Artefakt und empirische Sozialforschung: Genese und Analyse der Kritik [1 ed.] 9783428482795, 9783428082797

Artefaktforschung beschäftigt sich mit dem existentiellen Problem, inwieweit die Ergebnisse empirischer Sozialforschung

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Artefakt und empirische Sozialforschung: Genese und Analyse der Kritik [1 ed.]
 9783428482795, 9783428082797

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ANDREA HILGERS

Artefakt und empirische Sozialforschung

Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 34

Artefakt und empirische Sozialforschung Genese und Analyse der Kritik

Von

Andrea Hilgers

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Universität Hamburg.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Hilgers, Andrea: Artefakt und empirische Sozialforschung : Genese und Analyse der Kritik I von Andrea Hilgers. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Sozialwissenschaftliche Schriften; H. 34) Zug!.: Hamburg, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08279-6 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 3-428-08279-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

9

Alles kann für alles charakteristisch sein. Wenn es charakteristisch ist. Wenn es nicht charakteristisch ist, dann hat man eben Pech gehabt. Kurt Schwitters

Wer sich für die Grundlagen der sozialwissenschaftlichen Forschung interessiert, sollte auf kontinuierliche Prüfung und Nachprüfung ihrer Hauptprinzipien drängen. A aron V. Cicourel

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung...............................................

9

Problemgenese der Artefaktforschung in ihren wissenschaftsinternen und -externen BezOgen .........................................

IS

2.

2.1

Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen ......... 20 2.1.1

FrUhe Auseinandersetzungen um die Qualität von empirischer Sozialforschung .................................. 22 2.1.1.1

Kontroversen.............. . ............... 24

2.1.1.2 Allgemeine Methodenreflexion ................. 34 2.1.1.3

Methodenkritik ............................ 4S

2.1.2 FrUhe äußere AnsprUche an empirische Sozialforschung ...... 49 2.1.2.1

Allgemeine gesellschaftspolitische Motivation. . . . . .. 51

2.1.2.2 Gruppeninteressen und Methodenauswahl . . . . . . . . .. 53 2.1.2.3 2.1.3

Politische Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 57

Das Fehlerbewußtsein im "Verein rur Sozialpolitik" als Vorläufer eines Begriffs von Forschungs-Artefakten. . . . . . . . . . . . .. 60

2.1.4 Erste Ansätze zu systematischer Fehlererkennung außerhalb des "Vereins rur Sozialpolitik" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 66 2.2 Wissenschaftstheoretische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung ............................................. 69 2.2.1

Institutionalisierung und der Streit um die Wissenssoziologie . .. 70 2.2.1.1

Die Institute und ihr Selbstverständnis ............ 72

2.2.1.2

Die Wissenssoziologische Verunsicherung ......... 80

2.2.2 Politisierung methodologischer Überlegungen ............. 85 2.2.3 Methodologische Konfundierung der Fehlerforschung . . . . . . .. 89 2.3

Entwickelte Differenzen innerhalb fehlerkritischer Haltungen . . . . . . .. 94 2.3.1

Paradigmatische Differenzen und ihre fehlerkritische Relevanz . 96

8

Inhaltsverzeichnis 2.3.1.1

Frankfurter Denkfiguren ...................... 97

2.3.1.2

Kölner Denkfiguren ......................... 102

2.3.1.3

Der Positivismusstreit ........................ 107

2.3.2 Fehler durch oder ohne Bezug zur Praxis? ............... 109 2.3.3 Artefakte - Fehlerbestimmungen der entwickelten Artefaktforschung ........................................ 113 3. Analyse der Verarbeitung der Artefaktforschung .................... 123 3.1

Unterschiedliche Verarbeitungswege von Artefaktforschung ........ 124 3.1.1

Klassische Verarbeitung der Artefaktforschung ............ 124

3.1.2 Artefaktforschung als Beschleuniger eines Paradigmenwechsels . 136 3.2 4.

Strategien der Vermeidung von Artefakten als Grenzen des Beitrags der Artefaktforschung ........... : .......................... 143

Artefakte im Auseinandersetzungsraum ........................... 152 4.1

Artefakte an Knotenpunkten des empirischen Forschungsprozesses ... 152 4.1.1

Artefakte im internen und externen Fehlerkreis - graphische Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

4.1.2 Bewertung der unterschiedlichen Strategien in den relevanten Entscheidungsräumen .............................. 174

5.

4.1.3 Der gesellschaftstheoretische Rest

182

4.2 Auf der Suche nach der vierten Strategie

186

Der Beitrag der Artefaktforschung zur Kritik der empirischen Sozialforschung ................................................. 188 5.1

Artefaktforschung vor dem Hintergrund der genetischen Bezüge

188

5.2 Artefaktforschung vor dem Hintergrund der analytischen BezUge

190

5.3

Die vierte Strategie: Konvergente Problemlösungsansätze .......... 192

5.4

Fazit: Der unabgeschlossene Beitrag der Artefaktforschung zur Kritik der empirischen Sozialforschung ........................... 200

Literaturverzeichnis ........................................... 205

1. Einleitung Empirische Sozialforschung als das Forschungs-Instrument der Sozialwissenschaften, insbesondere der heutigen Soziologie, ist stets heftiger Kritik ausgesetzt, da die Praxis der empirischen Sozialforschung in unserer Gesellschaft zwar weit verbreitet ist, ihre Nützlichkeit und Aussagefähigkeit aber umstritten bleibt. Glaube nie einer Untersuchung, die du nicht selbst manipuliert hast - ist der populäre Ausdruck eines Mißtrauens, welches sicher nicht unberechtigt ist, in seiner Pauschalität aber nurmehr den Charakter eines "Totschlagarguments" hat. Weniger verbreitet und anerkannt ist die Tatsache, daß es innerhalb und neben der Entwicklung der empirischen Sozialforschung von Beginn an kritische Stimmen gibt, die sich um die Sozialforschung bemühen und durchaus zur Verbesserung der Forschung und ihres praktischen Nutzens beigetragen haben und weiter beitragen. Diese Kritik setzt da an, wo das Ergebnis der Forschung bezweifelt wird, wo man vermutet, da sei etwas falsch dargestellt, falsch gemessen, falsch interpretiert worden, kurzum etwas Künstliches, ein Arte/akt statt Wirklichem erfaßt worden, einfalsches Abbild, durch Forschung entstanden l . Es ist umstritten, ab wann man von empirischer Sozialforschung reden kann. Der Anfangspunkt für die zunächst beabsichtigte problem genetische Reflexion der Fehlerkritikforschung läßt sich deshalb nicht genau bestimmen. Die ersten Versuche, innerhalb der Sozialmedizin, der Sozialstatistik, der Sozialpolitik usw., datieren von Land zu Land verschieden. Es besteht eine enge Verbindung zwischen der originär sozialen Art zu fragen und der unterschiedlich weit fortgeschrittenen Entwicklung der Industrialisierung. Der sich entwickelnde moderne Verwaltungsstaat bedurfte der Planungsdaten, die entstehende große soziale Bewegung - die Arbeiterbewegung - bedurfte des faktischen, zahlenmäßigen Nachweises der beklagten Mißstände.

I Auch vor der Benutzung des Tenninus "Artefakt" läßt sich eine Fonn der Fehlerkritikforschung in dem o.g. Sinne nachweisen, die mit zur historischen Entwicklung der artefakt-er-for-

schenden Absicht gehört. Genaueres dazu fmdet sich in den ersten Kapiteln des zweiten Teils der Arbeit.

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1. Einleitung

Der Schwerpunkt wird - trotz des im europäischen Kontext recht späten Beginns der empirischen Sozialforschung - in dieser Arbeit auf das Werden der Fehlerkritikforschung in Deutschland gelegt, da hier die Auseinandersetzungen um Soziologie und empirische Sozialforschung, man denke nur an den Werturteilsstreit, den Streit um die Wissenssoziologie und den Positivismustreit, von Beginn an mit einer außergewöhnlichen Vehemenz geführt wurden. Soweit es im Rahmen dieser Arbeit erforderlich ist, wird auf die Beiträge anderer Ländertraditionen zur Fehlerkritikforschung eingegangen. Schon bald nach der ersten Phase des methodisch kaum reflektierten Sammelns von sozialen Daten trat allerorten eine Verunsicherung über die Genauigkeit des Erhaltenen ein. Ein Zitat mag hier für die Klagen von vielen stehen: "Leider ist meines Erachtens das Zeugnis der Arbeitgeber sehr selten erschöpfend, und, wenn aufrichtig, so ist es dies gerade da am meisten, wo er erschöpfende Antworten offen verweigert .. " (Ludlow 1877: 49).

Artefaktforschung ist der Klammerbegriff für all die Anstrengungen, diese Verunsicherung zu beheben, da sie in ihrer heutigen Ausfonnung die Vielzahl der damals begonnenen methodischen und methodologischen Reflexionen inkorporiert und zu einem eigenständigen systematischen Forschungsprogramm verdichtet hat. Wirft man einen ersten Blick in gängige Werke zur Artefaktforschung, so stößt man auf folgende typische Definitionen von Artefakten, z.B. bei Bungard und Lück: "Unter Forschungsartefakten werden im allgemeinen alle fehlerhaften (d.h. nicht validen) Forschungsergebnisse verstanden, die durch unterschiedliche Störfaktoren im Forschungsprozeß bedingt sind." (1978: 2)

Das "Lexikon zur Soziologie" verschärft noch den Aspekt der methodischen Herstellung : "Forschungsartefakt, Ergebnis empirischer Forschungen (Experimente, Interviews etc.), das durch die Forschungssituation selbst produziert wird." (Fuchs u. a. 1988: 238)

Schnell u. a. betonen den inhaltlichen Aspekt: "Die Reaktion auf den Meßvorgang kann häufig nicht von den "inhaltlichen Reaktionen", z.B. der sinnvollen Antwort auf eine Frage, getrennt werden. Es entstehen "Artefakte"." (1988: 322)

Weshalb sind diese Definitionen so unterschiedlich? Gibt es die Möglichkeit, aH diesen Fehlern zu entkommen? Oder hat man nun als Sozialforscher oder Sozialforscherin damit zu leben, daß man fortlaufend Artefakte produziert? Atteslander u.a. konstatieren für die Befragung insgesamt:

1. Einleitung

11

"Artefakte auszuschließen kann also nicht das Ziel .. sein .. ", aber ".. das Feststellen des Ausmaßes an Ktlnstlichkeit .. " (1991: 146).

Wie läßt sich in der angedeuteten Bandbreite der Kritik von Seiten der Artefaktforschung der Gesamtbeitrag dieser Kritik für die empirischen Sozialforschung überhaupt bestimmen? Der erste Anstoß zu meiner Beschäftigung mit dem in der Sozialforschung ungeliebten Thema Artefaktforschung kam aus der eigenen Praxis in empirischer Forschung und durch die Arbeiten von Jürgen Kriz. Vieles an Unbehagen mit der Praxis der empirischen Sozialforschung wurde von ihm durch Reanalysen herausgearbeitet; Verbesserungsmöglichkeiten skizziert und systematisiert (Kriz 1981; 1988). Seine Unterscheidung in die eher klassische, technische Artefaktforschung und die neuere, eher theoretisch-strukturelle Artefaktforschung machte mir die historische Entwicklung und die prinzipielle wissenschafttheoretische Verwobenheit der artefakterforschenden Absicht deutlich. Seine Vermutung, daß es sich nicht nur um technische, sondern um darüber hinausgehende theoretische Ursachen handelt, daß der ".. Glauben an die Methodenunabhängigkeit sozialwissenschaftlicher Ergebnisse .. der weitverbreitete erkenntnistheoretische Irrtum der empirischen Sozialforschung .. " ist (Kriz 1985: 81), welcher fehlerhafte Resultate verursacht, teile ich. Ebenso wie der Autor vermute ich, daß ".. weniger zu rechnen und mehr inhaltlich zu denken .. " (Kriz 1981: 275), einen Beitrag zu fruchtbareren Theorien liefert. Aber: So plausibel diese o.g. Aussagen sind, so vage und unbestimmt sind sie auch, was ihre Relevanz für die Einschätzung der Funktion der Artefaktforschung für die empirische Sozialforschung angeht. Gerade auch bei der Erarbeitung meiner Diplomarbeit, die ein neues Forschungsprogramm in der empirischen Konfliktursachenforschung theoretisch und empirisch prüfte - Die Bedeutung von "Organisation" bei gewaltsamen, innerstaatlichen Konflikten. Stand und Probleme der Forschung (Hilgers: 1988) - wurde mir die Notwendigkeit einer Präzisierung der Artefaktproblematik deutlich. Die operationalisierte Form der dort zu prüfenden Theorie war weit weg von den Hypothesen und die Methode kaum passend zum Gegenstand, so daß die weitreichenden Schlußfolgerungen der Hauptvertreter des analysierten Forschungsprogramms nicht berechtigt waren. Hinzu kommt die langjährige Beschäftigung mit feministischer Wissenschaftskritik. Die sehr intensiv geführte Debatte um die Miesschen Postulate (Mies: 1978) zur Frauenforschung beleuchtet die gängige Sozialforschung unter frauenforscherisch-kritischem Blickwinkel. Hier wird eine Haltung gegenüber der Sozialforschung eingenommen, die in vielen Punkten eine Rethematisierung bereits bekannter Kritikpunkte der Frankfurter Schule um Adorno und Hork-

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1. Einleitung

heimer darstellt, aber auch darüber hinausgehende, unter methodischen und methodologischen Gesichtspunkten interessante Aspekte vorweist (Beer I 987b, c). Alle drei verschiedenen Interessensstränge konvergieren in der Suche nach einem theoretischen und forschungspraktischen Fundament für die Absicht einer zutreffenden Sozialforschung. Meine Vermutung ist die, daß die Artefaktforschung einen entscheidenden Beitrag dazu leistet. Dazu wird anband markanter Konstellationen die Entwicklung der Grundelemente von Artefaktforsch1,l11g problemgenetisch herausgearbeitet (Teil 2), ihre Funktion für die empirische Sozialforschung anband der Verarbeitung ihres Beitrags zur empirischen Sozialforschung analysiert (Teil 3) und auf die Elemente des empirischen Forschungsprozesses im Auseinandersetzungsraum um empirische Sozialforschung bezogen (Teil 4). Diese Teile konstituieren die Basis für die abschließende Bewertung des Beitrags der Artefaktforschung zur empirischen Sozialforschung (Teil 5), wobei ich auch herausarbeite, daß dieser Beitrag selbst sich durch forschungsinterne und -externe Beiträge geformt und verändert hat von den Anfängen der empirischen Sozialforschung bis jetzt. Seitdem es so etwas wie empirische Sozialforschung gibt, ist ihr Gegenstandsbereich und die Reichweite ihrer Aussagekraft über diesen in mehr als einer Hinsicht umstritten. Es gab in der Geschichte der sozialforscherischen Disziplinen2 kontinuierlich Auseinandersetzungsphasen über die Frage, ob soziale Phänomene überhaupt erfahrbar , beschreibbar oder meßbar sind, und, wenn ja, welche Art von Messung ihnen dann angemessen ist. In diesen Auseinandersetzungen um das Selbstverständnis werden Kriterien für eine Selbstvergewisserung entwickelt. Diese Auseinandersetzungen kristallisieren sich zwischen verschiedenen Schulen (Kölner versus Frankfurter), in länderspezifischen Forschungstraditionen und in methodologischen (z.B. M ethoden-, Werturteils- und Positivismusstreit) und methodischen (qualitativ versus quantitativ) Kontroversen. Es gilt, hinter und in diesen dominierenden Auseinandersetzungslinien die Problemstellung und den Beitrag der Artefaktforschung zu identifizieren. Die wissenschaftsinterne Relevanz dieser Steitphasen für das Herkommen der Grundelemente der Artefaktforschung wird in drei zeitlich getrennten Kapiteln - sozialforscherischer Aufbruch vor dem ersten Weltkrieg, wissenschaftstheoretische Verunsicherung der Soziologie in der Zwischenkriegszeit, und Paradigmatisierung nach dem zweiten Weltkrieg - bearbeitet (vgl. die Ab1 Der Plural ist eine historische Notwendigkeit, da bei den Vorläuferfonnen die Sozialwissenschaften insgesamt noch enger beieinander arbeiteten, die disziplinlren Abgrenzungen erfolgten erst in jQngster Zeit, insb. nach 1945 (vgl. Bell 1986; LOschen 1979a).

1. Einleitung

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schnitte 2.1.1, 2.2.1, 2.3.1). Dabei wird auch die externe Beeinflussung dieser Auseinandersetzungen mit berücksichtigt (vgl. die Abschnitte 2.1.2, 2.2.2, 2.3.2). Die zeitlich getrennten Kapitel werden beschlossen durch die Reflexion des jeweils erreichten FehlerbegriJJes (vgl. die Abschnitte 2.1.3, 2.2.3, 2.3.2.). Die ersten Auseinandersetzungen um empirische Sozialforschung finden in Deutschland vornehmlich im Verein für Sozialpolitik statt. Bereits in den dortigen wissenschaftsinternen Kontroversen um empirische Sozialforschung (2.1.1.1), der Diskussion um die dazu benötigten Methoden (2.1.1.2), und der frühen Methodenkritik (2.1.1.3) geht es um die Qualität oder Fehlerhaftigkeit empirischer Sozial forschung. Die allgemeine gesellschaftspolitische Motivation der ersten Sozialforscher (2.1.2.1) ist nicht unbeeinflußt von klar zu identifizierenden Gruppeninteressen (2.1.2.2), die wiederum klar erkennbaren Einfluß auf die unterschiedlichen Akzente des frühen Fehlerbewußtseins empirischer Sozialforschung haben. Bereits am Ende dieser ersten A ujbruchsphase lassen sich drei Aspekte des frühen Fehlerbewußtseins bestimmen, welche konstitutiv für die Genese der Artefaktforschung sind (2.1.3): das allgemeine sozialwissenschaJtliche, das (sozial-)statistische und das (sozial-)politische Fehlerbewußtsein. Zwei Faktoren bestimmen maßgeblich die weitere wissenschaftsinterne Auseinandersetzung zwischen den beiden Weltkriegen. Die Gründung von Sozialforschungsinstituten in Köln, Frankfurt und auch in Wien haben Erklärungen über das jeweilige Selbstverständnis zur Folge (2.2.1.1), die stark von Reputationsbemühungen durchsetzt sind. Die dominierende Debatte um die Wissenssoziologie (2.2.1.2) verunsichert zusätzlich den erkenntnistheoretischen Boden der Sozialforscher. In dieser Situation wird das Werturteilsverdikt zu einem instrumentalisierten wissenschaftspolitischen Argument (2.2.2). Die Bestimmung des Fehlerbegriffs ist seit dieser Zeit konfundiert mit unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Positionen (2.2.3). Die bereits in der Zwischenkriegszeit erkennbar unterschiedlichen Positionen zu empirischer Sozial forschung paradigmatisieren sich nach dem zweiten Weltkrieg in die Frankfurter (2.3.1.1) und die Kölner Schule (2.3.1.2). In der Auseinandersetzung zwischen den bei den Schulen ist die Frage, wie empirische Sozialforschung richtig betrieben werden sollte, zentral. Der Positivismusstreit (2.3 .1.3) rethematisiert die bisherigen Auseinandersetzungslinien und politisiert die Webersche Werturteilsfrage (2.3.2). Der zweite Teil schließt mit einer zusammenfassenden Betrachtung der unterschiedlichen Reichweiten der Fehlerdefinition (vgl. Abschn. 2.3.3). Aus diesen unterschiedlichen Reichweiten heraus läßt sich der Beitrag der systematischen Artefaktforschung analysieren (Teil 3). Grundsätzlich kann die-

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1. Einleitung

ser Beitrag, auf zwei Fehlerkreise aufgeteilt, genauer qualifiziert werden (vgl. Kapitel 3.1). Der interne Fehlerkreis bezieht sich auf die direkte Forschungssituation (vgl. Abschn. 3.1.1), der externe Fehlerkreis bezieht die über die direkte Forschungssituation hinausgehenden Kontexte - Forscher-, Beforschten-, Situations- und Publikationskontext - mit ein (vgl. Abschn. 3.1.2). Der dritte Teil schließt mit einer Qualifizierung der Genese der Artefaktforschung auf der Grundlage des zweiten und dritten Teils der Arbeit (vgl. Kap. 3.2). Hier wird auch aufgezeigt, wie die wissenschaftstheoretische Hintergrundposition die Reichweite des akzeptierten Artefaktbegriffes bestimmt, und zwar anhand der Strategien, die zur Vermeidung von Artefakten vorgeschlagen werden. Im vierten Teil der Arbeit wird die aus dem zweiten und dritten Teil gewonnene Erkenntnis über Artefaktbegriffe und deren Funktion für die empirische Sozialforschung auf den typischen empirischen Forschungverlauf im erweiterten Kontext bezogen; Dort wird "Die Fabrikation von Erkenntnis") genauer beleuchtet. Dabei werden Problernzonen und Entscheidungsräume des empirischen Forschungsprozesses auf ihre Artefaktanfälligkeit hin systematisiert (vgl. Kap. 4.1) und die jeweiligen artefaktanfälligen Elemente des Forschungsprozesses sowie die dort auftretenden Typen von Artefakten im Forschungprozeß verortet (vgl. Abschn. 4.1.1). Ob die in Kapitel 3.2 skizzierten Strategien in der Lage sind, Beiträge zur Verbesserung der artefaktanfälligen Elemente der empirischen Sozialforschung zu leisten, wird, differenziert nach der paradigmatisch unterschiedlichen Einschätzung von Artefakten für den Forschungsprozeß, im nächsten Kapitel herausgestellt (vgl. Abschn. 4.1.2) und in einem weiteren Kapitel ausgedehnt auf den gesellschaftstheoretischen Aspekt dieser Erkenntnisse (vgl. Abschn. 4.1.3). Der zweite Hauptteil bestimmt, wie "Artefaktforschung" sich entwickelt. Der dritte analysiert die Funktion von Artefaktforschung für die empirische Sozialforschung. Der vierte Teil verortet die von der Artefaktforschung thematisierten anfälligen Elemente im typischen empirischen Forschungsprozeß. Der fünfte und letzte Hauptteil beschreibt dann die Nützlichkeit der Artefaktforschung für die empirische Sozialforschung. Hier werden die divergierenden Konzepte von Artefaktforschung auf einen gemeinsamen Nenner abgeklopft, etwa, ob sie für die empirische Sozialforschung zu einen einheitlichen Begriff des Verfehlten führen können, beziehungsweise was dieser einheitlichen Einschätzung des Beitrags der Artefaktforschung für die empirische Sozialforschung entgegensteht.

, So lautet ein Buchtitel von Knorr-Cetina (1984).

2. Problemgenese der Artefaktforschung in ihren wissenschaftsinternen und -externen Bezügen Artefaktforschung bezieht sich kritisch auf empirische Sozialforschung. Schlägt man ein gängiges Handbuch auf, so wird dort Empirische Sozialforschung in allgemeinster Definition als ".. die Erforschung sozialer Zustände und Prozesse mit empirischen Methoden .. " bezeichnet (Fuchs u.a. 1988: 706). Das "Empirische" der Forschung beziehe sich allgemein auf " .. Aussagen oder Aussagensysteme, die sich direkt oder indirekt auf Erfahrung beziehen und sich an ihnen überprüfen lassen." (ebd.: 186) Doch abseits dieser allgemeinen Definitionen bleibt das "Wie" der Forschung umstritten. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung setzt sich z.B. ab von einem zu ".. engen Begriff von empirischer Sozialforschung .. , der im Zeichen einer an den Naturwissenschaften orientierten Forderung von Exaktheit und Objektivität steht .. " (Institut für Sozialforschung (IfS) 1956b: 419). Auch der Methodenbegriff ist umstritten, so spricht z.B. Kriz lieber von" .. "Modellen" der Wirklichkeitskonstitution .. " (1985: 88). Dies ist nur ein kurzer Ausblick auf den derzeitig erreichten, aber immer wieder problematisierten Stand der disziplinären Selbstvergewisserung 1. Dieser war in der Gründungsphase der empirischen Sozialforschung - Mitte des 19. Jhd.s für Deutschland - nicht so gegeben, sondern mußte wissenschaftsintern durch Auseinandersetzungen und wissenschaftsextern durch Abgrenzungen, u.a. zu anderen Disziplinen, entwickelt werden. Die Notwendigkeit der systematischen Erforschung von sozialen Tatsachen entwickelte sich erst mit der durch die frühe Industrialisierung ausgelösten Sozialen Frage. Der Zusammenbruch des mittelalterlichen, religiös und feudal gefestigten Weltbilds, die Säkularisierung der Welt durch Aufklärung und Naturwissenschaften hatten erst den Gestaltungsraum einer sich in diesem Sinne

1 Die Relevanz der bereits in den Defmitionen deutlich werdenden Differenzen wird in d~n folgenden Abschnitten (2.1.1, 2.2.1, 2.3.1) genauer dargestelh und später analysiert (vgl. Kapitel 3.2 und Abschnitt 4.1.2).

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2. Problem genese der Artefaktforschung

sozial verstehenden Wissenschaft geschaffen 2• Die Idee der individuellen Erfahrung und ihrer Relevanz ist ohne die bürgerliche Revolution nicht zu denken. Gottgegebenes mußte, ja durfte vorher nicht geprüft werden; der Gedanke eigener Erfahrung war uninteressant (Böhme 1971: 6-8; Hofmann 1979: 8-13)3. Soziale Bewegungen und die neue Forschung verlangten revolutionäre Veränderungen oder Reformen. Eingriffe und Gestaltung der Zukunft wurden von zupackender staatlicher Sozialpolitik erwartet. Schäfer stellt in Bezug auf Deutschland fest: "Weit eher als die eigentliche Disziplin Soziologie wurde so die Sozialpolitik zu dem Bereich, in dem die empirische Sozialforschung sich entfaltete .. ", und in diesem Bereich war es " .. die Organisation, die sich den Namen "Verein fIlr Socialpolitik" gab, .. die in der Durchfllhrung von Forschungsarbeiten und der Entwicklung von Forschungsmethoden fIlhrend wurde." (1971: 16)

Die Ursprünge der Soziologie hingegen lagen weniger in Praxisveränderung, deren Basis ja Praxiserfahrung sein muß, als in in der Befassung mit rein theoretischen Diskussionen (IfS 1956a: 9-21; überschall 1972: 7). Der stark sozialreformatorische Aspekt früher außeruniversitärer Sozialforschung treibt die Vereinsmitglieder so eher zu empirischen Untersuchungen als die theoretisch orientierten Gründungsväter der Disziplin Soziologie. Empirische Sozialforschung hat eine von der Soziologie unterscheidbare historische Entwicklung genommen (IfS 1956a: 106-115; überschall 1972: I). Davon muß zu Zeiten des Beginns empirischer Sozialforschung noch als Drittes der technisch-administrative Anspruch der Statistiker unterschieden werden (Anderson 1959; Flaskämper 1959; Lorenz 1959; Zizek 1912). Er verträgt sich z.T. nicht mit dem sozialpolitischen Anspruch der Sozial forscher des Vereins für Sozialpolitik, aber auch nicht mit der sozial philosophischen Methodologie der Betonung von Introspektion und Verstehen für den Forschungsprozeß, so daß es trotz gelegentlicher Annäherungen und Phasen gegenseitiger Befruchtung, z.B. beim Umgang mit Sozialenqueten, zunächst nicht zu

2 "Sozial" verstanden in dem Doppelsinn: erstens mit dem Sozialen befaßt und zweitens das Soziale - als Antifeudales, Antiklerikales, Antikapitalistisches - vorantreibend. Das hier auftauchende Problem von sozial[ortlchemcher Distanz oder politischer NtJhe zum Untersuchten, womöglich gar Parteinahme, ist ein oft variierter und stets unter neuen Vorzeichen aufgenommener Streitpunkt; vom Werturteilsstreit bis hin zur feministischen Wissenschaftskritik (Mies 1978; Beer 1987c).

, Wie weit sich diese Vorstellungen aber dennoch bis in Max Webers Zeiten hielt, belegt Honigsheim (19S9: 6), der die brieflichen EinwAnde eines Historikers gegen die Berufung Simmels nach Heidelberg zitiert; dieser habe geschrieben: n •• was brauche man denn eine Wissenschaft von der Gesellschaft, wo man doch Staat und Kirche habe."

2. Problemgenese der Artefaktforschung

17

einer kontinuierlichen Zusammenarbeit kam (Maus 1956: 7,44-55; überschall 1965: 54t). Innerhalb des Vereins sind die Anfänge von Soziologie als Erfahrungswissenschaft zu verorten. Insbesondere die jüngeren Vereinsmitglieder wie Weber und Tönnies setzen sich vehement von philosophischen und historischen Ursprüngen ab. Die Erforschung des Sozialen wird zu unterscheidbaren Formen empirischer Sozialforschung weiterentwickelt (Bonß 1982). Der von Schmoll er vertretene ältere Kathedersozialismus 4 soll von einer sozialpolitischen zu einer sozialwissenschaftlichen Perspektive umgeformt werden. 1909 münden diese vereinsinternen Auseinandersetzungen, die in den Werturteilsstreit eskalieren, in die separate Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Als Quellenbezug für den Beginn systematischer Fehlerkritikforschung wird immer wieder Rosenzweig (1933) angeführt (z.B. bei Aronsonl Lindzey 1985: 98 und Bungard 1984: 31). Aber das generelle Unbehagen an Sozialforschung, ihren Verfahren und Ergebnissen ist bereits vorher im deutschen Wissenschaftsraum nachzuweisen. Es gilt deshalb, zunächst der Geschichte der Artefakt-er-forschung in den Konstituierungs- und Selbstreflexionsprozessen, in Auseinandersetzungen um die Art und Weise der empirischen Sozialforschung nachzuspüren. Denn gerade aus den Phasen, in denen die empirische Sozialforschung nicht gleichförmig, ruhig und ohne Selbstzweifel praktiziert wird, wo der von Kuhn als "disziplinäres System" bezeichnete Forschungskonsens erst begründet oder schon in Frage gestellt wird, ergeben sich Hinweise auf die uns interessierenden Schwierigkeiten (Kuhn 1988a: 194ft). Diese so allgemein bezeichneten Schwierigkeiten können, wie Bungard feststellt, sehr umfassend sein: "Die Kritikpunkte der Artefaktforschung tangieren nicht nur punktuelle methodische Sachverhalte, sondern gefllhrden U.U. ein komplexes Paradigma, einschließlich der Nonnen und Werte, die Wissenschaftler mühsam in ihrer Studienzeit durch den universitären Sozialisierungsprozeß internalisiert haben." (1984: 28)

Dazu werden zunächst die Auseinandersetzungen um die empirische Sozialforschung im Verein für Sozialpolitik als Zentrum der Entwicklung von Sozialforschung in Deutschland, unter Berücksichtigung der Diskussionen in der jungen Deutschen Gesellschaft für Soziologie dargestellt (vgl. Abschn. 2.l.1).

• Zum Herkommen des sog. "Kathedersozialismus" - dieser Begriff wurde von Seiten des Volkswirtschaftlichen Kongresses als Kamptbegriff gegen die Historische Schule der Nationalökonomie gebraucht - vgl. Conrad (1906: 37ft), Lindenlaub (1967) und Wittrock (1965). 2 Hilgers

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

Diese Vorläufer-Phase der Artefaktforschung, die zwar schon eine Ahnung über den Problembereich vermittelt, ihn aber noch nicht explizit als Forschungsfeld markiert oder verbalisiert, wird so von den folgenden, bewußt am Problemkreis arbeitenden Phasen (Absehn. 2.2.1; 2.3.1) abgetrennt. Aus der dort artikulierten Grundunzufriedenheit speist sich der Beginn der Artefaktforschung, allgemein verstanden als fehlerkritischer Beitrag zu der Entwicklung der Sozialforschung. Erst nach dem ersten Weltkrieg finden sich reguläre Lehrstühle für Soziologie und Forschungsinstitute für empirische Sozialforschung in Deutschland: 1919 in Köln, 1924 in Frankfurt. Der bald ausbrechende Streit um die Wissenssoziologie setzt die im Werturteilsstreit erfolgte erste Differenzierung fort. Er thematisiert die fehlerrelevanten forscherischen Probleme auf metatheoretischer Ebene (vg!. Abschn. 2.2.1). In jeder dieser Auseinandersetzungsphasen wird das Selbstverständnis der Sozial forschung entwickelt, in Frage gestellt und methodisch-praktisch sowie methodologisch-theoretisch in eine andere Richtung bewegt. Für diese Richtungsentscheidungen ist zusätzlich der wissenschaftsexterne Kontext von entscheidender Bedeutung (vg!. Böhme u. a. 1972: 302-316; Gorges 1980 und die Abschnitte 2.1.2, 2.2.2 und 2.3.2 dieser Arbeit). Der Abschnitt 2.3.1. behandelt die Phase der systematischen Wiedereinführung und des Ausbaus der empirischen Sozialforschung nach dem zweiten Welkriegs. Zu dieser Zeit setzt eine nur zögerliche Wiederentdeckung der frühen Problematisierung von empirischer Sozialforschung ein. Vorherrschend war eine nacharbeitende Haltung. Die Wiederaufnahme der empirischen Sozialforschung wurde aber von Anfang an, z.B. 1951 auf der sogenannten Weinheimtagung, später dann im Positivismusstreit, eminent kritisch diskutiert (Acham 1978; Adorno u.a. 1981a; Institut zu Förderung öffentlicher Angelegenheiten e.V. 1952; Kern 1982: 217ff; Schnellt Hill/ Esser 1988: 31). Der methodologische Streit erhielt in den 1960er Jahren starken Auftrieb durch durch den gesellschaftlichen Wandel und die Wiederaufnahme eher theoretischer Debatten (Habermas 1967; Topitzsch 1984 [Erstaufl. 1965]). In Amerika war unterdessen nicht nur die Sozialforschung an sich, sondern auch ihre Fehlerkritik fortgeschritten. Diese Kritik führte dort zu den ersten empirischen Nachprüfungen des artefaktologischen Vorbehalts gegenüber empirischer Sozialforschung (Hyman

5 Die Nationalsozialisten hatten über die Hälfte der in Deutschland tätigen Sozialwissenschaftier in die Emigration getrieben (Ferber 19S6; Maus 19S9; Papcke 1986).

2. Problemgenese der Artefaktforschung

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u. a. 1954; RosenthaI 1966; Orne 1962). Erste Fehlerquellen wurden entdeckt z.B. Alter und Geschlecht von Interviewern u.ä. - und erste Verbesserungsvorschläge, z.B. Interviewerschulung, entwickelt. Mit einiger Verzögerung wurden diese Ergebnisse in der Bundesrepublik rezipiert und die Suche nach Fehlern vorangetrieben (Gniech 1976: 7). In dieser Phase wird zunächst mehr auf das methodisch als auf das methodologisch Problematische geachtet, sie ist geprägt von einer zum theoretischen Eklektizismus neigenden Haltung (Bungard 1984: 9,27). Erst die immanente Kritik der Artefaktforschenden an ihren eigenen, insbesondere empirischen Maßstäben führt zu einer Fortentwicklung hin zur Inkorporierung auch der methodologischen Fragestellungen (Esser 1975a; Kriz 1988a; vgl. hier Abschn. 2.3.3). Der großen historischen Bruchlinie vor und nach dem ersten Weltkrieg folgen die ersten Kapitel - 2.1 und 2.2 - der Arbeit in der Absicht, die Vorgeschichte und die Erarbeitung von GrundfragesteIlungen der Artefaktforschung, parallel zum Werden der empirischen Sozialforschung, von der systematischen Erforschung, die historisch nach dem zweiten Weltkrieg einsetzt (vgl. Kap. 2.3), zu trennen. Innerhalb dieser Kapitel wird jeweils in Abschnitten differenziert nach wissenschaftsinterner Perspektive der Fehlerkritik, d.i. Fehlerkritik aus der "reinen" Wissenschaftsentwicklung (vgl. 2.1.1,2.2.1,2.3.1) und wissenschaftsexterner Perspektive, d.i. Fehlerkritik aus dem Praxisbezug von Forschung (vgl. 2.1.2, 2.2.2, 2.3.2). An den unterschiedlich verlaufenden Entwicklungslinien zu Beginn der empirischen Sozialforschung kann man die Relevanz einer externen Prägung durch den je unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungsstand, der je verschiedene Ansprüche formuliert, ablesen 6. Diese Ansprüche werden in jeweils andere Formulierungen der Forschungsaufgaben übersetzt, es entwickeln sich unterschiedliche handlungspraktische Bezüge. Diese Außenbeeinflussung der sozialforscherischen Fehlerkritikgeschichte wird in den Abschnitten 2.1.2, 2.2.2 und 2.3.2 anhand markanter Faktoren genauer beleuchtet unter dem Gesichtspunkt der wissenschaftexternen Gestaltung, Präformierung und Einengung der Forschungstopoi. Zur Ergänzung der Abtrennung der vor-bewußten von der bewußten, dieser beiden von der systematischen Phase erfolgt jeweils am Ende der drei Kapitel des zweiten Teils - in den Abschnitten 2.1.3, 2.2.3 und 2.3.3 - die Darstellung , Diese externe Prägung gilt nicht nur filr die historische Anfangsphase der Disziplinen, es lassen sich immer wieder neue AnforderungsschObe nachweisen. Hier soll nicht einem kruden Determinismus das Wort geredet werden, es kommt darauf an, empirische Sozialforschung nicht als isoliertes einzelwissenschaftliches Werk genialer Einzelpersonen zu verstehen, sondern den gesellschaftlichen und den wissenschaftsinternen Kontext als Bestimmungsgründe von Forschungsentwicklungen nachzuvollziehen. 2·

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

des Stands der Diskussionen des Begriffs "Artefakt" oder weiterer den Begriff erhellender Termini wie z.B. "Reaktivität". Im Fazit zum Teil 2 der Arbeit (Absehn. 2.3.3) werden die hier in ihren internen und externen Bezügen problemgenetisch entwickelten Artefaktbegriffe nach Reichweite des mit ihnen forschungspraktisch und theoretisch erfaßten Raums differenziert.

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

Dieses Kapitel umfaßt die Vorgeschichte moderner empirischer Sozialforschung, mit dem Schwerpunkt Deutschland bis zum ersten Weltkrieg, soweit sie für das Werden einer fehlerkritischen Haltung relevant ist. Die Anfänge der Artefaktforschung liegen in der kritischen Begleitung der empirischer Sozialforschung. Kritik bezeichnet dabei eine ambivalente Haltung, denn sie meint erstens die Absicht, die Forschung zu verbessern, zweitens aber auch immer den grundsätzlichen Versuch ihre Unmöglichkeit und Unangemessenheit nachzuweisen. Man schloß sich in den aufkeimenden Sozialwissenschaften dem aufklärerischen Aufbruch der Naturwissenschaften an, aber man wollte seine eigenen empirischen Methoden erfinden, mit denen man sich vom naturwissenschaftlichen Erklären, aber auch von der geisteswissenschaftlichen Methode des introspektiven Verstehens absetzen wollte'. Der grundlegende Zweifel an dem, was man mit den Mitteln empirischer Sozialforschung leistet und erreichen kann, ist dabei so alt wie die empirische Sozialforschung selbst. Publikationen aus der Zeit um die Jahrhundertwende z.B. Brentano (1914); Ludlow (1877); Schmoller (1888b, 1911); SchnapperAmdt (1906 [orig. 1888]); Stieda (1909); Weber (1904; 1908; 190W - , die

7 Klsler weist der beginnenden Sozialwissenschaft zu Recht ein zwischen diesen beiden Polen liegendes "intermediäres" Konzept zu (Käsler 1984: 17).

• Weiterfilhrende Literatur fmdet sich filr Deutschland z.B. bei Bellebaum (1966, 1976); Böhme (1971); Bon8 (1982); Bungard (1984: 31ft); Gorges (1980); Honigsheim (1956); Kern (1982: 19113); König (1959a, b); Lazarsfeld (1961); Lindenlaub (1967); Maus (1956, 1967); Oberschall (1965,1972); Plessen (1975); Schad (1972); Schäfer (1971); von Wiese (1959); Zeisel (1960b), filr die USA bei Young (1949); filr Gro8britannien bei Cullen (1975); filr ÖSterreich Rosenmayr/ Höllinger (1969); Zeisel (1969a). Als zeitnAhere Literatur zum Verein filr Sozialpolitik werden dort immer wieder angefilhrt: Boese (1922b, 1939); Conrad (1906), Kesten-Conrad (1911); Wittrock (1965 [Erstauft. 1939]).

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

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Debatten auf den ersten beiden Soziologentagen - 1910 und 1912 - und auch die in diesem Zeitraum stattfindenden methodischen und methodologischen Reflexionen im Verein für Sozialpolitik belegen dies 9 . Auch in dieser Zeit des empirischen "Drauflosforschens" wird den Forschenden schnell klar, daß ihre Art, Erkenntnisse zu erheben, problematisch sein kann, daß sie womöglich den Gegenstand eingrenzen oder daß die Beforschten einen erheblichen Einfluß auf die Art der Realitätskonstitution haben. Diese Zweifel werden geäußert und präzisiert, - anband methodologischer Kontroversen und Reflexionen; hier sind insbesondere der Methodenstreit mit den Ökonomen und der Werturteilsstreit im Verein für Sozialpolitik zu nennen (vgl. 2.1.1.1), - anband der "Sperrigkeit" bestimmter Methoden, die man versucht, genauer zu bestimmen. Hier geht es vor allen Dingen um die neue Methode "Enquete", und ihre Verwendungsarten (vgl. 2.1.1.2), - anband von Kritik an konkreten empirischen Forschungsprojekten (vgl. 2.1.1.3). Auf allen Auseinandersetzungsebenen finden sich fehlerkritische Vorbehalte, die wissenschaftsintern (2.1.1) und unter Berücksichtigung ihrer externen Bezüge diskutiert werden (2.1.2). Aus diesen Diskussionssträngen lassen sich abschließend die Elemente des frühen Fehlerbewußtseins für diese Zeit herauskristallisieren (2.1.3) und ergänzen durch fehlerkritische Ansätze, die außerhalb des Vereins für Sozialpolitik entwickelt werden (2.1.4)10.

• So Z.B. in folgenden Bänden der Vereinspublikation, im folgenden zitiert als Verein für Sozialpolitik (VfS), Bandzählung, Jahreszahl - VfS Bd. 2 1873; Bd. 7 1874; Bd. 11 1875; Bd. 13 1877; Bd. 35 1887; Bd. 38 1889; Bd. 98 1902; Bd. 104 1903; Bd. 105 1903; Bd. 116 1906; Bd. 132 1910; Bd. 138 1912. 10 Aus heutiger Perspektive sind diese Projekte z. T. etwas merkwürdig, wie z.B. die tierpsychologischen Experimente von Pfungst (1977 [Erstauft. 19071; vgl. dazu hier S. 66) .

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

2.1.1 FrOhe Auseinandersetzungen um die Qualitit von empirischer Sozialforschung

Das empirisch-sozialwissenschaftliche Nachforschen im weitesten Sinne begann in Deutschland mit den Kameralisten der Göttinger Schule, mit Conring, Achenwall und Schlözer. Die von ihnen betriebene Staatswissenschaft, befaßt mit der Sammmlung von sog. "StaatsmerckWÜfdigkeiten"lI, ist die sich von 1750-1800 vor der Soziologie und vor der quantitativen Universitätsstatistik entwickelnde qualitativ-deskriptive Vorform der Statistik. Sie profilierte sich als Hilfswissenschaft der Staatsverwaltung, ist aber meß-methodisch, anders als die quantitativ orientierte frühere, etwa um 1660/70, einsetzende englische Entwicklung Politische Arithmetik, noch wenig ausgebildet (Kern 1982: 19-36; Lazarsfeld 1961, Schad 1972: 18ft). Die Soziologie ist eine insbesondere in Deutschland später einsetzende, universitäre Sonderentwicklung mit einem starken theoretischen "bias" (Schad 1972: I; Käsler 1984)12. Schad führt diese empirische Schwäche erstens auf die Stärke der Statistik zurück, die sich nicht nur als Methode, sondern auch substantiell als Wissenschaft, auch zur Erforschung des Sozialen verstand (1972: 6,9)13. Als zweite, die Soziologie von empirischer Sozialforschung abhaltende Größe nennt sie die in anderen Disziplinen - insbesondere Medizin, Psychiatrie, Pädagogik und Psychologie - bereits weit fortentwickelten Vorstellungen von empirischer Sozialforschung (1972: 97-147). Diese besetzten ebenso das inhaltliche Feld der Soziologie. Eine soziologienahe Ausnahme für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg bildet der 1872 gegründete Verein für Sozialpolitik. Zwischen der frühen "Staatswissenschaft" Statistik und der späten "Universitätswissenschaft" Soziologie eta-

11 Merckwürdig bedeutet, .... was das Wohl eines Reiches in einem mercklichen Grade angeht .. " (Achenwall 1749, zit. nach Kern 1982: 20,21).

Ich verwende im folgenden die alte Sprachform in Zitaten, also z.B. "mercklich" statt "merklich" und "Thatsache" statt "Tatsache". 12 Vorformen und Einzelveröffentlichungen datieren in Deutschland bereits von Ende des 19.1 Anfang des 20. Jhd.s. Als Zeitpunkt einer anflinglichen Verfestigung wird jedoch gemeinhin erst die Gründung der Deutschen GesellschaftftlrSoziologie (DOS) 1909 angegeben, von Anßngen der In· stitutionalisierung kann man erst nach dem ersten Weltkrieg reden (KlIsler 1984; Papcke 1986). 13 Kern spricht sogar davon, daß sich in der zweiten HAIfte des 19. Jhd.s eine " .. Art statistischer Imperialismus .. " ausbreitete " .. der darauf abzielte, die Statistik in den Stand einer Art Fundamentalwissenschaft zu hieven." (1982: 49)

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

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blieren sich hier die Anfänge empirischer Sozialforschung, die Vorläuferformen empirischer Soziologie 14 • Die bei den eigenen empirischen Forschungen diskutierten methodischen Probleme machten den Verein zu einem Mittelpunkt der Fehlerdiskussion in der zeitgenössischen empirischen Sozialforschung (Schäfer 1971: 29). In diesen Ursprüngen von empirischer Sozialforschung, im Spannungsverhältnis zwischen Statistik und Soziologie, in den Kontroversen und Selbstreflexionen der Vereinsmitglieder liegt der erste Keim für eine Wissenschaft, die auf ihre eigenen Bedingungen reflektiert - die Vorläufeiformen von A rtefaktforschung! Denn, verständigt man sich über die Bedingungen und Grenzen der Erkenntnis, über die Kriterien für die Güte des Erfaßten, so scheidet man zwischenfalscher und richtiger, guter und schlechter Forschung. Diese Unterscheidung ist zunächst ein reines Nebenprodukt der Normal-Forschung, aber kein eigenständiger oder besonders berücksichtigter Bereich. Frühes Problembewußtsein, die kritische Art zu fragen, was Sozialforschung leisten kann und was nicht, läßt sich, wie im folgenden dargestellt, in Kontroversen, allgemeiner Methodenreflexion und Methodenkritik parallel zur Entstehung der empirischen Sozialforschung nachweisen 15 .

" Sozialforschung im Sinne von nicht-spekulativer Tatsachenwissenschaft wird zu Beginn in Deutschland weiter betrieben von administrativen Stellen, dem evangelisch-socialen Kongreß, einzelnen Gewerkschaften und Privatpersonen, wie z.B Marx, Göhre und Levenstein (vgl. Kern 1982: 102ff; Überschall 1965: 16ff; Schad 1972: 97ff; Weber 1909; Weiss 1936). Zur Konzentration auf das Werden einer fehlerkritischen Argumentation liegt fiIr diesen Zeitabschnitt der Schwerpunkt aber auf VfS- und DOS-Auseinandersetzungen. " Man kommt bei dieser Rückschau auch Sprüngen und liegengelassenen "toten Ästen" der Wissenschaftsentwicklung auf die Spur. Ich teile die Annahme von Böhme u. a., daß .... Wissenschaft ihren eigenen Fortschritt reguliert, ohne ihn zu detenninieren." Die .... Wissenschaftsentwicklung folgt dabei einer immanenten Logik, doch diese Logik ist nicht "hennetisch". Sie l18t die Wissenschaft offen fiIr den Einfluß gesellschaftlicher Bedürfnisse und Forderungen." Allerdings schließt .... die Fixierung einer bestimmten Entwicklungsrichtung andere Entwicklungen aus .... , und diesen, sie nennen es "Verzweigungsstellen" (1972: 304), gih mein besonderes Interesse.

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2. Problemgenese der Artefalctforschung

2.1.1.1 Kontroversen

Hier ist zunächst der methodische Streit zwischen den rein deskriptiv "Staatsmerckwürdigkeiten" sammelnden kameralistischen Universitätsstatistikern der Göttinger Schule und den sich eher an der französischen Statistik und der englischen politischen Arithmetik orientierenden, d.h. eher quantitativ arbeitenden, Tabellenstatistikern, zu nennen. Dieser datiert ab 1806 und erstreckt sich bis etwa 1811 16• Den Kameralisten ging es darum, das Wesen des Staates durch erzählende Beschreibung relevanter Dinge zu erfassen. Die ziffemmäßige Erfassung war ihnen ein blutleerer Greuel, eine die Wirklichkeit zerschneidende Barbarei; dazu John: "Bis zum Erscheinen der Tabellenstatistik galt das Wort als das privilegirte Darstellungsmittel der Statistik, und nur subsidiär kam die Ziffer in Anwendung .. " (1884: 128).

Die Kameralisten fürchteten um ihre etablierte Stellung und wehrten sich heftig gegen diese zahlenförmige Weiterentwicklung: "Nun konnte man Alles in Zahlen angeben; nun war Alles so klar und deutlich! Man konnte, wie man sich r1lhmte, den Staat auf einem Kartenblatt übersehen! Daß aber die so genannten Staatskräfte an und ftlr sich noch gar nichts sind; daß es darauf ankomme, wie sie genutzt werden, daß die wahren Staatskräfte daher geistig, nicht materiell sind, .. daß sich aber schlechterdings hier kein Zahlenverhältniß bestimmen lasse; daß es also eitler Wahn sey, zu glauben, mit den materiellen Kräften wachse die Kraft des Staates überhaupt in gleichem Verhältnis, - dies wurde vergessen ... " (Göttingische gelehrte Anzeigen 1807; zit. nach Kern 1982: 25/26).

Diese feindliche Haltung ist ".. ein ausschließlich deutsches Phänomen." (Böhme 1971: 23). Als Auseinandersetzung um den "Gegenstand der Statistik" (John 1884: 131) ist sie aber typisch für die Grundlinien folgender Auseinandersetzungen, mit weitreichenden Folgen: "Der Kampf der deutschen Universitätsstatistiker gegen die englischen politischen Arithmetiker nimmt bereits die sich auf deutschem Boden vorbereitende Spaltung der Wissenschaft in eine ideographisch-individualisierende Geisteswissenschaft und eine nomothetisch-typisierende Naturwissenschaft voraus, zwischen denen die am

'6 Nachzuverfolgen ist er in Göttil1gische gelehrte A I1zeigel1, ul1ter A u[sicht der kÖl1igl. Gesellschaft der W issenschaftel1, Der zweyte Band auf das Jahr J 807, S. 1300-1303; im selben Jg. S. 131 sowie im Jg. 1806 S. 84, 833ft" (nach Kern 1982: 279/ Anm. 14). Hier skizziert nach: Böhme (1971: 17-24); John (1884: 128-139); Kern (1982: 19-27). Zu kleinen Unterschieden zwischen politischen Arithmetikern und "Tabellenstatistikern" vgl. John (1884: 130).

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

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spätesten hinzukommende Sozialwissenschaft auch heute noch unschlUssig pendelt." (Böhme 1971: 22)

Die Tatsache, daß die Kameralisten mit der Prognose über Stärke und Größe Deutschlands scheiterten und generell immer mehr Phänomene der Quantifizierbarkeit zugänglich wurden, trägt zu ihrer Ablösung bei (John 1884: 134)17. Auch wenn sie noch versuchen, die quantitative Tabellenstatistik als die "gemeine" von ihrer "höheren" abzusetzen (John 1884: 129), setzt sich in der amtlichen und universitären Statistik etwa um 1850 die quantifizierende Tabellenstatistik durch 18 . Festzuhalten an dieser historischen Auseinandersetzung bleibt der von Kern angeführte methodisch wichtige Hinweis der Kameralisten ".. auf die Grenzen einer rein quantifizierenden Erfassung sozialer und politischer Tatbestände." (Kern 1982: 26) Ihre Kritik ist dabei genauso überzogen wie die Überzeugung, alles sei zu quantifizieren, und das nicht quantifizierbare beinhalte keine Erkenntnismöglichkeit 19 • Auch die Absetzbewegung des Vereins für Socialpolitik (1872) vom "Volkswirtschaftlichen Kongreß" war methodisch und methodologisch motiviert. Die Grundungsväter des Vereins - Brentano, Eckardt, Knapp, Schmoller, Sombart, Wagner u.a. (Boese 1939: 1-21) -, der sog. jüngeren Schule derhistorischen Nationalökonomie zugerechnet, warfen dem Volkwirtschaftlichen

17 Kern spricht von ".. einem realgeschichtlichen Prozeß der zunehmenden geldmAßigen Bewertung von Rechten und Pflichten .. nunmehr in der Gesellschaft gegebenen Realabstraktionen" (1982: 33). Man kann immer mehr auf Zahlen beziehen und in Zahlen ausdrilcken.

I' Diese Entwicklung wird nachgezeichnet von: Böhme (1971: 89ft); Kern (1982: 37); Lorenz (1956: 331ft); Maus (1956: 7, 9/10,44,55); Schad (1972: 21); Schlfer (1971: 132ft); SchnapperAmdt (1912: 7-10). Die Queteletsche Mora1statistik, als weiterer quantitativer Bezugspunkt der Tabellenstatistiker, und die SoziaJstatistik können, mit Einschrinkungen (vgl. Kern 1982: 37/38), ob ihrer Methodeneinheit als Synomyma benutzt werden (Schlfer 1971: 137). Die Queteletsche Moralstatistik (ca. 1835) nimmt von der Politischen Arithmetik" .. die Idee der Quantiftzierung und Mathematisierung gesellschaftlicher Analyse 150 Jahre nach Petty und Graunt .. " wieder auf (Kern 1982: 34). .. Für Bonß zeigt sich hier von Anbeginn an eine "Doppelstruktur" (1982: 57) in der Geschichte empirischen Sozialforschung, welche sich durch zwei unterschiedlichen Traditionslinien, die sog. "Tatsachenempirie" und die sog. "Totalitätsempirie" (12) nachweisen lAßt. Die erstere wird seines Erachtens dominant, da sie parallel mit der gesellschaftlichen Entwicklung verlauft, welche den zahlenförmigen Ausdruck begOnstigt und maßgeblich befördert durch die Fortentwicklung quantitativ-statistischer Methoden. Die letztere, die, so führt er weiter aus, " .. die soziale Realität eher unter der Perspektive ihres Erlebnischarakters .. " (57) begreift, geht in Deutschland durch den Verlust des empirischen Totalitätsanspruches der Soziologie als Folge des Werurteilstreits fast verloren (97-154; dazu vgl. hier S. 27ft).

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2. Problem genese der Artefaktforschung

Kongreß vor, daß seine Erklärungsmodelle, Methoden und Praxisempfehlungen der Realität unangemessen seien. Deutlich wird das im Anfang der 70er Jahre des 19. Jhd.s außerhalb des Vereins, hauptsächlich zwischen Schmoller und Menger geführten sog. MethodenstreifO und in den Bemühungen des Vereins um neue sozial wissenschaftliche Vorgehensweisen . In Schmollers Wissenschaftsvorstellung hatte die philosophisch-soziologische Nationalökonomie auch Anleiterin des Gewünschten zu sein, sie galt als

eine "Universalwissenschaft" , welche theoretische, historische und praktische Teile nicht separiert (vgl. Ritzel 1950: 72; Schmoller 1911). Die richtige sozialpolitische Überzeugung galt ihm als objektive, allgemeingültige Garantie für wissenschaftlich angeleitete Politik. Anders Menger, für den im Zentrum seines Interesses die theoretische, generalisierende Nationalökonomie stand, die als ".. Theorie der Volkswirtschaft .. in keinem Falle mit den historischen oder den praktischen Wissenschaften von der Volkswirtschaft verwechselt werden (darf)."(l969 [orig.1883]: 26/27). Einher mit der Absatzbewegung des Vereins vom Kongreß ging auch eine

kritische Haltung zu den seinerzeit etablierten quantitativ-statistischen M ethoden 21 • Schmoller formuliert zur Statistik: "Sie kann immer nur Quantitätsverhältnisse ergeben; die Qualitäten, die jenseits dieser Grenze liegen, also vor allem die wichtigen sittlichen und geistigen Er-

20 Menger, der Exponent des Streites, war " .. mit Gossen, Jevons und Walrass Begr1lnder der modemen theoretischen Nationalökonomie .. " (Ritzel 19S0: 69). Der Streit wurde auch gefilhrt zwischen Schmoller und Treitschke, Brentano und Oppenheimer (vgt. Conrad 1906: 34-S6). FOr die Beschreibung stotze ich mich auch auf: Kesten-Conrad (1911: 144/ 14S); Gorges (1980: 38-42); Hansen (1968); Boese (1939: 2-12); überschall (196S: 21-27); Lindenlaub (1967: 96-141), Ritzel (19S0: 30-87).

Die herangezogenen Orginaltexte: Brentano (1871); Menger (1969 [orig. 1883]; 1966 [orig. 1884]); Schmoller (1881; 1888b; 1911). Der Streit soll hier nicht erschöpfend dargestelh werden. Es kommt mir auf seine methodisch-methodologische Relevanz filr das Werden der Eigenkritikforschung zur empirischen Sozialforschung an. 21 Derzeit etabliert war die sog. MoraJstatistik in Queteletscher Tradition. Quetelets Verständnis statistischer Gegebenheiten hatte allerdings stark deterministische Züge, da er als ".. soziale GesetzmAßigkeit .. alles, was eines statistische Gleichläufigkeit aufweist .. " behandeh (Kern 1982: 43). Genau gegen diese ZOge, welche von den Vertretern der klassischen ökonomischen Doktrin positiv verwendet wurden, wehrt sich Schmoller. Die GrOndungsmitglieder des Vereins prlferieren zunAchst die qualitativ-monographisch orientierte Forschung (vgt. hier S. 34ft), gegenOber der Moralstatistik betonten sie die Willensfreiheit des Menschen, dazu gehöre" .. daß die RegelmAßigkeit der Zahlenverhähnisse nur auf eine Konstanz der Ursachen, keinesfalls aber auf eine Naturgesetzlichkeit schließen lasse." (Böhme 1971: 94, vgt. auch 89ft)

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

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kenntnisse sind ihr unerreichbar .. " (Schmoller 1911: 461; vgl. auch 1881: 4/ 5; 1888b: 195/ 196).

Er verwirft aber quantitative Statistik nicht, etwa in kameralistischer Haltung, er weist ihr eine bestimmte Rolle zu: Zur Sozial forschung gehört für ihn historische Kenntnis und eine methodische Haltung, die der Empirie eine die Theorie kritisierende Rolle zugesteht. Diese Position beinhaltet auch eine Vorstellung von der Problematik des erkennenden forschenden Subjekts: ''Wir bleiben immer selbst ein Theil des Problems, das wir unter.suchen und erkennen wollen" (Schmollcr 1881: 3; Hinweis von Schäfer 1971: 72, m. H.).

Anders Menger als Vertreter des Kongresses; er bediente sich zwar auch der deduktiven und der induktiven Methode, aber bei ihm hatte ein Experiment keine kritische, sondern nur die positive Funktion, als Beleg, Gelegenheit des Nachweises intuitiver sicherer Einsichten zu dienen." (Hansen 1968: 163) H ••

Hinter dem sog. Methodenstreit verbirgt sich also die Hinwendung zu direkter, erfahrungswissenschaftlicher Erforschung der sozialen Not, verbunden mit einer interventionistischen Haltung sowie die kritisch-distanzierte Indienstnahme quantitativer Statistik. Der für das Werden und die Bestilll11lung der Grenzen von Sozialforschung heute bekannteste Streit in dem hier interessierenden Zeitraum vor dem ersten Weltkrieg ist der sog. Werturteilsstreit. Er wird aus den sozialpolitischen Auseinandersetzungen des Vereins heraus geführt: Die stets virulenten sozialpolitischen Auseinandersetzungen im Verein wandeln sich im Verlauf des Streits zu methodologischen 22 •

Immer wieder intervenieren die Vertreter der jüngeren Generation, insbesondere Max Weber23 und Brentano bei den Vereinsdebatten, wenn sie unzulässige Schlüsse vom Sein auf das politische Sollen in den Vereinsreferaten entdeckt haben.

ZZ Far diesen Umbruch steht z.B. Brentanos Eröffnungsrede zu den Verhandlungen 1901 in Manchen, wo er die heterogene Struktur des Vereins in sozialpolitischen Fragen ausfilhrt (VfS Bd. 98 1902: 4/ 5), die dadurch vermeintlich entstehende Problematik aber dadurch auflöst, daß der Verein eben "kein politischer", sondern "ein wissenschaftlicher" sei (ebd.: 6). Also nicht die sozialpolitische Meinungsvielfalt, sondern, davon abgehoben, die Art der Themenbehandlung, eben die wissenschaftliche, 8011 den Verein auszeichnen. Z3 Bereits in M. Webers akademischer Antrittsrede taucht das Thema Werturteile und Wissenschaftlichkeit in groben Zagen auf, bereits hier beklagt er sich aber das "Chaos von Wertmaßst1ben" und darllber, daß .... die bewußte Selbstkontrolle fehlt .... (Weber 1958b [Erstauft. 1895]: I, 13, 16/17)

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

So Brentano auf der Münchner Vereins-Verhandlung 190 I zum Wiederaufflackern des Streits zwischen Schutzzöllern und Freihändlern anband des seinerzeit politisch brisanten Themas Handelspolitik: "Ich dagegen bin .. der Meinung, daß die Frage nach dem Seinsollenden gänzlich überflüssig ist, weil es uns gänzlich versagt ist, diesen Zustand beliebig herbeizuftlhren." (VfS Bd. 98 1902: 317)

Weber konstatiert: ".. was ich kraft wissenschaftlicher Arbeit weiß, ist Material, das ich lediglich verwende, um die Möglichkeit der Durchftlhrbarkeit eines Ideals und die wahrscheinlichen Folgen seiner Durchftlhrung abzuwägen, aus welchen eben der Wert des Ideals selbst nie und nimmer deduziert werden kann." (VfS Bd. 116 1906: 385)

Die dieser Haltung zugrunde liegenden methodologischen Überzeugungen finden sich im Kernaufsatz von M. Weber - Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis -, der 1904 erscheint (zit. nach 1988a: 146-214). Hier bezieht er sein Verdikt auf die "empirische Wissenschaft", er kritisiert, sie ".. vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und - unter Umständen - was er will." (151 24) Werte könnten selbst nur Gegenstand der Forschung sein, einer "technischen Kritik" (ISO) unterzogen werden. Aufgabe der empirischen Wissenschaft sei es, ".. die empirische Wirklichkeit .. denkend zu ordnen .. " (155), so daß schließlich eine " .. methodisch korrekte wissenschaftliche Beweisführung auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften .. auch von einem Chinesen als richtig anerkannt werden muß .. " (155). Er macht aber auch deutlich, daß es ".. keine schlechthin "objektive" wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder .. der "sozialen Erscheinungen" unabhängig von speziellen und "einseitigen" Gesichtspunkten, nach denen sie - ausdrücklich oder stillschweigend, bewußt oder unbewußt - als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden (gibt)." (170) Es ".. ist die qualitative Färbung der Vorgänge das, worauf es uns in der Sozialwissenschaft ankommt. Dazu tritt, daß es sich in den Sozialwissenschaften um die Mitwirkung geistiger Vorgänge handelt, welche nacherlebend zu "verstehen" .. " (173) hier die Aufgabe ist, ".. da schon eine Beschreibung selbst des kleinsten Ausschnittes der Wirklichkeit ja niemals erschöpfend denkbar ist." (177)

Als "Resultat" hält er fest:

U Er denkt dabei nicht etwa an das Verbot von Aussagen des Seinsollens, wie er oft und gerne mißverstanden wurde, vgl. z.B.: "Gegen diese Vermischung, nicht etwa gegen das Eintreten filr die eigenen Ideale richten sich die vorstehenden Ausfilhrungen. Gesinnungslosigkeit und wissenschafliche "Objektivität" haben keinerlei innere Verwandtschaft." (Weber [1904] 1888a: 157)

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

29

".. eine "objektive" Behandlung der Kulturvorgänge in dem Sinne, daß als idealer Zweck der wissenschaftlichen Arbeit die Reduktion des Empirischen auf "Gesetze" zu gelten hätte, (ist) sinnlos .. " (180), und zwar ".. weil I) Erkenntnis von sozialen Gesetzen keine Erkenntnis des sozial Wirklichen ist, sondern nur eins von den verschiedenen Hilfsmitteln, die unser Denken zu diesem Behufe braucht, und weil 2) keine Erkenntnis von Kulturvorgängen anders denkbar ist, als auf Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen rur uns hat." (180)

Als Maßstab für die empirischen Erkenntnisse gelten ihm nicht Werturteile über das Vorgefundene, sondern die Messung an einem theoretischen Konstrukt, dem "Idealtyp" . Dieser hat ".. die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes .. ,an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehalts gemessen, mit dem sie verglichen wird." (194; vgl. auch [1921] in 1988a: 559-562)

Dieser reine Begriff ist höchstens zufällig mit der Wirklichkeit deckungsgleich, erst" .. die diskursive Natur unseres Erkennens" (195), d. i. der sukzessive Gewinn des empirischen Begriffs aus der Konfrontation mit dem idealen Konstrukt, verbürgt einen gelungenen Erkenntniszuwachs2s . Nur die" .. elementare Pflicht der wissenschaftlichen Selbstkontrolle .. " (200) im Sinne der NichtHereinmischung von Wertungen in diesen Prozeß garantiert den Erfolg. Das heißt, er erkennt Wertbeziehungen an, auch als wissenschaftlich relevant, aber das wertende Urteil hat nichts im Forschungsprozeß zu suchen (213, vgl. auch Albert 1984b: 196ff; Baumgarten 1964: 589-604, Käsler 1978b: 158-162). Der Werturteilsstreit entzündet sich offen an der - auf Bestreben der Jüngeren zustande gekommenen (Gorges 1980: 423) - Behandlung des ersten rein theoretischen Themas "Das Wesen der volkswirtschaftlichen Produktion"auf der zweiten Wiener Tagung des Vereins von 1909. Weber polemisiert gegen die seiner Meinung nach werturteilsvermengte Gleichsetzung von Volkswohlstand und Produktivität (VfS Bd. 132 1909: 580585). Aufgabe einer empirischen Wissenschaft könne nur die Zergliederung von Positionen und das Aufzeigen von hinter diesen stehenden Werturteilen sein, die Heranführung an die Schwelle der Entscheidung über Werturteile, nicht aber die Bestimmung des gültigen Werturteils. Ein wissenschaftlicher

z' Es ist immer die Frage, ob eine solche Konfrontation rein fonnal ist und wo sie nicht mehr in diesem Sinne objektiv ist (vgl. Eulenburg in Verein filr Sozialpolitik 1913: 6/7). Als Ausweg aus der Werturteildebatte - im Anschluß an Kants fonnale oberste GrundsAtze der Sittlichkeit versucht die Habennassche Diskursethik den Nachweis, daß auch diese fonnalen GrundsAtze durchaus inhahliche sind, wenn sie gleichzeitig als Bedingungen von fortschrittlicher Gesellschaft und optimaler Forschung verstanden werden (vgl. auch Abschnitt 4.1.3 S. 182ft" und Kapitel S.3 S. 192ft", inbesondere S. 19S, Anm. 8).

30

2. Problemgenese der Artefaktforschung

Produktivitätsbegriff müsse ein naturwissenschaftlich möglichst exakt, d.h. quantitativ berechenbarer sein (VfS Bd. 132 1909: 603-607). Der kritisierte Referent Phillipovich hält dagegen, daß " .. in den Geisteswissenschaften die Zwecksetzung immer der Vorläufer der Beschreibung und theoretischen Betrachtung ist .. " (609), daß die Nationalökonomen" .. auch in der Theorie nicht vollständig frei sind von Werturteilen .. n (612). Auch hält er das angestrebte Quantitative, das wissenschaftlich Meßbare, welches Weber als einzigen Maßstab für Produktivität gelten lassen will, für nicht trennbar von qualitativen, psychologischen Hintergrundbedingungen wie z.B. "Arbeitsmühe" (614). Boese berichtet von Reaktionen auf Webers und Sombarts Verhalten auf der Tagung von 1909 (1939: 133-137). Weber schlägt auf der VfS-Tagung 1911 in Nürnberg vor, das Thema Werturteile auf einer Ausschußsitzung des Vereins gesondert zu behandeln (VfS Bd. 138 1912: 163). Da sein Bruder Alfred und weitere Unterstützer seiner Position - Sombart, Schumpeter - sich bei den VfS-Verhandlungen nicht durchsetzen können, ziehen sie bereits organisatorische Konsequenzen, sie gründen 1910 in Frankfurt die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (vgl. Gorges 1980: 485, Käsler 1978b: 49-51). Ziel der DGS ist es, anders als der VfS nicht mehr Praktiker und Theoretiker zusammenbringen, sondern nur noch Wissenschaftler. Die Betonung liegt auf rein wissenschaftlicher Forschung, was eine Trennung von dem als tendenziös verstandenen sozialpolitischen Anspruch der Vereins-Forschung sein so1l26. Weber weist gleich zu Beginn seines Rechenschaftsberichts auf dem ersten deutschen Soziologentag noch einmal mit aller Deutlichkeit auf dieses "Prinzip" hin: " .. daß die Gesellschaft jede Propaganda praktischer Ideen in ihrer Mitte grundsätzlich und definitiv ablehnt." (Weber 1911: 39; vgl. auch Weber 1913a: 78 27)

Z6 Diese Haltung wird als Vereinszweck festgehalten im § 1 der Satzung: "Unter dem Namen "Deutsche Gesellschaft filr Soziologie" ist eine Vereinigung gegrOndet worden, die ihren Sitz in Berlin hat. Ihr Zweck ist die F(jrdenmg der soz iologischen Erkenntnis durch Veranstaltung rein wissel18chaftlicherUnter:ruchungen und Erhebungen, durch VerOffentlichungund Unter:rtützung rein wissenschaftlicher Arbeiten und durch Organisation von periodisch stattfindenden deutschen Soz iologentagen. Sie gibt allen wissenschaftlichen Methoden der Soz iologie gleichm "IJig Raum und lehnt jede Verlretung irgendwelcher praktischen (ethischen, religi(jsen, politischen, ärthetischen usw.) Ziele ab." (Schriften der deutschen Gesellschaft filr Soziologie (OOS) 1911: 0, m.H.)

Z7 Auf dem zweiten Soziologentag kommt es getreu der Programmatik am ersten Verhandlungstag zum Abbruch eines Vortrages von Prof. Dr. Barth zum Thema Nationalität wegen zu vieler Werturteile (vgl. OOS 1913: 48ft).

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

31

Auch Tönnies geht in seiner programmatischen Eröffnungsrede - Wege und Ziele der Soziologie (1911) - auf diese Haltung ein. Er beschreibt es als "Gesetz der Entwicklung" einer Wissenschaft, daß sie sich immer mehr

".. von allen unmittelbaren und mittelbaren Einflossen der Willenstendenzen der praktischen Interessen .. ablösen und befreien" solle. Ziel ist die ".. Idee der reinen theoretischen Einsicht, der Betrachtung und Beobachtung sozialer Vorgänge unserer Umgebung, als ob sie Vorgänge auf dem Monde wären, uns gar nichts angehen, die Ansicht der menschlichen Leidenschaften und Bestrebungen, als ob sie Winkel im Dreiecke oder berechenbare Kurven wären .. " (fönnies 1911: 19,23).

Die Gegenposition zu dieser Entwicklung läßt sich bei Schmoller festmachen, zwar verweist dieser auch immer wieder auf Objektivität und Wissenschaftlichkeit als Forschungsideale hin, aber er beharrt auf einem erweiterten Wirkungsanspruch sozialwissenschaftlicher Forschung28 • Die Frage "Sind wir nun .. ein Verein der praktischen Politik oder sind wir ein wissenschaftlicher Verein?" (VfS 1912 Bd. 138: 2) beantwortet er mit einem "sowohl als auch". Er weist dem Verein eine Mittlerrolle zu: "Wir stehen auf der BrOcke, die von der Welt der Wissenschaft in die des praktischen HandeIns hinoberftlhrt." (ebd.)

Da es auf den Verhandlungen im VfS immer wieder zu heftigen Reibereien kommt, beschließt der Verein, sich auf einer erweiterten internen Ausschußsitzung am 5. Januar 1914 mit diesem Thema ausführlich zu beschäftigen, und verschickt an ausgeWählte Mitglieder vier zu beantwortende Fragen. Deren vorher verschickte Gutachten waren dann Grundlage der Diskussion (Verein für Sozialpolitik 1913)29.

21 Dies wird z.B. auch in seiner Einleitung zum Jahrbuch ftJr Ge8etzgebung, Verwaltung und Volk.JWir1scha[t im Deuuchen Reich (1881: 4/5) und in seiner Einleitungsrede zur Nürnberger VfSVerhandlung 1911 (VfS Bd. 138 1912: 1ft) deutlich; vgl. auch hier S. 26/27 und 511 52.

,. Die Diskussion auf der internen Ausschußsitzung wurde mit Absicht nicht protokolliert (Boese 1939: 147). Dank Prof. KAsler gelangte ich an eine Kopie des zur Diskussion vorliegenden vollständigen Manuskriptes, welches die Gutachten der unten genannten Forscher enthält (Verein fUr Sozialpolitik 1913*). Dieses Gutachtenmanuskript war wohl eine Zeitlang nicht zugänglich, vgl. z.B. Gorges (1980: 478). Die vier filr die Gutachten nachgefragten Punkte waren nach Boese: "1. die Stellung des sittlichen Werturteils in der wissenschaftlichen Nationalökonomie, 2. das Verhältnis der Entwicklungstendenzen zu praktischen Wertungen, 3. die Bezeichnung wirtschafts- und sozialpolitischer Zielpunkte, 4. das Verhältnis der allgemeinen methodologischen Grundsätze zu den besonderen Aufgaben des akademischen Unterrichts." (1939: 145) Geantwortet haben: Epstein; Eulenburg; Goldscheid. Hanmann; He8se; Neurath; Oldenberg; Oncken; Rohrbeck; Schumpeter; Spann; Spranger; Weber; von W ie8e; W ilbrandt.

* im folgenden zit. als Gutachten-Autor, Gutachten 1913

32

2. Problem genese der Artefaktforschung

Die Webersche Auffassung von der Verbannung der Werturteile aus dem Forschungsprozeß findet dabei nicht die mehrheitliche Unterstützung (Boese 1939: 147/ 148). Durchsetzen konnte sich die von Schmoller vertretene Auffassung. Zum Teil gingen die Gutachter noch viel weiter als Schmoller, so z.B. Goldscheideo, der die Legitimität von Werturteilen nach ihrer Universalität bemißt und konstatiert: "Würde der Satz zu Recht bestehen, daß, wo Werturteile gefiUlt werden, die Wissenschaft aufhört, so wUrde damit ausgesagt, es gäbe keinen Prilfstein rur die Richtigkeit von Urteilen, die eine Wertung zum Inhalt haben." (Gutachten 1913: 12) Für ihn ist es ".. ein Wahn, wenn man glaubt, es gäbe voraussetzungsJose Wissenschaften." (m.H., 163\)

Auch gegen die Quantifizierung wendet er sich: " .. die Reduktion der Qualitäten auf Quantitäten muß stets unvollkommen sein, weil der Faktor der "Richtung" dabei ganz außer Betracht bleibt. Wir sind auch ganz außerstande, alles Qualitative quantitativ zu messen. Wo aber die Messung versagt, da tritt naturgemäß die Schätzung in ihr Recht, und die Schätzung grenzt immer schon an Wertung." (16/ 17)

Er billigt daher dem Forschenden, da gemeinhin Kompetenten, unbedingt ein Recht, ja sogar eine Pflicht der abschließenden Wertung zu. In Anklang an das berühmte Marx-Zitat führt er aus: "Er wird das, was er geschaffen hat, darnach bemessen, ob es nicht nur geeignet ist, die Dinge verschieden zu interpretieren, sondern sie zu verändern." (22)

Rohrbeck stimmt Weber in etwa zu; er trennt Wirtschaftspolitik von Wirtschaftswissenschaft. Er hält in der Wirtschaftspolitik Wertungen für unumgänglich, warnt aber, daß bei der Projektion historischer Tendenzen in die Zukunft ".. eine besondere Gefahr gewagter Schlüsse" (Gutachten 1913: 46) besteht; ähnlich äußert sich Oncken zur Bewertung historischer Quellen (Gutachten 1913: 40/41). Spranger erklärt Webers Haltung zur Werturteilsfrage als Folge von dem Positivismus verpflichteten Denken (Gutachten 1913: 59). Er hingegen konstatiert die Verwobenheit des Forschers als Mensch in die Wertsphäre, von der ihn, hier argumentiert er ähnlich wie Goldscheidt, nur kritisches Bewußtsein lösen kann (68), welches dann ein reflektiertes wissenschaftJO Ähnlich pro Werturteile luBern sich Hesse (27), Oldenberg (33/34) und Spann (51) in ihren Gutachten (1913). ] I 10 diesen Vereins gutachten wird die Frage der Voraussetzungslosigkeit lhnlich kritisch thematisiert wie nach dem ersten Weltkrieg in der Auseinandersetzung um die Wissenssoziologie (vgl. 2.2.1).

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

33

liches Werturteil erlaubt. Auch von Wiese hebt darauf ab, daß" .. die theoretische Nationalökonomie keine exakte Wissenschaft .. " (Gutachten 1913: 121) sei. Das hängt seiner Meinung nach damit zusammen, daß die" .. gesellschaftlichen Verursachungen, .. im allgemeinen viel zu kompliziert (sind), um sämtlich rein quantitativen Messungen zugänglich zu sein." (ebd.) Er wendet sich auch gegen Voraussetzungslosigkeit: "Eine völlig individualitätslose Erfassung von Geschehnissen, die es mit Menschen zu tun haben, ist unmöglich. Immer muß der Forscher sichten, vereinfachen, gruppieren." (123)

Wichtig ist aber, daß diese subjektiven Momente universalisiert werden: "Worauf es dabei ankommt, ist die beständige Erhöhung der Subjektivität, ihre Steigerung ins Allgemeine." Er stimmt Weber allerdings zu im Punkt der gen auen Abtrennung der Bewertung: "Dabei ist zu fordern, daß man erkennen kann, wo diese Bewertung beginnt, und wo das von anderen oder mit exakten Methoden Festgestellte aufhört." (124)

Wilbrandt sucht einen Ausweg in der nicht dogmatischen, sondern hypothetischen Verwendung von Werturteilen (Gutachten 1913: 130/131), welche sich dann wie die Diagnosen der Mediziner zu bewähren hätten. In ihren Gutachten äußern sich explizit pro Weber Epstein (1913: 1-4), Neurath (1913: 31-32) und Schumpeter (1913: 49-50). Weber32 versucht, mit kräftigen Worten in seinem Gutachten klarzustellen, was falsche Vorwürfe an seine Adresse sind; er habe nie diskutieren wollen: "1. Ob im Verein rur Sozialpolitik Fragen der "Weltanschauung", genauer: praktisch-politische "Wertungen" ihre Stätte haben sollen. (1913: 83) .. 2. Ob man im akademischen Unterricht sich zu seinen ethischen, ästhetischen, weltanschauungsmäßigen oder anderen praktischen Wertungen "bekennen" solle oder nicht. (84) .. 3 ... ob die Scheidung von empirischer Arbeit und praktischer Wertung "schwierig" sei." (91)

32 Webers Gutachten von 1913 wurde in Baumgarten 1964 (102-139) abgedruckt; 1917 erschien es in überarbeiteter Form in der Zeitschrift Logos als: Der Sinn der "Wertfreiheit" der soziologischen und likonom ischen W issenschcften" (vgl. 1988a: 489-540). Dieser Logos-Aufsatz gilt nach dem Archiv-Beitrag - Die "Objektivittit" sozialwissenschqftlicher und sozialpolitischer ETkenntnis (vgl. [Erstauft. 1904] 1988a: 146-214) - als zweiter Kernaufsatz Webers zum Thema Werturteilsstreit Der dritte Beitrag ist der 1919 gehaltene Vortrag - W issenschcft als BelUf(1988a: 582-613).

3 Hilgers

34

2. Problem genese der Artefaktforschung

Er gesteht zu, daß der Verein praktisch-politisch werten darf, wenn er dies genau kennzeichnet, gleiches gilt für den akademischen Unterrichtl3, die Unterscheidung hält er hingegen für absolut notwendig und für möglich. Er ist sich, was Oldenberg ansprach (33-35), darüber klar, daß er Beifall von der falschen Seite erhält (89), wendet sich gegen die "pseudo-wertfreien, tendenziösen" Unterstützer seiner Position, welche den Mantel wertfreier Wissenschaft zur Propagierung ihrer Interessen nutzen. Auch den Positivismusvorwurf nimmt er auf: "4. Nicht diskutieren ferner, sondern ausdr1lcklich anerkennen möchte ich: daß man gerade unter dem Schein der Ausmerzung aller praktischen Wertungen ganz besonders stark, nach dem bekannten Schema: "die Tatsachen sprechen zu lassen", suggestiv solche hervorrufen kann." (92)

Was als Webersche Gegenposition zur Vereinsmehrheit bleibt, ist: Der Forscher darf keine Wertungen zur Grundlage seines Forschungsprozesses machen. Abschließende Wertungen können nicht wissenschaftlich begründet werden, sind aber durchaus legitim. Die mehrheitliche Vereinsposition ist: Wertungen müssen explizite, nachprüfbare Grundlage des Forschens sein. Wertungen sind zwar nur z.T. wissenschqftlich herzuleiten, aber praktisch-politisch notwendig und die Pflicht verantwortungsvollen Forschens. Hier scheiden sich die Wege an einer grundsätzlichen Differenz über den Forschungsprozeß· Neben diesen, sich aus den sozialpolitischen Fragestellungen heraus entwickelnden methodologischen Auseinandersetzungen, die im Werturteil streit gipfelten, werden im Vereins für Sozialpolitik auch erste methodische Grundlagen der empirischen Sozialforschung entwickelt.

2.1.1.2 Allgemeine Methodenreflexion

Die Absicht, zum sozialpolitischen Impuls passende Methoden zu finden, setzt sich im VfS in tastende Eigenversuche um. Zunächst begnügte man sich mit der Anforderung von Gutachten und deren nachfolgender Diskussion auf den Vereinsversammlungen. Dies geschah zum einen aus monetären und organisatorischen Mängeln heraus, zum anderen aus der insbesondere von Schmol-

II Im akademischen Unterricht sei allerdings besondere Zurückhaltung geboten, was er hier wie auch in seinen splteren Aufsitzen (vgl. z.B. 1988a [1919]: 600ff) damit begr1lndet, daß die Studenten sich nicht gegen den Vortragenden und seine Wertungen wehren können, und weil nicht alle Arten von Werten auf Kathedern gelehrt werden dOrfen (vgl. auch Gutachten 1913: 90/91).

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

35

ler konzipierten Haltung, möglichst die Qualität des zu Beschreibenden im Blick zu halten. Zwar stand man den quantitativen Vorgehensweisen der Wirtschaftswissenschaftler skeptisch gegenüber, aber man wollte etwas über den Zustand der Gesellschaft erfahren; so wurde die ".. Grundlage der sozialpolitischen Bemühungen des Vereins .. die empirische Sozialforschung. Es gab keinen anderen Weg zur Aufdeckung sozialer Mißstände." (Lindenlaub 1967: 97; Schad 1972: 6) Zunächst war diese Aufforderung jedoch an den Staat, resp. an die administrative Erhebungspraxis gerichtet (Schmoller in Boese 1939: 10; Gorges 1980: 183). Der Verein begann seine Arbeit mit der Anforderung von monographisch orientierten Gutachten (Gorges 1980: 96, vgl auch: Boese 1939: 19, Bonß 1982: 97ffY4. Das zumeist als erste originär sozialwissenschaftliche Methode zur "Datengewinnung" gekennzeichnete sogenannte Enquete-Verfahren wird erst ab Mitte der 1880er Jahre eingesetzt; als erste Enquete des Vereins gilt: Bäuerliche Zustände in Deutschland (VfS Bd. 22-24 1883; Boese 1939: 48)35. Dieses Verfahren war in England bereits um 1830-50 weit entwickelt, aber auch in Frankreich fand es schneller Verbreitung als in Deutschland. Hier wird es erst mit Gründung des Vereins für Socialpolitik als ein Instrument der privaten Forschung anerkanne 6 • Das Verfahren kommt der Abneigung großer Teile der Vereinsmitglieder gegenüber rein quantitativen Verfahren entgegen, da es den Fragebogen nur als eine Art Leitfaden versteht und nicht als ein schematisches Erhebungsinstrument benutzt (Schäfer 1971: 197/ 198).

:14 Der Statistiker Georg von Mayr defUliert 1895 Monographie als " .. den subjektiven Standpunkt des Betrachters zum Ausdruck bringende qualitative Beschreibung." (zit. nach Schlier 1971: 183)

3' Datengewinn ist hier in einem sehr weiten Sinne gemeint. Enqueten sind Zusammenfassungen von angeforderten Berichten von kompetenten oder filr kompetent in Region und Sache gehaltenen Personen, die zumeist ungeptilft als interpretierbarer Fundus des Forschers hingenommen werden. Der Verein bestimmt Enquete als ".. eine aus Monographien zusammengesetzte beschreibende Schilderung wirtschaftlicher und socialer Tatbestände auf einem bestimmten Gebiet der Volkswirtschaft" (vgl. Gorges 1980: 171; vgl. auch Schlier 1971: 183, 194) 36 Kern weist daraufhin, daß in England bereits "professionelle Datenermittier" zu Erbebung von Daten eingesetzt wurden (Kern 1982: 72), deren Arbeit auch gegenkontrolliert wurde, nachzulesen bei Cullen (1975: 111-116). Auch seien Anflinge von Kontrollgruppeneinsatz, sowie methodische "cross-examination" zur Verbesserung der DatengOte bereits vorbanden (1982: 72-76); Ahnlich bei der frOhen amerikanischen Sozialforschung (Young 1949: 21-28). Der Verein knOpft im Band 13 seiner Schriften explizit an die englische Entwicklung an (VfS Bd. 13 1877: 47). Ein Deutscher hatte die Methode - allerdings in Frankreich - bereits ausprobiert: Karl Marx (vgl. S. 57, Anm. 69).

3'

36

2. Problem genese der Artefaktforschung

Erst die jüngeren Vertreter im Verein - hier insbesondere Tönnies und M. Weber - geben mit ihren eigenen empirischen Studien, neben dem methodologischen Feuerwerk, welches sie an der Werturteilsfrage entzünden, auch der methodischen Entwicklung einen Anstoß in Richtung Diversifizierung, Quantifizierung und Standardisierung der Verfahren. Bereits der zweite Band der Schriften des Vereins für Sozialpolitik enthält eine Reflexion darüber, wie eine Enquete über die Wirklichkeit sozialer Dinge, hier - der Wirkung der Fabrikgesetzgebung - angestellt werden kann. Man glaubt, diese Erhebung nicht den Behörden überlassen zu dürfen, sondern fordert die Einrichtung einer ".. seitens der Reichsregierung und des Reichstages gemeinschaftlich ernannten Untersuchungskommission. " (V fS Bd. 2 1873: 13 37) In dieser Kommission sollen möglichst Vertreter aller Interessen und unabhängiger Sachverstand sitzen (ebd.: 13, 68, 69, 77). Der Gutachter Neumann besteht darauf mit besonderer Vehemenz; er setzt sich auch von der seiner Meinung nach unzulänglichen Praxis der Gewerbestatistik ab, eine Ausnahme bilden für ihn die englischen Enqueten (135), nur Unternehmer zu ihren Betrieben zu befragen. Er postuliert: "Bei social-statistischen Erhebungen, wo Klasseninteressen in Frage stehen, muß tun liehst dahin gestrebt werden, die Vertreter der verschiedenen Interessen bei den Erhebungen mit heranzuziehen .. " Geschieht dies nicht, so " .. erscheinen z.B. die Verhältnisse jugendlicher Fabrikarbeiter regelmäßig im besten Lichte." (l35, vgl. auch l36-142]')

In Abgrenzung zu den zumeist schriftlichen Verfahren der bisher in Deutschland praktizierten administrativen Enquete bezieht man sich im Verein positiv auf eine Kombination schriftlicher Erhebung mit der insb. in englischen Parlamentsausschüssen entwickelten mündlichen Form der Enquete (147) und eine Verküpfung zentraler Gesamterhebung mit spezieller monographischer

" Man befilrchtet sonst eine Absprache zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Beamten, denn" .. die UmstAnde sind zuweilen stärker als die Menschen .. ", weshalb die Genannten" .. ein gemeinsames Spiel spielen, um Alles beim Alten zu lassen." (VfS Bd. 2 1873: 12) 11 Der Statistiker Engel hlh dies noch 1871 nicht filr nötig, er kommentiert die Praxis der Enquete-Forschung 1871: "Sowohl die Fragen der belgischen als auch der englischen Enquete sind allerdings nur an die Arbeitgeber gerichtet, nicht an Arbeitnehmer, und es könnte daher wohl der Fall sein, dass sie ganz unwillkOrIich eine filr erstere etwas zu ungOnstige Flrbung emahen hltten." Ohne methodische Überlegungen anzustellen, geht er davon aus: "Ist es so, so wird die Darstellung der Kehrseite des Bildes nicht lange ausbleiben .. " und es wird ".. das Bekanntwerden der an den Arbeitgeber gerichteten Fragen sehr rasch eine statistische Gegenbewegung unter den Arbeitnehmern hervorrufen .. " (1871b: 403; Hinweis aus VfS Bd. 2 1873: 134) An die direkte Befragung und Beteiligung der Betroffenen denkt er noch nicht

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

37

Teilerhebung besonders interessierender Gebiete (69, 76). Diese Kombination wird wissenschaftlich für die fruchtbarere gehalten (14; vgl. auch hier S. 54ft). Der Verein fixiert seine Kenntnisse über dieses Verfahren und seine verschiedenen Ausformungen und Möglichkeiten im Jahre 1877 im dreizehnten Band der Publikationsreihe, betitelt "Das Verfahren bei Enqueten über sociale Vernältnisse" (1877) - , welcher drei Gutachten - von Embden, Cohn und Stieda - und in einem Anhang die Übersetzung eines praxisnahen Anwendungsberichtes eines englischen Forschers namens Ludlow (von 1862) enhält. In der Beschreibung der Funktion der Enquete findet sich bereits die durch den Werturteilstreit später methodologisch forcierte Trennung. Embden begreift z.B. die Enquete als ".. ein von einem gesetzlich dazu autorisierten Factor angeordnetes Verfahren, dessen unmittelbare Aufgabe die Ermittelung ökonomischer und socialer Thatsachen und ursächlicher Zusammenhänge, dessen Endzweck die Vorbereitung gesetzgeberischer und administrativer Beschlüsse ist und in welchem als Hauptmittel zur Erftlllung jener Aufgabe und zur Förderung dieses Zweckes die Anwendung von Zeugen und Sachverständigen verwendet wird." (VfS 1877 Bd. 13: 1) Aber er hält auch" .. private, lediglich wissenschaftlichen Zwecken dienende und durchweg schriftliche Enqueten für die Zukunft (für, A.H.) möglich." (2) Hier werden deutlich wissenschaftliche Zwecke von praktischen Zwecken empirischer SozialJorschung separiert. Insbesondere der aus dem Englischen übersetzte Text "Ueber die Untersuchung von Gewerbestreitigkeiten und die dem Zeugnis der Arbeitgeber und Arbeiter zukommende Glaubwürdigkeit" (47 -64) im o.g. VfS Bd. 13 beschreibt die vielen "pitfalls" der frühen empirischen Sozialforschung und das darüber vorhandene Bewußtsein in anschaulicher Weise. Ludlow konstatiert: "Nichts kann verschiedener sein als die Berichte der Arbeitgeber und die der Arbeiter, und zwar nicht nur, wenn es sich um concrete Gewerbsstreitigkeiten handelt - denn darauf würde man gefaßt sein .. - sondern bezüglich genereller Thatsachen, wie Durchschnittsarbeitszeit, der durchschnittliche Lohn, die durchschnittliche Verdingungszeit, die geforderte Durchschnittsanstrengung u.s.w .. ", so daß rur ihn" .. auch bei der größtmöglichen Aufrichtigkeit und der wohlmeinendsten Aussage die Glaubwürdigkeit ihre Grenzen hat in der Stellung des Zeugen und in den Verhältnissen." (47/48) Er stellt sich deshalb die Aufgabe ".. festzustellen, wodurch .. die Glaubwürdigkeit der Berichte beider Parteien bedingt wird." (48)

38

2. Problemgenese der Artefaktforschung

Dazu berichtet er, was aus seiner Erfahrung das Zeugnis39 des Arbeitgebers (48-57), des Arbeiters (57-63) und das dritter Parteien (63-64) in seinem Verhältnis zum Forscher bestimmt. Ersteres ist für den Forscher leichter zugänglich, denn der

'~ rbeitgeber"

".. bewegt sich .. doch mehr oder weniger in denselben Kreisen, wie wir selbst, .. seine Adresse steht sicherlich im Adressbuch... Auch ist es leicht den Verkehr, wenn er einmal mündlich eTÖffuet ist, schriftlich fortzusetzen." (48)

Auch ".. beansprucht das Zeugnis des Arbeitgebers eine prima facie Glaubwürdigkeit .. n , denn der Arbeitgeber" .. ist meist ein gebildeter Mann, .. hat .. Namen, Ruf und Stellung .. , nennt .. sich einen Gentleman .. . Sein Gesichtspunkt, verglichen mit dem des Arbeiters, ist zugleich ein höherer und mehr centraler." (ebd.) Soweit zum positiven, was eigentlich für die Vollständigkeit des Zeugnisses des Arbeitgebers spricht, dann aber schränkt Ludlow ein: "Leider ist aber meines Erachtens das Zeugnis der Arbeitgeber sehr selten erschöpfend und, wenn aufrichtig, so ist es dies gerade da am meisten, wo er erschöpfende Angaben offen verweigert (m.H.)." (49) Den Grund rur diese Weigerung nennt er "natürlich" mit folgender Begründung: "Fast alle Streitigkeiten zwischen dem Arbeitgeber und seinen Arbeitern .. spitzen sich rur den Arbeitgeber zu einer Gewinnfrage zu." (49) Weil er diesen zu verheimlichen trachtet, bedarf das Zeugnis des Arbeitgebers ".. immer einer Ergänzung von außen her ... " (SO)

Als erste Nonn für das Zeugnis von an derartigen Untersuchungen beteiligten Arbeitgebern hält Ludlow daher Unvollständigkeit fest (50). Auch die Korrektheit der Auskunft läßt zu wünschen übrig, denn: "Seine Erfahrung erstreckt sich .. nicht einmal auf den ganzen Betrieb seines eigenen Platzes, sondern nur auf sein eigenes Unternehmen .. " (51)

Er kann gar nicht viel über andere Betriebe wissen, denn genauso, wie er Scheu hat, Auskünfte über seinen Betrieb oder Gewinn zu machen, genausowenig wird ihn ein Konkurrent in dessen Betrieb Umschau halten lassen. Daraus folgt als die zweite Nonn: begrenzte Genauigkeit (52). Aber, so fragt er sich weiter, kann denn nicht auch diese begrenzte Erfahrung eine typische sein und damit doch anschaulich für mehr als den einen Fall? Hier nun stößt er auf etwas, was später unter dem Namen "bias", also Verzerrung, einer Untersuchung sehr bekannt geworden ist, denn:

.. Mit Zeugnis ist die Aussage, der Bericht, aber auch die Flihigkeit dazu gemeint.

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

39

"Wo Auskunft erlangt wird. wird sie beinahe ausnahmelos von den Angehörigen der Fabrikantenclasse erlangt. welche am wenigsten zu verheimlichen haben und zu hochgesinnt sind. um irgend Etwas verheimlichen zu wollen." (52)

Also, das Zeugnis, welches der Forscher erhält, ist nicht nur unvollständig und ungenau, es ist auch, in heutigen Termini, als dritte Norm, zugunsten der "Fabricantenclasse" verzerrt (53). Zusätzlich eingeschränkt wird das Zeugnis des Arbeitgebers, wenn er aufgrund der Größe des Betriebs Arbeit an Werksleiter u.ä. delegieren muß und diese ihm nicht alles oder nicht wahrheitsgemäß berichten oder gar eigene Regelungen einführen, also der Arbeitgeber glaubt zwar, er sei aufrichtig, kann es aber gar nicht sein: 4. Norm: mangelnder Überblick (55). Grenzen für die Wahrhaftigkeit liegen auch darin, daß das Zeugnis des Arbeitgebers immer"" eine Färbung hat zugunsten der eigenen Klasse ,," (55) hat, die er dadurch verstärken kann, daß er den auf dem Gebiet nicht bewanderten Forscher absichtlich in eine falsche Richtung rennen läßt. Für alle diese Möglichkeiten des Arbeitgebers ist es nach Ludlow " unmöglich irgend welche positiven Schutzmittel gegen solchen Trug anzugeben." (56) Das Zeugnis des '~ rbeiters", konstatiert er, sei für den Forscher wesentlich schwieriger zu erlangen als das des Fabrikanten, denn "" immer noch liegt in sehr vielen Fällen die Welt der Arbeit rur den außerhalb stehenden Forscher wie hinter einer verschlossenen Thür, zu welcher er den richtigen Schlüssel nicht hat,," (57)

Das Bildungsniveau und die Unzugänglichkeit des Arbeitermilieus für den zumeist aus einer anderen Klasse stammenden Forscher erfordern eine mündliche Befragung, die der Forscher zumeist nur versteht, wenn er einen "Interpreten" der Aussagen des Arbeiters hinzuzieht, z.B. einen Gewerkvereinler (ebd.). Auch hat der Forscher keine Ahnung von den "local-technischen Beziehungen" (ebd.)-40, in denen der Arbeiter lebt. Gelingt es dem Forscher also, z.B. das Vertrauen der Gewerkvereine zu erlangen, so wird er von ihnen umfassender informiert als von den Fabrikanten, da die Arbeiter nicht die Konkurrenz zu fürchten haben und, anders als beim Fabrikanten, ihre Bezüge ja auch öffentlich verteilt werden und so die Angaben leicht zu korrigieren sind. Bezüglich der ersten Norm ergibt sich für Ludlow, daß - auch wegen besserer Kontrollmöglichkeiten - das Zeugnis des Arbeiters wahrscheinlich vollständiger ist als das des Fabrikherrn (59). Auch ist das Zeugnis des Arbei-

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Heute würde man sagen, von dem Kontext.

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2. Problem genese der Artefaktforschung

ters, soweit es seine Arbeitsverhältnisse betrifft, von größerer Genauigkeit (zweite Norm), da er zumeist, insbesondere wenn er auch noch Gewerkvereinler ist, Erfahrungen in mehr als in einer Fabrik, also auch mehr Überblick hat (vierte Norm). Einzuschränken ist allerdings, daß der Arbeiter, der sich zu Wort meldet - anders als der Fabrikant - häufig die Schattenseiten seines Daseins überbetont (60) und die Wortführer der Arbeiter nicht unbedingt die mehrheitlich vertretene Meinung wiedergeben (63), also auch hier - dritte Norm - gewisse Verzenungen zu beachten sind. Auch ist der zufriedene Arbeiter, so vermutet er, nicht in Gewerkvereinen organisiert und daher auch für den sich dieser Helfer bedienenden Forscher kaum zu erreichen. Ludlow schließt: "Es folgt daraus, daß die Durchschnittslinie etwas Ober dem Niveau, welches der Arbeiter angibt, gezogen werden muß, entschieden aber auch unter demjenigen, auf welches sich der Arbeitgeber stützt." (61)

Über seine Arbeitsverhältnisse hinausgehende Fragen, also z.B. nach dem Gewinn des Arbeitgebers, können allerdings von dem Arbeiter nur spekulativ, also sehr ungenau beantwortet werden. Für diese Angaben bedarf es ".. immer der sorgfältigen Prüfung und bestätigender Zeugnisse aus anderen Quellen .. " (ebd.) Wenn es möglich ist, sollte man das Zeugnis der beiden Parteien noch ergänzen durch das sog. ''Mittelklassen'' (63), wobei deren Unabhängigkeit eventuell auch eine Täuschung sein kann, da sie sich zumeist der einen oder anderen Seite zugehörig fühlen und in ihren Urteilen dann die jeweils beklagten Ungenauigkeiten auftauchen. Die Schwierigkeiten, die sich bei der sozialwissenschaftlichen Hinwendung zur Empirie ergeben, sind hier von Ludlow in anschaulicher Weise dargestellt worden. Alle menschlichen Aspekte des Forschungsprozesses - Forscher, Zeugen, Mittelspersonen - können Fehlerquellen sein, die die gewünschte Erkenntnis verzerrend beeinflussen. Zur Abhilfe wird die Heranziehung verschiedener Quellen und die gegenseitige Gewichtung der Aussagen durch den Forscher empfohlen. Während die administrativen Enqueten aufgrund der bürokratischen Organisation das damalige statistische Ziel der Massenbeobachtung, die hinlänglich große Zahl, erreichen konnten, gelang dies dem Verein organisatorisch und finanziell nicht. Er beauftragte stattdessen für kompetent Gehaltene mit der Abfassung von Gutachten, d.h. er gibt zu den bereits erkannten menschlichen Fehlerquellen noch eine weitere hinzu! Das Einleitungsschreiben zu der übereinstimmend als " .. erste eigentliche "Enquete" des Vereins" (Boese 1939: 48; Gorges ·1980: 171) bezeichneten Landarbeiterenquete (VfS Bd. 22-24 1883) macht deutlich, wie zurückgenom-

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

41

men der Anspruch des Vereins z.B. in punkto Vergleichbarkeit der angefragten Berichte war. Denn denen, die Auskünfte über die Lage der Landarbeiter geben sollten, Pfarrer, Amtspersonen u.ä., wurde so gut wie jede Bearbeitungsfreiheit gelassen4l . Diese absolute Offenheit in der Anlage hatte dann auch sehr unterschiedliche Arbeiten zur Folge. Die positiven Charakteristika der monographischen Tradition - Genauigkeit, Anschaulichkeit, direkte Beobachtung weniger "Fälle", Detailreichtum und multiperspektivische Herangehensweise können in Schnapper-Amdts Arbeit "Roher Taunus" nachgelesen werden (VfS Bd. 22 1883: 145-167, Langfassung Schnapper-Amdt 1963 [Erstaufl. 1833]; vgl. auch Boese 1939: 48-51). Er bereist mehrmals selbst die fünf Dörfer, über die er berichtet, lebt dort im Feld, beobachtet und fragt nach bei Betroffenen und bei Dritten (Ärzten, Pfarrern), läßt Familien ihre Ausgaben budgetieren und zieht zur Komplementierung staatliches und kirchliches Aktenmaterial heran. Eine an Schnapper-Amdts Verbindung von monographischer Schilderung und sozialstatistischer Analyse anknüpfende Weiterentwicklung stellen hier auch Tönnies spätere soziographische Bemühungen dar42 • In seiner Untersuchung über die soziale Lage der Matrosen an der Küste - Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck (VfS Bd. 104,1 1903: 509-520) - entwickelt er bemerkenswerte quellenkritische Standards43 . Er ist sich klar, daß er damit alleine keine statistische Genauigkeit verbürgt, er wählt jedoch dieses Verfahren, um die Herkunft seiner Erkenntnisse systematisierend transparent zu machen. Auch er legt Wert darauf, das die betroffenen Seeleute selbst zu Wort kommen (VfS

.. Den Bearbeitern wurde folgendes empfohlen: "Der Ausschuß des Vereins giebt dabei den zur Mitarbeit aufgeforderten Herren ganz anheim, die Schilderung ober ganze Gegenden zu erstrecken oder auf einzelne Dörfer, die als typisch gelten können, zu beschrAnken; auch muß er es den Herren Autoren Oberlassen, wie weit sie die Darstellung auf eine allgemeine Charak:terisierung von Land und Leuten, auf eine Beschreibung des ganzen landwirtschaftlichen Betriebs, der etwaigen Nebengewerbe, der ganzen moralischen und sonstigen Lebensfllhrung und Haltung der Betreffenden ausdehnen wollen. Auch die folgenden Fragen stelh er an die Herren Mitarbeiter nicht in dem Sinne, daß er erwartete, sie blinden sich streng an ihre Reihenfolge und an die Beantwortung jeder einzelnen." (VfS Bd. 22 1883: 0) 4% Zu Weiterentwicklung von Soziographie als empirischer Soziologie, welche versucht ein quantitatives und qualitatives Vorgehen zu integrieren vgl. Bellebaum (1966, 1976); Gorges (1980: 381); Kern (1982: 63ft); Lazarsfeld (1960: XXVII); Uterrnann (1969); Zeisel (1960b).

4l In einer Vorbemerkung differenziert er die verschiedenen benutzten Quellen: "(A) = Amtliche Mitteilungen, (U) = Mitteilungen und Urteile der Unternehmer, (M) = ebensolche der Kapitline u.s.w., (S) = ebensolche anderer sachverstlindiger Personen, S-V = Seemannsverband filr Deutschland, FRL = ausgefiIllte Fragebogen der Mitgliedschaft Flensburg des S-V., FRC = ebensolche der Zentrale der S-V., (CO) = AuszOge aus Briefen von Mitgliedern des S-V., 8-0 = Seemannsordnung, Z.S. = Zeitschrift "Der Seemann", UVV = Unfallversicherungsvorschriften." (VfS Bd. 104, I 1903: SB)

42

2. Problem genese der Artefaktforschung

Bd. 104, 1 1903: 515), wenn auch "nur" in Stichproben, nimmt aber deren Meinung, genau wie die der Unternehmer, nicht für die Wahrheit, sondern erst für belegt, wenn eine Bestätigung von Seiten Dritter oder wenn eine "indirekte Bestätigung" (517) von z.B. in der Tendenz unterschiedlichen Zeitungen vorliegt (ebd.). Ergänzt wird seine Kenntnis von den seemännischen Vorgängen durch Einsicht in die Korrespondenz des Seemannsverbandes und von diesem durchgeführte Fragebogenaktionen (518/ 519) sowie durch die Analyse von Gerichtsurteilen. Eine enorme Vervielfältigung der Empirie-Perspektiven, Ansätze zur kreuzweisen Validierung und die genaue Belegstruktur stellen bei Tönnies den Höhepunkt der monographisch-soziographischen Linie der Entwicklung der empirischen Sozialforschung vor dem ersten Weltkrieg dar. Sein Streben nach Genauigkeit ist aber zugleich getragen von seinem Wissenschaftsverständnis, das sich im Werturteilstreit an die Position der Jüngeren um Weber anschloß. Der von dieser Gruppe im Verein bestimmte Trend zur Verwissenschaftlichung orientierte sich im folgenden weg von "Qualitäten", hin zu meßbaren "Quantitäten", weil diese ihrer Absicht, Tatsachendarstellungen zu liefern, eher entgegenkamen als deskriptive Beschreibungen einer kleinen Zahl, die womöglich "nur als typisch" gedacht werden konnte. Dabei wird die sozialpolitische und aufklärerische Haltung während des Forschungsvorhabens ausgeklammert und erst für die Verwertung wieder berücksichtigt (vgl. auch Bellebaum 1966: 43 - 60). Daß die benutzte Methode der Sorgfalt und der Entwicklung gewisser Standards bedarf, ist eine Ansicht, die sich nach der Jahrhundertwende insgesamt beginnt durchzusetzen, aber die Empfehlungen zur Verbesserung sind selbst in Nachschlagewerken noch recht vage (Stieda 1909: 950-953). Jedenfalls soll das ganze mitstenographierte Urmaterial veröffentlicht werden und nicht etwa durch den "Subjektivismus" eines das Urmaterial zusammenfassenden Berichterstatters verfälscht werden, wie Cohn es bereits 1877 forderte (VfS Bd. 13: 25-27). Das erste organisierte Zusammenkommen von Statistik und Soziologie in der DGS verbleibt im Programmatischen44 • Das gemeinsame Forschungsfeld wird bestimmt als: "Die menschliche Gesellschaft und ihre Gesetze." (Zizek 1912: 4) Die jeweiligen Grenzen lägen zwischen dem Zählbaren und dem nicht Zählbaren: "Die Statistik kann dem Wesen der statistischen Methode zufolge nur zähl- oder meßbare Tatsachen erfassen, ihr Objekt ist die Feststellung des Dimensionalen in der Gesellschaft ... Die Soziologie hingegen interessiert sich auch rur viele Dinge,

... Am 17. Juni 1911 wurde in Dresden die Deutsche Statistische Gesellschaft als Sektion der DOS gegrilndet (Schriften der DOS 1913: 75, Zizek 1912: 1). FIlr vorherige Versuche einer Annlherung vgl. Zizck (1912: 13ft).

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

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die niemals unmittelbar statistisch erfaßt werden können: rur Rechtsanschauungen, Sitten und Gebräuche, Religionen und Mythen, soziale Machtverhältnisse, politische Strömungen und dergleichen mehr." (6/ 7) Auch seien " .. nicht alle statistischen Daten von soziologischer Bedeutung." (17)

Es sei aber insbesondere für die empirische Soziologie (81 9) wichtig, sich der amtlichen Statistik zu bedienen, um weg von der Introspektion und Spekulation hin zu objektiven und kontrollierbaren Ergebnissen zu gelangen (10, 24t~. Zizek sieht vier Gebiete der Statistik, aus denen sich die Soziologie soziologisch relevantes Wissen extrahieren kann (25-46): I. gesellschaftliche Strukturdaten, etwa die berufliche Gliederung; 2. Aufschluß über Konstanzl Stabilität von Entwicklungen anhand von Zahlenreihen; 3. Kausale Beziehungen, wie z.B. Zusammenhänge zwischen Sterbenshäufigkeit und Geschlecht; 4. Rassenbiologie und Rassenhygiene, z.B. Zusammenhang zwischen körperlicher Entwicklung und Intelligenz 46 • Ein Verschmelzen beider Disziplinen wehrt er ab, aber eine enge und fruchtbare Arbeitsteilung müsse angestrebt werden (461 47). Die allgemeine Methodenentwicklung und die in Ansätzen vorhandene Reflexion dieser Entwicklung führen zu bestimmten Meinungsstandards, was eine gute empirische Untersuchung sein "soll".

Der Verein und seine Mitglieder schaffen es aber nur in Ansätzen, die selbst immer wieder bekräftigten Standards und in aller Breite diskutierten Zweifel an ihrer Art, empirische Sozialforschung zu treiben, konstruktiv in geändertes Forschungsverhalten umzusetzten47 . Mit der Enquete Auslese und

., Die von Max Weber und anderen durchgefilhrte Vereins-Enquete Ober Auslese und Anpassung der Arbeiter:rchc('t der geschlossenen Großindustrie (VfS Bd. 133-1305; 1053 1910-1912; 19105; vgl. Kisler 1978b: 80-84) wird hier als Schritt in die richtige Richtung angefilhrt (Zizek 1912: 23).

46 Auch hier, genau wie bei den Antisemitismen in Vereinsgutachten (vgl. hier S. 405, Anm. SI), stockt einem der Atem, mit welcher Selbstverstlndlichkeit von Zuchtwahl, "Messung von Entartung" (Zizek 1912: 405), Selektion U.l. geredet wird .

., Bonß fllhrt die ZurQckdrAngung der monographischen Linie auch darauf zUrQck, daß ".. die AnhAnger Schmollers, die aufgrund ihrer dominierenden Stellung im Vereinsausschuß einen maßgeblichen Einfluß auf die Erhebungen hatten, (sich stets) beschrAnkten .. auf eine bloße Beschwörung der monographischen Ziele ohne nach den Mitteln zu ihrer Realisierung zu fragen."

(1982: 1305)

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2. Problem genese der Artefaktforschung

Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie 48 wird zum ersten Mal das Wissenschaftsverständnis der Jüngeren auch methodisch praktiziert. Die Ausführungen Webers lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: "Der Verein fIlr Sozialpolitik tritt mit dieser Erhebung auf den Boden der ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken dienenden Arbeiten. Den beabsichtigten Publikationen und ebenso den möglicherweise sich daran anschließenden Erörterungen liegt jegliche unmittelbar praktische "sozialpolitische" Tendenz fern: Ihr Zweck ist ein rein "sozialwissenschaftlicher"." Es handle sich ".. ausschließlich um die sachliche und objektive Feststellung von Tatsachen ... Die gegenwärtige Erhebung verfolgt also .. "theoretische" Ziele." ([1908]1988b: 2.3)

Methodisch versucht man sich an die quantifizierende experimentelle Psychologie anzuschmiegen. Wissend, daß man in der Fabrik keine Laborbedingungen hat und keine dementsprechenden Experimente machen kann, sucht man im betrieblichen Ablauf nach Möglichkeiten der Messung (18ff). durch "" die" die einzelnen Arbeiter kontrollierenden Apparate .. " (42). hierzu gehören z.B. Schützenschlagzähler in der Weberei. Damit kombiniert werden sollte dann die Befragung der Arbeiter durch die Gewerkschaften mit Hilfe eines denen mitgegebenen "halbstandardisierten" Fragebogens (vgl. Gorges 1980: 460). Die interne Entwicklung im Verein treibt diesen von reiner Gutachtenanforderung über Monographien und Enqueten über den Tönniesschen Zwitter "Soziographie" bis zu diesem ersten Versuch einer rein quantitativen Enquete. Seitdem habenA useinandersetzungen überden Zusammenhang vonM ethoden und Methodologie folgende Lastigkeit: Sachliche und objektive Forschung beruht auf der Exaktheit quantitativer. naturwissenschaftlicher Methoden und wird dann als wissenschaftlich angesehen, qualitatives Forschen und qualitative Urteile als unsachlich. tendenziös und unwissenschaftlich abqualifiziert. Genauigkeit und Fehleifreiheit wird mit der Adaption einer anti-qualitativen Haltung verknüpft. Die monographische Tradition wird hier, trotz methodischer Weiterentwicklung, von der quantifizierenden Entwicklungstendenz absorbiert, da den Aussagen über Qualitäten zu schnell der Verdacht eines Werturteils angehängt werden konnte. Neben den grundsätzlichen Überlegungen darüber. wie man es denn am besten anstellt, zu den sozialen Tatsachen vorzudringen, ergibt sich innerhalb des Vereins direkt eine Kritik an den ersten unternommenen eigenen Enqueten.

4. Weber verfaßt fOr die an dieser Enquete Arbeitenden eine Anleitung (1988b [orig. 1908]: 160; vgl. Anm. 46) und faßt die zugrundegelegten psychologischen Erkenntnisse im Archiv für Sozialwissenschqft und Sozialpolitik zusammen (1988b [orig. 1908-1909): 61-255).

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

45

2.1.1.3 Methodenkritik

An der Enquete "Der Wucher auf dem Lande" (VfS Bd. 35 1887) wurde auf der VFS-Versamrnlung von 1888 (VfS Bd. 38 1889: 79-85) eine sehr ausführliche Kritik von dem Sozial statistiker Schnapper-Amdt geübt49 • Er beklagt den Mangel an Kenntnissen über die statistische Methode, d. i. hier der Grundlagen von Massenbeobachtung und elementarer statistischer Ausdrucksweise so sowie den Mangel an Kompetenz bei den Berichterstattern, die vom Hörensagen über riesige Regionen berichten, und die nicht vorhandene Vergleichbarkeit der Berichte. Bezugsgröße, Zeit- und Ortsangaben variieren erheblich, so daß ein Eindruck über die Gesamt-Häufigkeit oder die regionale Verbreitung von Wucher nicht zu erlangen ist. Tendenzaussagen werden nicht belegt, Nachkontrollen seinerseits widerlegen Äußerungen der BearbeitersI. Für den Verein empfiehlt er folgendes Vorgehen in Bezug auf Enqueten " .. jeder Untersucher wird doch weit mehr erreichen, wenn er planmäßig eine geeignete Frage einer Anzahl geeigneter Personen vorlegt und die Antworten, welche er erhält, notiert, als wenn er auf dunkle Eindrücke .. hin sein zahlenmäßig unbestimmtes Urteil gibt." (1906 [1888]: 65)

Zur vernünftigen Analyse gehört seiner Meinung nach erstens die "formale Präzisierung des Einzelfalls" (80), d. h. ein Einzelfall muß wegen der Vergleichbarkeit als solcher durch Orts- oder Region- und Zeitangabe erkennbar

•• Ausfiihrlich erläutert er seine Kritik in seinen Aufsatz "Zur Methodologie soz ialer Enqueten" (1906 [Erstaufl.: 1888): 60-99). Kaum kommentiert wird diese Kritik vom Vereins-Chronisten Boese (1939: 57; vgl. auch Gorges 1980: 177ff; überschall 1965: 24/25,70).

'0 Unter statistischer Methode versteht er mit Meitzen ".. in planmäßiger Weise so in die Masse einzudringen, daß sich ergibt, ob und wie häufig bestimmte Dinge in derselben vorhanden sind oder in sie ein- und austreten." (1906: 64)

'I

Eine einzelne Person könne z.B. nicht den Überblick Ober eine Region wie ".. das ganze rechtsrheinische Bayern mit seinen 69 931 qkm und 356524 selbständigen Bauern haben .. " (1906: 63). Die suggerierte "Vollständigkeit" würde zwangsläufig zu Mißverständnissen fiihren. Aber selbst, wo in der Enquete nur Einzelfllle geschildert werden, blieben ihre Konturen nebulös, tendenziös und z.T. auch antisemitisch (1906: 72f, 87-89, 93f). Die Vereinsreaktionen, z.B. von Buchenberger und Thiel, auf den Vorwurf des Antisemitismus sind erschreckend halbherzig (vgl. VfS Bd. 38 1889: 43/44, 92). Schnapper-Amdt kontrolliert fiir eine Region, die er zußllig bereist, das Gesagte, weil es ihm merkwürdig vorkommt, und stellt eine fehlerhafte Berichterstattung fest (1906: 70). D.h. er hat einen Fehlervorbehalt, akzeptiert das Mitgeteilte nicht als zutreffend, ein a11efaktfonchender Impuls, wenn man so will.

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

sein (80/81). Die Präzisierung dient auch der Nachprütbarkeit, man könnte sagen "Möglichkeit zu Reanalyse"; sie ist ".. erforderlich, wenn 1) der Leser in die Lage zu einer Selbstprtlfung des Falles versetzt werden soll, oder 2) wenn er wenigstens die Überzeugung gewinnen soll, daß der Berichterstatter in der Lage war, eine solche Prtlfung vorzunehmen." (83)

Zweitens muß der ''fonnal präzisierte Einzelfall .. auf die Wahrscheinlichkeit seiner Realität hin im ganzen und im besonderen untersucht werden". (84)

Für ihn heißt das, daß" .. die soziale Forschung .. , wenn sie sich nicht selbst als Wissenschaft aufgeben will .. Quellenkritik .. " üben muß (84). Zur Genauigkeit des Urteils reicht die Beobachtung im Feld allein nicht aus, es kommt auf die Kombination verschiedener schriftlicher und mündlicher Quellen und deren Gewichtung (841 85, insb. Anm. I) und auf das präzise Fragen an (86), am besten in einem mündlichen kontradiktorischen Verfahren (86,90, dort Anm. 1). Auf den Verhandlungen des Vereins hat Schnapper-Arndt Gelegenheit, seine Kritik vorzutragen (VfS Bd. 38 1889: 79-85). Thiel, der Hauptverfasser, gesteht den nachgewiesenen Mangel an Wissenschaftlichkeit offen ein, er konstatiert, daß die genaue Anzahl der durch Wucher Geschädigten sich durch eine Vereinsenquete nicht ermitteln lasse, es dauere zu lange, benötige zuviel Personal und koste zuviel (VfS Bd. 38 1889: 45). Er rekurriert darauf, daß er die Aufgaben des Vereins an diesem Punkt auch nicht für wissenschaftliche, sondern für "praktische" (45) hält, es gebe keine Zeit dafür, auf elaborierte Zahlengenauigkeit zu warten (45/46). Dieser Zweck - Aufsehen zu erregen - sei erreicht, die wissenschaftliche Genauigkeit dem unterzuordnen; ähnlich sieht es auch Buchenberger (ebd.: 91-96; vg!. auch Gorges 1980: 182). Man nimmt die Kritik des Sozialstatistikers also wahr, erklärt sie aber für neben dem sozialpolitischen, praktischen Zweck der Enquete liegend und deshalb für vernachlässigbar. Auch noch 1892 muß Max Weber in der Vorbemerkung zu seiner Arbeit über "Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland" mit Bedauern feststellen s2 : "Es ist das wesentliche Charakteristikum dieser, wie frtlherer .. Enqueten über die Lage der Landarbeiter, daß in ihr die Angaben und Auffassungen der Arbeitgeber allein zum Ausdruck gelangen... Es darf nicht in erster Linie von ihr eine Feststellung der Lage, in welcher sich der Landarbeiter zur Zeit thatsächlich objektiv befindet, erwartet werden." (VfS Bd. 55 1892: 4)

52 Die komplexen Fragebögen des Vereins zu dieser Enquete sind abgedruckt in VfS Bd. S3 1892: XIV-XXIV. Die Fragen sind offen gestelh und zielen zum Großteil nicht auf Zahlenmaterial, sondern auf Beschreibung und graduelle Bewertung.

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

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Auch er hebt, wie Thiel, das erfaßte Typische als wesentliches Ergebnis gegenüber der statistischen Genauigkeit hervor, gibt aber zu, daß es besser wäre, demnächst genauer nach Zahlen zu fragen (767/768). Weber geht aber nicht über die Kritik hinweg, wie Thiel und Buchenberger im Jahre 1888. Er hatte im gleichen Jahr noch eine ergänzende Untersuchung im Evangelisch-sozialen Kongreß angeregt, wo als Verbesserung statt der Gutsbesitzer die evangelischen Pfarrer befragt werden 53 . Das Bewußtsein über mögliche Fehlerquellen ist bei Weber insgesamt sehr ausgeprägt. Es ist ihm klar, daß Berichterstatter Fragen mißverstehen können (VfS Bd. 55 1892: 67, 767-769) und daß Fragen Suggestivcharakter haben können (Weber 1909: 950, Anm. I). Auf der anderen Seite muß das Antwortverhalten analysiert werden, d. h. insb. muß eine " .. unvollständige oder unklare von einer wirklich indifferenten Antwort .. " unterschieden werden (954; Hinweis von Baumgarten 1964: 374). Auch die stark am naturwissenschaftlichen Ideal ausgerichtete Enquete zur Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie bleibt nicht von Kritik verschont (vgl. Gorges 1980: 472ff, überschall 1965: 130; Boese 1939: 142/143)54. Der Statistiker Bortkiewicz weist nach, daß bei dieser privatstatistischen Erhebung des Vereins die angestrebte Repräsentativität nicht gegeben ist (VfS Bd. 138 1912: 170-178). Auch sieht er die Gefahr, daß die Privatstatistik dazu

n Hier wird der Gedanke der in VfS Bd.13 (1877: 63) skizzierten Kontrolle eines "verzerrten" Befundes durch ergInzenden DrittpC111eien systematisch aufgenommen. Ein neuentworfener Fragebogen wird an alle evangelischen Geistlichen des deutschen Reiches (ca. 15000; Rllcklauf nur etwa 1000) zusammen mit einer Intervieweranleitung verschickt, welche die Fehler, die durch unterschiedliche Frageinterpretationen der Berichterstatter entstehen, "kontrollieren" soll (vgl. Baumgarten 1964: 360ff; Kisier 1978b: 76ff). Weber versucht auch, Datenmaterial, welches außerhalb des Vereins von Außenseitern der Forschung angesammelt wird, in die Verwertung mit einzubeziehen, z.B. Levensteins Fragebogenergebnisse (vgl. Weber 1909). Er verkörpert mit seinen empirischen Versuchen die "Ambivalenz" zwischen dem Vorwlrtstreiben der quantitativen, exakten naturwissenschaftlichen Methode, in der EnquSte '~uslese und Anpassung ... " und dem Wissen um die Besonderheit des sozialwissenschaftlichen Forschens, welches ohne qualitative Elemente, ohne Verstehen nicht auskommt; z.B.: "lmmer muß vielmehr das "Verstehen" des Zusammenhangs noch mit den sonst gewöhnlichen Methoden kausaler Zurechnung, soweit möglich, kontrolliert werden, ehe eine noch so evidente Deutung zur gllltigen "verstAndlichen ErldArung" wird." ([I913b] 1988a: 428; Lazarsfeld 1960: XII) sc Herkner geht bereits in seinen Referat darauf ein (VfS Bd. 138 1912: 120f). Als eingestandenes Manko sieht er, daß der Fragebogen, anders als vom Verein vorgesehen, nicht von den Berichterstattern ausgefilllt, sondern an die Arbeiter weitergegeben wurde (Gorges 1980: 471).

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2. Problemgenese der Artefaktforschung " .. verleitet wird, mit zum Gegenstande der Untersuchung solche Dinge zu machen, die statistisch schlechterdings nicht erfaßbar sind .. "(169) und daß sie " .. die Neigung hat, die Untersuchung auf solche Punkte mit zu erstrecken, über die uns die allgemeine Statistik allein in befriedigender Weise zu informieren in der Lage ist." (170) Er empfiehlt zum Schluß, daß ".. gerade in bezug auf die Handhabung der statistischen Methode .. doch die Einhaltung eines gewissen Schemas wünschenswert .. (wäre) ... Das würde vor allem im Interesse der Vergleichbarkeit liegen." (178)

Weber reagiert sehr vorsichtig in der Bewertung des wissenschaftlichen "Erfolgs" der Enquete: "Herausgekommen .. ist bisher an endgültigen Resultaten noch gar nichts, nichts anderes wenigstens als einige Zahlen, die geeignet sind, einige Hypothesen zu stützen, andere Hypothesen neu aufzustellen, die Fragestellung zu korrigieren ... " (190 ss) Er gibt zu, daß man " .. vom streng statistischen Gesichtspunkt aus 3/4 bis 4/5, oder noch mehr der Zahlen, die da abgedruckt sind, einfach wird streichen können." (193)

Man habe keinen Übergriff auf die allgemeine Statistik vorgehabt, ".. sondern die Zahlen wurden zu dem Zweck erhoben: .. um etwaige auffallende Sondereigentümlichkeiten der Arbeiterschaft dieses konkreten Betriebes sofort hervortreten zu lassen .. " und diese dann im Betrieb zu vergleichen, also wieder das "Typische" zu erfassen (195). Recht habe Bortkiewicz, ".. mit dem Wunsche, es möge der Vergleichbarkeit der einzelnen Arbeiten halber ein Schema aufgestellt werden." (196) Genau den Punkt des Übergriffes hält Bortkiewicz aufrecht und hakt damit an entscheidender Stelle nach (197/198). Denn, Weber will zwar methodisch exakt, d.h. möglichst quantitativ arbeiten, zieht sich aber an dem Punkt, wo er mit den Exaktheitsansprüchen der Statistiker konfrontiert wird, auf den monographischen Anspruch zurück, wenn schon nicht das Vollständige - hier: das Repräsentative - zu erreichen sei, so doch zumindest das Typische. Zwar ergibt auch die konkrete methodische Kritik an Einzelprojekten und die Reflexion anband einzelner Untersuchungen noch kein systematisches Fehlersuchprogramm für die frühen empirischen Forschungsvorhaben, aber die große Bandbreite fehlerkritischer Auseinandersetzungen ist für die Zeit des Werdens empirischer Sozialforschung deutlich geworden. Die mangelnde Umsetzung der Kritik und der Fehlerhinweise in praktische Vorgehensweisen ist der Tatsache geschuldet, daß die Weiterentwicklung inner-

" FOr einen nOtzlichen Nebenerfolg hllt Weber die durch die Untersuchung bei den Unternehmern angeregte Tendenz genauere Betriebskalkulationen vorzulegen, mit denen dann wiederum die Forschung besser arbeiten könne (VfS Bd. 138 1912: 192).

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

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halb des Vereins eine theoretisch "belastete" war, insb. nach der den Verein sozialpolitisch und methodologisch polarisierenden Werturteilsdebatte, welche auch die methodische Entwicklung in eine andere Richtung trieb. Die Gleichsetzung von exakt gleich quantitativ und wissenschaftlich gleich theoretisch ist das hieraus resultierende Mißverständnis in der deutschen empirischen Sozialforschung. Nachfolgende Auseinandersetzungen um ihre Güte sind stets hiermit belastet. Alle drei hier angeführten artefaktologiseh relevanten Quellen interner Auseinandersetzungen - Kontroversen, allgemeine Methodenreflexion, M ethodenkritik an Enqueten - haben aber die Potenz zu systematisierender FehlerPerspektive. Es entwickelt sich ein Bewußtsein darüber, daß Forscher, Erforschtes und Methode Einfluß auf die Güte der Ergebnisse haben, d.h. die Ansatzpunkte fehlerkritischer Forschung sind im Kontext des Vereins da. Diese Fehler-Perspektive bleibt aber für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg nur punktuell, bezogen auf das gerade problematisierte Segment der empirischen Sozialforschung. Die verschiedenen Befunde bleiben vereinzelt und werden (noch) nicht unter kontinuierliche Forschungsbestrebungen subsumiert.

2.1.2 Frahe iuDere Ansprache an empirische Sozialforschung

Die Relevanz gesellschaftlicher Einflüsse für das Werden der empirischen Sozialforschung wird schon an dem in Europa unterschiedlich früh einsetzenden Beginn dieser Forschung deutlich. So taucht in Deutschland die Forderung nach einer empirischen Sozialforschung erst ca. 100 Jahre später auf als in England, dessen Industrialisierung, und als Folge auch die Soziale Frage, wesentlich weiter fortgeschritten war (Gorges 1980: 22f; überschall 1972: 6). Auch sind die nationalen Ausprägungen von unterschiedlicher Art: Hier die zur Kleinstaaterei passende, "Staatsmerckwürdigkeiten" sammelnde Kameralistik und dort die naturwissenschaftlich-quantitativ orientierte Politische Arithmetik (Kern 1982: 19; 67ft). Diese historische Verspätung wird auf die anders verlaufende kapitalistischer Umformung der Gesellschaft zurückgeführt: "In den Gesellschaftswissenschaften repräsentieren die politischen Arithmetiker sozusagen das historisch fortgeschrittenere und die Statistiker das eher retardierende Element der politisch-ökonomischen Obergangsperiode. Der deutsche Geist, der die Achenwall-Schlözer-Schule durchwehte, war in seiner geschichtlichen Eigenart Ausdruck der nationalen Verspätung bei der Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft." (Kern 1982: 35)

Erst die Umwandlung dieser Staatswissenschaften selbst - durch den sich Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzenden Einfluß der Queteletsehen M oral4 Hitgers

so

2. Problemgenese der Artefaktforschung

statistik - begünstigt die sozialwissenschaftliche Entkopplung des VfS vom "Volkswirtschaftlichen Kongreß"s6 (Schad 1972: 21122; vgl. hier S. 25ft). Jetzt rückten ".. Wirtschaft und Gesellschaft statt des Staates in das Blickfeld der Wissenschaften .. ", wurde die" .. Gesellschaft zum Forschungsgegenstand erhoben .. " (Schäfer 1971: 8, 13). Der Statistiker Engel weist den Weg für den Fall, daß die regelmäßigen amtlichen Erhebungen des Reiches, also die administrative Statistik, noch nicht genügend soziale Informationen für Sozialpolitik liefern.

Er empfiehlt dann " .. die Benutzung der Gelegenheit einer allgemeinen industriellen Enquete .. (als,

A.H.) .. eine unerlässliche Pflicht, denn der Regierenden und der Regierten Kenntnis von den mit der Industrie so nah verwandten socialen Verhältnissen muss noch immer als eine sehr dürftige bezeichnet werden." (1871b: 406)

Diese Aufgaben könnten von Seiten des Staates auch übertragen werden s7 . Die im vorhergehenden Kapitel analysierten internen A useinandersetzungsebenen werden stark kodeterminiert von diesen allgemeinen gesellschaftlichen Anforderungen an die "neue Art" Wissenschaft s8 . Der externe Anstoß der Industrialisierung und die Soziale Frage sind entscheidend für die Motivation, sich überhaupt der Gesellschaft als Analyseobjekt zuzuwenden (vgl. 2.1.2.1), für die sozialpolitische Haltung verschiedener Gruppen im Verein und auch für die relevanten Themen und gewählten Methoden der an der frühen empirischen Sozialforschung Beteiligten (vgl. 2.1.2.2). Die Unterschiede zur Sozialpolitik las-

.. Diese Umwandlung schaßt auch die materiellen Voraussetzungen filr die Arbeit des VfS, die sehr stark von der S ekundärananlpe bevölkerungs-, arbeits- und sozialstatischen Materials lebte. Anders als die Vertreter der t!Jlteren historischen Schule waren die Vertreter der jüngeren historischen Schule " .. von der Nicht-Hinwegdenkbarkeit der Statistik überzeugt .. " (Honigsheim 19059: 7) Brentano war, wie Tönnies, SchUler am statistischen Seminar Engels in Berlin (Schäfer 1971: 1405ISS). Der Methodenstreit impliziert auch unterschiedliche Vorstellungen von praktisch-ethischer Wissenschaft im Volkwirtschaftlichen Kongreß und im Verein. So kam es 1879, nach einer kurzen Phase der Zusammenarbeit, an der Frage der sozialpolitischen Haltung des Vereins in Bezug auf die sog. "Schutzzollpolitik" zur Aufkündigung dieser Zusammenarbeit von Seiten des Kongresses, der fast zur Spaltung oder Aufgabe des gesamten Vereinsprojektes gefilhrt hitte (vgl. Boese 1939: 20542, Kesten-Conrad 1911). " Davon profitierten nicht nur die statistischen Bureaus, sondern eben auch der Verein, dessen Publikationen und Erhebungen direkt von der deutschen oder österreichischen Regierung fmanziell unterstützt wurden (Kesten-Conrad 1911: 148; Plessen 19705: 49). >I Für die Analyse dieser externen Bestimmungsursachen der empirischen Sozialforschung in dieser FrUhphase liegen die gründlichen Arbeiten von Schäfer (1971) und Gorges (1980) vor. Hier soll der fehlerkritische Aspekt dieser Faktoren herausgearbeitet werden.

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

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sen sich an konservativen, staatssozialistischen und liberalen Haltungen verdeutlichen59, wobei die Konservativen ".. als Ziel der Sozialreform die Vereinheitlichung der Gesellschaft in Gesittung und Gesinnung anstrebten, folgerichtig in der Staatsgewalt .. das hervorragende Instrument ihrer Sozialpolitik sahen, während den liberalen Sozialpolitikern das Ziel der wirtschaftlichen und sittlichen Vervollkommnung jedes Einzelnen vornehmlich auf dem Wege der Selbsttätigkeit erreichbar schien." (Linden laub 1967: 90) Die Haltung des Vereins, welche in der Art und Weise seiner empirischen Sozialforschung zu erkennen war, bleibt nicht von politischer Kritik verschont (2.1.2.3).

2.1.2.1 Allgemeine gesellschaftspolitische Motivation Schon im zweiten Band seiner Publikationen fordert der Verein von einer Reichskommission auszuführende Enqueten zur Fabrikgesetzgebung, um den folgenden " .. gerechten Anspruch zu befriedigen: Wir in Deutschland kennen nicht die wirkliche Lage unserer arbeitenden Klasse; das Reich ist schuldig, daß es dem Deutschen Volke endlich sage, wie die Lage seiner Arbeiter ist." (VfS Bd. 2 1873: 15~ Stieda fordert in dem programmatischen Bd. 13 Enqueten als ".. Verfahren zur Ermittlung "der socialen Zustände um uns"." (VfS Bd. 13 1877: 29)

Die Notwendigkeit der Ennittlung der sozialen Verhältnisse ist akzeptierte Basis, aber das "Wie" gestaltet sich problematisch, und das "w ozu" ist hochgradig umstritten. Zur Feststellung der Lage gehörte bei den Interventionen befürwortenden Vereinsmitgliedern unbedingt die Empfehlung zur Verbesserung von Mißständen. So äußert z.B. Schmoller in seiner Eröffnungsrede aus Anlaß der VfSGründung am 6. Oktober 1872 in Eisenach die" .. Hoffnung, hier eine Basis zu finden für die Reform unserer sozialen Verhältnisse .. ", nur durch die Schaffung einer "praktischen Organisation" ".. konnte man hoffen, eindringlicher auf

" Sozial-konservative und staatssozialistische Gruppierungen gingen oft gegen die liberalen Mitglieder konform, wenn es um die allgemeine Betonung der interventionistischen Rolle des Staates ging, aber auch filhrende liberale Köpfe im Verein waren an einzelnen Punkten, z.B. Brentano in puncto "Arbeitsvertrag", durchaus fnr Interventionen des Staates (vgl. Lindenlaub 1967: 84-95, Plessen 1975: 19-39, Schlfer 1971: 341-368). .. Der Impuls zu eigenen, privatstatistischen Erhebungen setzt sich erst Mitte der 1880er Jahre um, aber bereits auf der ersten Sitzung des Vereins standen die sozialpolitisch brennenden Themen "Wohnungsnot, Fabrikgesetzgebung, Arbeitseinstellung und Gewerkvereine" auf der Tagesordnung (VfS Bd. 1 1873 war mir nicht zuglnglich; vgl. aber Boese 1939: llff,305). 4"

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

die öffentliche Meinung und Gesetzgebung zu wirken." Es solle gleich ".. in mediam rem gehen .. ", dazu habe man ".. die wichtigsten im Augenblick schwebenden Reformpunkte herauszugreifen .. und zu versuchen, in ihnen zu einem praktischen Resultate zu kommen." (nach Boese 1939: 6, 7, 8) Gorges bringt es auf den Punkt: "Anlaß rur den Beginn der Sozial forschung wie auch die hieran sich knüpfenden methodischen Entwicklungen, die im Verein angestellt wurden, waren demnach praktische gesellschaftspolitische Erfordernisse." (1980: 96)

Die inhaltliche Ausgestaltung des Forschungsprozesses war stark beeinflußt von den innenpolitischen Verhältnissen und der Art, wie sich der Verein und die in ihm aktiven Gruppen zu den Verhältnissenforschungspolitisch verhielt. Ein grundlegender Zug ist zwar, daß man sich nicht direkt zur Partei in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung machen will; man orientiert sich dazu an übergeordneten, möglichst universalen Werten wie Allgemeinnutz oder nationales Interesse. Gewollt ist aber von den Vereinsvorsitzenden Gneist, Nasse und Schmoller die Mittlerrolle zwischen Ansprüchen der sozialen Bewegung und dem Staatsinteresse. Das Resultat für die Frühphase des Vereins ist eine Abgrenzung zur manchesterlich beeinflußten Nationalökonomie und eine paternalistische, distanziert fördernde Haltung zur Sozialdemokratie, die aber von dem Glauben beseelt ist, daß, wenn die erkannten Mängel beseitigt sind, die Sozialdemokratie überflüssig wird (plessen 1975: 58,59)61. Als aber die sozialpolitischen Differenzen Anfang des Jahrhunderts im Werturteilsstreit auf die methodologische Ebene diffundieren, zerbricht der Konsens über den generellen Wertehintergrund "Notwendigkeit von sozialer Reform". Es entspricht der liberalen Haltung derer, die Werturteile aus dem Forschungsprozeß ausschließen wollen, Methoden als rein wissenschaftliche zu bestimmen und damit das "Wozu" aus dem Forschungsprozeß herauszuhalten. Bei den konkreten Themen differieren die Wertbezüge der unterschiedlichen Gruppen im Verein und also folglich die empfohlenen sozialpolitischen Strategien. Wie auch bei der ersten Behandlung eines theoretischen Themas, der "Produktivität", zu sehen war, ergab sich das Dilemma, daß für die einen Produktivität idealtypisch etwas rein durch Messung und Zahlen bestimmbares ist, z.B. für Weber (VfS Bd. 132 1910: 604-607), für die anderen eine

61 Durch diese politische Zweifrontenlage wurde der Verein mal des Sozialismus' verdichtigt; von der anderen Seite dann wieder, ob der kongruenten Haltung in sozialpolitischen Fragen, als "geheime Schützlinge des Reichskanzlers" verdichtigt (Brentano, nach Plessen 1975: 83).

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

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nicht in Gänze berechenbare Qualität Volkswohlstand, deren Güte beurteilt werden muß, unter Bezug auf nicht zahlenförmige Überlegungen (Phillipovich in ebd.: 609-614, vg!. hier S. 29/30). Der Verein hat aber neben dieser allgemeinen Aufbruchsmotivation und den Presseschlachten mit manchesterlicher oder sozialdemokratischer Seite auch mit nach innen verlegten, ihn thematisch und methodisch begrenzenden Außendrücken zu tun. Diese politischen Drücke bildeten sich auch direkt in der Mitgliederstruktur ab (pIes sen 1975: 105ft).

2.1.2.2 Gruppeninteressen und Methodenauswahl

Auf den Versammlungen wurden so die sozialpolitischen Kontroversen in der Frühphase (-1879) nicht etwa stellvertretend für die gesellschaftlichen Interessengruppen geführt62 • Die in diesen Kontroversen agierenden Interessengruppen waren je nach Thema selbst in deutlicher Stärke auf den Versammlungen des Vereins vertreten. Gorges weist durch eine Teilnehmeranalyse nach, daß z.B. in der Frühphase des Vereins Anfang der 1870er Jahre der Sozialdemokratie nahestehende Gruppen und Themen dominierten. Mit zunehmender innenpolitischer Repression durch die Sozialistengesetze vom Oktober 1878 stellt sie dann aber sowohl einen Themenwandel im Verein hin zu weniger brisanten Themen, d.h. nicht mit der Sozialdemokratie und ihren Forderungen in Verbindung zu bringende, hier allgemein wirtschaftspolitische, als auch einen Wandel der Zusammensetzung der auf den Versammlungen Anwesenden fest (vg!. Boese 1939: 32; Gorges 1980: 17/18). Auf der Generalversammlung von 1879, wo es zum Schutzzollstreit kam - d.h. zum Streit darüber, ob der Staat die Bauern durch Zölle schützen, oder das Geschehen dem Markt überlassen soll - dominierten z.B. anders als auf den früheren Verhandlungen "Fabrikbesitzer und Kaufleute" (Gorges 1980: 67). Plessen und Lindenlaub konstatieren, daß sich mit der Entscheidung für den Schutzzoll zwar für die folgenden drei Jahrzehnte bis zur Mannheimer Generalversammlung von 1905 die sozialkonservative Gruppe, also die Interventionen befürwortende, im Verein durchsetzt (plessen 1975: 44f; 81182; Lindenlaub 1967: 153t). Aber dem Verein war nach dieser Auseindersetzung ".. die politische Spitze gebrochen .. ", da

n Ich beziehe mich in der Phasierung auf die Einteilung von Gorges 1980: 1. 1872-1879; 2. 1880-1888; 3. 1889-1894; 4. 1895-1900; 5. 1901-1905; 6. 1906-1914.

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

er sich im folgenden sozialpolitisch zurückhielt und seine Satzung dementsprechend umgestaltete (plessen 1975: 107t3 • Die empirische Sozialforschung im Vereins diente nicht rein wissenschaftlichem Interesse. Die Entwicklung der und die Kritik an den Methoden ist nicht zu lösen von den mit ihnen verfolgten sozialpolitischen Absichten. Das Ziel war politische Innovation, praktische Sozialpolitik; dem hatte die Methode zu dienen. In der ersten Phase der Arbeit (-1879) begreift man die Enquete-Metho-

de noch nicht als eigenes Forschungsmittel, man forderte und erstellte Gutachten, auch darüber, wie denn Enqueten anzustellen seien (Gorges 1980: 95t). Das Ergebnis dieser Nachfrage, der Band 13 der Vereinsschriften (1877), stellt eine Umschau über das bisher, auch europaweit, mit Enqueten, Erreichte dar und gibt Fingerzeige, in welche Richtung der Verein dieses Mittel selber nutzen solle, ohne die dabei auftretenden Schwächen und Schwierigkeiten zu leugnen (vgl. die Ausführungen zum Gutachten Ludlows in Abschnitt 2.1.1, S. 37-40). Obwohl alle Gutachten des Bandes die Enqueten-Erstellung noch für eine staatliche und nicht direkt private Aufgabe halten64 , geben sie differenzierte Hinweise für die sozialpolitische und gleichzeitig sozialwissenschaftliche Relevanz dieses Forschungsmittels. Im Zentrum der Erörterungen steht die Frage nach der Art der Befragung; ob sie zentral oder dezentral organisiert sein solle (Embden 1877: 6,8); mit oder ohne streng vorgegebene Fragen; halb-standardisiert oder nur mit Leitfaden (Embden 1877: 4/5, 7, Stieda 1877: 36-39); vollständige Erhebung oder Diskussion des Relevanten, Typischen (Emden 1877: 6); vor Ort, mündlich, direkt, vis-a-vis den Betroffenen oder schriftlich über

03 Dieser Schutzzolls1reit ist der sozialpolitische Vorläufer des von Max Weber und anderen "Jungen" der Schule der jOngeren historischen Nationalökonomie initiierten WeTturleiustreits.

Nach dem Streit beziehen sich die Vereinsmitglieder bereits auf die splteren Streitlinien, der damalige Vorsitzende Nasse beruft sich z.B. in einem Brief auf " .. das Renommee der Interesselosigkeit .. ", welches der Verein habe (Boese 1939: 35). Nach der Kampfabstimmung im Verein (39ft), sieht der damalige stellv. Vorsitzende v. Roggenbach große Schwierigkeiten bei der " .. Umbildung in einen wissenschaftliche Gesellschaft .. " (42). Um die Wogen zu glAtten, wird fIlr die nlchste AIbeitsphase ein agrarpolitisches Thema avisiert, d.i. ".. die Flucht auf ein sozusagen neutrales Gebiet .. , das weder mit der Zollpolitik etwas zu tun hatte noch auch die Gefahren des Sozialistengesetzes heraufbeschwor." (44) Dazu kommt es 1882 zu einer SatzungslInderung, dergestalt, daß nun am Ende der Sitzung nicht mehr ober Schlußthesen abgestimmt wird (44). Ähnliche Auseinandersetzungen, bei denen immer die Frage der Parteilichkeit eine Rolle spielt, ergaben sich aufsplteren Vereinsversanunlungen in Wien und Köln zur Frage der "Bauern-erhaltung" (VfS Bd. 61 1895; Boese 1939: 74) und aus der Hahung zu den Gewerkschaften (VfS Bd. 76 1898; Boese 1939: 83/ 84). 1907 wird nach einer weiteren Auseinandersetzung auch das Schlußresumee des Vorsitzenden gestrichen. '" Eine Ausnahme macht Embden, er hlllt auch" .. private, lediglich wissenschaftlichen Zwecken dienende .. Enqueten filr .. möglich." (VfS Bd. 13 1877: 2)

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

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Mittelspersonen des Beamtenapparates (Embden 1877: 6/ 7, Cohn 1877, 21-23, Stieda 1877: 34,43,44); Einzel- oder Gruppenbefragung (Embden 1877: 8); unter Ausschluß der oder mit Öffentlichkeit (Embden 1877: 6, Cohn 1877: 18); Veröffentlichung des gesamten Roh-Erörterungsmaterials oder Bericht in verarbeiteter Form (Cohn 1877: 25-27). Die Art der Befragung hänge von dem Ziel, dem "w ozu" der Enquete ab. Ginge es darum, ein möglichst vollständiges Bild von Art und Umfang eines nur mangelhaft bekannten Sachverhalts zu erhalten, so sei die dezentrale, staatlich gelenkte, schriftliche, indirekte, vorstrukturierte Befragung zu bevorzugen, das nennt Embden "unvollständige Enquete" (1877: 2, 13). Gehe es allerdings darum, erst aus den Zeugenvemehmungen das zu erfahren, was der Kern des Mißstands ist und wie er zu beschreiben und zu gewichten ist, er nennt das auch ".. dialektische Austragung .. " (15), bei der die Forscher ".. fragend das Fragen immer besser lernen .. " (3), so sei die Einrichtung einer besonderen, von Ort zu Ort ziehenden zentralen Commission sinnvoll, und auf eine vorherige Strukturierung der Fragen könne verzichtet werden, das nennt er "vollständige Enquete" (2). Erstere sei eine ".. Anhäufung von Erkenntnißmitteln, aber kein Weg, unmittelbar aus denselben Erkenntniß zu schöpfen." (6) Besser sei es, im mündlichen Verfahren durch die ".. Gegenwärtigen65 Thatsachen, welche Prämissen zu Schlußfolgerungen zu bilden bestimmt sind, vorgebracht und aufgefaßt und dann die Schlüsse aus den Prämissen discutiert und ihre Zulässigkeit durch Debatte festgestellt wird." (6) Beide Verfahrensweisen hätten ein unterschiedliches politisches Pendant, ersteres den Beamtenstaat, letzteres den die Bürger beteiligenden Parlamentarismus (11, 12), wobei, laut Stieda, die Möglichkeit zu hochwertigen Erhebungen eng von der "politischen Freiheit" im Land abhänge (32). Auch Cohn und Stieda beziehen sich positiv auf das öffentliche, mündliche Enquete-Verfahren der englischen Kommissionen, auch zur Kontrolle von bereits schriftlich erfolgten Auskünften (1877: 32; 1877: 18-23). Obwohl man als Verein mit diesem Band programmatisch die vollständig organisierte Enquete gegenüber der unvollständig organisierten Enquete präferierte, wendet man bei den ersten eigenen, privaten Enqueten Aspekte der als unvollständig gekennzeichneten an: schriftliche, indirekte, nicht-öffentliche Befragung. Obwohl man das Typische, Eklatante, Mißliche herauszukristallisieren gedenkt, strebt man gleichzeitig nach einer Art statistischer Quasi-Vollständigkeit, indem man z.B. möglichst in allen Regionen nachfragt und die Berichterstatter sich als Kenner eines ganzen Gebietes verstehen (vgl. Kesten-Conrad 1911: 146 und die Kritik Schnapper-Amdts in Abschnitt 2.1.1, hier s. 45/46).

" Mit den "Gegenwärtigen" sind hier die bei der Erörterung Anwesenden gemeint.

2. Problemgenese der Artefaktforschung

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Durch diese Wahl entsteht ein Kardinalproblem für die Treffgenauigkeit der Forschung: "Man erwartete von den Befragten Begrtlndungen, Erklärungen, Urteile, sodaß der Wahrheitsgehalt der Protokolle von der Auswahl der Befragten abhing. Da man nur dem Gebildeten Einsicht und Urteilsvermögen zusprach, kam in den meisten Enqueten schichtenspezifisches Darurhalten, unter Umständen auch der reine Interessenstandpunkt zur Sprache. Da die Formulierung der Fragen völlig dem Befrager Oberlassen wurde, kam ein weiteres subjektives Moment hinzu, das naturgemäß nicht kontrolliert werden konnte." (Schäfer 1971: 199)

Gorges führt das Handeln gegen die eigene postulierte Wissenschaftsauffassung auf die Mittelknappheit des Vereins zurück, aber auch darauf, daß es in der Zeit der Sozialistengesetze nicht möglich war, öffentlich kontrovers über soziale Themen zu reden (1980: 184)66. Mit seinen ersten Enqueten in den 1880er Jahren wählte der Verein nicht das zu seinen sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Ambitionen passende Enqueteverfahren. Er hätte das kontradiktorische, öffentliche, mündliche, die Betroffenen einbeziehende Verfahren wählen müssen. Aus materiellen Gründen und aus politischer Vorsicht heraus benutzte man das Enqueteverfahren als privater Verein in Anlehnung an die von Embden als "administrativ" gekennzeichneten Variante (VfS Bd. 13 1877: 7. Es entstand so ein politisch-methodisches Spannungsverhältnis dadurch, daß man nicht die direkt Betroffenen, etwa die Landarbeiter, befragt hatte, sondern indirekt über sie deren Arbeitgeber, die Landwirte und Gutsbesitzer. Auch wenn man zunächst die Frageform recht offen hielt, ging der Trend, mit einer kurzen Unterbrechung zwischen 1889-1894, auch, was die Fragebogenausgestaltung anging, weiter in Richtung administratives Verfahren, es ging weniger um das "das Fragen lernen", als um das Abfragen von Personen, die man von vorneherein als kenntnisreich schätzte, die Fragen selbst wurden immer weniger offen gestellt.

5t

.. Aber auch ohne diese gesetzliche Einschränkung durch das die Sozialdemokratie betreffende Gesetz war die Auskunftsfreudigkeit der Betroffenen nicht automatisch gesichert. Engel ftlhrt als einen offensichtlichen Grund ftlr den mangelnden Rücklauf eines Arbeitnehmer-Fragebogens des amerikanischeen "Bureaus of Statistics of Labour" z.B. an: ".. seitens der Arbeitnehmer unterließ man die Beantwortung, weil diesselben die Entlassung aus der Arbeit ftlrchteten." (1871b: 40.5) 67 Plessen wirft ihnen vor, daß ".. ihre theoretischen Reflexionen nur bis zur Symptomkritik gingen .. " und: "Die Art und Weise, wie sie die soziale Frage betrachteten, verschloß ihnen den Blick nicht ftlr die soziale, wohl aber ftlr die politische Realität." (Plessen 197.5: 122)

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

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2.1.2.3 Politische Kritik

Mit dem programmatischen VfS Band. 13 schließt sich der Verein explizit an die Absichten der englischen Sozialreform-Bewegung an (Kern 1982: 67, 88)68. Durch die Vermischung von Forschung und Verbesserungsvorschlägen für die soziale Praxis wird, bis zur Abschaffung der Schlußresolutionen, direkt und erfolgreich Politik betrieben, z.B. durch Petitions-Eingaben (Kesten-Conrad 1911: 148). Der Druck der Bewegung - aus Gewerkschaft und Sozialdemokratie - erfolgt zum einen allgemein, d.h. über die Presse. Aber auch im Verein greifen Sozialdemokraten, nach Aufhebung der Sozialistengesetze, wieder verstärkt die Ausgestaltung der Vereinsenqueten direkt an, beklagen diefalsche Parteilichkeit zugunsten der Arbeitgeber, haben Mißtrauen gegenüber der Verwendung des Wissens, und die Reformvorschläge des Vereins gehen ihnen nicht weit genug (Boese 1939: 67/68, 72, 84; Gorges 1980: 189-208)69. So beklagt sich der Sozialdemokrat Quarck, daß anläßlich der Landarbeiterenquete des Vereins ".. so gut wie nichts gesprochen worden (ist) von den internen Eigenthümlichkeiten der Landarbeiterverhältnisse .. ", was ihn auch nicht wundert, da nur die Arbeitgeber zu Auskünften herangezogen wurden (VfS Bd. 58 1893: 88, vgl. auch Schoenlank ebd.: 11lf)70. Er hält es, anders als verschiedene Vereinsmitglieder, für möglich, diese direkt zu befragen, ihr Miß-

61 Der Aufbruch zur empirischen Sozialforschung als vorbereitendes Mittel der Sozialpolitik ist in England und in Amerika mit starken allgemein humanitlren (Fabian Societies) oder religiösen Bewegungen verbunden. Auch die betonte Abgrenzung zu sozialrevolutionAren Bewegungen ist ein gemeinsames Aufbruchsmoment (vgl. auch Cullen 1975; Faris 1967; Young 1949).

•• Das politische Mißtrauen gegen den Verein erschwert auch die empirische Sozialforschung; so gibt es Warnungen der HandwerkerverbInde an ihre Mitglieder, dem Verein nichts mehr mitzuteilen (Gorges 1980: 303; Brentano 1914: 801 81). Die aktive politische Parteinahme, die gefordert wird, hat aber durchaus konkrete Forschungsabsichten befllrdert und auch, was Genauigkeit und TrennschArfe angeht, durchaus zu adäquateren Fragestel1ungen gefllhrt. So berichtet Hilde Weiss 1936 von dem Versuch Marxens (1880) Ober eine französische Zeitung eine ausschließliche Arbeiterbefragung vorzunehmen. Sein Ziel ist weitgesteckt: .... nicht nur die Sammlung von Fakten; die Arbeiterklasse sol1 aus dem Begreifen ihrer Arbeits- und Lebensverblltnisse Kraft und Wissen zur Lösung der Aufgaben schöpfen, die zu ihrer Emanzipation fIlhren." (Weiss 1936: 771 78) Neben der explizit parteilichen Zielsetzung stel1t dieser Versuch die "Abkehr von der reinen Expertenbefragung" (Schnelll Hilll Esser 1988: 15) dar und zieht, anders als die frilhen englischen und französischen Enqueten erstmals die Höhe des Arbeiterlohns als erfragenswerte Ursache des Arbeiterelends in Betracht (vgl. auch SchnelllHilll Esser 1988: 9,10,14; Weiß 1936: 91-98; Kern 1982: 82/83). 70 Er empfiehlt zum Titel der Publikation - Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, dargestellt auf Grund der vom Verein /Ur Socialpolitik veranstalteten Erhebungen - den Zusatz .... geschildert aufgrund der Unternehmeraussagen" (VfS Bd. 58 1893: 90).

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2. Problemgenese der Artcfaktforschung

trauen zu überwinden (127) und empfiehlt dazu, die Studierenden loszuschikken (89). Kaerger und Sombart wehren Quarcks Vorwürfe ab (95f, 99t). Weber bedauert zwar die Einseitigkeit der Befragung und kündigt notwendige weitere Forschung an, hält es aber ".. für zulässig, daß zunächst diese eine Seite der Sache publiziert wird .. ", schon allein um daraus weitere Fragen zu gewinnen (130, vgl. auch 215t). Die direkte politische Kritik in der dritten Phase weist den Verein auf die fehlerverursachende Diskrepanz zwischen seinem sozialpolitischen Aufbruch und seinen zur Erkenntnisfindung benutzten Methoden hin, genauer auf die zwar programmatisch befürwortete, aber nicht benutzte parlamentarische, vollständige Enquete-Form. Auch wenn man sich als nicht-parteilich verstehe, müsse die Methode doch zumindest die Anhörung der divergierenden Interessen ermöglichen.

Die ständige Vermengung der methodologischen Auseinandersetzung mit den politischen Hintergrundkonstanten - konservative und staatssozialistische Gruppen versus liberale Gruppen - wird konstituierend für die weitere Entwicklung: "Auf beiden Seiten hat man nun versucht, mit wissenschaftslogischen Argumenten den eigenen politischen Standpunkt zu rechtfertigen, den gegnerischen zu erledigen.'r11 Und weiter: "Dies hat dazu beigetragen, den Werturtcilsstreit als historische Erscheinung wie als systematisches Problem gehörig zu verwirren." (Lindenlaub 1967: 438; Plessen 1975: 126; Kern 1982: 95-102)

Denn beide Seiten wollten ja im Verein durchaus über Politisches reden, aber es ".. stand im Zentrum der Diskussion keine konkrete Einzelfrage von wirtschafts- und sozialpolitischer Bedeutung, .. sondern eine rein theoretische Frage: die adäquate Bearbeitungjedes "sozialökonomischen" Problems in einer

71 FQr Ferner ist die dahinterliegende Bedeutung, daß die .... gesellschaftlich integrierende Funktion der Sozialwissenschaften zur Rede .... stand (1959: 26). Also die Frage, ob sie eine gesellschaftlich gestaltende Rolle (mit-)spick oder eine kommentierende.

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

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Haltung ethisch-neutraler Distanz .. " (Ferber 1959: 29~ vgl. auch Lindenlaub 1967: 440, insb. Anm. 25 und hier in Abschn. 2.1.1, S. 27-34)72. Nach der JahrhWldertwende wurde der schwelende sozialpolitische Konflikt von den Jüngeren des Vereins in einem zweiten Anlauf, nach 1879, endgültig transformiert in einen methodologischen Konflikt, den Werturteilsstreit. Sie versuchten di~ Lösung der nicht zu einem Konsens zu bringenden sozialpolitischen Auseinandersetzungen im Verein in der Verlagerung auf eine andere Ebene. Keine Werturteile mehr, kein Entscheidungsbedarf und Bekenntniszwang mehr, übrig bleibt die möglichst in Zahlen faßbare, die Entscheidung vorbereitende Faktensammlung und Aufbereitung. Aus dieser Perspektive geraten die vorherige MethodenentwicklWlg Wld das sich auch in der politischen Kritik zeigende, bereits entwickelte Fehlerbewußtsein in eine zweitrangige Position. War es in der sozialstatistischen Kritik an den monographisch-qualitativen und auch an den quantitativ orientierten Enqueten die fehlende statistische Präzision, welche beklagt wurde, so wird nun von außerhalb, aber auch innerhalb des Vereins an der quantitativen Enquete die/ehlende Zwecksetzung beklagt (Gorges 1980: 470t). Weber zieht sich auf den Standpunkt der "Neutralität" und allseitigen Verwertbarkeit der Methode zurück, wobei er darauf abhebt, daß der eingestandene Bezug des ursprünglichen ForschWlgsinteresses auf die "Wertbeziehung" , welche ein Problem erst zum sozialwissenschaftlich relevanten und interessanten macht, nur für die Entdeckung des Themas gilt (Weber [1904] 1988a: ISS, 170-173~ Weber [1908] 1988b: 213; vgl. auch Ferber 1959: 32-35; Gorges 1980: 476)73. Zwar kommt mit der jüngeren historischen Schule, den Sozialstatistikern und verschiedenen Praktikern eine "konstruktive" Mischung für den Beginn der

72 Anders als zu GrOndungszeitcn des Vereins verlnderte sich auch die RoUe der Sozialdemokratie, sie hatte steigende Wahlergebnisse, die russische Revolution war "erfolgreich". Die anfangs patemalistische Haltung gegenilber der Sozialdemokratie wandeh sich in eine zunehmende Distanz, man wolke sich nicht dem Verdacht der Politisierung des Vereins durch die Soziale Frage aussetzen, auch diese verAnderte geseUschaftliche Lage löste die Tendenz zur neutralen Verw issenschc(tlichung aus (Plessen 1975: 60).

Gorges fIlhrt diese Tendenz im " .. Gegensatz zu den frilheren Phasen reaktionlrer Innenpolitik .. ", wo " .. die vorwiegende Ausrichtung der Vereinsarbeiten auf wissenschaftliche Zielsetzungen den Eindruck vermitteke, eine Schutzreaktion gegenilber politischen Angriffen zu sein, .. (nun auf, m.H) die .. wissenschaftlichen Entwicklung selbst .. " zurilck (1980: 384). Aber die wissenschc(tliche Auseinandenetzung hatte bereits ihren Charakter verändel1, dadurch, d~ die sozialpolitischen Auseindenetzungen als methodologisch verbrämte gefühl1 wurden. 73 Filr Ferner ist hier der Anknilpfungspunkt zum Positivismusstreit, er nennt die Tendenz " .. "Evasion" (Flucht, AH.) in die Objektivität der Methoden .. ", die so nicht gegeben sei, da die W el1beziehung auch für Methoden, also auch für den Fonchungsprozeß gilt (Ferner 1959: 34).

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2. Problem genese der Artefaktforschung

empirischen Sozialforschung im Verein für Sozialpolitik zusammen. Der sozialpolitische Aufbruch der VereinsgrQnder hin zur eigenen empirischen Erforschung der sozialen Wirklichkeit ist programmatisch weit angelegt. Der auf den Verein wirkende" Außendruck" durch innenpolitisch repressive Maßnahmen und die Kritik der sozialen Bewegung wie die des wissenschaftlich etablierten Volkswirtschaftlichen Kongresses führen aber in der Reaktion zu einer Eingrenzung der Methodenentwicklung, verstärkt durch den polarisierenden Werturteilsstreit. Die kaum aufgenommene politische Kritik verweist demgegenüber auf die Nicht-Einlösung der programmatischen Breite, auf durch die ersten Enqueten produzierte Einseitigkeiten, und damit eine Färbung, einen bias der Ergebnisse. Sie drängt auf eine Präzisierung des Verfahrens der parlamentarischen Enquete und klagt einen multiperspektivischen Forschungsansatz ein. Die Quantifizierung als Ausweg aus dem Werturteils streit und der politischen Brisanz des empirischen Forschens kappt andere durchaus angelegte und mögliche methodische Entwicklungen und läßt die Frage nach der Interpretation der und die Verantwortung für die Ergebnisse und ihre Verwendung von forscherischer Seite unbearbeitet.

2.1.3 Das Fehlerbewu8tsein im "Verein fDr Sozialpolitik" als Vorllufer eines Begriffs von Forschungs-Artefakten

Eine Verwendung des Wortes "Artefakt" als Bezeichnung eines Fehlers bei empirischer Sozialforschung läßt sich für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg nicht nachweisen. Artefakt als Begriff taucht im Zusammenhang mit der Archäologie als Gegenbegriff zu natürlichen Dingen auf, dort bezeichnet er ein "künstliches Erzeugnis", ein vom Menschen geschaffenes, künstliches Ding, z.B. ein Werkzeug oder Gefäß (vgl. z.B. Brockhaus Konversationslexikon 1894: 944). So kann man für diese Zeit auch nur von rudimentär entwickeltem Fehlerbewußtsein mit artefakterkennender Bedeutung reden, dessen konstitutive Aspekte aber bereits in den Diskussionen des Vereins für Sozialpolitik, d.h. also innerhalb der Vorläuferformen der empirischen Sozialforschung deutlich wurden, als: (a) allgemeines sozialwissenschaftliches Fehlerbewußtsein (b) (sozial-)statistisches Fehlerbewußtsein (c) (sozial-)politisches Fehlerbewußtsein

Allgemeine Methodenreflexion, statistische und politische Kritik im Verein knüpfen in verschiedenen Schaffensphasen des Vereins an die programmati-

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

61

schen Äußerungen über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten empirischer Sozialforschung im 1877 erschienenen VfS Bd. 13 an. In der monographisch-qualitativen Frühphase setzte man sich programmatisch von bestehenden Herangehensweisen z.B in der Nationalökonomie und der Bevölkerungsstatistik ab. Nicht der empirisch festgestellte Durchschnitt oder die Massenbeobachtung stand im Zentrum des Interesses, sondern der typisch-individuelle soziale Ausschnitt, die interessierende soziale Gruppe. So bezeichnet z.B. Stieda die Verwendung ".. eines einheitlich festgestellten Formulars .. " in Deutschland bei amtlichen Enqueten als das ".. dürre allumfassende Gerippe .. ", das blaß bleibt gegenüber" .. dem gesunden Menschenverstande." (VfS Bd. 13 1877: 19) Demgegenüber favorisierte man das mündliche, kontradiktorische Verfahren. Man hatte die allgemeine Vorstellung, daß im damaligen Wissenschaftsraum durch empirische Sozialwissenschaft eine Lücke geschlossen werden kann, ein bisher unvollständiges und damit falsches Bild von gesellschaftlicher Realität korrigiert werden kann. Das diese empirische Sozialwissenschaft vor speziellen Problemen steht, wird früh formuliert. In dem Bd. 13 der Vereinspublikationen hatte Ludlow bereits ein genaue Analyse dazu vorgelegt, daß die gesells~haftliche Nähe, die er als Forscher zu der Fabrikantenklasse besitzt, ihm nützt als forscherisches Entree. Er weiß auch, daß er beim Arbeiter ein solches Entree nicht hat. Deshalb versucht er z.B., durch Dritte (Gewerkvereinler als Interpreten) ähnlich nahe an die Welt des Arbeiters zu gelangen. Ebenso reflektiert er, das die o.g. Nähe auch ein Trugbild sein oder ausgenutzt werden kann. Ihm ist jedenfalls bewußt, daß alle an der Forschung beteiligten Personen Quellen unterschiedlicher Fehler sein können. Sein Aufsatz beweist, daß das allgemeine sozialwissenschaftliche Fehlerbewußtsein beim Ausprobieren empirischer Sozialforschung von Beginn an

ausgeprägt ist. Er beschreibt sehr genau und ausführlich, was heute in gängige Begriffe gekleidete problematische Aspekte empirischer Sozialforschung sind: Einseitigkeit der Befragten und dadurch mögliche Verzerrung (bias) der Ergebnisse einer Untersuchung, die Wichtigkeit der Umgebung der Befragten für die Fähigkeit zur Auskunft und für die Art der Auskünfte (Kontextrelevanz), die Notwendigkeit der Kombination der Befragung verschiedener "Parteien" als gegenseitige Kontrolle durch Kreuzvalidierung. Durch die parallele Befragung beider Parteien und eventueller "Dritter" und die gegenseitige Kontrolle und abschließende forscherische Gewichtung der Aussagen erhöhe sich die Genauigkeit des Erfaßten (VfS Bd. 13 1877: 60). Er stellt also erste Vorüberlegungen zu einem multi-perspektivischen Vorgehen an.

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

Die sozialstatistische Kritik an den ersten monographisch orientierten Enqueten bezog sich auf die mangelnde Verwirklichung, d.h. mangelnde Qualifikation der Berichterstatter, mangelnde Präzision von Ort und Zeit des Berichteten, unzulässige Verallgemeinerungen, Suggestivfragen, falsche Verwendung von statistischen Maßzahlen, unsystematische, nicht vergleichbare Berichte. Tönnies soziographische Versuche und die eigenen monographischen Erhebungen des Kritikers Schnapper-Arndts erreichen einen Grad an adäquater Beschreibung, der nicht von der statistischen Massenbeobachtung lebt, sondern von genauer Beschreibung einer Region, eines begrenzten Areals. Als Folge der sozialstatistischen Fehlerkritik wird von ihnen eine gründlich verbesserte Quellenkritik verknüpft mit dem aus dem allgemeinen Fehlerbewußtsein heraus entwickelten Verfahren der Kombination verschiedener Perspektiven. Diese Verbesserungen des monographischen Verfahrens bilden einen Endpunkt in der Entwicklung dieser Verfahren (Bonß 1982: 97-153, vgl. hier S. 41/ 42)7•. Der Beitrag von allgemeiner und sozialstatistischer Kritik zur Umsetzung in eigene Methoden oder Methodenverbesserung wird intern aus Gründen der Verengung der Fehlerfrage auf die Werturteilsfrage, welche extern begünstigt wird durch Phasen der Repression gegenüber "politischen" Werturteilen, im weiteren beschränkt in die Richtung des Aufbaus quantitativer, exakter, wertneutraler Forschungskonzepte. Dadurch wird aber die Offenheit der Befragungssituation, die auf wenige Fälle oder eine Region bezogene Anschaulichkeit der monographischen Linie - die ".. subjekts- und situationsbezogene Empirieherstellung .. " (Bonß 1982: 111) - zUrückgedrängt's. Die Standards der so quantitativ weiterentwickelten Vorstellung von Sozialforschung werden auch von Schmoller, den Bonß als Vater des monographischen Konzepts beschreibt (104ft), formuliert, z.B.: "Wir werden nur dann glauben, richtig und wissenschaftlich brauchbar beobachtet zu haben, wenn wir bei wiederholter Beobachtung desselben Gegenstandes, wenn

7. Weiterentwicldungen zu dieser Vorstellung von empirischer Sozialforschung fmden sich zwischen den beiden Weltkriegen in österreich, z.B. in der herausragenden Studie zu den Arbeitslosen von Marienthal und bei den stadtsoziologischen Arbeiten der Chicago-Schule (vgl. hier Abschn. 2.2.1, S. 7S-77). " Auch wenn Weber weiß, daß er kaum eine statistisch genügende Anzahl an FtJllen, soll heißen Arbeiterschicksalen so untersuchen kann ([1908] 1988b: 48/49), wie er will, so strebt er diese Art der Genauigkeit, d.h. dem Gesetz der großen Zahl entsprechen zu können und möglichst dem Labor entsprechende Versuchsbedingungen zu haben, zumindest näherungsweise an (ebd.: 32ft'; vgl. auch Bonß 1982: 87-104). In seinen Reaktionen auf die Kritik von Bortkiewisz weist er daraufhin, daß zumindest die Leistungsbeobachtungen der M. Bernays annähernd diesem Kriterium genügen müßten (VfS Bd. 138 1912: 193).

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

63

verschiedene Beobachter immer wieder dasselbe Resultat finden, wenn jeder subjektive Einfluß aus dem Ergebnis eleminiert ist." (1911: 456)

Aber trotzdem bleibt der Vorbehalt eigener sozialwissenschaftlicher Problematik: "So kommen wir zu dem Ergebnis, daß bei der unendlichen Kompliziertheit der volkswirtschaftlichen Vorgänge, bei der großen Summe mitwirkender Ursachen und Personen die entstehenden Bilder, schon weil sie auf Kondensierungs- und Ausleseprozessen beruhen, nicht leicht die Genauigkeit naturwissenschaftlicher Beobachtung erreichen können." (Schmoller 1911: 457, 467ff, hier S. 24/25)

Auch die Vertreter der Ansätze zur quantitativen Sozialforschung weisen die auch an ihnen geübte statistische Kritik z. T. mit Hinweisen auf die dennoch monographische Qualität der Erhebungen zurück (vgl. S. 46-49). Die politische Kritik außerhalb und innerhalb des Vereins akzentuiert die Versäumnisse die bei Nicht-Einlösung der allgemeinen und sozial statischen Kritik und dem fehlenden Zweckbezug entstehen: Einseitigkeit und daraus resultierende Verzerrung (hier S. 57-60). Diese Fehler-Kritik hat durch die Polarisierung des Werturteilsstreits die geringste Berücksichtigung erfahren. Im "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" resümiert Brentano 1914 alle Aspekte des bis dato entwickelten sozialwissenschaftlichen Fehlerbewußtseins, er will die" .. besonderen Schwierigkeiten .. , die sich der volkswirtschaftlichen Forschung infolge der Natur der von ihr zu beobachtenden Tatsachen entgegenstellen .. " (58) beleuchten. Als besondere Komplikation erwähnt er, daß der Forscher nicht nur selber irren kann, sondern sich zusätzlich auf andere "Beobachter" verlassen muß, nicht nur er also fehlgehen kann, sondern ihm bereits fehlerhafte Beobachtungen übermittelt werden (61). Nun folgt eine differenzierte Auflistung der Aspekte dieser "Fehlerquelle"76: Die Zeugen werten, statt zu berichten (1), berichten vom Hörensagen statt aus eigener Anschauung (2), ordnen ihre Aussagen zeitlich nicht korrekt ein (3), haben Vorurteile (4), werden durch Interessen beeinflußt (5)77, die in ihrer Information

76 Für das folgende vgl. Brentano (1914: 58-75). Die Nummerierung der Aspekte wurde übernommen. Er weist nicht aru, daß alle von ihm genannten Punkte bereits in früheren Publikationen des Vereins, im Bd. 2 1873 von Neumann (vgl. hier S. 36/37), in Bd. 13 1877 von Ludlow (vgl. hier S. 37-40) und im VfS Bd. 38 1889 von Schnapper-Amdt (vgl. hier S. 45/46), im VfS Bd. 138 1912 von Bortkiewicz (vgl. hier S. 47/48) und im VfS Bd. 58 1893 von Quarck und Schoenlank. (vgl. hier S. 57/58) in den Diskussionen auf den Vereinsversammlungen thematisiert wurden. TI Brentano hebt besonders hervor, daß diese" .. Ausagen des Interessenten .. fIlr den volkswirtschaftlichen Forscher gleichzeitig das Wichtigste und das Geßhrlichste (sind)." (1914: 67)

64

2. Problemgenese der Artefaktforschung

angegebene räumliche Bezugsgröße stimmt nicht (6)78. Darüberhinaus erwähnt er, daß es auch die Anlage einer Untersuchung sein kann, welche beabsichtigt oder unbeabsichtigt zu Einseitigkeit führen kann (7). Dem Forscher bleibt nur ".. dieses Zeugnis Anderer zu sichern, kritisch zu prüfen und daraus Schlüsse zu ziehen." (61) Hier haben wir alle Facetten des Fehlerbewußtseins versammelt: In Punkt 1 bis 6 das allgemeine Unbehagen, was die Güte der Information der Zeugen anging. Wenn diese Punkte, das forderte die sozialstatistische Kritik, z.B. nicht in der Anlage der Untersuchung (punkt 7) berücksichtigt werden, so setzen sich durch Interessengruppen induzierte Einseitigkeiten (punkt 5 und 7) durch, was die politische Kritik beklagte. Das Gegenmittel für alle diese Mißstände ist für Brentano "die Enquete" (76). Aus seiner Fehlerbeschreibung heraus nicht weiter verwunderlich, ist sein Idealtyp von Fehler-kontrollierender Enquete genau der, den Embden 1877 im Bd. 13 der VfS-Schriften als den parlamentarischen, vollständigen Typus der Enquete skizziert hat: mündliches Verfahren, pluralistische und zentralisierte Kommissionszusammensetzung; keine fixierten Fragen; Vernehmung aller Zeugenparteien; Öffentlichkeit der Vernehmungen (1914: 77/78; vgl. VfS Bd 13 1877: 2ff)79. Wie in Abschnitt 2.1.1 und 2.1.2 ausgeführt, stellten die im Verein unternommenen Enqueten aber nur zum Teil eine positive Verbesserung

71 Brentano berichtet in diesem Aufsatz - ohne das Wort zu benutzen - ober die Aufdeckung eines Datenartef'*te8 seinerseits. Er war bei einer Analyse von Musterungen darauf gekommen, daß bei der Gruppe A der Gemusterten wesentlich mehr Taugliche waren als in der Gruppe B. Die allgemeine Vermutung, daß es sich um sozial unterschiedliche Regionen mit unterschiedlicher Gesundheitssituation handelte, besWigte sich nicht, sondern, die zuerst Gemusterten der Gruppe A umfaßten die Buchstaben A-K. Von ihnen waren wesentlich mehr filr tauglich befunden wurden, als bei der Gruppe B mit den Buchstaben L-Z. Die von ihm gefundene Erldlrung: Wenn mit der ersten Gruppe der Bedarf bereits fast gedeckt ist, benötigt man aus der zweiten Gruppe weniger Taugliche (1914: 71-73).

" Brentano macht hier auch darauf aufmerksam, das manchmal amtliche, schriftliche Enqueten nicht dem Zweck der Wahrheitsfmdung, sondern der " .. Verschleierung der Wahrheit .. n dienen. Diese denunziert er als "Beruhigungsenqueten" (76). Durch Verschleppung der Berichtsveröffentlichung sei die Öffentlichkeit schon lAngst wieder bei einem anderen Thema angelangt. Obwohl er z. T. wortgleich mit Embden argumentiert, weist er auch dies nicht aus, so z.B. auf S. 77, wo er Ober den Unterschied zwischen schriftlichen und mOndlichen Verfahren reflektiert, ersteres tauge " .. wo es sich darum handelt, das ziffemmAßige Vorkommen von Erscheinungen festzustellen, die ihrer Natur nach bereits bekannt sind, also bei statistischen Erhebungen." Letzteres sei anzuwenden, wenn ".. es darauf ankommt, festzustellen, welche Erscheinungen Oberhaupt vorkommen, und in welchem ursIchlichen Zusammenhang sie zueinander stehen." (vgl. Embden in VfS Bd. 13 1877: 2/3 und hier S. 55)

2.1 Unzumedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

65

in diese Richtung dar, wurde die Entwicklung von zu diesem Idealtyp passenden Verfahren insbesondere durch den Werturteilsstreit behindert. Eine Sperre für die weitergehende Umsetzung der fehlererkennenden Kritik von statistischer und politischer Seite liegt m. E. auch in geschicktem "Wechselverhalten" in der Reaktion auf die Kritik. Wird mangelnde statistische Präzision angemahnt, zieht man sich darauf zurück, daß dies ja nicht Ziel der Untersuchung gewesen sei, es sollte das Typische, Eklatante, im Extremfall das einzelne mißliche Beispiel herausgehoben werden. Geht die Kritik dahin, das das Bild nicht stimmt also, daß man zwar u. U. eine große Zahl befragt hat, aber leider die Falschen, wehrt man ab mit dem Argument, diese Gruppe habe nicht erreicht werden können, auch das unvollständige Bild sei als Anreiz für weitere Forschung lohnend. Trotzdem tragen die Facetten des frühen Fehlerbewußtseins zu fruchtbaren methodischen und methodologischen Weiterentwicklungen bei. Während die allgemeine Kritik als Kontrollinstanz vornehmlich auf den verschiedene Beforschtenperspektiven kombinierenden und "gründlich" interpretierenden Forscher verweist, der dann durch den Werturteilsstreit in Mißkredit gerät, werden von der sozialstatistischen und politischen Kritik neben forschungspragmatischen auch rudimentär systematische Vorschläge zur Fehleranalyse und Fehlervermeidung eingeführt80 • Diese werden in der monographisch-soziographischen Linie zu differenzierter Quellenbewertung und Methodenkombination verarbeitet. Die quantitative Linie vertritt naturwissenschaftlich angelehnte Fehler-Kontrollvorstellungen, d.h. besteht auf möglichst objektiver Methodenanwendung. Schnapper-Arndt und Brentano führt ihr Mißtrauen über Ergebnisse zusätzlich zu kleinen "Reanalysen", d.h. Nachfragen, Nachprüfungen, ob es denn mit dem Berichteten so seine Richtigkeit habe. Beide weisen bereits mit einfachen Mitteln Berichterstattungs- und Interpretationsfehler nach. Die Hinwendung zur empirischen Forschung gründete sowohl auf einem politischen-informativen als auch einem methodisch-innovativen Interesse. Diese Absicht ging einher mit Reflexionen über das praktisch und wissen-

10 Auch das methodologische Prinzip der Webersehen Idealtypen-Konstruktion kann als eine Konsequenz aus der Verarbeitung der Kritik gelesen werden, als Vennittlungsversuch von geisteswissenschaftlichem Verstehen und naturwissenschaftlichem Erldlren. Die Daten sprechen eben nicht filr sich selbst, man muß sie verstehen (Gutachten 1913: 92). Um aus dieser Interpretation das Willkürliche, das Werturteil möglichst heraus zu halten, konstruiert er Typen als ".. heuristisches Mittel zur Anleitung empirischer Forschung .. " (KAsler 1978b: 151) und als Meßlatte, als Konstrukt, als das " .. begriftliche Mittel zur Vergleichung und Messung der Wirklichkeit an ihnen ... " ([1904] 1988a: 198/199, 193/ 196ft) Weber selbst filhrt diese Idee zurück auf " .. den Grundgedanken der auf Kant zurückgehenden modemen Erkenntnislehre, daß die Begriffe.. gedankliche Mittel zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen sind .. " (ebd. 208).

5 Hilgers

66

2. Problem genese der Artefaktforschung

schaftlich Erreichte. Die Facetten dieser Reflexion sind fehlerrelevante Kritiken: allgemeine, sozialstatistische, politische Kritik. Polarisiert und verengt wird die Reichhaltigkeit der Debatte durch den Werturteilsstreit.

2.1.4 Erste Ansitze zu systematischer Fehlererkennung auBerhalb des "Vereins filr Sozialpolitik"

Auf die Diskussion der sich entwickelnden empirischen Sozialforschung nehmen folgende Beiträge aus populärwissenschaftlicher und experimenteller Psychologie zunächst keinen Einfluß. 1907 untersucht ein 13-köpfiges Team, unter ihnen auch der seinerzeit namhafte Psychologe Stumpf, die Fähigkeiten des "klugen Hans", des Pferdes des Herrn von Osten, welches angeblich rechnen und musikalische Harmonieaufgaben lösen konnte (Lück 1977a: 5)81. Für den Artefaktforscher Lück sind die Experimente, welche versuchten, das Phänomen der Klugheit des Pferdes aufzuklären, ein "klassischer Vorläufer" der Aufdeckung von Interviewerund Versuchsleitereffekten (ebd). Das Team fand keine "bewußten Steuerungsimpulse" , die auf eine Dressur hingewiesen hätten (RosenthaI1977: 7). Pfungst stellt durch verschiedene Versuchsanordnungen - Variation von fragenden Personen, Änderung der Umgebung - fest, daß die Klugheit des Pferdes zwar nicht von der Anwesenheit seines Besitzers abhing, aber von den Wahrnehmungsmöglichkeiten des Pferdes (Pfungst 1907, zit. nach 1977: 21-66). Aus all dem, faßt Rosenthai zusammen, ".. folgerte Pfungst, .. daß visuelle Stimuli eine Rolle spielten ... " (8) Seine Lösung des Phänomens war die Entdeckung, daß "Hans" auf kleine Bewegungen des Kopfes desjenigen, der ihn befragte, reagierte. Pfungst verallgemeinerte diese Kenntnisse auf die Mensch-Mensch-Verständigung durch unbeabsichtigte kleine Hinweise, indem er im Labor selbst die Rolle des Pferdes einnahm und versuchte, auf Signale von Versuchspersonen zu reagieren. Die kleinen Hinweise versuchte er, mittels eigens konstruierter, am Kopf befestigter Aufzeichnungsgeräte nachzuweisen (77-100).

tl Diese Untersuchung von 1907 wird 1911 auch in Amerika veröffentlicht und erregt auch dort Aufsehen (Rosenthai 1977: 11f). 1965 wird sie von dem Doyen der amerikanischen Artefaktforschung Robert Rosenthai erneut herausgegeben und als klassischer Vorläufer seiner BemOhungen gewertet. Sein dortiges Vorwort, in dem er den Stellenwert dieser Untersuchung filr seine Forschungen hervorhebt, wird auch filr die deutsche Ausgabe von dem Herausgeber LOck Obernommen (1977: 7-34).

2.1 Unzufriedenheit mit der neuen Wissenschaft vom Sozialen

67

Hier liegt also ein frohes Beispielfür eine komplexe fehlersuchende, d.h. artefakterkennende Untersuchung vor. Hierher stammt der Hinweis, daß nicht nur die einzelnen Beteiligten, sondern auch ihre Art, mit der Forschungssituation umzugehen, ihre Interaktion, Quelle von Fehlern sein kann. Geht man entsprechenden Hinweisen von Bungard nach, so finden sich Erweiterungen der allgemeinen und sozialstatistischen Facetten des Fehlerbewußtseins im interessierenden Zeitraum auch in der im weitesten Sinne sozialpsychologischen Literatur (vgl. Bungard 1984: 31). Ebbinghaus führt Laborversuche zu Gedächnisleistungen durch; er experimentiert mit dem Erlernen" sinnloser Silbenreihen ". In Anlehnung an die naturwissenschaftliche Vorgehensweise bemüht er sich um die Konstanz der Rahmenbedingungen für verschiedene Versuchsreihen (Ebbinghaus 1885: 6-18), wohl wissend, daß solche Konstanz für die Forschungssituation "Menschen im Labor" nicht leicht herzustellen ist (21/22)82. Schwierigkeiten für ".. die Übertragung der sogenannten naturwissenschaftlichen Methode auf die Untersuchung psychischer Vorgänge .. " ergäben sich darüber hinaus dadurch, daß " .. die psychischen Vorgänge .. keine direkte Handhabe für eine Messung oder Zählung .. " böten (16). Um der ersten Schwierigkeit zu entgehen, bezieht er sich auf die W ahrscheinlichkeitsrechnung, welche es ihm erlaubt durch "Meßwiederholungen"

sich einem "konstanten" Wert im Rahmen gewisser Grenzen anzunähern; die zweite Schwierigkeit umgeht er durch indirekte Messung: ".. Zeit, Zahl der Wiederholungen .. " sind ihm Indikator für Gedächnisleistung (16/ 17). Wobei er sich klar darüber ist, daß seine Art, Gedächnisleistung zu messen, nur eine Abstraktion darstellt und sich weit entfernt ".. von den komplizierten und wechselvollen Verhältnissen, unter denen diese Tätigkeit im gewöhnlichen Leben funktioniert." (22) Eine besondere Fehlerquelle ist für ihn:

11 Kritik an der möglichst naturwissenschaftlich arbeitenden Wundt-Schule kommt von Seiten der "verstehenden Psychologie" z.B. von laspers: "Bloß experimentelle Bildung ist eine technische Fertigkeit, gibt noch keine FAhigkeit zu psychologischer Arbeit. Daher wurde in der experimentellen Psychopathologie auch so manche pseudoexperimentelle Arbeit geleistet. Umstlndliche Experimente werden gemacht, die irgendwelche Zahlen zutage fOrdern, die aber nichts lehren, denen kein Gesichtspunkt, keine Idee zugrunde liegt." (1959 [Erstaufl. 1923): 22). Dessen henneneutischerAnsatz steht in einem ähnlichen Spannungsverhältnis zu diesen naturwissenschaftlichen Ansätzen wie die monographische Linie im Verein zu den ersten quantitativen, auch an den Naturwissenschaften (resp. an der naturwissenschaftlich arbeitenden Psychologie) orientierten Arbeiten Webers (vgl. KrizJ LOck! Heidbrink 1990: 131-13S).



68

2. Problemgenese der Artefaktforschung " .. der geheime Einfluß von sich bildenden Theorien und Ansichten. Eine Untersuchung pflegt auszugehen von bestimmten Voraussetzungen in betreff der Resultate. Ist das aber auch von vorneherein nicht der Fall, so bilden sich diese allmählich, falls man gezwungen ist, alleine zu experimentieren ... Dabei ist es unvermeidlich, daß sich nun hinterher an der Anschauung der Zahlen Vermutungen entwickeln über die Gesetzmäßigkeit, die in ihnen verborgen sein könnte und - einstweilen noch unvollkommen - zur Erscheinung kommt. Bei der Fortsetzung der Untersuchungen bilden dann diese Vermutungen ebenso wie die anfllnglich schon vorhandenen ein komplizierendes Moment, welches auf den ferneren Ausfall der Resultate wahrscheinlich einen gewissen Einfluß übt ... Man geht den Resultaten mit eil\er halbwegs antizipierenden Kenntnis, mit einer Art von Erwartung entgegen." (24)

Hier wird die Vorstellung des allein forschenden und dabei seine Theorien selbst bestätigenden Forschers entwickelt. Zur Abhilfe dieses Problems schlägt er vor: "Eine sichere Vermeidung des Einflusses ist nur da zu hoffen, wo die Versuche von zwei Personen gemeinsam angestellt werden .. ", also Forscher sich gegenseitig kontrollieren (25). Hansen und Lehmann setzten an einem ähnlichen Punkt wie Pfungst an, nur geht es ihnen direkt um die Kommunikationsprozesse zwischen Mensch und Mensch, genauer gesagt, um das Problem der "Gedankenübertragung". Die Versuchsanordnung mutet aus heutiger Sicht etwas merkwürdig an. Zwei Forscher versuchen, im Labor zu untersuchen, inwieweit sie Zahlen, Bilder u.ä. durch konzentrierten Blick in einen Hohlspiegel dem jeweils anderen Forscher übermitteln können. Sie kommentieren auch ihre vermeintlich erfolgreichen Versuche äußerst kritisch als "Illusionen" (Hansenl Lehmann 1895: 477). Diese Illusionen kämen dadurch zustande, daß den beiden Forschen in dem Fall eben das Orginal bekannt ist, und ".. so kann man bei gutem Willen eine Aehnlichkeit finden .. " (477). Aus der Beobachtung heraus, daß bei ähnlichen Experimenten mit Zahlenübertragung insb. ähnlich klingende Zahlen verwechselt werden, kommen sie sich selbst auf die Schliche, insofern nämlich, als daß irgendeine Art "Flüstern" (480) eine gewisse Rolle spielen muß. Da bewußtes Flüstern ausscheidet, man hatte sich Mühe gegeben, das zurückzuhalten, kommen sie auf "unwillkürliches Flüstern" (481), dessen Schallwellen sie ähnlich wie Pfungst die kleinen unwillkürlichen Bewegungen, welche das Pferd Hans steuerten, mit komplexen selbstgebauten Apparaturen messen konnten (494ft). Dabei auftretende Übertragungsfehler werden differenziert analysiert als "Vertauschungen, Verdopplungen, Ausfallserscheinungen" (523). Erstere sind für ihre Versuchsanordnung "echte Verwechslungen", letztere "unechte". Hier wird die aus der mathematischen Fehlertheorie stammende Unterscheidung zwischen systematischen und unsystematische Fehlern experimentell eingeführt. Insbesondere die letzteren seien interessant, hierunter fassen sie:

2.2 Wissenschaftstheoretische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung

69

" .. rein individuelle Differenzen, .. so z.B. eine gewisse Vorliebe fIIr die eine oder andere Zahl, .. unbewußte Erinnerungen .. , .. Müdigkeit, Indisposition, geringere Aufmerksamkeit ... " (525)

Diese psychologischen Experimente weisen auf die wichtige Rolle von bei der empirischen Forschung stattfindenden Verständigungsprozessen und auf Erwartungshaltungen gegenüber dem Ergebnis hin. Während mit der Einführung der empirischen Sozialforschung im Kontext des Vereins für Sozialpolitik der Forscher oder die Art der Methodenanwendung als Fehler-kontrollierende Möglichkeit diskutiert wurde, kommt hier der Aspekt der "experimentell um die Fehlerkontrolle erweiterten" Methode hinzu.

2.2 W issenschaftstheo retische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung

Teil 2.2 erfaßt die für die Artefaktforschung wissenschaftstheoretisch interessante Zwischenkriegsphase. In dieser Phase kommt es zu einer ersten Ausdifferenzierung der Universitäts-Soziologie und in Köln, Frankfurt und Wien zur sozial wissenschaftlichen Institutsgründung. Die fehlerrelevanten Probleme des Prozesses der Verankerung und Entwicklung von empirischer Sozialforschung zeigen sich im weitergeführten Werturteilsstreit und im Streit um die Wissenssoziologie. Die aus dem Werturteilsstreit resultierende Forderung nach der Werturteilsfreiheit des Forschungsprozesses wird anband der wissenssoziologischen Fragestellung, welche Voraussetzungen Forschung im sozialen Kontext hat, wieder geführt und verschärft zur Frage nach berechtigter oder unberechtigter Parteilichkeit des Forschenden. Hier liegt die bis heute virulente Frage der Reichweite der Erkenntnismittel und der Kritik. Wie Karl Dunkrnann es 1927 formuliert, es ".. entsteht ein doppeltes Wissensproblem: Wie Soziologie selbst Wissenschaft sein kann und wie Wissenschaft neben Religion, Kunst, Recht ein Teilgebiet der Soziologie ist." ([1927]: 19283)

., Der von Volker Meja und Nico Stehr zusammengestellte Reader "Der Streit um die W issenssoziologie" (1982a, b) versammelt die wichtigsten BeitrAge zu dieser Auseinandersetzung. Ihre

Wurzeln reichen in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg, vgl. z.B. die von Mannheim angegebene Literatur (1931: 678-680). ln den 20er Jahren wächst die Beschlftigung mit dem Thema und fIIhrt auf dem 6. deutschen Soziologentag 1928 in Zürich anband eines Vortrages von K. Mannheim ''Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen" ([1929a]: 325-370) - zu einer Debatte über die Einordnung der Mannheimschen Ideen und ihrer Fruchtbarkeit filr die Soziologie und die empirische Sozialforschung (Mejal Stehr 1982a: 371ff; Schelting 1929). Im folgenden werden die nach dem Reader zitierten BeitrAge mit der Jahreszahl des Erscheinens in [..] eckigen Klammem angegeben.

70

2. Problemgenese der Artefaktforschung

Die sich anschließenden Debatten sorgen für die die Zwischenkriegszeit prägenden methodologischen Auseinandersetzungen über die wissenschaftlichen Grenzen von Soziologie und Sozial forschung. In Kapitel 2.2.1 wird anband der unterschiedlichen Gründungsbedingungen und der unterschiedlichen Programmatik der Institute zur empirischen Sozialforschung (2.2.1.1) sowie der Auseinandersetzung um die Wissenssoziologie (2.2.1.2) den weiteren wissenschaftsinternen Bedingungen der Fehlerforschung nachgegangen, in Kapitel 2.2.2 den externen Kofaktoren und in Kapitel 2.2.3 den Begriffen und Instrumenten der Fehlerforschung sowie den Verbesserungen durch die Fehlerforschung.

2.2.1 Institutionalisierung und der Streit um die Wissenssoziologie

Die hier angesprochenen, die deutsche akademische Auseinandersetzung dieser Zeit so prägenden Debatten bilden die Kategorien und das intellektuelle Klima einer systematischen Kontrollforschung zur empirischen Sozialforschung weiter aus und liefern gleichsam die Hypothesen für die nachfolgende systematische Fehler-Prüfung. Während in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg die Debatten und Reflexionen gleichzeitig sozialpolitische Aspekte und Methodenanwendungsaspekte der Sozialforschung betrafen, mit der Ausnahme des Werturteilsstreits, der z. T. methodologischer Natur ist, liegt zwischen den beiden Kriegen der Schwerpunkt fehlerkritischer Diskusionen hauptsächlich auf methodologischen A use inandersetzungen. Das anfängliche Unbehagen gegenüber empirischer Sozialforschung wird in dieser Phase zur systematischen Erkenntniskritik. Es geht um die Rolle der "überhaupt" möglichen Wissensfindung von Sozialwissenschaften. Als Beispiel für eine der vielen Soziologen-Äußerungen zur allgemeinen Verunsicherung in der Soziologie sei hier Max Adler zitiert: "Es gibt wohl auf keinem Gebiete wissenschaftlicher Arbeit eine solche Umstrittenheit alles dessen, was zu den Elementen einer Wissenschaft gehört wie auf dem der Soziologie. Bestritten wird nicht nur die Methode, nach welcher hier zu arbeiten ist, ob induktiv oder deduktiv, nicht nur die Gesetzmäßigkeit, welche sie aufzuzeigen hat, ob kausal oder normativ, sondern bestritten wird vor allem sogar der Gegenstand dieser Wissenschaft." ([1925b]: 158; vgl. auch Käsler 1984: 305ft) Für ihn findet sich ".. das Selbstbewußtsein der wissenschaftlichen Arbeit .. erst in der erkenntniskritischen Besinnung." ([1925b]: 160)

Diese allgemeine Unsicherheit wird von erheblichen Anstrengungen, die Disziplin als eine wissenschaftlich seriöse im universitären Fächerkanon zu verankern, begleitet (überschall 1972: 11). Zwischen diesen beiden Polen - Verunsicherung und Institutionalisierungsbemühung - klafft eine entscheidende

2.2 Wissenschaftstheoretische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung

71

Lücke, denn" .. mit der Institutionalisierung .. verbindet sich kein klares Selbstverständnis über Fragestellung, Methoden und Funktion der Soziologie." (Lepsius 1981 b: 12) Für die Soziologie kann man erst nach dem ersten Weltkrieg von institutionalisierten Fachforschung redenS.. Allerdings war" .. die Universitätssoziologie .. zu schwach und in sich zu zersplittert, als daß sie das für die Durchführung umfangreicher empirischer Projekte notwendige Maß an Stabilität und Kontinuität hätte sicherstellen können." (Kern 1982: 119; vgl. auch Käsler 1984: 32ft) Auch die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, schon vor dem ersten Weltkrieg gegründet, wurde trotz anderer Absichten vor dem ersten Weltkrieg 85 nicht zu einem Zentrum empirischer Sozialforschung86. Dafür werden verschiedene Ursachen angeführt: a) die fehlende "forschungsadäquate Infrastruktur", also fehlende finanzielle Mittel und personelle Ausstattung (Kern 1982: 123); b) der "Mehr-Ebenen-Schematismus", das meint die Tönniessche Entgegensetzung von reiner, angewandter und empirischer Soziologie, welche sich nach Abgrenzung von der angewandten, sozialpolitischen Seite auf einen "Zwei-Ebenen-Schematismus" reduziert, ".. theorielose Empirie, hier Soziographie genannt, und abstrakt entwickelte Sozialtheorie, hier Soziologie genannt, werden einander schematisch entgegengesetzt .. " (Kern 1982: 126, 127)87; c) das Streben nach wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Anerkennung wird dominiert vom Konzept von Soziologie als einem einzelwissenschaftlichen

.. Zur Entwicklung der Soziologie und empirischen Sozialforschung in dieser Zeit vgl. Bellebaum (1966: 153-158); Fomefeld/ LOckert! Wittebur (1986); Geiger (1931); Heberle (1931); Lazarsfeld (1975: 147-168); Lepsius (1981a); Maus (1956: 62-66); Migdal (1981); überschall (1972: 911); Papcke (1986a); Prahl (1986); Stehr (1975, 1976); Stehr/ König (1975); Sto1tenberg (1931); Schad (1972: 56-96); Vierkandt (1931c) . ., Tönnies betont auf dem ersten deutschen Soziologentag die Sinnhaftigkeit der Verbindung von quantiativ-statistischer Massenbeobachtung und qualitativen Enqueten (1911: 36/37); Weber kündigt ebendort in seinem Geschäftsbericht empirische Untersuchungen zum Zeitungs- und Vereinswesen an (1911: 42ft", 52ft"; 61f), aus denen aber nichts wird (Weber 1913a: 7611). .. Mit der Ausnahme der programmatischen Diskussionen über Soziographie auf dem Soziologentag 1926 in Wien und 1930 in Berlin erbrachte die OOS-GrI1ndung auch in der Zwischenkriegsphase keinen Fortschritt ftlr die empirische Sozialforschung (Maus 1967: 24; Steinmetz 1927: 217-225 und die folgende Diskussion 226-227; Tönnies 1931: 196-206 und die folgende Diskussion 207-232). 17 Kern bezieht sich hier auf Tännies Einleitungsrede auf dem dritten deutschen Soziologentag (fönnies 1923: 4, vgl. auch Tönnies 1921: 42-46).

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

Lehrfach; Käsler bezeichnet dies zu Recht als "eindimensionale Kanalisierung" (1984: 51,70). Auf der Suche nach der Verfestigung und Verbesserung empirischer Sozial forschung zu Zeiten der Weimarer Republik wird daher meistens auf die drei Forschungsinstitute - Frankfurt, Köln und Wien - verwiesen (von Aleman 1976: 662; Schad 1972: 56ff)88.

2.2.1.1 Die Institute und ihr Selbstverständnis

Die Bemühungen um ein staatliches, universitätsunabhängiges Forschungsinstitut haben in Köln 1919, unterstützt von Adenauer, Erfolg. Die Frankfurter Institutsgründung 1924 ist hingegen durch ein private Stiftung zustandegekommen; das Wiener "Psychologische Institut", beschafft sich über die Ausgliederung der "Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle" (1927), welche als eingetragener Verein Marktforschung betreibt, die nötigen Mittel für die ambitioniertere Sozialforschung89 •

• Die Gegenüberstellung der Institute gilt nicht rur den gesamten Zeitraum und ist eine der unterschiedlichen Konzepte, nicht der direkten Konfrontation. Die zum Kölner Kontext gehörigen Publikationen setzten ab 1921 ein; vgl. von Aleman (1976: 654/ 655), Frankfurts rur die Programmatik ihrer empirischen Forschung relevante Zeitschrift fiJr Sozial[onchung datiert erst ab 1932 und erscheint auch wAhrend der Zeit der Emigration·. Das Kölner Institut wird 1934 von den Nazis "geschlossen" (von Aleman 1976: 662). Die Wiener ForschungsteIle wird ebenfalls nach der faschistischen Machtübernahme "geschlossen", die Mitarbeiter in die Emigration gezwungen. In der amerikanischen Emigration baut Lazarsfeld das "Bureau of Applied Social Research" auf (Kern 1982: 174ft). Beim Vergleich mit dem Kölner Institut ist insbesondere Horkheimer darauf bedacht, ein Konkurrenzverhlltnis auszuschließen (Horkheimer [1932a]: I-IV; von Aleman 1976: 66If; Jay 1985: 46); mit dem emigrierten Lazarsfeld kommt es in der amerikanischen Emigration zu einem Versuch der Zusammenarbeit beim "radio research project". Von Wiese lußert sich positiv zur Wiener Arbeit (vgl. von Aleman 1976: 667, Anm. 18; 672, Anm. 70). • Von der Zeitschrift rur Sozialforschung erschien 1980 ein Reprint im dtv-Verlag. Dieser folgen die hier zitierten Aufsitze, sie werden im folgenden mit der Jahreszahl der Erscheinung in [ .. ] eckigen Klammem zitiert.

2.2 Wissenschaftstheoretische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung

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Auch in der Organisationsstruktur zeigen sich Differenzen. Während das Kölner Institut in drei Abteilungen mit vier Leitern gegliedert war - Soziologische Abteilung: von Wiese, Scheler; Sozialpolitische Abteilung: Lindemann; später sozialrechtliche Abteilung: Brauer - war das Frankfurter es nicht (Jay 1985: 29). Während in Köln zur Leitung des Instituts ein nach politischem Proporz besetztes Kollegialsystem eingesetzt wurde 90 , entstand das Frankfurter Institut mit dem einseitig ausgerichteten Direktoratsprinzip, mit der satzungsgemäß festgelegten "Diktatur des Direktors". Der erste Direktor war GTÜnberg, erst ab 1930/ 31 übernahm Horkheimer die Leitung (Dubiel 1974: 257). Das Kölner Institut wollte wie ein naturwissenschaftliches Institut sein (von Aleman 1976: 651; Schad 1972: 56ff; Maus 1956: 62), das Frankfurter schloß sich an Humboldtsche Vorstellungen an (Jay 1985: 29). Die Wiener Forschungsstelle hatte eher den Charakter" .. einer Arbeitsgruppe mit Lazarsfeld als Fixpunkt und Gruppenleiter." (Kern 1982: 166) Während Grünberg91 und Horkheimer für das Frankfurter Institut explizit an die "kathedermarxistischen" Traditionen des VfS anknüpften (Migdal 1981: 57 -64; Horkheimer 1931: 42) und das Wiener Institut große Affinität zur sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft hatte (Lazarsfeld 1975: 149),-

.. Für die Kölner Grilndung vgl. von Aleman (1976: 649, 650f), Behrend (1970); Dubiel (1974); Eckert (1921: 12-21); König (1966; 1968c, d, e); filr die Frankfurter Grilndung Kluke (1981: 399-402,418), Migdal (1981: 10-29,28/29), Jay (1985: 21-61); Wiggershaus (1986: 30-32), filr die Wiener Grilndung Kern (1982: 162-179); Lazarsfeld (1960; 1975); Lepsius (1981b); Zeisel (1960b [orig. 1933]; 1969a). Man kann erst nach 1945 von Schulen, z.B. einer Kölner oder Frankfurter Schule reden, die Unterschiedlichkeit in der Bewertung und in der Anwendung der empirischen Sozialforschung ist aber auch filr die Weimarer Zeit deutlich nachweisbar (vgl. von Aleman 1976: 666, Anrn. 1; Jay 1985: 13). .., FQr das Zentrum und die katholische Komponente stand Max Scheler, filr die sozialdemokratische, zumindest sozialpolitische Seite stand Lindemann, als liberales Element wurde von Wiese angesehen; vgl. von Aleman 1976 (651/ 652,666, Anm. 5.). Das Kollegialprinzip wurde in § 10 und §ll der Satzung beschrieben (Kölner Vierteljahreshefte filr Sozialwissenschaften 1921: 92). 01 In der Zeit Grilnbergs als Direktor war das 1910 gegrOndete Archiv für die Geschichte des S oz ialism us und derArbeiterbewegung Publikationsorgan des Institutes. In dieser Zeit waren die Institutsdiskussionen eher von orthodoxen Marxismus-Auseinandersetzungen geprägt (Jay 1985: 30; Wiggershaus 1986: 41). Erst mit dem Wechsel zu Horkheimer 1930/31 kommt es zur Reflexion des marxistischen Ansatzes, verbunden mit dem Anspruch der empirischen Korrektur von Theorie, daher die Konzentration auf diese Zeit des Frankfurter Institutes.

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2. Problem genese der Artefaktforschung

setzte sich von Wiese, der Kölner Doyen, früh von dem sozialpolitischen Engagement seines Lehrers Schmoller ab (Schad 1972: 59-61). Auch die Ziele differierten von Anbeginn an: Von Wiese sah seine Aufgabe in der ".. Schaffung einer klar umrissenen Einzelwissenschaft und des entsprechenden Lehrfaches der Soziologie .. ", verwirklicht in derfonnalen Soziologie seiner Beziehungslehre (von Aleman 1976: 655). Horkheimer strebte hingegen eine Perspektive an, die auf das gesellschaftliche Ganze zielte, eine kritische Gesellschaftstheorie . Diese verstand er als einen interdisziplinären Ansatz, der durch wechselseitige Befruchtung von Einzelwissenschaften und ihren empirischen Forschungen leben sollte (Horkheimer 1931: 41; Jay 1985: 63-111; Bonß 1983b: 23-25). Untersucht werden sollte " .. die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn." (Horkheimer 1931: 43) Dazu arbeitete das Frankfurter Institut " .. auf der Grundlage der Marxschen Theorie mit den zu der Zeit in Deutschland noch kaum angewandten Techniken der amerikanischen Sozialforschung .. und der Freudschen Psychoanalyse." (Maus 1956: 64; vgl. auch von Aleman 1976: 662) Das Wiener Institut, das wissenschaftstheoretisch nicht so ambititioniert war wie das Frankfurter, legte den Schwerpunkt auf die Praxis empirischer SozialJorschung und kam hier zu ähnlichen Vorgehensweisen wie die amerikanische survey-Tradition und die soziographische Entwicklungslinie, nämlich zur " .. Ableitung einer "theoretischen Betrachtungsweise" aus spezifischen Forschungsdaten .. " (Lazarsfeld 1975: 158, 162/ 163, Hinweis von Kern 1982: 164)92.

.. Der Versuch, die Statistik analytisch einzusetzten, methodische Techniken weiterzuentwikkein und theoretische Aussagen in eine empirisch zu pr1lfende Form zu bringen oder sie empirisch zu generieren, wird vor allen Dingen in Frankfurt und in Wien vorangetrieben (Bonß 1983b: 22; Zeisel 1960b). Für die amerikanische Entwicklung im gleichen Zeitraum vgl. Eatonl Harrison (1930) und Young (1949). 1m Kölner Zusammenhang nimmt man zwar auch positiv zur Entwicklung der Statistik Stellung, wendet deren Verfahren aber zur empirischen Prilfung der "Beziehungslehre" nicht an. Die Soziologie habe der Statistik vor allen Dingen Begriffsklirungen zu liefern (Klersch 1921: 96-98; Schmid 1916/ 17; von Wiese 1933/34). Die Frankfurter beziehen sich positiv auf die Lazarsfeldschen VorschlAge zur Kategorisierung und Indices-Bildung (Fromm (1929).: 62/63; Lazarsfeld 1937). • Das Frommsehe Manuskript zur Studie A meiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches wird auf 1929 datiert und erst 1983 von Bonß wieder zugInglieh gemacht (7-9, 305ft). 1m folgenden als [1929] nach Bonß (1983a) zitiert.

2.2 Wissenschaftstheoretische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung

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Im Kontext aller drei Institute wurde empirische Sozialforschung positiv kommentiert. Horkheimer setzte sich die" " Aufgabe, einen großen empirischen Forschungsapparat in den Dienst sozialphilosophischer Probleme zu stellen ,," (Horkheimer 1931: 41). Dabei hatte er die "" Möglichkeit der Einleitung wirklicher Forschungsarbeiten im Blick,," , wozu"" die Auswertung der veröffentlichten Statistiken,," gehören sollte, auch bedürfte es "" der soziologischen und psychologischen Durchforstung von Presse und Belletristik" der verschiedenartigsten Enqueteverfahren " Sachverständigengutachten" und der"" Sammlung und Auswertung nicht buchmäßig vorliegender Dokumente" " (Horkheimer 1931: 44/ 45). Von Wiese plädierte im Rahmen seiner Beziehungslehre auch dafür, "" die sozialen Beziehung zu beschreiben, zu analysieren, zu gruppieren, zu messen und zu systematisieren." (1921 b: 49) Es handle"" sich also um eine Arbeit auf dem Boden der Erfahrung. Die Beziehungslehre ist rein empirischer Natur." (1921 b: 49/ 50) Unter praktischer empirischer Forschung wurde aber de facto nur die der Beobachtung folgende Deskription des Gesehenen verstanden, es entstanden rein monographische Schildenmge,,93! Methodisch innovativer als die Kölner Untersuchungen waren die frühen Wiener Studien von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel wie z. B. "Die Arbeitslosen von Marienthai" (1933) und die erst später veröffentlichten Arbeiter- und Angestellten-Untersuchungen des Frankfurter Instituts unter Leitung von Erich Fromm ([1929]; vgl. Bonß 1983b: 7-9). Beide Studien kombinierten verschiedene Methoden zur Datengewinnung - Dokumentenanalyse, Interviews direkt Betroffener, teilnehmende Beobachtung, Versuche der Einstellungsmessung - in der Absicht, möglichst viele Wirklichkeitsperspektiven einzufangen. Sie bildeten damit den Gedanken der cross-examination weiter aus, der in Frankfurt und in Wien mit kritischer Gesellschaftperspektive ver-

.. Die empirischen Studien des Kölner Instituts sind Berichte von Studierenden, die nach Exkursionen entstanden (vgl. von Aleman 1976: 672, Anm. 65-69). Fragebögen wurden in der Art der Frageformulierung filr die frIIhen Gutachten des VfS jedoch lediglich als allgemeiner Orientierungsrahmen gedacht Von Wiese betont, daß es "" jeder Dorfgroppe selbst überlassen (war), wie sie an der Hand des "Fragebogens" Erkundigungen einzog und Beobachtungen anstellte." (1928a: VI, dort ist auch ein solcher Fragebogen abgedruckt vgl. 6-9; vgl. auch Latten 1930a, b: 312-324, 384-398; Gierlichs 1932: 364-386). Von Wiese will sich mit diesen Schilderungen an LePlay und an die "rural sociology" amerikanischer Provenienz anschließen (1928a: 3-6). Zusätzlich attestiert man sich Verwandtschaft zu Behaviorismus und Sozialpsychologie (Meuter 1926: 362-366; Maus 1956: 59; von Aleman 1976: 6561 657).

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

bunden blieb (vgl. lahoda u.a. [1933], zit. nach 1960: XVI, XVII XVII; Lazarsfeld 1975: 1-58; Horkheimer 1931: 45)94. Hier wurde also der Versuch unternommen, die im VfS skizzierte Programmatik der vollständigen Enquete einzulösen und sich dabei methodisch und theoretisch von der administrativen und unvollständigen abzusetzen 93 . Die Weimarer Enquete des Frankfurter Instituts über Arbeiter und A ngestellte am Vorabend des dritten Reiches (Bonß 1983b: 7-9), die als" .. empirischer Beitrag zu einer kritischen Gesellschaftstheorie .. " gewertet wird, wird erst in der Emigration ausgearbeitet und erst viel später publiziert (Bonß 1983a: 3; Schad 1972: 76ft). Für Bonß fungiert sie als ".. Verbindung zwischen Psychologie und Gesellschaftstheorie .. ", als ".. additive Erweiterung eines eingeschliffenen Materialismuskonzeptes .. " (1983b: 14, 15)96. Die empirische Forschung sollte dabei das Materialismuskonzept des Instituts theoretisch differenzieren. Subjektive Einstellungsdaten und objektive Daten z.B. zum Einkommen sollten, gestützt durch Analyse von Einzelfällen, auf der Makro-und der Mikro-Ebene Gruppenhaltungen erklären. Dazu kam die " .. Kombination von quantitativen Techniken der schriftlichen Massenbefragung mit psychoanalytisch fundierten qualitativen Verfahren." (Bonß 1983b: 22; Horkheimer 1931: 42 97)

Während im Verein für Sozialpolitik die schriftliche, kaum standardisierte Expertenbefragung dominierte, entwickelt sich in der Zwischenkriegszeit insb. außerhalb des deutschsprachigen Raums die "Technik" quantitativer empirischer

.. Von Wiese luDerte sich positiv zur Marienthalstudie (vgl. hier S. 72, Anm. 88). Lazarsfeld interpretiert dies rilckblickend als eine Tendenz, sich methodisch in eine Ihnliche Richtung zu bewegen (1975: 162f). Die "Marienthaler" knQpften an die amerikanische Middletown-Studie der Lynds Ul (Bonß 1983b: 22). Der so weiterentwickelte multiperspektivische Ansatz wurde von Lazarsfeld in Amerika mit Merton zusammen im "Bureau of Applied Research" weiter methodisch ausdifferenziert. Diese methodische Weiterentwicklung wurde aber wegen ihrer weniger gesellschaftskritischen Herangehensweise auch kritisiert (vgl. Kern 1982: 174-179; Lazarsfeld 1976; Maus 1956: 88). " Der Gegenpol zur administrativen Enquete, im Verein filr Socialpolitik war das die sog. "parlamentarische Enquete", wird nun zumeist als "kritische Enquete" apostrophiert. .. Ich teile Bonß' Ansicht, daß ".. auch wenn die Enquete fragmentarisch blieb, .. sie dennoch von dem Versuch, eine neue "Sozialforschung in kritischer Absicht" zu initiieren (zeugte) .. " (Bonß 1983b: 23). • 7 Es wird die Richtung der Psychologie adaptiert, die auf die qualitative Erfassung von Persönlichkeitsstrukturen zielt, die Frommsche analytische Sozidpsychologie (Bonß 1983b: 27-31; Fromm 1932a, b; 1935).

2.2 Wissenschaftstheoretische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung

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Sozialforschung weiter. Auch die zunächst qualitativ orientierte Chicago-Schule adaptierte diese quantitativen Techniken der empirischen Sozialforschung, insb. die in der Psychologie entwickelten Skalierungsverfahren zur Messung von Einstellungen vermittels Experiment und Fragebogen-Interview (Bonß 1983b: 16; Faris 1967, Helle 1992: 22-88; Young 1949 [Erstaufl. 1939])98. Als theoretischer Bruch der I 920er Jahre gilt, daß in Chicago wie in Köln keine übergreifende Theorie der Gesellschaft angestrebt oder berücksichtigt wird, sondern Einzelne, Gruppen und deren Bezüge zueinander zu formalen Begriffen zusammengefügt werden (Käsler 1984: 70ff; Maus 1956: 67, 77ff; überschall 1972: 187-251). In der Emigration treffen die gesellschaftstheoretisch angelegten EmpirievorsteIlungen des Frankfurter Instituts mit der so entwickelten amerikanischen Sozialforschung und den pragmatischen Vorstellungen der Österreicher am "radio research project" zusammen, finden aber keine gemeinsame Forschungstrategie 99 • Korrespondierend mit diesen verschiedenen Funktionszuweisungen von empirischer Sozialforschung in den unterschiedlichen Institutskontexten ergeben sich in den Selbstverständnis-Debatten Diskussionen über die Möglichkeiten und Grenzen empirischer Sozialforschung .

.. In Chicago gab es bereits 1892 eine Abteilung fIlr Soziologie (Faris 1967: 9ft). Die zunAchst qualitativ ausgerichtete empirische Forschung steht in Verbindung zur deutschen Entwicklung und schließt sich z. T. an "kathedersozialistische Vorstellungen" an, insbesondere an die wissenschaftlich angeleiteter Sozialpolitik (Maus 1956: 55! 56). Ab Mitte der 1920er Jahre werden die Grundlagen quantitativer Herangehensweisen verfeinert. 1924 werden beim Pacific Race Relations su",ey zum ersten Mal von Bogardus " .. Skalen konstruiert, die qualitative Unterschiede von Meinungen, Attitüden und sozialen Beziehungen in quantiflZierbare umzuformen erlauben .. " (Maus 1956: 84; Bogardus 1924a, b; Thurstone 1928). Dazu kommt spAter die Weiterentwicklung der Stichprobentheorie nach der falschen Literary-Digest-Wahlvoraussage (vgl. SchnellI HilllEsser 1988: 29, 30; Gallup 1948: 73-75). Diese Art von Skalierung wird z.B. von Adorno und seinen Mitarbeitern in den Studien zum autoritären Charakter positiv aufgenommen (Adorno 1973, vgl. auch Falter 1982: 150ft). 99 Kern berichtet von einer Anekdote, die die Distanz der Frankfurter zur Obertriebenen QuantiflZierung beleuchtet. Adorno berichte in seinen Erinnerungen von einem GesprIch mit einer "young charming lady", die ebenfalls am "radio research project" arbeitete: "Nach ein paar Tagen faßte sie Vertrauen zu mir und fragte mit vollendeter LiebenswOrdigkeit: "Dr. Adorno, would you mind a personal question?" Ich sagte: "It depends on the question, butjust go ahead", und sie fuhr fort: "Please teil me: are you an extrovert or an introvert?" Es war, als dAchte sie bereits als lebendiges Wesen nach dem Modell der Cafeteria-Fragen aus Questionnaires. Sie mochte sich selbst unter derlei starre und vorgegebene Kategorien subsumieren .. " (Kern 1982: 160, 157-161; vgl. auch Lazarsfeld 1941: 2-16; 1975: 179-204; Adorno 1941: 17-48).

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

Zwischen der Vorstellung des Gegenstands der Soziologie, der aus den Äußerungen der Individuen konstruiert werden kann, und der, daß die individuellen Äußerungen nicht ohne Rekurs auf die "gesellschaftliche Gesamtheit" erklärt werden können, entspinnt sich der methodologische und politische Streit darum, ob das Ganze mehr als die Summe seiner Teile sein kann, respektive wie die Struktur des Ganzen analysiert werden kann (Schlick 1935; vgl. auch Nagel 1984 [1952]: 241-251). Es wurde diskutiert, ob die einzelnen Fragmente der empirischen Forschung eine daraus zusammengesetzte theoretische Erkenntnis erbringen können oder ob Reflexion und Interpretation dazwischengeschaltet werden müssen, welche einen Zusatz zu dem Erfahrbaren bedeuten würden, da sie nicht zur Gänze erfahrungswissenschaftlich legitimiert sind. Diese Frage wurde verküpft mit der, insbesondere im "Wiener Kreis" heiß diskutierten Frage ob es rein logisch-methodische Garantien der W ahrheitserfassung gibt oder ob diese wiederum sozial bestimmt sind, und, ob Wissenschaftlichkeit durch praktische Desiderata der Forschung "verunreinigt" wird 100. Während im Kölner beziehungswissenschaftlichen Konzept die Vorstellung eines aus Einzelbestandteilen zusammensetzbaren Bildes vorherrscht lOI , ähnlich auch in Wien, versteht sich die Frankfurter Forschung als kritisch, sowohl gegenüber ihren eigenen Hypothesen als auch gegenüber dem empirisch Erfahrenen. Hier wird der Empirie ein die Theorie korrigierender Charakter zugesprochen, aber auch die Theorie als nicht absolut in Empirie aufzulösen gedacht. Die Kölner Institutsgründung legitimiert sich durch eine klare Position zum Werturteilsstreit. So betonte" .. Adenauer .. in seiner Rede vor den Stadtverordneten, daß dem Institut primär die Aufgabe zukomme, die "soziale Frage" wissenschaftlich zu untersuchen .. ", die Auswirkungen dieser Frage seien aber ".. in objektiver, wissenschaftlicher und tendenzloser Weise festzustellen .. "

100 Der Beitrag des logischen Empirismus' des Wiener Kreises zur Methodologie empirischer Sozialforschung beschrlnkt sich nicht nur auf den eher am Rande des Kreises stehenden Popper. Die HeterogeniW der wissenschaftlichen Anschauungen und die Sprengkraft der anti-metaphysischen Arbeit z.B. eines O. Neurath werden in jüngster Zeit positiv diskutiert (vgl. Geier 1992; Neurath 1952). 101 In der Beziehungslehre von Wieses sind, unter dem Namen "psychosozial" (von Wiese 1921b: 53), die Gnmdelemente des methodologischen Individuolismus (vgl. Opp 1979) angelegt: "Wir können realistisch Sozialgebilde letziich nur aus der Psyche oder Physis von Menschen ahleiten, müssen also teilweise und in stirkerem Maße seelenkundlich verfahren. Den Weg von der Analyse der seelischen Verbindungen der Menschen zur Gesellschaft, d.h. zu den gesellschaftlichen Kollektivgebilden glaube ich deutlich zu sehen. Sind doch diese Gebilde nur abstrakte Objektivierungen von zahllosen Einwirkungen von Menschen aufeinander. Ich vermag Klasse, Staat, Familie usw. eben gerade nur auf diesem Wege zu verstehen." (von Wiese 1921b: 52; vgl. auch Meuter 1926: 362-366)

2.2 Wissenschaftstheoretische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung

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(1918 zit. nach von Aleman 1976: 651). Von Wiese adaptiert diese Haltung für seine Beziehungslehre 1921/ 22 programmatisch: "Beziehungslehre ist .. ein Teil der Lehre vom Sein (nicht des Wertens) ... " (1921b: 50) Und weiter: "Jede vorzeitige Normgebung liegt aber jenseits einer realistischen, empirischen Beziehungslehre." (1921b: 53; Hinweis von Aleman 1976: 656)

Die Gegenposition findet sich bei der reformierten Marx-Adaption der Frankfurter, die ".. mit sowohl normativen als auch deskriptiven Ansprüchen .. " an die empirische Forschung gingen und eine Verschränkung von empirischer Forschung und gesellschaftlicher Praxis anstrebten (Bonß 1983b: 24). Horkheimer postuliert: ''Nicht dadurch wird die chaotische Spezialisierung überwunden, daß man schlechte Synthesen spezialistischer Forschungsergebnisse unternimmt, und nicht dadurch kommt andererseits unbefangene Empirie zustande, daß versucht wird, das theoretische Element darin auf nichts zu reduzieren: sondern indem die Philosophie als aufs Allgemeine, "Wesentliche" gerichtete theoretische Intention den besonderen Forschungen beseelende Impulse zu geben vermag und zugleich weltoffen genug ist, um sich selbst von dem Fortgang der konkreten Studien beeindrucken und verändern zu lassen .. ", dazu soll man ".. tun, was alle echten Forscher immer getan haben: nämlich ihre aufs Große zielenden philosophischen Fragen anhand der feinsten wissenschaftlichen Methoden zu verfolgen, die Fragen im Verlauf der Arbeit am Gegenstand umzuformen, zu präzisieren, neue Methoden zu ersinnen und doch das Allgemeine nicht aus den Augen zu verlieren." (1931: 40,41)

Für Käsler setzt sich die von Tönnies und von Wiese vertretene "naturwissenschaftlich-beziehungswissenschaftliche" Richtung durch, weil sie den Werturteilsstreit als Strategie ".. zur Erlangung von Respekt und Anerkennung von seiten der etablierten akademischen Disziplinen und von seiten der politischgesellschaftlichen Führungsgruppen .. " instrumentalisieren kann (1984: 52; vgl. auch 47/48, insb. die dortigen Hypothesen H 2.2, H 2.3, H 2.4). Als Rettung aus dem Werturteilsdilemma tendierte die Entwicklung der empirischen Sozialforschung, wie schon in Kap. 2.1.1 skizziert, in die Richtung, sich wissenschaftlich, objektiv, möglichst naturwissenschaftlich exakt, d.h. so weit wie möglich weg von qualitativen Aussagen, möglichst meßgenau, also quantitativ weiterzuentwickeln. Darin liege die höchste Güte des auf empirischem Wege forscherisch zu Erreichenden. Als grundsätzliche Kritik dieser Entwicklung lassen sich die Problematisierungen sozial wissenschaftlicher Forschung durch die wissenssoziologische Fragestellung interpretieren.

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2. Problem genese der Artefaktforschung

2.2.1.2 Die wissenssoziologische Verunsicherung

Den Ausgangspunkt der wissenssoziologischen Überlegungen skizziert Wilhelm Jerusalem wie folgt: "Daß alles Denken, als psychischer Vorgang betrachtet, soziologisch bedingt ist, dUrfte heute kaum mehr bezweifelt werden .. " ([1924]: 27; vgl. hier S. 69, Anm. 83). Aus dieser ".. bloßen Konstatierung der Abhängigkeit des einzelnen Denkers von seiner sozialen Gemeinschaft .. erwachsen .. ganz neue und recht schwierige Aufgaben ... Es handelt sich darum, den Ursprung, die Tragweite, den Geltungsbereich und schließlich den wahren Sinn der soziologischen Bedingtheit des Denkens zu untersuchen." ([1924]: 27)

Dunkmann stimmt Jerusalem zu und konstatiert, von nun an gelte" .. keine "apriorische" Aufdeckung von Fonnen des Denkens, sondern nur noch aposteriorische, empirisch begründete ... " ([1927]: 194) Aus der Völkerkunde (Levy-Bruhl) und ihren Erkenntnissen über die Denkfonnen insbesondere sogenannter primitiver Völker diffundiert hier die Erkenntnis in die Soziologie, daß das Denken sozial bedingt ist. In der Konsequenz wird mit dieser Denkfigur auch die SozialJorschung soziologisiert. Auch Max Scheler verweist auf die Nicht-Erforschung des Zusammenhangs von gesellschaftlichen Bedingungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen ([ 1921]: 57). Um den Zusammenhang des Forschens mit dem sozialen Sein und dem Werten hat sich insbesondere Mannheim gekümmert. Seine programmatische Vorstellung von Wissenssoziologie und ihren Aufgaben sieht sich auch als ein Korrektiv zu der seines Erachtens fälschlichen Anlehnung der sozialwissenschaftlichen Forschung an die Kriterien der Naturwissenschaften. Er konstatiert, daß Methoden nicht unabhängig von der Fragestellung zur Anwendung kommen, daß Auswahl des Erfahrenen, Forschungsprozeß und Interpretation der Ergebnisse nicht allein unter objektive Kriterien subsumiert werden können und daß selbst die Kriterien der Wissenschaftlichkeit nicht invariant sind, sondern historisch veränderbar. Für ihn sind unterschiedliche Herangehensweisen an die Wirklichkeit aber kein Indiz für ihre Fehlerhaftigkeit, sondern für die mögliche Perspektivität von Erkenntnis, von unterscheidbaren Denkstilen. Wissenssoziologie habe die Bezüge dieser Perspektivität herauszuarbeiten, um sie so für eine distanzierte Diskussion größerer Verständlichkeit und eventueller Integration zuzuführen (Mannheim [1929a]: 325-370, 1931, 1965; Meja/ Stehr 1982a: 395401). Diese Konzeption setzt kritische Akzente für die Überprofung der Bedingungen von empirischer Forschung. Forschung ist hier kein voraus-setzungsloser, wertfreier Prozeß, denn" .. indem wir untersuchen, was ist, können wir nicht völlig ausschalten, was sein sollte." (vgl. Wirth 1965 [orig. 1937]: XVIII) Wissenssoziologie denunziert dabei aber gleichzeitig Konzepte "formaler Sozio-

2.2 Wissenschaftstheoretische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung

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logie" als seinsenthoben und damit zu abstrakt wie Konzepte "kritischer Forschung" als nur eine Perspektive unter vielen. Dieser insbesondere von Horkheimer kritisierte Übergang vom "partikularen" zum "totalen" Ideologiebegriff wird aber als fortschreitende Entpolitisierung abgelehnt ([1930a]: 474ff, 487). Denn selbst die Richtung, welche sich Entlarvung von Ideologie zur Aufgabe gesetzt habe, der Marxismus, werde durch diesen Übergang ".. zur "Ideologie" gestempelt .. ", denn ".. "ideologisch" sind sie grundsätzlich alle, denn sie sind seinsgebunden." (ebd.: 491) Mannheim betreibe die Sozialwissenschaft wieder in idealistischer Manier, da er nur auf geistige Gebilde rekurriere. Er wirft ihm vor: "Der Glaube, man könne ohne Heranziehung der materiellen Entstehungs- und Daseinsbedingungen, also durch lediglich innergeistige Untersuchungen geistiger Gebilde eine Weltanschauung verstehen, ist idealistischer Wahn." (490) Ähnlich äußert sich der Austro-Marxist Max Adler. Für ihn liegt eine " .. soziologische Ableitung .. erst dann vor, wenn dieser ganze geistesgeschichtliche Prozeß über seine innere psychologische und ideologische Bedingtheit hinaus auf seine gesellschaftliche Abhängigkeit hin untersucht wird." ([1925a]: 130) Denn, so konstatiert er weiter, die ".. bloßen geistesgeschichtlichen Zusammenhänge führen .. nicht über eine bloße Phänomenologie der Geistesgeschichte hinaus. Und das soziologische Problem beginnt erst dort, wo diese Phänomenologie zu Ende gebracht ist." (132) Es sei" .. die Frage, ob und wie eine Kausalbetrachtung sozialer Erscheinungen möglich ist, die diese nicht naturalistisch, sondern in ihrer sozialen Eigenart als Seinsvorgänge und Kausalbeziehungen verstehen will." ([1925b]: 165) Weiter, ".. ob es nicht eine besondere Denkform ist, in der zuletzt das soziale Sein verankert ist." (165) Durch diese soziale Bedingtheit ergeben sich nun besondere Probleme für die Forschung, denn: "Gerade das nämlich, was die größere Lebensnähe des Sozialen ausmacht, daß wir selbst es sind, deren Tun und Leiden sich hier abspielt, bewirkt eine eigentümliche Erschwerung seiner wissenschaftlichen Erfassung." (172) Denn: "Erst die bewußte Denkarbeit bringt das soziale Problem zum Vorschein." (173 102)

6 Hilgers

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

Die Wissenssoziologie thematisiert erneut den allgemeinen sozialwissenschaftlichen Fehlervorbehalt, d.h. die besondere Problematik sozialwissen-

schaftlicher Forschung gegenüber naturwissenschaftlicher. Daß Soziologie als Sozialwissenschaft aber nur durch empirische Forschung zu "Erfahrbarem" gelangt, daß die empirische Sozialforschung sukzessive Theorie bilden und korrigieren kann, findet sich im Rahmen des Kölner Institutskontextes und der DGS nur verbal (Käsler 1984: 70/71; vgl. hier S. 75, Anm. 93). Bellebaum skizziert Tönnies' Verhältnis zur Empirie deshalb als "sekundär", weil zwar illustrierende empirische Eindrücke gesammelt werden, die theoretischen Überzeugungen aber nicht durch diese empirischen Forschungen dem "Scheitern" ausgesetzt werden (1966: 153-158). Bei den Frankfurtern entwickelt sich ein positiver Bezug auf amerikanische Vorarbeit, die Rolle der Empirie für die Theorie wird als eine "kritische" wahrgenommen, der allgemeine Fehlervorbehalt forscherisch berücksichtigt: "Unter anderem können Fragebogenmethoden auf mannigfache Weise in unsere Untersuchungen eingegliedert werden .. , wenn man nur immer weiß, daß induktive Schlüsse aus ihnen allein voreilig sind. Der wesentliche Sinn der Fragebogen liegt in unserem Fall in zwei Richtungen: Erstens sollen sie der Untersuchung Anregungen geben und sie in stetigem Zusammenhang mit dem wirklichen Leben halten, zweitens sind sie dazu da, anderweitig gewonnene Erkenntnisse an ihnen zu prüfen und auf diese Weise Irrtümer zu verhüten." (Horkheimer 1931: 44/45)

Von Wiese kündigt seine Beziehungslehre programmatisch an als" .. Aufgabe .. , die sozialen Beziehungen zu beschreiben, zu analysieren, zu gruppie-

101 Diese Verunsicherung der Sozialwissenschaften wird zusätzlich verstArkt durch die Kenntnisse von Debatten ober naturwissenschaftliche Exaktheit (vgl. Mannheim 1931: 676; Adler [1925b]: 167-171).

Auch der in der Zwischenkriegszeit kaum rezipierte polnische Mikrobiologe Fleck reflektiert in wissenssoziologischer Diktion die Verunsicherung, die bei der Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode entsteht., und kommt zum Schluß, wie Schnelle es zusammenfaßt: "Eine wissenschaftliche Tatsache ist nicht mehr etwas unabhlngig vom wissenschaftlich Handelnden Gegebenes, weil sich der soziologisch bedingte und historisch entwickelte Denkstil der wissenschaftlichen Erkenntnis aktiv aufzwingt." (Schnelle 1982: 38; vgl. Fleck 1980 [1935]: 109ft) Dadurch gelangt Fleck U.a. zu einer Verwendung des Begriffes A l1efakt im gemeinten Sinn. FrOher habe man geurteilt" .. daß die Beobachtung grundsitzlich keinen Einfluß auf den Zustand des beobachteten Gegenstands hat. Heute folgt aus der Quantentheorie, daß jede Beobachtung atomer Phlnomene Einfluß auf ihren AblaufausObt." (Fleck [1935] 1983: 59) Ebenso konstatiert er: ".. wir (sind) .. fortwlhrend Zeugen .., wie "Mutationen" des Denkstils eintreten... Wos noch vor einigen Jahren als Naturencheinung galt. encheint uns heute als KompreJC von A rlefakten." (Fleck 1980 [1935]: 38, m.H.; vgl. auch [1935] 1983: 67)

2.2 Wissenschaftstheoretische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung

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ren, zu messen und zu systematisieren. Es handelt sich also um eine Arbeit auf dem Boden der Erfahrung. Die Beziehungslehre ist rein empirischer Natur .. " (von Wiese 1921 b: 49/50). Auch hat er eine positive Haltung zur QuantiJizierung; er postuliert: "Was ohne "Entgeistung" der Sache quantifiziert werden kann, soll quantifiziert werden, weil das Meß- und auf Messung beruhende Verfahren des Vergleichens die Voraussetzung der gegenseitigen Verständigung ist. Das rein qualitative Urteil ist zu hlJujig die Quelle von MißverstlJndnissen." (von Wiese 1933/34: 391-400, m.H., Hinweis von von Aleman 1976: 671, Anm. 53) Aber, so konstatiert von Aleman: "Was er unter Quantifizierung verstand, bezog sich aber auf eine Formalisierung (fast könnte man sagen: Kalktllisierung) sozialer Prozesse .. " (1976: 660) Er hat ".. die Fortschritte in der Anwendung sozialwissenschaftlicher Erhebungs- und Analysemethoden nicht wahrgenommen .. und war auch nicht in der Lage, eigene Methoden und Techniken zu entwickeln." (ebd.) Ebenfalls hat er ".. die Fragebogenmethode - wie er das verächtlich nannte l03 - nie verwendet, hat nie Projektforschung (nicht zu reden von Auftragsforschung irgendwelcher Art) betrieben." (ebd.: 653) Das Kölner Institut setzt sich mit dieser formalen Soziologie durch und prägt das Bild der Zwischenkriegssoziologie. Insbesondere in der organisatorischen Verbindung der DGS mit den Kölner Vierteljahresheften kommt von Wiese die Rolle des "gate-keeper" zu (ebd.: 655), denn" .. alle wichtigen organisatorischen Funktionen der DGS (wurden) von Köln aus wahrgenommen." (ebd.: 660) Von Wiese habe das " .. Forschungsinstitut .. überwiegend genutzt als Redaktionsbüro für die Deutsche Gesellschaft für Soziologie." (ebd.) Festzuhalten bleibt: Die Wissenssoziologie kritisiert die Beschränkungen, die der Soziologie durch positivistische Haltungen auferlegt werden. Es geht gegen" .. psychologischen Reduktionismus und methodologischen Solipsismus .. " (Mejal Stehr 1982d: 916). Die zentrale Rolle der Erkenntniskritik für die Sozialwissenschaften wird entdeckt; laut Adler hat sie " .. vor allem erst die Art zu bestimmen, auf welche sozialwissenschaftliche Erkenntnis überhaupt möglich ist." ([ 1925b]: 171) Und: "Hier entfaltet sich also erst durch Erkenntniskritik das Wesen und die Eigenart des Gegenstandes der Sozialwissenschaft selbst." (ebd.) Die ".. positivistische Oberflächlichkeit .. " vertrete hingegen, " .. daß sie das Soziale ganz einfach als selbst-

103 Nach 1945 bezieht sich von Wiese positiv auf Soziometrie als seiner Beziehungslehre entsprechende empirische Forschungsmethode (von Wiese 1948b, 195 la; Hinweis von von Aleman 1976: 672, Anm. 71).

6"

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2. Problem genese der Artefaktforschung verständliche psychologische Wechselwirkung der Individuen auf .. empirischem Wege gewinnen und derart sogar das Individuum zum Produkt gesellschaftlicher Einwirkungen machen .. " kann (ebd.: 178).

Dabei würde die "Wechselwirkwlg" zwischen den Individuen zur Selbstverständlichkeit, ".. während sie in der Tat ein Wunder ist, "geheimnisvoll am lichten Tag"" (ebd.) Die Kernfrage bleibe: "Wieso wir aber in Leben und Wissenschaft diese gemeinsame Realität haben, und warum nicht alle bloß seltsame Träumer sind, die sonderbarerweise alle denselben Traum träumen .. " (ebd.: 178/ 179).

Adler sucht die Lösung in der Denkform von der "Möglichkeit der Allgemeingültigkeit des Denkens" (ebd.: 179), wo seines Erachtens der" .. soziale Grundcharakter des Bewußtseins sich bei Kant durchsetzt .. " (ebd.). Da die Anfänge der Soziologie in die Zeit fiel, als positivistische Grundanschauungen stark waren, konnte man ".. den Mangel einer erkenntniskritischen Problemstellung nicht einmal empfinden .. " (ebd.: 181), erst das Auftreten methodologischer Differenzen - er führt den Schmoller/ Menger Methodenstreit, Wundt und Mill (ebd.: 182/183) sowie die psychologische Analyse (ebd.: 185) an - bricht diese Sicherheit auf. Diese wissenssoziologische Kritik eröffnet die Möglichkeit des systematischen Hinterfragens empirischer Sozialforschung in fehlerkritischer Absicht, denn: "Es sind immer erst die Fortschritte der Wissenschaft selbst, welche die Fortschritte der Erkenntniskritik möglich, aber auch notwendig machen. Denn in der Erkenntniskritik entfaltet sich ja nur das Selbstbewußtsein der wissenschaftlichen Arbeit, die Selbstbestimmung Ober ihren Standpunkt und ihre Vorgangsweisen." (ebd.: 181)

Mit dem Programm der Wissenssoziologie werden die sozial Forschenden darauf aufmerksam gemacht, daß sie, die stets ein Teil dessen sind, was sie erforschen, sich der Bedingungen von dennoch möglicher Erkenntnis erst versichern müssen. Angedeutet wird die Möglichkeit der "empirischen" Prüfung dieser Bedingungen in der Erkenntniskritik, die sich an die Forschenden und ihre Methodenanwendung richtet. Im Programm steckt, über alle Differenzen, der wichtige Hinweis, daß eine forscherische Perspektive notwendigerweise an soziale Voraussetzungen gebunden ist, die diese aber nicht deshalb zu einer falschen machen.

2.2 Wissenschaftstheoretische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung

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2.2.2 Politisierung methodologiseher Überlegungen

Die Institute knüpfen an "Weimarer Fragen" an. In Frankfurt ist es die Suche nach Erklärungen für die verlorene deutsche Revolution 1919 (Bonß 1983b: 11). In Frankfurt und in Wien die Rolle der Arbeiterklasse für die weitere gesellschaftliche Entwicklung, in Köln die soziale Bewältigung der Kriegsfolgen (von Aleman 1976: 651/652). Die öffentliche Nachfrage nach Wissen über soziale Vorgänge ist allerorten hoch (Maus 1956: 79)10.. Auch methodologische Innovation und Regression sind verküpft mit politischen Bezügen. Max Adler bezeichnet die Webersche ".. strenge Betonung der Wertungsfreiheit aller objektiven Wissenschaft .. " als ".. die Übersteigerung eines kritischen Gedankens .. " der verwischt, daß es um die ".. Unterscheidung zweier Richtungen der Sozialpolitik, .. eine stationäre oder evolutionäre Sozialpolitik .. " geht ([1925a): 152). Er stellt fest, ".. daß, sobald sich eine soziologische TatsachenfeststeUung irgendwie einer vorhandenen entgegengesetzten politischen oder sozialen Einstellung nähert, sofort sich der tadelnde Vorwurf der Hereinziehung unzulässiger Wertungen erhebt .. ", also der Vorwurf des Werturteils selbst als (wissenschafts-)politische Strategie gebraucht wird (ebd.: 154). Deutlich wird, daß in den Auseinandersetzungen um Werturteilsfreiheit und Wissenssoziologie die Frage, wie Wissenschaft überhaupt möglich ist, aufs engste verknüpft wird mit der sozialpolitischen Fehlerfrage, in welchem Verhältnis stehen Wissenschaft und Politik überhaupt, gibt es eine wissenschaftliche Politik oder ist Wissenschaft strikt von Anwendung zu trennenlos? Die in der Auseinandersetzung um die Wissens soziologie virulente Frage der" sozialen Bedingtheit allen Seins" weist auf einen Kernpunkt systematischer Fehlerhaftigkeit in der empirischen Sozialforschung hin: Wo kann denn nun der sozialwissenschaftliche "Ort" sein, von dem aus etwas als falsch oder fehlerhaft bezeichnet werden kann?

100 In Amerika gehen Nachfrage und Finanzierung Hand in Hand - ".. so geht einmal von der kommerziellen Markt- und Meinungsforschung, die die vordringlich gewordene Absatzplanung erleichtern soll, und zum anderen, besonders wahrend des zweiten We1tkrieges, von verschiedenen Regierungsstellen, die Information verlangen und planvoller disponieren wollen, eine standig sich steigernde Nachfrage aus, die Forschungsinstitute entstehen läßt, reichliche Geldmittel zur Verfilgung stelh und den in den neuen Techniken versierten Soziologen eine einträgliche BerufssteIlung sichert." (Maus 1956: 79)

10' Mannheims Wissenssoziologie stelh filr Maus grundsätzlich die "Frage einer wissenschaftlichen Politik" (1956: 63).

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

Die sozialwissenschaftlichenReaktionen auf diese Problematisierung waren unterschiedlich: Zum einen wurde ein möglichst neutraler Ort anvisiert, zum anderen ein explizit durch Interessen definierter. Der Trend zu "reiner Wissenschaft" verstärkt sich im Rahmen der DGS und im Kölner Institue 06 , hier wird Soziologie als Theorie und Begriffbestimmung verstanden, der empirischen Sozialforschung nur eine sekundäre Rolle zugebilligt. In seiner Einführung der K ölner Vierte lJahreshefte fürSoz ialw issenschaften zieht von Wiese die Konsequenz: "Die Soziologie wird als rein theoretische Wissenschaft unter Ausschluß ihrer praktischen, zumal ihrer politischen Anwendung behandelt werden, während rur die Sozialpolitik gerade die Anwendung von Sozia11ehren im werktätigen Leben das Hauptmerkmal bildet." (1921a: 5)

Anders im Frankfurter Institut, das auf dem ".. Prinzip der Einheit von Methode und Gegenstand .. " bestand (Bonß 1982: 165), und mit empirischer Sozialforschung als Spekulationskorrektiv die materialistische Theorie zu einer" .. Theorie des historischen Verlaufs der gegenwärtigen Epoche .. " verdichten wollte (Horkheimer 1932a: III). Dies sei zwar von direkter Politik abzugrenzen aber nicht ".. sich selbst genügend und konsequenzenlos .. " (ebd.). Die methodologischen Auseinandersetzungen verraten die Brisanz der dahinterstehenden politischen Auseinandersetzungen. Es sind aber nicht mehr zwei sozialpolitische Haltungen wie im VfS, die gegeneinander stehen, sondern es ist die bereits mit dem Werturteilsstreit aufgeworfene Frage, ob Soziologie überhaupt eine gestalterische Praxis-Aufgabe hat, wobei die" .. Suche nach innerakademischer und allgemein gesellschaftlicher "Respektabilität" .. die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz der soziologischen Produktion zunehmend mehr in den Hintergrund (drängte)." (Käsler 1984: 550; vgl. auch Lynd 1948: 114ft) Nachdem das Kaiserreich zerbrochen war, nach dem ersten Weltkrieg und der russischen Revolution, kam die engagierte Soziologie rasch unter politischen Verdacht: " .. it was .. suspected, particularly by the historian Georg von Below and his followers, that the Weimar Republic tried to legitimize socialism with the help of sociology .. " (Schad 1972: 11; Vierkandt 1931b: VI).

1" Auch im Verein ftlr Sozialpolitik gab es nach dem zweiten Weltkrieg Ahnliche Tendenzen wie bei der DOS und dem Kölner Institut Man glaubte, seine sozialreformerisch erfolgreiche Rolle gespieh zu haben. Die Frage der sozialpolitischen Wirksamkeit tritt zurilck hinter die der prlzisen theoretischen Aussagen, die allgemeine Orientierung geht eher in eine wirtschaftstheoretische Richtung, daher wird die weitere Arbeit des Vereins hier nicht analysiert (vgl. Boese 1939: 172ft).

2.2 Wissenschaftstheoretische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung

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Diesem Verdacht wurde Wlterschiedlich begegnet. Zwn einen durch weitgehende Entpolitisierung, Verwissenschaftlichung und Formalisierung in der Einzelwissenschaft Beziehungslehre, die zwischen Theorie, Empirie und Anwendung strikt trennt; zum anderen durch die Konzeption von Wissenschaft als Gesellschaftskritik, durch das Konzept des interdisziplinären Materialismus, in einer Verschränkung von Theorie, Empirie und Anwendung. Ersteres wird auch mit dem Stichwort Affirmationswissenschaft, letzteres mit dem Stichwort Oppositionswissenschaft belegt (Käsler 1984: 31, 122/ 123yo7. Wissenschaft war für von Wiese ".. der höchstmögliche Grad von Abstraktion .. " (Schad 1972: 66, m.Ü.). Die Enthaltung von Werturteilen und Entpolitisierung gingen so weit, daß die eigene Verknüpftheit mit dem "Sozialen" der Forschung nicht mehr wahrgenommen wurde, Sozialforschung nur noch das Illustrativ einer schon gewußten Theorie war. Man wollte weg von dem aktivistischen sozialpolitischen Wissenschaftsverständnis Schmollers und immunisierte dabei die Theorie "Beziehungslehre" gegen das empirische Scheitern, insofern sie nie in Hypothesen formuliert mit der Realität konfrontiert wurde. Die frühen Frankfurter Studien wiesen hingegen der empirischen Forschung einen entscheidenden Stellenwert zu: Die dort geteilte marxistische Vorstellung vom Klassenbewußtsein und revolutionären Eifer der Arbeiterklasse und damit Resistenz gegenüber autoritären Wld faschistischen Ideologien sollte mit einem neuen Forschungsansatz Fromms untersucht werden, der in der Verknüpfung von marxistischer Analyse Wld psychologischer Motivsuche bestand lO8 • Den äußeren Anlaß für die Psychologisierung marxistischer Gesellschaftsanalyse erklärt Bonß aus dem Mißtrauen "linker Intellektueller" gegenüber der Rolle des Proletariats für die progressive gesellschaftliche WeiterentwicklWlg, insbesondere nach dem Scheitern der Novemberrevolution und vor dem Hintergrund, daß Teile der Arbeiter erkennbare Sympathien für faschistische Bewegungen zeigten, hier tat sich für diese ein" .. Mißverhältnis zwischen Sein und Bewußtsein .. " auf, das ".. erklärt bzw. überwunden werden .. " sollte (Bonß 1983b: 10/11). Man suchte, da die ökonomische Erklärungskraft der Marxschen Theorie noch als Wlgebrochen galt, die" .. Gründe für die relative Wirkungslosigkeit

'07 Die Wiener Konzeption liegt quer zur Kölner und Frankfurter Reaktion, insofern es zwar gesellschaftstheoretische BezOge gibt, diese aber nur teilweise in die empirische Forschung integriert werden (Kern 1982: 164f1). Die spAter von Merton vorgenommene Entwicklung eines Konzeptes von "Theorien mittlerer Reichweite" entspricht in etwa dieser Konzeption (1957).

'01 Psychologische Tiefeninterviews hielt man nicht flIr durchflIhrbar, aber in AnknOpfung an Levensteins Arbeitereinstellungsuntersuchung (Fromm [1929]: 51; vgl. auch Weber 1909) wollte man durch schriftliche, was z.T. bedauert wurde (ebd.: 55), aber möglichst offene Befragung subjektive Meinungen und Einstellungen erhalten.

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

der sozialistischen Aufklärungsarbeit notwendigerweise im subjektiven Bereich .. , und aus dieser Überlegung heraus bot sich fast zwangsläufig ein Rückgriff auf psychologische Deutungsmuster an." (ebd.: 11) Die marxistischen Überzeugungen über die Rolle und die Standfestigkeit des Proletariats werden durch die Ergebnisse der Studie weiter erschüttert. Denn es zeigten sich deutliche Affinitäten der befragten Arbeiter zu autoritären und nationalistischen Einstellungsmustern, d.h. ".. methodologisch gesehen wurde hiermit der Weg zu einer Falsifikationsanalyse eröffnet .. " (Atteslander u.a. 1991: 392, m.H.; vgl. auch Bonß 1982: 174; Migdal 1981: 111) D.h. die Hereinnahme des "politischen Forschungsmotivs" löst eine methodologische Innovation höchster Güte aus: Die "geglaubte" Theorie als operationalisiertes Modell scheitert - wird falsifiziert - an der Empirie, der Realität des proletarischen Bewußtseins der Weimarer Republik lO9 • Auf den von Kölnern dominierten Soziologentagen findet sich hingegen bis zum Ende der Weimarer Republik keine Nennung des Namens Adolf Hitler und keine Behandlung der drohenden Gefahr (Käsler 1984: 68ff, 93). Auch die Reaktionen der vom amerikanischen Soziologen Eubank 1934 interviewten namhaften deutschen Soziologen verraten eine erschreckende Naivität (Käsler 1984: 94-96; Papcke 1986b: 168ft). Dieser unterschiedliche Grad an politischer Bewußtheit hat unterschiedliche Reaktionen auf den aufkommenden Faschismus zur Folge. Frankfurt bereitet, gewarnt durch seine empirischen Studien die Emigration vor, Köln wird überrascht. Der Rückzug der Wissenschaft aus dem Bereich über die Aussagen, was sein soll, enthebt sie nicht aus der Verantwortung für das, was sie als das, was sein kann, skizziert hat. Die wissenssoziologische Debatte hatte erneut das Bewußtsein darüber geschärft, daß der Forscher kein gesellschaftliches Neutrum und die Ablösung von der Wertung oftmals nur eine fiktive ist, daß hinter vorgeblicher Werturteilslosigkeit defensive, nicht aufgedeckte Wertungen liegen. Horkheimer betont mit Vehemenz die aktive Rolle der Sozial forschung bei der Gesellschaftsgestaltung 110:

109 Die Frankfurter Studie ist so die einzige empirische Forschung, die das Leben ihrer Forscher rettete, so LöwenthaI in seinen Erinnerungen (vgl. Kern 1982: 149). Denn die Ergebnisse waren mit Anlaß, die Emigration vorzubereiten. 110 Lazarsfeld will auch anflnglich " .. die Diskrepanz zwischen ökonomischer Situation und mangelndem politischen Handlungspotential durch Bildungsarbeit .. überwinden, um "den Geist des Sozialismus zu verbreiten"." (Hinweis von Bonß 1983b: 40, Anm. 33 auf Lazarsfeld 1975: 149)

2.2 Wissenschaftstheoretische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung

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"Eine Wissenschaft, die in eingebildeter Selbständigkeit die Gestaltung der Praxis, der sie dient und zugehört, bloss als ihr Jenseits betrachtet und sich bei der Trennung von Denken und Handeln bescheidet, hat auf ihre Humanität schon verzichtet. Selbst zu bestimmen, was sie leisten, wozu sie dienen soll, und zwar nicht bloss in einzelnen StUcken, sondern in ihrer Totalität, ist das auszeichnende Merkmal der denkerischen Tätigkeit. Ihre eigene Beschaffenheit treibt sie daher zur geschichtlichen Veränderung ... Der Konformismus des Denkens, das Beharren darauf, es sei ein fester Beruf, ein in sich abgeschlossenes Reich innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen, gibt das eigene Wesen des Denkens preis." (1937a: 292)

Daß es eine fruchtbare Haltung für die empirische Forschung sein kann und zu reflektierter Methodenverwendung führt, wenn man das Wozu der empirischen Forschung aktiv bestimmt, belegen die Frankfurter und Wiener Studien der Zwischenkriegszeit. Wird aber die Werturteilsfreiheit methodologisch überhöht und Forschung von allen qualitativen und interpretativen Überlegungen abstrahiert, so entsteht eine Blässe, die am Gegenstand der Sozialforschung vorbeigeht.

2.2.3 Methodologische Konfundierung der Fehlerforschung

Ganz allgemein hat sich der Gedanke von der Subjektivität des Forschers, der möglichen Fehlerhaftigkeit der erfaßten Daten und der Sozialität empirischer Sozialforschung verbreitet, welche es zu vermeiden oder zu kontrollieren gelte. Eckert hält z.B. das am Kölner Institut eingerichtete Kollegialsystem bereits für eine organisatorisch-strukturelle Vorkehrung gegenseitiger Kontrolle gegen die Subjektivität des einzelnen Forschers. Die ".. Zusammenarbeit mit Andersdenkenden, aber Gleichgerichteten .. " sorge dafür, daß bei ".. der Vorbereitung von Untersuchungen, bei der Ausarbeitung weitgreifender Pläne, im öfteren Austausch über Forschungsmethoden und Forschungsziele .. Fehlerquellen sich ausgleichen (werden)." (1921: 16) In der Statistik reflektiert man über verschiedene Fehlerquellen. Zizek konstatiert, bezogen auf allgemeine statistische Massenerhebungen, z.B. Volkszählungen, daß ".. einzelne Erhebungseinheiten der Erhebung entgangen sind; die Erhebung ist infolgedessen unvollständig .. " (1923: 100), daß es ".. unrichtige Angaben eines Erhebungsmerkmals .. " gibt oder die ".. Angabe eines Merkmals unterblieben .. " ist (ebd.: 101). Dies kann sein ".. die Folge unzulänglicher Organisation der betreffenden Erhebung .. ". (ebd.) Oder:

2. Problemgenese der Artefaktforschung

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" .. Vielfach liegt die Schuld jedoch auf Seiten der st. 1II Auskunftsperson. Bei primärer St. spielen namentlich Nachlässigkeit, Bequemlichkeit, manchmal Eitelkeit, Mißtrauen (z.B. Steuerfurcht trotz zugesagter "nur st. Verwendung") eine Rolle, gelegentlich auch andere, z.B. konfessionelle, nationale Motive. Nicht zu übersehen ist, daß sich bei manchen Fragen das subjektive Moment nicht ganz ausschalten läßt; die Weltanschauung, der Parteistandpunkt, die wirtschaftliche Rolle als Käufer oder Verkäufer, als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer können unbewußt beeinflussen." (ebd.)

Aus der mathematischen Fehlertheorie wird die Unterscheidung von zufälligen und systematischen Fehlern übernommen. Erstere gleichen sich aus, letztere führen zu verzerrenden Einflüssen (ebd.: 102/103). Zur Fehlervermeidung empfiehlt er Pre-tests (ebd.: 130) und die Kontrolle der Bearbeitung durch "Revisionsorgane" , schlägt also quasi institutionalisierte Reanalyse vor (130)112. Im Frankfurter Kontext wird von Fromm die Problematik der Befragungsmethode diskutiert: "Um eine Beeinflussung des Antwortverhaltens durch den globalen Kontext zu verhindern, wurden die Fragen nicht gemäß der Logik der Untersuchung angeordnet, sondern absichtlich Ober den ganzen Fragebogen verstreut." ([1929]: 56/ 57 113)

Bei Fromm und bei Schachtel finden sich Einwände gegen die insbesondere in Amerika entwickelten Einstellungsmessungen durch multiple-choice Verfahren, weil sie das Antwortverhalten durch die Suggestivkraft der angebotenen Kategorien fehlerhaft präformieren könnten ([ 1929]: 57-60). Die Quantifizierung wird nicht abgelehnt, nur ihre Überhöhung als die exakte Anwendung der Sozial forschung als fehlerverursachend beschrieben (Schachtel 1937: 597-624). Fromm plädiert demgegenüber für diese Fehler vermeidende offene, nicht die Antworten vorstrukturierende Fragen zu Einstellungen, weil die "individuelle Ausdrucksform" reichhaltiger sei ([ 1929]: 59t). Er reflektiert, daß die Länge des Fragebogens dazu führen könnte (abgedruckt in Bonß 1983a: 294-300), daß engagierte Beforschte überrepräsentiert sind ([ 1929]: 63), berichtet von Verzerrungen bei Rücklauf, die sich nicht nur als Ausfall, sondern auch inhaltlich interpretieren lassen (ebd.: 75-79). Unter Bezug auf Lazarsfeld werden die Ein-

111

Mit st ist statistisch abgekOrzt, mit St Statistik.

112 Ähnliche Reflexionen und Verbesserungsvorschläge fmden sich bei Hiess 1931 filr Osterreichische Volkszlhlungen (42-43,51-76,100-101, 108-109,125-126,155-156,178-182,219-220). \13 Gemeint sind die filr das subjektive Empfmden relevanten Fragen nach Weltanschauung und politischer Orientierung (Fromm [1929]: 56).

2.2 Wissenschaftstheoretische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung

91

stellungsfragen deskriptiv und interpretativ klassifiziert (62/63; vgl. Lazarsfeld 1937). Daß letzteres nicht ohne eine Bewertung möglich ist, wird eingestanden. Innerhalb des Frankfurter und des Wiener Institutes werden also nicht nur die programmatischen Äußerungen des VfS zur vollständigen Enquete eingelöst, sondern unter Berücksichtigung der Fehleranfälligkeit des Forschungsprozesses auch die Möglichkeiten zur Verbesserung diskutiert. Durch diese Reflexionen bildet sich hier und anderenorts die Begriffsumgebung, der Forschungskorpus einer eigenen Fehlersuchforschung zur empirischen Sozialforschung heraus. In den 20er Jahren setzen sich die artefaktologischen Vorbehalte gegenüber Labor-, aber auch Interview-Beziehungen zwischen Forscher und Untersuchtem als rudimetär eigenständige Wissenschaftsentwicklung durch (vgl. Bungard 1984: 30-32). Verbreitet sind z.B. mittlerweile Vorstellungen vom durch Reanalysen erkannten "bias". Rice weist 1929 auf eine kleine Reanalyse hin, welche er zur Aufdeckung von verzerrenden Vor-Einstellungen bei Untersuchern unternahm. Die Untersuchung sollte die Gründe von Wohnungslosigkeit anläßlich einer Bewerbung um eine kommunale Unterkunft erfragen. Dem Autor fallen uniforme Antwortmuster bei verschiedenen Interviewern auf (Rice 1929/30: 421). Er vergleicht das von verschiedenen Interviewern erhaltene Antwortverhalten mit Einstellungen der Interviewer und findet heraus, daß Untersucher A, welcher von der segensreichen Wirkung der Prohibition überzeugt war, wesentlich häufiger als B, ein überzeugter Sozialist, Alkohol als Ursache der Wohnungslosigkeit fand. B wiederum fand häufiger als A wirtschaftliche Gründe als Ursache. Beide, so schließt er, waren in der Lage, ihre Überzeugungen auf die Untersuchten zu übertragen (ebd.: 422; vgl. auch Friedman 1942; Stanton! Baker 1942). Auch wenn der Begriff Artefakt bis Ende der 1940er Jahre des Jahrhunderts meistens im archäologisch-anthropologisch-ethnologischen Kontext als Bezeichnung eines künstlichen, von Menschenhand geschaffenen Werkzeugs u.ä. benutzt wird (McClung Lee 1955 [1939]: 123,146; Meyers Lexikon 1936: 591), wird nun die Fehlerträchtigkeit der ganzen Forschungssituation insbesondere in der sozialpsychologischen Laborforschung reflektiert, z.B. bei Rosenzweig, der explizit an die tierpsychologischen Experimente Pfungsts anschließt (1933: 352)114. Rosenzweig beklagt, daß die experimentelle Situation, da sie eine soziale ist, selbst ein psychologisches Problem darstellt (1933: 337, 345). Er stellt fest, daß Fehler durch bestimmte Aspekte derPerson des Forschenden,

92

2. Problemgenese der Artefaktforschung

durch den bei Boring exemplifizierten "stimulus error"m oder durch Übertragung von Erwartungen des Forschenden möglich sind (350-352). Rosenzweig empfiehlt zur Abhilfe möglichst die Naivität der zu Untersuchenden zu erhalten, sie starken Reizen auszusetzen, gegen die sie sich kaum wehren können, sie ggf. unbemerkt zu beobachten, sie jedenfalls zu täuschen über den wahren Zweck der Untersuchung, denn wenn sie vorgewarnt würden seien sie auch gewappnet und dementsprechend nicht mehr naiv (346ft). Reanalysen erster Ergebnisse der berühmten Hawthome-Studien führen bereits während der Untersuchung zum Methodenwechsel hin zu offenen Interviews, da es bei den standardisierten Befragungen zu starken Reaktivitäten kam, insofern die Befragten mehr auf das Instrument als auf die inhaltlichen Fragen reagierten (Roethlisberger/ Dickson 1956 [1939]: 270-291; vgl. auch Lana 1969: 121-141)116. Es werden neue Orientierungsregeln für die Interviewer ausgearbeitet, so z.B.: "IV. A. The interviewer should remember that the interview is itself a social situation and that therefore the social relation existing between the interviewer and the interviewee is in part determining what is said." (Roethlisberger/ Dickson 1956: 273, vgl. auch 272-291)

114 Die komplexe Studie von Pfungst löste eine Reihe von Forschungen über die Kommunikationsprozesse zwischen Mensch und Tier aus und wurde dann schließlich auch 1937 von Warner und Taible sowie von Kcnnedy und Uphoff (vgl. Bungard 1984: 31, letztere waren mir leider nicht zuglnglich) auf die Kommunikation zwischen Versuchsleiter und Versuchsperson im Labor übertragen. Sie vermuteten, Ahnlich wie Pfungst, Hansen und Lehmann " .. daß winzigste Signale, die unbewußt vom Versuchsleitcr ausgehen, eventuell die Reaktion der Versuchsperson beeinflussen könnten." (RosenthaI 1977: 15)

m 1m Zusammenhang mit der Diskussion über den "stimulus-error" führt auch der Psychologe Boring, bereits vor Fleck (vgl. hier S. 82, Anm. 102) den Begriff "Artefdct" als durch Forschung induziertes fehlerhaftes Ergebnis ein (1921: 451, vgl. auch 1920a, b). Auch der Begriff "stimuluscrror" hat eine bis in die Anflinge des 19. Jhd.s zurQckrcichende Entwicklung, die eng mit Debatten über die richtige psychologische Methode und Methodologie verküpft ist. Auch hier wird er zum Kampfbegriff in der Auseinandersetzung um quantiative oder qualitative Methodologie (vgl. Boring 1969; Stern 1921: 32-35). 116 Bei den herkömmlichen questionaires tauchte ein Problem auf: "Tbere was the difficulty of framing a question without suggesting a significance to the individual which the object of the question might not have for him. Tbe direct type of interviewing tended to elicit opinions on topics which the interviewer, rather than the employee, thought to be of importance." (Roethlisbergerl Dickson 1956: 271)

2.2 Wissenschaftstheoretische Verunsicherung der empirischen Sozialforschung

93

Auch Myrdal entdeckt durch Reanalysen Verzerrungen in Untersuchungen über die Konflikte zwischen schwarzen und weißen Amerikanern. Er sieht vor allen Dingen nicht explizit eingeführte Interessen und Wertungen als Ursache dieser Verzerrungen, die Fragestellung und Datenselektion beeinflussen und empfiehlt zur Abhilfe deren explizite Einführung und empirische Prüfung (1944: 1036; 1965). Denn Statistik und der Bezug auf wertneutrale Faktensammlung, sowie politisch-praktische Abstinenz seien keine Garantien für zutreffende Forschungsergebnisse (1944: 1041-1043). Seine Konsequenz, ähnlich wie die Horkheimers: "The valuations will, when driven underground, hinder observation and infercnce from becoming truly objective. This can bc avoided only by making thc valuations explicit. There is no other device for excluding bioses in sociaJ sciences thon to

face the vaJuations and to introduce them os explicitly stated, specijic, and sufficiently concretized vaJue premises." (1043)

Es sind alle bereits aus der Vorgeschichte empirischer Sozialforschung bekannten Aspekte von Fehlererkenntnis vorhanden, allgemeines sozialwissenschaftliches Fehlerbewußtsein, d.h. Wissen um die speziellen Probleme der Erforschung des sozialen Bereichs gegenüber dem natürlichen, sozialstatistisches Fehlerbewußtsein, hier Wissen umdie Dilemmata der methodologischen und methodischen Verküpfung qualitativer und quantitativer Aspekte der Forschung, und das sozialpolitische Fehlerbewußtsein als Thematisierung der sozialen Bedingungen und Auswirkungen von Forschung. Zum Wissen um die möglichen Fehleraspekte gesellen sich verschiedene

Empfehlungen zur Abhilfe: Kontrolle der Forschungssituation durch möglichst

weitgehende Ausklamrnerung fehlerverursachender sozialer und politisch-praktischer Einflüsse, Kombination von Methoden zur Vervielfältigung von Empirieperspektiven und gegenseitiger Ergebnisanreicherung sowie transparent gemachte Wertung und deren Prüfung. Ersteres und letzeres sind wissenschaftstheoretisch gegensätzliche, unvereinbare Positionen, letzeres ist in dieser Zwischenkriegszeit akzeptierte for-

schungspragmatische Mitte.

Es bleibt aber festzuhalten: Bevor sich überhaupt eine systematische Fehlerforschung etablieren kann, legen sich die sozialwissenschaftlich empirisch Forschenden auf unterschiedliche Akzentuierungen der Fehlerproblematik für eben diese empirische Sozial forschung fest. Die zur Behebung eingeschlagenen Empfehlungen differieren so bereits, bevor Artefaktforschung ein systematisches Forschungsprogramm war, und korrespondieren mit unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Haltungen.

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

2.3 Entwickelte DitTerenzen innerhalb fehlerkritischer Haltungen Es konnte nachgewiesen werden, daß schon die Vorläuferfonnen artefaktologischer Vorbehalte die Methodenbewußtheit und damit die Methodenanwendung von emprischer Sozialforschung beeinflußt haben ll7 . Zur Venneidung von Fehlern im Forschungsprozeß und daraus resultierenden Verzerrungen des Ergebnisses wurden drei verschiedene Abhilfemöglichkeiten praktiziert: 1. Ein multimethodischer Ansatz, d.h. Kombination verschiedener Methoden zur Vennehrung der sich gegenseitig erhellenden verschiedenen Empirieperspektiven - die sozialwissenschaftliche Haltung. 2. Kontrolle der Forschungsbedingungen durch Ausschluß von Wertungen und Entwicklung von Forschungskonzepten analog denen des naturwissenschaftlichen Experiments - die naturwissenschaftliche Haltung. 3. Explizit Interesse und Wertung einsetzende Forschung, die die konstatierte Unvenneidlichkeit derselben durch nachvollziehbare und damit korrigierbare Transparenz aufhebt - die (sozial-)politische Haltung. Die Unterschiede im Selbstverständnis von Soziologie als Erforschung "sozialer Tatsachen" über "Soziologie als reine Theorie" bis "Soziologie als Gesellschaftskritik" reichen auch nach dem zweiten Weltkrieg in die Konzeptionen von empirischer Sozialforschung hinein. Den unterscheidbaren Rollen der Empirie für den F orschungsprozeß entsprechen verschiedene Vorstellungen von dem, was in dieser und mit dieser Forschungfalsches passieren kann für die Soziologie. Dieser dritte historische Abschnitt ist gekennzeichnet durch die Paradigmatisierung unterschiedlicher Konzepte von Soziologie und empirischer Sozialforschung und der Ausbildung systematischer Artefaktforschung, nun auch unter expliziter Verwendung des Begriffs zur Kennzeichnung von Fehlerhaftigkeit empirischer Sozialforschung. Fehleiforschung wird selbst von einer anfänglich unsystematischen Unzufriedenheit zu einem Forschungsprogramm. Für die bundesrepublikanische Nachkriegs-Soziologie ist empirische Sozial forschung konstitutiver Bestandteil. Universitärer Ort dieser Weiterentwicklung werden die die folgenden Auseinandersetzungen dominierenden sozial wissenschaftlichen Schulen, hier insbesondere Köln und Frankfurt. Entscheidende Impulse für die Systematisierung der

117 In Kapitel 2.1 wurde z.B. nachgewiesen, daß die bereits vor dem ersten Weltkrieg entwickel· ten Aspekte des FehlerverstAndnisses von empirischer Sozialforschung, zusammengesetzt aus allgemeinem Fehlerbewußtsein, statistischem Fehlerbewußtsein und sozialpolitischem Fehlerbewußtsein (vgl. Abschnitt 2.1.3) zu einer Verbesserung von Forschungskonzepten in der monographischen Linie, z.B. bei Schnapper-Amdt und Tönnies fOhrten (vgl. hier S. 41/ 42).

2.3 Entwickelte Differenzen innerhalb fehlerlcritischer Haltungen

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Fehlerkritikforschung gingen von den im europäischen Kontext während der Zwischenkriegszeit heftig geführten Debatten um Werturteile, die soziale Bedingtheit des Wissens und die dazu passende richtige wissenschaftstheoretische Grundausrichtung aus (vgl. Abschn. 2.2.1). Ihre Relevanz für die Forschung kann sich aber durch den die Forschung abschneidenden zweiten Weltkrieg \l8 zunächst vor allen Dingen in Amerika durchsetzen und dort systematisiert werden zur fruchtbaren Perspektive einer nun systematischen Kontrollforschung: derArtefaktforschung. Die Adaption dieser Erkenntnisse im bundesrepublikanischen Nachkriegskontext führt durch die erneute Konfundierung mit wissenschaftstheoretischen Debatten in den 60er und 70er Jahren, insbesondere im "Positivismusstreit" und in der Rekonzipierung der kritischen Theorie, zu einer Umformung und Erweiterung des artefaktologischen Vorbehalts. Diese Umformung und Erweiterung wirkt sich dann ihrerseits wieder auf die Theorie - z.B. auf die Stärkung des Interpretativen Paradigmas -, die Praxis - z.B. die der Aktionsforschung -, und die Methodik der empirischen Sozialforschung - insbesondere auf die in den 80ern einsetzende Renaissance qualitativer Sozialforschung -, aus. Genau wie in den vorangegangenen Teilen wird zunächst anband hervorragender Auseinandersetzungen um die Güte von empirischer Sozialforschung die wissenschaftsinterne Entfaltung der fehlerkritischen Weiterentwicklungen nachvollzogen (Abschnitt 2.3.1), getrennt nach den relevanten Denkfiguren der Frankfurter (2.3.1.1) und Kölner Schule (2.3.1.2) und ihrer Hauptauseinandersetzung im "Positivismusstreit" (2.3.1.3). Des weiteren wird geprüft, welche externen Stimuli mit diesen Entwicklungen konfundiert waren (Abschnitt 2.3.2) und welche Ausarbeitungen der Artefaktproblematik formuliert werden (2.3.3).

111 Die Zahlen Ober den Emigrationsverlust fmden sich bei Ferner. Er stelh fest, daß die Sozialwissenschaften mit am stirksten betroffen waren mit bis zu einem Drittel des Lehrkörpers (1956: 144; dazu auch König 1959b).

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

2.3.1 Paradigmatische Dirrerenzen und ihre fehlerkritische Relevanz

Da viele Sozialwissenschaftler aus Deutschland durch den Faschismus vertrieben wurden, gab es einen erneuten Entwicklungschnitt ll9. Das in dieser Zeit nicht Rezipierte führte insgesamt zu einer "Verspätung" der Entwicklung. Das in der Emigration, insbesondere in Amerika, Erfahrene wurde zusätzlich unterschiedlich umgesetzt entlang der bereits in der Zwischenkriegszeit sich ausbildenden grundsätzlich unterschiedlichen Auffassungsweisen von emprischer Sozialforschung. Für Kern ist nach dem Krieg überhaupt "" die zentrale Konfliktlinie des Faches" die Stellung der empirischen SozialJorschung im soziologischen Erkenntnisprozeß ,," (Kern 1982: 220, m.H.) So sieht es auch Adorno in einem rückblickenden Kommentar zum Positivismusstreit, es könne "" nicht deutlich genug hervorgehoben werden, daß es bei dem Streit nicht um empirische Sozialforschung oder deren Unterbleiben geht, sondern um ihre Interpretation, um die Stellung, die ihr innerhalb der Soziologie zugewiesen wird." ([ 1969d]: 53912~

König spricht von "fundamentalen Differenzen", deren "entscheidender Zug" sei, "" ob im Durchschnitt mehr der theoretische oder mehr der empirische Ausgangspunkt betont wird." (1968c: 13) Diese Auseinandersetzung um den Stellenwert der Sozialforschung verläuft, trotz anfänglicher Zusammenarbeie 21 , hauptsächlich zwischen den Repräsentanten der sich jetzt verfestigenden verschiedenen Schulen - Köln und Frankfurt und mündet schließlich in den Positivismusstreit.

119 Die Entwicklung derer, die dablieben, ist mittlerweile auch gut dokumentiert, sie reicht von Tod durch die Faschisten bis Mitmachen bei den Faschisten im Rahmen von Konzepten "deutscher", soll heißen "völkischer" Soziologie (vgl. König 19S9b, Klingemann 1986; Schelsky 1967: 39-41). Von einem absoluten Bruch zu reden, verbietet sich, da es gerade in der empirischen Sozialforschung auch direkte Kontinuitlten gab; die "modemen" Techniken empirischen Sozialforschung ließen sich eben auch mit klarer "Zweckbestimmung" als Behemchungs- und Unterdrükkungsinstrument funktional einsetzen (Bergmann 1981).

1211 Die Angaben zu Adorno beziehen sich, wofern nicht anders ausgewiesen, auf den Bd. 8 seiner Schriften (hrsg. von Tiedemann: 1972) mit der Jahres-Angabe der Ersterscheinung in [ .. ] eckigen Klammem. 111 Zum Beispiel bei der Erarbeitung eines Glossars amerikanischer Fachausdrücke zur empirischen Sozialforschung (vgl. König 1968b: 9/ 10).

2.3 Entwickelte Differenzen innerhalb fehlerkritischer Haltungen

97

2.3.1.1 Frankfurter Denkfiguren

Folgende vier zentrale Denkfiguren (A - D) tauchen immer wieder in Frankfurter Beiträgen zur Soziologie und empirischen Sozialforschung aufl22 : (A) Realität, soll heißen die objektive Gesellschaftsstruktur, setzt sich hinter den Köpfen der Menschen durch, deshalb reichen subjektive "Daten" nicht aus, sondern müssen hinterfragt, interpretiert und mit objektiven Daten konfrontiert werden (Adorno [1955]: 44, [1964]: 537, [1969d]: 543/544). Hinter dieser Überlegung steckt die Frankfurter Überzeugung vom Unterschied zwischen Wesen und empirischer Erscheinung, also daß eine Meinung z.B. nur "falsches Bewußtsein", "Epiphänomen" vom objektiven Sachverhalt sein kann (Institut für Sozialforschung ([1955]: 65; [1957]: 203; (IfS) 1956b: 432)123.

Diese Verblendung herauszustellen, sei die Aufgabe der Sozialforschung ([1952]: 481/ 482) Die empirische Sozialforschung soll dabei den Menschen Erkenntnisse vermitteln, die sie selbst nicht mehr oder nur zum Teil haben können ([ 1955]: 54, [1959]: 503). Sie wird unwahr, wenn sie dies nicht tut ([ 1957]: 207/208). Diese Aufgabe werde mehrfach behindert. Grundsätzliches Problem der empirischen Sozialforschung sei, daß vielfach die relevanten "Daten" überhaupt nicht ermittelt werden könnten, denn" .. in Deutschland wie in der ganzen Welt stößt die Soziologie überall dort auf Schwierigkeiten, primäres Material heranzuschaffen, wo sie gesellschaftliche Nervenpunkte berührt." ([1959]: 511)

122 Beiträge der Frankfurter Diskussionen zu empirischer Sozialforschung fmden sich im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften 1956; Stichwort: Sozial[orschung, empirische bearbeitet vom Frankfurter Institut ftlr Sozialforschung (1fS 1956b); bei Horkheimer 1959 zu Soziologie und Philosophie; Adornos Texte dazu sind versammelt im Bd. 8 seiner Gesammelten Schriften, etwa die AufsAtze 1952 "Zur gegenwllTtigen Stellung der empirischen Sozial[orschung in Deutschland", gehalten auf der Weinheimtagung 1951 (Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten e.V. 1952), und 1957 zu Soziologie und empirische Sozial[orschung, dazu die Beiträge der internen DGS-Arbeitstagung von 1961 in Tübingen insbesondere Adornos "Zur Logik der Sozialwissenschaften" (1981c), nicht zu vergessen schließlich Habermas 1967 - Zur Logik der Sozialwissenschaften - um nur die wichtigsten zu nennen.

Die Haltung der Frankfurter zur empirischen Sozialforschung wird von Bogumil/ Immerfall hervorragend herausgearbeitet und dient mir als Ausgangspunkt zur Bestimmung der fehlerkritischen Argumentationen. (1985: 72-88). 113 Immer wieder angeftlhrtes Beispiel: Selbst wenn die Mehrheit der Arbeiter sich nicht mehr als solche bezeichnet, muß das nichts über ihren objektiven Status aussagen (1fS 1956b: 432). Hier wird die ftlr Frankfurt typische Verknüpfung von Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie deutlich (Adorno [1957]: 206/207).

7 Hilgers

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

Auch der Trend zur Quantifizierung stört, wenn die ".. dinghafte Methode .. das verdinglichte Bewußtsein ihrer Versuchsperson (postuliert)." ([ 1957]: 203) Als negatives Beispiel führt er die im "radio research project" zugrundegelegte Unterscheidung von klassischer und populärer Musik an, die ja eine gewachsene, keine natürliche und deshalb nicht durch vorgegebene Kategorien abfragbare sei ([ebd.]: 203ft). Auch in der Abdrängung nicht operationalisierbarer wissenschaftlicher Gedanken in den Entdeckungszusammenhang und in der Akzeptanz dieser methodologischen Entscheidung liege die Gefahr der "Verdinglichung" 124: "Die Frage nach dem gesellschaftlichen Sinn von Phänomenen gilt vielfach rur müßig, die nach der gesellschaftlichen Gesamtstruktur, die dem Einzelnen solchen Sinn verleiht, wird allenfalls auf spätere Synthesen vertagt. Trotz vereinzelter Ausnahmen mist zumal das gesellschaftskritische Motiv der Soziologie aus dem Betrieb der empirischen Sozialforschung zugunsten von "Realsoziologie" verbannt. Insofern stellt sie die radikale Konsequenz aus der Forderung nach "wertfreier" Soziologie dar, wie sie vor 50 Jahren von Max Weber und seinem Kreis erhoben wurde." (IfS 1956b: 431)

Nur die angesprochene gesellschaftstheoretische Haltung könne diesen Sprung zwischen Wesen und Erscheinung beheben: "Unter diesem Aspekt mag die so gern spekulativ gescholtene Frankfurter Schule realistischer sein als ihre Kontrahenten. Denn das an den Subjekten Ermittelte ist zu einem Grad, der seinerseits der wissenschaftlichen Feststelung nicht sich entzieht, Funktion der objektiven Gegebenheiten." ([1969d): 545; [1957]: 199)

Für Adomo galt deshalb: "Empirie und Theorie lassen sich nicht auf einem Kontinuum eintragen." ([ 1957]: 198) Es sei zwar ".. selbstverständlich, daß nicht alle empirisch-soziologischen Erhebungen kritische Funktionen erfüllen .. " ([1952]: 482), aber es bestehe folgende Gesamtaufgabe: ".. Hat die Theorie der Gesellschaft den Erkenntniswert der Erscheinung kritisch zu relativieren, so hat umgekehrt die empirische Forschung den Begriff des Wesensgesetzes vor Mythologisierung zu behüten." ([1957]: 214)

tU Wir haben es hier mit einer doppelten Verdinglichung zu tun: [a] Verdinglichung der Äußerungen der Menschen und [b] Verdinglichung der die Äußerung erfassenden Methoden durch die gesellschaftlichen VerhAltnisse. Weder Menschen als Befragte, noch z.B. ausschließlich benutzte quantitative Methoden geben also unverstelIten, soll heißen fehlerfreien Aufschluß über die Realität (vgl. auch Labical Besussan 1989: 1366-1369).

.., Hier wird Lazarsfelds "Remarks on Administrative und critical communicalion research" angefilhrt (1941; vgl. IfS 1956b: 431).

2.3 Entwickelte Differenzen innerhalb fehlerkritischer Haltungen

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(B) Theorie muß durch Empirie korrigiert und kontrolliert werden. Dazu sind alle der Sozial forschung zur Verfügung stehenden Methoden, qualitative und quantitative, subjektiv-psychologische oder objektiv-ökonomische anzuwenden. Wo die Realität der Quantifizierung zugänglich ist, kann sie auch durch quantitative Methoden erfaßt werden ([1952] 488/489, vgl. auch [1957]: 202).

Um sich vom naturwissenschaftlichen Gebrauch zu distanzieren, sprechen die Frankfurter statt von Methoden lieber allgemein von Verfahrensweisen der Empirieermittlung und -verarbeitung (IfS 1956b: 422; Adorno [1957]: 196). Empirische Forschung soll grundsätzlich Theorie korrigierenden Charakter haben ([1952]: 481, auch [1957]: 208; [1969d]: 540). Die Kombination verschiedener Verfahrensweisen und die Konfrontation der u.u. verschiedenen Ergebnisse sollen die Verschränkung von Aussagen über den subjektiven Mikro- und den gesellschaftlichen Makro-Bereich ermöglichen ([ 1969d]: 541). Der Gegensatz zwischen quantitativen und qualitativen "Verfahrensweisen" wird nicht als "absolut" angesehen, insofern z.B. die qualitative Differenz konstituierend für überhaupt mögliche quantitative Aussagen sei, die Kategorien quantitativer Generalisierungen selbst aber qualitativ bestimmt werden müssen ([ 1957]: 204/205) Auf der Weinheimtagung verweist Adorno 1951 noch auf das "demokratische Potential" der Meinungsforschung, da dort jeder qua Befragung seine Meinung kundtun könne ([1952]: 479, 482)126. Als grundsätzliche Frankfurter Haltung zu den "Verfahrensweisen" bleibt unter Berücksichtigung von [A] festzuhalten: Das auf vielfältige Art und Weise Erfaßte ist nicht alles, was man über die Realität sagen kann. Es ist mehr zu sagen, als nur das, was "empirisch" der Fall ist. (C) Es besteht ein Gegensatz zwischen Natur- und Sozialwissenschaften. In den Sozialwissenschaften besteht ein enger Zusammenhang zwischen den Verfahrensweisen, den Prognosemöglichkeiten und der gesellschaftlichen Entwicklung. Daher läßt sich sozialwissenschaftliche Objektivität nicht allein durch die Exaktheit der Methode garantieren.

IZ6 Später ist Adorno skeptischer, da er mit Habennas den "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Buchtitel Habermas (1981a [Erstaufl. 1962)) als Zerfall auffaßt ([1964]: S34). Zerfall in dem Sinne, daß öffentliche Meinung nicht unverstelItes individuelles Datum ist, sondern z.B. durch Massenmedien hergestelltes. Diesen Wandel hinterfrage die Meinungsforschung nicht "sozialkritisch" ([ebd.]: S36), sie werde so zur Ideologie ([ebd.]: S37), was, wie bereits frilher konstatiert, auch der Sozialforschung insgesamt passieren kann, wenn ".. sie die öffentliche Meinung absolut setzt." ([19S7]: 215) Dies filhrt auch zu einer insgesamt distanzierteren Haltung gegenüber empirischer Sozialforschung bei den älteren Vertretern der Frankfurter Schule (vgl. Bogumil! lmmerfall 1985: 73, 87; Wiggershaus 1986: 534ft).

7*

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

Der im Handwörterbuch für Sozialwissenschaften von Adorno und seinen Mitarbeitern verfaßte Text über "Sozialforschung, empirische" macht direkt am Anfang die Haltung des wiedergegründeten IfS klar: "Dem strikten Wortsinn nach wären unter empirischer Sozialforschung alle wissenschaftlichen Bemühungen zur Erkenntnis von Gesellschaftlichem zu verstehen, die, im Gegensatz zur Spekulation, als ihren Rechtsgrund die Erfahrung gegebener Tatsachen betrachten." (IfS 1956b: 419, m.H.)

Durch die Entwicklung zum von quantitativen Methoden dominierten "social research" sei es aber zu einer Einschränkung gekommen, denn nun suchte man n •• im Zeichen der Forderung strenger Exaktheit .. die Einstellungen und Verhaltensweisen zu messen: Experiment, Kontrolle und Vergleich rückten an die Stelle des "Verstehens"" (ebd. : 421). Bereits auf der Weinheimtagung 1951 wies Adorno darauf hin: "Alles kommt darauf an, ob die Theorie dogmatisch, unvermittelt, gewissermaßen von oben her den Fakten oktroyiert, oder ob zwischen ihr und den Erhebungsbefunden eine zwingende wechselflUtige Beziehung hergestellt wird. Hier liegt in der Tat die crux der empirischen Sozialforschung. .. In den Gesellschaftswissenschaften gehen Theorie und Fakten nicht in der gleichen Weise ineinander auf wie in den Naturwissenschaften." ([1952]: 486, m.H.)

Nicht alles lasse sich in eine empirische Forschungskonzeption umsetzen: "Was sich dieser Umsetzung entzieht, verliert darum seinen Erkenntniswert um so weniger, als die Spannungen zwischen Theorie und Tatsache selber etwas mit der Beschaffenheit unserer Gesellschaft zu tun haben." ([1952]: 487) Denn das ".. von den Naturwissenschaften abgezogene Ideal der begriffiichen Vereinheitlichung gilt .. nicht ohne weiteres einer Gesellschaft gegenüber, die ihre Einheit daran hat, nicht einheitlich zu sein." ([1955]: 44)

Die Objektivität lasse sich eben nicht durch die genaue Befolgung statistischer Methoden erreichen, das Ergebnis sei höchstens eine ".. objektive Aussage über Subjekte .. " ([1957): 199), sondern nur durch Reflexion über das gesellschaftlich Objektive. Hier müsse dann eine Haltung versagen, deren Objektivität ".. eine der Methoden, nicht des Erforschten .. " (ebd.) sei, dabei werde die" .. Dinghaftigkeit der Methode, ihr eingeborenes Bestreben, Tatbestände festzunageln, .. auf ihre Gegenstände, eben die ermittelten subjektiven Tatbestände übertragen, so als ob dies Dinge an sich wären und nicht mehr verdinglicht." ([1957): 200/201) Das hänge damit zusammen, daß das ".. in der empirischen Technik gebräuchliche Verfahren der operationellen oder instrumentellen Definition .. ein schlichter Zirkel .. " sei, denn: "Prätendiert wird, eine Sache durch ein Forschungsinstrument zu untersuchen, das durch die eigene Formulierung darüber entscheidet, was die Sache sei." ([1957): 201) Deswegen seien ".. die Verallgemeinerungen, die ihr (der quantitativen empirischen So-

2.3 Entwickelte Differenzen innerhalb fehlerkritischer Haltungen

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zialforschung, A.R.) gelingen, nicht ohne weiteres der Sache, der standardisierten Welt, sondern stets auch der Methode zuzuschreiben." ([1957]: 207) Oder in einem Kommentar zu verschiedenen Nachkriegsuntersuchungen der Jugend: "Nachgewiesen werden soll vor allem die sogenannte "Normalität" der heutigen Jugend, eine Kategorie, die offensichtlich schon der Konstruktion der Fragebogen zugrunde lag." ([1959]: 525)

In Frankfurter Lesart hat also eine nicht gesellschaftstheoretisch reflektierte Anwendung von empirischer Sozialforschung die Tendenz durch die Methoden induzierte Ergebnisse, also Methodenartefakte, zu produzieren. (D) Soziologie, im Verständnis kritischer Theorie, muß einzelwissenschaftliche Ergebnisse integrieren, d.h. das vorher arbeitsteilig Gewonnene in Bezug auf das Ganze interpretieren. Dieses Ganze, die durch das kapitalistische Gesetz des Tausches bestimmte Totalität der Gesellschaft, nicht das einzelne, hierdurch isolierte Individuum ist Gegenstand der Soziologie, denn dieses Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile 127. Der Beitrag der Sozialforschung wird so ein "kritischer", er steht durch die Aufdeckung der Zwänge, unter denen das Individuum leidet, im Dienste der Aufklärung und Emanzipation der Menschen.

Die besondere Rolle der Soziologie wird von Adorno folgendermaßen beschrieben. In seiner Vorstellung soll sich Soziologie "der gesellschaftlichen Totalität und ihren Bewegungsgesetzen" und nicht nur "einzelnen sozialen Phänomenen" widmen ([1957]: 196; [1959]: 502; [1969d]: 541ft). Im Bezug auf diese "Totalität" spricht sich das Frankfurter Institut gegen methodologischen Individualismus, gegen die Reduzierung von Soziologie auf Psychologie oder Synthese von Soziologie mit Psychologie aus. Das Ganze in ihrem Sinne läßt sich weder neutral noch exakt nur aus dem Vorfindbaren zusammensetzen. Es stehe die ".. Wahrheit des Ganzen .. bei der Einseitigkeit, nicht bei der pluralistischen Synthese" ([1955]: 45), und: "Keine zukünftige wissenschaftliche Synthese kann unter einen Hut bringen, was prinzipiell mit sich entzweit ist." ([ 1955): 49) Eine individualistisch-psychologische" Soziologie ohne Gesellschaft" verfehle ihren Gegenstand ([1955]: 57; [1959]: 5041 505). Das statistische Schließen auf große Zahlen der Gesamtpopulation ergebe allein keinen Eindruck des Ganzen, denn" .. die Durchschnittsmeinung (stellt) keinen Approximationswert der Wahrheit dar sondern den gesellschaftlich durchschnittlichen Schein." ([ 1957]: 215)

127 Dieser TotalitAtsbegriff ist eminent strittig. Von anderer Seite wird er nicht als Bezugsgröße akzeptiert, bzw. man wirft den Vetretem der Frankfurter Schule vor, diese Zentralreferenz diene der hnmunisierung ihrer Theorie (vgl. z.B. Albert 1981a: 197-20.5; Popper 1979: 61-66)

102

2. Problemgenese der Artefaktforschung Denn das ".. Gesetz, nach dem die Fatalität der Menschen abrollt, ist das des Tausches ... Beruft der soziologische Empirismus sich darauf, das Gesetz sei keine reale Vorfindlichkeit, so benennt er unwillentIich etwas vom gesellschaftlichen Schein der Sache, den er fillschlich der Methode aufbürdet. Gerade der vorgebliche AntiIdealismus szientifischer Gesinnung kommt dann dem Fortbestand der Ideologie zugute." (ebd.: 209/210)

Die so gesellschaftskritisch gewendete Funktion empirischer Sozialforschung stehe im Dienste " .. unbestechlicher Aufklärung des gesellschaftlichen Denkens, als eines der Entzauberung soziologischer Konstruktionen, welche die Beziehung zur tragenden Wirklichkeit eingebüßt haben ... " (IfS 1956b: 432) Oder: "Die kritische Sozialforschung möchte die Empirie durch ihre theoretische Entschlüsselung erst ganz produktiv machen." ([1969d): 545) Fällt aber das immer wieder genannte gesellschaftskritische Moment aus der empirischen Sozialforschung heraus, ".. bleibt die wissenschaftliche Spiegelung in der Tat bloße Verdopplung, verdinglichte Apperzeption des Dinghaften, und entstellt das Objekt gerade durch die Verdopplung, verzaubert das Vermittelte in ein Unmittelbares. 11 ([ 1957): 204, m.H.) Aufgabe der Theorie ist es, zu ".. benennen, was insgeheim das Getriebe zusammenhält ,," (ebd.: 196), sie ".. ist unabdingbar kritisch. 11 (ebd. 197)

2.3.1.2 Kölner Denkfiguren Auch die Kölner Schule läßt sich in vier, für ihre Auffassung von empirischer Sozialforschung und Soziologie zentrale Denkfiguren (A bis D) zusammenfassen 128.

'%1 Die Basis filr die Herausarbeitung der Figuren und der dazugehörenden fehlerkritischen Elemente fmdet sich wiederum bei Bogumill Immerfall (1985: 18-38). Die Position der Kölner Schule wird in der Nachkriegsphase vor allen Dingen von König, Opp und Scheuch formuliert; vgl. z.B. die entsprechenden frühen BeitrAge von König (1958b, c, 1959a, b, 1979 [1964]), des weiteren die Vorworte und Einleitungen in dem von ihm herausgegebenen Standardwerken (1967b, c, d, f, 1968b, c, 1973b). Zur weiteren Positionsbestimmung gehören die BeitrAge von Opp, Z.B. die Aufsitze "Zur Anwendung sozialwissenschc(tlicher Theorien filr praktisches Handeln" (1967) und "Soziologische Theorie" (1969) sowie der Buch-Klassiker zur Methodologie der Sozialwissenschc(ten (1976) und die von Scheuch z.B. zuMethoden (1958; vgl. auch 1960, 1969a, 1969b, 1972, 1976) und zu "Sozialer Wandel und Sozial[onchung" (1965). Der spätere "Positivismusstreit" mit der Frankfurter Schule wird zwar von Popper gefilhrt (1981 [Erstaufl.: 1962]: 103-123). Poppers kritischer Rationalismus wird aber als konstitutiv filr das eigene empirische Forschen angesehen.

2.3 Entwickelte Differenzen innerhalb fehlerkritischer Haltungen

103

(A) Angelpunkt der Auffassungen zur empirischen Sozialforschung ist das Bestehen auf der prinzipiellen Möglichkeit und forscherischen Notwendigkeit wertfreien Erkennens.

Für König muß die Soziologie ".. es aus wissenschaftlichen Gründen zurück(weisen), die Gesichtspunkte und Interessen der Praxis bei der Entwicklung der Forschungsziele zu berücksichtigen, weil diese die Erkenntnis leicht in die Irre leiten könne." (1958b: 9) Er postuliert, ".. daß Soziologie fJhemaupt nur als empirische Soziologie möglich ist, bzw. als SozialfolSchung .. " und: "Einzig die Soziologie ist Wissenschaft von der Gesellschaft, und Wissenschaft ist letztlich nur als empirische FOlSchung möglich." (1967d: 3) Und weil sie empirische Wissenschaft ist, ist ihre Form von Gesellschaftserkenntnis ".. die einzige, deren Ergebnissen gegenüber die Attribute "wahr" oder "falsch" angewendet werden können ... " (ebd.: 12). Auch König war" .. sich über die Untrennbarkeit theoretischer und empirischer Erkenntnis im klaren. Dahinter steckte aber bei ihm ein gänzlich anderes Theorie- und Methodenverständnis als bei den Frankfurtern. Gegen die Soziologie im Sinne einer sozialphilosophisch gebundenen Deutungswissenschaft setzte er die Soziologie im Sinn einer em pirischen Einzelwissenschaft, einer Soziologie, "die nichts als Soziologie ist"." (Kern 1982: 221/222 mit Bezug auf König 1958b: 7; vgl. auch Dahrendorf 1972: 510-514)

König stellte, was er als Bezüge zur Sozialphilosophie verstand, unter radikalen Ideologieverdacht; nennt das ".. wieder in die Spekulation ausweichen" (König 1968b: 11; vgl. auch Albert 1981a [1964]: 214-220). Daß seine grundsätzliche Entscheidung für eine werturteilsfreie Forschung nicht wertfrei ist, räumt er ein, aber er konstatiert, daß die" .. Entscheidung für eine rein theoretische Ausgestaltung der Sozialforschung .. aus der Einsicht (erfolgt), daß nur so die Mittel einer wirksamen Praxis entdeckt werden können." (König 1967d: 13) Forschung müsse aus einer gewissen "Praxisdistanz" heraus praxisrelevante Züge entwickeln, auch wenn ".. der Gegenstand soziologischer Wissenschaft irgendwie hautnäher als der heutiger Physik .. " ist (Meyer 1972: 241; vgl. auch König 1968c: 24-26). Dabei ist aber, wie Esser u.a. es klar für diese Schule formulieren: " .. die wichtigste Voraussetzung für eine empirisch gehaltvolle Theorie .. der (apriorische) Verzicht auf jedes Apriori." (I 977b: 49) Hier wird also die bereits vorher entwickelte Haltung des Ausschlusses von Wertungen als fehlervermeidend deutlich (vgl. hier S. 85-89, 92/ 93). (B) Empirische Sozialforschung dient dazu, Aussagen, die aufgrund theoretischer Überlegungen formuliert wurden, an der Realität zu prüfen. Für diese Prüfung wird das Poppersche Falsifikationsprinzip adaptiert, also das Bestehen auf der Formulierung einer Theorie oder theorieförmiger Überlegungen in Sätze, die als Hypothesen der empirischen Überprüfung zugeführt, mit dieser kon-

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

frontiert werden können (Albert 1984b: 200,202; König 1968c: 24/25; Popper 1989 (1935]: 15). Falsifizierbarkeit gilt im Popperschen Sinne als Hauptprinzip und Abgrenzungskriterium empirischer Wissenschaft (popper 1989: 14-17). Nur das, was in eine Fonn gebracht wird, die der Falsifikation ausgesetzt werden kann, ist ein Beitrag zur Soziologie als empirischer Wissenschaft. Das grundsätzlicheProblem, wie man die Sätze qualifiziert, die Ausgang der Prüfung sind, wird von Popper dadurch gelöst ".. daß sich .. ein Verfahren ausbildet, bei solchen Sätzen stehenzubleiben, deren Nachprüfung "leicht" ist, d.h. über deren Anwendung oder Verwerfung unter den verschiedenen Prüfern eine Einigung erzielt werden kann ... " (1989: 70) Da diese Bestimmung nicht ganz frei ist von einem Rest "Psychologismus", wurden Modifikationen notwendig, die gemeinhin unter dem Stichwort "verfeinerter Falsifikationismus" zusammengefaßt werden (Bogumil/ Immerfall 1985: 22; Lakatos 1974a, b; Spinner 1971, 1974; Esser u.a. 1977a: 233-244). Im Zuge dieser Verfeinerung entwickelt sich die Idee der gleichzeitigen Prüfung von Hilfs-Theorien und Hintergrundannahmen (Münch 1972; Schmid 1972). Der empirische Theorienvergleich (Hondrich 1978; Matthes 1978, Opp 1978c), nicht das Falsifizieren einer Hypothese gewährleistet in diesem verfeinerten Sinne Theorienfortschritt: "Akzeptabilität (höherer Informationsgehalt und höherer Bewährungsgrad) und die Elimination (eine Theorie wird nur dann eliminiert, wenn eine alternative Theorie das Kriterium der Akzeptabilität erfüllt) .. " ersetzen den einfachen Falsifikationismus (Bogumil/ Immerfall 1985: 23). (C) Aus der Forschungslogik [B] heraus wird eine prinzipielle Gleichheit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften angenommen. Dieser Überzeugung entspricht die "anti-holistische Haltung" dem empirischen Forschungsprozeß gegenüber.

Dem empirischen Exaktheitsanspruch der Soziologie könnten die kontrollierten experimentellen Verfahren der Naturwissenschaften am besten dienen (König 1968c: 23/ 24; vgl. auch Albert 1984b: 209). Wie Popper es prägnant in einer seiner umstrittensten Thesen zum Positivismusstreit formulierte, gelte für die Naturwissenschaften und die Sozialwissenschaften: " .. die sogenannte Objektivität der Wissenschaft besteht in der Objektivität der kritischen Methode .. " (popper 1981 [1962]: 106). Damit ist die wertfreie, gegenstandsunabhängige, nach logischen Prinzipien durchgeführte Konfrontation einer "Menge von probabilistisch formulierten wenn-dann Sätzen", mit den empirischen Daten gemeint (vgl. Opp 1976: 382,

2.3 Entwickelte Differenzen innerhalb fehlerkritischer Haltungen

105

369-420 )129. Diese Sätze beziehen sich auf ".. die Bedingungen (sozialer oder nicht sozialer Art) für das Auftreten individuellen Verhaltens .. " (Opp 1979: 6; vgl. auch Romans 1979). Aussagen über Kollektive werden zwar als eine Art Korrektiv akzeptiert (Opp 1979: 108! 109, 151/ 152), sie sollen aber wenn möglich, der Prüfbarkeit wegen, durch Individualbegriffe "rekonstruiert" werden (ebd.: 116ff; vgl. auch Esser! Klenovits! Zehnpfennig I 977b: 224ff)I30. (D) Der Sozialforscher kann und muß Sozialforschung betreiben, ohne direkt praxisverändernd zu sein, bzw. ohne daß die ihn umgebende "Praxis", im Sinne von Gesellschaft ihn forschungsverändernd beeinflußt.

Auch für die Sozialforscher Kölner Provinienz muß empirische Sozialforschung praxisrelevant und auch kritisch gegenüber dem Bestehenden sein. Auch König äußert grundsätzliche Kritik an der Meinungsforschung, die theoretisch nicht fundiert forsche: "Bevor ich nämlich an eine Meinungserhebung in irgendeinem Sinne herangehe, muß ich zuallererst wissen, ob diese "Meinung" auch wirklich existiert." (König 1968c: 21) Die Analyse der dafllr notwendigen Voraussetzungen sind zu erbringen, denn: "Ohne breiter gelagerte Sozialforschung schwebt die Meinungsforschung in der Luft." (22) Das Moment der ".. Phantasie, die auf den Gegebenheiten des unmittelbarsten sozialen Alltags beruht" (25), ist Quelle fur die Hypothesenbildung, und ".. man muß .. das Wissen um die sozialen Zusammenhänge im Sinne einer fortlaufenden "Aufklärung" in immer weitere Kreise tragen. Sonst bleibt jede aktive Teilnahme an der gesellschaftlichen Selbstgestaltung illusorisch und reines Postulat." (25/26) Aber es bleibt die ".. Antinomie zwischen praktischem Handeln und wissenschaftlicher Tätigkeit .. ," (Scheuch 1969a: 155) auch wenn, wie Meyer ausfuhrt ".. mehr logisch möglich als faktisch wirklich (ist) .. " (1972: 244) Empirische Forschung soll ".. was gut bestätigte empirische und logisch gehaltvolle Theorien können: Die Komplexität einer chaotisch scheinenden Welt durch die sprachlich-logische Wiedergabe kausaler Abhängigkeiten fIIr den Benutzer solcher

12. Adomo formulierte bereits vor der Auseinandersetzung in der DGS dazu seinen grundlegenden Vorbehalt: "Anstelle der Dignität der zu untersuchenden Gegenstände tritt vielfach als Kriterium die Objektivität der mit einer Methode zu ermittelnden Befunde, und im empirischen Wissenschaftsbetrieb richten sich die Auswahl der Forschungsgegenstände und der Ansatz der Untersuchung, wenn nicht nach praktisch-administrativen Desideraten, weit mehr nach den verfUgbaren und allenfalls weiterzuentwickelnden Verfahrensweisen als nach der Wesentlichkeit des Untersuchten." (Adomo (1957]: 201) Dies kann man heute kritisch ergAnzen mit - weit mehr nach den veifiJgbaren und allenfalls weiterzuentwickelnden Stati3tik-Progrommen. 130 Die Frankfurter Schule hält hier dagegen daß die Tatsachen "produzierte" sind, und als solche "epistemonologisch" nicht unabhängig ".. von den Theorien (sind), die diese Tatsachen und die Relationen zwischen ihnen deskriptiv erfassen sollen." (Habermas 1981c: 241)

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2. Problemgenese der Artefaktforschung Theorien auf eine nicht-bedrohliche Ordnung zu reduzieren, ohne in die "Welt" selbst einzugreifen." (Esser/ Klenovits/ Zehn pfennig 1977b: 61 131 )

Bei der Forschungspraxis ist in beiden sozialwissenschaftlichen Schulen ein hohes Bewußtsein für die Fehleranfälligkeit da, die pragmatische Mitte empirischer Sozialforschung also wieder besetzen, aber verfestigt ist die gegensätzliche Position zur Funktion empirischer Sozialforschung für Theorie und Praxis. Hier erfüllt sie sie durch Einschluß, dort durch Ausschluß von Wertungen. Der Ausschluß sei fehlerhaft, so die eine Seite, der Einschluß sei es, so die andere. Die zunächst in den Publikationen verstreuten unterschiedlichen Einschätzungen über die Rolle der empirischen Sozialforschung kumulierten im offenen Positivismusstreit, der auf einer internen Sitzung der DGS 1961 mit zwei Referaten der Kontrahenten Popper und Adorno ausbricht. In dieser Auseinandersetzung prallen die unterschiedlichen Wissenschafts- und Praxisverständnisse der Frankfurter und Kölner Schule so aufeinander, daß seitdem eine Vermittlung vielfach nicht mehr möglich erscheint. Die Rolle der Empirie für die Theorie wird unter wissenschaftstheoretischen, wissenslogischen und Theorie-Praxis-Gesichtspunkten grundsätzlich anders bewertet.

131 Aus der GegenObersteIlung bleibt die dritte prägende Kraft der Nachkriegszeit, die mit der Person Schelsky bezeichnet werden kann, ausgeschlossen, da hier ein grundlegend anderes Problem akzentuiert wird: "Die Scheidelinie zwischen Schelsky und den Frankfurtern .. sind grundlegende Unterschiede in der Theorie der modemen Gesellschaft. .. Statt die modeme Gesellschaft als politisch gestaltbares Produktionsverhlltnis zu begreifen, verstand er sie als automative technischwissenschaftliche Zivilisation." (Kern 1982: 225, insg. 223-227) Er verstand sich in diesem Sinne als konservativer Anti-Soziologe (Rehberg 1986). 132 Dies wird auch deutlich, wenn man z.B. die entsprechenden Artikel im W örtemuch ftJ.r Soziologie nachschllgt (Bernsdorf 1969), etwa Albert zu "Prognose", "Verstehen", "Wertfreiheit" (844-847, 1239-1241, 1279-1282), Kunz zu "Beobachtung", "Experiment", "Forschungstechniken" , "Interview" (89-97, 238-245, 295-299, 498-524), Mangold zu "Qualitativen und Quantitativen Verfahren" (859-860), Mayntz zu "Kontextanalyse" (588-589), Roghman zu "bias", "GOhigkeit", "Methodologie", "Skalierungsverfahren", "Statistik und Soziologie", "Zuverlässigkeit" (121, 405407,691-692,933-940; 1123-1127, 1315-1317); Scheuch zum "Ökologischen Fehlschluß" (757758); oder den Handbuchartikel des IfS 1956 zu "Sozialforschung. empirische" (IfS 1956b), Lazarsfelds Bestimmung methodischer Probleme (1967: 95-117, [orig. 1959]) oder Scheuch zu statistischen Verfahrensweisen (1960).

2.3 Entwickelte Differenzen innerhalb fehlerkritischer Haltungen

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2.3.1.3 Der Positivismusstreit

Ausgangspunkt für die Frankfurter ist ihre Einschätzung, daß ".. die Gewichtsverlagerung von der Reflexion über den Gegenstand auf die, nach Max Webers Postulat, vorurteilsfreie Ermittlung von Fakten .. ihrem Gegenstand gegenüber nicht indifferent .. " ist (Adorno [1959]: 514). Die von Weber eingestandene Tatsache, daß Forschung in Wertbezügen steht, ohne die sich keine relevante Fragestellung ergeben würde, wird in Frankfurter Lesart auf den ganzen Forschungsprozeß bezogen, während sie für die Kölner Schule als ein erstes auf die Methoden und ihre weitere Anwendung keinen wesentlichen Einfluß nehmendes Forschungsmotiv gilt (Habermas 1981c: 235, 238/ 239; vg!. auch hier S. 59, Anm. 73). Die insbesondere von Habermas weiter ausgeführte Frankfurter Position, daß vorgebliche Wertneutralität den dem Forscher eigenen Ursprung des Interesses leugnet und sich darüber hinaus über die so mittransportierten gesellschaftlich relevanten Interessen täuscht, kann nicht akzepiert werden von anderer Seite 133 • Denn, so lautet dort die Argumentation, Theorie kann sich, zur Feststellung ihrer Wahrheit oder Falschheit, in einer eigenen argumentativen "Welt", hier wird auf Poppers Dreiweltenlehre rekurriert (popper 1993 [1972]: 74-76; vg!. Albert 1984b: 197), bewegen und "distanzierten" Aufschluß über Realität geben, ohne diese vorgängig und im Forschungsprozeß bewerten zu müssen, denn: "Das Wertfreiheitsprinzip .. gehört .. in die Metasprache, während die Werturteile, auf die es sich bezieht, der Objektsprache angehören .. " (Albert 1984b: 201,204). Die Frankfurter Schule dagegen suche ".. nach einer objektiven Rechtfertigung des praktischen Handels aus dem Sinn der Geschichte, einer Rechtfertigung, die naturgemäß von einer Soziologie realwissenschaftlichen Charakters nicht geleistet werden kann." (Albert 1981a: 212) Habermas nimmt die Adornoschen Denkf;guren wieder auf und präzisiert ihre Fehlerrelevanz mit bekannten Argumenten (l981b,c [1963, 1964]): I. Sozialwissenschaften könnten sich, anders als die Naturwissenschaften, nicht indifferent gegenüber ihrem "Forschungsobjekt" verhalten, weil die Sozialwissenschaft treibenden Forscher Teil der von ihnen erforschten Gesellschaft sind (198Ib: 156-158; vg!. auch hier S. 27).

U3 Zur kritischen Diskussion vgl. Albert (1981a, b, c [1964, 1965, 1969]; König, E. (1972); Meyer (1972); Scheuch (1969a); Topitzsch (1970: 135-144).

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2. Problemgenese der Artefaktforschung

2. Daraus resultiere, daß nicht nur U.U. das vorgängige Forschungsinteresse unterschiedlich ist, auch die kritische Haltung gegenüber und die Anwendung von Methoden der empirischen Forschung habe einen anderen Stellenwert in Natur- und Sozialwissenschaften (l98Ic: 249). Sie könne nicht nur formal definiert sein. Auch Adomo resümiert die Auseinandersetzung so: "Ziel der Kontroverse ist nicht ein Ja oder Nein zur Empirie, sondern die Interpretation von Empirie selber, zumal der sogenannten empirischen Methoden." (Adorno [1969d]: 545/546) Für ihn war die Theorievermittlung, d.h. "" die Einsichten, die zwischen der statistischen Methode und ihrer adäquaten Anwendbarkeit auf bestimmte Inhalte vermitteln, " in weitem Sinne qualitativer Art." (Adorno [1952]: 490/491)

Trotz der beiderseits anerkannten "besonderen" Schwierigkeiten des soziologischen Forschungsprozesses bleibt die Auseinandersetzung verhärtet, bis hin zum gegenseitigen Vorwurf, die jeweilige Position sei mit "essentialistischer" oder gar "faschistischer" Herangehensweise vereinbar (vgl. z.B. Adomo 1981 b: 39; Albert 1981a: 200, Anm.ll) Anschließend an den Positivismusstreit entspinnt sich der Versuch die Argumente auf methodischer Ebene zu qualifizieren. Aus der Kritik ergibt sich eine Renaissance qualitativer, die Grenzen der quantitativen Sozialforschung ausweitender Methoden, die methodologisch unter dem Stichwort "Interpretatives Paradigma" oder "Qualitatives Paradigma" zusammengefaßt werden 134 • Erst ab Mitte der 70er Jahre pendeln sich die heftig geführten Abwehrkämpfe gegenüber der Neuen Methodologie in eine konstruktiv geführte Verfahrensweisen-Diskussion ein m. In einem neueren Buch zur Methodologie der Sozialforschung wird das vorherige Auseinanderfallen der Argumentationsweisen zutreffend als em vierphasiger "Prozeß des wechselseitigen Sichentfemens" beschrieben: "" - in einer ersten Phase handelt es sich lediglich um eine wissenschaftliche Meinungsverschiedenheit, bei der jedoch der Diskussionszusammenhang erhalten bleibt;

1).4 Hinweise auf die diesbezOgliche Forschungspraxis in den USA fmden sich z.B. bei Habermas (1967: 95ft). Ansitze dazu, diese im Rahmen der Fra:nkfqrter Vorstellung von kritischer Sozialforschung zu integrieren, wurden in Hauptseminaren kritisch diskutiert (Adomo, Soziologisches Hauptseminar 1961).

m Symptomatisch fllr den Wechsel der Argumentation von Abwehr zu konstruktiver Auseinandersetzung sind z.B. zwei Aufsitze von KOchler (1980, 1983); vgl. auch KOchler/ Wilsonl Zimmermann (1981).

2.3 Entwickelte Differenzen innerhalb fehlerkritischer Haltungen

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- in einer zweiten Phase wird ein Punkt erreicht, an dem keine Diskussion mehr möglich ist, da Argumente und Gegenargumente ins Leere stoßen. Dennoch bleibt auch in diesem Fall ein Mitteilungszusammenhang aufrechterhalten; - in der dritten Phase besteht zwischen den Fachvertretern kein Mitteilungszusammenhang mehr, weil der eine Wissenschaftler keinen Sinn mit dem zu verbinden vermag, was der andere sagt, obwohl eine lose Verbindung zwischen den Beteiligten bestehen bleibt, die auf einen Intentionszusammenhang verweist; - in der vierten Phase schließlich erreicht die Kluft zwischen den Wissenschaftlern ein solches Ausmaß, daß der Intentionszusammenhang verlorengeht und damit der Zustand der Kommunikationslosigkeit erreicht ist." (Wenturis/ Van hove/ Dreier 1992: 304)

Das letztere Stadium läßt sich insbesondere an dem unterschiedlichen Gebrauch des Begriffes "Kritik" verdeutlichen. Dieser ist für die Vertreter der Frankfurter Schule stets gleichzeitig methodologisches Prinzip und Gesellschaftskritik, für den die Vertreter des kritischen Rationalismus stellt dies" .. im Sinne Poppers auch heute noch .. einen allgemeinen Auswahlmechanismus von vorläufig akzeptierten bzw. gültigen Ideen und erkenntnistheoretischen Konstrukten (dar, A.H.), die nicht unbedingt einen konkreten, wesentlichen ideologischen bzw. weltanschaulichen Inhalt vorweisen müssen." (Wenturis/ Van hove/ Dreier: 1992: 304; vgl. auch Dahrendorf 1981[1962]: 146) Mit dieser Skizze der Nachkriegsentwicklung wird deutlich, daß die Wahrnehmung der Fehlervorstellungen nicht mehr zu trennen ist von der eigenen wissenschaftstheoretischen Haltung, ja daß jede wissenschaftstheoretische Haltung ihre eigene Auffassung von Fehlervermeidung hat und andere Fehlerhinweise durch die Inkompatibilität dieser Haltungen nicht rezipiert werden. Des einen Fehler sind des anderen Gültigkeitsquelle, des einen Wahrheit ist des anderen Fehler.

2.3.2 Fehler durch oder ohne Bezug zur Praxis?

Auch in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg erweist sich das Anküpfen an soziale Probleme und der Einfluß sozialer Bewegungen als Motor für soziologische Fragestellungen insgesamt, ist der sozialpolitische Druck Fehler aufweisend und bildet eigene Forschungsstränge aus, die das aktive, gestalterische Moment der Forschung einklagen\36.

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2. Problem genese der Artefaktforschung

Für die Weimarer Zeit galt der von Kern knapp gefaßte Zusammenhang: "Den wenigen gelungenen Beispielen einer stärkeren Verbetrieblichung sozialwissenschaftlicher Forschung - hier ist vor allem auf das Frankfurter Institut rur Sozialforschung und die Wiener Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle zu verweisen - ging es interessanterweise um eine Untersuchungstätigkeit, die explizit gesellschaftskritisch ausgerichtet oder doch wenigstens mit gesellschaftskritischen Intentionen durchsetzt war." (Kern 1982: 207; vgl. auch Stehr 1976: 797/798)

Der grundsätzlichen Relevanzvorstellung trug die Soziologie ganz allgemein auch nach dem zweiten Weltkrieg Rechnung (Kern 1982: 217/216; Adorno [1959]: 506, 508t). Ihr Rat war gefragt, doch wieder tat sich in den Auseinandersetzungen ein politisch konfundierter Dissens auf, wie diese gesellschaftliche Situation, der Praxisbezug, adäquat sozialwissenschaftlieh zu bearbeiten sei l37 • Dieser Dissens erhält stets zusätzliche Brisanz durch Außendruck. Vergleichbar der sozialdemokratischen Kritik im Verein für Sozialpolitik machen engagierte Teile der Gesellschaft aufmerksam auf die inhaltlich-thematische Eingrenzung einer wertfreien Wissenschaft und die Brisanz der nicht-expliziten Bestimmung der Wozu-Frage. Grundsätzlich wurde ja auch als Streitpunkt im Positivismusstreit artikuliert: Forschung muß nicht nur Bewußtsein verändern, sondern auch Fakten, denn, auch wenn sie es vorgeblich nicht will, tut sie es durch Unterlassen, sozusagen durch defensive Wertung. Hieran schließt die A ktionsforschung als aktivistischer Ausdruck der Studentenbewegung an 138, aber

U6 Das macht Z.B. die Diskussion in den ersten JahrgAnge (1949-1951) der Sozialen Welt deutlich. Auch die Haltung der Soziologie wird mitreflektiert (Kahmann 1949: 105-108). Bei sozialwissenschaftlichen Berufen handle es sich um " " Kampfberufe ", in denen der einzelne seinen Weg weitgehend selbst gestalten muß." (Neuloh 1950b: 94). Aktive Sozialpolitik soll durch eine öffentlich geförderte Sozialforschung bewirkt werden, Sozialwissenschaftier könnten eine Art" Ärzte des sozialen Lebens" werden (Neuloh 1950a: 13; vgl. auch Schelsky 1951). U7 Vor dem Positivismustreit gab es noch den sog. "Bürgerkrieg in der Soziologie" zwischen "völkischen" und "liberalen" Sozialwissenschaftlern Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre. Dieser Zeitraum, der keineswegs als "" Amerikanisierung zu verstehen ,," ist (Weyer 1986: 282, 303/304), bezeichnet die ersten Jahre des soziologischen Nachkriegsaufbruchs (vgl. auch Lepsius 1979: 27; Klingemann 1986; Weyer 1986: 280-304). Der Versuch, die DGS neo-faschistisch zu besetzen, scheiterte. Diese Auseinandersetzung hat keine Relevanz filr die Fehlerkritik-Forschung zur empirischen Sozialforschung.

". Zur Aktionsforschung vgl. Haag u.a. (1972); Horn 1979. FQr eine kritische Bewertung Eichnerl Schmidt (1974) und Zechal Lukesch (1982).

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auch mit stark sozialrefomerischer Komponente das sozial wissenschaftlich geprägte, sozialdemokratische "Refonn-Modell Deutschland" (vgl. dazu kritisch Esser/ Fach! Simonis 1980; Sozialistische Studiengruppen 1980). In den 80er Jahren ist es der methodisch-methodologische Hinweis der eng mit der Frauenbewegung verbundenen Frauenforschung, daß die Tatsache, daß es zu wenig Frauen als Forscherinnen und kaum Frauen als Erforschte gibt, methodische und methodologische Ausblendungen zur Folge hat 139 . Zusätzlich zu dem fehleraufdeckenden Instrument der Sekundär- oder Reanalyse entwickeln sich als institutionalisiertes Fehler-Korrektiv Versuche von direkter Forschungsplanung, unter dem Stichwort "Finalisierung" geführt, sowie Evaluienmgs- und Verbleibsforschung und die Technologiefolgenabschätzung mit starkem Bezug zur Wissenschaftskritik der ökologischen Bewegung l40 . Die Frage "Wem oder was nützt Soziologie?" hat den erkenntnistheoretischen Hintergrund im kontrovers bestimmten" .. Verhältnis gesamtgesellschaftlicher Erkenntnis und empirischer Erfahrung." (Hofmann in Adorno 1969a: 183) Zum Positivismusstreit gehört daher auch die insbesondere zwischen Habennas und Luhmann geführte Kontroverse um Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie (Habennasl Luhmann 1985 [1971)). Im Zentrum steht die Frage, ob die Soziologie nur die Vorlage für kleine Refonnschritte zu liefern hat oder ob sie die Aufgabe grundsätzlicher Gesellschaftskritik hat (vgl. auch Touraine 1974; 1976). Bereits Adorno wehrte sich dagegen, allein" .. die Beschöftigung mit Gruppen zum eigentlichen Gegenstand der Soziologie zu erheben." (Adorno [1959]: 512) Wo früher ".. der kritische Impuls die wissenschaftliche Behandlung der Industrialisierung und ihrer Folgen (inspirierte) .. " (Adorno [1959]: 513), habe sich nun die Thematik verschoben: "Aus der

130 Die anflIngliche Diskussion, anschließend an das Miessche "Manifest" (1978), geben die beiden Sammelbande, einmal der DOS-Sektion Frauenforschung in den Sozialwissenschaften zu Methode" der Fraue"fonchu"g 1982 (1983) und der Sammelband über das im folgenden Jahr abgehaltene Symposium zu Methode" i" der Fraue"fonchu"g 1983 (Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauenstudien und Frauenforschung an der PU Herlin 1984) wieder. Den fehlerkritischen Surplus dieser Forschung z.B. gegenüber der Frankfurter Diskussion darzustellen, wAre eine eigene Arbeit wert (vgl. Beer 1987c: 142-186).