Militanter Nationalismus im Baskenland 9783964567451

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Militanter Nationalismus im Baskenland
 9783964567451

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Baskischer und katalanischer Nationalismus in historischer Perspektive
3. Strukturbedingungen ethnischer Radikalisierung während der Franco-Diktatur
4. Die ETA 1950-1980: Entstehung, Organisation, Mitgliederstruktur, Eskalation der Gewalt
5. Auffächerung des nationalistischen Kräftespektrums nach 1980
6. Vergleichende Analyse militanter nationalistischer Bewegungen: Die Basken, Nordiren und Franco-Kanadier
7. Anmerkungen, Quellen- und Literaturverzeichnis
8. Anhang

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Waldmann Militanter Nationalismus im Baskenland

Editionen der Iberoamericana Reihe III Monographien und Aufsätze Herausgegeben von Walther L. Bernecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann Band 30

Peter Waldmann

Militanter Nationalismus im Baskenland

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main

1990

CIP-Tilclaufnahmc der Dculschcn Bibliothek YValdmann, Peter: Militanter Nationalismus im Baskenland / Pctcr Waldmann. F r a n k f u r t am Main : Vcrvucrt, 1990 (Editionen der Iberoamericana: Reihe 3, Monographien und Aufsätze ; Bd. 30) ISBN 3-89354-830-0 NE: Editionen der Iberoamericana/03 © Vcrvucrt Verlag, F r a n k f u r t am Main 1990 Alle Rechte vorbehalten Printed in Wcsl-Gcrmany

Inhaltsverzeichnis

1.

Einleitung

2.

Baskischer und katalanischer Nationalismus in historischer Perspektive

3.

Anmerkungen und Literaturverzeichnis Anmerkungen Quellen Sekundärliteratur

8.

139

Vergleichende Analyse militanter nationalistischer Bewegungen: Die Basken, Nordiren und Franco-Kanadier

7.

101

Auffacherung des nationalistischen Kräftespektrums nach 1980

6.

61

Die ETA 1950-1980: Entstehung, Organisation, Mitgliederstruktur, Eskalation der Gewalt

5.

17

Strukturbedingungen ethnischer Radikalisierung während der Franco-Diktatur

4.

7

173 205 205 223 224

Anhang Verzeichnis der Tabellen und Schautafeln 235 Chronologischer Abriß der Geschichte des Baskenlandes . 237 Drei Kurzbiographien von Etarras 242 Karte des Baskenlandes 247

5

Francisco und Walther gewidmet, den alten Gefährten in der Spanienforscbung.

1. Einleitung Seit dem ersten Forschungsaufenthalt im spanischen Baskenland vor rund zehn Jahren hat mich das Interesse an dieser kleinen, gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch äußerst rührigen Region nicht mehr losgelassen. Teils befremdet, teils fasziniert über die Intensität, mit der eines der ältesten Völker Europas um die Erhaltung bzw. Wiedergewinnung seiner bedrohten ethnischen Identität ringt, habe ich mehrere Versuche unternommen, die verschlungenen Fäden des baskischen "Labyrinths" zu entwirren. Diese Versuche haben ihren Niederschlag in einer Reihe von Aufsätzen gefunden, die in wissenschaftlichen Zeitschriften und Sammelbänden publiziert sind1. Das nachhaltige Interesse, das der Baskenfrage im deutschen Sprachraum entgegengebracht wird, sowie die Tatsache, daß sich nur wenige deutschsprachige Wissenschaftler, darunter meines Wissens kein einziger Soziologe, ihrer angenommen haben, ermutigen mich nunmehr, die bislang verstreuten Beiträge in einem Band zusammenzufassen.2 Dieser Band kann und will keinen vollständigen Überblick über die baskische Politik und Gesellschaft in all ihren historischen und aktuellen Bezügen bieten. Er konzentriert sich auf ein Teilphänomen, den militanten baskischen Nationalismus, wie er gegenwärtig vor allem durch die Gewaltorganisation ETA und die Parteienkoalition Harri Batasuna sowie deren Anhängerschaft repräsentiert wird. Anhand exemplarischer empirischer Untersuchungen und struktureller Analysen wird die Entstehung und Entwicklung der militant nationalistischen Bewegung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Im Hinblick auf die fortdauernde Diskussion über Ursachen und Neutralisierungsmöglichkeiten des ethnischen Radikalismus im Baskenland sind die meisten Beiträge von unverminderter Aktualität. Da das Schwergewicht der Darstellung mehr auf allgemeinen Strukturmustern und Entwicklungssequenzen als auf der lückenlosen Deskription aller relevanten Situationen und Vorgänge liegt, wurde von einer nochmaligen inhaltlichen Überarbeitung der Beiträge und insbesondere der Berücksichtigung zusätzlicher Literatur abgesehen. Desgleichen schien es im Interesse der Schlüssigkeit und Vollständigkeit der Argumentation in den einzelnen Kapiteln

vertretbar, kleinere stoffliche Überschneidungen zwischen diesen in Kauf zu nehmen. Gleichwohl beansprucht der Band mehr zu sein als eine bloße Ansammlung unverbunden nebeneinander stehender Einzelbeiträge zum baskischen Nationalismus. Er stellt sich durchaus als ein Ganzes dar, dessen Aufbau bestimmten Prinzipien folgt (die eine teilweise Modifizierung der ursprünglichen Aufsatztitel bedingten). Zum ersten versucht die Anordnung der Kapitel in etwa dem geschichtlichen Werdegang der nationalistischen Bewegung gerecht zu werden. So befaßt sich Kap. 2 mit der Entstehungsgeschichte des baskischen und des katalanischen Nationalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert und ihrer Entwicklung bis zur Franco-Ära, während die nächsten Kapitel die Unterdrückung der nationalistischen Bewegung und ihre aggressive Wiedergeburt unter der FrancoDiktatur zum Gegenstand haben. Kap. 4 schließt auch die Übergangszeit zur parlamentarischen Monarchie bis 1 9 8 0 mit ein, Kap. 5 behandelt schließlich die Ausdifferenzierung des nationalistischen Kräftespektrums unter den Bedingungen der konsolidierten Demokratie der 8 0 e r Jahre. Ein weiteres Prinzip ist die Überzeugung, eine Analyse des gesellschaftlichen und politischen Kräftefeldes, d.h. der Strömungen, Interessen und Orientierungen im Baskenland, trage mehr zum Verständnis der militanten nationalistischen Bewegungbei als die detaillierte Untersuchung der sie repräsentierenden Organisationen. Aus diesem Grund wird erst in Kap. 4 direkt auf die ETA eingegangen, nachdem zuvor das engere und weitere gesellschaftliche Umfeld, in dem sie sich bewegt und das sie hervorgebracht hat, analysiert worden ist. Schließlich schwingt bei vielen Beiträgen eine komparative Absicht mit. Direkt kommt diese zwar nur in den Kap. 2 und 6 zum Tragen, die vergleichend konzipiert sind, während sich die restlichen Kapitel ausschließlich auf Entwicklungen im Baskenland beziehen. Indirekt zielen die meisten der modellhaften Schemata und Schlußfolgerungen jedoch auf eine Übertragbarkeit in einen allgemeineren, breiteren Rahmen ab. Im einzelnen sind es drei Hauptfragen, die hinter den Beiträgen stehen, zwei davon werden ausdrücklich behandelt, die dritte ergibt sich zwangsläufig aus der Thematik: die Frage nach den Entstehungsursachen

8

des militanten Nationalismus, nach den Umständen, die zu seiner Erhaltung beitragen, und schließlich die Frage nach den Möglichkeiten seiner Eindämmung. Da ein Großteil der nachfolgenden Ausfuhrungen ausdrücklich auf die erste dieser Fragen bezogen ist, begnüge ich mich insoweit mit ein paar zusätzlichen Anmerkungen. Mancher Leser mag den Eindruck gewinnen, die in den Kapiteln 2, 3, 4, und 6 angebotenen Erklärungen zur Entstehung des ethnischen Radikalismus im Baskenland divergierten voneinander, schlössen sich möglicherweise sogar aus. Werden hier nicht historiographische und sozialpsychologische Argumente, akteur- und strukturbezogene Betrachtungsweise miteinander vermengt, mit dem Resultat, daß schließlich eher zuviel als zu wenige Gründe für das Aufbegehren der Basken gegen die Franco-Diktatur zutage gefördert werden? Eine gewisse Plausibilität dieses Einwandes läßt sich nicht bestreiten. Die meisten der genannten Variablen dürften aber unschwer in das am Ende von Kap. 4 vorgestellte Kausalitätsschema einzuordnen sein, wo zwischen drei Verursachungsebenen unterschieden wird: jene, welche die Entstehung einer allgemeinen Unzufriedenheit und Disposition zu abweichendem Verhalten in einer Gesellschaft zum Gegenstand hat; die nächste, wo es darum geht, warum diese Unzufriedenheit sich politisch artikuliert; und schließlich eine dritte, auf der nach den Voraussetzungen der Transformation politischer Proteste in organisierte Gewalt gefragt wird. Dieses Schema hat mehrere Vorzüge: Zum einen ist es sehr weit gespannt, erlaubtsowohl historische Belastungen und Rebellionspotentiale, die aus wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen entspringen, zu erfassen, als auch operationale und taktische Gewaltmechanismen. Damit vermeidet es zugleich eine meines Erachtens wenig fruchtbare Entscheidung zwischen "reaktiven" und "proaktiven" Ansätzen zur Erklärung der Radikalisierung nationalistischer Bewegungen, d.h. es läßt offen, ob der Radikalisierung primär irrationale, den Akteuren selbst nur partiell bewußte Motive zugrundeliegen oder zielbewußtes, zweckrationales Handeln 3 . Beide Verhaltensweisen und Interpretationsmöglichkeiten können in das Schema integriert werden. Dieses greift zudem mit der Hinfuhrung einer Zwischenebene (bezogen auf die Politisierung der Gefühle allgemei9

ner Unzufriedenheit) eine Fragestellung auf, die bisher zu wenig beachtet wurde. Ist es doch keineswegs selbstverständlich, daß Unzufriedenheit zu politischem Protest führt, statt sich ein weniger spektakuläres Ventil in Form gesteigerter Kriminalität, zunehmender Selbstmordraten, Drogensucht, der Vermehrung religiöser Sekten oder ähnlich anomischer Verhaltensweisen zu suchen. Das Phänomen der Persistenz und "Eigendynamik" der Gewalt wird in zwei Beiträgen (Kap. 4 u. 5) angesprochen. Die Ausführungen darüber können dahin zusammengefaßt werden, daß gewaltsames Vorgehen, nach verbreiteter Meinung ein Mittel, das nur zur Erreichung einer sehr begrenzten Zahl von Handlungszielen geeignet ist, eine auffallige Fruchtbarkeit entfaltet. Nicht nur, daß daraus Mythen und Märtyrer, gesellschaftliche Netzwerke und feste Organisationsstrukturen entstehen, die Anschlußzwänge schaffen, d.h. dafür sorgen, daß die Gewaltanschläge fortgeführt werden. Vielmehr geht mit dieser Konsolidierung des Handlungskomplexes Gewalt zugleich seine Lösung von Rechtfertigungszwängen, spezifischen Zielsetzungen, Kontrollerwartungen des gesellschaftlichen Umfeldes und KostenNutzen-Kalkülen einher. Die Gewalt verselbständigt sich sozusagen, rückt von einer dienenden Rolle zum Eigenzweck eines Systems auf, der, nach der für alle soziale Systeme geltenden Grundregel der "conservatio sui", nur aufgehoben werden kann, wenn das ganze System, sprich: der Gewaltverband und seine engere Anhängerschaft, aufgelöst oder zerstört werden. Die zunehmende Desensibilisierung der Gewaltakteure gegenüber dem Schmerz und den Leiden ihrer Opfer und die Selbstverständlichkeit, mit der sie vom ursprünglichen "Befreiungsterrorismus" später zum "Unterdrückungsterror" übergehen, gehören zu den deprimierendsten Erfahrungen des Forschers, der sich mit Organisationen wie der ETA befaßt. Kann diesem mörderischen Treiben ein Ende gesetzt werden? Zu diesem dritten Fragekomplex enthält nur Kap. 5 im Schlußteil einen Hinweis, weshalb hier etwas ausführlicher darauf eingegangen werden soll. Daß die ETA mittlerweile von einem Protagonisten des baskischen Nationalismus zu einer Belastung für diesen geworden ist, dieses Fazit teilen die gemäßigten Nationalisten mit den Extremisten, die die staatsrechtliche Unabhängigkeit für die kleine Region anstreben 4 . Große Demonstrationen 10

1988 und Anfang 1989 haben die verbreitete Friedenssehnsucht der baskischen Bevölkerung dokumentiert und ihren wachsenden Widerwillen gegen die Anmaßung der ETA, über Tod und Leben der Bürger zu entscheiden. Wie aber kann dieser Befriedungswunsch verwirklicht werden, wenn der Gewaltorganisation nach jedem erfolgreichen Schlag der Sicherheitskräfte gegen sie, einer Hydra gleich, neue "Arme" und "Köpfe" nachwachsen; wenn die Aushebung ihrer Zellen und Schlupfwinkel stets erneute, eher noch brutalere Anschläge nach sich zieht? Mit einer plötzlichen und definitiven Einstellung der Gewaltaktionen der ETA kann in der Tat schwerlich gerechnet werden. Eine Beendigung der terroristischen Anschläge wird allenfalls als Resultat einer langfristig angelegten Deeskalierung des ethnischen Konfliktes eintreten. Aus dieser meiner These folgt zugleich, daß man auf taktische Maßnahmen der Regierung gegenüber dem Gewaltverband, sei es vermehrter Druck oder seien es Zugeständnisse, keine allzu großen Hoffnungen setzen sollte 9 . Zusätzliche Kontrollmaßnahmen wie etwa die Verschärfung der Gesetze gegen den Terrorismus, die Aufkündigung des politischen Asylrechts für die im Süden Frankreichs lebenden Etarras oder eine verstärkte Polizeipräsenz im Baskenland mögen zwar den Operationsspielraum der ETA einengen und diese in ernsthafte Bedrängnis bringen. Sie werden ihr aber nicht jegliche Möglichkeit nehmen können, ihre Existenz durch weitere Gewalttaten öffentlich zu demonstrieren. Im Zweifel ist aufgrund der angeschlagenen Infrastruktur des Verbandes und der damit reduzierten Fähigkeit zu sorgfältiger Planung der Anschläge lediglich damit zu rechnen, daß diese unpräziser durchgeführt werden als früher und die Zahl der Opfer entsprechend steigt. Gewalt ist eben, was Politiker und Sicherheitsbehörden bisweilen vergessen, ein praktisch für jedermann verfügbares Druck- und Durchsetzungsmittel, dessen Anwendung im Rahmen eines demokratischen Staatswesens nicht generell unterbunden werden kann. Von daher stellt die Verstärkung des Kontrolldrucks auf eine radikale Organisation - die seit 1988 sich häufenden Autobomben-Attentate im Baskenland zeigen dies eindrücklich - stets ein zweischneidiges Schwert dar.

11

Auf der anderen Seite haben auch Gespräche und Verhandlungen von Regierungsbeauftragten mit der ETA, von denen sich viele einen Ausweg aus der Sackgasse der Gewalt versprachen, nicht den erhofften Erfolg gezeitigt. Die ernüchternde Erfahrung, daß ein Eingehen auf die Terroristen und ihre Vorstellungen letztlich ergebnislos bleibt, steht durchaus in Einklang mit den Erfahrungen, die man in anderen Ländern - etwa in Nordirland oder in El Salvador - gemacht hat. Stets hat sich gezeigt, daß die Rebellen derartige Gesprächsangebote nicht als eine Geste der Großzügigkeit interpretieren, wie sie das Regierungslager verstanden wissen möchte, sondern als Beweis für den Erfolg der bewaffneten Aktionen, die den Staat an den Verhandlungstisch "gezwungen" hätten. Warum sollten Aufständische jedoch eine Strategie des bewaffneten Kampfes just dann aufgeben, wenn diese Strategie erste Früchte zu tragen scheint, sich eine gewisse Kompromißbereitschaft des Gegners abzeichnet? In letzter Instanz steht das Selbstverständnis der ETA-Führung, sie sei die Vorhut eines zu errichtenden Gegenstaates 6 , jeder gütlichen Einigung mit der Regierung im Wege. Denn zwischen zwei Parteien, von denen jede für sich das staatliche Alleinvertretungsrecht in Anspruch nimmt - die eine im Namen des bestehenden, die andere im Namen des künftig zu schaffenden Staates -, kann es keinen Kompromiß, keine friedliche Verhandlungslösung geben. Damit soll weder gesagt werden, man soll die ETA frei gewähren lassen, nicht gegen sie einschreiten und die Aktivisten nicht verfolgen, noch daß es besser wäre, die Gespräche mit der Untergrundorganisation abzubrechen, weil sie ohnehin erfolglos blieben. Beide Vorgehensweisen haben ihre Berechtigung, sie können dazu beitragen, einzelne Terroristen unschädlich zu machen oder aus dem Gewaltverband herauszulösen, können die vorübergehende oder längerfristige Unterbrechung der Gewalttaten und damit die Schonung von Menschenleben bewirken. Doch sollte man nicht vergessen, daß sie nicht zu einer endgültigen Bereinigung des Konfliktes geeignet sind. Dessen Lösung ist, falls überhaupt, nur als Ergebnis längerfristiger Strukturmaßnahmen zu erwarten, durch welche die ETA von ihren gesellschaftlichen Muttergruppen abgeschnitten wird. Bei der Frage, wo diese Strukturmaßnahmen ansetzen müßten, sind zwei Einsichten zu berücksichtigen. Zum ersten gilt es zu bedenken, daß 12

Militanz und Radikalismus nicht vom überbordenden Selbstbewußtsein einer ethnischen Gruppe zeugen, sondern eher von Gefühlen der Verunsicherung und Bedrohung. In die Sprache des sogenannten Ressourcenansatzes 7 übersetzt: Da Gewalt die typische Ressource einflußloser, anderer Durchsetzungsmittel barer Gruppen darstellt, läßt ihre Anwendung im Regelfall nicht auf Ressourcenüberfluß, sondern im Gegenteil auf Ressourcenmangel schließen. Folglich ist nicht von der vermehrten Kontrolle und weiteren Schwächung einer auf Gewalt rekurrierenden Gruppe ein Befriedungseffekt zu erwarten, sondern im Gegenteil, wenn es gelingt, deren Selbstbewußtsein und Selbstbehauptungskraft durch eine großzügigere Ressourcenausstattung zu stärken. "Ressource" darf dabei nicht nur im materiellen Sinn verstanden werden, sondern umfaßt auch legislative und administrative Kompetenzen, die Absicherung des

demographischen

Übergewichts in einer Region, kurz alles, was geeignet ist, die in ethnischen Gruppen stets vorhandene Sorge um die Erhaltung ihrer kollektiven Identität zu beschwichtigen. Allerdings ist zweifelhaft, ob Zugeständnisse an die Autonomieforderungen einer ethnischen Gruppe allein hinreichen, um Radikalisierungstendenzen in ihr wirksam entgegenzutreten. Falls die Spannungen zwischen ihr und der Zentral regierung bzw. der Mehrheit schon eine längere geschichtliche Tradition haben, ist daraus ein prinzipielles Mißtrauen des schwächeren Teils gegenüber der anderen Seite erwachsen, das bei jeder wirklichen oder vermeintlichen Diskriminierung wieder auflebt. Um die bei diesen Anlässen sich stets aufs neue herausbildende ethnische Solidaritätsfront aufzubrechen, bedarf es, und dies wäre die zweite Einsicht, der Einführung einer zusätzlichen Konfliktachse, welche die im kollektiven Bewußtsein tradierten, eingefahrenen Konfrontationsmuster durchkreuzt und relativiert. In Bezug auf das spanische Baskenland lassen sich die aufgezeigten strukturellen Befriedungsbedingungen - Stärkung des ethnischen Selbstbewußtseins durch "Ressourcenzufuhr"; Eröffnungeinerzusätzlichen Konfliktfront - am besten durch die Übertragung zusätzlicher Kompetenzen und Mittel auf die Region und die systematische Aufwertung ihrer politischen Vertretungsorgane schaffen. Wichtig wäre es, das politische System der 13

"Autonomen Gemeinschaft" mit all jenen Institutionen auszustatten, die aus symbolischer politischer Repräsentation reale Herrschaft werden lassen: Mit einer eigenen Sicherheits- und Kriminalpolizei, eigenen (oder zumindest mit Basken besetzten) Behörden der Staatsanwaltschaft, Gerichten, Strafvollzugsorganen. Solchermaßen mit einer gesteigerten Durchsetzungskraft versehen, könnte sich die baskische Regierung und Verwaltung wirkungsvoller als bisher in die bipolare Spannungsbeziehung: Madrid • radikal nationalistisches Lager einschalten. Daß sie dies tun würde, also nicht zögern würde, mit der erforderlichen Härte gegen die Untergrundorganisation vorzugehen, die ihre staatliche Souveränität auf dem baskischen Q

Territorium infrage stellt, dafür sprechen historische Präzedenzfälle . Die ETA und ihre Anhängerschaft sähen sich nicht mehr nur mit der spanischen Zentralregierung konfrontiert, sondern müßten sich vermehrt mit den gemäßigten, die Regierung stellenden politischen Kräften im Baskenland auseinandersetzen. Alle in vergleichbaren Fällen gesammelten Erfahrungen deuten indes darauf hin, daß es politischen Rebellen weit schwerer fallt, Beifall für Anschläge auf eigene Landsleute in politischadministrativen Schlüsselpositionen zu finden als für Angriffe gegen Vertreter einer "fremden" Staatsmacht (hier: der Madrider Regierung) 9 . Ein unvermindert hartes Vorgehen gegen die Mitglieder der eigenen Ethnie könnte die allmähliche Entfremdung des radikalen Kerns der Nationalisten von breiteren Bevölkerungssegmenten, d.h. schließlich die Isolierung der Gewaltorganisation von ihren gesellschaftlichen Muttergruppen, und damit ihre "Austrocknung" bewirken. Um diese Entwicklung herbeizuführen, bedürfte es jedoch einer ebenso raschen wie entschiedenen Änderung der traditionell mißtrauischen Haltung Madrids gegenüber der politischen Führung des Baskenlandes. Wenngleich es seit einiger Zeit unübersehbare Anzeichen für einen solchen politischen Kurswechsel der Zentralregierung gibt, vollzieht er sich doch nur zögernd und langsam. Deshalb ist damit zu rechnen, daß die "Solidaritätsfalle", die alle Basken im Falle eines repressiven Übergriffs der zentralen Sicherheitsbehörden an die militant nationalistische Bewegung bindet, noch geraume Zeit intakt bleiben, die Schraube von Gewalt und Gegengewalt sich weiter drehen wird. 14

2.

Baskischer und katalanischer Nationalismus in historischer Perspektive

2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5• 2.6.

Problemstellung Entstehung des Nationalismus in Katalonien Entstehung des Nationalismus im Baskenland Sprach- und Einwanderungsproblematik Entwicklung und Erfolg bis zur Franco-Zeit Widerstandsformen gegen das Franco-Regime

17 20 28 39 43 49

2.

Baskischer und katalanischer Nationalismus in historischer Perspektive1

2.1. Problemstellung Lange stand die Autonomiebewegung der baskischen Provinzen Spaniens im Schatten des viel mächtiger und selbstbewußter sich entfaltenden Nationalismus in Katalonien. S. Payne betont in seinem Standardwerk über Ursprung, Entstehung und Entwicklung der nationalistischen Strömungen in beiden Regionen wiederholt, die Manifestationen eines eigenen nationalen Willens und einer eigenständigen Kultur seien zwischen 1880 und 1930 im Baskenland zaghafter, gekünstelter, schwächer gewesen als in dem Raum südlich der Ostflanke der Pyrenäen2. In jüngerer Zeit haben die zwei Bewegungen jedoch ihre Rollen vertauscht. Seit zwei Jahrzehnten treten die für vermehrte regionale Unabhängigkeit plädierenden Gruppen im Baskenland viel radikaler auf als dies ihre katalanischen Gesinnungsgenossen tun, sie stellen weiterreichende Forderungen an die Madrider Zentralregierung und pochen hartnäckiger auf deren Erfüllung als jene. Die entscheidende Phase dieses Rollentausches fallt in die zweite Hälfte des Franco-Regimes. Er dürfte in einem engen Zusammenhang mit der Reaktion beider Regionen auf die Politik der Unterdrückung kultureller Minderheiten stehen, die unter der Diktatur mit großer Unnachsichtigkeit betrieben wurde. Sowohl in Katalonien als auch im Baskenland waren es vor allem Intellektuelle aus der Mittelschicht, die sich zunächst gegen diesen Nivellierungsdruck auflehnten. Beide Volksgruppen erlebten in den 60er Jahren eine Art kultureller Renaissance. Auch die breite Bevölkerung ließ sich trotz der konsequenten Verfolgung aller Äußerungen ihrer kulturellen Besonderheit durch die staatlichen Sicherheitsbehörden in ihrer Loyalität gegenüber der eigenen Ethnie nicht irre machen. Sie praktizierte in beiden Regionen eine (z.B. in hohen Enthaltungsraten bei Wahlen sich niederschlagende) Strategie passiver Verweigerung gegenüber dem Zentralstaat, die zuweilen von ebenso plötzlichen wie vehementen Formen aggressiven Unmuts wie Streiks, Boykotts und Massendemonstrationen abgelöst wurde. In den baskischen Provinzen geschah

aber noch mehr. Dort entstand Ende der 50er Jahre eine Untergrundorganisation, die der Diktatur gewaltsam die Stirn zu bieten beschloß. Das Selbstbewußtsein, das die Mitglieder, Helfer und Anhänger dieser Organisation, der ETA, aus dem Mut zum bewaffneten Kampf gegen das übermächtige Regime schöpften und der Beitrag ihrer Gewaltaktionen zur allmählichen Ablösung der Diktatur (es sei nur an die Ermordung Carrero Blaticos, des designierten Nachfolgers von Franco, durch die ETA Ende 1973 erinnert) bilden sicher ein wesentliches Motiv für die seitdem merklich gestiegene Militanz der baskischen Unabhängigkeitsbewegung. Warum aber nahm gerade der Widerstand der baskischen Patrioten gegen die Franco-Herrschaft gewaltsame Formen an, und nicht der Widerstand der nicht minder nationalistisch gesinnten Katalanen^? Die Beantwortung dieser Frage steht im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Sie stellt sich umso dringlicher, als beide ethnische Minderheiten eine Reihe von Merkmalen teilen, die durchaus eine ähnliche Reaktion auf eine Existenzbedrohung, wie sie von der zentralistischen Diktatur ausging, erwarten ließ. Im restlichen Teil dieser Einführung sollen kurz die wichtigsten dieser historischen und strukturellen Gemeinsamkeiten der zwei Volksgruppen und Regionen aufgezählt werden. In den weiteren Abschnitten wird dann versucht, die Unterschiede zwischen ihnen herauszuarbeiten. Da sich die meisten dieser Unterschiede bereits vor der Franco-Zeit herausgebildet haben, wird dabei vor allem auf die Geschichte der beiden Nationalbewegungen einzugehen sein. Ein Teil der gemeinsamen Merkmale der beiden ethnischen Minderheiten leitet sich aus der Natur ihres Volkstums her oder ist historisch bedingt. Ihre Geschichte reicht jeweils weit in die Vergangenheit zurück, bei den Katalanen bis ins frühe Mittelalter, bei den Basken, deren Herkunft immer noch ungeklärt ist, bis in die europäische Prähistorie. Wichtigster Ausdruck der eigenständigen Kuiturtradition ist jeweils die vom Spanischen sich abhebende Sprache, daneben ein besonderes Brauchtum und, teilweise bereits verschüttet, besondere gewohnheitsrechtliche Regelungen und Institutionen. Katalanen und Basken teilen das Schicksal, nicht in einem einzigen Territorialstaat vereint zu sein; eine "Minderheit innerhalb der Minderheit" (jeweils mehrere Hunderttausende) ist auf den Abhängen und 18

anschließenden Ebenen der anderen, nördlichen Seite der Pyrenäen angesiedelt, untersteht also dem französischen Staat. Die Parallelen erstrecken sich weiter auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der zwei Gebiete. Die Industrialisierung, deren Anfänge in Katalonien ins 18. Jahrhundert zurückreichen, wurde in ihnen schon zu einem für Spanien relativ frühen Zeitpunkt, gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, zur treibenden Kraft wirtschaftlicher Dynamik. Aufgrund sukzessiver, den Umbruchprozeß vertiefender Industrialisierungsschübe bildete sich dort erstmals in Spanien, gleichsam inselhaft, die charakteristische Schichtstruktur der modernen Industriegesellschaft heraus 4 : eine breite, vorwiegend aus Industriearbeitern bestehende Unterschicht, ein sich aus heterogenen "alten" und "neuen" Elementen, insbesondere Handwerkern, kleinen Geschäftsleuten, qualifizierten Facharbeitern und Technikern, Angestellten und Freiberuflichen zusammensetzende Mittelschicht, und eine kleine Oberschicht, in der den dynamischen Kräften des industriellen Unternehmertums und des Banksektors großer Einfluß zukommt. Der weit die Lebensverhältnisse im übrigen Spanien hinter sich lassende hohe Einkommensdurchschnitt in diesen Regionen und die dort beizeiten sichtbar werdenden Ansätze einer modernen Konsumgesellschaft ließen sie bald zu Anziehungspunkten der innerspanischen Wanderung werden. Der Zuzug von Spaniern aus dem Süden und Südwesten der Halbinsel nach Katalonien und ins Baskenland begann schon im vorigen Jahrhundert, ebbte dann vorübergehend ab und erreichte während der Franco-Herrschaft, vor allem nach i960, Rekordmarken. Beide regionale Minderheiten haben schließlich auch ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zum spanischen Staat: Sie dringen auf der einen Seite unter Berufung auf ihr kulturelles Sondererbe auf mehr Unabhängigkeit, vollziehen also eine Bewegung fort vom Zentralstaat, wollen aber andererseits ihre wirtschaftlichen Privilegien gewahrt wissen, was ihren Einschluß in die nationalstaatliche Gemeinschaft voraussetzt. Jahrhundertelang befanden sie sich gegenüber der kastilischen Sprache und Kultur sowie dem seine Kompetenzen ausweitenden Regierungszentrum in Madrid in der Defensive. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts schlug das Pendel jedoch zurück. Der Wiederbelebung der katalanischen 19

Sprache und Kultur und der eng damit verbundenen Entstehung einer auch politisch sich artikulierenden nationalistischen Strömung folgte im Abstand von einigen Jahrzehnten die Gründung einer baskischen Parallelbewegung. Die Gründe für diese vonJ. Linz als "später peripherer Nationalismus gegen einen früh erbauten Staat" apostrophierte Entwicklung sind vielfältig5; sie hing vor allem mit der Schwächung des spanischen Staates im 19. Jahrhundert durch Bürgerkriege, eine korrupte, ineffiziente Verwaltung und den Verlust der letzten Überseekolonien zusammen. Beide Nationalbewegungen konnten sowohl innerhalb der Region immer mehr Anhänger gewinnen als auch ihren gesamtspanischen Einfluß kontinuierlich ausweiten. Sie erreichten in der 2. Republik die Anerkennung ihrer Sondersituation durch ein Autonomiestatut und erwiesen sich weitgehend immun gegenüber dem anschließenden Versuch Francos, nach der Revision dieser Zugeständnisse dem Eigenleben der kulturellen Minderheiten im spanischen Staat ein für allemal ein Ende zu bereiten. Als Folge der wechselnden politischen Konstellationen und Druckverhältnisse bildete sich sowohl in Katalonien als auch in den baskischen Provinzen eine sehr vitale, vom politischen Überbau weitgehend abgekoppelte zivile Gesellschaft heraus, was nicht ausschließt, daß die Bevölkerung beider Regionen zugleich ein für spanische Verhältnisse überdurchschnittlich waches und kritisches politisches Bewußtsein hat.

2.2. Entstehung des Nationalismus

in Katalonien

Es ist wiederholt auf eine auffällige Parallele zwischen dem Aufkommen nationalistischer Strömungen und Ideen, und dem Aufstieg des Bürgertums zu Macht und Einfluß hingewiesen worden 6 . Diese Verbindung ist nicht universell, für die kleinen, teilweise lange unterdrückten Völker Europas, insbes. Osteuropas, wurde von Hrocb die Rolle der Bourgeoisie bei der Entstehung des Nationalismus relativiert7. Im Falle Kataloniens trifft die aufgewiesene Regel aber uneingeschränkt zu, die Renaissance des Katalanismus als eigenständige Kultur- und Regionalbewegung stand in

20

einem untrennbaren Zusammenhang mit der zunehmenden wirtschaftlichen und machtpolitischen Bedeutung der lokalen Bourgeoisie. Wie zuweilen behauptet wird, war der Boden für einen Aufschwung des Bürgertums schon durch einen bis zum frühen Mittelalter zurück verfolgbaren "protobürgerlichen" Zug der katalanischen Gesellschaft - ihre relative Offenheit, die Wertschätzung von Pragmatismus und Individualismus - vorbereitet worden 8 . Es bedurfte aber zusätzlich einiger entscheidender wirtschaftlicher Reformmaßnahmen der Krone im 18. Jahrhundert, damit sich aus den Reihen der Bauern und Handwerker eine neue Unternehmerschicht herausbilden konnte, die in der - im Schatten der Entstehung des spanischen Großreichs - zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert verkümmerten, in ständischen Strukturen verkrusteten Region eine Phase raschen wirtschaftlichen Wachstums einleitete^. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden in der Landwirtschaft erhebliche Produktionsfortschritte erzielt (vor allem beim Weinanbau, aber auch bei Früchten und Getreide) und es entstand zugleich in den Städten des Principats (dies ist die gebräuchliche Bezeichnung für die vier Provinzen Barcelona, Tarragona, Lérida und Gerona), vor allem in Barcelona, eine schnell aufblühende Textilindustrie. Die katalanischen Spinnereien und Tuchfabriken eroberten bald den innerspanischen Markt und zogen darüber hinaus erheblichen Gewinn aus dem Export ihrer Waren in die verbliebenen überseeischen Kolonien des ehemaligen Weltreiches, vor allem nach Kuba und Puerto Rico. Die mit Unterbrechungen anhaltende expansive Entwicklung der Textilindustrie während des 19- Jahrhundert, der sich später, wenngleich in wesentlich kleineren Dimensionen, Unternehmen der Chemie- und Elektrobranche zugesellten, führte zur Konzentration großer Vermögen in den Händen einer Gruppe von Familien, ließ aber auch die Region als ganze zur wohlhabendsten, am weitesten auf dem Weg zur Modernisierung fortgeschrittenen von Spanien werden 10 . Dies läßt sich an mehreren Indikatoren ablesen.

21

Tabelle 1: Verteilung der Erwerbstätigkeit auf ausgewählte Wirtschaftssektoren Landwirtschaft

Industrie m.Handw.

Landwirt-

Industrie

schaft 1920

1877 Barcelona

34

37

14

53

Katalonien

58

35

38

Spanien (ohne Kat.)

72

23 11

66

15

Tabelle 2: Analphabeten (in Prozent der Bevölkerung) 1860

1877

1900

1920

Barcelona Katalonien

72,6 78,9

64.2 73,5

54,2

31,6

61,2

Spanien

75,7

72,0

63,8

41,1 52,4

Tabelle 3- Anteil Kataloniens am industriellen Steueraufkommen Spaniens 1856 Textil Gesamt Katalonien

66

40

(davon) Barcelona

59

32

1887 Text il Gesamt

72

33 28

1918 Text il

Gesamt

88

42

78

35

Quelle (für Tab. 1, 2, 3): Brunn, G.: Regionalismen und sozialer Wandel: das Beispiel Kataloniens, in: Dann, O. (Hrsg.): Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978, S. 157ff. Es wäre zu erwarten gewesen, daß die katalanische Bourgeoisie, der dieser Modernisierungsschub größtenteils zuzuschreiben war, nach der Industrialisierung der eigenen Region versuchen würde, durch Investitionen und Gründungen von Zweigniederlassungen auch in anderen Teilen Spaniens wirtschaftlich Fuß zu fassen. Dieser Versuch wurde jedoch nicht 22

unternommen; nur wenige katalanische Unternehmen erreichten die Dimension eines auf gesamtspanischer Ebene operierenden Großkonzerns, charakteristisch für die Region blieb der Mittelbetrieb in Familienbesitz, der eine bestimmte Expansionsschwelle nicht überschritt und hinsichtlich Finanzierungsquellen und Einzugsbereich für Arbeitskräfte fest in seinem lokalen Ursprungsmilieu verhaftet blieb. Gleiches gilt für die katalanischen Banken und Sparkassen, die sich ebenfalls weitgehend mit einem regional begrenzten Wirkungsfeld begnügten, weshalb sie allmählich von den dynamischeren baskischen und Madrider Banken überrundet und in die Defensive gedrängt wurden. 1 1 Auf der politischen Ebene machte die Elite Kataloniens hingegen wiederholt ihren Einfluß geltend, um Spanien auf den Weg einer föderalistisch-republikanischen Verfassungsordnung zu bringen (z.B. 1873 und 1898). Als diese Bemühungen jedoch scheiterten, zog sie sich auf die eigene Region zurück, von der aus sie, wie von einer Bastion, ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen verteidigte. 12 Verzichtete die katalanische Bourgeoisie auf Expansion in den gesamtspanischen Raum hinein, so formte sie dafür die eigene katalanische Gesellschaft umso nachhaltiger in ihrem Sinne. Die prägende Kraft ihrer Prinzipien und ihres Schaffens beschränkte sich nicht auf das urbane Zentrum von Industrie und Kunst, Barcelona, sondern durchdrang auch das dünner besiedelte Hinterland, bis hinauf zu den Pyrenäen, dessen Bevölkerung bis weit ins 19- Jahrhundert hinein noch sehr katholisch-konservativ war. Hansen hat in einer gelungenen Studie über die Situation einer ländlichen Gemeinde unter Franco sehr überzeugend beschrieben, wie sich beispielsweise die rabassaires, die Pächter von Weinbergen, nahtlos in das bürgerliche Wertsystem von Besitzerweiterung und sozialem Aufstieg einfügten 13 . Die wichtigsten dieser Werte und Eigenschaften wie: Arbeitsbereitschaft, das Streben nach Eigentum und Besitz, Pragmatismus, Formalismus, ein nüchternes Abwägen von Handlungsalternativen, das Akzeptieren freiwilliger Bindungen und Verträge sowie generell die Neigung zum Paktieren und zum Kompromiß, verloren bald die Konnotation spezifisch bürgerlicher Züge und wurden zu allgemein akzeptierten Kennzeichen der Denk- und Wesensart des Katalanen. Bestimmte Institutionen wie das hereu-pub///«-Syste m (ein im Rahmen der Heirat des bzw. der Erstgebore23

nen einer Familie abgeschlossener Erbvertrag) oder das Clubwesen breiteten sich, ausgehend vom Bürgertum, über sämtliche soziale Schichten aus und wurden damit zu wichtigen Integrationsklammern der katalanischen Gesellschaft 14 . Der Katalanismus, die Wiederentdeckung der lange Jahrhunderte vernachlässigten katalanischen Sprache, Geschichte und Bräuche, ist in diesen Kontext des wachsenden Selbstbewußtseins eines zu wirtschaftlichem Einfluß gelangten Bürgertums einzuordnen, das auf der Suche nach Formen des künstlerisch-ästhetischen Ausdrucks, die seinem Lebens- und Stilgefühl entsprechen, die alte Regionalkultur wiederentdeckt. In der Entwicklung des Katalanismus werden im allgemeinen zwei Phasen unterschieden: Die Phase der kulturellen Renaixen^a im engeren Sinn, die sich über die zweite Hälfte des 19- Jahrhunderts erstreckte, und, daran anschließend, eine zweite Phase, in der die nationalistischen Forderungen einen politischen Akzent erhielten. Während der ersten Phase stand im Mittelpunkt der Bewegung die Erforschung und Wiederbelebung der katalanischen Sprache, die, vom Kastilischen als Sprache der Gebildeten und Mächtigen zurückgedrängt, sich nur in einigen bäuerlichen Gegenden des Principáis rein erhalten hatte 15 . Neben die philologische Beschäftigung mit dem Katalanischen trat schon früh der Versuch, es für künstlerische Neuschöpfungen zu verwenden. 1833 erschien die erste katalanische Ode, die Bewunderung fand und zur Nachahmung anspornte. Die Wiedereinführung der seit dem Mittelalter in Vergessenheit geratenen Dichterwettbewerbe, der Joes Florais (ab 1858), trug ebenso zur raschen Verbreitung des Katalanischen bei wie die Aufführung von populären Theaterstücken in katalanischer Sprache. In dem Bemühen, für die katalanische Sprache und Kultur wieder breitere Bevölkerungsschichten zu erschließen, arbeiteten Künstler und Intellektuelle (Pfarrer, Lehrer, Wissenschaftler), das Bildungsbürgertum (Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten) und das Besitzbürgertum eng zusammen, eine Allianz, die sich auch in späteren, für die Nationalbewegung schwierigen Jahren bewähren sollte. Die von Schriftstellern und Gelehrten ausgehenden Impulse wurden von den beiden anderen Gruppen aufgegriffen, popularisiert, in einen repräsentativen Rahmen gefaßt. In den Jahr24

zehnten der Renaixenqa verwandelte sich Barcelona in eine moderne Weltstadt mit ansehnlichen Bauten und schönen Plätzen, die sich 1888 mit einer Weltausstellung einem internationalen Publikum vorstellte. Ohne öffentliche Unterstützung, allein dank privater Initiative, wurden zahlreiche kulturelle und wissenschaftliche Einrichtungen ins Leben gerufen (u.a. Industrieinstitute, polytechnische Ausbildungsstätten, die Oper, der Musikpalast, das Atheneum) und es entstand, ebenfalls unter entscheidender Mitwirkung der Bourgeoisie, jenes dichte Geflecht von Clubs und Vereinen, das seitdem nicht mehr aus der katalanischen Gesellschaft fortzudenken ist: Geschichtsvereine, Ausflugsgesellschaften, Gesangs-, Tanz-, Folklore- und Sportgruppen usf. Ab 1880 sorgte auch eine in wachsenden Auflagezahlen erscheinende katalanische Presse für die kontinuierliche Ausweitung der katalanischen Kulturgemeinschaft16. In der zweiten Phase, nach 1900, gewann die katalanische Kulturbewegung dann eine zusätzliche politische Dimension: sie mündete in den Anspruch auf Abtretung bestimmter Kompetenzen und Rechte durch den Zentralstaat an die Region, d.h. in die Forderung nach einer gewissen Autonomie. Auch bei der Artikulation dieses Anspruchs nahm das Bürgertum zunächst eine führende Position ein. Es mußte seine Sprecherrolle für die regionale Bewegung aber bald an die mittlere und untere Mittelschicht abgeben, da sich herausstellte, daß es das Anliegen einer vermehrten Eigenständigkeit gegenüber Madrid nur mit mäßigem Elan verfocht 17 . Dies lag zum einen daran, daß die Bourgeoisie zu keinem Zeitpunkt die Bedeutung des gesamtspanischen Marktes für den Absatz ihrer Textilprodukte aus dem Auge verlor (eine Einschätzung, in der sie übrigens von den anderen sozialen Schichten unterstützt wurde - aus diesem Grund wurde in Katalo1 ft

nien nie ernsthaft über eine völlige Trennung von Spanien diskutiert). Wichtiger noch für die nach 1900 periodisch zutagetretende Neigung der katalanischen Unternehmer, den Kompromiß mit der Zentralregierung zu suchen, war das Aufkommen einer starken Arbeiterbewegung, die von den begüterten Schichten als Bedrohung empfunden wurde. Die katalanischen Arbeiter, die bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt großenteils aus Zuwanderern aus dem Süden Spaniens bestanden, waren bis zur Mitte des 19- Jahrhunderts wenig aufgeschlossen für radikale, 25

Sozialrevolutionäre Ideen 19 . Einer alten katalanischen Tradition folgend, bemühten sie sich zunächst, ihr Los durch eigene Anstrengungen zu verbessern. Sie schlössen sich zu Selbsthilfevereinen zusammen, gründeten Genossenschaften, Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit, Vereine, die der Fortbildung und Zerstreuung dienten. Das lange Zeit konsequent durchgesetzte Organisationsverbot, die rücksichtslose Unterdrükkung von Streiks sowie die bis 1890 geltende Begrenzung des Wahlrechts auf die Besitzenden stachelten die Arbeiter aber zu vermehrter Militanz an und ließen sie in spontanen Gewaltaktionen (soweit sie organisiert waren, gehörten sie überwiegend der anarcho-syndikalistischen CNT an) 2 0 einen Ausgleich für die ihnen vorenthaltene politische Partizipation suchen. Mehrere Erhebungen im 19- Jahrhundert und blutige Auseinandersetzungen zu Anfang dieses Jahrhunderts, die ab 1919 in von Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerseite systematisch geschürten Terror ausarteten, vermittelten der Bourgeoisie den Eindruck einer unmittelbar bevorstehenden Revolution, vor der sie Schutz bei den Sicherheitskräften des Zentralstaates suchte. Angesichts dieser Bereitschaft der Bourgeoisie, in kritischen Situationen mit der Zentralregierung zu paktieren, wurde bisweilen behauptet, ihr Einsatz für die Sache des Katalanismus sei nicht ernst zu nehmen . Das Engagement für die kulturellen und politischen Belange der Region habe ihr nur als Vorwand und Mittel gedient, um die Arbeiterschaft unter Berufung auf die gebotene Solidarität aller Katalanen gefügig zu machen und ihre Forderungen abzuschwächen. Diese Sichtweise ist zu undifferenziert, um der komplexen Verschränkung zwischen regionalem Standpunkt und Klasseninteresse im Handeln der Bourgeoisie gerecht zu werden. Tatsächlich ist der nationalistische Aufbruch älteren Ursprungs als der Beginn der durch die Industrialisierung bedingten Klassenspannungen; dementsprechend lag die Identifizierung des Bürgertums mit der regionalen Bewegung zeitlich vor seiner Abwehrreaktion gegen die erstarkende Arbeiterschaft. Zwar läßt sich nicht verkennen, daß der Sozialkonservativismus der Bourgeoisie von einem bestimmten Zeitpunkt an ihrem Eintreten für die katalanischen Belange im Wege stand, wie sie sich überhaupt ab 1870 aus einer wagemutigen, progressiven regionalen Führungselite, einer

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bourgeoisie conquérante2*, in ein ängstlich ihr Patrimonium verteidigendes, vor jeder Strukturänderung zurückschreckendes Establishment verwandelte. Doch blieb von diesem Wandel der Aufschwung der Nationalbewegung unberührt. Denn inzwischen hatte der von der bürgerlichen Oberschicht ausgehende Prozeß der Rekatalanisierung der Gesellschaft auch andere Schichten erfaßt; er war nicht mehr an die Initiative der ursprünglichen Trägergruppe gebunden, sondern entfaltete eine eigenständige, nach und nach sämtliche Gruppen Kataloniens einschließende Dynamik 2 '. Von einem etwas allgemeineren Standpunkt her betrachtet, begründen die beiden für die katalanische Gesellschaft konstitutiven Konfliktachsen: zum einen der Klassenkonflikt, zum anderen das quer dazu liegende Spannungsverhältnis der Region gegenüber dem Zentralstaat,eine prekäre Gleichgewichtslage24. Normalerweise wirkten die zwei Reibungsquellen aufeinander dämpfend ein und balancierten einander teilweise aus. Es gab aber auch wiederholt Fälle, in denen der Bremseffekt der nach außen gerichteten Abwehrhaltung gegenüber der Zentralregierung auf die internen Klassenauseinandersetzungen versagte (z.B. nach dem Ersten Weltkrieg) und letztere ein selbstzerstörerisches Avismaß annahmen. Die Auswirkungen des eben skizzierten Criss/Cross sind vielfältig und bedeutend. Zum ersten ist es einer der Hauptgründe für die (verglichen mit den Basken) geringere Aggressivität des katalanischen Nationalismus. Zweitens hat die enge Verquickung der beiden Konfliktachsen allmählich zu ihrer wechselseitigen Durchdringung geführt, ohne sie freilich als solche aufzuheben. In diesem Sinne ist es etwa bezeichnend, daß sich mittlerweile sämtliche Parteien Kataloniens, rechte wie linke, primär als Regionalparteien verstehen. Verleiht das Ineinandergreifen von Regionalkultur und Schichtstruktur einerseits der katalanischen Gesellschaft eine gewisse Stabilität und ein starkes Selbstbewußtsein, so muß man doch andererseits sehen • und dies wäre eine dritte Auswirkung -, daß der mühsame Prozeß des Ausbalancierens der beiden Spannungsquellen gewisse Selbstlähmungstendenzen des katalanischen Sozialgefuges zur Folge hat, wenngleich Katalonien immer noch zu den dynamischsten Regionen Spaniens zählt 25 .

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Fassen wir die wichtigsten Ergebnisse dieses Abschnittes zusammen: 1. Zentrale Trägergruppe des Katalanismus in seiner Entstehungsphase war das Besitz- und Bildungsbürgertum, unterstützt von Künstlern und Intellektuellen. Später, als die Bewegung politische Formen annahm, wurde die Großbourgeoisie als Führungskraft durch kleinbürgerliche Gruppen abgelöst; doch zu keinem Zeitpunkt verlor der Katalanismus die ihm bei seiner Wiedergeburt mitgegebene bürgerlich-intellektuelle Prägung. 2. Aufgrund ihres großen wirtschaftlichen und sozialen Einflusses vermochte die Bourgeoisie den Katalanismus zu einer breiten Volksbewegung zu machen. 3. Wichtigster Ausdruck der Eigenständigkeit der katalanischen Kultur war von Anfang an die Sprache, daneben die Geschichte der Region und das Bewußtsein eines eigenen Volkscharakters, einschließlich bestimmter Persönlichkeitsmerkmale. Darüber hinaus wurde die Idee des Katalanismus von den verschiedenen sozialen Schichten mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt, wobei jedoch die progressiven Akzente (die Forderungen nach Modernisierung, Liberalisierung, Demokratisierung, nach einer republikanisch-laizistischen Gesellschaft) im allgemeinen im Vergleich zu rückwärts gerichteten, die Vergangenheit verklärenden Vorstellungen überwogen 26 . Die Loyalität gegenüber der Region wurde stets für vereinbar mit anderen Bindungen, vor allem gegenüber dem Zentralstaat, gehalten 27 . 4. Die politische Stoßkraft der Autonomiebewegung wurde gebremst durch die früh in der Region aufbrechenden Klassenspannungen. Das langjährige Nebeneinander der beiden Konfliktachsen führte zu ihrer allmählichen gegenseitigen Beeinflussung und Durchdringung.

2.3• Entstehung des Nationalismus im Baskenland Die Analyse des baskischen Nationalismus im 19. Jahrhundert muß bei zwei Zügen ansetzen, in denen dieser sich in seinem Ursprung deutlich vom Katalanismus abhebt: er entwickelte sich nicht auf der Grundlage eines gesteigerten Selbstbewußtseins der Region, sondern als Reaktion auf 28

eine tiefgreifende Struktur- und Identitätskrise der baskischen Provinzen. Und er wuchs auch nicht allmählich, war nicht Ausdruck einer breiten geistig-kulturellen Strömung, sondern entstand als eine Art Kunstprodukt, war das Werk zunächst nur eines Mannes, der dann allmählich breitere Unterstützung für seine Ideen fand 2 8 . Die baskische Identitätskrise resultierte zum einen aus der gegen die regionalen Partikularismen gerichteten Politik der Zentralregierung und einer überstürzt sich vollziehenden Industrialisierung und Modernisierung der Region; sie war zum anderen jedoch bereits in immanenten Widersprüchen und Entwicklungstendenzen der traditionellen baskischen Gesellschaft angelegt. Die Bevölkerung der baskischen Provinzen, denen weder wirtschaftlich noch politisch innerhalb des spanischen Königreiches besondere Bedeutung zukam, bestand bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorwiegend aus Bauern, Fischern, Hirten und Handwerkern. Gegen die Jahrhundertmitte sah sich jedoch der Vieh- und Agrarsektor mit zunehmenden Schwierigkeiten konfrontiert, die nicht ohne Rückwirkung auf das durch ein Nebeneinander kleiner, unabhängiger Kommunen bestimmte Sozialgefüge der Region bleiben konnten 2 ^. Ein anhaltend hohes Bevölkerungswachstum verstärkte die Nachfrage nach dem knappen, großenteils an Pächter vergebenen Land; die steigenden Pachtzinsen konnten jedoch nicht durch einen entsprechenden Mehrgewinn aus der Agrarproduktion aufgefangen werden, da die Verkaufspreise für landwirtschaftliche Produkte gleichzeitig zurückgingen. Die fortschreitende Mechanisierung, vor allem der größeren landwirtschaftlichen Betriebe, verringerte den Bedarf an Arbeitskräften, während mit dem Verkauf gemeindeeigener Ländereien durch viele verschuldete Kommunen den ländlichen Unterschichten eine wesentliche Möglichkeit des Subsistenzausgleichs entzogen wurde. Schließlich erwuchs dem dörflichen Kleingewerbe von handwerksartigem Zuschnitt in den neu entstehenden städtischen Industrieunternehmen eine Konkurrenz, der gegenüber es sich nicht behaupten konnte. Die aus all diesen Faktoren resultierende wirtschaftliche Malaise ist in einem engen Zusammenhang mit der Krise des Foralsystems zu sehen, jener alten Sonderrechte des baskischen Volkes, deren Restituierung zu

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einer der zentralen Forderungen der baskischen Nationalisten werden sollte^ 0 . Aufgrund dieser Sonderrechte waren die Basken ursprünglich vom Militärdienst und der Abordnung zu öffentlichen Ämtern außerhalb ihres Territoriums befreit, genossen weitgehende Zoll- und Handelsfreiheit, mußten weniger Steuern zahlen als die anderen Untertanen des spanischen Königs und waren vor Engriffen in ihre persönliche Sphäre besonders geschützt. Ein wichtiger Zug des Foral-Systems bestand darin, daß im Rahmen der Junta als dem Vertretungsorgan der baskischen Provinzen gegenüber der Krone die Stimme jeder Gemeinde das gleiche Gewicht hatte. Dies bedeutete, daß aufstrebende Wirtschaftszentren wie die beiden Küstenstädte San Sebastián und Bilbao sich dem Votum der konservativen agrarischen Kommunen des Hinterlandes unterordnen mußten, ein Umstand, der nach 1800 zu schweren Konflikten führte. Die durch Handel zu Wohlstand gelangte Bourgeoisie der beiden Provinzmetropolen wollte die lokale Zerstückelung der Region aufheben und diese zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum gestalten, während die kleinen Gemeinden nicht gewillt waren, ihre Vorrechte aufzugeben. Die Foralverfassung war, wie Solozábal zutreffend bemerkt, zu einer Fessel für die dynamischen wirtschaftlichen und sozialen Kräfte im Baskenland geworden^ 1 . Hatte sich die baskische Identitätskrise aufgrund von Zerfallserscheinungen der traditionellen Gesellschaftsordnung bereits angebahnt, so erfuhr sie durch die staatlichen Einwirkungen von außen und die rapide Industrialisierung Vizcayayas^2, der damals wichtigsten baskischen Provinz, nach 1860 eine Verschärfung und Zuspitzung. Der staatliche Druck ging vor allem von den Regierungen der Liberalen aus, zu deren Programm eine zunehmende Zentralisierung und Vereinheitlichung der Verwaltungsstruktur zählte. Der Widerstand, den die baskischen Provinzen in den zwei Karlistischen Kriegen (1833-1839; 1873-1876) der Einebnungder gewachsenen Eigenständigkeit der Region durch die Zentralgewalt entgegensetzten, konnte nicht verhindern, daß sie der meisten ihrer historischen Sonderrechte verlustig gingen; nur eine gewisse steuerliche Privilegierung blieb erhalten^. Der prononcierte Antiklerikalismus der Liberalen trug ebenfalls dazu bei, unter den traditionell sehr am Katholizismus hängenden Basken

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das Gefühl einer von Madrid ausgehenden existentiellen Bedrohung zu erzeugen. Die größte Herausforderung für den herkömmlichen, an ein rurales Milieu gebundenen baskischen Lebensstil stellte aber die ab 1850 zunächst zögernd einsetzende, ab 1880 ein atemberaubendes Tempo annehmende Industrialisierung des Raumes um Bilbao dar 3 4 . Ausgangspunkt waren Eisenerzvorkommen in dieser Zone, die schon seit langem durch Kleinund Kleinstbetriebe unter Verwendung von Holz als Brennmaterial ausgebeutet worden waren. Erst als England sich für die Lieferung von Roheisen aus Vizcaya zu interessieren begann und dieses durch die Einfuhr britischen Kokses mit Hilfe verbesserter technischer Verfahren relativ billig hergestellt werden konnte, flössen jedoch die erforderlichen Investitionssummen in die Region, die einen raschen industriellen Aufschwung, vor allem der Eisen- und Stahlindustrie, ermöglichten. In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war Vizcaya die wirtschaftlich dynamischste aller spanischen Provinzen. In diesem Zeitraum wuchs seine Bevölkerung fast um 50 %, desgleichen das Eisenbahnnetz, wurden Hunderte von Handelsgesellschaften gegründet und entstand eine Handelsflotte, deren Transportvolumen die Hälfte des gesamtspanischen Volumens ausmachte. Ähnlich wie Katalonien wurde Vizcaya als industrieller Wachstumspol zum Anziehungspunkt für Zuwanderer aus anderen Teilen Spaniens. Gegen Ende des Jahrhunderts waren beispielsweise weniger Basken in den großen Eisenhüttenwerken beschäftigt als Zuwanderer. Ein großer Teil dieser aus den angrenzenden südlichen Gebieten Spaniens stammenden Arbeiter schloß sich der sozialistischen Gewerkschaft UGT an, die sich nicht als regionale, sondern als nationale, ja internationale Organisation verstand 3 5 . Brachte die Industrialisierung auf der untersten Stufe der sich formierenden hierarchischen Schichtungspyramide ein Industrieproletariat hervor, das weder Verständnis noch Interesse für die gewachsene Eigenart des baskischen Volkes und dessen Kultur zeigte, so ließ sie an der Spitze dieser Pyramide eine kleine Gruppe von Großunternehmern entstehen, die sich ebenfalls nicht mit der Region identifizierte, sondern in großräumigeren Kategorien dachte und plante 3 6 . Dieses Verhalten entsprach durchaus 31

der Logik der für diese Zone typischen Unternehmen der Schwerindustrie, die, verglichen mit der katalanischen Textilindustrie, größere Kapitalsummen, größere Produktionsstätten und eine gezieltere Absatzplanung voraussetzte. Die Basken führten erstmals in Spanien die Aktiengesellschaft als Form der Kapitalaufbringung ein. Wie sie sich nicht scheuten, ausländischem, vor allem britischen Kapital ihre Region zu öffnen, so versuchten sie ihrerseits später, auf dem Wege der Gründung von Zweigniederlassungen und Tochterfabriken, ihren Einfluß auf andere Gebiete Spaniens auszudehnen. Vor allem die baskischen Banken erwiesen sich als sehr expansionsfreudig. Sie überrundeten ihre katalanischen Rivalen und zählen heute zu den mächtigsten Banken Spaniens. Die Beweglichkeit der baskischen Unternehmer und Manager und ihre Fähigkeit, nationale und internationale Verbindungen zu knüpfen, hat sich, wie eine Untersuchung aus den 60er Jahren nachwies, bis in die jüngste Vergangenheit erhalten^ 7 . Der baskische Nationalismus, der als Reaktion auf die vielfaltigen geschilderten Bedrohungen für die baskische Ethnie entstand, geht im wesentlichen auf das Werk eines Mannes zurück, der nur nach und nach Anhänger fand^ 8 . Sabino deAranay Goiri (1865-1903), einer karlistischen Schiffsbauerfamilie Bilbaos entstammend, verbrachte in seiner Jugend einige Jahre in Barcelona, zu einer Zeit, da der Katalanismus eine erste Blüte erlebte (1882-1887). Es ist zu vermuten, daß er aus dem katalanischen Vorbild wesentliche Anregungen für die Gründung einer vergleichbaren baskischen Bewegung bezog. Noch in Barcelona begann er mit dem intensiven Studium der baskischen Sprache, des Euskara, welches, mehr noch als das Katalanische, in den baskischen Provinzen durch das Spanische als Sprache der Mittel- und Oberschicht verdrängt worden war. 1893 kündigte er in einem Kreis von Freunden erstmals seine Absicht an, für die Unabhängigkeit Vizeayas zu kämpfen; kurz darauf nahm er die Herausgabe einer Zeitschrift auf, die sich mit baskischer Geschichte, Grammatik, Kultur und Lokalpolitik befaßte. 1894 rief er mit einer kleinen Gruppe von Anhängern eine politische Organisation, die Vorläuferin der Baskischen Nationalistischen Partei (PNV), ins Leben, die 1895 erstmals mit einem Programm an die Öffentlichkeit trat.

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Bemerkenswert an dieser Entstehungsgeschichte der baskischen Unabhängigkeitsbewegung ist die Geschwindigkeit, mit der sie zu politischen Artikulationsformen vorstieß. Payne bemerkt in diesem Zusammenhang zutreffend, während die Mobilisierung von Minderheiten (dies gilt auch für die Katalanen) im Regelfall über eine kulturelle Renaissance zu politischen Unabhängigkeitsforderungen fortschreite, sei sie im Baskenland genau umgekehrt verlaufen^. Hier sei zunächst durch einen voluntaristischen Akt • ein Zug, der den Basken generell nachgesagt wird • eine politische Organisation gegründet worden, für die man sich anschließend bemühte, kulturelle Inhalte und breitere soziale Unterstützung zu finden. Als Arana für seine nationalistischen Ideen zu werben begann, beschäftigten sich nur wenige Intellektuelle mit der baskischen Sprache und Geschichte (was allerdings auch damit zusammenhängt, daß die Region generell mehr Unternehmer, Missionare, Seefahrer, also "Praktiker", als Forscher und Schriftsteller hervorgebracht hat)40. Lange Zeit fand er mit seinen separatistischen Forderungen nur wenig Resonanz; die von ihm geschaffene Partei blieb zwischen den traditionellen, gesamtspanisch orientierten konservativen und liberalen Parteien eingezwängt und vermochte nur mühsam auf provinzieller oder lokaler Ebene bescheidene Erfolge zu erringen 41 . Erst allmählich scharte sie jene Gruppen hinter sich, deren Ängste und Nöte sie in erster Linie ansprach, das mittlere und kleine Bürgertum sowie Bauern, Fischer und selbständige Arbeiter. Diese langsame Verbreitung der Vorstellungen Aranas hängt nicht zuletzt mit einer gewissen Inkohärenz der von ihm vertretenen Prinzipien und deren evidentem Widerspruch zu manifesten Zügen der baskischen Realität um die Jahrhundertwende zusammen. Sie bildeten ein krauses Gemisch einerseits von konservativen Elementen wie Traditionalismus, Katholizismus und Rassismus, andererseits von progressiven republikaniA'y sehen und basisdemokratischen Ideen . Entsprach die von ihm befürwortete Ausrichtung der Politik an christlichen Prinzipien der tiefen Verwurzelung des Katholizismus im baskischen Volk, so ließ sich doch die gelegentlich bei ihm durchklingende Forderung nach Überordnung der kirchlichen über die weltliche Macht nur schwer mit der Tradition des Liberalismus in dieser Region vereinen4^. Appellierte der ethnische Ausschließlichkeitsan33

Spruch einerseits an tiefsitzende Ängste der autochthonen Bevölkerung vor Überfremdung, so mußte er andererseits angesichts des Ausmaßes, den die Einwanderung mittlerweile erreicht hatte, als Anachronismus erscheinen. Der Hauptwiderspruch lag jedoch in dem Anspruch, für alle Basken gültig zu sein, den Arana mit seiner Doktrin verknüpfte. Denn die Vereinigung aller baskischen Provinzen zu einem föderativen Gebilde, die er sich zum Ziel setzte, mußte zwangsläufig die Eigenständigkeit der kleinen dörflichen Gemeinschaften untergraben, deren Gebräuche, Rechte und Lebensstil er zu schützen vorgab. Nicht von ungefähr mußte er erst ein Kunstwort für das gesamte Baskenland erfinden, da sich die tradierten Bezeichnungen nur auf Provinzen und Gebietskörperschaften kleinerer Ordnung bezogen 4 4 . Beltzas scharfsinniger Behauptung ist durchaus zuzustimmen, der baskische Nationalismus habe eine Nivellierung der dörflichen Sonderrechte und Partikularismen vorausgesetzt und angestrebt, selbst wenn er inhaltlich eine Reihe von Leitwerten und Formelementen der traditionellen ruralen Gemeinschaft aufnahm und in seinen Forderungskatalog einbezog 45 . Dieser Anspruch, etwas progressiv erstreiten zu wollen, was unwiderruflich der Vergangenheit angehörte, verlieh dem baskischem Nationalismus von vornherein eine, gemessen am Katalanismus, größere Ambivalenz und Explosivität, machte ihn in stärkerem Maße zur Ideologie. Die Unterschiede zwischen den beiden Regionalbewegungen, der katalanischen und der baskischen, in ihrer Formierungsphase lassen sich am besten herausarbeiten, wenn wir die vier Punkte noch einmal aufgreifen, in denen wir die wesentlichen Züge des Katalanismus resümierten. Wir stellten fest, daß in Katalonien die nationalistische Bewegung zunächst vor allem durch eine Allianz des Besitz- und Bildungsbürgertums mit Intellektuellen und Künstlern getragen wurde (Punkt 1). Auch im Baskenland wurden die Ideen Aranas zunächst von einigen städtischen Intellektuellen aufgegriffen. Insgesamt blieb das Echo, das seine klerikal-konservativen Vorstellungen in den geistig aufgeschlossenen Kreisen der Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller fanden, jedoch (verständlicherweise) gering 46 , einige der bekanntesten unter ihnen wie M. de Unamuno und P. Baroja distanzierten sich deutlich von den Nationalisten. Desgleichen wurden diese vom Besitz- und Bildungsbürgertum in den Städten nur 34

mäßig unterstützt. Vor allem konnten sie nicht die Großbourgeoisie von Bilbao für sich gewinnen, deren ökonomische Interessen weit über die engen Grenzen der baskischen Region hinausgingen. Am besten faßte die Bewegung Fuß im mittleren lokalen Bürgertum, in der Kleinbourgeoisie (kleine Gewerbetreibende, Handwerker, Kaufleute, Angestellte) sowie bei Bauern, Fischern und selbständigen Arbeitern, d.h. bei jenen Gruppen, die durch die Industrialisierung von sozialem Abstieg bedroht waren 47 . Dies bedeutete zugleich, daß sie mehr Rückhalt auf dem Land und in kleinen Gemeinden als in den größeren Städten genoß. Die in Katalonien durch Intellektuelle und Künstler übernommene geistige Führungsrolle fiel im Baskenland dem Klerus, vor allem dem niederen Klerus, zu . Er war für sie sowohl aufgrund der intensiven Religiosität der baskischen Bevölkerung4^ als auch wegen seiner, den genannten abstiegsbedrohten Gruppen vergleichbaren Interessenlage gut geeignet. Auch die Pfarrer hatten ja bei einer fortschreitenden Industrialisierung, Urbanisierung und Säkularisierung der baskischen Gesellschaft nicht nur eine Verringerung der Zahl der Gläubigen zu befürchten, sondern mußten zusätzlich mit einer Einbuße an persönlichem Prestige und Status rechnen 50 . Außerdem kam der klassenverbindende, "populistische" Zug der neuen Bewegung ihrem Wunsch nach Wahrung der sozialen Harmonie und der Vermeidung von Klassenspannungen entgegen. Die Sympathie, die der baskische Klerus den Nationalisten entgegenbrachte, hatte zwei Konsequenzen. Erstens sind in Gebieten, in denen die katholische Kirche ihren traditionellen Einfluß bewahrt hat, kaum effizientere Multiplikatoren gesellschaftlich-politischer Strömungen denkbar als die Geistlichen. Ihre herausgehobene Stellung als Mittler zum Jenseits verleiht den von ihnen propagierten Ziel- und Wertorientierungen eine Verbindlichkeit und Breitenwirkung, mit denen andere Meinungsträger sich nicht messen können. Zweitens barg die durch sie verkörperte Fusion von religiöser Überzeugung und Nationalismus eine Dynamik, nach der man im stärker säkularisierten Katalonien vergeblich sucht 51 . Denn sie legte im Fall des - bei Fortgang der Urbanisierung und Modernisierung unvermeidbaren - Abbaus religiöser Glaubenshaltungen eine Übertragung des Eifers

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und der Inbrunst, die früher im transzendentalen Bereich gebunden waren, auf diesseitige, nationalistische Ziele nahe. In Katalonien durchdrang die zunächst vom Bürgertum ausgehende nationalistische Bewegung nach und nach sämtliche soziale Schichten, mit Einschränkungen sogar die der Arbeiter (Punkt 2). Die kleine Gruppe Intellektueller und das mittlere Bürgertum, die sich in den baskischen Provinzen der Sache des Nationalbmus annahmen, waren dagegen nicht einflußreich genug, um einen ähnlichen Ausstrahlungseffekt zu erzielen. Die von ihnen, dem Kleinbürgertum sowie Angehörigen des Primärsektors getragene Nationalistische Baskische Partei (PNV) mußte sich bei Wahlen lange Zeit mit dem dritten Rang hinter den Konservativen und den Sozialisten zufriedengeben. Die relativ schwache Position der baskischen Nationalisten innerhalb der eigenen Region wirkte sich in dreierlei Hinsicht aus. Erstens war mit der Begrenzung der Bewegung auf ein ziemlich homogenes soziales Schichtspektrum (weder die Großbourgeoisie noch die Industriearbeiterschaft waren in ihr vertreten) ein geringeres Maß an inneren Spannungen verbunden, als beispielsweise bei dem sozial weit ausfächernden Katalanismus 52 . Dies gab ihr eine vergleichsweise hohe Organisations- und Durchsetzungskraft, ließ allerdings eine geringe Toleranz gegenüber Abweichungstendenzen innerhalb des nationalistischen Lagers erwarten (ein Zug, der sich unter Franco beim Konflikt zwischen der Mutterorganisation und der Jugendgruppe, der schließlich zur Abspaltung der ETA führte, als bedeutsam erweisen sollte). Zweitens ist darauf hinzuweisen, daß das geringe Gewicht der Nationalisten innerhalb des Baskenlandes im Grunde einer Verdoppelung ihrer Minderheitsposition gleichkam: Die Zurücksetzung der Region durch die Zentralregierung wiederholte sich in dem kargen Erfolg der Nationalisten innerhalb der baskischen Provinzen. Es ist zu vermuten, daß die Befürchtung der nationalistischen Basken, innerhalb des eigenen Gebietes von einer mehrheitlich gesamtspanisch denkenden und fühlenden Bevölkerung in eine Randposition abgedrängt zu werden, ihre Verunsicherung und Neigung zu gewaltsamem Aufbegehren ungemein gesteigert hat 5 3 . Gerade in diesem Punkt erweist sich ein Blick auf das viel selbstbewußtere Katalo-

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nien als aufschlußreich, wo die nationalistische Bewegung nicht nur zur unbestrittenen Führungskraft innerhalb der Region aufstieg, sondern in sprachlich-kultureller Hinsicht sogar auf Nachbarregionen ausstrahlte. Die dritte Schlußfolgerung hängt unmittelbar mit dem Verhältnis zwischen regionaler und sozialer Konfliktachse zusammen. Da die baskische Nationalbewegung, im Unterschied zur katalanischen, nicht durch innere Klassenauseinandersetzungen gehandikapt war, konnte sie sich mit vermehrter Stoßkraft gegen das Zentralregime wenden. Der Umstand, daß sowohl die Großbourgeoisie als auch die Arbeiterschaft der Region in gesamtspanischen Dimensionen dachten und operierten, eröffnete in einer längerfristigen Perspektive sogar die Möglichkeit, den Konkurrenzkampf mit ihnen und den Widerstand gegen zentralstaatliche Bevormundung miteinander zu verbinden. Die Arbeiterklasse mit der Madrider Regierung als Gegensund nationalistischer Ablehnung in eins zu setzen, schien allerdings schwierig, da der spanische Staat, eine kurze Zeit während der 2. Republik ausgenommen, zu keinem Zeitpunkt unter der Herrschaft linker politischer Kräfte stand54. Dagegen bot sich die zweite Alternative einer Verschmelzung der Feindbilder von Madrider Regierung und baskischem Großunternehmertum an, da zwischen diesen beiden Machtgruppen in der Tat intensive Verbindungen bestanden und weiter bestehen. Als wesentliches Ergebnis dieser Überlegungen ist festzuhalten, daß sich im Falle des Baskenlandes die regionale und soziale Konfliktachse nicht überkreuzten und teilweise neutralisierten (wie in Katalonien), sondern parallel zueinander lagen und deshalb gegenseitig verstärkten. Dieser Verstärkungseffekt sollte sich vor allem unter Franco ab i960 bemerkbar machen. Was schließlich die inhaltliche Abgrenzung der beiden nationalistischen Bewegungen angeht, so wurde ausgeführt, der Katalanismus sei wesentlich durch die katalanische Sprache und Kultur definiert, schließe andere gesellschaftliche und politische Loyalitäten nicht aus und sei in der Grundtendenz modernisierungsfreundlich (Punkt 3). Auch hier ergeben sich einige unübersehbare Differenzen zum baskischen Nationalismus. Bei diesem steht ebenfalls die Sprache, das Euskara, im Mittelpunkt, darüberhinaus wurde er aber mit einer Reihe von zusätzlichen Ideen und Forde37

rangen angereichert, die ihn insgesamt als weniger klar umrissen, auch leichter manipulierbar, erscheinen lassen. Unter diesen Merkmalen kommt der baskischen Abstammung die Hauptbedeutung zu 55 . Die Zugehörigkeit zur baskischen Ethnie ist somit im Unterschied zur erlern- und erwerbbaren Teilhabe an der katalanischen Kultur ein zugeschriebenes Merkmal. Dadurch erhält der baskische Nationalismus einen Ausschließlichkeitscharakter, der dem Katalanismus fehlt: Man ist Baske aufgrund von Geburt oder gar nicht, ein allmähliches Hineinwachsen in die baskische Volksgemeinschaft ist nicht möglich. Ein weiterer Zug, in dem sich der baskische Nationalismus vom Katalanismus abhebt, ist seine Rückwärtsgewandheit, das defensive Moment, das ihm anhaftet56. Im Unterschied zur katalanischen "Gesellschaft", so könnte man mit F. Tönnies sagen, stellen die Basken eine der letzten europäischen "Gemeinschaften" dar 57 . Wenngleich die rasche Industrialisierung und Modernisierung der Region einerseits dem Selbstbewußtsein der Basken (im Vergleich zu weniger dynamischen Gebieten Spaniens) zusätzliche Nahrung gab, so wurden sie doch zugleich ab existentielle Bedrohung traditioneller Identitätsmuster empfunden. Das Wissen um die Gefahrdung des herkömmlichen Lebensstils durch sozioökonomischen Wandel und durch das nivellierende Vorgehen zentralstaatlicher Behörden sind ein wesentliches Erklärungsmoment für den Mut und die Zähigkeit, mit denen sich baskische Patrioten gegen die Franco-Diktatur auflehnten. Die Genese der beiden Nationalbewegungen verdient nicht nur besondere Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Nachwirkung, welche die jeweilige Ausgangskonstellation auf die spätere Entwicklung der beiden Strömungen haben sollte. Vielmehr läßt sich darüberhinaus eine auffallige Parallelität der Situation in den beiden Regionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und unter Franco gegen Ende der 50er Jahre dieses Jahrhunderts beobachten: Sie erlebten unter Franco eine Vertiefung und Ausweitung des Industrialisierungsprozesses, gefolgt von einer erneuten Zunahme der Zuwanderung und einem sozio-kulturellen Modernisierungsschub. Aus diesem Grunde lassen sich die eben für die Entstehung der beiden Nationalismen herausgearbeiteten Merkmale mit der einen oder

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anderen geringfügigen Modifikation unmittelbar auf ihre Reaktionsweise während der Franco-Ära übertragen.

2.4. Sprach- und Einwanderungsproblematik Im Mittelpunkt beider Bewegungen steht die Bemühung um Wiederbelebung und Verteidigung der eigenen Sprache; indes sind ihre Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen, sehr unterschiedlich. Das Katalanische, das starke Ähnlichkeiten mit dem Provenzalischen hat, war nach der Einführung des Spanischen als Unterrichtssprache ab der Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt worden, gewann aber nach 1850 im Zuge der Renaixenqa wieder rasch an Boden. Die Bemühungen um seine Erforschung und Vereinheitlichung, die durch seine relativ geringe dialektale Differenzierung begünstigt wurden, führten schon Inden ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts zur Modernisierung seines Wortschatzes, verbunden mit der Festlegung einer verbindlichen Grammatik und Orthographie58. Nach empirischen Untersuchungen wurde es Anfang der 70er Jahre von etwa drei Vierteln der in der Region ansässigen Bevölkerung gesprochen und von über 85 % verstanden5^. Der Gebrauch des Katalanischen korreliert positiv mit der sozialen Schichtzugehörigkeit, mit anderen Worten: das regionale Bürgertum bedient sich seiner noch intensiver als die untere Mittel- und die Unterschicht60. Neben der Unterdrückung der Regionalkulturen durch die FrancoDiktatur, bildete das Haupthindernis für die Erhaltung und Diffusion des Katalanischen der nicht abreißende Strom von Zuwanderern, der sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert in die Region ergoß. Vor allem nach 1850 und erneut von 1950-1970 nahm das Principat viele Hunderttausende von Südspaniern (vor allem aus Murcia, Extremadura und Andalusien) auf61. Die Mehrzahl der Migranten suchte nach einem Arbeitsplatz in der industriellen Ballungszone rund um die Stadt Barcelona, wo einzelne Stadtviertel schon gegen Mitte der 60er Jahre zu über 50 % aus Einwohnern nichtkatalanischen Ursprungs bestanden.

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Daß das Katalanische trotz der Überfremdungsgefahr durch eine anderssprachige Bevölkerungsgruppe nichts von seiner Attraktivität und Bedeutung einbüßte, ist zum einen mit der Struktur dieser Sprache, zum anderen aber auch mit der Assimilierungskraft der katalanischen Gesellschaft zu erklären. Da das Katalanische zur Familie der romanischen Sprachen zählt und sowohl hinsichtlich der Syntax und Morphologie als auch der Bedeutung zahlreicher Ausdrücke dem Spanischen nahesteht, stößt der Neuankömmling bei seiner Aneignung auf keine prinzipiellen Schwierigkeiten. Er wird dazu umso mehr ermuntert, als sowohl in Geschäften und auf der Straße als auch unter Nachbarn und am Arbeitsplatz (zumindest in kleineren und mittleren Betrieben) vorwiegend katalanisch gesprochen wird. Nur dort, wo regelrechte Zuwanderungsghettos entstanden, hielt sich hartnäckig Spanisch als Umgangssprache. Ansonsten lernten im Laufe der Jahre mindestens ein Drittel der aus anderen Regionen Spaniens Stammenden, sich auf katalanisch zu verständigen, ihre Kinder beherrschten die Regionalsprache größtenteils . Diese rasche Verbreitung des Katalanischen unter den Einwanderern läßt sich nicht nur mit dem aus seinem Gebrauch fließenden instrumenteilen Nutzen erklären, sondern hängt ebenso mit dem hohen sozialen Stellenwert zusammen, der ihm zukommt. Als Sprache der Mittel- und Oberschicht hat es Vorbild- und Symbolfunktionen, seine Beherrschung ist unabdingbare Voraussetzung eines sozialen Aufstiegs6^. Aus empirischen Studien geht hervor, daß die Zuwanderer, die überwiegend aus sehr armen, ländlichen Gegenden stammen, aufgrund ihres niedrigen Qualifikationsniveaus auf den unteren Berufsrängen, unter den ungelernten oder angelernten Arbeitern, überrepräsentiert sind, während sie in den administrativen Führungsstäben der Unternehmen, aber auch bei den Studenten, eine Ausnahmeerscheinung bilden 64 . Das Zusammenfallen von ethnischer Trennlinie und Schichtungsgrenze zwischen Einheimischen und Immigranten hat viele Soziologen erschreckt, glaubten sie doch, die doppelte Diskriminierung führe zu vermehrter Frustration, die über kurz oder lang ein gewaltsames Aufbegehren dieser Bevölkerungsgruppe erwarten lasse. Tatsächlich scheint jedoch gerade die gegenteilige Schlußfolgerung gerechtfertigt, die Einweisung der

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Zuwanderer in einen Unterschichtstatus sei bestimmend für eine besondere Motivation, den raschen sozialen Aufstieg zu suchen, der, als Nebenfolge, die Überschreitung der ethnischen Grenze mit sich bringe. Die relativ offene katalanische Gesellschaft, die sich mehr als zivilisatorische Gemeinschaft denn durch Abstammungskriterien definiert, kommt ihnen bei ihrem Integrationsbemühen entgegen und erleichtert ihre Assimilierung65. Konnte der Rückgang des Katalanischen ab der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gebremst und durch einen Gegentrend abgelöst werden, so setzte sich demgegenüber der Bedeutungsverlust des Baskischen, der bereits seit dem Mittelalter anhält, gerade zwischen 1870 und 1970 verstärkt fort 66 . Zu dem letztgenannten Zeitpunkt sprach nur noch ein knappes Viertel aller in den baskischen Provinzen lebenden Personen Euskara. Obwohl sich die Sprachgrenze als solche, die weitgehend mit den Provinzgrenzen von Viscaya und Guipuzcoa zusammenfällt und darüberhinaus noch den nördlichen Teil Navarras einschließt, kaum verschoben hatte, war die Sprachintensität innerhalb dieses Gebietes deutlich zurückgegangen. Selbst von den Euskaldunes (denjenigen, die des Baskischen mächtig sind) benützten nur ein Drittel die Regionalsprache häufiger als das Spanische. Das Baskische war zu einer auf die Familiensphäre und Primärgruppen (Nachbarschafts- und Freundeskreise) beschränkten Lokalsprache herabgesunken, während alle öffentlichen Geschäfte auf spanisch abgewickelt wurden. Dem entspricht, daß nach einer Berechnung von Nunex nur 12% der insgesamt im Baskenland ausgetauschten Worte baskisch waren 67 . Die Gründe für diese rapide Verdrängung des Baskischen durch das Spanische sind zunächst bei der baskischen Sprache selbst zu suchen, die nicht zur indogermanischen Sprachfamilie gehört und deshalb sehr schwer erlernbar ist. Es handelt sich um eine im wesentlichen auf das Leben in bäuerlichen Gemeinschaften zugeschnittene Sprache, weshalb sie Handlungsfeldern, die mit dem Aufkommen der Industriegesellschaft und der Entwicklung der Technik zusammenhängen, nur bedingt gerecht wird. Ihre Beherrschung wird zusätzlich dadurch erschwert, daß sie in zahlreiche Dialekte und Unterdialekte zerfallt68. Bestrebungen, diese Dialekte in einer Einheitssprache zu verschmelzen und einen der technisch-industriel41

len Zivilisation gemäßen Wortschatz bereitzustellen, setzten erst relativ spät (einige Jahrzehnte nach den in dieser Hinsicht entscheidenden Arbeiten in Katalonien) ein. Die entscheidende Ursache dafür, daß das Euskara im Unterschied zum Katalanischen bis vor kurzem (erst in den 70er Jahren kehrte sich dieser Trend allmählich um) einen kaum aufzuhaltenden Niedergang erlebte, lag demnach in seinem beschränkten instrumentellen Nutzen, der sich zudem mit einer geringen gesellschaftlichen Wertschätzung verband. Da es nur die Sprache einer Minderheit innerhalb der Region war, konnten die alltäglichen Geschäfte ohne die Kenntnis baskischer Ausdrücke erledigt werden. Für öffentliche Verlautbarungen, Verträge, den gesamten Geschäftsverkehr war das Spanische maßgebend, das die Umgangssprache der regionalen wirtschaftlichen Oberschicht war. Damit entfiel auch der für das Katalanische herausgestellte Vorbild- und vertikale Mobilitätseffekt der Regionalsprache. Im Gegenteil, wer auf sozialen Aufstieg sann, war gut beraten, die baskische Sprache seiner Kindheit zu vergessen und sich ausschließlich des Spanischen zu bedienen. Denn der regelmäßige Gebauch des Euskara wies ihn eher als Angehörigen der unteren Mittel- bzw. der oberen Unterschicht aus6^. Dieser Mangel an Anziehungskraft der baskischen Sprache war vor allem bei jener Bevölkerungsgruppe zu registrieren, die wie in Katalonien die Hauptbedrohung für das Fortbestehen der Regionalkultur bildete: den Zuwanderern. Die Menge von Migranten, die das Baskenland (vor allem Vizcaya und Guipúzcoa) bis 1975 aufnahm, ist proportional durchaus mit dem Zuwandererstrom nach Katalonien vergleichbar70. Um 1970 war rund die Hälfte der Einwohner der baskischen Provinzen entweder selbst irgendwann zugezogen oder stammte von zugewanderten Eltern ab 71 . Der exklusive Charakter des baskischen Nationalismus sowie die schwer überwindbare Sprachbarriere ließen kaum eine Assimilierung der Immigranten an die baskische Regionalkultur zu. Viele der Neuankömmlinge waren aber ihrerseits nicht zu einer Anpassung an die baskische Gesellschaft bereit, da sie zum einen großenteils ein besseres Ausbildungsniveau mitbrachten als die Andalusier, die Katalonien überfluteten, und zum anderen meistens aus León und Altkastilien 42

stammten, jenen Gebieten, deren politische Kultur in mehr als einer Hinsicht den Gegenpol zur politischen Kultur der Basken darstellt72. Daß manche Zuwanderer sich als besonders eifrige Verfechter der baskischen Unabhängigkeit hervortaten, muß diesen allgemeinen Beobachtungen nicht widersprechen. Denn ihr Nationalismus ist, wie in einer jüngst durchgeführten empirischen Untersuchung einleuchtend dargelegt wird, nicht Beweis ihrer reibungslosen Integration in die baskische Gesellschaft, sondern eher Ausdruck einer Strategie zur Überwindung der Anpassungsschwierigkeiten7^. Die Erläuterung der Sprach- und Einwanderungsproblematik in den beiden Regionen fügt den bereits geannten Gründen für die größere Aggressivität des baskischen Nationalismus kein neues Argument hinzu, demonstriert aber nochmals eindringlich, worin der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Bewegungen besteht: Vermochte die katalanische Sprache und Kultur die umfangreichen zugewanderten Bevölkerungsgruppen weitgehend zu absorbieren und über sie ihren Einflußbereich zusätzlich auszudehnen, so wurden die Euskaldunes durch die Einwanderung in der eigenen Region in eine als bedrohlich und irritierend empfundene Defensive gedrängt. Es ist kein Zufall, daß die meisten ETA-Mitglieder aus Guipúzcoa stammen, jener Provinz, in der traditionell am meisten baskisch gesprochen wurde, in der jedoch vor allem aufgrund der Einwanderung nach 1950 das Spanische in stetigem Vordringen begriffen war.

2.5. Entwicklung und Erfolg bis zur Franco-Zeit Einer Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung der beiden Bewegungen im ersten Drittel dieses Jahrhunderts ist vorauszuschicken, daß die in einem zwischen Frankreich und Spanien lange Zeit besonders umstrittenen Gebiet angesiedelten Katalanen bereits in früheren Jahrhunderten (sie verloren schon 1716 ihre Sonderrechte) reichlich Gelegenheit hatten, gesellschaftlich-kulturelle Überlebensstrategien unter einem ihnen feindlich gesinnten Regime zu erproben 74 . Dagegen stand den bis 1800 problemlos in den spanischen Staatsverband eingegliederten Basken nach der 43

Abschaffung der Fueros 1876 bis zur Franco-Herrschaft nur die relativ kurze Diktatur Primo de Riveras (1923-1939) als Lernphase zur Anpassung und Bewährung unter einer gezielt gegen die peripheren Minderheiten vorgehenden Zentralregierung zur Verfügung 75 . Verfolgt man den Werdegang der beiden nationalistischen Bewegungen in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, so fällt zunächst ins Auge, daß die Katalanen in ihren Autonomiebestrebungen ungleich erfolgreicher waren als die Basken. Schon 1913 erhielten sie im Rahmen der Mancomunidad (1913-1925) gewisse Selbstverwaltungsrechte. Obwohl die Mancomunidad nur über geringe finanzielle Mittel verfügte und in ihren Kompetenzen (die sich auf alle vier katalanischen Provinzen erstreckten) auf den kulturellen, erzieherischen und infrastrukturellen Sektor eingeschränkt war, zeigte sie doch bereits ansatzweise, welche positiven Auswirkungen von einem Übergang der Administration in katalanische Hände zu erwarten waren 76 . Als 1931 die Republik ausgerufen wurde, kam es bereits kurz danach zur Verabschiedung eines Autonomiestatuts für Katalonien,das der Region eine eigene Legislative und Exekutive (die Generalitat) sowie weitgehende Befugnisse im Zivilrecht, dem Erziehungs- und Finanzwesen, den Bereichen der Infrastruktur, der öffentlichen Sicherheit und des Verkehrswesens einräumte. Wenngleich das Statut Ende 1934 aufgrund eines Aufstands der Generalitat gegen die (inzwischen von der politischen Rechten beherrschte) Madrider Zentralregierung suspendiert wurde, bildete es die Grundlage für die straffe politische Führung des auf der Seite der Republikaner kämpfenden Kataloniens im Bürgerkrieg. Gemessen am kontinuierlichen politischen Aufstieg der katalanischen Unabhängigkeitsparteien nimmt sich die politische Erfolgsbilanz der baskischen Nationalisten bescheiden aus. Der PNV gewann nur langsam an Boden, sein Bewegungsspielraum blieb dadurch eingeengt, daß er zur rechten wie zur linken Seite hin von mächtigen Parteiblöcken flankiert war, die gesamtspanisch orientiert waren 77 . In regionaler Hinsicht war sein Einfluß nach wie vor auf die beiden nördlichen Provinzen Vizcaya und Guipúzcoa begrenzt, während in Navarra die Karlisten die stärkste politische Kraft bildeten. Ihre unbequeme Mittelposition kostete die Nationalisten vor allem in Zeiten erhöhter Klassenspannungen und vermehrter 44

politischer Polarisierung Stimmen. Schon während der Wirtschaftskrise im unmittelbaren Anschluß an den 1. Weltkrieg gerieten sie in Bedrängnis, und während der 2. Republik, die von einer ständigen Konfrontation zwischen den Kräften der Linken und der Rechten geprägt war, saßen sie TÄ

gewissenmaßen zwischen sämtlichen Stühlen : nahmen die Sozialisten an ihrem Klerikalismus Anstoß, so erschienen sie den Rechtsparteien als zu liberal. Deshalb gelang es ihnen trotz wiederholter Versuche nicht, ein Autonomiestatut für die Region durchzusetzen. Der erste Entwurf wurde durch die Linksfraktion im Parlament zu Fall gebracht, der zweite Entwurf scheiterte am Widerstand der Rechten, die in den Wahlen von Ende 1933 die Oberhand gewonnen hatte. Erst nachdem sich der PNV im Bürgerkrieg auf die Seite der Republikaner stellte, wurde den nördlichen baskischen Provinzen 1936 eine begrenzte Autonomie zugestanden, die jedoch wegen der frühzeitigen Eroberung dieser Zone durch die Aufständischen bald hinfallig wurde. Der relative Erfolg der einen, die Erfolglosigkeit der anderen Autonomiebewegung legt den Schluß nahe, daß die Basken vergleichsweise verbitterter waren als die Katalanen. Ein anderer Indikator deutet ebenfalls auf einen relativ hohen Frustrationsstau zumindest bei bestimmten baskischen Gruppen hin: die geringe organisatorische Ausdifferenzierung der nationalistischen Bewegung und der damit verbundene reduzierte Spielraum zur Artikulierung abweichender Meinungen. Im Falle Kataloniens stoßen wir auf eine Fülle von Gruppen und Institutionen, in denen dem regionalen Engagement Ausdruck verliehen werden konnte. Das wichtigste Beispiel bietet die regionale Parteienlandschaft, in der beizeiten die bürgerlich-konservative Lliga durch die linksrepublikanische Esquerra abelöst wurde und nach und nach sämtliche politische Gruppierungen Spaniens ein regionales Pendant fanden7^. Doch gilt diese Beobachtung auch für den außerpolitischen Bereich, etwa für den Bereich akademischer Lehre, wo die Universität von Barcelona stets einen Freiraum besonderer Art darstellte, in dem selbst in Zeiten politischer Unterdrückung der Nonkonformismus eine Zufluchtsstätte fand; oder für die Kirche, wo die Abtei Montserrat unter Franco zeitweise zur Spre-

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cherin der vernachlässigten regionalen Kulturinteressen wurde und einen An Großteil der Widerstandsgruppen um sich versammelte . Eine ähnliche AufFächerung der nationalistischen Bewegung sucht man in den baskischen Provinzen vergebens, was sicher nicht zuletzt aus der relativ schwachen Position der Nationalisten innerhalb des regionalen Kräftespektrums zu erklären ist. Trotz gelegentlicher Absplitterungstendenzen nach rechts und links konnte der PNV seine Monopolstellung als politisches Vertretungsorgan des Nationalismus bis 1950 im wesentlichen behaupten. Die Jesuitenuniversität Deusto in Bilbao war hinsichtlich des den Studenten gewährten Freiheitsspielraums keineswegs mit der Universität von Barcelona zu vergleichen; und wenn auch der niedere baskische Klerus durchgehend nationalistischer gesinnt war als der katalanische, so fand sich doch keine kirchliche Institution, die, gleich der Abtei von Montserrat, diesem Engagement für die baskische Nationalität öffentlichen Ausdruck verliehen hätte 81 . Die relative Geschlossenheit und Unbeweglichkeit des von den Nationalisten geschaffenen Parteiapparats war umso bedenklicher, als die Gesellschaft des Baskenlandes zwischen 1900 und 1950 einem tiefgreifenden Wandel zu mehr Komplexität, verbunden mit neuen sozialen Spannungsquellen, unterworfen war. Den durch diesen Differenzierungsprozeß auch innerhalb des nationalistischen Lagers freigesetzten Kräften keine angemessene Artikulierungschance zu bieten, hieß, sie in den Untergrund drängen und radikalisieren. Hier liegt ein wichtiger Grund für die Abspaltung der Geheim- und Gewaltorganisation ETA von der Mutterpartei, dem PNV83. In einer Art Synopse seien abschließend die wichtigsten Unterschiede zwischen dem baskischen und dem katalanischen Nationalismus nochmals festgehalten

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Schautafel 1:

Strukturmerkmale des Nationalismus in Katalonien und im Baskenland (1850-1970)

Merkmale Entstehungsursachen

Merkmale des Nationalismus

Regionalsprache

Bedeutung der Zuwanderer

Katalonien

Baskenland

wirtschaftlicher Aufschwung verbunden mit erhöhtem regionalen Selbstbewußtsein

-

Identitätskrise der baskischen Ethnie, ausgelöst durch Schwierigkeiten im Agrarsektor, Verlust regionaler Sonderrechte, Industrialisierung und Zuwanderung

- durch katalan. Sprache und Kultur klar bestimmt

-

enthält neben Berufung auf bask. Sprache und Ethnie eine Reihe heterogener u. teils widersprüchlicher Elemente

- progressiv, modernisierungsfreundlich

-

defensiv, antiindustrieller Affekt. Wunsch nach Rückkehr zu den kleinen Dorfgemeinschaften

- mit Loyalität gegenüber spanischem Staat vereinbar

-

exklusiv, separatistisch

- Katalanisch als romanische Sprache ist für Spanier leicht erlernbar

-

die baskische Sprache gehört nicht zur indogermanischen Sprachfamilie, ist schwer erlernbar

• Sprache des öffentlichen Umgangs (Beruf, Handel etc.)

-

vorwiegend auf Primärgruppen (Familie, Nachbarschaft) beschränkt

- große Verbreitung in der Region

-

geringe Verbreitung in der Region, eher aufstiegshemmend

- stammen aus Südspanien

-

stammen aus Mittel u. Nordspanien

- geringes Qualifikationsniveau

-

mittleres Qualifikationsniveau

- nehmen wirtschaftlich in Katalonien die unteren Berufsränge ein

-

- kulturell leicht assimilierbar

treten teilweise in Konkurrenz zu Einheimischen um mittlere Berufspositionen - schwierige Anpassung an Regional kultur

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Merkmale

Katalonien

Baskenland

Trägergruppen und soziale Unterstützung

- Symbol des sozialen Aufstiegs

- geistige Führung liegt beim Klerus

- Intellektuelle als geistige Führer

- Besitz und Bildungsbürgertum als zentrale Trägergruppe- vor allem von 'populistischen" Schichten (mittlere und untere Mittelschicht, obere Unterschicht) getragen

Bedeutung der spannungen

Klassen-

Entwicklung bis 1940

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• regionale Hauptstadt bildet das Zentrum der nationalistischen Bewegung

- nationalistische Bewegung findet mehr Rückhalt im kleinstädtischen und ruralen Milieu

- Mehrheit der regionalen Bevölkerung unterstützt Nationalisten

• Nationalisten bilden Minderheit innerhalb der eigenen Region-, weder die Großbourgeoisie noch die Arbeiter unterstützen die Bewegung

- Klassenkonflikte schwächen Position der Bourgeoisie als Sprecherin nationalistischer Bewegung, dämpfen aggressiven Nationalismus

- da Großbourgeoisie u. Arbeiterschaft sich nicht mit nationalistischer Bewegung identifizieren, stehen Klassenkonflikt undAutonomieanspruch der Nationalisten unverbunden nebeneinander. Gegenseitige Verstärkung möglich

- kulturelle Renaissance liegt vor politischer Formierung

-

politische Organisation geht kulturellem Aufschwung voraus

- relativ erfolgreich

-

relativ erfolglos

- organisatorische Differenzierung

- Bewegung wird nur durch eine Organisation vertreten

2.6. Widerstandsformen gegen das Franco-Regime Es soll hier nicht auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der beiden Regionen unter der Franco-Herrschaft eingegangen werden, da dies, zumindest was das Baskenland betrifft, im nächsten Kapitel noch ausführlich geschehen wird. Gleichwohl muß zum besseren Verständnis des Wiederauflebens des Nationalismus bereits hier ein für beide Minderheiten konstitutives Faktum eingeführt werden; die brutale, systematische Politik der Unterdrückung und Auslöschung der baskischen und katalanischen Ethnie, die vom Franco-Regime betrieben wurde. Dabei dürfte beim Diktator selbst sowohl der Rachewunsch gegenüber zwei Regionen eine Rolle gespielt haben, die beide (im Falle des Baskenlandes gilt dies allerdings nur für die nördlichen Provinzen Vizcaya und Guipúzcoa) auf der Seite des republikanischen Gegners mitgekämpft hatten, als auch der aus prinzipiellen Überlegungen gespeiste Entschluß, die vergleichsweise günstige Gelegenheit für die definitive Schaffung eines starken zentralistischen Einheitsstaates zu nutzen. Die Repressionsmaßnahmen setzten unmittelbar nach der Eroberung der beiden Gebiete (Baskenland: 1938; Katalonien: 1939) ein 84 . In beiden Regionen wurden Hunderte von Personen hingerichtet, Tausende wurden eingesperrt, Hunderttausende flüchteten ins Exil. Die öffentliche Verwaltung wurde "gesäubert", sämtliche lokale Beamten wurden durch Funktionäre aus anderen Teilen Spaniens ersetzt. Auch die Kirche blieb von dieser "Personalpolitik" nicht ausgenommen - Katalonien und die baskischen Provinzen hatten während des größten Teils der Franco-Herrschaft nur Bischöfe, die nicht aus der Region stammten. Alle Zeugnisse der Regionalkultur wurden entfernt, zerstört, verboten: Aus Bibliotheken und Buchhandlungen verschwanden die Druckerzeugnisse in der Regionalsprache, Institute und Akademien, die sich der Pflege und wissenschaftlichen Erforschung der regionalen Tradition widmeten, wurden geschlossen, regionalistische Denkmäler geschleift, Straßen- und Geschäfitsnamen mußten ins Kastilische übersetzt werden. Der Gebrauch des Katalanischen bzw. Baskischen bei Behörden und im öffentlichen Verkehr wurde mit Strafen belegt und die regionale Sprache und Kultur konsequent aus dem Erziehungswe49

sen verbannt. Den Unterricht an den Schulen übernahmen Lehrer aus anderen Gebieten Spaniens, die Kinder durften sich nicht einmal untereinander in ihrer Muttersprache verständigen. Darüber hinaus ergriff die Zentralregierung gezielte Maßnahmen, um den wirtschaftlichen Einfluß der beiden Regionen im spanischen Kontext einzudämmen. Hinsichtlich Kataloniens wurde sogar unmittelbar nach Beendigung des Bürgerkrieges die Forderung nach Reagrarisierung der Zone und dem Abtransport der Industrieanlagen in andere Gebiete laut 85 . Die baskischen Provinzen, die ungeachtet ihres Zusammengehörigkeitsgefühls nie eine politisch-administrative Einheit gebildet hatten, wurden unter Franco erneut militärisch, kirchlich und juristisch in verschiedene Gebietseinheiten bzw. Einflußzonen aufgeteilt, um jeden Zweifel darüber auszuräumen, daß es in den Augen der Regierung keine baskische Nation Ct/1

gab . Beide Regionen mußten erhebliche finanzielle Opfer für die Entwicklung anderer Teile Spaniens erbringen. Das von ihnen entrichtete Steuervolumen lag weit über den Summen, die ihnen von der Staatskasse für lokale Verwaltungszwecke zugestanden wurden; den katalanischen Unternehmern war es zudem zunächst nicht gestattet, in Katalonien selbst zu investieren. In beiden Gebieten erfuhr der Ausbau der Infrastruktur eine mehr als stiefmütterliche Behandlung 87 . Wie verhielt sich die Bevölkerung der beiden Regionen angesichts der geschilderten wirtschaftlichen Diskriminierung und der Negierung ihrer kulturellen Tradition durch die Zentralbehörden? Fügte sie sich oder lehnte sie sich auf? Bei der Beantwortung dieser Frage überspringen wir die ersten zehn Jahre der Franco-Herrschaft, in denen der Widerstand noch großenteils von außerhalb des Landes residierenden Regierungen und Parteien getragen und von der Hoffnung beflügelt war, die spanische Diktatur, ein Relikt der vergangenen faschistischen Epoche, werde unter dem diplomatischen Druck und den wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen der Westmächte zusammenbrechen. 1950 waren diese Hoffnungen zerronnen, es wurde deutlich, daß die USA wegen des Spannungsverhältnisses zur Sowjetunion keine politische Destabilisierung der iberischen Halbinsel riskieren wollten, die politischen Widerstandsgruppen innerhalb und außerhalb Spaniens mußten sich auf eine längerfristige Machtausübung

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durch Franco einrichten. Der Versuch der kulturellen Minderheiten, in dieser wenig aussichtsreichen Situation zu überleben, nahm im wesentlichen drei Formen an 88 . Eine erste bestand in der ostentativen, manchmal als offene Rebellion sich manifestierenden politischen Verweigerung gegenüber einem Regime, das sie nicht als Ethnie anerkennen wollte ("Negation der Negation" nach Nuñez). Die zweite Überlebensstrategie bildete der Rückzug aus der politischen Sphäre in die vielfaltigen Assoziationen und Organisationen der zivilen Gesellschaft, die damit eine halbpolitische Färbung erhielten. Während die oben genannten, mehr passiven Formen kultureller Selbstbehauptung in beiden Regionen anzutreffen waren, unterschieden sich diese in ihren Bemühungen, dem von der Zentralregierung ausgehenden Nivellierungsdruck aktiv zu begegnen. In Katalonien konzentrierte sich der Widerstand auf die Verteidigung der regionalen Sprache und Kultur, während im Baskenland die Untergrundorganisation ETA das Regime durch Gewaltaktionen in die Defensive zu treiben versuchte. Wie wenig die Bevölkerungsmehrheit beider Regionen bereit war, die Legitimität des von Franco errichteten Herrschaftssystems zu akzeptieren, läßt sich aus der hohen Zahl von Enthaltungen bei Referenden ersehen 8 ^. Wenngleich die Ergebnisse offiziellen Statistiken entnommen sind, so daß eine Verfälschung der Zahlen nicht auszuschließen ist, sprechen diese doch eine deutliche Sprache. Neben den beiden Referenden von 1947 (Ley de Sucesión) und 1966 (Ley Orgánica del Estado) nehmen wir auch die Abstimmung von 1976 (Ley de Reforma Política) in die Tabelle auf, da sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der Überführung der Diktatur in eine offenere Regierungsform stand.

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Tabelle 4: Enthaltungen bei Referenden (in %)

Katalonien Baskentand (Guipúzcoa) (Vizcaya) Spanien insgesamt

1947

1966

1976

13.7 9.8 (8,4) (12,7) 11,4

10,8 19,4 (24,2) (21,3) 10,8

26,2 42,8 (55,1) (46,9) 22.6

Quelle: Luis C. Núñez: La Sociedad Vasca, San Sebastián 1977, S. 49 u. 51. Besonders beeindruckend ist die kontinuierlich zunehmende Protesthaltung im Baskenland, vor allem in der Provinz Guipúzcoa, während die Enthaltungsraten Kataloniens nur etwas über dem spanischen Mittelwert liegen. Hier deutet sich ein Intensitätsunterschied in der Ablehnung des Regimes durch die beiden Minderheiten an, der im unterschiedlichen Vorgehen der jeweiligen Avantgarde des Widerstandes eine Entsprechung fand. Die Zurückweisung des diktatorischen Herrschaftsanspruchs nahm bisweilen auch die Form offener Auflehnung an. Solche Ausbrüche kollektiven Unmuts erfolgten nicht selten bei Festen und sonstigen wichtigen Anlässen, zu denen größere Menschenmengen zusammenströmten. Schon 1947 geriet eine kirchliche Feier zu Ehren der Jungfrau von Montserrat, zu der sich überraschenderweise 100 000 Teilnehmer eingefunden hatten, zu einer Demonstration für den Katalanismus. 1951 erregte die Bevölkerung von Barcelona die Anhebung der Gebühren für öffentliche Verkehrsmittel. Es kam zu einem mehrtägigen Verkehrsboykott, gefolgt von umfangreichen Streiks, eine offenkundige Herausforderung für ein Regime, das von den Bürgern uneingeschränkte Unterwerfung forderte. Wie wenig es diese von den Katalanen erwarten konnte, wie intakt die Bande regionaler Solidarität geblieben waren, zeigte sich erneut i960, als der Protest des Direktors von La Vanguardia

(der damals führenden Zeitung) gegen eine

auf katalanisch gehaltene Predigt mit einem allgemeinen Kaufboykott gegenüber der Zeitung beantwortet wurde. In den baskischen Provinzen fanden die patriotischen Gefühle vor allem bei der Feier des Nationalfeiertags (am Ostersonntag) Ausdruck, des

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Aberri Eguna, der jedes Jahr in einer anderen Stadt begangen wurde. Darüber hinaus kam es im Baskenland zwischen 1970 und 1975 zu fünf politischen Generalstreiks, die das gesamte öffentliche Leben lahmlegten^ 0 . An diesen Streiks, mit denen in zwei Fällen (1970 und 1975) gegen drohende Todesurteile für baskische Freiheitskämpfer protestiert wurde, beteiligten sich nicht nur Arbeiter und Angestellte, sondern auch kleine Unternehmer, Ladeninhaber, Handwerker, Geschäftsleute, kurz die gesamte Mittelschicht. Zum Verständnis der zweiten Strategie der Selbstbehauptung, dem Rückzug in die zivile Gesellschaft, bedarf es zunächst des Hinweises, daß die Gesellschaft sowohl Kataloniens als auch des Baskenlandes aus einem dichten Geflecht freiwilliger Vereine, Gesellschaften und Gruppen besteht. Die Ursache für die Entstehung eines so reich gegliederten, aus sich selbst heraus tragfahigen sozialen Gefüges ist nicht zuletzt in dem gespannten Verhältnis der Regionen zur staatlichen Zentralmacht zu suchen. Denn aufgrund des Ausfalls der öffentlichen Hand für die Bewältigung von Gemeinschaftsaufgaben war die private Initiative, der Wille zur Selbsthilfe, umso mehr gefordert. Zu den wichtigsten, das öffentliche Leben in beiden Regionen bereichernden Gruppen zählen Pfadfinderverbände, Berg- und Wandervereine, Sportclubs, Chöre und Volkstanzgruppen, in Katalonien kommen noch Institutionen hinzu, die sich der Pflege der Sprache, Kultur und der Erforschung der Regionalgeschichte annehmen, im Baskenland sind die gastronomischen Gesellschaften zu erwähnen. Während der Franco-Diktatur, als offene politische Abweichung sehr riskant war, nahmen, für jedermann verständlich, subtile Gesten und Verhaltensweisen den Sinn einer oppositionellen Haltung an. Auf diese Weise erhielt die Zugehörigkeit zu einem scheinbar unpolitische Ziele verfolgenden Club unter Umständen eine politische Note, bildeten sich Formen politischer Loyalitäts- bzw. Antipathiebekundung heraus, die nur Eingeweihten erkennbar waren: etwa der Besuch eines Theaterstücks, die Mitwirkung an einem bestimmten Lesekreis oder die Teilnahme an einer Sportveranstaltung. Sowohl bei den beschriebenen Formen passiver Resistenz als auch im Falle eines aktiven Vorgehens gegen die staatliche Unterdrückung leisteten 53

kirchliche Institutionen unschätzbare Hilfedienste91. In beiden Regionen schlug sich die Mehrheit des Klerus, vor allem des niederen Klerus, auf die Seite der verfolgten Minderheit. Ihre privilegierte Stellung ausnützend, stellten Pfarrer und Mönche die kirchlichen Einrichtungen bereitwillig Oppositionsgruppen zur Verfügung. Auf die Schlüsselrolle der Abtei von Montserrat bei der Sammlung des regionalen Widerstandes wurde schon hingewiesen. Der Abt von Montserrat wagte es, das Regime ganz offen in einer französischen Zeitung wegen seiner minderheitenfeindlichen Politik anzugreifen. Auch die Gründung der ersten freien Studentenvertretung in Katalonien fand im Schutze eines Klosters statt, desgleichen mehrere Treffen katalanischer Schriftsteller und Künstler. Im Baskenland wurde ebenfalls die erste öffentliche Kritik an der Unterdrückung des baskischen Volkes von Pfarrern geübt, die deshalb sogar ein Schreiben an den Papst richteten 92 . Ein Großteil der Generalversammlungen der ETA fand in Klöstern und Abteien statt, Pfarr- und Gemeindehäuser bildeten lange die bevorzugten Schlupfwinkel, Briefkästen und Waffenlager der Gewaltorganisation. Nicht zufallig befanden sich unter den 16 Angeklagten im Burgos-Prozeß (1970) ein Priester und mehrere ehemalige Seminaristen93. Erst später, als der Terror der ETA immer willkürlichere Formen annahm, rückte der baskische Klerus allmählich von der Untergrundorganisation ab. Entwickelte die Bevölkerung beider Regionen ähnliche Formen des passiven Widerstandes gegen das Regime, so schlugen demgegenüber die kleinen Gruppen, die aktiv auf eine Wiederherstellung der Autonomie hinarbeiteten, unterschiedliche Wege ein. In Katalonien konzentrierte sich der nationalistische Eifer, einem alten Muster folgend, zunächst auf die Bewahrung der Sprache und Kultur, um erst zu einem relativ späten Zeitpunkt (1971, mit der Gründung der Asamblea de Catälunya) in eine politische Initiative zu münden 94 . Die erste Auflockerung des strengen Verdikts, das Franco über den Katalanismus verhängt hatte, fiel noch in die Jahre unmittelbar vor und nach Beendigung des Weltkriegs. Die Erlaubnis zur Wiederauflage einiger katalanischer Klassiker sollte die Weltmeinung gegenüber dem Regime versöhnlicher stimmen. Dabei wurde aber darauf geachtet, daß sich die 54

Beschäftigung mit der katalanischen Kultur und Geschichte auf einen reduzierten Kreis Intellektueller beschränkte, dem vor allem der Zugang zu den Massenmedien versperrt blieb. An dieser Situation sollte sich in den folgenden 12-15 Jahren nur wenig ändern. Zwar stieg die katalanische Buchproduktion von 1945 bis 1955 um ein Mehrfaches an (von 12 auf 96 Bände pro Jahr), wurde insbesondere eine wachsende Zahl ausländischer Werke übersetzt und eroberte sich das Katalanische seinen früheren Rang als Wissenschaftssprache zurück; doch gingen alle diese Leistungen weiterhin auf eine kleine Minderheit besonders Interessierter und Engagierter zurück, von deren Arbeit die Bevölkerungsmehrheit kaum etwas erfuhr. Erst Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre gelang der Durchbruch der kulturellen Renaissance zu einer Bewegung mit breiter Ausstrahlung. Aus der Fülle von Ereignissen und Initiativen, die diesen Durchbruch markierten, seien nur einige besonders wichtige herausgegriffen: etwa die Herausgabe der Kulturzeitschrift Serra d'Or durch die Abtei Montserrat, die binnen kurzem von 12.000 Personen fest abonniert wurde; die Gründung einer Institution zur Förderung der katalanischen Kultur, das Omnium Cultural, im Jahr 1961, durch Industrielle; die Inangriffnahme einer großen katalanischen Enzyklopädie; die Herausgabe einer katalanischen Jugendzeitschrift Oriflama-, die Entstehung mehrerer neuer Verlage (unter ihnen Edicions 62); schließlich das Aufkommen der Nova Catigo, einer Mischung aus Protestsong und Volkslied, die wie kein anderes Medium den regionalen Gefühlen der unterschwelligen Kritik und Unzufriedenheit (vermischt mit Elementen der Jugendbewegung und des Generationenkonflikts) Ausdruck verlieh und die Idee einer katalanischen Sonderidentität popularisieren half 95 . Parallel zu dieser Auffacherung der Kulturbewegung in die Breite stieg die Zahl der jährlich publizierten katalanischen Bücher kontinuierlich an. 1970 wurden nicht weniger als 700 Titel aufgelegt (womit etwa der Stand von 1933 erreicht war), darunter zahlreiche Übersetzungen ausländischer Werke über den Marxismus, über Psychoanalyse, Soziolinguistik etc. Wenngleich die Massenmedien dem Katalanischen zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend verschlossen blieben, konnte doch aufgrund der überwältigenden Vielzahl intellektuellerund künstlerischer Äußerungen in der Regional55

spräche kein Zweifel mehr daran bestehen, daß diese den Überlebenskampf, den sie in den 40er und 50er Jahren bestehen mußte, gewonnen hatte. An diesem kulturellen und intellektuellen Wiederaufstieg Kataloniens hatte die Universität von Barcelona einen entscheidenden Anteil 96 . Der früh beginnende Kampf der Studenten für frei gewählte Vertretungsorgane und gegen die staatlich verordneten Zwangssyndikate von Dozenten und Studenten stellte eine enge Verknüpfung zwischen dem neu erwachenden Katalanismus und den Forderungen nach mehr Demokratie, nach Respektierung der Freiheitsrechte und einem pluralistischen Meinungsklima her. Dadurch gewann die nationalistische Bewegung erneut jene liberal-offene Grundtönung, die sie bereits im 19. Jahrhundert ausgezeichnet hatte. Trotz der Eigendynamik, welche die Universität als relativer Freiraum inmitten einer streng autoritär kontrollierten Gesellschaft insbesondere ab 1965 entwickelte, riß die Verbindung zwischen progressiven Professoren und Studenten einerseits, den Repräsentanten der vorwiegend vom Bildungsbürgertum, Schriftstellern und Künstlern getragenen katalanischen Kulturbewegung andererseits, nie ab. Auch in den baskischen Provinzen Vizcaya und Guipúzcoa waren es zunächst Studenten und Intellektuelle, die am empfindlichsten auf die Existenzbedrohung für die Ethnie reagierten. In einer neueren Studie wird der Nachweis geführt, daß ab i960 die Zahl der in baskischer Sprache über baskische Geschichte, Kultur und Philologie erschienenen Publikationen proportional ähnlich stark angestiegen sei wie in Katalonien 97 . Derselbe Autor muß indessen zugeben, daß, u.a. mangels einer baskischen Universität, die Qualität der Werke, von denen ein hoher Prozentsatz religiösen Themen gewidmet war, deutlich hinter jener in der anderen Region zurückstand 98 . Im Baskenland wurden nicht die Intellektuellen zum Protagonisten des nationalen Widerstands gegen die zentralistische Diktatur, sondern die Gewaltorganisation ETA. Auf die Struktur und Rolle der ETA als militantesten Vertreter des baskischen Nationalismus wird in den folgenden Kapiteln detaillierter einzugehen sein. Hier sei nur vorweg auf zwei Züge der Untergrundorganistion hingewiesen, die für die Phase ihrer Entstehung von Bedeutung

56

waren. Zum ersten ist erwähnenswert, daß die ETA keineswegs von Anfang an auf einen Gewaltkurs festgelegt war. In der Frühphase handelte es sich um eine Gruppe, die sich primär dem Studium der baskischen Sprache, Geschichte und Gebräuche widmete. Und selbst als von ihren Mitgliedern nach mehrjährigen Debatten eine Strategie der "direkten Aktion" befürwortet wurde, sollte es noch einige weitere Jahre (bis etwa 1965) dauern, bevor den revolutionären Parolen violente Taten folgten. Zweitens find die ETA im Frühstadium ihrer Entwicklung, ähnlich wie der katalanische Nationalismus, ihre Anhängerschaft und Mitglieder hauptsächlich bei Studenten und Intellektuellen. Erst in einem späteren Stadium erschloß sie sich Sympathisantengruppen aus anderen sozialen Schichten.

57

3.

Strukturbedingungen ethnischer Radikalisierung während der Franco-Diktatur

3-1• 3.2.

Zwei Ausgangsbefunde Wirtschaftliches Wachstum und Wandel 1955-75

61 sozialer

3-3• Soziale Anomie und politischer Protest 3.4. Die Sondersituation Guipüzcoas und Vizeayas 3.5- Umsetzung des Protestpotentials in organisierte Gewalt 3.6. Entwurf eines Kausalmodells

63 70 80 89 93

3.

Strukturbedingungen ethnischer Radikalisierung während der Franco-Diktatur1

3-1• Zwei

Ausgangsbefunde

Die Analyse der Entstehungsursachen ethnischen Protestes im Baskenland muß vorweg zwei Sachverhalte berücksichtigen. Zum ersten erschiene es verfehlt, die Gründe für den unaufhaltsamen Aufstieg der ETA in deren effizienter Führung und Organisation suchen zu wollen. Die ständigen Zwistigkeiten und Flügelkämpfe, die den Werdegang der Gewaltorganisation von Anfang an begleiteten, vermitteln alles andere als das Bild eines geschlossenen, schlagkräftigen Kampfverbandes. Bei einer ersten Bilanz drängt sich vielmehr der Eindruck auf, die entscheidende Voraussetzung für die bemerkenswerte Behauptungs- und Ausdehnungskraft der Organisation sei ein nicht versiegendes Reservoir von hochmotivierten, d.h. kämpfund opferbereiten Mitgliedern gewesen. Damit bildet die ETA einen weiteren Beleg für die von Mao Tse-tung und anderen Guerillatheoretikern aufgestellte Behauptung, ein Guerillakrieg sei auf Dauer nur dann erfolgreich zu führen, wenn er von breiten Bevölkerungsschichten getragen und y

unterstützt werde . Dank einer von uns erhobenen Stichprobe von ETA-Mitgliedern sind wir in der Lage, genauere Angaben über jene geographischen Zonen und Bevölkerungsgruppen zu machen, in denen die ETA den größten Rückhalt genießt. Wir wissen, daß fast alle ETA-Angehörigen aus den beiden Küstenprovinzen Guipúzcoa und Vizcaya stammen, daß sie zum überwiegenden Teil in einem baskischen Familienmilieu aufwuchsen und der niedrigen Mittelschicht oder der Unterschicht angehören. Damit ist ein wichtiger Ansatzpunkt für eine systematische Untersuchung der Ursachen dieses bewaffneten ethnischen Protestes gegeben. Man wird sich fragen müssen, warum die Gewaltorganisation fast ausschließlich in den beiden Küstenprovinzen Fuß faßte und nicht etwa in den angrenzenden, gleichfalls ganz oder zumindest partiell baskischen Provinzen Alava und Navarra; ja, wie es überhaupt zu erklären ist, daß sich nur die Basken gewaltsam gegen die Diktatur auflehnten, nicht aber Katalanen und Galizier. Welche Strukturmerkmale teilen Guipúzcoa und Vizcaya im Unterschied zu anderen Regio-

nen Spaniens, und wodurch kann wiederum innerhalb der beiden Küstenprovinzen die untere Mittelschicht und Unterschicht baskischen Ursprungs besonders gegen die Zentralregierung und ihre lokalen Vertreter aufgebracht worden sein? Rückt man die Frage nach den Entstehungsgründen der ETA in diese vergleichende Perspektive, so stößt man sogleich auf einen zweiten wichtigen Befund, durch den der Sondercharakter dieser ethnischen Rebellion gegenüber dem Aufbegehren ethnischer Minderheiten in anderen Ländern unterstrichen wird. Das Baskenland zählt keineswegs zu den armen, wirtschaftlich und sozial zurückgebliebenen Gebieten Spaniens 4 . Im Gegenteil: Es steht zusammen mit Katalonien und neuerdings auch Madrid hinsichtlich Durchschnittseinkommen, Industrialisierungsgrad und anderen, den Modernisierungsstand messenden Indikatoren an der Spitze der spanischen Regionen. Mehr noch, in der Zeit der Entstehung der ETA verringerte sich dieser Vorsprung nicht, sondern wurde aufgrund eines beschleunigten wirtschaftlichen Wachstums zunächst noch ausgebaut5. Das bedeutet, daß man die Vorstellung von einer Pro testreaktion auf eine durch die Zentralregierung zu verantwortende wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit als Erklärungsmodell von vornherein beiseiteschieben kann. Wäre dieses Kriterium entscheidend, so hätten andere Regionen Spaniens, insbesondere der vernachlässigte Süden und Westen, weit mehr Anlaß zu Unzufriedenheit und Aufruhr gehabt. Nun sind in neuerer Zeit generell Zweifel an der Idee geäußert worden, daß wirtschaftliches Wachstum politische Stabilität verbürge, während materielle Not erhöhte Protestbereitschaft nach sich zöge. I.K. Feierabend wies nach, daß sozioökonomischer Wandel auf vielfache Weise kollektive Unzufriedenheit erzeugen könne, die sich dann in Gewaltausbrüchen Luft mache, und M. Olson sprach unverblümt von den destabilisierenden Wirkungen wirtschaftlichen Wachstums6. Wir können den generellen Wahrheitsgehalt derartiger Thesen dahingestellt sein lassen, halten sie indes für einen guten Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen. Im Folgenden werden somit zunächst die mehr oder weniger tiefgreifenden Prozesse wirtschaftlichen und sozialen Wandels im Baskenland während

62

der Franco-Ära untersucht, um von daher die Frage der Entstehung ethnischer Protestgewalt au£zurollen.

3.2. Wirtschaftliches Wachstum und sozialer Wandel 1955-75 Alle Autoren, die sich mit der Entwicklung der baskischen Provinzen Spaniens von 1950 -1975 befassen, stimmen darin überein, daß es sich um eine Phase tiefgreifender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen handelte 6 . In wirtschaftlicher Hinsicht zählte zu den entscheidenden Prozessen das Schrumpfen des landwirtschaftlichen Sektors sowohl von seinem Beitrag zum BIP her als auch im Hinblick auf den Erwerbstätigenanteil7. Beide sanken in Guipúzcoa und Vizcaya unter die Zehnprozentmarke ab und liegen damit ähnlich tief wie in den hochindustrialisierten westeuropäischen Ländern. Im gesamten spanischen Baskenland verschoben sich die Relationen zwischen den drei Sektoren wie in Tabelle 5 aufgezeigt. Daß der Prozentsatz der in der Landwirtschaft Beschäftigten 1975 im Durchschnitt noch 10 % überstieg, war vor allem auf das relativ große Gewicht dieses Sektors in Navarra zurückzuführen. Der Abzug von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft kam vor allem der Industrie und dem Dienstleistungssektor zugute. Die Industrie nahm einen raschen Aufschwung, der erst Mitte der 70er Jahre zu Ende ging8. Allerdings zeigt sich bei genauerer Betrachtung, daß die Zahl der in diesem Wirtschaftsbereich Beschäftigten wesentlich schneller anstieg als das Produktionsvolumen. Dies deutet auf geringe Kapitalinvestitionen und eine zunehmende Arbeitsintensität im industriellen Sektor hin (worin ein wesentlicher Grund für die gegenwärtige Krise der baskischen Industrie liegen dürfte). Außerdem wird man differenzieren müssen zwischen der industriellen Entwicklung Vizeayas und Guizpuzcoas einerseits, Alavas und Navarras auf der anderen Seite. Wurde mit dem Industrialisierungsschub nach 1955 in den erstgenannten Provinzen ein bereits Ende des vorigen Jahrhunderts eingeleiteter Prozeß verstärkt und vertieft, so begann demge-

63

g e n ü b e r mit der Industrialisierung Aiavas und Navarras die wirtschaftliche Transformation bis dahin fast rein agrarischer Provinzen^.

Tabelle 5•

Entwicklung der drei Wirtschaftssektoren in den baskischen Provinzen 1955-75 (in Prozent)

PROVINZ/ SEKTOR

BIP

ALAVA Landwirtschaft Industrie Dienstleistungen

20,53 40,52 38,96

SUMME Guipüzcoa Landwirtschaft Industrie Dienstleistungen SUMME NAVARRA Landwirtschaft Industrie Dienstleistungen SUMME VIZCAYA Landwirtschaft Industrie Dienstleistungen SUMME BASKENLAND INSGESAMT Landwirtschaft Industrie Dienstleistungen SUMME*

1955 Erwerbst.

100,0 10,26 62,47 27,28 100,0 30,49 37,47 32,04 100,0 6,90 55,05 38,05 100,0 12,3 53,51 33,6 100,0

32,82 36,87 30,31 100,0 15,08 52,57 32,35 100,0 49,66 24,23 26,12 100,0 15,40 50,79 33,81 100,0 24,83 43,83 31,00 100,0

BIP

1964 Erwerbst.

14,63 52,10 33,27 100,0 8,98 54,38 36,64 100,0 28,35 35,38 36,27 100,0 5,96 57,23 36,81 100,0 11,45 52,16 36,29 100,0

22,37 50,98 26,65 100,0 11,71 55,05 33,24 100,0 33,70 36,69 29,61 100,0 12,37 55,11 32,52 100,0 17,44 50,93 31,62 100,0

BIP

1975 Erwerbst.

7,64 58,21 34,15 100,0 4,50 53,48 42,04 100,0 14,10 43,84 42,06 100,0 3,09 55,50 41,41 100,0 5,71 53,31 40,99 100,0

11,90 58,97 29,13 100,0 9,70 53,76 36,54 100,0 20,91 45,62 33,48 100,0 6,65 54,21 39,14 100,0 10,73 52,90 36,37 100,0

»Abweichungen in den Summen sind durch Auf- bzw. Abrunden bedingt.

Quelle: Cámara de Comercio, Industria y Navegación de Bilbao: Clases Sociales y Aspiraciones Vascas, Bilbao 1979, S. 18

64

Der Dienstleistungssektor nahm in dieser Phase ebenfalls rasch an Umfang zu 1 0 . Sein Wachstum hing indes nur begrenzt mit der Ausdehnung staatlicher Aktivitäten zusammen. Lediglich in Navarra verbesserte sich das öffentliche Dienstleistungsangebot im Bereich der Infrastruktur (Schule, Gesundheitswesen, Verkehr) beträchtlich. In Vizcaya expandierten vor allem der Handel und die Banken, in Guipúzcoa blühte das Tourismusgewerbe auf 1 1 . Das wirtschaftliche Wachstum hatte eine erhebliche Steigerung des allgemeinen Wohlstands in den baskischen Provinzen zur Folge. Sie konnten ihre Position an der Spitze der spanischen Einkommenspyramide im wesentlichen (leichte Abstriche sind bei Guipúzcoa zu machen) halten, teilwebe (wie im Fall Navarras) ihren Rang sogar verbessern 1 2 . Aufgrund seiner, verglichen mit ärmeren Regionen, außerordentlich günstigen Situation wurde das Baskenland zu einem der Hauptanziehungspunkte für die innerspanische Migration. Es zählte neben Madrid und Barcelona zu jenen Zonen, die absolut und vor allem relativ (d. h. gemessen an der bereits vorhandenen Bevölkerungszahl) nach 1950 am meisten Zuwanderer aufnahmen 1 3 . Der größte Teil der Neuankömmlinge stammte aus den angrenzenden Gebieten Altkastiliens und Leóns, nicht wenige hatten aber den weiteren Weg aus Estremadura, Galizien und Andalusien zurückgelegt. Statistischen Angaben des Soziologen Nuñez zufolge waren 1970 von den insgesamt 2,33 Millionen Bewohnern der baskischen Provinzen 688.000, also über 30 %, nicht baskischer Abstammung. Stellt man nicht ausschließlich auf den Geburtsort der Erfaßten ab, sondern bezieht auch die Generation der Eltern in die Berechnung ein, so erhöht sich der Anteil nicht reiner Basken sogar auf knapp 50 Am meisten Fremde (absolut und prozentual) nahm Vizcaya, vor allem die industrielle Ballungszone von Bilbao, auf, gefolgt von Alava und Guipúzcoa, während Navarra deutlich weniger Migranten anzog. Zuwanderung und natürliches Bevölkerungswachstum führten zu einer steigenden Bevölkerungsdichte im baskischen Raum, die in einem auffalligen Kontrast zur allmählichen Entleerung weiter Teile im Süden und Westen Spaniens stand. Die Einwohnerzahl sämtlicher baskischer Provinzen stieg von 1950-75 von 1,4 auf 2,6 Mio., verdoppelte sich also

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fast. Die größten Steigerungsraten fielen in die Jahre 1961-70, in denen beispielsweise Alava am schnellsten von allen spanischen Provinzen zunahm 15 . Nach 1973 flachte sich, bedingt durch die Wirtschaftskrise, die Wachstumskurve etwas ab, 1980 überwog sogar die Zahl der Abwanderer gegenüber jener der Zuwanderer16. Zu diesem Zeitpunkt betrug die durchschnittliche Bevölkerungsdichte im spanischen Baskenland etwa 150 Einwohner/km2 1 7 . Sie erreichte damit mehr als das Doppelte des spanischen Mittelwertes (71 E/km2), wobei jedoch hinzuzufügen ist, daß gerade in diesem Punkt auffallige Unterschiede zwischen den einzelnen Provinzen bestanden; den durchschnittlich oder dünn besiedelten Provinzen Alava und Navarra (mit 80 bzw. 47 Einw./km2) standen Guipúzcoa mit 359 und Vizcaya mit 547 auf einem Quadratkilometer zusammengedrängten Menschen gegenüber; dies sind Dichtezahlen, die an westeuropäische Werte heranreichen und diese teilweise übertreffen (Bundesrepublik: durchschnittlich 248 Ew/km2). 1Q

Der größte Teil der Bevölkerung konzentrierte sich in den Städten . Wenn eingangs von der Schrumpfung des landwirtschaftlichen Sektors nach 1955 die Rede war, so heißt dies zugleich, daß sich viele ehemalige Landbewohner einen neuen Arbeitsplatz in der Stadt suchen mußten. Da auch die Zuwanderer aus dem Süden in erster Linie von den städtischen Industriebetrieben absorbiert wurden, entwickelte sich das Baskenland zu einer der am stärksten urbanisierten Zonen Europas. Besonders hoch ist der Verstädterungsgrad von Alava und Vizcaya, wo 70-80 % der Bevölkerung ihren Wohnsitz in der Provinzhauptstadt oder in deren unmittelbarem Einzugsgebiet haben. Für Guipúzcoa ist eine größere Zahl von gleichmäßig über die Provinz verstreuten Klein- und Mittelstädten mit 10-50.000 Einwohnern charakteristisch, während in Navarra einer Hauptstadt, in der rund 40 % der Bevölkerung konzentriert sind, ein nicht unerheblicher Bevölkerungsanteil gegenübersteht, der auf dem Land bzw. in kleinen Gemeinden lebt. Nimmt man die verschiedenen Dimensionen der eben in ein paar statistischen Daten angedeuteten Verschiebungen nach 1955 in wirtschaftlicher und demographischer Hinsicht zusammen, so ergibt sich das Ge-

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samtbild eines sich sehr schnell vollziehenden, die Mehrheit der baskischen Bevölkerung in vielfältiger Hinsicht tangierenden Wandels. Um das Ausmaß der Betroffenheit des einzelnen und ganzer Gruppen verständlicher zu machen, sollen die Auswirkungen des Wandels für drei Lebensbereiche skizziert werden: den Bereich der sozialen Kontakte, die physische Umwelt und die Berufesphäre. Was das soziale Umfeld der meisten Basken angeht, so wurde es sowohl durch die wachsende Mobilität innerhalb der baskischen Bevölkerung als auch aufgrund des massiven Zuzugs von Migranten umgestaltet. Für jene, die in die Städte abwanderten, lockerten sich die Bindungen an die dörfliche oder kleinstädtische Gemeinschaft, in der sie großgeworden waren, ließ vor allem der stark von katholischen Moralvorstellungen bestimmte Druck sozialer Kontrolle nach, dem sie im engeren Familien-, Nachbarschafts- und Dorfverband ausgesetzt waren. Es eröffneten sich ihnen neue soziale Kontakt- und Interessenfelder, sie lernten ein neues Milieu, einen neuen Lebensstil kennen. Eine noch größere Herausforderung für die traditionelle Lebens- und Sozialordnung bedeuteten die scharenweise aus anderen spanischen Zonen ins Baskenland strömenden Migranten. Sie stellten vor allem in den kleineren und mittleren Kommunen, die noch relativ geschlossen waren, den auf gemeinsamer Sprache, Herkommen, Bräuchen, Umgangsformen und Überzeugungen beruhenden sozialen Grundkonsens infrage, wirkten verunsichernd und zwangen zur Auseinandersetzung mit andersartigen Lebensformen. In den größeren Städten beschleunigte die Zuwanderung neuer ethnischer Gruppen den Prozeß der Durchmischung und Verschmelzung unterschiedlicher Mentalitäten, Vorstellungen und Sitten, der bereits zuvor in Gang gekommen war. Diese sozialen Transformationen müssen vor dem Hintergrund einer sich rapide und radikal verändernden physisch-geographischen Umwelt gesehen werden. Reisende, die das Baskenland in den fünfziger Jahren besuchten, berichten von einem mit grünen Matten und dunklen Wäldern überzogenen Gebiet, dessen Schmuckstücke auf herausgehobenen Plätzen erbaute, Gediegenheit und ästhetische Harmonie ausstrahlende Bauernhöfe, die Caseríos, gewesen seien. Von dieser ländlichen Idylle blieb nur 67

wenig übrig. Vor allem in den beiden am dichtesten besiedelten Provinzen Guipúzcoa und Vizcaya fand man kaum mehr einen von Urbanisierung und Industrialisierung verschont gebliebenen Flecken. Schlimmer als die Tatsache der Streusiedlung als solche war jedoch der mangelhafte Ausbau der Infrastruktur und die hohe Umweltbelastung, von der sie begleitet war 19 . Insbesondere in den beiden Küstenprovinzen waren die öffentlichen Transportmittel äußerst unzulänglich, fehlte es an der erforderlichen Zahl von Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern. Mit den natürlichen Ressourcen der Region, Holz und Eisen, wurde Raubbau getrieben, so daß weite Streifen des Landes teils kahlgeschlagen, teils durch Erdabtragungen verunstaltet waren. Die Luft war verschmutzt, die Gewässer waren voller Unrat. Machten sich all diese Nachteile schon im Hinterland bemerkbar, so akkumulierten sie sich in den größeren Städten. Bilbao, von Lang zu Recht ein urbanisches Chaos genannt, wies von allen europäischen Städten die höchste Luftverschmutzung und wahrscheinlich den geringsten Grünflächenanteil auf. Für die erwerbstätigen Basken veränderte sich neben den zwei angesprochenen Bereichen in der Regel auch das Berufs- und Arbeitsfeld. Dieser Wandel umfaßte mehrere Dimensionen. Eine von ihnen war der deutliche Rückgang der Zahl der Selbständigen20. Er hing eng mit der bereits erwähnten Schrumpfung des landwirtschaftlichen Erwerbssektors zusammen, war aber nicht allein mit der reduzierten Zahl von Bauern zu erklären, sondern signalisierte daneben eine zunehmende Unternehmenskonzentration im Handel und in der Industrie. 1980 standen über 80 % der Beschäftigten in einem arbeitsrechtlichen Abhängigkeitsverhältnis, was weit über dem spanischen Durchschnitt lag und das Baskenland in die Nähe westeuropäischer Verhältnisse rückte. Welche fundamentale Änderung für die Interessen, Perspektiven und das allgemeine Lebensgefühl der Betroffenen es bedeutete, nicht mehr als kleiner Händler, Handwerker oder Landwirt selbständig planen und sich die Arbeit einteilen zu können, sondern eingerahmt und eingespannt zu sein in das hierarchische Gefüge einer Großorganisation, kann an dieser Stelle nur angedeutet werden 21 . Parallel zur Abnahme der Selbständigen vollzog sich die zunehmende Substituierung der Handarbeit durch maschinelle Produktionsverfahren22. 68

Dies bedeutete einerseits eine Entlastung menschlicher Arbeitskraft, vor allem im Primärsektor und in der Industrie, führte jedoch auf der anderen Seite zu neuen sozialen Differenzierungen und Spannungen. Die früher einheitliche Masse der Lohnabhängigen wurde nun in mehrere übereinander geschichtete Teilgruppen ausgegliedert. Um auf der Stufenleiter der betrieblichen Ränge emporklettern zu können, wurde es immer wichtiger, über den Abschluß der Primärschule hinaus zusätzliche Zeugnisse und Qualifikationen vorweisen zu können. Es setzte ein genereller Trend zur Spezialisierung und Professionalisierung ein, dessen Ende zwar noch nicht in Sicht, dessen Resultat jedoch bereits absehbar ist: der Rückgang der Gruppe einfacher, ungelernter Arbeiter, die Zunahme von Facharbeitern und vor allem von Angestellten mittleren und höheren Niveaus2^. Die skizzierten Umwandlungen in der Struktur und dem Anforderungsprofil der verschiedenen Berufe machten eine grundlegende Um Orientierung, vor allem der baskischen Jugend, erforderlich. Sie eröffneten teilweise neue Aufstiegschancen, leiteten aber auch manchen beruflichen Abstieg ein, erzeugten Gefühle der Unsicherheit und Abhängigkeit und versperrten die Erfüllung aus der Tradition hergeleiteter Berufswünsche. Die Schnelligkeit, Intensität und anarchische Art und Weise, in der die beschriebenen Strukturveränderungen abliefen, hängen nicht zuletzt mit dem Fehlen jeglicher kompensierender staatlicher Steuerung zusammen. Richtung und Tempo des wirtschaftlichen Wachstums und der mit ihm verbundenen sozialen Umwälzung folgten primär dem Gesetz der Gewinnmaximierung für jene kleine Gruppe einflußreicher Großunternehmer und Bankiers, die an den Hebeln wirtschaftlicher Macht saß. Unter diesen Umständen kann es nicht verwundern, daß die sozialen Kosten des wirtschaftlichen Akkumulationsprozesses außerordentlich hoch waren und daß dieser schwerwiegende, irreversible Strukturverzerrungen nach sich zog. Beide Begleiterscheinungen konnten nicht ohne Auswirkungen auf das Bewußtsein der Betroffenen bleiben, lassen erwarten, daß viele von ihnen unzufrieden und enttäuscht waren. Wir wollen prüfen, ob es Anzeichen für eine solche verbreitete Enttäuschungshaltung gibt.

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3-3• Soziale Anomie und politischer Protest In der Soziologie werden Phänomene kollektiver Frustration und Abweichung oft unter dem Stichwort soziale Anomie abgehandelt. Der Begriff wurde von E. Dürkheim im Rahmen einer Untersuchung über die soziale Bedingtheit des Selbstmords eingeführt 24 . Dürkheim fand heraus, daß mit überhöhten Selbstmordraten nicht nur, wie zu erwarten, in Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs zu rechnen ist, sondern auch in Jahren rasch zunehmender allgemeiner Prosperität. Seine Erklärung für diesen erstaunlichen Befund lautete, mit dem wachsenden Wohlstand werde das herkömmliche Gleichgewicht zwischen Möglichkeiten und Grenzen individueller Bedürfnisbefriedigung gestört-, es werde eine allgemeine Begehrlichkeit freigesetzt, die sich keinerlei Schranken mehr unterwerfe. Aufgrund ihrer gestiegenen Abhängigkeit von der Erfüllung rasch wechselnder Zerstreuungs- und Konsumwünsche neigten die Menschen eher zu Kurzschlußreaktionen, wenn ihre Hoffnungen und Erwartungen zunichte würden. Eine unmittelbare Übertragung dieser Gedanken auf das Baskenland verbietet sich schon deshalb, weil die Spanier vergleichsweise selten Selbstmord begehen (dies stellte auch Dürkheim bereits fest). Das heißt jedoch nicht, daß die darin enthaltene These von der moralischen und sozialen Erosionswirkung beschleunigten wirtschaftlichen Wandels nicht für die hier interessierende Problematik ethnischer Protestgewalt fruchtbar gemacht werden könnte. Einige Autoren haben bereits auf eine mögliche Verbindung zwischen dem Radikalismus der ETA und den tiefgreifenden Veränderungen im Baskenland hingewiesen. So spricht Beltza von der Krise des baskischen Ethnozentrismus, den er durch die fortschreitende Industrialisierung bedroht sieht 25 . Payne führt die Radikalisierung der Intellektuellen, die er für die wichtigste Trägergruppe der ETA hält, auf Wert- und Identitätskonflikte der Basken wegen der Zuwanderung von Spaniern aus anderen Regionen sowie auf die Säkularisierung der baskischen Gesellschaft zurück. An einer anderen Stelle erklärt er, sowohl die mittelständische Jugend als auch die Arbeiter seien Mitte der 60er Jahre äußerst unzufrieden gewesen . Medburst bezeichnet den "romantischen Nationalismus und Marxismus" der ETA als die Reaktion einiger besonders 70

sensibler Intellektueller auf die individuelle und kollektive Identitätskrise, die durch die politische Unterdrückung, das schnelle Wirtschaftswachstum und die Massenwanderung ausgelöst worden seien . So aufschlußreich diese Behauptungen von Autoren sind, die durchweg die baskische Situation sehr gut kennen, sie werfen im Grunde mehr Fragen auf, als sie beantworten. Zum ersten die Frage, was sich hinter jener mehr angedeuteten als erklärten Verbindung zwischen sozio-ökonomischem Wandel und der Häufung abweichenden Verhaltens im einzelnen verbirgt, die eben als Anomie bezeichnet wurde. Zweitens stellt sich das Problem, ob sich eine solche Verbindung, falls sie existiert, an nachprüfbaren Indikatoren festmachen läßt. Wir können auf die erste Frage keine erschöpfende Antwort geben, jedoch wenigstens fünf Teilprozesse erkennen, die, falls sie beweisbar sind, für die baskische Situation nach 1955 das Attribut "anomisch" gerechtfertigt erscheinen lassen: Zum ersten das Phänomen einer existentiellen Verunsicherung und Infragestellung der baskischen Ethnie, das in der Literatur meist als Identitätskrise des baskischen Volkes angesprochen wird. Eng damit zusammen hing als zweites Moment ein Nachlassen des gesellschaftlichen Wertekonsenses und der sozialen Kontrolle, die auf der verpflichtenden Wirkung einer eigenständigen kulturellen Tradition und der katholischen Glaubenslehre beruht hatten. Die Lockerung der herkömmlichen Moralvorstellungen im Zuge vermehrter beruflicher Mobilität und erhöhter Erwerbschancen führte drittens zu einer gesteigerten Anspruchshaltung, größeren Konsumwünschen und Glückserwartungen im Diesseits - auf diesen Punkt stellt Dürkheim in seiner Anomiedefinition besonders ab. Viertens resultierten aus der Auflösung der traditionelldörflichen Solidargemeinschaften einerseits, der ungleichen Verteilung des kollektiv erwirtschafteten zusätzlichen Wohlstandes andererseits, neue soziale Spannungen und Konflikte. Fünftens ist schließlich ein Faktor anzuführen, der zwar nicht selbst als anomisch bezeichnet werden kann, jedoch die aus den vorgenannten Prozessen entstandenen Gefühle der Unzufriedenheit und des Ärgers erheblich intensivierte und, wie sich zeigen wird, in eine bestimmte Richtung lenkte: die rücksichtslose Unterdrückung der Region durch die zentralistische Diktatur. 71

Der zweite Untersuchungsschritt, Parameter ausfindig zu machen, mit deren Hilfe die Existenz der eben aufgeschlüsselten Bewußtseinsvorgänge empirisch be- oder widerlegt werden kann, fällt wesentlich schwerer. Hier müssen Kompromisse geschlossen werden, die teils durch das vorhandene Datenmaterial, teils durch den investierbaren Zeitaufwand diktiert sind. Am unkompliziertesten war es, Indikaktoren zu finden, die über die Frage des nachlassenden Wertekonsenses und der gelockerten sozialen Kontrolle Auskunft geben. Hier stehen uns Zahlen aus drei Bereichen zur Verfügung: aus dem Bereich des religiösen Verhaltens (Säkularisierungstrend), der Ehe und Familie (Eheauflösungsgesuche) und der Kriminalität. Die Zu- oder Abnahme sozialer Spannungen läßt sich an der Zahl der Streiks ablesen. Für den vom Zentralregime ausgehenden repressiven Druck bedarf es keines besonderen Beweises (vgl. hierzu 3.4.). Für die baskische Identitätskrise und die allgemein gestiegene materielle Begehrlichkeit konnten keine geeigneten Meßgrößen ausfindig gemacht werden. Es ist jedoch anzunehmen, daß sie teilweise in den von uns datenmäßig erfaßten Anomiedimensionen mitenthalten sind. Wenn wir uns als Maßstab für ein mögliches Abbröckeln des herkömmlichen Wertekonsenses zunächst dem Säkularisierungstrend zuwenden, so muß vorausgeschickt werden, daß die baskischen Provinzen nach allen zur Messung der Katholizität heranziehbaren Kriterien (von der Zahl der Bischöfe, Kirchen und Nonnen bis hin zur Priesterdichte) traditionell stets den ersten Platz unter den spanischen Regionen einnahmen 28 . Noch 1980 gingen mindesten 50 % der Bevölkerung am Sonntag regelmäßig in die Kirche29, stellte diese nicht nur als Institution, sondern auch als geistige Autorität einen Machtfaktor ersten Ranges im Baskenland dar. Indes ist nicht zu übersehen, daß zwischen i960 und 1980 ein gewisser Abbau religiöser Glaubensüberzeugungen stattfand. Er war besonders deutlich bei der Jugend und den Intellektuellen zu beobachten, erfaßte jedoch auch breitere Bevölkerungsschichten^0. Es ist in diesem Zusammenhang symptomatisch, daß die ETA im Gegensatz zum traditionell kirchenfreundlichen PNV von vornherein jede religiöse Bindung ablehnte. Der schwindende Einfluß des Katholizismus in dieser Zeit läßt sich an mehreren Indikatoren belegen, von denen hier nur zwei besonders aussagekräftige herangezo72

gen seien: die abnehmende Zahl der Oberseminaristen und der Priesterweihen.

Tabelle 6: Entwicklung der Zahl der Oberseminaristen (abs.) 1960

Alava Guipúzcoa Navarra Vizcaya Baskenland Spanien

110 196 280 168 75« 8.021

1968

135 211 287 222 855 6.995

1975

Rückgang v.1960-75 in X

51 16 6 67 140 2.371

• • • -

53 X 92 X 98 X 60 X 81 X 70 X

Tabelle 7: Entwicklung der Zahl der Priesterweihen (abs.) 1960

1968

1975

Alava Guipúzcoa Navarra Vizcaya

19 25 37 25

16 16 25 18

3 5 5 5

Baskenland

106

75

18

616

321

Spanien

-

Quelle: für Tab 7. u. 8: Nuñez, Luis C.: La Sociedad Vasca Actual, San Sebastián 1977, Tabellen S. 86 u. 90

Beiden Datenreihen ist eine rapide zurückgehende Bereitschaft zum unmittelbaren Dienst für die Kirche zu entnehmen; die Abnahme ist wesentlich intensiver als im restlichen Spanien. Stellte das Baskenland i 9 6 0 noch 9,4 % aller Oberseminaristen Spaniens, so war dieser Anteil 1975 auf

73

6 % gesunken 3 1 . Der Rückgang käme in Tabelle 6 noch deutlicher zum Ausdruck, würde man 1968, und nicht i960 als Basisjahr nehmen. Allerdings hat sich, wie späteren von der spanischen Kirche herausgegebenen Daten zu entnehmen ist, die Zahl der Oberseminaristen im Baskenland nach dem Tiefstand von 1975/76 wieder etwas erholt 3 2 . Ahnliche Erholungstendenzen sind bei den Priesterweihen nicht sichtbar. Der Abnahmetrend setzte insoweit wesentlich früher, nämlich bereits in den 50er Jahren ein, erreichte, wie aus Tabelle 7 zu ersehen ist, zwischen 1968 und 1975 ein die Entwicklung im übrigen Spanien weit hinter sich lassendes Ausmaß, und ist seitdem nicht zum Stillstand gekommen. Neuerdings läßt sich überdies eine immer größere Zahl bereits geweihter Priester wieder in den Laienstand zurückversetzen, so daß der Umfang der Priesterschaft im Baskenland stetig schrumpft 3 3 . Wenngleich die aufgeführten Zahlen den vermuteten Säkularisierungstrend in aller Deutlichkeit belegen, wird man bei ihrer Interpretation zwei Einschränkungen nicht unberücksichtigt lassen dürfen. Zum ersten ist anzumerken, daß das Baskenland in der Entkirchlichung der Gesellschaft der gesamtspanischen Entwicklung nicht vorausgeeilt ist, sondern nur seinen traditionellen Vorsprung an kirchlich-religiösem Engagement gegenüber den meisten anderen spanischen Regionen eingebüßt hat. Zweitens wird man sich skeptisch fragen müssen, wie dauerhaft und vor allem wie tiefgreifend der Trend ist, der in solchen Datenreihen seinen Niederschlag findet. Kann man wirklich annehmen, Dogmatismus und Ausschließlichkeitsanspruch, zwei Denkmuster, die untrennbar mit der katholischen Glaubenslehre verbunden sind, seien hiermit endgültig aufgelöst und überwunden? Ist es nicht vielmehr wahrscheinlicher, daß diese Glaubenshaltungen in säkularisierter Form in den politischen und sozialen Auseinandersetzungen fortleben? Könnte hier nicht eine der wesentlichen Wurzeln für die von Anbeginn an mit außerordentlicher Härte geführten ideologischen Richtungskämpfe innerhalb der ETA liegen? Wir lassen diese Frage zunächst offen und wenden uns einem zweiten, auf Verschiebungen in der Wertsphäre äußerst empfindlich reagierenden Bereich zu, dem Bereich von Ehe und Familie.

74

Hier steht uns als Indikator die numerische Entwicklung der bei den kirchlichen Tribunalen eingereichten Eheauflösungsgesuche zur Verfügung. Bekanntlich gab es vor 1980 in Spanien keine offizielle Ehescheidung. Inzwischen ist ein entsprechendes Gesetz erlassen worden. Das bedeutete, daß die Idee des Auseinandergehens der Ehepartner mit starken Tabus belastet war und erklärt, warum die Zahl der Eheauflösungsgesuche, gemessen an den Scheidungsraten in Zentraleuropa, nur ein sehr bescheidenes Ausmaß erreichte^ 4 . Was hier jedoch interessiert, sind weniger die absoluten Zahlen als die Steigerungsraten. Diese sind, wie aus nachstehender Tabelle zu ersehen ist, beträchtlich.

Tabelle 8: Numerische Entwicklung der Eheauflösungsgesuche (abs.) 1969

1970

1971

1972

1973

1974

1977

D i f f . 19771969 in X

Alava

11

11

10

20

17

Guipúzcoa Navarra

47 26

52 23

88 55

81 68

Vi zcaya

79

77

66 51 90

90

Baskenland

163

163

217

Spanien

1788

1966

2683

58 87

39

255

88

163 120

247 362

103

150

240

203

253

269

383

562

245

2976

3536

3902

7385

413

Die Zahlen von 1977 übertreffen die von 1969 um das 2,5fache. Der Aufwärtstrend setzte sich für Guipúzcoa und Vizcaya in den Jahren 1978, 1979 weiter fort. Wie dort von den zuständigen kirchlichen Stellen in Erfahrung gebracht werden konnte, stieg in beiden Provinzen die Zahl der Anträge 1979 auf 295 (Guip.) bzw. 351 (Vize.) Da das ursprünglich für Vizcaya allein zuständige kirchliche Gericht in Bilbao die Flut der Gesuche nicht mehr bewältigen konnte, wurde 1977 ein zweites, 1979 ein drittes für Eheauflösungsanträge zuständiges Tribunal eingerichtet.

75

Die Zahlen bestätigen also durchaus die Hypothese eines signifikanten Einstellungswandels gegenüber Ehe und Familie, ähnlich wie bei der Beurteilung des Säkularisierungstrends ist aber auch hier vor voreiligen Schlußfblgerungen zu warnen. Die verfügbaren Daten bilden eine allzu schmale Argumentationsbasis. Wie zudem die nur mäßige Zunahme der Gesuche bis 1972/73 zeigt, handelt es sich hierbei um eine erst relativ spät einsetzende Entwicklung, deren wahre Dimensionen sich möglicherweise erst in den nächsten Jahren zeigen werden. Auch ist skeptisch anzumerken, daß die Steigerungsraten im Baskenland insoweit keineswegs den gesamtspanischen Rahmen sprengen. Handelt es sich bei den Eheauflösungsanträgen um einen unkomplizierten Indikator, so fallt es weit schwerer, mit der Kriminalität als Maßstab für die Brüchigkeit sozialer Normen zu operieren. Diese Schwierigkeit rührt nicht nur daher, daß es eine Vielzahl von Delikten gibt, die jeweils verschiedene Aspekte des gesellschaftlichen Wert- und Normgefüges repräsentieren, sondern auch aus der Fragwürdigkeit von Kriminalitätsstatistiken an sich. Diese messen, wie die neuere Kriminalsoziologie nachwies, im allgemeinen weniger die Deliktshäufigkeit als den Tätigkeitsaufwand der Polizei und des Justlzapparats^5. Unter diesen Umständen kommt der Entscheidung, welche Straftatbestände ausgewählt und anhand welcher Meßwerte ihre zeitliche Entwicklung verfolgt werden soll, erhebliche Bedeutung zu. Im Hinblick auf die Fragestellung der Studie lag es nahe, den Gewaltdelikten besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Zum Vergleich wurden die Eigentums- und Vermögenskriminalität und, um einen Eindruck von der Auflehnung gegen Regierung und Staat zu gewinnen, die Verstöße gegen die "innere Sicherheit" herangezogen. Es wurde davon ausgegangen, daß das erste Bearbeitungsstadium durch Polizei und Staatsanwaltschaft den relativ zuverlässigsten Aufschluß über die Deliktshäufigkeit gibt. Aus diesem Grund stützten wir uns bei unseren Berechnungen auf die Diligencias previas, d.h. auf die gerichtlichen bzw. staatsanwaltschaftlichen Voruntersuchungen. Nicht wenige der in diesen Voruntersuchungen geprüften Fälle werden zwar später nicht weiterverfolgt, sei es mangels Täterangabe oder weil gar kein Delikt im Sinne des Gesetzes vorliegt. Da jedoch durchgehend nach diesem Kriterium verfahren wurde 76

und hier nicht die absoluten Zahlen, sondern nur die Vergleichswerte interessieren, beeinträchtigt dies den Aussagewert der Daten nicht wesentlich. Die Deliktszahlen wurden für den Zeitraum von 1968-78 erfaßt 3 6 . Der Einfachheit halber sind in den beiden folgenden Tabellen nur die Anfangsund Endwerte sowie die Differenz zwischen ihnen (in %) angegeben.

Tabelle 9: Entwicklung der Kriminalität in Spanien 1968-78 am Beispiel ausgesuchter Delikte (abs.) 1968 Körperver t etzung Diebstahl Raub Betrug Gefährdung innerer Sicherheit

5.438 22.520 23.000 3.987 720

1978

Steigerungsrate (in X)

24.257 75.739 142.581 8.079 3.038

346 254 520 120 322

Tabelle 10: Entwicklung der Kriminalität im Baskenland 1968-78 für ausgesuchte Delikte (in % des jeweiligen gesamtspanischen Deliktsvolumens) Körperverletzung Diebstahl Raub Betrug Gefährdung innerer Sicherheit

1968

1978

Steigerungsrate in X

5.53 6,70 6.92 5.56 8.75

3,09 6.23 5.59 4,52 21,60

- 2,44 - 0,57 - 1.33 - 1,04 • 12,85

Baskische Bevölkerung 1975 (in % der span. Bevölkerung): 7.48 Quellen für Tabellen 10 und 11: Memoria del Fiscal General del Estado, Jahrgänge 1968-79-

Bei der Interpretation der in den Tabellen wiedergegebenen Zahlenreihen ist es wichtig, "gewöhnliche" Delikte (Körperverletzung, Diebstahl, Raub, Betrug) vom politischen Tatbestand der "Gefahrdung der inneren Sicherheit" zu trennen. Läßt man den letzteren zunächst beiseite, so deuten alle verfügbaren Daten darauf hin, daß das Baskenland im Vergleich zum restlichen Spanien eine unterdurchschnittliche Kriminalitätsrate aufwies und weiterhin aufweist. Damit soll nicht gesagt sein, die baskischen Provinzen hätten keinen Anteil an der außerordentlichen Zunahme des gesamt-

77

spanischen Deliktsvolumens seit 1968 gehabt. Doch blieben ihre Wachstumsraten klar erkennbar hinter dem spanischen Durchschnitt zurück, ein Ergebnis, das umso bemerkenswerter ist, als im übrigen gerade die großstädtischen Ballungsräume, allen voran Madrid und Barcelona, eine sprungartige Steigerung der Kriminalität zu verzeichnen hatten 37 . Daß das ebenfalls hochgradig urbanisierte Baskenland insoweit besser abschneidet, läßt den Schluß zu, der im religiösen Bereich zutagegetretene Abbau traditionell-katholischer Glaubensüberzeugungen habe nur bedingt eine Lockerung der ethischen und moralischen Normen zur Folge gehabt. Dabei muß jedoch zwischen den vier Provinzen differenziert werden. Beispielsweise gilt für Alava und Navarra, daß die 1968 noch teilweise über dem Bevölkerungsanteil liegenden Kriminalitätsraten durchweg zurückgingen. Demgegenüber nahm in Vizcaya und Guipüzcoa der entsprechende Anteil am jeweiligen gesamtspanischen Deliktsaufkommen deutlich zu, vor allem im Bereich der Gewaltkriminalität. Möglicherweise liegt in dieser Steigerung ein Indiz dafür, daß sich anomische Tendenzen in diesen beiden Provinzen vorzugsweise über Aggressionen ein Ventil schufen. Im Gegensatz zu dem insgesamt bescheidenen Anteil des Baskenlandes an der normalen Kriminalität steht seine weit überproportionale Beteiligung an den "Verstößen gegen die innere Sicherheit". Dieser vermutlich mit Absicht sehr vage definierte Begriff deckte in der Franco-Ära eine breite Palette von Vergehen ab, von Beleidigungen des Staatsoberhauptes über geheime Druckerzeugnisse, untersagte Versammlungen, verbotene Vereinigungen und Demonstrationen bis hin zu illegaler Propaganda und öffentlichen Unruhen 38 . Bezeichnenderweise wiesen die baskischen Provinzen hinsichtlich dieser politischen Straftatbestände schon 1968 überdurchschnittliche Werte auf, die dann bis 1978 noch kräftig emporschnellten. In diesem Jahr betrug der Anteil des Baskenlandes an der Gesamtzahl der Delikte gegen die innere Sicherheit mit 21,60 v.H. fast das Dreifache des entsprechenden Bevölkerungsanteils. Der auffällige Kontrast zwischen unterdurchschnittlichen Häufigkeiten bei gewöhnlichen Delikten und einem überaus intensiven Engagement bei allen Aktionen, die geeignet waren das Regime zu provozieren, läßt den Schluß zu, die durch soziale

78

Umschichtung»- und Abstiegsprozesse erzeugten Frustrationen seien seltener individuell abreagiert als vielmehr in die Kanäle kollektiven politischen Protestes geleitet worden. Die Bereitschaft der Basken zu kollektivem Widerstand kommt auch beim letzten hier behandelten Indikaktor, dem Streik als Meßwert für soziale Spannungen, deutlich zum A u s d r u c k t

Tabelle 11: Streiks im Baskenland (in % der gesamtspanischen Streiks)

Gesamt-Spanien (abs.) Alava Guipúzcoa Navarra Vizcaya

Zahl der Streiks 1963-197«

Zahl streik. Arbeiter 1967-1974

wegen Streik ausgefallene Stinden 1968-197*

9.061 (100X)

1.706.542 (100%)

49.350.211 (100%)

0,5 18,0 3.5 15,0

0.7 10,9 2.8 15.9

1.3 15.2 «.3 14,8

Quelle: Núñez, Luis C.: Clases Sociales en Euzkadi, San Sebastián 1977, S. 189.

Bedenkt man, daß die Zahl der Erwerbstätigen im Baskenland rund 11 % aller Erwerbstätigen Spaniens ausmacht, so läßt sich aus Tabelle 11 nach allen drei dort erfaßten Indikatoren eine mehr als zweifache den spanischen Durchschnitt übertreffende Streikfreudigkeit der baskischen Arbeiter entnehmen. Auch dieses Ergebnis gibt der Hypothese Nahrung, anomische Tendenzen träten im Baskenland weniger als abweichendes Verhalten einzelner in Erscheinung, denn in der Form sozialen Aufruhrs oder politischen Protests. Der Versuch, aus den vorangegangenen Daten ein vorläufiges Fazit zu ziehen, fallt nicht leicht. Denn einerseits bestätigen die statistischen Materialien zwar die Hypothese einer gewissen Auflösung überkommener Wert- und Identitätsmuster, gelockerter sozialer Kontrollmechanismen und einer gestiegenen Aggressivität gegenüberden wirtschaftlich Mächtigen und dem Staat. Auf der anderen Seite bleiben jedoch Zweifel, ob das beobachtete Ausmaß anomischer Tendenzen hinreicht, um die Entstehung einer ethnischen Aufstandsbewegung in den baskischen Provinzen nach i 9 6 0 zu

79

erklären. Diese Zweifel erscheinen umso berechtigter, als der Niedergang der alten Wert- und Moralordnung nicht ein spezifisch baskisches Problem war, sondern in anderen Teilen Spaniens mit ähnlicher Intensität vonstatten ging. Das Baskenland war auch nicht die einzige Region, die auf den beschleunigten sozialen Wandel, der von starkem politischen Druck begleitet war, mit Aufruhr und Unruhen reagierte. In Barcelona und Madrid gab es ebenfalls Streiks unter Franco, auch dort gingen die Studenten protestierend auf die Straße. Allerdings nahm in keinem anderen Teil Spaniens der politische Protest so heftige und dauerhafte Formen an wie im Baskenland. Vielleicht läßt sich die Sonderentwicklung der Region aus der Kombination jener beiden Wandel- und Anomieprozesse erklären, hinsichtlich derer sich die Basken deutlich von der übrigen spanischen Bevölkerung abheben: der Abruptheit der Säkularisierung, verbunden mit der Tendenz zu kollektiver Gegenwehr und Auflehnung. Möglicherweise hat sich ein Teil des Eifers und der Überzeugungsintensität, die früher im religiöstranszendentalen Bereich gebunden waren, im Zuge der Säkularisierung in die sozialen und politischen Konflikte hinein verlagert. Liegt hier nicht ein Schlüssel für die Kompromißlosigkeit und Intoleranz, mit der diese Konflikte von allen Beteiligten durchgefochten werden? Wenn diese Hypothese nicht verkehrt ist, wird man jedoch sogleich weiter fragen müssen, warum sich gerade Guipúzcoa und Vizcaya als Zentrum des politischen und sozialen Widerstandes hervortaten, warum die Wiege der ETA in diesen Provinzen Hegt, und nicht im übrigen Baskenland. Um diese Frage zu beantworten, bedarf es der Erläuterung einiger Sonderbedingungen in den beiden baskischen Küstenprovinzen, die bisher nur gestreift wurden.

3.4. Die Sondersituation Guipúzcoas und Vizeayas Bei der Erörterung der besonderen Merkmale der beiden Küstenprovinzen müssen wir noch einmal auf die unter 3-2. behandelten wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen nach 1955 zurückkommen. Zu diesen Veränderungen zählte beispielsweise das schnelle Schrumpfen des landwirtschaftlichen Sektors, das für viele Landwirte den Verlust der Selbständig80

keit oder zumindest den Zwang zur Annahme einer zusätzlichen Teilzeitbeschäftigung in der Industrie bedeutete. Auf der anderen Seite wissen wir, daß viele ETA-Mitglieder einem halbbäuerlichen Milieu aus dem Hinterland der Provinz Guipúzcoa entstammen. Besteht zwischen beiden Phänomenen ein Zusammenhang? Der in 3-2. herausgestellte Rückgang der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft traf in den vier Provinzen auf unterschiedliche Agrarstrukturen: in Guipúzcoa und Vizcaya stand die Weide- und Forstwirtschaft im Vordergrund, dagegen wurde in Alava und Navarra der größte Teil des Bodens landwirtschaftlich genutzt 4 0 . In den beiden erstgenannten Provinzen war die Verstädterung bereits weiter fortgeschritten, die Überalterung auf dem Land entsprechend größer, auch die Teilzeitbeschäftigung von Bauern in der Industrie verbreiteter. Besonders ins Gewicht fielen die Unterschiede hinsichtlich der Betriebsgröße und Bewirtschaftungsform. Waren in Guipúzcoa und Vizcaya fast ausschließlich kleine und kleinste Betriebe anzutreffen, s o entfiel demgegenüber in Navarra und vor allem in Alava ein nicht unbeträchtlicher Teil der landwirtschaftlich genutzten Fläche auf den Großgrundbesitz. Dominierte in den beiden Küstenprovinzen der selbständige Kleinbauer, so waren im übrigen Baskenland auch Pacht und andere Rechtsformen gebräuchlich.

Tabelle 12: Landwirtschaftliche Betriebe nach Größenklasse (in %) 1-5 ha

6-20 ha

über 50 ha

Suim

Alava Guipúzcoa Navarra Vizcaya

37,1 37.8 38.2 36,6

34,6 52,0 49,4 58,3

21,1 8.6 9.2 3,9

7.2 1.6 3.2 1.2

100 100 100 100

Basken Land

37.2

44,8

14,6

3.4

100

Spanien

77,8

17.5

«.7

21-50 ha

-

100

Quelle: Caja Laboral Popular: La Economía y el Mercado Común Europeo, Oyartzun 1980, S. 182.

81

Tabelle 13: Durchschnittliche landwirtschaftliche Betriebsgröße (in ha) 1962

1972

Alava Guipúzcoa Navarra Vizcaya

21,2 9,0 16,9 5.8

31.0 15.1 23.5 8.1

Baskenland

13.2

19,0

Quelle: Cámara de Comercio, Industria y Navegación de Bilbao: Clases Sociales y Aspiraciones Vascas, Bilbao 1979, S. 78. Die aus den statistischen Daten ablesbaren Unterschiede zwischen den Provinzen mögen nicht erheblich erscheinen. Kombiniert man sie jedoch mit qualitativen Aussagen zu dieser Problematik, s o ergibt sich folgendes Bild: In Guipúzcoa und, in geringerem Maße, auch in Vizcaya bedeutete die Marginalisierung des landwirtschaftlichen Sektors nicht lediglich die Abwanderung der darin Beschäftigten in einen anderen Wirtschaftsbereich, sondern rührte an tieferreichende Identitätsstrukturen. Der von einer Familie aufgrund erblichen Besitzes bewirtschaftete Einzelhof, el caserío, war nicht eine landwirtschaftliche Betriebsform wie jede andere, sondern eine soziale Institution,die mit einer bestimmten Lebensweise und Weltsicht verbunden war. Es ist deshalb unschwer vorstellbar, daß der Niedergang des Caserío sowie der Zwang, sich in Lohnabhängigkeit zu begeben, bei den ehemals selbständigen Bauern und ihren Söhnen starke Ressentiments gegen die neue Gesellschaftsordnung und deren wirtschaftliche und politische Machtexponenten auslöste 4 1 . In Alava gab es kein in vergleichbarer Weise verwurzeltes Bauerntum, teils wegen des verbreiteten Großgrundbesitzes, teils aufgrund der Tatsache, daß nur rund 25 % der Güter von den Eigentümern bewirtschaftet wurden (Vergleichwerte für Guipúzcoa und Vizcaya: 91,9 bzw. 80,6 %) 4 2 . In Navarra, wo der Großgrundbesitz eine geringere Rolle spielte als in Alava, konnte sich der landwirtschaftliche Sektor insgesamt besser behaupten als in den übrigen baskischen Provinzen, so daß dort kein Anlaß für Gefühle der Marginalisierung und existentiellen Bedrohung bestand. 4 ^

82

Als weiterer gravierender Verunsicherungsfäktor für die baskische Bevölkerung wurde die Zuwanderung aus dem Süden und Westen Spaniens hervorgehoben. Auch hinsichtlich dieser Herausforderung läßt sich bei näherem Hinsehen ein unterschiedliches Maß der Betroffenheit zwischen den vier Provinzen erkennen. Es fällt auf, daß Navarra, relativ und absolut betrachtet, bedeutend weniger Migranten aufnahm als die drei anderen Provinzen44. In dieser Provinz, deren Urbanisierung und Industrialisierung vorwiegend auf provinzinternen Bevölkerungsbewegungen beruhte, entfiel somit die Gefahr einer vermeintlichen Überfremdung als Motiv für einen aggressiven Regionalismus. Außerdem waren unter den Zuwanderern nach Navarra und Alava nicht wenige Facharbeiter aus den baskischen Schwesterprovinzen, auch dies ein Grund für die AbSchwächung ethnozentrischer Reaktionen45. Daneben war die geographische Verteilung der Zugewanderten sozialpsychologisch nicht ohne Bedeutung. Ließen sich diese wie in Alava und Vizcaya vorwiegend in den ohnedies rasch und regellos sich ausdehnenden Provinzhauptstädten nieder, so standen ihrer reibungslosen sozialen Integration weniger Hindernisse im Wege, als wenn sie sich, wie im Falle Guipúzcoas, ziemlich gleichmäßig über sämtliche Städte der Provinz verteilten. Der als bedrohlich empfundene Niedergang des Caserío und die Angst, im eigenen Lande zur Minderheit zu werden, waren eng mit einem dritten Faktor verbunden, der bisher noch nicht erwähnt wurde: dem Rückgang der baskischen Sprache, des Euskara. Dieser Rückzug setzte allerdings nicht erst in jüngster Zeit ein, sondern dauerte schon seit Jahrhunderten an. Er hing teils mit der zielbewußten Sprachpolitik des spanischen Zentralstaates zusammen, teils damit, daß das Baskische, im Unterschied etwa zum Katalanischen, schwer erlernbar ist und zudem bis vor kurzem noch in zahlreiche Dialekte zerfiel. Es handelt sich um eine vorwiegend im mündlichen Umgang in kleineren Gemeinschaften: im Familienkreis, unter Nachbarn und Bekannten verwendete Sprache 46 . Wenngleich die Mehrzahl der Basken sie versteht oder bis vor kurzem verstand, wurde sie doch nur von bestimmten Bevölkerungsgruppen regelmäßig benützt: Vor allem von Bauern, Handwerkern, Kleinhändlern, der ländlich-kleinstädtischen Unter- und Mittelschicht. Trotz dieser be83

grenzten Verbreitung, vielleicht auch gerade deshalb, war das Euskara mehr als ein bloßer regionaler Dialekt. Es war zugleich ein Ausdruck baskischer Eigenart, stand wie das Caserío für eine bestimmte Lebensweise und Tradition und eignete sich deshalb gut als Abgrenzungssymbol der Basken gegenüber den übrigen Spaniern. Neben dem Umstand, daß die baskische Sprache von eben jenen Schichten gesprochen wurde, aus denen die ETA in erster Linie ihre Mitglieder rekrutierte, verdient das Euskara vor allem aus zwei Gründen Aufmerksamkeit. Zum ersten, weil die Sprachgrenze, wie sich aus Sprachatlanten entnehmen läßt, weitgehend (mit Ausnahme des nördlichen Zipfels von Navarra) identisch war mit den Provinzgrenzen von Vizcaya und Guipúzcoa 47 . Das heißt zwar nicht, daß innerhalb der beiden Küstenprovinzen jedermann baskisch sprach oder verstand, während in Alava sowie im mittleren und südlichen Teil Navarras ausschließlich spanisch als Umgangssprache benützt wurde. Die Sprachgrenze markierte jedoch ein klares Gefälle hinsichtlich der Verbreitung des Euskara und der Intensität seiner Verwendung. Zweitens ist auf die oben getroffene Feststellung zurückzukommen, das Baskische sei in dem hier interessierenden Zeitraum zwischen 1950 und 1970 in erhebliche Bedrängnis geraten 48 . Die Ursachen seines Rückgangs waren teils in der Unterdrückung der Regionalsprache durch die zentralistische Diktatur, teils in der zunehmenden Bedeutung der sich durchweg des Spanischen bedienenden Massenmedien (Rundfunk, Zeitungen), teils schließlich in der wachsenden Verstädterung des Baskenlandes zu suchen. Wichtiger noch als die genannten Gründe war jedoch der massive Zustrom von Bevölkerungsgruppen aus dem Innern und Süden Spaniens, die weder willens noch in der Lage waren, das schwierige Euskara zu erlernen. Hier tritt uns die bereits wiederholt unterstrichene Bedrohung des baskischen Volksstammes und der baskischen Kultur in der äußerlich greifbarsten Form entgegen. Wie aus Tabelle 14 zu ersehen ist, waren vor allem die beiden Küstenprovinzen, die das Gros der Migranten aus dem Süden aufnahmen, von dem Sprachwandel betroffen.

84

Tabelle 14: Rückgang der baskischen Sprache A

B

Prozentsatz der bask. Sprechenden unter den in der Provinz Geborenen Alava Guipúzcoa Navarra Vi zcaya

12 64 14 39

Prozentsatz der bask. Sprechenden unter dien Bewohnern der Provinz (in Prozenten) 9 44 11 16

A-B A Rückgang der Baskisehen in neuerer Zeit in der Provinz 25 31 21 59

Quelle: Nuñez, L.C.: Opresión y Defensa del Euskara, San Sebastián 1977, S. 50. In Vizcaya reduzierte sich aufgrund des Doppeleffektes von Einwanderung und Urbanisierung die Zahl derjenigen, die baskisch sprachen, auf eine unbedeutende Minderheit. Auch in Guipúzcoa waren die Euskaldunes nicht mehr in der Überzahl. Das rivalisierende Nebeneinander von zwei fast gleichstarken Sprachgruppen macht verständlich, daß man dort besonders eifrig um die Verteidigung des baskischen Sprachgutes bemüht war. In der Tat entstand während der Franco-Zeit eine Bewegung zur Wiederbelebung (und Vereinheitlichung) der baskischen Sprache , die ihren Schwerpunkt bezeichnenderweise in Guipúzcoa hatte. Die sprachliche Führungsrolle Guipúzcoas läßt sich anhand mehrerer Indikatoren wie der Zahl baskischer Schriftsteller, baskischer Verlage und Publikationen belegen 5 0 , von denen nur einer herausgegriffen sei, die baskischen Schulen.

Tabelle 15: Verteilung baskischer Schulen 1973/1974 n

X

Alava Guipúzcoa Navarra Vizcaya

13 69 13 37

10 52 10 28

Sume

132

100

Quelle: Nuñez LC.: Opresión y Defensa del Euskara, San Sebastián 1977, S. 94.

85

Zusammenfassend ist festzustellen, daß sowohl hinsichtlich der Gefahrdung der baskischen Sprache und Kultur als auch hinsichtlich der Bestrebungen, sie zu verteidigen, Guipúzcoa an erster Stelle stand, gefolgt von Vizcaya, während für Alava und Navarra das Sprachenproblem von sekundärer Bedeutung war. In dieser Rangfolge zeigt sich eine auffällige Parallele zu den regionalen Rekrutierungsbasen der ETA, deren Mitglieder ebenfalls hauptsächlich aus Guipúzcoa stammten und in etwas geringerer Zahl aus Vizcaya, eine Parallele, die an Substanz gewinnt, wenn man die zeitliche Entwicklung beider Bewegungen vergleicht: die ETA wie die Sprachbewegung entstanden Ende der 50er Jahre, nahmen in den 60er Jahren einen raschen Aufschwung und traten ab 1970 in das Stadium der Konsolidierung ein. Diese Gemeinsamkeiten sprechen dafür, daß beide Protestströmungen weitgehend von denselben sozialen Kräften und Gruppen getragen wurden. Ein viertes wichtiges Unterscheidungskriterium zwischen den Provinzen bildet die Intensität, mit der sie von der zentralistischen Diktatur unterdrückt wurden 51 . Wir erinnern uns, Alava und Navarra kämpften im Bürgerkrieg auf der Seite der siegreichen Aufständischen mit, während Guipúzcoa und Vizcaya die Partei der Republikaner ergriffen. Diese Parteinahme kostete sie nach der Niederlage die ihnen noch verbliebenen lokalen Sonderrechte und brachte sie gegenüber Alava und Navarra in doppelterWeise ins Hintertreffen. Zum ersten aufgrund der überaus harten Unterdrückung, der sie ausgesetzt waren. Jede autonomistische Regung in ihnen wurde aufs unnachgiebigste verfolgt, jede Andeutung einer politischen Oppositionshaltung aufs strengste geahndet. Wie in den baskischen Zeitungen der 60er Jahre nachzulesen ist, wanderten Jugendliche oft reihenweise für Jahre ins Gefängnis, nur weil sie baskische Lieder gesungen, einen baskischen Spruch an die Hauswand gemalt oder Flugblätter in baskischer Sprache verteilt hatten. Zur Illustration der selbst für damalige Verhältnisse ungewöhnlich harten Zwangsherrschaft, die Guipúzcoa und Vizcaya unter Franco erdulden mußten, diene die folgende Übersicht über die regionale Verteilung der Ausnahmezustände von 1956-75 5 2 .

86

Tabelle 16: Erklärungen des Ausnahmezustandes 1956 - 75 Datui 10.02.56 14.03.58 04.05.62 08.06.62 21.04.67 03.08.68 31.10.68 24.01.69 04.12.70 14.12.70 25.04.74

Dauer (in Monaten) 3 4 3 24 3 3 3 2 3 6 3

Geltungsbereich Spanien Atturien Asturien, Vizcaya, Guipúzcoa Spanien Vizcaya Guipúzcoa Guipúzcoa Spanien Guipúzcoa Spanien Viscaya, Guipúzcoa

Quelle: Núñez, Luis C.: La Sociedad Vasca Actual, San Sebastián 1977, S. 126. Die zweite, weniger spektakuläre aber nicht minder belastende Benachteiligung der beiden Küstenprovinzen bestand in ihrer systematischen Zurücksetzung bei der Aufstellung des Staatshaushaltes 5 ^. Als sie noch zur Selbstverwaltung berechtigt waren, zählten Guipúzcoa und Vizcaya stets zu den Provinzen mit den höchsten Pro-Kopf-Ausgaben der öffentlichen Hand für den Bürger. Von dem Augenblick an, da der Verwaltungsapparat in den beiden Provinzen vom Staatshaushalt abhängig wurde, gingen diese Beträge kontinuierlich zurück. Die von Guipúzcoa und Vizcaya an den Zentralstaat abgeführten Steuern lagen stets deutlich über den Summen, die den lokalen Selbstverwaltungskörperschaften vom Finanzministerium zur eigenen Verfügung überlassen wurden. Hier liegt eine der entscheidenden Wurzeln für das ins Auge springende Defizit an infrastrukturellen Einrichtungen, von dem unter 3-2. die Rede war. Gewalt und Willkür von Seiten staatlicher Behörden müssen nicht zwangsläufig zu Aufruhr und Widerstand führen; doch im Falle des Baskenlandes waren Druck "von oben" und vehemente Gegenwehr "von unten" untrennbar miteinander verbunden. Aufmerksame Beobachter der baskischen Situation stellten bereits relativ früh fest, die Polizei und die Regierung trieben durch die wahllosen, breit gestreuten Razzien und Verfolgungsmaßnahmen, die jedem Attentat folgten, der ETA auch jene Gruppen in die Arme, die sich eigentlich weder mit den Zielen noch mit den Kamp-

87

fesmethoden der radikalen Organisation befreunden konnten 94 . Das Regime schien um jeden Preis die von den führenden ETA-Theoretikern aufgestellte These bestätigen zu wollen, das Baskenland sei wie eine Kolonie der Dritten Welt von einer fremden Herrschaftsmacht unterjocht, die nur durch einen Guerillakrieg zum Verlassen des Landes gezwungen werden könne. Spätestens bei dem internationales Aufsehen erregenden Prozeß von Burgos (1970) zeigte sich, daß der Regierung, ungeachtet ihrer repressiven Übermacht, das Gesetz des Handelns entglitten war 55 . Der Prozeß, ursprünglich zu dem Zweck geplant, ein abschreckendes Exempel für all jene zu statuieren, die sich gegen das Regime aufzulehnen wagten, wurde zu einem Propagandaforum für die baskischen Angeklagten, die sich unerschrocken zu ihren Widerstandsaktionen bekannten und schwere Vorwürfe gegen die Politik der Unterdrückung von Minderheiten durch den spanischen Staat erhoben 56 . Die Protesthaltung breiter Teile der baskischen Mittel- und Unterschicht richtete sich aber nicht nur gegen den spanischen Staat, sondern galt darüberhinaus einer kleinen, überaus mächtigen Gruppe, die aus dem beschleunigten Wirtschaftswachstum den Hauptvorteil gezogen hatte: die baskische Wirtschafts- und Finanzoligarchie. Auch in diesem Punkt bestand ein signifikanter Unterschied zwischen Guipúzcoa und Vizcaya einerseits, Alava und Navarra andererseits. Der industrielle Aufschwung der beiden letztgenannten Provinzen war im wesentlichen das Werk einer regionalen, d.h. auf regionaler Ebene operierenden, sich mit den regionalen Interessen identifizierenden Bourgeoisie57. Anders die Situation in Guipúzcoa und Vizcaya: Auch hier waren es Basken, die mit dem Aufbau einer regionalen Industrie begonnen hatten. Sie begnügten sich aber nicht mit der Erschließung der in dieser Zone vorhandenen Märkte und Ressourcen, sondern weiteten ihr Tätigkeitsfeld relativ früh auf das gesamte spanische Territorium aus. Die baskischen Großunternehmerfamilien verlegten ihren Wohnsitz nach Madrid und integrierten sich in die führende Madrider Gesellschaftsschicht, die baskischen Großbanken gründeten Niederlassungen in allen größeren Städten Spaniens und nahmen mit Hilfe der in ihren Händen 88

konzentrierten Macht entscheidenden Einfluß auf die staatliche Wirtschaftsund Finanzpolitik. Die Basken stellten nicht nur, wie dem vorangegangenen Absatz zu entnehmen ist, einen überproportional hohen Anteil an den von Franco Verfolgten und Eingesperrten; sie waren auch in den Führungskadern des Regimes, unter den Staatsanwälten, Ministern und Bischöfen, überrepräsentiert 58 . In Gesellschaften oder Gruppen, die vom Terrorismus geprägt sind, fehlt selten die Figur des Verräters, der sich an der Gemeinschaft vergangen und deshalb den berechtigten Zorn aller auf sich gezogen hat5^. Im Baskenland bot sich für diese Rolle die baskische Wirtschafts- und Finanzoligarchie an, der vorgeworfen werden konnte, sie habe ihre baskische Herkunft um materieller Vorteile und eines höheren sozialen Ansehens willen verraten. Damit erfüllte diese kleine Gruppe außerordentlich wohlhabender und einflußreicher baskischer Familien eine wichtige Funktion für die baskische Protestbewegung, deren aggressivster Exponent die ETA war. Denn ihr war es im wesentlichen zuzuschreiben, daß dieser Protest über die ursprüngliche, allein gegen die zentralistische Diktatur zielende Stoßrichtung hinaus eine soziale bzw. sozialistische Komponente erhielt. Ohne die Allianz zwischen dem spanischen Staat und der aus dem Baskenland stammenden Großbourgeoisie wäre es bei der baskischen Widerstandsaktion kaum zu jener explosiven Mischung nationalistischer und sozialistischer Motive, zu jenem wiederholten Zusammengehen von Kleinbürgertum und Arbeiterschaft gekommen, das durch die Generalstreiks zu Anfang und Mitte der 70er Jahre augenfällig dokumentiert wurde 60 .

3.5• Umsetzung des Protestpotentials in organisierte Gewalt Bisher stand die Frage im Vordergrund, welche wirtschaftlichen, demographischen, politischen, sozialen und kulturellen Determinanten in der baskischen Bevölkerung, vor allem bei den Einwohnern Guipüzcoas und Vizeayas, Unzufriedenheit, Angst und eine Disposition zu gewaltsamem Aufbegehren geweckt haben könnten. Eine allgemeine Bereitschaft zu aggressivem Handeln ist aber nicht gleichzusetzen mit organisiertem 89

Terror, wie er uns bei der ETA entgegentritt. Dazwischen liegen wichtige Umsetzungsprozesse und Lernphasen, deren Erfolg wiederum von mehreren Randbedingungen abhängt. Auf diese Randbedingungen ist nunmehr einzugehen. Eine von ihnen ist die Verfügbarkeit von Konzepten und Handlungsstrategemen, die auf die Situation der Insurgenten anwendbar sind und von ihnen verwertet werden können. Mag sich eine starke Frustration auch auf jeden Fall in aggressiver Form Luft machen, so ist es für Aufrührer doch weit einfacher, wenn sie nicht erst Rechtfertigungen und Erfolgsprinzipien ersinnen und im Wege des "trial and error" selbst erproben müssen, sondern bereits auf ausgearbeitete Gewaltmodelle und -methoden rekurrieren können. Im Falle der ETA waren es vor allem die Lehren der kubanischen Revolution, der GuerillaführungJfao Tse-tungs, des algerischen und vietnamesischen Befreiungskampfes, die aufgegriffen und für die eigene Lage nutzbar gemacht wurden. Die Möglichkeit, Vorbildern in der Dritten Welt folgend, den spanischen Staat zur Kolonialmacht zu deklarieren und durch die Aktions-Repressionsschraube in Zugzwang zu bringen, trug sicher entscheidend zur Sammlung des vorhandenen Aggressionspotentials und der Klärung des Kurses der ETA bei. Darüberhinaus muß man sich generell fragen, ob es länderübergreifende geistig-politische Strömungen gibt, die dem Aufkommen von Protestbewegungen förderlich bzw. hinderlich sind. Besteht nicht mehr als ein nur zufalliger zeitlicher Zusammenhang zwischen dem II. Vatikanischen Konzil Anfang der 60er Jahre und der Entstehung der ETA sowie zahlreicher lateinamerikanischer Guerillaorganisationen zu jener Zeit? Wie ist es zu erklären, daß die Studentenbewegung in Deutschland und Frankreich, der Konflikt in Nordirland, die Anschläge der Guerilla in Argentinien und der Befreiungskampf der ETA jeweils in den Jahren 1968-70 in ihre blutige Phase eintraten? Ein weiterer, die Entstehung und Konsolidierung einer Gewaltorganisation begünstigender Faktor ist die Existenz einer nahen Grenze (wir begegnen ihr beispielsweise auch in Nordirland), über die sich Verfolgte schnell in Sicherheit bringen können. Die Möglichkeit, sich im Ausland zu regenerieren, und von dort aus jederzeit Überfalle durchfuhren zu können, 90

stellt ein schwächeres Substitut für die von Guerillatheoretikern oft betonte Notwendigkeit einer sog. Anlehnungsmacht dar 6 1 . Damit meinen sie, daß Guerillaorganisationen, zumal in der prekären Anfangsphase, auf systematische materielle, personelle und logistische Unterstützung von Seiten eines anderen Staates angewiesen sind, um sich gegen die übermächtigen Sicherheitskräfte im eigenen Land behaupten zu können. Die ETA konnte sich nie auf eine solche "Anlehnungsmacht" stützen. Zwar empfing sie gelegentlich Waffen und Geld von östlichen Staaten, wurde ein Teil ihrer Mitglieder in algerischen Trainingslagern ausgebildet, bestanden Kontakte zur IRA und den Palästinensern, doch waren diese sporadischen Hills- und Dienstleistungen weit von einem echten Anlehnungsverhältnis entfernt. Dieser Mangel wurde jedoch durch die Ausweichmöglichkeit auf das nahe französische Territorium kompensiert, wo die ETA bereits früh ihr Hauptquartier aufschlug, Häuser anmietete, Waffenund Vorratslager anlegte, kurzum einen Teil jener Infrastruktur aufbaute, deren Schaffung im spanischen Baskenland selbst auf ungleich größere Schwierigkeiten gestoßen bzw. wahrscheinlich unmöglich gewesen wäre. Dabei konnte sie sowohl von der von bloßer Sympathie bis zur Komplizenschaft reichenden Haltung der baskischen Bevölkerung in den südwestfranzösischen Départements als auch von dem stillschweigenden Wohlwollen der französischen Regierung profitieren, welche die Terroristen ungehindert gewähren ließ. Allerdings barg die Leitung einer Gewaltorganisation vom Ausland her auch spezifische Risiken. Es konnte nicht ausbleiben, daß Mißverständnisse zwischen den Gruppen diesseits und jenseits der Grenze auftraten ; auch bestand die Gefahr, daß sich die Aktivisten im Lande gegenüber dem auswärtigen Führungsstab verselbständigten und auf eigene Faust Operationen durchführten. Insgesamt überwogen für die ETA aber zweifellos die Vorteile, die sich aus der Existenz eines nahen Schonund Rückzugsraumes ergaben. Indes hätten die Ausweichmöglichkeiten auf außerspanisches Territorium allein schwerlich hingereicht, um die Organisation angesichts der harten Verfolgung, mit der jede politische Widerstandsbewegung im Baskenland rechnen mußte, am Leben zu erhalten. Es gab jedoch auch innerhalb der franquistischen Diktatur Freiräume, die nicht oder nur 91

bedingt dem Zugriff der politischen Kontrollorgane atisgesetzt waren. Zu diesen Zonen verdünnten politischen Drucks zählten insbesondere die Universität und die Kirche. Daß die von Jesuiten geführte und getragene Universität Deusto in Bilbao sich nicht reibungslos in das allgemeine Panorama politischer Konformität einfügte, kann niemanden überraschen, zählen doch die Universitäten in den meisten westlichen Ländern zu den chronischen politischen Unruheherden. Die oppositionelle Haltung des baskischen Klerus gegenüber dem Regime mag dagegen zunächst zu Erstaunen Anlaß geben. Indes wurde in Kapitel 2.6. bereits hervorgehoben, daß sich zahlreiche baskische Priester in der Auseinandersetzung zwischen der bedrohten Ethnie und der zentralistischen Diktatur auf die Seite der ersteren stellten. Die baskische Kirche wurde zu einem Sammelbecken für Widerstandsgruppen der unterschiedlichsten Art, vor allem jedoch zu einem Zufluchtsort und einer Unterschlupfmöglichkeit für in Bedrängnis geratene Gewaltaktivisten. Pfarrheime, Gemeindesäle und sonstige kirchliche Einrichtungen dienten darüberhinaus als Aufbewahrungsort für Waffen und Propagandamaterial sowie zu Zwecken der Zusammenkunft. Bekanntermaßen fanden die ersten vier Generalversammlungen der ETA alle in Klöstern und Konventen statt. Universität und Kirche waren die wichtigsten, aber keineswegs die einzigen sozialen Gruppen und Institutionen bei denen die Terroristen Rückhalt fanden. Vielmehr konnten diese sich, direkt oder indirekt, auf eine Vielzahl gesellschaftlicher Verbände stützen. Die baskische Gesellschaft ist außerordentlich reich an freiwilligen Assoziationen65. Der einzelne Baske ist von Jugend auf, jeweils seiner Altersstufe entsprechend, in eine Vielzahl sozialer Gemeinschaften eingebettet, angefangen bei der Cuadrilla, der Gruppe gleichaltriger Freunde, mit der er sich fast täglich trifft, über Sportclubs, Chöre, Tanz- und Folkloregruppen, Berg- und Wandervereine bis hin zu den "gastronomischen Gesellschaften". Nicht von ungefähr findet in Guipúzcoa und Vizcaya, wie eine kürzlich erschienene Untersuchung herausfand, ein partizipativer Populismus, der das Selbstverwaltungsrecht kleiner Gemeinschaften betont, besonderen Anklang64, zählt das Baskenland doch zu den wenigen Regionen, in denen industrielle Genos92

senschaften Fuß fassen konnten 65 . Die meisten der aufgezählten Verbände beteiligten sich nicht aktiv am Widerstand gegen das Franco-Regime und hatten keine direkten Kontakte zur ETA. Dennoch waren sie indirekt dem einzelnen ETA-Mitglied von großem Nutzen, stellten sie doch ein Netzwerk von Informationen und diskreten Hilfsdiensten bereit, das im Notfall jederzeit in Anspruch genommen werden konnte. Ein letzter Kausalfaktor sui generis für die Gründung der ETA ist der Generationenkonflikt zwischen den jungen baskischen Patrioten, die in den 50er Jahren besorgt den Niedergang der baskischen Sprache und Kultur verfolgten, und den im französischen Exil lebenden älteren Führern des PNV. Die Polemik zwischen diesen beiden Gruppen durchzieht wie ein roter Faden das Verhältnis der neu gegründeten Gewaltorganisation zur Mutterpartei06. Der Zusammenhalt der in der ETA sich zusammenfindenden jüngeren Männer rührte nicht zuletzt daher, daß sie einer ziemlich homogenen Altersgruppe angehörten, die den Bürgerkrieg und seine Schrecken nicht mehr erlebt hatte 67 . Daraus erklärt sich zum Teil die Radikalität ihrer Ansichten, die Unbedenklichkeit, mit der sie den Terror propagierten sowie die Heftigkeit, mit der sie der baskischen Exilregierung Passivität und Senilität vorwarfen. Die Spannung zwischen den beiden Generationen erfuhr zusätzliche Nahrung durch den Umstand, daß nicht wenige Anhänger und Mitglieder der ETA aus Familien stammten, die dem PNV nahestanden 68 . Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß das Bestreben einer besonders patriotischen Gruppe der baskischen Jugend, sich von den älteren, als verbraucht und in ihren Ideen überholt betrachteten Parteiführung im Exil abzusetzen, wesentlich dazu beitrug, die sich entwickelnde Protestorganisation auf den Weg bedingungsloser Gewalt zu bringen.

3.6. Entwurf eines Kausalmodells Unsere Suche nach den strukturellen Entstehungsursachen der ETA hat eine größere Zahl von Faktoren und Umständen zutagegefördert, die kausal mit der organisierten Gewalt verknüpft sind. Abschließend erhebt 93

sich die Frage, welcher Stellenwert all diesen Variablen zukommt, wie sie sich sinnvoll ordnen und gewichten lassen. Eine eindeutige, gegen jegliche Kritik gefeite Antwort auf diese Frage ist unmöglich. Ein solcher Präzisionsanspruch würde zudem die bisherigen, mehr hypothetisch gehaltenen Überlegungen sprengen. Indes lassen diese hypothetischen, durch empirische Belege und Zahlenreihen partiell untermauerten Betrachtungen doch in etwa das Bedingungsgefüge erkennen, daß schließlich zum Gewaltausbruch führte. Man kann unter analytischen Gesichtspunkten drei Typen von Kausalfaktoren unterscheiden: erstens jene Faktoren und Umstände, die Quelle einer allgemeinen Unzufriedenheit, Verunsicherung und Disposition zu aggressivem Handeln im Baskenland waren; zweitens jene Faktoren, die diese allgemeine Unruhe und Unzufriedenheit in eine bestimmte Richtung lenkten, ihr die für die baskische Protestbewegung charakteristische politisch-soziale Stoßrichtung gaben; drittens schließlich jene Faktoren, die diese kollektive Bereitschaft zu Aufruhr und Protest in zielgerichtetes, organisatorisch eingebundenes Gewalthandeln umsetzen halfen. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei betont, daß diese Einteilung rein analytisch zu verstehen ist. Sie impliziert also nicht eine zeitliche Reihenfolge in dem Sinn, daß die zweitgenannten Faktoren auf die bereits vorhandenen Faktoren der ersten Kategorie einzuwirken begannen usw. Vielmehr ist von einer zeitlichen Simultanität und ständigen Interdependenz aller drei Faktorentypen auszugehen. Was die erste Kategorie von Bedingungen betrifft, aus denen eine allgemeine, diffuse Unzufriedenheit und Wut entsprang, so können wir im wesentlichen auf die unter 3-3- abgehandelten anomischen Tendenzen als Resultat eines beschleunigten wirtschaftlichen und demographischen Wandels verweisen. Unter leichter Modifizierung des dort Ausgeführten wird man insbesondere drei Komplexe von in sich wiederum verschachtelten Veränderungen hervorheben müssen, die eine verbreitete Frustration und Disposition zu abweichendem Verhalten erzeugten. Ein erster Variablenkomplex waren die sozialen Abstiegsprozesse, die für einen großen Teil der baskischen Bevölkerung mit dem Rückgang der Landwirtschaft, der Zunahme der abhängig Beschäftigten und den erhöhten Bildungsvoraussetzungen als Bedingung für eine akzeptable berufliche Stellung verbunden waren.

94

Der zweite Komplex betrifft das Pendant zu diesen sozio-ökonomischen Verschiebungen im kulturellen und religiösen Bereich. Hierzu zählen der Säkularisierungsprozeß, die Zurückdrängung baskischer Sprache und Tradition, das langsame Abbröckeln der herkömmlichen Gemeinschaftswerte, kurz all das, was in der Literatur unter dem Schlagwort von der Krise des baskischen Ethnozentrismus zusammengefaßt wird. Eine dritte Quelle allgemeiner Enttäuschung dürften schließlich die im Verhältnis zur realen Wohlstandssteigerung beschleunigt gewachsenen Konsumerwartungen sowie der Unmut über die ungerechte Verteilung des erwirtschafteten Reichtums sein. Die durch vielerlei Ursachen hervorgerufene verbreitete Unruhe, Angst und Enttäuschung hätte sich auf mehrfache Weise Luft machen können. Beispielsweise in Form gestiegener Individualabweichungen, die etwa in zunehmenden Kriminalitätsziffern, Bankrotten, Glücksspieleinsätzen, Eheauflösungen und dergleichen ihren Niederschlag finden könnten. In einigen dieser Bereiche sind in der Tat erhebliche Wachstumsraten erkennbar. Die entsprechenden Daten nehmen sich aber im gesamtspanischen Vergleich als durchschnittlich und normal aus, wenn man ihnen die außerordentliche Zunahme jener Meßwerte zur Seite stellt, die für kollektiven Aufruhr und Protest stehen. Warum das vorhandene Aggressionspotential im Baskenland in eine politische und soziale Rebellion mündete, läßt sich im wesentlichen mit drei Gründen erklären. Zum ersten, wie wir vermuten, durch eine auf jahrhundertealter Selbstverwaltungstradition beruhende Tendenz zu gemeinschaftlichem Handeln, d.h. zu gemeinsamem Vorgehen "nach außen", verbunden mit der Aufrechterhaltung sozialer Disziplin und Kontrolle "nach innen". An zweiter Stelle ist die harte politische Unterdrückung anzuführen, unter der die Basken während der Franco-Zeit zu leiden hatten. Sie bewirkte eine Dauerpolarisierung und Politisierung der baskischen Gesellschaft, lenkte alles, was sich an individueller Unzufriedenheit und kollektiver Wut in dieser Gesellschaft anspeicherte, gegen das Zentralregime. Drittens schließlich ist das Ineinanderfallen von politischer und sozialer Problematik für die Anheizung der Konflikte verantwortlich zu machen. Die Verschmelzung der "verräterischen" baskischen Wirtschafts- und Finanzoligarchie mit den herrschenden Gruppen

95

in Madrid gaben der Auflehnung gegen die zentralistische Diktatur und dem Protest gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung eine gemeinsame Stoßrichtung. Eine verbreitete Neigung zu Aufruhr und ein klar definierter Gegner verbürgen jedoch allein noch nicht den dauerhaften Erfolg von Gewaltaktionen. Hierzu bedarf es längerfristiger Planungen, sorgfältiger Vorbereitungen, wohldurchdachter Strategien und Rechtfertigungen, kurzum einer Organisation. Die Bildung und Festigung einer derartigen Organisation ist an eine Reihe von Voraussetzungen gebunden, deren wichtigste (Verfügbarkeit bewährter Gewaltmodelle, äußerer und innerer Schonraum) unter 3-5. aufgezählt sind. In vereinfachter Form läßt sich der eben beschriebene Zusammenhang zwischen den drei Gruppen von Kausalbedingungen wie folgt darstellen:

96

Schautafel 2:

Analytisches Schema zur Entstehung organisierter politischer Protestgewalt im spanischen Baskenland

Quellen allgemeiner Unzufriedenheit

Lenkung der Unzufriedenheit in Richtung politischen und sozialen Protests

Umsetzung des politischen und sozialen Aufruhrpotentials in organisierte Gewalt

soziale Abstiegs- und Degradierungsprozesse aufgrund des Rückgangs der Landwirtschaft, der Zunahme abhängig Beschäftigter und steigender Bildungsvoraussetzungen. Bedrohung der ethnischen Identität und Auflösung der traditionellen Wertordnung aufgrund der Industrialisierung, Urbanisierung, Säkularisierung, des Zustroms von Migranten unddes Rückgangs der baskischen Sprache. Aufkommen neuer Konsumwünsche und Wohls tandserwartungen, die nicht realisierbar sind; Entstehung neuer sozialer Spannungen als Folge der kapitalistischen Akkumulation und der ungleichen Einkommensverteilung. baskische Tradition sozialer Kontrolle nach innen, gemeinschaftlichen Vorgehens gegen Dritte harte politische Unterdrückung Existenz einer als verräterisch betrachteten baskischen Wirtschaftsund Finanzoligarchie; Koinzidenz von politischer und sozialer Konfliktachse. Verfügbarkeit international erprobter Guerillastrategien und terroristischer Erfolgsmodelle Existenz einer nahen Grenze, d.h. eines "äußeren" Flucht- und Schonraumes. Existenz eines "innergesellschaftlichen" Schon- und Experimentierraumes (Kirche/Universität). Infrastruktur von Verbänden und Assoziationen als aktivierbares Potential von Hilfsleistungen Generaltionenkonflikt zwischen Führern "alter" Partei und Gründern der radikalen neuen Organisation.

97

4.

Die ETA 1950 - 1980: Entstehung, Organisation, Mitgliederstruktur, Eskalationsstufen der Gewalt

4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 4.7.

Entstehungsgeschichte Theorie - und Strategiediskussion Organisatorischer Aufbau Mitgliederstruktur Quantitative Steigerung der Gewaltanscbläge Qualitative Eskalation der Gewalt Machtdynamik

101 104 109 113 118 121 128

4.

4.1.

Die ETA 1950 -1980: Entstehung, Organisation, Mitgliederstruktur, Eskalationsstufen der Gewalt1 Entstehungsgeschichte

Die Eroberung der beiden Provinzen Guipúzcoa und Vizcaya durch die Aufständischen in der ersten Hälfte des Jahres 1937 bedeutete zugleich das Ende der kurzlebigen baskischen Regierung. Zwar gelang nicht wenigen ihrer Mitglieder im letzten Augenblick die Flucht ins Ausland, insbesondere dem RegierungschefJosé Antonio de Aguirre; dort wurden sie jedoch in einem zunehmend unter faschistischen Einfluß geratenden Europa zunächst in alle Winde zerstreut und konnten keinerlei koordinierte politische Tätigkeit gegen das Franco-Regime entfalten. Erst 1945, als der Weltkrieg eindeutig zugunsten der Alliierten entschieden war, fanden sich die baskischen Exilpolitiker unter der Leitung Aguirres zunächst in New York, dann in Paris zusammen, um durch die Gründung einer Regierung die Kontinuität zu der 1939 durch Waffengewalt ausgelöschten Republik zu unterstreichen und dem franquistischen Herrschaftssystem von außen her Widerstand zu leisten2. Das Vorgehen der primär (aber nicht ausschließlich) von Kräften des PNV getragenen baskischen Exilregierung gegen den spanischen Diktator ging von bestimmten Grundannahmen aus, an denen bis zum Tod Aguirres (I960) unbeirrt festgehalten wurde. Zu diesen zählte insbesondere die Überzeugung, Franco sei leichter durch internationalen Druck als durch eine Erhebung des baskischen Volkes zum Abdanken zu bewegen. Dementsprechend konzentrierte man sich auf die Mobilisierung der Weltmeinung, trachtete vor allem danach, die Unterstützung der als Hüter der Demokratie und Vorkämpfer gegen den Faschismus betrachteten USA zu gewinnen, und vernachlässigte den Aufbau und die gezielte Förderung von Oppositionsbewegungen innerhalb des spanischen Baskenlandes. Diese Strategie war in den ersten Nachkriegsjahren nicht erfolglos. Die baskische Exilregierung genoß aufgrund der regen Aktivitäten, die sie entwickelte, sowohl international als auch in den baskischen Provinzen selbst großes Ansehen. Ihrer Existenz ist es zuzuschreiben, daß in den 101

Jahren 1945/46 der innere Widerstand wieder aufflammte, der im Generalstreik von 1947 gipfelte. Sie sorgte dafür, daß in Frankreich vorübergehend ein baskischer Nachrichtensender installiert wurde und richtete über die 'Internationale Gesellschaft für baskische Studien" im Jahr 1948 in Biarritz einen wissenschaftlichen Kongreß über die Basken aus, der breite Resonanz fand^. Das letztgenannte Ereignis markierte den Höhepunkt der auf Wekkung internationaler Aufmerksamkeit und Solidarität abstellenden Politik der Exilregierung: Danach büßte sie stetig an politischem Einfluß ein • nicht aufgrund eigenen Versagens, sondern als Konsequenz einer veränderten weltpolitischen Machtkonstellation, auf die sich einzustellen sie nicht fähig oder willens war. Die neue Lage bestand in der schnellen Verwischung der aus dem zweiten Weltkrieg stammenden Konfrontation von westlichen Demokratien und faschistischen Achsenmächten aufgrund der rasch zunehmenden Differenzen zwischen den U.SA und der Sowjetunion. Es nützte dem Chef der baskischen Exilregierung wenig, daß er, die Schwenkung der Vereinigten Staaten nachvollziehend, die Kommunisten aus seinem Sammelkabinett entfernte und dezidierte antisowjetische Erklärungen abgab. Washington, um die Sammlung des westlichen Lagers bemüht, war nicht gewillt, durch Begünstigung umstürzlerischer Kräfte auf der iberischen Halbinsel die wichtige südwesteuropäische Flanke des von ihm geschmiedeten Bündnisses zu schwächen. Spätestens die Koreakrise vom Juni 1950 leitete die endgültige Wende ein. Im Jahr 1951 wurden von der UNO die 1946 gegen das Franco-Regime gefaßten Handelsboykottbeschlüsse aufgehoben 4 , bahnte sich eine breit angelegte wirtschaftliche und militärische Kooperation zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten an, die im Jahr 1953 zum Abschluß eines umfangreichen Abkommens führte. Weitere wesentliche Schritte auf dem Weg zur internationalen Anerkennung der franquistischen Diktatur waren der Konkordatsvertrag mit dem Vatikan (1953) und der Beitritt Spaniens zu den Vereinten Nationen (1955). Die wachsende Einbindung in das westliche Staatengefüge ging einher mit der innenpolitischen Konsolidierung des Regimes. Nach dem letzten großen Streik im Baskenland im Jahr 1951, an dem nationalistische Grup102

pen noch einen entscheidenden Anteil hatten, brach der Widerstand gegen die zentralistische Herrschaft praktisch zusammen. Von der Exilregierung waren keine neuen Impulse mehr zu erwarten. Sie dämmerte in einer Mischung aus Bitterkeit gegenüber den USA und utopischem Zweckoptimismus vor sich hin und unternahm keine Anstrengungen, um ihre Politik den veränderten Umständen anzupassen9. In dieser für die Realisierung der baskischen Autonomiebestrebungen wenig aussichtsreichen Situation begannen sich ab 1952 einige an der Universität Deusto (Bilbao) eingeschriebene Studenten regelmäßig zu treffen6. Geprägt von der im Nachkriegseuropa bestimmenden geistigen Strömung des Existentialismus, brachten sie wenig Verständnis für den Klerikalismus und Antikommunismus der baskischen Nationalpartei auf. Sie waren enttäuscht über die Passivität der Exilregierung und weigerten sich, in der 2. Republik, die sie, wenn überhaupt, nur als Kinder kennengelernt hatten, die ideale politische Verfassung zu sehen, zu der es um jeden Preis zurückzukehren gelte. Vielmehr richteten sie ihre Blicke in die Zukunft; dies kam auch im Titel der von ihnen herausgegebenen Zeitschrift Ekiti, d.h. tun, handeln, zum Ausdruck. Sie wollten etwas gegen die Unterdrückung des baskischen Volkes unternehmen, dessen Eigentümlichkeit in ihren Augen (hier unterschieden sie sich von den baskischen Nationalisten der Vorkriegszeit) weniger auf rassischen Merkmalen als einer eigenen kulturellen Tradition und vor allem einer besonderen Sprache, dem Euskara, beruhen sollte7. Die Gruppe legte es nicht auf kurzfristige, spektakuläre Erfolge an, sondern suchte nach einer, im Vergleich zur Haltung der Exilregierung, realitätsgerechteren Widerstandsstrategie. Daraus erklärt sich ihr tastendes, vorsichtiges Vorgehen in den ersten Jahren, von 1953-56, ihre langsame Ausdehnung, ihr Bemühen um Kooperation mit anderen nationalistischen Kräften. Sie schlug dem PNV die Bildung einer gemeinsamen patriotischen Front vor, was jedoch von der Exilregierung, die ein Alleinvertretungsrecht für das Baskenland beanspruchte, abgelehnt wurde. 1956 nahm sie einen zweiten Anlauf zu einem Bündnis mit dem PNV, indem sie mit dessen Jugendorganisation (Euzko Gaztedf) fusionierte. Das Ergebnis waren nur gesteigerte Spannungen mit der Mutterpartei, deren Vertreter den Nach103

wuchsmitgliedern Respektlosigkeit vorwarfen und sie als Kriminelle und Kommunisten abqualifizierten . Als die Auseinandersetzung sich zuspitzte, reisten zwei Vertreter der Gruppe zu einem letzten Versöhnungsversuch nach Paris, um das direkte Gespräch mit der Exilregierung zu suchen. Aguirre begegnete ihnen offen, einlenkungsbereit, bei den übrigen Regierungsmitgliedern stießen sie aber mit ihren Ideen und Vorschlägen auf Verständnislosigkeit und Unnachgiebigkeit. Darauf beschlossen die jungen Nationalisten, mit dem PNV zu brechen 9 . Sie lösten sich von der baskischen Nationalpartei, deren Jugendorganisation sich ihnen großenteils anschloß, und gaben sich einen eigenen Namen: Euskadi taAskatasuna (ETA), d.h. Baskenland und Freiheit. Dieser tauchte i960 erstmals auf Hauswänden und öffentlichen Gebäuden im Baskenland auf.

4.2. Theorie - und

Strategiediskussion

An dieser Stelle wird nicht die in der ETA über Jahre hinweg geführte Debatte über die Hauptziele der Bewegung und die einzuschlagende Strategie nachgezeichnet. Wir begnügen uns mit einigen allgemeinen Anmerkungen zu diesen theoretischen Auseinandersetzungen und der Wiedergabe ihrer wichtigsten Ergebnisse 10 . Was zunächst den Stil und sonstige allgemeine Kennzeichen der Theoriediskussion in der ETA angeht, so sind u.a. erwähnenswert: die Heftigkeit und Kompromißlosigkeit, mit der Divergenzen ausgetragen wurde; die Vielzahl der herangezogenen Modelle und Interpretationsschemata sowie die nach einiger Zeit mehrheitlich befürwortete Anwendung radikaler, gewaltbetonter Kampfesmethoden. Von dem ersten Zug, der Härte und Unnachgiebigkeit, mit der gegensätzliche Standpunkte aufeinanderprallten, legen vor allem die Berichte über die Generalversammlungen Zeugnis ab. Nur selten war eine Gruppe, die sich in eine Minderheitsposition gedrängt sah, bereit, einzulenken; in der Regel zog sie es vor, den Stammverband unter Protest zu verlassen und auf eigene Faust weiterzuarbeiten. Absplitterungen von Teilgruppen 104

aufgrund ideologischer Zwiste begleiteten die Entwicklung der ETA von Anfang an. Sie verliehen der Bewegung einen Zug sektiererischer Engstirnigkeit, der zwar einerseits die hohe Kampfesmotiviertheit ihrer Mitglieder erklären hilft, andererseits aber zu Lasten der organisatorischen Geschlossenheit und Effizienz ging. Die Vielzahl und der teilweise rapide Wechsel der Handlungsmodelle stand in engem Zusammenhang mit Verlagerungen der internationalen Aufmerksamkeit von einem Konfliktherd, einer Krisenzone zur nächsten. Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgten die ETA-Führer jene kriegerischen Auseinandersetzungen, bei denen eine militärisch überlegene Macht, etwa Frankreich in Algerien oder die USA in Vietnam, durch einen scheinbar unterlegenen Gegner in die Defensive getrieben wurde 1 1 . Das Beispiel der ETA macht deutlich, wie eng auf der kommunikativen Ebene die Verbindung zwischen aufständischen Organisationen rund um den Erdball ist, wie rasch insbesondere scheinbar oder wirklich erprobte Mittel, staatliche Herrschaft von innen her auszuhöhlen und unglaubwürdig zu machen, Verbreitung finden. Zu den Protest- und Befreiungsbewegungen, die von der ETA zeitweise als Vorbild anerkannt wurden und sie hinsichtlich Taktik und Vorgehensweise inspirierten, zählten u.a.: die kubanische Revolution von 1958, der algerische Freiheitskampf, Mao Tse-tungs Technik des Guerillakrieges, Che Guevaras Einnistungsversuch in Bolivien, der Vietnamkrieg, die Tupamaros in Uruguay, die Studentenunruhen in den USA und Westeuropa in der zweiten Hälfte der 60er Jahre, die Kampfmethoden der Palästinenser. Die ETA machte sich nach einiger Zeit die bei all diesen Leitmodellen anzutreffende Bejahung von Zwang und Gewalt als Mittel der Gegenwehr gegen tatsächliche oder vermeintliche Unterdrückung zu eigen. Lange bestand in dieser Hinsicht eine große Diskrepanz zwischen den theoretischen Postulaten der Organisation und ihrem praktischen Vorgehen. Beispielsweise war schon in einem 1962 von dem damals führenden Kopf der ETA, Krutwig, verfaßten Buch von einem Revolutionskrieg die Rede, der mitleidlos und gewaltsam zu führen sei 12 , während die Angehörigen der "militärischen Front" zu jenem Zeitpunkt noch Hemmungen verspürten, als es einen Briefträger zu überfallen galt, um ihm seine Geldtasche zu 105

entwenden. Jahrelang lag der Aktionsschwerpunkt der "Kampforganisation" eindeutig auf dem Bemalen von Hauswänden mit autonomistischen Sprüchen und der Verteilung gleichlautenden PropagandamaterialsErst 1968, als der erste tödliche Anschlag auf einen Polizisten verübt wurde, holte die Praxis die Theorie- und Strategiediskussion ein, in der längst der Terror als wichtigstes Instrument zur Bekämpfung des zentralistischen Staates akzeptiert worden war. Trotz der prinzipiellen Offenheit der ETA für die von anderen Protest- und Aufruhrbewegungen gesammelten Lehren und Erfahrungen übernahm sie deren Rezepte nicht ungeprüft. Im Verlauf ihrer Entwicklung war ein wachsendes Verständnis für die Speziflka der eigenen, baskischen Situation zu erkennen, das einherging mit einer zunehmend kritischen Selektion externer Vorbilder. Nicht von ungefähr konnte sich die von bedeutenden französischen Marxisten vertretene These eines möglichen gewaltlosen Übergangs zum Sozialismus in der ETA zu keinem Zeitpunkt durchsetzen. Die Mehrzahl der Versuche, die eigene Lage der kulturellen und politischen Unterdrückung angemessen zu deuten, rekurrierte auf die Konzepte der "kolonialen Situation" und des "antikolonialen Befreiungskrieges" 14 . Indessen bedurfte es einiger nicht unwesentlicher Korrekturen, um diese aus den Entkolonialisierungskämpfen in der Dritten Welt stammenden Formeln auf die Beziehung zwischen dem baskischen Volk und dem spanischen Staat anwenden zu können. Erstens mußte der Begriff "koloniale Situation" dahingehend ausgedehnt werden, daß Kolonien nicht notwendig außerhalb des imperialistischen Staates liegen müssen, sondern auch Bestandteil seines eigenen Hoheitsgebietes sein können. Zum zweiten bereitete der Umstand Schwierigkeiten, daß das Baskenland eine der wohlhabendsten Regionen Spaniens war, also im Unterschied zu den Kolonien in der Dritten Welt schwerlich von seiner Vernachlässigung und Ausnützung durch das Zentralregime gesprochen werden konnte. Man behalf sich, indem man der wirtschaftlichen Dimension der kolonialen Ausbeutung eine für die baskische Region besonders relevante kulturelle und politische Dimension zur Seite stellte.

106

Ausgehend von dieser Grundkonzeption hatten die Führer und Theoretiker der ETA gegen Mitte der 60er Jahre bereits ziemlich klare Vorstellungen über die politischen und gesellschaftlichen Ziele ihres Kampfes sowie die einzuschlagende Taktik. Hinsichtlich der Zielsetzungen knüpften sie an die schon vom Gründer des baskischen Nationalismus, Arana y Goiri, verfochtene Leitidee eines nach innen wie nach außen souveränen baskischen Staates an, die von ihnen jedoch durch zwei wichtige zusätzliche Programmpunkte ergänzt bzw. konkretisiert wurde. Zum einen durch die Forderung nach Vereinigung der französischen mit den spanischen Baskenprovinzen zu einem einheitlichen staatlichen Gebilde. Zum anderen - hier fand die über Jahre sich hinziehende intensive Auseinandersetzung mit dem Marxismus ihren Niederschlag 1 ' -, indem die künftig zu schaffende Gesellschaftsordnung als "sozialistisch" bezeichnet wurde. Auf diese Weise wurde dem vergangenheitsorientierten, kommunalistische Elemente enthaltenden traditionellen baskischen Nationalismus eine radikale Zukunftsvision gegenübergestellt. Hinsichtlich der Kampfmethode griff man auf die während des Zweiten Weltkriegs in Europa und danach in der Dritten Welt wiederholt erfolgreich angewendete Guerillataktik zurück, die jedoch flexibel gehandhabt wurde. Es hätte im verhältnismäßig kleinen spanischen Baskenland wenig Sinn gehabt, nach den von Mao Tse-Tung für das großräumige China entwickelten Prinzipien der Landguerilla zu verfahren. Deshalb machte man sich die Erfahrungen zunutze, die in Lateinamerika (vor allem in Brasilien, Uruguay und Argentinien) in jüngerer Zeit in der Technik der Stadtguerilla gesammelt worden waren 16 . Zum taktischen Leitprinzip wurde der Mechanismus von "Aktion und Repression" erhoben. Dieser besagt, es gelte den Staat durch Attentate auf wichtige Amtsträger und Mitglieder der Sicherheitskräfte zu provozieren, da die zu erwartende Verfolgungs- und Unterdrückungswelle den Aufständischen immer mehr Anhänger zutreiben würde, bis die Situation reif sei für eine Massenerhebung 1 7 . Wenngleich sich bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt ein mehrheitlicher Konsens über die oben skizzierten Orientierungs- und Handlungsprämissen der Organisation herausschälte, gab es doch stets Minder107

heiten, die sich dieser Generallinie widersetzen. In ihren Einwänden 1 ft wurden vor allem drei Fragen immer wieder aufgegriffen : a) Welchem der beiden Haupt- und Fernziele der Bewegung der Vorrang einzuräumen sei: der nationalen Unabhängigkeit der Basken oder der sozialistischen Revolution; b) was für eine Rolle der ETA selbst beim Befreiungskampf zufalle; ob sie diesen als Revolutionselite an Stelle des baskischen Volkes vorantreiben und führen dürfe bzw. müsse, oder ob sie sich vorwiegend der Bewußtseinsweckung und Mobilisierung der breiten Masse widmen sollte; c) nicht unstrittig war schließlich auch der Stellenwert der Gewalt; ob diese ausreiche, um die nationale Befreiung und die Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durchzusetzen, oder ob es nicht von einem bestimmten Zeitpunkt ab zusätzlich (wenn nicht sogar ausschließlich) gezielter politischer Aufklärung auf breiter Basis bedürfe. Zwischen den drei Alternativen bestand ein gewisser inhaltlicher Zusammenhang, der auch in den Fraktionsbildungen innerhalb der Organisation seinen Ausdruck fand. Die insgesamt bestimmende, letztlich den Kurs der Organisation prägende Gruppe, die die Befreiung des Baskenlandes vom Joch des spanischen Zentralstaates für vordringlich hielt, neigte auch dazu, in der ETA die treibende Kraft, den Hauptgaranten dieses Unabhängigkeitsstrebens zu sehen und setzte auf den Terror als das sicherste Mittel, um das Regime zu Konzessionen zu zwingen. Hingegen verdienten nach einer periodisch vorgebrachten Gegenmeinung die Interessen des Proletariats den Vorrang in den Zielsetzungen der ETA; danach kam dem Verband nur die Rolle eines Hilfsorgans bei der Mobilisierung der eigentlich zur Revolution berufenen Arbeiterklasse zu, bedeutete die Ausdehnung der Gewalttaten "blinder Aktivismus"19. Das wichtigste Forum für die Auseinandersetzung über theoretische und strategische Fragen bildeten die Generalversammlungen der ETA. Insgesamt fanden, teils in zwei zeitlich voneinander getrennten Etappen, zwischen i960 und 1976 sieben Hauptversammlungen statt. Außerhalb der Generalversammlungen sorgte für die Unterrichtung der Mitglieder und Sympathisanten eine Reihe von Zeitschriften und regelmäßig erscheinenden Broschüren, die Namen wie "Erhebt euch" ( Zutik ), "Kraft" {Kernen), "ans Licht" ( Arglra ), "Bug" ( Branka ) und dergleichen trugen 20 . 108

4.3- Organisatorischer

Aufbau

Die Organisationsstruktur der ETA war weitgehend ein Reflex der Bedingungen, unter denen sie sich behaupten mußte, von denen zwei besondere Bedeutung zukam: Die extreme Unterdrückung und Gefahr der Vernichtung, der jede baskische Widerstandsbewegung während der Franco-Ära ausgesetzt war, und die Nähe der französischen Grenze. Die ständig drohende Entdeckung durch die Sicherheitsbehörden bedingte vor allem eine strikte Wahrung des Geheimhaltungsprinzips 21 . Zwar drangen die wesentlichen Streitpunkte der im Schöße der Organisation geführten Diskussionen an die Öffentlichkeit, auch waren der baskischen Bevölkerung stets deren führende Köpfe bekannt, gab die ETA-Leitung gelegentlich, um die öffentliche Meinung und die Politiker zu beeindrucken, Einblicke in die Vorgehensweise und operative Ausstattung der Bewegung. Doch hinsichtlich konkreter, von der Polizei verwertbarer Details wurde stets strenges Stillschweigen gewahrt. Trotz dieser bis in die Struktur der Organisation hinein sich fortsetzenden Vorsichtsmaßnahmen • jahrelang operierten die Basiszellen der ETA unabhängig und ohne Wissen voneinander, um sich nicht verraten zu können - gelang es den spanischen Sicherheitskräften mehr als einmal (z.B. in den Jahren 1969 und 1972), die ETA fast aufzureiben 22 . Ihre wichtigsten Führer waren hinter Schloß und Riegel, zahlreiche Schlupfwinkel und Vorratslager aufgedeckt, die Aktionskommandos zerschlagen, die Mehrzahl der Mitglieder bekannt. Wenn die Organisation sich nach solchen Phasen des Niedergangs in der Regel wieder rasch regenerierte, so war dies neben dem ununterbrochenen Zustrom neuer Mitglieder vor allem dem Umstand zuzuschreiben, daß jedesmal ein Rest der Führungskader in das benachbarte Frankreich entkommen konnte. Der Exodus von ETA-Mitgliedern in das französische Baskenland setzte schon bei der ersten großen polizeilichen Verfolgungswelle, im Jahr i960, ein 23 . Danach entwickelten sich Biarritz, Bayonne und vor allem St. Jean de Luz zu einem sicheren Auffangslager für alle ETA-Angehörigen, denen der Boden im spanischen Baskenland zu heiß geworden war. Auch die Leitung der ETA hatte dort ihren Hauptsitz und 109

nicht wenige der größeren Aktionen wurden vom französischen Baskenland aus geplant und teilweise auch durchgeführt. Aufgrund des Mangels an zuverlässigen Informationen und häufiger Umstrukturierungen ist es nicht leicht, zuverlässige Aussagen über die Organisation der ETA zu machen. Außerdem ist zu bedenken, daß die förmliche Verabschiedung eines Organisationsprinzips noch nichts über dessen Anwendung aussagt. Deshalb dürfte es ratsam sein, die formelle, in schriftlichen Beschlüssen und Satzungen niedergelegte Organisationsstruktur von der faktischen, auf informellen Regeln beruhenden Funktionsweise der ETA zu unterscheiden. Was die formelle Organisation angeht, so läßt sich den verfügbaren Auskunftsquellen entnehmen, daß es zumindest bis zu Francos Tod drei Hauptorgane gab: Die Voll- oder Generalversammlung, die für die Grundsatzentscheidungen zuständig war, die häufiger tagende reduzierte Versammlung und der aus fünf Personen bestehende Exekutivausschuß, dem die ständige Geschäftsführung oblag. Während bis 1965 fast jährlich Generalversammlungen einberufen wurden, kamen sie danach immer seltener zustande. Nach der VII. Vollversammlung im September 1976 ist nichts mehr von einer weiteren Generalversammlung bekannt geworden. Nach ihren Hauptaufgabenbereichen gliederte sich die ETA ursprünglich in einen militärischen, einen kulturellen, einen wirtschaftlichen und einen für Arbeiterfragen zuständigen Flügel24. Als nach dem Übergang Spaniens zur Demokratie die mit der Gewaltorganisation verzahnten Linksparteien Herri Batasuna und Euskadiko Ezkerra einen Teil ihrer Funktionen übernahmen, blieben neben dem militärischen Apparat nur noch eine für die Eintreibung und Verwaltung der Gelder zuständige Wirtschaftsabteilung und ein Propaganda- bzw. Informationsbüro übrig. Im Vorgriff auf den später zu errichtenden baskischen Staat teilte die ETA das Baskenland bereits früh in Bezirke ein, für die jeweils ein Bezirksführer zuständig war 25 . Ihm unterstanden die ETA-Mitglieder und ETAGruppen, die auf der Ebene einzelner Ortschaften oder Kreise operierten. Die Basiszellen und zugleich die wichtigsten Aktionseinheiten der ETA bildeten die aus 3-5 Personen bestehenden Comandos. Die meisten Comandos hießen legales, d.h. ihre Mitglieder gingen einem normalen 110

Beruf nach und beteiligten sich nur gelegentlich an terroristischen Anschlägen oder deren Vorbereitung. Den legales standen die aus liberados bestehenden Aktionseinheiten gegenüber. So wurden jene Mitglieder bezeichnet, die sich freigemacht, d.h. in den Untergrund gegangen waren und ihre gesamte Energie und Arbeitskraft in den Dienst der Organisation stellten26. Comandos informativos waren damit beauftragt, Daten und Informationen über zu überfallende Einrichtungen und prospektive Opfer zu sammeln. Comandos especiales wurden besonders schwierige, eine längere Vorarbeit erfordernde Aktionen übertragen. Schließlich gab es noch die comandos autónomos, die mehr oder weniger auf eigene Faust operierten und nur in einer losen Beziehung zur Zentralorganisation standen. Wie schon angedeutet, sind diese offiziellen Untergliederungen unterschiedlich ernst zu nehmen; sie wichen teils erheblich von der Organisationswirklichkeit ab. Beispielsweise scheint die auf dem Papier festgelegte Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Unterabteilungen des Verbandes nie richtig funktioniert zu haben. Die kulturellen Aufgaben wurden spätestens mit der Verabschiedung des Aktions-Repressionsprinzips vernachlässigt, und das gleiche Schicksal widerfuhr dem Arbeiterflügel. In der Praxis riß schon zeitig der militärische Flügel die Vormacht an sich, die er dann nicht mehr abgab . Hinsichtlich der Einteilung des Baskenlandes in Operationszonen (Bezirke) kann man sich ebenfalls nicht des Eindrucks erwehren, daß es sich dabei mehr um Sandkastenspielereien als um durch taktische Überlegungen fundierte Maßnahmen handelte. In dem engräumigen Baskenland tangierte die Durchführung größerer Gewaltaktionen immer mehr als nur einen der sechs vorgesehenen Bezirke, so daß eine Trennung der jeweiligen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten unnötige zusätzliche Risiken mit sich bringen mußte. In diesem Zusammenhang sei auch angemerkt, daß die Bezeichnung einiger Kampfgruppen als comandos autónomos die Beschönigung eines für die ETA-Führung eher unbequemen Sachverhalts war. Denn die Existenz dieser Gruppen verriet, daß die Grenzen der Organisation hin zu eigenmächtigen, sich keiner zentralen Leitung und Befehlsgewalt unterwerfenden Formationen fließend waren, mit anderen

111

Worten: sie signalisierten eine begrenzte Kohäsionskraft und Kontrolle der Organisation über Untergruppen und Einzelmitglieder 2 8 . Diese Unfähigkeit zu einem einheitlichen und geschlossenen Vorgehen fand einen besonders beredten Ausdruck in den zahlreichen Spaltungen der ETA. Ihre Geschichte ist eine Geschichte der inneren Entzweiungen, Zerteilungen, Zersplitterungen. Besonders bekannt wurde der Konflikt zwischen den Anhängern der auf der V. und der VI. Generalversammlung (1966/67 bzw. 1970/72) gefaßten Beschlüsse, dessen Vorgeschichte und Verlauf äußerst komplex und verworren waren 2 ^. Neben Mißverständissen und Animositäten zwischen Einzelpersonen kamen in ihm auch Spannungen zwischen den exilierten und den im Baskenland lebenden sowie zwischen inhaftierten und freien ETA-Mitgliedern zum Tragen^ 0 . Der Kern der ideologischen Auseinandersetzung betraf die bereits angesprochene Problematik des Verhältnisses zwischen bewaffnetem Kampf und politischer Basisarbeit, die sich um so dringlicher stellte, je deutlicher sich die Agonie des Francoregimes abzeichnete. Nachdem diese Streitfrage in den Jahren 1974/75 zu einer nochmaligen Zweiteilung der ETA in einen rein militärischen

(ETA -militar) und einen sowohl militärisch als auch

politisch operierenden Verband (ETA politico-militar)

führte, war die

Phase der inneren Entzweiung beendet^ . Danach ist nichts mehr von 1

einer neuerlichen Aufsplitterung einer der beiden ETA-Organisationen an die Öffentlichkeit gedrungen. Aufeine zunehmende Konsolidierungderterroristischen Organisation in der zweiten Hälfte der 70er Jahre deutet auch ihre bei der gelegentlichen Entdeckung von Schlupfwinkeln zutage tretende gute infrastrukturelle Ausstattung hin.Längst waren jene Zeiten vorbei, als die wenigen verfügbaren Pistolen fallweise an die Mitglieder ausgeliehen werden mußten^ 2 . Vielmehr besaß nun insbesondere der mächtigere der beiden Verbände, ETA-militar, gut bestückte Waffenarsenale und Wagenparks, eigene Häuser und Druckereien. Aus dem Budget von ETA-militar wurden nicht nur die gewissermaßen hauptamtlich für die Organisation tätigen bezahlt, sondern auch die Angehörigen erschossener

liberados

ETA-Mitglieder

versorgt. Den deutlichsten Beweis für die innere Festigkeit und die damit verbundene Steigerung der äußeren Schlagkraft des Gewaltverbandes liefert

112

die Bilanz seiner Anschläge, die an Zahl und Härte bis 1980 stetig zunahmen (siehe hierzu 4.5 und 4.6). Angesichts der jahrelangen expansiven Entwicklung der ETA stellt sich die Frage nach ihren Finanzierungs- und Unterstützungsquellen. Sie wurde oft mit dem Hinweis auf externe, vor allem im Lager der sozialistischen Nationen zu suchende Interessenten an einem Erfolg der Untergrundorganisation beantwortet 33 . Es sei nicht in Abrede gestellt, daß die ETA-Führung Kontakte zu anderen terroristischen Gruppen wie etwa der IRA oder den Palästinensern hatte, einen Teil ihrer Mitglieder in algerischen Trainingslagern ausbilden ließ und Waffen tschechoslowakischer Herkunft benutzte. Man wird sich aber hüten müssen, aus diesen Befunden zu schließen, die ETA sei je eine fremdgesteuerte Organisation gewesen. Gegen diese Annahme sprechen zwei gewichtige Tatsachen: Zum ersten das hohe eigene Finanzaufkommen der Organisation. Bedenkt man, daß diese über lange Jahre hinweg von allen wohlhabenden Basken eine sog. Revolutionssteuer erhob, zahllose erfolgreiche Banküberfalle durchführte und daß der größte Teil ihrer Mitglieder, die legales, ihren Lebensunterhalt selbst bestritten, so scheint die Schlußfolgerung berechtigt zu sein, die ETA sei nur in sehr begrenztem Maße auf äußere Hilfsgelder angewiesen gewesen. Das zweite Argument bezieht sich auf die Personalstruktur. Soweit wir wissen, kämpften zu keinem Zeitpunkt Ausländer in der Organisation mit, diese rekrutierte ihren Nachwuchs vielmehr ausschließlich - und mühelos - aus der eigenen Ethnie. Man wird aus diesen Indizien folgern können, daß der Gewaltverband finanziell wie personell auf keine externe Hilfe angewiesen war.

4.4.

Mitgliederstruktur

Wir haben schon den Unterschied zwischen den liberados, die sich freigemacht, d.h. sämtliche Brücken zum bürgerlichen Leben abgebrochen haben, und den legales kennengelernt, die einem normalen Beruf nachgingen, zugleich jedoch Mitglieder der Gewaltorganisation waren und als solche deren Weisungen unterlagen. Ihnen ist als dritte Kategorie der 113

breite Kreis der Sympathisanten hinzuzufügen, die zwar nicht direkt der ETA angehörten, aber ihr nahestanden und fallweise zu Untertützungsleistungen bereit waren. Es gibt keine exakten Zahlen über den numerischen Umfang dieser drei Gruppen, Schätzungen zufolge überstieg die Zahl der Uberados aber zu keinem Zeitpunkt einige hundert Personen, während die Zahl der legales erheblich darüber lag und die Sympathisanten in die Zehntausende gingen und immer noch gehen^ 4 . Bemerkenswerte Züge an den Angehörigen der Untergrundorganisation waren ihre große kämpferische Motivation zu einen, die relativ kurze Dauer ihrer Militanz in der ETA zum anderen. Für den Mut, die Entschlossenheit und die Zähigkeit der baskischen Terroristen gibt es zahlreiche Beispiele. Vor allem während der Franco-Zeit setzten sie oft lieber ihr Leben aufs Spiel, als daß sie sich ergaben und gefangennehmen ließen; nicht selten konnten sie dank ihrer guten Ortskenntnis und physischen Resistenz sogar trotz einer Verwundung der Polizei entkommen. Besonders draufgängerisch waren stets die Mitglieder des "militärischen Flügels", der in der Bevölkerung am meisten Ansehen genoß^ 5 . Dem großen Gefohrenrisiko, dem ETA-Mitglieder ausgesetzt waren entsprachen die relativ hohen Verlustzahlen der Geheimorganisation. Doch auch jene Guerilleros, die nicht erschossen bzw. verletzt wurden oder aufgrund ihrer Inhaftierung aus dem aktiven Verband ausschieden, wirkten in der Regel nur während einer begrenzten Zeit an Gewaltaktionen mit. Der Grund hierfür dürfte vor allem im aufreibenden klandestinen Lebensstil der Untergrundkämpfer zu suchen sein^ 6 . Im kleinräumigen, nur wenige Ausweichmöglichkeiten bietenden Baskenland mußte ein Etarra zudem schon nach wenigen Anschlägen damit rechnen, daß die Polizei ihn, seine Vorgeschichte, soziale Bindungen und Gewohnheiten, genau kannte. So ist es zu erklären, daß die ETA während ihrer knapp 20-jährigen Existenz bis 1980 schon auf mehrere "Generationen" von Mitgliedern zurückblicken konnte und über 30-Jährige als "Veteranen" galten. Über die sozialen Merkmale der Etarras gibt eine Stichprobe von insges. 84 Mitgliedern der Organisation Auskunft, die vom Verfasser 1980 zusammengestellt und ausgewertet wurde^ 7 . Dabei zeigt sich, daß die ETA in einigen Merkmalen anderen Guerillabewegungen gleicht, sich aber in 114

anderer Hinsicht signifikant von diesen unterscheidet. Zu den Merkmalen, in denen eine weitgehende Übereinstimmung mit bereits bekannten Guerillagruppen festzustellen ist, zählen Familienstand und Alter: ETAMitglieder waren in der Regel ledig, Verheiratete unter ihnen bildeten die Ausnahme. Dies hängt eng damit zusammen, daß die meisten Etarras der jungen Generation zuzurechnen waren, wobei "jung" nicht zu restriktiv verstanden werden darf. Bis 1975 war nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz der Mitglieder unter 20 Jahre alt, die überwiegende Mehrheit fiel in die Gruppe der 20-29jährigen, nicht wenige waren schon über 30 38 . Die Charakterisierung der ETA als von Jugendlichen getragene Bewegung erscheint deshalb etwas irreführend, eher wird man von einer Bewegung der Jungerwachsenen sprechen können. Bei der Aufschlüsselung nach dem Geschlecht und der Schichtzugehörigkeit der Mitglieder kommt das Eigenprofil dieser Gewaltorganisation deutlicher zum Vorschein. Im Unterschied zu einigen anderen Stadtguerillabewegungen der 60er und 70er Jahre (z.B. der Tupamaros in Uruguay, den Montoneros und dem ERP in Argentinien, der RAF in der Bundesrepublik), wo Frauen etwa die Hälfte der Mitglieder stellten und oft durch besondere Entschlußkraft und Kaltblütigkeit hervortraten, bestand der militärische Flügel der ETA fast nur aus Männern 39 (in den anderen Unterabteilungen der Organisation mögen die Frauen stärker vertreten gewesen sein). Über die soziale Schichtzugehörigkeit der Guerilleros stehen leider nur spärliche Daten zur Verfügung. Diese reichen jedoch aus, um die in der Literatur gängige Behauptung, die ETA hätte sich vorwiegend aus dem Kleinbürgertum rekrutiert, etwas zu relativieren. Zwar stammten rund 50 % der Mitglieder aus der unteren und mittleren Mittelschicht. Daneben wuschen aber rund 30 % in einem Unterschichtmillieu auf, weit mehr als in den meisten übrigen Stadtguerillabewegungen 40 . Ein relativ hoher Prozentsatz der Guerilleros waren ehemalige Priester und Studenten. Da einer der zentralen Streitpunkte der theoretischen Diskussionen in der ETA die Frage war, ob der nationalen Unabhängigkeit oder der proletarischen Revolution als Ziel der Bewegung der Vorrang gebühre, scheint es von Interesse zu erfahren, welcher dieser beiden Leitideen eine 115

größere motivierende Kraft auf der Ebene der Mitglieder zukam. Hierzu verfugen wir in Form des Namens, an dem sich die baskische bzw. spanische Herkunft eines Mitgliedes ablesen läßt, über einen einfachen, aber gleichwohl aussagestarken Indikator: Wenn das Ziel einer sozialistischen Gesellschaftsordnung für die Mehrzahl der ETA-Mitglieder bestimmend gewesen sein soll, dann hätten in der Organisation Basken und Nichtbasken etwa entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil vertreten sein müssen. Gingen die Handlungsimpulse hingegen mehr auf das Anliegen der nationalen Befreiung vom Druck zentralistischer Herrschaft zurück, so war mit einer Überrepräsentation der für dieses Anliegen besonders empfänglichen Basken in der ETA zu rechnen. Wir wollen hier nicht die andernorts zu dieser Frage angestellten Berechnungen wiederholen 41 . Ihr Ergebnis lautete, daß von den ETA-Angehörigen ein weit über dem entsprechenden Bevölkerungsanteil liegender Prozentsatz rein oder überwiegend baskischen Ursprungs war. Daraus ist zu schließen, daß für die Mehrzahl der Guerilleros der Wunsch nach Aufhebung der "Unterdrückung" durch den Zentralstaat, also nach nationalstaatlicher Unabhängigkeit, in stärkerem Maße motivierend wirkte als das ebenfalls von der Organisation proklamierte Ziel einer sozialistischen Revolution. Bis 1975 stammten fast alle Etarras aus den beiden Künstenprovinzen Guipúzcoa und Vizcaya, und zwar, sowohl absolut als auch relativ (.d.h. gemessen an der jeweiligen Einwohnerzahl) betrachtet, weit mehr aus der erst- als aus der letztgenannten Provinz; erst danach gelang es der Untergrundorganisation, auch in den beiden anderen baskischen Provinzen Spaniens, Alava und Navarra (die Zugehörigkeit der letzteren zum Baskenland ist bekanntlich umstritten) Fuß zu fassen. Nach Herkunftsorten aufgeschlüsselt, ergab sich ein bemerkenswerter Unterschied zwischen den auf Vizcaya und auf Guipúzcoa entfallenden Mitgliedern. Stammten die ersteren mehrheitlich aus Bilbao oder Städten im unmittelbaren Einzugsbereich der Provinzmetropole, so bildeten demgegenüber Ortschaften mit knapp 10.000 Einwohnern oder darunter im Provinzinneren die Hauptrekrutierungsbasis der ETA in Guipúzcoa .

116

Zu den wichtigsten Durchgangsstationen für die Guerilleros vor ihrem Eintritt in die Geheimorganisation zählten die Universität und das Priesterseminar 43 . Unter den Etarras gibt es jedoch auch Pfarrer, die zuvor jahrelang im Dienst der Kirche tätig waren. Die Jugendorganisation der baskischen Nationalpartei, EGI, stellte ein weiteres wichtiges Personalreservoir für die ETA dar, desgleichen baskische Tanz- und Folkloregruppen sowie Berg- und Wandervereine. Hingegen scheinen aus den baskischen Schulen (ikastolas) kaum Schüler zur ETA gestoßen zu sein. Hinsichtlich der Art und Weise, wie neue Mitglieder und Helfer gewonnen werden, unterschied sich die ETA nicht von vergleichbaren Geheimverbänden. Die Werbung setzte zumeist bei engen Bekannten und Verwandten der Untergrundkämpfer ein. Durch Aushändigung von Propagandamaterial und Kampfschriften, durch Anstachelung ihres Idealismus und verlockende Darstellungen der in der Gruppe herrschenden Solidarität wurde zunächst versucht, bei diesen Zielpersonen eine gewisse allgemeine Aufgeschlossenheit und Sympathie für die Organisation zu erzeugen. Dann wurden sie, zunächst über kleine, später über größere Hilfe- und Vermittlerdienste allmählich in eine Bindung und Komplizenschaft zu der Gewaltorganisation hineingezogen, aus der es schließlich kein Zurück mehr gab. Der aus eigenen Stücken oder auf Aufforderung gestellte Antrag auf Aufnahme in die ETA ratifizierte lediglich ein bereits bestehendes enges Kooperationsverhältnis 44 . Dem Erwerb der Mitgliedschaft schlössen sich einige theoretische Schulungskurse und praktische Übungen (z.B. im Waffengebrauch), an, die die Ausbildung zum Terroristen vervollständigten. Es wäre jedoch verfehlt anzunehmen, die ETA habe sich der Loyalität ihrer Anhänger nur versichern können, indem sie diese gleichsam korrumpierte und zur Mitarbeit zwang. Nichts deutet, wir stellten es bereits fest, darauf hin, daß die ETA je Nachwuchsprobleme hatte. Vielmehr wurde sie, wie in Kap. 2 aufgezeigt wurde, von einer breit im baskischen Volk verankerten Strömung des nationalen Protestes und der nationalen Unzufriedenheit getragen.

117

4.5. Quantitative

Steigerung der

Gewaltanschläge

Die ETA wurde weit über die Grenze Spanien hinaus bekannt wegen ihrer Widerstands- und Gewaltaktionen gegen den Zentralstaat und dessen Vertreter. Umso merkwürdiger mutet es an, daß über diesen, auch aus der Sicht der Terroristen selbst zentralen Aspekt ihres Wirkens bisher keine zuverlässige Studie vorliegt. Wer sich darüber einen Überblick verschaffen will, ist auf Quellen wie die spanischen Tages- und Wochenzeitungen oder die Statistik der Sicherheitsabteilung des Innenministeriums angewiesen, die nicht immer frei von Verzerrungen sind. Beispielsweise werden in der Aufstellung des Innenministeriums nur die bei ETA-Aktionen Getöteten angegeben, nicht aber die von der Polizei umgebrachten Etarras45. Eine gewisse Ungenauigkeit derartiger Listen resultiert auch daraus, daß es oft schwierig ist, die politisch motivierten Mordtaten von den aus sonstigen Gründen verübten Morden zu trennen. Bei den politischen Mordanschlägen ist nicht immer klar zu erkennen, welche auf das Konto der ETA gehen, welche einer anderen terroristischen Gruppe (insbes. der sogen. GRAPO) anzulasten sind. In der Regel machte zwar die ETA-Führung unmittelbar nach einem von Mitgliedern der Organisation ausgeführten Anschlag die Autorenschaft (meist durch einen anonymen Telefonanruf bei einer Zeitung) geltend, zuweilen handelten aber auch halbautonome Formationen auf eigene Faust, ohne Wissen der zentralen Leitung. Selbst bei einer so spektakulären Aktion wie dem Bombenattentat auf die Cafeteria Rolando in Madrid (am 13 09.1974), bei der zwölf Menschen den Tod fanden, steht nicht zweifelsfrei fest, wer der Urheber war. Mit anderen Worten: Das verfugbare Datenmaterial über die quantitative Entwicklung der Terroraktionen liefert Annäherungswerte, jedoch keine sicheren Zahlen. Um einen ersten Eindruck von den hohen Verlusten an Menschenleben zu vermitteln, die auf das Konto der Geheimorganisation einerseits, der staatlichen Verfolgungs- und Unterdrückungsmaßnahmen andererseits gehen, seien zunächst einige aggregierte Zahlenwerte angegeben: Einem gut dokumentierten Artikel der in Bilbao erscheinenden Zeitung Hoja de Lünes zufolge fanden im Baskenland vom 20.11.1975 bis Oktober 1979, also in rund vier Jahren, insgesamt 197 Menschen in politisch bedingten 118

Konfrontationen den Tod 46 . 135 davon, zumeist Polizisten und Angehörige der Guardia Civil, wurden von der ETA umgebracht, die ihrerseits 22 Mitglieder einbüßte, der Rest entñel auf "Unbeteiligte", die unter unterschiedlichen Umständen, teilweise aufgrund eines Mißverständnisses der Polizei, teilweise durch die Kugeln rechtsextremer "Todesschwadronen", ums Leben kamen. Ein Bericht in der Zeitung Opinión kommt zu ähnlichen Ergebnissen 47 . Danach wurden im Baskenland vom Januar 1976 bis zum Dezember 1979 206 Menschen aus politischen Motiven getötet. 142 von ihnen fielen Anschlägen der ETA zum Opfer. Nach der Statistik des Innenministeriums lag die Zahl der von der ETA zu verantwortenden Mordfalle mit 160 für die Jahre 1976-79 sogar noch höher. Zusammenfassend ist festzustellen, daß der politische Terror im Baskenland in den vier Jahren nach Francos Tod rund 200 Menschen das Leben kostete, das sind etwa 4 Menschen in einem Monat. Rund 75 % dieses Blutzolls waren der ETA anzulasten, den Rest teilten sich die staatlichen Sicherheitskräfte und rechtsradikale Terrorverbände (beide überschneiden sich teilweise). Der Durchschnittswert von vier Toten je Monat ist jedoch insofern irreführend, als er einen im wesentlichen konstant bleibenden Gewaltpegel suggeriert und nicht die Schwankungen, insbesondere die über Jahre hinweg deutliche Tendenz zur Steigerung des Gewaltaufkommens berücksichtigt. Dieser Trend kommt klar heraus, wenn man die Zahlen nicht nur bis 1976, sondern bis zum Jahr 1968 zurückverfolgt, als die Zusammenstöße zwischen der ETA und der Polizei erstmals einen tödlichen Ausgang nahmen. Die folgende Aufstellung beruht auf Datenmaterial, das von zwei kontinuierlich über das Baskenland berichtenden Korrespondenten spanii O

scher Tageszeitungen gesammelt wurde , sowie auf den schon erwähnten Angaben der Sicherheitsabteilung des Innenministeriums. Den Zahlen der durch Etarras Getöteten werden die dem Buch von Laudazurdi entnommenen Verluste der Geheimorganisation gegenübergestellt49.

119

Tabelle 17: Zahlenmäßige Entwicklung der Terroropfer im Baskenland 1968-1979 durch die ETA Getötete Jahr 1969 1969 1970 1971 1972 1973 197« 1975 1976 1977 1978 1979

Imenmlnisteriun

Korrespondent 1

getötete Etarras Korrespondent 2

Laudazurdi

2 1

2

1

-

-

-

-

-

-

-

1 3 2 4 11 2 2 8 11

1 6 18 17 17 11 16 78

1 3 6 17 16 11 69

18 10 53 64

Wenngleich die Angaben für manche Jahre erheblich voneinander abweichen 50 , stimmen sie doch hinsichtlich der Haupttendenz überein. Alle drei Quellen weisen auf eine unregelmäßige, jedoch unaufhörliche Steigerung des Gewaltaufkommens von 1968 - 1979 hin. Bemerkenswerterweise galt dieses Gesetz des kontinuierlich wachsenden Blutzolles, den der Terror im Baskenland forderte, jedoch in stärkerem Maße für die Gewaltaktionen der ETA als für die staatlichen Verfolgungsmaßnahmen. Dies mochte zum einen mit dem vorwiegend reaktiven Verhalten der Sicherheitskräfte zusammenhängen, die abwarten mußten, daß es ihnen gelang, eine Gruppe oder ein Mitglied der Gewaltorganisation zu stellen; zum anderen machten sich hier vermutlich bereits die verstärkten legalen Fesseln bemerkbar, die sich die Polizei beim Vorgehen gegen "Störer und Rebellen" seit der Rückkehr Spaniens zu demokratischen, rechtsstaatlichen Verhältnissen anlegen lassen mußte. Angesichts der beeindruckenden Zunahme von terroristischen Anschlägen mit tödlichen Ausgang im Baskenland darf nicht unerwähnt bleiben, daß auch im übrigen Spanien die politischen Morde nach 1973 rasch anstiegen 51 : von drei Mordattentaten 1973 auf 37 im Jahr 1979- Die Relation zwischen den auf gesamtspanischem Territorium und in der baskischen Region Umgebrachten blieb über die Jahre hinweg ziemlich konstant: auf das Baskenland entfielen rund zwei Drittel sämtlicher Opfer der politischen Gewalt in Spanien. 120

Die politisch gespannte Situation im Baskenland hatte nicht nur eine nicht abreissende Kette von terroristischen Morden und politischen Gegenmaßnahmen zur Folge, sondern wirkte sich auch auf andere Bereiche des kriminellen Verhaltens aus. Allein 1978 fanden in den baskischen Provinzen, insbesondere in Guipúzcoa und Vizcaya, nicht weniger als 120 Sprengstoffattentate (ohne Menschenverluste), 87 Überfalle auf Banken, Waffenund Munitionsdepots und 7 Entführungen statt 52 . Dies zeigt, daß die Zunahme politischer Morde nicht isoliert gesehen werden darf, sondern in einem Kontext ebenso rasch anschwellender annexer Gewalttaten stand. Um die verschiedenen Dimensionen des Protestterrors in ihrer Verbindung und zeitlichen Abfolge besser herausarbeiten zu können, empfiehlt es sich, die quantitative Betrachungsweise durch eine Untersuchung der qualitativen Stufen und Sprünge der Gewaltformen zu ergänzen.

4.6. Qualitative Eskalation der Gewalt Zu dem Versuch, ein Schema der qualitativen Entwicklungsstufen der Protestgewalt im Baskenland aufzustellen, sind vorweg zwei Anmerkungen zu machen. Erstens ist einzuräumen, daß in der schematischen Darstellung die Grenzen zwischen den verschiedenen Handlungsphasen schärfer herausprofiliert werden, als dies vom tatsächlichen Verlauf der Ereignisse her gerechtfertigt erscheint. In Wirklichkeit waren die Übergänge zwischen den sukzessiven Formen militanten Protestes eher fließend. Zweitens sei klargestellt, daß die zur Charakterisierung der einzelnen Perioden gewählten Bezeichnungen nur auf die jeweils neu in ihnen auftretenden Gewaltmuster abheben, also die bereits zuvor anzutreffenden Aktionsformen vernachlässigen. Wenn beispielsweise die Zeit ab 1968 als Phase des "selektiven Terrors" gekennzeichnet wird, so heißt dies nicht, daß sich die ETA von da an ausschließlich auf sporadische Erschiessungen und die Entführung wichtiger Persönlichkeiten verlegt und sämtliche früher praktizierten Protestaktivitäten eingestellt hätte. Unter Berücksichtigung dieser einschränkenden Vorbemerkungen stellt sich die Geschichte des Wirkens der ETA wie folgt dar 5 3 : 121

Schautafel 3: Aktionsfbrmen der ETA, in chronologischer Folge Aktionsformen

Zeitspanne

Inkubation Propaganda von der Sachzerstörung zur Menschengefährdung Selektiver Terror vom selektiven zum systematischen Terror etabliertes Terrorsystem

1953 - 59 i960 - 66

1967 - 68 1968 - 74 1974 - 76 ab 1977

Aus dem Schema ist deutlich zu ersehen, daß der quantitativen Steigerung der Morde, von der in 4.5 die Rede war, ein kontinuierlicher "qualitativer" Zuwachs an Brutalität des Gewalthandelns entsprach. Die fast gesetzmäßig anmutende Ablösung weicherer durch härtere, kommunikationsbetonter durch kommunikationshemmende, aggressive Einwirkungsformen der ETA auf die Umwelt legt in ihrer scheinbaren Irreversibilität die Frage nach der möglichen Unterbrechung dieser verhängnisvollen Eskalierung, d.h. nach den Chancen der Eindämmung der Gewalt nahe (siehe hierzu 4.7 und das Einleitungskapitel). Da die ETA erst 1959 gegründet wurde, kann für die vorangehenden Jahre von einer "Aussenwirkung" der Organisation im engeren Sinn nicht gesprochen werden. Insofern sprengt die mit "Inkubation" bezeichnete erste Phase das Schema. Wenn sie dennoch in dieses aufgenommen wurde, so geschah dies aus zwei Gründen. Zum einen ist nicht zu übersehen, daß die Gründung des Geheimverbandes nur den förmlichen Abschluß einer Entwicklung darstellte, die sich bereits seit 1953 angebahnt hatte. Wie unter 4.1 ausgeführt wurde, gab es seit jener Zeit eine Gruppe junger Basken, meist Studenten, die, unzufrieden mit der in Frankreich residierenden Exilregierung, sich anschickte, einen radikaleren Kurs zu steuern und dementsprechend einen Eifer in ihren Versuchen einer Wiederbelebung baskischer Sprache und Kultur an den Tag legte, der zumindest auf die diesem Kreis Nahestehenden nicht ohne Einfluß blieb. Wichtiger ist aber ein zweiter Gesichtspunkt: Aus der Inkubationsphase läßt sich ersehen, wie lange die Organisation in einem Vorbereitungs- und Latenzstadium verharrte, bevor sie sich in militanter Form

122

gegen den Zentralstaat auflehnte. Geht man davon aus, daß die Angriffe auf öffentliche Gebäude und Banken erst 1967 eine gewisse Regelmäßigkeit erreichten, so ergibt sich ein Zeitraum von nicht weniger als 15 Jahren, in dem die jungen Nationalisten ihre Ziele im wesentlichen mit friedlichen Mitteln verfolgten. Die zweite vor dem eigentlichen Beginn der Gewaltanschläge liegende Phase haben wir Propagandaphase genannt. Damit soll der überwiegend kommunikative, die Medien der Sprache und symbolhafter Vermittlung benützende Charakter der Tätigkeit der ETA-Mitglieder in diesen Jahren unterstrichen werden 5 4 . Man schrieb nationalistische Sprüche an Mauern öffentlicher Gebäude, sang demonstrativ baskische Lieder oder hißte die baskische Fahne, man produzierte Broschüren und Pamphlete, in denen zum Widerstand gegen das Unterdrückerregime aufgefordert wurde. Gelegentlich ging man schon zu militanteren Protestformen über. Beispielsweise ist der schon 1961 unternommene Versuch zu erwähnen, einen Zug zum Entgleisen zu bringen, oder ein fehlgeschlagenes Bombenattentat auf das Polizeigebäude in Bilbao. Solche Aktionen waren aber selten. Insgesamt blieb das äußere Vorgehen der ETA in dieser Phase weit hinter dem organisationsintern erreichten Diskussionsstand zurück, wonach der repressiven Staatsgewalt nur mit brutaler Gegengewalt wirksam begegnet werden konnte. Diese Einsicht wurde erstmals in den Jahren 1967 und 1968 (erste Hälfte) in breiterem Umfang in die Tat umgesetzt 55 . In dieser Zeit mehrten sich die Bombenanschläge auf Baulichkeiten und Einrichtungen wie Polizeistationen, Gewerkschaftshäuser, staatliche Jugendheime, Rundfunkanstalten und Denkmäler zur Erinnerung an die Sieger im Bürgerkrieg, die für die Basken als Symbol ihrer politischen Unterwerfung und kulturellen Erniedrigung eine ständige Provokation darstellten. Gleichzeitig nahm die Zahl der Banküberfalle merklich zu. Stellt man weiter die parallel dazu erfolgende Intensivierung propagandistischer Tätigkeit in Rechnung, so ergibt sich das Gesamtbild eines spürbar gestiegenen Aktionspotentials der ETA, in dem sich bereits der Übergang zu heftigeren Angriffsformen andeutete.

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Zwar vermochte sie noch nicht, sich aus der Haltung des prin2ipiell unterlegenen und deshalb gegenüber der staatlichen Übermacht in der Defensive befindlichen Parts zu befreien. Auch zeigte sie noch eine gewisse Scheu, sich an Menschenleben zu vergreifen. Angesichts der rapiden Häufung von mit Waffengewalt durchgeführten Überfallen war es aber nur eine Frage der Zeit, wann es zum ersten blutigen Zusammenstoß mit der Polizei kommen würde. Dieser Zusammenstoß ereignete sich im Juni 1968: Bei einer Autokontrolle erschossen zwei Etarras einen Polizisten, in der anschließenden Verfolgungsjagd wurde einer von ihnen getötet. Diese Episode bildete den Auftakt zu der rund fünf Jahre dauernden Periode selektiven Terrors. Das Beiwort "selektiv" soll verdeutlichen, daß die ETA in jenem Entwicklungsstadium noch relativ weit entfernt war von jenem blindwütigen Morden, das später zu einem Signum der Organisation werden sollte. Sie wählte ihre Opfer anfangs sorgfältig aus, erschoß einen wegen seiner grausamen Verhörmethoden berüchtigten Polizeiinspektor, entführte den deutschen Konsul von San Sebastián, um die internationale Öffentlichkeit auf die rechtliche Fragwürdigkeit des Burgos-Prozesses aufmerksam zu machen; sie nahm wiederholt Großindustrielle in ihren Gewahrsam, die gerade einem Teil ihrer Belegschaft kündigen oder auf Lohnforderungen der Arbeitnehmerseite nicht eingehen wollten 5 6 ; und sie sprengte schließlich L. Carrero Blanco samt seiner Leibwache in die Luft, den designierten Nachfolger des greisen Caudillo. Sieht man von diesem letzten und folgenschwersten Anschlag ab, so nahmen sich die sporadischen Gewaltmaßnahmen dieser Jahre als eine Art Fortsetzung der Kommunikations- und Propagandaphase mit brutaleren, öffentlichkeitswirksameren Mitteln aus. Diese gesteigerte Aggressivität erklärt sich u.a. aus den Veränderungen der politisch-gesellschaftlichen Stimmungslage im Baskenland und der neuen Rolle der ETA Anfang der 70er Jahre. Aus der kaum bekannten Gruppe der Mitte der 60er Jahre war inzwischen die anerkannte Führungsspitze einer breiten nationalen Widerstandsbewegung geworden. Um den Erwartungen gerecht zu werden, die an diese Funktion geknüpft wurden, um die eigene Handlungsfähigkeit zu demonstrieren und dem Proteststrom die Richtung zu weisen, reichten die 124

harmlosen Kundgebungen und Aufrufe früherer Jahre nicht mehr aus, bedurfte es vielmehr kühnerer und härterer Aktionen. Nebenbei erwähnt, entsprach dem offensiven Auftreten der Organisation in dieser Phase nach außen hin keineswegs eine innere Konsolidierung. Diese Periode war im Gegenteil wie kaum eine andere zuvor von internen Auseinandersetzungen und Lähmungserscheinungen geprägt 57 . Erst ab 1973/74 war eine gewisse organisatorische Verfestigung zu beobachten. In dieselben Jahre fiel der Beginn einer neuen Wirkphase der ETA, die wir als "Übergang vom selektiven zum systematischen Terror" definieren. Das wichtigste Merkmal dieser neuen Eskalationsstufe war eine enorme quantitative Steigerung von Gewaltaten jeder nur erdenklichen Art. So reichte etwa die Bilanz der Aktionen eines im September 1974 festgenommenen Etarra vom Autodiebstahl über Brandstiftung und den Raub eines Fotokopiergerätes bis hin zu Gefangenenbefreiung und Banküberfällen 58 . Mit der numerischen Steigerung terroristischer Anschläge ging fast zwangsläufig eine größere, d.h. willkürlichere Streuung der Opfer und Geschädigten einher. Brachte man ursprünglich nur bestimmte, als notorische Folterer bekannte Polizisten um, so wurde als nächste Verallgemeinerungsstufe allen mit der Festnahme und Vernehmung der ETAMitglieder beauftragten Beamten und schließlich der Polizei und der Guardia Civil schlechthin der Kampf angesagt. Wurden zuvor nur Unternehmer entführt, die zur als verräterisch angeprangerten baskischen Großbourgeoisie gehörten und zudem gerade mit ihren Arbeitern im Konflikt lagen, so vergriff man sich nun auch an mittelständischen, als loyale Basken bekannten Industriellen, die von den Angestellten und Arbeitern ihres Betriebes geschätzt wurden 5 ^. In den Vordergrund der Geiselnahme rückte eindeutig das Motiv, ein möglichst hohes Lösegeld zu erpressen. Immer öfter wurden auch Personen zur Zielscheibe oder zu versehentlichen Opfern von Gewaltaten, die zu keiner der kämpfenden Seiten in einer erkennbar engeren Beziehung standen: ein rechtschaffener Bürgermeister, eine Touristin, ein Omnibusinspektor. Das Auftreten einer rechtsextremistischen Schlägerbande, die für das Wüten der ETA an den 125

Familienangehörigen und Freunden von Etarras Rache nahm, trug ein übriges dazu bei, um eine in der Bevölkerung aufkommende allgemeine Unruhe und Nervosität zu schüren. Empfanden Anfang der 70er Jahre breite Schichten Sympathie und Bewunderung für die "Befreiungskämpfer", so machte sich jetzt teilweise ein Gefühl der Ernüchterung und Distanzierung gegenüber der Gewaltorganisation bemerkbar. Die in der Übergangsphase bereits andeutungsweise sichtbaren Merkmale der nächsthöheren Gewaltstufe wurden nach 1977 zum beherrschenden Syndrom der baskischen Gesellschaft. Die wichtigsten von ihnen waren: die nochmalige sprunghafte Zunahme der Morde und sonstiger Gewalttaten, die in Tabelle 17 (vgl. die Jahre 1978 und 1979) klar zum Ausdruck kommt. Die ETA rühmte sich Ende des Jahres 1978, sie könne, wenn sie wolle, täglich einen Polizisten töten. Ihre Angriffe richteten sich aber nicht nur gegen Polizeibeamte, sondern auch gegen zivile Personen: gegen willkürlich als "Spitzel" und "Verräter" an der nationalen Sache Verdächtigte, gegen Unternehmer und politische Funktionäre, ja sogar gegen moderate Elemente in den eigenen Reihen. Auch Arbeiter wurden gelegentlich umgebracht, obwohl sie jener Klasse angehörten, deren Interessen die Geheimorganisation zu verteidigen vorgab. Neben gezielte Anschläge traten allgemeine Drohungen (z.B. Bombenandrohungen gegen Schulen) und diffuse Aktionen (beispielsweise Maschinengewehrsalven aus einem fahrenden Auto auf ein Polizeirevier). Dies führte neben einer wachsenden Zahl von Zufallsopfern zur Zunahme Verwundeter. Lag der Sitz der Organisation bislang im französischen Baskenland, so faßte sie nun auch in den spanisch-baskischen Provinzen Fuß. Dies bedeutete, daß ihre Mitglieder sich nicht mehr nach jedem größeren Anschlag über die Grenze in Sicherheit bringen mußten, sondern sich in ihre Schlupfwinkel aufspanischem Territorium zurückziehen konnten. Die Operationsbasen der ETA innerhalb des Baskenlandes waren so gut ausgebaut und abgesichert, daß sie es sogar wagen konnte, ihren Einfluß über die Region hinaus nach Süden auszudehnen. Banküberfalle im nahen Leön, Anschläge auf Tourismuszentren an der Costa del Sol sowie die Einrichtung von "Volksgefangnissen" in kastilischen Städten legten von diesem erweiterten Aktionsradius Zeugnis ab. Dieser kam auch darin zum Aus126

druck, daß unter den Mitgliedern erstmals spanische Namen in größerer Zahl auftauchten. Die gesteigerte Gewaltintensität und der erweiterte Handlungsspielraum deuteten auf eine, verglichen mit früheren Jahren, merklich verbesserte apparative Ausstattung und Infrastruktur der Bewegung hin. Die Etarras waren jetzt nicht nur vorzüglich bewaffnet und im Waffengebrauch geschult, sondern sie verfugten auch über die erforderlichen Mittel und Voraussetzungen (falsche Papiere und Autos), um rasch und unaufiallig den Standort wechseln zu können. Den besten Beweis für die erreichte Perfektion des Gewaltapparats lieferten die Anschläge selbst. Bei dem generalstabsmäßig geplanten und durchgeführten Überfall auf die Bank Herrero in Oviedo 0uli 1979), dem größten Bankraub in der spanischen Geschichte, wirkten beispielsweise 18 Personen mit fünf Autos mit 60 . Zur Erhaltung der im Umfang gewachsenen Organisation diente neben den sich häufenden Banküberfallen vor allem die Erhebung einer "Revolutionssteuer". Mußte diese anfangs nur von wenigen, besonders reichen baskischen Famlien entrichtet werden, so wurde die Tributpflicht später auf einen Großteil der oberen Mittelschicht, z.B. Kaufleute, Besitzer mittelgroßer Industriebetriebe, höhere Angestellte, Rechtsanwälte und Ärzte ausgedehnt 61 . Zahlungsunwillige mußten mit äußerst harten Sanktionen, einschließlich dem Verlust des Lebens, rechnen. Daneben übte die ETA auch Druck auf die öffentliche politische Meinung aus. Vor allem Journalisten, Politiker und sonstige, wichtige öffentliche Funktionen bekleidende Personen waren ihren Drohungen und Pressionen ausgesetzt. Die in der Übergangsphase bereits sporadisch auftauchende Reaktion auf die Schreckenskampagne der ETA in Form eines rechtsextremen Gegenterrors war inzwischen zu einer Dauererscheinung geworden. Die sich vermutlich in erster Linie aus den staatlichen Sicherheitskräften rekrutierenden Kampfgruppen traten unter mehreren Namen auf. Ursprünglich nannten sie sich Christkönigskrieger, später wählten sie Bezeichnungen wie "Antiterrorismus-ETA" (ATE), "Apostolische, Antikommunistische Allianz" (AAA), "Baskischspanisches Bataillon". Ihre Racheaktionen richteten sich gegen alle Personen, die der ETA geistig oder persönlich nahestanden oder nahezustehen schienen.

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Angesichts der Geringschätzung des menschlichen Lebens, die sowohl in den Anschlägen der ETA als auch in den Vergeltungsrazzien der Polizei und der Rechtsextremisten zum Ausdruck kam, war die Angst und Nervosität in der Bevölkerung sichtlich gestiegen. Rund 10-15 % der spanischen Basken hielten zwar nach wie vor unverbrüchlich zu der Geheimorganisation und bejubelten deren Attentate 62 . Für die Mehrheit hatte sich der einstige Verbündete im Kampf gegen die Diktatur aber in eine Last und bedrohliche Plage verwandelt. Man fürchtete sich teilweise, die eigene politische Meinung zu äußern, die Zeitungen enthielten nicht selten Annoncen, durch die bestimmte Personen die ETA von der Haltlosigkeit der ihnen gegenüber erhobenen Beschuldigungen zu überzeugen suchten. Nur wenige Basken wagten es, sich gegen den neuen, ihnen von der ehemaligen Befreiungsorganisation auferlegten Meinungs- und Abgabezwanz offen aufzulehnen.

4.7.

Machtdynamik

Man könnte der Aufstandsgewalt aufgrund der vorangegangenen Ausführungen eine inhärente Tendenz zu Ausbreitung und Eskalierung unterstellen. Dies geschieht hier nicht, vielmehr wird davon ausgegangen, daß die ethnischen Rebellen, vor allem in der prekären Anfangsphase der von ihnen gegründeten Organisation, auf intensive symbolische, materielle und personelle Unterstützung aus ihrem Umfeld angewiesen waren und auch später von dem antizentralistischen Ressentiment breiter Bevölkerungsschichten in der Region profitierten. Indes läßt sich nicht verkennen, daß die Untergrundorganisation und ihre Führung nach einiger Zeit aufgrund des erfahrenen Machtzuwachses ein Eigenleben zu führen begann. Ende der 70er Jahre hatte sich die wechselseitige Abhängigkeitsbeziehung zwischen der ETA und der baskischen Gesellschaft gegenüber den Jahren, in denen die Geheimorganisation entstanden war, fast umgekehrt: aus dem Exponenten einer breiten Strömung der Unzufriedenheit und Empörung im baskischen Volk war ein eigenständiger Machtfaktor gewor-

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den, der seinerseits in vielfacher Weise auf die sozialen Strukturen im Baskenland einwirkte und dessen Entwicklung beeinflußte. Daß die ETA, ein Produkt spezifischer Herausforderungen und Belastungen für die baskische Region, auch nach ihrer Gründung noch geraume Zeit der ständigen, intensiven Verbindung mit und Unterstützung durch die nationalistischen Kräfte der baskischen Gesellschaft bedurfte, leuchtet unschwer ein. Denn ungeachtet der weitreichenden und umwälzenden Zielvorstellungen, die schon relativ früh von den führenden Köpfen der Organisation entwickelt worden waren, blieb diese in ihrem Wirkungsradius doch faktisch zunächst auf einen kleinen Kreis von Studenten und Intellektuellen beschränkt. Bei jedem Versuch, in breiteren sozialen Schichten Fuß zu fassen, lief sie Gefahr, von der übermächtigen staatlichen Hepressionsmaschinerie erdrückt zu werden. Die folgenreichste Entscheidung des Verbandes in dieser wenig aussichtsreichen Lage bestand darin, aus der Neigung der staatlichen Kontrollorgane zu Überreaktionen für die eigene Entwicklung Nutzen zu ziehen, d.h. in der Verabschiedung des "Aktions-Repressions-Prinzips". Welch gute Dienste dieses Prinzip der Organisation leistete, läßt sich erst im Nachhinein voll ermessen. Ohne die polizeilichen Razzien und Massenverhaftungen, die jedem größeren Anschlag der ETA mit Sicherheit zu folgen pflegten, ohne die Verfolgung und Folterung Unschuldiger, die häufige Verhängung des Kriegs- und Belagerungszustandes über die beiden baskischen Küstenprovinzen, ohne die Prozesse gegen ETA-Mitglieder vor Militärtribunalen, ihre Verurteilung zu drakonischen Strafen und gelegentliche Hinrichtung wäre es dem Geheimverband schwerlich gelungen, eine vergleichbare Popularität in der breiten baskischen Bevölkerung zu gewinnen. Justiz und Polizei waren nicht zuletzt insofern die Erfüllungsgehilfen der Rebellen, als sie mit ihrer ständigen Wiederholung des Vorwurfe, die ETA verfolge separatistische und sozialistische Ziele, für diese mit mehr Breitenwirkung warben, als sie es zu diesem Zeitpunkt selbst vermocht hätte. Mit zunehmendem Bekanntheitsgrad wuchs auch die Mitgliederzahl der Widerstandsorganisation. Die Tatsache, daß hier eine Gruppe junger Nationalisten die offene Konfrontation mit dem überlegenen Regime nicht 129

scheute, sondern geradezu suchte, übte auf alle jene Sektoren der baskischen Gesellschaft eine große Anziehungskraft aus, die schon seit langem auf eine Gelegenheit warteten, ihre Ablehnung der franquistischen Herrschaft durch kämpferisches Handeln zum Ausdruck zu bringen. Vor allem ab der Mitte der 60er Jahre entwickelte sich die ETA zu einem Sammel- und Auflangbecken für oppositionelle Kräfte sehr unterschiedlicher Provenienz, angefangen von unzufriedenen Priestern aus dem niederen Klerus bis hin zu Vertretern der verbotenen Linksparteien und Gewerkschaften6^. Trotz ihrer aufgrund dieses personellen Zuwachses gestiegenen Stärke darf die Schlagkraft der ETA zwischen 1965 und 1970 jedoch nicht überschätzt werden. Ihr Störpotential reichte aus, um den staatlichen Sicherheitsapparat zu provozieren, aber noch nicht, um ihm ernsthafte Verluste zuzufügen. Verfolgt man in den Zeitungsberichten der Jahre 1968 und 69, wie Mitglieder und Sympathisanten der Organisation oft serienweise festgenommen wurden, wie eine Reihe von Schlupfwinkeln aufgedeckt wurde und welche guten Kenntnisse die Polizei generell vom Aufbau, der Personalstruktur und den Ressourcen des Widerstandsverbandes besaß, so gewinnt man den Eindruck, die staatlichen Sicherheitskräfte hätten die ETA bis 1970 im großen und ganzen ziemlich gut unter Kontrolle gehabt. 1970 war insofern ein besonders wichtiges Jahr, als in ihm der Burgos-Prozeß stattfand, durch den eine Wende im Kräfteverhältnis zwischen dem Regime und der ETA eingeleitet wurde 64 . Diese Wende deutete sich bereits in der Entführung des deutschen Konsuls Beibl während des Prozesses an, einer gut geplanten und glänzend durchgeführten Aktion, die die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die prekäre Situation der unterdrückten baskischen Minderheit in Spanien lenkte und zugleich das gestiegene Angriffspotential der Untergrundkämpfer unterstrich. Das Verfahren selbst machte vollends deutlich, daß sich ein Rollentausch zwischen den beiden ungleichen Gegnern, dem inkriminierenden Staat und den beschuldigten Rebellen, anbahnte. Zu dem Zweck anberaumt, unter Anwendung kriegsrechtlicher Normen ein abschreckendes Beispiel an 16 des Aufruhrs und vieler anderer Straftaten angeklagten Etarras zu statuieren, nahm der Prozeß einen unvorhergesehenen Verlauf. Er wurde nämlich von den Mitgliedern der Protestorganisation, allen Einschüchterungsversu130

chen der Staatsanwaltschaft zum Trotz, dazu benützt, um gegen die Regierung schwere Vorwürfe wegen der politischen Entrechtung und kulturellen Unterdrückung des baskischen Volkes zu erheben. Die Unerschrockenheit, mit der die fast durchweg von der Verhängung der Todesstrafe bedrohten Etarras vor den Militärrichtern ihren Standpunkt verteidigten, hinterließ allgemein, vor allem in der baskischen Bevölkerung, einen tiefen Eindruck. In Burlos wurden erstmals schlaglichtartig die Grenzen eines rein repressiven Vorgehens gegenüber einer Protestbewegung deutlich, die sich aus dem Gefühl der Erniedrigung und Identitätsgefahrdung eines ganzen Volkes speiste. Für die ETA selbst bestand die hauptsächliche Konsequenz des Prozesses sowie einiger in den darauffolgenden Jahren durchgeführter spektakulärer Anschläge und Entführungen darin, daß ihr von da ab in großer Zahl junge Basken zuströmten, die für die Wiedererlangung der Unabhängigkeit ihres Volkes auf intensivere Weise als nur mit dem Wort streiten wollten. Aufgrund dieses Zulaufs war die Gewaltorganisation seit Beginn der 70er Jahre aller Rekrutierungssorgen enthoben, zeitweise (dies gilt vor allem für den militärischen Flügel) mußte sie sogar durch Selektionsbarrieren den allzu starken Andrang von Mitgliedschaftsaspiranten abwehren, um nicht den Charakter eines Geheimverbandes zu verlieren. Zunehmende Mitgliederzahlen bedürfen einer verstärkten organisatorischen Einrahmung; die Funktionsfahigkeit einer solcherart erweiterten und verfestigten Organisation hängt von der Herausbildung stabiler Führungskader ab; die Unterhaltung dieser Führungskräfte muß durch regelmäßige Einnahmen gesichert sein; diese Einnahmen kann sich eine im Untergrund operierende Organisation nur durch vermehrte Bank- und Raubüberfalle, Erpressungen, Entführungen und ähnliche Anschläge verschaffen; daß dergleichen Aktionen trotz steigender Schutzmaßnahmen eventueller Opfer Erfolg haben, setzt eine verbesserte Ausrüstung und Schulung der Mitglieder sowie eine tragfahige Infrastruktur voraus - kurzum: das Wachstum einer Partisanengruppe zieht fast zwangsläufig ihre Bürokratisierung, die Entstehung eines "Apparates", nach sich. Wann sich dieser Apparat im Falle der ETA herausbildete, läßt sich aus der Sicht eines außenstehenden Beobachters schwer bestimmen. Vermutlich fiel die 131

entscheidende Konsolidierungsphase in die Jahre 1973-75, als der selektive dem systematischen, kontinuierlich ausgeübten Terror Platz machte. Mit der Verfestigung der Organisationsstrukturen änderten sich allmählich Stellenwert und Funktion der Angrifisoperationen. Diese büßten zunehmend den ursprünglichen Charakter von Signalen und Botschaften für die breite baskische Öffentlichkeit ein, dienten vielmehr häufiger rein pragmatischen Zwecken wie der Auffüllung der Organisationskasse, der Ausübung der Rache für den Tod eines Genossen, unter Umständen auch schlicht der Demonstration der angesammelten Macht. Das in ihren Händen konzentrierte Machtpotential verführte die Aufrührer dazu, sich nicht mehr nur als Werkzeug und verlängerten Arm des baskischen Volkes zu betrachten, sondern eigenständige, von den Vorstellungen der Bevölkerungsmehrheit abweichende Ziele anzustreben. Diese Verselbständigungstendenzen müssen nicht zuletzt vor dem Hintergrund der persönlichen Situation der älteren Uberados gesehen werden, für die nach mehrjährigem Agieren im Untergrund sowohl aufgrund rechtlicher Hindernisse als auch aufgrund der erfahrenen Sozialisation eine Rückkehr in ein "normales" bürgerliches Leben kaum mehr in Betracht kam. Bedenkt man außerdem, daß ein Großteil der Etarras der Geheimorganisation primär beigetreten war, um der lebhaft empfundenen Verbitterung über die schmachvolle Situation des eigenen Volkes durch offensives Handeln Ausdruck zu verleihen, so nimmt es nicht wunder, daß die ETA seit Beginn der 70er Jahre starr an ihrem Kurs der Konfrontation und Gewalt festhielt. Zwar gab es wiederholt Fraktionen, die für eine alternative Vorgehensweise plädierten. Sie blieben jedoch innerhalb des Verbandes stets marginal und wanderten deshalb meist zu anderen Gruppen, insbesondere Parteien und Gewerkschaften, ab. Die abnehmende Sensibilität der ETA gegenüber ihrem gesellschaftlichen und politischen Umfeld läßt sich gut an den unterschiedlichen Reaktionen des Gewaltverbandes auf politische Liberalisierungstendenzen nach 1962, also in einem relativ frühen Stadium seiner Entwicklung, und nach 1975 beobachten. Obwohl der vom Franco-Regime ausgeübte autoritäre Zwang nach 1962 nur geringfügig nachließ, die Gesten des Entgegenkommens gegenüber der Opposition spärlich und in ihrer Tragweite eng 132

begrenzt blieben, reichte die scheinbar sich abzeichnende politische Wende hin, um bei der ETA den Übergang zum theoretisch bereits gutgeheißenen bewaffneten Kampf hinauszuzögern und innerhalb der Organisation vorübergehend den sogenannten Felipes zu vermehrtem Einfluß zu verhelfen, einer Fraktion, die durch sukzessive, friedliche Reformen dem Ziel eines sozialistischen, freien Baskenlandes näherzukommen hoffte 65 . Demgegenüber zeitigten die viel weitergehenden Zugeständnisse, die die Zentralregierung nach Francos Tod den Basken und insbesondere der ETA machte, bei der letzteren fast keine Wirkung mehr. Weder die Zulassung regionaler Parteien noch die allmähliche Begnadigung fast aller unter Franco eingesperrten Mitglieder der Untergrundorganisation, noch die stufenweise Gewährung regionaler Sonderrechte bis hin zur Verabschiedung des Autonomiestatuts Ende 1979 konnten die ETA davon abbringen, in ihrem möderischen Treiben fortzufahren. Sie schien in diesen Maßnahmen eher eine Erfolgsbestätigung zu sehen und mithin eine Ermunterung zur weiteren Intensivierung ihrer Aktionen. Während die Terroristen einerseits ihre frühere Empfänglichkeit für Zeichen und Impulse aus dem Umfeld, in dem sie agierten, weitgehend einbüßten, begannen sie auf der anderen Seite die Entwicklung der baskischen und teilweise auch der spanischen Gesellschaft zunehmend selbst zu beeinflussen und zu prägen. Besonders ins Auge fallen die politischen Transformationen, die unmittelbar oder mittelbar auf das Wirken der Gewaltorganisationen zurückgingen. Allein das erfolgreiche Attentat auf L. Carrero Blattco, Ende 1973, hätte hingereicht, um der ETA einen festen Platz in den Annalen der politischen Geschichte Spaniens zu sichern. Was speziell die politische Landschaft im Baskenland angeht, so war der Verband Geburtshelfer einer baskischen Linksbewegung als neuer politischer Kraft66. Traditionellerweise wurden Regionalismus und baskischer Nationalismus von parteipolitisch rechts stehenden Gruppierungen vertreten, während die Linksparteien auf gesamtspanischer Ebene operierten. Die Entstehung einer baskischen und zugleich zum Sozialismus hin orientierten politischen Kraft (durch die Parteienkoalitionen Herri Batasuna und Euskadiko Ezkerra repräsentiert) datiert erst aus der Spätzeit des Franquismus. Sie stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der Absplitterung 133

einiger Gruppen von der ETA, die für einen gewaltlosen Weg hin zu einem baskisch-sozialistischen Sonderstaat plädierten. Generell ist festzustellen, daß die ETA durch ihre Existenz und ihre Aktionen die Wiederbesinnung des baskischen Volkes auf seine historischen Rechte und seine kulturelle Eigenständigkeit beschleunigte und zu einer schnellen Verabschiedung jener Maßnahmen in Madrid beitrug, durch die dieser regionalen Besonderheit Rechnung getragen wurde. Im Unterschied zu den politischen Konsequenzen sind die wirtschaftlichen Auswirkungen des Protestterrors schwerer zu fassen. Das liegt daran, daß die baskische Wirtschaft, insbesondere die Industrie, gegen Ende der Franco-Zeit in eine ernsthafte Strukturkrise geriet, die von hohen Arbeitslosenraten (10-15 %) und negativen Wanderungssalden in einer lange zu den beliebtesten Zuwanderungsgebieten Spaniens zählenden Region begleitet war 67 . Wenngleich die ETA für die Ursachen dieser Krise keine unmittelbare Verantwortung traf, liegt doch auf der Hand, daß das von der Gewaltorganisation erzeugte Klima öffentlicher Unsicherheit und allgemeiner Angst ein großes Hindernis für die Wiedergesundung der baskischen Wirtschaft bildete. Die allen reichen Basken drohende Gefahr der Entführung und anschließenden Erpressung, die von der oberen Mittelschicht und Oberschicht erhobene "Revolutionssteuer", die zahllosen Bank- und sonstigen Raubüberfalle, all dies waren Hypotheken für die Gemeinschaft und Belastungselemente für den einzelnen Unternehmer, die diesen zweimal zögern ließen, bevor er sich zu Neuinvestitionen in der Region entschloß 68 . Ähnlich schwierig wie die wirtschaftlichen lassen sich die sozialen Folgen der Häufung von Gewalttaten im Baskenland einschätzen. Einerseits klagten zwar die Unternehmer über zunehmend schlechte Arbeitsdisziplin und eine vermehrte Neigung der Arbeiter, aufzubegehren und ihren Forderungen in militanter Weise Gehör zu verschaffen6^. Auf der anderen Seite ist jedoch offen, inwieweit dieser Widerstandsgeist damit zusammenhing, daß Unternehmer und Manager zu den bevorzugten Zielscheiben von Attentaten der ETA gehörten. Die baskischen Arbeiter waren seit jeher als besonders selbstbewußt und kampfbereit bekannt. Lange Zeit waren sie es, die den Widerstand gegen das Franco-Regime 134

trugen. Als später die ETA durch spektakuläre Anschläge von sich reden machte, solidarisierten sich zwar die Werktätigen wiederholt mit der Gewaltorganisation (vor allem in der Form von Generalstreiks), doch nur wenige von ihnen schlössen sich den Terroristen unmittelbar an. Insgesamt schienen die unteren sozialen Schichten, insbesondere die Arbeiterschaft, zur ETA, die ihre Interessen mitzuverteidigen vorgab, ein etwas gespaltenes Verhältnis zu haben. Dies lag erstens daran, daß das Fernziel eines unabhängigen, "sozialistischen" Euskadi, das die Protestorganisation auf ihre Fahnen geschrieben hatte, den mehr auf pragmatische Verbesserungen abzielenden Arbeiterführern nicht allzu verlockend erschien. Zum anderen resultierten Skepsis und eine gewisse Distanz der letzteren aus dem Umstand, daß die ETA bisweilen nicht davor zurückscheute, auch einfache Werktätige umzubringen. So vielschichtig und kompliziert die Einflußfäden sein mögen, die von der ETA hin zu den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen im Baskenland führten, in einem Punkt änderte sich in der Region nach der Franco-Ära, trotz oder gerade wegen ihres Wirkens, nichts: an der allgemeinen Atmosphäre des Mißtrauens und der Einschüchterung, der Intoleranz und der allseitigen Pressionen. Im Gegenteil, war sich früher das Gros der Bevölkerung in einer eingestandenen oder uneingestandenen Gegnerschaft gegen das zentralistische Regime und seine lokalen Vertreter einig gewesen, so gingen nun die politischen und ideologischen Antagonismen quer durch die meisten gesellschaftlichen Gebilde hindurch. Diese Entwicklung war nicht der ETA allein anzulasten, die Terroristen waren an ihr aber zumindest mitschuldig. Zu den beeindruckendsten Metamorphosen der ETA im Verlauf ihrer rund 20jährigen Existenz zählte die Selbstverständlichkeit, mit der die anfänglichen Befreiungsanschläge später von eindeutig repressiven Gewaltaktionen abgelöst wurden. Dies scheint einer gängigen theoretischen Unterscheidung zu widersprechen, nach der eine klare Grenzlinie die Gewaltanwendung mit dem Ziel der Abschüttelung politischer Knebelung und Unterwerfung von jener Art der Gewaltausübung trennt, durch die bestehende Abhängigkeitsbeziehungen festgeschrieben werden. In der Praxis sind die Übergänge zwischen Befreiungs- und Unterdrückungsterror 135

jedoch fließend. Möglicherweise verdiente die Entfuhrung des deutschen Konsuls im Jahr 1970, durch welche die Weltöffentlichkeit auf das militärische Sondergerichtsverfahren in Burgos aufmerksam gemacht werden sollte, noch das Etikett "Befreiungsaktion". War diese Bezeichnung aber auch bei den alsbald folgenden Geiselnahmen von Unternehmern gerechtfertigt, bei denen es ersichtlich vor allem um die Erpressung eines möglichst hohen Lösegeldes ging? Und wie stand es gar mit dem Befreiungswert von Anschlägen, die auf die Bestrafung angeblicher "Verräter" abzielten, wie mit dem Plan der ETA, dem künftigen baskischen Staat, notfalls auch wider den Willen der Betroffenen, die bekanntlich nur partiell baskische Provinz Navarra einzuverleiben? Scheinbar gibt es keine innere Hemmschwelle, die Terroristen daran hindern würde, den zunächst mit hochfliegenden, idealistischen Zielen gerechtfertigten Gewaltgebrauch später für weniger edle Zwecke fortzusetzen. Im Bereich des Zwangs kann man nicht auf die beschworenen Prinzipien, Leitideen, Gesinnungswerte vertrauen, denn diese sind auswechselbar. Von einer verhängnisvollen Invariabilität erweist sich allein der einmal gewählte Durchsetzungsmodus, die Gewaltanwendung. Das ist die alarmierende Lektion, die in unseren Augen das baskische Beispiel vermittelt.

136

5.

Auffächerung des nationalistischen Kräftespektrums nach 1980

5.1. Die ETA als Ebrenretter des baskiscben Volkes 5.2. Herri Batasuna (HB): politischer Stellvertreter und Sprachrohr der Gewaltorganisation 5-3• Ein Netzwerk militanter gesellschaftlicher Protestgruppen 5-4. Politischer Druck und Gegenwehr 5.5. Maßnahmen der spanischen Regierung gegen die ETA

139 144 150 157 162

5.

Auflacherung des nationalistischen Kräftespektrums nach 1980 1

Die folgenden Ausführungen sollen aufzeigen, daß der militant nationalistische Block sowohl im Baskenland als auch auf gesamtspanischer Ebene zunehmend in eine defensive Position gedrängt wird. Zum besseren Verständnis der nach wie vor beträchtlichen Anhängerschaft der Gewaltorganisation erscheint es jedoch notwendig, eingangs thesenartig die historische Entwicklung der ETA und vor allem ihre Schlüsselbedeutung im Abwehrkampf der Ethnie gegen das Franco-Regime zu rekapitulieren.

5-1. Die ETA als Ehrenretter des baskiscben Volkes Die ETA deren offizielle Gründung Ende der funfeiger Jahre bereits eine längere Vorgeschichte hatte, entstand aus der Initiative einer Gruppe von Studenten, die sich zunächst primär dem gemeinsamen Studium der baskischen Sprache und Literatur widmete2. Ihre Radikalisierung im Laufe der sechziger Jahre war vor allem zwei Umständen zuzuschreiben: der unnachsichtigen Verfolgung und Unterdrückung, denen sämtliche Manifestationen des kulturellen Überlebenswillens der Ethnie (wie etwa das Singen baskischer Lieder) von selten der spanischen Sicherheitsbehörden ausgesetzt waren; und der schwachen Präsenz des gemäßigten PNV im Baskenland, dessen Vertretung in Paris gewaltsamen Widerstand ablehnte und statt dessen das Ende der Franco-Herrschaft abwarten wollte. Nachdem die ETA in den sechziger Jahren einmal auf den Gewaltkurs eingeschwenkt war, hielt sie stets an ihm fest. Zwar gab es in ihren Führungsgremien oft Diskussionen, ob im Interesse einer politischen Öffnung nicht ein Verzicht auf Gewaltaktionen geboten sei; auch machten Vertreter des zeitweise starken marxistischen Flügels geltend, die durch die Anschläge provozierten staatlichen Verfolgungsrazzien erschwerten die Mobilisierung der Arbeiterschaft. Im Ergebnis behielten aber immer die Vertreter des "harten" Flügels die Oberhand, oft indem sie durch Morde, Entführungen etc. vollendete Tatsachen schufen. Nicht mit dieser Linie einverstandene Gruppen wurden entweder aus der Organisation ausgestoßen oder verließen sie freiwillig, um andere Verbände bzw. Parteien zu gründen.

Was die baskische Öffentlichkeit vor allem beeindruckte, waren der Mut und die Entschlossenheit, mit denen sich die Etarras einem scheinbar aussichtslosen Kampf stellten. Als bezeichnend in diesem Sinn kann ihr Verhalten im Burgos-Prozeß von 1970 gelten, der auch international beträchtliche Aufmerksamkeit erregte. Von dem Regime als Schautribunal gegen aufsässige Landesverräter inszeniert, wurde er von den beschuldigten ETA-Mitgliedern, die unerschrocken ihren Standpunkt vertraten und sogar die baskische Nationalhymne im Gerichtssaal anstimmten, zu einem Anklageförum gegen die Diktatur umfunktioniert. Vor diesem Augenblick an hatte die junge Gewaltorganisation keine Rekrutierungsprobleme mehr. Vor allem junge Leute aus dem Hinterland der Provinz Guipúzcoa wollten in sie aufgenommen werden. ETA-Angehörige bewegten sich in der baskischen Gesellschaft wie "Fische im Wasser" (Mao Tse-tung). Rückblickend lag das Hauptverdienst der ETA darin, daß sie dem Überlebenswillen der Ethnie öffentlichen Ausdruck verlieh4. Durch ihre Anschläge bewies sie die Verwundbarkeit der Diktatur und rettete zugleich die Ehre und das Selbstwertgefühl der im übrigen zum schweigenden Erdulden der Unterdrückung gezwungenen Minderheit. Dies haben die Basken der ETA nie vergessen. Ihr Beispiel machte Schule. Wie die zahlreichen Demonstrationen und Streiks ab 1970 beweisen, gewann der Oppositionswille des baskischen Volkes dank der ETA erneut Kraft und Stimme. Von 1970 bis 1975 fanden nicht weniger als vier Generalstreiks im Baskenland statt, durch die das gesamte öffentliche Leben lahmgelegt wurde. In den Generalstreiks äußerte sich eine durch die Diktatur erzeugte politische Sensibilisierung und intensive Mobilisierung der baskischen Bevölkerung, die auch nach Francos Tod nicht abflaute. Die Empörung der Ethnie über das ihr zugefügte Unrecht war so groß, die daraus abgeleitete Ablehnung des von Madrid ausgehenden Zentralismus so stark, daß davon auch das die Nachfolge der Franco-Diktatur antretende demokratische Regime erfaßt zu werden drohte. Dieser Übertragungseffekt hätte nur durch einen klaren Bruch der neuen demokratischen Führungselite mit dem franquistischen Herrschaftssystem vermieden werden können. Ein solcher Bruch kam nicht zustande - generell nicht und ebensowenig in bezug auf das Verhalten der Zentralbehörden gegenüber der baskischen 140

Minderheit. Die unter Franco eingesperrten Basken wurden nur zögernd, unter Druck entlassen; die spanischen Sicherheitskräfte griffen bei Demonstrationen in der kantabrischen Region weiterhin sehr hart durch; eine verfassungsrechtliche Anerkennung der Autonomierechte des kleinen Volkes ließ mehrere Jahre (bis 1979) auf sich warten. Kein Wunder, daß unter diesen Umständen die Generalstreiks anhielten und die Behauptung der ETA, Gewalt sei als Druckmittel, um die zentralistischen Politiker zur Einsicht zu bringen, weiterhin unentbehrlich, breites Gehör fand. Erst im Laufe der achtziger Jahre setzte die zunehmende Distanzierung breiter Bevölkerungsgruppen von der Gewaltorganisation ein. Die Gründe hierfür liegen zum einen in der ins Auge springenden Brutalität und Unmenschlichkeit der ETA-Aktionen, die im Unterschied zu den Anschlägen während der Franco-Zeit für die Täter keinerlei Risiko mehr implizieren, zum anderen in dem gegenüber jener Zeit grundlegend veränderten politischen Kontext, der die gewaltsame Durchsetzung politischer Ziele als illegitim und zudem wenig aussichtsreich erscheinen läßt. Dabei darf jedoch dreierlei nicht übersehen werden: Erstens ist die rationale Ablehnung des Gewaltkurses nicht mit der Aufkündigung der emotionalen Bindung an die Gewaltorganisation gleichzusetzen; die historische Dankesschuld wirkt insoweit stark nach. Zweitens bezieht sich der Dissens primär auf die Gewalt als Mittel der Politik. Hinsichtlich ihres politischen Zieles, eine weitergehende Unabhängigkeit von der Zentralregierung zu erlangen, als sie durch das 1979 verabschiedete Autonomiestatut gewährt wird, kann sich die ETA dagegen der Unterstützung von fast der Hälfte der baskischen Bevölkerung sicher sein. Drittens ist es der ETA schließlich gelungen, ein gesellschaftliches und politisches Netzwerk aufzubauen, das ihre politischen Wünsche und Vorstellungen, unabhängig von den Gewaltaktionen, in der baskischen Öffentlichkeit vertritt und ihnen Nachdruck verleiht. Einige Trägergruppen dieses Netzwerkes, das sozusagen die zivile Lobby der ETA darstellt, sowie deren Aktionsformen werden in den folgenden Abschnitten darzustellen sein. Zuvor seien aber ein Schaubild und eine Tabelle eingefügt, die einerseits einen Überblick über die auf das Konto der ETA bis 1987 gehenden politischen Morde geben, andererseits 141

ein Bild von der Einstellung der baskischen Bevölkerung zu zentralen ethnischen Problemen, insbesondere in bezug auf die polltische Zukunft und die ETA, vermitteln.

Schautafel 4: Opfer des ETA-Terrorismus

Quelle:

142

Dokumentationsdienst von ABC. Unterschiedliche Quellen kommen hinsichdich der Zahl der ETA-Opfer zu leicht unterschiedlichen Ergebnissen (vgl. etwa für die Zeit bis 1980 R.P. Clark). Die Kurve gibt indes den Gesamttrend, der sich bei allen Erhebungen abzeichnet, durchaus zutreffend wieder.

Tabelle 18: Einstellung der baskischen Bevölkerung zu einigen Schlüsselproblemen, insbesondere zur ETA und zum bewaffneten Kampf (1985)*) 1.

2.

3.

4.

5.

6.

In welcher der folgenden Kategorien würden Sie sich einstufen

%

Ich fühle mich nur als Spanier Mehr spanisch als baskisch Ebenso spanisch wie baskisch Mehr baskisch als spanisch Ich fühle mich nur als Baske Keine Antwort

8 5 36 25 23 3

Mit welcher der folgenden politischen Lösungen für das Baskenland wären Sie am meisten einverstanden?

%

Integration in einen Einheitsstaat Autonomierechte entsprechend dem gegenwärtig gültigen Statut Eine Autonomie mit der Tendenz zur völligen Unabhängigkeit . . . Die völlige Unabhängigkeit Keine Antwort

5 54 18 17 6

Welcher der folgenden Aussagen über die ETA würden Sie zustimmen?

%

Sie hatte nie eine Existenzberechtigung Früher hatte sie eine Existenzberechtigung, heute dagegen nicht mehr Sie hat noch immer eine Existenzberechtigung Keine Antwort

26 45 16 13

Soll Etarras, die den bewaffneten Kampf aufgeben, ein Straferlaß gewährt werden?

%

Ja Nein Keine Antwort

70 17 13

Soll die ETA den bewaffneten Kampf aufgeben und sich auflösen?

%

Ja Nein Keine Antwort

76 13 11

Soll die Zentralregierung mit der ETA verhandeln?

%

Ja Nein Keine Antwort

63 21 16

Quelle: Cambio 16 vom 8.77.1985. *) Seit dem Ende der Franco-Diktatur sind zahlreiche Umfragen zur ethnischen Problematik und zur Frage der Legitimität der Gewaltanwendung im Baskenland

143

durchgeführt worden, die teilweise in ihren Resultaten variieren, was außer mit dem unterschiedlichen Befragungszeitpunkt auch mit unterschiedlichen Frageformulierungen zusammenhängt. Daß 10-15 Prozent der baskischen Bevölkerung hinter der ETA stehen, ist indes ein immer wieder auftauchendes Ergebnis (ausführlich hierzu RP. Clark, 1984, S. I66ff.). Bei Frage 1 ist zu bedenken, daß rund 50 Prozent der gegenwärtig in der Region lebenden Bevölkerung von spanischen Zuwanderern abstammen. Wenngleich die erste Folgegeneration ihre nicht-baskische Herkunft oft durch Überidentifikation mit der neuen Heimat zu kompensieren trachtet, fühlen sich von den Zugewanderten selbst viele immer noch nur als Spanier oder sowohl als Spanier als auch als Basken.

5-2. Herri Batasuna (HB): politischer Stellvertreter und Sprachrohr der Gewaltorganisation Die Entwicklung des Parteiensystems im Baskenland seit dem Ende der Franco-Ära läßt sich durch zwei Trends kennzeichnen5. Zum einen ist das stetige Vordringen nationalistischer, d.h. auf die Region begrenzter gegenüber gesamtspanisch orientierten Parteien zu beobachten. Brachte es der PNV während der Zweiten Republik (1931-1936) neben den starken gesamtspanischen Parteien durchschnittlich nur auf ein knappes Drittel der abgegebenen Wählerstimmen, so hat sich der Anteil der für baskische Parteien votierenden Wähler inzwischen auf fast zwei Drittel aller Wähler erhöht, ohne daß ein Ende dieser Entwicklung abzusehen wäre. Dies hängt, und dies wäre der zweite Zug, nicht zuletzt mit der ideologischen und organisatorischen Ausdifferenzierung des baskischen Parteienspektrums seit dem Übergang zur parlamentarischen Monarchie zusammen. Insbesondere existiert heute, im Unterschied zur vorfranquistischen Zeit, neben einer baskischen "Rechten" auch eine baskische "Linke", die gleich durch zwei Parteien vertreten ist: Euskadiko Ezquerra (EE) und Herri Batasuna (HB). Beide sind aus Absplitterungen der ETA hervorgegangen. Während sich aber EE im Zeichen eines konsequent verfolgten sozialistischen Parteiprogramms zunehmend von der Gewaltorganisation entfernt hat und gegenwärtig zu deren Gegnern zählt, stellt HB die wichtigste Lobbygruppe für die ETA innerhalb der politischen Sphäre dar. Eigentlich ist HB keine Partei, sondern ein aus zahlreichen Gruppierungen, Kleinparteien, Komitees und dergleichen bestehendes Wahlbündnis, an dessen Spitze ein rund fünfzigköpfiges Koordinationsgremium, die 144

Mesa National (wörtlich: nationaler Tisch) steht. Aufgrund ihrer starken Orientierung auf die Parteibasis hin und der großen Bedeutung, die dem aktiven Engagement der Mitglieder beigemessen wird, gleicht HB in mancher Beziehung eher einer sozio-politischen Bewegung als einer Partei im üblichen Sinn, und Bewegung ist es auch, was die Batasuneros in die baskische Politik und Gesellschaft bringen wollen. Prinzipiell gegen das Autonomiestatut und die darin festgelegte Kompetenzaufteilung zwischen dem Zentralstaat und der "Autonomen Baskischen Gemeinschaft" (so die offizielle Bezeichnung) eingestellt, trachtet HB mit allen Mitteln danach, eine Normalisierung der politischen Situation im Baskenland zu verhindern. Eines dieser Mittel besteht im systematischen Boykott der parlamentarischen Vertretungsorgane. HB-Führer kandidieren zwar bei Wahlen zum regionalen und zum nationalen Parlament, weigern sich aber, sofern sie gewählt werden, ihre Abgeordnetensitze einzunehmen und am politischen Entscheidungsprozeß zu partizipieren (eine Ausnahme bildet die lokale Ebene der Stadträte; hier wirkt HB mit). Statt dessen schüren sie Unruhen, wenn immer sich ein günstiger Anlaß dafür bietet. Ein gutes Beispiel liefert der sogenannte Flaggenstreit. Dabei geht es um die Frage, welche Fahnen bei den allsommerlichen Festspielen im Baskenland gehißt werden dürfen und müssen, die spanische oder die baskische, beide oder keine. HB benützte die Festwochen Jahr für Jahr, um durch das ostentative Niederholen und Verbrennen spanischer Fahnen den Anspruch des Baskenlandes auf uneingeschränkte Souveränität gegenüber Madrid zu unterstreichen. Diese Provokation führte zwangsläufig zum Einschreiten der Sicherheitskräfte und harten, oft blutigen Auseinandersetzungen zwischen militanten Nationalisten und Politikern. HB kommen solche Auseinandersetzungen gelegen, bestätigen sie die Partei doch in ihrer Rolle einer Widerstandskraft gegen den politischen Status quo, die alle unzufriedenen Bevölkerungsgruppen mobilisiert und bemüht ist, die InefFektivität der bestehenden institutionellen Ordnung zu beweisen. Ihre Grundhaltung des Boykotts der parlamentarischen Demokratie rückt HB in die unmittelbare Nähe der ETA. Denn auch die Gewaltorganisation macht geltend, trotz des Übergangs zur Demokratie habe sich am Zustand der Unterdrückung und Entmündigung Euskadis durch Madrid 145

im Grunde nichts geändert. Nach wie vor würden den Basken grundlegende demokratische Freiheiten vorenthalten, würden politische Dissidenten in der Region eingesperrt und gefoltert. Die gemäß dem Autonomiestatut gewählten politischen Vertreter der Region machten das schmutzige Spiel von Madrid mit und verrieten damit die wahren Interessen des baskischen Volkes. Um eine definitive nationale Befreiung zu erreichen, dürfe man sich auf keine faulen Kompromisse einlassen, sondern müsse hart bleiben, d.h. fortfahren mit militanten Demonstrationen und Gewaltanschlägen. Die Übereinstimmung in der Zielorientierung von HB und der ETA zeigt sich besonders augenfällig an ihrer gemeinsamen Berufung auf die sogenannte "Alternative KAS". Es handelt sich dabei um ein noch aus den siebzigerJahren stammendes Fünfpunkte-Programm, das die Minimalbedingungen für die Aufgabe des bewaffneten Widerstandes enthält. Die fünf Forderungen lauten: 6 1. Generalamnestie für die ETA-Häftlinge, die gegenwärtig in spanischen Gefangnissen einsitzen, und sofortige, an keinerlei Formalitäten geknüpfte Rückkehrmöglichkeit für die zahlreichen ins Ausland, vor allem nach Frankreich geflüchteten Etarras. 2. Gewährung sämtlicher demokratischer Freiheitsrechte, einschließlich des demokratischen Selbstbestimmungsrechts. 3- Rückzug sämtlicher spanischer Sicherheitskräfte aus dem Baskenland. 4. Verbesserung der Lebensbedingungen für die breiten baskischen Bevölkerungsschichten, insbesondere fürdie baskische Arbeiterklasse. 5. Der Einschluß Navarras in die Autonome Baskische Gemeinschaft, nach Abhaltung eines Referendums. Es würde hier zu weit führen, die fünf Forderungen zu kommentieren und die Gründe aufzuzählen, aus denen die Madrider Regierung nicht oder nur bedingt dazu bereit ist, auf sie einzugehen. Wichtig ist jedoch, sich den "taktischen" Charakter des Fünf-Punkte-Programms vor Augen zu führen, dessen Annahme durch die Gegenseite nur die Voraussetzung weiterer Verhandlungen sein soll. Als strategisches Fernziel wird von den radikalen Nationalisten die gänzliche Loslösung vom spanischen Staatsverband, in Verwirklichung des demokratischen Selbstbestimmungsrechts des baskischen Volkes, anvisiert. 146

Die Übereinstimmung in den politischen Fern- und Nahzielen sowie in den Durchsetzungsmethoden legt die Vermutung nahe, zwischen der ETA und der HB gebe es noch weitere Verbindungen. Diese Vermutung wurde in Spanien immer wieder geäußert, gestützt auf sporadische Belege und Hinweise. Nachdem indes die HB-Vertreter stets ihre organisatorische Selbständigkeit betonten und von der ETA diesbezüglich keine Auskünfte erhältlich waren, blieb es lange bei bloßen Spekulationen und Verdächtigungen. Erst aufgrund der Aushebung mehrerer ETA-Verstecke in Südfrankreich in jüngerer Zeit kam mehr Licht in die Natur der Beziehungen zwischen den beiden Gruppierungen. Dabei hat sich die Hypothese einer weitgehenden organisatorischen, finanziellen sowie personellen Abstimmung bzw. Verflechtung zwischen ihnen im wesentlichen bestätigt.6 So hat man Belege dafür gefunden, daß HB nahestehende politische Verbände aus der ETA-Kasse finanzielle Zuwendungen erhalten haben. Aus Protokollen gemeinsamer Sitzungen von ETA- und HB-Vertretern geht hervor, daß die ETA erheblichen Einfluß auf politische Einzelentscheidungen der Partei nahm und auch ein gewichtiges Wort bei der Besetzung von Posten parteinaher Einrichtungen mitsprach. Umgekehrt waren HB-Mitglieder der Gewaltorganisation wiederholt bei der Anlage von Vorrats- und Waffenlagern behilflich und leisteten Etarras in Notfallen Fluchthilfe. Daß ehemalige, manchmal auch aktive Etarras in der Parteiorganisation mitarbeiten und dort teilweise wichtige Funktionen ausüben, ist ohnedies kein Geheimnis. Besonders bekannt wurde der Fall von Carlos Yoldi, einem 23-jährigen ETA-Mitglied, das während seiner Untersuchungshaft von HB auf die Wahlliste für das baskische Parlament gesetzt und nach seiner Wahl zum Abgeordneten von derselben Partei sogar für das Amt des Lebendakari, d.h. des baskischen Ministerpräsidenten, vorgeschlagen wurde. Insgesamt ergibt sich das Bild einer subtilen Funktionsaufteilung zwischen den beiden Organisationen, wobei die ETA offenbar rangmäßig HB überlegen ist, d.h. in Zweifelsfällen die letzte Entscheidung hat. Die ETA verkörpert die Prinzipien rigider Hierarchie und Disziplin als Voraussetzung ihres Wirkens im Untergrund, HB steht für das Gegenprinzip einer offenen, losen Formation im legalen politischen Raum; jene kann nur eine 147

begrenzte Zahl von Mitgliedern aufnehmen, diese trägt dem Mobilisierungsverlangen breiter Gruppen im Dienste der nationalistischen Sache Rechnung; jene versucht, den parlamentarischen Rechtsstaat durch Gewaltanschläge aus den Angeln zu heben, diese setzt ihm zu, indem sie seine Institutionen unterwandert und aushöhlt. Während schließlich die ETA aufgrund ihrer Abgehobenheit vom "schmutzigen" politischen Alltagsgeschäft für die Bewahrung nationalistischer Mythen einen wichtigen Beitrag leistet - dem Mythos vom baskischen Helden und Märtyrer sowie genereller von einem künftigen makellosen baskischen Gemeinwesen - , so gibt demgegenüber HB, lärmend und protestierend, der Unzufriedenheit vieler Basken mit den konkreten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Mißständen in der Region Ausdruck. Es läßt sich unschwer beweisen, daß es sich bei der hier skizzierten Arbeitsteilung nicht um das Wunschprogramm eines radikalen nationalistischen Intellektuellen handelt, sondern um ein Funktionsschema, das sich in der Praxis oft bewährt hat. Als Beispiel lassen sich etwa die öffentlichen Kampagnen und Demonstrationszüge anführen, die HB nach ETA-Attentaten zu inszenieren pflegt, um die baskische Öffentlichkeit abzulenken und von der Notwendigkeit der Fortführung des "bewaffneten Kampfes" zu überzeugen. Oder die Reaktionen der ETA auf Denunziationen politischer Gegner durch die HB, die einem Todesurteil für die Betreffenden gleichkommen können. Der beste Beweis für die Erfolgsträchtigkeit der von beiden Organisationen verfolgten Doppelstrategie wird jedoch durch das gute Abschneiden von HB bei Wahlen erbracht. Ihr Stimmenanteil liegt seit 1979 ziemlich konstant bei etwa 15 % aller im Baskenland abgegebenen Wählerstimmen, in der letzten Wahl zum Regionalparlament (Ende 1986) stieg er sogar auf 17,5 Prozent an 8 . Offenbar nimmt ein beträchtlicher Teil derbaskischen Bevölkerung der linksnationalistischen Parteienkoalition ihr offenes Bekenntnis zum Gewaltkurs der ETA keineswegs übel, sondern honoriert es im Gegenteil. Die Gründe für dieses Verhalten werden deutlicher, wenn man die Anhängerschaft von HB betrachtet. Es stellt sich nämlich heraus, daß sie ihren Rückhalt in denselben sozialen Gruppen findet, aus denen nach einschlägigen Untersuchungen auch die ETA ihren Nachwuchs rekrutiert9. 148

Der "typische" HB-Sympathisant ist zwischen 20 und 30 Jahre alt, kommt aus der Provinz Guipúzcoa, gehört der unteren Mittelschicht an (ist z.B. Facharbeiter oder kleiner Angestellter), besitzt einen mittleren Bildungsabschluß und fühlt sich primär als Baske. Die Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewaltorganisation muß bei genauer Analyse demnach zu einem Funktionsdreieck ETA - HB-Sympathisantenschicht erweitert werden, in dem jeder Gruppe bestimmte Aufgaben zufallen. Die ETA repräsentiert die militärische Avantgarde des nationalen Befreiungskampfes und stellt dessen Führungskader. Die breite Schar der ETA-Anhänger und Sympathisanten bildet einerseits die Muttergruppe der Gewaltorganisation, die dieser emotionalen und logistischen Beistand gibt und sie bei Bedarf personell ergänzt; andererseits bewirken die Sympathisanten mit ihrer Unterstützung für HB, daß die Bewegung auch in der legalen Sphäre, im Parlament und auf der Straße präsent ist. HB wiederum nimmt diese politische Vertretungs- und Mobilisierungsfunktionen wahr, dient aber zugleich auch als Bindeglied zwischen den anderen zwei Teilen der Bewegung, indem sie deren solidarischer Verbundenheit öffentlich Ausdruck verleiht. Die Herausbildung dieser merkwürdigen, teils legal, teils illegal operierenden Protestfront muß vor dem Hintergrund einer zunehmenden inneren Distanzierung vieler Jugendlicher und junger Erwachsener von den Institutionen der parlamentarischen Demokratie gesehen werden, die in allen Industrienationen zu beobachten ist, im Baskenland jedoch besonders alarmierende Formen annimmt. Man darf nicht vergessen, daß die spanische Verfassung in dem 1978 durchgeführten Referendum im Baskenland keine Mehrheit fand und auch das Autonomiestatut nur mit knapper Mehrheit angenommen wurde. Wenngleich die Zahl der Stimmenthaltungen seit 1979 stetig zurückgegangen ist, liegt sie immer noch bei fast 30 Prozent der Stimmberechtigten. E. Laraña hat in diesem Zusammenhang von einer Delegitimierung des Repräsentationsprinzips im Baskenland gesprochen, die sämtliche Organe der parlamentarischen Demokratie in Mitleidenschaft ziehe 10 . Der konstante Wahlerfolg von HB erkläre sich nicht zuletzt daraus, daß es dieser populistischen Partei am besten gelinge, die aus der Legitimitätskrise resultierende politische Apathie breiter baskischer Wählerschichten zu

149

durchbrechen. Denn HB spreche Gefühle an und komme mit ihrem dezentralisierten Aufbau und dem Appell an basisdemokratische Prinzipien dem nostalgischen Wunsch vieler Basken nach der Wiederherstellung überschaubarer, kleiner Selbstverwaltungseinheiten entgegen. Außerdem repräsentierten die HB-Führer einen traditionellen Typus personalisierter, charismatischer Autorität, der im Baskenland immer noch großen Anklang finde.

5-3• Ein Netzwerk militanter gesellschaftlicher Protestgruppen HB tritt als politischer Exponent der militant separatistischen Bewegung besonders in den Vordergrund, steht aber keineswegs allein. Vielmehr hat die politische Sensibilisierung und Mobilisierung der baskischen Bevölkerung (verbunden mit dem bereits erwähnten Hang zur Assoziation) eine Vielzahl von Vereinigungen, Komitees und Gruppierungen hervorgebracht, die von ihrer Themenstellung und Zielorientierung her alle mehr oder weniger direkt mit der nationalen Unterdrückung und ihrer Aufhebung und damit mittelbar zugleich mit der ETA befaßt sind. Bezeichnenderweise gibt es hinsichtlich der Annahme, die ETA und HB bildeten den Mittelpunkt eines weitverzweigten Geflechtes von radikal-nationalistischen Gruppen und Verbänden, keinen grundlegenden Dissens zwischen den Gegnern und den Verteidigern der nationalistischen Bewegung. Ein vor einiger Zeit bekannt gewordener Bericht einer Madrider Polizeibehörde kommt insoweit nicht zu gänzlich anderen Erkenntnissen als etwa J. Lang, der die baskische Sezessionsbewegung mit offenkundiger Sympathie verfolgt11. In der folgenden Aufstellung versuchen wir, einen ungefähren Überblick über die Breite dieses Netzwerks und dessen zentrale Aktionsförmen zu vermitteln.

150

Schautafel 5:

Militante nationalistische Gruppierungen im Baskenland und ihre Aktionsformen

a) Gruppierungen Jugendorganisation von HB (Jarrai). Nationalistische Gewerkschaft (LAB). Sprach- und Kulturorganisationen (AEK). Anti-Atomkraft- und Ökologiegruppen. Anti-Nato-Gruppen und antimilitaristische Komitees. Arbeitslosenkomitees. Unterstützungskomitee für flüchtige ETA-Mitglieder (Comité de apoyo a los refugiados). Amnestiegruppen, die sich für einen bedingungslosen Straferlaß für die inhaftierten Etarras einsetzen (