderem erklärte: „Der Krieg ist in erster Linie eine 293

biologische Notwendigkeit, ein Regulator im Leben der Menschheit, der gar nicht zu entbehren ist“.5 In einem bis dahin nie gekannten Ausmaß wurde die Zivilbevölkerung in den Krieg hineingezogen, allerdings in unterschiedlichen Formen. Die Arbeiterfrauen mußten in den Munitionsfabriken arbeiten und überdies, die an der Front eingesetzten Männer in deren verschiedensten Berufen ersetzen, während dessen die wohlhabenden Frauen unter dem Motto „Gold gab ich zur Wehr, Eisen nahm ich zur Ehr“ ihren Schmuck abgaben. Selbst Kirchenglocken wurden von den Türmen geholt und eingeschmolzen. Eine wesentliche Rolle für die Arbeiterschaft spielten die Gewerkschaften, welche die laufenden Streiks abbrachen und dafür von der Reichsregierung die Zusage erhielten, daß ihre Organisationen im Krieg nicht angetastet würden. Dies alles geschah mit einer Selbstverständlichkeit, so daß alle sozialen Ungleichheiten, die bislang den Bestand der Gesellschaft gefährdeten, im Sog der kollektiven Euphorie ihre politische Brisanz verloren. Der Reichstagspräsident Kaempf frohlockte gar, daß das Volk in Waffen „im Bewußtsein seiner Stärke hinaus in den heiligen Kampf“6 zieht. Aber es gab auch Stimmen der kritischen Solidarität. Der SPD – Sprecher Hugo Hasse sagte zwar den stets zitierten Satz: „ Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich“, blickte aber zugleich auf die verhängnisvolle Entwicklung der imperialistischen Politik und des Wettrüstens zurück, die zum Kriege geführt habe und vorausschauend meinte: „Wir hoffen, daß die grausame Schule der Kriegsleiden in Millionen den Abscheu vor dem Krieg wecken und sie für das Ideal des Sozialismus und des Völkerfriedens gewinnen wird.“7 Der Kaiser sah die allgemeine Stimmungslage der Parteien aus seinem Blickwinkel und sprach am 1. August 1914 den berühmten Satz aus: „Ich kenne in meinem Volke keine Parteien mehr; es gibt unter uns nur noch Deutsche“.8 Dies war nicht nur so dahergesagt, sondern der Krieg vereinte in einem nationalen Rausch auch diejenigen, die bislang gesellschaftliche Randpositionen eingenommen hatten: die Juden, Arbeiter und trotz kritischer Einwände auch die Sozialdemokraten, Gewerkschaftler, Katholiken und Frauen. Zum ersten Male in der Geschichte des Deutschen Reiches wurde die Nation als eine einheitliche Willensgemeinschaft erlebt. Daß diese Einheit nur ein vorübergehender Burgfriede sein sollte und den kommenden Herausforderungen nicht standhalten würde, sollte sich erst später herausstellen. Ohne daß die Regierenden zu diesem Zeitpunkt an die Verwirklichung echter sozialer und politischer Reformen dachten, entwickelte sich durch diese Erfahrung das Gefühl, einer Volksgemeinschaft zuzugehören. In ihrer kurzen Geschichte hatte die in sich zerstrittene Reichsnation die Chance, über das Kriegserlebnis einen neuen Grundkonsens zu finden. Da aber politische und soziale Reformen ausblieben, setzte sich die Zerrissenheit der sozialen und politischen Klassen untereinander bis über das Kriegsende hinaus 294

fort, was sich letztlich auch zu einer schweren Hypothek für die Weimarer Republik erweisen sollte. Diese allgemeine nationale „Aufbruchsstimmung“ mag auch ein Grund gewesen sein, daß selbst ansonsten unmilitärische Geister, wie Thomas Mann in den allgemeinen nationalen Rausch einfielen und die „Ehre“ der Nation nur durch militärische Abenteuer wieder hergestellt sahen. In ihm sah Thomas Mann eine „Reinigung, Befreiung [...] und eine ungeheure Hoffnung“. Aber wovon Befreiung und wozu Hoffnung?. War es die „Last“ bürgerlicher Kultur und verkrusteter Strukturen, das bedrückend spießige Klima zu Anfang des 20. Jahrhunderts, dessen Produkt und zugleich ein darunter Leidender Thomas Mann selber war. Etwas anderes als den Fortbestand des Kaiserreiches auf Ewigkeit konnten sich die meisten unter ihnen und vor allem das bürgerlichkonservative Lager kaum vorstellen. Demokratische und liberale Verhältnisse lagen in weiter Ferne und es sprach wenig dafür, daß sie sich alsbald einstellen würden. Einzig die Sozialdemokraten sahen in den kommenden Materialschlachten jene Schrecken zutage treten, die die Arbeiterschaft in allen Gegenden der Welt zur Solidarität bewegen sollte. Denn ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten verbanden sie mit der Hoffnung, daß die grausame Schule der Kriegsleiden der Millionen den Abscheu vor dem Krieg wecken und sie für das Ideal des Sozialismus und des Völkerfriedens gewinnen wird. War der Krieg also doch der Vater aller Dinge, wie ihn Ernst Jünger in seinen Erinnerungen der „Stahlgewitter“ verkündete? Oder war die Kriegsbegeisterung nichts anderes als eine kollektive Katharsis, bei der man sich aller Verdrängungen und Unterdrückungen entledigte? Es lag in jenen Tagen viel Widersprüchliches in den mentalen Einstellungen und Identifikationen der Intellektuellen, die mit wenigen Ausnahmen diesen Krieg bejahten. In einer Erklärung vom 16. Oktober 1914 entrüsteten sich 3016 kriegsbegeisterte Hochschullehrer darüber, daß das feindliche Ausland angeblich im Sinne deutscher Intellektueller einen Unterschied zwischen dem Geist der deutschen Wissenschaft und dem preußischen Militarismus behauptete. Sie stellten klar, daß man sich nicht vom preußischen Militarismus abspalten lasse. Und manch einer, so der Historiker Erich Marcks (1861-1938), Schüler Treitschkes und Vater des späteren Wehrmachtsgenerals Erich Marcks, traf in der Feststellung, daß es die tiefsten Kräfte unserer Kultur sind, die diesen Krieg tragen und ihm einen höheren Sinn verleihen, die allgemeine Grundstimmung, welche auch die Intellektuellen des Kaiserreiches erfaßt hatte. Auch äußerten sich wiederum die uralten Vorbehalte gegen den französischen Geist: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit von 1789 demgegenüber die deutschen Ideen seit 1871 Pflicht, Ordnung und Gerechtigkeit beschworen wurden. Bei allen Unterschiedlichkeiten ihrer biographischen Erfahrungen, bei allem wachen kritischen Bewußtsein, welches sie ansonsten aufbrachten, war auch bei den Intellektuellen des Landes das militärische Klima des Kaiserreiches nicht spurenlos geblieben. Maßgebende Schriftsteller stellten den Opfertod fürs 295

Vaterland in den Dienst kriegsverklärender Literatur, die nicht nur von Ernst Jünger vertreten wurde. Im Opfertod vollzog sich die höchste Stufe eines Nihilismus in der Identität mit Nation und Volk. Der persönliche Identitätsverlust reichte so weit, daß viele der maßgeblichen Denker jener Zeit im Opfertod für das Vaterland die höchste Erfüllung des bürgerlichen Selbstverständnisses sah. Überdies verklärten zahlreiche Schriftsteller des bürgerlichen Lagers das Sterben auf den Schlachtfeldern in literarischen ästhetischen Bildern, so daß man von einer Kriegslyrik sprechen konnte. Der Schriftsteller Walter Flex, geb. 1887 in Eisenach, Sohn eines nationalliberalen Gymnasiallehrers, beteiligte sich an der Schwemme nationalistischer Kriegsliteratur, welche im Spätsommer und Herbst 1914 über Deutschland hereinbrach. In der Täglichen Rundschau, seinerzeit eine der auflagenstärksten Tageszeitungen veröffentlichte er fast täglich Kriegsgedichte, die begeistert aufgenommen wurden. Sein größter Erfolg wurde die autobiographische Erzählung Der Wanderer zwischen beiden Welten, die im Oktober 1916 erschien. In ihr verarbeitete er ein traumatisches Erlebnis, welches mit dem Tod seines Freundes Wurches zusammenhing, der während eines Patrouillenganges ums Leben kam. Seine Erzählung wurde zum erfolgreichsten Buch des ersten Weltkrieges und auch in den folgenden Jahrzehnten blieb dessen Popularität ungebrochen. In der Handlung verbinden sich – wie könnte es anders sein –, völkische–nationalistische Sichtweisen mit der Darstellung hocherotischer männlicher Zuneigungen und einer jugendbewegten Naturpoesie. Für die Jugendbewegungen galt er als Klassiker der Moderne, die sich autobiographisch im Genre der Stahlgewitter eines Ernst Jünger und Erich Maria Remarque Im Westen nichts Neues bewegte Sowohl bei Ernst Jünger als auch bei Walter Flex zeigte sich in ihren Romanen, die im Gegensatz zu Remarque apologetische Hymnen auf den Krieg sind, daß mit ästhetischen Verkleidungen selbst so schlimmster Apokalypsen, höchster literarischer Ruhm zu erwerben ist. Gewollt oder ungewollt knüpften sie an die Tradition des italienischen Futurismus, des Dichters Filippo Tommaso Marinetti an, – dem geistigen Wegbereiter des Faschismus –, indem sie die Faszination einer hochtechnisierten Kriegsmaschinerie und der Ästhetisierung des Todes mit einer lustvollen Freude an den Untergang aller abendländischen Werte verbanden. Marinetti sang ab 1909 in seinem futuristischen Manifest das Loblied auf Gewalt, Aggressivität, Egoismus, Geschwindigkeit, Krieg und Rücksichtslosigkeit, in dem es u.a. heißt: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes“.9 Der Grat, zwischen absoluter Verherrlichung des Krieges und damit zugleich, die Ignoranz millionenfachen Schreckens und einer grundsätzlichen Absage an alle menschlichen Werte, war sehr schmal und beinahe unmerklich verliefen die Übergänge, wenn die Moral durch Ästhetik ersetzt wurde. Die Ästhetik wurde somit zur Täuschung völlig unästhetischer 296

Dinge, die einer gewissen Pathologie des Gefühls und des Denkens ihrer literarischen Wegbereiter geschuldet waren. So war es gewiß kein Zufall, daß die hymnischen Schilderungen der Kriegsereignisse und deren Aufbereitung als stählernes Gerüst zu einem neuen Menschenbild über den Tag hinauswirkten und zur Rezeptionsliteratur einer ganzen Generation demokratiefeindlicher Söldnernaturen wurde, zumal endlich das in die Praxis umgesetzt werden konnte, was zuvor im Klima vergangener Jahrzehnte unter der Decke spießbürgerlicher Dummheit schlummerte. Das Selbstbild des Bürgers im aufbrechenden zwanzigsten Jahrhundert orientierte sich an den Umgangsformen einer rüden Kasernenhofmentalität, die über weite Generationen die individuelle Erziehung und das gesellschaftliche Klima prägten. Auf das soziokulturelle Klima der Gesellschaft hatten diese erzieherischen Umgangsformen beträchtliche Auswirkungen, die sich vor allem im politischen Selbstverständnis ihrer Bürger in negativer Weise bemerkbar machte. Die Ursachen hierzu waren vielfältiger politischer, mentaler und sozialer Natur und lagen Jahrzehnte zurück. Als 1871 der Nationalstaat zustande kam, mangelte es an der weitertreibenden Kraft und Hoffnung, grundlegende Bürgerrechte herbeizuführen. Es gab zwar die Rede- und Versammlungsfreiheit, Freiheit des religiösen Bekenntnisses, aber die Abwesenheit aller bekannten Grundrechte außer dem Wahlrecht, machte deutlich, daß der Bismarcksche Staat nicht aus dem Willen umfassender demokratischer Absichten gegründet wurde und einer mündigen Nation geschuldet sein sollte, sondern nach Ansicht des Historikers Michael Stürmer, ein „militärisch-dynastischer“10 Akt hierzu den Ausschlag gegeben hat, der eine Reihe von triumphalen Kriegen abschloß. Der Gründungsmythos des Deutschen Reiches war nicht die Absicht eine demokratische und mündige Nation zu installieren, sondern den geopolitischen Erfolgen der militärischen Siege die ersehnte staatliche Form zu geben. Damit dies bei der Bevölkerung nicht in Vergessenheit geriet, dafür haben Reichsgründungsfeiern und Sedantage stets gesorgt. Dabei war das Deutsche Reich ein föderaler Nationalstaat, der aber immer unter der Vorherrschaft von Preußen blieb, welches die Politik des Reiches in vielen Gebieten präjudizierte, da der König von Preußen zugleich der deutsche Kaiser war und der Reichskanzler in der Regel der Ministerpräsident von Preußen, die beide für die politischen Entscheidungen die Verantwortung trugen und deren Machtposition fast unangreifbar waren.

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Kapitel 15 Von den Wirrungen bürgerlichen Selbstverständnisses Kollektive Zerfallsprozesse. Über den kollektivpsychologischen Wahnsinn der Normalität. Staatsvergottung, Historienkult, das Reich sucht seine Identität. Die verspätete Nation, Limeskomplex, gespaltenes Selbstbewußtsein. Heimatlos im Vaterland. Sehnsucht nach dem Fremden. Herrenmenschen, Literatur einer charmanten Aristokratie. Wider den republikanischen Geist. Die Vorstellung eines „aristokratischen“ Weltbürgertums, wie sie in den demokratischen Bewegungen der übrigen westlichen Nationen entwickelt wurden, konnte sich weder in den deutschen Kleinstaaten noch im späteren Deutschen Kaiserreich durchsetzen. Aus der Unfreiheit des Bürgers, der weder ein klassenbewußter Revolutionär noch satter Bourgeois und am allerwenigsten ein stolzer Citoyen und verantwortungsbewußter Staatsbürger war, der, während er gleiche Pflichten anerkannte, sein Recht auf Individualität behauptete, entstand die chronische Unterwürfigkeit, der krankhafte Hang zum Formalen und das Festhalten am Grundsätzlichen. Der einzige Ausweg aus dieser selbst verantwortenden Unfreiheit schien die Flucht in einen pseudoreligiösen Nationalismus zu sein, in dem alles an subjektiv minderwertiger und frustrierender Unzulänglichkeit aufgehoben wurde. In der restlosen Identifikation mit den zweifelhaften Idealen und den vordergründigen Attitüden des wilhelminischen Obrigkeitsstaates liegen offensichtlich die Ursachen einer Verrohung humaner Werte und Umgangsformen, die ihre Legitimation nicht aus der grundsätzlichen Achtung der Menschen untereinander beziehen, sondern sich ausschließlich nach Stand, Macht sowie nach wirtschaftlichem Einfluß, militärischer Stellung und gesellschaftlicher Anerkennung orientieren. Unter dem Einfluß traumgleicher Bilder einer psychologischen Wirklichkeit in der das Individuum in einen Zustand der Regression gerät, täuschte die kollektive Identifikation mit einem nationalen Mystizismus den Anschein gemeinsamer Interessen vor, in der Gegensätze und soziale Klassenunterschiede auf den ersten Blick nicht mehr zu erkennen waren. Im Zustand einer regressiven Massenpsychose, in der sich nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen und Stände befanden, schienen die sozialen Ungleichheiten eingeebnet. Zudem überformte die Massenhysterie individuelle Unterschiede und reduzierte die Menschen zu Objekten in einem orgiastischen Wechselspiel zwischen den machtvollen Kräften der Obrigkeit und ihren Untergebenen. Es tat sich immer gut für den Bürger an solchen Anlässen teilzuhaben, obgleich er hierbei stets Zuschauer und Bewunderer derartiger patriotischer Inszenierungen blieb, die zu allen möglichen vaterländischen Anlässen veranstaltet wurden. Er durfte sie zwar in den unzähligen vaterländischen Vereinen und Veteranenvereinigungen vorbereiten und die 298

Staffage bilden, auf den politischen und ideologischen Sinn dieser Festlichkeiten hatte er so gut wie keinen Zugriff. Dieses Wechselspiel entbehrte nicht einer gewissen Faszination von theatralischem Gepränge, Gewalt und totaler Beherrschung des einzelnen durch die Inszenierungen obrigkeitsstaatlicher Macht. Jahrzehnte später konnten die Nationalsozialisten bei ihren Massenveranstaltungen auf diesen erprobten Mechanismus der Verführungskunst zurückgreifen und durch den Mythos von der Volksgemeinschaft eine zusätzliche, scheinbar integrierende Bedeutung vortäuschen. In der restlosen Identifikation mit dem „heiligen Vaterland“ und seinen Symbolen wußten sich schließlich alle einig. Bei dem Übertragungsvorgang eigener Minderwertigkeitsgefühle in Form einer ungehemmten kollektiven Verehrung des „Vaterlandes“ als Über-Ich-Ideal handelt es sich, ähnlich wie beim literarischen Expressionismus um den Versuch, den Substanzverlust des Ichs, den Vietta als Ichdissoziation beschrieb, zu kompensieren. Im Zuge dieser kollektiven Psychopathologie enthüllte sich das deutschnationale Denken als eine sprachliche Rationalisierung regressiver gesellschaftlicher Zustände, in denen Begriffe wie Würde, Ehre, Macht und Glanz der Nation eine sowohl integrierende als auch ausgrenzende Bedeutung für diejenigen, die sich deren normativen Herrschaft entziehen, beigemessen wurde. So achtbar und verbreitet eine derartige Gesinnung auch war, reaktionär war sie allemal, da sie die fortschreitende Industrialisierung mit ihren Modernisierungstendenzen und zukunftsorientierten Sichtweisen beharrlich ignorierte. Statt sich den demokratischen und liberalen Herausforderungen zu stellen, welche die Ungleichzeitigkeit von industriellem Fortschritt und der Rückwärtsgewandtheit der Ideen eines „romantischen Nationalismus“1 überwunden hätten, verharrte man in den mystischen Bildern einer geschichtlichen Vergangenheit, die bei näherem Hinsehen auch nur eine Illusion der Vergangenheit war und mit der politischen Wirklichkeit recht wenig Gemeinsamkeiten aufwies. Wie sehr solchen Bildern geglaubt und als Entwurf der Gegenwartsbewältigung verstanden wurden, drückte sich in zahlreichen Gedenkreden anläßlich der Bismarckschen Reichsgründung aus, die alljährlich an den deutschen Universitäten gehalten wurden. Noch in der Zeit der Weimarer Republik äußerte sich die vaterländische und wirklichkeitsfremde Gesinnung in den Universitätsreden, die zumeist von republikfeindlichen Professoren gehalten wurden. In heroischen Bildern wurde eine im Nachhinein stilisierte Vergangenheit beschworen, deren einziger Zweck darin bestand, sie gegen die Demokratie Weimars zu richten. An der Universität Halle klang das im Jahre 1924 so: “Dankbar richten sich unsere Blicke zurück auf den Tag, an dem vor 53 Jahren das neue deutsche Reich durch die geniale Kraft Bismarcks und die Waffengattung unserer siegreichen Heere begründet worden ist. Es war eine stolze, lichte Zeit, und eine stolze und lichte Zeit folgte, als das junge Staatsgebilde sich machtvoll und groß nach außen und innen entwickelte. – Und heute? Unser Herz krampft sich zusammen! Auf Schritt und Tritt fühlen 299

wir die Ohnmacht des Deutschen Reiches, unsagbares Elend und Finsternis herrschen in unserem Vaterland.“2 Ähnlich lautende Reden erklangen zu anderen Gelegenheiten, wie beispielsweise anläßlich des Sedantages. Und immer wieder gerieten solche Festlichkeiten zu demokratiefeindlichen Veranstaltung, bei der die militärische, politische und geistige Elite dem aufziehenden Totalitarismus die beredten Argumente zulieferte. Die Verfechter des deutschnationalen Denkens waren entschiedene Gegner der Demokratie. In ihrem Weltbild war daher kein Platz für die Anerkennung gleicher Rechte aller Menschen. Für sie war es undenkbar, daß eine Gesellschaftsordnung auch ohne die starren Strukturen einer, auf Unterwerfung ausgerichteten Mentalität Bestand haben könnte. Nationales Denken und die Geisteshaltung des Typus des Untertanen, der sich restlos in den Dienst der Obrigkeit und einer nationalen Idee stellt, sind eng miteinander verbunden. Psychologisch erscheint so etwas durchaus nachvollziehbar, da große Teile der Massen mit dem Kaiserreich innerlich verwachsen waren und das monarchische Statusgehabe gewissermaßen introjiziert und zu ihrem eigenen gemacht hatten, indem sich jeder Untertan gegenüber einem Schwächeren als Vertreter einer monarchischen Ordnung verstand. Carl Zuckmayer hat im Hauptmann von Köpenick diese Rangordnung in dem Dialog zwischen dem Schuster Vogt und seinem Schwager, der ein subalterner preußischer Beamter ist, in treffender Weise aufgezeigt. Anstatt dem mittellosen Vogt wirklich zu helfen, sieht sich der Schwager bemüßigt, die autoritäre Ordnung des Obrigkeitsstaates als einziges Argument zu dessen sozialer Malaise zu vertreten. Unter der totalen Identifikation mit den machtstaatlichen Symbolen ging jegliches soziales Mitgefühl verloren. Anstatt unmittelbare konkrete Hilfe zu leisten, verwies man auf die Abstraktion eines sorgenden Staates, für den, dessen „Papiere“ in Ordnung waren, oder genauer gesagt, dessen Reputation außer Frage stand und nicht das Schicksal erlitten hatte, aus dem gesellschaftlichen Raster gefallen zu sein. Einer selbständigen politischen Haltung durch die obrigkeitsstaatliche Praxis des Kaiserreiches entwöhnt, transformierte auch das Bürgertum zu großen Teilen seine staatsbejahende und zugleich unpolitische Haltung nach 1918 zu heftigen Ressentiments gegen die demokratische Ordnung. Aus der inneren „Wagenburghaltung“, die sich einer realistischen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Problemen versagte, entstand auch nach außen hin, das Gefühl, von allen umzingelt und bedroht zu sein. Selbst die Flucht in den nationalen Mythos reichte nicht aus, die Minderwertigkeitsgefühle auf Dauer zu überdecken. Die impressionistischen Bilderwelten des nationalen Mythos können somit leicht ins Absurde führen, wenn sie vorgeben, dem Individuum Halt zu geben, indem sie die politische Wirklichkeit widerspiegeln. Jene Bedrohungsszenarien, die der nationale Mythos zu seiner politischen und psychologischen Legitimation aufbaute, erwiesen sich realpolitisch als Schimären, die nur den Zweck verfolgten, über imaginäre Feindbilder den 300

inneren Zusammenhalt der Nation zu sichern. Selbst ein so luzider Denker wie Max Weber sprach am Ende des Ersten Weltkrieges davon, daß das Schicksal es so gefügt hat, daß ausschließlich Deutschland drei große Landmächte und die größte Seemacht zu unmittelbaren Nachbarn habe und es ihnen daher im Wege stehe. Nationales Schicksal und mangelnder Lebensraum sind ins mystische getriebene Bedrohungen, denen sich die Deutschen in der Vergangenheit ausgesetzt sahen und zu deren Abwendung es nur zwei Alternativen gab: Entweder hätten sie ihre regionalen Eigenheiten beibehalten müssen und zu einem modernen föderativen Staat werden können, kulturbeflissen, liebenswert und der Vielfältigkeit des Lebens aufgeschlossen sowie einer demokratischen Einstellung verpflichtet und nützlich für jedermann und für niemanden eine Gefahr, oder aber sie tendierten, wie geschehen, zu einem mächtigen Reich, entstanden aus ungünstigen politischen und mentalen Qualitäten mit imperialen Absichten und Bedrohungspotentialen gegenüber anderen europäischen Nachbarstaaten. Das Deutsche Reich des 19. und 20. Jahrhunderts fühlte sich indessen bedroht und empfand seine Grenzen, die es inmitten eines europäischen Kraftfeldes definierten, als überaus verletzlich und unsicher. Innerhalb eines realpolitischen Denkens war diese Verletzlichkeit durchaus bewußt und ein durchgängiges Phänomen in der Wahrnehmung eigener Interessen, bei der man stets durch fremde Werte beeindruckt wurde. Der Psychoanalytiker und Kulturanthropologe Erik H. Erikson sieht in dieser kollektiven Neurose ein schwer definierbares klinisches Problem.3 Die typische deutsche Pathologie besteht darin, daß keine vergleichbare Nation ähnlicher Größe und Bevölkerungsdichte sowie historischer Verschiedenheit ihrer Bevölkerung, wie etwa Frankreich, auf die kulturellen Einflüsse seiner Nachbarländer derart ambivalent reagiert hat, bei gleichzeitigem Anspruch, sie zu integrieren und ebenso furchtsam ihnen gegenüberzustehen. Ähnlich wie bei der Entstehung individualpathologischer Ängste ist es die wechselseitige Steigerung spezifischer politischer, kultureller, mentaler und merkwürdigerweise auch psychologischer Faktoren, die verhindert haben, daß sich eine wirklich authentische deutsche Identität herauskristallisieren konnte, die den wachsenden Herausforderungen eines modernen Industriezeitalters mit allen sozialen und ökonomischen Konsequenzen gewachsen wäre. So ist allemal auffallend, daß die industrielle Revolution im Deutschen Reich in rasantem Tempo voranschritt, ohne daß soziale und demokratische Entwicklungen hiermit Schritt halten konnten. Im Gegensatz zur deutschen Nation vollzogen die übrigen westlichen Nationen ihre demokratischen Revolutionen, in deren Gefolge sie allmählich die Privilegien der aristokratischen Klasse übernahmen und sich mit diesen identifizierten. Ihre Bürger gewannen zunehmend an Selbstbewußtsein, was sich unter anderem darin ausdrückte, daß man die Identitätsattitüden der vormals herrschenden Klasse verinnerlichte. In jedem französischen Bürger entwickelte sich daher etwas vom französischen Chevalier, in jedem Engländer traten die Merkmale eines angelsächsischen 301

Gentleman zu Tage und in jedem Amerikaner steckte etwas von einem ewigen Rebell der Gründerjahre. Dieses unterschiedliche „Etwas“ bildete dasjenige aus, was einen freien Bürger auszeichnete, voller Selbstbewußtsein und kritischer Haltung gegenüber den Herrschenden. Hingegen hat der deutsche Staatsbürger aus verschiedenen Gründen, auch die, der ständigen Furcht vor eingebildeten Bedrohungsinszenarien diese selbstbewußte Identität nicht entwickeln können. Immer sah er sich und seine völkische Kultur durch fremde Einflüsse in Frage gestellt, was frühzeitig eine Abwehrhaltung gegen alles von außen kommende förderte und in kompensatorischer Weise zu der typisch deutschen Überheblichkeit über andere Nationen führte. Die stetige Furcht vor der Obrigkeit bei gleichzeitiger grenzenloser Verehrung des Staates als übermächtige Instanz hat das Selbstbewußtsein verkümmern lassen. Hinzu kam, daß die humanistische Bildung, neben ihrer Verherrlichung der romantischen Weltflucht der Dichter, vor allem Disziplin und Pflicht forderte, die sich tief in die Gewissensbildung der Menschen niedergeschlagen haben. Freilich lagen dieser Gewissensbildung keine ethischen Motive zugrunde, aus einer Achtung vor den Grenzen und der Integrität des anderen, sondern aus Furcht vor höheren Autoritäten und einem abstrakten System von Vorschriften und staatlichen Reglementierungen. Die sprichwörtliche Disziplin und Noblesse des angelsächsischen Gentlemans hingegen gründet in einer kulturellen Verankerung demokratischer Umgangsformen, welche auf Respekt vor der Würde des anderen beruht. Das französische Selbstbewußtsein einer „Grande Nation“ anzugehören, geht einher mit einer grundsätzlichen Skepsis gegen die Regierenden. Der private Stolz, Franzose zu sein, hindert nicht, dem Staat zu mißtrauen. Aus den deutschen Imponderabilien hingegen resultiert eine widersprüchliche Wesensart und ein Gewissen mit schwer zu vereinbarenden Idealvorstellungen, welches selbstverleugnend und grausam sein kann, verbunden mit einer „ewigen“ Unzufriedenheit mit sich selbst, ohne je die Ursachen hierzu ändern zu können und zu wollen. Erik H.Erikson zufolge beruhen die deutsche Gespaltenheit, sowie das Unvermögen aus der stetigen Rückwärtsgewandtheit einer verspäteten Nation herauszutreten, auf einem „historischen Gefühl des Unbehagens“, welches man als „Limeskomplex“4 bezeichnen könnte. Indes führte die paradoxe Gespaltenheit zu jenen extremen deutschen Widersprüchen zwischen Provinzialismus und Kosmopolitentum. Jener provinzialischer Typus versuchte verzweifelt und mitunter mit Vernichtungswut, allen fremd erscheinenden Einflüssen zu widerstehen und wurde „deutsch“ bis zur Karikatur eines Untertanen, wie ihm Heinrich Mann in seinem Roman ein literarisches Denkmal gesetzt hat. In seiner pathologischen Ausformung wurde er vom zweiten, „weitherzigen“ Typus abgelehnt. Dieser fühlte sich jedoch im eigenen Land als Exilant und nicht Verstandener, ein lebenslanger und rastloser Sehnsüchtiger nach den Annehmlichkeiten und Lebensweisen anderer Kulturen. Mitunter war er nicht nur der schärfste Kritiker typisch deutscher Spießbürgerqualitäten, wie etwa 302

Heinrich Mann oder Kurt Tucholsky, sondern mehr als notwendig, ein Heimatloser im eigenen Vaterland. Beiden Typen war das Unpolitische als durchgängiger Charakterzug immanent und weder ein Kosmopolit wie Goethe noch ein so distanzierter Staatsmann wie Bismarck – in damaliger Zeit die führenden Gestalten in der Reihe der Leitbilder humanistischer Schulbildung – haben Wesentliches zu einem Bild des politischen Menschen und kritischen Staatsbürgers beigetragen. Indem die Gegenwart immer trostloser für den einzelnen erscheint, wächst die Sehnsucht nach der Geborgenheit im Gestrigen, welche zur Rezeptur der Massenkultur stilisiert wird. Durch die Regression in die obskure Kraftfülle des nationalen Mythos, der nahezu alle kulturellen Implikationen überschattete, wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Vergangenheit lebendig, die mehr phantasiereichen Reminiszenzen entsprang, als daß sich hierdurch erfahrene Realitäten des Alltages abbilden ließen. Somit konnten auch aus ihnen keine Lehren für die Gestaltung der Gegenwart und erst recht nicht für die Zukunft gezogen werden. Im Banne mythischer Bilder blieb indessen die Vernunft auf der Strecke und aus ihrer Verwerfung konnte sich das hemmungslose Schwelgen in einem Irrationalismus entwickeln, der zunächst noch gedanklich bereit war, literarische und geistige Ideen zur Barbarei und des Inhumanen zu rechtfertigen. Mit der Preisgabe von Vernunft und kritischer Rationalität, die nicht als eine wirklichkeitsfremde Attitüde verstanden werden darf, war eine entscheidende Bastion gefallen, die einem politischen und kulturellen Barbarismus hätte entgegenwirken können. Totalitäre Systeme mit ihren vergleichsweise geschlossenen und monolithischen Erscheinungsformen haben schon von jeher eine Faszination auf die Massen ausgeübt, wie sie gleichwohl der Massen bedürfen, um sich zu etablieren. Die Vermassung der Bevölkerung begann nicht erst mit dem Auftreten des Nationalsozialismus auf der politischen Bühne. Die Wurzeln hierzu lagen in den Verwerfungen und Unvereinbarkeiten gesellschaftlicher und individueller Bedürfnisse im ausgehenden 19. Jahrhundert und dem Umstand, daß dem berechtigten Bedürfnis der Menschen nach Freiheit und sozialem Wohlergehen durch nichts anderes entsprochen wurde, als durch die Etablierung eines inhumanen Nationalismus. Das Beunruhigende daran ist, daß totalitäre Systeme auf eine nahezu uneingeschränkte Popularität von Seiten der von ihnen unterdrückten Massen rechnen konnten. Jedoch noch verwerflicher scheint die Tatsache zu sein, daß das Bildungsbürgertum ebenso anfällig für die Massenhysterie des nationalsozialistischen Terrorsystems wurde, wie gleichfalls große Teile der geistigen und künstlerischen Elite sich von ihm beeindrucken ließen. Man unterliegt daher einem verhängnisvollen Irrtum anzunehmen, daß der Nationalsozialismus trotz Deutschlands intellektueller Größe zur Macht gelangen konnte. Vielmehr war er das natürliche Ergebnis und die politische Folgeerscheinung der spezifisch sozialen, oder genauer gesagt, asozialen und inhumanen Orientierung seiner bedeutendsten Denker 303

und Literaten. Nicht nur Nietzsche ist hierunter gemeint, der in Wahnsinn starb, bevor er Zeuge der leibhaftigen Existenz der uniformierten „Übermenschen“ wurde, die er philosophisch entworfen hatte. Auf dem breiten Strom, der die wahnhaften Ideen des nationalen Mythos bis hin zur Vernichtungsexpansion der „deutschen Übermenschen“ über andere Kulturen und Völker transportierte, befand sich die unzählige Schar der Intellektuellen und Eliten aller gesellschaftlichen Ebenen, die einst aus dem Bildungsbürgertum der Romantik und des Deutschen Kaiserreiches über Generationen ihre apolitische und autoritäre Gesinnung weitergegeben hatten. Wie wir sehen konnten, treffen wir bereits bei Stefan George auf Verse, die den völkischen Herrenmenschen huldigen und eine Gesellschaft installieren möchte, die sich einem starken Führer unterordnet. Wenngleich Georges Verse antimilitaristisch im eigentlichen Sinne waren, so kommt dennoch ein Zerstörungsfuror in ihnen zum Ausdruck, der sich gegen die Vorherrschaft der Vernunft und dem Bestreben nach Emanzipation richtete. Georges Dichtkunst besaß beträchtliche Gestaltungskraft, die sich mächtig über jede Vernunft zu entfalten wußte. George war jedoch keineswegs ein Rassist. Sein mysthisch-völkisches Verständnis, dem Germanischen nicht abgeneigt, blieb frei von rassistischen Herrenmenschenträumen. Die Legitimation für Herrschaft und Macht bezog er aus der Erhabenheit eines elitären Ästhetizismus, über den ein französischer Literaturkritiker bemerkte, daß die reine Kunst in diesen Zeiten immer mehr zum Besitz einer Elite, einer zwar bizarren, krankhaften, aber dennoch charmanten Aristokratie wurde.5 Aus dieser exponierten wie auch exaltierten Haltung heraus, galt sein Rufen einem starken Führer, der zwar nicht mit Hitler gemeint war, aber dennoch ein Konstrukt entwarf, was mit demokratischen Vorstellungen nichts mehr zu tun hatte. Insofern arbeitete auch er einer Herrschaft des Totalen entgegen, einer Herrschaft des Geistes und der elitären Herausgehobenheit zwar, aber dennoch antidemokratisch und antiliberal und insoweit gegen die Weimarer Republik gerichtet. Die charmante Literatur der Herausgehobenheit, wurde somit zu einer dauerhaften Belastung einer demokratischen Zukunft. Der Zerfallsprozeß humaner Ideen und Gesinnungen wurde von diesen Generationen über die Institutionen von Erziehung und Sozialisation frühzeitig in Gang gesetzt und es mag nicht unumstritten sein, daß hieran in besonderem Maße die Bildungseliten beteiligt waren. So wandelte sich der bislang geistige Chauvinismus, der den deutschen Eliten anhaftete, allmählich zu einem vernichtenden Militarismus, welcher auf der Schiene des nationalen Mythos zum Nationalismus transformierte um schließlich im Nationalsozialismus seinen Höhepunkt zu finden. Und hierüber war die Welt mehr als nur erstaunt, die solches einer Kulturnation nicht zugetraut hätten. Insofern scheint auch in gewisser Weise nachvollziehbar zu sein, weshalb der millionenfache Völkermord an den Juden, Zigeunern und russischen Kriegsgefangenen in seinem gesamten Ausmaß nicht wahrgenommen wurde oder das „geheime Wissen“ 304

darüber der Verdrängung anheim fiel. Die Tatsache, daß andere Nationen in Deutschland eine Kulturnation allerersten Ranges sahen, führte zu einem ungläubigen Erschrecken darüber, was sich hier ereignete. Mit so etwas hatte man nicht gerechnet. Dennoch schienen Kultur im weitesten Sinne und primitivste Machtinteressen sich nicht einander auszuschließen. Die Nationalsozialisten pflegten solche Symbiosen mit erstaunlicher Systematik. Um den schönen Schein zu wahren, privilegierte Goebbels eine völkischnationale Kultur, die dem „gesunden Volksempfinden“ entsprach und den nationalsozialistischen „Volksgeist“ widerspiegelte. Ebenso zum schönen Schein kultureller Erbaulichkeiten und populärer Zerstreuung zählten die bewußt inszenierten deutschen Gemüts- und Herzfilme,6 die eine bürgerliche Idylle jenseits nationalsozialistischer Wirklichkeit vortäuschen sollten und in denen unmittelbare propagandistische Zwecke nur schwerlich zu erkennen waren. So wie die kitschigen Blendwerke des völkischen Nationalismus den Bürger von den Entscheidungsprozessen der Macht fernhalten sollten, in dem er ihnen eine irreale Welt des geschönten Scheins vorspiegelte, so sollte der volkstümliche Kitsch der nationalsozialistischen „Volkskultur“ das wahre Gesicht des Terrors überdecken. Daneben wurden in den traditionellen Kultursphären weiterhin die Klassiker des Theaters und des Musiklebens aufgeführt, die es weiten Teilen des liberalen und konservativen Bürgertums erleichterten, sich mit dem Dritten Reich zu arrangieren. Auch dies gehörte zur Doppelgesichtigkeit des Regimes. Kultur, die Faszination von theatralischen Bilderwelten und mythisch inszenierten Volksfesten sowie Terror und Vernichtung führten eine einträchtige Symbiose und standen, auf den ersten Blick, unvermittelt nebeneinander. Jedoch Kultur, mag sie auch noch ihren unmittelbaren Zweck verfolgen, schützt nicht vor Barbarei und Zerfall des Zivilisatorischen, wie ebenso spießbürgerliche Interessen mit den zur Realität gewordenen Obsessionen von Völkervernichtung unter der deformierenden Gewalt eines mörderischen Nationalismus keinen Widerspruch bildeten. Diese Spaltungsphänomene, welche in diesen scheinbaren Unvereinbarkeiten ihren Ausdruck fanden, existierten nicht nur als kollektive Elemente einer totalitären Gesellschaft, sondern in ebenso unfaßbarer Weise schlugen sie sich auch in der Psyche der Täter des millionenfachen Völkermordes nieder. In analoger Ausprägung trug auch deren Charakterstruktur Züge dieser „doppelten Lebenswirklichkeit“ in der Sphäre nationalsozialistischer Weltanschauung und Herrschaft, sowie Elemente einer davon scheinbar unberührten Ebene moderner zivilisatorischer Lebensformen, wenngleich dies auch für Himmler, über den weiter unten noch die Rede sein wird, in eingeschränktem Maße nur bedingt zutraf. Jene spießbürgerlichen Untertanenmentalitäten, welche durch die Figur des Diederich Heßling in symbolhafter Verdichtung sichtbar wurden, brachten zu ihrer Zeit noch keine Massenmörder hervor, da die politischen Bedingungen solches noch nicht zuließen. Dennoch schufen sie generational die psycho-sozialen Voraussetzungen hierzu. 305

Kapitel 16 Untertan, autoritärer Charakter und Massenmörder Einblicke aus der Mitte der Gesellschaft. Im Zeitalter der Extreme. Hannah Arendts „Banalität des Bösen“. Sadismus als psychische Krise. Handlanger, Henker und Massenmörder. Ganz normale Männer. Verschiebung des moralischen Referenzrahmens. Abspaltungen, Pathologisches Über-Ich und Mordgesinnung. Offensichtlich hält die Geschichte immer wieder Ereignisse und Phänomene bereit, vor denen die analytische Kraft wissenschaftlichen Denkens versagt oder zumindest deren Grenzen aufzeigt welche jenseits der Analyse dasjenige, was sich einer Sprachbewältigung entzieht, im Dunkelfeld des Unbegreiflichen und des Unaussprechlichen hinterläßt. Die Frage, wie konnte so etwas geschehen, kann daher nicht mit eindeutigen Erklärungen beantwortet werden. Möglicherweise kommt man nicht umhin, außerhalb politischer Ereignisse liegende Phänomene zu untersuchen, welche die Quellen zu solch einem nationalen Sündenfall freilegen. Der Historiker Ian Kershaw sieht im Hinblick auf die sozialpolitischen Entstehungsursachen der nationalsozialistischen Pest nach wie vor ein nicht lösbares Problem für die Geschichtswissenschaft. Angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus scheint es überdies unerheblich zu sein, ob der im Dritten Reich verübte Terror und die Massenmorde intentional geplant oder den Umständen entsprechend funktionale Folgen einer militärischen oder bürokratischen Verselbständigung der Organisationsstrukturen sind, zumal moralische Schlußfolgerungen bei dererlei Überlegungen auf der Stecke bleiben. Schlimm genug ist, daß sich unter welchen Umständen auch immer, ganz normale Menschen an diesen Verbrechen beteiligt haben, und dies macht mehr als nachdenklich.1 Ob man überhaupt solches ermessen kann, bleibt offen. Im Gegenteil, Isaac Deutscher schrieb Mitte der 60 er Jahre „daß die Menschen Hitler, Auschwitz, Majdanek und Treblinka besser verstehen werden, als wir heute“. Es besteht vielmehr Anlaß anzunehmen, daß die Shoa als „ein übermächtiges historisches Grenzereignis“ sich allen Versuchen einer angemessenen Deutung entzieht und auch in seiner Relevanz für die „conditio humane“ nicht zu verstehen ist. Dies würde nicht nur bedeuten, daß wir die Ursachen nicht ergründen und infolgedessen auch nicht deren Zustandekommen entgegenwirken können, sondern daß wir uns vor einer nicht zu erlösende Vergangenheit gestellt sehen.2 Deshalb haben wir mit dem Nazismus „ein Phänomen vor uns, das sich nur schwerlich einer rationalen Analyse unterziehen läßt. Unter einem Führer, der in apokalyptischen Tönen von Weltmacht oder Weltzerstörung sprach, und einem Regime, das auf einer unsäglich abstoßenden Ideologie des Rassenhasses aufgebaut war, hat eines der kulturell und wirtschaftlich am weitesten 306

entwickelten Länder Europas den Krieg geplant, einen Weltenbrand entfacht, der ungefähr 50 Millionen Menschen umbrachte, und Greueltaten begangen, die im organisierten Massenmord an Millionen von Juden kulminierten und deren Art und Ausmaß die Vorstellungskraft überstiegen. Angesichts von Auschwitz erscheint das Erklärungsvermögen des Historikers tatsächlich erbärmlich“.3 Wenngleich auch historische Forschungen an ihre Grenze stoßen, wie Ian Kershaw betont, so bedeutet das noch nicht, daß derartige Katastrophen über die Menschheit unversehens hereinbrechen und infolgedessen eine imaginäre Schicksalsmacht die Geschicke der Menschheit bestimmt. Es sind aller Unfaßbarkeiten zum Trotz, stets die konkreten Ereignisse und Personen, die unter bestimmten Einflüssen, Geschichte schreiben. Die Geschichte des Dritten Reiches beginnt daher nicht erst bei ihrem Anfang, sondern die Wurzeln reichen über Generationen zurück. In den Erziehungs- und Sozialisationsinstanzen Familie und Schule wurden die wesentlichen Weichen gestellt, die zu einer Persönlichkeitsdeformierung beitrugen, die dem angepaßten und autoritätshörigen Untertanen die gesellschaftliche Anerkennung verschaffte und ihn zum erstrebenswerten Phänotypus eines Staatsbürgers werden ließ. Auch die Tatsache, daß die Weltwirtschaftskrise, die mit dem sogenannten New Yorker Börsenkrach eingeleitet wurde und weltweite wirtschaftliche Auswirkungen nach sich zog und in Deutschland im Winter 1929/1930 die schlimmsten sozialen Folgen verursachte, die schließlich mit zur Etablierung des Nationalsozialismus beitrugen, macht nachdenklich. In keinem anderen vergleichbaren europäischen Staat hat sich aufgrund dessen eine derartige faschistische Regierungsform durchsetzen können, als 1933 im Deutschen Reich. Hieran scheinen nicht nur sozialpolitische Ursachen daran beteiligt gewesen zu sein, denn diese gab es auch in den übrigen europäischen Staaten, sondern die Ursachen liegen in dem, was man gemeinhin den typischen deutschen Nationalcharakter nennt, der in Krisensituationen nach einer starken Führung ruft, statt sich seiner kreativen Möglichkeiten zu bedienen. Zwischen der Untertanenmentalität, die im regressiven gesellschaftlichen Klima einer repressiven Herrschaftsstruktur zum gängigen Konsens wurde, sowie dem Charakterbild des autoritären Charakters, der mit einer gewissen sadistischen Neigung dazu tendiert, andere zu beherrschen und gegebenenfalls auf höheren Befehl hin zu vernichten, besteht sozialpsychologischen Studien zufolge ein enger Zusammenhang. Jene typisch deutsche charakterliche Variante zu grenzenloser Pflichterfüllung und bedingungslosem Gehorsam, bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Harmonie und politischer Geborgenheit, hat Theodor W. Adorno in seinem Essay Erziehung nach Auschwitz 4 in Anlehnung an einschlägige Untersuchungen als Merkmale eines manipulativen Charakters bezeichnet. Wenngleich es sich hierbei um eine allgemeine menschliche Verhaltensform handelt, so hat gerade die sozialpolitische Situation der deutschen Geschichte dazu beigetragen, daß sich dieser Charakterzug über Generationen entfalten konnte. Dieser manipulative 307

Charakter, der sich selbst jeder Manipulation durch Macht und Herrschaft aussetzt, neigt dazu, diese Demütigungen seines Selbst in Form der Manipulation anderer weiterzugeben. Indem er die anderen manipuliert, sieht er sie in einer verdinglichten Form, die er beherrschen und über die er nach Belieben verfügen kann. Der andere ist ihm nur Mittel zum Zweck Daß er sich hierbei in einem falschen Selbst verdinglicht und seine Identität preisgibt, kann oder will er nicht wahrhaben. Seine eigene Entfremdung versucht er durch Anpassung, Gehorsam und Sadismus zu kompensieren. Da er, wie die Romanfigur Diederich Heßling, unfähig ist gegen die Autoritäten zu rebellieren, transformiert er seine Wut durch Identifikation mit der übermächtigen Autorität, deren Norm- und Wertvorstellungen er übernimmt und wendet seine Ohnmacht als bedingungslose Anpassung nach oben und sadistischem Verhalten nach unten, gegen diejenigen, die schwächer sind als er selber. Dieses Ensemble an psychischer Deformation bewegt sich auf einem Charakterkontinuum, welches durchaus im Normalbereich des menschlichen Verhaltens anzutreffen ist und unter normalen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen im Privaten verborgen bleibt, oder im schlimmsten Fall therapiepflichtig wird. Über diese scheinbare und in politischer Hinsicht unauffällige „Normalität“, bemerkte in den 30er Jahren der deutsche Psychiater Ernst Kretschmer, daß man sie in guten Zeiten allenfalls therapieren würde, dagegen in schlechten Zeiten tyrannisieren sie uns. Allein die „Zufälligkeit der Geschichte“ macht es mitunter möglich, daß jene Koinzidenz auftritt, die der Historiker Carl Jacob Burckhardt mit Blick auf den Nationalsozialismus meinte, in dem sich private Obsessionen einzelner mit den epochalen irrationalen Zeitströmungen einer Gesellschaft verbunden haben und zu einem politischen Programm verschmelzen konnten. An diesem exemplarischen historischen Fall wird deutlich, daß es nicht alleine die epochalen politischen und wirtschaftlichen Strömungen sind, die Geschichte „machen“, sondern es hierzu immer auch entsprechende Personen geben muß, in denen sich solche Strömungen, oder wie Ernst Jünger es nannte, Strahlungen, verdichten. Es müssen also auch spezifische psychische Bereitschaften vorliegen, welche zur Antriebskraft ihrer politischen Ambitionen werden. Eine dieser wesentlichen Motive waren ein diffuser Rassenhaß und eine Abneigung gegen die bürgerliche Kultur und vor allem gegen die Demokratie. Einer der Kämpfer der „ersten Stunde“ drückte die antizivilisatorische und anarchistische Haltung dieser Entwurzelten mit den Worten aus, „immer wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Revolver“. Damit war alles gesagt. Bei der sogenannten „Alten Garde“ der frühen Anfangsjahre des Nationalsozialismus, die den unentwegten Krawall um des Krawalls willen suchten, fielen die Unzufriedenheiten und epochalen Verwirrungen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts die gesellschaftspolitischen Entwicklungen begleiteten, auf fruchtbaren Boden. Nicht zuletzt deshalb, weil sie selber die Verlierer dieser Umbruchssituation und in psychosozialer 308

Hinsicht labile und unstete Naturen waren, die über keine identitätssichernden Wertmuster verfügten. Wie sehr Verbrechen und Normalität beieinander liegen, zeigt folgendes. Im Zuge der Vorbereitungen zum Hauptkriegsverbrecherprozeß in Nürnberg wurden die Angeklagten, darunter Göring, Heß, Speer, Ribbentrop, Streicher, einer eingehenden psychologischen und psychiatrischen Begutachtung unterzogen um herauszufinden, welche monströse Psyche sich hinter den Personen der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verbirgt. Leiter dieser Untersuchungsgruppe war der verantwortliche Gerichtspsychologe Douglas Kelley. Nach einem Jahr intensiver Untersuchungstätigkeiten, an denen führenden Experten beteiligt waren, kam man zu dem Schluß, daß die untersuchten Personen weder krank im eigentlichen psychiatrischen Sinne oder Repräsentanten einer bestimmten kollektiven Verrohung waren, sondern vielmehr in jedem anderen Land der Erde hätten angetroffen werden können. Mit anderen Worten, in ihrer psychischen Struktur unterschieden sie sich nicht von der übrigen Bevölkerung. Dennoch hat dieser ernüchternde Befund immer wieder dazu angeregt, psychologische Abnormitäten, die sich in auffallender Weise von Normalbürgern unterscheiden, im Charakter dieser Individuen zu vermuten. Vor allem unmittelbar nach den Zusammenbruch des Dritten Reiches galt in der deutschen öffentlichen Meinung die Vorstellung, daß es außerordentlich abnorme Charaktere waren, die diese Verbrechen angeordnet, organisiert und durchgeführt haben. Endlich, so glaubte man, eine halbwegs plausible Erklärung für die Verbrechen gefunden zu haben. Daß es sich hierbei um eine Selbsttäuschung handelte, wird aus dem Umstand deutlich, daß es wohl kaum eine Gesellschaft gibt, die einen derartig hohen Anteil an Psychopathen besitzt, wie die große Zahl der Täter hätte voraussetzen müssen. Solche Argumente waren dazu geeignet, die Gesamtbevölkerung von Mitverantwortung und Schuld freizusprechen. Nun ließe sich einwenden, daß es sich bei den Hauptkriegsverbrechern, die in Nürnberg vor Gericht standen um sogenannte Schreibtischtäter handelte, oder genauer gesagt, um die Entscheidungsträger einer verbrecherischen Politik, die jedoch mit den direkten Folgen ihrer Befehle und Verordnungen nicht konfrontiert waren, also nicht dem landläufigen Bild „aktiv handelnder“ Mordgesellen entsprachen. Gleichlautende Untersuchungsergebnisse, die auf keine Abnormalitäten hindeuteten, fanden sich allerdings ebenso bei den Führungseliten, den Mordgruppen der Sonderkommandos und der Mannschaften des SS-Personals, die unmittelbar an den Verbrechen beteiligt waren und von George Kren 1980 et al. untersucht wurden. In ihrem Abschlußbericht kamen sie zu der Überzeugung, daß die überwiegende Mehrheit dieser Individuen mit „Leichtigkeit die psychologischen Eignungstests der amerikanischen Armee oder der Polizei von Kansas City“ bestanden hätten. Auf der Grundlage von Zeugenaussagen schätzten die Gutachter den Anteil der psychisch pathologischen SS-Männer auf ca. 10%. Unter den zahlreichen Vordenkern, 309

Planern, Organisatoren, wie beispielsweise Eichmann, Heydrich oder Kaltenbrunner, sowie Exekutoren der Massenvernichtung wird der Anteil der psychisch abnormalen Personen auf einen Anteil geschätzt, der zwischen 5 und 10% liegt und in etwa der Bevölkerung unter normalgesellschaftlichen Verhältnissen entspricht.5 Diese ernüchternde und zugleich auch erschreckende Erkenntnis verdeutlicht, daß sich das Ungeheuerliche in der Normalität abspielt. Primo Levi, der Auschwitz überlebte, mit den Worten beschrieben: „Es gibt Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als daß sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlich ist, das sind die normalen Menschen.“6 Jene normalen Menschen, die Primo Levi meint, sind die Durchschnittsbürger, die Träger und Produkt einer gesellschaftlichen Kultur sind, welche die Verschiebung des moralischen Referenzrahmens zuließ, in dem Vernichtung und Mord auf höherem Befehl zur Normalität wurde. Dies aber war nur möglich, durch einen generationenlangen Prozeß inhumaner Erziehung und der Vermittlung von aus den Fugen geratenen Wert- und Moralvorstellungen. Und jene Durchschnittsbürger kamen vor ihrem Morden aus der Normalität ihrer Gesellschaft, um nach dem Ende des Dritten Reiches wiederum in diese Normalität zurückzukehren. In der Geschichte der frühen Bundesrepublik gibt es hierfür zahlreiche Beispiele, die aufzuführen, den Rahmen der Abhandlung sprengen würden. Die Phänotypen von Untertan und Massenmörder, die sich als Wesensmerkmale und charakterliche Deformationen in ein und denselben Personen niedergeschlagen haben, traten nicht unvorbereitet und zufällig auf die Bühne des politischen Geschehens. Wie oben dargestellt, schilderte bereits Heinrich Mann in seinem Roman Der Untertan das gesellschaftliche Klima, welches nicht nur das gesamte Denken und Handeln prägte, sondern auch jenen Typus hervorbrachte, der in der Figur des Diederich Heßling den typischen Untertanengeist skizzierte, welcher allzu bereitwillig die Rolle des Henkers in einem politischen System des Verbrechens übernehmen kann. Wenn eine gesellschaftliche Struktur durch ihre inhumanen Voraussetzungen den einzelnen um seine Selbstachtung bringt, ist er, um mit Adornos zu sprechen, jederzeit bereit, zum Mörder und zum Handlanger des staatlichen Terrors zu werden. Dabei sind seiner Charakterstruktur keine psychopathologischen Momente geschuldet, die im eigentlichen Sinne psychisch kranke Menschen auszeichnet. Vielmehr kommt in ihm die Grundstruktur des autoritären Charakters zum Vorschein, der sich auf einer breiten Skala eines angepaßten Verhaltens bewegt, was zunächst ohne dramatische Akzente ablaufen kann, aber letztlich bis hin zum willigen Vollstrecker und Massenmörder seinen Ausdruck findet. Der autoritäre Charakter äußert sich als zwanghafte Persönlichkeit von übertriebener Pedanterie und chronischem Geiz, bis hin zu den bösartigen sadistischen Formen, andere Menschen bis zu deren Vernichtung total zu beherrschen. Seine destruktive Grundstimmung richtet sich gegen das Leben selbst, was er dadurch zu verhindern sucht, indem er es 310

kontrolliert. Sein Gefühlsleben, sofern man überhaupt davon sprechen kann, weist Züge von Oberflächlichkeit und Kälte hinsichtlich seines Sozialverhaltens auf, wie man sie bei bestimmten Formen psychotischer Erkrankungen feststellen kann wie beispielsweise im Charakterbild einer „antisozialen Persönlichkeit“, ohne aber daß sie in ihrem Gesamtbild dieser Diagnose entsprechen würden. Besonders auffallend ist die Verachtung jeglichen Mitgefühls gegenüber anderen Menschen und insbesondere gegenüber den Opfern, denen die Menschlichkeit abgesprochen wurde. Eng verbunden mit den Wesensmerkmalen des autoritären Charakters, dem Gehorsam und Pflichterfüllung über alles geht, ist das Merkmal der Entfremdung, die, indem sie das Lebendige in uns und in dem anderen verdinglicht, gegen das Leben selbst gerichtet ist. Einer Entfremdung, welche sowohl die Anerkennung des eigenen Selbst in Form der Selbstentfremdung verweigert, als auch die Entfremdung gegenüber dem Mitmenschen, dessen unverwechselbare Identität geleugnet wird.7 Die Gewalt, die unsere eigene Identität entfremdet, ist dieselbe, die den Gehorsam erzwingt. Hierin liegt der eigentliche psychologische Kern der nationalsozialistischen Weltanschauungslehre. Die SS predigte nicht nur diese Verachtung, sondern setzte sie als eine erstrebenwerte Tugend voraus, die erst die Verdinglichung der Opfer und sodann deren Vernichtung ohne Skrupel möglich machte. Der autoritäre Charakter bewegt sich in einem manichäischen Denken, durch das er die Welt in gut oder böse, schwarz oder weiß einteilt. Insofern bietet er kollektivpsychologisch betrachtet, die besten Voraussetzungen zum Faschismus. Er haßt alles, was in seinen Augen schwach ist und benennt es als eine Last oder einen Fremdkörper für die übrige Gesellschaft, die im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten Volksgemeinschaft hieß und jeden ausschloß, der nicht ihrem Weltbild entsprach. Er betont die Entwicklung des Individuums nicht aus sozialen Determinanten, sondern einzig die Erbanlagen sind in seinen Augen die unveränderlichen Merkmale menschlicher Entwicklung. Seine verdrängte Rebellion gegen „väterliche“ Autoritäten, wovon bereits die Rede war, kompensiert er durch skrupellose Macht gegenüber Schwache.8 Sein steriler, inhaltsleerer Charakter läßt ihn unbelebte Dinge mehr schätzen als Menschen und sein Trachten zielt darauf ab, Menschen in unbelebte Dinge zu verwandeln, sie gewissermaßen „gesichtslos“ zu machen, wie es in den Konzentrationslagern der Nazis geschah. Der Psychoanalytiker Erich Fromm beschrieb diesen Wesenszug als nekrophilen Charakter. Primo Levi hat diese Art der Zerstörung von Individualität mit den Worten umrissen, daß in den Konzentrationslagern lebendige Kadaver produziert wurden, die „seine Erinnerung mit ihrer gesichtlosen Gegenwart bevölkern“.9 In den Konzentrationslagern wurden die Opfer als Werkzeuge gesehen, die sich im Programm „Vernichtung durch Arbeit“ selber „verbrauchten“, oder als wertlose Dinge betrachtet, die sofort vernichtet wurden. 311

Jeder Ausdrucksform des autoritären Charakters ist gemeinsam, daß ihre Individuen sich blind in ein Kollektiv einordnen. Sie sind daher außerordentlich manipulativ und löschen sich gleichsam als selbstständige Wesen aus. Die sogenannten Schreibtischtäter des Dritten Reiches besaßen diesen manipulativen Charakter, der sie dazu brachte, andere wie eine amorphe Masse zu behandeln, da sie sich selber auch nur als amorphes Funktionselement in einer gesichtslosen Bürokratie definieren. Sie zeichnen sich aus durch übergroße Organisationswut, durch Emotionslosigkeit und der Unfähigkeit, authentische menschliche Erfahrungen zu machen. In den meisten Biographien der führenden Funktionseliten des Dritten Reiches sind diese Wesensmerkmale festzustellen. Die Tätigkeiten, welche diese Personen verrichten, werden nicht mehr auf ihren Sinn hinterfragt, sondern was zählt, ist die Effizienz, gleichgültig um welchen Inhalt es sich handelt. Der Bürokrat der „Endlösung“ war bestrebt, möglichst reibungslose Pläne zu entwickeln, wie die Opfer nach Auschwitz zu bringen seien, ohne auch nur im Geringsten moralische Bedenken zu haben, was mit ihnen in Auschwitz geschehen würde. Ihre Opfer verschwammen in den endlose Zahlenkolonnen ihrer Vernichtungsstatistik Den einzigen Maßstab des Handelns bildet der Dienst im Auftrag einer „höheren Sache“, wobei moralische Bedenken keine Rolle mehr spielen. Was im Charakter dieser Täter auffällt, ist das selbstverständliche Nebeneinander von normalen, wenngleich auch in Einzelfällen, mitunter spintisierenden bürgerlichen Verhaltensformen und einer ungezügelten Bereitschaft zur totalen Macht über andere, bis hin zu deren Vernichtung. Fast wäre man geneigt, eine Persönlichkeitsspaltung zu vermuten, die aber so nicht existiert. Eher ist anzunehmen, das eine Abspaltung der Gefühle vorliegt, die mit einem chronischen Zerfall jeglicher moralischer und ethischer Skrupel korrespondiert und eine Gewissensabstumpfung nach sich zieht, die auf der Grundlage einer rigiden Erziehung und Sozialisation einhergeht, welche tief im kollektiven Bewußtsein verankert war und vor der sich jegliche Gefühlsregung verbietet.

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Exkurs: Der Pedant des Schreckens: Facetten einer Existenz zwischen Massenmord, Germanenmythos und Esoterik „Der undurchsichtigste unter den Gefolgsleuten Hitlers war der Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Der unscheinbare Mann, entgegen den nationalsozialistischen Rassemerkmalen mit allen Zeichen rassischer Inferiorität behaftet, trug äußerlich ein einfaches Wesen zur Schau. Er war bemüht, höflich zu sein. Seine Lebensweise war im Gegensatz zu der Görings fast spartanisch einfach zu nennen. Um so ausschweifender war aber seine Phantasie [...]. Nach dem 20. Juli plagte Himmler der militärische Ehrgeiz; dieser trieb ihn dazu. sich zum Oberbefehlshaber des Ersatzheeres, sogar zum Oberbefehlshaber einer Heeresgruppe ernennen zu lassen. Auf dem militärischen Gebiet scheiterte Himmler zuerst und vollständig. Seine Beurteilung unserer Feinde war geradezu kindisch zu nennen [...]. Ich hatte mehrfach Gelegenheit, sein mangelndes Selbstbewußtsein, seine fehlende Zivilcourage in Hitlers Gegenwart festzustellen“ (H. Guderian)1. Eine der wichtigsten Gründe für eine demokratische Staatsform sind die, daß Individuen, die politische Macht besitzen, Grenzen aufgezeigt werden, welche verschrobene Einzelentscheidungen in Schranken halten und statt dessen dem politischen Diskurs Raum geben. Dem persönlichen Wahn wird es daher in der Regel nicht gestattet, zum Zentrum politischer Entscheidungen zu werden. Da demokratische Entscheidungsprozesse davon leben, daß die konkurrierenden Meinungen und Ansichten in einem offenen Diskurs ausgetragen werden müssen, gelingt es unter dem Prinzip divergierender Meinungen einem Einzelnen wohl kaum seine privaten verschrobenen Vorlieben in handfeste Politik umzusetzen. Betrachtet man dagegen die führende Personage des Dritten Reiches so fällt auf, daß neben brutalem Durchsetzungswillen und Streben nach Macht zur Kompensierung eigener Schwächen, es vor allem die persönlichen Vorlieben, Obsessionen und Verrücktheiten waren, die deren Politik das eigentümliche Gepräge gaben. Und hierin liegt eine der wesentlichen subjektiven Motive totalitärer Herrschaftsansprüche, die weit weniger um der Sache willen existieren, sondern vielmehr der persönlichen materiellen und psychischen Bereicherung ihrer führenden Protagonisten dienen. Totalitären System geht es kaum um die Durchsetzung abstrakter Ideologien, sondern ihre Machtentfaltung dient einer pathologisch anmutenden „Selbstverwirklichung“ ihrer führenden Eliten und deren Gefolgsleute auf Kosten von Millionen von Opfern und einem unfaßbaren menschlichem Leid. Göring, der sich als barocker Potentat sah, erhob die Verschwendungssucht und das glamouröse Vergnügen zu seiner hauptsächlichen politischen Betätigung, 313

die darin gipfelte, für sich den phantasievollen Titel eines „Reichsjagdmeisters“ zu erfinden. Entsprechend seiner Sucht nach Verschwendung und Pomp stattete er sich mit goldfarbenen Morgenmänteln, roten Seidenstrümpfen und großjuweligen Ringen aus, in denen er bisweilen auf einem Canape posierend, Besucher auf Karinhall zu empfangen pflegte. Hitlers Statthalter im Generalgouvernement, Frank, besaß schon immer eine Vorliebe für ausschweifende Herrschaftsattitüden, die er auf der Krakauer Burg als Hitlers „Vizekönig“ in Polen korrupt und mit einer Grausamkeit und Habgier auslebte, die selbst das für Nazis übliche Maß überstiegen. Rosenberg, der sich in ähnlich seltsamen Dunkelzonen des Denkens wie Himmler und Heß heimisch fühlte, sah sich als Hohepriester eines pseudoreligiösen Germanismus, der neben der Beschäftigung mit germanischer Ahnenforschung und einem mörderischen Antisemitismus ernsthaft an den Nationalsozialismus als rassische Heilslehre glaubte. Heß, dem nicht die Macht der Vorgenannten zukam, errichtete um sich die Aura esoterischer Berufung durch den „Führer“, die ihn über Kräutertee, kalten Wasserabreibungen, esoterischen Anwandlungen und pseudoreligiösem Verehrungskult zu einem götzenhaften „Vorbeter“ des nationalsozialistischen Führermythos machten und inbrünstiger als alle anderen vor den Symbolen des Regimes knien ließ. Himmler hingegen, der in Wirklichkeit das Erscheinungsbild eines subalternen Kleinbürgers abgab mit dem Habitus eines rechthaberischen Volksschullehrers, streng gegen sich selbst und noch strenger und unerbittlicher gegen andere, verstand sich, vermutlich um die Biederkeit seines Charakters zu kompensieren, in der Nachfolge Heinrich des Ersten, welcher die Slawen bezwungen hatte und dem er in ähnlicher Weise nacheifern wollte. In der Person Heinrich Himmlers trat dieses selbstverständliche Nebeneinander von relativ harmlos erscheinenden Verschrobenheiten, die jede Nuancierung eines Schäferglaubens ausfüllten und einer kalten und pedantischen Gesinnung zu Tage, die das millionenfache, von ihm angeordnete Morden als nüchternen Verwaltungsakt erscheinen ließen. Hinter der glatten und spießbürgerlichen Fassade seiner Physiognomie war die Zerrissenheit eines monströsen Charakters nicht zu erkennen. Eben weil sein Auftreten und sein Äußeres blaß und undeutbar schienen, heftete sich wegen des mit ihm verknüpften Terrors ein mythisches Prinzip an seine Person, indem sein bloßer Namen bereits als Schrecken erschien. Ganz in diesem Sinne hat er von sich selbst gesagt, daß er „ein gnadenloses Richtschwert“ sein werde. Walter Dornberger, der die Raketenstation in Peenemünde leitete, beschrieb sein Erscheinungsbild, welches eine derartige Besessenheit nicht vermuten ließ, in treffender Weise: „Er kam mir vor wie ein intelligenter Volksschullehrer, bestimmt nicht wie ein Mann der Gewalt. Ich konnte für mein Leben nichts Hervorragendes oder Besonderes an diesem mittelgroßen, jugendlich-schlanken Mann in grauer SS-Uniform entdecken. Unter seiner Stirn von mittlerer Höhe sahen mich zwei graublaue Augen hinter einem blitzenden Kneifer mit ruhig314

fragendem Ausdruck an. Der gepflegte Schnurrbart unterhalb der geraden, wohlgeformten Nase zeichnete eine dunkle Linie auf seinem ungesund blassen Gesicht. Die Lippen waren farblos und sehr schmal. Nur das kaum hervortretende Kinn überraschte mich. Die Haut an seinem Halse war schlaff und faltig. Wenn sein ständiges starres Lächeln um die Mundwinkel, das leicht spöttisch und zeitweise verächtlich war, breiter wurde, erschienen zwischen den Lippen zwei Reihen glänzender weißer Zähne. Seine schlanken, blassen und beinahe frauenhaft zarten Hände, die mit blauen Adern bedeckt waren, lagen während unserer ganzen Unterhaltung bewegungslos auf dem Tisch.“2 Bei näherer Betrachtung indes erkannte man hinter diesem offenkundig dämonischen Erscheinungsbild, welches man zwangsläufig in Kenntnis seiner Verbrechen gewinnen mußte, die simplen Züge eines romantisch überspannten Kleinbürgers, der unter den Bedingungen eines totalitären Systems zu grenzenloser Macht gelangte und seine Narrheiten blutig bekräftigen konnte. Auf den Historiker Carl Jacob Burckhardt hinterließ er den Anschein konzentrierter Subalternität mit einem pedantischen Hang zum Automatentum und Engstirnigem. Seine unübersehbare Mittelmäßigkeit täuschte jedoch über die simple Brutalität seines Charakters hinweg, mit der er mit erstaunlicher Betriebsamkeit und nach außen hin gewendeter Korrektheit sein Terrorsystem ausübte. Hitlers ständiger Drohungen von der Raumeroberung im Osten und der Beseitigung artfremder Schädlinge im „Volkskörper“ hat er mit niemals nachlassender Eilfertigkeit und Unnachgiebigkeit Schritt für Schritt Wirklichkeit werden lassen. Und hierin war er der einzige, der über die bloßen phantastischen Utopien hinaus, an deren konkrete Umsetzung emsig wirkte, und somit die scheinbar unrealistischen Versponnenheiten dieser Ideen aufs Praktischste widerlegte. Hierbei kam er nicht nur Hitlers Befehlen und Visionen nach, sondern er dachte sie in ihrer Konsequenz zu Ende. Seine Fähigkeit, die Hintergrundideen Hitlers in seiner für ihn typischen Mischung aus kalter Vollstreckermentalität und belächelter Schwärmerei, mit der er den Nationalsozialismus in ein erzieherisches Programm zum Herrenmenschentum umdeuten wollte, in die Praxis umzusetzen und sie mit durchorganisierten Strategien von Mord und Terror auszustatten, machte ihn zu einem der gefürchtetsten und mächtigsten Paladine im Machtzentrum des Regimes. Und eben diese Eigenschaften bewahrten ihn davor, das Schicksal anderer, versponnener Sektierer innerhalb der Bewegung zu teilen, die alle mehr oder weniger in die Bedeutungslosigkeit versanken. Insofern taten auch seine Bemühungen, dem angeblich zusteuernden Zerfall einer Welt die kruden Prospekte von Runengläubigkeit, Naturheilverfahren und abstrusen Rassentheorien entgegenzusetzen, seinem Machteinfluß in der unmittelbaren Umgebung Hitlers keinen Abbruch. Für die SS empfahl er Lauch und Mineralwasser als gesündestes Frühstück und an seiner Gästetafel duldete er nie mehr als zwölf Teilnehmer, ganz der sagenhaften Tafelrunde König Artus nacheifernd. Alle diese Verrücktheiten konnte er ungehemmt ausleben und mit 315

seinem politischen Amt verknüpfen, ohne jemals ernsthaft in Frage gestellt worden zu sein. Seine außerordentliche Geschwätzigkeit mit der er seine Umgebung überzog, war eben so Ausdruck seines sadistischen Zwanges, andere zu beherrschen und ihnen sein verquastes Weltbild aufzudrängen, wie er auch seine engsten Mitarbeiter bis in deren Privatsphäre kontrollierte. Dabei waren seine Ausführungen eine merkwürdige Mischung aus martialischer Großsprecherei, kleinbürgerlichem Stammtischgeschwätz und dem prophetierenden Eifer eines Sektenpredigers. Die penetrante Unnachgiebigkeit, mit der er andere mit seinen obskuren Ideen überzog, spiegelte seinen grundlegend sadistischen Charakter wider. Himmler war ein Schwätzer und er war sich dessen bewußt, nur fehlte es ihm an Selbstdisziplin, Willenskraft und Initiative dagegen anzugehen. Gleichzeitig pries er die Tugenden, die ihm gänzlich fehlten als Ideale des SS-Mannes. Den Mangel an Willenskraft kompensierte er damit, daß er andere unter seinem Willen zwang. Im Grunde schwach, forderte er von seinen Gefolgsleuten unerbittliche Härte als Voraussetzung des arischen Herrenmenschen, welcher die gesamte Menschheit unterwerfen sollte. Dieser glattgesichtige Pedant des Schreckens wurde am 7.Oktober 1900 in München geboren. Sein Vater, ein strenger, engstirniger und ebenso frommer Mann, der einst Prinzenerzieher am bayerischen Hof war und Schulleiter, galt in der Familie als gebieterisch und autoritär. Im Mittelpunkt der familialen Klimas standen die Bekundungen zu einem unaufrichtigen Bekenntnis zu Patriotismus und sogenannter Rechtschaffenheit.3 In jenem bigotten Erziehungsklima, in dem alles einer rigiden Pädagogik unterworfen wurde, hat Himmler offensichtlich von seinem Vater die Neigung zu seinem späteren Erziehungsfanatismus übernommen, der ihn immer wieder nach neuen Möglichkeiten völkischer Lebensgestaltungen suchen ließen und die mitunter recht bizarre Ausdrucksformen annahmen. Himmlers innere „Wanderung“ vom strengen Christentum seines Elternhauses zum arischen Heidentum vollzog sich nicht spontan, sondern die Schritte auf diesem Weg, der ihn über den seinerzeit bewunderten SA-Hauptmann Ernst Röhm zu dem Landshuter Apotheker Strasser und schließlich zu Hitler führten, waren wohlüberlegt und mit der entsprechender Vorsicht verbunden, nicht zu scheitern. Jedes Risiko scheuend, unternahm er nichts, was ihm persönlich oder politisch zum Nachteil gereichen würde. Strassers Idee einer nationalsozialistischen Partei bestand darin, die wesentlichen Wirtschaftszweige, wie Banken, Energiewirtschaft, Stahlindustrie etc. zu verstaatlichen. Als Himmler bemerkte, daß sich die sozialistische Linie der NSDAP um die Gebrüder Strasser nicht gegen die Münchener Fraktion Hitlers durchsetzen konnte, schwenkte er kurzerhand zum Münchener Kreis um. In diesem opportunistischen Charakterzug liegt vielleicht der wesentliche psychologische Unterschied zwischen Hitler und Himmler, die sich dennoch in der Ideologie, Planung und Durchführung ihrer politischen Verbrechen sehr gut ergänzten. Hitler war ein Rebell gegen väterliche Autoritäten, zuerst gegen 316

seinen eigenen Vater, in seinen Wiener Jahren gegen die kaiserliche Autorität der verhaßten Donaumonarchie und schließlich gegen die väterlichen Ordnungsprinzipien der Weimarer Republik mit ihrem Repräsentanten Hindenburg. Himmler dagegen ging das rebellische Element völlig ab. Vielmehr suchte er eine starke Autorität, die seinem schwachen Selbst Halt geben würde und die er offensichtlich in der frühen SS-Bewegung fand. Diese verfügte zwar noch nicht über die Durchschlagskraft der späteren Jahre, aber dennoch bei ihren selbstinszenierten Saalschlachten mit großer Aggressivität und Brutalität auftraten und sich hierbei nicht nur gegen die Linke wandte, sondern auch dasjenige bürgerliche Milieu bekämpfte, aus der seine Familie stammte. Himmlers Wandlung zum Nazi war kein Protest gegen seinen eigenen Vater, was man hätte annehmen können, sondern eine stille Unterwerfungsgeste unter das väterliche Prinzip, nur daß die Vaterbilder hierbei ausgetauscht wurden. Das gefürchtete Vaterbild wurde durch die Struktur der SS ersetzt. Die SS der frühen Jahre war eine Ansammlung junger Männer, welche die Rolle von anarchistischen Helden spielten und denen die Zukunft gehörte. Zu ihnen fühlte sich Himmler hingezogen und fand in ihnen eine geeignete Gruppierung der er sich besser unterwerfen konnte, als seinem eigenen Vater. Für sein kaltes Machtkalkül spricht freilich die Tatsache, daß er einige Jahre später der unumschränkte „Herrscher“ dieser Organisation wurde. Aus dem selbstunsicheren jungen Mann, der einer gesellschaftlich untergeordneten Familie entstammte, welche die Mitglieder des Adels bewunderte und zugleich beneidete, wurde er zum mächtigen Haupt der SS, die nach seinem Willen den neuen deutschen Adel bilden sollte. Ab da stand kein Adel mehr über ihm, auch nicht der bayerische Prinz Heinrich, dessen Privatlehrer Himmlers Vater war und der sich als Taufpate für ihn zur Verfügung gestellt hatte. Er, der Reichsführer SS mit seinen Handlangern war der erste Prinz im neuen Staat des Dritten Reiches. So oder ähnlich mögen seine Phantasien ausgesehen haben, die ihn bei aller ihm innewohnenden Subalternität und Unentschlossenheit zu einem der mächtigsten und gefürchtetsten Nazi-Größen emporsteigen ließen. In Hitler fand er sodann jene „väterliche“ Führerfigur, der er sich fortan bedingungslos unterwerfen würde, ohne nicht auch diesen, am Ende als alles zusammenbrach, zu verraten. Himmlers Verhältnis zu seiner Mutter war von völlig anderer Art. Zu ihr hatte er ein tiefes Abhängigkeitsverhältnis mit eindeutig narzißtischen Zügen. Von ihr maßlos verwöhnt blieb er über einen langen Zeitraum unselbständig und ohne sie in gewisser Weise fast schon hilflos. Während seiner militärischen Ausbildung, die er fernab vom Elternhaus als 17 jähriger absolvierte, beklagte er sich ständig darüber, daß die Familie ihm über einen Monat „nur“ zwölf Antwortbriefe auf seine insgesamt dreiundzwanzig Briefe geschrieben hatte. Lagen nur mehr als zwei Tage zwischen den Briefen, so schrieb er voller Selbstmitleid, daß er auf Antwort „schrecklich lange gewartet habe“ und sehr darunter leide, von der Familie nichts zu hören. Seine Briefe waren ständige 317

Klagen über die mißlichen Umstände, unter denen er in seiner Ausbildung zu leiden hatte. Mal waren es das schlechte und knappe Essen, die kalte und kahle Ausstattung seines Zimmers, das Ungeziefer, welches ihn plagte und überhaupt die gesamten Lebensumstände, die seiner schwächlichen Konstitution entgegenstanden. Kleinere Mißgeschicke nehmen die Ausmaße von Tragödien an und werden der Familie in allen Einzelheiten mitgeteilt. Zum Teil waren diese Klagen an seine Mutter gerichtet, die daraufhin Geldanweisungen und mehrere Pakete zusandte, die Süßigkeiten, Wäsche, Insektenpulver, zusätzliches Bettzeug und Lebensmittel enthielten. Offensichtlich wurden diese Zuwendungen mit einer Reihe von Ratschlägen begleitet, die sich auf seine Haltung als künftigen Soldaten bezogen. Unter dem Eindruck, ein tapferer Soldat zu sein, nahm er gelegentlich die Klagen zurück, welche die mütterlichen Aktionen hervorgerufen hatten. Zweifellos wurde Himmlers Abhängigkeit, die sich infolge seines schwächlichen Charakters und seiner unselbständigen, selbstunsicheren Persönlichkeit noch verstärkte, durch die Nachsichtigkeit seiner Mutter gefördert. Ursprünglich sollte Himmler Landwirt werden, woran ihn jedoch seine schwächliche Konstitution und hypochondrische Veranlagung hinderte. Versuchsweise betätigte er sich in Waldtrudering bei München als Hühnerzüchter und die hier gewonnenen Eindrücke haben sicherlich mit dazu beigetragen, späterhin von bäuerlicher Kultur, Blut- und Bodenverbundenheit, Neuzüchtung der Menschenrassen, germanischer Auf-Nordung des Lebensraumes zu sprechen und in den Kategorien von rassischen Experimentierfeldern und biologischen Grundgesetzen zu denken. Als einer der „Männer der ersten Stunde“ der Bewegung befehligte er 1929 eine damals 300 Mann umfassende Schlägertruppe, die sich SS nannte und zum Vorläufer des späteren Schreckenordens wurde. Bis 1933 baute er diesen Verband durch seine Organisationsfähigkeit auf über 50 000 Mann aus. Seine Visionen entwarfen Pläne der „Heranzüchtung eines neuen Menschentypus“, der in den „Pflanzgärten des germanischen Blutes“ herangezogen werden sollte. Hinter alledem stand ein verbissener Ernst und die Vorstellung, angesichts einer eingebildeten Krise, daß die Menschheit, die er vor ihrem Untergang oder ihrem Fortbestand gefährdet zu sehen glaubte, nur durch die arische Rasse zu retten sei, da diese von der Schöpfung dazu ausersehen war, Segen für die Welt zu sein, sie zu beherrschen und ihr „Glück“ und Kultur zu bringen. Sein ideologisches Gemisch aus Rassentheorie, barbarischer Pseudoreligiösität, Eschatologenernst und pessimistischer Geschichtsbetrachtung war nicht nur seinem versponnenen Charakter geschuldet, sondern entsprach einer kollektiven Grundströmung jener Epoche, die gegen die Modernisierung und Industrialisierung einer sich zunehmend entfremdeten Gesellschaft auf die uralten mystischen Rezepte der Menschheitserneuerung zurückgriff. Wie für viele andere seiner Zeitgenossen und frühen „Kampfgefährten“ der Bewegung, schien ihm „die Welt am Ende gekommen zu sein“ und eine Rettung konnte er 318

sich nur in einer Rückbesinnung auf die Zeit vor Beginn der großen Irrwege, wie Christianisierung und Aufklärung vorstellen. Damit stand er in einer Reihe mit zahlreichen Heilsverkündern, Welterneuerungspropheten und politisierenden Sektenpredigern, die den richtungslosen Aggressionen der Massen neue Ziele vermitteln wollten. Gelegentlich beschworen Himmlers exzessive Vorlieben fürs Okkulte und Sektiererische den Zorn Hitlers herauf, der von solchem Humbug nichts wissen wollte, da er hierdurch die eigentliche Aufgabe der nationalsozialistischen Revolution gefährdet sah. Für Hitler war der Nationalsozialismus, bei aller Rückbesinnung auf germanische Urgründe, doch letztlich eine Bewegung des modernen Zeitalters und des technischen Fortschrittes. Er sah im Gegensatz zu Himmler den Erfolg der Bewegung als Ergebnis einer aufkommenden Massengesellschaft mit ihren kollektiven Erscheinungen des Zeitgeistes und nicht im versponnenen Subjektivismus einer verordneten Esoterik. Wenngleich er bei seinen Ansprachen oftmals die Vorsehung beschwor, so war dies lediglich in einem propagandistischen Sinne gemeint und sollte keinesfalls den Anschein einer pseudoreligiösen Gegenbewegung vermitteln. In seinem Buch Mein Kampf hat Hitler einer, ins Esoterische abgleitenden Richtung der nationalsozialistischen Bewegung widersprochen und sich gegen das pseudowissenschaftliche Geschwätz“ des völkischen Okkultismus gewandt und davor gewarnt, „unklare mystische Elemente“ in die Bewegung und den Staat aufzunehmen, da nicht das geheimnisvolle Ahnen an der Spitze des Programms zu stehen habe, sondern das klare Erkennen und Bekenntnis. Möglicherweise richteten sich solche Formulierungen, wenn er sie später bei passender Gelegenheit wiederholte, nicht zuletzt gegen Himmler. Nachdem die Unternehmungen eine bürgerliche Existenz zu gründen gescheitert waren, schloß Himmler sich nach dem Ersten Weltkrieg eine der zahlreichen Freikorps an, in denen die Entwurzelten der Nachkriegsjahre ihre politische und vor allem mentale Heimstätte fanden. Über die Freikorpsmitgliedschaft im Bund Blücher stieß er schließlich zur NSDAP, die zu diesem Zeitpunkt noch eine kleine, relativ unbedeutende Partei war. Innerlich blieb er den germanisch-bäuerlichen Phantasmagorien der „Artamanen“ verbunden, einer „Sektenbewegung“, welche die Nation und deren Voraussetzungen nur aus dem Blickwinkel verschrobener Schollenromantik begreifen konnte und alles auf die urtümliche Verbundenheit von heimatlicher Erde und rassisch reinem Blut zurückführen wollte. Diese absurden Besonderheiten sind bei aller Undurchführbarkeit in konkrete Konzepte stets die ideologischen und programmatischen Instrumente seiner Politik geblieben. Solche Kuriositäten dienten eher der Kompensation unerfüllter Berufswünsche, einmal selber Bauer zu werden, als daß sie ernsthaften volkswirtschaftlichen Überlegungen gegolten hätten. Anläßlich der 1000 Jahrfeier zum Todestag von Heinrich dem I. ließ er verlauten, daß dieser höchstpersönlich ein „edler Bauer seines Volkes“ gewesen, und er selbst „nach 319

Abstammung, Blut und Wesen Bauer sei“. Neben diesen geschichtsklittenden Selbsthudeleien stand sein rücksichtloses Streben nach Machterweiterung auf allen nur denkbaren Gebieten staatlicher und nebenstaatlicher Institutionen und Einrichtungen, die eben so wenig von seinen individuellen Arabesken verschont blieben. Die Mehrzahl der von ihm beherrschten Organisationen diente seiner persönlichen Machterweiterung und seinem Hang zur umfassenden Kontrolle über alles und jeden. Diesem persönlichen Kontrollzwang entsprach neben machttechnischen Erwägungen zur Absicherung des Regimes, auch die Übernahme der Gestapo in seinen Einflußbereich. Während die einen der Institutionalisierung seiner Narrheiten dienten, so der Lebensborn e.V., der jedoch ohne nachhaltigen Niederschlag blieb, die Anpflanzungen der Kog-Sagys-Wurzeln, die SS-Forschungs- und Lehrgemeinschaft Ahnenerbe, wozu er Expeditionen nach Asien entsandte – um die indische Abstammung der Germanen nachzuweisen – und deren Aufgabe es war, „Raum, Geist, Tat und Erbe des nordrassischen Indogermanentums zu erforschen“,4 überzog er andererseits den Staat mit einem Netzwerk der restlosen Überwachung, des Terrors und Mordens. Um Rosenbergs Einfluß auf die ideologische Auskleidung der germanischen Volkstumskunde und Archäologie zu beschneiden, lag es im Interesse Himmlers, die „neugermanische Religion“ der SS durch natur- und geisteswissenschaftliche Forschung, die in Wirklichkeit den Geruch einer Pseudowissenschaft besaß, zu untermauern. Seine weltanschaulichen Phantasien und sein rassischer Fanatismus sollten im Nachhinein durch das Projekt „SS Ahnenerbe“ durch entsprechende Forschungen legitimiert werden. Diese Vorhaben standen indes in keinem Widerspruch zu seiner Vernichtungspolitik, sondern sollten vielmehr den pseudowissenschaftlichen Begründungen der willkürlichen Einteilung der Menschen in mindere und höherwertige Rassen das entsprechende „anthropologische Material“ liefern. In einem widersprüchlichen Nebeneinander von Verstehen und Vernichten des Fremdartigen knüpften derartige obskure „Forschungen“, an die tradierten Vorstellungen von Rasse, Blut und Volk an. Insofern bildeten derartige Forschungsunternehmungen, die den Namen nicht verdienten, den ideologisch anthropologischen Begründungsrahmen des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms, woran sich zahlreiche Ethnologen beteiligten. Denn immerhin ging es in diesem Forschungsfeld um ewige Werte, Riten, fundamentale Bewegungen und Herkunftsmythologien des Volkes und Traditionen, allesamt Phänomene, die schon von Anbeginn der nationalsozialistischen Bewegung wichtige Begründungen ihres gesellschaftspolitischen Auftrages lieferten. Einerseits war dieser Disziplin die Neugier und Abenteuerlust nicht abzusprechen, die aber jederzeit in Fremdenfurcht bis hin zu Vernichtungsobsessionen umschlagen konnte. So war deren Weg in einen arischen Biologismus nicht weit, der sich nach den Eroberungszügen in Polen 320

und der Sowjetunion in den Konzentrationslagern als fabrikmäßige Vernichtung sogenannten unwerten Lebens tödlich niederschlug. Die Konzentrationslager, welche allesamt Himmlers Kontrolle unterlagen, waren rechtlose Einrichtungen der Vernichtung, der als minderwertig deklarierten Menschen und die Basis seiner SS-Schreckensherrschaft, die ihm als Vollendung des Staatswesens vor Augen stand. Von dämonischem Zynismus durchsetzt, ließ er, gleichsam einer gespenstischen Wirklichkeitsverfremdung verfallen, am Rande von Konzentrationslagern, Kräutergärten anlegen, eine naturhafte Idylle am Rande der größten politischen Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Dieses, den realen Schrecken entgegengesetzte Bild offenbarte, wie bruchlos und selbstverständlich scheinbare Unvereinbarkeiten im Charakter dieses verhinderten völkischen „Hühnerzüchters“ angelegt waren und dessen Subalternität geradezu verblüffend unauffällig das typische Bild eines deutschen Untertanen zeichnete, das bis ins närrisch Verschrobene reichte. Seine Vorlieben für okkulte Deutungszusammenhänge und Mesmerismus erwuchsen aus der permanenten Beschäftigung mit germanischer Runen- und Ahnenkultur, der Welteiszeitlehre des umstrittenen Privatgelehrten Hörbiger und der Annahme, daß die Germanen ursprünglich nach dem Untergang von Atlantis, wo er den Zufluchtsort der arischen Urrasse vermutete, über Asien, einer Insel im Norden namens Thule und schließlich nach Europa gelangt seien. Die Welteiszeitlehre verknüpfte den „Tibet-Mythos“ der Germanenabstammung mit der Mär vom Sturz eines Eismondes auf die Erde, der dazu führte, daß der Zufluchtsort Atlantis durch eine große Sintflut in die unendlichen Tiefen des Meeres, oder besser gesagt, in die metaphysische Spekulation versunken sei. Himmler, der für dererlei Unsinn empfänglich war, und beeinflußt durch seinen Mitarbeiter Kiss, einem Schüler des Welteiszeitpropheten Hörbiger, trieb es daher in jede obskure Dunkelecke, die zur pseudoreligiösen Darstellung seines Germanenkultes und Artamanenglaubens dienlich sein konnte. Bereits vor seinem Eintritt in die NSDAP war Himmler Mitglied in der sogenannten ThuleGesellschaft, einem germanophilen Zirkel von alldeutschen Rassisten und durch die okkulten Lehren von R.J.Gorsleben und Rudolf von Sebottendorf, zwei politisch ambitionierten Okkultisten, beeinflußt worden.5 Die ThuleGesellschaft in München von Sebottendorf in der Endphase des Ersten Weltkrieges 1918 gegründet, galt als antisemitische Tarnorganisation des ursprünglichen Germanenordens. Der Namen der Organisation ging auf die mythische Insel Thule zurück, die unter den Griechen als nördlichste Insel galt und daher für die Anhänger nordischen Kults eine mystische Bedeutung besaß. Einige der führenden NS-Funktionäre waren Mitglieder in dieser konspirativen Geheimgesellschaft gewesen, so unter anderen: Rosenberg, Heß, Streicher – der üble Hetzer gegen alles Jüdische –, sowie Hans Frank, der spätere Generalgouverneur in Polen. Es wurde immer wieder behauptet, die ThuleGesellschaft hätte intern eine satanische und okkulte Ausrichtung besessen, die 321

aber jenseits einer gewissen Runen-Mystik, die neben andern dem Hakenkreuzsymbol in ihrem Emblem geschuldet war, nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte. Nach außen stellte sich die Gruppierung als „Studiengruppe für germanisches Altertum“ dar, was sich in Wirklichkeit als systematisch betriebene rassistische Propaganda enthüllte. Dem Einfluß der Thule-Gesellschaft scheint Himmler auch die Anregungen für seine zweifelhafte ethnologische Ahnenforschung in Tibet entnommen zu haben. Über alle diese bizarren und neuheidnischen Lehren stand eine urgermanische und rassistische Gesinnung, die sich in den verschiedensten Vereinigungen, wie Artamanenbund, Armanen-Orden, Edda-Gesellschaft und den Ariosophen niederschlug, der auch der österreichische Rassist Lanz von Liebenfels angehörte, einer der altvorderen „rassistischen Lehrmeister“ des jungen Hitlers während dessen Wiener Zeit. Obwohl diese skurrilen Lehren von seriösen Forschungsinstituten mit massiver Kritik überzogen wurden und einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten konnten, so dienten sie insgesamt als ideologisch-politische Machtinstrumente der Himmlerschen Rassenpolitik. Einige ihrer extremsten Vertreter, wie der Okkultist Karl Wiligut, genannt „Weisthor“, mußte allerdings auf Druck von Rosenberg, der in ihm einen Konkurrenten witterte, seinen Abschied nehmen, blieb aber als SS-Brigadeführer weiterhin Himmlers Berater.6 Himmlers Interesse galt der Vernichtung ganzer Völker, wie er sich ebenso in rastloser Geschäftigkeit um den Verzehr von Pellkartoffeln, vitaminreichen Gladiolenzwiebeln und wasserzubereitetem Haferschleim zur Stärkung der Volksgesundheit kümmerte. Dies alles unterlag seiner beinahe zwanghaften persönlichen Kontrolle, die auch die nebensächlichsten Dinge einbezog. Auch wenn ihm ständig die Visionen eines totalitären SS-Staates vor Augen schwebten, so hätte er in Anbetracht des kommenden Germanenreiches die Völker viel lieber erzogen, anstatt sie auszurotten. Zu seinem Masseur Kersten bemerkte er mehr als einmal, daß wir erziehen müssen und nochmals erziehen, damit die Völker unserer Vorstellung genügen.7 Den SS-Staat sah er denn vielmehr als rassezüchtendes und erziehendes Internat, wie als nebenstaatlichen Hort einer brutalen Mördertruppe. In der Gegend von Auschwitz betrieb er Versuche mit biodynamischem Landbau, währenddessen Millionen in unmittelbarer Nachbarschaft auf seine Anordnungen hin ins Gas geschickt wurden. Hinter seiner blassen und gemütsarmen Fassade verbarg sich die Doppelbödigkeit einer Person, die sich wie selbstverständlich zwischen Volkserziehung, Gladiolenzwiebelideologie, pseudoreligiöser Germanenfrömmigkeit, Elitebewußtsein und Großreichphantasien bewegte und die er mit rücksichtslosem Terror, Mord und pedantischer Genauigkeit, die nicht ohne moralisierenden Beiklang auftrat, in die Wirklichkeit umsetzte. Unbeirrt davon überzeugt, eine geschichtliche Mission zu erfüllen, sah er sich in unangefochtener Naivität als Reinkarnation des Slawenbezwingers Heinrich I., zu dessen Todestag er alljährlich zu mitternächtlicher Stunde in der Krypta des 322

Doms zu Quedlinburg eintraf, um dort einsame Zwiesprache mit seinem früheren Selbst zu halten. All diese Marotten, mit tödlichem Ernst betrieben, standen so unvermittelt nebeneinander, wie man sie normalerweise in einer Person nicht anzutreffen glaubt. Zusammengehalten wurden sie von einem zwanghaften Organisationstalent, welches sich um jede Nebensächlichkeit kümmerte und einem fanatischen Machtbewußtsein, durch das sich gelegentlich selbst Hitler bedroht sah. Himmlers Utopie eines SS-Staates, bezeichnete Hitler in einem Zornesausbruch als „schwarze Pest“ und die verrückten pseudoreligiösen Anwandlungen seines Germanenkultes standen Hitlers Planung einer zweckrationalen und machttechnischen Ausrichtung seiner Politik im Wege. Dennoch ließ er Himmler gewähren, denn offensichtlich erkannte und schätzte er den machtpolitischen und ideologischen Hintergrund dieser kultischen Gepflogenheiten, die Himmlers Vorstellungen eines SS-Staates durchzogen und im Wesentlichen zu dessen zeitweise Verwirklichung beitrugen. Überdies hat wohl kaum eine der nationalsozialistischen Organisationen das Machtsystem des Dritten Reiches nach innen und während des Krieges auch nach außen hin so abgesichert, wie der „Schwarze Orden“ der SS und die Gestapo, die Himmler unterstanden. Himmler schwebte eine ordensgleiche Gemeinschaft vor, eine von allen konventionellen Traditionen und moralischen Geboten entfernte „Prätorianergemeinschaft“, die durch inszenierte Rituale einer mystischen Liturgie und in immer sich wiederholenden Akten der Weihen und Berufung auf ihre Überzeugungsgewißheit gebunden wurde und zu deren Zwecke die Wevelsburg und andere Stätten seiner Glaubensgewißheit herhalten mußten. Einer Gemeinschaft, die tödlichen Ernst machte, „mit der bedingungslosen Loslösung aus der alten gesellschaftlichen Kasten-, Klassen- und Familienwelt“.8 Die Ernst machte mit der Verneinung gesellschaftlicher Umgangsformen und statt dessen sich nur der Pseudomoral einer auf Gedeih und Verderben orientierten Mordgemeinschaft verpflichtet fühlte. Führende Protagonisten der SS erschien sie daher nicht nur als innerstaatliches Kriegsinstrument gegen die inneren Feinde des Dritten Reiches, sondern der Entwurf zu einer grundsätzlich neuen Form des Staates, mit dem Ziel, die alten Ordnungen abzulösen, um als Avantgarde eines imperialen Herrschaftssystems Europa und schließlich die Welt neu zu organisieren. Diesen politisch utopischen Prospekten standen regressiv verortete Planungen betont anachronistischer Natur gegenüber. Schon vor Kriegsbeginn hatte er eine Reihe von Anordnungen verfaßt, die dem Aussterben der nordisch-arischen Rasse entgegenwirken sollten und den unreinen, verdorbenen Typus „abzusieben“ und das „gute Blut zu mehren“. Erst die großflächigen Raumeroberungen im Osten eröffneten ihm die Möglichkeit, diese kruden Ideen in handfeste germanophile Rasse- und Besiedelungspolitk umzusetzen. Im Gegensatz zum modernistischen Erscheinungsbild des totalitären nationalsozialistischen Staates, in dem die moderne Technik und moderne 323

Verwaltungsstrukturen zu wesentlichen Elementen der absoluten Herrschaft wurden, sah Himmler in der Besiedelung östlicher Teile Rußlands durch weitverzweigte Wehrdörfer, die Rückwendung des Germanentums zu ihren bäuerlichen Wurzeln. In diesem arischen Paradies sollten die städtischen Strukturen abgebaut und die Angehörigen des SS-Ordens, der „Neue Adel“, zur urtümlichen Verbundenheit mit dem Boden zurückgeführt werden. Himmlers wahnhafte Ideenwelten waren von solcher Absurdität, daß man den behaupteten Ernst ihrer zukunftsweisenden Absicht unter normalen Umständen sich nicht hätte vorstellen können. Ihm schwebte vor, in den eroberten Weiten Rußlands im Schutze von germanischen „Blutwällen“ eine schöne neue, arische Welt zu erbauen, bestehend aus Kulttempeln, Wehrburgen und militärischen Stützpunkten mit kasernierten Garnisonen heroischer Krieger, die von Zeit zu Zeit Ausfälle in die nicht eroberten Gebiete jenseits des Urals unternehmen sollten, um ihre Wehrertüchtigung ständig zu trainieren. Derweil sollten die auserwählten „erbreinen“ Volksgenossen Kinder zeugen, um ganze Geschlechterfolgen von „reinrassischen“ arischen Helden dem germanischen Blutstrom zuzuführen, die bis in die zeitlichen Dimensionen eines tausendjährigen Reiches geplant, dieses Imperium der „Rassenreinheit“ beherrschen würden. Die Urbevölkerung, soweit man sie am Leben ließ, und nicht, wie es in einer Denkschrift des Ostministeriums hieß, der „Verschrottung“9 anheim falle, würde das niemals unerschöpfliche Sklavenheer stellen, welches den blonden Herrenmenschen zu allen Sklavendiensten bereit stünde. In diesen aberwitzigen Planungen, die gegen alle bestehenden Rechte und fremden Lebensansprüchen gerichtet waren, traten nur vordergründig die verschrobenen Merkmale jener völkisch-rassischen Sektierer, wie Chamberlain, Langbehn etc und den populären Germanenprophetien des späten 19. Jahrhunderts zum Vorschein. In Wirklichkeit ging dies alles noch weit darüber hinaus. Es war die ernsthaft gemeinte rationale und bürokratische Planung einer totalitären Umsetzung von Ideologie, im Rahmen eines gewissenslosen und kaltblütigen Durchsetzungsapparates von bislang nur theoretischen, und mit einem gewissen Mystizismus, behafteten Weltheilungslehren auf dem Boden eines vulgären Sozialdarwinismus zum Zwecke einer grundsätzlichen Neubestimmung von Politik und Gesellschaft. Angesichts dieser, ihm „heiligsten“ Anliegen verblaßten gelegentlich die eigentlichen Aufgaben der SS, und er war überaus glücklich, daß ihm Hitler die ausdrückliche Zustimmung zu dieser wehrdörflichen Konzeption erteilte. Freilich wurde ihm schon bald klar, daß die vorhandene „Blutbasis“ des germanischen „Kernbestandes“ nicht ausreichen würde, diese unendlichen Weiten mit den herangezüchteten nordischen „Herrenmenschen“ aufzufüllen. Dies brachte ihn zu einem Entschluß, der einen tiefen Einblick in den Mechanismus seines Denkens erlaubte. Im Verlaufe des Polenfeldzuges war ihm nämlich zu Ohren gekommen, daß einige besonders hartnäckige Verteidiger der Gegenseite „germanische“ Namen trugen. In Warschau war dies ein General Rommel, auf 324

Hela ein Admiral namens Unruh und der Verteidiger der Festung Modlin, der aus einer Hugenottenfamilie stammende General Tommé. Himmler schloß daraus, daß es immer nur das eigene Blut sein wird, was uns in der Geschichte und auf unserem Globus gefährlich werden kann Daher sei er entschlossen, dieses Blut „zu rauben und zu stehlen“, wo immer es möglich wird. Selbst aus den sogenannten slawischen Völkern würden sich immer wieder Träger gesunder rassischer Merkmale „herausmendeln“, die man dem deutschen Volk zuführen müsse. Widersetzen sie sich, werden wir sie totschlagen, so fügte er in seiner Selbstgewißheit, Herrscher über eine historische Neubestimmung der Weltrassen zu sein, hinzu.10 In der bornierten Befangenheit des einstigen Landwirtschaftseleven, den Staat als Garten zu sehen, verstand er seine Aufgabe bis ins „Menschenzüchterische“ hinein. Seine Vorstellung von Herrschaft bezog sich auf Veredelung, Aufzucht, Pflege ganzer Völkerscharen, wie eben so deren Ausmerzung und Vernichtung zu seinem gärtnerischen „Programm“ gehörten. Im krassen Widerspruch zu diesen archaischen und völkisch-romantischen Schwärmereien standen die kalte Technokratie seiner Vernichtungsorganisation und die bürokratische Beflissenheit, mit der er diese vorantrieb. Himmlers zwiespältige und im Grunde undurchsichtige Persönlichkeit spiegelte, mehr als bei jedem anderen der führenden Nazifiguren, das gesamte Ensemble der Wesensmerkmale einer autoritären, sadistischen Charakterstruktur wider: Pedantische Subalternität und zynischer Vernichtungswillen gegen alles, worüber er Macht ausübte, gepaart mit hemmungsloser Machtgier um Einfluß in alle erdenklichen Bereichen zu gewinnen. Mit dieser doppelbödigen Charakterstruktur ausgestattet, war er der ideale Gewährsmann und Organisator des millionenfachen Schreckens im nationalsozialistischen Totalitarismus. Zuletzt schuf sich Himmler sein eigenes Wirtschaftsimperium, als Staat im Staat, in Gestalt von Steinbruchbetrieben, Mineralwasserquellen, Bodenreformen mit entsprechenden Agrarbetrieben, Ziegeleien, Möbelfabriken, Konservenfabriken; gegen die Mückenplagen gründete er ein Institut des „Insektenabwehrunterführers“ und ein pharmazeutisches Unternehmen. Dieses Netz unterschiedlicher wirtschaftlicher und ideologischer Organisationen kam seinem ureigenen Anliegen, den nationalsozialistischen Staat durch einen alle Lebensbereiche umfassenden SSStaat abzulösen entgegen und vermutlich hätte er ihn auch vollenden können, wenn die geschichtlichen Ereignisse anders verlaufen wären. Obgleich er immer darum bemüht war, seinen Sadismus unter den beschönigenden Beschwörungen zufällig auftretender Entscheidungszwänge zu verbergen, um sich vor den offenkundigen Grausamkeiten abzuschirmen, war die unverhohlene Perversität seiner Absichten unverkennbar. Sein Adjutant Wolff berichtete über die Szenerie einer Massenerschießung 1941 in Minsk, der Himmler beiwohnte und die ihn sehr erschütterte und an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachte. Aber hinterher habe er gesagt: „Ich halte es trotz allem für richtig, daß wir uns das angesehen haben. Wer über Leben und 325

Tod zu entscheiden hat, muß wissen, wie das Sterben aussieht. Und was er den Erschießungskommandos zumutet“.11 In restloser Verkennung wirklich humaner Konventionen schuf er sich seinen eigenen Moralbegriff, den er zum Leitsatz des millionenfachen Mordens seiner Weltanschauungstruppe, der SS erhob. Wie kaum ein anderer der führenden Protagonisten des Dritten Reiches hat er die Verschiebung des universalen moralischen Referenzrahmens zu einer nationalsozialistisch legitimierten Partikularmoral betont und im Dienste der „Rassenhygenie“ und „Aufnordungspolitik“ für notwendig erachtet. Vor dem Hintergrund eines „umgestülpten“ und gänzlich entleerten Moralbegriffes bezog er sich zur Rechtfertigung seiner Verbrechen auf die Rolle eines unglücklich Verstrickten inmitten geschichtlich unabdingbarer Vorgänge. Ganz der Neigung entsprechend, seine Mordgesinnung mit historischen und mythischen Gestalten zu stilisieren, sah Himmler in dem harten und liebeleeren Hagen von Tronje aus den Nibelungen jenen Typus, der wie er, um eines höheren Prinzips willen mit Schuld überhäuft wurde, ohne sich schuldig zu fühlen. Wegen dieses höheren Prinzips untersagte er seinen Gefolgsleuten unter Strafandrohung jeden persönlichen Beweggrund bei der Erfüllung dieser „säkularen“ Aufgaben, sei es aus ungezügelter Leidenschaft, Haß, Habgier oder Grausamkeit. Nur einzig diese distanzierte Pedanterie mit der er sein Vernichtungswerk betrieb, war der Anlaß die spontan inszenierten Ausbrüche jener Pogromnacht vom 9.November 1938, die Goebbels ausgerufen hatte, entschieden zu kritisieren, weil sie seiner rational begründeten Auffassung einer bürokratisierten Form der Massenvernichtung im Wege standen. Gleichwohl gelangte er, wie auch andere der nationalsozialistischen Nomenklatur, zu der Erkenntnis, daß solches nicht unter den Augen der deutschen Öffentlichkeit durchzuführen sei. In seiner Redseligkeit hat er sich in der berüchtigten Posener Rede am 4. Oktober 1943, welche das furchtbarste deutsche Sprachdokument darstellt, vor den SS Gruppenführern unmißverständlich geäußert: „Ein Grundsatz muß für den SS-Mann absolut gelten: Ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemanden. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig [...].Wir werden niemals roh oder herzlos sein, wo es nicht sein muß...Wir Deutsche, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen [...]. Ich will hier in aller Offenheit auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen. Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden [...]. Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. ›Das jüdische Volk wird ausgerottet‹, sagt ein jeder Parteigenosse, › ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.› Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen 326

anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte [...].“12 Unter seinem pervertierten Moralbegriff wußte er zu trennen, zwischen der persönlichen Bereicherung aufgrund verhältnismäßig unbedeutender Tatbestände und der Ungeheuerlichkeit eines systematisch betriebenen Völkermordes. Daher fühlte er sich bemüßigt, gemäß seines gänzlich entleerten und umgedrehten Moralbegriffes davor zu warnen, sich auch nur mit geringen Mengen aus dem konfiszierten jüdischen Vermögen zu bereichern, womit er das Unrecht einer entwendeten Zigarette mit dem Recht auf Töten gegenüberstellte. „Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. Wir haben aber nicht das Recht, uns auch nur mit einem Pelz, einer Uhr, mit einer Mark oder mit einer Zigarette oder sonst was zu bereichern [...]. Ich werde niemals zusehen, daß hier auch nur eine kleine Fäulnisstelle entsteht oder sich festsetzt. Wo sie sich bilden sollte, werden wir sie gemeinsam ausbrennen. Insgesamt aber können wir sagen, daß wir [...] keinen Schaden an unserem Inneren, in unserer Seele, in unserem Charakter daran genommen“ haben.13 Jene inneren Werte, auf die er unaufhörlich hinwies und die in nächtlichen Feierstunden bei Fackellicht vor den Prospekten der Rassenvernichtung beschworen wurden, waren in Wirklichkeit infolge ihrer fehlenden Verankerung in echte sittliche Kategorien nur noch notdürftige Appelle an die niedrigste Mordgesinnung seiner SS, die dazu dienten, dem primitivsten menschlichen Verhalten noch einen zusätzlichen Sinn zu verleihen. Von einem nicht unerheblichen Teil seiner Gefolgschaft wurden diese „inneren Werte“ als „neue Sittlichkeit“ an die Stelle „herkömmlicher Wertvorstellungen gerückt“.14 Nicht zuletzt deshalb entsprachen diese pervertierten Normen den inneren Einstellungen der überwiegenden Mitglieder des SS-Führungskorps, weil sie deren verwirrten Idealismus bestätigten. Und es gab genügend Beispiele, wo selbst nach dem Zusammenbruch ehemalige SSZeugen davon nicht lassen konnten. In dieser heillosen Konfusion sämtlicher Werte lag das hohe Maß an Bereitschaft seiner Gefolgsleute, sich in einem vermeintlich nichtkriminellen Sinn zu betätigen, um im wahrsten Sinn des Wortes gefühllos über Leichen gehen zu können. Selbstunsicher und im Grunde schwach, verschaffte er sich ein Gefühl der Sicherheit durch seine neurotisch anmutende Ordentlichkeit und extreme Pedanterie, sowie der hemmungslosen Gier nach Kontrolle über jeden, mit dem er zu tun hatte. Von tiefem Mißtrauen gegen seine unmittelbare Umgebung erfüllt, legte er umfangreiche Dossiers über alle höheren und höchsten Nazi327

Funktionäre und Untergebenen an. Selbst Speer, der eine herausgehobene Stellung inmitten der „Hofgesellschaft“ um Hitler besaß, war vor seinen Intrigen nicht sicher und mehr als einmal versuchte er ihn zu entmachten und gegenüber Hitler in Mißkredit zu bringen. Und so mag es als eine Ironie der gegebenen Umstände erscheinen, daß sich die mächtigsten Figuren des Himmlerschen SS-Staates, Himmler selbst und sein vorderster Schreckensmann Heydrich gegenseitig bespitzelten und sich voller Argwohn gegenüberstanden. Alles was er anderen als sogenannte Tugenden predigte, war bei ihm selber in keiner Weise vorhanden. Seine eigenen unverkennbaren Schwächen projizierte er in den Tugendkatalog der Neuen Ordensgemeinschaft der SS über den das, durch ihn geprägte Motto stand „Unsere Ehre heißt Treue“. Dieser Katalog war gefüllt mit den Attributen von Treue, Kraft, Mut und er selbst war doch schlaff, feige, schwach und zuletzt gar seinem vergötterten „Führer“ untreu bis zum Verrat. Die von seinen Untergegebenen befohlene Härte besaß er selber in keiner Weise, wie er auch den Rassenstandards der SS weder in Statur, Erscheinungsbild und Haarfarbe bis zum sogenannten „Großen Ahnennachweis“, den er als Führungsperson hätte erbringen müssen, entsprach. Nur die bereits dargestellten negativen Charaktereigenschaften und sein bedingungsloser Gehorsam gegenüber Hitler und die Tatsache, daß er ein Nazi der ersten Stunde war, machten ihn für die Vernichtungs- und Terrorpolitik des Regimes unverzichtbar. Für Joachim Fest bleibt es nach wie vor ein Rätsel, wie eine so farblose Persönlichkeit, die kaum über eine natürliche Autorität verfügte, in eine derartige Machtposition gelangte.15 Aus der Erfahrung der Geschichte freilich, wird dieses Phänomen von Machtzuwachs und Machtverteilung verständlich. Potentaten haben sich schon immer sogenannter abhängiger, willfähriger „Marionetten“, bedient, die dasjenige umsetzen, mit denen sie selber vor der Öffentlichkeit im Verborgenen bleiben möchten. Gerade deren schemenhafte Farblosigkeit und charakterliche Blässe prädestiniert sie für derartige Aufgaben. Totalitäre System leben davon, auf solche Typologien zurückzugreifen, denen bei aller charakterlichen Unscheinbarkeit ein fanatischer, pseudoreligiöser Eifer innewohnt. Nicht nur bei Himmler traten diese Züge zutage, sondern bei den zahlreichen Gefolgsleuten des Systems, deren inständiger Glaubenshunger nach Gewißheiten durch die Verheißungen welterneuernden Lösungen gestillt wurde. Nicht von wenigen wurden den utopischen Prospekten einer schönen arischen Welt in einem tausendjährigen Reich mit Inbrunst geglaubt. Sicherlich mag im Falle Himmler dessen außerordentliche Fügsamkeit gegenüber Hitler und die pedantische Gewissenhaftigkeit mit der er seinen Aufgaben nachkam, sowie die nicht zu übersehenden Machtkämpfe des Umfeldes um Hitler mit dazu beigetragen haben, seine Position bis zuletzt zu festigen. Neben allen anderen Satrapen des Regimes, war Himmler der einzige, der gleich Hitler jene Utopien nicht nur bis ins Detail ausmalen konnte, sondern sein Machtinstinkt brachte ihn dazu, sie konsequent in die Wirklichkeit umzusetzen. Und hierin 328

war er den anderen weit voraus. Wie totalitäre Systeme im allgemeinen, so verdankte auch das NS-Regime weniger seine Stabilität der Inhumanität seiner prinzipiellen Menschenverachtung, als vielmehr den permanenten Intrigen und Konkurrenzkämpfen eifersüchtiger Machtpartner. In dieser Hinsicht war Himmler voller selbstsüchtiger Wachsamkeit und wie viele Machtmenschen ein absoluter Opportunist, der nur von dem Gedanken beherrscht war, seinen Vorteil zu finden. Hierzu konnte er auch positiv getönte Verhaltensmerkmale vorspiegeln, etwa die Sorge um das Wohlergehen seiner engsten Mitarbeiter. Aber andererseits war er kalt und erbarmungslos, so daß Zweifel berechtigt sind, ob diese Anteilnahme am Wohlergehen anderer echt war oder nur der Verleugnung seiner inneren Kälte und Gemütsarmut diente. Bei Vergehen seiner Mitarbeiter, sei es aus Grausamkeit oder Habgier, griff er zu drakonischen Strafmaßnahmen, da das Ideal des leidenschaftslosen Gewaltmenschen im Vordergrund zu stehen hatte, der eben nicht aus den genannten Motiven tötet und sich dadurch auszeichnete, sadistische primitive Instinkte zu unterbinden. Schon bevor er an die Macht gelangte, war sein sadistischer und zugleich devoter, opportunistischer Charakter vorhanden. Seine Position gab ihm die Möglichkeit diese Neigungen auf der politischen Bühne auszuleben. Dennoch waren seine späteren Vernichtungswerke, die er in Konferenzen und vor Unterschriftmappen bedenkenlos inszenierte, nicht aus seiner Biographie vorhersehbar. Genau so hätte er ein gewissenhafter Geflügelzüchter werden können, spießbürgerlich und angepaßt. Mit der gleichen Pedanterie und Besessenheit, mit der er die rassischen Höherzüchtungen ganzer „minderwertigen Völker“ organisierte, hätte er sich vermutlich um Züchtungsprogramme zur Verbesserung einschlägiger Hühnerrassen gekümmert und dies zum Mittelpunkt seines ansonsten recht einfältigen Lebens erhoben. So aber, und auch dies ist wiederum einer geschichtlichen Zufälligkeit geschuldet, fielen in einem historisch entscheidenden Moment, wie ebenso bei Hitler und vielen anderen der führenden Personage des Dritten Reiches, private perverse Obsessionen mit den Strömungen der Epoche zusammen und die Möglichkeit, diese politische Wirklichkeit werden zu lassen. Aber möglicherweise appellieren inhumane Systeme bei entsprechenden Individuen an jene Verhaltensweisen, die sie zur Durchsetzung ihrer Herrschaft benötigen, so daß die Koinzidenz der Geschichte in Wirklichkeit nur darin besteht, die bereits vorhandenen niederen Instinkte gewisser Menschen anzusprechen. Insoweit betrachtet, hätte der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, nicht ganz Unrecht mit der Klage, daß die Welt in ihm nur den Verbrecher und die blutrünstige Bestie sieht, denn er habe doch nur seine Pflicht getan in einem Zeitalter der der Welt, ihr fürchterliches Aussehen gegeben hat. 16 Wie zahlreiche andere Nazi-Verbrecher entzog sich der „treue Heinrich“, wie er oftmals im engeren Kreis um Hitler genannt wurde, der irdischen Gerechtigkeit durch Selbstmord. Am 21. Mai 1945 wurde er in der Nähe von 329

Flensburg in der Maskerade eines Feldwebels der „Geheimen Feldpolizei“, einer Unterorganisation seiner von ihm befohlenen Gestapo, von den Engländern festgenommen. Seinen lebenslangen Illusionen verhaftet, übersah er den Schreckensruf der mit ihm verbundenen NS-Organisationen und ahnte nicht, daß er sich hierdurch der Verhaftung, gleichsam wie auf einem Tablett von selbst ausgesetzt hatte. Zwei Tage später setzte er seinem Leben während einer eingehenden Leibesvisitation durch einen britischen Militärarzt mit Hilfe einer Zyankalikapsel ein Ende. Beide Totenmasken, die von ihm abgenommen wurden, zeigen noch nach seinem Tod die Doppelgesichtigkeit seines Charakters. Während die eine die gleichmütige und ausdruckslose Physiognomie seines subalternen Erscheinungsbildes widerspiegelt, erinnert die andere, in ihrer fratzenhaften, durch den Todeskrampf entstellten Züge, an die Unmenschlichkeit die seiner Person eigen war.

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Kapitel 17 Die Ernüchterung der Zivilisation und von der Nähe des Gewesenen Architektur für die Ewigkeit. Ästhetik des Schreckens. Hommage an den Thanatos. Grenzen der Zivilisation oder deren Ende? Aspekte eines säkularisierten Nationalismus. Auschwitzkeule und neuer Patriotismus im alten Gewand.. Das Ende der Utopie. Daß sich Kulturverständnis, Ästhetik und Schrecken nicht einander ausschließen, hat in aller Deutlichkeit der Nationalsozialismus gezeigt. Auf der Strecke geblieben, sind hierbei die Errungenschaften abendländischer Zivilisation, als deren fluchbeladenen Seite er sich in Szene setzte. Wenngleich Goebbels und Göring, zwar nicht dem Wahren und Guten zugetan, sich jedoch den „Schönheiten“ abendländischer Kultur zuwandten, so spricht dies für die Tatsache, daß das eine das andere, den Inbegriff des Bösen, nicht ausschließt. Sie waren, wie viele andere Nazis ausgesprochen beflissene Kunstsammler, wenn auch überwiegend durch unrechtsmäßiger Aneignung. Kultur und Vernichtung schließen sich sowenig aus, wie sie zur Absicherung von Macht und Herrschaft benutzt werden. Ebenso wenig schlossen sich klassische Musik und Vernichtung aus, die zynisch dargeboten den Gang der Opfer in die Gaskammern von Auschwitz und Birkenau begleitete.1 Der Nationalsozialismus in seiner Ausprägung von Faszination und Gewalt verbreitete eine Ästhetik des Schreckens, die sich vor allem in der bombastischen faschistischen Architektur eines Albert Speer in bedrohlicher Weise ins Bild des unbefangenen Betrachters setzte. Irgendwie erinnerten diese steinernen Monsterbauten an Symbole des Todes und der Erstarrung. Eingebettet in eine Weltuntergangsstimmung, der Größenwahn und tödlicher Terror vorausging, nahmen die menschenfeindlichen, entfremdeten Bauten die kommende Götterdämmerung vorweg. Das Leben drohte nicht nur in ihnen zu ersticken, und so erweckten sie bei unvoreingenommenen Betrachtern beklemmende Eindrücke, die ansonsten nur Grabesgruften hervorrufen. Vielmehr waren sie steinerne Absagen an das Leben selbst, architektonische Hommage des Thanatos. In ihrer sterilen Atmosphäre standen sie im Gegensatz zur modernen Zivilisation und als Affekt gegen die Zeit gerichtet. Streng genommen kamen diese Bauten ohne Menschen aus und in ihrer bloßen Präsenz waren sie Symbole der Selbstvergottung eines nihilistischen Systems, in dem alles was Leben widerspiegelte, eliminiert gehörte. Durch sie sollte schon die Unwichtigkeit und Nichtigkeit der lebendigen Individuen in Szene gesetzt werden, die unter der monströsen architektonischen Gewalt des totalitären Systems nur zu unscheinbaren Betrachtern reduziert wurden. Oder mit den 331

Worten Hitlers, nur konturlose Striche in den Bauskizzen darstellten, ohne jeden Einfluß auf das, was sich in symbolischer Weise da über sie erhob. Das Leben selbst spielte keine Rolle in dieser steinernen Welt von Kandelabern, Pfeilerhallen, Tempelformen und geometrisch angeordneten statuenbewehrten Fronten, die unvermeidlich den Eindruck gigantischer Sarkophage hervorriefen. Über all dieser machtzentrierten Kulissenwelt schwebte ein Todesschatten der, ähnlich den nächtlichen Totenfeiern, die Architektur in ein dunkles Hadesreich verwandelte. Rein zufällig wurde diese Architektur nicht entworfen, sie war keine Baukunst um der Ästhetik willen, sondern sie war genuiner politischer Bestandteil des Systems und damit gewollter Ausdruck individueller Ohnmacht und staatlichem Terror. Überdeutlich repräsentierten sie die mörderische Realität des Nationalsozialismus. Indes waren diese Bauten nicht nur als Zweckeinrichtungen für die gegenwärtige Politik gedacht, vielmehr sollten sie noch als Ruinen, falls ihnen eines Tages dieses Schicksal zufallen würde, noch jenen Eindruck vermitteln, den antike Ruinen bei ihren Besuchern hervorrufen. Speer hat diese als den sogenannten Ruinenwert bezeichnet, der einen historischen Schauer auslösen sollte und die zeitlose Präsenz nationalsozialistischer Machtentfaltung in Erinnerung rufen würde. So wie der Besucher ehrfürchtig vor den Überresten einer vergangenen Kultur steht, deren Aura immer noch die faszinierende Wirkung ihrer ursprünglichen Bedeutung ausstrahlt, sollten auch die baulichen Überreste des „Dritten Reiches“ noch jene Kraft vermitteln, die einstens in den Augen der Machthaber, vom Nationalsozialismus als Weltlehre ausgegangen war und weiterwirkt. Zu diesem Zwecke, hatte Speer in Voraussicht vormoderne Materialien wie Granit und eine Statik verwendet, die „noch im Verfallszustand den Überresten auf dem Palatin oder den Carcalla-Thermen gleichen würden“2 Vorausschauend waren sie daher auf die künftigen Götterdämmerungen angelegt, die das Regime dunkel vorahnte und in ihren Resten überdauert werden sollte. Hitlers Leidenschaft zur Architektur ist bekannt, und so ist es gewiß kein Zufall, daß sich in den Bauten Speers die ganze größenwahnsinnige Psyche seines Auftragsgebers widerspiegelt, seinen Zerstörungsfuror, seinen Nihilismus, seinen Hang zum Totenkult, dem er eine religiöse Qualität unterlegte. Dies alles kleidete er in einem geschichtlichen Auftrag ein, deren äußere Manifestation diese Bauten darstellten und deren ästhetischer Glanz und Ausmaße Reklame für den Tod sind. Neben unverhüllter Demonstration von Macht und steingewordener Herrschaft verklärte das nationalsozialistische Kulturverständnis den Germanenkult, der sich insbesondere in den Skulpturen des Bildhauers Arnold Breker niederschlug. Als sogenanntes künstlerisches Interieur der bombastischen Staatsbauten traf man auf die mystifizierten germanischen Heroenplastiken, die den Führungsanspruch der Herrenmenschen verkörpern sollten. Daneben rangierten Kitsch und seichte Unterhaltung zur Befriedigung der Massen und um diesen eine schöne trauliche Welt vorzutäuschen. Das 332

Kulturverständnis der Nationalsozialisten war das einer rezeptiven Massenkultur, in der sich jedermann als unbedeutender Konsument wiederfand. Im Gegensatz zum bürgerlichen Kultur- und Bildungsverständnis des 19.Jahrhunderts, das Kultur als Hort der Muße sah unter der Voraussetzung derjenigen Mittel, auf die man zum unmittelbaren Lebensunterhalt verzichten konnte, sowie die Möglichkeit solche Mittel ohne Nachweis eines direkten Nutzens ausgeben zu können, verstand Goebbels Kultur lediglich als Mittel der Herrschaft und Manipulation der Massen. Insofern fand Kultur im „Dritten Reich“ nicht in einer Welt des Geistigen, in einem selbständigen Reich der Werte statt, jenseits der gesellschaftlichen Realität, sondern war Teil des nationalsozialistischen Alltages, in dem Terror und Gewalt vorherrschten. Kultur im Nationalsozialismus entbehrte einer musischen Komponente und war statt dessen in die nationalsozialistische Propagandmaschinerie integriert. Damit zugleich gingen ihre wesentlichen kreativen Elemente verloren, welche immer auch Kennzeichen eines freien Kulturverständnisses sind und sich mitunter in avantgardistischen Schöpfungen niederschlagen. Auf vielfältige Weise wurde die Bevölkerung in die kulturellen Programme, oder das, was die Machthaber darunter verstanden, als Nutznießer eingebunden. Stellvertretend für die unterschiedlichen Aktionen sei hier nur das sogenannte Programm „Kraft durch Freude“ genannt, an dem jeder Volksgenosse bei entsprechender Eignung teilhaben durfte und dem einzelnen das Gefühl gab, Teil einer einzigen großen Volksgemeinschaft zu sein. Die nationalsozialistische Massenkultur sollte den einzelnen in einer totalitären Weise in das System einbinden, ohne daß er die wahren Absichten der Manipulation und Propaganda bemerkte. Totalitäre Systeme erscheinen aus der Ferne, mit gebührendem Abstand betrachtet und erst mit Recht aus der Nähe wie eine festgefügte Einheit, deren Strukturen und Institutionen bedrohlich und unterschiedslos die Gesellschaft überragen. Nirgends sind Einbruchsstellen erkennbar, die auf eine gewisse Fragilität ihrer Strukturen und Machtzentren hindeuten würden und die erfahrungsgemäß durch machtinterne Rivalitäten und undurchschaubaren, zufällig sich entwickelnden Kompetenzen stets in ihrem inneren und äußeren Bestand gefährdet werden. Das nationalsozialistische Herrschaftssystem war durch eine chaotisch anmutende Kompetenzzuordnung ihrer unterschiedlichen hierarchischen Machtapparate gekennzeichnet, die oft genug untereinander in erbitterter Konkurrenz standen. Somit lag über dem Hitlerregime eine gewisse Strukturlosigkeit, die den wahren Anspruch von Macht vernebelte. Darin lag eines der verläßlichsten Machtinstrumente der Führungsclique, und die im Grunde der indolenten Herkunft ihrer führenden Protagonisten und deren Gefolgschaft entsprach. An der kollektiven Regression, die jenen Prozessen zugrunde lag und schließlich zu den größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte führten, beteiligten sich hingegen nicht nur die Eliten, sondern unabhängig von 333

gesellschaftlicher Stellung, nahezu der größte Teil der deutschen Bevölkerung. Zunächst wurde der nationale Mythos zum kollektiven und individuellen ÜberIch-Ideal erhoben. Am Ende sahen sie in Hitler den kongenialen Sachverwalter und die väterliche Projektionsfigur ihrer national-völkischen Wachträume. Freilich, hätte es Hitler nicht gegeben, so wäre dies nicht ein ausschließliches deutsches Problem geblieben. In ihrem Aufsatz Organisierte Schuld aus dem Jahre 1945 schrieb Hannah Arendt: „ Seit vielen Jahren begegnen mir Deutsche, welche erklären, daß sie sich schämen, Deutsche zu sein. Ich habe mich immer versucht gefühlt, ihnen zu antworten, daß ich mich schäme, ein Mensch zu sein. Diese grundsätzliche Scham, die heute viele Menschen der verschiedenen Nationalitäten miteinander teilen, ist das einzige, was uns gefühlsmäßig von der Solidarität der Internationalen verblieben ist; und sie ist bislang politisch in keiner Weise produktiv geworden.“3 Ohne den Eindruck zu erwecken, als sei der nationalsozialistische Mythos heute noch wirksam, sind dennoch die Schatten der Vergangenheit nicht zu übersehen, welche die Gegenwartsdebatten so schwierig gestalten. Ein säkularisierter Nationalismus tritt uns in der heutigen Zeit im Gewande der sogenannten Leitkultur entgegen und der damit verbundenen Debatten um die Entsorgung der Vergangenheit und bei der man hofft, endlich wieder zu den kulturellen Traditionen zurückzukehren, die die deutsche Geschichte jenseits des Nationalsozialismus geprägt haben. Dabei wird allzuleicht vergessen, daß hierzu jene Mentalitäten und vermeintlichen Stärken des deutschen Charakters gehören, welche auch die mentalen Voraussetzungen der schrecklichsten Epoche gebildet haben. Als Beitrag zum öffentlichen Diskurs, endlich mit der Vergangenheit zu brechen und statt auf Auschwitz zurückzublicken in eine, von der Vergangenheit unbeschwerten Zukunft zu blicken, gilt die umstrittene Rede Martin Walsers zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in Frankfurt am Main. Hierin forderte Walser bekanntlich, endlich damit aufzuhören, ständig die „Auschwitzkeule“ zu schwingen und statt dessen die historische Schuldrolle zu verlassen. Damit reihte sich Walser in die Reihe derjenigen ein, denen die Vergangenheitsbewältigung deswegen ein Dorn ist, da sie offenkundig einem neuen patriotischen Selbstwertgefühl im Wege steht. Ein neuer, positiver Patriotismus soll den Deutschen ihr Selbstwertgefühl wiedergeben, das sie als Erblast ihrer eigenen Vergangenheit aufgeben mußten. Ein solcher Forderungskatalog wird von den unterschiedlichsten Geistern erhoben. Ein selbsternannter „Intellektueller“ und „Volksmahner“ namens Sarrazin hat mit diesen obskuren Ideen das “Buch des Jahres“ geschrieben und wurde von den einschlägigen Medien darin auch noch bestärkt und ernstgenommen. Auch dies ist ein Indiz für die nach wie vor vorhandenen Ängste und Vorurteile. Die Frage ist nur, wem dient ein solcher Patriotismus und hat die Welt nicht schon genug bittere Erfahrungen mit patriotischen und rassistischen Strömungen jeglicher Art und zu jeder Zeit machen müssen? Es gibt keine deutsche Leitkultur und es hat sie in der Geschichte vor und während 334

des Deutschen Reiches niemals gegeben. Wenn sie behauptet wird, es gäbe sie, dann enthüllt sich dieser Begriff als repressives Mittel zur Ausgrenzung und Unterdrückung von Minderheiten. Kultur im deutschen Sprachraum entstammte schon immer einem reichhaltigen Repertoire europäischer Einflüsse und ist befruchtet worden u.a. durch antike Kulturen, die inzwischen längst untergegangen sind. Überdies sind eine deutsche Leitkultur und ein noch so positiv getönter Patriotismus unter den Bedingungen eines friedfertigen und vereinten Europas auch in keiner Weise wünschenswert. Das Erlebnis des nationalsozialistischen Terrors brachte nach Kriegsende viele Deutsche dazu, auf ein künftiges Nationalgefühl zu verzichten, da sie im Interesse eines solchen gründlich mißbraucht wurden; außerdem gab es keinen nationalpolitischen Grundkonsens und keiner der demokratischen Parteien wollte ihn in irgendeiner Weise wieder herstellen. Selbst die Sozialdemokratische Partei verzichtete, auf ihre damals verteidigte Reichsverfassung zurückzukommen. Einzig der Widerstandsbewegung des 20. Juli war es gelungen, einen neuen nationalpolitischen Grundkonsens zu finden, wenngleich er sich in seinen geopolitischen Absichten nicht wesentlich von dem des Deutschen Reiches vor Hitler unterschied und bei Weitem nicht so demokratisch gemeint war, wie man das gerne herausgehört hätte.. Beide deutschen Staaten, die im Zuge der Nachkriegsordnung 1949 gegründet wurden, galten bis zur Wende im Jahre 1990 als feste Bestandteile der europäischen Nachkriegsordnung und diese wurden auch von den Deutschen im Sinne einer Friedensordnung auf dem europäischen Kontinent verstanden.4 Es erstaunt indes nicht, daß nach der Wiedervereinigung und der vollen Souveränität sowie der Faktizität, daß das einstmals geteilte Land wieder ein Nationalstaat, wenn auch ein föderativer, geworden ist, die Rufe nach Patriotismus und diffusem Nationalgefühl erneut ertönen. Dabei waren die Begriffe von Patriotismus und Nationalismus im Kollektivverständnis der deutschen Geschichte Herrschaftsinstrumentarien zur Unterdrückung emanzipatorischer und liberaler Bestrebungen gewesen, wie wir gesehen haben. Je mehr die Demokratie der Weimarer Republik an gesellschaftlicher Kraft gewann, und zeitweise war dem so, um so hartnäckiger erschallten die Rufe nach Wiederherstellung alter patriotischer und national-völkischer Prospekte. In dem Maße, sie auch heute noch ertönen, scheint diese alte deutsche Krankheit die Zeiten überdauert zu haben. Der deutsche Nationalismus und der deutsche Nationalstaat des Kaiserreiches und der Weimarer Republik waren nicht außerhalb der europäischen Gemeinschaft gewesen und ihr Vorhandensein bot noch keinen Anlaß, für die übrigen Nationen eine tödliche Gefahr zu werden. Aber sie waren überschattet von ihren kollektiven Neurosen, eingezwängt in ihren Minderwertigkeitskomplexen und dem Gefühl, eine verspätete Nation zu sein, sowie anfällig für Großmannssucht und Chauvinismus. Infolge zweier selbstverschuldeter Kriege sind die, dem Nationalstaat von 1870 innewohnenden, Nationalismen zerstört. Jene unseligen 335

Mentalitäten eines destruktiven völkischen Nationalismus scheinen, gesamtgesellschaftlich betrachtet, gebrochen, wenn nicht sogar verschwunden zu sein. Sicherlich auch das Ergebnis eines generativen Mentalitätswandels, der dazu führte, daß die jüngere Generation sich in ihren Lebensgewohnheiten und Ansichten kaum noch von denen der europäischen Nachbarstaaten unterscheidet. Um so mehr lassen die Rufe nach Patriotismus und der Rekurs auf rassische und kulturelle Unterschiede ihren antiquierten Charakter aufscheinen, der einer modernen Zeit sowie modernen Gesellschaftsentwürfen weit hinterhereilt. Dem aufmerksamen Beobachter der Zeitgeschichte und dem historisch Bewanderten, sind die Rufe nach völkischem Patriotismus und der Vorherrschaft des „germanisch-arischen Blutes“ der zwanziger Jahre noch in den Ohren, welche den Begriff der Nationalität definieren sollten und die bis zuletzt, bei allen Unterschiedlichkeiten allesamt der Hitler-Bewegung zugute kamen. Gegen die herrschenden Zustände der Republik gerichtet, verbargen sich auch die Erwartungen „einer Art Epiphanie“5 dahinter, die auf Erlösung durch tiefe Identifizierung mit dem Pathos des nationalen Mythos hofften. Aber jede Erinnerung an Vergangenes kann zugleich utopische Erwartung auf eine bessere Zukunft sein, wenn das Vergangene einem kritischen Bewußtsein unterzogen wird. Kommunismus und Nationalsozialismus konnten sich auf utopische Zukunftskonzepte berufen und pflegten einen Nationalismus, der sich, jeder auf seine Weise, in diesen utopischen Feldern bewegen ließ. Lange blieb der tiefe Abgrund, der sich in ihrer Herrschaft zwischen Anspruch und Wirklichkeit auftat, unter dem Deckmantel patriotischer und völkischnationaler Begeisterungen unsichtbar. Über allem erhob sich sowohl im Kommunismus, als auch im Nationalsozialismus, das Bild eines neuen Menschen, ausgestattet mit den vertrauten Tugendmuster, in die Gehorsam, Selbstdisziplin, Führungsvertrauen und Verschworenheit eines anonymen Kollektivs eingewebt waren. Wurden sie bei dem einen System als Voraussetzungen zur Solidarität beschworen, wobei ebenso wie in dem anderen der einzelne nichts galt, so bestand im Nationalsozialismus die Neigung, sie als kriegerische Tugenden in den Vordergrund zu stellen. Mit dem Ende der Utopie des Dritten Reiches, das eine Ideologie des grenzenlosen Schreckens bereithielt und mit dem Zusammenbruch des Kommunismus, ist die Hoffnung in Utopien zusammengebrochen. Hinter all diesen restaurativen Programmen und den Forderungen nach Leitkultur verbergen sich bewußt oder unbewußt, die ideologischen Vorbereitungen, nicht nur zur Verschleierung zwingender politischer Probleme, sondern die Instaurierung eines regressiven Begriffes als positives Element von Kultur und Zivilgesellschaft. Wie schon der tradierte Nationalismus die wirklichen sozialen Probleme der damaligen Gesellschaft verdeckte, drängt sich auch hier der Verdacht auf, daß „Leitkultur“ und „Patriotismus“ als Instrumente medialer und politischer Manipulation der zunehmenden Entfremdung des Individuums von Gesellschaft und Politik entgegenwirken soll. In der Gegenwart ist daher die Nähe dessen, was überholt 336

schien, immer noch spurenhaft präsent. Wenn die offizielle Politik schon nicht in der Lage ist, die Menschen mit ihren sachlichen Entscheidungen zu überzeugen, bedarf es offensichtlich archaischer Symbolik wie Leitkultur, Patriotismus und die Betonung auf ethnische und rassische Unterschiede, um noch einen halbwegs sinnvollen Zusammenhang zwischen dem Staat und seinen Menschen herzustellen. Gegen Fahnenschwenken und patriotischer Gesinnung ist im Grunde nichts einzuwenden, es sei denn, beides wird zum Zwecke der Verschleierung wirklicher gesellschaftlicher Probleme politisch instrumentalisiert. Betrachtet man die gegenwärtige gesellschaftliche Situation und die Vehemenz, mit der von verschiedenen politischen Richtungen in unkritischer Weise Patriotismus, deutsche Leitkultur und sozialdarwinistisches Theoriengebräu als Sarrazin auf eine breite Zuhörerschaft stößt, so besteht Anlaß, skeptisch zu bleiben. Mit welch mehr oder weniger sublimen Mitteln Restauratives beschworen und versucht wird, mit Hilfe revisionistischen Gedankenguts den Weg ins Gestrige zu beschreiten sollen die folgenden Ausführungen verdeutlichen. In der Annahme, daß Geschichte immer lebendig bleibt, auch wenn sie als historische Fakten betrachtet werden, zeigen sich die Spuren des Gewesenen in der Gegenwart.

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Kapitel 18 Geschichte im Widerstreit von Funktionalismus oder Intentionalismus 1 Zur wertfreien Betrachtung der Vergangenheit. Entsorgung für die Zukunft. Geschichtspositivismus und Moral. Eine Art der „Schadensabwicklung“. Die Wiederkehr der Geister. Noltes Geschichtsrelativismus. In seiner Novelle Unordnung und frühes Leid läßt Thomas Mann seinen Geschichtsprofessor Cornelius wissen, daß Professoren der Geschichte diese nicht lieben wenn sie geschieht, sondern erst dann, sofern sie geschehen ist. In der distinguierten Attitüde einer weltabgewandten Vornehmheit, sich auf die Niederungen politischer Ereignisse nicht einzulassen, werden eben so geschichtliche Umwälzungen der Gegenwart als gesetzlos, beliebig und unhistorisch empfunden. Cornelius Einstellung als Geschichtsprofessor und Angehöriger des Bildungsbürgertums spiegelt Thomas Manns Politikferne wider, als er zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Betrachtungen eines Unpolitischen schrieb. Auch Thomas Mann sah seinerzeit, ähnlich seiner Figur des Professor Cornelius, die historischen Brüche und Verwerfungen seiner Zeit aus der Distanz, weit ab in ihrer politischen Dynamik und deren verhängnisvollen Folgen. Betrachtet man geschichtliche Ereignisse und deren Auswirkungen als empirische Fakten, die sich aus den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Konstellationen scheinbar wie von selbst ergeben, sind sie nicht mehr als bloße historisierende Beschreibungen von Zeitläufen in denen Außerordentliches geschah. Die sogenannten Funktionalisten unter den Historikern neigen dazu, politisch-historische Ereignisse als Folgen von Sachzwängen zu deuten, die sich zwar aus der Politik ergeben haben, aber nicht vorhersehbar waren. Damit wird ihnen die Basis einer moralischen Bewertung entzogen. Dem liegt die Auffassung eines wertfreien Wissenschaftsverständnisses zugrunde, welches sozialpsychologische und historische Phänomene unter den methodologischen Gesichtspunkten von Naturwissenschaften beobachten möchte.2 Auf die Analyse geschichtlicher Katastrophen läßt sich eine solche Betrachtungsweise nur unter Vorbehalt anwenden, da sie den moralischen Anspruch an Politik außer Acht läßt und die ideologischen Implikationen und deren Wirkungsweisen einer sinnstiftenden Diskussion entzieht. Zugleich besteht die Gefahr, die Verursacher und Täter in politischer und moralischer Hinsicht zu entlasten. Beispielsweise ließe sich hierdurch der millionenfache Völkermord der Nazis durch die außer Kontrolle geratene Expansionspolitik der Wehrmacht in den besetzten Ostgebieten erklären.

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Die Intentionalisten unter den Historikern gehen hingegen davon aus, daß der Völkermord von vorneherein geplant war und der Krieg ein vorgeschobenes verdeckendes Unternehmen darstellte, vor allem die Feldzüge gegen Polen und der Sowjetunion. Insbesondere entzündete sich dieser Streit an der nachträglichen zeitgenössischen Bewertung der Verbrechen im Dritten Reich.3 Im Zuge einer Neubewertung der nationalsozialistischen Verbrechen als Gegenstand deutscher Geschichte ist auch die Tendenz nach Normalität zu sehen, in der nicht nur Historiker einschwenken. So versuchte beispielsweise der CSU-Politiker Franz Josef Strauß die düstere Vergangenheit als eine Randerscheinung im Kontext deutscher Geschichte zu bewerten. Anläßlich des Festkommers zum 130 jährigen Bestehens des Kartellverbandes der katholischen deutschen Studentenverbindungen mahnte er den Anspruch der Deutschen auf Normalität an, denn auf Dauer könne „kein Volk mit einer kriminalisierten Geschichte leben“.4 Die Verbrechen in Auschwitz und anderswo versuchte er den Erfolgsleistungen des deutschen Nachkriegswirtschaftswunders relativierend entgegenzustellen, denn kein Volk hätte es verdient, angesichts dieser Leistungen noch immer mit Auschwitz konfrontiert zu werden. Entgegen der funktionalistischen Position im Historikerstreit nannte Jürgen Habermas die Versuche dem Dilemma zwischen Sinnstiftung und Wissenschaft im Umgang mit dem Nationalsozialismus „eine Art Schadensabwicklung“, um die deutsche Geschichte von ihren unübersehbaren Verwerfungen und moralischen Brüchen zu befreien.5 Solcherart Versuche auf die Habermas hinweist, die unheimliche und dennoch wirkliche Geschichte deutscher Vergangenheit zu klittern gab es zahlreiche. Aber offensichtlich ist es hierbei nicht gelungen, jene Kluft zwischen einem empirisch – historischen Wissenschaftsanspruch und moralischer Betroffenheit zu überbrücken. So signalisierte der sogenannte Historikerstreit Mitte der achtziger Jahre, daß die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus künftig im Zeichen seiner Historisierung zu stehen habe indem nicht mehr eine Konsensstiftung über den Abscheu der inhumanen und verbrecherischen Praktiken eines kriminellen Regimes in den Vordergrund der Debatte zu stehen habe, sondern die Einordnung der nationalsozialistischen Epoche in den gesamten historischen Zusammenhang. Damit sollte dem Dritten Reich ein Rang zugeordnet werden, der es von anderen historischen Phasen europäischer und deutscher Geschichte nicht wesentlich unterscheidet. Hitler steht somit in einer Reihe vergleichbarer Despoten, wie Alexander dem Großen, Napoleon oder Stalin. Somit historisch bereinigt stellt sich das Dritte Reich nicht nur als eine Epoche deutscher Geschichte dar, die zwar aus den vorhergehenden entstanden ist, aber im Wesentlichen nicht aus diesen herausragt. In dieser Lesart wird das Dritte Reich mit anderen europäischen faschistischen Systemen gleichgesetzt – vor allem im direkten Vergleich mit dem Stalinismus –, deren autoritäre Herrschaftsformen aus den gesellschaftspolitischen Fehlentwicklungen der Modernen und des Frühkapitalismus hervorgegangen sind.6 Demzufolge wird 339

dem Dritten Reich und seinen Verbrechen in politischer und moralischer Hinsicht Singularität abgesprochen. Vor der Gefahr einer historischen Relativierung warnte bereits Hannah Arendt, den Nationalsozialismus als logische Folge und geradezu als selbstverständlich aus vorhergehenden kulturund geistesgeschichtlichen Epochen ableiten zu wollen, ihn gewissermaßen bei „Adam und Eva“ beginnen zu lassen, anstatt dessen Verbrechen in der Verantwortung seiner Täter und Helfershelfer zu sehen.7 Einen unrühmlichen Höhepunkt im Historikerstreit lieferte der Historiker Ernst Nolte mit seiner wissenschaftlich unhaltbaren These, daß Hitlers Konzentrationslager ihre Vorbilder in den stalinistischen Gulags gehabt haben und diese erst den Diktator auf die Konzeption einer fabrikmäßig betriebenen Massenvernichtung gebracht hätten. Nolte ging sogar noch einen Schritt weiter, in dem er Nationalismus, Rassismus und Faschismus in erster Linie als Reaktionen auf die vorhergehenden Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts versteht. Denn, so Nolte: „dem Glauben des militanten Universalismus und Internationalismus (der russischen Revolution) mußte der Gegenglaube des militanten Partikularismus und Nationalismus gegenübertreten“.8 Aus Noltes Sicht ist selbst der Antisemitismus nicht von vorneherein verwerflich gewesen, im Gegenteil, in der verengten Sichtweise eines apologetischen Funktionalisten vermag er ihm noch moralische Qualitäten zu unterstellen. Folgerichtig war er „als solcher nicht die Ausgeburt kranker Hirne“. Wie auch der Antikommunismus war er „weder historisch grundlos“ noch „moralisch unberechtigt“.9 Die historisierende Relativierung, einer von vorneherein geplanter Vernichtung des europäischen Judentums kommt sowohl den neonazistischen als auch den revisionistischen Kreisen entgegen. In ihrem Interesse liegt schon immer die Absicht verborgen, den Nationalsozialismus in seinen verbrecherischen Dimensionen zu relativieren um eigene gesellschaftspolitische Legitimitätsansprüche zu reklamieren, die unter den Vorgaben einer demokratischen Diskurskultur des Political Correctness öffentlich nicht durchzusetzen sind. Aber im Zeichen eines neu erstarkten Nationalitätsgefühls, welches sich mit einem unkritischen Patriotismus verbindet, 10 verwischen sich allmählich die Spuren der Vergangenheit im öffentlichen Bewußtsein. Und diese sorgfältig kalkulierte Rechnung neonazistischer, revisionistischer und rechtskonservativer Kreise scheint allmählich aufzugehen. Wie wir sehen werden, sind diese Absichten, teils mit unschwer zu erkennenden Gemeinplätzen, aber auch mitunter mittels juristischer Argumentationsketten in vollem Gange. Wer indes die Gefahr unterschätzt, wie es gelegentlich immer wieder mit Verweis auf die relativ bedeutungslosen Wahlergebnisse rechtsradikaler Parteien von Seiten der Medien suggeriert wird, so wird ihm diese eines Tages wie ein Bumerang um die Ohren fliegen. Allerdings wird bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen deutlich, daß die gegensätzlichen Interpretationen des Nationalsozialismus Teil der fortlaufenden Neueinschätzung der politischen Identität der Bundesrepublik sind. Innerhalb dieses ideologischen Spannungsfeldes sind die Bestrebungen 340

revisionistischer Kreise zu sehen, die Vergangenheit zu schönen um die Gegenwart und Zukunft zu retten. Gewissermaßen am äußersten rechten Rand des Historikerstreites zwischen den Funktionalisten und Intentionalisten bewegen sich die Revisionisten. Für Letztere geht es in der Sache nicht darum den Völkermord in Auschwitz und anderswo zu leugnen, darin unterscheiden sie sich von den Verfassern der sogenannten Auschwitzlüge. Die Revisionisten möchten die grundsätzliche Singularität der Verbrechen bestreiten, die Täter als verführte Opfer eines wahnsinnigen Diktators hinstellen oder die Verbrechen zumindest in die alleinige Verantwortung Hitlers oder Himmlers einordnen und somit die Täter, Helfershelfer und Mitläufer von deren Verantwortung und Schuld zu entlasten. Oder wie im Deckert Urteil aus dem Jahre 1994 das deutsche Volk als permanentes Ausbeutungsobjekt jüdischer Wiedergutmachungsforderungen juristischerseits beklagen. Zur revisionistischen Bereinigung deutscher Vergangenheit gehört auch die Legende, daß Hitlers Mein Kampf zwar in millionenfacher Drucklegung unter die Bevölkerung gebracht wurde, aber nicht gelesen wurde, insofern nicht wissen konnte, auf welchen inhumanen und verbrecherischen politischen Positionen man sich einlassen würde. Der Essener Journalist und langjährige Leiter der außenpolitischen Redaktion der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung Hans-Georg Glaser hat in einem Essay 11 dargelegt, daß diese Behauptung mit zu jener Legendenbildung einer verführten Bevölkerung gehört, wie sie in jüngster Zeit des öfteren von rechtskonservativen Kreisen vorgebracht wird. Glasers These, daß es schlechterdings kaum vorstellbar sei, daß ein solches Machwerk in millionenfacher Auflage von allen seinen Besitzern beiseite gelegt worden ist, wird neuerdings durch die jüngere historische Forschung gestützt. Denn nicht nur Hitlers Mein Kampf wurde unter die Leute gebracht, sondern es gab darüberhinaus massenweise Auszüge und Zitate in allen möglichen Zeitschriften und zu allen denkbaren populistischen Gelegenheiten, denen sich die Masse der Bevölkerung kaum entziehen konnte. An Litfaßsäulen, Mauern öffentlicher Gebäude und Wandtafeln klebten Plakate mit Zitaten. In Schulbüchern und Anleitungsbroschüren für Wehrmachtsangehörige, ganz zu schweigen von den Ausbildungskatalogen für SS und SA-Anwärtern wurde aus Hitlers Machwerk zitiert. In den „Ordensburgen“ der SS und Nationalpolitischen Erziehungsanstalten galt Mein Kampf als nationalpädagogische Standardliteratur. Beides, die Auschwitzlüge, ein infames Unwort, die Relativierung kollektiver und subjektiver Schuldanteile der Täter, sowie die Behauptung, man habe von Hitlers frühzeitig kriminellen Absichten nichts gewußt, auf der sich die Verführungsthese stützt, erfüllen eine der zentralen programmatischen Funktionen im Konzept des „Revisionismus“, jener Ideologie des Negierens oder der Relativierung der Verbrechen des NS-Staates, an der sich nicht nur unverbesserliche Hitler Apologeten, Alt- und Neonazis beteiligen, sondern gelegentlich auch konservative Überpatrioten. Mit der geschichtlichen 341

Relativierung einschlägig bekannter Verbrechen im Dritten Reich möchte man sich von millionenfacher individueller Schuld befreien, andererseits soll der nachträgliche Versuch unternommen werden, ein ganzes Volk hätte nicht wissen können, was da auf es zukommen würde. Alle diese mehr oder weniger erfolgreichen Entsorgungen einer unbeliebten Vergangenheit, die für manche gar nicht mal so unbeliebt war, dienen in ihrer unterschiedlichen Diktion dazu, die deutsche Vergangenheit zu entkriminalisieren und die deutsche Geschichte um die Sequenz von zwölf Jahren zu demontieren, um die Gegenwart ungebrochen an die vorherigen kultur- und geistesgeschichtlichen Epochen anknüpfen zu lassen. Darüberhinaus, und das ist das eigentliche Novum des bundesrepublikanischen Revisionismus wird mit geschichtlicher Ignoranz unter dem Deckmantel gesellschaftlicher Kultur der Freiheit Vergangenheitsentsorgung betrieben, verbunden mit ordnungspolitischen und sozialpolitischen Perspektiven, die sich bei näherem Hinsehen als Rückgriffe auf kleinbürgerliche Idylle entpuppen und den Vorstellungen von offener Gesellschaft zuwiderlaufen. Die Konzepte der Revisionisten und jener Leugnung der historischen Zusammenhänge, insbesondere wenn sie auf Patriotismus insistieren, sind inzwischen hoffähig geworden. Und dies ist mehr als nur bedauerlich, denn es mag durchaus ein Anzeichen dafür sein, daß die alten Geister, welche in der Adenauer-Ära und darüberhinaus weiterspuken durften, sich aus ihren „Verließen“ zurückgemeldet haben. In Abwandlung des bekannten Zitates von Hannah Arendt, daß man vor dem Antisemitismus nur noch auf dem Monde sicher sein, ist man jedenfalls in diesem Lande vor den Geistern der Vergangenheit nicht mehr so sicher wie es sein müßte, da uns der Mond nicht zur Verfügung steht. Jedenfalls haben diese unseligen Geister ihre Hexemeister überlebt und sind dabei, sich in den nachfolgenden Generationen einzurichten. Spätestens seit der Wehrmachtsausstellung in den neunziger Jahren, ist aber auch die Diskussion über Deutschlands dunkelstes Kapitel in der Öffentlichkeit angekommen und enttabuisiert. Die sogenannte Enkelgeneration, kritische und gleichwohl betroffene junge Menschen, denen man heutzutage an den Universitäten begegnet und welche sich in sozialwissenschaftlichen Seminaren mit den traumatischen Folgen der Nachkommen der Täter- und Opfergeneration auseinandersetzen, stellen die Fragen und tragen mit dazu bei, Vergangenheit nicht als museale Versatzstücke zu betrachten, sondern als Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft. Von „Bewältigung der Vergangenheit“, wie sie gelegentlich naiv gefordert wird, kann hierbei nicht die Rede sein. Bewältigen läßt sich solches Unrecht nicht, man kann sich nur damit auseinandersetzen und hoffen, daß die Lehren hieraus nicht vergeblich sind. D.h. mit anderen Worten, daß auch einer hybriden deutschen Überheblichkeit, da wo sie noch wirksam ist, endlich der Garaus gemacht wird. Die in den späten achtziger Jahren angestoßene Debatte um einen enttabuisierten Umgang mit Deutschlands dunkelster Vergangenheit, dem sich auch etablierte Institutionen hinsichtlich ihrer Rolle im Dritten Reich 342

stellen mußten, riefen freilich auch Gegenstrategen auf den Plan, um einer restlosen „Beschämung“ deutscher Historie entgegenzutreten.

Kapitel 18.1 Revisionismus als Versuch einer„Vergangenheitsbewältigung“ Versuche einer Vergangenheitsbewältigung. Sinnstiftung durch Revisionismus. Alles was Recht(s) ist; wenn die Justiz Vergangenheit „bewältigt“. In staatstragenden Institutionen, wie in Teilen der Justiz, scheint indes Revisionismus zum Charaktermerkmal eines juristischen Umganges mit den Überresten ewig Gestriger und Holocaustleugner zu gehören und fester Bestandteil eines zweifelhaften Geschichtsverständnisses zu sein, in dessen Substanz sich seit den Frankfurter Auschwitzprozessen und anläßlich der nachfolgenden NS-Verbrechensprozessen vor deutschen Gerichten nichts Wesentliches geändert hat. Hierzu liefert der Fall Deckert vor gar nicht langer Zeit ein Musterbeispiel des Umganges der deutschen Justiz mit historischen und moralischen Problemen. Hierzu lassen sich nicht nur kritische Überlegungen über die weitverbreitete Unsicherheit historischen Fakten gegenüber anstellen, sondern bieten eben so Anlaß über die moralische Substanz höchster deutscher Gerichtsbarkeit in Bezug auf den Umgang mit Rechtstatbeständen nachzudenken, die sich auf die dunkle Vergangenheit beziehen. Am 15. März 1994 hatte der Bundesgerichtshof einem Revisionsbegehren des verurteilten NPD-Chefs Deckert wegen Volksverhetzung stattgegeben.1 Das Mannheimer Urteil aus dem Jahre 1992 wurde aufgehoben und an eine andere Kammer des Landgerichtes Mannheim verwiesen. In dem ursprünglichen Urteil ging es um eine Verurteilung Deckerts wegen Verleugnung des nationalsozialistischen Massenmordes in den Gaskammern der Konzentrationslager im Osten. Das höchstrichterliche Urteil stieß auf erheblichen öffentlichen Protest, obwohl darin bestätigt wurde, daß der Massenmord an Juden als geschichtliche Tatsache unumstößlich sei und eine Beweisführung hierüber, wie sie Deckert verlangt hatte, nicht mehr notwendig sei. Die Gründe für die Zurückweisung des Mannheimer Urteils gegen Deckert lagen einzig in der juristischen Formulierung begründet, weil es zu pauschal gefaßt war und der Nachweis, daß sich der Angeklagte mit der nationalsozialistischen Ideologie identifiziere, nicht erbracht wurde. Die Frage blieb allerdings offen, womit er sich hätte identifizieren können, wenn er den Massenmord leugnet. D. h. mit anderen Worten, in einem derartig sensiblen und historisch belasteten Thema findet eine juristische Haarspalterei statt, anstelle von klarer bewerteten Diktion! Nach gängiger Rechtsprechung ist allerdings dieser Nachweis die juristische Grundlage die Voraussetzung zu 343

einer Verurteilung wegen Volksverhetzung, wobei anzumerken wäre, daß diese nicht der politischen und moralischen Tragweite des Völkermordleugnens gerecht wird, denn vom Materiellen her, geht es um die Verleugnung von Millionen ehemals lebender Menschen, die zu Tode gebracht wurden. Jedoch zeigt die Formulierung nach Nachweis der ideologischen Gesinnung und die Zweifelsfalle nur sehr schwer, wenn überhaupt erbracht werden kann, wie apologetisch die deutsche Justiz gewillt ist, in besonders prägnanten Fällen der Auschwitz-Lüge die Entsorgung der Vergangenheit zu betreiben. Bar jeder moralischen und politischen Verantwortung zählen nur die nachweisbaren Fakten, auch wenn sie psychologisch nicht von der Hand zu weisen sind, wie im Falle Deckert. Das Mannheimer Urteil war also im wesentlichen nicht aus substantiellen, sondern aus formalen Gründen aufgehoben worden. Die Mannheimer Richter hatten sich offensichtlich nicht einer allzu großen Mühe unterzogen und die öffentliche Aufregung schien nicht gerechtfertigt. Zum Skandal wurde die ganze Angelegenheit erst mit dem neuen Urteil der 6. Strafkammer des Landgerichtes Mannheim vom 22. Juni 1994. In dessen Begründung wurde der Angeklagte als „charakterstarke, verantwortungsbewußte Persönlichkeit mit klaren Grundsätzen“ beschrieben. Die politische Überzeugung sei ihm eine Herzenssache und seine „Tat“ sei „von seinem Bestreben motiviert, die Widerstandskräfte im deutschen Volk gegen die aus dem Holocaust abgeleiteten jüdischen Ansprüche zu stärken“.2 Nicht außer Acht gelassen wurde auch die Tatsache, daß Deutschland auch heute noch, rund fünfzig Jahre nach Kriegsende, weitreichenden Ansprüchen politischer, moralischer und finanzieller Art aus der Judenverfolgung ausgesetzt ist, während Massenverbrechen anderer Völker ungesühnt blieben, was jedenfalls aus politischer Sicht des Angeklagten „eine schwere Belastung des deutschen Volkes darstellt“.3 Mehrfach taucht im Urteilstext auch die Rede vom Juden als „Parasiten“ auf. Dieser Begriff wurde ausschließlich von den Richtern eingeführt, der Angeklagte hatte ihn nicht verwendet.4 Als Holocaustleugner hat er dies selbstverständlich auch gemeint, aber die Schlußfolgerung dem Gericht überlassen, welches diese auch prompt im Sinne des Angeklagten zog. Abgesehen davon, daß im Urteilstext Begriffe wie „deutsches Volk“ und „Widerstandskräfte des deutschen Volkes“ auftauchen, die mit eindeutig rassisch-völkischen Konnotationen aus der Arsevatenkammer eines faschistoid geprägten Weltbildes des Nationalismus im späten 19. Jahrhundert hervorgeholt wurden, zeigt die einfühlende Sympathie der Richter mit dem ideologischen Weltbildes eines chronischen Rechtsradikalen zugleich deren Intention, eine historische Realität zu verkleinern zugunsten eines angeblich verletzten Nationalgefühls, was den Leiden der Opfer indirekt gegenüber gestellt wird. Darüberhinaus wird eine Adaption antisemitischer Stereotypen an den allgemeinen Sprachgebrauch sichtbar und der untaugliche Versuch, zwischen einem handfesten Antisemitismus und den typischen Vorurteilen überlebender Juden gegenüber zu trennen, im Sinne eines 344

gutgemeinten Verhaltenskodex, der sich von nationalen Gefühlen leiten läßt. Denn in dem besagten Urteil heißt es weiter: „Der politisch rechts stehende Angeklagte ist kein Antisemit im Sinne nationalsozialistischer Rassenideologie, die den Juden in letzter Konsequenz das Lebensrecht abgesprochen hat, er verurteilt vielmehr die Entrechtung und Verfolgung. Aufgrund seiner betont nationalen Einstellung jedoch nimmt er den Juden ihr ständiges Insistieren auf den Holocaust und die von ihnen aufgrund desselben auch noch nach nahezu fünfzig Jahren nach Kriegsende immer noch erhobenen finanziellen, politischen und moralischen Forderungen Deutschland gegenüber bitter übel [...]. Im übrigen bekennt sich der Angeklagte zum Revisionismus, d.h. er hält es für geboten, auch als gesichert geltende historische Thesen immer wieder mittels der Forschung zu überprüfen“.5 Solcherart Begründungen, zumal sie gerichtlich vorgetragen werden, dienen der offiziellen Chiffrierung neuer Formen eines unverhohlenen Antisemitismus, der sich neuerdings nicht mehr zu verstecken braucht und inzwischen in den Sprachgebrauch eingeflossen ist. Das Leugnen und Relativieren des millionenfachen Völkermordes ist somit nicht nur mehr Ausfluß nationalistischer oder gar neonazistischer Phantastereien. Rechtsradikales und revisionistisches Gedankengut, auch wenn es naiv und teils unbeabsichtigt in die postnationalsozialistische Falle tappt, wird nicht mehr nur von den bekannten rechtsradikalen Vereinigungen ausgesprochen, vielmehr ist es längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.6 Hinter alledem mag der untaugliche Versuch stehen, der deutschen Gegenwart eine historische Sinnstiftung zu geben, die von allem Verbrecherischen und Abgründigem gereinigt erscheint. Das Gericht in Mannheim sah sich deshalb bemüßigt, ein durch die Wiedergutmachungsforderungen angeblich verletztes Nationalgefühl wiederherzustellen, welches es, wie der Angeklagte bedroht sah. Am 15.Dezember 1994 wurde das Mannheimer Urteil vom Bundesgerichtshof erneut aufgehoben mit der Begründung, daß politische Verblendung nicht die strafrechtliche Schuld desjenigen mindere, der vor der historischen Wahrheit die Augen verschließe. In einer ähnlichen Art restaurativer Sinnstiftung wußte auch der Politologe Arnulf Baring auf dem Kongreß der Hessischen Christdemokraten in Wiesbaden 2006 die historische Last zu beklagen und beharrte darauf, den Nationalsozialismus als eine bedauerliche Entgleisung der deutschen Geschichte zu sehen und sich statt dessen auf jene kulturellen und geistesgeschichtlichen Traditionen zu berufen, die vor dem Dritten Reich das deutsche Geistesleben beherrscht haben. Ihm war bei seinem Versuch der Sinnstiftung durch Vergangenheitsentsorgung offensichtlich entgangen, daß zur Verrohung humaner Tugenden gerade jene völkisch-nationalistischen und sozialdarwinistischen Prospekte des deutschen Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert beigetragen haben, welche die Saat in den Boden des späteren Völkermordes legten und das es keineswegs ein Paradoxon ist, daß sich trotz 345

der klassischen, humanistischen Bildungsgüter der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte inhumane Politik durchsetzen konnte.

Kapitel 18.2 Die restaurative Rolle nach Rückwärts als Zukunftskonzept Konservative Modelle einer Kultur der Freiheit. Neoliberale Konzepte des Spätkapitalismus. „Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott“. Protestantische Leistungsethik als Weg aus der Krise. Die „neue“ Gründerzeit. Eine weitere, pikante Variante der Vergangenheitsentsorgung fügte der Verfassungsrichter Udo Di Fabio der aktuellen Debatte um Schuld und Verantwortung des nationalsozialistischen Völkermordes hinzu. Bemüßigt, sich um die Kultur der Freiheit zu sorgen, so lautet der Titel seines Buches, kam er allerdings bei der Bewertung kollektiver Schuldanteile und Verantwortungszuordnungen über die übliche formaljuristische Argumentation nicht hinaus. Mit Udo Di Fabio betritt der konservative „Star“ unter den Verfassungsrichtern die Bühne zeitgenössischer neokonservativer Gesellschaftskritik, die gerne wieder an die restaurativen Versatzstücke von Nation, Familie, Volk und Religion anknüpfen möchte. Zuvor hatte er seinen juristischen Standpunkt als Mitglied des Bundesverfassungsgerichtes vom Verfassungsverbot der NPD, sowie über das Zuwanderungsgesetz, zum Visa- Untersuchungsausschuß und schließlich zum Europäischen Haftbefehl dargelegt. Im Falle der Europäischen Haftbefehlsgesetzgebung ist dieser unter Juristen umstritten. Die Europäische Haftbefehlsgesetzgebung sieht vor, künftig mit seinem Inkrafttreten auch Straftaten rückwirkend zu erfassen, für die es bislang keinen Straftatbestand gegeben hat. Dies verstößt gegen den Grundsatz nulla poene sine – keine Strafe ohne Gesetz. Demzufolge darf der Staat nur solche Straftaten ahnden, die er zuvor als Unrecht definiert hat. Als Berichterstatter fungierte Di Fabio anläßlich der bundeshofrichterlichen Entscheidung zu Schröders umstrittener Vertrauensfrage, die von ihren parlamentarischen Regularien her betrachtet, streng genommen einen Verfassungsbruch darstellte. Vermutet man zunächst, angesichts des allgemeinen neokonservativen Trends uneingeschränkte Zustimmung zu Di Fabios Unterfangen, die „Kultur der Freiheit“ rechtslastig einzudämmen, so erstaunte dennoch, daß selbst die nationalkonservativem Gedankengut nahestehende Frankfurter Allgemeine dem Autor einen peinlichen Verriß nachsendete. So bezichtigte Patrick Bahner, nicht ganz unrichtig, Di Fabio des „Petainismus“, sprich der französischen Variante des europäischen Faschismus während der deutschen Besetzung im zweiten Weltkrieg. Dies mußte sogleich Aufsehen erregen und Di Fabio als aufrechten Konservativen diskreditieren. Daß der Rezensent der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl ihn gar in den Dunstkreis der neonazistischen 346

Intellektuellengazette namens Jungen Freiheit rückte, war weniger spektakulär und verstand sich aus der grundsätzlich liberalen und antireaktionären Einstellung, sowohl des Rezensenten als auch der Tageszeitung und insofern nahezu selbstverständlich. Hingegen gar nicht selbstverständlich und daher weniger einleuchtend waren Di Fabios unverständliche Bemühungen, entgegen dem allgemeinen und inzwischen historisch-wissenschaftlichen Kontext, die Person Hitlers von der Nähe zur deutschen „Volkszugehörigkeit“ zu entfernen. Seine Behauptung, daß die Deutschen von Hitler lediglich verführt worden seien und dieser im normativen Sinn auch kein richtiger Deutscher gewesen sei, zeugen von unglaublicher und zugleich unverantwortlicher Schönfärberei der deutschen Geschichte, als auch von einer unhaltbaren Konzeption des Nationalitätenbegriffes.1 Hitler erscheint bei Di Fabio nicht wegen seiner österreichischen Herkunft nicht als Deutscher, sondern da er über wesentliche deutsche Tugenden nicht verfügt habe. So habe er weder den Anstand eines preußischen Staatsdieners, noch Heimatgefühl entwickelt, geschweige die typische Lebensfreude des bayerischen Katholizismus besessen. Außerdem besaß er keine Neigung zu harter Arbeit und Fleiß, keinen Sinn für deutsche Lebensart, (obwohl es die so nicht gibt und auch nicht flächendeckend vorzufinden wäre, Anm. d.d. Verfasser) bar jeder bürgerlichen Vorlieben und fern aller christlichen Traditionen. Er war, so Di Fabio, „ein Gaukler aus der Gosse“ und die tödliche Krankheit eines anfälligen Organismus“.2 Di Fabios Verführungsthese suggeriert, daß der millionenfache Völkermord und die millionenfache Schuld von Individuen, die an ihm beteiligt waren, lediglich auf den läppischen juristischen Tatbestand eines motivierten moralischen Verbotsirrtum reduziert,3 und somit entsorgt werden. Denn die deutschen Eliten haben ihr Volk „einem größenwahnsinnigen Dilettanten ausgeliefert, der sie in weiten Teilen mit allen Mitteln der modernen Propaganda verführt und belogen hat. Was man ihnen vorzuwerfen hat und woraus sie lernen müssen, ist der Umstand, daß sie sich haben verführen und belügen lassen“.4 Di Fabios Versuche, historische und psychologische Fakten miteinander zu vermischen, so daß die historische Wirklichkeit auf der Strecke bleibt, ist für Kundige indes leicht zu durchschauen. Seine Verführungsthese und die selbstverantwortete Individualschuld zahlreicher Täter schließen sich dem Grunde nach nicht aus, denn eine Verführung setzt gewisse psychische und moralische Anfälligkeiten voraus. Verführt werden kann somit nur derjenige, der sich verführen läßt. Bereits Sebastian Haffner hat in seinem vielbeachteten Essay Anmerkungen zu Hitler einige, von Di Fabio vermißten Charaktermerkmalen aufgezeigt, freilich mit dem entscheidenden Unterschied, sie nicht als deutschvölkisch– nationalistische Tugenden zu beschreiben, sondern deren Vorhandensein als Ausdruck einer tiefen, warmen und stabilen Persönlichkeit bezeichnet, über die Hitler nicht verfügte. Di Fabios Geschichtsklitterung möchte hingegen mit dem Verweis auf Hitlers fehlende Tugenden, die er als typisch deutsch bezeichnet und welche die Voraussetzung zur „Volkszugehörigkeit“ darstellen, diese 347

wieder in der Postmoderne einfordern um den lange entbehrten Katalog der sogenannten Sekundartugenden wieder gesellschaftsfähig zu machen. In diese Kerbe schlägt auch Buebs Buch Lob der Disziplin, welches in pädagogischer Absicht den traditionellen Autoritätsbegriff, verbunden mit den durch die jüngste Vergangenheit diskreditierten Sekundartugenden auf der Grundlage von erzieherischer Macht und Herrschaft wieder einführen möchte. Di Fabio propagiert fünf Wertebereiche, die er für den Fortbestand postmoderner Gesellschaften für unverzichtbar hält und von denen seine „Kultur der Freiheit“ zehrt. Bezeichnenderweise gehört Demokratie nicht dazu, jedoch: wirtschaftlicher Fleiß und Unternehmensgeist, Brüderlichkeit anstelle von gesetzlich geordneter Gleichheit, Familienorientierung, zudem neue Wertschätzung der Religion und wie könnte es anders sein, selbstverständlich Patriotismus, den er freilich positiv besetzt sehen möchte. Nun bilden wirtschaftlicher Fleiß und Unternehmensgeist unbestritten die Grundlagen einer prosperierenden Wirtschaft und stärken das Bruttosozialprodukt einer Gesellschaft. Wenn sie aber nicht explizit in den Kanon gesellschaftlicher Verpflichtungen des Gemeinwohles gestellt werden, weisen sie nicht mehr an sozialpolitischer Substanz auf, als die besitzbürgerlichen Tugenden im Frühkapitalismus des 19. Jahrhunderts und laufen Gefahr, eben dessen Ausbeutungsverhältnisse unter den Bedingungen der Globalisierung fortzuschreiben. Den Kern seines Wertegerüstes bildet die traditionelle Trias von Familie, Nation und Religion, der bereits in der Volkskunde eines Friedrich Wilhelm Riehl in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine bedeutsame Funktion zugesprochen wurde und die sozialen Ungerechtigkeiten des Frühkapitalismus ideologisch überdecken sollte.5 Ganz in die Nähe von Riehls problematischer Volkskunde mit ihren irrationalen, archetypischen Urgründen gerät der Autor dann, wenn er davor warnt, daß die Bürger ihre Orientierungsmarken für die eigene Beurteilung verlieren, „wenn sie nicht mehr in dem Bezugsrahmen einer eigenen historisch gewachsenen öffentlichen Kultur, mit ihren Legenden, Sagen und Märchen, ihren kollektiven Erfahrungen, ihren Klugheitsregeln und dem Geist der eigenen Sprache mit ihren komplexen Verweisungen, Konnotationen und Evidenzen politische Fragen beurteilen können“.6 Allen Ernstes behauptet er, daß der Verlust solch kollektiver Weisheiten – die bereits in den dreißiger Jahren den Schweizer Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung zu spekulativen individual- und kollektivpsychologischen Deutungen über den Nationalsozialismus veranlaßt haben –, an den Legitimitätsgrundlagen der Demokratie zehre.7 Vor dem Hintergrund irrationaler Begründungszusammenhänge mit denen postmodernen Gesellschaften Bestand und Sinn vermittelt werden soll, wird der stete Ruf der Neokonservativen nach einer deutschen Leitkultur verständlich. Zeichnen sich doch hierdurch zugleich die Frontlinien des Kampfes der Kulturen und des „richtigen“ Begriffes von bürgerlicher und gesellschaftlicher Freiheit ab. Eine Freiheit hingegen, die weder religiös und national geprägt ist, 348

sich individualistisch versteht, so Di Fabio, Traditionen feindlich gegenübersteht und Institutionen ablehnt, wird sich selbst gefährden. Daher muß man die tragende Kultur wollen, will man Freiheit erhalten, wie der Autor feststellt, dem aber offensichtlich entgangen ist, daß Kulturen oft hybride, komplexe und mitunter selbstwidersprüchliche Gebilde sind, deren Symbolik und semantische Bedeutungen nicht einheitlich interpretiert werden können.8 Auch hierin fällt Di Fabios Kulturbegriff in seinen wesentlichen Bestandteilen in die völkisch – nationalen Prospekte des deutschen Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert zurück, die den Kulturbegriff im nationalistischen Sprachgebrauch immer partikularistisch und nicht universell ausgewiesen haben. Mit Di Fabios Die Kultur der Freiheit liegt eine den rechtskonservativen und restaurativen Kräften der bundesdeutschen Gesellschaft willkommene Vorlage zur Restaurierung der Gesellschaft und zum langerwarteten selbstbewußten Patriotismus vor, damit endlich die unangenehmen Seiten der deutschen Geschichte zugeklappt werden können. Oder um mit den Worten Adornos zu sprechen, eine Instaurierung einer regressiven Gesellschaft als ein Positives zu deren Sinnstiftung. Einmal in Fahrt, fordert Di Fabio in einem Atemzug den Abbau staatlicher Leistungen und wiederholt damit die uralte Forderung wirtschaftsliberaler konservativer Kräfte. So wie die Demokratie Weimars an wirtschaftlichen Niedergang zugrunde gegangen ist, so sieht der Autor auch heutzutage die demokratische Gesellschaftsordnung gefährdet, wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sich auflösen sollten. Allerdings hat der Zusammenbruch der Weimarer Republik und was in Folge zur Unfreiheit und in den Totalitarismus des Dritten Reiches führte, mit den wirtschaftlichen Fakten sehr bedingt etwas zu tun. Da wo die wirtschaftliche Prosperität fehlte oder wie im Falle der Weltwirtschaftskrise 1929 abhanden gekommen ist, hat die wirtschafts- und sozialhistorische Forschung deutlich gemacht, daß dies zwar der Katalysator, nicht aber die eigentliche Ursache zum Verfall demokratischer Strukturen und somit zum Aufstieg des Nationalsozialismus gewesen ist.9 Eine solche These führt in diesem Zusammenhang unweigerlich zu der Frage nach der „Besonderheit“ der deutschen Geschichte im Hinblick auf die sozial- und wirtschaftspolitischen Verwerfungen Anfang der dreißiger Jahre. Es muß daher nachdenklich stimmen, daß zur gleichen Zeit in den Vereinigten Staaten die Wirtschaftskrise „zu Roosevelt und zum New Deal führte, in Deutschland dagegen zu Hitler“.10 Die Antworten, welche Di Fabio der Verteilungsgerechtigkeit im globalen Spätkapitalismus gibt folgen einem Muster, welches bereits vom Rechtshegelianismus vorgegeben wurde. Hegel sah ein, daß die Moderne einen bürgerlichen Individualismus hervorgerufen hatte, der auf Eigennutz und Wahrung des Besitztums ausgerichtet war. Aus diesem Grunde hielt Hegel sowohl einen Sozialstaat als auch eine auf Familiensinn beruhende Sittlichkeit zur Verwirklichung der Vernunft für unerläßlich. Das Erstere war für ihn 349

notwendig, da sich durch einen ungehemmten nach merkantilen Gesichtspunkten ausgerichteten Individualismus die Gesellschaft auf Dauer zerstören mußte.11 Hegel war sich dessen bewußt, daß bürgerliches Privatrecht, Familie, Religion und Patriotismus alleine keinerlei Bestand vorweisen können, und dem drohenden Verfall der Gesellschaft, hervorgerufen durch die „sittliche Verpöbelung“ der unteren Schichten, mittels sozialpolitischer Programme entgegengewirkt werden muß, zumal durch die Teilung der Arbeit die Individuen immer abhängiger wurden und der Individualismus schon alleine aus dem Umstand der Massenproduktion und der Entfremdung des Arbeiters von seinem Produkt gefährdet erscheint. Bei Di Fabio wird hingegen für eine Begrenzung des Sozialstaates und Minimierung seiner Leistungen zugunsten einer gesellschaftlichen Mitverantwortung des Individualismus plädiert, die seiner Meinung nach auf freiwillige Solidaritäten beruht. Di Fabio ist der irrigen Ansicht, daß die Menschen von ihrer individuellen Freiheit einen vernünftigen Gebrauch machen und somit die Freiheit des Marktes auch die sozialen Belange in Balance hält. Hierbei schimmert die simple These durch, daß, wenn die Wirtschaft prosperiert, sich auch für die unteren und mittleren Schichten der Arbeitnehmer die Einkommensverhältnisse bessern. Inzwischen wird diese These durch ein Wirtschaftswachstum und steigenden Börsenkursen bei gleichzeitigen Entlassungen und sozialem Abstieg immer wieder aufs Neue widerlegt. Jene Vermutung Marx, daß der Kapitalismus gerade dann Armut und Ungleichheit befördert, wenn alle von ihrer Freiheit ökonomisch betrachtet, vernünftigen Gebrauch machen, d.h. sich den freien Marktgesetzen unterwerfen, scheint Di Fabio zu übersehen.12 Denn entschieden streitet er gegen eine staatliche Einmischung in das Kräftespiel einer neoliberalen Wirtschaftsordnung. Die Idee des Sozialstaates soll nicht nach der bürgerlichen Maxime der Gleichheit entfaltet werden, sondern einzig auf das Gebot der christlichen Nächstenliebe, dem Gedanken der Brüderlichkeit im Sinne der Barmherzigkeit basieren. Di Fabios eigentümliche Fixierung auf die klassische bürgerliche Familie greift auf Riehls volkskundlichem Familienmythos zurück, worin der Familie der Stellenwert sittlicher Rekonstruktion der Gesamtgesellschaft anempfohlen wurde. Nur innerhalb der bürgerlichen Familie konnten die erforderlichen sittlichen und nationalen Tugenden gelegt werden, die den Fortbestand von Volk, Nation und Rasse garantieren. Auf die Gegenwart übertragen, angesichts sich auflösender Familienstrukturen, ein schier hoffnungsloses Unterfangen. Im Sinnverständnis Di Fabios ist die Auflösung der Familienstrukturen und in deren Folge eine kinderarme Gesellschaft eine tendenziell unfreie Gesellschaft. Sein Rezept gegen die unbestrittenermaßen schleichende Zersetzung von Familienstrukturen ist der ideologische Rückgriff auf eine vitale Gesellschaft, die er zu Zeiten der Kanzlerschaft Konrad Adenauers in Westdeutschland sieht, „einer Leistungsgesellschaft, die individuelles Glück und Lebenssinn regelmäßig nur mit Kindern, mit Familie, mit einer Lust an Bindung denken 350

mochte, Alleinsein mit persönlicher Tragik oder den großen Katastrophen des Jahrhunderts in Zusammenhang brachte, aber beileibe nicht mit einem erstrebenswerten Lebensstil“.13 Demnach ist nur in einer Gesellschaft, in der die traditionelle Familie die tragende Rolle übernimmt, ein Kinderreichtum vorhanden, welcher konservativem Gedankengut entsprechend das Überleben der Gesellschaft oder revisionistisch formuliert, das der Nation sichert. Daß die Familie die Keimzelle der Gesellschaft bildet und in ihr durch die Erzeugung von künftigen Generationen deren Bestand gesichert wird, stellt eine familiensoziologische Binsenweisheit dar. Ob sie jedoch eine traditionelle sein muß, ist eine andere Frage. Inwieweit freilich der Staat und seine Institutionen dafür Sorge tragen müssen, auch jene Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein geordnetes Familienleben erst ermöglichen, spielt in Di Fabios Konzeption keine Rolle. Wenn der Staat die Bildungsmöglichkeiten seines Nachwuchses fördern soll, dann nur in denjenigen Familien, die ohnehin über die Ressourcen geeigneter Sozialisation verfügen,14 d.h. im Klartext, die in der Lage sind, ihren Kindern die erforderlichen Schlüsselqualifikationen für schulische und soziale Bildungsprozesse zu vermitteln. Eine solche Haltung wird mit der derzeitigen Familienpolitik unterstrichen, die den Kindernachwuchs aus einkommensstarken Familien steuerlich unterstützt. Angesichts maroder Sozialkassen, über deren ursächliche Plünderungen der Autor sich ausschweigt, sollen die kleinbürgerlichen Idylle der Adenauer-Ära wieder hergestellt werden, die nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches auch dessen Familienbild und insbesondere die Rolle der Frau fortwebten. Di Fabios Revisionismus ist von besonderer Art, und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens weil er die millionenfache Verantwortung und Schuld in historisch unverantwortlicher Weise auf den Tatbestand eines Verbotsirrtums reduziert und damit die unzählige Schar der Täter, Helfershelfer und Organisationen des Holocaust entlastet und von individueller Schuld posteriori freispricht. Zweitens bezieht sich Di Fabios Revisionismus auch auf jene Gesellschaftsbilder, welche im Besitzbürgertum des 19. Jahrhunderts die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums einleiteten und somit die sozialen Ungleichheiten befördert haben und die in rechtskonservativen Kreisen, insbesondere in Wirtschaftskreisen zunehmend Beachtung finden und auf ihre Renaissance hoffen. Aber nicht nur dort, sie passen eben so in Merkels Konzept einer „Neuen Gründerzeit“ auf der Basis eines gesteigerten Leistungsund Entbehrungswillens bei gleichzeitigem Abbau staatlicher Sozialleistungen, zumal durch Vertreter eines liberalen Konservatismus15 gleiches gefordert wird. „Jeder ist seines Glückes Schmied“ lautet die Losung rechtskonservativer Ideologen und soll die Zauberformel zur Lösung aller sozial- und gesellschaftspolitischen Probleme postmoderner Gesellschaften sein. An dieser Konzeption, so ist zu befürchten, werden nicht nur sozial Schwachen, die Randgruppen einer Gesellschaft und die Generationen mit Migrationshintergrund zerbrechen, sondern auch die durch den Verdrängungswettbewerb 351

bedrohten mittelständischen Unternehmen und die Angehörigen der Mittelschicht, welche traditionell die bürgerlich- liberalen Strukturen demokratischer Gemeinwesen bilden. Im Zentrum seines Romans Die Buddenbrooks beschreibt Thomas Mann den Konflikt um das Erbe der Konsulfamilie.16 Thomas Buddenbrook fordert seinen Bruder Christian auf, sich nicht dauernd über seinen Zustand zu beklagen, sondern zu arbeiten, sich der strengen protestantischen Leistungsethik unterwerfen um sich selbst heilen zu können. Christian, der aus psychischen Gründen hierzu nicht in der Lage ist, ruft verzweifelt aus: „Arbeite! Wenn ich aber nicht kann? Wenn ich es nun auf Dauer nicht kann, Herr Gott im Himmel?!“ Sein Ruf nach Gott klingt in den Zeiten einer säkularisierten Leistungsethik vergeblich gen Himmel. Von dort ist keine Hilfe zu erwarten. Den einzigen Ausweg aus diesem Dilemma bieten heutzutage die Maximen eines gnadenlosen Wirtschaftsliberalismus unter dem Postulat: „übernimm selbst die Verantwortung für dich, indem du arbeitest und Erfolg hast. Jeder ist seines Glückes Schmied, woraus sich zynisch folgern ließe: „demnach verteilt die globale Wirtschaft jedem das Seine, so wie er kann“. Scheitern ist demzufolge Ausdruck persönlicher Schwachheit, wenn die heutige Formel moderner Sozialpolitik „Fördern und Fordern“ angesichts mangelnder Arbeitsplätze nicht mehr greift, wenn die Hilfe zur Selbsthilfe deswegen versagt, weil die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen überhaupt erst keine Voraussetzungen zur Selbsthilfe bereit halten. Die Aktualität individueller Schuldzuweisung am eigenen materiellen und psychischen Unglück in den Buddenbrooks, unter den gegenwärtigen Bedingungen neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik und wie sie von revisionistischen Kreisen herbeigesehnt wird, läßt sich nicht übersehen. Der in seinem Wirtschaftskonzept unveränderlicher Kapitalismus ist auch heutzutage in seinen Grundmustern des 19. Jahrhunderts deutlich zu spüren. Heutzutage heißt es „Selbstverantwortung“ und „Recht auf Arbeit“, auch da wo es keine mehr gibt. Im Roman ist es Christian Buddenbrook, der diese Maximen nicht erfüllen kann; in unseren Tagen ist es der Chor der Langzeitarbeitslosen und „Ein Euro“ Jobber, die das Recht auf Arbeit und die Ideologie, eines auf sich selbst verwiesenen Individualismus einer spätkapitalistischen Wirtschafts- und Sozialpolitik widerlegen.

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Kapitel 19 Ausblicke und Hoffnungen Die Stunde Null die keine war. Neuanfang oder Kontinuität. Vom Ende ideologischer Politik. Politische Anpassungen ohne moralische Läuterungen. Zwangsdemokraten und politische Kultur. Die neue Rolle. Maskeraden einer neuen Form des Totalitarismus. Das Dritte Reich ist vorbei, und man wird daraus Bücher machen. Miserable, sensationelle und verlogene, hoffentlich auch ein paar aufrichtige und nützliche Bücher. Eine psychologische Untersuchung, die sich mit dem Verhalten des Durchschnittsbürgers beschäftigt, wird nicht fehlen dürfen. Und sie könnte etwa „Die Veränderbarkeit des Menschen unter der Diktatur“ heißen. Ohne eine solche Analyse stünden die fremden Rächer, Forscher, Missionare und Gruselgäste ohne Leitfaden im Labyrinth. Sie wüßten nicht aus noch ein. Und auch wir, die im Labyrinth herumtappten, als es noch kein Museum war, sondern als der Minotaurus und seine Opfer noch lebten, auch wir werden das Buch nötig haben. (Erich Kästner: Notabene 45, Mayrhofen, 15.Juni 1945) Ist mit dem Untergang des Dritten Reiches und dem sogenannten Neuanfang nach 1945, der in Wirklichkeit ein nur sehr bedingter, das Drama des Bürgertums zu Ende gegangen? Mit anderen Worten, ist die Realität in das politische und gesellschaftliche Bewußtsein eingekehrt? Sind die alten ideologischen Gegensätze, welche an Zeiten des Klassenkampfes erinnern und die sich in den Programmen und Meinungen der politischen Interessen stets als unversöhnliche Ambivalenzen herausstellten, eingeebnet und überwunden? Man denke hierbei nur an die, bis in die heutigen Tage ideologisch geführten bildungs- und familienpolitischen Debatten um Ganztagsschulen und familienentlastende Einrichtungen, wie Kindergärten, Vorschulerziehung und Kinderkrippen. Die Frage bleibt, ob sich statt dessen ein pragmatisches Denken im gesellschaftlichen und politischen Diskurs eingestellt hat und wird inzwischen den unterschiedlichen Positionen und Interessen mit jener angelsächsischen Gelassenheit begegnet, von der Harry Graf Keßler zu Beginn des 20. Jahrhunderts sprach und die er als wesentliches Element einer demokratischen Auseinandersetzung ansah? Eines Jahrhunderts, welches sich im Nachhinein freilich in technisch-industrieller Hinsicht als ein Zeitalter der Moderne zeigte, in ideologischer und kollektivpsychologischer Weise jedoch archaisch und rückwärtsgewandt daherkam, verbunden mit den größten selbstverursachten menschlichen Katastrophen. Unmittelbar nach 1945 fehlte es an einer Vernunftüberlegenheit, die nicht sogleich in die großen politischen Fragen auswich oder genauer gesagt, welche die brennenden Zukunfts353

probleme, die auf eine zerstörte Gesellschaft zukamen, nicht wieder mit jener verbissenen Wucht ideologischer Überbauten zu erdrücken, die schon einmal Deutschland und die übrige Welt in tiefes Unglück gestürzt hatten. Was jederzeit fehlte, war ein pragmatisch-politisches Denken, „das ein Gegengewicht hätte bilden können zu einem Geist, der entweder zu hoch oder zu tief ansetzte, beim Nichts oder bei Gott, beim Untergang oder beim Aufgang des Abendlandes“.1 Die Lektion, die aus den metaphysischen Fluchten des politischen Denkens in abenteuerliche Experimente zu lernen war, konnte nach all den schrecklichen Erfahrungen im 20. Jahrhundert nur die Einsicht sein, „das Politische ohne Geschichtsmetaphysik zu denken“.2 Immer noch romantisierte man oder verschloß vor den tatsächlichen Ursachen, die zu dem grausamen Geschehnissen geführt hatte, die Augen. Entweder stellte man den Nationalsozialismus als romantischen Irrweg einer verführten Nation dar oder aber, man sieht ihn, wie der Politologe Arnulf Baring als bedauerliche Entgleisung der deutschen Geschichte, die in Erinnerung der geistesgeschichtlichen Traditionen der deutschen Kultur vor dem Hitlerismus zur Vergessenheit gebracht werden soll. Freilich übersieht man hierbei geflissentlich, daß in ihnen gerade wesentliche kulturelle und geistesgeschichtliche Elemente ihre verderbliche Wirkung entfalten konnten, die in gerader Linie einst zum Nationalsozialismus hinführten. Die negative Aura, die Hitler und sein System umschwebte ist längst noch nicht verflogen. Ihre einfachen, auf ein metaphysisches Geschichtsverständnis gegründeten und deshalb radikalen Lösungen erwecken hier und da immer noch längst überwunden geglaubte Hoffnungen und Sehnsüchte. Die Träume von nationaler Überlegenheit und der Missionseifer, es allen anderen zu zeigen oder alles besser zu können, sind hier und da noch vernehmbar. Waren es in früheren Zeiten die Vorstellungen eine auserwählte Rasse oder Nation zu sein, so klingt heutzutage manches in den Konzepten zur Bewältigung von Klimawandel, weltweiten bilateralen Konflikten und den Folgen, welche die Globalisierung mit sich bringt überheblich und schulmeisterlich. Deutsche Politiker gebärden sich immer noch mehr als nötig und mitunter völlig unangebracht als Lehrmeister der Welt. Andererseits drängt sich oftmals der Eindruck auf, dies alles sei längst Geschichte, welche mit unserer Gegenwart recht wenig zu tun hat. Es scheint, als lägen die totalitären Erfahrungen unendlich weit zurück. Jene Apologeten der Vergangenheitsentsorgung, wie Walser, der die Auschwitzkeule beklagte, über den Historiker Nolte bis in rechtskonservative politische Kreise, haben das ihrige dazu beigetragen, diesen Eindruck nachhaltig zu verstärken. Diese Versuche reichen von der Reinwaschung ehemaliger Nazi-Verbrecher, die plötzlich zu Widerständler stilisiert werden, bis hin zu der Feststellung des Politologen Arnulf Baring, daß der „Nationalsozialismus eine bedauerliche Entgleisung der deutschen Geschichte“ gewesen sei. Und alle, die dem System gefolgt sind, sich ihm zur Verfügung gestellt haben, sind auf diese historische Entgleisung hereingefallen, 354

sind gewissermaßen selber entgleist oder wie der Schweizer Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung es ausdrückte, ausgerutscht. Insofern scheint alles nur ein Mißverständnis der Geschichte gewesen zu sein, welches mehr als verständlich machen würde, daß der Spuk gewissermaßen über Nacht verschwand. Ein Mißverständnis mag bedauert werden, tiefe Schuld darüber zu empfinden bedarf es nicht. Einer Entgleisung, die auf einem Mißverständnis, zudem einem historischen beruht, vermag man auch nicht lange hinterher zu trauern. Das Bekenntnis zur verordneten Nachkriegsdemokratie reichte daher für viele Zeitgenossen aus, es vergessen zu lassen. Joachim Fest vertritt die Auffassung, der Nationalsozialismus sei nach vergleichsweise kurzer Dauer „seltsam rückstandslos untergegangen“. In seinem Buch Hitler geht er sogar von der These aus, angesichts der angerichteten Katastrophe und in Kenntnis der politischen und moralischen Untaten mit dem Zusammenbruch 1945 habe eine grundlegende Bewußtseinswandlung eingesetzt. Gemessen an der stupenden Identifikationsbereitschaft des überwiegenden Bevölkerungsanteils mit Hitler und seinem Regime während der zwölfjährigen Herrschaft trifft dies zu, da aufgrund des unendlichen menschlichen und materiellen Elendes, welche der Totalitarismus hinterließ, tiefe Spuren von Enttäuschung und Leere zurückblieben, da der Kampf ums Überleben in den Trümmern der Katastrophe eine Identifikation nicht mehr zuließ. Man fühlte sich verraten und in Stich gelassen; alle Opfer in den erbarmungslosen Schlachten der Eroberungskriege waren vergeblich geblieben. Alle Träume von nationaler und persönlicher Größe waren ausgeträumt, hatten sich als rauschhafte Schatten einer Phantasie erwiesen, für die man sich allenfalls schämte, sie in grenzenloser Naivität gehabt zu haben. Zurück blieb ein Gefühl tiefer Ernüchterung und Trauer, nicht so sehr über dasjenige, welches man anderen angetan hatte, dieser Anteil an Schuld und Mitverantwortung wurde beharrlich verdrängt, sondern über sich selbst, da man, obwohl dem Tätervolk angehörend, sich dennoch als Opfer empfand. Andererseits erweckte man nach außen den Anschein, als hätte der Nationalsozialismus niemals eine ernstzunehmende Bedeutung besessen und man habe, ohne innere Beteiligung sich ihm nur oberflächlich angepaßt. Aus Sicht der Psychoanalyse sind solche Strategien der Verdrängung Rationalisierungen, um der Frage nach Schuld auszuweichen. Demgegenüber stellten sich die utopischen Prospekte und Verheißungen von bedingungslosem Glück in einer Volksgemeinschaft als Lüge und Verrat heraus. Da alle diese Heilsversprechungen unerfüllt blieben, indem sie wie Seifenblasen in den verlorenen Schlachten zerplatzten, sahen sich viele Deutsche als die wahren Opfer des „Dritten Reiches“. Einerseits als Verführte, wie der Verfassungsrichter Udo di Fabio in seinem Buch Kultur der Freiheit glauben machen möchte, andererseits als schwer vom Schicksal geschlagene. Diese typische Verstocktheit des Denkens führte dazu, daß bis auf den heutigen Tag Uneinigkeit darüber herrscht, ob der Tag der Kapitulation, der 8. Mai 1945, als Tag der Niederlage oder als Befreiung und Aufbruch zu einer menschlicheren 355

Gesellschaft zu sehen wäre. In einem fiktiven öffentlichen Brief an seinen Sohn schrieb Heinrich Böll später, daß man in der Entscheidung für das ein oder andere, die Deutschen immer wieder daran erkennen werde. Tatsache bleibt, daß dieser Tag Erlösung und Vernichtung zugleich bedeutete und in Anbetracht der Umstände, daß diese Erlösung nicht aus eigener Kraft geschah, sondern nur durch die vereinte Kraft der Kriegsgegner erzwungen wurde, wirft einen dauerhaften Schatten auf das demokratische Grundverständnis in diesem Land. Dennoch bestand Anlaß zu hoffen, wie Thomas Mann es in einer Rundfunkansprache der BBC am 10.Mai 1945 ausdrückte, daß Deutschland in dieser „großen Stunde“ wieder zur Menschlichkeit zurückkehren könne. Der Lauf der Geschichte jedenfalls meinte es gut mit den Deutschen. Schnell gelangten sie zu Wohlstand und es ging ihnen teils besser, als der Bevölkerung mancher Siegerstaaten. Sie vollzogen die Wandlung zu Demokraten, teils aus Überzeugung, teils aus bloßer Anpassung. Und manch einer derjenigen, die sich wie selbstverständlich als Staatsdiener oder Funktionäre in den Dienst des Dritten Reiches gestellt hatten, fügten sich nahtlos in die gesellschaftlichen und politischen Strukturen der Bundesrepublik ein. Indes haben sie dies in loyaler Weise getan, obgleich manche sich von ihnen eher als „Zwangsdemokraten“ sahen. Gleichwohl trugen sie mehr oder weniger zum Aufbau der bundesrepublikanischen Gesellschaft bei, indem sie sich den Spielregeln einer parlamentarischen Demokratie unterwarfen. Dennoch lebte teils verborgen, teils offenkundig in der Anfangsphase der Bundesrepublik jener Geist weiter, den man durch die westlichen Demokratien überwunden glaubte. Unter den sensiblen Zeitgenossen war daher die Enttäuschung groß, daß das politische Lernen die moralische Läuterung außer Acht lassen kann und ohne jene, der Weg in eine parlamentarische Demokratie auch von den ehemals Belasteten gegangen werden konnte. Somit konnte zumindest in den Anfangsjahren der Bundesrepublik der Eindruck entstehen, daß aus der Katastrophe nicht eine neue Gesellschaft mit besserem moralischen Anspruch und besseren Menschen hervorgegangen war, sondern vielmehr die rasche Rückkehr zur Normalität, welche Trauerarbeit ausschloß und der frühen Bundesrepublik den Weg ebnete, hierbei jedoch übersehen ließ, wie sehr die verdrängte Vergangenheit in den gesellschaftlichen Institutionen überdauerte. Der generationenlange Betrug völkischer rassischer Nationalismen als deren historischer Höhepunkt der Nationalsozialismus in Gestalt realer politischer Lehre und Praxis die Bühne der europäischen Politik betrat, hat sich nicht nur durch seine Radikalität selbst aufgelöst. Die geschichtlichen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und der Zeit danach haben ihn für lange Zeit zurückdrängen können, wenngleich die kommunistische Doktrin noch lange darüberhinaus weiterwirken konnte und nach dem Zusammenbruch der DDR gelegentlich noch verklärt wird. Dennoch besteht kein Grund zur Beruhigung. Gerade das plötzliche Verschwinden der beiden größten Totalitarismen der europäischen Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert lassen die Befürchtung 356

aufkommen, daß ähnlich verhängnisvolle Entwicklungen jederzeit möglich werden, da vieles von dem, was zu ihrer Entstehung beigetragen hat, längst noch nicht aufgearbeitet ist. Auch entlastet der Einwand nicht, daß jene Totalitarismen zusammengebrochen sind, da sie als Utopien keinen inneren Bestand auf Dauer aufweisen konnten. Nicht durch das Scheitern ihrer Praxis, aus welchen Gründen auch immer, sind sie widerlegt, sondern vielmehr durch die falsche Art des Denkens, welche sie erst hervorgebracht haben. Immer begleiten „Gewalt- und Entrechtungspostulate“ die Entwürfe zu vermeintlich vollkommenen und idealen Ordnungssystemen. Ihre scheinbare Humanität wird durch die rigorose Ausschließlichkeit ihrer behaupteten Programmatik zu einer konkreten Inhumanität, die letztlich keine Grenzen des Menschlichen mehr kennt und nur durch Terror und Gewalt aufrecht erhalten werden kann. Alleine die psychische und materielle Wucht bei allen ungeheueren Schrecken, die sie stets bei ihren Gang durch die Geschichte begleiten bei gleichzeitiger Bindungskraft, die Massen zu manipulieren und zu beherrschen, lassen die Vermutung aufkommen, das vieles was ihnen innewohnt, unerreichbaren Wunschvorstellungen und Sehnsüchten der Menschen entspricht und diese daher verführbar für die ganzheitlichen Ideenwelten und einfachen „Wahrheiten“ ihrer Programme macht. Dies zu übersehen, hieße sie nicht ernst nehmen und würde jede Möglichkeit von vorneherein ausschließen, dem falschen Denken durch Erziehung und Bildung entgegenzuwirken. Mit dem Ende des Nationalsozialismus ist dennoch die Hoffnung durch patriotische Utopien, die einem falschen Denken geschuldet sind, Erlösung von der Last der Vergangenheit zu finden, zusammengebrochen, auch wenn diese noch so verlockend daher kommen. Auch der Wunsch, sich aus seiner Vergangenheit zu stehlen, ist eine Utopie Es ist somit an der Zeit, sich auf Utopien nicht mehr zu verlassen und statt dessen, für die Verbesserung konkreter Lebensbedingungen zu streiten. Der Weg in Verfassungsstaat und Demokratie war lang und von Katastrophen begleitet, nachdem die einzige selbstbestimmte Demokratie der Weimarer Republik gescheitert war. Über einen krankhaft gesteigerten Nationalismus bis in den Verbrecherstaat des „Dritten Reiches“ hinein, haben die Deutschen erst lernen müssen, sich in einem Verfassungsstaat und in eine demokratische Gesellschaft hineinzufinden. Statt überkommenem Nationalismus nachzutrauern und in Vergangenem zu verharren, sieht die politische Realität heutzutage anders aus. Durch die Wiedervereinigung, der eine friedliche Revolution der Bevölkerung der damaligen DDR voranging, konnte sich 1990 die Bundesrepublik als einheitlicher Nationalstaat neu konstituieren. In der friedlichen Revolution wurde außerdem eine Friedenskultur sichtbar, „die seit Ende der 1970er Jahre nicht nur in Deutschland entstanden ist.“3 Sie hat nicht nur die internationale Politik geprägt, sondern die von Gorbatschow eingeleitete Abrüstungspolitik und die Ideen des „Glasnost“ und der „Perestroika“ sind von ihr mehr beeinflußt, als es in der öffentlichen 357

Wahrnehmung sichtbar wurde. Statt restaurativer Suche nach Leitkultur und Patriotismus, die stets nur den ewigen Untertanen erzeugten, liegt vielmehr eine wesentliche Aufgabe darin, auf der internationalen Szene an einem System der Friedenssicherung und Konfliktregelung mitzuarbeiten, bei dem der neue deutsche Nationalstaat eine wichtige Rolle spielen könnte. Dazu bedarf es endlich auch im Alltag der Bundesrepublik des selbstbewußten Staatsbürgers, des Citoyen, denn nur dieser Typus des politischen Individuums kann durch sein aufgeklärtes politisches Bewußtsein und seines hohen Bildungsstandes den Bestand einer demokratischen Gesellschaft auf Dauer sichern. Inzwischen sind neue Generationen herangewachsen, die größtenteils in weniger lärmenden nationalistischen Kategorien denken als ihre Altvorderen, die noch Drittes Reich und Krieg zu verantworten hatten. 1979 hieß es in einer vergleichenden Studie, „daß die Kinder der Nazigeneration eine politische und gesellschaftliche Kultur entwickelt haben, die sich in absehbarer Zeit nicht mehr von den alten Demokratien Europas und Nordamerikas unterscheiden lassen wird und die sie an ihre Kinder wiederum weitergeben.“ 4 Der Historiker Otto Dann sieht daher die Zukunft des neuen deutschen Nationalstaates in der Perspektive einer konstruktiven internationalen Politik jenseits aller Nationalismen, sich in den „Dienst einer konsequenten Politik der Abrüstung zu stellen“5 und hierbei neue Wege der internationalen Friedenssicherung zu beschreiten. Dies gilt im hohen Maße für die Außenpolitik und die ausgleichende Mitwirkung der jeweiligen unterschiedlichsten Bundesregierungen an den globalen Auseinandersetzungen, etwa im Nah-Ost-Konflikt, was diese These bestätigt. Hier wurde auch eine gewisse Kontinuität gewahrt, welche die Bundesrepublik zu einem verläßlichen Partner europäischer und transatlantischer Außenpolitik auszeichnete. Aber wie sieht es um den inneren, gesellschaftlichen Zustand dieser Republik aus? Wenn die Frage auftaucht, ob Gesellschaft und Staat in der Bundesrepublik heute faschistisch sind, oder durch ernstzunehmenden faschistischen Tendenzen in ihrem demokratischen Bestand bedroht werden, wie dies etwa von der RAF behauptet wurde und auch immer wieder in den Polemiken der damaligen DDR wiederkehrte, die sich bekanntlich als antifaschistischen Schutzwall verstand und dabei geflissentlich ihren eigenen Staatsfaschismus übersah, so ist diese Frage zu verneinen. Insofern sind Rückfälle in Systeme wie die des Nationalsozialismus nicht ernsthaft zu befürchten. Mit einem gewissen Stolz wird immer wieder darauf hingewiesen, daß die Bundesrepublik eine stabile und gefestigte Demokratie sei, eine parlamentarische zwar, aber eben auch keine basisdemokratische Gesellschaft. Wer hieraus allerdings die Folgerung ableitet, faschistische und somit auch nationalsozialistische Herrschaft wären ein Alptraum, der ein für allemal überwunden sei oder eine in die Zukunft entworfene Fata Morgana, erliegt einer gefährlichen Illusion. Totalitarismen können auch in anderen Gewändern auftreten, als in den uns bekannten die mittlerweile Geschichte sind. Auch der 358

von Politikern der Rechten beabsichtigte Überwachungsstaat ist eine Form des Totalitarismus, der vorgibt zum Schutze der Freiheit notwendig zu werden, sich aber gegen die bürgerlichen Freiheitsrechte wendet. Mit Adorno ist darauf zu verweisen, daß eine solche Gefahr solange fortbesteht, solange „die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten“6 Konkret gesprochen heißen diese Voraussetzungen: nach wie vor spätkapitalistische Produktions- und Herrschaftsverhältnisse in Staat und Bürokratien, die den Bürger noch als Objekt ihrer Interessen behandeln. Im Zuge der Globalisierung hat der Spätkapitalismus zusätzliche aggressive Züge angenommen, die Kritiker berechtigterweise als „Raubtierkapitalismus“ bezeichnen und in dessen Kielwasser die Verarmung und der soziale Abstieg breiter Bevölkerungsschichten auch in Zukunft zu befürchten ist. Hierdurch werden gesellschaftliche Mißstände geschaffen, die zutiefst undemokratisch sind, da sie weite Bevölkerungskreise von den gesellschaftlichen, bildungsmäßigen und materiellen Ressourcen fernhalten. Die postfaschistischen, bzw. postmodernen Gesellschaften kennzeichnen sich dadurch aus, daß sie zu faschistischen, sozialdarwinistischen, rassistischen, nationalistischen und eindeutig unmenschlichen Tendenzen Distanz halten und bemüht sind den Anfängen zu wehren. Auf den ersten Blick scheint infolge des gemeinsamen ideologischen Konsenses der staatstragenden Parteien in dieser Frage, das Gespenst des Faschismus und zugleich des Nationalsozialismus gebannt. Dennoch krankt die gegenwärtige Gesellschaft daran, daß der demokratische Umbau nur halbherzig und inkonsequent vollzogen wurde. Bereits die Gründungsphase der Bundesrepublik war durch die Übernahme hochbelasteter Funktionsträger in wichtige staatstragende Ämter gekennzeichnet. Noch 1966 schrieb Karl Jaspers, daß das Fortwirken der alten Nationalsozialisten „ein Grundgebrechen der inneren Verfassung der Bundesrepublik“ sei. Zuwenig wurde aufgearbeitet, und somit den nachfolgenden Generationen eine schwere Bürde hinterlassen. Der Schriftsteller Ralph Giordano hat zu Recht von der „zweiten Schuld“ gesprochen. Ehemalige Nazirichter stiegen unbeschadet ihrer Vergangenheit in höchste Ämter auf und durften über Jahrzehnte den juristischen Nachwuchs ausbilden und prüfen. Deren Geist wirkt bis in die heutige Zeit noch spurenhaft weiter. So verharren wichtige Institutionen der Gesellschaft, so die Justiz, in ideologischen Positionen, die den spätkapitalistischen und undemokratischen Machtstrukturen ihre systemerhaltenden Begründungen zuliefern.7 Ebenso verbleibt die Mitbestimmung des Bürgers in entscheidenden Fragen der Lebensgestaltung in einem vordemokratischen Klima. Der Bürger kann nur mittelbar an der Gestaltung des politischen Lebens teilhaben, was ihm zusätzlich durch undurchsichtige und von außen kaum beeinflußbare parteipolitische Strukturen und Netzwerke erschwert wird. Auf die Auswahl der Abgeordneten durch die jeweiligen Parteigremien, hat der parteilose Wähler so gut wie keinen Einfluß. Er kann nur diejenigen Personen und 359

Programme wählen, welche ihm die Parteien vorsetzen. Abgesehen davon, daß deren Abgeordnete sich zumeist einer Parteien- oder Fraktionsdisziplin unterwerfen, die mit demokratischer Politikgestaltung nicht das geringste zu tun hat. Da die Macht und der gesellschaftliche Einfluß der Parteien nahezu unbegrenzt sind, da sie in alle gesellschaftlichen Bereiche hineinwirken, haben wir es der Sache nach, mit einer sogenannten Parteiendemokratie zu tun, die überdies von den Medien wie Fernsehen und Presse über Gebühr promoviert wird. Die ehemalige Ständegesellschaft, mit ihrer eingeschränkten Mitbestimmung, ist durch die Parteien abgelöst worden. Der Einfluß und die politische Macht der Parteien hat sich im Verlaufe der Geschichte der Bundesrepublik durch verschiedene politischen und gesellschaftlichen Umstände bedingt, nahezu verselbständigt und steht mit dem Grundanliegen des Grundgesetztes nicht mehr in Einklang. Die Idee der “Mütter“ und „Väter“ des Grundgesetztes war, die Parteien an der politischen Willensbildung zu beteiligen; inzwischen haben sie hierauf ein Monopol errichtet. Mittelmäßige Eliten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind dabei, unsere Gesellschaft zugrunde zu richten. Hierbei sind sie fast am Ziel, denn sie haben uns unablässig eingeredet, das Land stehe vor dem Ruin. In Wirklichkeit bedienen sie sich Propagandaformeln um den Umbau der Gesellschaft vorzubereiten und wirtschaftlichen Interessen unterzuordnen.8 In Wahrheit wird die Schicht der „Umbauverlierer“ immer größer und einige wenige ziehen Profit daraus. Inzwischen funktioniert das sozialpolitische Totschlagsargument der Globalisierung immer erfolgreicher, wenn es darum geht, Arbeitsplätze abzubauen und den Bürgern immer mehr Opfer abzuverlangen, an denen sich die Eliten freilich nicht beteiligen. Von Totalitarismus kann derzeit keine Rede sein, dieser würde totalitäre Herrschaftsformen voraussetzen. Jedoch unbestreitbar haben sich autoritäre Herrschaftsformen durchgesetzt, die zwar leichter zu ertragen, aber auch schwerer zu erschüttern sind, da sie sich mitunter fast unbemerkt einschleichen und inzwischen ein schwer zu durchschauendes Netzwerk aus Politik, Wirtschaft und Medien errichtet haben. Autoritäre Herrschaft definiert sich im Sinne des Soziologen Ralph Dahrendorf durch die Vormacht einer exklusiven Führungsschicht, welche eine Nichtteilnahme des Volkes an wichtigen Entscheidungsprozessen befördert. Neben ihren repressiven Mechanismen der Machtentfaltung über innerparteiliche Strukturen, die als Parteidisziplin kaschiert werden, ist sie eine „stille“ Form politischer Unmündigkeit, die sich zudem medial gut darstellen läßt, indem die vermeintliche Wichtigkeit von Expertenmeinungen und Politprofis als nicht mehr hinterfragbare politische Weichenstellungen in der Öffentlichkeit betont wird. Dahrendorf sieht in dem Umstand, daß die deutsche Schule eine begrenzte, aus der Familie ausgegliederte Funktion übernommen hat, „deren Ideologisierung im Phantom der Bildung ihren nichtöffentlichen Charakter bekundet“, ein Defizit hinsichtlich der politischen Bildung. Dies alles dient, so Dahrendorf, der 360

Perpetuierung autoritärer Strukturen, weil es die Unmündigkeit in den öffentlichen Dingen bei den Menschen stärkt. Denn wer sich für eine ästhetische Bildungsschule mit Unterrichtscharakter entscheidet, hat sich damit schon gegen die politische Aufklärung in einer liberalen Demokratie entschieden.9 Da aber diese Zustände so hartnäckig von den meinungsbildenden Parteien verteidigt werden, entsteht leicht der Eindruck, daß immer noch von Staatswegen dem Typus des selbstbewußten Citoyens, der hierzulande über keine Tradition verfügt, mißtraut wird. Das „animal politicum“, welches für die westlichen Demokratien so charakteristisch ist, hat sich, infolge unpolitischer Bildungsattitüden im deutschen Bürgertum noch nie durchsetzen können. Immer wurde Macht delegiert, entweder an Führungseliten oder an politische Parteien. Und als der deutsche Liberalismus im 19. Jahrhundert von einer Niederlage in die andere fiel, entstand die Antithese vom bewußt unpolitischen Bürger. Selbst im Zuge der Nachkriegsdemokratisierung ist es dem Bürger bislang verwehrt geblieben, den Status eines selbstbewußten Staatsbürgers, im Sinne des Citoyens, einzunehmen, obwohl die Demokratie ihn so dringend benötigt. Und hierin liegt einer ihrer historischen Schwächen, die sich nach wie vor in der politischen Konstruktion niederschlägt, die sich basisdemokratischen Ebenen verweigert und eine nur bedingte Bürgergesellschaft, widerspiegelt, in der beispielsweise Volksentscheide unmöglich erscheinen, da man der Bevölkerung die politische Mündigkeit nicht zutraut. Geht man allerdings von der über Jahrzehnte konstanten Wahlbeteiligung aus, wie Dahrendorf vorschlägt, so könnte sich das Bild eines politischen Deutschen dort wiederfinden. Aber eben auch nur bedingt, unter der Voraussetzung, daß man die parlamentarische Demokratie auf allen Ebenen gesellschaftlicher Entscheidungen als das non plus ultra von Demokratie ansieht. In den wichtigen nationalen Entscheidungsprozessen werden Volksentscheide, wie sie in anderen europäischen Ländern üblich sind, von der offiziellen Politik bislang stets abgelehnt. Die Gründe hierzu erscheinen irrational und stehen einer demokratischen Grundhaltung und einer emanzipierten Gesellschaft diametral entgegen. Offensichtlich sind es Abwehrversuche der herrschenden Politik, um sich von den Bürgern dieser Gesellschaft machtpolitisch abzusetzen. Sei es bei der Einführung der Euro-Währung, der Mitentscheidung über die europäische Verfassung, oder wie unlängst bei dem umstrittenen Mammutobjekt des Stuttgarter Hauptbahnhofes. Immerzu bleibt die Bevölkerung der Bundesrepublik im buchstäblichen Sinn draußen. Möglicherweise liegen hierin einer der Gründe für die zunehmende Politikentfremdung der Menschen in unserem Land, da der Eindruck nicht von der Hand zu weisen ist, daß die Politik über die Köpfe der Menschen entscheidet und den Bürger, trotz gegenteiliger Beteuerungen, nicht ernst zu nehmen gewillt ist. Insofern bleibt letztlich die Frage offen, ob der gesellschaftliche Typus des Untertanen heutzutage noch Gültigkeit besitzt. In gewisser Weise ist dies leider zu bejahen, da er als Staatsbürger nur mittelbar an den politischen und wichtigen gesellschaftlichen 361

Entscheidungsprozessen teilhaben kann. Individualpsychologisch betrachtet scheint das historische Schreckbild des Untertanen aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden zu sein. Dennoch bleibt, was die Demokratisierung weiter gesellschaftlicher Bereiche betrifft, noch viel zu tun. Vielmehr steht zu befürchten, daß angesichts wachsender wirtschaftlicher und sozialer Probleme, eher gegenläufige Tendenzen sich durchsetzen werden. Hinzu kommt, daß der allgemein zu beobachtende Verlust an Bildung mit dazu beitragen wird, Demokratie schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich erscheinen zu lassen. Denn es gibt wohl kaum eine Staats- und Gesellschaftsform, die nicht dringend umfassender Bildung zu ihrem Bestand benötigt, als die Demokratie und je weniger in Bildung investiert wird, um so gleichgültiger ist der herrschenden Politik die Zukunft unserer demokratischen Gesellschaft. Die beiden geschichtlichen Erlösungsutopien des vorigen Jahrhunderts sind zu Ende gegangen. Der Nationalsozialismus hat sich letztlich selber zugrunde gerichtet, da er seine eigenen Grundlagen zerstörte. Der Kommunismus ist an den postmodernen Entwicklungen der Weltgeschichte gescheitert. Dennoch besteht kein Anlaß darüber beruhigt zu sein. Zu vieles was dazu beigetragen hätte, Utopien dieser Art zu verhindern, ist unvollständig und zerbrechlich geblieben, so daß was wir überwunden glauben, jederzeit in abgewandelten Formen und unter anderen Vorzeichen wieder geschichtliche und somit gesellschaftliche Realität werden kann

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Anmerkungen Einleitung 1

So der Historiker Arnulf Baring im Herbst 2006 vor der hessischen CDU in Wiesbaden die ihn daraufhin mit starkem Beifall bedachte. Der Ruf nach Patriotismus, hinter der sich eine versteckte Form dumpfer nationalistischer Sehnsüchte verbirgt und die angesichts eines gemeinsamen Europas ziemlich antiquiert erscheint, wird inzwischen nicht nur von der NPD erhoben, sondern große Teile der CDU stoßen in das gleiche verführerische Horn. Bei Baring verwundert solches nicht, da er, wie zahlreiche Spitzenpolitiker der CDU ihre politischen und kryptischen ideologischen Ansichten der Neuen Freiheit anvertrauen; einem in rechtsradikalen Kreisen geschätztes Publikationsorgan.

Kapitel 1 Bürgertum und Nationalismus 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Hierzu ausführlich: Safranski: Romantik Eine deutsche Affäre Ebenda Safranski: Das Böse oder das Drama der Freiheit, S.270 E.T.A. Hoffmann: Der Magnetiseur Ebenda Rüdiger Safranski: Das Böse oder das Drama der Freiheit, S. 226 Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther, 1774 Rüdiger Safranski: Romantik eine deutsche Affäre, S.370 Marcuse, Herbert: Kultur und Gesellschaft, S.66 f. Rüdiger Safranski: Das Böse oder das Drama der Freiheit, S. 228 Ebenda, S. 228

Kapitel 2 Das faustische Prinzip und der tiefe Fall 1 2 3

Rüdiger Safranski: Romantik Eine deutsche Affäre, S. 372 Marcel Reich- Ranicki: Thomas Mann und die Seinen, S. 88 Zitiert in: Rüdiger Safranski: ebenda, S.376

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Zwischenbetrachtung: Völkischer Nationalismus und beginnende Götterdämmerung 1 2 3 4 5 6 7 8

Zitiert in: Craig: Über die Deutschen, S.19 Johann Wolfgang von Goethe/ Friedrich Schiller: Xenien 96, Deutscher Nationalcharakter Fest: Hitler, S.13 Zum Begriff der verspäteten Nation siehe bei Plessner: Die verspätete Nation Hierzu ausführlich: Bracher: Zeit der Ideologien, S.150 Ebenda: S.151 Bracher: S.152 Johann Gottlieb Fichte: Reden an die Deutsche Nation

Kapitel 3 Von der Höhe und dem Profanen – Das Bürgerliche und das Genialische 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

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Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, S.125 Wolfgang Schreiber: Mahler High Fidelity, September 1967, zitiert in: Normann Lebrecht: Gustav Mahler. Erinnerungen seiner Zeitgenossen, S.10 Zitiert in: Norman Lebrecht: Gustav Mahler Erinnerungen seiner Zeitgenossen, S. 285 Wolfgang. Schreiber: Mahler, S.137 Jonathan Carr: Gustav Mahler. Biographie, Derselbe: Ebenda, Marcel Reich-Ranicki: Thomas Mann und die Seinen Zitiert in: Ebenda, S.36, alle Zitate und Wörter die sich in Anführungszeichen befinden sind entnommen aus: Marcel Reich-Ranicki: Ebenda Zitiert in: Marianne Krüll: Im Netz des Zauberers Eine andere Geschichte der Familie Mann, S.389 Marcel Reich-Ranicki: Thomas Mann und die Seinen, S.21 Zitiert in: Derselbe: S. 36 f. Zitiert in: Derselbe: S.41 Zitiert in: Derselbe: S.59 Zitiert in: Derselbe: S.59 Peter Gay: Die Republik der Außenseiter Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918-1933

Kapitel 3.1 Bildungsbürgertum und Besitzbürgertum – Kulturkritische Anmerkungen zu Theodor Fontanes Jenny Treibel und Thomas Manns Buddenbrooks 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen Hierzu ausführlich: Arno Grün: Der Verrat am Selbst Zitiert in: Safranski: Romantik, S. 199 Safranski: Ebenda: S.198 Wilhelm Heinrich Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, 1851, zitiert nach der von Peter Steinbach hrsg. Ausgabe Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1976, S168 Gordon A, Craig: Geschichte Europas 1815-1950, S 282 Hermann Glaser: Bildungsbürgertum und Nationalismus, S.134 Klaus Böhmer, Hrsg.: Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, S.75 Michael Stürmer: Das ruhelose Reich,. Deutschland 1866- 1918, S.27 Theodor Fontane: Jenny Treibel, alle Zitate hieraus Derselbe: S.308 ff. Hierzu: Lilo Grevel: Frau Jenny Treibel. Zum Dilemma des Bürgertums in der Wilhelminischen Ära. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 108, 1989, S. 190 Hierzu: Renate Zenth: Fontanes Darstellung und Kritik der Gesellschaft im Spiegel seiner Berliner Romane und Briefe 1879- 1898 Hierzu: W. Müller-Seidel: Besitz und Bildung. Soziale Romankunst in Deutschland, S.300ff. ff. Hierzu: Norbert Elias: Studien über die Deutschen, S.173 Thomas Mann: Die Buddenbrooks, alle folgenden Zitate hieraus Manfred Dierks: Arbeite!- Wenn ich aber nicht kann? Thomas Buddenbrooks und die kapitalistische Moderne, Blätter für deutsche und internationale Politik.1/2008,S.105-111 Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus

Kapitel 3.2 Utopie und Regression 1 2 3

Harry Graf Keßler: Gesichter und Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1962, Zitiert in, Stürmer: Das ruhelose Reich, S.25 Hierzu ausführlich: Wolfgang Emmerich: Zur Kritik der Volkstumsideologie, S. 181 ff. Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S. 69

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Kapitel 3.3 Zum Verfall des Bildungsbürgertums 1 2 3 4 5 6 7

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Zitiert in: Safranski: Romantik, S. 250 Heinrich Heine: Zitiert in: Hermann Glaser: Bildungsbürgertum und Nationalismus, S. 119 Zitiert in: Ebenda, S.119 Heinrich von Treitschke: Luther und die deutsche Nation, S.24 Hierzu: Hannah Arendt: Zur Zeit. Politische Essays, S.25 Hierzu ausführlich: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Hannah Arendt hat dargelegt, daß totalitäre Herrschaftsformen wie der Stalinismus und der Nationalsozialismus erst in einer Massengesellschaft möglich werden. Die totale Herrschaft bedarf des sogenannten Mobs, den die Massengesellschaft aufgrund ihrer entfremdenden Arbeitsund Produktionsbedingungen erst hervorbringen. Hierbei kommen ihm die modernen Strukturen der Industriegesellschaft und einer hochtechnisierten Verwaltungsbürokratie entgegen, die ein totales Überwachungssytem ermöglichen. Zitiert bei: Georg Lucas: Die Zerstörung der Vernunft, Bd. I, S. 28 Gottfried Benn: Die Eigengesetzlichkeit der Kunst. In: Gesammelte werke, Bd.1, S.211 Hierzu: Bernd Auerbach: Vom gebildeten Deutschen, zitiert in, Hermann Glaser: Bildungsbürgertum und Nationalismus, S. 225 Zitiert in: Glaser: Ebenda: S.110 Helmut Plessner: Die verspätete Nation. Über die Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, S.73. Plessner erklärt den Begriff der verspäteten Nation mit der zentraleuropäischen Lage Deutschlands, die eine nationalstaatliche Einigung erschwert hat, sowie mit einer falsch verstandenen Tradition der Deutschen, wozu sicherlich die Beschwörung des Germanenmythos im 19. Jahrhundert nicht übersehen werden darf. Die politische Verführbarkeit des deutschen Bürgertums war auch das Ergebnis generationenlanger rigider Erziehungspraktiken unter den moralisch-sittlichen Vorgaben eines Obrigkeitsstaates, dessen Einfluß über die Weimarer Republik als einzige selbst gewählte Demokratie hinausreichte. Hierzu: Otto W. Johnston: Der deutsche Nationalmythos. Ursprung eines politischen Programms. Preußen als Staat ist längst erloschen; jedoch als Symbol lebt es weiter. Für die einen steht es als Inbegriff der Intoleranz, Aggressivität, Militarismus, Arroganz und autokratische Formen. Die Rechten in Deutschland sehen es als Symbol gegen die zunehmende Korruption, Werteverfall und die wachsende Auflösung von sogenannten Sekundartugenden in der modernen Gesellschaft. Immer dann, wenn im wiedervereinigten Deutschland preußisches Erbe in der Öffentlichkeit beschworen wird, so etwa die Überführung des toten preußischen Königs

1992 nach Potsdam oder in der Diskussion über den geplanten Wiederaufbau des Berliner Schlosses, erscheinen die Bilder, die mit dem preußischen Erbe verbunden sind, aktueller als je zuvor. 14 Thomas Mann: Deutschland und die Deutschen. Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft, in: Reden und Aufsätze II 15 Der völkische Nationalismus hatte durchaus romantische Züge aufzuweisen und entstand unter dem prägenden Einfluß der europäischen Romantik im frühen 19. Jahrhundert. Der Sache nach kann auch von einem kulturellen Nationalismus gesprochen werden, da unter dem Blickwinkel des Nationalismus die Kultur partikularistisch verstanden wurde. Er wandte sich gegen den Universalismus der Aufklärung, die das den Menschen und der Vernunft Gemeinsame betonen. Als besonderer Wert der nationalen Kultur werden daher das Singuläre, Partikulare, das Individuellen und das vermeintlich Charakteristische in der Wesensart eines Volkes herausgestellt. Die romantischen Nationalisten stellten das Kollektiv, die Nation oder das Volksganze vor dem Recht des Individuums. Es ist daher ausschließlich die Nation und die Rasse, die den Einzelnen formt, in der dieser seine Erfüllung findet und der sich alles unterzuordnen hat. Vgl. hierzu auch, Thomas Nipperdey: Nachdenken über die deutsche Geschichte, S.114 Exkurs: Kosmiker und Boheme – Kulissenzauber im Wahnmochin – 1 2 3 4 5

Hierzu: Franz Schonauer: Stefan George Ebenda Hierzu: Rüdiger Safranski: Romantik, S. 309 Zitiert in: Franz Schonauer: Ebenda, S. 85 f. Oscar A. Schmitz: Bürgerliche Boheme

Kapitel 4 Stefan George – Ein heimlicher König im Neuen Reich 1 2 3 4 5 6 7 8

Franz Schonauer: Stefan George Sabine Lepsius: Stefan George. Erinnerungen und Zeugnis. Zitiert in, Schonauer, S.62 f. Schonauer, S. 57 Zitiert in: Cornelius Waldner: Stefan George –Einführung in Leben und Werk Zitiert in: Schonauer, S.150 Zitiert in: Ebenda, S. 146 Walter Mehring: Die verlorene Bibliothek, S.151 Zitiert in: Ebenda. S.146

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9 10 11 12 13 14

Zitiert in: Klaus Siblewski: Diesmal winkt sicher das Friedensreich. Über Stefan Georges Gedicht ›Der Krieg‹, in: Text und Literatur, Hrsg.: Heinz Ludwig Arnold, 168, Stefan George, S.19 Zitiert in: Ebenda, S.20 Klaus Mann: Das Schweigen Stefan Georges, S.103 Ebenda, S. 99 Jürgen Sieblewski: Ebenda, S.36 Klaus Mann: Das Schweigen Stefan Georges, S. 99 f.

Kapitel 5 Welt erhellen und erträumen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

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Zitiert in Ludwig Marcuse: Einige Aufklärungen, in: Club Voltaire II, S. 13 Ebenda: S. 13 f. Safranski: Romantik, S.53 Joseph von Eichendorff: Ahnungen und Gegenwart, 1816 Ebenda Thomas Mann: Deutschland und die Deutschen Hierzu ausführlich: Gordon, A.Graig: Über die Deutschen Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts Zitiert in: Safranski, S. 54 Hierzu ausführlich: Manfred J. Foerster: Individuation und Objektbeziehung, S. 31 ff. Zitiert in: Safranski: S. 57 Safranski: S.53 Ebenda: S. 55 f. Zitiert in: Safranski: S.56 Karl Grosse: Der Genius, S. 6 Safranski: S. 57 Gutzkow: Aus der Knabenzeit, zitiert in: Georg Hermann: Das Biedermeier im Spiegel seiner Zeit, S. 47 f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 29 Hermann Glaser: Bildungsbürgertum und Nationalismus, S.75 Franz Schubert: Die schöne Müllerin, Liederzyklus nach Texten von Wilhelm Müller Carl Maria von Weber: Der Freischütz, 1.Akt, 2. Auftritt, alle weiteren Zitate aus der Oper Der Freischütz, Text von: Friedrich Kind

Zwischenbetrachtung: Romantische Weltsichten und Nationalismus 1

Vgl. hierzu: Hermann Glaser: Bildungsbürgertum und Nationalismus, S.184 2 Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher, 1890 3 Glaser, S. 179 4 Hierzu ausführlich: Kapitel 6 in diesem Buch 5 Hermann Glaser: Ebenda, S.179 6 Jean Paul: Vorrede zum „Quintus Fixlein“, zitiert in: Ebenda, S. 181 7 Hermann Glaser: Ebenda, S.181 8 Heinrich Heine: Diesseits und jenseits des Rheins 1844 9 Vgl. hierzu: Kaiser: Pietismus und Patriotismus, S.215 f. 10 Glaser: Ebenda, S. 184 Kapitel 6 Die Idylle einer repressiven Bürgerlichkeit – Träume vom Besonderen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

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Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft 1, S.56 ff. Rüdiger Safranski: Romantik Eine deutsche Affäre, S. 172 ff. Ludwig Marcuse: Das denkwürdige Leben des Richard Wagner, S.124 Hermann Glaser: Bildungsbürgertum und Nationalismus, S. 190 Vgl. hierzu.: Glaser: Romantik, S.192 F. Bley: Die Weltstellung des Deutschtums, S.20 Friedrich Fröbel: Kleine politischen Schriften 1866, zitiert in: Harry Pross: Die Zerstörung der deutschen Politik. Dokumente 1871-1933, S.11 f. Moeller van den Bruck: Die neue Front Zitiert in: Glaser: S.177 Heinrich von Treitschke: Deutsche Kämpfe, S.390 Ebenda Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher, S.328 Friedrich Georg Jünger: Aufmarsch des Nationalsozialismus, S. XIX Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, S.259 Alice Miller: Am Anfang war Erziehung. Wenngleich Millers pädagogische Konsequenzen, die sie als erziehungstheoretische Antwort auf die „Schwarzen Pädagogik“ formuliert, höchst umstritten sind, so darf nicht darüber hinweg gesehen werden, daß gerade in Deutschland die rigiden Erziehungspraktiken über einen langen Zeitraum Hochkonjunktur hatten und sich insofern in den Familien gewissermaßen das repressive gesellschaftliche Klima des Obrigkeitsstaates widerspiegelte. Hierzu: Emmerich: Zur Kritik der Volkstumsideologie, S.56

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Kapitel 7 Bauernmythos, Volkskunde und bürgerliche Regression – von Volkskörper und Mutterboden 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Hierzu ausführlich: Emmerich: Zur Kritik der Volkstumsideologie Achim von Arnim: Die Majoratsherren Zitiert in: Safranski: Romantik, S.155 Hierzu: Emmerich, S.22 ff. Emmerich, S.29 Hierzu: Barthes: Mythen des Alltages, S. 85 ff. Johann Gottfried Herder: Vorrede zum II. Teil der Alten Volkslieder, S.313 Gottfried Benn: Der deutsche Mensch, S. 231 Friedrich von der Leyen: Volkstum und Dichtung, S. 107 Hierzu: Emmerich, S. 32 Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S. 69 Zitiert in: Emmerich, S. 32 Wilhelm Grimm: Kleinere Schriften, Bd. 2, S. 10 Ebenda: S.34 Hierzu: Emmerich, S. 34 Vgl. hierzu: Ebenda, S. 36 Zitiert in: Emmerich, S. 36 Zitiert in: Franz Schonauer: Deutsche Literatur im Dritten Reich, S. 82 f. Jacob Kneip, veröffentlicht in dem Band: „Bauernbrot“ Derselbe: Porta Nigra Josefa Behrens-Totenohl: Der Femhof Hermann Stehr: Der Heiligenhof Ebenda Ina Seidel: Weltinnigkeit, Gedichtband Hans Grimm: Volk ohne Raum

Kapitel 7.1 Volkskunde als pädagogische Quellenwissenschaft und Gemeinschaftsideologie 1 2 3 4 5 6 7 8

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Wolfgang Emmerich: Zur Kritik der Volkstumsideologie Wilhelm Heinrich Riehl: Die Volkskunde als Wissenschaft Emmerich: Zur Kritik der Volksideologie, S.123 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch Riehl: Die deutsche Arbeit, S. 263 Ebenda, S. 263 f. Emmerich, S.128 Ebenda, S. 129

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Goebbels griff, entgegen seiner Auffassung von der sogenannten „stählernen Romantik“, bewußt auf diesen traditionellen Begriff einer romantischen Interpretation von Volk zurück, der seinen Ursprung in der Blut- und Bodenmystik des völkischen Nationalismus hatte. Heinrich Heine: Die romantische Schule, S.28 Riehl: Volkskunde als Wissenschaft, S. 224 Derselbe: Die Familie, S. 3 Ebenda, S. 55 Zitiert in: Emmerich, S. 60 Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus, S. 96 Riehl: Die Volkskunde als Wissenschaft, S. 215 Hans Meyer: Das deutsche Volkstum, Vorwort Emmerich, S. 65 Manfred Hahn: Faschismus in verändertem Aufzug ? In: Das Argument, Nr. 48, S. 301 f. Helge Pross in einem Radiovortrag 1966, zitiert in: Hahn: S. 302 Karl Veit Riedel: Warum wir so leben, S. 244 Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, S. 839 Derselbe: Die deutsche Arbeit, S. 12 und 55 Derselbe: Religiöse Studien, S. 188 Hierzu ausführlich: Max Weber: Soziologie Analysen Politik, S. 357 ff. Emmerich, S. 65 Ebenda, S. 65 Zitiert in: Emmerich, S. 97 Emmerich, S. 100 Hierzu: ebenda, S. 126 ff. Max Scheler: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, S. 45 Hans Fischer: Aberglaube und Volksweisheit, S. 5 Hierzu: Franz Schonauer: Deutsche Literatur im Dritten Reich, S. 88 Gottfried Benn: Die verfluchte Kultur, S. 45 und 8 Derselbe: Antwort an die literarischen Emigranten, Gesammelte Werke in 4 Bänden, hrsg. Dieter Wellerhoff, Band IV, S. 245 f. Es war seine Flucht vor den verwirrenden Ideen und widersprüchlichen Systemen in eine unkomplizierte Welt des Einfachen und Überschaubaren, die Gottfried Benn zahlreiche Anhänger zugeführt hatte. Seine Beiträge zur „Reduktion von Umweltkomplexität“ trafen auf das Bedürfnisse eines verunsicherten Bürgertums zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Emmerich, S. 134

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Kapitel 7.2 Bewältigungskultur eines unsicheren Daseins – von der Geborgenheit der Idylle 1 2 3 4 5 6 7

Jean Paul: Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal Hierzu: Hermann Glaser: Bildungsbürgertum und Nationalismus Hermann Glaser: Bildungsbürgertum und Nationalismus, S. 77 Hans Joachim Neidhardt: Ludwig Richters Werk und Wirkung, S. 17 Ebenda, S. 390 Antoine de Saint Exupery: Wind Sand und Sterne, S. 324 Hermann Glaser: ebenda, S. 83

Kapitel 8 Historismus als Gegenwart – Richard Wagners Meistersinger und von den Tröstungen des Gestrigen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Eberhard Schulz: Das Kleid der Geschichte. Denkmodelle des Historismus und Funktionalismus Zitiert in: Safranski: Romantik, S. 284 Richard Wagner: Die Meistersinger, Oper in 3 Aufzügen Text und Musik von Richard Wagner, Uraufführung München 1868. Alle weiteren Zitate aus den Meistersingern beziehen sich auf diese Textausgabe Zitiert in: Safranski, S. 290 f. Ernst Bloch: Zur Philosophie der Musik Vgl. hierzu: Karl Marx: Das Kapital Gordon A. Craig: Über die Deutschen, S. 224 E. G. Reichmann: Die Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe, S. 191 Vgl. hierzu: Hermann Glaser: Bildungsbürgertum und Nationalismus, S. 117 Ebenda: S.117 Ebenda, S.117 Robert Schumann: Schriften über Musik und Musiker, hrsg. von Josef Häusler, S.132 Friedrich Nietzsche, hrsg. von Karl Schlechten, Band 3, S. 152

Kapitel 8.1 Protestantischer Ernst und steingewordene Gegenwart 1 2 3

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Ebenda, S.124 Ebenda, S.124 Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft Band, S.

Kapitel 9 Nationalismus und völkischer Rassismus 1

George L. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa, S. 61. Insbesondere das sogenannte Frobenius-Institut in Frankfurt/Main betrieb ethnologische Studien im Sinne einer rassischen Völkerkunde. 2 Vgl. hierzu: Daniel J. Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker 3 Mosse: S. 101 4 Karl Dietrich Bracher: Zeit der Ideologien. Eine Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert, S.44 5 Mosse, S. 128 6 Ebenda, S.128 f. 7 Ebenda, S. 163 8 Vgl. hierzu: Mosse, S. 129 9 Ebenda, S. 129 10 Ebenda, S. 129 11 Ebenda, S. 131 12 Zitate in: Mosse, S. 130 Kapitel 9.1 Die Psychopathologie in der Rassentheorie Gobineaus 1 2 3 4 5 6 7 8

Hierzu ausführlich: L. Herbst: Das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, S. 40 ff. Mosse, S. 77 Ebenda Mosse, S. 78 Hierzu: Mosse, S. 78 Ebenda, S. 77 ff. Ebenda, S. 82 Ebenda, S. 81

Kapitel 9.2 Psychologische Aspekte des Rassismus 1 2 3 4 5 6 7

Zitiert in: Ernst Simmel, Hrsg. Antisemitismus, S. 58 f. Ebenda, S. 59 Ebenda, S.60 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 27 ff. Hierzu ausführlich zum Problem des vereinsamten Individuums als Objekt der Massengesellschaft: David Riesmann: Die einsame Masse Marcuse, S. 27 Hierzu: Marcuse, S. 41 373

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Hierzu ausführlich: Bracher, S.13 ff. Ernst Simmel: Antisemitismus, S.77 Ebenda, S.77 Hierzu ausführlich: Simmel, S. 58 ff. Hierzu ausführlich: Sigmund Freud: Massenpsychologie Simmel, S. 72 Vgl. hierzu: Kapitel 12: Der „ewige“ Untertan Simmel, S. 75 Ebenda Gustave le Bon: Psychologie der Massen, S. 167 Hierzu ausführlich: Bracher, S.57 ff. Ebenda, S. 58 Ebenda, S. 58

Kapitel 9.3 Rosenbergs „Rassemythos“ des 20. Jahrhunderts 1 2 3

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Vgl. hierzu: Bracher, S. 42 Ebenda, S. 77 f. Alle Zitate: Alfred Rosenberg: Der Mythos des 20. Jahrhunderts, S. 81 ff. Rosenbergs unhaltbarer kulturhistorischer Unsinn wurde 1934 von einer Gruppe Köln-Bonner Theologen gründlich widerlegt. Hierzu: Marcel Albert: Die Benediktinerabtei Maria Laach und der Nationalsozialismus, S. 131 f. Rüdiger Safranski: Romantik, S. 353 Telford Taylor: Die Nürnberger Prozesse, S. 621 Mosse, S. 131 f. Ebenda, S. 269 Wolfgang Benz: Feindbild und Vorurteil, S. 19 Ebenda, S.19

Kapitel 9.4 Rassismus und Antisemitismus als affirmative Kultur Ideologie der Entfremdung 1 2 3 4 5 6 7 374

Eugen Dühring: Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage mit einer weltgeschichtlichen Antwort Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Band 2, S. 253 Helmut Plessner: Die verspätete Nation, S. 105 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 183 Alle Zitate in: Mosse, S. 133 Hierzu: Otto Weininger: Geschlecht und Charakter, Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus, S. 127

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Heinrich von Treitschke: Politik, Band I, S. 50 f. Mosse, S. 149 Ebenda, S. 149 Benz, S. 11 f. Zitiert in: Safranski, S. 351 Hierzu: E. Schuppe: Der Burschenschaftler Wolfgang Menze. Eine Quelle zum Verständnis des Nationalsozialismus. 14 Zitiert in: Wolfgang Emmerich: Zur Kritik der Volkstumsideologie, S. 85 15 Daniel Frymann: Wenn ich Kaiser wär. Zitiert bei: H. Grebing: Nationalsozialismus. Ursprung und Wesen, S. 19 16 Vgl. hierzu: Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 17701990, S. 194 ff. Wenngleich die handarbeitenden Volksschichten in ihren regionalen Lebensbezügen integriert waren und dem Nationalbewußtsein des Deutschen Reiches eher distanziert gegenüberstanden, so wuchsen sie dennoch in diesen Nationalstaat hinein und entwickelten im späten 19. Jahrhundert einen zunehmenden Patriotismus, welcher allerdings basierend auf einer eigenständigen Arbeiterkultur, links gerichtet war und sich als demokratischer Volksstaat verstand, den es anzustreben galt. Diese Auffassung von Nationalstaat hatte jedoch keine politischen und ideologischen Gemeinsamkeiten mit den rechten, antirepublikanischen Strömungen. Im Gegenteil, während der Weimarer Epoche bejahte die Arbeiterbewegung die Republik, wenngleich auch mit unterschiedlichen politischen Konzeptionen. Während sozialdemokratische und gewerkschaftliche Kräfte die Demokratie bejahten, forderten kommunistische Gruppierungen die Räterepublik. Kapitel 9.5 Am Vorabend des Nationalsozialismus – Rassestaat und Volksgemeinschaft 1 2

Carl Zuckmayer: Des Teufels General, 1945 Zitiert in: Uffa Jensen: „Die Juden sind unser Unglück“, in: Die Zeit, Nr. 25, S. 82 3 Wolfgang Benz: Feindbild und Vorurteil, S.19 4 Ebenda, S. 19 5 Hierzu: Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990, S. 288 f. 6 Wolfgang Emmerich: Zur Kritik der Volkstumsideologie, S. 134

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Kapitel 10 Verherrlichung des Krieges und der Kampf gegen Humanität und Vernunft 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. hierzu: Franz Schonauer: Deutsche Literatur im Dritten Reich, S. 61 An dieser Stelle seien neben Ernst Jünger auch Hans Johst, Hans Grimm, Kolbenheyer, Stehr, Schmückle, Zöberlein u.a. genannt. Hierzu ausführlich: Schonauer, S. 65 ff. Schonauer, S. 66 Werner Beumelburg: Die Gruppe Bosemüller, S.324 f. Ebenda, S. 331 f. Hans Zöberlein: Der Glaube an Deutschland, S. 430 f. Herman Pongs: Das Bild der Dichtung, II Band, Voruntersuchungen zum Symbol, S, 426 Georg Heym: Dichtungen und Schriften, Band 3, S. 139 Derselbe: Gesammelte Gedichte, S. 81

Nihilistische Visionen bei Ernst Jünger – Der neue Mensch 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

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Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis Hierzu: Safranski: Romantik Ernst Jünger: In Stahlgewittern, S. III-V Ebenda Ebenda, S. VII Theodor W. Adorno: Prismen, S. 67 Franz Schonauer: S. 74 Ernst Jünger: Der Kampf um das Reich, S. 9 Vgl. hierzu: Schonauer, S. 73 Hierzu ausführlich: Marten: Sozialbiologismus Biologischen Grundlagen der politischen Ideengeschichte, S. 12. Sozialdarwinismus als eine weltanschauliche Restfertigungslehre stellte nicht nur ein historisches Problem dar, das richtig oder falsch interpretierte biologische Theorien auf politische und gesellschaftliche Erscheinungen der Geschichte projizierte, wie der Nationalsozialismus dies tat, sondern Sozialdarwinismus sicherte zugleich auch in seinen biologistischen Annahmen eine ideengeschichtliche Kontinuität als bürgerliche Herrschaftslehre bis in die Gegenwart des neoliberalen Wirtschaftskapitalismus. Schonauer, S. 73 Ebenda, S.73 Ernst Jünger: Strahlungen, Vorwort Jonas Lesser: Von Deutscher Jugend, S. 143

24 Ernst Jünger: Beitrag in der Zeitschrift Tagebuch vom 21.9.1929, zitiert in: Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 104 25 Friedrich Ernst Jünger: Der Aufmarsch des Nationalsozialismus, S. 21 Kapitel 11 Spätbürgerlicher Bildungsbegriff, Pathos und Herrschaft 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Norbert Elias: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung, S. 151 Johann Wolfgang von Goethe: Xenienalmanach Vers 95 Deutsches Reich Hierzu: Fritz Stern: Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, S. 50 Zitiert in: Hermann Glaser: Bildungsbürgertum und Nationalismus, S.13 Zitiert in: Ebenda Rudolf Herzog: Hanseaten Hierzu ausführlich weiter unten: Exkurs: Der Pedant des Schreckens Carl Schmitt: Politische Romantik, S. 228 Moeller van den Bruck: Das Dritte Reich Hermann Hesse: Der Steppenwolf, S. 66 Zitiert in: Hermann Glaser: Ebenda, S.155 Heinrich Heine: Über Deutschland. Die romantische Schule Band 5, S. 380 Jacob Grimm: Zitiert in: Hermann Glaser, S. 156 f. Peter Martin Roeder: Zur Geschichte und Kritik des Lesbuchs der höheren Schulen, S.81

Exkurs: Albert Speer ein deutscher Bildungsbürger von innen betrachtet oder die technizistische Unmoral 1 2 3 4 5 6 7 8

Martin Broszat: Das weltanschauliche und gesellschaftliche Kraftfeld, in: Das Dritte Reich im Überblick, S. 101 Hierzu ausführlich: Ian Kershaw: Der Hitler-Mythos Führerkult und Volksmeinung Joachim Fest: Speer Eine Biographie, S.13 Max Weber: Die drei reinen Typen legitimer Herrschaft, S. 238-256 Zitiert in: Hermann Glaser: Die Republik der Außenseiter Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918-1933 Hans Müller-Braunschweig: „Führer befiehl...“ Zu Hitlers Wirkung im Deutschland der dreißiger Jahre, S. 313 ff. Hierzu ausführlich: Fest: ebenda Ebenda: S. 76. Speer hat in seinen Erinnerungen darauf bestanden, daß seine Bewunderung für Hitler diejenige eines Architekten für einen –in Speers Augen – genialen Bauherrn gewesen sei und nicht diejenige eines 377

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Gefolgsmannes zu seinem politischen Führer. Beides ließ sich in der Realität des Dritten Reiches freilich nicht trennen, da Speers Monumentalbauten stets auch steingewordene Abbilder der nationalsozialistischen Weltanschauung und ihrer rücksichtlosen Politik waren. Gitta Sereny: Das Ringen mit der Wahrheit. Albert Speer und das deutsche Trauma Joachim Fest: Ebenda Derselbe: Die unbeantworteten Fragen. Notizen über Gespräche mit Albert Speer zwischen Ende 1966 und 1981 Ebenda, S. 16 Albert Speer: „Alles, was ich weiß“. Aus unbekannten Geheimdienstprotokollen vom Sommer 1945, hrsg. von Ulrich Schlie Joachim Fest: Speer Eine Biographie Sebastian Haffner: Albert Speer – Dictator of the Nazi-Industry Hierzu ausführlich: Manfred Koch-Hillebrecht: Homo Hitler. Psychogramm eines Diktators. Koch-Hillebrecht beschreibt Hitlers latente Homosexualität als zeittypische Erscheinung in der Epoche des gesellschaftlichen Umbruches. Der führende amerikanische Psychoanalytiker dieser Zeit Wilhelm Stern sprach von einer „Inversionswelle“ gleichgeschlechtlicher männlicher Beziehungen, die größtenteils aus den Kreisen der Jugendbewegung genährt wurden. Die Angst vor dem anderen Geschlecht äußerte sich in chauvinistischen Reaktionen, in denen das virile Ideal mit dem Antifeminismus konkurrierte und die Verklärung der Männerliebe förderte. Beides zusammen war indes Ausdruck einer maskulinen narzißtischen Abkehr von der Realität. Zitiert in: Joachim Fest: Speer Eine Biographie, S.67 Zitiert in: Ebenda Hugh R. Trever-Roper: Hitlers letzte Tage Zitiert in: Joachim Fest: Speer Eine Biographie, S. 218 Zitiert in: Derselbe: Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, S. 285 Zitiert in: Joachim Fest: Speer Eine Biographie, S. 19 Vgl. hierzu: Joachim Fest: Die unbeantworteten Fragen, S. 257. Den Äußerungen Fests ist zu entnehmen, daß Speers Ausflüchte nicht nur unbewußte Verdrängungen, sondern ebenso unbewußte Strategien der unentwegten Selbsttäuschungen über seine Rolle und das Ausmaß seiner Verstrickungen im Dritten Reich waren, über die er sich selber streckenweise nicht im Klaren war. Joachim Fest: Eine Biographie, S.15 Joachim Fest: Die unbeantworteten Fragen Sebastian Haffner: Von Bismarck zu Hitler, S. 81. Die „Väter“ dieser Generation waren durch die Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg von der Politik desillusioniert. Ihre vermeintlich stabile Welt war untergegangen

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und sie sehnten sich danach, von der Bühne des Geschehens abzutreten, was sie in der Endphase der Weimarer Republik auch taten. Ebenda, S.83 Joachim Fest: Der Untergang Hierzu: Albert Speer: „Alles was ich weiß.“ Aus unbekannten Geheimdienstprotokollen vom Sommer 1945, sowie: Joachim Fest: Die unbeantwortbaren Fragen. Schlies Einwände sind nicht von der Hand zu weisen. Verfolgt man die „lektorischen Vernehmungen“ Siedlers und Fest, so drängt sich der Verdacht auf, daß die mitunter wenig spontanen Antworten Speers durch die psychologisch gefärbten Interventionen und Werturteile der Lektoren reflektiv von Speer korrigiert wurden. Schlie ist der Ansicht, daß die Erinnerungen Speers nicht unbedingt authentische Zeugnisse des inneren und äußeren Erlebens einer Person der Zeitgeschichte sind, sondern allenfalls opportunistisch entstellte Halbwahrheiten. Hierzu ausführlich: Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators Zitiert in: Karl Dietrich Bracher: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus Zitiert in: Albert Speer: Alles was ich weiß, S.22 Albert Speer: Erinnerungen, S. 527 und 22 Ebenda Hierzu: Karl Dietrich Bracher: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Strukturen, Folgen des Nationalsozialismus Mit dieser Frage und den sich anschließenden moralischen Problemen von Mitwissen, Mitverantwortung und Schuld hat sich Gitta Sereny ausgiebig befaßt, Vgl. hierzu: Gitta Sereny: Das Ringen mit der Wahrheit. Albert Speer und das deutsche Trauma. Ebenda, S. 817. Der Spiegel 18/2005 (2.Mai 2005) Alexander und Margarete Mitscherlich haben den kollektiven Verdrängungsvorgang vieler Deutschen nach dem Krieg, der darin bestand, nicht an den Verbrechen teilgenommen oder von diesen gewußt zu haben, vielmehr selber verführt worden zu sein, in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern so benannt. Joachim Fest: Die unbeantwortbaren Fragen, Theodor W. Adorno: Stichworte. Kritische Modelle 2, S. 101 Hierzu ausführlich: Albert Speer: Alles was ich weiß Ebenda Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder von der Last ein Deutscher zu sein Joachim Fest: Die unbeantwortbaren Fragen, S. 16 Ebenda, S, 250 379

Kapitel 12 Nationalismus versus Aufklärung und Emanzipation 1

Karl Marx: Das Kapital, Bd. I S. 326. Hierzu auch: Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft, S. 56 ff. 2 Hierzu in romanhafter Form: Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit, S.332 ff. 3 Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? S. 145 f. 4 Zitiert in: Rüdiger Safranski: Romantik, S.354 f. 5 Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, S.332 6 Bei Schelling ist die Rede, daß der Gegensatz der Geschlechter im „Gesamtmenschen“ aufgehoben wird, der Gegensatz der Individuen im höheren Organismus der Staat oder dem „Volk“. Hierzu: Carl Schmitt: Politische Romantik, S. 127 7 Fritz Stern, Ebenda, S. 332 8 Ebenda, S.332 9 Victor Klemperer: L. T. I. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 1995 10 Georg Lukacs: Die Zerstörung der Vernunft 11 Safranski: Ebenda, S. 351 Kapitel 13 Der „ewige Untertan 1

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Der Historiker Thomas Nipperday vertrat die Auffassung, daß der wilhelminische Staat nicht ausschließlich ein Untertanenstaat gewesen sei, so wie ihn Heinrich Mann tendenziell dargestellt hat. Neben den unübersehbaren devoten Zügen zeichnete er sich durch zunehmende Segmentierung des sozialen und religiösen Lebens aus, was dazu führte, daß die Bürger sich nicht mehr unbedingt nach den Anordnungen der Obrigkeit orientierten und sich in ihrer privaten Welt einrichteten. Außerdem war im aufgeklärten Bürgertum, sowie in den neu entstandenen Unternehmerhierarchien ein gewisser Liberalismus zu beobachten, der ohne Bezug auf die politischen Machtverhältnisse zu nehmen, ein Eigenleben führte. Nipperdeys Beobachtungen sind auf das äußere Erscheinungsbild einer prosperierenden Industriegesellschaft gerichtet und übersehen jedoch die nach wie vor tradierten autoritären Strukturen, die bis in den Erziehungsalltag hineinreichten. Das mentale Klima jener Epoche, auf das sich Heinrich Manns Roman bezieht, war von einer Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen bestimmt. Die tradierten Sozialisationsformen und patriarchalischen gesellschaftlichen Gewohnheiten konnten – im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten mit dem technischen Fortschritt nicht mithalten. Durch diesen war nicht gleichzeitig eine Liberalisierung wesentlicher gesellschaftlicher und privater Bereiche

zustande gekommen, wie dies in anderen europäischen Ländern der Fall war. Selbst Thomas Mann, welcher der demokratisch-liberalen Kultur der damaligen Zeit höchst skeptisch gegenüber stand, befand ironisch, daß in der Mentalität dieser Gesellschaft der Respekt, ja das Zutrauen zu „General Dr. von Staat“ eine große Rolle spiele und im Zweifelsfall, trotz aller Pluralität und bürgerlicher Liberalität, die Ordnung und Pflicht vor der Freiheit gehe. Insofern hatte die wilhelminische Gesellschaft durchaus Züge eines Untertanenstaates, dessen Schatten auf die Weimarer Republik fielen und zu ihrem Untergang beitrugen. Wirtschaftlich war das Deutsche Reich ein moderner Industriestaat, politisch betrachtet, befand es sich noch in einem vor-aufklärischen Bewußtsein. 2 Heinrich Mann: Der Untertan. Ausgabe Frankfurt/Main 2004, S.9, daraus auch alle weiteren Zitate des Romans. 3 Zitiert in: Heinrich Mann: Der Untertan, Ausgabe Fischer Verlag Frankfurt/Main, 2004 4 Thomas Mann /Heinrich Mann: Briefwechsel 1900-1949 5 Joachim Fest: Die unwissenden Magier. Über Thomas und Heinrich Mann, 1985, S.97. 6 Marcel Reich-Ranicki: Thomas Mann und die Seinen, 2001, S.129. 7 Erik H. Erikson: Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 1999, S.326. 8 Theodor W. Adorno: Stichworte Kritische Modelle 2, S. 94 9 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern, Frankfurt/Main 1970, S.48. 10 Ludwig Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie, München 1963. 11 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt/Main 1983, S.247. Kapitel 14 Kriegsbegeisterung und „Heiliges Vaterland“ 1

Hierzu aus psychoanalytischer Sicht: Erik H. Erikson: Kindheit und Gesellschaft 2 Kruck: Geschichte des alldeutschen Verbandes, S. 69 3 Otto Dann: Nation und Nationalismus, S. 209 4 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen 5 Zitiert in: Otto Dann: Ebenda, S. 207 6 Zitiert in: Otto Dann: Ebenda, 210 7 Ebenda, S. 210 8 Ebenda, S.209 9 Zitiert in: Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität, S. 387 10 Michael Stürmer: Das ruhelose Reich

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Kapitel 15 Von den Wirrungen bürgerlichen Selbstverständnisses 1 2 3 4 5 6

Thomas Nipperday: Ebenda, S. 110 ff. Zitiert in: Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, S.116 Erik H. Erikson: Kindheit und Gesellschaft, S. 341 Ebenda, S. 342 Manfred J.Foerster: Lasten der Vergangenheit, S. 18 Wie sehr der vermeintlich unpropagandistische Zweck dieser Machwerke auch heutzutage noch übersehen wird, zeigt deren ständige Rezeption in den Dritten Programmen des öffentlichen Fernsehens, vorzugsweise zur gemütlichen Kaffeestunde an Sonn- und Feiertagen.

Kapitel 16 Untertan, autoritärer Charakter und Massenmörder 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. hierzu die geschichtswissenschaftliche Diskussion über die Motive des Völkermordes. In: Ian Kershaw: Der NS-Staat, S. 148 ff. Zitiert in: Saul Friedländer: Nachdenken über Holocaust, S. 139 Ian Kershaw: Der NS- Staat, S. 3-4 Theodor W. Adorno: Stichworte Kritische Modelle 2, S. 85 ff. Zitiert in: Harald Welzer: Täter, S.9 Primo Levi: Ist das ein Mensch? S. 108 Dieser bemerkenswerte Satz fehlt in der deutschen Ausgabe. Hierzu ausführlicher: T.Todorov: Angesichts des Äußersten, S. 137 Arno Gruen: Der Verrat am Selbst, S. 79 ff Hierzu: Max Horkheimer: Kritische Theorie der Gesellschaft, Band III, S.334 ff. Primo Levi: Ebenda, S. 108

Exkurs: Ein Pedant des Schreckens: Facetten einer Existenz zwischen Massenmord, Germanenmythos und Esoterik 1 2 3 4 5 6 7 382

H. Guderian: Erinnerungen eines Soldaten, zitiert in: Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität, S.339 Zitiert in: Joachim Fest: Das Gesicht des Dritten Reiches, S. 165 Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität, S. 365 Joachim Fest: ebenda, S. 157 Hierzu ausführlich: Reinhardt Greve: Tibetforschung im SS – Ahnenerbe, in: Lebenslust und Fremdenfurcht. Hrsg.: Thomas Hauschild, S. 168 ff. Zitiert in: Joachim Fest, ebenda, S. 159 Hierzu: Derselbe, ebenda, S. 163

8 9 10 11 12 13 14 15 16

Joachim Fest, ebenda Joachim Fest: Die andere Utopie. Eine Studie über Heinrich Himmler, in: Fremdheit und Nähe, S.122 Joachim Fest, ebenda, S. 116 Zitiert in Erich Fromm, ebenda, S. 359 Zitiert in: Joachim Fest: Das Gesicht des Dritten Reiches, S. 161-162 Zitiert in: Derselbe: Die andere Utopie, S. 121 Derselbe: Das Gesicht des Dritten Reiches, S. 167 Derselbe: Die andere Utopie Vgl. hierzu: Manfred J. Foerster/Hans- Georg Glaser: Anpassung, Widerstand und Emigration, S 95 ff.

Kapitel 17 Die Ernüchterung der Zivilisation und von der Nähe des Gewesenen 1 2 3 4 5

Hierzu ausführlich: Fania Fenelon: Das Mädchenorchester in Auschwitz Joachim Fest: Speer. Eine Biographie, S. 129 Hannah Arendt: Die verborgene Tradition, S.43 f. Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990, S.11 Joachim Fest: Zwischen Westen und Nirgendwo. Über die Wanderungen des deutschen Sonderbewußtseins, in: Fremdheit und Nähe, S. 177

Kapitel 18 Geschichte im Widerstreit von Funktionalismus oder Intentionalismus 1

Zum ersten Mal veröffentlicht in: Manfred J. Foerster/Hans-Georg Glaser: Anpassung Widerstand und Emigration Essays zur politischen Kultur in Deutschland 2 Vgl. hierzu: Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, S. 204 ff. 3 Hierzu ausführlich: Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit Der Streit um Daniel J. Goldhagen, Hrg. Joachim Heil und Rainer Erb 4 Hierzu: ebenda, S. 11 5 Zitiert in: ebenda, S.11 6 Hierzu ausführlich: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft 7 Dieselbe: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. Hrsg. von Ursula Lutz und Kurt Sontheimer, 8 Ernst Nolte: Deutsche Identität nach Hitler. In: Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft, S. 185 9 Ebenda, S. 159 10 In diesem Zusammenhang sei auf die dümmlich naiven Slogans: Ich bin stolz ein Deutscher zu sein“, sowie „Du bist Deutschland“ hingewiesen, ein Propagandaspruch, der von den Nazis erfunden wurde, und der heutzutage 383

ohne kritisches Geschichtsbewußtsein von den öffentlichen Fernsehanstalten übernommen wird. 11 Hierzu ausführlich: Hans Georg Glaser: Hitlers „Mein Kampf“. Man hätte es wissen können. Kapitel 18.1 Revisionismus als Versuch der „Vergangenheitsbewältigung“ 1 2 3 4 5 6

Hierzu und zu den weiteren Ausführungen: Wolfgang Benz: Realitätsverweigerung als Antisemitisches Prinzip, in: Antisemitismus in DeutschlandZur Aktualität eines Vorurteils, S. 126 Zitiert in: Wolfgang Benz, ebenda, S. 128 Ebenda Ebenda Ebenda, S. 127 Hierzu: Ignatz Bubis: Alles was Recht (s) ist. Wenn die Justiz versagt: Das Mannheimer Deckert –Urteil und seine Folgen, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung

Kapitel 18.2 Die restaurative Rolle nach Rückwärts als Zukunftskonzept 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

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Hierzu: Micha Brumlik: Das Konservative Manifest Di Fabio: Kultur der Freiheit, S. 207 f. Micha Brumlik: ebenda Di Fabio, S.205 Vgl. hierzu Kapitel 6.1 in diesem Buch Di Fabio, S. 55 Ebenda Hierzu: Micha Brumlik: ebenda Hierzu ausführlich: Manfred J. Foerster: Lasten der Vergangenheit Alfred Großer: Die Frage nach der deutschen Vergangenheit, S.15 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie des Rechts, S. 183 Micha Brumlik, S.1065 Di Fabio, S.155 Vgl. S. 127 Vgl. Micha Brumlik, S. 1060 f. Hierzu ausführlich das Kapitel 3.1 in diesem Buch

Kapitel 19 Ausblicke und Hoffnungen 1 2 3

4 5 6 7

8 9

Rüdiger Safranski: Romantik, S.376 Ebenda, S.376 Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990, München 1993, S. 328. Dann gibt jedoch zu bedenken, daß die westdeutsche Regierung in der Auslegung des Artikels 116 des Grundgesetzes eine politische Position entwickelt hat, die von einem ethnischen Irredentismus geprägt ist, der deutschsprachigen Einwandern aus ost-europäischen Staaten die deutsche Staatsangehörigkeit gewährt. Ebenda S.326. Manfred J. Foerster: Lasten der Vergangenheit, S. 296 f. Otto Dann, S. 328. Theodor W. Adorno: Eingriffe, Frankfurt/M. 1963, S.139. Die vergleichsweise milden Urteile zu den Schmiergeldaffären des Großkapitals in jüngster Zeit, erwecken bei kritischen Beobachtern den Eindruck, daß die Justiz in ähnlicher Weise vor der Macht der Konzerne und des Großkapitals in die Knie geht, wie sie es in der Vergangenheit vor den nationalsozialistischen Machthabern getan hat. Damit aber wird die Justiz auf Dauer zu einer außergewöhnlichen Belastung für den demokratischen Bestand dieser Gesellschaft. Albrecht Müller: Machtwahn Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet Ralph Dahrendorf : Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S.343 f.

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Der Autor Manfred J.Foerster, in Aachen geboren, studierte Soziologie, Erziehungswissenschaft, Philosophie und Psychologie in Aachen und Mainz und promovierte bei Micha Brumlik in Heidelberg über die Archetypenlehre C.G. Jungs. Er war Lehrbeauftragter im Fachbereich Erziehungswissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz sowie an der Hessischen Justizakademie Wiesbaden. Wichtigste Veröffentlichungen: Individuation und Objektbeziehung Eine Auseinandersetzung mit der Analytischen Psychologie und der Archetypenlehre C.G.Jungs (2000), Lasten der Vergangenheit. Betrachtungen deutscher Traditionslinien zum Nationalsozialismus (2006), Zur Psychopathologie des Rassismus und Antisemitismus, in: Hans-Georg Glaser/Manfred J.Foerster: Der Weg nach Auschwitz war vorgezeichnet (2009), Bildungsbürger, nationaler Mythos und Untertan Anmerkungen zur Kultur des Bürgertums, (2009), Manfred J. Foerster/ Hans-Georg Glaser: Anpassung, Widerstand und Emigration Essays zur politischen Kultur deutscher Vergangenheit und Gegenwart, (2010).

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