Arabellion. Vom Aufbruch zum Zerfall einer Region? 9783848732555, 9783845276038

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Arabellion. Vom Aufbruch zum Zerfall einer Region?
 9783848732555, 9783845276038

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Thomas Demmelhuber | Axel T. Paul Maurus Reinkowski [Hrsg.]

Arabellion Vom Aufbruch zum Zerfall einer Region?

Leviathan Sonderband 31 | 2017

Nomos

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-3255-5 (Print) ISBN 978-3-8452-7603-8 (ePDF)

1. Auflage 2017 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Leviathan Jahrgang 45 · Sonderband 31 · 2017

Inhaltsübersicht Vorbemerkung ..........................................................................................

7

Einleitung Axel T. Paul Arabellion Vom Aufbruch zum Zerfall einer Region? Revolutionstheoretische Überlegungen .....

I.

13

Unterschiedliche Verlaufspfade der Arabellion

Thomas Demmelhuber, Tobias Zumbrägel Legitimität und politische Herrschaft Ein historischer Längsschnitt im Lichte der arabischen Umbrüche seit 2011 .............

47

Rachid Ouaissa, Katrin Sold Mittelschichten im politischen Transformationsprozess der Maghreb-Staaten ...........

66

II.

Internationale Dimensionen

Maurus Reinkowski Ein neuer Naher Osten? Zur realen Krise eines epistemischen Systems ....................................................

95

Bilgin Ayata Migration und das europäische Grenzregime nach den arabischen Revolutionen ....... 114 Kerem Öktem Türkisches Zwischenspiel im Nahen Osten Neo-imperialer Islamismus und die AKP zwischen Farce und Tragödie ...................

III.

134

Ordnungskämpfe jenseits des Staates

Thomas Hüsken, Georg Klute Heterarchie, Konnektivität, lokale Politik und die Neuaushandlung der postkolonialen Ordnung von Libyen bis nach Mali ............................................

155

6 Guido Steinberg IS gegen al-Qaʿida oder: Der Sieg des Salafismus über den Islamismus .................... 180

IV.

Religion

Hanna Pfeifer Islamisten und die Politik des Säkularismus in Ägypten und Tunesien Autokratische Stabilität und das demokratische Moment der a-säkularen Arabellion ................................................................................................

205

Ivesa Lübben Der Begriff des religiösen Feldes bei Bourdieu und die Neuordnung der Beziehung zwischen islamischem und politischem Feld in Tunesien und Ägypten im Kontext der Arabellion ................................................................................................

230

V.

Medien und Öffentlichkeit

Carola Richter The revolution still needs to be televised Erklärungsansätze zur Rolle der Medien in den Arabellionen ...............................

259

Kai Hafez Zivilgesellschaft am Scheideweg der Demokratie Anerkennungskämpfe in der ägyptischen Öffentlichkeit ......................................

279

VI.

Emanzipatorische Perspektiven

Annette Jünemann Zum Wandel arabischer Geschlechterdiskurse in Zeiten von Transformation, Restauration und Bürgerkrieg .......................................................................

303

Cilja Harders Aufbruch von unten und Restauration von oben Ägypten im Jahr sechs seiner postrevolutionären Dauerkrise ................................

325

Vorbemerkung

Seit 2010, dem Jahr des Ausbruchs der Arabellion, unterliegt die MENA-Region (»Middle East & North Africa«) einem fundamentalen politischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozess, dessen Ende nicht absehbar ist. Gleichwohl lässt sich die aktuelle Lage in wenigen groben Zügen beschreiben: Abgesehen von den andauernd katastrophalen Verhältnissen im Irak hat sich die Situation insbesondere in Libyen, Syrien und im Jemen dramatisch zum Schlechteren entwickelt. In allen drei Ländern toben Bürgerkriege, in denen von den Konfliktparteien nicht nur um die »richtige« Verfassung gerungen wird, sondern vielmehr die Grundpfeiler der staatlichen Ordnung selbst in Frage gestellt werden. In den vorangegangenen Jahrzehnten mühsam konstruierte nationale Identitäten brechen auf und werden durch ethnisch-konfessionelle Loyalitätskategorien kompensiert. In Ägypten, dessen alte Garde vor den Massendemonstrationen zunächst zurückweichen musste, ist das Militär nach einem demokratisch verunglückten Intermezzo erneut an der Macht. Als Verdienst kann es sich einzig zurechnen, das Auseinanderfallen Ägyptens vermieden zu haben. Zur Stärkung oder der Wiederherstellung des sozialen und politischen Zusammenhalts hat es indes kaum etwas beigetragen. Einzig Tunesien bildet unter den von der Arabellion erfassten Staaten eine gewisse Ausnahme, zumindest was die institutionellen Voraussetzungen eines demokratischen Transformationsprozesses anbelangt. Eine sozioökonomische »Revolutionsdividende« ist jedoch nicht greifbar, was die Errungenschaften der Arabellion auch in Tunesien in der Schwebe hält. Sieht man von dem bemerkenswerten relativen Beharrungsvermögen der Monarchien der Region ab, erscheint es uns angemessen, von einem Zustand auf Dauer gestellter Instabilität zu sprechen: Anstatt dass Konturen eines neuen »regionalen« Gesellschaftsvertrags sichtbar würden, nehmen sowohl die gewaltsamen Konflikte innerhalb der Gesellschaften der MENA-Region als auch die Spannungen zwischen den verschiedenen Staaten zu. Verkompliziert wird das Bild durch die längst verknüpften Bürger- beziehungsweise Stellvertreterkriege in Syrien und dem Irak sowie die »Kurdenfrage«, welche die bisherige politische und territoriale Grundordnung der Region grundsätzlich in Frage stellen. Hinzu kommt schließlich die Rivalität zwischen Saudi-Arabien und einem nach dem jüngsten Atomkompromiss international wieder salonfähigen Iran um die Vormachtstellung am Golf. Und nicht nur das: Schien, wie von Fukuyama in den frühen 1990er Jahren vorausgesagt, das Versprechen der Demokratie für kurze Zeit auch für die Länder der MENA-Region unabweislich zu sein, so ist heute klar, dass dieses bestenfalls den fernen Horizont eines andauernden Umbruchs bildet. Mittelfristig dürften vielmehr, sofern nicht überhaupt ein andauernder Zerfall der politischen Ordnung das Bild bestimmen wird, »alternativ-autoritäre« Bestrebungen von Ländern wie zum Beispiel Saudi-Arabien spürbar werden, sich dem hegemonialen Resonanzraum eines westlich dominierten Demokratiediskurses zu entziehen und demge-

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genüber eigene Vorstellungen zur Verfasstheit von politischer Herrschaft, quasi eine »own language of government«, zu etablieren. Die politikwissenschaftliche Forschung, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zunächst auf eine Welle der inneren Demokratisierung auch der MENARegion gewartet hatte, war in den Jahren vor Ausbruch der Arabellion damit beschäftigt, die erstaunliche Zählebigkeit der autokratischen Regime zu erklären, häufig jedoch ohne die Beharrungskraft von Sozial- und Machtstrukturen jenseits formeller Arrangements und Institutionen in Rechnung zu stellen. Darum wurden auch und gerade die professionellen Beobachter vom Sturm der Ereignisse überrascht. Der vorliegende Band fokussiert demgegenüber die langen Linien der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Transformation wie auch vordergründig verdeckte Kontinuitäten. Der Blick richtet sich zudem weniger auf einzelne Länder als auf den länderübergreifenden Vergleich. Konkret gefragt wird nach den innergesellschaftlich-sozialstrukturellen Trends der letzten Jahrzehnte, der Tiefe von Staatlichkeit und ihren Erschütterungen und nach der Herausbildung möglicherweise neuer post-»revolutionärer« Konfliktlinien und ‑muster. Die Autorinnen und Autoren des Bandes fragen: Welche Rolle spielen die Jugend, die Mittelschichten oder die Frauen? Wird in der MENA-Region nicht auch und gerade um die Überwindung oder Re-Stabilisierung patriarchaler Verhältnisse gerungen? Kann der Umbruch ohne die Medien verstanden werden? Was »war« die Arabellion überhaupt? Eine Reihe von Aufständen? Eine gescheiterte Revolution? Der Versuch einer Neubegründung von Staatlichkeit im arabischen Raum? Inwiefern fungiert die Religion als Vehikel politischer Interessen? Um welche Werte wird überhaupt gerungen? Liegen Religion und Säkularismus miteinander im Streit? Haben die Kämpfe sich eventuell längst von ihren Ursachen und Anlässen gelöst? Welche Effekte hat die andauernde Arabellion auf das System internationaler Beziehungen, die Einbindung der Region in die internationale Politik und auf das regionale Gefüge von Akteuren mit hegemonialem Anspruch? Der Band gliedert sich in sechs Teile: In Teil I Unterschiedliche Verlaufspfade der Arabellion finden sich Analysen der je spezifischen Entwicklungen in »an sich« ähnlichen politischen Settings beziehungsweise der »A-Rebellion« in Ländern wie Algerien oder den Golfstaaten. Behandelt werden die Verflechtung von vorkolonialen und kolonialen Traditionslinien staatlicher Herrschaft, deren wirtschaftliche Basis sowie die Ablösung und Konkurrenz von Legitimitätsprinzipien und ‑strategien. In Teil II Internationale Dimensionen werden die zentrale Rolle der Türkei sowie die Auswirkungen der Arabellion auf die europäischen Gesellschaften und die europäische Politik in den Blick genommen. Teil III Ordnungskämpfe jenseits des Staates wendet sich nicht-, para- und transstaatlichen Akteuren zu, denen der regionale Ordnungszerfall einen weiten Aktionsraum eröffnet hat. Das prominenteste Beispiel ist hier der »Islamische Staat«. Jüngere kriegerische Entwicklungen wie in Libyen und Mali zeigen zudem, dass die in Wissenschaft und Politik dominierende, auf die Wiederherstellung von »herkömmlicher« Staatlichkeit gerichtete Perspektive die fortdauernden politischen Desintegrationsund Rekonstitutionsprozesse nicht zureichend erfasst. Teil IV Religion befasst sich mit dem Verhältnis von Religion und Politik. Arabische Regierungseliten gerieren

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sich oft als Verteidiger von Säkularität, die gegen »den« islamistischen Fundamentalismus behauptet werden müsse. Genauere Analysen zeigen indes, dass das Gegensatzpaar von ›Säkularität‹ und ›Fundamentalismus‹ die religiöse Komplexität und Dynamik der arabischen Gesellschaften nur unzureichend abbildet. Teil V Medien und Öffentlichkeit dokumentiert, dass das Internet und soziale Netzwerke während der und für die Aufstände als Katalysatoren gewirkt haben, nicht aber als Akteure missverstanden werden dürfen. Der abschließende Teil VI Emanzipatorische Perspektiven weist am Beispiel von Diskussionen der Geschlechterverhältnisse und der Rolle »der Marginalisierten« auf die Vielzahl der in die Arabellion involvierten Akteurinnen und Akteure hin. Die beiden Studien dieses Teils bekräftigen die Auffassung, dass die Arabellion trotz aller auch in diesem Band ausgebreiteten deprimierenden Befunde eine grundlegende gesellschaftliche Dynamik in Gang gesetzt beziehungsweise befeuert hat, die bei aller Repression von innen und Manipulation von außen nicht mehr zurückgenommen werden kann. Eröffnet wird der Band durch eine diesem Befund zwar nicht widersprechende, ihn strukturgeschichtlich wohl aber kontrastierende, die Wegmarken der letzten fünf Jahre revolutionstheoretisch kontextualisierende Einleitung. Bei der Schreibung von arabischsprachigen Benennungen und Termini verwenden wir eine vereinfachte Variante der im internationalen Gebrauch üblichen Umschriftregeln des International Journal of Middle East Studies. So werden die zahlreichen und verwirrenden Varianten der Schreibungen von Namen (wie etwa bei Jamal ʿAbd al-Nasir) vermieden. Bei erheblichen Abweichungen von der in der Presse oder sonstigen Publikationen üblichen Schreibweise fügen wir die (oder eine) jeweils gängige(re) Version in Klammern hinzu (z.B. Burqiba [Bourguiba]). Für diese Vereinheitlichung ist jedoch ein Preis zu entrichten, so etwa der für die des Arabischen Kundigen irritierende Ausdruck »die al-Nusra-Front«. Bei Namen, deren Transkription eine extreme Abweichung von der bekannten Schreibweise zur Folge hätte beziehungsweise solchen, die in ihrer französischen Umschrift bekannt sind (z.B. Khadija Arfaoui, Radhia Nasraoui), haben wir auf eine »Normalisierung« verzichtet. Die Schreibung der als Autoren zitierten Namen haben wir selbstverständlich nicht verändert. Für Ortsnamen wird die übliche deutschsprachige (z.B. Kairo) beziehungsweise international gängige Schreibweise (z.B. Monastir) verwendet. Wir danken Malte Flachmeyer für seine tatkräftige Unterstützung bei der Redaktion der Texte. Thomas Demmelhuber, Axel T. Paul, Maurus Reinkowski Erlangen und Basel im Januar 2017

Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

Einleitung

Axel T. Paul

Arabellion Vom Aufbruch zum Zerfall einer Region? Revolutionstheoretische Überlegungen Im Zuge des jährlichen Herausgebertreffens dieser Zeitschrift – wohlgemerkt nicht dieses Heftes; nur der Autor dieser Zeilen gehört beiden Kreisen an – Ende Januar 2011 wurde auch über die damaligen Ereignisse in Tunesien und Ägypten geredet. Der tunesische Präsident BinʿAli (Ben Ali) war bereits geflohen, die Abdankung Mubaraks hatte noch nicht stattgefunden, ein Sturz auch des ägyptischen Präsidenten erschien angesichts der Bilder des von Massen besetzten TahrirPlatzes in Kairo allerdings nicht mehr unmöglich, wenn nicht wahrscheinlich. Wie es weitergehen würde, ob die Proteste, wie dann tatsächlich geschehen, auf weitere Länder des Nahen und Mittleren Ostens übergreifen würden, ob das Militär einschreiten oder ob es in Tunesien, Ägypten und anderswo zu einem Sieg der Aufständischen kommen würde, wusste naturgemäß niemand. Aber auch bei der Spekulation darüber dominierte eher Ratlosigkeit. Es fehlte nicht nur an spezifisch regionaler Expertise, sondern – ähnlich wie heute, da ich diese Zeilen im Dezember 2016 wenige Wochen nach der Wahl Donald Trumps zum neuen US-Präsidenten schreibe – auch und vor allem an politischer Phantasie, sich die weitere Entwicklung auszumalen. Zu fortgeschrittener Stunde stießen wir zwar an auf die »arabische Revolution«, aber auf was genau wir da anstießen, ob es sich überhaupt um eine Revolution handelte und ob, falls ja, diese Revolution unseren gleichermaßen unklaren wie fraglos westlich imprägnierten Vorstellungen von politischer Freiheit und Selbstbestimmung entsprechen würde, blieb offen. In den folgenden Wochen und Monaten erfasste die Arabellion zwar immer weitere Länder der mittelöstlich-nordafrikanischen (MENA‑)Region, bald jedoch zogen dunkle Wolken auf, angesichts der von Beginn an brutalen Niederschlagung zunächst eher verhaltener Proteste in Syrien und angesichts der Kämpfe in Libyen, die auch nach dem durch eine UN-gedeckte NATO-Intervention auf Seiten der Aufständischen forcierten Sturz von al-Qadhdhafi (Gaddafi) andauerten. Es machte sich Skepsis breit, ob auf den Arabischen Frühling tatsächlich ein Arabischer Sommer folgen und das hieß konkret eine Überwindung des für die Staaten der MENA-Region typischen Autoritarismus möglich sein würde. Inzwischen sind fünf Jahre vergangen, und wir wissen, dass die Arabellion, wenn überhaupt, dann nur in Tunesien erfolgreich gewesen ist.1 Weder konnte das alte Regime sich behaupten, noch kaperte wie in Ägypten das Militär den Aufstand. Geführt wird 1 Die Literatur ist mittlerweile unüberschaubar geworden. Hingewiesen sei an dieser Stelle nur auf die Literaturberichte von Weipert-Fenner (2014) und Grimm (2015), das von Sadiki (2015) herausgegebene Handbuch sowie die deutschsprachigen Sammelbände von Schneiders (2013), Jünemann/Zorob (2013) und Tamer et al. (2014). Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017, S. 13 – 43

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Axel T. Paul

das Land heute von einer gewählten Koalition aus liberal-säkularen und moderatislamistischen Kräften. Die ökonomische Misere, welche die Proteste in Tunesien wie überall sonst befeuerte, dauert freilich an. Libyen, Syrien und der Jemen versinken in Bürgerkriegen. Anders als in Syrien konnte der sich auf den Straßen artikulierende Unmut in Bahrain mit militärischer Hilfe Saudi-Arabiens im Keim erstickt werden.2 Saudi-Arabien selbst und die übrigen Golf-Monarchien verstanden es, der Ansteckung zu entgehen; ob dafür die großzügige(re) Alimentierung der Bevölkerung oder, wie Thomas Demmelhuber und Tobias Zumbrägel in diesem Band argumentieren, die besondere Legitimität der Golf-Monarchien ursächlich war, ist in der Forschung umstritten.3 In Jordanien und Marokko reagierten die Monarchen mit schnellen, wenn auch in der Sache halbherzigen Zugeständnissen auf die Proteste und brachten sie damit bislang zumindest zum Erliegen. Dieser Überblick ist selbstredend unvollständig. Noch andere Staaten wurden vom Arabischen Frühling erfasst und sind bis heute mit seinen Folgen beschäftigt. Nicht unerwähnt bleiben sollte allerdings, dass die Türkei, die zu Beginn der Arabellion einer Reihe von Beobachtern und Aktivisten als Beispiel dafür galt, dass ein islamisches Land eine liberale Demokratie sein könne, mittlerweile, und zwar, wie Kerem Öktem in seinem Beitrag zeigt, sehr wohl auch in Reaktion auf die aktuellen Umbrüche in der arabischen Welt, zusehends zu einem autoritären Staat wird. Auch wenn der Begriff des Arabischen Frühlings als Bezeichnung für den Aufbruch des Jahres 2011 Bestand haben dürfte, dominiert heute in der Gesamtbewertung des Geschehens darum, wenn nicht der Begriff, so doch das Bild eines Arabischen Winters. Dass wir, die Herausgeber dieses Bandes, uns zur Betitelung desselben für den Terminus Arabellion entschieden haben, hat seinen Grund eben darin, dass er die Bewertung offen lässt. Mehr noch, der Begriff der Arabischen Rebellion bezeichnet das Geschehen präziser. Denn bei Rebellionen handelt es sich um eine massenhafte, sehr häufig gewaltsame, auf jeden Fall extralegale Erhebung gegen die herrschende(n) Elite(n).4 Der Begriff der Rebellion lässt mithin offen, ob es tatsächlich zu einem Sturz der Eliten, einem Elitenwechsel, kommt oder ob die alte Herrschaft sich behaupten kann. Der Begriff Rebellion ist zudem sehr viel vorsichtiger oder, wie man vielleicht auch sagen könnte, empirisch weniger anspruchsvoll als der gelegentlich, vor allem in der Anfangsphase der Aufstände, ebenfalls gebrauchte Begriff der Revolution.5 Gleichwohl scheint mir, dass die oder wenigstens eine Variante der Revolutionstheorie durchaus etwas zum Verständnis der Arabellion beitragen kann, indem sie ein konzeptionelles Raster zur Verfügung stellt, das, auch wenn das Geschehen sich den theoretischen Kategorien nicht ohne weiteres fügt, vielleicht ein wenig 2 Formal handelte Saudi-Arabien im Auftrag des Golfkooperationsrats. Faktisch jedoch legitimierte dessen Beschluss lediglich das saudische Vorgehen. 3 Vgl. Yom/Gause 2012. 4 Zimmermann 2012, S. 867 f. 5 Bspw. von Goldstone 2011.

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klarer zu erfassen erlaubt, was in der Arabellion auf dem Spiel stand und steht. Das zumindest möchte ich, der ich als einziger der in diesem Band versammelten Autoren kein Experte für den arabischen Raum bin und mich in den letzten zwei Jahren durch mehr oder minder intensive Lektüren, verschiedenste Diskussionen, Lehrveranstaltungen und nicht zuletzt die Arbeit an eben diesem Band allererst über das Normalmaß eines zeitunglesenden Sozialwissenschaftlers hinaus mit der Materie vertraut gemacht habe, in dieser Einleitung zu zeigen versuchen.6 Eine Revolution ist – jedenfalls soll unter Revolution in Anschluss an David Beetham und Ingmar Ingold hier genau dies verstanden werden – der erfolgreiche, in der Regel gewaltsame, von Volksmassen und dissidenten (Gegen‑)Eliten getragene Umsturz einer Herrschaftsordnung.7 In Revolutionen wird nicht nur das Herrschaftspersonal ausgetauscht, sondern das politische oder genauer gesagt das staatliche System neu organisiert und begründet. Revolutionen zielen auf die Substitution einer illegitimen oder als illegitim erachteten politischen Ordnung durch eine fürderhin legitime politische Ordnung. Revolutionen sind mithin genuin politische, auf eine grundlegende Änderung des Verhältnisses zwischen Herrschern und Beherrschten zielende Ereignisse. Das schließt nicht aus, dass politische Revolutionen von »sozialen Revolutionen«, also von grundlegenden Veränderungen der Sozialstruktur, etwa der Eigentums- oder Klassenverhältnisse, begleitet werden, aber weder muss eine politische Revolution von einer sozialen Revolution begleitet werden, um als solche zu zählen – die Amerikanische Revolution wäre dafür ein Beispiel –, noch erfordern soziale Revolutionen notwendigerweise eine politische Revolution – zu nennen wären hier beispielsweise die preußischen Landreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Insofern eine revolutionäre Herausforderung der Herrschaftsordnung ein Bewusstsein von deren Gestaltbarkeit voraussetzt, sind alle Revolutionen in dem Sinne demokratisch oder besser volkssouverän, dass die oder wenigstens ein Teil der Herrschaftsunterworfenen über die Einrichtung und Verfassung der neuen Herrschaftsordnung mitbestimmen wollen – was indes nicht ausschließt, dass diese von den Revolutionären unter Berufung auf transzendente Autoritäten wie zum Beispiel Gott gerechtfertigt wird. In diesem Fall wäre es »das Volk«, das gegen eine bestehende, wie auch immer gerechtfertigte Ordnung aufsteht, um die neue, revolutionäre Ordnung etwa auf Gottes Willen zu gründen. Die populäre Machtergreifung fände statt, um sich einer höheren Instanz zu unterstellen. So paradox, so un- oder antidemokratisch (uns) ein solches Agieren auch erscheint, den »Makel«, Gottes Willen nur mit Hilfe des Volkes zur Geltung zu helfen oder verholfen zu haben, wird es nicht los. Die iranische Revolution und die iranische Verfassung sind wahrscheinlich das 6 Ich danke Malte Flachmeyer, Thomas Demmelhuber, Ingmar Ingold, Maurus Reinkowski und Samuel Strehle für ihre kritischen Kommentare und hilfreichen Hinweise. 7 Siehe Beetham 2013, S. 213-216; Ingold 2016, S. 123-127. Dass ich an eben diese Revolutionstheorie anschließe, hat seinen Grund nicht allein darin, dass ich sie für kohärent und triftig halte, sondern an der Ausarbeitung ihrer legitimitätstheoretischen Grundlagen beteiligt war. Vgl. Ingold/Paul 2014. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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beste Beispiel für die demokratische »Kontamination« einer theokratischen Ordnung.8 Halten wir fest: Rebellionen zielen auf einen Wechsel des politischen Personals. Revolutionen zielen demgegenüber auf eine andere, alternativ, im weiteren Sinne demokratisch legitimierte politische Ordnung. Ob sie glücken, ist eine andere Frage. Darüber hinaus ist es, wenn nicht notwendig, so doch empirisch zweckmäßig, zwischen verschiedenen Dimensionen von Legitimität zu differenzieren.9 In der Politikwissenschaft weitverbreitet ist die Unterscheidung von Input- und OutputLegitimität.10 Herausgestellt werden soll mit dieser Unterscheidung, dass eine demokratische Ordnung nicht allein davon »lebt«, dass die Bevölkerung an Prozessen der politischen Entscheidungsfindung beteiligt wird – government by the people –, sondern dass die Stabilität einer politischen Ordnung auch davon abhängt, ob die »Entscheidungsempfänger« mit den Leistungen des politischen Systems zufrieden sind – government for the people. Allerdings wird im Zuge des Gebrauchs dieser Kategorien häufig übersehen, dass die Unterscheidung sich auf zumindest ihrem Anspruch nach demokratische Ordnungen bezieht, Output-Legitimität, so wichtig sie auch sein mag, Input-Legitimität also nur ergänzen kann. Politische Systeme, welche den für mündig erachteten Teil der Bevölkerung nicht an der Entscheidungsfindung beteiligen, sind mithin per se demokratisch illegitim. Doch damit nicht genug. Nicht wenige Beobachter selbst demokratisch illegitimer Systeme gehen davon aus oder erwecken aufgrund eines nachlässigen Gebrauchs theoretischer Konzepte immerhin den Anschein, als wäre ein durch Leistungen stabilisiertes ein auch schon »im Vollsinne« legitimes, in den Augen der Herrschaftsunterworfenen gerechtfertigtes, System.11 Dabei werden jedoch kategoriale Differenzen verwischt. Denn eine Ordnung, die satt macht und Sicherheit stiftet, ist deswegen noch keine gute oder gerechte Ordnung. Dass materielle und konkrete Ordnungsleistungen ein politisches System festigen, ist überhaupt nicht in Abrede zu stellen, nur darf man bezweifeln, dass politische Systeme schon oder auch nur aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit prinzipiell, im Lichte einer bestimmten Norm, anerkannt würden. Output-Legitimität mag eine fehlende oder mangelhafte Input-Legitimität verdecken und für längere Zeiträume sogar kompensieren, ersetzen jedoch kann sie sie nicht. Herrschaftsordnungen können und müssen sich immer auch im Namen einer bestimmten Idee rechtfertigen, schon um alternative Vorstellungen abzuwehren. Auf der anderen Seite jedoch ist die Engführung von Input- und demokratischer Legitimität dahingehend zu relativieren, dass es durchaus andere Legitimitätsideen als das demokratische oder volkssouveräne Prinzip von gerechter Herrschaft gibt: vor allem die transzendente Rechtfertigung der Herrschaft »von oben«, vielleicht aber auch, »von hinten«, die Rechtfertigung von Herrschaft kraft Tradition. Sinnvoller als die in Hinblick auf Herrschaftsfor8 9 10 11

Ingold 2016, S. 561-574. Beetham 2013, S. 15-25; Ingold 2016, S. 91-123. Scharpf 1999, S. 7-13. Bspw. Zhao 2009.

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men überhaupt, also auch undemokratische Regime, schiefe Unterscheidung von Input- und Output-Legitimität ist darum die allgemeine, regimeunspezifische Unterscheidung von ideeller oder normativer Legitimität einerseits und performativer, leistungsorientierter Legitimität andererseits.12 Die eine kann ohne die andere gegeben sein, die Schwäche der einen kann durch die Stärke der anderen unter Umständen relativiert werden. Nicht »bloß faktische« Stabilität, sondern Resilienz, eine gesteigerte Widerstandsfähigkeit angesichts innerer oder auch äußerer Krisen, zum Beispiel einer militärischen Bedrohung durch andere Mächte oder massiver wirtschaftlicher Probleme, dürfte hingegen gerade solchen Herrschaftsordnungen zukommen, deren prinzipielle Berechtigung von den Herrschaftsunterworfenen, einschließlich der Gegeneliten, anerkannt wird. Diese Überlegung lässt sich noch präzisieren. Wenn es Revolutionen ausmacht, dass in ihnen um die Substitution einer alten, »verbrauchten« durch eine neue, wenn nicht demokratische, so doch nur durch einen singulären Akt der Selbstermächtigung »des Volkes« eingesetzte Legitimitätsidee gerungen wird, dann fungieren Krisen oder Legitimitätsprobleme in der performativen, leistungsorientierten Dimension, wenn überhaupt, nur als revolutionäres Vorspiel. Als solche nämlich sind Leistungsprobleme eines politischen Systems nicht auch schon »Verfassungs«-Probleme.13 Jene lassen sich unter Umständen, empirisch sogar im Regelfall, durch administrative und rechtliche Maßnahmen, Personalwechsel und vielleicht zwar weitreichende, aber eben doch verfassungskonforme Entscheidungen bewältigen. Verfassungsprobleme hingegen betreffen die Prinzipien, durch die Herrschaft überhaupt gerechtfertigt wird. Aufstände oder Rebellionen richten sich mithin gegen ein konkretes Versagen des Herrschaftspersonals, Revolutionen hingegen gegen die raison d’être des Systems selbst. Es ist nicht zwingend, wohl aber wahrscheinlich und tatsächlich regelmäßig zu beobachten, dass Rebellionen zu Revolutionen werden, wenn die performative Schwäche eines Systems nicht bloß dem Missmanagement der Herrschaftselite, sondern der Verfassung des Herrschaftssystems zugerechnet, wenn der Grund für das Versagen des Regimes auf die »falschen« Prinzipien zurückgeführt wird, auf welche das politische System, seine Repräsentanten, Führer und Profiteure sich berufen.14 Der Umschlag von Forderungen etwa und empirisch zumeist nach besseren materiellen Lebensbedingungen, nach mehr Sicherheit (oft vor den Sicherheitsbehörden selbst) und Regeltreue der Herrschenden, unter Umständen auch nach Meinungsfreiheit, privater oder lebensweltlicher Selbstbestimmung und politischer Mitsprache in Forderungen nach einer Neugründung und Neuordnung der politischen Ordnung mar12 Ich halte mich im Folgenden nicht exakt an die von mir selbst und Ingold vorgeschlagene Differenzierung der Dimensionen, ohne jedoch gegen ihren Geist zu verstoßen. Eine Begründung für die hier unter der Hand vorgenommenen, marginalen Verschiebungen muss und kann an anderer Stelle nachgeliefert werden. 13 Eigentlich wäre nicht von »Verfassungs«-, sondern von »Verfasstheits«-Problemen zu sprechen. Aus sprachästhetischen Gründen jedoch gebrauche ich hier und im Folgenden den weniger präzisen Begriff Verfassung. 14 Ingold 2016, S. 574-590. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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kiert den Umschlag einer Rebellion in eine Revolution oder wenigstens die Zuspitzung des Aufstands zur revolutionären Situation, über deren Ausgang damit freilich noch nicht entschieden ist. Voraussetzung eines solchen Umschlags ist, dass die Regimekritik, die sich zunächst durchaus nur erst gegen dessen mangelnde performance richten mag, »die Massen ergreift«.15 Damit ist nicht allein gemeint, dass die Aufständischen personell stark genug sein müssen, um das Regime herauszufordern, sondern dass weithin sichtbar, dass allgemein bekannt, im starken Sinne öffentlich wird, dass weite Teile der Bevölkerung, Massen eben, dem Regime die Unterstützung entziehen. Ein »unsichtbarer Aufstand« (so der Titel eines Spielfilms von Costa-Gavras über das autoritär regierte Uruguay aus dem Jahre 1971) ist ein zum Scheitern verurteilter Aufstand, weil das eben nur im Geheimen attackierte Regime sich als weiterhin fest im Sattel sitzend inszenieren kann. Kritik, die nur im Privaten oder hinter vorgehaltener Hand geäußert wird, greift ein Regime noch nicht wirklich an, weil die Unzufriedenen sich weder der Allgemeinheit noch des »praktischen Gewichts«, nicht nur der Triftigkeit ihrer Kritik, sondern vor allem der Bereitschaft anderer, dieser Kritik Taten folgen zu lassen, sicher sein können. Ein Regime, demgegenüber das Gros der Bevölkerung trotz aller Leiden schweigt – und sei es aus bloßer Angst –, täuscht sich möglicherweise nicht nur selber darüber hinweg, dass es keine oder eine nur noch schwache »positive« Legitimität besitzt, sondern erscheint darüber hinaus in den Augen der vielleicht zwar zahlenstarken, aber privat vereinzelten Kritiker stärker, als es ist. Ja, es ist damit stärker, als wenn die Kritik öffentlich würde. Auch eine bloß zur Schau gestellte, nur vorgespielte Akzeptanz der Verhältnisse, »negative Legitimität«, wenn man so will, trägt zu deren Stabilisierung bei. Dem Aufstand vorhergehen oder diesen begleiten muss darum, mit James Scott gesprochen, die Veröffentlichung der »hidden transcripts«, das Öffentlich- oder breite Bekanntwerden von Unzufriedenheit und Widerstandsbereitschaft.16 Wer sieht und hört, wer mit seinen Sinnen vernimmt, dass er mit seinem Zorn auf die herrschende Klasse und ihre Handlanger nicht allein ist, wird auch und gerade angesichts von gewöhnlicher und immer noch möglicher Repression eher den eigenen Unmut artikulieren und sogar öffentlich protestieren als jemand, der sich lediglich als einer von vielen Benachteiligen und Unterdrückten wähnt.17 Die Kritik muss die Massen ergreifen, nicht nur weil Revolutionäre eine alte Ordnung in aller Regel nur mit Hilfe des Volkes stürzen können, sondern schon weil allererst massenhafter Protest dem alten Regime sichtbar seine Legiti15 Marx 1844/1988, S. 385. 16 Scott 1990. 17 Auch die Strategie des Terrorismus, die gewaltsamen und vor allem spektakulären Taten einzelner oder aus dem Untergrund heraus operierender Gruppen, zielt nicht auf eine direkte Schwächung eines in jedem Fall stärkeren Gegners, sondern auf die Rekrutierung von Kombattanten sowie die Mobilisierung derjenigen Massen, in deren Namen man zu handeln vorgibt. Der Terrorismus ist nicht zuletzt eine Kommunikationsstrategie, der Versuch, den vermeintlich Unterdrückten mitzuteilen, dass Widerstand möglich ist. Vgl. Waldmann 2003, S. 38-55.

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mität entzieht. Die Performanzkrise eines politischen Systems hat mithin eine nicht bloß materielle, leistungsorientierte, sondern ebenso eine symbolisch-expressive Seite, beziehungsweise der performativen und normativen Dimension von Legitimität ist eine dritte expressive Dimension beizugesellen.18 Bevor oder auch damit die Idee einer politischen Ordnung, ihre Verfassung, praktisch in Frage gestellt wird – und genau das macht den Kern einer Revolution aus –, muss das alte Regime »rein praktisch«, in der performativen Dimension, versagen und dafür mehr oder weniger öffentlich angeklagt werden. Das Regime kann zwar und wird in der Regel versuchen, seine Kritiker mundtot zu machen, ist der Geist jedoch erst einmal aus der Flasche – wurde die Mauer des Schweigens durchbrochen, haben »freischwebende« Intellektuelle, Gegeneliten und nicht zuletzt Mitglieder der alten Ordnung selbst dieser ihre Gefolgschaft vernehmlich aufgekündigt, zeigt Protest »auf der Straße«, dass wesentliche Teile der Bevölkerung nicht länger zur fraglosen Hinnahme der Verhältnisse bereit sind –, bewirkt Repression häufig das Gegenteil dessen, was sie bezweckt: Der Protest wird lauter und die Menge der Protestierer schwillt an. Verlangen die Aufständischen schließlich nicht bloß einen Wechsel an der Spitze des Systems, nicht bloß einen Austausch der Herrschaftseliten, sondern einen Systemwechsel selbst, die Neu- oder »Umgründung« von Herrschaft auf ein zur alten Ordnung alternatives Prinzip, schlägt die Rebellion um in eine Revolution. Oder vielmehr, es entsteht eine revolutionäre Situation. Denn selbst mit einem machtvoll, unter Umständen gewaltsam vorgetragenen Anspruch auf Neu(be)gründung des politischen Systems ist der Kampf nicht schon gewonnen. Idealtypisch – wie überhaupt die hier vorgetragenen revolutionstheoretischen Überlegungen nur ein Modell sind – lassen sich drei Ausgänge einer revolutionären Situation unterscheiden: Erstens kann der Aufstand niedergeschlagen werden, das alte Regime sich behaupten. Dies kann ohne, ebenso aber auch mit Hilfe einer ausländischen Schutzmacht geschehen. Die Seltenheit von Revolutionen hat ihren Grund nicht nur darin, dass Performanzkrisen sich im Regelfall nicht zu System-, Verfassungs- oder politisch-normativen Krisen ausweiten, sondern sie rührt ebenso daher, dass das alte Regime zumeist über überlegene Gewaltmittel verfügt, allen voran die Polizei und das Militär. Eine Variante dieses ersten Ausgangs einer revolutionären Situation ist, dass die Polizei und insbesondere das diese an Feuerkraft gewöhnlich übertrumpfende Militär sich zwar gegen die alte politische Führung wenden, diese sogar stürzen, sich die Anliegen der Revolutionäre, insbesondere deren Verlangen nach Verantwortung der Machthaber vor dem Volk, allerdings nicht oder nur vordergründig zu eigen machen. Die Revolution kann mithin

18 Man mag einwenden, dass dies nur eine bedingt originelle Einsicht sei, schließlich sei es auch der Revolutionstheorie seit langem schon klar, dass nicht objektive Missstände, sondern vielmehr deren Wahrnehmung und Interpretation als unerträglich Menschen zum Widerstand treibt. Vgl. z.B. Davies 1973. Was den Revolutionstheoretikern der relativen Deprivation dabei jedoch entgeht, ist, dass es die spezifische Interpretation der Missstände als der Verfassung des Regimes geschuldete ist, welche eine revolutionäre Situation herbeiführt. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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scheitern, weil das Militär putscht.19 Die Militärführung kann zwar versprechen, die Forderungen der Revolutionäre nach politischer Partizipation des Volkes einzulösen, praktisch jedoch tut sie das Gegenteil. Denn indem das Militär die Macht ergreift und sich freien Wahlen verweigert, wird die Bevölkerung weiterhin von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen. Will das Militär sich gleichwohl als Hüter der Revolution inszenieren, können und müssen die Putschisten sich vor allem um eine Verbesserung der Versorgungslage bemühen. Die Krise, welche den Aufstand ausgelöst hat, muss bewältigt werden. Darüber hinaus bedarf es einerseits einer hinreichenden Kontrolle der öffentlichen Meinung; die Kritik, die an der alten Ordnung geübt wurde, darf sich nicht gegen die neuen Machthaber richten. Andererseits und dazu nicht in Widerspruch bedarf es, wenn auch fingierter, so doch sichtbarer und darum missverständlicher Akte der öffentlichen Zustimmung. Dies können (zumeist unfreie) Wahlen oder auch (in der Regel orchestrierte) Massenaufzüge sein. Doch so revolutionär sich die Putschisten auch gebärden, die Revolution ist gescheitert, weil eine Militärherrschaft gegen das eigentlich revolutionäre Prinzip der Volkssouveränität verstößt. Ein zweiter möglicher Ausgang der revolutionären Situation ist der Bürgerkrieg. Der Machtkampf zwischen den Revolutionären und bisherigen Herrschaftseliten wird nicht entschieden. Keine Seite ist stark genug, die andere zu besiegen, gleichzeitig jedoch stark genug, die gewaltsame Konfrontation zu suchen beziehungsweise fortzusetzen. Man könnte einwenden, hierbei handle es sich nicht um eine Auflösung, sondern vielmehr um eine Verstetigung der revolutionären Situation. Ein solcher formal naheliegender Einwand verkennt allerdings, dass sich mit der Verstetigung des Konflikts in aller Regel auch der Gegenstand des Konflikts verändert.20 Sind es, wenigstens seitens der Revolutionäre, zunächst zwar politische Absichten, für die gekämpft wird, rücken mit der Dauer des Kampfes auch auf Seiten der Aufständischen zum einen rein militärische Ziele in den Vordergrund; zum anderen führen der Aufbau und die Versorgung der »revolutionären Streitkräfte« dazu, dass ökonomische Erwägungen wichtiger werden und eventuell sogar die ursprünglichen politischen Anliegen der Revolutionäre übertrumpfen. Sehr schnell zeigt sich, dass Schmuggel, Entführungen, Zwangsabgaben, Plünderungen und die Rekrutierung Unfreiwilliger nicht bloß Mittel zum Zweck, sondern zumindest für die Milizen und insbesondere ihre Anführer eine attraktive Alternative zu ziviler Armut und Unfreiheit sein können.21 Und das ist noch nicht alles. Dass weder die Revolutionäre noch die bisherigen Herren siegen, deutet darauf hin, dass das Land beziehungsweise die Bevölkerung selber gespalten ist, dass es zumindest keine eindeutige, ungebrochene, landesweite Mehrheit für die Sache der Revolution, sondern Landesteile oder Bevölkerungsgruppen gibt, für die der Fortbestand des alten Regimes einer neuen Ordnung vorzuziehen ist. Auf jeden Fall führt die Militarisierung des revolutionären Konflikts dazu, dass latente oder 19 Vgl. Beetham 2013, S. 228-236. 20 Waldmann 1995. 21 Elwert 1997.

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nachrangige, mit dem aktuellen Konflikt in keinem ursächlichen oder notwendigen Zusammenhang stehende gesellschaftliche Gegensätze sowie nicht oder nur eingeschränkt wählbare Gruppenidentitäten wie ethnische Zugehörigkeit oder religiöses Bekenntnis aktualisiert und politisiert werden.22 Die Suche der kämpfenden Parteien nach Bündnispartnern und die Zurechnung von (konter‑)revolutionären Aktionen auf vorrevolutionäre Gruppengegensätze führen unweigerlich zu einer Überlagerung und Durchkreuzung des revolutionären Hauptkonflikts mit »Nebenkriegsschauplätzen«. Was die in Mitleidenschaft gezogene Zivilbevölkerung in einer solchen Situation erstrebt, ist in erster Linie nicht die normative Richtigkeit einer zukünftigen Ordnung, sondern Frieden oder auch Ordnung an sich. Noch vor allen normativen, aber auch performativen Fragen werden von der überwiegenden Mehrzahl der Menschen geordnete Verhältnisse, in welchen die körperliche Unversehrtheit garantiert ist und sich einigermaßen stabile Erwartungen und Alltagsroutinen ausbilden können, anomischen Verhältnissen vorgezogen. Im Vergleich zur Unordnung ist Ordnung als solche legitim.23 Man kann, ja man sollte darin eine vierte und zugleich die basale Dimension aller Legitimität erkennen. Drittens schließlich können die Revolutionäre gewinnen. Dass die Revolution siegt, bedeutet indes nicht nur, dass die alten Herrschaftseliten vertrieben werden, sondern dass es in den Augen des Volkes selbst gelingt, die neue Ordnung auf den Willen des Volkes zu gründen und an den Willen des Volkes zu binden. Es versteht sich, dass »das Volk« anders als von Rousseau erträumt niemals einheitlicher Meinung sein wird. Auch wird stets darum gestritten werden, wer zum Volk gehört und wer nicht,24 wann respektive unter welchen Bedingungen Volksmitglieder als politisch mündig gelten. Ebenso gibt es kein Patentrezept dafür, keine allgemeine institutionelle Blaupause, wie das Prinzip der Volkssouveränität praktisch umgesetzt werden kann oder soll. Was sich jedoch sagen lässt und was geschehen muss, damit die Revolution siegt, ist, dass die Mehrheit der Bevölkerung eines Staates sich auf ein Verfahren zur Ermittlung des politischen Führungspersonals einigt, was zugleich impliziert, die konkreten Ergebnisse dieses Verfahrens auch dann zu akzeptieren, wenn das Personal den Erwartungen (eines Teils) der Bevölkerung nicht entspricht.25 Eine derartige Akzeptanz im konkreten Fall unliebsamer Ergebnisse steht dann und im Grunde nur dann zu erwarten, wenn die politische Ordnung nicht nur vorsieht, das Führungspersonal zumindest periodisch von einer erneuerten Zustimmung der Bevölkerung abhängig zu machen, sondern darüber hinaus die Regeln der Ordnung selbst revidieren zu können. Stabil oder vielmehr demokratisch oder volkssouverän legitim ist eine Ordnung paradoxerweise dann, wenn und insofern sie ihre Selbstrevision von vornherein vor-

22 23 24 25

Kalyvas 2003. Popitz 1992, S. 221-227; Trotha 1994. Ingold 2016, S. 264-297. Simmel 1908, S. 186-197.

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sieht.26 Wie eine praktische Lösung dieses grundlegenden Anspruchs aussehen könnte, ist naturgemäß umstritten. Eine erfolgreiche Revolution zeichnet sich allerdings nicht zuletzt dadurch aus, dass diese nicht nur institutionell, sondern schon konzeptionell oder normativ außerordentlich komplizierten Fragen überhaupt gestellt und öffentlich verhandelt werden. Mit der Machtübernahme der Revolutionäre allein hat die Revolution indes noch nicht gesiegt. Vielmehr muss die Möglichkeit, die politische Ordnung auf legitime(re) Füße zu stellen, ergriffen und umgesetzt werden. In einem verwickelten und gefährlichen, weil politisch und rechtlich ungesicherten Verfassungsfindungs- und ‑gebungsprozess müssen neue Verfahren und Institutionen ersonnen und vor allem Kompromisse gefunden werden. Nicht nur über den Umgang mit und gegebenenfalls die Einbindung von alten Eliten und ihrer Basis ist zu befinden, sondern auch und gerade unter den bislang bloß »negativ siegreichen« Revolutionären brechen Interessengegensätze auf, die, damit die Revolution sich auch positiv behauptet, artikuliert und überbrückt werden müssen. Auf den Enthusiasmus der Straße folgt die Mühsal der Sitzungszimmer; an Stelle der erfolgreichen Kämpfer übernehmen geschickte Organisatoren die Führung der Revolution. Die Gefahr, dass diese jenen und ebenso, wenn nicht gar in erster Linie »dem Volk« die Revolution entwinden, besteht immer. Darüber, ob oder vielmehr in welchem Maß dies gelingt, entscheidet, wie zuvor schon über die Zuspitzung der Regime- zur Systemkritik, zu wesentlichen Teilen eine kritische, unabhängige Öffentlichkeit. Fehlt diese oder wird sie von den siegreichen Revolutionären unterdrückt, ist die Gefahr groß, dass mit ihr, vorläufig zumindest, auch das Freiheitsversprechen stirbt, dass in jeder Revolution steckt, ja, dass sie trägt. Die revolutionstheoretischen Ausführungen lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass Revolutionen sich nicht bloß zum Sturz oder Austausch des Herrschaftspersonals, sondern zur Neu(be)gründung der Herrschaftsordnung zuspitzende Legitimitätskrisen sind. Am Ende einer erfolgreichen Revolution stehen die Substitution des alten und die Institutionalisierung eines neuen Legitimitätsprinzips, das heißt der Idee, aus der heraus Herrschaft gerechtfertigt wird. Formal gesehen gibt es davon nur drei: erstens Legitimität qua göttlicher Sendung, zweitens Legitimität durch die Beherrschten selbst und drittens Legitimität qua Tradition. Insoweit Revolutionen nicht auf die Institutionalisierung des Prinzips der Volkssouveränität zielen – was sie im Regelfall jedoch tun –, sondern auf die (Wieder‑)Herstellung der Tradition oder (Neu‑)Errichtung eines Gottesstaates, sind sie gleichwohl darin »demokratisch«, dass die Neu(be)gründung der Herrschaft vom Volk gegen ein alternatives Herrschaftsprinzip durchgesetzt wird. Von der Legitimitätsidee oder der normativen Dimension von Legitimität zu unterscheiden sind indes die performative, die symbolisch-expressive und die basal-pragmatische Dimension. Letztere meint den Ordnungswert von Ordnung überhaupt. Die symbolisch-expressive Dimension bezeichnet die notwendige Öffentlichkeit, sei es von Herrschaftskritik, sei es von die Herrschaft, wenn nicht ausdrücklich affirmierendem, so doch duldendem Handeln. Die performative Dimension betrifft die mate26 Ingold 2016, S. 297-335.

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riellen Leistungen von politischer Herrschaft. Was den Verlauf von Revolutionen angeht, so versagen Regime typischerweise zunächst in der performativen Dimension. Sie werden ihren eigenen Leistungsversprechen nicht mehr gerecht. Die Unzufriedenheit muss allerdings auch öffentlich (gemacht) und »praktisch« werden; es bedarf der Massen auf der Straße, die dem Regime ihre Unterstützung sichtbar absprechen; andernfalls bleibt die Kritik unwirksam oder bestenfalls eine Idiosynkrasie »gewisser Kreise«. Damit aus der Revolte oder Rebellion eine Revolution wird, muss das öffentlich gemachte performative Versagen der Verfassung oder dem normativen Kern von Herrschaft zugerechnet werden. Selbst dann jedoch besteht die Gefahr, dass die Revolution vereitelt wird, steckenbleibt oder in einen Bürgerkrieg abgleitet. In jedem dieser Fälle tritt der normative Konflikt zugunsten von performativen oder basal-pragmatischen Problemen in den Hintergrund und bleibt dementsprechend ungelöst. Die vorstehenden abstrakten revolutionstheoretischen Ausführungen dürften bereits diverse Assoziationen zum »Fallbeispiel« der Arabellion wachgerufen haben. Gleichwohl habe ich versucht, den konkreten Fall nicht schon in die allgemeine Theorie hineinzuschreiben. Denn natürlich darf es nicht darum gehen, jenen diese bestätigen zu lassen, sondern allein darum, diese zu bemühen, jenen besser zu verstehen oder wenigstens Vergleichsgesichtspunkte zu gewinnen, die eine Einordnung des Geschehens in die politische Strukturgeschichte erlauben. Ich möchte darum im Folgenden fragen, was die vorgestellte, am Leitbegriff der Legitimität respektive deren Mehrdimensionalität orientierte Revolutionstheorie dazu beiträgt, den Verlauf sowie einige der Überraschungsmomente der Arabellion aufzuschlüsseln und dabei auch die in diesem Band versammelten Einzelstudien in einen größeren Rahmen zu stellen. Wohl für alle überraschend waren die Plötzlichkeit und die schnelle Verbreitung der Arabellion. Die Politikwissenschaft ist dafür gescholten worden beziehungsweise musste selbst eingestehen, die Arabellion nicht kommen gesehen zu haben.27 Daran ist sicherlich richtig, dass ihr Interesse seit Anfang der 1990er Jahre vornehmlich der Erklärung des Beharrungsvermögens oder gar der Stabilität der nahöstlichen Autokratien und nicht dem Unruhepotential der Region gegolten hat.28 Doch selbst diejenigen Autoren, die zu Recht auf die Widerständigkeit und den auch vor 2011 durchaus vorhandenen Protest »der Araber« gegen ihre Lebensbedingungen hingewiesen hatten,29 dürften von der Wucht der Ereignisse überrascht worden sein. Und dies nicht allein deshalb, weil es im Wesen der Sache, von Rebellionen oder Revolutionen, ja von (politischen) Ereignissen über27 Gause 2011. Der Soziologie, meiner Disziplin, wurde dieser Vorwurf meines Wissens nicht gemacht. Das spricht indes nicht für ihre überlegenen prognostischen Fähigkeiten, sondern, wenigstens was die deutschsprachige Soziologie anbelangt, für ihr diesseits von allgemein weltgesellschaftlichen Überlegungen insgesamt nach wie vor geringes Interesse an außereuropäischen oder nicht-westlichen Gegenständen. 28 Vgl. bspw. Schlumberger 2007. 29 Wedeen 1999; Bayat 2010. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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haupt, liegt, von ihnen überrascht zu werden. Politik und Geschichte sind zumindest in dem Sinne kontingent, dass sich, auch wenn man erwartet, dass die Dinge sich ändern, schlicht nicht vorhersehen lässt, wann was geschieht.30 Überraschend, weil »unwissbar«, waren nicht bloß der Anlass und der Zeitpunkt der Arabellion, die Selbstverbrennung von Muhammad al-Buʿazizi (Mohamed Bouazizi) am 17. Dezember 2010 in der tunesischen Provinzstadt Sidi Bu Saʿid (Sidi Bouzid), sondern die politische Sprengkraft und Reichweite, welche die an alBuʿazizis Verzweiflungstat anschließenden Proteste innerhalb weniger Wochen und Monate entfalten würden. Nicht nur in Tunesien wurde das BinʿAli-Regime hinweggefegt, sondern der Funke sprang über auf eine Region, die sich von Rabat bis Amman und von Damaskus bis Sanaa jeweils über Tausende von Kilometern erstreckt. Allein dieser Befund spricht für eine gewisse Einheitlichkeit der MENARegion, dafür, dass die arabische Welt bei allen Differenzen – zum Beispiel ist Katar eines der Länder mit dem höchsten, der Jemen hingegen eines derjenigen mit dem geringsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt – einen einheitlichen Resonanzraum bildet. Tatsächlich sprechen die etwa 350 Mio. Einwohner der Region dieselbe Sprache und hängen weitgehend derselben Religion an. Die konfessionellen Gegensätze in der Hauptsache zwischen Sunniten und Schiiten sind für das Verständnis der aktuellen Rivalitäten und (Bürger‑)Kriege zwar alles andere als unerheblich, spielten innerhalb der arabischen Welt bis zum Sturz Saddam Husseins durch die Amerikaner und dem darauf folgenden Zusammenbruchs des Irak allerdings nur eine untergeordnete Rolle.31 Historisch geeint, zusammengehalten und geprägt wurde der Raum durch die arabischen Kalifate und das Osmanische Reich. Unmittelbare Vorläufer der heutigen Staaten der Levante waren die Mandatsgebiete der europäischen Kolonialmächte.32 Nahezu alle Staaten der Region waren und sind, unabhängig davon, ob es sich um Monarchien oder Republiken handelt, Autokratien. Was diese über den Kolonialismus und das Osmanische Reich hinweg noch mit den Kalifaten verbindet, ist das Prinzip patrimonialer Herrschaft.33 Deren wesentliche Merkmale sind direkte Loyalitätsbeziehungen des (Erzwingungs‑)Stabs beziehungsweise der (Herrschafts‑)Eliten zur Person des Herrschers, die Nicht-Unterscheidung von privat(wirtschaftlich)en Interessen der Herrschaft und öffentlichen Belangen, der Tausch von materiellen und symbolischen Gütern gegen Gefolgschaft, die Informalität und die damit verknüpfte Willkür von Herrschaftsakten und schließlich Eliten- und allgemeiner segmentäre statt Schichten- oder Klas30 Die Erwartung, dass die Dinge sich ändern, ist freilich eine spezifisch neuzeitliche. Vgl. Koselleck 1979. 31 Siehe das Diskussionsforum zur Frage »How Useful has the Concept of Sectarianism been for Understanding the History, Society, and Politics of the Middle East?« von Peteet et al. 2008. 32 Nicht unter Mandatsverwaltung standen Ägypten, Tunesien und die arabische Halbinsel. Gleichwohl waren auch diese Länder und Gebiete Teil des britischen beziehungsweise französischen Kolonialreichs. 33 Pawelka 2002.

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senkonkurrenz. Neopatrimoniale Regime unterscheiden sich von traditionell patrimonialen Regimen durch einen noch einmal gesteigerten, aus den Fesseln der Tradition befreiten Personalismus, die Existenz und Instrumentalisierung formaler Organisationen für persönliche Herrschaftsinteressen, die Vergabe auch öffentlicher Güter zur Rekrutierung und Bindung von Unterstützern, eine bisweilen demokratische oder revolutionäre Fassade sowie und in unmittelbarer Verbindung damit generalisierte Wohlstandversprechen.34 Ähnlich sind sich die Länder der MENA-Region, ihrem unterschiedlichen absoluten Wohlstandsniveau zum Trotz, weiterhin in ihrer ökonomischen Verfassung.35 Es handelt sich im Wesentlichen um Rentenökonomien, um Staaten, die nicht oder nur zu äußerst geringen Teilen von der Besteuerung der Produktion und damit direkt oder indirekt der arbeitenden Bevölkerung, sondern von weitgehend »arbeitslos« zu beziehenden Renten, zum Beispiel den auf dem Weltmarkt aus dem Verkauf von Öl oder Ölförderrechten erzielten Erlösen leben.36 Es sind vor allem die Golfstaaten, die von Ölrenten profitieren. Doch auch die ölarmen oder ‑ärmeren Länder finanzieren sich in einem erklecklichen Ausmaß durch Renten in Form von internationalen, auch und nicht zuletzt aus den reichen Ölstaaten stammenden Hilfszahlungen, sogenannten Remittances von Arbeitsmigranten, Einnahmen aus dem Tourismus oder Gebühren für die Nutzung ihres Territoriums durch Dritte, im Falle Ägyptens etwa für die Nutzung des Suez-Kanals. Dies macht die Regierungen auf der einen Seite zwar relativ unabhängig von der Produktivität der heimischen Wirtschaft, auf der anderen Seite aber besonders abhängig von Einkommensschwankungen, auf die sich durch nationale Maßnahmen kaum Einfluss nehmen lässt. Neopatrimonialregime, deren Stabilität von einer stetigen Alimentierung in erster Linie der Klientel des Herrschers, darüber hinaus aber auch der Untertanen überhaupt abhängt, prosperieren, solange die Renten fließen, sind aus genau demselben Grunde jedoch durch ökonomische Krisen besonders verletzbar. Ein dramatischer Einschnitt für die Staatsfinanzen insbesondere der ölarmen, gleichwohl aber von Zuwendungen der ölreichen Staaten abhängigen Länder war der Ölpreisverfall der 1980er Jahre.37 Die Möglichkeiten, die eigene Bevölkerung zu alimentieren oder wenigstens eine für alle ausreichende Grundversorgung sicherzustellen, wurden drastisch beschnitten. Verschärft wurde die Lage dadurch, dass Geldgeber wie der Internationale Währungsfonds oder die Weltbank ihre nun dringend benötigten (Hilfs‑)Kredite an die üblichen Auflagen nicht nur zur allgemeinen Deregulierung der Ökonomie, sondern auch und vor allem zur Einsparung von Staatsausgaben, zur Verschlankung des Staatsapparats und zur Privatisierung von Staatsbesitz koppelten. Während von den Privatisierungen nicht anders als nach 1989 in Osteuropa im Wesentlichen nur die regimenahen Eliten pro34 35 36 37

Eisenstadt 1973; Bach/Gazibo 2012. Richards/Waterbury 2013. Beblawi 1990. Zum Folgenden Cammet/Diwan 2013.

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fitierten, verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation der Unter- und Mittelschichten. Die im Vergleich zu den mickerigen Quoten der OECD-Welt in absoluten Zahlen seit Beginn des Millenniums nicht einmal unansehnlichen Wachstumsraten der Volkswirtschaften der MENA-Region dürfen darum nicht darüber hinwegtäuschen, dass die soziale Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder zugenommen hat. Und nicht nur das. Das nach wie vor hohe Bevölkerungswachstum bedeutet, dass das absolute Wachstum des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf gerechnet auf einen Rückgang des Einkommens hinausläuft. Die neopatrimonialen Regime der MENA-Region steckten mithin längst vor Ausbruch der Arabellion in einer ausgewachsenen Performanzkrise. Angesichts dieser seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten angespannten Lage, die für die rentenschwachen Länder freilich weitaus kritischer ist als für die reichen Golfstaaten, erstaunt es weniger, dass es überhaupt zu sozioökonomischen »Brot«-Aufständen der Bevölkerung kommt, als dass diese erst 2011 eskalieren. Eben darin besteht die oder vielmehr eine der Überraschungen, die es zu erklären gilt. Anders gefragt: Gibt es besondere Umstände, die verständlich machen, warum sich das Versagen der Regime in der performativen Dimension, obwohl seit langem gespürt und von vielen erlitten, 2011 zu einer transnationalen politischen Krise zuspitzt? Es hieße indes, die Möglichkeiten der Sozialwissenschaften überzustrapazieren, wollte man begründen, warum die Arabellion gerade im Dezember 2010 in Tunesien beginnt. Offenbar hat die Arabellion im Dezember 2010 von Tunesien ausgehen können, aber sie musste es nicht; angesichts vergleichbarer Umstände hätte sie auch schon früher oder erst später und wohl auch andernorts, zum Beispiel 2008 im Gefolge der Textilarbeiterstreiks in Ägypten, ausbrechen können.38 Dass gerade die Selbstverbrennung Buʿazizis zum Fanal der Arabellion wurde, war kontingent. Erklärungsbedürftig, aber auch erklärbar erscheint mir hingegen die Frage, warum oder vielmehr wie Buʿazizis Verzweiflungstat zum Fanal hat werden können. Auf diese Frage jedoch gibt die allgemeine politisch-ökonomische Situation keine Antwort. Sie ist »nur« der Hintergrund, den die Selbstverbrennung Buʿazizis schlagartig beleuchtet und ins allgemeine Bewusstsein hebt. Tatsächlich ist es nicht Buʿazizis Aktion als solche, sondern ihre mediale Verbreitung, aus welcher die Arabellion erwächst. Auch wenn es, wie Carola Richter in ihrem Beitrag argumentiert, verkürzt wäre, die Arabellion als Medienrevolution zu bezeichnen, hätten sich die Unruhen ohne Smartphones und panarabisches Fernsehen kaum so schnell und weit verbreitet, wie tatsächlich geschehen.39 Was nämlich, einerseits, über das bisher Gesagte hinaus die Kohärenz der heutigen arabischen Welt wesentlich mitbestimmt, sind die Existenz und Rezeption gesamtarabischer Medien und das heißt vor allem des katarischen TV-Kanals al-Jazira.40 Al-Jazira ist seit 1996 auf Sendung, kann in der gesamten MENA-Region (und darüber hinaus) per Satellit empfangen werden und bietet ebenso Unterhal38 Beinin 2009. 39 Noueihed/Warren 2012, S. 44-59. 40 Lynch 2005.

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tungs- wie Nachrichtenformate. Auch wenn der Sender nicht vor politischer Instrumentalisierung durch seine herrschaftlich-katarischen Geldgeber gefeit ist, zeichnet er sich über ein vordem ungekanntes Maß an breiter, freier, kritischer und kontroverser Berichterstattung aus.41 Dies steht in deutlichem Kontrast zum älteren einerseits staatlich kontrollierten und andererseits national bornierten TVVerlautbarungs-»Journalismus« der jeweiligen autokratischen Regime. Dass es überhaupt abweichende Meinungen gibt, dass offener Widerspruch möglich ist, dass sich dieselben »Sach«-Verhalte aus anderer Perspektive anders darstellen und dass umgekehrt die eigenen, nationalen Probleme dieselben oder ähnliche sind wie die benachbarter Staaten, war zwar auch für die national zersprengten, zensierten Öffentlichkeiten der arabischen Welt immer schon denkbar, vor al-Jazira aber kaum praktisch erfahrbar. Wie Kai Hafez am Beispiel Ägyptens in seinem Beitrag für diesen Band zeigt, führte dies allein, selbst im Verbund mit einer nachholenden Liberalisierung der national(staatlich)en Medienlandschaft, noch nicht zur Herausbildung einer kritischen, grundlegende politische Fragen deliberierenden Öffentlichkeit. Wohl aber wurde al-Jazira über das zu Beginn des Jahrtausends zwar auch über der arabischen Welt aufgespannte, aber längst nicht von allen Bevölkerungsgruppen genutzte Internet hinaus schon im tunesischen Fall, dann aber auch für Ägypten, den Jemen und die anderen Staaten der Region zur Plattform und zum Multiplikator von mit Smartphones aufgenommenen Videos vereinzelter Proteste und ihrer Repression durch staatliche Sicherheitskräfte. Auf diese Weise verbreitete sich die Nachricht von Buʿazizis Selbstverbrennung, ihren Hintergründen – weil der Gemüsehändler keine Lizenz vorweisen konnte, hatte die Polizei seine Waren konfisziert – und den sich an seinen Tod anschließenden Demonstrationen in kürzester Zeit in ganz Tunesien und auch im arabischen Ausland. Buʿazizis Schicksal rief bei vielen Menschen des Landes und der Region Empörung gegen die schlechte und sich seit Jahren stetig verschlechternde wirtschaftliche Lage, gegen die wachsende soziale Ungleichheit und die polizeiliche Willkür wach. Sein Fall warf ein Schlaglicht auf die eigene Situation. Der mangels freier Berichterstattung, aber auch mangels Korrespondenten von den Betroffenen selbst »gemachte«, filmische und von al-Jazira in die gesamte MENA-Region ausgestrahlte »Bürgerjournalismus« veröffentlichte oder besser kollektivierte eine typische, bislang jedoch immer nur vereinzelte, der Wahrnehmung durch gleichermaßen betroffene Dritte entzogene Erfahrung. Man sah, man war nicht allein – weder als Opfer staatlicher Willkür, noch in seinem Zorn auf die herrschende, materiell wie lebensweltlich abgehobene Klasse und ihre Schergen. Es war, als hätte es einer einzelnen Stimme bedurft, die ausspricht, was »allen« seit langem klar war, sich bislang aber niemand auszusprechen gewagt hatte: »Die Verhältnisse, denen wir ausgesetzt sind, sind demütigend, ungerecht und repressiv.« Die mediale Verbreitung des zwar au41 Selbst die an sich apolitischen Unterhaltungsprogramme hatten emanzipatorische Effekte, weil in Soap Operas und Talk Shows traditionelle, patriarchale Rollenklischees aufgesprengt und kulturell marginale Lebensentwürfe einem breiten Publikum vorgestellt wurden. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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ßerordentlich tragischen, aber auch typischen Schicksals Buʿazizis war der symbolische Funke, welcher die performative, »bloß ökonomische« Krise in offenen, politischen Protest umschlagen ließ. Natürlich war es nicht die Nachricht als solche, auf die hin die Menschen, die sich in ihr wiederkannten, auf die Straßen geströmt wären, um ihre autokratischen Herrscher zu stürzen. Vielmehr brauchte es – und gab es in Tunesien und Ägypten – eine vergleichsweise lebhafte Zivilgesellschaft, von staatlicher Bevormundung freie, beispielsweise gegen die allgegenwärtige Korruption oder für die Einhaltung von Menschenrechten kämpfende Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Oppositionsparteien, welche Protestkundgebungen ansetzten und ihre Mitglieder mobilisierten, weitere Menschen auf die Straße zu bringen.42 Tatsächlich gab es Blogger und Netzaktivisten, welche die technischen Möglichkeiten, die Reichweite und auch die Anonymität des Internets bereits vor den Aufständen nutzten, um Ungerechtigkeiten anzuprangern und Demonstrationen zu organisieren.43 Gleichwohl bedurfte es eines Mechanismus, welcher die zuvor latente Ablehnung der Verhältnisse qua Exposition eines Skandals in offenen Widerstand umschlagen ließ. Eben darin liegt die Bedeutung »der« Medien für die Arabellion. Bemerkenswert ist in diesem Kontext – und hierin liegt ein zweites Überraschungsmoment des Aufstands –, dass die Aufstände nicht von »den Islamisten« ausgingen, obwohl sie es waren, die in den Jahren und Jahrzehnten zuvor einerseits in offener Opposition zu den autokratischen Regimen gestanden und andererseits ein Geflecht von wohlfahrts-»staatlichen« Einrichtungen aufgebaut hatten.44 »Der Islam« erschien und erscheint vielen, wenn nicht als »Lösung«, so doch als unkorrumpierte Alternative zu den verbrauchten und diskreditierten republikanischen Ideologien der nationalen Selbstbestimmung und des arabischen Sozialismus, in den Monarchien mindestens als Komplement dynastischer Herrschaft und grundsätzlich als Gegenmodell zur westlichen Konsumkultur. Praktisch sprangen islamistische Organisationen vor allem in den ärmeren Ländern der Region überall dort ein, wo der Staat sich im Zuge unausweichlicher oder erzwungener Einsparungen aus dem Bildungs-, dem Gesundheitsbereich oder der Nahrungsmittelhilfe zurückgezogen hatte. Doch erst nachdem die Aufstände die Region zum Beben gebracht hatten, rückten islamistische Gruppierungen in den Vordergrund, übernahmen sie in Ägypten und Tunesien zeitweise die Führung.45 Auch wenn sie, anders als die Massen auf den Straßen und Plätzen, häufig gut or42 43 44 45

Anderson 2011. Bennett/Segerberg 2012. Richards/Waterbury 2013, S. 362-384. Als Gründe für die anfängliche Zurückhaltung der Islamisten lassen sich zum einen die massive frühere Repression durch die jeweiligen Machthaber, zum anderen aber auch die Erfolglosigkeit früherer, bewaffneter, auf terroristische Initialzündungen setzende Aufstandsversuche anführen. Die Gemeinschaft der Gläubigen ließ sich durch spektakuläre Angriffe auf Repräsentanten der repressiven staatlichen Ordnung offenbar nicht mobilisieren. Und schließlich dürften die Islamisten wie im Grunde alle Beteiligten, die

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ganisiert waren, brauchten sie offenbar Zeit, um ihre Aktivitäten von Sozialarbeit, religiöser Unterweisung und klandestinem gewaltsamen Widerstand auf den politischen Machtkampf umzuorientieren. Auf den Straßen und Plätzen der Arabellion, am eindrücklichsten versinnbildlicht durch die Massen auf dem Tahrir-Platz in Kairo, versammelten sich und protestierten demgegenüber zunächst Gruppen, von denen man es vordergründig nicht erwartet hätte: in der Vergangenheit alles in allem eher regimenahe als systemoppositionelle Mittelschichten, gut gebildete, aufstiegsorientierte Jugendliche, im einen wie im anderen Falle nicht wenige Frauen. Tatsächlich sind die Mittelschichten, sieht man von den eigentlichen Machthabern und ihrem Anhang ab, bei allen im Ländervergleich notwendigen Differenzierungen – die, wie Rachid Ouaissa und Katrin Sold in ihrem Beitrag zeigen, durchaus unterschiedliche Verlaufspfade der Arabellion zu erklären vermögen – in den Ländern der MENA-Region die Hauptprofiteure der sozioökonomischen Entwicklung der vergangenen 50 Jahre gewesen. Der sogenannte autoritäre Gesellschaftsvertrag beruhte darauf, dass die Machthaber sozialstaatliche, aus Renten finanzierte Leistungen gegen Loyalität respektive den Verzicht auf politische Partizipationsrechte tauschten.46 Und auch wenn es den Staaten der Region alles in allem nicht gelang, sich selbst tragende oder gar global konkurrenzfähige nationale Industrien aufzubauen, verschwanden die Renten doch nicht nur in den Taschen der Machthaber. Es entstand ein Bildungssystem, das es vielen aus traditionellen, von Landwirtschaft und ungelernter Arbeit geprägten Verhältnissen stammenden Menschen erlaubte, einen Schul- oder sogar Hochschulabschluss zu erwerben, der wiederum die Voraussetzung, praktisch zumeist aber auch die Eintrittskarte für eine Beschäftigung in einem stetig wachsenden staatlich-bürokratischen Sektor darstellte. Daneben, wenn auch in weit geringerem Maße, nahm die Anzahl der freien Berufe zu. Immer mehr Menschen zogen in die Städte und kamen in den Genuss einer wie auch immer basalen öffentlichen Daseinsvorsorge. Auf diese urbane Klientel konnten gerade republikanische Machthaber sich stützen.47 Hinzu kommt, dass erhebliche Teile der staatlich alimentierten oder wenigstens geförderten, tendenziell säkularen Mittelschichten das politisch strenge Regiment »ihrer« Präsidenten als Garant gegen eine Machübernahme der Islamisten begriffen. Und wie Ivesa Lübben und Hannah Pfeifer in ihren Beiträgen zeigen, verstanden die Regime es die längste Zeit vortrefflich, Ängste vor dem Islamismus zu schüren und sich selbst als auch religionspolitisch unersetzlich zu inszenieren. Wie also ist erklärlich, dass diese Mittelschichten gegen ihre Mentoren, wenn nicht Schöpfer auf die Straße gingen? Gründe dafür habe ich oben bereits genannt: Angesichts einbrechender Renten und im Zuge der erwähnten Strukturanpassungsprogramme entfremden die ReMachthaber, die ausländischen Beobachter, aber auch die Aufständischen selbst, von der Wucht der Ereignisse überrascht worden sein. 46 Desai et al. 2009. 47 In den Monarchien gab und gibt es demgegenüber nach wie vor tribale und familiale Konsultativstrukturen, welchen die Monarchen faktisch in ihrer Selbstherrlichkeit einschränken und dadurch legitimieren. Vgl. Derichs/Demmelhuber 2014. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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gime sich ihrer eigentlichen gesellschaftlichen Basis. Genauer gesagt, ist es seit Beginn des Jahrtausends zu einer objektiven wie subjektiven Prekarisierung der Mittelschichten gekommen.48 Objektiv haben das Einkommen und die soziale Sicherheit abgenommen. Nicht die Mittelschichten haben von der Liberalisierung der Wirtschaft und insbesondere der Privatisierung von Staatseigentum profitiert, sondern die Angehörigen der Machteliten selbst. Diese wurden noch reicher, als sie es ohnehin schon waren, die Mittel- und erst recht die Unterschichten gingen demgegenüber leer aus. Doch selbst wo der gesunkene Lebensstandard der Mittelschichten diese noch nicht in ihrer Existenz bedroht hatte, ist diesen subjektiv die Aufstiegsorientierung abhanden gekommen. Diese Prozesse sind zwar nicht neu, sondern seit gut 20 Jahren zu begutachten, doch bekanntlich müssen Enttäuschungen sich wiederholen und zu einer kollektiven Erfahrung verdichten, bevor sie politisch wirksam oder gar geschichtsmächtig werden. Was die Mittelschichten 2011 aufkündigen, ist der autoritäre Sozialvertrag, der eben nicht nur für die Machthaber, sondern auch für sie ein Arrangement von wechselseitigem Nutzen war.49 Das heißt, sie kündigen einen Vertrag, sie entziehen ihm ihre Zustimmung, lange nachdem die Machthaber aufgehört hatten, ihren »Verpflichtungen« nachzukommen. Die Arabellion vollzieht gewissermaßen formell nach, was faktisch längst geschehen war. Nur ist dies nicht gleichbedeutend mit einem demokratischen Aufbruch. Die Kritik der Verhältnisse ist nicht immer schon das Verlangen nach einer Neubegründung der politischen Ordnung. Ja, die Demonstranten wollen Brot, Würde, Gerechtigkeit und Freiheit, gleichwohl kulminieren die Anliegen in der an die Machthaber gerichteten Parole »Irhal!«, »Hau ab!«, und nicht in der Forderung »Demokratie jetzt!«.50 Ähnliches gilt für die Jugend. Diese hat ihre Zukunft per definitionem erst noch vor sich. Die Mittelschichtsjugend, die eigentliche Avantgarde der Proteste,51 verfügt darüber hinaus über höhere Bildungsabschlüsse als ihre Elterngeneration, anderseits jedoch fehlen nicht nur die Jobs in der Verwaltung und einer alles andere als freien Wirtschaft, sondern häufig auch die tatsächlich nachgefragten Qualifikationen. Das staatliche Bildungssystem produziert nicht nur mehr Jobanwärter als Staat und Markt absorbieren können, sondern versagt zudem in der praktischen Qualifikation seiner Schüler und Studenten. Fehlt jedoch der Job, fehlt das Geld, ein halbwegs autonomes Leben zu bestreiten. Weder gelingt die Abnabelung vom Elternhaus, noch ist es möglich, zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen. Da sexuelle Kontakte sich nach wie vor stark auf das Eheleben konzentrieren, sind schlechte oder fehlende wirtschaftliche Aussichten darüber hinaus gleichbedeutend mit sexueller Frustration.52 Buchstäblich potenziert werden diese Probleme durch die demographische Struktur. In der MENA-Region sind zwei 48 49 50 51 52

Cammett/Diwan 2003; Abulof 2015. Zorob 2013. Schulze 2013. Murphy 2012. El Feki 2013, S. 55-130; Daoud 2016.

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Drittel der Bevölkerung unter 30 Jahre alt. Selbst in den reichen Ölstaaten liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei bis zu 25 Prozent; in den ärmsten Ländern der Region betrifft sie gar annähernd die Hälfte aller Jugendlichen. Selbst wenn die Geburtenraten in den letzten Jahren rückläufig sind, werden mittelfristig Millionen von nur zum Teil hinreichend ausgebildeten oder auch gar nicht beschulten zusätzlichen Jugendlichen auf den Arbeitsmarkt drängen. Wirtschaftliche Wachstumsraten, welche diesen demographischen Überhang auffangen könnten, sind nicht nur nicht in Sicht, sondern kaum vorstellbar. Die Jugend, die in der Arabellion auf die Straße zog, war nur erst die Speerspitze einer jetzt schon um ihre Zukunft betrogenen Generation. Was diese Generation für sich verlangt, was diese Jugend wie alle Jugend will, sind Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung. Nur geht es hierbei für die allermeisten noch vor dem Ausleben von gewählten Identitäten um das bloße Nachrücken an die Stelle der Alten und vor der Verwirklichung von politischer Freiheit um die Wahrnehmung eines Minimums an lebensweltlicher Autonomie.53 Doch weil die Erwartungen für sehr viele enttäuscht werden, werden sehr viele sich – mehr noch als jetzt schon – auf den Weg in andere Länder innerhalb und außerhalb der Region machen, in denen sie ein besseres Leben erwarten – oder auch mit der Waffe in der Hand zu Hause für ein besseres Leben kämpfen. Weder für die arabische Welt noch für Europa sind das beruhigende Aussichten. Wie Bilgin Ayata und Maurus Reinkowski in ihren Beiträgen zeigen, zerbricht damit zwar nicht notgedrungen die politische Ordnung des Mittleren Ostens, sehr wohl aber das bisherige Verhältnis von Orient und Okzident. Gleichwohl sollte man die »youth bulge« nicht mechanisch zum Urquell der Arabellion und der gesamten weiteren Entwicklung erklären.54 Immerhin war die Arabellion in ihrer Anfangsphase ein friedlicher Aufstand, und es waren nicht die Aufständischen selbst, die als erste zur Gewalt griffen. Auch dies ist, wenn kein drittes Überraschungsmoment, so doch ein besonderer Aspekt des Geschehens, der gemessen daran, dass Rebellionen und Revolutionen im historischen Normalfall gewaltsam verlaufen, ebenso nach Erklärung verlangt wie andererseits das Abgleiten der libyschen, syrischen und jemenitischen Aufstände in Bürgerkriege. Sicher nicht der einzige, wohl aber ein wesentlicher Grund für die unterschiedlich gewaltsamen Verlaufspfade der Aufstände dürfte in der jeweiligen nationalstaatlichen Verfassung der einzelnen Länder zu finden zu sein. Als Nationen sind Tunesien und Ägypten vergleichsweise homogene Gemeinwesen. Ethnische und religiöse beziehungsweise konfessionelle Gegensätze spielen und spielten in der jüngeren Vergangenheit keine wesentliche Rolle. Weder die staatliche Eigenständigkeit noch das hohe Alter der Nationen standen oder stehen in Frage. Hinzu kommt, dass es in beiden Ländern eine relativ lebhafte Zivilgesellschaft mit zu53 »I tend to think that the desire for democracy is composed of three parts. A desire for a stable and ordered political system; a desire for personal autonomy – meaning to live a life unencumbered by too much control form the state or society; and a desire for economic prosperity.« Faisal Al Yafai, zitiert in ASDA’A Burson-Marsteller 2016, S. 27. 54 Heinsohn 2011. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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gleich nationalen wie zentralisierten, von der Hauptstadt ausstrahlenden und auf sie zulaufenden Organisationsstrukturen gibt. Was im Frühjahr 2011 in Tunis und in Kairo passierte, hatte im Prinzip für ganz Tunesien und für ganz Ägypten dieselbe Bedeutung. Die Hauptstadt erhob sich stellvertretend für das Land, so wie die Avenue Bourguiba in Tunis und vor allem der Tahrir-Platz in Kairo zu den Schauplätzen und »Brennkammern« des Aufstands wurden. Die Arabellion hatte damit hier wie dort einen realen und die Realität transzendierenden Ort. Hier fand der Aufstand statt, und hier wurde er, wenn nicht als Revolution, so doch als kollektive Selbstermächtigung erfahren. Was sich hier vollzog, war ein Brückenschlag über verschiedenste soziale Gruppierungen hinweg, die massenhafte Verbrüderung einander Fremder, die Emergenz oder Selbstorganisation einer in Opposition zu den bewaffneten Kräften des Regimes wachsenden und gegen diese gerichteten kollektiven Handlungsmacht. Der Aufstand musste nicht friedlich bleiben, in dem Maße jedoch, in dem absehbar wurde, dass selbst gewaltsame Angriffe von Polizei und gedungenen Schlägerbanden abgewehrt werden konnten und das Militär nicht auf Seiten des Regimes einschreiten würde, schwoll die Menge weiter an, wurde sie von Siegesgewissheit ergriffen und zum Laboratorium und Vorschein einer neuen, versöhnten Gesellschaft. Die Seltenheit derartiger kollektiver Erfahrungen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass derartige Erfahrungen möglich sind.55 Und die Selbstverstärkung des in diesem Falle friedlichen Protests darf nicht vergessen machen, dass Massenproteste, gerade insofern es sich um Massenproteste handelt, ebenso in Gewaltexzesse umschlagen können.56 Dass die Proteste im Falle Tunesiens und Ägyptens weitgehend friedlich verlaufen würden, war nicht von vornherein klar, kann im Nachhinein jedoch aus der nationalen Identität der Demonstranten und ihrem gemeinsamen Ziel, ihren Präsidenten zu stürzen, der »Volksverbundenheit« des Militärs, ebenso aber dem rasanten Anschwellen der Proteste und der damit verbundenen Erfahrung einer massenhaft auch friedlich »vermögenden« Macht der Aufständischen heraus plausibel gemacht werden.57 Doch so bedeutsam und geschichtsmächtig Akte einer solchen Selbstermächtigung sind, so sehr sie ein politisches Projekt und insbesondere den Versuch, politische Teilhabe zu institutionalisieren, beflügeln können, als solche, als »rohe Praxis«, sind sie nicht schon demokratisch. Umgekehrt kann der »Nationalcharakter« der Bürgerkriegsstaaten zum Verständnis des Abgleitens derselben in eben diesen beitragen. Die Zivilgesellschaft war in Libyen und im Jemen weniger entwickelt als in Tunesien und Ägypten. Auch in Syrien wurde bürgerschaftliches Engagement für Themen wie Menschenrechte, Gleichberechtigung der Geschlechter oder und erst recht politische Reformen im engeren Sinne, wenn nicht von vorneherein unterbunden, so doch weitaus stärker reglementiert als in den beiden nordafrikanischen Ländern.58 Zwar muss

55 56 57 58

Reicher 2015. Paul 2015; Collins 2015. Della Porta 2014, S. 48-65. Khatib 2013.

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man der Fortexistenz säkular-zivilgesellschaftlicher syrischer Kräfte auch nach fünf Jahren Bürgerkrieg höchsten Respekt zollen,59 gleichwohl blieb der anfängliche Protest des Jahres 2011 gegen das Assad-Regime von Anbeginn in einem doppelten Sinne versprengter als in den beiden Vorläufer- und Vorbild-Aufständen: Zum einen eroberte die Protestbewegung zu keinem Zeitpunkt Damaskus, wurden die Demonstrationen, die es auch in Damaskus gab, niemals zum Brennpunkt der Rebellion, die vielmehr von der südlichen Peripherie des Landes ausgehend eine Reihe regional vereinzelter Brandherde entfachte; zum anderen konkurrierten verschiedene Oppositionsgruppen im In- und Ausland um die Deutungshoheit und Führerschaft des Aufstands.60 Tatsächlich sind die Gesellschaften der drei Bürgerkriegsländer ethnisch und konfessionell weitaus zerklüfteter als die der Nationalstaaten Tunesien und Ägypten. Im Jemen und, wie im Beitrag von Thomas Hüsken und Georg Klute dargestellt, in Libyen hat der postkoloniale Staat sich nie gegen tribale Strukturen und Loyalitäten durchsetzen können, sondern sich bestenfalls mit ihnen arrangiert und durch ihre Einbindung zu behaupten vermocht. Syrien hingegen, obwohl ein, was seine Grenzen anbelangt, kaum weniger willkürliches Gebilde, erschien über die Jahrzehnte der Unabhängigkeit hinweg als gesamtstaatlich weitgehend gefestigt. Zwar waren die Alawiten seit der Machtergreifung Hafiz al-Assads die – wohlgemerkt nach langen Zeiten der Drangsalierung und Verfolgung – herrschende oder wenigstens privilegierte Gruppe im Staate. Offen ausgetragene religiös oder ethnisch motivierte Konflikte gab es, abgesehen von (prinzipiell gesamt‑)kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen allerdings keine. Ebenso wenig jedoch wie ethnische oder religiöse Unterschiede als solche Spannungen erzeugen müssen, sind oder bleiben sie irrelevant, sobald ursprünglich »rein« politische Auseinandersetzungen oder wirtschaftliche Verteilungskonflikte militarisiert werden und die Bevölkerung sich schon zum Zwecke des Selbstschutzes inner- oder substaatlichen oder eben vorstaatlichen Gruppen zuzurechnen hat. Auch wenn oder vielmehr »nur weil« ethnische oder religiöse Identitäten politisch instrumentalisiert oder gar konstruiert werden (können), sind sie, einmal aufgerufen, alles andere als irrelevant. Wird ein Mord von den Angehörigen des Opfers als ethnisch oder religiös motiviert aufgefasst, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass diese sich als konfessionelle oder ethnische Gruppe zur Wehr setzen und damit eine Zuschreibung bestätigen, die bislang keine (besondere) Bedeutung besaß.61 »Gerechterweise« trifft die Vergeltung, sofern sie möglich ist und staatlicherseits nicht verhindert wird, in diesem Fall nicht unbedingt den Täter, sondern seine Glaubensbrüder oder »Stammesgenossen«. Eben diese Logik war und ist auch in Syrien am Werk, und konnte sich in Syrien, Libyen und dem Jemen leichter Bahn brechen, weil die jeweiligen Gesellschaften auf prägnantere Weise als in Tunesien oder Ägypten von sekundären oder latenten Bruchlinien durchzogen waren und sind. Dass die Arabellion in 59 Vgl. bspw. Daher 2016. 60 Hinnebusch 2012. 61 Rösel 1997. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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diesen Ländern in den Bürgerkrieg abrutschte, war nicht zwingend, das von Peter Waldmann so genannte »Generalisierungsdilemma« aber trägt zum Verständnis ihrer Verstetigung, ja ihrer mit der Kriegsdauer zunehmenden Unlösbarkeit bei.62 Ursächlich für den Ausbruch der Bürgerkriege war freilich das jeweilige Verhalten des Militärs.63 Während die Armee in Tunesien und Ägypten nicht eindeutig zu den alten Machthabern hielt – in Tunesien spielte das Militär den polizeilichen und sonstigen Sicherheitskräften gegenüber eine politisch nachgeordnete Rolle; in Ägypten war es zwar Teil des Herrschaftsapparats, stand jedoch in Opposition zur Clique um den als künftigen Präsidenten gehandelten Jamal (Gamal) Mubarak – zerfiel die libysche Armee unmittelbar nach dem Sturz al-Qadhdhafis in konkurrierende Fraktionen, während das Militär sich in Syrien eindeutig auf die Seite Assads schlug (oder vielmehr wie der Sicherheitsapparat insgesamt mehr oder weniger mit dem Regime identisch war). Im Jemen konnte Salih 2011 zwar auf die Unterstützung durch die Armee zählen, das Regime wurde jedoch nicht allein durch Demonstrationen von Regimegegnern, sondern gleichfalls durch die bereits seit Jahren gegen die Regierung kämpfenden Huthi-Rebellen unter immer stärkeren Druck gesetzt. Deren nicht zuletzt durch Unterstützung aus dem Iran möglich gewordene Machtübernahme rief seinerseits Saudi-Arabien auf den Plan, das zugunsten der alten Eliten intervenierte. Der Konflikt hatte sich internationalisiert, ebenso wie in Syrien, wo bekanntlich längst nicht mehr nur syrische Aufständische dem Assad-Regime die Stirn bieten. Vielmehr tobt auf syrischem Territorium seit Jahren ein grausamer, längst internationalisierter Krieg, in dem sich verschiedenste Konfliktlinien überlagern: Sehr viel vehementer als im Jemen ringen Saudi-Arabien und Iran um die regionale Dominanz, Russland macht auf Seiten Assads imperiale Ansprüche geltend, die Türkei versucht, die Entstehung eines kurdischen Staates zu verhindern, und diverse, wie Guido Steinberg in seinem Beitrag darlegt, untereinander bitter verfeindete dschihadistische Gruppierungen, allen voran der Islamische Staat und al-Qaʿida, kämpfen um den rechten Weg zur Theokratie. Die Ziele der Arabellion, ein Ende der politischen Repression, eine gerechtere Verteilung des nationalen Wohlstands und Rechenschaft des politischen Personals sind in Strömen von Blut ertränkt worden und in weite Ferne gerückt. Die Bevölkerung Syriens, aber auch Libyens und des Jemen ist längst zur Geisel einer ganzen Reihe von regionalen Warlords einerseits und weltpolitischen Strategen andererseits geworden, für die das Wohlergehen, ja das Überleben der Menschen eine der eigenen Selbstbehauptung oder dem »Endsieg« gegenüber nachgeordnete Rolle spielt. Was für die Mehrzahl der Einwohner in diesen Ländern darum vor aller Neugestaltung der politischen Verhältnisse zählt, ist die Rückkehr von Frieden, Sicherheit und Ordnung. Für dieses Ziel dürften die meisten bis auf weiteres erneut politische Unfreiheit und sozioökonomische Ungleichheit in Kauf zu nehmen bereit sein. Was am Ende – und am Anfang – zählt, ist Ordnung an sich oder basale Legitimität. Im Vergleich zu dem Verlauf, den die Arabellion in den Bürgerkriegsländern genommen hat, erscheinen die Verhältnis62 Waldmann 2003, S. 215-219. 63 Silverman 2012.

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se, selbst dort, wo sie sich nicht oder nur unmerklich zum Besseren gewendet haben, wie in Marokko oder Jordanien, geradezu rosig. Selbst das Scheitern der Arabellion in Ägypten muss vor diesem Hintergrund relativiert werden. Warum aber ist die Arabellion in Ägypten gescheitert? Die einfache Antwort lautet natürlich, weil das Militär sich an die Macht geputscht hat. Doch wer wollte behaupten, dass die Arabellion unter einer fortgesetzten Präsidentschaft Mursis ein Erfolg geworden wäre? Waren es nicht auch die ungelösten (und vielleicht auch in Tunesien nur vorläufig gelösten) Spannungen zwischen den islamistischen und säkularen Parteien und Strömungen, die es der Armee leichtgemacht haben, die Macht an sich zu reißen und sich gar als Retterin der Revolution zu inszenieren? Immerhin hat sich al-Sisi, der symbolisch-expressiven Dimension von Legitimität offenbar wohl bewusst, nach dem Putsch und der brutalen Ausschaltung der Parteigänger Mursis in allgemeinen, wenn auch unfreien und von der »postrevolutionären« Opposition boykottierten Wahlen vom Volk bestätigen lassen.64 Sind diese Geschehnisse eventuell ein Indiz dafür, dass nicht nur der faktische Verlauf, sondern auch der Einsatz, der in der Arabellion wenigstens in Ägypten auf dem Spiel stand, diese eben als Rebellion und nicht als Revolution qualifizieren? Wie Cilja Harders in ihrem Beitrag zeigt, gehen die sozialstrukturellen Wandlungsprozesse, welche die Arabellion vorbereitet haben, weiter. Wie könnte es auch anders sein? Wodurch sollten die ins Rutschen gekommenen Klassen-, Generationen- und Geschlechterbeziehungen restabilisiert worden sein? Die zunehmende und als solche wahrgenommene sozioökonomische Ungleichheit, die von den Arbeitsverhältnissen längst schon erwirkte und, wie Annette Jünemann in diesem Band aufzeigt, auch »ideologisch« eingeforderte Emanzipation der Frauen sowie die Autonomie- und Partizipationsansprüche der Jugend sind und bleiben Herausforderungen, die nicht verschwinden, »nur« weil politisch der Status quo ante wiederhergestellt worden ist. Jede Regierung wird sich über kurz oder lang daran messen lassen müssen, dass und wie sie diesen Wandel moderiert. Harders bringt dies auf die Formel, die gesellschaftliche Transformation würde letztlich eine politische Transition erzwingen,65 selbst wenn diese anders als auf lokaler Ebene, wo die Menschen die Gestaltung der öffentlichen Ordnung auch gegen staatliche Stellen heute schon in die eigene Hand nehmen, auf nationaler Ebene vorerst ausgeblieben ist. Dem wird man zustimmen können, doch die Frage bleibt, worin genau der politische Wandel bestehen soll, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Gewiss, die Aufständischen verlangten auch nach Freiheit. Aber was für eine Art von Freiheit war oder ist damit gemeint? Ging es »den Ägyptern« oder »der Arabellion« über die Forderung nach einem Ende der Gängelung und Repression hinaus um Demokratie oder Volkssouveränität? Es stimmt, die Aufständischen der ersten Tage und Wochen kämpften nicht für die Errichtung einer theokratischen Ordnung; von den Islamisten gekapert wurde der Aufstand in Ägypten erst mit und nach der Wahl Mursis. Dennoch scheint mir, dass in der Arabellion eben64 Vgl. Demmelhuber 2014. 65 Harders 2009. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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so wenig für Demokratie im engeren Sinne gestritten wurde. Zwar wurde das Regime dafür bezichtigt, für die substantielle Verschlechterung der Lebensbedingungen weiter Kreise der Bevölkerung verantwortlich zu sein, auch wurde von dem Regime, seinem Apparat und seinen Schergen Rechenschaft verlangt. Doch war für die oder wenigstens eine vernehmliche Gruppe der Aufständischen die Forderung nach einem Wechsel des Herrschaftsprinzips tatsächlich zentral? Ging es ihnen wesentlich um die »demokratische Richtigstellung« legitimatorischer Fragen, das heißt um die Abschaffung traditionaler respektive patrimonialer zugunsten demokratischer Herrschaft? Mit dieser Frage ist wohlgemerkt nicht präjudiziert, wie das demokratische Prinzip der Volkssouveränität praktisch oder institutionell ausgestaltet werden muss, so als ob es nur einen Weg nach Rom gäbe. Gemeint ist vielmehr, dass die sicher auch politischen Ansprüche der Aufständischen zumindest in der Phase der eigentlichen Erhebung eigentümlich unartikuliert oder unscharf blieben und selbst in der späteren Auseinandersetzung der säkularen mit den islamistischen Kräften »nur« oder wenigstens in der Hauptsache um konkrete Machtfragen, nicht aber die ideellen Ressourcen der Macht gerungen wurde.66 Tatsächlich ist die fehlende oder zumindest schwache »Ideologizität« eines der besonderen Kennzeichen der Arabellion.67 Ob dies ein nach dem Scheitern des postkolonialen Befreiungsnationalismus, des arabischen Sozialismus, des Islamismus sowohl in seiner saudischen als auch in seiner persischen Variante sowie der wirtschaftsliberalen Versprechen der jüngeren Vergangenheit positives Zeichen ist oder umgekehrt ein Mangel, wird die Zukunft entscheiden. Revolutionstheoretisch auffällig ist jedenfalls, dass die normative Frage, im Namen welcher Idee eine zukünftige politische Ordnung gerechtfertigt und eingerichtet werden solle, vor und während der Aufstände nicht nur ungelöst, sondern weitgehend unaufgeworfen blieb.68 Flankieren möchte ich dieses Indiz für den meines Erachtens nur eingeschränkt revolutionären Charakter der Arabellion durch eine zweite Beobachtung. Der für das Verständnis der arabischen Regime grundlegende autoritäre Gesellschaftsvertrag wurde zwar von den Herrschenden gebrochen; sie waren schon ab Ende der 1980er Jahre nicht länger willens oder in der Lage, sich gegen wohlfahrtsstaatliche Leistungen Loyalität oder wenigstens Duldung zu erkaufen. Es brauchte je66 Nach Ansicht von Olivier Roy (2012) spricht paradoxerweise gerade die Pluralisierung von islamistischen Ordnungsentwürfen dafür, dass ihre jeweiligen Verfechter Spielregeln und Institutionen der politischen Konkurrenz akzeptieren und damit wie auch immer unfreiwillig dem politischen Pluralismus und sogar der Demokratie Vorschub leisten werden. Der tunesische Fall und insbesondere die Mäßigung der Ennahda unter Rachid al-Ghannouchi sprechen sicherlich für eine derartige Deutung. Die Politik der Muslimbrüder nach dem Wahlsieg Mursis hat hingegen nicht nur das ägyptische Militär um seine Pfründe fürchten lassen und schließlich zum Putschen veranlasst, sondern auch die säkulare Opposition in ihrer politischen Handlungsfreiheit beschnitten. 67 Bayat 2013. 68 Die Überlegungen auch arabischer Intellektueller über die Zukunft des arabischen Staates (z.B. Hashemi 2009) haben in der arabischen Welt im Allgemeinen und der Arabellion im Besonderen nur wenig politische Durchschlagskraft entfaltet.

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doch Zeit, bis dieser Vertragsbruch für alle offenkundig wurde und ein einzelner Funke die gesamte Region in Brand stecken konnte. Doch wollten die Aufständischen, will eine Mehrheit der Menschen in Ägypten und anderswo diesen Gesellschaftsvertrag tatsächlich aufkündigen und nicht vielmehr erneuern? Weder die zunehmende Informalisierung dieses Paktes noch die weit verbreitete und unvermeidliche sogenannte kleine Korruption, noch der strukturelle Tribalismus sind dazu angetan, bei den Staatsbürgern eine, wenn vielleicht auch nicht gemeinwohl-, so doch an prinzipiell verallgemeinerungsfähigen Positionen orientierte politische Haltung auszubilden.69 Der persönliche, vertikale, von asymmetrischer Reziprozität geprägte Charakter patrimonialer beziehungsweise klientelistischer Herrschaftsordnungen steht sowohl einer bürokratischen, regeltreuen oder gar rechtsstaatlichen Verwaltung eines politischen Verbandes ohne Ansehen der Person als auch der Solidarisierung der Herrschaftsunterworfenen oder wenigstens der Herausbildung und Artikulation horizontaler Klasseninteressen prinzipiell im Wege. Letzteres aber, der von persönlichen Loyalitäten freie, dafür jedoch von individuellen Interessen geleitete beziehungsweise der Stellung der einzelnen Bürger im und zum Klassen- oder Schichtengefüge einer Gesellschaft geprägte Zusammenschluss, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Demokratie und das heißt eine freie Bestimmung oder gar Wahl der Herrscher durch die Beherrschten überhaupt möglich wird. Bei aller Lebhaftigkeit der Zivilgesellschaft oder vielmehr der Stärke einer ganzen Reihe von zivilgesellschaftlichen Akteuren, sind die ägyptische und allgemeiner die Gesellschaften der von der Arabellion betroffenen Länder keine bürgerlichen, zur ökonomisch fundierten Selbstbehauptung dem Staat gegenüber fähigen Gesellschaften. Ich höre schon, dass man mir vorwerfen wird, ich stülpte den arabischen Gesellschaften ein aus der europäischen Erfahrung abgeleitetes Skript über – verzeihlich vielleicht, weil ich von der arabischen Welt im Grunde zu wenig verstünde, unverzeihlich aber, insofern es viele gleichberechtigte Wege in die Moderne gebe und Europa(s Intellektuelle) aufhören sollte(n), »dem Rest« der Welt Vorschriften zu machen. Doch was ich tue, ist lediglich, vor dem Hintergrund des europäischen Sonderwegs und das heißt einer Konstellation, in der kriegführende und finanzschwache Fürsten ihrer städtischen, wirtschaftlich selbständigen und kommunal teilautonomen Bürgerschaft, um Steuern und Kredite zu erhalten, politische Parti-

69 Owen 2012, S. 153-171. Die Informalisierung des Sozialpakts meint die Substitution von formellen Ansprüchen der Bevölkerung auf Lebensmittel- und Energiesubventionen, Arbeit, Bildung oder Wohnraum durch die informelle Duldung von Rechtsverstößen und insbesondere der privaten Aneignung öffentlicher Güter auch durch gewöhnliche Bürger. Die kleine Korruption bezeichnet den alltäglichen und allgegenwärtigen (Ver‑)Kauf von Anrechten und Entscheidungen, die eigentlich unentgeltlich gewährt und getroffen werden müssten. Und der strukturelle Tribalismus schließlich ist eine Chiffre für die angesichts der Käuflichkeit von Amtsträgern und Leistungsmonopolisten wie der strukturellen Schwäche (auch) des arabischen Staates unausweichliche und selbstverständliche Bevorzugung der ethnischen, religiösen, familialen oder auch politischen Eigengruppe. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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zipationsrechte einräumen mussten,70 einer Konstellation, die im Schlachtruf der amerikanischen Revolutionäre »no taxation without representation« ihren emblematischen Ausdruck gefunden hat, die Chancen abzuschätzen, dass es zwischen den Autokraten der arabischen Welt und »ihren« Bevölkerungen zu einem ähnlichen, an sich noch nicht demokratischen, aber demokratieförderlichen Kompromiss oder auch »Gesellschaftsvertrag« kommt. Und die halte ich auch nach der Arabellion und trotz der Fortdauer der sie befeuernden sozioökonomischen Probleme für gering. Der »arabische«, auch der arabische und in Wahrheit für weite Weltregionen wie »zum Beispiel« das subsaharische Afrika71 geltende und, wie mir scheint, weder ideologisch herausgeforderte noch sozialstrukturell in Frage gestellte Sozialvertrag lautet nicht darauf, dass die Bürger zahlen und der Staat ihnen dafür (Freiheits‑)Rechte gewährt, sondern umgekehrt, dass die Herrscher ihre Klienten alimentieren und diese dafür auf politische Freiheit verzichten. Was die Arabellion in Frage gestellt zu haben scheint, das sind die Bedingungen oder die Ausführungsbestimmungen dieses Vertrages, ist nicht aber der Vertrag selbst. Für den Fortgang der Ereignisse, den naturgemäß niemand kennen kann, heißt dies in der Tat, dass die arabische Welt ihren Weg zur Demokratie, wenn sie denn zur Demokratie finden will, erst noch finden muss. Wenn ich gleichwohl zögere, ja, zögern muss, »die« Arabellion rundheraus für gescheitert zu erklären, dann deshalb, weil man eines Tages vielleicht, nicht irgendwann in ferner Zukunft, sondern »schon« mittelfristig, in zehn, 20 oder 50 Jahren, wird sagen können, dass sie kurzfristig zwar durch Pseudoreformen, erneute Repression, Coups und nicht zuletzt Bürgerkriege erstickt worden ist, aber dennoch als Beginn einer politischen Revolution, einer grundstürzenden Veränderung der politischen Verfassung der (oder wenigstens einer Reihe von) Staaten der MENA-Region, aufgefasst werden muss. Dass der Sturm auf die Bastille eines Tages als Auftakt einer großen und erfolgreichen Revolution gefeiert werden würde, war 1794 angesichts ihrer Schrecken und Rückschläge schließlich auch noch nicht absehbar. Wie die Geschichte weitergeht, ist unbekannt, und je weiter wir in die Zukunft ausgreifen, desto ungewisser werden unsere Prognosen. Was sich durch die Brille einer historisch gesättigten Revolutionstheorie betrachtet jedoch heute schon sagen lässt und was ich vorstehend zu zeigen versucht habe, ist, dass die Arabellion bisher zwar insofern den Verlauf einer typischen Revolution wiederholt, als erst die symbolisch-expressive Artikulation einer bereits länger schwelenden performativen Krise diese zu einer des politischen Systems zuspitzt, die Forderungen gerade der politisch säkularen Aufständischen jedoch deutlich »nur« auf die Ablösung der Herrschaftspersonals – Irhal! –, nicht aber auf die Substitution des Herrschaftsprinzips selbst zielen. Die normative Frage, in wessen Namen, dem Gottes oder des Volkes, zukünftig geherrscht werden soll, wurde und wird für »alle« vernehmlich im Grunde nur von den religiösen Fundamentalisten gestellt. Diese normative »Schwäche« der säkularen Opposition ist selbstverständlich kein persönlich zu adressierender Vorwurf. Gescheitert ist die Arabellion (vorerst) 70 Tilly 1994; Reinhard 1996. 71 Chabal/Daloz 1999.

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nicht deshalb, weil den Aufständischen das »richtige Bewusstsein« gefehlt hätte, sondern weil die alten Mächte sich behaupten konnten und Bürgerkriege politische Verfassungsfragen überlagert haben. Der Arabellion fehlte schlichtweg die Zeit, zur Revolution zu reifen. Ohne eine Klärung oder wenigstens Thematisierung des besagten Streits der Legitimitäten ist auf einen Sieg der arabischen Revolution, auf den meine Kollegen und ich vor mittlerweile mehr als fünf Jahren etwas voreilig anstießen, allerdings auch in Zukunft kaum zu hoffen. Literatur Abulof, Uriel 2015. »Can’t Buy Me Legitimacy. The Elusive Stability of Mideast Rentier Regimes«, in: Journal of International Relations and Development, Februar 2015. Anderson, Lisa 2011. »Demystifying the Arab Spring. Parsing the Differences Between Tunisia, Egypt, and Libya«, in: Foreign Affairs, 90 (3), S. 2-7. ASDA’A Burson-Marsteller 2016. Inside the Hearts and Minds of Arab Youth. 8th Annual Arab Youth Survey. URL: arabyouthsurvey.com/uploads/whitepaper/2016-AYS-White-Pa per-EN_12042016100316.pdf [06.12.2016]. Bach, Daniel C.; Gazibo, Mamoudou 2012. Neopatrimonialism in Africa and Beyond. London: Routledge. Bayat, Asef 2010. Life as Politics. How Ordinary People Change The Middle East. California: Standford University Press. Bayat, Asef 2013. »The Arab Spring and Its Surprises«, in: Development and Change, 44 (3), S. 587-601. Beblawi, Hazem 1987. »The Rentier State and the Arab World«, in: Arab Studies Quarterly, 9 (4), S. 383-399. Beetham, David 2013. The Legitimation of Power. Basingstoke: Palgrave Macmillan. Beinin, Joel 2009. »Workers’ Protest in Egypt. Neo-Liberalism and Class Struggle in 21st Century«, in: Social Movement Studies, 8 (4), S. 449-454. Bennett, Lance W.; Segerberg, Alexandra 2012. »The Logic of Connective Action«, in: Information, Communication and Society, 15 (4), S. 739-768. Cammett, Melani; Diwan, Ishac 2013. »Conclusion«, in: A Political Economy of the Middle East, hrsg. v. Richards, Alan; Waterbury, John. Boulder: Westview Press, S. 407-437. Chabal, Patrick; Daloz, Jean-Pascal 1999. Africa Works. Disorder as Political Instrument. London: International African Institute. Collins, Randall 2015: »Vorwärtspaniken«, in: Gewaltmassen. Über Eigendynamik und Selbstorganisation kollektiver Gewalt, hrsg. v. Paul, Axel T.; Schwalb, Benjamin. Hamburg: Hamburger Edition, S. 204-230. Daher, Joseph 2016. »Peace in Syria: Without Assad«, in: Syria Freedom Forever, 24. Oktober, URL: syriafreedomforever.wordpress.com/2016/10/24/peace-in-syria-without-assad/ [06.12.16]. Daoud, Kamel 2016. »Das sexuelle Elend der arabischen Welt«, in: FAZ, 29. August. Davies, James C. 1973. »Eine Theorie der Revolution«, in: Empirische Revolutionsforschung, hrsg. v. Beyme, Klaus von. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 185-204. Della Porta, Donatella 2014. Mobilizing for Democracy. Comparing 1989 and 2011. Oxford: Oxford University Press. Demmelhuber, Thomas 2014. »Kann ein Putsch demokratisch sein? Normativer Etikettenschwindel in Ägypten«, in: Zeitschrift für Politik, 61 (1), S. 42-60. Derichs, Claudia; Demmelhuber, Thomas 2014. »Monarchies and Republics, State and Regime, Durability and Fragility in View of the Arab Spring«, in: Journal of Arabian Studies, 4 (2), S. 180-194. Desai, Raj M.; Olofsgård, Anders; Yousef, Tarik M. 2009. »The Logic of Authoritarian Bargains«, in: Economics & Politics, 21 (1), S. 93-125.

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Zusammenfassung: Ausgehend von einem mehrdimensionalen Konzept von Legitimität skizziert der Artikel eine (Verlaufs‑)Theorie der Revolution, als deren Kern ein Wechsel der normativen Grundlagen der politischen Ordnung identifiziert wird. Die Theorie wird in Anschlag gebracht, um die Vorgeschichte und die Dynamik der Aufstände in der Arabischen Welt zu rekapitulieren, die, bislang zumindest, besser als Rebellionen denn als (gescheiterte) Revolution aufgefasst werden sollten. Stichworte: Arabischer Frühling, Rebellion, Revolution, Revolutionstheorie, neopatrimoniale Herrschaft

Arab Uprisings. From the Awakening to the Collapse of a Region? Summary: Based on a multidimensional concept of legitimacy, the paper outlines a (processual) theory of revolution, arguing that, to speak of such an event, there needs to be a change of the normative core of the political order. The theory is then applied to the prehistory and the course of the upheavals of the Arab world, which, at least so far, should rather be understood as a series of rebellions than as a (failed) revolution. Keywords: Arab Spring, rebellion, revolution, theory of revolution, neopatrimonialism

Autor Prof. Dr. Axel T. Paul Universität Basel Seminar für Soziologie Petersgraben 27 CH-4051 Basel [email protected]

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I. Unterschiedliche Verlaufspfade der Arabellion

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Legitimität und politische Herrschaft Ein historischer Längsschnitt im Lichte der arabischen Umbrüche seit 2011 Inhaltliche Hinführung und Forschungsfrage Die Frage nach der Rechtmäßigkeit von politischer Herrschaft ist eine der »Königsfragen« der Politischen Wissenschaft. Auch und gerade im Lichte von Besonderheiten in der Ausprägung des nahöstlichen Staatensystems im Zuge des Ersten Weltkriegs und dem sich 2016 zum hundertsten Male jährenden Sykes-Picot-Abkommen zwischen Frankreich und Großbritannien ist die Frage nach der Begründung von politischer Herrschaft entlang variierender, von außen oktroyierter territorialer Einheiten und unabhängig vorliegender Herrschaftsformen (sowie sozialer, ethnischer und konfessioneller Realitäten) ein permanent diskutiertes und verhandeltes Phänomen in den nahöstlichen Gesellschaften. Fest steht indes, dass mit Beginn der politischen Umbrüche in der Region seit 2011 zunehmend Neukonfigurationen der regionalen Ordnung, vor allem hinsichtlich der territorialen Parzellierung und politischen Herrschaftsstruktur, auftreten und ihre Erklärung ein interdisziplinäres Forschungsdesiderat darstellt.1 Ein 100 Jahre altes, von europäischen Mächten oktroyiertes Staatensystem erscheint in seiner geopolitischen Struktur zunehmend porös und volatil. Neukonfigurationen von politischen und territorialen Ordnungen sind erkennbar oder lassen sich zumindest erahnen. Egal ob Libyen, Syrien oder Jemen, die territoriale Integrität dieser Staaten ist bereits zusammengebrochen und wird durch konkurrierende, für sich Rechtmäßigkeit beanspruchende Herrschaftsentwürfe unterschiedlicher staatlicher und nichtstaatlicher Akteursgruppen verstärkt. Dennoch verfängt diese These der Neuordnung nicht in allen Ländern der Region. Empirisch sind es vor allem die arabischen Republiken, die aufgrund massiver Protestbewegungen zum Teil signifikante herrschaftsstrukturelle Wandlungsprozesse durchlaufen bzw. durchlaufen haben. Die Monarchien aber, sofern es überhaupt zu Massenprotesten gegen das Regime bzw. die Herrscherfamilie kam (z.B. Bahrain), konnten diese recht zügig unterbinden, sei es über eine großzügige Alimentierung der Bürgerinnen und Bürger, Repression oder begrenzte Reformversprechen, die zumeist zügig umgesetzt wurden. Dieses zunächst erfolgreiche Krisenmanagement, eine Art politischer Responsivität in Autokratien, wird in neueren Beiträgen der Forschungsliteratur zunehmend über strukturalistische Ansätze erklärt, da aus Roh1 Siehe das BMBF-finanzierte Forschungsnetzwerk an der Universität Marburg zum Thema Re-Configurations. History, Remembrance and Transformation Processes in the Middle East and North Africa; URL: uni-marburg.de/cnms/forschung/re-konfigurationen [25.06.2016]. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017, S. 47 – 65

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stoffreichtum generierte Staats-, Herrschafts- und Verteilungsstrukturen neben internationalen Allianzen die entscheidenden Erklärungsfaktoren dafür sind, dass in rohstoffarmen Republiken ein Regimewechsel stattfand und in rohstoffreichen Monarchien nicht.2 Wir wollen uns mit der Frage nach Legitimitätsnarrativen in Abhängigkeit unterschiedlicher Formen von Staatsorganisation von diesen strukturalistischen Beiträgen absetzen, ohne dabei ihre partielle Erklärungskraft in Frage zu stellen. Wiederholt gilt es – so unsere Prämisse – im Kontext dieser Varianz in der Staatsorganisation eine Differenz der staatlichen Ordnung zu untersuchen, die im Widerspruch zu Klassikern der Forschungsliteratur steht, welche den Monarchien vor knapp fünf Jahrzehnten keine Überlebenskraft attestierten, da gerade das monarchische Element als unvereinbar mit der Moderne und traditionsverhaftet angesehen wurde.3 Aus der Perspektive des Jahres 2016 scheinen die Monarchien aber vielmehr ein Anker von Dauerhaftigkeit zu sein. Wie können wir das erklären? Unsere Grundannahme ist, dass politische Herrschaft in Autokratien – unabhängig ob Republik oder Monarchie – fraglos von zahlreichen reziprok verbundenen »Stabilitätsressourcen«, wie zum Beispiel Repression, Kooptation oder der Einbindung in regionale und internationale Allianzen, abhängt. Dennoch, in Anlehnung an Kielmansegg, bedarf jede politische Ordnung, unabhängig ihres Herrschaftstypus, einer legitimatorischen Grundidee, die sich im Falle von Autokratien unterschiedlicher ideologischer, ökonomischer, kultureller oder historischer Quellen bedient und darüber gleichwohl ihre Legitimitätsidee zum Ausdruck bringt.4 Ergo, so Albrecht und Schlumberger, muss die Suche nach etwaigen Formen von Legitimität im Zentrum jeder Forschung stehen, die darauf abzielt, in autokratischen Herrschaftskontexten das Überleben der Regime (»regime survival«) zu erklären.5 Wir wollen – inspiriert von der Prämisse der legitimatorischen Grundidee nach Kielmansegg – daher im historischen Längsschnitt nach variierenden Legitimitätsnarrativen der Idealtypen des Republikanismus und des Monarchismus fragen und über das Konzept der Legitimität zu Erkenntnissen darüber gelangen, warum zahlreiche arabische Länder von den Massendemonstrationen 2011 erfasst wurden und andere Staaten, vor allem die Familiendynastien auf der arabischen Halbinsel, aber auch die Monarchien Marokko und Jordanien, verschont blieben. Unser Blick richtet sich dabei auf die arabischen Staaten und fokussiert daher nicht weitere nahöstliche Republiken, wie die Türkei, Iran und Israel, die zwar ebenso spezifische legitimatorische Grundideen ihrer Ordnung vorweisen, aber keine unmittelbaren Objekte regionaler Ansteckung der Proteste seit 2011 waren.

2 Brownlee et al. 2013; Al-Sayyid 2014; Gause 2000; Gause et al. 2012; Halliday 2000; Yom 2012; für ein umfassenderes Set an Erklärungsfaktoren auch jenseits der materiellen Dimension vgl. Bank et al. 2014. 3 Huntington 1968; Lerner 1964. 4 Kielmansegg 1971, S. 371, 383, 389. 5 Albrecht/Schlumberger 2010, S. 373.

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Zur Beantwortung dieser Frage werden wir zunächst in einem ersten Schritt Legitimität als analytische Kategorie definieren und Legitimation als den Prozess zur Erlangung ebendieser diskutieren.6 In einem zweiten Schritt erarbeiten wir uns systematisch die Kontextfaktoren für die Herausbildung konkurrierender Legitimitätsnarrative in Abhängigkeit der Staatsorganisation und zwar in einem historischen Längsschnitt beginnend mit dem »Arabischen Kalten Krieg« der 1950er und 1960er Jahre bis zu den Ereignissen der arabischen Umbrüche seit 2011. Ziel ist es, sodann in einem dritten Schritt zu verdeutlichen, dass Fragen der Veränderung oder Nicht-Veränderung durch die arabischen Umbrüche weder ausschließlich im Sinne eines radikalen Wandels noch als lineare Kontinuität betrachten werden können, sondern eng mit Fragen nach der Legitimität der politischen Ordnung verknüpft sind. Eine derartige Herangehensweise stellt insofern eine gewinnbringende Betrachtung innerhalb der Vergleichenden Regimeforschung dar, als es zwar eine ausdifferenzierte Forschungsliteratur mit innovativen Perspektiven und Beurteilungen zur Begründung der Wandlungsprozesse in der arabischen Welt gibt,7 jene aber zumeist den breiteren historischen Kontext und die Bedeutung von Legitimität und Legitimation vernachlässigt. Legitimität, Legitimation und konkurrierende Längsschnittnarrative Autokratien müssen nicht anders als Demokratien ihre Herrschaft stetig legitimieren, sie bedienen sich dafür aber unterschiedlicher Legitimationsstrategien. In Demokratien sorgen die formalen Mechanismen von politischer Teilhabe (Input-Legitimation) dafür, dass Regierende bei (wahrgenommener) unzulänglicher Ausübung ihres Amtes (Output-Legitimation) zwar abgesetzt werden können, das politische System allerdings nicht automatisch auch als illegitim betrachtet wird. In Autokratien ist die Input-Dimension qua autokratischer Herrschaftslogik nur ansatzweise ausgeprägt, umso wichtiger ist die Output-Dimension (Performanz) und die Frage nach dem »normativen Kitt« der nationalen Gesellschaft. Um einen kontinuierlichen Legitimitätsanspruch und Legitimitätsglauben aufrecht zu halten, bedienen sich autokratische Herrschaftsformen unterschiedlicher ideologischer, ökonomischer, kultureller oder historischer Quellen, also variierender legitimatorischer Grundideen.8 Wir werden mit der These zweier konkurrierender Legitimitätsnarrative im Folgenden mit Kielmansegg argumentieren, denn »hinter jedem politischen System, jedem Ordnungsentwurf ist eine Legitimitätsidee zu finden, gleichsam als Kern seiner geistigen Existenz. Auch da, wo sie nicht ins Bewusstsein tritt, ist sie als Möglichkeit als Keim angelegt«.9 Anders ausgedrückt sind Legitimitätsideen nicht 6 Kneuer 2013; Schlumberger 2010. 7 Für einen Überblick vgl. Grimm 2015; Weipert-Fenner 2014; Beck et al. 2009; Hinnebusch 2006; Brownlee et al. 2015. 8 Kielmansegg 1971, S. 371-389. 9 Ebd., S. 389. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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nur bloße Instrumente politischer Herrschaft und normative Inspiration der Ziele dieser Herrschaft, da sie auch normative Geltungsüberzeugungen der Beherrschten betreffen und nicht nur an reine Leistungserwartungen gekoppelt sind. Vielmehr sind sie auch identitätsstiftend und liefern Ingredienzien einer nationalen Herkunftsgemeinschaft. Inwiefern die Geltungskraft einer gegebenen Ordnung von Akten der Zustimmung seitens der Beherrschten abhängt, oder – wie von Kielmansegg argumentiert – bereits das Ergebnis einer Geltungserfahrung ist,10 stellt eine der spannendsten Fragen in konzeptionellen Arbeiten zu Legitimität dar,11 bleibt für den vorliegenden Gegenstand indes zweitrangig, da es uns lediglich um die Identifizierung der unterschiedlichen, den staatsorganisatorischen Modellen zugrundeliegenden legitimatorischen Grundideen geht, die wir in von der Staatsorganisation abhängige »Legitimitätsnarrative« fassen. Dieser Fixierung auf den Ideencharakter einer politischen Ordnung liegt damit intrinsisch eine auf Performanz bezogene Überprüfung zugrunde, geht es vor allem darum, danach zu fragen, ob der Ideencharakter und das Versprechen der normativen Ordnung Schnittmengen mit der Herrschaftspraxis aufweist. Von diesen Erkenntnissen ausgehend, leiten wir zwei Legitimitätsnarrative der arabischen Welt ab, die sich zum einen in der Idee des »Republikanismus« und zum anderen in der politischen Ordnungsidee des »Monarchismus« wiederfinden, die, wie zu zeigen sein wird, im historischen Längsschnitt auch Überlappungen aufweisen. Regionale Kontextbedingungen des »Arabischen Kalten Krieges« Obgleich de jure die volle nationale Unabhängigkeit vorlag, waren viele arabische Länder auch nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges noch stark beeinflusst von dem kolonialen und imperialen Erbe der Jahrzehnte zuvor, was sich neben willkürlichen Grenzziehungen auch durch politische Institutionen und durch die Souveränität einschränkende bilaterale Verträge offenbarte (z.B. die britisch-ägyptischen Verträge zur Stationierung von bis zu 10.000 britischen Soldaten in Ägypten, v.a. von 1936-1956). Die Niederlage arabischer Staaten im ersten arabischisraelischen Krieg und die sich anschließende Gründung des Staates Israels 1948 intensivierte die Erosion der bisher bestehenden arabischen Herrschaftsordnungen durch eine Reihe von Militärputschen, da die gegebenen Ordnungen durch ihre enge Verflechtung mit europäischen Mächten ohnehin einen massiven Glaubwürdigkeitsverlust zu verzeichnen hatten.12 Die ägyptische Revolution der Freien Offiziere 1952 markierte einen elementaren Wendepunkt in der Geschichte der arabischen Welt und den beginnenden Höhepunkt eines Zeitabschnitts der Massenbewegungen und Ideologien.13 Unter dem charismatischen ägyptischen Präsidenten Jamal ʿAbd al-Nasir (Gamal Abdel 10 Ebd., S. 368. 11 Beetham 1991; Ingold/Paul 2014. 12 Vgl. dazu die autobiographischen Erzählungen von al-Nasir selbst: Abd-an-Nasir 1958. 13 Mechjer 2004.

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Nasser) begann sich der arabische Nationalismus zu einem länderübergreifenden Massenphänomen zu entwickeln, der mit dem Radio als neuem Volksmedium auf jedem arabischen Marktplatz oder in jedes Kaffeehaus verbreitet werden konnte.14 Für die durch die anglo-französische »Orientpolitik« desillusionierten arabischen Gesellschaften waren besonders die patriotischen, antibritischen Parolen der ägyptischen Führung identitätsstiftend. Verstärkt wurde dieses Gefühl durch eine antizionistische Akzentuierung, die das in der arabischen Bevölkerung verhasste Israel als verlängerten Arm früherer Imperialmächte denunzierte. In den treffenden Worten von Nasr Abu Hamid Zaid in seiner autobiographischen Erzählung: »In jener Zeit erreichte das Radio die Kaffeehäuser auf dem Dorf und nahm den Platz des Geschichtenerzählers ein. Die wichtigste Sendung waren die Nachrichten. […] Das war ein paar Jahre nach der Revolution von 1952. Die Leute in meinem Dorf freuten sich über die Revolution und darüber, dass wir zum ersten Mal von einem Ägypter regiert wurden. […] Ich schrieb damals einen Brief an Nasser. Er antwortete mir und schickte ein Bild. […] [F]ür mich war es ein Ereignis – ich konnte mich mit dem Herrscher in Verbindung setzen.«15

Während der politische Triumph in der Suezkrise 1956 den innen- und außenpolitischen Höhepunkt des damaligen ägyptischen Präsidenten darstellte, verlor die Idee einer arabischen Union mit der Auflösung der Vereinigten Arabischen Republik (VAR) durch den Austritt Syriens und Nordjemens 1961, sowie das Scheitern einer föderalen Staatenidee aus Syrien, Irak und Ägypten 1963, bereits Mitte der 1960er Jahre an Dynamik.16 Anstatt einer arabischen Annäherung bauten diese Staaten sowie weitere Länder, wie Somalia, Libyen und Algerien, unter dem Banner eines »arabischen Sozialismus« (al-ishtirakiya al-ʿarabiya) ihre Beziehungen zur Sowjetunion aus und lösten sich damit aus ihrer vorherigen neutralen Position der blockfreien Staaten heraus. Dabei beruhte der arabische Sozialismus grosso modo im Gegensatz zu den anderen sozialistisch geprägten Ländern, wie China oder die UdSSR, nicht auf dem Marxismus als Grundprinzip, sondern auf dem Erbe der islamischen Kultur, die in Verbindung mit sozialistisch-marxistischen Gedanken gesetzt wurde.17 Besonders die ägyptische Propaganda verwendete die Formulierung eines »Sozialismus des Islam« (al-ishtirakiya al-islamiya).18 Demgegenüber bildete sich in der islamischen Welt ein mit dem Westen verbündeter Block heraus, der von konservativen, royalistisch geführten Staaten, wie Marokko, Saudi-Arabien, den kleineren Golf-Fürstentümern (noch nicht unabhängig mit Ausnahme von Kuwait ab 1961), Iran und Jordanien, sowie von Republiken, wie Tunesien und Libanon, repräsentiert wurde.19 Aber auch innerhalb dieser Blöcke existierten verschiedene Konfliktebenen, die sich vorwiegend auf 14 15 16 17 18 19

Nutting 1967, S. 12. Abu Zaid 2001, S. 8-34. Rogan 2012, S. 437. Said 1972, S. 23-29. Reissner 2005; Enayat 1968. Krämer 2005, S. 294; Fisher 1959, S. 644-650.

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politische, religiös-ethnische oder ideologische Komponenten bezogen. Insgesamt waren die Länder der arabischen Welt Anfang der 1960er Jahre zerstritten wie nie zuvor, weshalb Kerr diese Periode in Anlehnung an die weltpolitische Lage als »The Arab Cold War« bezeichnete.20 Durch das Scheitern von verschiedenen föderalen Vereinigungen der in ihrer Selbstzuschreibung »progressiven« Republiken schienen die innerarabischen Differenzen in den Jahren von 1963 bis 1966 unüberwindbar. Hinzu kam, dass Saudi-Arabien – 1955 noch an der Seite Ägyptens, Jemens und Syriens gegen den Bagdad-Pakt protestierend – ab Mitte der 1960er Jahre die Führungsrolle Kairos in der Region zunehmend in Frage stellte21 und aufgrund eines nach innen vollzogenen Staatsbildungsprozesses (Aufbau von Staatsbürokratie) auch in Sachen Machtressourcen konkurrieren konnte.22 Besonders deutlich wurde dieser Kampf um regionale Hegemonie, der zeitgleich auch (wie noch zu zeigen sein wird) ein Gegensatz zweier kontrahierender Ordnungsvorstellungen war, durch die direkte Konfrontation der beiden Länder im Jemen.23 Dort war es ab 1962 zu einem Bürgerkrieg gekommen, nachdem (sunnitische) nationalistische und mit al-Nasir sympathisierende Kräfte die monarchische Herrschaft der schiitischen Zaiditen gestürzt und den Nordjemen zu einer Republik ausgerufen hatten.24 Neben ideologischen Gründen, das jeweilige royalistische oder republikanische Lager zu unterstützen, waren es auch pragmatische Motive, wie die Beherrschung des Golfs von Aqaba, der wichtigen Schiffsstraße im Roten Meer, sowie der Kampf um die regionale Vorherrschaft in der arabischen Welt, weshalb im weiteren Verlauf externe Kräfte, wie einerseits Ägypten (als Gravitationszentrum der »Republikaner«) und andererseits Saudi-Arabien und Jordanien (als Gravitationszentrum der »Royalisten«), in das Geschehen eingriffen.25 Die tiefen Gräben zwischen diesen Gravitationszentren wurden mit dem gescheiterten Abkommen von Dschiddah im Jahre 1965 noch offensichtlicher. Da sich die beiden Seiten nicht auf eine gemeinsame Regierung im Jemen einigen konnten, wurde die Waffenruhe nach einem Monat aufgehoben. Der Krieg dauerte noch weitere fünf Jahre an, beschränkte sich aber zunehmend – vor allem auf Grund der zäsurhaften Ereignisse des Sechstagekrieges 1967 – auf die lokale Ebene.26 Die Rivalität beider regionalen Führungsmächte in Kairo und Riad zeigte sich nicht nur durch Stellvertreterkriege. Auch die Instrumentalisierung von Massenmedien war Mittel zum Zwecke der Dissemination der eigenen Propaganda bzw. der Diffamierung des jeweils anderen. Beispielsweise installierte die saudische Re20 21 22 23 24

Kerr 1967, 1971. Al-Rasheed 2010, S. 121. Für eine überzeugende Aufarbeitung vgl. Hertog 2010. Vatikiotis 1978, S. 253. Mansfield 1973, S. 156. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches wurde der Nordjemen ein unabhängiges Königreich. 25 Dawisha 1975; Rahmy 1983; Barnett/Levy 1991; Witty 2001. 26 Dresch 2000, S. 105; Ferris 2015.

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gierung die Radiostation sawt al-islam, um al-Nasirs hocherfolgreichem Radiosender sawt al-ʿarab ideologisch entgegenzutreten. Im Jahre 1965 eröffnete das Königreich zudem zwei TV-Stationen in Riad und Dschiddah. Bereits zu dieser Zeit, wie auch in der Folgezeit, wurden verschiedene Medien vor allem dazu verwendet, eine islamische Identität nach saudischer Prägung zu propagieren und eine islamische Solidarität (al-tadamun al-islami) zu beschwören.27 Al-Nasir hingegen nutzte die neuen Kommunikationsmittel, um seinen antikolonialen Kampf gegen die Westmächte und Israel zu verteidigen und gleichzeitig die arabische Identität zu betonen. Legitimitätsnarrative: Republikanismus vs. Monarchismus Al-Nasir, die Baʿth-Partei und der »Republikanismus« Das prägende Element des aufkommenden »Republikanismus« war der ultimative Bruch mit den bis dato geltenden Staatslogiken und ihren bestimmenden Herrschaftspraktiken der post-osmanischen Ordnung. Unbestritten ist, dass Ägypten unter der Führung von al-Nasir die Führungsrolle zukam, welche sich bereits anhand einer ideologisch verankerten Legitimationsquelle, wie dem Nasserismus, erklären lässt.28 Daher betrachtet die Forschung auch die arabische Niederlage im Sechstagekrieg (1967) und al-Nasirs anschließenden Tod (1970) als Zäsuren und tiefgreifende Legitimitätskrisen, welche das Ende der Massenmobilisierung und ideologischen Strömungen einleiteten.29 Aufgrund der Tatsache, dass die Freien Offiziere sich als säkular verstanden und sich damit von religiös verankerten Legitimationsstrategien distanzierten, ähnlich wie sie sich auch von jeder der alten und verhassten monarchischen Ordnung angegliederten Legitimationsquellen fern hielten, bot die definitorisch nie ganz eindeutig festgelegte Idee eines arabischen Sozialismus den passenden »ideologisch-politischen Baukasten«, um sich einerseits innerhalb der arabischen Welt als Führungsmacht zu etablieren und andererseits gegen die europäische Durchdringung vorzugehen.30 Folglich entlehnte alNasir seine Philosophie zunehmend der ideologischen Massenbewegung des »Baathismus«, welche unter dem Slogan »Freiheit, Einheit, Sozialismus« einherging.31

27 Mellor 2009, S. 10-12; Lacroix 2011, S. 41. 28 Unter dem Nasserismus wird eine politische Bewegung verstanden, die mit der Person al-Nasir ab 1954 verbunden wird. In seinen Grundsätzen steht der Nasserismus für die Befreiung der arabischen und afro-asiatischen Länder aus der europäischen Fremdherrschaft. Vgl. Mansfield 1995. 29 Mechjer 2004. 30 Büttner 1970, S. 99. 31 Schulze 2003, S. 177. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass die antiroyalistischen Tendenzen zu Beginn der Revolution zu einem großen Teil von (islamischen) Intellektuellen mitgetragen wurde, die sich – anders als die Muslimbruderschaft zu damaliger Zeit – antiroyalistisch zeigten und besonders die Anbiederung der saudischen Wahhabiten an das Königshaus verachteten. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Den Ausgangspunkt für diese Entwicklung stellte die ökonomische Transformation von der Privat- zur Staatswirtschaft dar, die in den direkt zu Beginn der Machtsicherung initiierten Agrarreformen Ausdruck fand.32 Die Konfiszierung von Land und die Verstaatlichung zahlreicher Sektoren sollten nicht nur die aus der Kolonialzeit verbliebenen Strukturen aufheben, sondern auch wirtschaftliche Prosperität fördern und dem Zentralstaat international größeren Handlungsspielraum verschaffen.33 Prestigeträchtige Großprojekte, wie der Bau des Assuan-Staudamms, sollten den radikalen Modernisierungskurs durch Urbanisierung und Industrialisierung betonen und zudem die Output-Legitimation (Performanz) des Regimes innerhalb wie außerhalb festigen. Die erfolgreiche Verstaatlichung der Suezkanalgesellschaft im Jahre 1956 markierte dabei einen Höhepunkt des nationalistischen Republikanismus.34 Die sich daraus entwickelnde Suezkrise, im Kern zwar eine militärische Niederlage gegen die geheime Dreierallianz von Großbritannien, Frankreich und Israel, wurde schnell zu dem maßgeblichen politischen Erfolg der ägyptischen Nationalisten stilisiert, die fortan eine stärkere sozialistische Betonung der politischen Ordnung nicht nur im Inneren, sondern in besonderer Weise auch nach außen propagierten. Das Eingreifen der beiden Weltmächte USA und Sowjetunion, die beide in unterschiedlicher Intensität auf Distanz zu Frankreich und Großbritannien gingen, ermöglichte eine weitere Eigendynamik in der Stilisierung al-Nasirs als »Führer der arabischen Massen«. Al-Nasirs Staatsideologie wurde als »Befreiungssozialismus« exportiert,35 der in Form des Panarabismus die damaligen progressiven und überwiegend sozialistisch ausgerichteten Staaten, wie Ägypten, Syrien und seit 1958 auch Irak, miteinander vereinte. Das langfristige Ziel war es, die Interessen einer allumfassenden arabischen Nation über die jeweilige Staatsräson der Nationalstaaten zu stellen. Das kurze historische Experiment, welches von 1958 bis 1961 als Vereinigte Arabische Republik (VAR) zwischen Ägypten und Syrien – später auch dem Nordjemen – in die Geschichte einging, und die föderalen Einigungsversuche zwischen Ägypten und den Baʿth-Regimen in Syrien und Irak 1963 verkörperten diese Grundidee. Der Erfolg des Panarabismus beruhte dabei in besonderer Weise auf einem psychologisch günstigen »Moment der Geschichte«, da er die in der Bevölkerung tief verankerten Frustrations- und Minderwertigkeitsgefühle durch eine jahrzehntelange Fremdherrschaft kompensierte. Anders ausgedrückt, solidarisierte die Idee einer transnationalen Einheit die arabischen Gesellschaften miteinander, indem die Betonung eines gemeinsamen Feindes in Gestalt der ehemaligen Kolonialherren über die gegenwärtigen sozialen Widersprüche und herrschenden Missstände hinwegtäuschte. Dabei darf allerdings nicht in Vergessenheit geraten, dass auch der Pan32 Warriner 1953. Für eine andere Betrachtung, die betont, dass die ägyptische Elite trotz Reformen noch großen Einfluss besaß, vgl. Ansari 1986. 33 Kerr 1968, S. 154; Waterbury 1983. 34 Marsot 2007, S. 143; Hajjaj 1974, S. 250. 35 Schulze 2003, S. 193.

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arabismus in der Idee eines Panislamismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Intellektuelle, wie al-Tahtawi, al-Afghani und ʿAbduh, geprägt wurde, historische Wurzeln besitzt. Wenige Jahrzehnte später wurde diese Vorstellung von dem syrischen Intellektuellen al-Husri (1882-1968) erneut aufgenommen, der im Rahmen eines arabischen Nationalismus betonte, dass alle Araber vereint seien, eine gemeinsame Sprache, Kultur, Geschichte und gemeinsame Interesse besäßen, weshalb eine allumfassende arabische Einheit die logische Folge sein müsse.36 So betrachtet war der Panarabismus keine von al-Nasir neu entworfene Ideologie, aber es bedurfte seines Charismas, um diese Idee flächendeckend in die arabische Welt hinauszutragen und breitenwirksam in die Gesellschaft(en) hinein zu projizieren.37 Mejcher bezeichnete den Nasserismus daher als »hybride[n] Panarabismus«, der die nationale Problembewältigung Ägyptens in einen größeren arabischen Kontext hob.38 Ferner verdeutlicht allerdings auch der Fall Syriens, dass den Angliederungen von 1958 sowie 1963 pragmatische Sicherheitsbedenken vorausgegangen waren, die abseits von ideologischen Grundideen standen: Während im ersten Fall Syrien den Anschluss an Ägypten suchte, und zwar auf Grund der Furcht eines übermächtigen Irak, war es fünf Jahre später die Sorge vor den wachsenden Hegemonialansprüchen Ägyptens, welche Syrien in die Arme der Iraker trieben. Letztere suchten ihrerseits den Anschluss an Ägypten, was schließlich zur Idee einer föderalen Union führte.39 Insgesamt war die legitimatorische Wirkung des Nasserismus das Ergebnis von drei ineinandergreifenden Konstellationen: (1) al-Nasirs politischer Flexibilität und seines Pragmatismus und Charismas, (2) einer stark ausgeprägten Erwartungshaltung in der arabischen Welt, die Malcom Kerr als »Messianismus« bezeichnete,40 und (3) der regionalen und internationalen Ordnung, die vor allem durch Bipolarität, einerseits international zwischen den USA und der UdSSR und andererseits regional zwischen den progressiven und traditionellen Blöcken sowie den einzelnen Ländern untereinander geprägt war. Diese ideologischen Kernelemente waren in den frühen Jahren der Republiken also ein integraler Bestandteil und in den jeweiligen Verfassungen auch niedergeschriebene legitimatorische Grundideen. Das umfasste konkret (1) die Befreiung der arabischen Länder von Fremdherrschaft, (2) eine gemeinsame Verteidigungsund Außenpolitik aller arabischen Staaten und (3), damit verbunden, eine konstitutionelle oder politische arabische Einheit sowie (4) eine sozialistisch geprägte Umstrukturierung der Wirtschaft für ein koordiniertes Entwicklungsprogramm in der Region.41 Untermauert und legitimatorisch verfestigt wurden diese Ziele mit 36 37 38 39 40 41

Tibi 1987, S. 152. Weber 2008 [1922], S. 179. Mejcher 2004, S. 483. Kerr 1967, S. 56; Owen 1992, S. 61. Kerr 1968. Stephen 1971, S. 572.

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einer Vielzahl von ideologischen Konzepten, wie dem (arabischen) Sozialismus, Republikanismus, »Baathismus« und »Nasserismus«. Dabei waren die Nuancen der einzelnen ideologischen Strömungen nicht immer klar definiert, sondern eher von politischer Flexibilität geprägt. Mit den 1970er Jahren verstetigte sich zwar mit der Präsidentschaft von Anwar al-Sadat aus makroökonomischer Notwendigkeit eine Abkehr vom starken Etatismus der al-Nasir-Ära, dennoch blieb bis in die späten Mubarak-Jahre (Verfassungsreform 2007) die normative Referenz zum Sozialismus als Staatsziel – und damit legitimatorische Grundidee – Teil der Verfassung. Artikel 1 der Verfassung lautete: »The Arab Republic of Egypt is a democratic, socialist state based on the alliance of the working forces of the people.«42 In diesem Punkt rekurrierten die Proteste von 2011 auf die gescheiterten, säkularen Revolutionen der 1950er Jahre. Es ging um das Petitum von Mitbestimmung im Inneren, aber auch um Selbstbestimmung als Ägypter, Tunesier und Araber, also um Souveränität, die de jure beim Volk lag, aber durch den auf Machterhalt getrimmten autoritären Machtapparat ad absurdum geführt wurde. Die Massenproteste von 2011 waren daher gegen autoritäre Regime gerichtet, welche an ihrem spezifisch antikolonialen, säkularen Modernisierungs- und Demokratisierungsversprechen der 1950er Jahre gescheitert sind. Der Protest fokussierte demzufolge perzipierte post-koloniale Abhängigkeitsstrukturen und sozioökonomische Dichotomien im Zuge von neoliberalen Wirtschaftsordnungen, welche die revolutionären Regime der 1950er Jahre lautstark und medienwirksam abzuschütteln versucht hatten, die sich nun aber in einem anderen Gewand in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu manifestieren schienen und die Legitimitätskrise der republikanischen Regime ungleich verstärkten.43 Die auf Machterhalt ausgerichtete Herrschaftslogik der Autokraten in den Republiken ließ sich sogar auf die Nachahmung monarchischer Prinzipien in der Vorbereitung der Herrschaftsnachfolge im Präsidentenamt ein,44 was letztlich – das zeigt vor allem der Fall Ägypten – die Legitimitätskrise in den Republiken intensivierte und zentrifugale Kräfte innerhalb der Elitenkonstellationen verstärkte. Der Monarchismus auf der arabischen Halbinsel Das Aufkommen des Republikanismus und besonders der Zusammenschluss der arabischen Staaten ab 1958 beunruhigten die Monarchen in Jordanien und SaudiArabien ebenso wie die pro-westliche libanesische Republik.45 Die säkularen, modernen und sozialistisch geprägten Strömungen, wie die panarabistischen Leitideen der »Nasseristen« und »Baathisten«, zwangen die konservativen Herrscherhäuser zunehmend, Wege zu finden, ihre Herrschaft zu legitimieren und zu institutionalisieren. Im Zuge eines neuen außenpolitischen Kurses des saudischen Kö42 Ägyptische Verfassung von 1971, eingesehen auf ConstitutionNet; URL: constitutionn et.org/files/Egypt%20Constitution.pdf [25.06.2016]. 43 Demmelhuber 2014, S. 262-263. 44 Fähndrich 2005. 45 Marsot 2007, S. 140.

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nigs Faisal ab den 1960ern spielte die Idee eines Pan-Islams als Gegengewicht zu den Ideen des reaktionären Republikanismus eine bedeutende Rolle, wenngleich die Idee einer Vereinigung der islamischen Länder (»umma«) verstärkt erst mit Aufkommen des sogenannten politischen Islam ab den 1970er Jahren Verbreitung und Anklang in der arabischen Welt erfuhr.46 Bei unseren Überlegungen liegt nun zunächst der Schwerpunkt auf den arabischen Golfmonarchien, welche aufgrund ihrer familiendynastischen Ausprägung von politischer Herrschaft als Idealtypus verstanden werden sollen, sodass sich daraus auch Subtypen bilden ließen, welche aber allesamt als Kernmerkmal die Herrschaft eines nach tribalen Mustern organisierten Familienverbands teilen.47 Gleichwohl sehen wir die Monarchien auf der arabischen Halbinsel und hierbei vor allem Saudi-Arabien als Nukleus des Monarchismus als Legitimitätsnarrativ an. Die Familiendynastien der Golfmonarchien verdanken einen Teil ihres Herrschaftsanspruchs der Protektion durch die Briten im 19. Jahrhundert, welche zum Schutze ihrer ökonomischen Interessen den Seeweg vom Persischen Golf nach Indien kontrollieren wollten. Sie gingen dafür Allianzen mit den an der Küste der arabischen Halbinsel agierenden Stämmen ein, um die bisweilen ausufernde Piraterie im Persischen Golf einzudämmen. Diese Protektion durch die Briten und vor allem die Auswahl der Stammesführer, mit denen diese Abkommen ausgehandelt wurden, spiegelten auf lokaler Ebene stammespolitische Realitäten und Machtstrukturen in den tribalen Gesellschaften und Stammeskonföderationen wider.48 Die Protektion folgte also nicht willkürlichen Mustern der imperialen Durchdringung, wie beispielsweise in Ägypten oder in der Levante durch Großbritannien und Frankreich. Mit dem Rückzug der Briten Ende der 1960er Jahre »östlich von Suez« wurden aus tribalen Führern plötzlich Monarchen, auch wenn sie sich bis in die Gegenwart Sultane oder Emire nennen.49 Sie trieben den Prozess der Staatsbildung voran, begründen darüber bis heute ihren Herrschaftsanspruch und machen sich traditionelle Herrschafts- und Interaktionsmodi aus Zeiten der tribalen Stammesgesellschaft zu Nutze. Die Monarchien durchliefen seitdem keinen revolutionären Bruch im Prozess der Staats- und Nationenbildung, um den Schritt zu einer als legitim empfundenen staatlichen Ordnung zu gehen. Dieser war auch nicht nötig, da die tribalen Führer nicht als Kollaborateure der Briten und damit der Imperialisten angesehen wurden und ihrem Herrschaftsanspruch nach Erlangung der Unabhängigkeit den nötigen Mindestanstrich von Rechtmäßigkeit geben konnten; selbstredend positiv bedingt durch den Aufbau von Rentenökonomien und der damit möglichen Etablierung von sozialstaatlichen Komfortzonen für die

46 Kepel 1994; Hegghammer 2008, S. 703. 47 Das nun folgende Argument zum Monarchismus baut auf Argumenten auf, die zuerst dargelegt wurden in Demmelhuber 2014. 48 Sehr schön dargelegt in Davidson 2008, S. 9-37. 49 Mit Ausnahme Saudi-Arabiens seit Staatsgründung und Bahrains seit der neuen Verfassung von 2002. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Staatsbürgerpopulation. Die monarchische Ordnung war daher von hoher Passgenauigkeit mit den vorstaatlichen Herrschafts- und Interaktionsmodi. Wirkmächtig sind im Zuge dieser Staatenbildung auf der arabischen Halbinsel, die treffend von Anderson als »historical accident«50 bezeichnet wurde, die Rolle von Tradition51 sowie – im fließenden Übergang52 – religiös legitimierter Tradition (»sunna«) als legitimatorische Grundideen: Aus ihrer Herkunft als Stammesgesellschaften leiten die Monarchien einen gesellschaftlich-normativen Anker ab, aus dem sie auch moderne nationale Identitäten zu konstruieren versuchen, die sie dementsprechend auch in den geschriebenen Verfassungen beziehungsweise Grundgesetzen im Falle Saudi-Arabiens und des Omans festschreiben. In der Verfassung von Katar heißt es zum Beispiel in Artikel 8: »The Rule of the State shall be hereditary within the Al Thani family and by the male successors of Hamad bin Khalifa bin Hamad bin Abdullah bin Jassim.« Weiter heißt es in Artikel 57: »Respect for the Constitution, abiding by the laws issued by the public authorities, abiding by public order and public behaviour, following the national traditions and norms is the duty of all residing in the State of Qatar.«53 Traditionelle Interaktionsmodi zwischen Herrscher und Untertanen aus vorstaatlichen Zeiten werden nun in Prozesse der beschleunigten Modernisierung in ausdifferenzierte, modifizierte Staats-Gesellschafts-Beziehungen eingebunden, die sich schlussendlich auch in unterschiedlichen Mustern quasi-parlamentarischer Teilhabe und/oder Konsultation spiegeln. Aus der Zeit einer traditionellen Stammesgesellschaft abgeleitete Interaktions- und Herrschaftsmodi (z.B. »majlis« und »shura«) erfahren dabei zunächst keine veränderte Funktionszuschreibung. Sie folgen einer Formalisierung von Tradition in einem neuen Kontextzusammenhang, den der »moderne« Staat mit sich bringt. Der Emir, König oder Sultan ist in Personalunion erstens Manager der regionenspezifischen, aber an eine globale 50 Anderson 1991. 51 Im Allgemeinen bezeichnet Tradition die Weitergabe von Vorstellungen, Handlungsmustern, Wertevorstellungen und Stilrichtungen (auch zum Beispiel in Kunst und Architektur) innerhalb einer sozialen Gruppe oder zwischen Generationen. Tradition umfasst dabei mehr als Gewohnheit, Brauchtum und Sitte, da dem Traditionsbegriff konventionalisierte Regelmäßigkeiten und Formen von übertragener Sinnhaftigkeit des sozialen Handelns einer Gruppe zugrunde liegen. Tradition soll im Folgenden den Rückgriff auf historisch gewachsene, überlieferte Herrschafts- und Organisationsprinzipien der tribalen Stammes- und Clanstrukturen auf der arabischen Halbinsel umfassen, die einerseits religiös determiniert sind und andererseits auch auf überlieferte Handlungsmuster der Stämme auf der arabischen Halbinsel rekurrieren. 52 Das Shura-Prinzip ist hierfür ein anschauliches Beispiel. Es steht für Konsultation und ist eine überlieferte Methode, wie vorislamische, arabische Stämme ihre Stammesführer auswählten und für Entscheidungen mit einbanden. Das Shura-Prinzip wird auch im Koran angeführt, sodass es als vorislamische Tradition nun auch eine religiös legitimierte Tradition (»sunna«) wurde. 53 Hervorhebung durch die Autoren. Der Verfassungstext wurde in der Datenbank International Constitutional Law der Universität Bern eingesehen; URL: servat.unibe.ch/icl/ qa00000_.html [25.06.2016].

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Konsumkultur angelehnten Modernisierung und zweitens traditioneller Herrscher. Die gemeinsame gesellschaftliche Herkunft mutiert damit zu einer inspirierenden Quelle, quasi zu einem Baukasten für die fortdauernde Formalisierung der Herrscher-Untertanen-Beziehungen als Staats-Gesellschafts-Beziehungen im modernen Staat.54 Diese Modernisierung der Tradition im Kontext der Staatenbildung und Ausbildung golfspezifischer Herrschaftsmodi hebt auch den Legitimitätsanspruch der Herrscherfamilien und den Legitimitätsglauben der de facto Untertanen beziehungsweise de jure Staatsbürger auf eine andere Ebene. Der Legitimitätsglauben, also der Glauben der Staatsbürger an die Rechtmäßigkeit der Ordnung, hängt an dieser Stelle natürlich auch mit den kleinen Populationen zusammen, was zweifelsohne wirkmächtig zu erachtende materielle Legitimationsstrategien effektiver macht. Dennoch ist das auf Rentenökonomien rekurrierende Argument nicht allerklärend: Der Legitimitätsglauben fußt vor allem darauf, dass die monarchische Ordnung, abgeleitet aus der gemeinsamen Vergangenheit einer Stammesgesellschaft, ein exklusives Teilhaberecht (aber keine bzw. nur sehr limitierte Volkssouveränität) garantiert und zwar in Abgrenzung zu der Mehrheit oder mindestens starken Minderheit in den jeweiligen Ländern (die nicht Teil des Gründungsnarratives waren/sind). Ein Regimewechsel würde hier aufgrund der Verwobenheit der Herrscherfamilien mit der staatlichen Ordnung auch die fundamentale Frage nach den Grundparametern der Staatsorganisation neu stellen.55 Der Religion schreiben wir indes eine nur nachgeordnete Rolle als legitimatorische Grundidee zu. Einzig Saudi-Arabien ist als Sonderfall zu bezeichnen, da in der sogenannten »saudischen Grundordnung« (al-nizam al-asasi li-l-hukm), die nicht »Verfassung« (dustur) heißt, nach Artikel 1 der Grundordnung Koran und Sunna die Verfassung sind (bzw. kitabu-llah), sich alle Macht aus dem Koran und der Tradition des Propheten ableitet und die monarchische Ordnung für sich auch die Wächterrolle über die zwei heiligsten Stätten im sunnitischen Islam beansprucht. Letzteres ist aber ein junges, »modernes« Phänomen: Erst seit 1986 trägt der saudische König den offiziellen Titel »Diener der heiligen Stätten« (khadim alharamain al-sharifain), was über Aspekte innenpolitischer Herrschaftssicherung der inklusiveren Einbindung der wahhabitischen, klerikalen Elite zu erklären ist, denn – so Steinberg – die Familie Al Saʿud versuchte ihre islamistischen Kritiker stets einzubinden, indem sie den religiösen Charakter des Staates betonte und wahhabitischen Gelehrten mehr Einflussmöglichkeiten gewährte.56 Republikanismus und Monarchismus im regionalen Querschnitt seit 2011 Obwohl die regionalen Massenproteste, die sich von Tunesien über die gesamte arabische Welt ausbreiteten, in ihrer Ausprägung und Form sehr unterschiedlich 54 Anderson 2000; Herb 1999, 2004. 55 Vgl. dazu detailliert Derichs/Demmelhuber 2014. 56 Steinberg 2004, S. 66. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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verliefen und je nach individuellen nationalen Rahmenbedingungen eine große Heterogenität aufwiesen, sind einige Gemeinsamkeiten offensichtlich. So können die flächendeckenden Auflehnungen gegenüber Herrschenden auch als eine Form von »politischem Arabismus« betrachtet werden, der die Bevölkerung verschiedener Staaten miteinander solidarisierte und durch Errungenschaften der Kommunikationstechnologie (u.a. durch soziale Netzwerke) in präzedenzloser Weise Ansteckungseffekte generierte. Besonders hier zeigt sich eine Parallelität zu den Umstürzen und Revolutionen, die zahlreiche arabische Länder in den 1950er und 1960er Jahren erfassten, um Republiken auszurufen, und die deshalb als Höhepunkt des arabischen Nationalismus verstanden werden.57 Sowohl während des »Arabischen Kalten Krieges« als auch ab 2011 können die Proteste und Transformationen in der arabischen Welt vorwiegend als ein Bruch mit den bis dato vorherrschenden und geltenden Machtstrukturen verstanden werden, welche von einer vorwiegend jungen, urbanen und gut ausgebildeten Gesellschaftsschicht initiiert wurden. Hierbei kam der Betonung der (individuellen) Würde (al-karama) eine zentrale Rolle zu, die sich durch jahrzehntelange Frustration und Minderwertigkeitsgefühle von nicht vorhandener politischer Mitbestimmung aber auch nationaler Selbstbestimmung ausdrückte. In beiden Fällen waren es ursprünglich also rational-pragmatische Antriebsfedern, sich illegitim wahrgenommener Machteinflüsse zu entledigen, die sich erst im Folgenden und mit Verwendung von Kommunikationstechnologien ideologisch aufluden. Neben diesen Gemeinsamkeiten bleiben frappierende Unterschiede, die das Argument von konkurrierenden Legitimitätsnarrativen unterfüttern. Das Kernelement der Ideologie, welches vor allem durch den »Republikanismus« ausgedrückt wurde, stand stets in einem engen Verhältnis zu einer charismatischen Persönlichkeit, die sie zu transportieren wusste. Mit al-Nasirs Tod hat es eine solche Figur nicht mehr gegeben, wobei der aufkommende Führerkult eines ʿAbd al-Fattah al-Sisi mitsamt seinem Rückgriff auf Patriotismus in Ägypten zwar Erinnerungen wachruft, tatsächlich aber nur versucht, die eklatanten Defizite hinsichtlich der in der Verfassung niedergeschriebenen Performanzziele temporär zu kompensieren. Indes wurden die Legitimitätsnarrative ehemaliger progressiver Republiken, wie Syrien, Jemen oder Irak, durch Bürgerkriege, welche die territorialen Staatsgrenzen erodieren ließen, stetig mehr in Frage gestellt. Sicher scheint zudem, dass der durch die Umbrüche entstandene kurze Siegeszug eines politischen Islam als »revolutionärer Ideologie« keine nachhaltige Legitimationsbasis besitzt.58 So wurden zahlreiche islamistische Strömungen, die sich seit 2011 verstärkt politisch durch Parteien formiert hatten und besonders in Auftreten der Muslimbruderschaft auch als transnationale Bewegungen verstanden werden konnten, politisch marginalisiert. Mit der öffentlichen Ächtung der Muslimbruderschaft, die von Ägypten und auch von Golfmonarchien, wie Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), vorangetrieben wurde, erscheint

57 Herausragend dazu: Louis/Owen 2002. 58 Grimm 2015, S. 105.

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das Element der Religion als tragende Begründungsressource politischer Herrschaft schwächer. Die Golfmonarchien setzen indes auf eine kontinuierliche, variierende Mischung aus Tradition, Religion und »gestutzter« Volkssouveränität, um ihre kurze Geschichte der Unabhängigkeit ab den 1970er Jahren legitimatorisch abzufedern; selbstredend in Ergänzung von wirkmächtigen materiellen Legitimationsstrategien, die aber nicht Inspiration, sondern Folge der oben genannten legitimatorischen Grundideen sind. Dabei erscheint dies nicht als neue Erfindung, sondern leitet sich vielmehr von anderen Monarchien, wie Saudi-Arabien oder Jordanien, ab, deren Betonung der Tradition auch in Zeiten des Kalten Krieges von enormer Bedeutung war. Im Gegensatz zu den Republiken sind die Monarchien von einer außergewöhnlichen Persistenz geprägt. So hat das Herrscherhaus Al Saʿud den westlichen Imperialismus, den arabischen Nationalismus, den islamischen Extremismus und andere innere und äußere Gefahren des 20. Jahrhunderts – bislang zumindest – überstanden. Die Republiken befinden sich demgegenüber auf einer ergebnisoffenen Suche nach einer neuen, vor allem dauerhaften legitimatorischen Grundidee. Tunesiens demokratischer Aufbruch ist hierbei normativer Nukleus einer neuen demokratischen Herrschaftsordnung, de jure und de facto abgeleitet von Volkssouveränität. Ägypten hingegen fällt zurück in ein »kurzsichtiges« Kompensationsschema, das der autokratischen Herrschaftslogik geschuldet ist; eine erneuerte nationalistische Rhetorik soll nutzbar gemacht werden zur temporären Überwindung massivster Defizite auf der Output-Ebene (z.B. öffentliche Sicherheit, makroökonomische Performanz) und auf der Input-Ebene (z.B. repressive Gängelung politischer Teilhabe- und Freiheitsrechte im Widerspruch zur Verfassung). Fazit Resultierend aus diesem Querschnitt von verschiedenen Legitimitätsnarrativen lässt sich abschließend vor allem erkennen, dass sich eine ideologische Unterscheidung entlang der Ideen einer radikal neuen Vorstellung mit Bruch der alten Werte und Konzepte auf der einen Seite und der Verknüpfung von Moderne und Tradition auf der anderen Seite herausgebildet hat. Diese zwei konträren Anschauungen wurden nicht nur indirekt über neue Medien verbreitet, sondern führten auch zu offensichtlichen militärischen Auseinandersetzungen und am Ende sogar zu letztlich gescheiterten Nachahmungseffekten in Bezug auf eine dynastische Herrschaftsabfolge in den Republiken. Es wurde deutlich, wie die politischen Systeme ihre Herrschaftsordnungen durch jeweils andere legitimatorische Grundideen rechtfertigen und gerade die Monarchien – hier am Beispiel der Golfmonarchien gezeigt – in der eigenen Herkunft als vorstaatliche Stammesgesellschaft mit der Übernahme einer monarchischen Staatsorganisation sowohl herrschaftspolitische Kontinuitäten als auch legitimatorische Grundideen der Herrschaftsordnung zum Ausdruck bringen. Die Republiken hingegen, in den 1950er und 1960er Jahren erfolgreich in der Formulierung einer neuen, progressiven Ordnung, die sich radi-

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kal von den verhassten, mit ehemaligen Imperialmächten kollaborierenden Monarchen absetzte, befinden sich weiter in einem selbstverschuldeten Engpass hinsichtlich der Begründungsressourcen politischer Herrschaft. Die Nichterfüllung sozialistisch-nationalistisch fundierter Modernisierungsversprechen und die sozioökonomische Dichotomisierung der Gesellschaft seit Propagierung neoliberaler Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen perpetuieren letztlich autokratische Herrschaftslogiken. Literatur Abd-an-Nasir, Gamal 1958. Die arabische Revolution. Nasser über seine Politik. Frankfurt a.M.: Ullstein. Abu Zaid, Nasr H. 2001. Ein Leben mit dem Islam. Erzählt von Navid Kermani. Freiburg: Herder. Al-Rasheed, Madawi 2010. A History of Saudi Arabia. Cambridge: Cambridge University Press. Al-Sayyid, Mustapha K. 2014. »The Arab Spring. Why in Some Arab Countries and Not in Others?«, in: Routledge Handbook of the Arab Spring. Rethinking Democratization, hrsg. v. Sadiki, Larbi. New York: Routledge, S. 51-62. Albrecht, Holger; Schlumberger, Oliver 2004. »Waiting for Godot. Regime Change without Democratization in the Middle East«, in: International Political Science Review, 25 (4), S. 371-379. Anderson, Lisa 1991. »Absolutism and Resilience of Monarchy in the Middle East«, in: Political Science Quarterly, 106 (1), S. 1-15. Anderson, Lisa 2000. »Dynasts and Nationalists: Why Monarchies Survive«, in: Middle East Monarchies. The Challenge of Modernity, hrsg. v. Kostiner, Joseph. Boulder: Lynne Rienner Publisher, S. 53-70. Ansari, Hamied 1986. Egypt. The Stalled Society. Albany: State University of New York Press. Bank, André; Richter, Thomas; Sunik, Anna 2014. »Long-Term Monarchical Survival in the Middle East: A Configurational Comparison, 1945-2012«, in: Democratization, 22 (1), S. 179-200. Barnett, Michael N.; Levy, Jack S. 1991. »Reviewed Domestic Sources of Alliances and Alignments: The Case of Egypt, 1962-73«, in: International Organization, 45 (3), S. 379-381. Beetham, David 1991. The Legitimation of Power. London: Palgrave Macmillan. Beck, Martin; Harders, Cilja; Jünemann, Annette; Stetter, Stephan (Hrsg.) 2009. Der Nahe Osten im Umbruch. Zwischen Transformation und Autoritarismus. Wiesbaden: Springer VS. Brownlee, Jason; Masoud, Tarek; Reynolds, Andrew 2013. »Why the Modest Harvest?«, in: Journal of Democracy, 24 (4), S. 29-44. Büttner, Friedemann 1970. »Nassers Ägypten zwischen islamischer Tradition und sozialistischer Zukunft«, in: Profile und Programme der Dritten Welt. Ghandi, Mao Tse-tung, Nasser, Nehru, Senghor, Sukarno, hrsg. v. Opitz, Peter. München: List, S. 77-116. Davidson, Christopher 2008. Dubai. The Vulnerability of Success. London: Hurst. Dawisha, Adeed 1975. »Intervention in the Yemen: An Analysis of Egyptian Perceptions and Policies«, in: Middle East Journal, 29 (1), S. 47-63. Demmelhuber, Thomas 2014. »Der Arabische Frühling seit 2011: Pluralität der Veränderung und die Suche nach Erklärungsansätzen«, in: Demokratie und Islam. Theoretische und empirische Studien, hrsg. v. Cavuldak, Ahmet; Hidalgo, Oliver; Hildmann, Philipp W.; Zapf, Holger. Wiesbaden: Springer VS, S. 255-273. Derichs, Claudia; Demmelhuber, Thomas 2014. »Monarchies and Republics, State and Regime, Durability and Fragility in View of the Arab Spring«, in: Journal of Arabian Studies, 4 (2), S. 180-194. Dresch, Paul 2000. A History of Modern Yemen. Cambridge: Cambridge University Press. Enayat, Hamid 1968. »Islam and Socialism in Egypt«, in: Middle Eastern Studies, 4 (2), S. 141-172.

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Zusammenfassung: In einem historischen Längsschnitt, beginnend mit dem »Arabischen Kalten Krieg« der 1950er und 1960er Jahre bis zu den Ereignissen der arabischen Umbrüche seit 2011, diskutiert dieser Beitrag Aspekte der Rechtmäßigkeit und Begründung von geltenden politischen Ordnungen als Erklärungsfaktor für Umbrüche und Kontinuität. Basierend auf dem Verständnis variierender Legitimitätsnarrative von den Idealtypen des Republikanismus und Monarchismus wird die Frage erörtert, warum zahlreiche Staaten der Region von den Massendemonstrationen 2011 erfasst wurden und andere Staaten, vor allem die Monarchien, verschont blieben. Stichworte: Legitimität, Legitimation, arabische Republiken, arabische Monarchien, Arabischer Kalter Krieg, Arabischer Frühling

Legitimacy and Political Rule. A Longitudinal Approach in View of the 2011 Arab Uprisings Abstract: Considering the period from the «Arab Cold War« of the 1950/60 s until the recent Arab uprisings in the year 2011, this article seeks to explore different patterns of legality and justification of the political order to explain processes of transformation and modes of continuity. Relying on an understanding of legitimacy as an analytical category to illustrate diverging narratives of legitimacy represented by the different ideal types of republicanism and monarchism, this article aims at contributing to the question why republics have been affected stronger by the uprisings than the Arab monarchies. Keywords: Legitimacy, legitimation, Arab republics, Arab monarchies, Arab Cold War, Arab uprisings

Autoren Prof. Dr. Thomas Demmelhuber Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Institut für Politische Wissenschaft Kochstraße 4 DE-91054 Erlangen [email protected] Tobias Zumbrägel, MA Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Institut für Politische Wissenschaft Bismarckstraße 8 DE-91054 Erlangen [email protected]

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Rachid Ouaissa, Katrin Sold

Mittelschichten im politischen Transformationsprozess der Maghreb-Staaten

Einleitung Ausgehend von Tunesien erfasste die Dynamik der Arabellion im Jahr 2011 zahlreiche Länder der arabischen Welt. Vielfach entstand seither der Eindruck, eine ganze Region befinde sich in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess. Doch Form, Ausmaß und Tragweite der Aufstände unterscheiden sich von Land zu Land: Während in Tunesien auf den Sturz des herrschenden Regimes erste Schritte eines Demokratisierungsprozesses folgten, erlebt Ägypten eine Rückkehr zum Autoritarismus und Libyen den weitgehenden Zerfall staatlicher Strukturen. An Algerien scheint die Arabellion, ähnlich wie an einigen Golfstaaten, fast ohne nachhaltige Auswirkung vorüber gegangen zu sein. Und in Marokko und Jordanien, wo die politischen Eliten mit Reformangeboten auf die Aufstände reagierten, wird erst die Zukunft Aufschluss über den wirklichen Transformationsgehalt der staatlichen Initiativen geben. Die Erklärungsversuche für diese divergierenden Entwicklungen sind zahlreich und rekurrieren auf unterschiedliche Paradigmen der politikwissenschaftlichen Transformationsforschung. Während systemtheoretische Ansätze vornehmlich auf der Makroebene ansetzen und ihren Analysefokus auf ökonomische Strukturen sowie politische Institutionen und Regeln legen, nehmen akteurstheoretische Ansätze das Handeln politischer und gesellschaftlicher Akteure auf der Mikro- und Mesoebene in den Blick. In der jüngeren Transformationsforschung herrscht inzwischen Einigkeit, dass beide Paradigmen keinesfalls in Konkurrenz zueinander stehen, sondern sich vielmehr wechselseitig ergänzen. Zu den theoretischen Konzepten, die sich an der Schnittstelle zwischen Struktur- und Akteurstheorie verorten, zählen sozialstrukturelle Ansätze der Transformationsforschung. Indem sie die Wechselwirkung zwischen strukturellen Bedingungen und dem Handeln sozialer Akteure beleuchten und im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf Transformationsprozesse analysieren, leisten sozialstrukturelle Ansätze einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis politischer und gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Im Zentrum des Interesses stehen dabei soziale Gruppen, die als kollektive Akteure strukturellen Bedingungen unterliegen, diese aber zugleich durch ihr Handeln prägen. Im Kontext der Transformationsforschung legten sozialstrukturelle Studien dabei ihren analytischen Fokus zumeist entweder auf staatliche Eliten und ihre Rolle in politischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen oder auf wirtschaftlich und politisch marginalisierte Gruppen als Triebkräfte von Revolten.1 Mit dem 1 Vgl. Asseburg/Wimmen 2016; Huber/Kamel 2015.

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Systemwechsel in Osteuropa, vor allem aber mit den Transformationsprozessen in Asien, gewann jedoch eine weitere soziale Gruppe an Beachtung: die gesellschaftliche Mittelschicht. Ihr wird zumeist – beispielsweise durch Vertreter modernisierungstheoretischer Ansätze – eine Rolle als Triebkraft in politischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zugeschrieben. Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass es sich bei der Mittelschicht um eine homogene Gruppe handelt, deren politisches Agieren auf die Einleitung demokratischer Transformationsprozesse gerichtet ist.2 Als problematisch erweist sich hierbei der Rückgriff auf eine rein ökonomische Definition, der zufolge als Mittelschicht gilt, wer weder der ökonomischen Elite eines Landes noch einer wirtschaftlich marginalisierten Unterschicht angehört. Dieser Gruppe, die von materiellen Existenzsorgen befreit ist, werden wachsende Aspirationen auf politische Partizipation zugeschrieben, was im Kontext autoritärer Regime den Druck auf die herrschende Klasse erhöhe und damit letztendlich politische Transformationsprozesse anstoße.3 Der vorliegende Beitrag stellt diese Annahme in doppelter Hinsicht in Frage. Zum einen greift die rein ökonomische Definition der Mittelschicht zu kurz: Trotz einer vergleichbaren sozio-ökonomischen Situation zerfällt die »Mitte« der Gesellschaft in zahlreiche unterschiedliche Segmente oder Milieus, die sich in ihrem Lebensstil und Habitus, ihrer ideologischen Orientierung sowie ihrer Verortung im sozialen Gefüge und politischen System eines Landes deutlich unterscheiden können. Zum anderen wäre angesichts dieser Heterogenität eine pauschale Charakterisierung von Mittelschichten als Initiatoren und Träger von Transformationsprozessen verkürzend. Mittelschichten können in unterschiedlichen Kontexten als Transformationsakteure, als Verfechter eines Status Quo oder sogar als Vertreter reaktionärer Bewegungen auftreten. Diese Varianz ist mit habituellen Charakteristika unterschiedlicher Mittelschichten-Milieus sowie mit ihrer unterschiedlichen Einbindung in die polit-ökonomischen Strukturen des Landes und dem daraus resultierenden Verhältnis zu der regierenden Schicht zu erklären. Wenn strategisch wichtige Mittelschichten-Milieus ihre Position gegenüber dem Regime verändern, erzeugt bzw. erhöht dies einen transformatorischen Druck auf das Regime. Dies geschieht zumeist in Folge ökonomischer oder politischer Kurswechsel, die etablierte Positionen der Mittelschichten im gesellschaftlichen Gefüge in Frage stellen. Kommt es in Folge einer solchen Neuorientierung zur Bildung tragfähiger Allianzen zwischen unterschiedlichen, zuvor nicht kooperierenden Milieus der Mittelschicht oder aber zwischen Mittelschichten und marginalisierten Schichten, steigt die Wahrscheinlichkeit eines nachhaltigen Transformationsprozesses. Aufbauend auf diesen Vorüberlegungen vertritt der Beitrag die These, dass der unterschiedliche Verlauf der Arabellionen in den drei zentralen Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien auf Unterschiede in der Sozialstruktur der drei Länder und auf Differenzen in der Positionierung zentraler Mittelschichten-Milieus sowie in ihrem Allianzverhalten zurückzuführen ist. Nach einer kurzen Diskussion des Mittelschichten-Begriffs im Kontext der sozialwissenschaftlichen For2 Vgl. Challand 2016. 3 Vgl. Kollmorgen 2015. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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schung zur MENA-Region widmen sich die folgenden Fallstudien daher der Identifikation unterschiedlicher Mittelschichten-Milieus in den drei zentralen Maghreb-Staaten, zeichnen ihre Genese und Verortung im polit-ökonomischen System nach und untersuchen das Verhältnis zum jeweiligen Regime. Im Hinblick auf die Entwicklungen seit dem Jahr 2011 untersuchen sie die Positionierung der zentralen Mittelschichten-Milieus gegenüber einer politischen Transformation und zeichnen mögliche Veränderungen politischer Allianzen nach. Eine Engführung dieser Analyse mit den unterschiedlichen Verlaufsformen der Arabellion in den drei untersuchten Staaten erlaubt abschließend einige verallgemeinernde Betrachtungen über den Zusammenhang zwischen sozialstrukturellen Aspekten und politischer Transformation. Wer ist die Mittelschicht? In der europäischen Sozialstrukturforschung besteht traditionell Uneinigkeit über die Definition der Mittelschicht4 und die Möglichkeiten ihrer empirischen Erfassung5. Zwar herrscht wissenschaftlicher Konsens darüber, dass es sich bei der Mittelschicht um das mittlere Segment der Gesellschaft handelt, das zwischen Arbeiterschaft und Prekariat einerseits und der herrschenden Schicht andererseits zu verorten ist. Doch variieren die quantitative Bestimmung und die der Mittelschicht zugeschriebenen Determinanten je nach theoretischer Schule. Während für Theoretiker marxistischer Prägung ökonomische Faktoren, die Position in den Produktionsverhältnissen und letztendlich die Rolle im Klassenkonflikt ausschlaggebend sind, gelten für Sozialwissenschaftler in der Nachfolge Max Webers Faktoren wie Marktfähigkeit, Status, Prestige und Lebensführung ebenfalls als bedeutende Indikatoren zur Bestimmung sozialer Schichten. Bezugnehmend auf die bei Ferdinand Tönnies definierten Grundkategorien nennt Weber die Marktfähigkeit gar den entscheidenden Faktor beim Übergang von einer Gemeinschaft zu einer Gesellschaft. In der jüngeren Mittelschichtenforschung gab es zahlreiche Versuche, die unterschiedlichen Denkschulen zusammen zu führen. So identifizierten Savage et al. in einer Studie zu den englischen Mittelschichten drei Determinanten zur Bestimmung sozialer Schichten: »We have now specified three assets which affect the actual processes of class formation. These are property assets, organization assets and cultural assets.«6 Auch Pierre Bourdieu berücksichtigt in seiner Klassentheorie sowohl »objektive« als auch »subjektive« Faktoren, wobei sich objektive Faktoren auf die Position – z.B. die sozio-ökonomische Stellung – in der Gesellschaft, subjektive Faktoren hingegen auf die Dispositionen der Individuen beziehen, die sich beispielsweise in Form von kulturellem oder sozialem Kapital manifestieren.7 4 5 6 7

Vgl. Burris 1999; Suh 2002; Mann 2001. Vgl. Gay 2002; Burris 1999; Savage et al. 1995. Savage et al. 1995, S. 17. Vgl. Bourdieu 1966.

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Die zunehmende Komplexität der Ansätze in der Mittelschichtenforschung ist dabei der Erkenntnis geschuldet, dass die eine Mittelschicht als homogener sozialer Korpus mit einer kollektiven Identität nicht existiert. Sowohl in sozio-ökonomischer als auch in sozio-kultureller Hinsicht zeigt sich »die Mittelschicht« heterogen und zerfällt in zahlreiche unterschiedliche Segmente, die sich durch spezifische Konstellationen von Position und Disposition auszeichnen. Einen verbreiteten Ansatz zur Differenzierung stellt dabei die Unterscheidung von »alten« und »neuen« Mittelschichten dar.8 Während mit den alten Mittelschichten urbane Händler und selbständig Beschäftigte gemeint sind, werden technische Berufe sowie Angestellte in der Verwaltung und im Bildungs- und Dienstleistungssektor mit dem Begriff neue Mittelschichten bzw. »professional middle class« zusammengefasst.9 In der marxistischen Terminologie finden die Begriffe »petit bourgeoisie«, »coordinating class« sowie »managerial class« und »professional class« Verwendung.10 Ein jüngerer Ansatz zur Ausdifferenzierung der Mittelschicht ist der Milieu-Begriff, der ursprünglich auf den Philosophen Hippolyte Taine zurückgeht und in der Lebensstil- und Milieuforschung der 1980er Jahre eine Renaissance erlebte. Milieutheorien führen Strukturdeterminanten wie Beruf, Einkommen und Bildungsgrad mit individuellen Dispositionen wie Werthaltungen, Mentalitäten und Prinzipien der Lebensführung zusammen, die sich innerhalb kleinerer sozialer Entitäten ausbilden.11 Die Milieutheorie geht dabei davon aus, dass sich beide Ebenen gegenseitig beeinflussen, sodass spezifische, milieutypische Konstellationen entstehen. Mittelschichten und Politik Die klassische Modernisierungstheorie betrachtet die Mittelschicht als Trägerin von Demokratisierungsprozessen.12 Zahlreiche Beispiele aus der Geschichte belegen jedoch, dass der Einsatz der Mittelschichten für demokratische Transformationsprozesse kein Automatismus ist, sondern Segmente der Mittelschichten in zahlreichen Fällen als Stützen autokratischer, diktatorischer oder faschistischer Regime fungierten.13 Einige jüngere Studien erörtern diesen Befund am Beispiel von Entwicklungen in Asien, wo aufsteigende Mittelschicht-Milieus zur Sicherung von Einkommen und Prestige eher für einen staatlich gelenkten Wandel zum Kapitalismus als für eine demokratische Transformation eintreten.14 Bedeutenden Einfluss auf die politische Positionierung und das Engagement der Mittelschichten haben spezifische, zumeist innerhalb eines Milieus geteilte Wertund Moralvorstellungen, die im Sinne des Habitus das Ergebnis langfristiger So8 9 10 11 12 13 14

Vgl. Liaghat 1980. Vgl. Robinson 1993. Savage et al. 1995, S. 194. Vgl. Hradil 1987. Vgl. Lipset 1959; Huntington 1969. Vgl. Moore 1969. Vgl. Schwinn 2006.

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zialisationsprozesse darstellen. Pierre Bourdieu arbeitet in seiner Gesellschaftstheorie die Empörung über den Luxus der Oberschicht sowie die Distanzierung von Armut und die Verurteilung sozialer Devianz in den unteren Gesellschaftsschichten als charakteristische Moralvorstellungen der Mittelschicht heraus. Neben der Entwicklung eigener Repräsentations- und Distinktionsmechanismen bilden die Mittelschichten in der Folge Vorstellungen von einer gesellschaftlichen Moralordnung aus, in der Bildung, Fleiß und Leistung häufig als wichtige Schlüssel zum sozialen Aufstieg und zum Schutz vor einem Abgleiten in die Unterschicht betrachtet werden.15 Zwischen unterschiedlichen Milieus der Mittelschicht lassen sich dabei verschiedene Ausprägungen dieser Grundzüge einer MittelschichtenMoral feststellen. Welche konkreten politischen Positionen sich auf Basis dieser Moralvorstellungen herausbilden und wie diese in politisches Handeln übersetzt werden, ob Vertreter der Mittelschicht also zu Trägern politischer Wandlungsprozesse werden, sich mit einem Status Quo arrangieren oder reaktionäre Bewegungen unterstützen, wird von zahlreichen weiteren Faktoren beeinflusst. Hier spielen neben der konkreten wirtschaftlichen Situation der Mittelschichten und ihrer Aussicht auf soziale Mobilität vor allem der Charakter des politischen Systems und seiner herrschenden Schicht sowie das Verhältnis der Mittelschichten zum herrschenden Regime eine zentrale Rolle. Nach einem kurzen Überblick über den Stand der Forschung zu arabischen Mittelschichten werden diese Faktoren daher im Zentrum der Fallanalysen zu den maghrebinischen Mittelschichten stehen. Arabische Mittelschichten in der sozialwissenschaftlichen Forschung Zu den wenigen Versuchen einer umfassenden Darstellung der arabischen Mittelschichten zählt die chronologische Systematisierung von Théo Cosme. Er identifiziert seit Mitte des 19. Jahrhunderts drei Entwicklungsphasen, die jeweils von einem spezifischen Segment der Mittelschicht geprägt waren: Die erste Phase der sogenannten arabischen Renaissance (Nahda) zwischen 1859 und 1950 stand im Zeichen des Einflusses von Großgrundbesitzern, städtischer Handelsbourgeoisie und islamischen Rechts- und Religionsgelehrten. Darauf folgte in der nachkolonialen Phase zwischen 1950 und 1970 ein steigender Einfluss des laizistisch orientierten Kleinbürgertums, bevor dieses im Anschluss bis in die 1990er Jahre von einer rentenorientierten Mittelschicht abgelöst wurde.16 Als vierte Phase ließe sich in den 1990er und 2000er Jahren die Zeit der liberalen Strukturanpassungsmaßnahmen benennen, die unter der Ägide der internationalen Finanzinstitutionen eine global orientierte, neue Mittelschicht hervorbrachte.17 Die Forschung zu maghrebinischen Mittelschichten setzt mit dem Beginn der 1960er Jahre ein und konzentriert sich auf die drei zentralen Maghreb-Staaten Tunesien, Marokko und Algerien.18 Im Zentrum des Interesses steht dabei die 15 16 17 18

Vgl. Bourdieu 1966; Ranulf 1931. Vgl. Cosme 2002. Vgl. Cohen 2004. Vgl. Amin 1970; Fanon 1961.

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Rolle der Mittelschichten im Unabhängigkeitskampf sowie eine Analyse des europäischen Einflusses auf die als »évolués« bezeichneten kolonialen Mittelschichten.19 Mehrere Analysen beschäftigen sich außerdem mit der Rolle der Mittelschichten in der Etablierung postkolonialer staatlicher Strukturen, insbesondere von nationalistischen und autoritären Regimen.20 Vielen Autoren gelten die Mittelschichten als wichtigste Triebkraft des arabischen Nationalismus21, zugleich stehen sie im Fokus der staatszentrierten Entwicklungsmodelle der 1970er Jahre.22 Mit deren Infragestellung und der Umsetzung der Strukturanpassungsprogramme in den 1980er Jahren gerieten die maghrebinischen Mittelschichten verstärkt unter wirtschaftlichen und sozialen Druck.23 In dieser Situation traten habituelle Differenzen zwischen verschiedenen Mittelschichten-Milieus deutlicher als zuvor zu Tage: Teile der Mittelschicht wurden zu zentralen Akteuren der als Brotunruhen bekannt gewordenen politischen Proteste,24 andere spielten eine bedeutende Rolle in der Formung und beim Aufstieg islamistischer Gruppierungen.25 Sowohl die algerischen islamistischen Parteien FIS und MSP als auch die marokkanische PJD und die tunesische al-Nahda fanden die Unterstützung verunsicherter Mittelschichtenvertreter.26 Die Rolle der Mittelschichten in der Arabellion war bislang Gegentand einiger weniger Studien,27 darunter die umfassende Analyse von Farhad Khosrokhavar, der die Rolle einer sogenannten »Would-be-MiddleClass« in der Arabellion näher beleuchtet.28 Bei seiner Unterscheidung zwischen einer ökonomisch erfolgreichen, aber politisch frustrierten oberen Mittelschicht, einem ökonomisch fragilen mittleren Segment und einer jungen, von beruflicher, ökonomischer und politischer Perspektivlosigkeit geprägten Gruppe folgt er der verbreiteten Annahme, dass Angehörige der Mittelschicht – aus unterschiedlichen Beweggründen – als Befürworter und Träger eines politischen Transformationsprozesses auftreten. Die Untersuchung der Existenz und Rolle regimetreuer und Status-Quo-orientierter Kräfte innerhalb der Mittelschicht hat hingegen bislang wenig Aufmerksamkeit in der sozialwissenschaftlichen Forschung erfahren. Die folgenden Fallstudien richten daher ein besonderes Augenmerk auf das Verhältnis unterschiedlicher Mittelschichten-Milieus zu den regierenden Eliten und ihre daraus resultierende Positionierung in den Aufständen und Transformationsprozessen seit dem Jahr 2011.

19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

Vgl. Ageron 1980; Leca/Vatin 1979; Galissot 1969. Vgl. Bras 1996; Gherib 2011; Lazreg 1976; Zghal 1980. Vgl. Gershoni 1997; Amin 1976; Hinnebusch 2009. Vgl. Sayad 1980; Cosme 2002. Vgl. Payne 1993. Vgl. Le Saout/Rolinde 1999. Vgl. Kepel 2000; Ouaissa 2015. Vgl. Labat 1994. Vgl. Challand 2014; Ouaissa 2014; Beissinger et al. 2012; Kandil 2012. Vgl. Khosrokhavar 2012.

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Tunesien Medienkommentare über eine »Mittelklassenrevolution«29 in Tunesien reproduzieren ein Bild der tunesischen Gesellschaft, das vom autoritären tunesischen Regime selbst geprägt wurde. Der demokratische Wandel Tunesiens sei, so suggerieren viele Artikel, von einer wachsenden Mittelschicht aus gut ausgebildeten, aber perspektivlosen Hochschulabsolventen eingeleitet worden, die nach ihrem Aufstieg aus prekären sozialen Verhältnissen nach mehr bürgerlichen Freiheiten und politischer Partizipation strebten.30 Auch zahlreiche wissenschaftliche Beobachter werten in der Tradition modernisierungstheoretischer Ansätze die Existenz einer breiten Mittelschicht als eine der zentralen Voraussetzungen für den erfolgreichen Regimewechsel in Tunesien. Sie übernehmen damit häufig unhinterfragt die These von einer zahlenmäßig dominanten Mittelschicht in der tunesischen Gesellschaft und verkennen den Ursprung dieser Annahme im offiziellen Diskurs des Regimes von Bin ʿAli (Ben Ali). Dabei diente die Behauptung von der Existenz einer breiten, homogenen Mittelschicht dem Regime über Jahrzehnte als Beweis für die Nivellierung sozialer, ökonomischer und ethnischer Differenzen und damit als zentrales Legitimationsargument seiner Herrschaft. Die von offiziellen Stellen publizierten Zahlen stützten diese Legitimationsstrategie: Wurde die Mittelschicht im Jahr 1975 noch mit einem Anteil von 44 Prozent bemessen, so war dieser bis zum Jahr 1995 auf 70,6 und im Jahr 2005 gar auf 81,1 Prozent gestiegen.31 Die Tatsache, dass belastbare Informationen über das Zustandekommen dieser Daten nicht zu ermitteln sind, gibt Hinweis auf ihren politischen Charakter und lässt vermuten, dass die Anwendung wissenschaftlicher Berechnungsmodelle auf die tunesische Bevölkerung andere Ergebnisse liefern würde. Die zentrale Rolle der Mittelschichten im tunesischen Herrschaftsdiskurs ist dabei kein neues Phänomen: Seit der Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich im Jahr 1956 bildeten die Mittelschichten den Kern des tunesischen Entwicklungsmodells und eine wichtige Säule in der Architektur des politischen Systems. Die doppelte Zuschreibung als Stabilitätsanker autoritärer Regime einerseits und Triebkraft des Regimewandels andererseits erscheint auf den ersten Blick paradox. Eine detailliertere Analyse der tunesischen Mittelschichten im historischen Kontext – mit einem Fokus auf ihrem Verhältnis zum politischen Regime – sowie eine Auseinandersetzung mit der Heterogenität dieser sozialen Gruppe kann den vermeintlichen Widerspruch jedoch auflösen. Die säkulare Mittelschicht als Gründungsnarrativ der tunesischen Republik Auf die Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich folgte der Beginn eines Nationbuilding-Prozesses, dessen zentrale Protagonisten die Vertreter der französisch so-

29 Vgl. Fukuyama 2013. 30 Vgl. Diwan 2012; Bellin 2014. 31 Vgl. Institut national de la consommation 2013.

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zialisierten kolonialen Mittelschicht waren.32 Die erste Phase der Unabhängigkeit war geprägt von einem Machtkampf zwischen zwei führenden Figuren der Unabhängigkeitsbewegung: al-Habib Burqiba (Habib Bourguiba) und Salah Bin Yusuf (Salah Ben Youssef). Sie standen nicht nur für unterschiedliche Entwicklungsmodelle der jungen Republik, sondern repräsentierten auch verschiedene Milieus der tunesischen Mittelschicht. So versammelte Burqiba, selbst aus der Küstenstadt Monastir stammend, vor allem Vertreter einer neuen Mittelschicht aus den urbanen Küstenregionen hinter sich und seinem Entwicklungsmodell, das auf Modernisierung, wirtschaftlichen Aufschwung und eine Abkehr von traditionellen und religiösen Strukturen setzte.33 Bin Yusuf hingegen trat gemeinsam mit Angehörigen einer traditionellen Mittelschicht – Vertretern religiöser Institutionen und der alten Handelsbourgeoisie der südtunesischen Provinzen und seiner Heimatregion Djerba – für ein pan-arabisches Modell und einen vollständigen Bruch mit dem Westen ein. Mit dem Sieg von Burqiba in diesem Machtkampf fiel die Entscheidung für ein modernistisches, vom französischen laïcité-Konzept inspiriertes Staatsmodell, das Tunesien über Jahrzahnte hinweg prägen sollte. Bis heute wirkt die Spaltung zwischen »Bourguibisten« und »Youssefisten« in den Kontroversen um das Verhältnis von Staat und Religion sowie in tiefgreifenden Divergenzen zwischen den marginalisierten Regionen im tunesischen Süden und Landesinneren und den unter Burqiba und seinem Nachfolger Bin ʿAli privilegierten Küstenregionen nach. Diesen gesellschaftlichen Bruchlinien setzten Burqiba und sein Nachfolger Bin ʿAli in ihrer Rhetorik das Bild einer breiten, homogenen Mittelschicht entgegen. Nach einem frühen sozialistischen Experiment (1962-69) läutete Tunesien unter Premierminister al-Hadi Nuwayra (Hédi Nouira) in den 1970er Jahren das sogenannte »liberale Jahrzehnt« ein und trieb durch protektionistische Maßnahmen, Exportförderung und Subventionen die Entwicklung eines nationalen Privatsektors voran. Spätestens damit stand die Mittelschicht endgültig im Zentrum des tunesischen Entwicklungsmodells. Steigende Einnahmen aus der Öl- und Phosphatindustrie ermöglichten Investitionen in die Förderung des Industriesektors ebenso wie den massiven Ausbau des Staatsapparates. Damit wuchs in den 1970er Jahren sowohl die unternehmerische Mittelschicht als auch die Gruppe der Staatsbediensteten – ökonomisch zumeist im Bereich der unteren Mittelschicht zu verorten – stark an. Der Ausbau des Privatsektors im Geiste des Modernisierungsansatzes erfolgte dabei stets unter staatlicher Kontrolle. Förderprogramme für Privatunternehmen dienten als Steuerungsmechanismen und schufen eine enge Verflechtung zwischen Staat und Unternehmerschicht – eine Entwicklung, die Eva Bellin als »state-sponsored capitalist industrialization«34 bezeichnet. Durch die weitgehende Arbeitsplatzgarantie für Hochschulabsolventen im wachsenden öffentlichen Sektor sowie 32 Vgl. Merone 2015. 33 Vgl. Boukhars 2015. 34 Bellin 2002, S. 4. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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den Ausbau des Bildungssystems sicherte sich das Regime zudem die Loyalität der traditionellen Mittelschichten-Milieus. Mit dem Bildungsangebot war über lange Zeit das Versprechen sozialer Mobilität bzw. der Statussicherung verknüpft, indem Kindern aus Mittelschichthaushalten und Aufsteigern aus prekären Schichten über Bildungstitel der Eintritt in den sozial relativ gut gesicherten öffentlichen Dienst ermöglicht wurde. Die hohen Einnahmen aus der Rohstoffindustrie erlaubten dem Regime in den 1970er und frühen 80er Jahren in der Logik einer Rentenökonomie35 außerdem, umfangreiche Subventions- und Kreditprogramme aufzulegen. Sie waren gezielt auf die Förderung mittelständischer Statussymbole ausgerichtet,36 standen im Einklang mit dem mittelständischen Habitus und Leistungsgedanken und stützen so den staatlichen Legitimationsdiskurs einer Mittelschichtsgesellschaft. Trotz grundlegender struktureller Unterschiede, beispielsweise zwischen den unternehmerischen Mittelschichten der urbanen Küstenregionen und Mittelschichtsaufsteigern im Staatsdienst, wirkten diese beiden großen Segmente der tunesischen Mittelschichten über viele Jahrzehnte als Stabilisierungsfaktor des tunesischen Regimes. Gegenkräfte entfalteten hingegen im politischen System Tunesiens kaum Wirkung. So verstand sich die wichtige tunesische Gewerkschaft UGTT eher als Vertretung einer angestellten Mittelschicht denn als Vorkämpfer einer revolutionären Arbeiterbewegung,37 und stand damit im Einklang mit dem offiziellen Entwicklungsmodell. Andere Oppositionskräfte – wie die Vertreter der konservativreligiösen Mittelschichten-Milieus und ehemaligen Anhänger von Bin Yusuf – wurden unterdrückt, verfolgt oder ins Exil getrieben. Nach seiner Machtübernahme im Jahr 1989 versuchte der neue Staatspräsident Bin ʿAli, durch eine vorsichtige Öffnung der Politik gegenüber der religiösen Nahda-Bewegung auch die bislang marginalisierten religiösen Milieus der Mittelschicht einzubeziehen. Nach dem starken Abschneiden al-Nahda-naher Kandidaten bei den Parlamentswahlen 198938 beendete die Regierung dieses pluralistische Experiment jedoch umgehend und kehrte zu ihrer repressiven Haltung gegenüber dem politischen Islam zurück. Doch ließ diese Entwicklung bereits erahnen, dass der auf Homogenität und sozialen Ausgleich gebaute Legitimationsdiskurs des Regimes auf tönernen Füßen 35 Vgl. Camau/Geisser 2003. 36 Kreditprogramme für Konsumgüter wie den »Volkswagen« (voiture populaire) oder den »Familiencomputer« (ordinateur familial) sollten breiten Bevölkerungsschichten den Erwerb mittelständischer Statussymbole ermöglichen. Vgl. Meddeb 2010. 37 Die UGTT (Union générale tunisienne du travail) verfügte als wichtiger Akteur im Unabhängigkeitskampf über ein großes Machtpotenzial in Tunesien und verstand sich als nationale politische Kraft über eine Vertretung der Arbeiterschaft hinaus. Durch Kooptierung der Führungselite der UGTT gelang es dem Regime, die Aktivitäten der Gewerkschaft zu kontrollieren. 38 Trotz der vorsichtigen politischen Öffnung blieb dem kurz vor den Wahlen in Nahda umbenannten »Mouvement de la tendance islamique« (MIT) eine offizielle Teilnahme an den Parlamentswahlen verwehrt. Zahlreiche al-Nahda-Vertreter traten daher als unabhängige Kandidaten an und erlangten etwa 14 Prozent der Stimmen, auf Grund des Wahlrechts jedoch keinen einzigen Sitz.

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stand. Weitere Risse entstanden durch die Auswirkungen der wirtschaftlichen Strukturanpassungsprogramme in den 1990er und 2000er Jahren. Regime und Mittelschicht – Von ersten Rissen bis zum Bruch der Allianz in der Arabellion Die Sicherung des Sozialpakts zwischen Regime und Bevölkerung, der auf Subventionen, Förderprogrammen und Arbeitsbeschaffung im Staatssektor beruhte, hatte in den 1980er Jahren die Staatsverschuldung stark anwachsen lassen. Hinzu kamen sinkende Preise für Öl und Phosphat sowie eine Rezession in Europa, in deren Folge die Einnahmen aus der Exportwirtschaft, dem Tourismus und aus Rücküberweisungen von Exiltunesiern stark zurückgingen. Wie in anderen Ländern Nordafrikas koppelten die angerufenen internationalen Finanzinstitutionen ihre Hilfszusagen an einschneidende Strukturreformen im Wirtschafts- und Sozialbereich. Die geforderte Senkung der Staatsausgaben führte zu Stellenabbau im öffentlichen Sektor und Flexibilisierungen im Arbeitsrecht. Auch die unternehmerische Mittelschicht stellten die liberalen Strukturanpassungsprogramme vor Herausforderungen: Preissenkungen, Steuer- und Finanzmarktreformen setzten den Privatsektor unter Druck, das Ziel einer Integration der tunesischen Wirtschaft in den Weltmarkt führte vor allem zur Schaffung gering qualifizierter Arbeitsplätze.39 Ausländische Investitionen flossen vor allem in die wirtschaftlich erschlossenen Küstenregionen und verstärkten bestehende regionale Disparitäten. Vor allem aber weckte der zunehmende Klientelismus der Staatselite den Unmut der Bevölkerung. Willkürliche Entscheidungen über finanzielle Unterstützungen für einzelne Firmen,40 eine intransparente Postenvergabe im öffentlichen Sektor und die unverhohlene Selbstbereicherung des herrschenden Machtzirkels standen im Gegensatz zum Moralverständnis und Leistungsethos der Mittelschichten und brachen mit dem Versprechen sozialer Mobilität und Statussicherung durch Bildung und Verdienst.41 Einen ersten Hinweis auf eine nachhaltige Entfremdung zwischen Mittelschichten und Staatsführung und eine Neuorientierung strategisch wichtiger Mittelschichten-Milieus lieferte die Solidarisierung von Studenten, Lehrern und Angestellten des Dienstleistungssektors mit den Protesten von Minenarbeitern in der Phosphatstadt Gafsa im Jahr 2008. Auch im Winter 2010/2011 gingen die Proteste von den Regionen im Landesinneren und Vertretern marginalisierter gesellschaftlicher Schichten aus. Doch in noch stärkerem Maße als 2008 solidarisierten sich unterschiedliche Mittelschichten-Milieus mit deren Protest: Studierende und Hochschulabsolventen, die sich durch die klientelistischen Wirtschafts- und Arbeitsmarktstrukturen ihrer Aussicht auf soziale Mobilität beraubt sahen, Vertreter der neuen Mittelschichten im privaten Unternehmens- und Dienstleistungssektor, bei denen sich angesichts zunehmender Flexibilisierung und intransparenter Wirt39 Vgl. Achy 2011. 40 Vgl. Hibou 2006. 41 Vgl. Gherib 2011. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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schaftsstrukturen ein Gefühl der Unsicherheit und Abstiegsangst verbreitet hatte, sowie islamistische Milieus, die in einer Unterstützung der Protestbewegung die Chance auf einen Regimewechsel und das Ende jahrelanger Unterdrückung sahen. Diese Abkehr gleich mehrerer einflussreicher Milieus der Mittelschicht vom tunesischen Regime und die Allianz zwischen Mittelschichten und marginalisierten Schichten führte letztendlich zum Sturz der Regierung. Seither ringen Vertreter unterschiedlicher Mittelschichten-Milieus um einen Kompromiss um die Ausgestaltung des politischen System Tunesiens. Die Kooperation zwischen nationalistischen Milieus in der Tradition früherer Regime, aktuell vertreten durch die Sammlungsbewegung Nida’ Tunis (Nidaa Tounes), und den durch die al-NahdaPartei repräsentierten islamistischen Milieus hat dabei wichtige Fortschritte im tunesischen Transformationsprozess ermöglicht. Zugleich besteht jedoch die Gefahr, dass die Initiatoren der Protestbewegung, die prekären Bevölkerungsschichten in den marginalisierten Regionen des Landes, erneut ins Abseits geraten. Ihre Antwort könnte diesmal in einer Radikalisierung und einer Hinwendung zu djihadistischen Gruppierungen bestehen. Marokko Obwohl im politischen und gesellschaftlichen Diskurs traditionell weniger präsent als in Tunesien, ist die marokkanische Mittelschicht anders als häufig behauptet ebenfalls kein neues Phänomen.42 Ihre Konturen jedoch sind diffus und ihre Strukturen komplexer als die der sozialen Gruppen an den Extremen des sozialstrukturellen Spektrums der marokkanischen Gesellschaft. Auch die quantitative Bestimmung der marokkanischen Mittelschicht ist umstritten: Das marokkanische Statistikamt Haut Commissariat au Plan (HCP) wählt einen breiten Korridor von 75 bis 250 Prozent des Einkommens-Meridians,43 obwohl Kritiker bezweifeln, dass ein Haushaltseinkommen knapp über der Armutsgrenze und die Einnahmen aus einem größeren Firmenbesitz gleichermaßen eine Verortung in der Mittelschicht rechtfertigen. Insbesondere in den Randbereichen gestalten sich die Übergänge zwischen den gesellschaftlichen Schichten fließend: Angesichts eines lückenhaften Systems sozialer Sicherung und begrenzter Aufstiegsmöglichkeiten durch Bildung ist das Risiko eines Abstiegs in die Armut in den unteren MittelschichtenMilieus stets präsent. Auf der anderen Seite sind die Grenzen zwischen der oberen Mittelschicht – vor allem Unternehmer in den Städten und Großgrundbesitzer in ruralen Gebieten – und der Oberschicht durchlässig. Als herrschende Schicht des Landes gilt mithin, wer Teil der marokkanischen Königsfamilie oder ihres unmittelbaren Umfelds – des Makhzen (makhzan) – ist. Vertreter traditionsreicher Unternehmerfamilien der oberen Mittelschicht aus Fes, Rabat oder der Souss-Region besetzen Schlüsselpositionen in der staatlichen Administration und Angehörige einer ruralen Bourgeoisie fungieren auf den traditionellen Posten der wali und 42 Vgl. Ksikes et al. 2009. 43 Vgl. Lahlimi Alami 2009.

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qa’id (caid) als Statthalter des Königshauses in den weit von der Hauptstadt entfernten Landesteilen. Ihr privilegierter Zugang zum französischsprachigen Bildungssystem und familiäre Netzwerke sichern ihre Position am Übergang von der Mittel- zur Oberschicht über Generationengrenzen hinweg. Neben der Unterscheidung zwischen oberer und unterer Mittelschicht findet auch die Dichotomie von »Alt« und »Neu« in der Beschreibung der marokkanischen Mittelschicht häufig Anwendung: Während die landesweit vertretene »alte« Mittelschicht traditionell mittelständische Berufe wie Lehrer, Händler oder Verwaltungsbeamte umfasst, werden Angestellte des Servicesektors und der wachsenden Finanz- und Technologiebranche in den urbanen Ballungszentren Nordmarokkos einer »neuen« Mittelschicht zugerechnet. Das für den vorliegenden Beitrag besonders interessante Verhältnis der Mittelschichten zum Makhzen hat im Laufe der marokkanischen Geschichte in der Folge politischer und ökonomischer Kurswechsel immer wieder Veränderungen erfahren. Zugleich weist die Beziehung einige bemerkenswerte Konstanten auf, die für ein Verständnis der Rolle der Mittelschichten im aktuellen marokkanischen Transformationsprozess von großer Bedeutung sind. Mittelschichten und Makhzen: Wandel und Konstanten einer komplexen Beziehung Als prägende Phase der jüngeren marokkanischen Geschichte hat die französische Kolonialherrschaft den Grundstein für die Entwicklung der marokkanischen Mittelschichten in ihrer heutigen Gestalt gelegt. Eine bildungsbürgerliche, meist urbane Mittelschicht profitierte vom engen Austausch mit der Kolonialmacht und übernahm charakteristische Handlungs- und Konsummuster. Bis heute reproduziert sich diese obere Mittelschicht mit engen Bindungen zur Staatselite durch ihren privilegierten Zugang zum französischsprachigen Bildungssystem, internationale Kontakte und tragfähige familiäre Netzwerke. Mit dem Ende der Kolonialzeit gewannen zwei weitere Segmente der Mittelschicht an Bedeutung: Zum einen entstand durch den Aufbau eines administrativen Staatsapparates nach dem Abzug der Kolonialmacht eine Vielzahl von Stellen im öffentlichen Dienst. Trotz geringer Aufstiegsmöglichkeiten und eingeschränkter sozialer Mobilität – die unteren Beamtengruppen konnten ihren Kindern häufig keinen Zugang zum französischsprachigen Schulsystem ermöglichen44 – stand diese untere Mittelschicht aus bürokratischen Angestellten in einem loyalen Verhältnis zu ihrem staatlichen Arbeitgeber, der Planungssicherheit, stabile Gehälter und eine gewisse soziale Grundsicherung garantierte. Zum anderen setzten König Muhammad (Mohamed) V. und sein Nachfolger Hasan (Hassan) II. in der post-kolonialen Auseinandersetzung zwischen Monarchie und oppositionellen Nationalisten auf etablierte Netzwerke zwischen dem Makhzen und den Großgrundbesitzern im ruralen Süden des Landes.45 Durch Zuwendungen und Postenvergabe banden sie die oberen 44 Vgl. Ksikes et al. 2009. 45 Vgl. Leveau 1985. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Mittelschichten-Milieus in ruralen Gebieten an das Königshaus und festigten traditionelle Verteilungsstrukturen. Als ein starkes Bevölkerungswachstum und zunehmende Urbanisierung in den 1970er Jahren die Landbourgeoisie als zentrale Stütze der Monarchie zu schwächen drohte, reagierte das Königshaus prompt: Einer drohenden Destabilisierung durch die wachsende Unzufriedenheit der städtischen Mittelschichten sowie durch Umsturzversuche radikaler Armeekreise46 begegnete König Hasan II. mit einem politischen und ökonomischen Kurswechsel, der unter dem Slogan der »Marokkanisierung« bekannt wurde. Die Einführung einer obligatorischen marokkanischen Teilhabe an allen Wirtschaftsunternehmen wirkte sich vor allem zu Gunsten der unternehmerischen Mittelschicht in den wirtschaftlichen Ballungsräumen aus. Desweiteren erneuerte das Königshaus durch Landreformen zum Vorteil der ruralen Großgrundbesitzer den Pakt mit der Landbourgeoisie, während zugleich die Rhetorik der Marokkanisierung sowohl für Sozialisten als auch für nationalistische Kräfte Anknüpfungspunkte bot.47 Steigende Einnahmen aus der Phosphatindustrie ermöglichten in den Folgejahren die Schaffung zahlreicher neuer Arbeitsplätz im öffentlichen Dienst und in staatlichen Unternehmen für eine wachsende technokratische Mittelschicht. Und nicht zuletzt sicherte die zum Kampf um territoriale Integrität stilisierte Kampagne zur Marokkanisierung der Westsahara die Loyalität des Militärs zum Königshaus. Als in den 1980er und 1990er Jahren die internationalen Finanzinstitutionen angesichts der hohen Staatsverschuldung Marokkos eine Abkehr vom Modell der Marokkanisierung und tiefgreifende Reformen des Wirtschaftssystems forderten, profitierten von den eingeleiteten Privatisierungen einmal mehr die eng mit dem Königshaus verbundenen Familien der oberen Mittelschicht.48 Die etablierten Herrschaftsstrukturen und die politische Dominanz des Makhzen blieben damit unangetastet. Doch das Königshaus sah sich gezwungen, der steigenden Arbeitslosigkeit in Folge von Stellenkürzungen im öffentlichen Sektor entgegenzutreten, um soziale Unruhen vor allem in den unteren Mittelschichten zu verhindern. So entstanden in den 1990er und 2000er Jahren zahlreiche Programme zur Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, zum Ausbau strategischer Wirtschaftszweige wie der Tourismus- oder Logistikbranche sowie zur Eingliederung von Hochschulabsolventen in den Arbeitsmarkt. Doch restriktive Finanzierungsstrukturen, Bürokratie und die weiterhin bestehende Dominanz staatlicher Unternehmen setzten einer nachhaltigen Wachstumsdynamik des Privatsektors enge Grenzen. Trotz seines kursorischen Charakters offenbart dieser Überblick über die politökonomische Entwicklung eine zentrale Konstante im Verhältnis von Mittelschichten und herrschender Klasse in Marokko: Seit jeher gelingt es dem Königshaus, durch vielfältige Allianzen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Fraktio46 Unter der Herrschaft von Hasan II. führte eine Gruppe um einige hochrangige Offiziere in den Jahren 1971 und 1972 zwei Putschversuche durch. 47 In einer Fernsehansprache vom 4. August 1971 benennt Hasan II. Fehlentwicklungen des marokkanischen Wirtschaftsmodells und kündigt Reformen zu Gunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten an. Vgl. Perrin 2002, S. 42. 48 Vgl. Catusse 2009.

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nen seine Herrschaft zu stabilisieren. Im Zentrum des Beziehungsgeflechts stehen dabei die strategisch wichtigen Milieus der Mittelschicht: das städtische Unternehmertum, die Landbourgeoisie sowie die große Gruppe der Angestellten des öffentlichen Sektors. Jüngere Aussagen des Königs untermauern, dass sich die Monarchie auch heute der wichtigen Rolle der Mittelschichten bewusst ist. So forderte Muhammad (Mohamed) VI. in einer Thronrede im August 2008, »alle politischen Maßnahmen strategisch auf eine Vergrößerung der Mittelschicht« auszurichten, um diese zur »Stabilitätsbasis« Marokkos zu machen.49 Die Tatsache, dass in der Regel beide Seiten der Allianz von der Verbindung profitieren, verleiht dem Verhältnis eine besondere Stabilität. Hinzu kommen zwei Grundzüge der marokkanischen Gesellschaft, die eine Verstetigung von Allianzen und Loyalitäten zusätzlich befördern: Zum einen leistet die geringe soziale Mobilität einer generationenübergreifenden Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen Vorschub und festigt bestehende Verbindungen über lange Zeiträume hinweg. Zum anderen erschwert die starke Segmentierung der Gesellschaft50 die Entstehung milieuübergreifender Interessengruppen und erleichtert es dem Königshaus, durch das Bedienen von Partikularinteressen neue Allianzen zu schmieden oder alte zu festigen. Auch zeigt sich der Makhzen, anders als die Regime anderer arabischer Staaten, zur Sicherung seiner Herrschaft immer wieder zu Zugeständnissen an Kritiker und potenzielle Oppositionskräfte bereit, solange diese die grundlegenden Machtstrukturen nicht in Frage stellen. Wenn exogene oder endogene Entwicklungen eine Anpassung des komplexen Beziehungsgeflechts notwendig machen, reagiert das Königshaus rasch und pragmatisch, um jede Erschütterung des Herrschaftssystems zu verhindern. Allianzbildungen auf der Basis gegenseitiger Vorteile sowie ein ausgeprägter Pragmatismus sind somit Konstanten, die über polit-ökonomische Kurswechsel hinweg das Verhältnis zwischen Mittelschichten und Makhzen geprägt haben und auch in der Phase der Arabellion ihre Wirkung zeigten. Mittelschichten und Makhzen in der Arabellion Ähnlich wie Tunesien kennt Marokko soziale Proteste nicht erst seit dem Jahr 2011. Brotunruhen und Arbeiterproteste gegen steigende Lebenshaltungskosten machten seit den 1980er Jahren die sozialen Spannungen in den Phosphatregionen und urbanen Vororten regelmäßig greifbar. Doch trotz dieses vorhandenen Protestpotenzials führten die Unruhen des Jahres 2011 nicht zu einer nachhaltigen Destabilisierung des bestehenden Regimes. Ein wichtiger Erklärungsfaktor hierfür ist die grundsätzliche Loyalität breiter Teile der marokkanischen Mittelschicht gegenüber dem Regime, die eine nachhal49 Thronrede von König Muhammad (Mohamed) VI. am 20. August 2008; URL: maroc. ma/fr/discours-royaux/sm-le-roi-mohammed-vi-adresse-un-discours-%C3%A0-la-natio n-%C3%A0-loccasion-du-55%C3%A8 [21.06.2016]. 50 Vgl. Perrin 2002. Bruchlinien innerhalb der marokkanischen Gesellschaft basieren z.B. auf ethnischer Zugehörigkeit, Stadt-Land-Divergenzen, Generationenmustern oder beruflichen Identitäten. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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tige Solidarisierung unterer und mittlerer Gesellschaftsschichten51 verhinderte. Dies ist zum einen mit der traditionellen Segmentierung der Gesellschaft, vor allem aber mit etablierten und durch das Königshaus in Reaktion auf die Proteste erneuerten Bindungen unterschiedlicher Mittelschichten-Milieus an das Regime zu erklären. Insbesondere Vertreter der gehobenen städtischen Mittelschicht profitieren, wie aufgezeigt, seit der Unabhängigkeit von ihren engen Verflechtungen mit dem Makhzen und zeigen entsprechend kein Interesse an einem Systemwechsel. Aber auch für weite Teile der unteren und mittleren Mittelschicht stellt eine Anstellung im öffentlichen Sektor angesichts fehlender Beschäftigungsalternativen im Privatsektor nach wie vor die beste Möglichkeit einer Sicherung ihres Lebensstandards dar. Und sogar die, denen die erhofften Stellen im öffentlichen Dienst bislang versagt geblieben sind, kämpfen auf der Straße in der großen Mehrzahl nicht für einen grundlegenden Systemwandel, sondern verleihen lediglich ihrem nach Abschluss eines Hochschulstudiums als rechtmäßig empfundenen Anspruch auf eine Stelle im Staatsdienst Ausdruck. Wie an zahlreichen Wendepunkten der marokkanischen Geschichte seit der Unabhängigkeit gelang es dem Königshaus auch angesichts der Arabellion – die im Frühjahr 2011 auch in Marokko Zehntausende junge Menschen auf die Straße trieb –, traditionelle Allianzen zu aktivieren und potenziell destabilisierende Kräfte durch Zugeständnisse einzuhegen. Zahlreiche vom Königshaus angestoßene Reforminitiativen haben seither die Forderungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen aufgegriffen: Eine Reform der Verfassung ließ urbane Protestgruppen auf mehr politische Freiheitsrechte hoffen,52 der Prozess der sogenannten »fortgeschrittenen Regionalisierung« (regionalisation avancée) erlaubte es der Monarchie, durch eine Neuordnung der Gebietskörperschaften traditionelle Allianzen mit der Landbourgeoisie zu stärken. Die Anerkennung des Siegs der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Parti de la justice et du développement, PJD) bei den Wahlen 2011 und der Auftrag zur Regierungsbildung stellten ein wichtiges Zugeständnis an religiöse, ebenfalls vornehmlich in der Mittelschicht verankerte Milieus dar. Infrastrukturinvestitionen und Förderprogramme für den Privatsektor weckten die Hoffnung vieler junger Akademiker auf neue Beschäftigungsmöglichkeiten. Das marokkanische Regime setzt damit zur Stabilisierung seiner Herrschaft auf eine Erneuerung seines Paktes mit den Mittelschichten. Doch sollten die angestoßenen Initiativen keine nachhaltigen Veränderungen einleiten und sich demokratische Elemente der Verfassung als rein kosmetische Korrekturen erweisen, wie zahlreiche Kritiker bemängeln, werden die Allianzen brüchig. In der Folge könnte eine Solidarisierung der unteren und mittleren Mittelschichten mit den zahlenmä51 Zur begrenzten Solidarisierung zwischen der vor allem in der Mittelschicht verorteten Bewegung des 20. Februar und Protestbewegungen in der ruralen Peripherie vgl. Bergh/Rossi-Doria 2015. 52 Die Verfassungsreform umfasste z.B. eine formale Aufwertung von Parlament und Regierung und einen gestärkten Grundrechtekatalog, die Machteinschränkungen des Regimes gelten jedoch als vornehmlich symbolisch. Vgl. Bank 2011.

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ßig starken, marginalisierten Teilen der Bevölkerung ein Protestpotenzial entfesseln, das weitaus größer ist als die Bewegung des Jahres 2011. Algerien Es scheint, als sei die Arabellion an Algerien nahezu spurlos vorüber gegangen. Zwar fanden auch im größten Staat des Maghreb zahlreiche Demonstrationen statt, doch erreichten sie nicht das Ausmaß der Proteste in den Nachbarländern und führten zu keiner signifikanten Veränderung des politischen Regimes. Bei den ersten Parlamentswahlen nach dem arabischen Frühling im Mai 2012 erlangte die seit der Unabhängigkeit des Landes herrschende Partei FLN (Front de Libération Nationale) knapp die Hälfte der Sitze in der Nationalen Volksversammlung. Im April 2014 wurde der 79-jährige, gesundheitlich stark angeschlagene Präsident Butafliqa (Bouteflika) zum vierten Mal als Staatsoberhaupt gewählt. Für diese Sonderrolle des Landes in der Arabellion lassen sich unterschiedliche Ursachen ausmachen. So verfügt Algerien anders als seine beiden Nachbarstaaten über große Rohstoffvorkommen. Die Renten aus Erdöl und Erdgas belaufen sich auf fast die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts, 97 Prozent der Deviseneinnahmen aus Exporten und 60 Prozent der Steuereinnahmen.53 Auch mit Blick auf die jüngere Geschichte nimmt Algerien eine Sonderstellung ein, hatte das Land doch, anders als Tunesien und Marokko, während der französischen Kolonialherrschaft nicht den Status eines Protektorats inne, sondern wurde vollständig in das französische Staatsgebiet integriert. Dies führte zu einer weitgehenden Zerschlagung der bestehenden Gesellschaftsordnung und hatte einen tiefgreifenden Wandel der Sozialstruktur zur Folge: Der Agrarsektor, der insbesondere in Marokko, aber auch in Tunesien von großer gesellschaftlicher Bedeutung ist, erfuhr in Algerien während der Kolonialzeit tiefgreifende Veränderungen mit einer Zerschlagung der traditionellen Agrarbourgeoisie. Auch Verwaltungs- und Handelsstrukturen waren französisch dominiert, Kolonialgesetze privilegierten französische Siedler gegenüber der algerischen Bevölkerung beispielsweise beim Erwerb von Land oder der Berufswahl. So entwickelte sich eine koloniale Mittelschicht, die vornehmlich aus europäischen Siedlern bestand und zum Ende des Unabhängigkeitskrieges etwa 1,4 Millionen Menschen umfasste. Ihre Flucht ins französische Mutterland nach der Unabhängigkeit im Jahr 1962 hinterließ ein Vakuum in der oberen Mitte der Gesellschaft. Der brachliegende, bislang auf Agrarexporte reduzierte Wirtschaftssektor und die verwaisten Verwaltungs- und Sicherheitsstrukturen bildeten die Grundlage für einen rasanten Aufstieg einer neuen Mittelschicht. Die Mittelschichten als Staatsklasse Seit dem Beginn der Unabhängigkeit stand die algerische Politik im Zeichen der Nationalisierung. Die Bekämpfung der Unterentwicklung, der Antiimperialismus und das Ziel einer vollständigen Überwindung kolonialer Strukturen waren zen53 Vgl. Chabane 2010. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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trale Elemente einer nationalistischen Rhetorik und Politik, die fortan den Werdegang Algeriens prägten. Unter den Regierungen Bin Billa (Ben Bella, 1962-1965) und Bu Madyan (Boumedienne, 1965-1978) wuchsen – finanziert durch steigende Öleinnahmen54 – der öffentliche Sektor und Verwaltungsapparat deutlich an; es entstanden die algerische Volksarmee (ANP) und weitere Sicherheitsorgane sowie die Einheitspartei FLN (Front de Libération Nationale) und ihre Massenorganisationen. Die neu etablierten Strukturen boten zahlreiche Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs in eine wachsende Mittelschicht; allein die Zahl der Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung stieg zwischen 1966 und 1973 um 60 Prozent.55 Die Ausdifferenzierung des Staatssektors führte dabei zur Ausprägung zahlreicher unterschiedlicher Mittelschichten-Milieus in Bürokratie, Militär, Staatspartei, öffentlichen Unternehmen und Agrarsektor, die jeweils in einem Loyalitätsverhältnis zu den korrespondierenden Segmenten der Staatselite standen. Ihnen allen sind jedoch die grundsätzliche Abhängigkeit von staatlichen (Finanzierungs-)Strukturen sowie ihr Bekenntnis zum nationalistischen, interventionistischen Staatsmodell als verbindende Elemente gemein. Die Mittelschicht entwickelte sich damit seit den 1960er Jahren im Sinne einer »Staatsklasse« zur zentralen Stütze des algerischen Autoritarismus.56 Der starke Ölpreisanstieg ermöglichte im Laufe der 1970er Jahre eine weitere Festigung der Loyalitätsbeziehungen durch umfangreiche staatliche Investitionen in Bildung, Gesundheit und Wohnungsbau, die vornehmlich urbanen Mittelschichten-Milieus zu Gute kamen. In wachsendem Maße richtete sich die algerische Wirtschaft auf den Rohstoffsektor aus, dessen Anteil am Bruttoinlandsprodukt zwischen 1955 und 1977 von 5,5 auf 33 Prozent stieg.57 Der parallel stattfindende deutliche Rückgang des Agrarsektors führte zu einer wachsenden Abhängigkeit Algeriens von Nahrungsmittelimporten und einer Marginalisierung ruraler Mittelschichten vornehmlich im Süden des Landes. Das klientelistische Verhältnis zwischen Mittelschichten und Staat, das in starkem Maße auf einer Umverteilung der Ölrenten beruhte, geriet erst durch den sinkenden Ölpreis ab Mitte der 1980er Jahre58 unter Druck. Die Verschuldung des Landes stieg von etwa 19 Mrd. US-Dollar im Jahr 1980 auf etwa 27 Mrd. USDollar im Jahr 1988,59 bei einem Anstieg der Schuldendienstquote von 35 auf 78 Prozent im gleichen Zeitraum.60 Zugleich wuchs die algerische Bevölkerung von etwa 19 auf mehr als 24 Millionen Menschen, mit einem starken Anstieg der urbanen Bevölkerung und einem sinkenden Altersdurchschnitt. Wie seine Nachbar54 55 56 57 58

Vgl. Nair 1982. Vgl. Abdi 1985. Vgl. Ouaissa 2005; Elsenhans 1981. Vgl. Farah 2015. Der Ölpreis fiel zwischen 1981 und 1985 von 40 auf 15 US-Dollar pro Barrel. Die Erdöleinnahmen Algeriens gingen in diesem Zeitraum um etwa die Hälfte zurück. Vgl. Ouaissa 2005. 59 Vgl. Elsenhans 1993. 60 Ebd.

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staaten Tunesien und Marokko leitete auch Algerien unter der Ägide der internationalen Finanzinstitutionen in den 1990er Jahren umfangreiche Strukturanpassungsprogramme ein, die Kürzungen im öffentlichen Sektor und den Abbau von Subventionen umfassten. Die sinkende Liquidität des Staates durch den Rückgang der Ölrente sowie die strukturellen Reformen lösten wachsenden Unmut in der – insbesondere jungen – Bevölkerung aus, der sich seit Ende der 1980er Jahre immer wieder in Form von Unruhen in allen größeren Städten Algeriens entlud. Die algerische Staatsklasse reagierte mit zwei unterschiedlichen Strategien auf die Krise der 1980er und 1990er Jahre. Beide zielten vor allem auf eine Neubegründung des Vertrages zwischen den Mittelschichten und der Staatsmacht: Zum einen trieb die Regierung Privatisierungen und eine Abkehr vom in Verruf geratenen sozialistischen Modell voran, zum anderen leitete sie begrenzte politische Reformen ein. Doch ähnlich der Entwicklung in den anderen Maghreb-Staaten festigten die Privatisierungen, von denen in erster Linie die bereits eng mit dem Regime verflochtenen Vertreter der Partei- und Militärelite sowie einige staatsnahe Unternehmer profitierten, bestehende klientelistische Strukturen. Große Teile der Mittelschicht hingegen, die bislang von der staatlichen Umverteilungspolitik – beispielsweise in den Bereichen Bildung und medizinische Versorgung – profitiert hatten, sahen sich benachteiligt, was einer zunehmenden Entfremdung zwischen Staatselite und Mittelschichten Vorschub leistete.61 Zugleich ebneten politische Reformen den Weg für einen neuen Pluralismus im Parteiensystem, was insbesondere der islamistischen Bewegung die Gelegenheit eröffnete, sich unter dem Namen Front Islamique du Salut (FIS) als Partei zu formieren. Die Unzufriedenheit breiter Teile der Mittelschicht fand ihren Ausdruck in einer wachsenden Unterstützung des politischen Islam, der sich als neue Form zur Kanalisierung sozialen Protests anbot. Dies manifestierte sich bei den Parlamentswahlen im Dezember 1991, bei denen der FIS 47 Prozent der Stimmen und 188 von 430 Parlamentssitzen erreichte. Die Partei wurde dabei nicht nur zum Sprachrohr marginalisierter gesellschaftlicher Schichten, sondern entwickelte sich auch zu einem Sammelbecken für Mittelschichtsangehörige, die ihren Status gefährdet bzw. ihren weiteren sozialen Aufstieg blockiert sahen.62 Jedoch ergibt eine Analyse der Programme islamistischer Bewegungen wie des FIS, dass diese in ihrem Wirtschafts- und Politikmodell jenseits ihrer Kritik an klientelistischen Strukturen dem Staat weiterhin eine wichtige Rolle zuweisen: Neben einer Bekämpfung von Korruption und Vetternwirtschaft treten sie für eine Stärkung des Privatsektors, aber auch für staatliche Intervention zum Schutz der nationalen Wirtschaft vor Importkonkurrenz sowie zur Förderung von Exporten ein.63 Die Militärführung reagierte im Januar 1992 mit einem Putsch gegen Präsident Bin Jadid (Bendjedid) auf das Erstarken der Islamisten. Der FIS wurde verboten und die folgende Radikalisierung einiger islamistischer Gruppierungen sowie die 61 Vgl. Stiglitz 2003. 62 Vgl. Pelletiere 1995. 63 Vgl. Takeyh 2003. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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brutale Unterdrückung des politischen Islams durch das Regime führten das Land in einen Bürgerkrieg, der 150.000 Tote forderte. Nach dessen Ende beförderte der notwendige Wiederaufbau des Landes einen wirtschaftlichen Aufschwung und zahlte sich insbesondere für staatsnahe Firmen des Privatsektors im Transportund Baugewerbe aus.64 Zugleich schlug die Regierung einen pragmatischen Weg ein, der erneut eine gewisse pluralistische Öffnung des Parteispektrums umfasste. Die moderat-islamische Partei MSP (Mouvement de la société pour la Paix) entwickelte sich dabei zur neuen Vertreterin islamistischer Mittelschichten-Milieus65 und bildete ab 1997 sogar einen Teil der Regierung. Ermöglicht durch einen Boom des Ölpreises, der ab dem Ende der 1990er Jahre neue Spielräume für Verteilungspolitik eröffnete, etablierte der erste nicht-militärische Präsident Butafliqa die Allianz zwischen Regime und Mittelschichten zu Beginn der 2000er Jahre neu. Besonders profitierten dabei dem Präsidenten nahestehende, vornehmlich im Importgeschäft tätige Unternehmer, welche die mit den Ölrenten wachsende Nachfrage nach Konsumgütern aus dem Ausland bedienen, sowie eine wachsende Schicht an Kleinhändlern des formellen oder informellen – auch »Trabendo«66 genannten – Sektors. Damit entwickelte sich in der Partei und um den Präsidenten ein weiteres Machtzentrum jenseits von Militär und Geheimdiensten. In jeweils eigenen Klientelnetzwerken binden diese unterschiedlichen Machtpole, die hinter den Kulissen in Konkurrenz zueinander stehen, verschiedene Segmente der Mittelschicht an sich. Mittelschichten als Stabilisatoren des Regimes in der Arabellion Diese Intransparenz der Machtstrukturen und die Grabenkämpfe zwischen unterschiedlichen Akteuren des Regimes, die Protestierenden eine Identifikation ihres Gegners erschweren und von konkreten Problemen ablenken, sind einer der Gründe für die geringe Resonanz der Arabellion in Algerien.67 Auch die kollektive Erinnerung an die Schrecken des Bürgerkriegs der 1990er Jahre und die Sorge vor einer sicherheitspolitischen Destabilisierung des Landes spielte hierbei eine Rolle. Vor allem aber wirkt die Zersplitterung der Mittelschicht in unterschiedliche Allianzen mit verschiedenen Segmenten der Staatselite letztendlich stabilisierend auf das Regime. Dabei stellt die Loyalität strategisch wichtiger Mittelschichten-Milieus ein wichtiges Kapital der unterschiedlichen Machtpole des Landes dar und wird entsprechend durch Zuwendungen gepflegt. Neben flächendeckenden Maßnahmen wie einer Erhöhung des Mindestlohns oder dem Ausbau von Subventionen stärkte das algerische Regime in Reaktion auf Proteste im Jahr 2011 gezielt die Verflechtung mit einzelnen Milieus der Mittelschicht, beispielsweise durch eine Erhöhung des Gehalts für Hochschullehrer um 300 Prozent, für Angestellte im öf64 Vgl. Martinez 1998. 65 Vgl. Müller 2002. 66 Der vom spanischen »contrebando« (Schmuggel) abgeleitete Begriff bezeichnet kleine Wiederverkäufer von Waren auf informellen Märkten. 67 Vgl. Werenfels 2014.

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fentlichen Sektor um 110 Prozent, und für Militärangehörige um immerhin 40 Prozent rückwirkend für drei Jahre.68 Auch im Staatshaushalt für das Jahr 2016 waren 23 Prozent der Ausgaben für Sozialtransfers vorgesehen. Bislang geht der Plan auf, durch Umverteilungsmaßnahmen den sozialen Frieden zu erhalten. Sollten jedoch in Folge eines Rücktritts oder des Todes des schwer kranken Staatspräsidenten die Machtkämpfe innerhalb der Staatsklasse offen aufbrechen, kann dies auch Auswirkungen auf bestehende Loyalitätsverhältnisse zwischen Staatsklasse und unterschiedlichen Mittelschichten-Milieus haben. Sehen sich einzelne Gruppen in einem solchen Kampf um die künftige Führungsrolle Algeriens – und die damit verbundene Hoheit über die Erdöl- und Erdgasrenten – benachteiligt, können sich Proteste intensivieren und mögliche neue Allianzen zwischen Mittelschichten-Milieus und einer schon jetzt marginalisierten Schicht vornehmlich im Süden des Landes entstehen. Mittelschichten in Transformationsprozessen – Triebkräfte oder Blockierer? Die Mittelschichten der drei zentralen Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien weisen wichtige Parallelen in ihrer Genese auf. Anders als in Europa, wo die Herausbildung von Mittelschichten eng mit der Industrialisierung und der damit verbundenen Neuordnung der Gesellschaftsstruktur verknüpft war, stellt der Aufstieg der maghrebinischen Mittelschichten ein vornehmlich politisches Phänomen dar. Dieser Aufstieg gestaltete sich nicht als konflikthafte Aushandlung partizipativer Rechte zwischen unterschiedlichen Machtpolen eines sich wandelnden Wirtschaftssystems wie im Europa des Industrialisierungszeitalters. Vielmehr wurden koloniale Strukturen in eine post-koloniale Phase überführt: Die neu konstituierte Staatselite erwuchs aus einer während der Kolonialzeit privilegierten Mittelschicht, die ihre Legitimität aus dem Befreiungskampf und ihrer Rolle als Trägerin des nationalistischen Gedankens bezog. Frantz Fanon bezeichnet die Mittelschichten denn auch als Quasi-Erben des Kolonialismus.69 Staatselite und Mittelschichten sind somit eng verwoben, wenn nicht gar in Teilen deckungsgleich. In den post-kolonialen Gesellschaften, in denen sich die Bürokratisierung zu einem charakteristischen Strukturmerkmal entwickelte, erfüllten technokratische Mittelschichten-Milieus eine zentrale Funktion in Wirtschaft und Verwaltung.70 Zugleich sind diese bürokratischen Milieus in besonderem Maße von Abhängigkeit gegenüber staatlichen Strukturen und Renten geprägt, wobei Renten nicht allein als Staatseinnahmen verstanden werden, die eine Umverteilung jenseits des profitorientierten Wettbewerbs ermöglichen, sondern auch im Sinne begünstigender und protektionistischer wirtschaftspolitischer Strukturen.71 Zentrales Charakte-

68 69 70 71

Vgl. Mandraud 2011. Vgl. Fanon 1961. Vgl. Halpern 1963. Vgl. Elsenhans 2001.

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ristikum von Rentenökonomien ist damit das Fehlen einer profitabhängigen und marktorientierten Schicht. Jenseits der Dominanz technokratischer Milieus weisen die Mittelschichten der Maghreb-Staaten eine große Heterogenität auf. Innerhalb der politischen Systeme nehmen ähnliche Milieus zudem unterschiedliche Positionen ein. So steht der Marginalisierung der ruralen Mittelschicht in Algerien die wichtige Position der Agrarbourgeoisie in der marokkanischen Herrschaftsarchitektur gegenüber, einer untergeordneten Rolle des Privatsektors in Algerien dessen bedeutende Position im Entwicklungsmodell Tunesiens, und der geringen Bedeutung des tunesischen Militärs die wichtige bzw. zentrale Funktion der Armee im marokkanischen und algerischen System. Zugleich lassen sich einige vergleichbare Dynamiken beobachten: In allen Maghreb-Staaten vollzieht sich eine Verschiebung von ruralen zu urbanen Mittelschichten, während islamistische Milieus im Sinne des dominierenden modernistischen Staatsdiskurses in allen drei Ländern lange Zeit marginalisiert und unterdrückt wurden. Es wird deutlich, dass trotz zahlreicher Parallelen in der Genese der maghrebinischen Mittelschichten die Position einzelner Mittelschichten-Milieus in der Machtarchitektur eines Staates in starkem Maße von den spezifischen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig ist. Diese Beobachtung ist auch für die Beurteilung der Rolle der Mittelschichten im politischen Transformationsprozess – als der zentralen Fragestellung dieses Beitrags – von großer Relevanz. Barrington Moore formuliert zwei Faktoren, die über die Rolle von Mittelschichten in Revolten und Transformationsprozessen – und damit letztendlich über eine mögliche Demokratisierung autoritärer Regime oder eine Aufrechterhaltung des Status Quo – entscheiden: die Einbettung in polit-ökonomische Strukturen und damit das Verhältnis zur Staatselite sowie die gesellschaftlichen Allianzen, welche die Mittelschichten eingehen.72 Im monarchistischen System Marokkos spielen das Königshaus und der Makhzen eine dominierende Rolle in Wirtschaft und Politik. Die Mittelschicht zerfällt in zahlreiche unterschiedliche Milieus: die traditionelle Handelsbourgeoisie in den Wirtschaftszentren des Landes,73 die sowohl zur Kolonialmacht als auch zum Makhzen gute Beziehungen pflegten, rurale Großgrundbesitzer sowie religiöse Milieus. Hinzu kommt die technokratisch-administrative Mittelschicht, die nach Abzug der französischen Verwaltung zur tragenden Säule des marokkanischen Systems geworden war. Die unterschiedlichen Milieus profitieren gleichermaßen von ihrer jeweiligen Nähe zum Makhzen, dessen Politik darauf zielt, dass keines der strategisch wichtigen Milieus übermächtig oder marginalisiert wird. Die Legitimationsstrategie des Königshauses zwischen traditionell-islamischer Kontinuität und einzelnen Modernisierungsinitiativen spiegelt die heterogenen Positionen der Mittelschichten-Milieus wider und bedient deren unterschiedliche Interessen. Diese traditionell gewachsene und von der Staatselite geförderte Segmentierung der Mittelschicht verhindert eine nachhaltige Allianzbildung unterschiedlicher Mittel72 Moore 1969. 73 Monjib 2015.

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schichten-Milieus ebenso wie eine Solidarisierung der Mittelschichten mit marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen. Proteste im Rahmen des Arabischen Frühlings führten daher zwar zu einzelnen Reformen, die das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Milieus und der Staatselite neu festigen sollten, leiteten jedoch keinen umfassenden Transformationsprozess ein. In noch stärkerem Maße als in Marokko sind die Mittelschichten in der Rentenökonomie Algeriens von der Verteilungspolitik des Staates abhängig. Die Rentenorientierung vereint dabei strukturell höchst unterschiedliche Milieus der Mittelschicht – technokratische, militärische, unternehmerische sowie moderat islamistische – hinter dem bestehenden Staatsapparat. Sie alle sehen, trotz teilweise oppositioneller politischer Orientierung und Wertvorstellungen, im Falle eines Regimewechsels ihre ökonomischen und gesellschaftlichen Privilegien bedroht. So herrscht unter den heterogenen Mittelschichten-Milieus trotz ihrer Loyalität gegenüber divergierenden Segmenten der Staatselite letztendlich Konsens über das Ziel, den Fortbestand des Regimes zu sichern. Diese Form der Allianz im Hinblick auf eine gemeinsame Zielsetzung und die Ablehnung einer Kooperation mit weniger privilegierten gesellschaftlichen Schichten sichern bis heute die Stabilität des algerischen Regimes. In Tunesien, wo die Mittelschichten jahrzehntelang im Zentrum des staatlichen Entwicklungsmodells standen, hat die Dynamik der Arabellion einen Regimewechsel erzwungen. Die Protestwelle ging dabei nicht von Vertretern der Mittelschicht, sondern von marginalisierten Schichten aus. Doch war das Verhältnis zwischen den lange Zeit privilegierten technokratischen und unternehmerischen Mittelschichten und der Staatselite in Folge der vom Regime propagierten wirtschaftlichen Liberalisierungsmaßnahmen und der klientelistischen Selbstbereicherung der Regierenden soweit ausgehöhlt, dass sich die Vertreter der Mittelschicht mit den Protesten der marginalisierten Schichten solidarisierten. Hier liegt ein wichtiger Unterschied zu Ägypten, wo die Protestbewegung in stärkerem Maße von Mittelschichten initiiert wurde.74 In Tunesien übernahmen die Mittelschichten die von den marginalisierten Schichten vertretene kompromisslose Haltung gegenüber dem Regime, die in der Forderung »Dégage« zum Ausdruck kommt. Als weiterer Faktor kam in Tunesien die Solidarisierung islamistischer und modernistisch-säkularer Milieus hinzu, die sich nicht nur während der Proteste beobachten ließ, sondern die auch das Fundament der heutigen Regierungskoalition bildet. Erst die Kooperation unterschiedlicher Mittelschichten-Milieus untereinander sowie mit weiteren gesellschaftlichen Gruppen im Kampf gegen ein Regime, das die gesellschaftlichen Versprechen, auf denen seine Legitimität beruhte, nicht mehr einlösen konnte, führten letztendlich zum Regimesturz und dem Beginn eines politischen Transformationsprozesses. Die Mittelschicht der Maghreb-Staaten, so wird deutlich, kann nicht pauschal als Triebkraft oder Blockiererin politischer Transformationsprozesse bezeichnet werden. Zunächst muss eine Analyse der Rolle der Mittelschicht in gesellschaftlichen Umbruchssituationen der Tatsache Rechnung tragen, dass die Mittelschicht 74 Beissinger et al. 2012. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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– wie jede andere gesellschaftliche Schicht – keine homogene Gruppe ist, sondern aus einer Vielzahl unterschiedlicher Milieus besteht. Deren Positionierung in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen ist in starkem Maße vom nationalen Kontext und dem spezifischen Verhältnis zur staatlichen Elite abhängig. Nur, wenn wirtschaftliche und politische Veränderungen einen bestehenden Gesellschaftsvertrag zwischen Mittelschichten und Regimen nachhaltig in Frage stellen und zugleich neue Allianzen innerhalb der Mittelschichten oder zwischen gesellschaftlichen Schichten entstehen, ist die Vorbedingung für einen nachhaltigen politischen Transformationsprozess gegeben. Eine wirkliche Transition erfolgt nur, wenn sich die Mittelschichten nachhaltig aus klientelistischen Strukturen lösen und eine Marktlogik die Rentierslogik ablöst. Literatur Abdi, Noureddine 1985. »Classes moyennes et économie dominante en Algérie et en Libye«, in: Revue Tiers Monde, 26 (101), S. 92-102. Achy, Lahcen 2011. »Tunisia’s Economic Challenges«, in: The Carnegie Papers, September, URL: carnegieendowment.org/files/tunisia_economy.pdf [23.06.2016]. Ageron, Charles-Robert 1980. »Les classes moyennes dans l’Algérie coloniale: origines, formation et évaluation quantitative«, in: Les classes moyennes au Maghreb, hrsg. v. Ageron, Charles-Robert; Benhlal, Mohammed; Holsinger, Donald C.; Hopkins, Nochilas S.; Sanson, Henri; Sayad, Abdelmalek; Souriau, Christiane; Sraieb, Nourredine; Talha, Larbi; Weexsteen, Raoul; Zghal, Abdelkader. Paris: Éditions du centre national de la recherche scientifique, S. 52-75. Alonso-Gamo, Patricia; Bazzoni, Stefania; Feler, Alain; Laframboise, Nicole; Nashashibi, Karim, A.; Paris Horvitz, Sebastian 1998. Algeria: Stabilization and Transition to Market. Washington: International Monetary Fund. Amin, Samir 1970. Le Maghreb moderne. Paris: Editions de Minuit. Amin, Samir 1976. La nation arabe. Nationalisme et luttes de classes. Paris: Editions de Minuit. Asseburg, Muriel; Wimmen, Heiko 2016. »Dynamics of Transformation, Elite Change and New Social Mobilization in the Arab World«, in: Mediterranean Politics, 21 (1), S. 1-22. Bank, André 2011. »Jordanien und Marokko: Lösungsweg Verfassungsreform?«, in: Proteste, Aufstände und Regimewandel in der arabischen Welt, hrsg. v. Assebur, Muriel. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, S. 30-32. Barlow, James; Dickens, Peter; Fielding, Tony; Savage, Mike 1995. Property, Bureaucracy and Culture. Middle-Class Formation in Contemporary Britain. London: Routledge. Beissinger, Mark; Jamal, Amaney; Mazur, Kevin 2012. Who Participated in the Arab Spring? A Comparison of Egyptian and Tunisian Revolutions. URL: princeton.edu/~mbeissin/beiss inger.tunisiaegyptcoalitions.pdf [23.06.2016]. Bellin, Eva 2002. Stalled Democracy. Capital, Labor, and the Paradox of State-Sponsored Development. Ithaca: Cornell University Press. Bellin, Eva 2014. »Drivers of Democracy: Lessons from Tunisia«, in: Middle East Brief, 75, URL: brandeis.edu/crown/publications/meb/MEB75.pdf [23.06.2016]. Bergh, Sylvia I.; Rossi-Doria, Daniele 2015. »Plus ça Change? Observing the Dynamics of Morocco’s,Arab Spring‹ in the High Atlas«, in: Mediterranean Politics, 20 (1), S. 198-216. Boukhars, Anouar 2015. The Reckoning. Tunisia’s Perilous Path to Democratic Stability. Washington: Carnegie Endowment for International Peace. Bourdieu, Pierre 1966. »Condition de classe et position de classe«, in: European Journal of Sociology, 7 (2), S. 201-223. Bourdieu, Pierre 1982. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bras, Jean-Philippe 1994. »Ben Ali et ses classes moyennes« in: Pôles, 1, S. 174-195.

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Zusammenfassung: Diese sozialstrukturelle Analyse behandelt die Rolle der Mittelschichten im Transformationsprozess. Mittelschichten-Milieus unterscheiden sich in ihrer soziokulturellen Disposition und der Einbindung in polit-ökonomische Strukturen. Das daraus resultierende Verhältnis zur regierenden Schicht entscheidet auch über die Positionierung im Transformationsprozess. Sozialstrukturelle Divergenzen und ihre machtpolitischen Folgen sind damit wichtige Erklärungsfaktoren für unterschiedliche Verläufe der Arabellion. Stichworte: Sozialstruktur, Mittelschicht, Transformation, Rente, Algerien, Marokko, Tunesien, Maghreb

Middle Classes in the Political Transformation Process in North Africa Summary: This social structure analysis considers the role of the middle classes in the transformation process. Middle class milieus vary in their socio-cultural disposition and in their level of integration in politico-economic structures. The consequent relationship of a given middle class milieu to the ruling elite determines its positioning in the transformation process. Socio-structural divergences and the resulting political power consequences are therefore decisive factors for the varying trajectories of the Arabellion. Keywords: Social structure, middle class, transformation, rent, Algeria, Morocco, Tunisia, North Africa

Autoren Prof. Dr. Rachid Ouaissa Philipps-Universität Marburg Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) Deutschhausstraße 12 DE-35032 Marburg [email protected] Katrin Sold, M.A. Philipps-Universität Marburg Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) Deutschhausstraße 12 DE-35032 Marburg [email protected]

II. Internationale Dimensionen

Maurus Reinkowski

Ein neuer Naher Osten? Zur realen Krise eines epistemischen Systems Ein Jahrhundert Naher Osten Die neuen Konstellationen im Nahen Osten verdanken sich zwei entscheidenden Ereignissen: der Intervention der USA und ihrer Verbündeten im Irak im Jahr 2003 und der Arabellion seit dem Dezember 2010.1 Die Dynamik der Konfliktszenarien weist aber mittlerweile über diese beiden Ereignisse hinaus. Der Nahe Osten scheint nicht mehr das zu sein, was er einmal gewesen ist. Viel weiter dringen aber die Einsichten nicht vor; die Antworten bleiben vage.2 Denn noch scheint unklar: Was ist anders an der gegenwärtigen Situation? Und wie lässt sie sich fassen? Der Nahe Osten hat in fundamentaler Weise mit westlicher und europäischer Politik zu tun.3 Ja, man muss sogar weiter gehen und sagen: Der »Nahe Osten« bezeichnet diese vom »Westen« begründete epistemische Ordnung, die zu dessen eigenem Nutzen war. Zugleich steht diese epistemische Ordnung in einem engen Wechselspiel mit real existierenden politischen Entscheidungen, Menschen und Ländern.4 Westliche Nahostpolitik war daher nicht einfach nur die Politik des Westens in einer Weltregion, sondern sie war der bestimmende äußere Einflussfaktor in der Region. Diese enge Beziehung, verbunden jedoch mit dem Bewusstsein eines gewissen Sicherheitsabstands, ist konstitutiv für das, was in Europa als »der Nahe Osten« verstanden worden ist. Der Nahe Osten wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen. Er ist ein Vermächtnis der imperialen Überwältigung der arabischen Welt durch die damals führenden imperialen Mächte Frankreich und Großbritannien. Heute, rund einhundert Jahre nach der Erschaffung des Nahen Ostens, erscheint diese Ordnung immer fragiler. Die Suche nach einem Anker eines »richtigen« historischen Ver1 Inwieweit die Arabellion auch als eine Folge des verhängnisvollen westlichen Irak-Abenteuers zu deuten ist, ist eine andere und weitaus schwierigere Frage. 2 Als nur ein Beispiel aus dem Bereich der Wissenschaft: Braune/Rohde (2015, S. 6) kritisieren das »containerhafte Konzept« des »Middle East«, das nur scheinbar eine abgegrenzte und in sich kohärente Region bezeichne, zeigen aber zugleich keine Möglichkeit auf, wie dieser Begrifflichkeit zu entkommen ist. Alle Beiträge, die diesem Editorial zu einer Sondernummer über Area Studies folgen, führen die eingangs geäußerte kritische Position fort und nehmen zum Teil auf die Ereignisse der Arabellion Bezug, bleiben aber sehr unbestimmt. 3 Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die europäische Nahostpolitik Teil einer umfassenderen westlichen, die von den Vereinigten Staaten von Amerika als dem hegemonialen Akteur bestimmt wird. 4 Hierzu ist immer noch grundlegend Said 2003 [1978]. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017, S. 95 – 113

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ständnisses stößt rasch auf das Sykes-Picot-Abkommen von 1916, umso mehr, als erst vor kurzem des einhundertsten Jahrestages zu gedenken war. Im November 1915 kamen der französische Diplomat François Georges-Picot und sein britischer Verhandlungspartner Mark Sykes überein, dass im Falle eines Sieges der Entente-Mächte die osmanischen Herrschaftsgebiete in der östlichen arabischen Welt zwischen Frankreich und Großbritannien aufgeteilt werden sollten. Diese Vereinbarung wurde im Mai 1916 durch einen geheimen britisch-französischen Vertrag besiegelt. Das sich aus dieser Vorgeschichte ergebende Verdikt ist schnell gesprochen: Der »Westen« muss gerade stehen für die Fehlleistungen des letzten Jahrhunderts, die Anfang und Grundlage eben im Sykes-Picot-Abkommen finden. Die europäischen Staaten werden sich nicht aus der Schlinge ihrer historischen Verantwortung ziehen können: für die ungerechte imperiale Ordnung, die sie in der arabischen Welt errichtet haben; für die willkürlich im Sand gezogenen Linien; für das Zusammenwürfeln von Bevölkerungsgruppen, die niemals zusammengehört hatten; für die Bürde des verwickelten israelisch-palästinensischen Konflikts – kurzum für die falsch gelegten Gleise, auf denen der Nahe Osten bis heute unterwegs ist. Es fällt nicht schwer, sich gegen die von damaligem imperialen Eigennutz getriebene »Sykes-Picot-Ordnung« zu wenden – auch der »Islamische Staat« tut dies mit sichtlichem Genuss.5 Jedoch kann die Sykes-Picot-Ordnung, eingekerbt auf der Haut eines der letzten Vertreter aus der Spezies der vormodernen multinationalen Großreiche, nur als Chiffre für eine weitaus verwickeltere Geschichte fungieren. Das Abkommen wurde wegen späterer Entwicklungen, vor allem des Wegfalls des im Vertrag mit berücksichtigten Verbündeten Russisches Reich, nicht sofort und nicht bruchlos umgesetzt. Die Neuordnung der ehemaligen arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches in Form der britischen und französischen Mandatsgebiete (bestehend aus den heutigen Ländern Irak, Israel/Palästina, Jordanien, Libanon und Syrien, einschließlich des 1938 an die Türkei abgetretenen Sandschaks von Alexandrette) konnte erst Anfang der 1920er Jahre endgültig geregelt werden. Zudem ist das Sykes-Picot-Abkommen keineswegs so einschneidend neu gewesen: Frankreich und Großbritannien hatten schon vor dem Ersten Weltkrieg die arabischen Gebiete des Osmanischen Reiches unter sich in informelle ökonomische Einflusszonen aufgeteilt.6 Die Arabische Halbinsel wiederum (mit den heutigen Staaten Jemen, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate) ging andere Wege.7

5 Markaz al-Hayat li-Iʿlam 2014. 6 Khalidi 1988. 7 Der Sykes-Picot-Vertrag reservierte die zum Osmanischen Reich gehörenden Gebiete auf der Arabischen Halbinsel für eigenständige arabische Staatswesen. Die zum Vertrag zugehörige Karte zeigt zudem, dass das unmittelbar unter französischer Kontrolle stehende Gebiet über den heutigen Libanon und die syrischen Küstengebiete hinaus weit hinein in die nicht-arabischsprachigen Gebiete in der heutigen Republik Türkei reichen sollte. Siehe Barr 2011, S. 5.

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Doch auch wenn man den schiefen Bezug auf eine Sykes-Picot-Ordnung beiseitelässt, so hat der Verweis auf die Mitverantwortung des imperialen Westens Bestand: Für das so zähe Vorherrschen von in merkwürdiger Weise zugleich defektiven und leistungsfähigen Regimen, die in Fragen autoritärer Herrschaft brillieren, aber in der Entwicklung eines politischen, sozialen und volkswirtschaftlichen Gemeinwesens versagen. Angesichts des Umstands, dass diese Ordnung ins Wanken gekommen ist, verfolgt dieser Beitrag mehrere Ziele: Zum einen ist zu fragen, worin sich, trotz aller immer wieder geäußerten Kritik, die Stärke und offensichtliche Unverzichtbarkeit des Begriffes »Naher Osten« begründen. Zudem sind die besonderen Symptome der derzeitigen Krise des Systems »Naher Osten« zu untersuchen, denn Krisen sind eigentlich eines der konstituierenden Merkmale dieser zuverlässig krisengeschüttelten Region. Und zuletzt: Wenn für die Existenz des Nahen Ostens eine europäische Urheberschaft konstitutiv ist, was bedeutet dann die Krise des Nahen Ostens für Europa? Der Nahe Osten als epistemisches System Der »Nahe Osten« ist ein komplexes und verschwommenes Gebilde, dessen Kern die ehemaligen französischen und britischen Mandatsgebiete (also die heutigen Länder Irak, Israel/Palästina, Jordanien, Libanon und Syrien) sind. In aller Regel wird das gesamte Gebiet der Arabischen Halbinsel dem Nahen Osten zugeschlagen. Die Türkei, Iran und Ägypten kann man hinzurechnen oder auch, je nach Belieben, wieder in Abzug bringen.8 »Middle East«, das heutige Äquivalent zum deutschen Begriff »Naher Osten« in englischer Sprache,9 kam erst um 1900 auf.10 Der US-amerikanische Marineoffizier Alfred Thayer Mayan und der Times-Korrespondent Valentine Chirol prägten den Begriff unabhängig voneinander. Er bezeichnete zunächst die maritimen Zugänge zum britischen Kolonialreich in Südasien und hatte damit einen regionalen Fokus, der viel weiter östlich lag als heute. Der schon etwas früher geprägte Begriff »Near East« dagegen umfasste die Gebiete, die das Osmanische Reich vor

8 Man betrachte die sehr anschaulichen Visualisierungen unterschiedlichster räumlicher Definitionen des Nahen Ostens auf der Webseite des Carolina Center for the Study of the Middle East and Muslim Civilizations; URL: mideast.unc.edu/where/ [04.06.2016]. 9 Der im Deutschen deutlich seltener verwendete Begriff »Mittlerer Osten« bezeichnet die über die Kerngebiete des Nahen Ostens in östlicher Richtung hinausreichenden Gebiete wie Iran, Pakistan und Afghanistan. Das Englische hat kein Pendant zu diesem Begriff. Der »Mittlere Osten« wird vermutlich dasselbe Schicksal erleiden wie der deutsche Begriff »Mittelasien«, der heute durch den aus dem anglo-amerikanischen Sprachgebrauch stammenden Terminus »Zentralasien« (Central Asia) überlagert worden ist. 10 Es ist übrigens auffällig, dass die Entstehung des Begriffs »Naher Osten«, als Parallelbegriff zu »Middle East«, kein Gegenstand der deutschsprachigen Forschung gewesen ist. In der von ihm eingesehenen Literatur konnte jedenfalls der Verfasser dieses Beitrags keine Hinweise auf diese Frage finden. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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seinem im 18. Jahrhundert beginnenden Schrumpfungsprozess beherrscht hatte.11 Im Begriff »Near East«› der Südosteuropa, Kleinasien und die östliche arabische Welt umfasste, steckte zum einen die Annahme einer irgendwann einmal unvermeidlichen Auflösung des Osmanischen Reichs, und zum anderen kam in ihm zum Ausdruck, dass diese Regionen in einer deutlich engeren Wechselwirkung mit Europa standen als die weit entfernten britischen kolonialen Besitzungen in Südasien. Mit der Abwicklung des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg und der damit entstehenden Ruptur zwischen Südosteuropa und dem Nahen Osten verlor der »Near East« sein ursprüngliches Bedeutungsareal. Eigentlich hätte dieser Begriff weiter nach Südosten wandern können, aber in den folgenden Jahrzehnten setzte sich der Begriff »Middle East« durch, der seinen Mittelpunkt nun in der östlichen arabischen Welt hatte. »Middle East« bzw. »Naher Osten« sind mithin unscharfe, geographisch mäandernde Begriffe, aber sie bezeichnen etwas, das – zumindest aus westlicher Perspektive – offenbar nach Bezeichnung verlangte. Die Grenzen dessen, was der Nahe Osten ist, mögen außerordentlich dehnbar sein, aber ein epistemischer Kern besteht doch bei aller Unbestimmtheit. Genauer gesagt, die Unbestimmtheit des Begriffs hatte gerade den Vorteil, ein auf die Region bezogenes politisches Handeln sowohl angezeigt als auch offen erscheinen zu lassen.12 Ein derartiges, selbst erteiltes imperiales Mandat – und damit der Begriff – erwies sich als langlebiger als der europäische Imperialismus. Die Eisenhower-Doktrin von 1957 war die erste US-amerikanische Doktrin, die sich direkt auf den Nahen Osten bezog und sich den Schutz der Region vor sowjetischem Einfluss zum Ziel setzte. Die Schwammigkeit des »Middle East« war hierbei von besonderer Hilfe, weil sich damit die USA das Recht vorbehielten, in einer nur schwach konturierten Region überall dort zu intervenieren, wo sie ihre Interessen gefährdet oder neue Chancen für sich entstehen sahen.13 Die Grenzen des Nahen Ostens veränderten sich also gemäß den strategischen Interessen der in der Region engagierten Großmächte. Mit einem Wort: Gerade die Unschärfe des Begriffs begründete seine Persistenz. Aus dem Arabischen entlehnte Begriffe helfen nicht recht weiter. Die europäischen Sprachen kennen – im Gegensatz zum »Maghrib« (Maghreb) – nicht das arabische Wort »Mashriq« (Maschrek).14 Die in arabischen Kontexten meist übliche Benennung »arabisches Heimatland« (al-watan al-ʿarabi) ist an den sprachlichen Realitäten der Region orientiert,15 aber in ihren politischen Dimensionen 11 Die bei Hogarth (1902) zu findende Karte (auf dem Frontispiz) zeigt weitgehend die Umrisse des Osmanischen Reiches, allerdings mitsamt Westiran. 12 Davison 1960, S. 675. 13 Khalil 2014, S. 323, 341. 14 Maghreb bedeutet wörtlich »dort, wo die Sonne untergeht«, Maschrek »dort, wo die Sonne aufgeht«. Es handelt es sich also um eine Raumkategorisierung, deren Beobachterwarte am besten in Ägypten zu lokalisieren ist. 15 Culcasi 2012.

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keineswegs neutral.16 Ein Begriff, wie »Arabische Welt«, könnte ohnehin nicht den so sehr mit verschiedenen Konnotationen aufgeladenen ›»Nahen Osten« ersetzen.17 Der Begriff »Naher Osten« setzt grundsätzlich die Dominanz eines externen Hegemons (bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Großbritannien, anschließend die USA, bis 1990 zum Teil in Konkurrenz mit der Sowjetunion) voraus. Definierende Hauptfaktoren des Nahen Ostens und seiner potentiellen Konfliktszenarien sind zudem das Streben des Hegemons und seiner Verbündeten nach einer möglichst reibungslosen Versorgung der Weltwirtschaft mit Öl, der Eindämmung des israelisch-arabischen Konflikts, regionaler Stabilität (verstanden als realpolitische Zusammenarbeit mit autoritären Regimen) und der Eindämmung »islamistischer« Strömungen.18 Entscheidend ist jedoch die flexible Verknüpfung und Vermengung dieser Faktoren zu einem gemeinsamen Handlungs- und Deutungsrahmen und nicht das Vorhandensein eines einzelnen Bestandteils. So spielte bis in die späten 1970er Jahre hinein in der Definition des Nahen Ostens der Faktor Religion nahezu keine Rolle. Im Deutschen wiederum ist der Begriff »Nahostkonflikt« oft nichts anderes gewesen als eine Umschreibung für den israelisch-palästinensischen Konflikt, verbunden mit der vagen Idee, dass dieser Konflikt in ein weitaus größeres und diffuses Konfliktszenario eingebunden sei. In den letzten Jahren aber, so scheint es, ist gerade dieser israelisch-palästinensische Konflikt aus dem Kernbestand des »Nahen Ostens« ausgewandert. Der Konflikt hat sich eingekapselt und erscheint auf eine merkwürdige Weise von den neuen Konfliktszenarien, wie dem Krieg in Syrien, abgelöst zu sein. Zumindest die israelische Politik scheint mit dieser Form einer abgekapselten Unlösbarkeit gut leben zu können und von der jetzigen Situation eher zu profitieren,19 vergleichbar etwa mit dem Zypern-Konflikt – allerdings mit einer in humanitärer und politischer Hinsicht sehr viel schwierigeren Situation für die Palästinenser in der West Bank und im Gaza-Streifen. Halten wir fest, dass für den Nahen Osten die Position einer kontrollierten Distanz konstitutiv ist. Der Nahe Osten ist nah, aber unmittelbar an »uns« dran ist er auch nicht. Er konnotiert zudem eine gewisse, auch europäische oder westliche Belange tangierende Konfliktanfälligkeit, nicht aber Unbeherrschbarkeit. Eine der entscheidenden Veränderungen in den letzten Jahren ist, dass diese beiden Grund-

16 Die Arabische Liga, ein 1945 gegründeter Zusammenschluss von derzeit 22 Mitgliedern (einschließlich Palästinas), gründet auf der Idee der Zugehörigkeit zur arabischen Sprache. Zu der sich als »arabisches Parlament« verstehenden Liga gehört das nichtarabischsprachige Somalia, die Unabhängigkeitsbewegung der Westsahara wiederum findet keine Anerkennung; URL: lasportal.org/ar/Pages/default.aspx [26.07.2016]. 17 Der in der politik- und sozialwissenschaftlichen Literatur sehr häufig gebrauchte Begriff der MENA-Region (Middle East & North Africa) ist der wohl bisher beste Versuch, eine nüchterne geographische Bezeichnung anstelle des »Middle East« zu finden. 18 Bilgin 2015, S. 21. 19 Siehe als Beispiel für eine solche Einschätzung Noe 2015. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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charakteristika des Nahen Ostens, nämlich die einer kontrollierten Distanz und einer kontrollierbaren Konfliktanfälligkeit, zunehmend in Frage stehen. Die Krise des Nahen Ostens Die Krise des Nahen Ostens ist real. »Wenn wir nach der einen großen Überschrift suchen, die die Ereignisse und Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten seit 2011 und mehr noch seit 2013/2014 charakterisiert und welthistorisch einordnet, dann scheint das Wort ›Ordnungszerfall‹ angemessen.«20 In der Tat, der Ordnungszerfall in den Ländern Irak, Jemen, Libyen und Syrien ist offensichtlich. Volker Perthes relativiert seine Feststellung allerdings durch den (bereits im Titel des Buches festgehaltenen) Vorbehalt, dass der Nahe Osten als solcher nicht aufgehört habe zu existieren; zu einem Ende gekommen sei nur der Nahe Osten, so »wie wir ihn kennen«. Außer Frage steht, dass die US-geführte Besetzung des Iraks im Jahr 2003, als Teil des Kampfes gegen die »Achse des Bösen«, ein verhängnisvoller Schritt war. Trotz all ihrer Fehler, zum Beispiel im Vorfeld der Revolution in Iran 1978/79,21 war die US-amerikanische »Nahost«-Politik in den Jahrzehnten zuvor eher zurückhaltend gewesen und hatte nicht auf Regimewechsel, sondern auf den (in der Binnensicht dieser Politik) oft notwendigerweise zynischen Erhalt gegebener politischer Strukturen gesetzt. Der US-amerikanische Einmarsch im Irak 2003 widersprach dieser Politik eines zurückhaltenden und kühl berechnenden Hegemons. Die Konsequenzen der Fehlentscheidung eines einzelnen US-Präsidenten – ablesbar an dem Staatszerfall im Irak, der Stärkung Irans als Regionalmacht und dem Aufstieg von Organisationen, wie dem Islamischen Staat, – absorbieren die Kapazitäten US-amerikanischer Nahostpolitik bis heute. Auch der syrische Bürgerkrieg oder wenigstens seine Eskalation sind ohne die amerikanische Nahostpolitik nicht zu begreifen. Der Versuch des Regimes, den Aufruhr in der syrischen Zivilgesellschaft im Jahr 2011 mit dem Mittel abschreckender Brutalität zu unterdrücken, schlug fehl. Die Erfahrungen des Irak-Debakels hielten die Obama-Administration davon ab, sich tiefer in die Konflikte der Region hineinziehen zu lassen. Durch die Lücke, die der gehemmte Hegemon ließ, hat sich »eine Pluralisierung der externen Akteure und Einflusskanäle« ergeben.22 Voraussagen über die Erfolgsaussichten der neu aufgetretenen Ersatz- sowie Teil-Hegemone lassen sich nur schwer treffen. So werden neuerdings – angesichts der durchgehenden Schwäche der arabischen Staaten, mit Ausnahme vielleicht

20 Perthes 2015, S. 7. 21 Hinweise zur verhängnisvoll einseitigen Unterstützung des Schah-Regimes durch die USA finden sich in jeder Darstellung der modernen iranischen Geschichte, siehe zum Beispiel Keddie 2003. Zum Höhepunkt der iranisch-US-amerikanischen Konfrontation nach der »Islamischen Revolution« in Gestalt der Geiselkrise (November 1979 bis Januar 1980) siehe Farber 2005. 22 Demmelhuber 2014, S. 170.

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von Saudi-Arabien – Iran und die Türkei als Aspiranten gehandelt.23 Zu bedenken ist jedoch, dass ein größerer Teil der Bewegungsfreiheit der Türkei sich der Sicherheit verdankt, (bislang zumindest) fest in der NATO verankert zu sein. Iran, ein aus westlicher Sicht isolierter Staat, hat mehr Manövrierraum als die Türkei. Es handelt sich um den zentralen Patronatsstaat für die schiitischen Bevölkerungen des gesamten westlichen asiatischen Raums einschließlich Zentralasiens. Die Lage der Region ist zweifellos sehr kritisch. Aber hat die Region eine so tiefe Änderung erfahren, dass man definitiv von einer Nach-Nahost-Ordnung sprechen muss? Der Staatszerfall in den beiden Ländern Jemen und Libyen dürfte, eine äußere Eindämmung der Konflikte vorausgesetzt, die politische Grundordnung der Region nicht grundsätzlich gefährden. Syrien und Irak haben, abgesehen von den Auswirkungen auf das jeweils andere Land, weitere Staaten noch nicht mit in den Strudel des Krieges gezogen. Der notorisch labile Libanon hat, trotz all seiner inneren Blockaden und der konfessionalistischen Konstruktion seines politischen Systems, eine – gemessen an seiner Bevölkerungsanzahl – außerordentlich hohe Zahl an Flüchtlingen aus Syrien aufgenommen, ohne ernstlich Zerfallserscheinungen zu zeigen. Jordanien, mit seinem großen Bevölkerungsanteil an Palästinensern, hat die Aufnahme sehr vieler Flüchtlinge aus Syrien ebenfalls erstaunlich gut bewältigt.24 Mit Ausnahme Syriens und des Iraks, deren zukünftige Beschaffenheit noch nicht absehbar ist, deutet mithin nichts auf eine radikale Änderung der Grundordnung im Nahen Osten hin. Der Befund, dass das Staatensystem des Nahen Ostens im Rückblick auf die letzten einhundert Jahre stabiler als das Europas gewesen ist, muss nach heutigem Erkenntnisstand noch nicht revidiert werden.25 Die ersten Monate der Arabellion widersprachen verbreiteten Annahmen in der westlichen politikwissenschaftlichen Literatur über die vermeintliche Persistenz eines im Nahen Osten tief verwurzelten Autoritarismus.26 Die Forderungen nach mehr politischer Teilhabe, nach größerer sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit waren pragmatischer Natur und nicht ideologisch geleitet. Die Arabellion 23 Ayoob 2014. 24 Im Libanon leben 1,03 Millionen syrische Flüchtlinge bei einer Gesamtbevölkerung von rund 6,2 Millionen; in Jordanien 660.000 syrische Flüchtlinge bei einer Gesamtbevölkerung von rund 9,5 Millionen. Mit 2,7 Millionen Flüchtlingen hat die Türkei mehr als die Hälfte der knapp 5 Millionen syrischen Flüchtlinge aufgenommen; sie ist allerdings aufgrund ihrer weitaus größeren Bevölkerung deutlich weniger belastet als Jordanien und Libanon. Zu den aktuellen Zahlen siehe United Nations High Commissioner for Refugees: Syria Regional Refugee Response; URL: data.unhcr.org/syrianrefugees/re gional.php [27.07.2016]. 25 Gelvin/Toumi 2016. 26 Gerges (2014, S. 18-26) argumentiert, dass die Theoretiker und Generalisten in den Nahoststudien sich abzeichnende kleine Fissuren in der Gesellschaft nicht erkennen konnten und deren Argumente zudem oft durch kulturalistische Annahmen über die »Natur« des Nahen Ostens verfälscht wurden. Beispielhaft für eine nahezu essentialistische Annahme eines tief verwurzelten Autoritarismus in der arabischen Welt ist Pawelka 2008. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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stand für ein gemeinsames Aufbegehren und besaß, insofern revoltierende Massen und nicht charismatische Führer das Handeln bestimmten, zudem einen »unheroischen« Charakter.27 So sehr das Geschehen in Widerspruch zu Grundannahmen über die politische Natur des Nahen Ostens stand, so sehr bestätigte die Arabellion auf der anderen Seite die Existenz des Nahen Ostens als einen zusammenhängenden Resonanzraum, umso mehr, als man die Proteste nach den iranischen Präsidentschaftswahlen 2009 in Iran als Vorspiel und die Gezi-Park-Proteste in der Türkei im Sommer 2013 als Ausläufer der Arabellion ansehen kann. Die Arabellion bot in den ersten Wochen und Monaten ein hoffnungsvolles Bild einer möglichen demokratischen Entwicklung der Region, aber den Nahen Osten hat sie nicht aus den Angeln gehoben. Die Widerstandsfähigkeit der nahöstlichen autoritären Regime zeigte sich wieder einmal in Form einer sehr steilen Lernkurve wenige Monate, nachdem die Arabellion sie herausgefordert hatte.28 Die Golfmonarchien, allen voran SaudiArabien, so oft als kurz vor dem Abgrund stehende verknöcherte politische Systeme beschrieben, sitzen innen- und außenpolitisch fest im Sattel. Sie konnten als Rentierstaaten ein Füllhorn von finanziellen Zuwendungen über ihrer jeweiligen Bevölkerung ausschütten. Die Arabellion in Bahrain wurde mit Hilfe saudischer Truppen rasch zerschlagen. Da die Proteste in Bahrain und Saudi-Arabien von den marginalisierten schiitischen Bevölkerungsgruppen – in Bahrain stellen die Schiiten sogar die Bevölkerungsmehrheit – getragen wurden, konnten die berechtigten sozialen und politischen Anliegen leichthin als von Iran gesteuerte subversive Tätigkeiten verunglimpft werden. Die Waffe des Konfessionalismus eignet sich bekanntlich gut für innenpolitische Mobilisierung und Manipulation,29 aber sie kann rasch der Kontrolle entgleiten. Der auch aus kurzfristigen taktischen Erwägungen heraus verschärfte konfessionalistische Konflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien stellt tatsächlich eine Gefahr für die politische Stabilität der Region dar. Es wäre aber eine zu einseitige Einschätzung, konfessionalistische Konfliktkonstellationen als das prägende Element der politischen Zukunft der Region aufzufassen.30 Ein weiterer Faktor, der zu größerer Dynamik und zugleich Instabilität geführt hat, ist die erneute Öffnung der »kurdischen Frage«. Bis 2011 war die nationale Frage der Kurden weitgehend eingeschlossen gewesen in die jeweiligen nationalstaatlichen Kontexte der vier Staaten Irak, Iran, Syrien und Türkei. Die kurdische Entität im Nordirak hatte seit den frühen 1990er Jahren eine gewisse Eigenstaatlichkeit gewonnen. Selbst die Türkei, die sich am ehesten von einer kurdischen Nationalbewegung bedroht sieht, stellte einvernehmliche Beziehungen mit dem nordirakischen Kurdistan her, wenn auch unter der Bedingung, dass das irakische 27 28 29 30

Al-Azm 2011, S. 227. Heydemann/Leenders 2014. Matthiesen 2013; Al-Rasheed 2014. Autoren wie Nasr (2007) zeichnen ein zu ausschließlich sunnitisch-schiitisches Konfliktszenario für die Zukunft.

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Kurdistan keine irredentistischen Pläne verfolgte. Das nordirakische Kurdistan erwies sich gar als lohnender Handelspartner, seitdem der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen 1996 beschlossen hatte, dass 13% der irakischen Erdöleinkommen der kurdischen Entität zustehen.31 Die Kurden sehen sich selbst als die größte nationale Minderheit weltweit ohne einen eigenen Staat. Im Pariser Vortrag-Vertrag von Sèvres 1920, der aber wegen des Widerstands der türkischen Nationalbewegung unter Mustafa Kemal (Atatürk) nicht umgesetzt werden konnte, war die Möglichkeit eines kurdischen Staates im heutigen Südostanatolien – allerdings nur in vager Weise – vorgesehen gewesen. Im Vertrag von Lausanne, der 1923 die Erfolge des türkischen Unabhängigkeitskriegs berücksichtigte und die neue Republik Türkei völkerrechtlich anerkannte, war von den Kurden keine Rede mehr. Seit 2012 schienen sich für die Kurden Gelegenheiten zu ergeben. Die Kurden im Irak und in Syrien waren – zumindest bis zum Sommer 2016 – geschätzte Partner im Kampf gegen den Islamischen Staat. Ankara verhandelte mit der türkischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die Entstehung von kurdischen Enklaven in Nordsyrien und die gezielte innenpolitische Polarisierung in der Türkei nach den Wahlen am 7. Juni 2015, die eine erneute heftige Konfrontation zwischen türkischem Staat und kurdischer Nationalbewegung bewirkte,32 hat die Welt der Möglichkeiten für die Kurden indes schon wieder schrumpfen lassen. Es ist derzeit kaum vorstellbar, dass das kurdische Moment zu einer grundsätzlichen Umwälzung der Region führen könnte. Führen nun all diese Änderungen, die von der Arabellion ausgelösten internen sozialen Dynamiken, der Staatszerfall in mehreren Ländern, der Teilrückzug des Hegemons USA, die Vielfalt erstarkter Akteure, wie der Türkei und Iran, die Herausforderung durch den Islamischen Staat und die Öffnung der Kurdenfrage, in der Summe zu einer vollständig neuen Konstellation? Die Antwort muss sein: Die Krise des Nahen Ostens als einem realen politischen Gefüge ist offensichtlich. Weniger sichtbar, aber von vielleicht nicht minderer Bedeutung ist der Zusammenbruch des Nahen Ostens als epistemisches System. Anhand des Islamischen Staates (IS), eine Folge der Kriegssituation im Irak seit 2003 und in Syrien seit 2011, lässt sich diese Behauptung näher ausführen: Der IS ist beängstigend in seiner Radikalität und Gewalt, aber in seiner Eigenschaft als einer Teilorganisation eines globalen Dschihad und als Parasit zerstörter staatlicher Strukturen ist er nicht einzigartig, wie die Länder Afghanistan, Jemen und Libyen zeigen. Der IS mag eine revolutionäre Bewegung sein, seine Machtbasis aber ist zu klein, um als zusammenhängendes Gebilde über seine derzeitige Heimatbasis hinaus wirksam werden zu können.33 Insofern also nichts grundsätzliches Neues im Nahen Osten. Eine entscheidend neue Fähigkeit des Islamischen Staates ist jedoch, unmittelbare Wirkungen von großem Gewicht hinein in die

31 Bozarslan 2009, S. 76. 32 Seufert 2015, S. 9. 33 Walt 2015. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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europäischen Gesellschaften zu entfalten. Neben der bemerkenswerten Anziehungskraft des IS für Musliminnen und Muslime in Europa, die sich auf den Weg machen, um für den IS zu kämpfen,34 steht seine Fähigkeit, in Europa ein grundsätzliches Gefühl der Bedrohung und der Exponiertheit zu verursachen. Dies ist ein Konfliktszenario, das mit der vertrauten epistemischen Struktur des Nahen Ostens nicht mehr vereinbar ist. Die Rückkehr des »nahen« Nahen Ostens David Fromkin wagt in seinem Buch A Peace to End all Peace eine große historische Spekulation. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches könne mit dem Ende des Römischen Reiches im fünften Jahrhundert verglichen werden. Fromkin bezieht sich bei diesem Argument auf den häufig angeführten Umstand, dass man das Osmanische Reich als Teilerbe von Byzanz ansehen könne, dass also das Osmanische Reich die lange Tradition einer imperialen Herrschaft im östlichen Mittelmeerraum bis ins 20. Jahrhundert fortgeführt habe. Der Zusammenbruch dieser rund 2000 Jahre währenden imperialen Ordnung habe eine tiefe zivilisatorische Krise hervorgerufen. An der langen Suche Europas nach einer stabilen poströmischen Ordnung lasse sich ermessen, so legt Fromkin nahe, dass die einhundert Jahre seit dem Untergang der byzantinisch-osmanischen imperialen Raumordnung nur eine erste Etappe sein könnten.35 So reizvoll derartige historische Spekulationen sein mögen, unklar bleibt, wo genau der gegenwärtige Beobachter sich befindet. Bedeuten die Arabellion und ihre Folgen die Auflösung der letzten prägenden Strukturelemente des Osmanischen Reiches? Oder ist es vielmehr so, dass nach dem vorübergehenden Zwischenspiel einer westlichen Dominanz der große Ordnungszerfall erst noch bevorsteht? Für die Vermutung, dass der »Middle East« nur eine hundertjährige Episode gewesen sein könnte, sprechen die erschreckende Zunahme von Tod und Gewalt im Nahen Osten, vor allem aber der Umstand, dass die epistemische Leistungsfähigkeit des Begriffs »Naher Osten« für die europäischen Gesellschaften nicht mehr funktioniert. Was wir vielmehr sehen, ist die Rückkehr des »Near East«, also eines »nahen Nahen Ostens«, dessen grundsätzlichste Eigenschaft ist, dass die Geschehnisse in diesem nahen Nahen Osten systemisch mit den politischen Entwicklungen und Verhältnissen in Europa verbunden sind. Vor dem Ersten Weltkrieg war der damalige »Near East« geprägt von europäischer Dominanz und kontrollierbarer Konfliktivität, um dann im Kataklysmus der Balkankriege (1912-1913) und des Ersten Weltkriegs unterzugehen.36 Seit der 34 Deutschland und Frankreich weisen auf jeweils eine Million Bewohner 9 bzw. 14 Freiwillige auf, die sich dem IS angeschlossen haben, Österreich und Belgien dagegen bemerkenswerte 31 bzw. 41; siehe hierzu die Datenanalyse in The Economist 2016. 35 Fromkin 1989, S. 565. 36 Zur Anwendung des Begriffs »Kataklysmus« auf die als eine Einheit zu sehende Abfolge von mehreren Kriegen (Tripolitanien-Krieg 1911, Balkankriege 1912-13, Erster Weltkrieg und Türkischer Unabhängigkeitskrieg 1919-1922) siehe Kieser et al. 2015.

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ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Osmanische Reich als Folge einer Pattsituation zwischen den europäischen Mächten als Eckstein in das internationale Mächtegleichgewicht eingemauert gewesen: »Im Kern war die ›Orientalische Frage‹ des neunzehnten Jahrhunderts daher das schwierige Problem, wieviel vom Osmanischen Reich in welcher Form im Interesse der europäischen Mächte unbedingt erhalten werden musste.«37 Das Osmanische Reich war jedoch nicht nur Sorgenkind, sondern »einer der entscheidenden regulativen Faktoren«38 des europäischen Mächtesystems, also eine Art Überdruckausgleichsgefäß des europäischen Staatensystems. Im und am damaligen Nahen Osten hatte jeder europäische Teilnehmer gewissermaßen Sonderziehungsrechte. Erst als diese »Bank« in den beiden Balkankriegen in den Jahren 1912/13 in den Bankrott getrieben wurde, brach das System des internationalen Interessenausgleichs endgültig zusammen.39 Würde man Alexander Schölchs Formulierung auf die heutige Situation übertragen und fragen, wie viel vom Nahen Osten in welcher Form im Interesse des Westens unbedingt erhalten werden muss, wären die Golfstaaten, mit Saudi-Arabien als unaufhebbarem Kern, zu nennen. Eine radikale Transformation der Golfstaaten mit einer völligen politischen und ökonomischen Neuausrichtung würde das faktische Ende des Nahen Ostens bedeuten. Die erstaunliche Stabilität der Golfstaaten verdankt sich – wie bereits ausgeführt – deren starken ökonomischen und belastbareren Legitimitätsressourcen. Es scheint so, dass die scharfe Trennung zwischen dem erschreckenden Staatszerfall in Syrien und Irak einerseits und der erstaunlichen Stabilität der Golfstaaten andererseits für die Herausbildung eines neuen regionalen Ordnungsmusters steht.40 Für die Vormoderne lassen sich über Jahrhunderte hinweg stabile Interaktionsräume beschreiben, die erst im 20. Jahrhundert durch den Begriff »Naher Osten« zusammengeführt wurden. Neben einem persisch geprägten innerasiatischen Aktionsraum tritt der des Indischen Ozeans, zu dem auch größere Teile der Arabischen Halbinsel zu rechnen sind, zumindest diejenigen, die an den Indischen Ozean und dessen benachbarte Teilmeere (Persischer Golf, Rotes Meer) angrenzten.41 Hinzu kommt als dritter Interaktionsraum ein mediterraner Großraum, der im östlichen Mittelmeer die meerzugewandten Teile des Nahen Ostens, die heutige Türkei und Südosteuropa umfasste.42 Dieser mediterrane Interaktionsraum entspricht in etwa dem, was um 1900 als der »Near East« bekannt war. 37 38 39 40

Schölch 1987, S. 383. Gall 1982, S. 4. Yapp 1987, S. 90-92. Jordanien wäre dann zum Beispiel ein interessanter Übergangskandidat, einerseits in seinem Charakter als »Ausgründung« der Golfmonarchien, andererseits in seiner prekären Verflochtenheit mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt. 41 Die meisten der heutigen Staaten auf der arabischen Halbinsel verdanken ihre Existenz einem System von Verträgen und Protektoraten, die von den britischen Kolonialbehörden in Indien gesteuert wurden; siehe Low 2014. 42 Green 2014. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Wenn nach dem Ersten Weltkrieg der alte »Near East« verschwand, dann wohl auch deswegen, weil nun – im Rahmen des neu entstehenden »Middle East« – keine direkte Interaktion mehr mit Europa bestand. Was den »Near East« in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nämlich ausgemacht hatte, war die sehr viel stärkere Einbindung der Region in das europäische Mächtegleichgewicht. Konstitutiv für den vormaligen »Near East« war unter anderem das im Balkan aufgespeicherte innereuropäische Konfliktpotential. Christopher Clark hat sehr anschaulich beschrieben, wie groß die Bedeutung des Balkans für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs war. Für die Entente-Mächte bedeutete ein größerer Konflikt auf dem Balkan, dass dieser sich unweigerlich zu einem innereuropäischen Krieg ausweiten musste.43 Ist es heute erneut der Balkan, der durch eine besondere Konfliktlatenz den Kern des neuen nahen Nahen Ostens darstellt? Wohl kaum. Der ausschlaggebende Staat scheint gegenwärtig vielmehr die Türkei zu sein. Die Türkei: Schlüsselstaat und Blockadestein Blickt man auf die Außenpolitik der Türkei seit den 1990er Jahren, fällt auf, dass es eine gewisse Diskrepanz zwischen den eigenen Ambitionen und den wirklichen Möglichkeiten gab und gibt. So scheiterten in den 1990er Jahren hochfliegende Pläne zu einer türkischen Dominanz in den Turkstaaten Zentralasiens, unter anderem an der allzu starken Verankerung Russlands in der Region. Ähnliches lässt sich beobachten für die Pläne der AKP-Regierungen seit den 2000er Jahren, eine bestimmende Rolle in den ehemals osmanischen Herrschaftsgebieten einzunehmen. Jahrzehntelang fand sich die Türkei als »Vorposten« der NATO in einer fest vorgegebenen strategischen Position eingemauert. Daher fehlt es der Türkei wohl an Erfahrung, dass eine selbstständigere Außenpolitik unvorhergesehene Implikationen haben kann. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Nichtbeachtung der »kurdischen Frage« ist ein fester Bestandteil der Ordnung des Nahen Ostens nach dem Ersten Weltkrieg gewesen. Wenn die türkische Regierung sich in den letzten Jahren zum Fürsprecher einer Auflösung der Sykes-Picot-Ordnung gemacht hat, dann setzt sie – ohne sich dieser Konsequenz anscheinend bewusst zu sein – die aus ihrer Warte ein für alle Mal beantwortete kurdische Frage auf die politische Agenda.44 Die Vorstellung von der Zentralität der Türkei in der Region ist auch bekannt unter dem eher kulturalistisch konnotierten Begriff des Neo-Osmanismus, der zu 43 Siehe insbesondere die Ausführungen von Clark (2012, S. 351ff., 481, 559) zum »Balkan inception scenario«. 44 Der damalige türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu wandte sich 2013 in einer Rede ausdrücklich gegen die Sykes-Picot-Ordnung: »Es ist unmöglich, eine neue Zukunft von Staatlichkeit [in der Region] zu errichten, wenn sie auf einander sich beschuldigenden nationalistischen Ideologien beruht und den Sykes-Picot-Kartenwerken, kolonialer Verwaltung und künstlich gezogenen Grenzen geschuldet ist. Wir werden diese uns von Sykes-Picot vorgegebene Schablone aufbrechen.« Davutoğlu 2013.

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einer Besinnung auf die eigenen kulturellen Wurzeln und damit die Potentiale eines ehemaligen Imperiums aufruft. Die Türkei könne, bezugnehmend auf eine gemeinsame religiöse Zugehörigkeit und die gemeinsame Erfahrung einer pax ottomanica, in den Ländern des ehemaligen Herrschaftsbereiches des Osmanischen Reiches und sogar darüber hinaus eine selbstbewusste und produktive Rolle als Ordnungsmacht spielen. Der türkische Neo-Osmanismus ist Ausdruck einer sentimentalen Bindung an vergangene Größe in Verbindung mit einem falschen Verständnis für reale Machtgrundlagen. Aber ist er nicht auch eine intuitive Antwort auf verschobene Machtgewichte in der Region? Die Gleichzeitigkeit eines Abschieds des Nahen Ostens, so »wie wir ihn kannten«, und des Hinzutretens eines neuen nahen Nahen Ostens lässt sich am außenpolitischen Selbstverständnis der Türkei besonders gut ablesen. Einerseits hat die Türkei ihre Mitgliedschaft in der NATO noch nicht grundlegend in Frage gestellt. Die militärischen Unternehmungen der NATO-Staaten gegen den Islamischen Staat trägt sie grundsätzlich mit. Andererseits verfolgt die Türkei im Syrienkrieg zugleich eine gänzlich eigenständige Politik. Auch das Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei vom Frühjahr 2016 steht für diese Ambivalenz: Neue Kommunikationsräume und Migrationsrouten sind entstanden: Die Balkanroute wäre für Flüchtlinge und Migranten in den 1980er Jahren noch eine einzige Abfolge von unüberwindlichen Grenzen gewesen. Das Flüchtlingsabkommen antwortet auf diese Veränderung und weist der Türkei, wie schon in ihrer jahrzehntelangen Mitgliedschaft in der NATO, die Eigenschaft eines Blockadesteins zu, der den Ausgang des Nahen Ostens nach Europa versperren soll. Während aber die Türkei in der NATO-Mitgliedschaft einen Gewinn sah (und größtenteils wohl noch sieht), lässt sie sich für die Leistungen, die sie im Rahmen des Flüchtlingsabkommens erbringt, direkt bezahlen beziehungsweise stellt diese wiederholt zur Disposition.45 Das Verhältnis zwischen der Türkei und den europäischen Staaten war immer von gegenläufigen Identitätsdiskursen auf beiden Seiten überschattet, aber in den letzten Jahrzehnten zugleich von einer pragmatischen politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit geprägt. Für die nähere Zukunft lässt sich, vorsichtig gesprochen, viel Bewegung im europäisch-türkischen Verhältnis erwarten. Die Mitgliedschaft in der NATO bedeutete für die Türkei immer eine enge Beziehung zu den Vereinigten Staaten, jenseits von den identitätspolitischen Komplikationen und Trübungen, die sich im Verhältnis zur Europäischen Union immer wieder einstellten. Aber selbst für Washington droht das Verhältnis zur Türkei in Zukunft »ähnliche Grade von Komplexität und gelegentlich Aberwitz anzunehmen wie jenes zu Pakistan«.46

45 Frankfurter Allgemeine Zeitung 2016. 46 Ammann 2016. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Die Krise des Nahen Ostens als europäische Krise Fernand Braudel hat in seinem bekannten Mittelmeerbuch in einer luziden Nebenbemerkung die »islamische Toleranz« des Mittelalters in einem demographischen Ungleichgewicht ausgemacht: »Auf der einen [christlichen] Seite zu viele Menschen und zu wenig Pferde, auf der anderen [muslimischen] zu viele Pferde und zu wenig Menschen. Dieses Ungleichgewicht könnte der Grund sein für die Toleranz des Islams: Er wäre zu allzu glücklich über jeden Zuwachs an Menschen, ganz gleich welcher Herkunft, vorausgesetzt, sie blieben in Reichweite.«47

Die europäische Welt, auch wenn sie laut demographischer Projektion zu wenig Menschen besitzt, ist heute keineswegs glücklich über den Zuwachs von Menschen, den ihr die neuen Migrationsrouten zuführen. Und glücklich sind die europäischen Gesellschaften nicht über die Wiederkehr des nahen Nahen Ostens, auch wenn sie diese eher intuitiv spüren. Die europäische Politik jedenfalls muss rasch eine Antwort darauf finden, dass das Konstrukt des »Middle East« nicht mehr trägt. Dies bedeutet nicht, dass der Nahe Osten, als reale Entität und epistemischer Begriff, untergegangen wäre. Es wäre unsinnig, einen eigenen Raum der Arabischen Halbinsel konstruieren zu wollen, der mit dem heutigen Syrien und Irak nichts zu tun hat. Zu offensichtlich ist etwa die außenpolitische Bedeutung SaudiArabiens und der Golfstaaten für Syrien und Irak. Dennoch gibt es Schauplätze des nahen Nahen Ostens, in denen die Golfstaaten keine Rolle spielen. Der Migrationsdruck, zu dessen Hegung die europäische Staatengemeinschaft bisher nur sehr schwer Mittel findet, betreffen nicht die arabischen Golfstaaten, deren durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen durchaus dem der westeuropäischen Staaten entspricht. Die Golfstaaten ziehen zwar Migration an, aber zu ihren eigenen Bedingungen, die auf soziale Segregation und Abschottung von den einheimischen Sozialsystemen abzielen.48 Die europäischen Staaten dagegen werden in den kommenden Jahren weiterhin einer hohen Zahl von Migrantinnen und Migranten gegenüberstehen. Schon allein die, angesichts der hohen Zuwanderungszahlen, unvermeidbar großen Diasporen ziehen erfahrungsgemäß weitere Migration nach sich. Die europäischen Gesellschaften sind mit einem höheren Grad an kulturell gewachsenem Vertrauen und als ausgeprägte Wohlfahrtsstaaten negativen Auswirkungen von Migration weitaus eher ausgesetzt als etwa Einwanderungsstaaten wie die USA.49 Die europäischen Gesellschaften werden für die mit dieser demographischen Dynamik einhergehenden Kultur- und Verteilungskonflikte nicht die notwendige Frustrationstoleranz und Geduld aufbringen. Wahrscheinlicher werden sich die Formen

47 Braudel 1990, S. 83. 48 Zum Rekrutierungssystem von Arbeitskräften in Saudi-Arabien vgl. Hertog 2010; zur Konzeption von Staatsbürgerschaft in den Vereinigten Arabischen Emiraten angesichts einer sehr umfangreichen Migrationsbevölkerung vgl. Jamal 2015. 49 Collier 2013, S. 76.

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politischer Regression, wie wir sie in den letzten Jahren in vielen osteuropäischen Staaten beobachten konnten, mit der Verunsicherung und dem Widerwillen gegenüber der Herausforderung der Migration in den westeuropäischen Gesellschaften vermengen. »Realpolitik« (idealtypisch im System des Nahen Ostens zuhause) und humanitäre Anliegen (idealtypisch etwa im Gedanken des Asylrechts) werden nicht mehr getrennt behandelt werden können, sondern müssen bei künftigen Entscheidungen als direkt sich gegenseitige beeinflussende Faktoren auf die Rechnung gesetzt werden. Der problematische Flüchtlingspakt mit der Türkei ist nur eine erste Probe. Willkommen im nahen Nahen Osten! Europa profitierte in den 1990er und 2000er Jahren von neuen Möglichkeiten, sinnfällig dokumentiert durch die Erweiterung der Europäischen Union um ihre osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Nach wie vor ist jedoch die europäische Staatengemeinschaft auf eine Neuordnung der internationalen politischen Konstellationen nicht vorbereitet. Die Zerfallskriege des ehemaligen Jugoslawiens konnte sie nur mit Hilfe der Vereinigten Staaten vorläufig lösen. Der Staat Bosnien-Herzegowina ist ein stillgestellter, aber damit nur aufgeschobener Konflikt. Den Vereinigten Staaten wird es vermutlich gelingen, sich den Folgen des sich neu konstituierenden nahen Nahen Ostens weitgehend zu entziehen. Aber die europäischen Staaten haben diese Möglichkeit nicht. Der bisher so vertraute Nahe Osten als Region permanenter Krisen, die aber in scheinbar naturgegebener Weise keine Rückwirkungen auf die europäischen Gesellschaften haben, ist nicht wieder zu bekommen. Die Tendenz europäischer Gesellschaft hin zu einer »Israelisierung« Europas,50 konfrontiert mit einer ständig wachsenden muslimischen Bevölkerung, die man als latenten Feind ansieht, der man aber doch nicht aus dem Weg gehen kann, und die Versicherheitlichung der Innenpolitik sind düstere, aber sichere Aussichten.51 Die realpolitischen Züge europäischer Politik werden stärker werden – ähnlich zur Reaktion der politischen Klasse Israels, die selbst die frühen Phasen der Arabellion nicht als Chance der Demokratisierung ihrer arabischen Nachbarländer sehen wollte, sondern nur als eine Gefahr für ihre Art der Zusammenarbeit mit den bestehenden autoritären Ordnungen in den arabischen Staaten.52 Bemerkenswert ist jedenfalls an der Entwicklung der letzten Jahre die Entgrenzung und die Aufhebung bisher existierender Raumkonzeptionen, mit denen der Westen im Nahen Osten viele Jahrzehnte vielleicht bisweilen im Dunkeln tappend, 50 Zu einer derartigen Prognose siehe Strenger 2016. 51 Siehe jedoch den Beitrag von Bilgin Ayata in demselben Band, die – auf der Grundlage einer ähnlichen Analyse der Entwicklung – zu einer gänzlich anderen und hoffnungsvoller gestimmten Einschätzung kommt. 52 Shlaim 2014. Siehe auch Jünemann 2013, die schon für die 2000er Jahre – unter dem Eindruck von 9/11 – eine zunehmende Politik der »Versicherheitlichung« durch die Europäische Union gegenüber den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers feststellt. Sehr wenig spricht dafür, dass die Europäische Union zu ihrer in den 1990er Jahren gepflegten Agenda für eine stärkere demokratische Kultur in der größeren mediterranen Region zurückkehren wird. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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aber dennoch leidlich erfolgreich Politik betrieb. Das bisherige Verständnis, dem zufolge es sich beim Nahen Osten um eine von Europa deutlich abgesetzte und entfernte Region handelt, lässt sich nicht mehr halten. Die Aufspaltung des bisherigen Nahen Ostens in einen kontrahierten »Middle East« auf der Arabischen Halbinsel und einen nahen Nahen Osten im Bereich der Levante hat den historischen Vorteil, den Nahen Osten als eine Region kontrollierbarer Konfliktivität mit mittlerer Distanz behandeln zu können, hinfällig werden lassen. Die Karten werden neu gemischt: Die Türkei, deren postimperiale Identität sie so vielgesichtig wirken lässt, steht im Zentrum der Aufmerksamkeit und genießt das Rampenlicht. Südosteuropa erscheint nicht mehr als ein glücklich hinzugewonnener Teil Gesamteuropas, sondern als verletzliche Flanke. Die erwarteten Gewinne aus der Integration Osteuropas und Teilintegration Südosteuropas müssen deutlich tiefer kalkuliert werden. Es fallen zudem unvorhergesehene Aufwendungen aller Art an. Die Zahlen auf der Rechnung für die alten Zustände, mit denen Europa sich den Nahen Osten vom Leib hielt, verschwimmen noch vor den Augen. Sicher aber ist: Über diese Kosten wird noch zu reden sein, wenn die Sykes-Picot-Gedächtnisblumen schon lange verwelkt sind. Literatur Al-Azm, Sadek J. 2011. »The Arab Spring:,Why Exactly at this Time‹?«, in: Reason Papers, 33, S. 223-229. Al-Rasheed, Madawi 2014. »Saudi Internal Dilemmas and Regional Responses to the Arab Uprisings«, in: The New Middle East. Protest and Revolution in the Arab World, hrsg. v. Gerges, Fawaz A. New York: Cambridge University Press, S. 353-379. Ammann, Beat 2016. »Eine immer schwierigere Zweckbeziehung. Der Putschversuch in der Türkei illustriert die zunehmenden Differenzen mit den USA«, in: Neue Zürcher Zeitung, 21. Juli, S. 5. Ayoob, Mohammed 2014. »Turkey and Iran in the Era of the Arab Uprisings«, in: The New Middle East. Protest and Revolution in the Arab World, hrsg. v. Gerges, Fawaz A. New York: Cambridge University Press, S. 402-417. Barr, James 2011. A Line in the Sand. Britain, France and the Struggle for the Mastery of the Middle East. London: Simon & Schuster. Bilgin, Pinar 2015. »Region, Security, Regional Security:,Whose Middle East?‹ Revisited«, in: Regional Insecurity after the Arab Uprisings, hrsg. v. Monier, Elizabeth. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 19-39. Bozarslan, Hamit 2009. Conflit kurde. Le brasier oublié du Moyen Orient. Paris: Autrement. Braudel, Fernand 1990. Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. Band 2: Kollektive Schicksale und Gesamtbewegungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Braune, Ines; Rohde, Achim 2015. »Critical Area Studies«, in: META: Middle East – Topics & Arguments, 4, S. 5-11. Clark, Christopher 2012. The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914. London: Penguin. Collier, Paul 2013. Exodus. Immigration and Multiculturalism in the 21st Century. London: Allen Lane. Culcasi, Karen 2012. »Mapping the Middle East from Within: (Counter-) Cartographies of an Imperialist Construction«, in: Antipode, 44 (4), S. 1099-1118. Davison, Roderic 1960. »Where is the Middle East?«, in: Foreign Affairs, 38 (4), S. 665-675.

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Zusammenfassung: Die krisenhafte Transformation des Nahen Ostens (»Middle East«) seit 2003 betrifft die Region als reale politische Entität, aber auch als epistemisches System. Während der Begriff Naher Osten für die Staaten der Golfregion noch gültig ist, hat sich ein neuer Ordnungsraum (»naher Naher Osten«) herausgebildet, mit deutlichen Folgen für die europäischen Gesellschaften und die europäische Politik. Stichworte: Naher Osten, Mittlerer Osten, externe Akteure, interne Akteure, Räume, Imperialismus, Hegemon, Vereinigte Staaten von Amerika, Europa, europäische Union

A New Middle East? On the Actual Crisis of an Epistemic Regime Summary: The critical transformation of the Middle East since 2003 affects the region as a real political entity, but also as an epistemic regime. Whereas the term Middle East still holds valid for the states of the Gulf region, a new Near East is emerging, with direct consequences for the European societies and European policy-making. Keywords: Middle East, Near East, external actors, internal actors, spaces, imperialism, hegemon, United States of America, Europe, European Union

Autor Prof. Dr. Maurus Reinkowski Universität Basel Seminar für Nahoststudien Maiengasse 51 CH-4056 Basel [email protected]

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Bilgin Ayata

Migration und das europäische Grenzregime nach den arabischen Revolutionen

Einleitung Obwohl das Thema der Migration derzeit in öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten große Aufmerksamkeit erfährt, ist es im Kontext der Massenproteste von 2010/11 in Nordafrika und dem Nahen Osten – jenen Ereignissen also, die als »Arabischer Frühling« oder »Arabellion« bezeichnet werden – in den Analysen bislang unterrepräsentiert geblieben. Dabei haben die Massenproteste, die Ende 2010 in Tunesien begannen und in fast allen Ländern der Region weitere Proteste nach sich zogen, nicht nur zu weitreichenden gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen in den betroffenen Ländern selbst geführt, sondern auch eine Migration von Millionen von Menschen ausgelöst, deren humanitäre und politische Auswirkungen weit über nationale und regionale Grenzen hinweg deutlich zu spüren sind. Der vorliegende Artikel setzt an diesem Punkt der Entgrenzung der Proteste und ihren Folgen an und analysiert anhand der Migrationsbewegungen, wie die ausgelösten Umbruchprozesse in Wechselwirkung mit dem europäischen Grenzregime und dessen Maßnahmen stehen. Bereits nach dem Sturz des tunesischen Machthabers Bin ʿAli (Ben Ali) im Januar 2011, aber insbesondere nach der NATO-Intervention in Libyen im März desselben Jahres, setzte eine fluchtbedingte Migrationsbewegung ein, die mittlerweile infolge des Kriegs in Syrien ihren tragischen Höhepunkt erreicht hat. Derzeit sind allein in Syrien über elf Millionen Menschen auf der Flucht, das entspricht etwa der Hälfte der syrischen Bevölkerung. Über sieben Millionen von ihnen sind Binnenvertriebene, also IDPs (internally displaced persons), die sich mitunter in Konfliktgebieten innerhalb Syriens aufhalten und zu denen Hilfsorganisationen aufgrund anhaltender Bombardierungen keinen Zugang haben. Obwohl sie aus humanitärer Sicht stärker bedroht und gefährdet sind, wird diesen Binnenvertriebenen weitaus weniger internationale Aufmerksamkeit zuteil als den Geflüchteten, die es bereits über die Grenze Syriens geschafft haben. Bislang haben etwa vier Millionen Menschen aus Syrien in den angrenzenden Staaten Türkei (2,7 Millionen), Libanon (1 Million) und in Jordanien (650.000) Zuflucht gefunden. Innerhalb Europas befinden sich derzeit die meisten syrischen Geflüchteten in Deutschland (450.000) und in Schweden (110.000).1 Der Umstand, dass derzeit die Staaten im Nahen Osten die höchste Anzahl von Geflüchteten, nämlich 39 Prozent der globalen Flüchtlingsbevölkerung beherbergen, während reiche Industrienatio-

1 Zahlen des UNHCR, Stand Juli 2016; URL: data.unhcr.org/syrianrefugees/regional.php [22.12.2016].

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nen nur einen Bruchteil von Geflüchteten aufnehmen, bleibt in populistischen Krisendiskursen über Flucht und Migration in Europa oft unerwähnt. Doch lange vor den Massenprotesten von 2010/11 und dem Syrienkrieg nahmen Migrationsbewegungen – sei es aufgrund politischer oder wirtschaftlicher Gründe – innerhalb der Region und nach Europa stetig zu.2 Zum einen haben einige Länder wie Libyen und die Türkei mit einer offenen Grenzpolitik die Migration innerhalb der Region erleichtert;3 zum anderen erfuhr die Region durch eine verstärkte Regulierung von undokumentierter Migration – oft eingeführt durch bilaterale Migrationsabkommen, abgeschlossen mit den EU-Mitgliedstaaten – eine bedeutende Veränderung.4 Die heute weitestgehend kriminalisierte »irreguläre« Migration, also jene Form von Arbeitsmigration und Flucht ohne einen legalen Aufenthaltsstatus, stellte in vielen arabischen Ländern bis Ende 2010 die Norm statt eine Ausnahme dar. Im Jahr 2010 machte zum Beispiel in Libyen und Syrien die undokumentierte Migration mit 69 Prozent bzw. 94 Prozent den Löwenanteil der gesamten Migration aus.5 Mit der Kriminalisierung von undokumentierter Migration in diesen Ländern wurden z.B. aus saisonalen ArbeiterInnen aus dem subsaharischen Afrika an der südlichen Grenzregion Libyens schlagartig »illegale« MigrantInnen, die sich einen neuen Aufenthaltsort und Arbeit und damit neue Migrationsziele suchen mussten – vermehrt auch in Europa. Dadurch haben sich traditionelle Auswanderungsländer (wie z.B. Marokko, Tunesien und die Türkei) zu sogenannten »Transitländern« entwickelt, die MigrantInnen aus Afrika und Asien als Zwischenstation auf dem Weg nach Europa dienen. Für jene Länder Nordafrikas und Asiens, die in den Nachbarregionen Europas liegen, wurden Migrationspolitik und Grenzsicherung zu einem wichtigen Faktor in ihren Beziehungen mit der EU. Sowohl mittels bilateraler Abkommen mit einzelnen Mitgliedstaaten (z.B. Italien, Frankreich, Spanien) als auch auf EU-Ebene wurden in den vergangen zwei Dekaden verstärkt Kooperationen mit autoritären Machthabern wie al-Qadhdhafi (Gaddafi) oder Bin ʿAli abgeschlossen. Ihr Ziel bestand in der Sicherung der Außengrenzen der EU und der Abwehr undokumentierter Migration durch Rückabnahmeabkommen und Grenzsicherungsmaßnahmen. Die Rücknahmeabkommen ermöglichten die Ausweisung von MigrantInnen ohne rechtmäßigen Aufenthaltsstatus in den Drittstaat, der sich zur Rücknahme ver-

2 Vgl. Fargues 2010. 3 Libyen verfolgte unter al-Qadhdhafi bis 2007 eine »Open Door Policy«, zuerst im Rahmen panarabischer, dann panafrikanischer Politik, die sowohl seinen wirtschaftlichen als auch seinen politischen Interessen förderlich war. Ähnlich hob die Türkei unter Erdoğan die Visapflicht für über 70 Staaten auf, was nachhaltig zur wirtschaftlichen und politischen Erstarkung der Türkei im Nahen Osten beitrug. Vgl. Ayata 2015. 4 Mit Migrationsabkommen meine ich die Bandbreite von Vereinbarungen zwischen zwei oder mehr Vertragspartnern, die sich auf die Regulierung von Migration beziehen. Dazu gehören Migrationspartnerschaften, Mobilitätspartnerschaften, Rücknahmeabkommen und andere Vereinbarungen. 5 Vgl. Fargues 2010. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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pflichtet hatte.6 Diese Vereinbarungen zogen weitreichende innenpolitische Konsequenzen nach sich. So konnten die autoritären Regimes in der Region aus diesen Kooperationen erhebliche machtpolitische, finanzielle und militärische Vorteile ziehen und damit ihre Herrschaft im Inneren der Länder weiter konsolidieren. Die Bevölkerung des jeweiligen Landes wurde indes weiter »eingekesselt«, da ihre Bewegungsfreiheit nun auch durch die eigene Regierung eingeschränkt wurde. Die EU und ihre Mitgliedstaaten machten sich bei der Umsetzung ihrer Grenzsicherungspolitik somit immer mehr von den genannten Machthabern abhängig. Diktatoren wie Bin ʿAli und al-Qadhdhafi nahmen in den Jahren vor den arabischen Protesten eine Schlüsselfunktion als Grenzwächter der Migrationsrouten von Afrika nach Europa ein. Daher hatten die Massenproteste von 2010/11 eine oft übersehene, aber direkte Auswirkung auf die EU, die die Kontrolle ihrer Außengrenzen am Mittelmeer in die Hände jener autoritären Regime gegeben hatte. Vor diesem Hintergrund stellt der vorliegende Artikel die These auf, dass der »Aufstand der Straße« nicht nur nationale Machthaber in Tunesien, Ägypten und Libyen, sondern auch die Stützpfeiler des europäischen Grenzregimes zu Fall gebracht hat. Mit dieser These schlägt der Beitrag eine erweiterte Lesart der Proteste und der nachfolgenden Umbruchsprozesse vor, die die Rolle europäischer Grenzsicherung und Migrationspolitik in den Mittelpunkt stellt. Die zusammenhängende Analyse der europäischen Migrationspolitik mit den arabischen Protesten verdeutlicht die Verflechtungen zwischen Europa und der MENA-Region, die über historische, ökonomische und kulturelle Beziehungen hinaus durch das europäische Grenzregime und seine Maßnahmen eine weitere Dimension erhalten hat. Diese Verflechtung wird allerdings oft in westlichen Analysen über die arabischen Proteste übersehen, insbesondere seitdem die anfängliche Hoffnung auf eine schnelle und friedliche Transition hin zu demokratischen Staaten erloschen ist. Mit der zunehmenden Gewalt, Destabilisierung und Radikalisierung in der Region erfahren orientalistische Denkmuster wieder Hochkonjunktur, was sich in den Terminologien und Analysen bemerkbar macht.7 Ein unidirektional ausgerichteter Blick von Europa auf die Region, der einen Wandel vom »arabischen Frühling«8 zu einem »arabischen Winter« registriert, ohne z.B. den »Sommer der Migration« in Europa mit den Umbrüchen in der arabischen Welt in Ver6 Bisher haben die 28 EU-Mitgliedstaaten weltweit über 300 bilaterale Rücknahmeabkommen mit Drittstaaten abgeschlossen. Vgl. Cassarino 2014. 7 Exemplarisch kann hier die Sonderausgabe des New York Times Magazine erwähnt werden, das im August 2016 zum ersten Mal in seiner Geschichte eine Ausgabe nur einem einzigen Thema widmete, nämlich dem »Zerfall der arabischen Welt«. In diesem Sonderheft werden trotz seines kritischen Anspruchs orientalistische Denkmuster über AraberInnen, KurdInnen, Islam etc. und deren defizitäre Demokratiefähigkeit reproduziert, die sich in zahlreichen Analysen über den »arabischen Winter« widerspiegeln; URL: nytimes.com/interactive/2016/08/11/magazine/isis-middle-east-arab-spring-fractur ed-lands.html?_r=0) [22.12.2016]. 8 Die Bezeichnung »arabischer Frühling« wurde von den Akteuren der Proteste schon 2011 als eurozentristisch kritisiert: Um überhaupt als ein historisches Ereignis wahrgenommen zu werden, bedurfte es demnach einer europäischen bzw. westlichen Referenz

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bindung zu bringen, übersieht nicht nur den anhaltenden Prozess-Charakter der Umbrüche, sondern auch die historischen Wechselwirkungen, die zwischen den einzelnen Regionen bestehen. Postkoloniale TheoretikerInnen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Aus- und Nachwirkungen der langjährigen Geschichte des europäischen Kolonialismus auch für Analysen der Gegenwart von Bedeutung sind. So spielte in den bilateralen Abkommen zu Migration und Grenzsicherung zwischen Frankreich, Italien und Spanien und ihren ehemaligen Kolonien Tunesien, Libyen und Marokko die Kolonialvergangenheit eine wichtige Rolle, wie ich am Beispiel Libyens später aufzeigen werde. Die verflochtene Betrachtungsweise (entangled histories)9 der Ereignisse, welche die Beziehungen der Regionen untereinander im Sinne einer global-verbundenen Geschichte begreift,10 ist für postkoloniale Analysen daher von zentraler Bedeutung und dient auch für diesen Artikel als Grundlage. In diesem Sinne wird eine Einordnung der Massenproteste und der nachfolgenden Umbrüche aus einer rein nationalen oder regionalen Perspektive den Verflechtungen der Ereignisse in den Regionen nicht gerecht und sieht damit auch über die Rolle und Verantwortung Europas hinweg. Das EU-Grenzregime und europäische Migrationspolitik in der MENA-Region Die Entwicklung eines europäischen Grenzregimes Seit über zwei Dekaden versuchen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten mit diversen Maßnahmen wie Migrationspartnerschaften, bilateralen Abkommen, regionalen Rahmenprogrammen und Nachbarschaftspolitik, die Migrationspolitik und die Grenzsicherung weit über ihre geographischen Grenzen hinaus zu beeinflussen. Die Entwicklung dieser vielschichtigen, auf verschiedenen Ebenen eingesetzten Handlungen macht deutlich, dass die Migrationskontrolle und Flüchtlingseindämmung in den Beziehungen zwischen der EU und den autoritären Regierungen in der MENA-Region mittlerweile höchste Priorität gewonnen hat. Historisch geht dies auf die Entwicklung des europäischen Binnenraumes zurück. Mit der Einführung der Binnenfreiheit durch die Abschaffung der Grenzkontrollen innerhalb des Schengener Raums wurde seit 1995 für die EU die Sicherung ihrer Außengrenzen zu einer sich stetig ausweitenden Aufgabe, zu deren Bewältigung die EU immer mehr Staaten in Afrika und Asien in ihrer unmittelbaren und erweiterten Nachbarschaft eingebunden hat. Die Grenzsicherung erfolgt nun nicht mehr allein an den physischen Außengrenzen der EU, sondern ist bis tief hinein (in diesem Fall war es der Prager Frühling). Vgl. Khouri 2011. Doch auch alternative Bezeichnungen wie »arabische Revolution« oder »Arabellion« haben mit dem Begriff des arabischen Frühlings gemeinsam, dass sie die Proteste (und die Region) als »arabisch« homogenisieren und ethnisieren. Damit geraten Bevölkerungsgruppen wie z. B. die KurdInnen aus dem Blick, die ebenfalls an den Protesten mitgewirkt haben und in der nachfolgenden Umbruchphase eine wichtige Rolle gespielt haben. 9 Vgl. Conrad/Randeria 2002. 10 Vgl. Bhambra 2014. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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nach Afrika verlagert worden. In der Europäisierungs- und Migrationsforschung wird diese Praxis der Auslagerung des europäischen Grenzregimes als Externalisierung bezeichnet.11 Die Entwicklung des EU-Grenzregimes ist dabei von einer starken Dynamik gekennzeichnet, da sich die EU-Außengrenzen durch die EU-Erweiterungsprozesse immer wieder verschieben. Zudem hält die EU sowohl nach innen und als nach außen durch diverse Regulationen und Vereinbarungen multiple Grenzen aufrecht, was klare und stabile Grenzziehungen, wie sie der Begriff »Festung Europa« suggeriert, verhindert. Vielmehr sind nach Rumford die europäischen Grenzen als ein Netzwerk zu verstehen, das in seiner Reichweite unüberschaubar geworden ist.12 Das europäische Grenzregime hat sich zu einem komplexen Gebilde entwickelt, das eine Vielzahl von Akteuren, Institutionen, Programmen, Technologien, Praktiken bis hin zu eigenen Diskursen umfasst. Dazu gehören unter anderem bilaterale Migrations- oder Mobilitätspartnerschaften, Rücknahmeabkommen, regionale und globale Migrationsprogramme der EU (Global Migration Programm 2005, Global Migration and Mobility Programm 2011 sowie die European Agenda on Migration 2015),13 der Aufbau und die rapide Stärkung der Grenzschutzagentur FRONTEX, Überwachungssysteme und Datenbanken wie EUROSUR (European Border Surveillance System) und EURODAC (European Dactyloscopy) und andere Technologien zur Grenzsicherung, Ausstattung und Training von Sicherheitspersonal in Drittstaaten durch die EU, Aufbau von Internierungslagern in Drittstaaten, die Verknüpfung von Entwicklungshilfe mit der Bereitschaft für Migrationskooperation und viele andere Maßnahmen mehr.14 Wie Andersson in seiner Analyse über den euro-afrikanischen Grenzraum in bemerkenswerter Weise aufzeigt, hat sich in den letzten zwei Dekaden eine lukrative »Illegalitätsindustrie« des europäischen Grenzregimes entwickelt, das mit seiner stetigen Erweiterung nicht nur immer mehr illegalisierte Migration erzeugt, sondern mit ihr exponentiell anwächst.15 An dieser Illegalitätsindustrie sind nicht nur (supra)staatliche Akteure beteiligt, sondern auch NGOs und Schleusernetzwerke, die alle von der Kriminalisierung oder Bekämpfung von irregulärer Migration profitieren.16 Zahlreiche Analysen weisen zu Recht darauf hin, wie komplex und dynamisch der Prozess der Migrationsabwehr und Grenzsicherung ist und dass er sich mit einfachen Machtanalysen und Kausalitäten nicht greifen lässt.17 So existiert zwi11 Vgl. Lavenex 1999; Boswell 2003. 12 Vgl. Rumford 2006. 13 URL: ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/policies/international-affairs/global-a pproach-to-migration/index_en.htm [22.12.2016]. 14 Vgl. Andersson 2014. 15 Ebd. 16 Je schwieriger es wird, eine Grenze zu überqueren, umso mehr steigt der Preis von Schleusern, die größere Risiken auf sich nehmen müssen, um sicherere Routen zu finden. Vgl. ebd. 17 Vgl. Collyer 2016.

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schen der EU und den einzelnen Drittstaaten, mit denen sie diverse Abkommen zur Grenzkontrolle vereinbart hat, eine aus ökonomischer und politischer Sicht eklatante Machtasymmetrie, die es der EU ermöglicht, die Konditionen der jeweiligen Abkommen zu bestimmen.18 Nichtsdestotrotz ist die EU bei ihrem Vorhaben, die unkontrollierte Migration einzudämmen und die Undurchlässigkeit ihrer Außengrenzen sicherzustellen, auf die Kooperation mit den anliegenden Nachbarstaaten angewiesen. Dieser Umstand relativiert allerdings selten das Machtverhältnis zwischen einzelnen Drittstaaten und der EU. Vielmehr verleiht er lediglich den autoritären Machthabern mehr außenpolitische Rückendeckung und Legitimität.19 Auch wenn immer wieder in den Dokumenten der EU betont wurde, dass die Anwendung der Maßnahmen zur Grenzsicherung und der Nachbarschaftspolitik die Demokratisierung und wirtschaftliche Entwicklung zum Ziel habe, so hatte für die EU eine stabile regionale Ordnung in der MENA-Region den Vorteil, dass die autoritären Machthaber die »besseren Statthalter« für unliebsame Migrationsabkommen waren. Ohne den Willen der Bevölkerung zu konsultieren, erklärten nach 2002 immer mehr Maghreb-Staaten eine Ausreise ohne gültiges Visum für das Ankunftsland bereits im eigenen Land für illegal. In einem Land wie Tunesien, in dem in einer repräsentativen Studie von 2006 über 75 Prozent der befragten Jugendlichen den Wunsch zur Emigration angaben,20 musste sich der Diktator Bin ʿAli nun nicht weiter mit deren Belangen auseinandersetzen. Stattdessen konnte er seine Macht mit der Unterstützung von EU-Geldern und bilateralen Abkommen mit Italien, Frankreich, Spanien, welche er im Gegenzug für die Bekämpfung illegalisierter Migration erhielt, aufrechterhalten. Es ist daher nicht überraschend, dass erst nach dem Sturz des Diktators zum ersten Mal die europäische Migrationspolitik und Grenzsicherung in der tunesischen Gesellschaft öffentlich diskutiert und kritisiert wurden.21 Unliebsame Migrationsabkommen sind einfacher mit autoritären Regimes zu vereinbaren.22 Selbst die Europäisierungsforschung, die umstandslos Demokratisierung mit Europäisierung gleichsetzt, musste nach den arabischen Protesten feststellen, dass die EU mit ihren Maßnahmen letztlich zur Festigung von autoritären Strukturen in der MENA-Region beigetragen hat.23

18 Für eine Machanalyse der EU Migrationspartnerschaften vgl. Kunz/Maisenbacher 2013. 19 Vgl. Cassarino 2014. 20 Vgl. Fargues 2008, S. 20. 21 Vgl. Boubakri 2013. 22 Dies wird aktuell auch am Beispiel des »Flüchtlingsdeals« mit der Türkei und Griechenland deutlich, dessen Umsetzung durch die Proteste von der griechischen Zivilgesellschaft, unabhängigen RichterInnen und BeamtInnen immer wieder blockiert werden, während in der Türkei durch die repressiven Maßnahmen der autoritären Regierung solche Verweigerungen derzeit gar nicht möglich sind. 23 Vgl. Börzel/Hüllen 2014. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Europäisches Grenzregime aus postkolonialer Perspektive Aus postkolonialer Perspektive lassen sich zwei Kritikpunkte an der Literatur über das europäische Grenz- und Migrationsregime festhalten, wie es Hansen und Jonsson zutreffend für das Migrationsmanagement zwischen der EU und Afrika formulieren: Zum einen sind die Analysen in einem »Presentism« verhaftet, der den historischen Kontext wie z.B. den Kolonialismus außer Acht lässt.24 Wenn überhaupt auf die koloniale Vergangenheit Europas bei den gegenwärtigen Beziehungen mit den Drittstaaten eingegangen werde, so die zweite Kritik, dann beziehe sich diese meist auf die koloniale Vergangenheit einzelner Mitgliedstaaten. Dabei wird häufig der Prozess der europäischen Integration selber und deren koloniale Aspekte vergessen. In ihrem Buch »Eurafrica« analysieren Hansen und Jonsson detailliert, welche zentrale Bedeutung die Inkorporation Afrikas bei der Entwicklung der Visionen und Institutionen der europäischen Integration hatte.25 Die Formierung eines »euro-afrikanischen Raumes« war fester Bestandteil der europäischen Integrationsidee. Schon damals stand interessanterweise die interkontinentale Migration im Mittelpunkt der Debatte, sowohl bei den Vordenkern der europäischen Integration in den Zwischenkriegsjahren als auch in den späten 1950er Jahren. Im Gegensatz zu heute war Afrika damals aber nicht der Kontinent der Auswanderung nach Europa, sondern vielmehr Ziel europäischer Auswanderung. Um einen »Bevölkerungsüberschuss« in einigen europäischen Ländern (z. B. Österreich, BRD, Italien, Griechenland) in der Nachkriegszeit auszugleichen, wurde die Auswanderung in die afrikanischen Länder als potentielle Lösung vorgeschlagen.26 Der Straßburg-Plan des Europarats aus dem Jahr 1952 visierte eine Emigration von fünf Millionen Europäern nach Afrika an.27 Besonders wichtig für die Einordnung gegenwärtiger Debatten aus postkolonialer Perspektive ist dabei auch der schon damals formulierte Wille zu einer einseitigen Kontrolle über die Migration, die allein durch Europa gesteuert werden sollte. Dies gilt für die frühere Phase, als Afrika noch der Kontinent einströmender Immigration war, ebenso wie für die spätere, als Afrika zum Kontinent der von ihm ausgehenden Emigration wurde. Die seit 2005 intensivierten EU-Afrika-Beziehungen haben ebenfalls die Migrationssteuerung vorrangig auf ihrer Agenda, die mehr Regulationen in diesem Bereich einführt, um einigen AfrikanerInnen die Einreise zu gewähren, sie den meisten aber zu verweigern. Jedes neue EU-Migrationsprogramm seit 2005 replizierte diesen Selektionsmechanismus im Migrationsmanagement:28 So werden auf der einen Seite Einreiseerleichterungen (z.B. die EU Bluecard) für qualifizierte ImmigrantInnen angeboten, während gleichzeitig Maßnahmen zur Bekämpfung von Migration verkündet werden. Es ist, wie Hansen und Jonsson 24 25 26 27 28

Vgl. Hansen/Jonsson 2011. Vgl. Hansen/Jonsson 2014. Hansen/Jonsson 2011, S. 271. Ebd. URL: ec.europa.eu/home-affairs/what-we-do/policies/international-affairs/global-appro ach-to-migration_en [22.12.2016].

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unterstreichen, genau dieser Wille zur Kontrolle der Migration, der für Brüssel die Bekämpfung irregulärer Migration notwendig macht. Für Hansen und Jonsson drückt sich darin ein »demographischer Kolonialismus«29 aus, der bis heute die europäische Migrationspolitik und die Beziehungen zu Afrika prägt. Die Flüchtlingskooperation der EU mit Libyen nach 2004 und ihre Folgen Am Beispiel Libyens wird nicht nur die moralische Fragwürdigkeit des europäischen Grenzregimes und seines ausgelagerten Migrationsmanagements, sondern auch dessen Scheitern an den hohen politischen Kosten deutlich. So wurde Muʿammar al-Qadhdhafi, einst politisch geächtet und sanktioniert, nach 2004 von einer persona non grata zum wichtigsten Partner Italiens und der EU, um Flüchtlinge aus Afrika von Europa fernzuhalten.30 Die Bereitschaft, mit repressiven Regimes in Fragen der Migrationsabwehr und Grenzsicherung zu kooperieren, steht exemplarisch für die Priorisierung der EU von Grenzschutz vor Menschenrechten, wie es auch z.B. in dem »Flüchtlingsdeal« zwischen der Türkei und der EU aktuell sehr deutlich wird. Libyen war viele Jahre ein Einwanderungsland für ArbeitsmigrantInnen aus Afrika und dem Nahem Osten. Anfang der 1990er Jahre resultierte aus dem von al-Qadhdhafi betriebenen Wechsel von einer panarabischen hin zu einer panafrikanischen Ausrichtung eine Politik der »Open Door« mit den Subsahara-Staaten.31 Dies führte überwiegend zu einer saisonalen und zirkulären Migration an der südlichen Grenze Libyens. Doch insbesondere Italien nahm diese »Open Door Policy« als eine Bedrohung wahr, da die Regierung eine Masseneinwanderung aus Afrika über Libyen erwartete. Bereits im Jahr 2000, als die UN und die EU noch die politischen und ökonomischen Sanktionen gegen Libyen aufrechterhielten, verhandelte Italien mit explizitem Bezug auf seine koloniale Geschichte – Libyen ist eine ehemalige italienische Kolonie – eine Vereinbarung mit al-Qadhdhafi zur Kooperation hinsichtlich der Terrorismusbekämpfung und irregulären Migration aus.32 Die US-Invasionen im Irak und in Afghanistan und der US-amerikanische Krieg gegen den Terror hatten bereits zu Massenflucht und Vertreibung geführt, aber mit den zunehmenden Konflikten im subsaharischen Afrika entwickelte sich Libyen dann in den 2000er Jahren immer stärker zu einem Transitland für MigrantInnen, die auf dem Weg nach Europa waren.33 Als erstes Ankunftsland dieser MigrantInnen, im Besonderen die Insel Lampedusa, die nur 300 Kilometer von Libyen entfernt liegt, intensivierte Italien seine Maßnahmen, um diese Route zu blockieren und ebnete den Weg für weitere bilaterale Kooperationen mit Libyen. Diese ermöglichten es Italien, MigrantInnen nach Libyen zurück zu deportie29 Hansen/Jonsson 2011, S. 275. 30 Für eine eindrucksvolle Ethnographie über das EU-Grenzregime in Libyen vgl. Klepp 2011. 31 Vgl. Andrijasevic 2009. 32 Vgl. Brambilla 2014, S. 232. 33 Vgl. Klepp 2010. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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ren und sie dort in Auffanglager in der libyschen Wüste zu internieren, welche wiederum von Italien finanziert wurden.34 Im Jahr 2003 schlug der britische Premierminister Tony Blair vor, Transitabwicklungs-Zentren außerhalb der EU einzurichten, um dort Asylanträge zu bearbeiten und weiterzureichen. Diesen Vorschlag griff der deutsche Innenminister Otto Schily 2004 auf und stellte ihn in der EU-Innenminister-Konferenz vor. Zwar nahm der Europäische Rat den Antrag aufgrund rechtlicher Fragen nicht formell in das Haager Rahmenprogramm auf,35 das die Maßnahmen zur Grenzsicherung bis 2010 vorgab, doch ließ es der Rat den Mitgliedstaaten frei, solche Lager mittels bilateraler Verträge einzurichten.36 Mit dem Haager Programm einigte man sich stattdessen auf die Gründung der Grenzschutzagentur FRONTEX. Die Kooperation mit Libyen zur Grenzsicherung auf EU-Ebene, mit Italien als Wegbereiter, wurde anschließend Schritt für Schritt ausgebaut: Zuerst hob die EU im Jahr 2004 das Embargo gegen Libyen auf und entsandte eine technische Mission der EU-Kommission in das Land, die sich vor Ort einen Überblick über den Stand der Grenzsicherung und der Migrationspolitik Libyens verschaffte. In ihrem Bericht hielt die Delegation fest, dass Libyen gegen verschiedene Menschenrechte verstoßen und die UN-Flüchtlingskonvention nicht unterschrieben habe. Doch hielt dies die Kommission nicht davon ab, eine Zusammenarbeit mit al-Qadhdhafi in puncto Grenzsicherung einzuleiten.37 Im Jahr 2007 nahm die EU dann auf offizieller Ebene Beziehungen mit Libyen auf und verabschiedete im Juli ein »Memorandum of Understanding«, in dem die Migration als gemeinsames Themenfeld festgesetzt wurde. Zeitgleich entsendete die EU-Kommission eine Mission der FRONTEX nach Libyen für Konsultationen vor Ort.38 Mit der Einführung der Visumspflicht – eine weitere Folge der EU-Libyen-Kooperation – beendete Libyen schließlich offiziell 2007 seine »Open Door Policy«. Damit wurden die bis dato im Lande befindlichen MigrantInnen ohne Visum schlagartig illegalisiert. Zwar kritisierten in dieser Phase immer wieder einige EU-Berichte, dass Libyen die UN-Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet habe. Dies hielt die EU und Italien jedoch nicht davon ab, Libyen in ein »OffshoreFlüchtlingslager« umzuwandeln, in dem MigrantInnen menschenunwürdigen Behandlungen ausgesetzt wurden.39 Wie Andrijasevic in ihrer Analyse der Asylpolitik an den EU-Außengrenzen eindrücklich darlegt, handelte es sich hierbei nicht

34 Andrijasevic 2009, S. 149. 35 Das Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der EU setzte in den Jahren 2005-2010 die Richtlinien für eine gemeinsame EU-Politik für Fragen der Migration und Kriminalitätsbekämpfung um; URL: eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/?uri=uriserv%3Al16002 [22.12.2016]. 36 Vgl. Ward 2004. 37 Für eine ausführliche Übersicht über diesen Prozess vgl. Klepp 2011, S. 143ff. 38 Andrijasevic 2009, S. 160. 39 Auch über die von Menschenrechtsorganisationen stark kritisierten Massendeportationen von Italien nach Libyen seit 2004, die ein Verstoß gegen das Prinzip des »Non-Refoulement« der EU waren, blickte die EU tatenlos hinweg. Vgl. Andrijasevic 2009.

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nur um eine Externalisierung der Flüchtlingspolitik ins EU-Ausland, sondern um die Rücknahme des Rechts auf Asyl, indem die Möglichkeit der Asylantragstellung vollständig blockiert wurde.40 Gerade der Umstand, dass Libyen die UNFlüchtlingskonvention nicht unterschrieben hatte, machte das Land zu einem geeigneten Partner für die europäische Migrationsabwehr. Die Kooperation war vor allem für al-Qadhdhafi sehr lukrativ: Er konnte sein politisches Ansehen stärken und erhielt zudem attraktive finanzielle, technische und militärische Unterstützung von der EU und ihren Mitgliedstaaten. Ein Versöhnungsvertrag mit Italien zur Wiedergutmachung der kolonialen Vergangenheit versprach im Jahr 2008 eine Zahlung von 5 Milliarden Euro von Italien an Libyen.41 In einem weiteren »Memorandum of Understanding« mit der EU-Kommission im Juni 2010 kündigte die EU eine Zahlung von 60 Millionen Euro an.42 Weitere finanzielle Unterstützung als Gegenleistung für Libyens Grenzsicherung floss über verschiedene Pakete im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik und andere Programme. Als Anerkennung für die libysche Unterstützung bei der Schließung der Fluchtroute von Afrika nach Europa stockten Italien, Frankreich, Deutschland und Großbritannien mit Waffenexporten im Wert von über 500 Millionen Euro al-Qadhdhafis Bestand an militärischem Gerät auf, das er bei den ersten Aufständen im Februar 2011 gegen seine Gegner einsetzte.43 Mit der Eskalation der Proteste und der darauffolgenden militärischen Intervention der NATO wurde eine Fluchtwelle ausgelöst, die die EU einst in Kooperation mit al-Qadhdhafi zu unterbinden versucht hatte. Der vormalige Kooperationspartner, dessen Erfolge bei der Sicherung der Außengrenze von der EU-Kommission noch im Dezember 2010 gelobt worden waren, wurde Anfang 2011 wieder zu einem international geächteten Diktator, der die Rebellion in der Region nicht überlebte. Migration nach 2011 und ihre Auswirkungen auf das Schengener Abkommen Während im Januar 2011 einerseits der Ruf der Protestierenden nach Freiheit, Würde und sozialer Gerechtigkeit weltweit und auch in Europa auf ein positives Echo stieß, rief die Ankunft von über 30.000 TunesierInnen in Lampedusa Panik innerhalb der italienischen Regierung hervor, die vor einem »biblischen Exodus« warnte.44 Der NATO-Einsatz in Libyen ab März 2011 löste eine noch größere Migrationswelle aus. In Folge der Kämpfe verließen knapp eine Million Menschen fluchtartig Libyen. Auch wenn die überwiegende Mehrheit in die Nachbarländer Tunesien und Ägypten floh, waren Italien, und dieses Mal auch Frankreich, alarmiert. Mit dem Sturz al-Qadhdhafis war der wichtigste Grenzwächter gefallen, der die zentrale Mittelmeerroute nach Europa kontrolliert hatte. Frank40 41 42 43 44

Ebd. Bialasiewicz 2012, S. 853. URL: europa.eu/rapid/press-release_MEMO-10-472_en.htm?locale=en [22.10.2016]. Bialasiewicz 2012, S. 859. So beschrieb es der damalige Innenminister Roberto Maroni. Vgl. Polke-Majewski 2011.

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reich führte im April 2011 kurzzeitig wieder Grenzkontrollen an der Grenze zu Italien ein – eine Maßnahme, die von weiteren Mitgliedstaaten in den nächsten Jahren wiederholt wurde und Mitte 2015 de facto temporär zu einer Aufhebung des Schengener Abkommens führte. Ein überspitzer Krisendiskurs Italiens und Frankreichs, innerhalb dessen u.a. von einem »menschlichen Tsunami«45 gesprochen wurde, bereitete einen Vorstoß der beiden Mitgliedstaaten im Mai 2011 vor, mit dem sie anregten, angesichts der arabischen Umbrüche das Schengensystem zu reformieren und zu re-nationalisieren. Einzelne Mitgliedstaaten sollten eigenmächtig über die temporäre Einführung von Binnenkontrollen entscheiden können. Zwar setzte sich dieser Vorstoß innerhalb der EU-Kommission zuerst nicht durch, doch nach einem zweijährigen Verhandlungsprozess, in dem sich die Lage in Syrien dramatisch verschärfte und zu Millionen von Geflüchteten führte, wurde im Juni 2013 das »Schengen Governance Package« verabschiedet, das eine temporäre Einführung von Grenzkontrollen im »Notfall« billigte. Auch wenn die beschworene Masseninvasion nicht eintrat und der Großteil der Migrationsbewegungen infolge der arabischen Revolutionen bis heute innerhalb der Region stattgefunden hat, haben ihre Auswirkungen Europa dennoch erreicht. Die Umbrüche in der arabischen Welt stürzten die EU nach der Finanzkrise von 2008 in eine Krise der Grenzsicherung, in der die Kernelemente des Schengener Systems in Frage gestellt und teilweise aufgehoben wurden. Die Zahl eingerichteter Grenzkontrollen innerhalb der EU erreichte in den Jahren 2015 und 2016 ihren Höhepunkt, als 15 Mitgliedstaaten ihre Grenzen zeitweilig und in bestimmten Abschnitten schlossen. Mit der vermehrten Ankunft von Geflüchteten aus Syrien verschärften sich zudem populistische Krisendiskurse über Migration, die zu einer Spaltung und Radikalisierung in vielen EU-Mitgliedsstaaten geführt haben. Es ist nicht nur die MENA-Region, die sich seit den Protesten im Umbruch befindet, sondern Europa ebenso. Der Sommer der Migration und der Wiederaufbau des EU-Grenzregimes Der Sommer der Migration, August/September 2015 Im Sommer 2015 durchbrachen Tausende von MigrantInnen das europäische Grenzregime ein zweites Mal: Dieses Mal aber nicht vornehmlich die bis nach Libyen und Tunesien verlagerten Außengrenzen der EU, sondern über die Balkanfluchtroute die unmittelbaren Grenzen der Mitgliedstaaten. Nachdem Geflüchtete monatelang in sogenannten »Makeshift Camps« in Griechenland, Mazedonien und Ungarn das politische Debakel um die Frage der Öffnung oder Schließung der Grenzen hinter Zäunen verfolgen mussten, durchbrachen im September Tausende von Flüchtenden zu Fuß die geschlossenen Grenzen in Ungarn und marschierten damit buchstäblich über das EU-Grenzregime hinweg von Budapest nach Österreich. Dieser Akt des kollektiven Aufbegehrens, der von Flüchtlingsak-

45 Dekalchuk 2015, S. 8.

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tivistInnen als »Sommer der Migration« bezeichnet wird,46 macht erneut die Entgrenzung der arabischen Proteste deutlich, die nicht nur am Zuccotti Park in New York, in Rio oder am Taksim-Platz in Istanbul ein Echo gefunden haben, sondern auch vor den Toren des Schengen-Raums. Beginnend mit einem Aufstand in Choucha, einem tunesischen Flüchtlingslager an der libyschen Grenze, stellt seit 2011 eine stetig wachsende transnationale Protestbewegung von Geflüchteten von Tunis bis Brüssel das europäische Grenzregime mit zahlreichen Aktionen in Frage. So marschierten im Jahr 2012 Asylsuchende von Würzburg nach Berlin und besetzten anschließend den Berliner Oranienplatz, womit erstmals Geflüchtete als politische Akteure wahrgenommen wurden. Im Juni 2014 machten sich Geflüchtete und Sans Papiers aus ganz Europa auf den Weg nach Straßburg, um ihre Rechte vor dem EU-Parlament einzufordern.47 Dies sind nur einzelne Beispiele einer zunehmenden Mobilisierung von Widerstand und Protest unter Illegalisierten und MigrantInnen.48 Einst gefeiert für ihren Kampf um Würde, Freiheit und Brot, ist die arabische Revolution nun auf der Flucht und nimmt in der Mobilisierung von Geflüchteten eine neue Gestalt an. So schreiben Bernd Kasparek und Marc Speer in ihrer Chronologie des langen Sommers der Migration, dass mit den MigrantInnen aus Syrien »auch die ursprüngliche Kraft und Hoffnung des Arabischen Frühlings ein zweites Mal nach Europa gekommen ist und die Grenzen herausgefordert hat. Der Rhythmus und die Entschlossenheit der Parolen, die über Tage hinweg gegen die Polizeikette am Haupteingang des Budapester Bahnhofs gerufen wurden, wirkten seltsam vertraut.«49

»Open The Borders!«, der Ruf von Flüchtlingen und solidarischen AktivistInnen, der im Sommer 2015 entlang der Grenzen Mazedoniens, Serbiens, Ungarns und Österreichs zu hören war, erinnerte an den Slogan »The People Demand the Fall of the Regime«. Mit der Öffnung der Grenzen in Österreich und Deutschland war das europäische Grenzregime schließlich außer Kraft gesetzt, wenn auch nur vorübergehend. Während in Deutschland die neue Willkommenskultur im Sommer der Migration viel Diskussion auslöste, arbeitete bereits im September 2015 die Regierung gemeinsam mit der EU-Kommission fieberhaft an einem Wiederaufbau des europäischen Grenzregimes, um die aus der Kontrolle geratene Migration wieder einzudämmen. Der Wiederaufbau des EU-Grenzregimes: Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei Um den Flüchtlingsstrom an der türkisch-griechischen Grenze zu stoppen, brachte die deutsche Bundesregierung eine Zusammenarbeit mit der Türkei als mögliche Lösung für die sogenannte Flüchtlingskrise ins Spiel. Mit einer Flüchtlingskooperation, die für beide Seiten lukrativ war, sollte die Türkei eine Schlüsselfunktion in der Sicherung der europäischen Außengrenzen erhalten. Zwar war die Türkei mit 46 47 48 49

Vgl. Kasparek/Speer 2015. Vgl. Langa 2015. Vgl. Johnson 2015. Kasparek/Speer 2015.

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anderen Rücknahmeabkommen und Grenzpatrouillen im Mittelmeer bereits Teil des europäischen Grenzregimes, doch diese bezogen sich hauptsächlich auf den Umstand, dass die Türkei ein Transitland für MigrantInnen war, bevor sie in großer Zahl Syrer aufgenommen hatte. Ohnehin hatte die Türkei als Beitrittskandidat für die EU-Mitgliedschaft schon seit einigen Jahren ihre Migrationspolitik revidiert und den EU-Interessen angepasst. Mit der Aufnahme von knapp drei Millionen Schutzsuchenden aus Syrien erhielt das Land jedoch eine neue Bedeutung für die Sicherung der europäischen Außengrenzen. Bisher hatte die Türkei selber weitaus mehr Flüchtlinge produziert als aufgenommen: In den 1990er Jahren vertrieb der türkische Staat über eine Million seiner eigenen StaatsbürgerInnen aus kurdischen Dörfern und weigerte sich bis 2004, das Problem anzuerkennen oder Hilfeleistungen anzubieten.50 Zudem kannte die Türkei keinen gesetzlichen Flüchtlingsschutz. Die Türkei hat zwar die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) unterzeichnet. Sie hält aber an dem geographischen Vorbehalt von 1951 fest, obwohl seit 1967 die meisten Staaten diesen aufgehoben haben. Als nach dem Zweiten Weltkrieg in der UN die Flüchtlingskonvention verhandelt wurde, beharrten die europäischen Kolonialmächte auf einer temporalen und geographischen Eingrenzung, so dass die GFK nur für Kriegsflüchtlinge aus Europa gelten sollte.51 1967 wurde mit einem Zusatzprotokoll der geographische Vorbehalt in der Konvention aufgehoben, doch in der Türkei werden bis heute lediglich Geflüchtete aus Europa als Flüchtlinge gemäß der GFK anerkannt. Das hielt die EU-Kommission aber nicht davon ab, die Türkei als einen geeigneten Partner in der Flüchtlingskooperation zu sehen. Besonders überraschend war dies angesichts der bedrohlichen Sicherheitslage in der Türkei seit dem Sommer 2015. Zuerst brach der angestrebte Friedensprozess zwischen der PKK und der türkischen Regierung zusammen, der eine politische Lösung für den kurdischen Konflikt mit sich bringen sollte. Des Weiteren wurde im August 2015 dann vom türkischen Militär ein brutaler Krieg im Osten des Landes gegen die kurdische Bevölkerung eingeleitet und permanente Ausgangssperren verhängt, von denen über 1,5 Millionen Menschen betroffen waren. Mehrere hundert Zivilisten sind seit August 2015 bisher in den militärischen Operationen umgekommen. Im Februar 2016 waren bereits geschätzte 355.000 kurdische Zivilisten zu Binnenflüchtlingen geworden.52 Damit entstand eine paradoxe Situation: Während die Türkei einerseits jenes Land ist, das weltweit bis dato die meisten Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat, führt es andererseits gleichzeitig Krieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung und erzeugt dadurch Fluchtbewegungen. All dies spielte jedoch für die EU im Vorfeld der Flüchtlingsvereinbarung keine Rolle. Während am 28. November 2015 Tahir Elci, einer der prominentesten kurdischen Anwälte und Menschenrechtler, auf offener Straße vor laufenden Kameras ermordet wurde, trafen sich am nächsten Tag 50 Ayata/Yükseker 2005. 51 Dabei gab es schon zu diesem Zeitpunkt Millionen von Geflüchteten in Pakistan, Indien, Korea oder Palästina. Den Unterzeichnerstaaten stand es jedoch frei, sich nicht an diesen Vorbehalt zu halten. Für eine ausführliche Diskussion vgl. Mayblin 2014. 52 Vgl. Amnesty International 2016 a.

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EU-Ratspräsident Donald Tusk und der türkische Ministerpräsident Davutoğlu in Brüssel, um über die Details einer möglichen Flüchtlingskooperation zu verhandeln, ohne ein Wort über die Menschenrechtslage zu verlieren. Am 18. März 2016 wurde die Vereinbarung zwischen der Türkei und der EU dann offiziell der Öffentlichkeit vorgestellt. Der sogenannte »Flüchtlingsdeal« sieht finanzielle Hilfen in Höhe von 3 bis 6 Milliarden Euro, die Wiederaufnahme der Beitrittsgespräche mit der Türkei und die Aufhebung der Visapflicht für türkische StaatsbürgerInnen seitens der EU vor.53 Im Gegenzug ermöglicht er Griechenland, MigrantInnen, die nach dem 20. März 2016 irregulär eingereist sind, in die Türkei zurück zu deportieren, um sie dort in Lagern zu internieren. Hierfür ist der Bau von weiteren Auffanglagern in der Türkei vorgesehen. Für jede SyrerIn, die bzw. der aus Griechenland in die Türkei deportiert wird, soll die EU einen syrischen Flüchtling aufnehmen, jedoch nicht mehr als 72.000 insgesamt. Die Deportationen werden von FRONTEX-Einheiten durchgeführt, die bereits an der ägäischen Küste im Einsatz sind. Unterstützt werden FRONTEX und der »Flüchtlingsdeal« von der NATO, die seit März 2016 mit Kriegsschiffen an der Seegrenze zwischen der Türkei und Griechenland patrouilliert, um Schleuserboote abzufangen. Die ersten Deportationen begannen im April 2016 und führten, ganz im Sinne der EU, zu einem dramatischen Rückgang der Grenzübertritte an der türkischgriechischen Grenze: Bereits im Mai 2016 war die Zahl im Vergleich zum Vormonat um 95 Prozent gesunken.54 Allerdings stiegen parallel die Grenzübertritte nach Italien wieder rapide an, weil die MigrantInnen in Reaktion auf die Vereinbarung nun vermehrt über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien gelangen. Die Flüchtlingsvereinbarung mit der Türkei weist erhebliche Ähnlichkeiten mit der Kooperation zur Migrationsabwehr in Libyen auf. Die Türkei soll nun – ähnlich wie zuvor Libyen – zum Auffanglager Europas für ungewollte MigrantInnen werden. Aus mehreren Gründen ist das äußerst bedenklich. Ähnlich wie Libyen hatte auch die Türkei mit seinen Nachbarländern eine visafreie Zone eingeführt, was es den schutzsuchenden SyrerInnen nach 2011 ermöglichte, in die Türkei einzureisen. Diese »Open Door Policy« hat die Türkei im Zuge der Verhandlungen mit der EU im Jahr 2015 aufgehoben, was angesichts des andauernden Krieges in Syrien nun zu noch mehr Binnenflüchtlingen in Syrien führen wird. Hierdurch verschärft sich die humanitäre Katastrophe in Syrien. Die drei Millionen SyrerInnen und die Geflüchteten aus nichteuropäischen Ländern, die bereits in der Türkei leben, haben zudem keinen Flüchtlingsstatus aufgrund des geographischen Vorbehalts. Auch das ist eine wichtige Parallele zur Kooperation mit Libyen, das die UN-Flüchtlingskonvention von 1951 nie unterzeichnet hatte. Die Geflüchteten aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und allen anderen außereuropäischen Ländern galten bis 2013 lediglich als »Gäste« der Türkei. Seit 2013 hat die Türkei nun eine nationale Richtlinie für einen temporären Schutz der SyrerInnen eingeführt, 53 Zuerst ist eine Auszahlung von 3 Milliarden Euro vorgesehen, die bis 2018 auch noch auf 6 Milliarden ansteigen kann; URL: europa.eu/rapid/press-release_MEMO-16-963_ de.htm [22.12.2016]. 54 Garde/de Marcilly 2016. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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die aber nicht auf der UN-Flüchtlingskonvention fußt. Trotzdem hat die EU die Türkei in die Liste sicherer Drittstaaten aufgenommen, was die Rückführung der irregulären MigrantInnen in die Türkei ermöglicht. Indem sie die Türkei nun als sicheren Drittstaat bezeichnet, verstößt die EU aber gegen ihre eigene Asylrückführungsrichtlinie (EU-Richtlinie 2013/32/EU), die festlegt, dass ein Land Geflüchteten Schutz gemäß der UN-Flüchtlingskonvention gewähren und auch das Refoulementverbot55 einhalten muss. Beides trifft für die Türkei nicht zu. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch haben mehrfach über die Rückführungen von Asylsuchenden aus der Türkei in den Irak, nach Syrien oder Afghanistan berichtet.56 In der Debatte um den Flüchtlingsdeal stellt sich daher die Frage, ob er überhaupt legal ist.57 Ein Grund, weshalb so wenige MigrantInnen aus Griechenland bisher in die Türkei deportiert worden sind, sind die griechischen Behörden, die eine Ausweisung immer wieder ablehnen, da sie die Türkei nicht als sicheren Drittstaat einstufen. Die rapide Verschlechterung der Situation in der Türkei gibt ihnen Recht: Der Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung im Südosten des Landes dauert nach wie vor an, doch seit dem Putschversuch gegen die türkische Regierung im Juli 2016 sind die massiven Repressionen und der Ausnahmezustand auf das gesamte Land ausgeweitet worden. Das EU-Parlament hat angesichts der Repressionen in der Türkei im November 2016 eine Resolution zur Einfrierung der Beitrittsverhandlungen verabschiedet.58 Zwar hat diese Resolution nur symbolische Kraft, aber sie drückt deutlich die Missbilligung der desaströsen Lage in der Türkei aus. Der Flüchtlingsdeal und der Status der Türkei als sicherer Drittstaat bleiben allerdings von dieser Missbilligung bisher unberührt. Stattdessen versucht die EU-Kommission der türkischen Regierung entgegenzukommen, indem sie die Türkei stärker in die europäische Zollunion einbindet.59 Zu einem Zeitpunkt, in dem sich der türkische Staat unter Erdoğan in eine Diktatur verwandelt, gewährt die EU also mit der Flüchtlingskooperation diesem autoritären Regime politische und finanzielle Rückendeckung. Ähnlich wie al-Qadhdhafi, der immer wieder versuchte, die EU unter Druck zu setzen, indem er vor einem »schwarzen Europa« warnte, wenn er die Grenzen öffnen würde, nutzt nun auch Erdoğan die Geflüchteten im Land als Faustpfand für seine Alleinherrschaft. So war seine erste Reaktion auf die Resolu-

55 Non-Refoulement oder Refoulementverbot bezeichnet den Grundsatz der Nichtzurückführung einer Person in ein Land, in dem seine Sicherheit gefährdet ist. Die Unterzeichner der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) haben sich gemäß Artikel 33 der GFK verpflichtet, Asylsuchende nicht in ein Land zu deportieren, in dem er der Gefahr auf Leib und Leben ausgesetzt wäre. 56 Vgl. Amnesty International 2016b. 57 Vgl. Collett 2016; Peers 2016. 58 URL: europarl.europa.eu/news/en/news-room/20161117IPR51549/freeze-eu-accessiontalks-with-turkey-until-it-halts-repression-urge-meps [22.12.2016]. 59 URL: europa.eu/rapid/press-release_IP-16-4468_en.htm [22.12.2016].

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tion des EU-Parlaments im November eine Drohung, dass er die Grenzen öffnen werde, falls die EU so weitermache.60 Fazit und Ausblick Die verflochtene Analyse der europäischen Migrationspolitik im Zusammenhang mit den arabischen Umbrüchen von 2010/11 veranschaulicht nachdrücklich, dass die EU keinerlei Lehren aus dem »Arabischen Frühling« gezogen hat. Die Restauration des europäischen Grenzregimes, in der nun die Türkei die Rolle des neuen Wächters der europäischen Außengrenzen einnimmt, zeigt dies überaus deutlich. Während die Grenzübertritte an der türkisch-griechischen Grenze durch den europäisch-türkischen »Flüchtlingsdeal« drastisch verringert wurden, hat sich lediglich die irreguläre Fluchtroute auf das zentrale Mittelmeer verlagert. Gleichzeitig hat die Anzahl der MigrantInnen, die im Mittelmeer ertrunken sind, eine tragische Rekordhöhe erreicht: 4.913 Personen, also knapp 5.000 Menschen sind im Jahr 2016 im Mittelmeer auf der Überfahrt ertrunken.61 Das sind über 1.000 Tote mehr als im Vorjahr. Zudem hat die autoritäre Politik der Türkei eigene Flüchtlinge hervorgebracht, deren Anzahl in der nächsten Zeit angesichts der wachsenden Repressionen signifikant ansteigen wird. Die Bundesregierung hingegen hat seit der Flüchtlingsvereinbarung ihre Rüstungsexporte in die Türkei soweit erhöht, dass die Türkei von Platz 25 (2015) auf Platz 8 (2016) der Bestimmungsländer hochgerückt ist.62 Wie einst al-Qadhdhafi wird auch Erdoğan für seine Kooperation mit dem Grenzregime belohnt, obwohl bereits die katastrophalen Folgen der Kooperation absehbar sind. Der Wiederaufbau und Ausbau des europäischen Grenzregimes wird fortgeführt, als ob es die arabischen Aufstände und deren Konsequenzen nie gegeben hätte. In einer Rede an der Harvard University im Jahr 2012 setzte sich die damalige EU-Kommissarin für Innenpolitik, Cecilia Malmström, mit der Reaktion Europas auf den »Arabischen Frühling« auseinander. Sie kritisierte in ihrer Rede die Abwehrreaktion der EU-Mitgliedstaaten auf die Migrationswelle nach den Aufständen: »It is as we’d said to them: It is wonderful that you make a revolution and want to embrace democracy, but by all means, stay where you are because we have an economic crisis to deal with here.«63 Sie forderte in der Rede ein Umdenken im Umgang mit der Migration und plädierte für eine neue Agenda in Europa, die auf menschlichen Werten basiert. Im Mai 2015 hat die EU-Kommission nun eine neue »Europäische Agenda für Migration« vorgestellt.64 Diese ist aber weit davon entfernt, das Migrationsmanagement aus einer neuen Perspektive zu be60 61 62 63 64

Vgl. Zeit Online 2016. URL: missingmigrants.iom.int/mediterranean [22.12.2016]. Deutsche Wirtschaftsnachrichten 2016. Vgl. Malmström 2012, S. 3. URL: ec.europa.eu/anti-trafficking/sites/antitrafficking/files/communication_on_the_eu ropean_agenda_on_migration_en.pdf [22.12.2016].

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trachten und zu betreiben. Der »Flüchtlingsdeal« vom März 2016 mit der Türkei zeigt, dass abermals auf Politikmuster als Lösungsstrategien zurückgegriffen wird, die vor dem Hintergrund der arabischen Revolutionen bereits gescheitert sind. Nur werden gegenwärtig noch beachtlichere Ressourcen dafür eingesetzt. So wurde auf dem EU-Gipfel in Valetta im November 2015 ein »EU Emergency Trust Fund für Afrika« eingerichtet, der die Entwicklungshilfe nun unmittelbar an die Mitarbeit im Migrationsmanagement bindet.65 Dafür wurden bisher 1,88 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Im Juni 2016 stellte schließlich die EU-Kommission ihr neues Rahmenprogramm für Migrationspartnerschaften vor, welches ebenfalls lediglich eine Neuauflage vorheriger Partnerschaftskonzepte ist. Diese heißen allerdings nun »Migration Compacts«. Für die Kooperationen mit Drittstaaten im Migrationsmanagement sollen zwischen 2016 und 2020 ca. acht Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden.66 Als Prioritätsländer für die Umsetzung dieser »Migration Compacts« sind die Länder Niger, Nigeria, Mali, Senegal und Äthiopien ausgewählt worden, da sie zentrale Transit- und Auswanderungsländer in Afrika sind. Auch die Kooperationen mit Ägypten und Sudan sollen ausgeweitet werden.67 Dessen Präsident ʿUmar al-Bashir kann nun also darauf hoffen, dass der internationale Haftbefehl und weitere Sanktionen gegen ihn im Gegenzug zur Migrationskooperation fallen gelassen wird, ähnlich wie einst bei alQadhdhafi. Fünf Jahre nach dem Sturz der autoritären Regime in Tunesien, Libyen und Ägypten gestaltet sich demokratischer Wandel also nicht nur in der MENA-Region als schwierig. Auch die EU verfällt nach einem Anflug von Selbstkritik hinsichtlich der Folgen ihrer Nachbarschafts- und Grenzpolitik wieder in ihre alten Handlungsmuster. Anstatt die Migrationspolitik grundsätzlich neu zu überdenken und Lehren aus dem gescheiterten Grenzregime zu ziehen, werden erneut, wie das Beispiel der Türkei und die Neuauflage der Migrationskooperationen zeigt, autoritäre Strukturen und Diktatoren unterstützt. Das bedeutet, dass die EU sich erneut aktiv an der Konsolidierung einer autoritären Ordnung nicht nur in der MENA-Region, sondern in weiteren Teilen Afrikas beteiligen wird. Die EU hält an ihrem »Outsourcing« und »Offshoring« von Geflüchteten fest, ungeachtet der innenpolitischen und regionalen Konsequenzen dieser Externalisierung des Migrationsmanagements. Auch die Grenzschutzagentur FRONTEX wurde zu diesem Zweck in die »Europäische Agentur für die Grenz-und Küstenwache« umbenannt und soll nun noch weiter ausgebaut werden.68 Immer höhere Summen werden in Grenzsicherungsmaßnahmen investiert. Die autoritären Regimes werden mit neuesten Sicherheitstechnologien ausgestattet und finanziell gestärkt. In der gesamten Debatte wird dabei gänzlich ausgeklammert, dass diese Maßnahmen in den Part65 URL: eeas.europa.eu/sites/eeas/files/factsheet_ec_format_eu_emergency_trust_fund_for _africa.pdf [22.10.2016]. 66 URL: eeas.europa.eu/sites/eeas/files/factsheet_ec_format_migration_partnership_frame work_update_2.pdf [22.12.2016]. 67 Vgl. Schlindwein 2016. 68 URL: europa.eu/rapid/press-release_MEMO-15-6332_en.htm [22.12.2016].

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nerländern innenpolitisch weitere Repressionen und somit erneute Migration erzeugen wird. Der in dieser Form geführte Kampf gegen die irreguläre Migration resultiert in einem irrsinnigen Kreislauf, der sich durch sein Scheitern selbst am Leben erhält. Während immer mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken, wächst die »Illegalitätsindustrie« an der Verweigerung Europas, ihre Migrationspolitik zu überdenken. Literatur Amnesty International 2016 a. »Displaced and Dispossessed: Sur Residents’ Right to Return Home«, in: Amnesty International online, 6. Dezember, URL: amnesty.org/en/documents/ eur44/5213/2016/en/ [22.12.2016]. Amnesty International 2016 b. »Türkei schiebt widerrechtlich Flüchtlinge nach Afghanistan ab«, in: Amnesty International online, 23. März, URL: amnesty.ch/de/laender/europa-zent ralasien/tuerkei/dok/2016/ausschaffung-von-fluechtlingen-nach-afghanistan [22.12.2016]. Andersson, Ruben 2014. »Hunter and Prey: Patrolling Clandestine Migration in the Euro-African Borderlands«, in: Anthropological Quarterly, 87 (1), S. 118-149. Andersson, Ruben 2016. »Europe’s Failed,Fight‹ against Irregular Migration: Ethnographic Notes on a Counterproductive Industry«, in: Journal of Ethnic and Migration Studies, 42 (7), S. 1055-1075. Andrijasevic, Rutvica 2009. »Deported: The Right to Asylum at EU’s External Border of Italy and Libya«, in: International Migration, 48 (1), S. 148-174. Ayata, Bilgin 2015. »Turkish Foreign Policy in a Changing Arab World: Rise and Fall of a Regional Actor?«, in: Journal of European Integration, 37 (1), S. 95-112. Ayata, Bilgin; Yükseker, Deniz 2005. »A Belated Awakening: National and International Responses to the Internal Displacement of Kurds in Turkey«, in: New Perspectives on Turkey, 32, S. 5-42. Bhambra, Gurminder K. 2014. Connected Sociologies. New York: Bloomsbury Publishing. Bialasiewicz, Luiza 2012. »Off-shoring and Out-sourcing the Borders of Europe: Libya and EU Border Work in the Mediterranean«, in: Geopolitics, S. 17 (4), S. 843-866. Börzel, Tanja A.; Hüllen, Vera van 2014. »One voice, one Message, but Conflicting Goals: Cohesiveness and Consistency in the European Neighbourhood Policy«, in: Journal of European Public Policy, 21 (7), S. 1033-1049. Boswell, Christina 2003. »The,External‹ Dimension of EU Cooperation in Immigration and Asylum«, in: International Affairs, 73 (3), S. 619-638. Boubakri, Hassan 2013. Revolution and International Migration in Tunisia. San Domenico di Fiesole: European University Institute. Brambilla, Chiara 2014. »Shifting Italy/Libya Borderscapes at the Interface of EU/Africa Borderland: A ›Genealogical‹ Outlook from the Colonial Era to Post-Colonial Scenarios«, in: ACME: An International E-Journal for Critical Geographies, 13 (2), S. 220-245. Cassarino, Jean-Pierre 2014. »EU Migration Policy – Protecting the Migrants or the Union: A Reappraisal of the EU’s Expanding Readmission System«, in: The International Spectator. Italian Journal of International Affairs, 49 (4), S. 130-145. Collett, Elizabeth 2016. »The Paradox of the EU-Turkey Refugee Deal«, in: Migration Policy Institute, März, URL: www.migrationpolicy.org/news/paradox-eu-turkey-refugee-deal [22.12.2016]. Collyer, Michael 2016. »Geopolitics as a Migration Governance Strategy: European Union Bilateral Relations with Southern Mediterranean Countries«, in: Journal of Ethnic and Migration Studies, 42 (4), S. 606-624. Conrad, Sebastian; Randeria, Shalini 2002. Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Campus. Dekalchuk, Anna A. 2015. »When the Revolutionary Wave Comes: Arab Spring and the Role of the European Commission in the Schengen Reform, 2011-2013«, in: Higher School of Economics Research Paper, WP BRP 23/IR/2015, URL: hse.ru/data/2015/12/29/11363009 65/23IR2015.pdf [22.12.2016].

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Migration und das europäische Grenzregime nach den arabischen Revolutionen

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Zusammenfassung: Dieser Artikel analysiert Migration und das europäische Grenzregime in Verbindung mit den arabischen Revolutionen. Das Kernargument lautet, dass die Massenproteste nicht nur die autoritären Regime in der Region, sondern auch das europäische Grenzregime zu Fall gebracht haben. Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei ist eine Neuauflage einer gescheiterten europäischen Migrationspolitik, die keine Lehren aus den arabischen Umbrüchen zieht. Stichworte: Flucht, Migration, Grenzregime, EU, MENA, Arabischer Frühling

Migration and the European Border Regime after the Arab Revolutions Summary: This article analyses migration and the European border regime in the context of the Arab revolutions. It argues that the protests that toppled the authoritarian regimes in the region also brought down the European border regime, as the dictators in Tunisia and Libya acted as border guards of Europe. Five years after the uprisings however, the EU is reinstalling its failed policies despite the negative political consequences, as the refugee deal with Turkey illustrates. Keywords: Flight, migration, border regime, European Union, Middle East and North Africa (MENA), Arab Spring

Autorin Prof. Dr. Bilgin Ayata Universität Basel Seminar für Soziologie Petersgraben 27 CH-4051 Basel [email protected]

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Kerem Öktem

Türkisches Zwischenspiel im Nahen Osten Neo-imperialer Islamismus und die AKP zwischen Farce und Tragödie Einleitung Das Sinnbild einer zeitrafferhaften Bewegung von Aufbruch über demokratischen Neubeginn hin zum Zerfall der Machtgefüge und Ordnungsstrukturen im Nahen Osten trifft nicht nur für die meisten der Länder der Arabellion zu. Auch die Türkei wurde durch die Verwerfungen in den arabischen Nachbarländern, an denen die außenpolitischen Eliten der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) maßgeblich mitbeteiligt waren, erfasst. Der Aufstieg und Fall des »türkischen Modells« im Nahen Osten ist in der Literatur bereits detailliert untersucht worden.1 Dabei wird die Türkei aber vor allem als externer Akteur verstanden, der durch seine Modellrolle und seine Präsenz vor Ort Einfluss nimmt, aber selbst nicht verändert wird. Dies, so werde ich in diesem Beitrag darlegen, ist nicht der Fall. Am Beginn der Aufstände gab es in der Region relativ konsolidierte autoritäre Systeme und ein relativ stabiles Gleichgewicht zwischen diesen politischen Herrschaftskonstellationen. Mit der nur bedingt hoffnungsvollen Ausnahme Tunesiens sind es nun entweder gewalttätige Diktaturen oder scheiternde Staaten, deren Außengrenzen nicht mehr kontrollierbar sind. In der Türkei ist der etwas zeitversetzte Umschwung aber nicht weniger gravierend: Während wir bis zu den Gezi-Protesten im Mai und Juni 2013 eine funktionierende Demokratie – wenn auch mit Tendenzen zur autokratischen Zentralisierung und Vereinnahmung des Staatsapparates durch die AKP bzw. durch Recep Tayyip Erdoğan nahestehende Akteure – konstatieren konnten, beobachten wir spätestens seit der Wahl Erdoğans zum Präsidenten im Jahr 2014 eine sich beschleunigende Abwärtsspirale in die Diktatur mit zunehmenden faschistoiden Zügen und der Gefahr eines Scheitern des türkischen Staates besonders in den kurdischen Gebieten. Was aber genau sind die innenpolitischen und außenpolitischen Faktoren, die die über 60 Jahre währende, wenn auch schwache demokratische Pfadabhängigkeit der Türkei umgekehrt haben? Dieser Beitrag versucht eine Beantwortung anhand einer analytischen Annäherung: Es geht hierbei um die Ideologie des Neo-Ottomanismus – inoffizielle Doktrin der türkischen Außenpolitik unter Ahmet Davutoğlu bis Mai 2016, die sich in Reaktion auf die Arabellion im Bündnis mit der Muslimbruderschaft artikulierte und dann in die Tragödie des Krieges in Kurdistan geführt hat. Abschließend 1 Siehe besonders Tuğal 2016, der das Scheitern des »islamischen Liberalismus« in den Widersprüchen der neoliberalen Politischen Ökonomie begründet.

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wird mit einer kritischen Betrachtung eines möglichen Staatsscheiterns bzw. einer Re-Artikulation der Machtkonstellationen in der Türkei der Bezug zu den Entwicklungen im Nahen Osten wie in Europa hergestellt. Das Zwischenspiel der Türkei im Nahen Osten als regionale Führungsmacht mit hegemonialem Anspruch gegenüber der arabischen und islamischen Welt war kurz, doch die Folgen für die Türkei und die Region sind noch kaum abzusehen. Zusammen mit ihren westlichen Verbündeten, aber aus ganz anderen ideellen und machtpolitischen Erwartungen heraus, hat die Türkei unter der AKP zur Destabilisierung der Region beigetragen. Nun schwappen diese Entwicklungen über den kurdischen Konflikt und die Terroraktionen des »Islamischen Staates« in die Türkei über. Auch die Flucht von mehr als drei Millionen Flüchtlingen aus Syrien ist Teil dieses »spillover«, der in Abwesenheit einer Integrations- bzw. Asylpolitik zu einer Destabilisierung des Landes beiträgt. Diese tragische Wende ist besonders bemerkenswert, da die ursprünglichen Wirkungen besonders der ägyptischen und tunesischen Aufstände auf Entwicklungen in der Türkei eher vielversprechend waren. Wie ich an anderer Stelle aufgezeigt habe, markierten die ersten Monate dieser Aufstände eine Wende in der Art und Weise, wie Menschen in der Türkei ihre arabischen Nachbarn wahrnehmen.2 In einer qualitativen Studie mit ca. 30 Teilnehmern aus der Wissenschaft und des öffentlichen Lebens zeichnete sich eine klare Tendenz ab, dass die Aufstände besonders im säkularen Lager zu einem Umdenken führten. Bilder des »ungeliebten Arabers« und des »fatalistischen Menschen« wurden dabei in Frage gestellt. Besonders bei jungen Menschen, die an den Gezi-Protesten teilnahmen, war ein Interesse an der politischen Kreativität der Demonstrantinnen und Demonstranten in Ägypten und Tunesien nachzuweisen. Nicht zuletzt konnte man dies an Plakaten im Gezi-Park sehen, die einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Taksim, also dem Platz neben dem Gezi-Park, und dem Tahrir-Platz in Kairo herstellten, dem Platz, auf dem die vielleicht wichtigsten Demonstrationen der Arabellion stattgefunden haben. Trotz der Solidarität zwischen den jungen Menschen auf den zwei Plätzen, sollten die beiden Plätze im Kontext der türkischen Politik eine geradezu entgegengesetzte Symbolik annehmen. Für die AKP-Führung wurde der Taksim zum Sinnbild einer internationalen Verschwörung gegen die legitime Regierung des Landes, während der Tahrir-Platz für den Aufbruch der Muslimbruderschaft in Ägypten steht. Rabiʿa al-ʿAdawiya, der Platz, auf dem im August 2013 bis zu tausend Angehörige der Muslimbruderschaft zu Tode kamen, symbolisierte dann das Ende der Hoffnungen auf eine Neuordnung des Nahen Ostens im Sinne des politischen Islams durch die Ikhwan und unter Führung der Türkei. Der vereitelte Putschversuch in der Türkei vom 15. Juli 2016 schließlich markiert den Beginn eines Eskalationskurses in der Innenpolitik und eine Rückkehr zu einer opportunistischpragmatischen Außenpolitik. Diese Momente illustrieren die Spannungen und Konflikte der türkischen Außen- und Innenpolitik im Schatten der Arabellion.

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Vorweg sei bemerkt, dass die Spannungen zwischen verschiedenen Flügeln der Regierungspartei, zwischen Erdoğan und dem bis vor kurzem die Außenpolitik führenden Ahmet Davutoğlu, wichtige Rahmenbedingungen für die Entwicklungen in der Türkei geliefert haben. Spannungen bestanden einerseits zwischen der intellektuell-ideologischen Außenpolitik Davutoğlus, die ein klares neo-imperiales Programm einer islamischen Renaissance unter türkischer Führung verfolgte3, und der sehr viel opportunistischeren Machtorientierung Erdoğans, die zwar ebenfalls einen Diskurs des Neo-Osmanismus und des Islamismus benutzt, aber die Außenpolitik vor allem an den aktuellen Machtverhältnissen in der Region ausrichtet.4 Eine weitere bedeutende Rahmenbedingung, die zu dieser Abfolge von Fehlern und Überbewertungen der eigenen politischen und militärischen Ressourcen geführt hat, ist die besondere Situation von Recep Tayyip Erdoğan, der während der Arabellionen in seiner Führungsrolle massiv herausgefordert wurde, zuerst während der Gezi-Proteste im Mai 2013 und dann durch die vernichtenden Korruptionsvorwürfe, die im Dezember 2013 öffentlich wurden.5 Trotzdem konnte er sich 2014 mit knappen 52 Prozent zum Staatspräsidenten wählen lassen. Sein Machtkampf geht einher mit dem Ansinnen, einen Regimewechsel zu einem Präsidialsystem herbeizuführen. Dieser Regimewechsel soll einerseits das Ende der »kemalistischen Republik« und den Beginn einer »islamischen Türkei« einleiten6 und ihn andererseits vor Strafverfolgung schützen. Hinzu kommt eine ideologische Überhöhung seiner Führungsrolle, zumindest in den Augen seiner Sympathisanten, durch missionarisches Sendungsbewusstsein, das seinen islamistischen Grundüberzeugungen geschuldet ist. Die Tragödie, die in diesem Beitrag behandelt wird, ist 3 Özkan 2014. 4 Die Entwicklungsrichtung der Außenpolitik nach Davutoğlus Rücktritt vom Amt des Premierministers im Mai 2016 und besonders die Wiederaufwertung der Beziehungen mit Israel und Russland unterstützen die These einer »opportunistischen Wende« ebenso wie die aggressive Haltung der Türkei in Irak und Syrien: In beiden Fällen geht es nun weniger um Ideale einer islamischen Führung, sondern um regionales Vormachtstreben und den Kampf gegen die kurdische Bewegung. Eine Frage, die hier nicht beantwortet kann, ist, inwieweit die Hizmet-Bewegung um den charismatischen Prediger Fethullah Gülen die Außenpolitik unter Davutoğlu unterstützte bzw. torpedierte. Die Beziehungen mit Russland wurden im November 2015 durch den Abschuss eines russischen Kriegsflugzeugs über Syrien erheblich belastet. Dieser Schritt wurde weder von Davutoğlu noch von Erdoğan gutgeheißen und es bestehen Hinweise darauf, dass die Verantwortung hierfür bei Mitgliedern der Hizmet-Bewegung liegt. 5 Was die Korruptionsvorwürfe angeht, die im Dezember 2013 bekannt wurden, ist die Urheberschaft höchstwahrscheinlich bei Anhängern der Hizmet-Bewegung zu suchen, die mit der Veröffentlichung von Mitschnitten von Telefongesprächen und Videoaufnahmen im engsten Kreise Erdoğans seine Wahl zum Staatspräsidenten verhindern wollten. 6 Der Topos der Republik als eine historische Ausnahmesituation ist in AKP-Kreisen tief verankert und wird zunehmend auch in der allgemeinen Debatte und im Kontext der Auseinandersetzungen um das Präsidialsystem genutzt. Hierbei steht das Präsidialsystem für eine Art Wiedergutmachung für die Abschaffung des Kalifats und der osmanischen Ordnung durch die Kemalisten.

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daher auch die Tragödie von Erdoğans politischem Überlebenskampf, der durch die Gewissheit geprägt ist, dass jeder Schritt in Richtung einer Rückkehr zu demokratischen Prozessen dem Ende seiner politischen Karriere gleichkommt.7 Neo-Osmanismus als Farce und Realität: Ideologische Ansprüche und Radikalisierung Die AKP-Außenpolitik wurde seit Mitte der 2000er Jahre von Ahmet Davutoğlu geprägt, zuerst als außenpolitischer Berater von Premierminister Erdoğan, dann als Außenminister und schließlich ab August 2014 als Premierminister. Die entsprechende wissenschaftliche Literatur zur türkischen Außenpolitik unter der AKP kann im Wesentlichen drei divergierenden Grundperspektiven zugeordnet werden, von denen die erste, die »verzaubert-pragmatische Perspektive«, mittlerweile weitgehend entwertet ist. Diese »verzaubert-pragmatische Perspektive« nahm besonders ab den mittleren 2000er Jahren den von Davutoğlu vorgeschlagenen Diskurs der »strategischen Tiefe«8 und der »zero problems policy with neighbours«9 begeistert auf. Tatsächlich verdichteten sich empirische Hinweise auf eine Vertiefung der wirtschaftlichen Vernetzung der Türkei mit ihren Nachbarregionen, von der man moderierende Impulse für die Außenpolitik und ein Primat wirtschaftlicher Interessen erwarten konnte.10 Diese Perspektive wurde aber zunehmend Teil der AKP-Regierungspropaganda und Gegenstand parteilicher think tank-Positionen. Schließlich mutierte der Neo-Osmanismus zu einer apologetischen Verteidigung des Scheiterns der türkischen Außenpolitik im Nahen Osten als »kostbare Einsamkeit« (precious loneliness) durch einen der führenden Außenpolitiker der AKP und Erdoğans, Ibrahim Kalın.11 Die realistische Analyse der türkischen Außenpolitik konzentrierte sich von Beginn an auf die tatsächlichen Machtverhältnisse und die Realpolitik der AKP-Regierung in den Regionen unter ihrem Einfluss. Aus dieser Literatur entspringt auch die Debatte um die Türkei als neue Regionalmacht mit Führungsanspruch in der arabischen und islamischen Welt sowie die begrenzte Kompatibilität dieses Anspruchs mit westlichen Interessen in der Region.12 Die kritische Analyse der ideologischen Grundannahmen wie auch der jeweiligen türkischen Präsenz in verschiedenen Einflussbereichen setzt sich von den vorhergehenden Ansätzen in ihrer Tiefenschärfe ab. Im Zentrum steht die Kritik der 7 Zur »existenziellen Unsicherheit«, die das Verhalten Erdoğans strukturiert, siehe Akkoyunlu/Öktem 2016. 8 Für eine kritische Auseinandersetzung mit Davutoğlus Konzept der »strategischen Tiefe« siehe Yalvaç 2012; Murinson 2006. 9 Bezen Balamir Coşkun (2015) gibt einen guten Überblick über die außenpolitischen Diskurse der AKP. Vgl. auch Benhaïm/Öktem 2015. 10 Für den Begriff des Trading State siehe Kirişci/Kaptanoğlu 2011. 11 Kristianasen 2015. 12 Für eine kritisch realistische Perspektive siehe Dinçer/Kutlay 2012; Altunışık 2008. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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neo-imperialistischen Versatzstücke des sogenannten Neo-Osmanismus,13 aber auch eine weitergehende Diskussion der Politik Davutoğlus als pan-islamischem Herrschaftsprojekt, in dem der Neo-Osmanismus eher einen gutartigen Aspekt türkischer Hegemonialansprüche darstellt. Özkan beispielsweise legt eindeutig dar, wie sehr sich Davutoğlu einer pan-islamischen Führungsrolle verschrieb, die ausgehend von einem kategorischen Widerspruch zwischen islamischer und westlicher Welt eine neue Machstruktur im Nahen Osten und in der Welt herbeiführen sollte.14 Kristallisationspunkte dieser fundamentalen Revision der außenpolitischen Identität der Türkei waren in der Alltagspraxis türkischer Akteure spätestens seit der Mitte der 2000er Jahre sichtbar.15 Auch die grundsätzliche Wesensverwandtschaft der Milli Görüş-Bewegung mit den ägyptischen al-Ikhwan alMuslimin ist, trotz feiner Unterschiede und divergierender historischer Erfahrungen, gut belegt.16 Tatsächlich legt die Sequenzierung der türkischen Außenpolitik die schrittweise Entwicklung von einer pragmatischen zu einer stärker ideologisch-islamistisch fundierten Außenpolitik nahe. Dieser Wandel ging einher mit der Konsolidierung der AKP-Regierung, die zum Zeitpunkt der ersten Proteste in Tunesien im Dezember 2010 auf den Höhepunkt ihrer Macht und den Erfolg in den Wahlen von Juni 2011 zusteuerte. Während die ideologischen Grundkonstellationen für eine türkische Einflussnahme in den arabischen Nachbarstaaten also schon gegeben waren, überwogen bis zu diesem Zeitpunkt die diskursiven Elemente der pragmatischverzauberten Perspektive, also der strategischen Tiefe und gut-nachbarschaftlicher Beziehungen, besonders auch mit dem Syrien Bashar al-Asads. Verlockung der Muslimbruderschaft und des Konfessionalismus Auch wenn also schon im Jahr 2010 eine Art mental map für die türkische Führungsrolle der arabischen und islamischen Welt existierte, so waren die außenpolitischen Eliten der AKP, trotz interner Differenzierungen, auf die Aufstände in Tunesien, Ägypten, Syrien und Libyen genauso unvorbereitet wie der Rest der Welt. Es waren aber die Entwicklungen in diesen Ländern, die die Bedingungen für den Spagat zwischen einer auf die ferne Zukunft projizierten pan-islamischen Führungsrolle der Türkei und der verzaubert-pragmatischen Außenpolitik zunichtemachten. Mit den ursprünglichen Aufständen und der meist verspätet einsetzenden Initiative der Muslimbruderschaft und nahestehender Bewegungen in Tunesi13 Yohanan/Öktem 2016; Taşpınar 2012; Fisher Onar 2009. 14 Özkan 2014. Eines der zentralen Ziele dieser Neuordnung ist dabei die Überwindung der territorialen Aufteilung des Nahen Ostens (und somit des Osmanischen Reichs) durch Frankreich und Großbritannien. Diese revisionistische Auffassung richtet sich gegen die sogenannten Sykes-Picot-Verträge, die Grundlage des (noch) bestehenden Staatensystems in der Levante, aber auch gegen den Vertrag von Lausanne, der die Grenzen der türkischen Republik festlegt. 15 Öktem 2010. 16 Abdelkader 2013.

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en, Ägypten und Syrien begann eine Radikalisierung der AKP und besonders der außenpolitischen Eliten um Ahmet Davutoğlu, die sich im entscheidenden Moment von der romantischen Fehleinschätzung mitreißen ließen, dass nun die Zeit reif wäre, die Demütigung der muslimischen Welt durch den Westen zumindest in den arabischen Nachfolgestaaten des Sykes-Picot-Abkommens rückgängig zu machen. Die Erwartung war, dass in diesen Ländern demokratische Wahlen die Muslimbrüder, zu denen spätestens seit den 1980er Jahren enge Kontakte über die Milli Görüş-Bewegung bestanden, an die Macht bringen würden. Unter der Führung der Türkei sollten die arabischen Muslimbrüder dann eine neue post-koloniale Ordnung im Nahen Osten verwirklichen. Beide Erwartungen erwiesen sich bald als unangemessen. Für die AKP-Regierung aber wurden die Erfahrungen der Muslimbruderschaft und besonders ihrer Entmachtung und Verfolgung in Ägypten zu einem kritischen Wendepunkt, in politischer, symbolischer und emotionaler Hinsicht. Am Ende dieses komplexen Moments steht der Bruch der demokratischen Pfadabhängigkeit in der Türkei.17 Die Frage, ob die Arabellionen die Ursache für diesen Bruch geliefert oder hierbei nur beschleunigend gewirkt haben, kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschließend beantwortet werden. Die begeisterte Teilnahme der AKP-Regierung und des islamischen Lagers in der Türkei in der Frühphase der Aufstände und die Emotionen, mit denen sie auf die Niederschlagung der Brüderschaft reagierten, legen aber nahe, dass dies eine prägende Erfahrung war. Berater der AKP standen den Parteien der Muslimbruderschaft besonders in Ägypten und Tunesien mit Rat und Tat, aber auch mit großzügigen Geldtransfers zur Seite.18 Kritische Beobachter in Ägypten attestierten der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (Hizb al-hurriya wa-l-ʿadala) realpolitische Unkenntnis, die sie nur mit der professionellen Unterstützung der AKP überwinden könnte. Auch alNahda in Tunesien war ein Rezipient tatkräftiger Unterstützung von Seiten der AKP. Rashid al-Ghannushi bezog sich regelmäßig auf die AKP als Beispiel für eine erfolgreiche konservative Partei, die in demokratischen Strukturen beheimatet sei, sich dabei aber auf ihre islamischen Werte besinne.19 Bei Muhammad Mursi war die Bezugnahme auf die AKP und vor allem Erdoğan zurückhaltender, da selbst 17 Der Begriff einer demokratischen Pfadabhängigkeit kann kritisch gesehen werden. Bis zur Wahl Erdoğans war die Türkei letztendlich ein hybrides System, in dem starke Vetospieler wie das Militär und das Justizwesen den demokratischen Prozess lenkten. In vielen Bereichen lag die Macht bei den Vetospielern und nicht den demokratisch gewählten Regierungen. Dennoch wurden zumindest die Grundregeln demokratischer Wahlen aufrechterhalten und die Erwartung, dass durch Wahlen Regierungen abgesetzt werden können, war in der Bevölkerung tief verankert. Seit der Wiederholung der Wahlen im Juni 2015 ist diese Erwartung nun nicht mehr angebracht. Für eine tiefere Auseinandersetzung mit der demokratischen Pfadabhängigkeit vgl. Akkoyunlu/Öktem 2016. 18 Çandar 2012. Siehe auch Aydin-Düzgit 2014 für das nicht ganz unproblematische Verhältnis zwischen AKP und den Ikhwan und den mitunter kollidierenden Führungs- und Machtansprüchen. 19 Moshiri 2011. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Erdoğans Lippenbekenntnis zum Säkularismus für die Muslimbruderschaft politisch inakzeptabel war.20 Auch in Syrien versuchte die Türkei Einfluss auszuüben und zur Entmachtung des früheren strategischen Partners Bashar al-Asad beizutragen. Hierfür wurden verschiedene Widerstandsbewegungen unterstützt, von denen sich mehrere alQaʿida und dann dem »Islamischen Staat« anschlossen.21 Spätestens mit den vermutlich vom Militär unterstützten Protestmärschen der Tamarrud-Bewegung in Ägypten und dem folgenden Militärputsch gegen Präsident Muhammad Mursi im Juli 2013 geriet die AKP-Nahostpolitik außer Kontrolle. Dass der Militärputsch gegen Mursi und die Tamarrud-Demonstrationen auch noch mit den Gezi-Protesten am Taksim-Platz22 zusammenfielen, verschärfte aus Sicht der AKP-Regierung die Wahrnehmung einer internationalen Verschwörung. Diese richtete sich zum einen gegen das regionale Ordnungsprojekt für den Nahen Osten unter türkischer Führung, zum anderen aber auch gegen das AKP-Herrschaftsprojekt in der Türkei und das politische Überleben seiner Führung. Diese Grundbefindlichkeit wurde von Erdoğan bewusst in das Zentrum einer Kurskorrektur der Innen- und Außenpolitik gestellt, an deren Ende sich die türkische Regierung in Diskurs und Praxis von rationalen Entscheidungsprozessen fast vollständig verabschiedet hatte und die erst mit der Ablösung des inzwischen zum Premierminister aufgestiegenen Ahmet Davutoğlu im Sommer 2016 zum Ende kam. Die Jahre 2013-2016 sind gezeichnet durch eine Verengung, »Ikhwanisierung« und Konfessionalisierung der türkischen Außenpolitik: Die Türkei bildete eine »sunnitische Achse« mit dem Golfemirat Katar, jede Prätention eines »Trading state« oder der »Zero problems policy« wurde aufgegeben. Die Stichworte, unter denen diese Politik international aufgenommen und analysiert wurde, unterschieden sich dann auch vehement von dem verklärten Diskurs der »Türkei als Modell«: Im Zentrum standen nun die Kritik an der trotzigen Verteidigung der ägyptischen Muslimbruderschaft, die Entdeckung des »Dschihadisten-Highway« nach Syrien, die Unterstützung des »Islamischen Staates« bzw. nahestehender dschihadistischer anti-Asad-Milizen mit Waffen und die medizinische Behandlung dieser Kämpfer in türkischen Krankenhäusern. Die Unterstützung der Muslimbruderschaft sowie des islamistischen Widerstandes gegen Asad hätte vielleicht unter Kontrolle gehalten werden können, wenn die Angelegenheit eine ausschließlich außenpolitische geblieben wäre. Dies war aber nicht der Fall, da der syrische Bürgerkrieg in die Türkei »überschwappte«. Die Flucht von bis zu drei Millionen Menschen aus Syrien in die Türkei destabilisierte beson-

20 Al-Arabiya 2011. Hinzu kommt, dass trotz aller Unterstützung und Sympathie auch eine gewisse Spannung das Verhältnis zwischen AKP und Bruderschaft geprägt hat. Der implizite, immer öfter auch explizit ausgedrückte Anspruch einer türkischen Führung in der islamischen Welt wurde auch von den Muslimbrüdern mit Skepsis betrachtet. 21 Philip 2016; Barney 2014. 22 Akyol 2015.

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ders die fragilen lokalen Machtverhältnisse und ethnischen Gleichgewichte in grenznahen Städten wie Antakya (Hatay) und Kilis.23 Im Zuge dieser Massenflucht konnten auch zahlreiche Kämpfer des Islamischen Staates in die Türkei einreisen und sich mit Sympathisanten des IS in türkischen Städten in Verbindung setzen. Zusammen schufen sie die logistische und personelle Infrastruktur für die Anschläge gegen kurdische und sozialistische Aktivisten sowie Touristen in Istanbul und Ankara, die in den Jahren 2015 und 2016 zu einer schleichenden Destabilisierung der Sicherheitslage im Westen der Türkei beitrugen.24 Und zuletzt entfaltete der Krieg in Syrien seine Wirkung auch über die Mobilisierung vieler Kurden in der Türkei durch den bewaffneten Kampf kurdischer Gruppen in Syrien und das identitätsstiftende Moment eines »kurdischen Aufbegehrens« gegen den Islamischen Staat in Kobane.25 Die kurdische Tragödie und die Wiederkehr des »deep state« Der Übergang von der neo-osmanischen Herrschaftsideologie zur Tragödie im syrisch-kurdischen Grenzraum war abrupt. Während noch im September 2014 Friedensgespräche zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Bewegung geführt wurden und im Februar 2015 die Entwaffnung der kurdischen GuerillaOrganisation PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê) in greifbarer Nähe zu sein schien, befanden sich die Türkei und die PKK kurz darauf im Kriegszustand. Die Erklärungsansätze für diesen radikalen Wandel können in drei divergierenden Hypothesen zusammengefasst werden, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte auf die Interessen der Hauptakteure setzen. Der erste sieht die bürgerkriegsähnlichen Zustände in den kurdischen Gebieten als Folge der Eskalationspolitik Erdoğans 23 Besonders die Provinz Hatay ist hier bemerkenswert, da sie die ethnischen, religiösen und gesellschaftlichen Strukturen Syriens widerspiegelt. Erst 1938 der Republik Türkei zugeschlagen, wurde die Provinz von syrischen Nationalisten in den folgenden Jahrzehnten grundsätzlich als Teil Syriens angesehen. Trotz einer fortschreitenden Assimilierung konnte sich hier eine gewisse ethno-religiöse Vielfalt erhalten. Für die Nusairis, die arabischsprachigen Alawiten in der Türkei, ist Hatay ein bedeutendes Bevölkerungs- und Kulturzentrum. Durch den Krieg im Nachbarland haben sich auch die Alawiten in Hatay und angrenzenden Gebieten politisch Asad zugewandt. Die Flucht zehntausender arabischer Sunniten hat daher unmittelbare und eher negative Auswirkungen auf das soziale und politische Klima in dieser Provinz. Besonders in Antakya, der Provinzhauptstadt, sind sowohl pro-Asad wie auch islamistische Fraktionen stark vertreten. Unter den Alawiten besteht die nicht ganz unbegründete Angst, dass die Regierung die arabischen Sunniten zu einer demografischen Umgestaltung und Islamisierung der Provinz nutzen möchte. Vgl. auch Reçber/Ayan 2014; Beck/Cecco 2013; Gettleman 2012. 24 Blaser/Stein 2015. 25 Der von der PKK geführte Verteidigungskrieg gegen den Islamischen Staat in Kobane wird als zentrales Moment in der transnationalen Mobilisierung gerade junger Kurden gesehen, die die Türkei für die Aggression des Islamischen Staates gegen die dortige kurdische Staatlichkeit verantwortlich machten. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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an. Demnach strebte Erdoğan nach dem Verlust der AKP-Alleinregierung in den Wahlen vom Juni 2015 die Konsolidierung seiner eigenen Macht an.26 Ein zweiter Ansatz macht die PKK verantwortlich für die Eskalation, mit dem Hinweis auf das erstarkte Selbstbewusstsein und internationale Ansehen der kurdischen Bewegung in Syrien und einer daraus resultierenden Überschätzung kurdischer Macht. Der letzte und vermutlich provokantere Ansatz sieht vor dem Hintergrund der ersten beiden Thesen und im Kontext der zunehmenden Zerstörung in vielen kurdischen Städten eine Rückkehr des sogenannten deep state, des »tiefen Staates«, und eine Neuverhandlung der Machtverhältnisse zwischen Teilen der AKP und dem türkischen Militär.27 Für eine tiefere Analyse können diese drei Ansätze auch zusammengelesen werden. Es ist relativ unumstritten, dass die Wahlen vom Juni 2015 und die Monate danach einen weiteren kritischen Wendepunkt in der neueren türkischen Geschichte darstellen. Nach mehr als zwölf Jahren AKP-Regierung und trotz massiver Interventionen des mittlerweile zum Präsidenten gewählten Erdoğan verlor die Partei ihre absolute Regierungsmehrheit, während die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP) mit 13 Prozent der Stimmen ein unerwartet starkes Mandat für die Friedensverhandlungen auch von nicht-kurdischen Wählern erhielt.28 Dies war auch der Moment, in dem die Türkei einer Lösung des Konfliktes mit ihren kurdischen Staatsbürgern am nächsten war. Eine politische Gruppierung, die aus einer ethno-nationalen Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangen war, konnte sich zu einer »Partei für die ganze Türkei« (Türkiye partisi) profilieren und als Brücke zwischen kurdischen Nationalisten und türkischen Linken und Liberalen fungieren.29 Der Ausgang der Wahlen vom Juni 2015 wurde aber von Erdoğan nicht anerkannt. Während mit dieser Nichtanerkennung des Wahlausgangs der demokratische Prozess de facto suspendiert wurde, begann das türkische Militär einen Vernichtungsfeldzug in den kurdischen Städten, die eine starke Präsenz von PKKSympathisanten aufwiesen. In der Phase zwischen der de facto annullierten Wahl vom Juni 2015 und der von Erdoğan entgegen demokratischer Konventionen an26 Cohen 2015. 27 Akkoyunlu 2015. Die Frage, wer nach den vielen Säuberungsaktionen vor und nach dem Putschversuch im Militär das Sagen hat, ist berechtigt und kann ebenfalls nicht abschließend beantwortet werden. Es deutet vieles darauf hin, dass sich die Machtverhältnisse von einer Koalition aus Anhängern der Gülen-Bewegung und den USA gewogenen Offizieren zu einer eher anti-westlichen, nationalistischen Fraktion verschoben haben. Siehe auch Gürcan 2016a-c. 28 Die Zeit 2015. 29 Diese Transformation einer ethno-nationalen zu einer progressiven sozialistischen Partei war bemerkenswert, wenn vielleicht auch eher oberflächlich, da die ideologischen und lebensweltlichen Divergenzen zwischen politischen Positionen der kurdisch-nationalistischen und der links-liberalen und sozialistisch-türkischen Strömungen in der Partei sehr bedeutend waren (und sind). Zu dem anti-hegemonistischen Potenzial der HDP siehe Tekdemir 2016; zu den ideologischen Spannungen zwischen linkem Anspruch und stalinistischer Parteistruktur siehe Leezenberg 2016.

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gestrengten Neuwahl im November 2015 wurde ein Krieg inszeniert, der unter anderem zu einer fast vollständigen Zerstörung der historischen Altstadt von Diyarbakır, dem politischen Zentrum der kurdischen Bewegung, führte. Zahlreiche Kreisstädte wurden mit Ausgangssperren belegt.30 Hunderte Zivilisten und Tausende von Kombattanten kamen zu Tode.31 Hinzu kamen Terroranschläge auf Wahlveranstaltungen der HDP und nahestehender Organisationen mit mehreren Dutzend Toten.32 Inwieweit diese Anschläge von der Regierung gewollt waren, ob sie aus dem Dunstkreis des Staates mitgeplant wurden, ob Nachrichtendienste involviert waren oder weggeschaut haben oder ob die Sicherheitsdienste versagt haben, können wir auf der Grundlage der derzeit bekannten Fakten nicht sagen. Indizien weisen aber darauf hin, dass operationelle Entscheidungen der Polizei die Anschläge erst ermöglicht haben.33 Die rapide Eskalation der Gewalt an mehreren Fronten wurde von Erdoğan genutzt, um die Wählerschaft davon zu überzeugen, dass die Türkei ohne eine AKP-Regierung im Chaos versinken würde. Tatsächlich wurde die AKP nach den – nun nicht mehr demokratischen Wahlen vom November 2015 – wieder Regierungspartei mit einer absoluten Mehrheit im Parlament. Allerdings hätte die türkische Regierung, die spätestens seit der Wahl vom Juni 2015 de facto dem Staatspräsidenten untersteht, den Krieg mit der PKK schlecht alleine vom Zaun brechen können. Nach Jahren erratischer Friedensverhandlungen mit den Unterhändlern des türkischen Staates und wiederholter Wellen der Verhaftung von kurdischen Politikern34 bestand in der kurdischen Politik Irritation und zumindest innerhalb der PKK eine Bereitschaft für die Rückkehr zu den 30 Die AKP-Regierung verweist besonders auf die Schützengräben, die in Städten wir Cizre und Şırnak, aber auch in Diyarbakır vor allem von jungen Männern gegraben wurden, als Zeichen einer inakzeptablen Provokation durch die PKK. Die Gräben waren auch tatsächlich eine Vorbereitung für kämpferische Auseinandersetzungen, die von der PKK gefordert wurden. Wie mehrere Augenzeugen aus der Region berichten, wurden die jungen Männer, die die Schützengräben gruben, mehrere Monate lang von den örtlichen Behörden geduldet. 31 International Crisis Group 2016. 32 Der Anschlag auf ein der HDP nahestehendes Kulturzentrum in Suruç im Juli 2015 ist besonders hervorzuheben, da hier eine Gruppe von türkischen und kurdischen Friedensaktivisten getötet wurde. Siehe auch Aykaç 2015. 33 Bei einem Anschlag auf eine Friedensdemonstration in Ankara im Oktober 2015 kamen 102 Personen ums Leben. Zahlreiche Augenzeugen gaben zu Protokoll, dass die Polizei mehrere Stunden vor dem Beginn der Demonstration im Bereich der Demonstration abwesend war und somit den Zugang für die Bombenleger ermöglicht hat. Vgl. Gürsel 2016. 34 Seit 2011 wurden mehrere Hundert kurdische Politiker, Bürgermeister und Aktivisten im Rahmen eines Verfahrens verhaftet und mit dem Vorwurf auf Mitgliedschaft in einer Organisation angeklagt, die eine parallele kurdische Staatlichkeit zu installieren versuche. Die Verfahren wurden unter dem Kürzel »KCK« (von Koma Civakên Kurdistan) bekannt. Besonders in kurdischen politischen Kreisen werden die Verhaftungswelle und die folgenden Prozesse der Gülen-Bewegung und ihrer Abneigung gegen eine friedliche Lösung des Konfliktes zugeschrieben. Siehe auch Aktan 2016. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Waffen. Diese Bereitschaft wurde nun noch verstärkt durch die militärischen Erfolge der PKK und alliierter Gruppen gegen den Islamischen Staat und die ersten Erfahrungen einer kurdischen Staatlichkeit in den drei Kantonen von Rojava (»Südkurdistan«) in Nordsyrien.35 Besonders in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa war die Rede von einem »kurdischen Moment im Nahen Osten«,36 aufbauend auf der Einschätzung, dass die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel, YPG) in Syrien sich als einzige militärische Gruppe in der Region erweisen würden, die dem Islamischen Staat Einhalt gebieten könne. Die kurdischen Kämpfer in Syrien erhielten nun militärische Unterstützung durch die Vereinigten Staaten, obwohl die PKK in der Türkei auch von den Vereinigten Staaten und der EU als terroristische Vereinigung eingestuft wurde und wird. Die Aufwertung der kurdischen Bewegung in Syrien und dem Irak sowie der Diskurs um den »kurdischen Moment« hatten unter anderem zur Folge, dass sich die PKK, der militärische Arm der kurdischen Bewegung in der Türkei, ermächtigt sah, die türkische Regierung unter Druck zu setzen. Gerade junge PKK-Sympathisanten in kleineren Städten im kurdischen Südosten fühlten sich durch die Perspektive einer selbstausgerufenen Autonomie und deren Verteidigung durch kurdische Männer und Frauen besonders elektrisiert.37 Auch hier schlug die bisher fein austarierte Realpolitik in einen romantischen kurdischen Nationalismus um. Endlich schien die Zeit gekommen, die Sehnsucht nach kurdischer Staatlichkeit nicht nur gegen die Angriffe des Islamischen Staats, sondern auch gegen die Türkei durchzusetzen, und zwar mit Gewalt. Es war also die unglückliche Koinzidenz zweier Parteien, die zu der Ansicht kamen, dass sie unter den gegebenen Bedingungen durch eine kriegerische Auseinandersetzung nur gewinnen könnten. Für die Regierung Erdoğan war das Ziel die Wiederwahl, für die PKK das Zeichen der Macht an die Regierung, dass man sich in den Friedensverhandlungen nicht mit Minimallösungen zufrieden geben würde. Der dritte Erklärungsansatz, der sich vor allem auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Pfadabhängigkeit türkischen Staatshandelns in den kurdischen Gebieten stützt, sieht in der Zerstörung kurdischer Städte eine Rückkehr des soge35 Besonders in der türkischen Linken und innerhalb der HDP gilt Rojava als Gegenentwurf gegen den Islamismus und Autoritarismus der AKP. Das vom anarchistischen Theoretiker Murray Bookchin entwickelte Konzept des »libertären Kommunalismus« und des »libertarian municipalism« sieht eine demokratische Selbstverwaltung ohne zentralstaatliche Strukturen vor. Das Konzept liegt der Selbstorganisation der RojavaKantone (und der kurdischen Stadtverwaltungen in der Türkei) unter der der PKK nahstehenden Demokratischen Einheitpartei (Partiya Yekîtiya Demokrat) zu Grunde. Diese theoretische Ausrichtung und die praktische Umsetzung in Rojava, besonders gekennzeichnet durch beeindruckende Minderheiten- und Frauenrechte, erweckte Interesse und auch Unterstützung in sozialistischen und anarchistischen Kreisen in Europa, hier besonders in Deutschland. Vgl. Flach et. al. 2015; Kampagne Tatort Kurdistan 2012. 36 Mansour 2016. 37 Beck 2015.

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nannten deep state, des »tiefen Staates«, und eine Neuordnung der Macht zwischen Teilen der AKP und dem Militär. In der Tat legen die Methoden, mit der türkische reguläre Militäreinheiten und paramilitärische Formationen in Städten wir Sur, Cizre und Nusaybin vorgegangen sind, eine Beteiligung solcher Akteure nahe. Augenzeugenberichte belegen, dass neben den regulären Sicherheitskräften des Staates auch nicht-reguläre Einheiten zu Gange sind.38 Die Formen der Gewalt, die von diesen Akteuren ausgeht, sind sexualisiert, konfessionell sowie rassistisch motiviert und in zahlreichen Slogans, die auf Häuserwänden nach Aufhebung der Ausgangssperre sichtbar wurden, empirisch nachgewiesen.39 Es verdichten sich die Hinweise darauf, dass diese psychologische Gewalt, zusammen natürlich mit der Tötung zahlreicher Zivilisten, vor allem eine symbolische Demütigung der kurdischen Bewegung zum Ziel hatte. Die kurz- bis mittelfristigen Folgen dieser Demütigung und der Verrohung der Staatsgewalt in den kurdischen Gebieten sind kaum abzusehen. Kurdische Politiker wie Selahattin Demirtaş, Vorsitzender der HDP, und Abdullah Demirbaş, früherer Bürgermeister des nun weitgehend zerstörten historischen Zentrums von Diyarbakır, die ihre politische Karriere einem friedlichen Zusammenleben von Türken und Kurden verschrieben haben, befürchten eine emotionale Dissoziation in der jüngeren Generation, die vermutlich nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.40 Die vorliegenden Indizien sprechen dafür, dass dieser Rückfall in die Methoden des deep state und die Rückkehr des Militärs eine Neuordnung der Machtstrukturen in der Türkei bedeutet, in der Präsident Erdoğan mit dem zumindest teilweise unter Kontrolle gebrachten Militär einen neuen Pakt geschlossen hat.41 Diese Neuordnung würde auch die abrupten Kehrtwendungen der AKP-Regierung mit Blick auf Russland, Israel und Syrien42 teilweise erklären. Am Ende des türkischen Zwischenspiels im Nahen Osten erscheinen die Ziele einer islamischen Führungsmacht – die strategische Allianz mit al-Ikhwan al-Muslimin, die klare Positionierung gegen Israel und dessen Besetzung Palästinas sowie die Zusammenarbeit mit dschihadistischen Milizen in Syrien – aufgegeben. Stattdessen ist die türkische Politik besonders in Kurdistan wieder dort angekommen, wo sie 2002 neu angefangen hatte: in einer türkisch-kurdischen Kriegssituation.

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Kocaaslan 2015. Yeşiltepe 2016. Demirbaş 2016. Ob das Militär mit den Säuberungen nach dem Putschversuch des 15. Juli wirklich vollständig unter Kontrolle der AKP-Regierung oder Erdoğans steht oder ob interne Machtkämpfe andauern, kann nur vermutet werden. Vieles deutet aber darauf hin, dass zurzeit keine der aktuellen Machtkonstellationen im Militär, im Staat und der Regierung stabil ist. 42 Die Zeit 2016.

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Ein Zwischenspiel mit verheerenden Folgen Die existenziellen politischen Verwerfungen, die die Türkei seit Beginn der tunesischen Proteste im Winter 2010 durchlaufen hat, sind ursächlich mit dem Hergang der Arabellion, ihren Akteuren sowie den wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessenslagen dieser Akteure verbunden. Am Beginn der arabischen Aufstände konnte sich die Türkei als ein demokratisches Land mit einer florierenden Wirtschaft und der Aussicht, als Regionalmacht akzeptiert zu werden, präsentieren. Ungeachtet von Rückschlägen und einem langsamen Fortschritt agierte die Türkei als Beitrittskandidat der Europäischen Union und versuchte sich in der Lösung des Konflikts mit der PKK, dem militärischen Arm der kurdischen Bewegung. In der arabischen Welt wie auch in Washington wurde das Land darüber hinaus als Modell für die Domestizierung und Neukonstituierung des politischen Islam im Kontext demokratischer Strukturen gesehen.43 Die Herausforderung autoritärer Machtstrukturen in der arabischen Welt hat weder zu einer vierten Welle der Demokratisierung44 geführt, noch zu einer politischen Neuordnung des Nahen Ostens im Sinne des politischen Islam.45 In den Ländern der Arabellion haben sich die autoritären Herrschaftsstrukturen teilweise wieder etablieren können. In Ägypten scheinen sie weitgehend konsolidiert. Die Türkei aber steht als ein mehrfach reduzierter Akteur da: Es ist nun ein Land, in dem der demokratische Prozess suspendiert ist, die rechtsstaatlichen Strukturen weitgehend aufgelöst sind und in dem die Macht nicht mehr beim Parlament liegt, sondern in einer neuen, fließenden Machtkonstellation, in der – anders als früher – auch die Vetospieler, die militärischen Hüter des Systems, nicht mehr eindeutig zu erkennen sind. Er wäre zu einfach, Erdoğan als einen Diktator zu sehen, der nun alle Kontrolle im Staate an sich gerissen hat. Dafür sind die Beziehungen und Deals zwischen Erdoğan, der AKP, der Regierung, dem Militär und den Sicherheitsapparaten zu undurchsichtig und auch zu dynamisch. Diese Unsicherheit ist mit dem vereitelten Putschversuch vom 15. Juli 2016 noch weiter verschärft worden. Die Beziehungen mit der Europäischen Union sind nun streng strategischer Art und vor allem durch die gegenseitigen Interessen des »Flüchtlingsdeals« strukturiert.46 Besonders im kurdischen Südosten besteht die Gefahr, dass die paramilitä43 Benhaïm/Öktem 2015. 44 Diamond 2011. 45 Die Entwicklungen in Syrien und im Irak, wie auch in Libyen, sind natürlich noch nicht abgeschlossen. Ob sich aber aus den aktuellen Konflikten eine grundsätzlich verschiedene territoriale Ordnung des Nahen Ostens entwickelt und ob diese im Sinne einer islamistischen Auffassung stehen wird, ist zumindest fraglich. 46 Der »Flüchtlingsdeal« und die Angst vor der Migration syrischer Flüchtlinge hat eine neue Dynamik im türkisch-europäischen Verhältnis geschaffen, die vor allem der Politik Erdoğans nutzt. Erdoğan hat hier eindeutig erkannt, dass die durch den Pakt gebundene Europäische Union fast keine Kritik mehr an der Türkei üben wird. In dieser Hinsicht hat der Deal das Abgleiten der Türkei in ein diktatorisches Regime begünstigt.

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rischen Strukturen sich längerfristig festsetzen und in ein gewalttätiges Terrorregime münden, wie es in den neunziger Jahren gang und gäbe war. Ein Vergleich mit Ägypten und Syrien mag sich aufdrängen: Nach den Kämpfen für »Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit«47 ist die Situation noch sehr viel aussichtsloser als vorher. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied im Fall der Türkei. Weder war die Situation vor der Arabellion wirklich trostlos, noch hatte es eine landesweite Herausforderung der Macht in den Händen eines illegitimen Diktators gegeben. Trotz seines autoritären Auftretens wurde Erdoğan während der Gezi-Proteste nicht als Diktator angeprangert. Sein Rücktritt war nicht Gegenstand der Forderungen aus dem Umfeld der Demonstranten.48 Ebenso waren die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beweggründe der Gezi-Proteste mit den radikalen Volkserhebungen in Ägypten und Tunesien nicht zu vergleichen.49 Und dennoch waren es die Arabellionen, die die AKP-Führung dazu brachten, fast alle außenpolitischen Ressourcen in den Dienst eines türkisch-islamistischen Traumes zu stellen, einem Traum eines von den Ikhwan regierten Nahen Ostens unter der Führung eines Präsidenten Erdoğan. Die Begeisterung, die die AKP-Führung und Erdoğan für diesen Traum aufbrachten, aber auch der Schock, der mit der Niederschlagung der Muslimbrüder in Ägypten und dem Tode zahlreicher Menschen einherging, markiert einen symbolischen Bruch, und zwar nicht nur mit dem Westen, der sich nicht klar gegen die Absetzung des gewählten Präsident Mohammad Mursi durch das ägyptische Militär stellte. Nach der Absetzung Mursis identifizierte sich die AKP-Führung, besonders aber Erdoğan, mit den Muslimbrüdern. Seit diesem Zeitpunkt sehen sich die AKP und Erdoğan in einem existenziellen Kampf gegen die ganze Welt, besonders natürlich gegen die Anhänger der HizmetBewegung um Fethullah Gülen, gegen die kurdische Bewegung, gegen die Regime in Ägypten und Syrien.50 Spätestens seit dem Putschversuch vom 15. Juli sehen sich die AKP und Erdoğan in dieser Weltsicht bestätigt. Viele Formen der Repression wie Verhaftungswellen gegen kurdische Politiker und sozialistische Aktivisten, »Säuberungsaktionen« in staatlichen Institutionen, Rufmordkampagnen in AKP-freundlichen Medien gegen Kritiker oder Einschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit gab es auch schon vor dem Putschversuch. Seit der Verhängung des Ausnahmezustands am 20. Juli aber ist der Rechtsstaat inklusive der Europäischen Menschen47 Alexander/Bassiouny 2014. 48 Özkırımlı 2014. 49 Es könnte natürlich sein, dass die Gezi-Proteste letztendlich weniger bedeutend waren als der Konflikt zwischen der Gülen-Bewegung und der AKP-Regierung. 50 Im Narrativ dieses Überlebenskampfes werden Symbole und Begriffe aus der islamischen Tradition wie Märtyrertum und Glaubenskampf gezielt verwendet. Diese Tendenz ist nach dem Putschversuch vom 15. Juli noch eindeutiger geworden. Zahlreiche Plätze in Istanbul wurden nach Märtyrern ( şehit) benannt, die Bosporusbrücke wurde zur »Brücke der Märtyrer des 15. Juli« (15 Temmuz Şehitleri Köprüsü) und sogar die Business Lounge von Turkish Airlines wurde neu benannt. Siehe auch Öktem/ Akkoyunlu 2016. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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rechtskonvention aufgehoben und mit ihnen jeder demokratische Anspruch. Die »Säuberungsaktionen« richteten sich anfangs gegen die Anhänger der Gülen-Bewegung, die höchstwahrscheinlich eine wesentliche, aber nicht ausschließliche Rolle in dem Putschvorhaben gespielt hat.51 Zum Zeitpunkt der Schriftsetzung dieses Beitrags aber waren bereits 40 Prozent der Militärführung entlassen worden, 40.000 Menschen, vor allem Beamte und Angehörige des Militärs und der Polizei, befanden sich in Haft, 32.000 warteten auf die Eröffnung ihres Verfahrens. Mehr als 90.000 Beamte waren vom Dienst suspendiert und 60.000 waren entlassen.52 Aufgrund dieser Zahlen allein können wir von einem Prozess der Selbstdestruktion sprechen. Es ist evident, dass diese »Säuberungen« die Kapazität des Staates – im Bereich der inneren Sicherheit, der militärischen Kapazitäten, aber auch bei staatlichen Dienstleistungen vom Gesundheits- bis hin zum Schulwesen – erheblich beschränken. Das türkische Zwischenspiel im Nahen Osten, Turkey’s moment in the Middle East, ist zu einem traurigen Ende gekommen, bevor die hehren, aber unrealistischen Ziele seiner Autoren hätte realisiert werden können. Was zurückbleibt ist ein Land am Abgrund, dass an seinen internen Widersprüchen und an der Machtpolitik seines Präsidenten zu zerbrechen droht, gelegen am Rande einer Weltregion, deren Zukunft alles andere als gewiss ist. In dieser Hinsicht stellt die Türkei eine der weniger beachteten Tragödien dar, die im Zusammenhang mit der Arabellion stehen. Literatur Abdel Kader, Mohamed 2013. »Turkey’s Relationship with the Muslim Brotherhood«, in: Al Arabiya Institute for Studies, 29. Oktober, URL: estudies.alarabiya.net/content/turkey’s-re lationship-muslim-brotherhood [02.10.2016]. Abou-El-Fadl, Reem (Hrsg.) 2015. Revolutionary Egypt. Connecting Domestic and International Struggles. New York: Routledge. Akkoyunlu, Karabekir 2015. »Old Turkish Demons in New Faces?«, in: OpenDemocracy, 23. Oktober, URL: opendemocracy.net/karabekir-akkoyunlu/old-turkish-demons-in-new-f aces [02.10.2016]. Akkoyunlu, Karabekir; Öktem, Kerem 2016. »Existential Insecurity and the Making of a Weak Authoritarian Regime in Turkey«, in: Journal of Southeast European and Black Sea Studies, 16 (3), i.E. Aktan, Irfan 2016. »What’s behind AKP’s Allegations of Gulen-PKK Ties?«, in: Al Monitor, 15. August, URL: al-monitor.com/pulse/originals/2016/08/turkey-why-erdogan-wants-link -gulen-pkk.html [24.10.2016]. Akyol, Mustafa 2015. »How Morsi Matters in Turkish Politics«, in: Al Monitor, 17. Mai, URL: al-monitor.com/pulse/originals/2015/05/turkey-egypt-mohammed-morsi-sentence-er dogan.html [03.09.2016]. Al Arabiya 2011. »Egypt’s Muslim Brotherhood Criticizes Erdogan’s Call for a Secular State«, in: Al Arabiya, 14. September, URL: alarabiya.net/articles/2011/09/14/166814.html [05.09.2016]. Alexander, Anne; Bassiouny, Mostafa 2014. Bread, Freedom, Social Justice. Workers and the Egyptian Revolution, London: Zed Books. Altunişik, Meliha 2008. »The Possibilities and Limits of Turkey’s Soft Power in the Middle East«, in: Insight Turkey, 10 (2), S. 41-54.

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Zusammenfassung: In diesem Beitrag wird argumentiert, dass die Türkei kein externer Akteur der Arabellionen war, sondern durch das Wechselspiel der Aufstände mit dem islamistischen Herrschaftsprojekt Erdogans tiefgreifend verändert worden ist. Die Arabellionen markieren das Ende der über sechzig Jahre währenden demokratischen Pfadabhängigkeit der Türkei und signalisieren eine neue Wesensverwandtschaft der AKP-Türkei mit den autoritären Systemen des Nahen Ostens. Stichworte: Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), Demokratische Partei der Völker (HDP), al-Nahda, PKK, PYD, YPG, Recep Tayyip Erdoğan, Ahmet Davutoğlu, Selahattin Demirtaş, Rashid al-Ghannoushi, Muhammad Mursi, Muslimbruderschaft, Ikhwan, Kurden, Islamismus

The Turkish Intermezzo in the Middle East. Neo-Imperialism, Political Islam and the AKP between Farce and Tragedy Abstract: Turkey is often seen as an external actor in the discussion of the Arab uprisings. This paper suggests otherwise and argues that it is the interplay between the Arab uprisings and Erdogan’s Islamist project for power that explains Turkey’s recent exit from democracy. The uprisings, therefore, mark the end of Turkey’s contested democratic path dependency of more than sixty years. They also signal a new family resemblance with the authoritarian systems of the Middle East. Keywords: Justice and Development Party (AKP), Peoples’ Democratic Party (HDP), alNahda, PKK, PYD, YPG, Recep Tayyip Erdoğan, Ahmet Davutoğlu, Selahattin Demirtaş, Rashid al-Ghannushi, Muhammad Mursi, Muslim Brotherhood, Ikhwan, Kurds, political Islam

Autor Prof. Dr. Kerem Öktem Universität Graz Zentrum für Südosteuropastudien Schubertstrasse 21 AT-8010 Graz [email protected]

III. Ordnungskämpfe jenseits des Staates

Thomas Hüsken, Georg Klute

Heterarchie, Konnektivität, lokale Politik und die Neuaushandlung der postkolonialen Ordnung von Libyen bis nach Mali

Einleitung Die aktuellen politischen Entwicklungen in Libyen und Nord-Mali stellen nichts anderes dar als eine Neuaushandlung der postkolonialen politischen Ordnung. Der Sturz des autoritären Regimes in Libyen und der anschließende Zerfall des Landes in postrevolutionäre Lager und Regionen, die anhaltende Rebellion der Tuareg im Norden Malis, begleitet vom Aufstieg transnationaler islamistischer und jihadistischer Kräfte, haben zur Zersplitterung staatlicher Strukturen geführt, zu mehr Heterogenität im politischen Feld und zur Entstehung von nicht-staatlichen Machtgruppen, die zunehmend Bedeutung auf der politischen Bühne gewinnen. Während sie oft soziale und politische Alternativen zum westlichen Staatsmodell propagieren, scheinen einige dieser Gruppen zumindest zeitweise mit den jeweiligen staatlichen Strukturen verwoben zu sein. Wir schlagen vor, Prozesse der Herstellung politischer Ordnungen aus lokalen und trans-lokalen Perspektiven zu betrachten. Dabei gehen wir davon aus, dass die aktuelle Situation in NordwestAfrika eine einzigartige Gelegenheit zur Beobachtung und Untersuchung der Neuaushandlung der postkolonialen politischen Ordnung bietet, die zurzeit stattfindet. Diese Neuaushandlung schließt eine deutliche In-Frage-Stellung des westlichen Staatsmodells ein. Wir nehmen weiter an, dass die laufenden Prozesse der Herstellung politischer Ordnungen in Libyen und Mali miteinander in Beziehung stehen, ohne dass wir irgendeine Art von Kausalität zwischen beiden unterstellten. Das Lokale ist weiterhin die entscheidende Arena für die Schaffung politischer Ordnungen. Im Folgenden werden drei theoretische Konzepte und Forschungsfelder zusammengeführt: Heterarchie, (historische und gegenwärtige) Konnektivitäten in Nordwest-Afrika und die Bedeutung lokaler Akteure/des Lokalen. Das erste Konzept der Heterarchie ist vergleichsweise neu; es gibt Antwort auf die rasante Entwicklung politischer Ordnungen in Afrika und anderswo in den letzten zwanzig Jahren. Heterarchie verweist auf zentrale Merkmale aktueller politischer (staatlicher und nicht-staatlicher) Ordnungen: auf ihre wechselseitige und zugleich instabile Verflechtung sowie auf die große Zahl miteinander konkurrierender Machtgruppen. Das Konzept der Konnektivität (über staatliche Grenzen hinweg) ist ein (wieder-)entdecktes Thema, das Staatsgrenzen (und die Wüste Sahara) nicht als Barrieren, sondern als Übergangsräume konzipiert. Es ermöglicht ein besseres Verständnis der jüngsten politischen Entwicklungen und ihrer historischen Wurzeln. Das Konzept lokaler Akteure/das Lokale ist fest in der politischen Anthropologie und politischen Soziologie verankert. Es unterstreicht die Bedeutung des Lokalen

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in Aushandlungsprozessen und den Kämpfen darüber, welche politische Ordnung geschaffen werden soll. Das vorliegende Papier besteht aus zwei Teilen.1 Nach einem kurzen Überblick über die Stoßrichtung der laufenden Debatten zu rezenten Entwicklungen in Libyen und Nord-Mali werden wir in einem ersten Teil die genannten theoretischen Konzepte diskutieren. Wir sind überzeugt, dass die Konzepte Heterarchie, Konnektivität und Lokalität nicht nur zu einem besseren Verständnis der gegenwärtigen Entwicklungen in den beiden betrachteten Ländern beitragen, sondern darüber hinaus auch die zukünftige Entwicklung »des Politischen« aufschließen können. In einem zweiten Teil setzen wir uns mit den gegenwärtigen Entwicklungen in Libyen und Nord-Mali auseinander. Wir fokussieren besonders das politische Feld jenseits staatszentrierter Betrachtungen. Zwar begreifen wir den Aufstieg nicht-staatlicher Formen politischer Ordnung nicht als ausschließlichen Entwicklungsweg in der Region. Dennoch halten wir unsere Perspektive für ein wirksames Mittel zur Vermeidung normativer Setzungen, wie die Fokussierung auf Staatlichkeit oder die Zuweisung von pauschalen defizitären Attributen, wie dem Scheitern, der Schwäche oder dem Zerfall politischer Ordnung. In einer Schlussbetrachtung führen wir unsere Argumente zusammen. Dabei wird deutlich gemacht, dass mit einer Rückkehr zu einem status quo ante, d.h. mit einer Re-Etablierung der postkolonialen staatlichen Ordnung bis auf Weiteres nicht zu rechnen ist. Debatten zu rezenten politischen Entwicklungen in Libyen und Nord-Mali Veröffentlichungen zu den politischen Entwicklungen in Libyen und dem nördlichen Mali haben seit der Jahrtausendwende deutlich zugenommen. Dies trifft sowohl auf die libysche Revolution im Jahre 2011 und den anschließenden Bürgerkrieg als auch auf die Ereignisse in Nord-Mali zu. Im nördlichen Mali standen der Tuareg-Aufstand im Januar 2012, der »Staat Azawad«, die Herrschaft jihadistischer Gruppen und die französische Militärintervention im Jahr 2013 im Mittelpunkt des Interesses. Die Zunahme der Publikationen steht jedoch in einem bemerkenswerten Widerspruch zu der Tatsache, dass empirische Forschungen aufgrund der prekären Sicherheitslage in Libyen und dem nördlichen Mali derzeit kaum oder nur sehr eingeschränkt möglich sind. Neben journalistischen Arbeiten stammt die Mehrzahl der Beiträge aus dem Feld der Security Studies oder aus der

1 Die hier präsentierte Analyse basiert auf unseren langjährigen Erfahrungen als Feldforscher in der Region. Thomas Hüsken forschte zuletzt 2014 in der Cyrenaika Libyens und Georg Klute 2015 und 2016 in Mali und Niger. Für die aktuellen Entwicklungen in Mali greifen wir auf die Arbeit unseres Kollegen Dida Badi zurück, der sich gegenwärtig in Nord-Mali aufhält. In Libyen arbeitet unsere Kollegin Amal Al-Obeidi zur Rolle nicht-staatlicher Akteure im politischen Feld.

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Perspektive der politischen Wissenschaften.2 Die meisten dieser Studien basieren vor allem auf Medien-Analysen und Experten-Interviews. Gleiches gilt für das Feld der Sozialwissenschaften, deren Material »auf Kontakten zu Informanten in Mali (bzw. der Hauptstadt Bamako) basiert und durch intensives Studium der relevanten Medienberichte flankiert wird.«3 Heterarchie Es ist schwer, sich eine Situation vorzustellen, auf die das Konzept der Heterarchie mehr zutrifft als auf die gegenwärtige politische Lage in Libyen, dem nördlichen Mali und ihren Nachbarstaaten in Nordwest-Afrika. Heterarchie ist ein angemessener Begriff zur Kennzeichnung der fluktuierenden, verbundenen und konkurrierenden politischen Formen und Akteure aus dem tribalen, staatlichen, islamistischen und jihadistischen, jugendlichen und zivilgesellschaftlichen Spektrum sowie der organisierten Kriminalität und dem Milizentum. Wir haben es mit unterschiedlichen politischen Praktiken und Rationalitäten und natürlich auch mit unterschiedlichen Vorstellungen von Macht, Herrschaft und Legitimität zu tun.4 Die kolonialen Eroberungen und die nachfolgende weltweite Ausbreitung staatlicher Herrschaft im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schienen die Annahme evolutionistisch geprägter oder systemtheoretisch orientierter Wissenschaftler zu belegen, dass das Ordnungsmodell des modernen (westlichen) Staates das unausweichliche Schicksal der Menschheit sei. Seit Ende des Kalten Krieges jedoch haben die Krise und Erosion von Staatlichkeit in der ehemaligen UdSSR, in Afrika und gegenwärtig auch im Mittleren Osten eine Debatte über die Transformation von Staatlichkeit ausgelöst. Neben eher pauschalen Bezeichnungen, wie »weak« oder »failing state«, werden Begriffe, wie »network state«5, vorgeschlagen, der die Verflechtung von Staatlichkeit mit Netzwerken nicht-staatlicher Akteure fassen soll. Der Begriff des »cunning state«6 bezeichnet eine Form schwacher Staatlichkeit, die vor allem durch internationale Interventionen und Entwicklungshilfe stabilisiert wird. In Bezug auf Afrika hat Georg Elwert mit dem Begriff des »Kommando-Staates« Formen des Klientelismus, der Korruption und

2 Dies gilt für die Berichte und Analysen der International Crisis Group zu Mali; URL: crisisgroup.org/en/regions/africa/west-africa/mali.aspx [13.11.2016] und zu Lybien; URL: crisisgroup.org/en/regions/middle-east-north-africa/north-africa/libya.aspx [13.11.2016]. Weitere Studien aus dem Bereich der Security und Policy Studies: Barth 2003; Benjaminsen 2008; Bergamaschi 2013; Bøås/Torheim 2013; Bush/Keenan 2006; Cole 2012; Cole/Lacher 2014; Lacher 2011, 2015; Lounnas 2013; Marchal 2013; Pezard/Shurkin 2013; Pryce 2013; Stewart 2013; Thurston 2013; Werenfels 2008. 3 Gaasholt 2013, S. 68, eigene Übersetzung. 4 Hüsken 2013; Klute 2013 b; Lacher 2015; Lecocq et al. 2013. 5 Züricher/Koehler 2001. 6 Randeria 2003. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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der systematischen Aneignung von Entwicklungshilfe gekennzeichnet.7 Besonders pessimistische Beiträge sprechen sogar von einer apokalyptischen Trias aus »Staatsversagen, Staatsverfall und Staatszerfall«.8 Der afrikanische Kontinent hat in den letzten zwei Jahrzehnten tiefgreifende Veränderungen erlebt, die fast überall zu neuen sozialen und politischen Konfigurationen geführt haben. Das Ende des Kalten Krieges und der Zerfall des sozialistischen Lagers in den 1990er Jahren haben dazu beigetragen. Rapider politischer Wandel führte zum Zusammenbruch überkommener Regime, von denen einige schon seit Jahrzehnten an der Macht waren. Demokratisierung bestimmte die politische Agenda, die von Hoffnungen auf eine soziale und ökonomische Erholung des afrikanischen Kontinents nach Dekaden autoritärer Herrschaft, ökonomischer Krisen und des politischen Stillstands begleitet wurden. Während Reformpolitiken der frühen 1990er Jahre in einigen Ländern Afrikas Hoffnungen auf eine grundlegende Liberalisierung geweckt hatten, verwandelte sich die Demokratisierung in anderen Ländern in eine offizielle Maske für die »unausgesprochene Restauration autoritärer Praktiken«.9 Nicht wenige Länder erlebten wiederholte Militärputsche, während andere in lang andauernde Bürgerkriege abglitten. In diesem Sinne sind die Ergebnisse der politischen Öffnung nach dem Kalten Krieg ausgesprochen divergierend. Wachsender Demokratisierung in Ländern, wie Ghana oder Benin, stehen massive Konflikte und neo-autoritäre Entwicklungen in anderen Regionen gegenüber. Der Arabische Frühling in den nordafrikanischen Ländern Tunesien, Libyen und dem üblicherweise dem Mittleren Osten zugerechneten Ägypten hatte wiederum große Hoffnungen auf eine Überwindung neo-patrimonialer, autoritärer Herrschaft geweckt. Die Ergebnisse der Aufstände und Kriege sind jedoch ausgesprochen ambivalent. Sie schwanken von autoritärer Restauration in Ägypten, einer fragilen Machtteilung zwischen den Islamisten und dem säkularen Lager in Tunesien bis hin zum Staatszerfall in Libyen. Hinzu kommt der Aufstieg eines militanten globalisierten Islamismus und gewalttätigen Jihadismus in Libyen, Tunesien und Mali, aber auch in Nigeria, Somalia und Kenia, der die Errichtung transnationaler islamischer Kalifate anstrebt. Im globalen Vergleich steht Afrika – auch deshalb – weiterhin für das Scheitern des modernen Staates westlicher Prägung. Nirgendwo sonst scheint der Staat tiefer in der Krise zu stecken, und nirgendwo sonst wird Staatlichkeit mit mehr defizitären Attributen, wie »schwach, weich, unvollständig«, »gierig«10, »kriminell«11 oder »Beuteherrschaft«12, belegt. Zur Durchdringung des prozessualen Charakters von Politik in Afrika mit seiner differenzierten Verteilung von Macht 7 8 9 10 11 12

Elwert 2001. Erdmann 2003. Mirzeler 2002, S. 106, eigene Übersetzung. Bayart 1989. Bayart et al. 1999. Fatton 1992.

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und dem beständigen Wandel der Beziehungen zwischen den politischen Entitäten untereinander (Allianz, Konflikt, Verflechtung) haben wir den Begriff Heterarchie vorgeschlagen.13 Der Begriff Heterarchie wurde bereits von den russischen Neo-Evolutionisten Bondarenko, Grinin and Korotayev zur Beschreibung großer frühgeschichtlicher Häuptlingtümer verwendet, die trotz beträchtlicher Bevölkerungszahlen keine staatlichen Strukturen entwickelten.14 Tatsächlich geht der Begriff jedoch auf den Neurowissenschaftler McCulloch zurück.15 Bis heute wird der Begriff Heterarchie vor allem in den Neurowissenschaften und in der Informatik verwendet und taucht eher selten in den Sozialwissenschaften auf. Wir meinen, dass das Konzept Heterarchie es uns ermöglicht, sowohl den andauernden Staats-Zentrismus16 wie auch die gängigen Defizienz-Argumente in der Debatte über Politik in Afrika zu überwinden. Natürlich arbeiten auch andere Wissenschaftler an Konzepten und Begriffen zur analytischen Durchdringung der Komplexität von Politik in Afrika. Einige dieser Konzepte decken sich mit unseren Überlegungen. So arbeiten Risse und Lehmkuhl mit dem Konzept »Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit«.17 Sousa Santos hat vorgeschlagen, den Staat in Afrika als »heterogeneous state« zu betrachten.18 Der Mainzer Ethnologe Thomas Bierschenk und der französische Afrika-Soziologe Jean-Pierre Olivier de Sardan haben das Konzept »polycephalie« eingeführt, um die Vielgestaltigkeit afrikanischer Politik auf lokaler und regionaler Ebene zu beschreiben.19 Lund hat in seinem vielbeachteten Vorwort zu dem Sammelband Twilight Institutions den Aufstieg neuer Institutionen zwischen Staat und NichtStaat thematisiert.20 Hinzu kommen die sogenannten »oligopolies of violence« von Mehler oder das Konzept der »hybrid political orders« bei Boege, Brown, Clements und Nolan.21 Alle Konzepte und Herangehensweisen reflektieren fragile, scheiternde oder gescheiterte Staatlichkeit sowie die wachsende Komplexität und zunehmende Ungleichzeitigkeiten in der politischen Arena Afrikas. Sie richten unsere Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf die Rolle vielfältiger nicht-staatlicher Akteure. In unserer Wahrnehmung verkennen sie jedoch die Dynamik, Persistenz und Kontinuität nicht-staatlicher Akteure im Kampf um die Aushandlung politischer Ordnungen und Machtverhältnisse oder sie privilegieren einseitig das Modell Staat. 13 Bellagamba/Klute 2008; Klute/Embaló 2011; Trotha 2011; Hüsken 2013; Klute 2013 a. 14 Bondarenko et al. 2004. 15 McCulloch 1945. 16 Trotha 2009. 17 Risse/Lehmkuhl 2007. 18 Santos 2006. 19 Bierschenk/Olivier de Sardan 2003. 20 Lund 2006. 21 Mehler 2004; Boege et al. 2009. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Risses und Lehmkuhls Konzept der Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit kann sich unserer Meinung nach nicht von einer staatszentristischen Perspektive befreien, die natürlich auch eine normative Dimension hat. Schon der Begriff »Governance« ist (trotz seiner Bandbreite) fest mit der Idee staatlich regulierten oder mindestens bürokratischen Regierungshandelns verbunden. Auf diese Weise wird der institutionelle Normativismus der Debatte über Governance durch einen funktionalen Normativismus ersetzt. Auch bei Sousa Santos’ Begriff des heterogeneous state bleibt der moderne Staat die zentrale Referenz. Mehler argumentiert in Oligopolies of Violence stark ökonomisch und hat die Tendenz, den politischen Akteur als homo oeconomicus wahrzunehmen. Die politische Auseinandersetzung kann dann leicht als Managementproblem erscheinen. Der von Bierschenk und Olivier de Sardan verwendete Begriff der Polycephalie drückt zweifellos die große Heterogenität des gegenwärtigen politischen Feldes in Afrika aus. Im Unterschied zu unserem Konzept der Heterarchie gehen die Autoren jedoch davon aus, dass ein wiedererstarkter Staat die Vielgestaltigkeit der lokalen und regionalen Politik zurückdrängen kann. Wir teilen Lunds Faszination für die Kreativität und Innovationskraft nicht-staatlicher Politik, meinen jedoch, dass sein Begriff der twilight-institutions durchaus ambivalent ist. Das Konzept der hybrid political orders »vernachlässigt die Dynamiken, Interessen, Konflikte und Machtkämpfe nicht-staatlicher Institutionen und Akteure«, wie Trotha in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept betont.22 Aktuelle Arbeiten über afrikanische Bürokratien und den afrikanischen Staat weisen generalisierte Defizienz-Argumente zurück, ohne jedoch die grundlegende Verflechtung von Staat und Nicht-Staat anzuerkennen.23 Das Konzept der Heterarchie schließt frühere Arbeiten zum Begriff der Parastaatlichkeit und Parasouveränität24 ein und erweitert diese. Es eröffnet eine Perspektive, verschiedene Formen von Parastaatlichkeit, Häuptlingtum, lokaler und trans-lokaler nicht-staatlicher Souveränität oder neo-segmentäre Ordnungen, wie in Somaliland, zu begreifen, deren Vielgestaltigkeit weit jenseits von Staatlichkeit liegen.25 Dabei wollen wir den von uns kritisierten Staatszentrismus keinesfalls durch einen normativen Anti-Etatismus ersetzen. Staatlichkeit und staatlichbürokratische Praktiken sind auch für uns empirisch evident und thematisch relevant. Wir gehen sogar davon aus, dass sich heute jede Form politischer Organisation mit dem »generalisierten Modell von Staatlichkeit«26 auseinandersetzen muss. Generalisierte Staatlichkeit beinhaltet, dass bestimmte Kernelemente ethischer und organisatorischer Natur, wie Gebietsherrschaft, Normsetzung und Normsanktionierung, Schutz vor Gewalt, Rechtssicherheit sowie redistributive Leistungen heute in den Ordnungsentwürfen und Ordnungserwartungen weltweit 22 23 24 25 26

Trotha 2011. Olivier de Sardan 2013; Bierschenk/Olivier de Sardan 2014. Hauck 2004; Klute/Trotha 2004; Trotha 2011. Trotha 2009. Klute 2004.

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enthalten sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie sich ausschließlich in einer staatlichen Ordnung materialisieren. Konnektivität Der Zusammenbruch des Regimes von Muʿammar al-Qadhdhafi (Muammar alGaddafi) in Libyen im Jahr 2011 hat starke Auswirkungen im gesamten nordwest-afrikanischen Raum gehabt und zu einer erhöhten politischen Instabilität in Libyens Nachbarstaaten geführt.27 Insbesondere Mali war von der (erzwungenen) Rückkehr malischer und libyscher Tuareg betroffen, die als Söldner und Milizionäre auf der Seite al-Qadhdhafis gekämpft hatten. Eine Reihe von Autoren nahm diese Entwicklung zum Anlass, grundsätzlicher über die bestehenden Verbindungen und Rückwirkungen zwischen Libyen und Nordwest-Afrika nachzudenken. Anstelle einer Perspektive auf Staaten, Staatsgrenzen oder die separierenden Effekte von Wüsten wurde die Region als zusammenhängender, durch vielfältige Konnektivitäten geprägter Raum thematisiert.28 Diese neue Aufmerksamkeit basiert auf Arbeiten, die sich den historischen und zeitgenössischen (sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen) Verbindungen und evidenten Abhängigkeiten in Nordwest-Afrika gewidmet haben.29 Eine Wiederaufnahme des Themas und eine Weiterentwicklung dieser Arbeiten erfolgte schließlich durch Scheele30 und insbesondere McDougall und Scheele in dem auch programmatisch verstandenen Sammelband Saharan Frontiers: Space and Mobility in Northwest Africa.31 Wir schließen uns dieser Perspektive an und übertragen sie auf das politische Feld. Konnektivität basiert auf tribaler Organisation, ethnischer Zugehörigkeit, trans-lokalen Beziehungen, formellem und informellem Handel, Rebellenbewegungen, Sezessionisten, politischem Islam und transnationalen jihadistischen Gruppen. Die Konnektivität dieser Gruppen überwindet Staatsgrenzen. Diese Gruppen verfügen in weiten Teilen über eine größere historische Tiefe als die betroffenen postkolonialen Staaten und erweisen sich in vielerlei Hinsicht als vitaler und persistenter als diese. Grenzländer und Grenzsituationen spielen in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle als Übergangsräume und Verbindungszonen. Afrikanische Grenzräume sind durch die Arbeiten von Asiwaju, Meagher und Nugent von ihrem Stigma als abhängige Peripherien und Konfliktzonen befreit worden.32 Stattdessen wurden sie als ökonomisch, sozial, politisch und kulturell »produktive Zonen« entdeckt, die einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die jeweiligen Nationalstaaten entwickeln können. 27 Cole 2012; Gallien 2015. 28 Bøås/Utas 2013; Casajus 2011; Lounnas 2013. 29 Badi 2007; Bellil/Badi 1995; Bennafla 2004; Brachet 2012; Grégoire 2004; Klute 2004; Marfaing/Wippel 2004; Triaud 1995. 30 Scheele 2012 a. 31 McDougall/Scheele 2012. 32 Asiwaju 2003; Meagher 2003; Nugent 2003. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Aktuelle Studien33 haben darüber hinaus nachgewiesen, dass in afrikanischen Grenzräumen staatliche Konzeptionen von Souveränität, Territorialität und Staatsbürgerschaft herausgefordert und durch spezifische grenzüberschreitende politische Konnektivitäten ersetzt werden können.34 Die Vitalität dieser Konnektivitäten ist ein Schlüsselfaktor (wenn auch nicht der einzige Grund) bei der Neuaushandlung der postkolonialen Ordnung, die wir gegenwärtig in Mali und Libyen erleben. Die letzte Tuareg-Rebellion in Mali war zweifellos von den Entwicklungen in Libyen beeinflusst,35 aber sie war auch das Ergebnis einer genuin lokalen historischen Entwicklung.36 Letzteres verweist auf die Relevanz der Wiederentdeckung historischer Ansprüche und Traditionen auf der lokalen Ebene. Der Fokus auf Konnektivität verhindert, solche lokalen Entwicklungen als räumlich oder politisch isolierte Phänomen zu begreifen. Lokale Akteure, Lokalität Seit den Tagen von Meyer Fortes und Edward Evans-Pritchard gehört die Auseinandersetzung mit lokalen Akteuren und Lokalität zu den Kernthemen der politischen Anthropologie und der politischen Soziologie Afrikas.37 In den letzten Jahren hat auch die Politologie dem Thema Lokalität mehr Aufmerksamkeit geschenkt.38 Das Konzept unterstreicht die Bedeutung von Lokalität im Kontext der (Neu-)Aushandlung politischer Ordnungen. Das Lokale und lokale Akteure werden in dieser Perspektive vom Rand der Betrachtung in ihr Zentrum versetzt.39 In Bezug auf die gegenwärtige Rekonfiguration der politischen Ordnung in Nordwest-Afrika und dem subsaharischen Afrika können wir drei Argumentationslinien unterscheiden, die sich alle mit lokaler Politik und lokalen Politikern beschäftigen. Der von Thomas Bierschenk eingeführte »Arena-Ansatz«40 beschreibt lokale politische Arenen und analysiert den Kampf um politische Macht, Einfluss und Partizipation zwischen unterschiedlichen lokalen Machtgruppen. Nach Bierschenk ist die lokale politische Arena der Beniner Mittelstadt Parakou durch eine Polycephalie gekennzeichnet, in die auch der schwache Zentralstaat als eines unter mehreren Machtzentren verflochten ist. Das Ergebnis ist eine nicht »repräsentative partizipative de-facto Ordnung«41 mit einem breit aufgefächerten Instan33 Engels/Nugent 2010; Höhne/Feyissa 2010; Korf/Raeymaekers 2013. 34 Hüsken/Klute 2010; Scheele 2009. Für weitere Literaturhinweise verweisen wir auf die Website des African Borderlands Studies Network; URL: aborne.org [13.11.2016]. 35 Ronen 2013. 36 Klute 2013 b. 37 Fortes/Evans-Pritchard 1940. 38 Harders 2013. 39 Das/Poole 2004; Stepputat 2013. 40 Bierschenk 1999. 41 Ebd., S. 328.

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zen- und Regelpluralismus. Wir greifen diese Argumentation auf, möchten sie jedoch um eine genaue Untersuchung der systematischen Verbindungen des Lokalen mit der internationalen und transnationalen Dimension erweitern.42 Wir gehen nicht davon aus, dass lokale Akteure und ihre Ordnungsentwürfe beim (Wieder-)Erstarken des Staates quasi automatisch zurückgedrängt würden. Vielmehr sehen wir zahlreiche Hinweise dafür, dass die lokale Antizipations- und Aneignungsfähigkeit stärker sein kann als die staatlichen Bemühungen zur Rückgewinnung des politischen Terrains. Nicht selten nämlich verfügen lokale Akteure zugleich über Ämter und Funktionen im Zentralstaat, die es ihnen ermöglichen, Politik im Sinne der lokalen Arena zu beeinflussen. Lokale Souveränität ist auch deshalb längst ein Kennzeichen von Staatlichkeit in Afrika. Außerdem gibt es derzeit keine überzeugenden Anzeichen für ein Wiedererstarken des Zentralstaates. Eine zweite Perspektive beschäftigt sich mit dem afrikanischen Häuptlingtum und (neo-) segmentären Formen politischer Organisation. Dieser Ansatz integriert eine historische Betrachtung und betont die Kontinuität und Innovationskraft dieser politischen Formen in neuen Kontexten und veränderten Situationen.43 Insbesondere das neo-traditionale Häuptlingtum44 wird in seiner historischen und rezenten Bedeutung für die afrikanische Politik erkennbar. Eine dritte Perspektive konzentriert sich auf den Aufstieg neuer lokaler nichtstaatlicher Formen von Macht und Herrschaft und ihrer Verflechtung mit dem Staat.45 Diese Verflechtungen werden auch in neueren Arbeiten zu afrikanischen Bürokratien, die unter der paradigmatischen Überschrift »states at work« laufen, thematisiert.46 Die Verflechtung von Staat und Nicht-Staat wird zu einem Kennzeichnen der real practice of African governance.47 Die Krise des Staates in Afrika hat die Handlungsspielräume für lokale nichtstaatliche Akteure und Gruppen (traditional wie neo-traditional oder auch neuartig) zweifellos erweitert.48 Dies gilt für Aktivitäten innerhalb des Staates wie auch für solche neben dem Staat.49 Lokale Akteure haben durch Strategien der Aneignung, Privatisierung und Verflechtung50 mit dem Staat ihre Ordnungsvorstellungen erfolgreich durchsetzen können. Ebenso sind sie häufig in der Lage gewesen, gegen den Staat die Etablierung paralleler oder konkurrierender Ordnungsmodelle aufzubauen. Das Ergebnis sind heterarchische Konfigurationen, wie oben ausgeführt. Jourdan hat mit dem Portrait des Gouverneurs Serufuli der Provinz 42 43 44 45 46 47 48 49 50

Klute 1999. Forrest 2003; Spear 2003. Skalnik 2004, 2008. Koechlin/Förster 2014. Olivier de Sardan 2013; Bierschenk/Olivier de Sardan 2014. Olivier de Sardan 2013. Klute/Trotha 2004. Bellagamba/Klute 2008. Lebeau et al. 2003.

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Nord-Kivu im östlichen Teil der Demokratischen Republik Kongo ein sehr anschauliches Beispiel für die Verflechtung lokaler Führerschaft mit dem Staat im Kontext heterarchischer politischer Figurationen geliefert.51 Die Rolle des Lokalen und das Verhältnis zum Globalen bleiben in manchen Debatten umstritten. Autoren, wie Boilley, halten Konfliktformationen auf globaler Ebene für wirkmächtiger als die von uns fokussierte lokale Ebene.52 Dies gilt besonders für die Entwicklungen in Nord-Mali. Trutz von Trotha hat diese Argumentation stets zurückgewiesen und den Aufstieg des Lokalen als Charakteristikum afrikanischer Politik betont.53 Wir folgen der Hypothese, dass in der Krise des postkolonialen Staates (in Nordwest-Afrika) das Lokale zum zentralen Ort für die Produktion politischer Ordnungsentwürfe wird. Das Lokale ist der soziale Raum, in dem lokale und regionale Politiker, Meinungsführer und Gruppen als Torwächter zwischen dem (schwachen) Staat und der Vitalität der lokalen Arena agieren und gleichzeitig transnationale Bezüge integrieren. Im Gegensatz zum sogenannten administrativen Häuptlingtum54 und anderen kolonialen Intermediären55 sind die heutigen Akteure also weder komplett lokal noch ausschließlich national, sondern bewegen sich an den Schnittstellen lokaler, nationaler und transnationaler politischer Handlungsfelder. Heterarchische Figurationen werden von einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure bevölkert. Hierzu gehören führende lokale oder regionale Parteipolitiker, höherrangige Beamte, Häuptlinge und Scheichs, Vorsitzende von NROs, aber auch Unternehmer unterschiedlicher Sektoren. Wir begreifen diese Akteure als Ordnungsproduzenten,56 die eine wesentliche Rolle bei der Neuaushandlung der postkolonialen Ordnung in Nordwest-Afrika spielen. Die Rationalitäten, Praktiken und Techniken der Ordnungsproduktion greifen auf ein ausgesprochen polyvalentes Repertoire zurück, dessen Elemente unterschiedlich genutzt, kombiniert oder variiert werden. Es finden sich Formen tribaler politischer Partizipation und Abstimmung,57 Praktiken von Parteipolitik und Parlamentarismus, Aspekte staatlicher Verwaltung, Techniken von Bünden und politischen Vereinigungen, Praktiken transnationaler Händlernetzwerke, Elemente sozialer und islamistischer Bewegungen sowie Praktiken des militanten Islamismus und des Jihadismus. Die Techniken der Ordnungsproduktion folgen nicht selten einer pragmatischen Logik oder vollziehen sich entlang von Grenzen praktischer Normen.58 So erheben jihadistische Gruppen in ihren parasouveränen Territorien ebenso Steuern wie der Staat es tut, wie wir aus unseren Forschungen in Libyen und Nord-Mali wissen 51 52 53 54 55 56 57 58

Jourdan 2008. Boilley 2011. Trotha 2011. Beck 1989. Trotha 1994. Hüsken 2013, S. 223. Ebd. Olivier de Sardan 2013.

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und wie es etwa vielfach auch aus dem Mittleren Osten berichtet wird. In machtpolitisch aufgeladenen Situationen oder unter den Bedingungen starker Konkurrenz können jedoch auch große normative Konflikte entstehen, in denen Ordnungsvorstellungen gegeneinander in Stellung gebracht werden. Wir möchten eine Debatte initiieren, die sich von der Vorstellung löst, politische Ordnungen nach den Vorstellungen internationaler Akteure durch militärische Interventionen, diplomatisches Handeln oder entwicklungspolitische Programme implementieren zu können. Reisende globale Modelle59, wie Dezentralisierung (im frankophonen Westafrika nach französischem Vorbild umgesetzt) oder Föderalismus (gegenwärtig für Libyen diskutiert), sind vollkommen sinnlos, wenn sie nicht lokal angeeignet und angepasst werden. Diese Prozesse können nicht von Entwicklungsagenturen mit ihren selektiven Verständnissen von Partizipation60 gesteuert werden. Es sind die relevanten lokalen Akteure, die diese politischen Entscheidungen treffen. Zudem suchen wir (implizit) normativistische Aussagen zum Feld des Politischen dadurch zu vermeiden, dass wir eine empirische Perspektive einnehmen, die durch die Linse des Lokalen der Frage nachgeht, ob das Modell des (westlichen) Nationalstaates in Nordwest-Afrika eine Zukunft haben oder von heterarchischen Figurationen abgelöst wird. Libyen Das politische System Libyens hat eine ganze Reihe von Politologen, Historikern und Sozialanthropologen fasziniert. Dies gilt insbesondere für al-Qadhdhafis »Jamahiriya«, die Republik der Massen, mit ihrer Verknüpfung von Nationalismus, Egalitarismus und bestimmten basisdemokratischen Elementen.61 Ein besonderer Aspekt des Regimes (1969-2011) war zweifellos die zunehmende Informalisierung von Macht und Herrschaft, die seit Ende der 1970er Jahre einsetzte. Die Verbindung von charismatischer, revolutionärer Führerschaft (personifiziert und verkörpert durch al-Qadhdhafi), der Aufbau einer Familien-Dynastie sowie die zunehmende Relevanz von Verwandtschaftspolitik und tribaler Zugehörigkeit sind von vielen Autoren diskutiert worden.62 Amal Obeidis Buch Political Culture Libya konnte aufzeigen, auf welche Weise sich die Berufung auf Stamm und Stammeskultur zu einer Alternative für nationale Identität entwickelte.63 Für eine Reihe von Jahren schien al-Qadhdhafis Libyen resistent gegenüber tiefgreifenden Reformen.64 Das Ende der internationalen Sanktionen zu Beginn des neuen Millenniums, die wirtschaftliche Liberalisierung und al-Qadhdhafis Rückkehr auf die internationale Bühne als Partner der europäischen Flüchtlingspolitik schienen diesen 59 60 61 62 63 64

Behrends et al. 2014; Bierschenk 2015. Murray Li 2011. Vandewalle 2006, 2008. Davis 1987; Anderson 1990; Mattes 2008. Obeidi 2001. Werenfels 2008.

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Eindruck zu bestätigen. Ähnlich wie im Falle anderer autoritärer Regime in Nordwest-Afrika und dem Mittleren Osten (Tunesien, Algerien, Ägypten) hatten sich die Analysten eher mit der Erklärung der Stabilität als mit der Thematisierung von Wandel beschäftigt. Die libysche Revolution gegen al-Qadhdhafi im Jahre 2011 und der Sturz des Regimes kamen deshalb auch völlig unerwartet für die meisten Beobachter. Zwar hat die Intervention der NATO den Fall des al-Qadhdhafi-Regimes befördert, ohne jedoch eine klare Konzeption für den politischen Neuaufbau zu beinhalten. Seitdem hat sich die politische Landkarte des Landes tiefgreifend verändert. Während der Revolution und in der ersten Phase des Übergangs schien Libyen einem politischen Laboratorium zu gleichen, das nicht wenige Autoren und Journalisten faszinierte.65 Andere Beiträge thematisierten jedoch früh den Aufstieg einer polyzentrischen politischen Ordnung mit großer Bedeutung von Lokalität, Familienpolitik und tribaler Zugehörigkeit.66 Auch wenn der Begriff selbst nicht verwendet wird, beschreiben die jüngsten Publikationen die gegenwärtige politische Lage in Libyen als eine Heterarchie aus tribalen und ethno-politischen, staatsähnlichen, islamistischen, jihadistischen, adoleszenten und schließlich zivilen Kräften sowie unterschiedlichen Formen der transnationalen organisierten Kriminalität und des Milizentums.67 Auch die libysche Heterarchie beinhaltet unterschiedliche politische Praxen und Rationalitäten sowie verschiedene Konzeptionen von Macht, Herrschaft und Legitimität,68 zu denen auch die durch internationale Akteure importierten Ordnungsvorstellungen gehören. Einige Autoren zeigen auf, wie der Konflikt zweier konkurrierender post-revolutionärer Lager – die überwiegend islamistische Fajr Libiya (libysche Morgendämmerung) mit ihrem Machtzentrum in der Industrie- und Handelsstadt Misrata und die selbsternannte Gegenregierung in Tripolis einerseits gegen die »Karama (Würde)-Operation« unter der Führung von Khalifa Haftar und das gewählte Parlament in Tobruk andererseits – zu einer massiven Heterogenisierung der politischen Verhältnisse in Libyen geführt hat.69 Hinzu kommt der Aufstieg transnationaler radikaler islamistischer und jihadistischer Gruppen, wie Daʿish (Islamischer Staat, IS) oder die in Benghasi operierende Ansar al-Shariʿa (Anhänger der Scharia), die ihre Version einer gerechten islamischen Ordnung auf der Grundlage der frühen islamischen Kalifate gewaltsam durchsetzen wollen.70 Die UN-Mission UNSMIL (United Nations Support Mission in Libya) ist mittlerweile von einer Moderatorenposition in den Konflikt verstrickt worden. Libyens Grenzen und Grenzregionen im Osten (Ägypten), im Süden und Südwesten (Tschad, Niger, Algerien) sowie im Nordwesten (Tunesien) haben sich in 65 66 67 68 69 70

Edlinger 2011. Hüsken 2011; Lacher 2011. Cole/McQuinn 2015. Hüsken 2013. Lacher 2013; Vandewalle 2015; Cole 2015; McQuinn 2015. Fitzgerald 2015.

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offene Felder für verschiedenste lokale, regionale, nationale und auch globale transgressive Praktiken für Schmuggler, Waffenhändler, Schleuser und jihadistische Kämpfer entwickelt.71 Die Angriffe auf den tunesischen Staat und seine Bevölkerung durch in Libyen basierte Kämpfer des Islamischen Staates haben international zu großer Beunruhigung geführt. Ein großer Teil des gegenwärtigen Schmuggels zwischen Tunesien und Libyen wird jedoch von Händlern und Transporteuren durchgeführt, die langjährig im transnationalen Handel engagiert sind. Dieser Handel war stets durch eine enge Verflechtung von formalen und informalen (unter voller Einbeziehung staatlicher Organe) sowie legalen und illegalen Transaktionen geprägt.72 Ähnliches gilt für das libysch-ägyptische Grenzgebiet in dem eine strikte analytische Trennung von illegalem Schmuggel und legalem Handel ohnehin nie Sinn gemacht hat.73 Hinzu kommen die wiedererwachten ethno-politischen Bewegungen der Tubu, Tuareg und Amazighen (Berber) mit ihren historisch gewachsenen transnationalen Bezügen in den Tschad, Mali und Niger sowie nach Tunesien und Algerien. Einige dieser Verbindungen wurden bereits während der Kämpfe gegen al-Qadhdhafi sichtbar. So verweigerten die revolutionären Milizen der Tubu im südöstlichen Fezzan bereits 2011 eine Versorgung und Ausrüstung mit Waffen durch Benghasi. Stattdessen griffen sie auf ethnisch konnotierte Verbindungen in den Sudan und den Tschad zurück, um sich auszurüsten. Die Ereignisse in Libyen haben zweifellos starke Auswirkungen auf die Nachbarstaaten gehabt. Für Mali beinhaltete die (erzwungene) Rückkehr schwer bewaffneter malischer und libyscher Tuareg, die als Söldner und Milizionäre auf der Seite al-Qadhdhafis gekämpft hatten, eine massive Zuspitzung der Konflikte mit der Zentralregierung und eine Ermächtigung islamistischer und separatistischer Gruppen. Es ist nicht überraschend, dass Libyen in der Bewertung politischer Analysten und Medienexperten als failed state bezeichnet wird oder dass in der öffentlichen Debatte Begriffe, wie »Chaos«, und Überschriften, wie »Libyen. Eine Reise in den Abgrund«74, dominieren. Die Ergebnisse der libyschen Revolution und der gegenwärtigen internen Auseinandersetzungen sind in der Tat unsicher und kontrovers.75 Letzteres ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem politischen Vakuum. Im Gegenteil ist das politische Feld in all seiner Heterogenität auch ausgesprochen produktiv. Die politischen Ordnungsentwürfe und Praxen werden jedoch weder staatlich noch international produziert und zentralisiert, sondern vollziehen sich vor allem auf lokaler und regionaler Ebene. Dort werden sie von Stadträten, tribalen und (neo-) tribalen Politikern sowie den Führern ethno-politischer Bewegungen (Tubu, Tuareg, Amazigh), einflussreichen Großfamilien und ihren Allianz71 72 73 74

Cole 2012. Gallien 2015. Hüsken 2009, 2013. So der Titel eines Beitrags im Deutschlandfunk; URL: deutschlandfunk.de/libyen-eine-r eise-in-den-abgrund.1247.de.html?dram:article_id=340679 [13.11.2016]. 75 Vandewalle 2015.

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partnern, Geschäftsleuten und Unternehmern, Milizenführern, früheren Eliten des al-Qadhdhafi-Regimes, des Militärs und Sicherheitsapparates und schließlich von verschiedenen islamistischen Fraktionen bestimmt.76 Im Fall der selbsternannten »Heldenstadt« Misrata77 hat dies zum Aufstieg eines parasouveränen Stadtstaates geführt, der neben der Behauptung seiner lokalen Souveränität auch nationale und internationale Ansprüche formuliert. Hierzu gehören der Aufbau der nationalen Allianz Fajr Libiya sowie die Installation einer Gegenregierung in Tripolis, aber auch militärische Aktionen zur »Wahrung der libyschen territorialen Souveränität« im südlichen Fezzan. Misrata scheint sich jedoch auch als Teil einer größeren islamistischen Konnektivität zu begreifen, die eine gerechte islamische politische Ordnung (nicht nur) in Libyen anstrebt. In anderen Regionen mit lokaler Souveränität (jenseits des Staates) werden die Ordnungsentwürfe von ethno-politischen Bewegungen bestimmt, die auf Revitalisierung von Tradition und Identität setzen. Dies trifft auf die Tubu im östlichen Fezzan an den Grenzen zum Tschad und zum Sudan zu, gilt aber auch für die Amazighen (Berber) der Nalut-Region. In Tobruk und dem libysch-ägyptischen Grenzland hingegen wird eine pragmatische Arbeitsteilung zwischen einer auf Familien- und Stammeszugehörigkeit basierenden Politik und den Interessen lokaler Geschäftsleute und Unternehmer sowie Teilen der alten und neuen Militärelite betrieben. Die grenzüberschreitende soziale, politische, ökonomische und gewohnheitsrechtliche Konnektivität tribaler Konföderationen und verwandtschaftsbasierter Assoziationen der Awlad ʿAli-Beduinen78 haben hier vor und während der arabischen Revolutionen für eine bemerkenswerte Stabilität jenseits von Staatlichkeit gesorgt. Diese Stabilität wird von lokalen Politikern gewährleistet, die selbst politisch-militärische oder entwicklungspolitische Eingriffsversuche durch verschiedene (westliche) Staaten für sich zu instrumentalisieren suchen. Diese Ordnungsproduzenten jenseits des Staates werden auch in der Zukunft eine wichtige Rolle spielen, weil sie über die notwendige lokale Kompetenz verfügen. Diese Kompetenz basiert auf einer historisch gewachsenen politischen Erfahrung im Umgang mit unterschiedlichen Formen von Staatlichkeit, wie dem Osmanischen Reich, wechselnder Kolonialstaatlichkeit und Postkolonialität, insbesondere aber auf der genauen Kenntnis lokaler politischer Ideen und Praktiken. Der Aufstieg des sogenannten Islamischen Staates in Libyen mit seiner neuen Basis in al-Qadhdhafis Geburtsstadt Sirte steht für eine Form des globalen Jihadismus, der multinational und multi-ethnisch aufgebaut ist, territoriale Ansprüche erhebt, diese militärisch durchzusetzen versucht und mit der Berufung auf die frühen islamischen Kalifate auch über einen Staats- und Gesellschaftsentwurf verfügt. Darüber hinaus besitzt der IS Konnektivitäten im saharischen (Tschad, Niger, Mali) und subsaharischen (Nigeria, Somalia) Raum oder versucht, diese aufzubauen. Die rezente Debatte über den IS ist stark von sicherheitspolitischen 76 Cole/McQuinn 2015; Hüsken 2013; Lacher 2015. 77 McQuinn 2015, S. 229. 78 Hüsken 2009, 2013.

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Überlegungen bestimmt und wird akademisch vor allem auf dem Feld Security Studies geführt.79 In den letzten Jahren sind eine ganze Reihe neuer Institute und Studiengänge entstanden, die explizit eine Verbindung von Wissenschaft und Praxis anstreben und Politikberater ausbilden wollen.80 Jenseits von Sicherheitsforschung und Terrorismus müssen wir den IS jedoch auch als Ordnungs- und Ideologieproduzenten ernst nehmen und dort, wo es möglich ist, in unsere Forschungen einbeziehen. Cole und McQuinn sowie die übrigen an ihrem Sammelband beteiligten Autoren haben eine bemerkenswerte – unter hohem persönlichen Risiko erarbeitete – Ereignisgeschichte der libyschen Revolution und der postrevolutionären Situation vorgelegt.81 Wir greifen auf diese Arbeiten zurück, möchten jedoch die Entwicklung von Theorien und Konzepten vorantreiben, die auch eine komparative, über Libyen hinausgehende, Forschungsperspektive erlauben. Nord-Mali Die Komplexität der politischen Lage in Mali und seinen Nachbarländern stellt jede Analyse vor große Herausforderungen.82 Einige Elemente, die zur wachsenden Heterogenität in Mali beitragen, kann man jedoch benennen: die Vielzahl an nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen im Norden des Landes, der Verlust des Gewaltmonopols seitens des malischen Staates und der damit verbundene Einbruch seiner Legitimität, die Verstrickung staatlicher Beamter und Militärs in den internationalen Drogenhandel, der die Trennung von Legalität/Illegalität sowie öffentlich/privat transformiert hat, und schließlich die Aneignung und quasi-endemische Zweckentfremdung von internationalen Hilfsgeldern in Verbindung mit generalisierten Formen der Korruption. Einen bemerkenswerten Versuch, diese Komplexität zu durchdringen, haben die Autoren des von Lecocq und Kollegen editierten Bandes unternommen.83 Der Norden Malis ist schon seit der Unabhängigkeit des Landes durch einen Prozess der politischen Fragmentierung und konfliktuelle Auseinandersetzungen vor allem der Tuareg mit dem malischen Zentralstaat gekennzeichnet.84 Schon vor einigen Jahren haben Klute und Trotha die Konzepte Parastaatlichkeit und Parasouveränität eingeführt, um die politischen Verhältnisse im Norden Malis und insbesondere in der Kidal-Region zu beschreiben. Dort hatte eine Gruppe tribaler 79 Steinberg/Weber 2015. 80 Zum Beispiel das International Center for the Study of Radicalisation and Political Violence am King’s College in London oder der Studiengang Security Studies an der ETH in Zürich. 81 Cole/McQuinn 2015. 82 Die folgenden Ausführungen zu Mali greifen auf die aktuellen Forschungen unseres langjährigen Kollegen Dida Badi zurück. 83 Lecocq et al. 2013. 84 Boilley 1999; Klute 2013 c; Lecocq 2010. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Führer einen bemerkenswerten Zuwachs an Macht und Einfluss durch ihre Tätigkeit als Mediatoren gewaltsamer Konflikte und durch Allianzen mit bewaffneten Gruppen im Kontext der sogenannten Tuareg-Rebellion der 1990er Jahre gewonnen.85 Die Häuptlinge waren im frühen 20. Jahrhundert von der französischen Kolonialverwaltung zu administrativen Zwecken eingesetzt worden86 und agierten in »intermediärer Tradition«, auch nach der Unabhängigkeit Malis im Jahr 1960.87 Im Zusammenhang mit der Tuareg-Rebellion der 1990er Jahre war es ihnen jedoch gelungen, aus dem Schatten des Staates herauszutreten und eine neue, machtvollere Rolle als Parasouveräne einschließlich eines Anspruchs auf ein regionales Gewaltmonopol einzunehmen. In dieser Form von Herrschaft vollzieht sich eine Übernahme von Rechten und Aufgaben des Staates durch nicht-staatliche Akteure im Rahmen informeller Dezentralisierung und Privatisierungsprozesse. Es handelt sich also um eine Form intermediärer Ordnung, in der nicht-staatliche Gruppen eine vergleichsweise starke Stellung innehaben. Während das Konzept der Parastaatlichkeit die herausgehobene Stellung intermediärer Gruppen an der Peripherie des Staates beschreibt, haben wir es heute mit einer Reihe internationaler, nationaler und vor allem lokaler Gruppen zu tun, die nicht mehr (oder nur gelegentlich) in eine intermediäre Beziehung zum Zentralstaat treten. Vielmehr ist jede dieser Gruppen oder sind Allianzen dieser Gruppen in der Lage, staatliche Monopolansprüche herauszufordern und effektiv zurückzudrängen. Diese Konfiguration kann nicht mehr mit dem Konzept der Parastaatlichkeit gefasst werden; vielmehr ist das Konzept der Heterarchie der gegenwärtigen Situation weit angemessener, da der Zentralstaat nicht einmal mehr als primus inter pares gelten kann. Dies gilt insbesondere für den Norden Malis, aber auch für den Rest des Landes und überhaupt für Nordwest-Afrika. Bis zur Jahrtausendwende war Nord-Mali durchaus ein abgelegener Ort, geographisch an der Peripherie von Mali, sozial und politisch an dessen Rändern. Vermutlich infolge des Angriffs auf das World Trade Center im September 2001 und der nachfolgenden Ausrufung eines »globalen Kriegs gegen den Terror« wurde es allerdings zu einer »globalisierten« Region, in der eine Anzahl globaler, nationaler und regionaler Akteure auf der Bildfläche erschienen. Es waren dies: 1. Spezialkräfte der US-Armee, die zuerst im Rahmen der PSI (Pan-Sahel-Initiative) kamen, die danach TSCTI (Trans-Sahara Counter Terrorism Initiative), später TSCP (Trans-Saharan Counterterrorism Partnership) genannt wurde.88 2. Algerische Agenten.

85 86 87 88

Klute 2013 c; Klute/Trotha 2004. Beck 1989. Klute 2013 c. Die Initiativen der US-Streitkräfte begannen 2002 und umfassten Mauretanien, Mali, Niger and Tschad. 2005 wurde aus der PSI die TSCTI, mit einer größeren Reichweite als sie ihre Vorgängerin hatte. Das Ziel war, in jedem dieser Länder AntiterrorismusEinheiten aufzustellen und semipermanente Operationsbasen für amerikanische Truppen einzurichten. Vgl. Klute/Lecocq 2013.

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3. Agenten aus (al-Qadhdhafis) Libyen (die nach dem Zusammenbruch des alQadhdhafi-Regimes im Herbst 2011 Nord-Mali verlassen haben). 4. Französische Agenten, mit der militärischen Intervention Frankreichs zugunsten des malischen Staates Anfang 2013 um die militärische Missionen Opération Serval und Opération Barkhane (ab dann bis heute) erweitert. 5. Die Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali MINUSMA, die im April 2013 gegründet wurde und seither vor allem im nördlichen Mali operiert. 6. Al-Qaʿida aus dem Maghreb, eine jihadistische Bewegung, die bis 2007 unter dem Akronym GSPC bekannt war. 7. Tablighi al-jamaʿat (Daʿwa), eine Missionsbewegung zur Ausbreitung des Islam. 8. Netzwerke des Drogenhandels und Migrantenhändler, lokal als »syndicats« (Gewerkschaften) bezeichnet. Alle diese »global players« brachten ihre Vorstellungen von einer guten und richtigen Ordnung ein: (1) die Vorstellung eines US-geführten Global War on Terror in einer dichotomisierten, in Gut und Böse zerfallenden Welt; (2) die Vorstellung von einer umma islamiya, einer islamischen Gemeinschaft, die darauf zielt, alle Muslime auch politisch zu integrieren; (3) das koloniale Erbe eines republikanischen Staates nach dem Vorbild Frankreichs; (4) föderale Strukturen als Lösung für die Multiethnizität des Landes; (5) regionale Autonomie; (6) ein Nationalstaat, der alle heute noch auf fünf Länder verteilten Tuareg umfasst; und (7) die Wiederbelebung der traditionellen Herrschaft von Stammesföderationen der Tuareg wie in vorkolonialen Zeiten. Die verschiedenen Modelle einer Gesellschaftsordnung bestimmen nicht die regionale Debatte; sie dienen vielmehr als Bezugsrahmen für die regionale Konkurrenz um die Macht. Gleichzeitig können wir eine hochdynamische politische Landschaft beobachten, wo alle teilnehmenden Gruppen, selbst wenn sie klar aus verschiedenen ideologischen Lagern stammen, stets bereit sind, alte Allianzen zu brechen und neue zu schmieden, die zumeist nur wenig später wieder auseinanderfallen. Was als wichtigstes Element bleibt, ist das Lokale. Die politische Lage in Mali und insbesondere im nördlichen Mali ist gegenwärtig noch heterogener geworden. Abgesehen von den genannten Akteuren haben wir es heute mit einer ausgesprochen großen Anzahl politisch unterschiedlich orientierter Milizen zu tun, die in schnell wechselnden Allianzen kämpfen. Heute operieren folgende lokale und regionale Gruppen im nördlichen Mali: die ethnoregionale MNLA (Mouvement National pour la Libération de l’Azawad), die religiös-ethno-regionale HCUA (Haut Conseil pour l’Unité de l’Azawad), die religiösregionale MUJAO (Mouvement pour le Jihad et l’Unicité en Afrique de l’Ouest), die global-religiöse AQIM (al-Qaʿida im Islamischen Maghreb), die ethno-religiöse Ansar al-Din (Gefolgschaft der Religion), die tribale GATIA (Groupe Autodéfense Touareg Imghad et Alliés), die ethno-regionale MAA (Mouvement Arabe de l’Azawad) sowie die ethno-regionalen Ganda Koy und Ganda Izo (Söhne des Landes). Hinzu kommen eine Fülle ephemerer Splittergruppen, die in wechselnden Koalitionen und Oppositionen gegeneinander kämpfen, den malischen Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Staat attackieren oder unterstützen und schließlich gegen oder auf Seiten fremder militärischer Mächte und internationaler Interventionen agieren. Zunächst schien Ansar al-Din die Bewegung mit dem klarsten politischen Konzept und der gleichsam einzigen »konkreten Utopie« (Ernst Bloch) zu sein. Die Gründung von Ansar al-Din zeigt deutlich den schnellen Wechsel von Allianzen und die unterschiedlichen globalen, regionalen und lokalen Vorstellungswelten, auf die sich die Gruppen beziehen. Ansar al-Din wurde von Iyad ag Ghali, einem früheren Tuareg-Rebellen und späteren malischen Diplomaten, gegründet, der seine Anhänger vor allem unter Tuareg rekrutiert. Diese Gründung war jedoch nicht ausschließlich von Machtgier motiviert; es ging auch um religiöse Überzeugungen. Ansar al-Din kämpft für die Ausbreitung des Islam, was die Anwendung der Scharia einschließt, die vor allem im Norden Malis gelten soll. Ansar al-Din kombiniert also in gewisser Weise einen Tuareg-Nationalismus mit einer islamischen Theologie. Aber die Anziehungskraft von Ansar al-Din auf lokaler Ebene liegt maßgeblich darin, dass sie für die Ausgestaltung der politischen Ordnung nach islamischen Prinzipien einzutreten scheint. Es ist bemerkenswert, dass ihre lokale Attraktivität durch den Kontrast zu ihrer Tuareg-Gegenspielerin, der explizit säkularen MMLA, der Nationalen Befreiungsbewegung des Azawad, geschärft wurde. Während Ansar al-Din ausdrücklich den Islam als wichtigen Fundus von Werten und als Organisationsmodell für das soziale Leben propagiert, hatte die MNLA Azawad (= Nord-Mali) im Jahr 2012 zum säkularen Staat ausgerufen und damit das Missfallen der vorwiegend muslimischen lokalen Bevölkerung hervorgerufen. Der zweite Grund für die Attraktivität von Ansar al-Din wird aus einer machtsoziologischen Perspektive betrachtet deutlich. Ansar al-Din scheint in der Lage, in einer aus den Fugen geratenen Welt Ordnung zu schaffen; die Organisation versucht, Unsicherheit durch die weithin akzeptierte islamische Ordnung zu ersetzen. Da Ansar al-Din bis zur Intervention Frankreichs die stärkste bewaffnete Gruppe in Nord-Mali war, konnten sich ihre Anhänger vor Gewalt geschützt fühlen. Diese Rolle sicherte der Bewegung die grundlegende Legitimation, vor Gewalt zu schützen, die wir für die entscheidendste aller Legitimationsformen halten.89 Heute allerdings ist keine islamistische Bewegung in Nord-Mali mehr imstande, ihre Anhänger zu schützen. Alle müssen hart um ihr Überleben kämpfen, während sie einem zahlenmäßig und logistisch weit überlegenen Gegner gegenüber stehen, der viel besser bewaffnet ist. Schlussbetrachtung Wir haben versucht zu zeigen, dass in Libyen und Nord-Mali – trotz gängiger Argumente über den Zerfall von Staatlichkeit und die damit verbundenen Assoziationen von Unordnung und Konflikt – politische Ordnung und Ordnungsentwürfe produziert werden. Diese Entwürfe werden vor allem von lokalen und regionalen Akteuren produziert, die hierbei auf Konnektivitäten zurückgreifen, welche 89 Klute 2013 c.

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die Territorien und Souveränitätsansprüche von Staaten überschreiten. In der Summe führt dies zu einer politischen Lage, die wir Heterarchie nennen. In Heterarchien sind Entscheidungsmacht und Privilegien variabel verteilt und befinden sich in beständigem Fluss. Während Herrschaft und Unterordnung in Hierarchien tendenziell stabil erscheinen, können politische Rollen und Positionen in Heterarchien schnell wechseln. Der Aufstieg heterarchischer Figurationen kollidiert mit theoretischen Modellen der Evolution politischer Ordnungen, die auf der europäischen Geschichte basieren, wie etwa Staatlichkeit, Herrschaft des Rechts bzw. Rechtsstaatlichkeit oder Demokratie. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass diese globalisierten politischen Modelle Teil der Theorie und Praxis lokaler sowie regionaler Politik in heterarchischen politischen Ordnungen werden könnten. Die laufenden politischen Prozesse sind von signifikanter Unsicherheit geprägt, die nicht selten in gewaltsame Auseinandersetzungen übergeht. In historischer Perspektive sind die Neuaushandlung politischer Ordnungen oder der Aufstieg neuer Ordnungen jedoch selten ein friedlicher Prozess gewesen. Stattdessen haben wir es stets mit Kontroversen, Widersprüchen und Antagonismen und nicht zuletzt mit Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele zu tun. Es ergibt unserer Meinung nach wenig Sinn, die gegenwärtige Lage in Nordwest-Afrika in modernisierungstheoretischen Gegensatzpaaren, wie »Stamm versus Staat«, »Tradition gegen Moderne« oder »Islamismus gegen Demokratie«, zu diskutieren. Die laufenden Prozesse mögen zu einem Ende des europäischen Modells vom Staat in Afrika führen, wie Trutz von Trotha behauptet hat.90 Sie könnten jedoch auch zu neuen Formen der politischen Ordnung führen, in denen lokale und nicht-staatliche Akteure politische Kompromisse und Machtteilungen mit den jeweiligen Zentralregierungen eingehen. In diesem Zusammenhang werden die alten und neueren Konnektivitäten im nordwestafrikanischen Raum eine wichtige Rolle spielen, auch wenn dies bedeuten kann, dass Grenzen neu gezogen werden müssen. Wir müssen hinnehmen, dass diese Fragen in erster Linie von lokalen Akteuren im Kontext lokaler Souveränität beantwortet werden und nicht von Zentralregierungen, internationalen Interventionen oder Entwicklungsprogrammen. Die internationale Ebene bleibt natürlich relevant. Aber die spezifische Interaktion zwischen beiden Sphären (lokal und global) wird erst durch eine genaue Analyse des Lokalen sichtbar. Literatur Anderson, Lisa 1990. »Tribe and State: Libyan Anomalies«, in: Tribes and State Formation in the Middle East, hrsg. v. Khoury, Philip S.; Kostiner, Joseph. Berkeley: University of California Press, S. 288-302. Asiwaju, Anthony 2003. Boundaries and African Integration. Essays in Comparative History and Policy Analysis. Lagos: PANAF Publishing Inc. Badi, Dida 2007. »Le rôle des communautés sahéliennes dans l’économie locale d’une ville saharienne: Tamanrasset (Sahara algérien)«, in: Les nouveaux urbains dans l’espace SaharaSahel. Un cosmopolitisme par le bas, hrsg. v. Boesen, Elisabeth; Marfaing, Laurence. Paris: Karthala/ZMO, S. 259-277.

90 Trotha 2000. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Zusammenfassung: Die politischen Entwicklungen in Nordwest-Afrika stellen eine Neuaushandlung der postkolonialen politischen Ordnung dar. Es handelt sich um Entwicklungen, die Staatlichkeit an sich herausfordern und auf nationale Grenzen überschreitende historische und rezente kulturelle, ethnische, politische und ökonomische Verbindungen verweisen. Zur Erschließung dieser Entmischungen thematisiert der Beitrag drei theoretische Konzepte: Heterarchie, soziale, politische, kulturelle und ökonomische Konnektivität und die Relevanz von Lokalität und lokalen Akteuren. Stichworte: Libyen, Nord-Mali, Heterarchie, Konnektivität, Lokalität

Heterarchy, Connectivity, Local Politics and the Re-Negotiation of the Postcolonial Order from Libya to Mali Summary: The political developments in North-West Africa represent the renegotiation of the post-colonial political order. These developments challenge statehood as such and hint at historical and recent cultural, ethnic, political, and economic links that cross national boundaries. To frame these developments, the article focuses on three theoretical concepts: heterarchy, social, political, cultural and economic connectivity and the relevance of locality and local actors. Keywords: Libya, Northern Mali, heterarchy, connectivity, locality

Autoren Dr. Thomas Hüsken Universität Luzern Ethnologisches Seminar Frohburgstrasse 3 CH-6002 Luzern [email protected] Prof. Dr. Georg Klute Universität Bayreuth Facheinheit Ethnologie Universitätsstraße 30 DE-95440 Bayreuth [email protected]

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Guido Steinberg

IS gegen al-Qaʿida oder: Der Sieg des Salafismus über den Islamismus

Die Revolutionen von 2011 waren für die jihadistische Bewegung eine äußerst zwiespältige Erfahrung. Einerseits zeigten sie, wie politisch irrelevant al-Qaʿida und ihre Verbündeten in ihren arabischen Heimatländern waren, andererseits sorgten die Schwäche der Staaten in der arabischen Welt und die Bürgerkriege in Libyen, im Jemen und in Syrien dafür, dass sich die Operationsbedingungen für die Jihadisten enorm verbesserten. Die Jihadisten hatten seit den 1970er Jahren darauf hingearbeitet, autoritäre Regime in Ägypten, Algerien und anderen Ländern mit Waffengewalt zu stürzen und dabei schmerzliche Niederlagen einstecken müssen. Im Frühjahr 2011 jedoch brachten weitgehend friedliche Demonstranten die autoritären Regime von Bin ʿAli (Ben Ali) in Tunesien, Husni Mubarak in Ägypten und ʿAli ʿAbdallah Salih im Jemen zu Fall. Die Demonstranten gehörten häufig zu Gruppen, die den Jihadisten seit jeher als ihre ärgsten Feind galten – liberale Demokraten und Intellektuelle, Bürger-, Menschen- und Frauenrechtler, Internetaktivisten und auch moderate Islamisten. Deren Erfolge im Frühjahr 2011 bedeuteten für al-Qaʿida & Co. eine schmerzhafte Niederlage und schienen einigen Beobachtern schon das Ende der jihadistischen Bewegung einzuläuten. Dass dies zumindest voreilig war, zeigte sich schon im weiteren Verlauf des Jahres 2011, als sich infolge der Umbrüche die Operationsbedingungen für militante Gruppen stark verbesserten. Der wichtigste Grund dafür war, dass Regime unter Druck gerieten, die bis dahin zu den entschiedensten Gegnern der Jihadisten gezählt hatten. Besonders deutlich wurde dies zunächst in Libyen, wo die Proteste gegen den Diktator Muʿammar al-Qadhdhafi (Muammar al-Gaddafi) schnell in einen Aufstand und blutigen Bürgerkrieg mündeten, in den auch die USA gemeinsam mit einigen europäischen und arabischen Verbündeten intervenierten. AlQadhdhafi wurde gestürzt und im August 2011 von Aufständischen getötet. Verschiedene jihadistische Gruppierungen spielten eine Hauptrolle in dem Konflikt, der sich im Sommer 2014 zu einem erneuten Bürgerkrieg entwickelte, von dem ab 2015 auch die lokalen Verbündeten des Islamischen Staates (IS) profitierten. Im Jemen verliefen die Ereignisse etwas weniger dramatisch, mündeten aber 2011 in einen offenen und teils mit Gewalt ausgetragenen Machtkampf in Sanaa, der dazu führte, dass die Regierung die Kontrolle über Teile des Landes an die starke jemenitische al-Qaʿida (»al-Qaʿida auf der Arabischen Halbinsel«) verlor. Der anschließende Bürgerkrieg seit 2014, in den auch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und andere Nachbarn intervenierten, erlaubte es schließlich nicht nur der al-Qaʿida, sondern auch einer seit Ende 2014 aufgetretenen IS-Zweigstelle, ihre Aktivitäten im Jemen auszuweiten.

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Besonders dramatisch waren aber die Folgen des Bürgerkriegs in Syrien, der Ende 2011 ausbrach, nachdem das Regime des Präsidenten Bashar al-Asad (Bashar al-Assad) erfolglos versucht hatte, die Proteste im Land mit Gewalt niederzuschlagen. Im Laufe des Jahres 2012 bildeten sich mehrere jihadistische Gruppierungen, die gemeinsam mit Islamisten und Salafisten ab 2013 den Aufstand dominierten. Die wichtigste und stärkste war die al-Nusra-Front, eine Organisation, die von syrischen Veteranen der irakischen al-Qaʿida gegründet wurde und enge Beziehungen zu ihrer Mutterorganisation hielt, die sich bis 2013 »Islamischer Staat im Irak« (ISI) nannte. Der Krieg in Syrien wurde für die Jihadisten schnell zur Erfolgsgeschichte, weil zwischen 2011 und 2016 mehr als 40.000 junge Freiwillige aus aller Welt anreisten und das al-Asad-Regime unter großen Druck geriet. Doch führte der große Erfolg auch zu einem Konflikt zwischen der al-Nusra-Front und ISI, zur Gründung des IS im Irak und Syrien und schließlich zu einer Spaltung der jihadistischen Bewegung insgesamt. Auf der einen Seite standen al-Qaʿida und ihre Verbündeten, wie die al-Qaʿida-Regionalorganisationen im Jemen und in Algerien, die syrische al-Nusra-Front und die somalischen Shabab, auf der anderen der IS und seine »Provinzen«, die vor allem in Libyen und auf dem ägyptischen Sinai rasch erstarkten. Der Konflikt zwischen al-Qaʿida und dem IS war mehr als einer zwischen zwei konkurrierenden jihadistischen Organisationen um Geld, Rekruten und eroberte Territorien. Es war auch mehr als ein Konflikt um die richtige Strategie zwischen einer Gruppierung, die wie al-Qaʿida zunächst die USA bekämpfen und anschließend einen islamischen Staat aufbauen und einer, die wie der IS dieses Gemeinwesen sofort begründen wollte. Vielmehr handelt es sich um eine Auseinandersetzung zwischen zwei unterschiedlichen jihadistischen Ideologien. Dabei vertrat al-Qaʿida eine eher islamistische (und weniger salafistische) Denkschule, indem sie ideologische Erwägungen häufig politischen und strategischen Erfordernissen unterordnete – entsprechend der Definition von Islamismus als einer religiös-politischen Ideologie, die vor allem auf politische Macht abzielt. Der IS hingegen erwies sich als stärker salafistisch geprägt, indem er alle Gruppierungen, die seine Weltsicht nicht vorbehaltlos teilten, bekämpfte und in erster Linie darauf abzielte, einen islamischen Staat auf der Grundlage des islamischen Rechts, der Scharia, zu begründen. Denn der Salafismus ist eine Islamismusvariante, die sehr viel mehr auf ideologische Reinheit und die Durchsetzung der Scharia abzielt, oft ungeachtet der politischen Folgen. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Konflikt zwischen al-Qaʿida und dem IS sehr viel größere Bedeutung in der Geschichte von Islamismus und Salafismus. Wenn al-Qaʿida eine islamistische und der IS eine salafistische Organisation ist, könnte der Ausgang ihrer Auseinandersetzung auch Auswirkungen auf die Konkurrenz zwischen Islamisten und Salafisten insgesamt haben und Aufschluss darüber geben, ob die vielfach beschworene Ablösung des Islamismus durch den Salafismus tatsächlich bevorsteht. Für al-Qaʿida spricht zurzeit noch, dass die Organisation und ihre Verbündeten (nicht nur in Syrien) die reifere Strategie haben und in einem infolge der Revolutionen von 2011 dauerhaft instabilen Nahen Osten auch längerfristig überleben dürften. Für den IS hingegen spricht, dass seine Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Ideologie für junge Muslime weltweit sehr viel attraktiver ist als die der al-Qaʿida und er dementsprechend große Rekrutierungserfolge verzeichnen kann. Diese erstaunliche Anziehungskraft ist das vielleicht wichtigste Indiz, dass der Salafismus des IS sich gegen den Islamismus der al-Qaʿida durchsetzen wird. Islamismus und Salafismus Seit den 1990er Jahren hat sich die Unterscheidung zwischen Islamismus und Salafismus als einer seiner Teilströmungen in der Forschung durchgesetzt. Die Islamisten der 1928 gegründeten ägyptischen Muslimbruderschaft und ihrer Tochterorganisationen waren zu diesem Zeitpunkt bereits ein wichtiger Forschungszweig nicht nur der Islamwissenschaft, sondern auch der Geschichte und Politik des Nahen Ostens. Als Islamisten wurden dabei religiös-politische Aktivisten bezeichnet, die einen islamischen Staat auf der Grundlage ihrer Interpretation des islamischen Rechts, der Scharia, begründen wollten. Da der Salafismus eine Sonderform des Islamismus darstellt, teilt er diese Ziele, doch zeichnet er sich zusätzlich dadurch aus, dass er sich sehr viel strikter als die »herkömmlichen« Islamisten am Vorbild der frommen Altvorderen (al-salaf al-salih, daher die Bezeichnung Salafismus) orientiert. Bei ihnen handelt es sich um die ersten drei Generationen von Muslimen, die in der von den Salafisten idealisierten Gesellschaft im Mekka und Medina des 7. und 8. Jahrhunderts lebten.1 Salafisten glauben nun, dass diese islamischen Urväter und -mütter aufgrund ihrer räumlichen und zeitlichen Nähe zum Propheten und seiner Offenbarung ein besonders gottgefälliges Leben führten. Indem sie den Gefährten des Propheten (al-sahaba), deren Nachfolgern (al-tabiʿun) und den Nachfolgern der Nachfolger (tabiʿu al-tabiʿin) nacheifern, glauben die Salafisten ebenfalls, dem Willen Gottes entsprechend zu leben. Ihre Informationen zum Frühislam entnehmen sie einem eng umgrenzten Korpus an Texten: dem Koran und der Sunna, das heißt der Sammlung der Überlieferungen über Aussagen und Taten des Propheten Muhammad. Die einzelne Überlieferung wird Hadith genannt und steht meist im Mittelpunkt der salafistischen Bemühungen um die reine Lehre, denn auf der Grundlage dieser Texte meinen die Salafisten, Glaube und Lebensweise der frommen Altvorderen detailgenau rekonstruieren zu können. Im Mittelpunkt der politischen Ordnungsvorstellungen der Salafisten steht die Durchsetzung ihrer Interpretation des islamischen Rechts, der Scharia. Diese Forderung hat jedoch nicht nur politische, justizielle und rechtliche Konsequenzen, sondern zielt ab auf einen grundlegenden Wandel des sozialen, kulturellen und ökonomischen Lebens nach dem Vorbild der (salafistischen Sicht der) Gesellschaft zu Zeiten des Propheten und seiner Gefährten.

1 Bei diesen »Generationen« handelt es sich nicht um biologische. Die meisten Salafisten sind der Meinung, dass die Zeit der frommen Altvorderen mit dem Tod von Ahmad Bin Hanbal (780-855) endete.

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Schon diese kurze Darstellung verdeutlicht, dass die Grenzen zwischen Islamismus und Salafismus fließend sind. Die Unterschiede betreffen in erster Linie Gewichtungen, so dass Islamisten stärker auf politische Macht in bereits etablierten Nationalstaaten abzielen und zu diesem Zweck häufig bereit sind, ideologische Erwägungen pragmatisch-politischen Erwägungen unterzuordnen. Salafisten hingegen konzentrieren sich darauf, die von ihnen postulierte Doktrin – »die Durchsetzung der Scharia« – zu priorisieren und politische und praktische Erwägungen zurückzustellen. Es wäre nun schwierig, trennscharf zwischen Islamisten und Salafisten zu unterscheiden, wenn die Salafisten nicht selbst dazu neigten, sich von andersgläubigen Muslimen scharf abzugrenzen – zu denen aus ihrer Sicht auch die Islamisten gehören. So kritisieren viele Salafisten, dass Islamisten, wie die Muslimbrüder in Ägypten, Jordanien oder den palästinensischen Gebieten, an Wahlen teilnehmen und versuchen, über den politischen Prozess an die Macht zu kommen – und dabei, so der Vorwurf, die reine Lehre hintanstellen. In der Forschung hat sich seit 2001 zudem eine Unterscheidung zwischen drei Kategorien von Salafisten durchgesetzt, erstens den Puristen, zweitens den politischen Salafisten und drittens den salafistischen Jihadisten.2 Die Puristen (oft auch Quietisten genannt) sind diejenigen Salafisten, denen es (zunächst) lediglich um die reine Lehre des Islam und ein islamkonformes Leben von Individuum und Gesellschaft geht. Als ihr wichtigster Vordenker gilt der albanisch-syrische Gelehrte Nasir al-Din al-Albani (1914-1999), der bis heute viele Anhänger weltweit hat. Al-Albani ging es vor allem darum, durch die Hadith-Forschung ein noch genaueres Bild der islamischen Frühzeit zu gewinnen, um anschließend die korrekte Glaubenslehre (ʿaqida) zu vermitteln und den Muslimen so ein gottgefälliges Leben zu ermöglichen. Obwohl auch al-Albani letzten Endes einen islamischen Staat begründen wollte, ging es ihm vor allem um die Reinheit der Lehre und die Reform des Individuums und der Gemeinschaft. Den politischen Aktivismus der Muslimbrüder und auch anderer salafistischer Strömungen lehnte al-Albani dagegen ab. Besonders kontrovers war eines seiner Rechtsgutachten (fatwa, pl. fatawa) zum israelisch-palästinensischen Konflikt, in dem er die Palästinenser aufforderte, ihr Heimatland zu verlassen. Ihre wichtigste Priorität, argumentierte al-Albani, müsse ein islamkonformes Leben sein und da dies unter israelischer Besatzung nicht möglich sei, müssten sie in islamisch geprägte Länder auswandern. In jedem Fall sei der Glaube wichtiger als das Land Palästina. Deutlicher als mit einem solchen Gutachten kann man in der arabischen und islamischen Welt seine Politikferne nicht demonstrieren.3 Als politische Salafisten werden diejenigen bezeichnet, die die Forderung nach einer Einführung der Scharia und einem gottgefälligen Leben deutlicher mit einer politischen Agenda verbinden als die Puristen. Wie die Islamisten fordern sie einen islamischen Staat, doch sie legen sehr viel mehr Wert darauf, dass dieser auf einer (nach ihrer Lesart) korrekten und damit salafistischen Islaminterpretation basiert. Ihnen fehlt ein so prominenter Vordenker wie al-Albani, doch lassen sich die 2 Zu dieser Kategorisierung vgl. Wiktorowicz 2006. 3 Vgl. Lacroix 2009. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Grundzüge ihres Denkens am Beispiel des Syrers Muhammad Bin Surur Zayn alʿAbidin (geboren 1938) nachvollziehen, des vielleicht wichtigsten Wegbereiters des politischen Salafismus. Muhammad Surur hatte seine Karriere als Mitglied der syrischen Muslimbruderschaft begonnen, doch sich in den 1960er Jahren von ihr distanziert, weil er ein Anhänger des revolutionären Denkens des Ägypters Sayyid Qutb (1906-1966) war. Dieser hatte das damalige ägyptische Regime von Jamal ʿAbd al-Nasir (Gamal Abdel Nasser, 1918-1970) für ungläubig erklärt und den bewaffneten Kampf gegen den Staat als einzige islamkonforme Handlungsoption dargestellt.4 Der überwiegenden Mehrheit der syrischen Muslimbrüder waren diese Ideen zu militant. Außerdem orientierte sich Muhammad Surur eng an der Glaubenslehre der saudi-arabischen Wahhabiya und kritisierte die syrischen Muslimbrüder für ihre Vernachlässigung doktrinärer Fragen – wie vor allem ihre Toleranz gegenüber den in Syrien damals starken islamischen Mystikern, den sogenannten Sufis. Folgerichtig sagte er sich 1968 von der Muslimbruderschaft los. Zu diesem Zeitpunkt hielt er sich bereits drei Jahre in Saudi-Arabien auf, wo er unterrichtete und an einer Synthese des Denkens von Qutb und dem der Wahhabiya arbeitete. Um ihn herum bildete sich eine Gruppe von Adepten, die sich selbst »Salafiyun« (= Salafisten oder Salafiten) nannten. Zu seinen Schülern gehörten unter anderem Safar al-Hawali und Salman al-ʿAuda, die in den frühen 1990er Jahren zu bedeutenden Galionsfiguren der islamistischen Opposition in Saudi-Arabien wurden und als wichtige politische Salafisten der folgenden Generation unter Gleichgesinnten weltweit bekannt wurden.5 Der Aktivismus der politischen Salafisten nimmt unterschiedliche Formen an. In Saudi-Arabien wandten sich junge Gelehrte, wie al-Hawali und al-ʿAuda, ab 1990 gegen das Regime der Familie Al Saʿud, nachdem diese US-amerikanische Truppen zum Schutz vor einem möglichen irakischen Angriff ins Land gerufen hatte. Die beiden Prediger waren Vertreter einer islamistischen Oppositionsbewegung, die vor allem gegen die pro-amerikanische Sicherheitspolitik der Regierung protestierte. Saudis gebrauchen den Namen »Islamisches Erwachen« oder »al-Sahwa al-Islamiya«, wenn sie von dieser stark vom revolutionären Denken der Muslimbruderschaft beeinflussten Bewegung sprechen. Als der saudi-arabische Staat die Opposition ab 1993 niederschlug, wurden diese Gelehrten inhaftiert und erst 1999 freigelassen.6 In anderen Ländern sind die politischen Salafisten diejenigen, die an Wahlen teilnehmen und auf diese Weise versuchen, ihren Forderungen nach islamkonformen Gesetzen Gehör zu verschaffen. Lange Zeit war Kuwait das einzige Land, in dem Salafisten eine wichtige Rolle in einem Parlament spielten bzw. spielen konnten. Infolge der Umstürze von 2011 zeigte sich aber, dass auch Salafisten in anderen arabischen Ländern durchaus bereit sind, sich trotz weit verbreiteter Vorbehalte an Wahlen und dem politischen Prozess insgesamt zu beteiligen. Bei den Par4 Zu Sayyid Qutb vgl. Damir-Geilsdorf 2003. 5 Zu Surur im Detail vgl. Lacroix 2011. 6 Hegghammer 2010, S. 72.

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lamentswahlen in Ägypten 2011/2012 traten mehrere salafistische Parteien unter der Führung der Partei des Lichts (Hizb al-Nur) erstmals an und gewannen auf Anhieb gut ein Viertel der Stimmen. Sie stellten auch einen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im Mai 2012 auf – für salafistische Gruppierungen ein Novum –, doch wurde dieser gemeinsam mit einem der Bewerber der Muslimbruderschaft und anderen wegen (vorgeblicher) formaler Gründe von der Kandidatenliste gestrichen. Viele politische Salafisten befürworten unter bestimmten Bedingungen auch politische Gewalt. Ein Teil von ihnen hält in der Tradition von Sayyid Qutb den Kampf gegen unislamische Regime in der islamischen Welt für legitim, ohne ihn notwendigerweise für eine individuelle Pflicht zu halten, wie dies die Jihadisten tun. Darüber hinaus billigen die politischen Salafisten (wie auch viele Islamisten) in der Regel den bewaffneten Kampf in denjenigen muslimischen Ländern, die – wie beispielsweise Afghanistan, Irak (bis 2011), Tschetschenien, Kaschmir und Palästina – von Nichtmuslimen beherrscht werden. Auch hier gibt es eine große Schnittmenge zwischen ihren Standpunkten und denen der jihadistischen Salafisten. Es war dann aber vor allem der Bürgerkrieg in Syrien, der dazu führte, dass viele Trennlinien zwischen den politischen Salafisten und den Jihadisten an Bedeutung verloren. Die meisten Salafisten jedweder Couleur weltweit hießen den bewaffneten Kampf gegen das al-Asad-Regime gut und unterstützten islamistische, salafistische und jihadistische Gruppen. Da diese vor Ort häufig eng miteinander kooperierten, wurde die Unterscheidung immer schwieriger.7 Als jihadistische Salafisten werden schließlich diejenigen Salafisten bezeichnet, die den zum Heiligen Krieg erhöhten bewaffneten Kampf in den Mittelpunkt ihres Denkens und Handelns stellen. Obwohl sich die Bezeichnung für alle Jihadisten mittlerweile weit verbreitet hat, führt sie in die Irre. Denn nicht alle jihadistischen Organisationen sind salafistisch und insbesondere ein Blick auf die Geschichte und Gegenwart von al-Qaʿida zeigt, dass sie eine eigentümliche Verbindung von islamistischem und salafistischem Denken und Praxis aufweist, die sie stark von einer deutlicher salafistischen Organisation, wie dem IS, unterscheidet. Al-Qaʿida als islamistische Organisation Im August 1988 gründete Usama Bin Ladin (Usama Bin Laden) gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Gefolgsleuten in Pakistan al-Qaʿida.8 Das Ziel der Organisation war es, den bewaffneten Kampf aus Afghanistan in andere Kriegsgebiete zu tragen, doch scheinen al-Qaʿida und ihr Anführer damals noch keine kla-

7 Das wichtigste Beispiel für die intensive Kooperation ist die der islamistischen Gruppen in den Provinzen Aleppo und Idlib im Norden des Landes. Dort kämpfen seit 2012 Gruppierungen wie die zur Muslimbruderschaft neigende Liwa al-Tauhid (Aleppo), die salafistischen Ahrar al-Sham und die jihadistische al-Nusra-Front (im Juli 2016 umbenannt in Jabhat Fath al-Sham) immer wieder gemeinsam. 8 Wright 2006, S. 131-133. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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re Vorstellung davon gehabt zu haben, welche Ziele sie angreifen und wie genau sie vorgehen würden. Bin Ladin, al-Qaʿida und die drei jihadistischen Denkschulen Die mangelnde Zielorientierung von al-Qaʿida dürfte Ende der 1980er Jahre vor allem daran gelegen haben, dass in ihrem Umfeld in Pakistan und Afghanistan zwei teils verfeindete jihadistische Denkschulen miteinander konkurrierten, die »klassischen Internationalisten« und die »Nationalisten«.9 Bis in die zweite Hälfte der 1980er Jahre dominierten die »klassischen Internationalisten«. Diese führen in erster Linie den Kampf zur Befreiung von besetztem Territorium unter Berufung auf das klassische islamische Kriegsrecht. Die moderne Ausprägung dieser Ideologie wurde von dem Palästinenser ʿAbdallah ʿAzzam (1941-1989) entwickelt, der seit den frühen 1980er Jahren der Anführer der arabischen Afghanistan-Kämpfer war. Er argumentierte, dass der Jihad gegen die Besatzer in Afghanistan die individuelle Pflicht (fard ʿain) jeden Muslims sei und stellte sich so gegen die unter Gelehrten verbreitete orthodoxe Position, dass der Jihad eine kollektive Pflicht (fard kifaya) sei, die nur vom Herrscher eines muslimischen Gemeinwesens angeordnet werden könne.10 ʿAzzam plante, dem Kampf gegen die Sowjetunion in Afghanistan eine Reihe von »Heiligen Kriegen« überall dort folgen zu lassen, wo »Ungläubige« muslimische Länder erobert hatten. Primär ging es ihm um Palästina, aber er sah auch die Befreiung der muslimischen Teile Zentralasiens, des Libanon und Tschad, Eritreas, Somalias, der Philippinen, des damals sozialistischen Südjemen und des ehemals muslimischen Spanien (al-Andalus) vor.11 Mit dem Zuzug steigender Zahlen von Freiwilligen aus der arabischen Welt und besonders aus Ägypten ab 1985 wurden die »Nationalisten« wichtiger. Diese beschränken sich auf den Kampf gegen das Regime des jeweiligen arabischen Heimatstaates oder den »nahen Feind«, wie es im Jargon der Jihadisten heißt, und sind häufig eher islamistisch als salafistisch geprägt. Bis weit in die 1990er Jahre waren die Nationalisten in der arabischen Welt stärker als die klassischen Internationalisten. Dies hatte auch damit zu tun, dass die ägyptischen Gruppierungen ihre Avantgarde bildeten und sehr stark auf ihr Heimatland ausgerichtet waren. Die meisten damaligen ägyptischen Jihadisten hatten sich schon in den 1960er und 1970er Jahren kleinen militanten Gruppen angeschlossen, die als Abspaltungen von der zunehmend moderat auftretenden Muslimbruderschaft entstanden waren und sich an Sayyid Qutb orientierten. Erst als es sich während eines Aufstandes in Ägypten 1992-1997 abzeichnete, dass der Kampf gegen das Regime Mubarak nicht zu gewinnen sei, orientierten sich die Nationalisten neu. 9 Zu dieser Kategorisierung vgl. Steinberg 2013, S. 13-17. 10 Vgl. hierzu ʿAzzams Text ad-Difaʿ ʿan aradi l-muslimin ahamm furud al-aʿyan (Die Verteidigung der Länder der Muslime ist die wichtigste der individuellen Glaubenspflichten); URL: tawhed.ws/r?i=1594&c=3545 [24.08.2016]. 11 Eine entsprechende Liste findet sich in ʿAzzams 1988 erschienenem Text Basha’ir annasr (Frohbotschaften des Sieges); URL: tawhed.ws/a?i=77 [24.08.2016].

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In Afghanistan Ende der 1980er Jahre lösten die ägyptischen Neuankömmlinge einen heftigen Konflikt aus, denn ʿAzzam lehnte den Kampf gegen die Regime in den arabischen Heimatländern der Jihadisten vehement ab, schon allein deshalb, weil er beste Beziehungen nach Saudi-Arabien hatte, von wo auch viel Geld an die arabischen Kämpfer floss. Dies galt lange Zeit auch für Usama Bin Ladin, der in den 1980er Jahren im Einklang und vielleicht sogar mit direkter Unterstützung seines Heimatlandes arbeitete, der aber trotzdem enge Beziehungen zu den ägyptischen Jihadisten aufbaute. Seine Entscheidung, den saudi-arabischen Staat und die USA zu bekämpfen, fiel erst im Verlauf der 1990er Jahre. Obwohl Bin Ladin in der ersten Hälfte der 1990er Jahre terroristische Aktivitäten gegen US-amerikanische Ziele finanziert zu haben scheint, bildete sich die Ideologie und Strategie der al-Qaʿida später heraus. Der Anfang wurde gemacht, als sich die Ägypter der sogenannten Jihad-Organisation (Tanzim al-Jihad) unter dem heutigen al-QaʿidaAnführer Ayman al-Zawahiri im Jahr 1997 Bin Ladin anschlossen und den Kampf auf die USA und die westliche Welt (den »fernen Feind«) ausweiteten. Dies war die eigentliche Geburtsstunde der al-Qaʿida und auch ein Epochendatum für die dritte jihadistische Denkschule, die der antiwestlichen Internationalisten. Diese konzentrieren sich auf den bewaffneten Kampf gegen die westliche Welt und zielen dabei insbesondere auf die Supermacht USA ab. Ihr Ursprung lässt sich besonders deutlich bei den saudi-arabischen Islamisten und Jihadisten zurückverfolgen, die schon seit den 1970er Jahren gegen das enge Bündnis des saudi-arabischen Herrscherhauses protestierten und für die die amerikanische Truppenpräsenz in Saudi-Arabien ab 1990 einer Art Initialzündung gleichkam. Bin Ladin und al-Qaʿida wurden ab Ende der 1990er Jahre zu den wichtigsten Vertretern des antiwestlichen Internationalismus. Sie beschränken sich aber nicht auf den Kampf gegen die USA, Israel und ihre Verbündeten, sondern versuchen, die Nationalisten und klassischen Internationalisten in ihre Organisationen und Netzwerke zu integrieren. Bis 2001 stießen sie auf massiven Widerstand der anderen Denkschulen, weil viele Ägypter, Algerier und Libyer nicht bereit waren, dem Westen den Kampf anzusagen. Erst nach 2001 setzte sich der antiwestliche Internationalismus langsam durch und integrierte viele nationalistische oder klassisch-internationalistisch orientierte Jihadisten. Die Anschläge des 11. September 2001 schienen zu zeigen, dass es al-Qaʿida und Co. vor allem um den Kampf gegen den Westen ging und sie darüber jeden Bezug zu den politischen Konflikten in ihren arabischen Heimatländern verloren hatten. Schnell setzten sich Thesen, wie die des französischen Soziologen Olivier Roy, durch, dass der Terrorismus von al-Qaʿida salafistisch und nicht islamistisch sei, weil er nicht mehr auf Revolutionen abziele, sondern jegliche politischen Ziele aufgegeben habe. Al-Qaʿida sei keine politische Organisation, sondern eine »millenaristische und selbstmörderische« Sekte, die keinen Bezug zu irgendeinem konkreten Territorium mehr aufweise.12 Damit war die Kategorisierung von alQaʿida als salafistisch-jihadistische Organisation geboren, doch viele, die die neue Terminologie nutzten, übersahen, dass al-Qaʿida in erster Linie aus einem saudi12 Roy 2002, S. 203-204. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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arabischen und einem ägyptischen Teil bestand, die beide stark von den politischen Konflikten in ihren Heimatländern geprägt waren. Der saudi-arabische Flügel der al-Qaʿida, der eng mit den jemenitischen und kuwaitischen Mitgliedern der Gruppierung verbunden war, war stark von der Sahwa al-Islamiya und damit islamistisch und salafistisch zugleich geprägt, während die Einflüsse der Muslimbruderschaft auf den ägyptischen Flügel noch viel stärker waren. Bin Ladin, al-Qaʿida und Saudi-Arabien Usama Bin Ladin, der Gründer und langjährige Anführer der al-Qaʿida, vertrat immer eine Kombination von (saudi-arabischem) Salafismus und (ägyptischem) Islamismus. Bin Ladin reiste schon kurz nach der sowjetischen Invasion Afghanistans Anfang 1980 nach Pakistan, wo er gemeinsam mit ʿAbdallah ʿAzzam 1984 das »Servicebüro« (Maktab al-Khidma) gründete, das von ʿAzzam geleitet und von Bin Ladin finanziert wurde. Die Aufgabe des Büros war es, die Aktivitäten der »arabischen Afghanen« (al-Afghan al-ʿArab) zu koordinieren und neue Rekruten aus der gesamten muslimischen Welt und der Diaspora zu gewinnen. Unter den ausländischen Kämpfern stellten die Saudis eines der zahlenmäßig stärksten Kontingente, doch blieb ihre politische Vision undeutlich. Denn der saudi-arabische Staat unterstützte damals den bewaffneten Kampf der Afghanen und ihrer ausländischen Unterstützer. Dementsprechend gab es nur wenige Anzeichen, dass sich Bin Ladin und seine saudi-arabischen Gefolgsleute gegen das Regime in ihrer Heimat stellten. Erst der Kuwait-Krieg 1990-1991 brachte die Wende. Die saudi-arabische Regierung rief im August 1990 amerikanische Truppen ins Land, nachdem der Irak das Emirat Kuwait besetzt hatte. Riad und Washington befürchteten damals einen Einmarsch der irakischen Truppen in die saudi-arabische Ostprovinz, wo sich auch die Ölindustrie des Landes befindet. Der amerikanische Truppenaufmarsch kam aber einer Provokation der Islamisten gleich, die die Präsenz der Amerikaner vehement ablehnten. Viele Saudis betrachteten die Anwesenheit ungläubiger Truppen im »Land der Heiligen Stätten« Mekka und Medina als Sakrileg und kritisierten ihre Regierung, die trotz des Ölreichtums des Landes nicht in der Lage war, eine effektive Landesverteidigung zu gewährleisten. Schnell bildete sich eine starke islamistische Opposition, die unter anderem von Sahwa-Islamiya-Persönlichkeiten, wie Safar al-Hawali und Salman al-ʿAuda, angeführt wurde. Bin Ladin schloss sich den Protesten an und musste das Land 1991 verlassen, um seiner Inhaftierung zu entgehen. Bis er beschloss, mit Gewalt gegen die saudiarabische Regierung vorzugehen, dauerte es jedoch noch zwei bis drei Jahre. Anlass war die Verhaftung prominenter oppositioneller Religionsgelehrter – insbesondere von al-Hawali und al-ʿAuda –, die Bin Ladin stark beeinflusst hatten.13 Im Spätsommer und Herbst 1993 schien sich die innenpolitische Lage in Saudi13 Schon der junge Bin Ladin kam in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in Kontakt mit dem Denken des Muslimbruders Sayyid Qutb, als er den Unterricht von Muhammad Qutb (1919-2014) besuchte, der die Ideen seines Bruders im saudi-arabischen Exil verbreitete. Vgl. Scheuer 2011, S. 34.

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Arabien zuzuspitzen, so dass sich die Herrscherfamilie entschloss, mittels einer breit angelegten Verhaftungswelle für Ruhe zu sorgen. Dies bewog Bin Ladin, den bewaffneten Kampf gegen die Familie Al Saʿud aufzunehmen.14 Öffentlich machte er diesen Entschluss in einem programmatischen Text vom 23. August 1996, dem er den Titel »Jihad-Erklärung gegen die Amerikaner, die das Land der Heiligen Stätten besetzt halten«15 gab. Die Erklärung wird in Wissenschaft und Medienöffentlichkeit üblicherweise als »Kriegserklärung an die USA« bezeichnet und als Auftakt des Kampfes gegen den Westen gewertet. Dies ist korrekt; ein genauerer Blick auf den Text selbst macht jedoch deutlich, dass es Bin Ladin in erster Linie um Saudi-Arabien ging. Schon der Untertitel »Vertreibt die Polytheisten von der Arabischen Halbinsel« macht dies deutlich. Bis Mitte der 1990er Jahre war Bin Ladin tatsächlich ein herkömmlicher saudiarabischer Oppositioneller, der aus der Tradition der Sahwa al-Islamiya stammte und in Saudi-Arabien verbreitetes salafistisches (oder wahhabitisches) Denken mit dem revolutionären Impetus der Muslimbrüder verband. Dies änderte sich erst um 1997, als er sich mit Ayman al-Zawahiri, mit dem er bereits seit den 1980er Jahren in Kontakt stand, verbündete. Die Ägypter von al-Qaʿida Die Ägypter, die sich 1997 al-Qaʿida anschlossen, entstammten mehrheitlich der Jihad-Gruppe (Tanzim oder Jamaʿat al-Jihad), einer der ältesten militanten islamistischen Organisationen der arabischen Welt. Diese stand in der Tradition Sayyid Qutbs und seiner ägyptischen Adepten, hatte sich bereits Ende der 1970er Jahre gebildet und 1981 den ägyptischen Präsidenten al-Sadat ermordet.16 In der Folge sah sie sich verschärfter Repression durch den ägyptischen Staat ausgesetzt, was viele Angehörige und Sympathisanten veranlasste, sich Mitte der 1980er Jahre nach Pakistan und Afghanistan abzusetzen. Dort versuchten die ägyptischen Jihadisten unter der Führung von Ayman al-Zawahiri, ihre stark geschwächte Organisation neu aufzubauen. Schnell wurde es zum Problem, dass die meisten von ihnen den Aufenthalt in Pakistan und Afghanistan lediglich zur Vorbereitung einer islamistischen Revolution in ihrem Heimatland nutzen wollten und deshalb ein Konflikt zwischen ihnen und ʿAbdallah ʿAzzam entbrannte. Da ʿAzzam ihre Interpretation, dass die muslimischen Herrscher arabischer Staaten durch ihre Politik zu Ungläubigen geworden waren, nicht teilte, lehnte er auch ihre Schlussfolgerung, dass diese zu bekämpfen seien, rundheraus ab. Das Verhältnis zwischen beiden Gruppen verschlechterte sich zusehends, bis ʿAzzam 1989 ermordet wurde.17

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Atwan 2006, S. 49, 167. Auf arabisch: Iʿlan al-Jihad li-l-Amrikan al-Muhtallin li-Bilad al-Haramain. Zu den Ereignissen in Ägypten im Detail vgl. Kepel 2012. ʿAzzam starb in Peschawar, als eine Bombe unter seinem PKW detonierte. Bis heute ist die Urheberschaft des Anschlags ungeklärt.

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1992 brach in Ägypten tatsächlich ein Aufstand aus, an dem auch zurückgekehrte Afghanistankämpfer teilnahmen. Er wurde allerdings von der Islamischen Gruppe (al-Jamaʿa al-Islamiya) getragen, einer konkurrierenden Organisation, die zahlenmäßig weitaus stärker war als die Jihad-Gruppe. Diese spielte im Kampfgeschehen nur eine Nebenrolle; sie verübte vereinzelte Anschläge, von denen mehrere scheiterten. Deshalb und weil die finanziellen Probleme der Gruppe immer dramatischer wurden, setzte sich bei der Exilführung der Jihad-Organisation vom Jahr 1995 an die Einsicht durch, dass es den Islamisten nicht gelingen würde, den ägyptischen Staat zu destabilisieren. Ayman al-Zawahiri wandte sich deshalb an Bin Ladin und gemeinsam beschlossen sie, den bewaffneten Kampf auf den »fernen Feind« und damit amerikanische Ziele auszudehnen. Die beiden Anführer besiegelten die Neuausrichtung, indem sie gemeinsam im Februar 1998 den Aufruf der »Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler« veröffentlichten, in der sie ihre gemeinsame antiamerikanische Strategie darlegten.18 Die Unterzeichner erklärten den »Heiligen Krieg« (jihad) gegen die USA und ihre Verbündeten zur individuellen Glaubenspflicht jedes Muslims. Terroristische Anschläge auf amerikanische Ziele sollten die USA zum Rückzug aus Saudi-Arabien und Ägypten bewegen und den Weg zum Kampf gegen die Regierungen in Riad und Kairo freimachen. Diesem Ziel dienten alle Anschläge der al-Qaʿida in den folgenden Jahren und die sehr pragmatischen Überlegungen, die dieser Strategie zugrunde lagen, belegen den Einfluss des Denkens der Muslimbruderschaft.19 Der »Islamische Staat« (IS) als salafistische Organisation Nach den Anschlägen von New York und Washington 2001 geriet al-Qaʿida in Afghanistan und Pakistan unter enormen Druck der USA und schaffte es nie wieder, ähnlich anspruchsvolle Anschläge zu verüben. Zwar gelang es ihr, in den pakistanischen Stammesgebieten ein Refugium zu finden und in Nord-Waziristan ein neues Hauptquartier aufzubauen, doch fügte der ab 2007 einsetzende Drohnenkrieg der USA ihr herbe Verluste zu, die die Gruppierung nicht kompensieren konnte. Auch der Tod von Bin Ladin in Abbottabad am 2. März 2011 war ein schwerer Rückschlag für al-Qaʿida, ohne dass ihre Zentrale in Pakistan und Afghanistan vollständig zerschlagen wurde. In den Jahren zuvor hatte die Organisation vor allem durch eine kluge Bündnispolitik dafür gesorgt, dass sie weiterhin ein Akteur der Weltpolitik blieb. Ab 2003 bildeten sich in der arabischen Welt al-Qaʿida-Regionalorganisationen, die sich nach der Zentrale benannten und ihrer Führung Gefolgschaft schworen. Die wichtigsten waren die saudi-arabische al-Qaʿida auf der Arabischen Halbinsel 18 Nass Bayan al-Jabha al-Islamiyya al-ʿAlamiyya li-Jihad al-Yahud wa-l-Salibiyyin, in: al-Quds al-ʿArabi vom 23. Februar 1998. 19 Ayman al-Zawahiri schilderte die neue Strategie in seinem Buch Fursan Tahta Rayat al-Nabi (Ritter unter dem Banner des Propheten) aus dem Jahre 2001.

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(2003), die irakische al-Qaʿida in Mesopotamien (2004), die algerische al-Qaʿida im Islamischen Maghreb (2007) und die jemenitische al-Qaʿida auf der Arabischen Halbinsel (2009). Zu anderen Gruppierungen, wie der indonesischen Jemaah Islamiya, der usbekischen Islamischen Jihad Union (IJU) und mehreren afghanischen und pakistanischen Gruppierungen, wie den Taliban und dem Haqqani-Netzwerk, baute al-Qaʿida ebenfalls enge Beziehungen auf, die teils auf ideologischer und teils auf strategischer Übereinstimmung beruhten, ohne dass diese sich ihr anschlossen. Dies galt zunächst auch für die somalischen Shabab-Milizen, die 2012 zu al-Qaʿida stießen, ohne aber ihren Namen zu ändern. Die al-QaʿidaFührung in Pakistan konnte zwar nur teilweise Einfluss auf die teils weit entfernten »Zweigstellen« und Verbündeten nehmen, doch gelang es Bin Ladin und alZawahiri trotz ihrer Isolation in ihren jeweiligen Verstecken immer wieder, Richtlinien zu formulieren, die von den meisten Gruppierungen berücksichtigt wurden.20 Abu Musʿab al-Zarqawi und die irakische al-Qaʿida Der für al-Qaʿida mit Abstand problematischste Verbündete war die irakische alQaʿida, aus der später der IS hervorging. Von Beginn im Jahr 2004 an waren die Beziehungen zwischen der Zentrale und der irakischen Organisation von Konkurrenz geprägt. Der Grund hierfür war die Persönlichkeit des Jordaniers Abu Musʿab al-Zarqawi, der Gründer und Anführer der irakischen al-Qaʿida. Dieser leistete Oktober 2004 einen Gefolgschaftseid auf Bin Ladin und nannte seine im Irak kämpfende »Tauhid-und-Jihad-Gruppe« (Jamaʿat al-Tauhid wa-l-Jihad) fortan al-Qaʿida in Mesopotamien. Der Anschluss al-Zarqawis kam 2004 überraschend, denn dieser hatte seit jeher auf Distanz zu Bin Ladins al-Qaʿida geachtet. Im Jahr 2000 war er zwar nach Afghanistan gereist und hatte al-Qaʿida um Unterstützung gebeten. Doch lehnte er es ab, einen Gefolgschaftseid zu leisten und zog es vor, für seine Organisation – die damals noch »Tauhid« hieß – ein eigenes Trainingscamp im westafghanischen Herat aufzubauen. Ein Grund dafür dürfte sein Wunsch gewesen sein, unabhängig von dem übermächtigen Bin Ladin seine eigene Organisation aufzubauen und diese anzuführen. Ein weiterer war, dass die meisten seiner Gefolgsleute Jordanier, Palästinenser und Syrer waren und diese al-Qaʿida teils kritisch sahen. Denn die Organisation stand im Ruf, von Golfarabern und Ägyptern dominiert zu werden und deshalb den Kampf gegen Israel – der den genannten Nationalitäten besonders wichtig ist – zu vernachlässigen. Al-Zarqawi hingegen zielte erstens auf einen Sturz der Monarchie in Jordanien und anschließend auf die »Befreiung Jerusalems« ab.21 So gelang es ihm, in nicht einmal zwei Jahren in Herat eine kleine Gruppierung aufzubauen, aus der wenige Jahre später der IS hervorgehen sollte. 20 Der fortgesetzte Kontakt Bin Ladins zu den al-Qaʿida-Regionalorganisationen wurde deutlich, als Briefe aus seinem Versteck in Abbottabad 2012 veröffentlicht wurden. Vgl. Rassler et al. 2012. 21 Steinberg 2005, S. 221. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Ende 2001 mussten al-Zarqawi und seine Anhänger Afghanistan verlassen. Sie verlegten ihre Aktivitäten in den Irak, wo nach der US-Invasion im Frühjahr 2003 rasch ein Aufstand sunnitischer Gruppen entbrannte. Al-Zarqawis Gruppe verübte ab August eine Reihe von spektakulären Bombenanschlägen und nutzte seine plötzliche Prominenz zu einer bis dahin beispiellosen Propagandakampagne.22 Ab Ende 2003 nutzte er den neuen Namen »Tauhid-und-Jihad-Gruppe« für seine Organisation und veröffentlichte zahlreiche Audio- und Videobotschaften. Weltweit bekannt wurden die Videos, auf denen Enthauptungen von Bürgern der Koalitionsstaaten oder anderer Unterstützer der US-Invasion gezeigt wurden.23 Gerade aufgrund dieser »Erfolge« und der Vorgeschichte al-Zarqawis war es eine Überraschung, dass er sich im Oktober 2004 al-Qaʿida anschloss. Die einzige schlüssige Erklärung war, dass er durch das Bündnis Zugriff auf Spenden reicher Unterstützer in den arabischen Golfstaaten hoffte, die bis dahin Bin Ladin unterstützt hatten. Außerdem dürfte es ihm darum gegangen sein, seine Organisation noch attraktiver für Kämpfer aus anderen Teilen der arabischen Welt zu machen. Für alQaʿida hingegen bot sich die Möglichkeit, von der öffentlichen Präsenz al-Zarqawis als Führer der weltweit aktivsten und sichtbarsten jihadistischen Organisation zu profitieren und so den Eindruck zu verstärken, bei al-Qaʿida handele es sich tatsächlich um ein weltumspannendes Netzwerk. Außerdem ermöglichte al-Zarqawi der al-Qaʿida erstmals die Rekrutierung einer größeren Zahl von Jordaniern, Palästinensern, Libanesen, Syrern und Irakern. Diese Nationalitäten bildeten ab 2003 den Kern der al-Zarqawi-Organisation, in der die Zahl der Iraker seitdem stark zunahm. Der Jordanier reagierte, indem er den Irak an die Spitze seiner Prioritätenliste stellte (und dies auch im neuen Organisationsnamen verdeutlichte). Zunächst würde seine Organisation die USA zum Rückzug aus dem Irak zwingen, um dort anschließend einen islamischen Staat zu begründen. Anschließend würde die irakische al-Qaʿida den bewaffneten Kampf auf die Nachbarstaaten Syrien, Jordanien und Libanon ausweiten, um von dort aus Israel anzugreifen und Jerusalem »zu befreien«.24 So bot er allen Nationalitäten in seiner Organisation einen Anreiz, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Als Folge des Bündnisses wurde die irakische al-Qaʿida in den nächsten Jahren zur mit Abstand stärksten Regionalorganisation des Netzwerks. Dies führte jedoch dazu, dass der ohnehin auf seine Unabhängigkeit bedachte al-Zarqawi versuchte, sich jeglicher Kontrolle durch die al-Qaʿida-Führung zu entziehen, sodass Konflikte unausweichlich

22 Im Januar 2004 erschien das erste einer Reihe von Audiobändern, in denen er die Pflicht der Muslime zum Jihad gegen die USA erläuterte. Der Text hieß »Schließe Dich der Karawane an« (Ilhaq bi-l-qafila). Er verwies mit diesem Titel auf ein berühmtes Werk von ʿAbdallah ʿAzzam, in dem dieser zur Teilnahme am Kampf in Afghanistan aufgerufen hatte. Vgl. den arabischsprachigen Text von ʿAbdallah ʿAzzam: Schließe Dich der Karawane an; URL: tawhed.ws/r?i=1600 [24.08.2016]. 23 Das erste dieser Art war ein Video vom Mai 2004, auf dem die Hinrichtung des jungen amerikanischen Geschäftsmanns Nicholas Berg zu sehen ist. 24 Vgl. Al-Hayat 2004.

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waren. Schnell zeigte sich, dass diese nicht nur die Strategie betrafen, sondern auch die Ideologie. Al-Zarqawis Bürgerkriegsstrategie und der IS Schon 2005 traten die ersten Meinungsverschiedenheiten auf. Der wichtigste Grund hierfür war die antischiitische Strategie al-Zarqawis. Der Jordanier glaubte, dass er durch Angriffe auf die schiitische Bevölkerungsmehrheit (von rund 60% der Iraker) diese zu Gegenschlägen provozieren könnte. Die Folge wäre ein Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten, der es jihadistischen Gruppierungen, wie al-Qaʿida, erlauben würde, die Unterstützung weiter Teile der sunnitischen Bevölkerung zu gewinnen und den Konflikt für sich zu entscheiden.25 Die Organisation hatte zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen, diese Strategie in die Tat umzusetzen und verübte zahlreiche Attentate auf schiitische Politiker, religiöse Würdenträger, Heiligtümer und auch Zivilisten. Getragen wurde die Vorgehensweise von dem besonders stark ausgeprägten Schiitenhass der irakischen Islamisten und Salafisten. Der Hass auf die Schiiten ist ein wichtiger Bestandteil der salafistischen Lehre. Die Salafisten sind mehrheitlich der Meinung, dass die Schiiten keine Muslime, sondern Ungläubige sind. Viele Salafisten widmen sich seit jeher in Büchern und Predigten der antischiitischen Polemik, doch die Erfolge schiitischer Islamisten in den letzten Jahrzehnten – wie vor allem die Islamische Revolution im Iran und die Machtübernahme im Irak ab 2003 – haben besonders heftige Reaktionen der Schiitengegner in der gesamten Region provoziert. Interessanterweise haben sich al-Qaʿida und ihre Verbündeten diesem Trend bisher nicht angeschlossen. Obwohl auch sie die Schiiten für Ungläubige halten und in theologischen Traktaten strikt antischiitisch argumentieren, bekämpfen sie die Schiiten nicht mit Waffengewalt, um nicht unnötig weitere Gegner zu reizen. Der Kampf gegen die Schia ist für al-Qaʿida vielmehr eine ferne Vision für die Zeit, in der die ersten Regime in der arabischen Welt bereits gestürzt sein würden. Die al-Qaʿida-Führung versuchte folgerichtig, al-Zarqawi zu einem Umdenken zu bewegen und von seiner antischiitischen Bürgerkriegsstrategie abzubringen. Wie bestürzt sie war, zeigte ein im Ton vorsichtiger, im Inhalt aber dramatischer Brief Ayman al-Zawahiris an den Jordanier vom Juli 2005. Darin betonte der Bin Ladin-Vize, wie wichtig es für die Jihadisten sei, die Unterstützung der Bevölkerung für ihren Kampf zu gewinnen und ermahnte al-Zarqawi anschließend, dass seine antischiitische Strategie und die enthemmte Gewalt gegen Zivilisten gerade dies verhindere.26 Al-Zarqawi reagierte auf die Vorhaltungen, indem er seine antischiitische Strategie noch einmal bekräftigte und im September 2005 einen »tota25 So beschrieb es al-Zarqawi in einem Brief an Bin Ladin und al-Zawahiri, der im Januar 2004 von US-Truppen abgefangen wurde. Der Brief wurde auf der Webseite der Coalition Provisional Authority veröffentlicht; URL: cpa-iraq.org/transcripts/20040212_zar qawi_full.html [24.08.2016]. 26 Brief von Abu Muhammad Ayman al-Zawahiri an Abu Musab al-Zarqawi vom 9. Juli 2005; URL: fas.org/irp/news/2005/10/letter_in_arabic.pdf [23.10.2014]. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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len Krieg« gegen die Schiiten ausrief. Seitdem ist die brutale Gewalt gegen Schiiten und andere religiöse Minderheiten zum vielleicht wichtigsten Markenzeichen der irakischen al-Qaʿida und ihrer Nachfolgeorganisationen geworden und diese sind maßgeblich für den seit 2011 in der muslimischen Welt deutlich wachsenden Hass zwischen den Konfessionen verantwortlich. Der Alleinvertretungsanspruch des Islamischen Staates im Irak (ISI) Die außerordentliche Kompromisslosigkeit der irakischen al-Qaʿida zeigte sich auch an ihrem Umgang mit sunnitischen Muslimen, von denen sie bedingungslose Gefolgschaft verlangte. Dies wurde vor allem ab 2006 deutlich, als der schiitischsunnitische Bürgerkrieg tatsächlich begann. Nachdem im April 2005 die erste von schiitischen Islamisten dominierte Zentralregierung an die Macht kam, eskalierte die Gewalt, da schiitische Milizen mit Unterstützung der von ihnen unterwanderten Polizei zurückschlugen.27 Zwar hatte al-Zarqawi genau dies gewollt, doch zeigte sich 2006 sehr schnell, dass die schiitischen Milizen den sunnitischen Aufständischen überlegen waren. Sie übernahmen rasch die Kontrolle über weite Teile Bagdads, wo sie ihrerseits begannen, Teile der sunnitischen Bevölkerung zu vertreiben. Hinzu kamen Konflikte zwischen den Aufständischen, die vor allem auf die brutale Gewaltanwendung der irakischen al-Qaʿida gegen alle ihre Gegner und ihren Führungsanspruch innerhalb der Aufstandsbewegung zurückgingen. Nachdem al-Zarqawi im Juni 2006 getötet wurde, übernahm der weithin unbekannte Ägypter Abu Ayyub al-Masri (alias Abu Hamza al-Muhajir) die faktische Führung der irakischen al-Qaʿida. Um gegenüber der einheimischen Bevölkerung den irakischen Charakter der Organisation hervorzuheben, die immer im Ruf stand, von ausländischen Jihadisten dominiert zu werden, wurde mit Abu ʿUmar al-Baghdadi (alias Hamid al-Zawi) ein Iraker zum Emir ernannt, während Abu Ayyub al-Masri nur Kriegsminister wurde. Trotz der Probleme der Organisation verkündete sie im Oktober 2006 die Gründung des »Islamischen Staates Irak« (ISI) und signalisierte so ihren Willen, Strukturen für die Zeit nach einem möglichen amerikanischen Rückzug aufzubauen. Zwar ging die Ausrufung auf eine Anregung al-Zawahiris in seinem Brief vom Juli 2005 zurück, in dem der Ägypter alZarqawi aufforderte, möglichst rasch mit dem Aufbau eines islamischen Staates im Irak zu beginnen. Hintergrund war die Erfahrung des Afghanistans-Krieges, als es den Glaubenskämpfern nicht gelungen war, nach dem Sieg über die sowjetischen Besatzungstruppen politische Strukturen zu etablieren. Al-Zawahiri befürchtete, dass auch im Irak nach einem Abzug der amerikanischen Truppen ein Vakuum entstehen könnte und die irakische al-Qaʿida nicht in der Lage wäre, dieses zu füllen. Doch dürfte al-Zawahiri vor allem an starke Bündnisse mit konkurrierenden aufständischen Gruppierungen gedacht haben, wie das von al-Qaʿida mit den afghanischen Taliban. Stattdessen forderte der ISI von den aufständischen Gruppierungen, dass sie sich dem »Islamischen Staat« und seinem »Beherrscher der Gläu27 International Crisis Group 2006, S. 17-21.

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bigen« (Amir al-Mu’minin) Abu ʿUmar al-Baghdadi unterordneten. Aus ihrer salafistischen Sicht konnte es nämlich nur einen legitimen islamischen Staat geben und wer sich dem nicht anschloss, musste ein »Ungläubiger« sein. Starke Gruppierungen, wie die »Islamische Armee im Irak« und die »Bataillone der 1920er Revolution«, wehrten sich vehement gegen den Anspruch des ISI, die Führung des Aufstands zu übernehmen, und es kam immer häufiger zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Ab Herbst 2006 kamen viele Aufständische zu dem Schluss, dass sie nicht gleichzeitig gegen den ISI, die US-Besatzungstruppen und schiitische Milizen bestehen konnten und gaben den Kampf auf. Stattdessen boten sie sich den USA als Hilfstruppen im Kampf gegen den ISI an, und schon nach wenigen Monaten verbesserte sich die Sicherheitslage in den sunnitischen Gebieten erheblich. Ende 2007 schien es so, als sei der ISI geschlagen. Dieser bestand zwar fort, verlegte sich in den folgenden Jahren aber vor allem auf terroristische Anschläge, die ab Mitte 2009 wieder zunahmen. Der kompromisslose Führungsanspruch des ISI hatte die anderen Aufständischen in die Arme der USA getrieben und fast zu seiner Zerschlagung geführt. Doch war es nicht zum Bruch mit der al-Qaʿida-Zentrale gekommen, vermutlich, weil der Kontakt zwischen dem Irak und Pakistan abbrach und aufgrund der Schwäche der irakischen Organisation nicht mehr die Notwendigkeit einer Klärung bestand. Dies änderte sich erst mit dem Beginn der Revolutionen 2011 und dem Wiederaufstieg des ISI im Irak und im benachbarten Syrien. Konflikt in Syrien Im Jahr 2011 zeigte sich vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges in Syrien, dass der Konflikt der Jahre 2006/2007 zwischen al-Qaʿida und dem ISI nur vertagt worden war. In Syrien hatte das Regime von Bashar al-Asad mit brutaler Repression auf die Proteste des Frühjahrs 2011 reagiert, die daraufhin in einen Aufstand mündeten, in dem Islamisten verschiedener Couleur schnell erstarkten. Da der ISI immer viele syrische Kämpfer in seinen Reihen hatte, nutzte er die Gelegenheit, über den Kampf in Syrien zu alter Stärke zu finden. Eine Organisation und zwei jihadistische Denkschulen Im August 2011 schickte der neue ISI-Emir Abu Bakr al-Baghdadi (Ibrahim alBadri) seinen syrischen Kommandeur Abu Muhammad al-Jaulani zunächst auf eine Erkundungsmission in sein Heimatland und beauftragte ihn anschließend damit, eine syrische Gruppierung aufzubauen, die dort kämpfen, aber dem ISI unterstehen sollte.28 Jaulani profitierte davon, dass der ISI in Syrien über eine gut ausgebaute Infrastruktur verfügte. Syrer hatten im Aufstand gegen die US-Truppen nach 2003 neben den Saudis das größte Kontingent ausländischer Kämpfer ge28 Interview mit Abu Muhammad al-Jaulani auf Aljazeera.net vom 19. Dezember 2014; URL: aljazeera.com/news/middleeast/2013/12/al-qaeda-leader-syria-speaks-al-jazeera-2 0131218155917935989.html [23.10.2016]. Vgl. auch Humaidi 2013. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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stellt und Syrer hatten die Reise von Freiwilligen, die fast alle über Syrien kamen, in den Irak organisiert.29 Ab 2011 konnte Jaulanis Gruppe auf diese Netzwerke zurückgreifen, die insbesondere im Osten und Norden des Landes stark vertreten waren. Im Januar 2012 verkündete die »Hilfsfront für die Menschen Syriens« (Jabhat al-Nusra li-Ahl al-Sham) oder kurz al-Nusra-Front ihre Gründung und erstarkte im Laufe des folgenden Jahres, bis sie Anfang 2013 zu den wichtigsten aufständischen Gruppierungen in Syrien gehörte. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht bekannt, dass der ISI hinter der al-NusraFront stand und ihre Aktivitäten trugen zur Verwirrung bei. Denn einerseits verübte die Organisation vor allem in den Städten Damaskus und Aleppo Aufsehen erregende Autobombenanschläge, wie sie vom ISI schon seit Jahren bekannt waren. Diese Taktik sprach für eine enge Anbindung der al-Nusra-Front an die irakische Organisation. Andererseits folgten die syrischen Jihadisten einer Strategie, die genau den Vorgaben der al-Qaʿida entsprach. So arbeiteten sie eng mit anderen aufständischen Gruppierungen unterschiedlicher ideologischer Ausprägung zusammen. Auf diese Weise wollte die Organisation die Chance erhöhen, das alAsad-Regime tatsächlich zu stürzen und nahm zu diesem Zweck in Kauf, dass sie auch mit Nicht-Jihadisten und sogar mit Säkularisten zusammenarbeitete. Außerdem konzentrierte sich die al-Nusra-Front bei ihren Angriffen und Anschlägen seit Ende 2011 vor allem auf syrische Sicherheitskräfte und militärische Einrichtungen und versuchte, zivile Opfer zu vermeiden. Darüber hinaus versorgte sie die Bewohner der von ihr gehaltenen Orte und Viertel mit Lebensmitteln, Treibstoff und Heizöl und stellte, wenn möglich, auch Wasser, Elektrizität und kommunale Dienste bereit. Schon seit den letzten Lebensjahren Usama Bin Ladins hatte al-Qaʿida ihre Regionalorganisationen mehrfach aufgerufen, sich ideologisch flexibel zu zeigen und nach Bündnispartnern zu suchen und die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen, um so die eigenen Erfolgschancen zu erhöhen. Auf eine Orientierung an al-Qaʿida wies auch der Name der al-Nusra-Front hin, denn Usama Bin Ladin hatte laut einem seiner Briefe aus Abbottabad schon 2010 darüber nachgedacht, den Namen der al-Qaʿida zu ändern, weil er von vielen Muslimen mit brutalen Gewalttaten gegen Zivilisten in Verbindung gebracht wurde. Stattdessen schlug er Namen, wie Ta’ifat al-Tauhid wa‐l‐Jihad (Monotheismus-und-Dschihad-Gruppe) oder Jama‘at Tahrir al‐Aqsa (al‐Aqsa-Befreiungsgruppe) vor, die seiner Ansicht nach positiver konnotiert waren.30 Der Name »Hilfsfront für die Menschen Syriens« schien diesem Gedankengang des al-Qaʿida-Führers zu entsprechen.

29 Steinberg 2006, S. 22-23. 30 SOCOM-2012-0000009 der vom Combating Terrorism Center (CTC) veröffentlichten Briefe der al-Qaʿida-Führung; URL: ctc.usma.edu/v 2/wp-content/uploads/2013/10/A-S uggestion-to-Change-the-Name-of-Al-Qaida-Original.pdf [19.08.2016]. Vgl. auch die von der Washington Post erstellte englischsprachige Beschreibung der Briefe; URL: washingtonpost.com/r/2010-2019/WashingtonPost/2012/05/03/Foreign/Graphics/osam a-bin-laden-documents-combined.pdf [19.08.2016].

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Tatsächlich spiegelte das ambivalente Auftreten der al-Nusra-Front einen internen Konflikt zwischen den Anhängern von al-Qaʿida und denen von ISI wider und, als die syrische Organisation im Laufe des Jahres 2012 erstarkte, versuchte sie, sich von der Mutterorganisation und ihrem Anführer al-Baghdadi zu emanzipieren. Dieser hatte enge Vertraute nach Syrien entsandt, die Jaulani und seine Anhänger kontrollieren sollten, doch gelang dies nicht. Der Konflikt eskalierte, so dass al-Baghdadi im April 2013 an die Öffentlichkeit ging und in einer Audiobotschaft den Islamischen Staat im Irak und Syrien (al-Dawla al-Islamiya fi l-Iraq wa-l-Sham, ISIS) ausrief. Al-Baghdadi erläuterte, dass die al-Nusra-Front aus dem ISI hervorgegangen war, beide Organisationen fortan jedoch unter seinem Kommando den Islamischen Staat im Irak und Syrien bilden würden.31 Jaulani reagierte kurz darauf, indem er in einer eigenen Botschaft die Herkunft seiner Gruppierung zwar bestätigte, sich aber weigerte, die al-Nusra-Front al-Baghdadi zu unterstellen. Vielmehr suchte er Unterstützung bei al-Qaʿida-Führer al-Zawahiri, indem er ihm öffentlich Gefolgschaft schwor.32 Al-Zawahiri wiederum sah sich genötigt, in den Konflikt zwischen den beiden Gruppierungen – die aufgrund des mehrfach erneuerten Gefolgschaftseids von al-Zarqawi theoretisch beide alQaʿida-»Zweigstellen« waren – einzugreifen. In einer Botschaft vom Mai 2013 stützte er die Position Jaulanis, indem er dekretierte, dass beide Organisationen unabhängig voneinander in ihrem jeweiligen Heimatland operieren sollten. AlBaghdadi weigerte sich jedoch, den Anweisungen aus Pakistan Folge zu leisten und beharrte darauf, dass ISIS im Irak und Syrien fortbestehe. Konflikt zwischen ISIS und al-Nusra-Front In Syrien wuchsen die Spannungen rasch an, da ISIS-Einheiten ab Frühsommer 2013 schrittweise Stützpunkte der al-Nusra-Front im Osten und Norden des Landes übernahmen – vor allem in den Provinzen Deir ez-Zor, Raqqa, Aleppo und Idlib. Sie profitierten davon, dass viele al-Nusra-Führer und Mitglieder zu ihnen überliefen und die anderen Aufständischen keinen offenen Konflikt wollten, der ihrer Ansicht nach nur die gemeinsame Sache beschädigt hätte. Die neue Präsenz von ISIS wurde sichtbar, weil seine Anhänger die Flaggen der al-Nusra-Front durch die eigenen ersetzten.33 Der ISIS-Aufmarsch verlief so reibungslos, dass

31 Audiobotschaft von Shaikh Abu Bakr al-Baghdadi vom 8. April 2014; URL: youtube.c om/watch?v=2HPQxA3catY [24.04.2014]. 32 Rede des Emirs der Nusra-Front al-Fatih Muhammad al-Jaulani und die Leistung des Eides auf al-Zawahiri (in arabischer Sprache) vom 10. April 2013; URL: youtube.com/ watch?v=6FdTjm4-6Lo [24.04.2014]. 33 Bei diesen Fahnen handelt es sich um eine Adaption des Logos der irakischen alQaʿida, auf dem in weißer Schrift auf schwarzem Grund in kufischer Schrift »Es gibt keinen Gott außer Gott« geschrieben steht. Darunter findet sich das sogenannte »Prophetensiegel«, das den Siegelring des Propheten Muhammad abbilden soll, auf dem untereinander die Wörter »Gott, Prophet, Muhammad« in arabischer Sprache geschrieben stehen. Unter dem Siegel steht in arabischer Sprache der Organisationsname, bis Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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schnell klar wurde, dass er zumindest an einzelnen Orten schon seit Monaten vorbereitet worden war.34 Besonders auffällig war, dass sich die meisten Ausländer in den Reihen der alNusra und mehrerer kleinerer jihadistischer Organisationen in ihrem Umfeld ISIS anschlossen. Insgesamt sollen in den Jahren 2011-2016 mehr als 40.000 Nichteinheimische nach Syrien gereist sein, um dort am Kampf gegen das al-Asad-Regime teilzunehmen.35 Bei ihnen handelte es sich mehrheitlich um Araber aus der gesamten Region. Wie so oft in den Krisengebieten der islamischen Welt stellten die Saudi-Araber mit mehreren Tausend Mann eines der größten Kontingente. Tunesier waren ebenfalls zu Tausenden vertreten, auch wenn die zitierten Zahlen häufig zu hoch gegriffen sind. Marokkaner stellten die drittgrößte Gruppe und große Kontingente von Jordaniern und Türken kamen hinzu. Europäische Muslime waren mit mehr als 5000 Personen stark vertreten, wobei die höchsten Zahlen von ausreisenden jungen Männern aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Belgien gemeldet wurden. Die ausländischen Kämpfer bevorzugten den IS in erster Linie aufgrund seiner kompromisslosen salafistisch-jihadistischen Ausrichtung. Der jihadistische Charakter der al-Nusra-Front schien vielen von ihnen aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit Islamisten, Salafisten und der Freien Syrischen Armee (FSA) und ihrer Konzentration auf den Sturz des al-Asad-Regimes nicht mehr ausgeprägt genug zu sein. So glaubten viele Freiwillige, der IS und nicht die al-NusraFront sei das jihadistische Original. Die irakische al-Qaʿida und ISIS standen für besonders brutale terroristische Attentate, einen ausgeprägten Schiiten- und Alawitenhass und ein besonders drakonisches Regiment in den von ihnen kontrollierten Gegenden. Besonders wichtig war für viele Ausländer auch die Aussicht, tatsächlich in einem »islamischen Staat« leben zu können, in dem islamisches Recht salafistischer Auslegung die Grundlage des Zusammenlebens war. Die Organisation machte viel Werbung mit diesem Motiv und ihre Rekrutierungserfolge zeigten, dass es für die ausländischen Kämpfer sehr attraktiv ist.36 Ab Frühsommer 2013 sorgte die Ideologie und Strategie der neuen Organisation für wachsende Spannungen, die schließlich in einem offenen Konflikt mündeten. Der wichtigste praktische Unterschied war, dass Nusra sich auf den Kampf gegen das Regime konzentrieren wollte, während ISIS vor allem die Kontrolle über diejenigen Gebiete zu gewinnen suchte, die bereits von den Aufständischen eingenommen worden waren, um dort wie ein »islamischer Staat« agieren zu können. Da ISIS zu diesem Zweck wiederholt Anführer konkurrierender Gruppierungen ermordete und immer offener von den aufständischen Gruppen verlangte, Sommer 2014 »al-Dawla al-Islamiya fi l-ʿIraq wa-l-Sham«, seitdem »al-Dawla al-Islamiya« oder auch »Dawlat al-Khilafa« (Kalifatsstaat). 34 Zu einer kurzen Darstellung des Ablaufs vgl. Hariri 2013; Humaidi 2014. 35 Schmitt 2016; zu (etwas älteren) Zahlen im Detail vgl. The Soufan Group 2015, S. 6. 36 Der deutsche IS-Rückkehrer Nils Donath bestätigte diese Interpretation in seiner Vernehmung vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf in Anwesenheit des Autors am 22. Januar 2016.

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dass sie sich ihr unterordneten, eskalierte der Streit. Al-Nusra-Front, die salafistischen Ahrar al-Sham und andere Gruppen fürchteten, dass ein Konflikt unter den Rebellen den gesamten Aufstand schwächen würde.37 Doch als die Übergriffe im Dezember 2013 zunahmen, begann die von al-Ahrar geführte Islamische Front gemeinsam mit FSA-Gruppierungen, ISIS in Nordsyrien zu bekämpfen. Dieser zog seine Truppen Richtung Osten zurück. Die al-Nusra-Front zögerte zunächst, sich an den Kämpfen zu beteiligen. Dies änderte sich aber, als sich der Konflikt zwischen al-Zawahiri und al-Baghdadi dramatisch zuspitzte, nachdem al-Zawahiri im Januar 2014 den Ausschluss von ISIS aus der al-Qaʿida verkündete.38 Dies war der Beginn des offenen Konfliktes zwischen al-Qaʿida und der alNusra-Front einerseits und ISIS andererseits. Ende Februar ermordeten zwei ISISSelbstmordattentäter den von al-Zawahiri zu seinem Stellvertreter in Syrien ernannten Abu Khalid al-Suri.39 Im März 2014 flammten im Osten des Landes Kämpfe zwischen der al-Nusra-Front und ISIS auf, die letzterer im Sommer 2014 für sich entscheiden konnte. Die al-Nusra-Front operierte fortan im Nordwesten Syriens und ISIS im Norden und Osten ebenso wie im Irak. Al-Qaʿida oder der IS – Islamismus oder Salafismus? Die Niederlage von ISIS in Syrien täuschte über die weiterhin beträchtliche Stärke der Organisation hinweg. Dies zeigte sich im Sommer 2014, als die Organisation zunächst im Irak erstaunliche Territorialgewinne verzeichnen konnte. Nachdem ISIS Anfang Juni die zweitgrößte irakische Stadt Mossul im Sturm genommen hatte, proklamierte die Organisation den »Islamischen Staat« ohne geographische Begrenzung und rief al-Baghdadi zum Kalifen aus. Anschließend ging der IS auch in Syrien wieder in die Offensive und vertrieb die al-Nusra-Front aus ihren letzten Basen im Osten des Landes. Seit Juni/Juli 2014 kontrollierte der IS die aneinander angrenzenden Gebiete Ostsyriens und des Nordwestiraks und bemühte sich, dort einen lebensfähigen Staat aufzubauen. Zwar geriet er unter enormen Druck, seit die USA gemeinsam mit Verbündeten ab August 2014 Luftangriffe gegen Ziele im Irak und Syrien flogen, doch konnte er sich trotz hoher Verluste bis 2017 halten. Nach der Ausrufung des Kalifats zeigte sich die enorme Strahlkraft der Organisation noch sehr viel deutlicher als zuvor. Der Zustrom ausländischer Kämpfer nahm über Monate stark zu und verringerte sich erst wieder, als die Reise in das IS-Gebiet 2015 immer schwieriger wurde. Nur die verstärkte Überwachung von Ausreisen in den Entsendeländern, schärfere Kontrollen in der Türkei und die schwierige Situation beim IS selbst hielten die Rekruten ab. Darüber hinaus ge37 Humaidi 2014. 38 Der Text der Erklärung findet sich auf URL: arrahmah.com/arabic/tnzym-qadt-al-jhadal-qyadt-al-amt-byan-bshan-alaqt-jmat-qadt-al-jhad-bjmat-ad-dwlt-al-islamyt.html [15.04.2014]. 39 Suri war ein bereits seit den 1990er Jahren prominenter Jihadist und enger Freund und Gefolgsmann des Strategen und Autors Abu Musʿab al-Suri. Zu Abu Khalids Biographie vgl. al-Hajj 2014. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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lang es der Organisation, ab Ende 2014 ein Netzwerk von Regionalorganisationen aufzubauen, die sich als »Provinzen« (des Islamischen Staates) bezeichneten. Der IS folgte hier dem Vorbild der al-Qaʿida, die ab 2003 auf eine ähnliche Strategie gesetzt hatte, nachdem sie in Südasien unter Druck geraten war. Die irakische Organisation war aber ungleich erfolgreicher und gewann Verbündete in Libyen, Ägypten, im Jemen, Nigeria, im Kaukasus, Afghanistan und Pakistan. Gemeinsam mit diesen Gruppierungen begann der IS eine Terrorkampagne, die 2014-2016 außer dem Irak und Syrien insbesondere die von den Revolutionen von 2011 und ihren Folgen geschwächten Libyen, Tunesien und Ägypten, aber auch die Türkei und Frankreich traf. Dort, wo die Organisation nicht präsent war, bemühte sie sich mit einigem Erfolg, Einzeltäter über neue soziale Medien zu rekrutieren. Obwohl al-Qaʿida bei dem nun deutlich zu beobachtenden Wettlauf um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit ins Hintertreffen geriet, konnten sich die Organisation und ihre Verbündeten halten. In Afghanistan, im Jemen, Syrien, Somalia, Algerien, Libyen und der Sahara behaupteten sich die Anhänger al-Zawahiris. Die stärksten Teilgruppierungen waren die al-Nusra-Front in Syrien und die jemenitische al-Qaʿida, die in zwei Staaten operierten, in denen die Unruhen von 2011 zu einem fast vollständigen Zusammenbruch und brutalen und lang andauernden Bürgerkriegen geführt hatten. Schon 2014 scheint sich die al-Qaʿida-Führung entschlossen zu haben, wichtiges Personal nach Syrien zu schicken. Diese Personen wurden unter dem Namen »Khorasan-Gruppe« bekannt, weil sie aus Afghanistan und Iran – der historischen Region Khorasan – nach Syrien reisten, um einen neuen Stützpunkt für al-Qaʿida aufzubauen und dort begannen, Anschläge in Europa zu planen. Offensichtlich glaubte die al-Qaʿida-Führung an die Entwicklungsmöglichkeiten ihres syrischen Verbündeten. Dies war damals nur folgerichtig, denn die immer in großen Allianzen operierenden Rebellen drängten die Regimetruppen bis Sommer 2015 in die Defensive. Die Erfolge der al-NusraFront und ihrer Verbündeten bewirkten zwar, dass Russland militärisch an der Seite des Regimes intervenierte, doch gaben die Erfolge der Monate zuvor der Organisation und auch al-Qaʿida Recht. Durch die Integration in einen größeren Aufstand konnten al-Qaʿida-Gruppierungen Erfolge erzielen, die weit über das hinausgingen, was die Organisation auf sich gestellt erreichen konnte. Im Jahr 2017 sprechen die reifere Strategie, der Pragmatismus und die Politikorientierung der stark islamistisch geprägten al-Qaʿida dafür, dass sie länger überleben könnte als der IS. Dieser kann nicht erwarten, dass er Erfolg hat, wenn er gleichzeitig gegen die Großmächte, alle Nachbarn Syriens und des Irak, die Regierungen beider Länder, religiöse Minder- und Mehrheiten aller Art und auch noch nichtjihadistische sunnitische Muslime sowie die jihadistischen Glaubensbrüder der al-Nusra-Front und al-Qaʿida kämpft. Für den IS hingegen sprechen seine ungeheuren Erfolge bei der Rekrutierung und Mobilisierung weltweit und die anhaltende Schwäche vieler arabischer Staaten infolge der Revolutionen von 2011. Sollte sich die IS-Ideologie in den kommenden Jahren gegen die von al-Qaʿida durchsetzen, könnte dies ein wichtiges Indiz dafür sein, dass die Salafisten die Islamisten nicht nur in der jihadistischen Bewegung ablösen.

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Zusammenfassung: Der Beitrag richtet den Blick auf gegenwartsbezogene Ausfechtungskämpfe im Jihadismus. Über eine historische Aufarbeitung variierender Entwicklungslinien jihadistischer Bewegungen wird die These entwickelt, dass zwar aus Sicht des Jahres 2017 die reifere Strategie, der Pragmatismus und die Politikorientierung der stark islamistisch geprägten al-Qaʿida dafür sorgen, dass sie länger überleben könnte als der IS. Dennoch sprechen für den IS seine Erfolge bei der Rekrutierung und Mobilisierung weltweit und die anhaltende Schwäche vieler arabischer Staaten infolge der Revolutionen von 2011. Stichworte: Islamischer Staat, Islamismus, Salafismus, al-Qaʿida, Jihadismus

Islamic State (IS) vs. al-Qaʿida or: The Victory of Salafism over Islamism Abstract: This article focuses on the current conflict for leadership in Jihadism. Following an analysis of varying pathways of jihadist movements, this article argues that from the perspective of 2017 the more advanced strategy, forms of pragmatism and policy-orientation on behalf of al-Qaʿida might speak for a long-term survival of the group. However the ongoing success of the IS in terms of recruiting and mobilizing fighters worldwide and the weakness of Middle Eastern states following the Arab uprisings might keep the IS on the political map for the time being. Keywords: Islamic State, islamism, salafism, al-Qaʿida, jihadism

Autor Dr. Guido Steinberg Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit (Stiftung Wissenschaft und Politik) Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika Ludwigkirchplatz 3-4 DE-10719 Berlin

IV. Religion

Hanna Pfeifer

Islamisten und die Politik des Säkularismus in Ägypten und Tunesien Autokratische Stabilität und das demokratische Moment der asäkularen Arabellion1 Einleitung2 In der liberalen Demokratietheorie gehört der Säkularismus klassischerweise zu den Voraussetzungen einer liberal-demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung. Begründet wird dies mit der strikten Trennung zwischen einer durch praktische Vernunft, politische Gründe und neutrale Sprache geprägten Öffentlichkeit und einer privaten Sphäre, innerhalb derer umfassende Lehren und Theorien des gelungenen Lebens verfolgt werden können.3 Das Grundproblem, das sich für arabische als islamische Gesellschaften mit Blick auf eine Demokratisierung stellt, bringt Nader Hashemi vor dem Hintergrund dieser Demokratietheorie wie folgt auf den Punkt: »Liberal democracy requires a form of secularism to sustain itself, yet simultaneously the main political, cultural and intellectual resources at the disposal of Muslim democrats today are theological.«4 Diese Problematik spiegelt sich auch in empirischen Beobachtungen wider, die in der arabischen Welt schon seit längerem Unterstützung für demokratische und islamische Prinzipien des Regierens gleichermaßen feststellen und eine Beförderung von Demokratie auf Kosten einer islamischen Agenda deshalb als unwahrscheinlich erscheinen lassen.5 Tatsächlich gibt es innerhalb arabischer Bevölkerungen breite Unterstützung für konstitutionelle Modelle, die Prinzipien islamischen Regierens mit Demokratie verbinden.6 Islamisten gelten in der Regel als diejenigen Akteure, die versuchen, solche islamischen Prinzipien für die Politik und Gesellschaft geltend zu machen. Eine gängige Definition islamistischer Bewegungen bezeichnet sie als diejenigen Akteure, die glauben, dass der Islam als ein Glaubensgerüst zentrale Aussagen darüber trifft, wie eine Gesellschaft organisiert werden soll, und für die eine Umsetzung dieser

1 Der Begriff »a-säkular« ist von Agrama 2011 übernommen, siehe auch den Schlussteil des vorliegenden Textes. 2 Für hilfreiche Anmerkungen zu früheren Versionen dieses Textes danke ich Michael Reder sowie drei anonymen Gutachterinnen und Gutachtern. 3 Vgl. hierzu paradigmatisch Rawls 1993. 4 Hashemi 2009, S. 1. 5 Jamal 2006, S. 51, 59. 6 Ciftci 2013, S. 782. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017, S. 205 – 229

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Ideen Priorität hat.7 Es sind diese Merkmale, die als ausschlaggebend für die gängige Behauptung angeführt werden, Islamisten unterminierten zentrale Voraussetzungen für die liberale Demokratie: So wird argumentiert, dass sie die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre nicht akzeptieren, weil sie das Religiöse mit dem Politischen vermischten und damit den Säkularismus als Voraussetzung einer liberalen Demokratie ablehnten.8 Sie forderten die strikte Einhaltung der Scharia, was dem demokratischen Anspruch einer Souveränität des Volkes widerspreche.9 Dies führt zu dem Schluss, dass Islamisten ihr Programm in pluralen Gesellschaften notwendig nur gewaltsam umsetzen könnten, d.h. durch die Unterdrückung anderer umfassender Doktrinen. Deshalb wird ihnen unterstellt, dass sie das demokratische Spiel verlassen würden, sobald sie einmal an der Macht seien, selbst wenn sie sich zum Zwecke der eigenen Wahl darauf einließen.10 Diese Argumente haben nicht nur zu einer großen Skepsis gegenüber Islamisten in der wissenschaftlichen Literatur geführt, sondern dienen auch in der politischen Praxis als Gründe für eine Bekämpfung von islamistischen Akteuren, vor allem seitens des Westens.11 Die Vorbehalte gegenüber Islamisten sind jedoch auch im arabischen Raum verbreitet, so dass einige Gesellschaften als regelrecht an der Bruchlinie zwischen Islamisten und Säkularen gespalten gelten.12 Diese Spaltung ist oft dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur die Debatte um das institutionelle Arrangement und den Raum von Religion in der (politischen) Öffentlichkeit in zwei Lager teilt, sondern auch andere Politikfelder und gesellschaftliche Aushandlungen prägt.13 Besonders deutlich sichtbar wurde dies an den gesellschaftlichen und politischen Aushandlungsprozessen in Tunesien und Ägypten, die dem Sturz von Zayn al-ʿAbidin bin ʿAli (Zine el-Abidine Ben Ali) bzw. Husni Mubarak folgten: Die Selbstbezeichnungen als säkular bzw. islamisch14 dienten als wesentlicher Identitätsmarker in der Abgrenzung der beiden großen politischen Lager in Tunesien;15 die Muslimbruderschaft als wichtigster islamistischer Akteur in Ägypten wurde nach einer kurzen Phase an der Macht wieder verboten und ein 7 Bspw. Volpi 2010, S. 14. Volpi weist zudem darauf hin, dass es inzwischen eine Konvergenz zwischen den Begriffen politischer Islam und Islamismus in der akademischen Literatur gebe. 8 Hashemi 2009, S. 23-66; Teti/Mura 2009, S. 102; Volpi 2010, S. 120. 9 Vor solch essentialisierenden Verständnissen der Scharia warnt bspw. An-Na’im 2012. 10 Teti/Mura 2009, S. 102. 11 Hudson 2012, S. 234, 238. 12 Ciftci 2013, S. 782. 13 Vgl. bspw. Ciftci 2013; Hirschkind 2012; Shehata 2010, S. 1-18. 14 Bewegungen, die in der vorwiegend westlichen, sozialwissenschaftlichen Forschungsliteratur als islamistisch bezeichnet werden, nennen sich in der Regel nicht selbst so. Der Begriff taucht erstmals zur Beschreibung der Regierung des Irans nach der Islamischen Revolution 1979 auf und gewann erst nach 9/11 an Bedeutung und akademischer Präzision. Vgl. Mozaffari 2007; Volpi 2010, S. 1-5. 15 Vgl. Boubekeur 2016.

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selbstausgewiesen säkulares Militärregime hat dem »islamistischen Terrorismus« den Kampf erklärt.16 Die Unterscheidung zwischen »islamistischen« und »säkularen« Kräften ist in der Literatur zur Arabellion gängig.17 In den vergangenen 15 Jahren hat sich jedoch eine zunehmend kritische Debatte darum entwickelt, ob eine scharfe Unterscheidung zwischen religiösem und säkularem Bewusstsein überhaupt vorgenommen werden kann, was Säkularisierung als empirisch beobachtbare Entwicklung tatsächlich bedeutet und welche Forderungen das normative Programm des Säkularismus eigentlich genau stellt. Diese Neuvermessung des Religiösen und des Säkularen hat auch Konsequenzen für die Konzeptualisierung von »islamistischen« und »säkularen« Akteuren im arabischen Raum und für die Deutung der Bruchlinie zwischen diesen beiden Lagern in Ägypten und Tunesien. Dies gilt umso mehr, als die Bezeichnung »islamistisch« in der Regel von außen an Akteure herangetragen wird, sie sich selbst jedoch vielmehr als islamische Akteure bezeichnen.18 Umgekehrt erscheint es als schwierig, Akteure im arabisch-muslimischen Raum als im westlichen Sinne säkular19 zu bezeichnen, da der Islam dort auch selbsterklärt säkularen Akteuren als Sprache der Politik dient.20 Im vorliegenden Beitrag möchte ich versuchen, die Unterscheidung zwischen »säkular« und »islamistisch« im Hinblick auf ihre Rolle für die Stabilität autoritärer Herrschaft bzw. die Demokratisierung in Tunesien und Ägypten zu problematisieren. Ausgangspunkt hierfür ist die kritische Säkularismusdebatte, wie sie in Anthropologie, Soziologie, politischer Theorie und dem Fach Internationale Beziehungen geführt wird. Wie ich in Teil 2 argumentiere, folge ich einem Verständnis von Säkularismus als politischer Praxis, die eine Trennung zwischen politischer Sphäre auf der einen und der Religion auf der anderen Seite vornimmt. Die Selbstbezeichnung als säkular und Fremdbeschreibung als religiös hat diskursive und praktische Effekte hinsichtlich der Legitimierung und Reproduktion von Herrschaft. In Teil 3 argumentierte ich deshalb, dass die Politik des Säkularismus der Debatte um die autoritäre Stabilität post-populistischer Regime eine weitere Dimension hinzufügen könnte. Dies versuche ich anhand der Fälle Tunesien und Ägypten zu illustrieren, indem ich Studien zum Verhältnis zwischen Regime und islamistischer Opposition vor der Arabellion unter dieser Perspektive deute. Im Schlussteil fasse ich die Ergebnisse zusammen, setze sie in Kontext zu der Situation in Tunesien und Ägypten in der Phase nach der Arabellion und kontrastiere sie mit dem Moment der Revolution selbst, den ich als a-säkular kennzeichne, bevor ich abschließend einige demokratietheoretische Schlüsse skizziere.

16 17 18 19

Vgl. Ranko/Sabra 2015. Vgl. bspw. Gerges 2014; Grimm 2015; Jebnoun et al. 2014. Siehe Fußnote 14. D.h. sich einer neutralen Sprache bedienend und auf eine Trennung zwischen einem privat-religiösen und einem öffentlich-politischen Raum hinwirkend. 20 Eickelman/Piscatori 1996, S. 12. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Von der Säkularisierungsthese zur Politik des Säkularismus Seit Mitte der 1990er Jahre gibt es in unterschiedlichen Disziplinen eine neue Aufmerksamkeit für das Religiöse einerseits, die gleichzeitig verbunden ist mit einer zunehmend kritischen Debatte der Säkularisierungsthese andererseits.21 Die kritische Auseinandersetzung mit der Säkularisierungsthese begründete sich zunächst in der empirischen Feststellung, dass nicht alle Gesellschaften sich auf den vermeintlich universellen, säkularen Weg in die Moderne begeben. In einer bemerkenswerten Revision seiner eigenen Forschung zur Säkularisierung formulierte Peter L. Berger prägnant, die Säkularisierungsthese sei »essentially mistaken«.22 Einige Autorinnen und Autoren plädierten für eine Reformulierung und Ausdifferenzierung der Säkularisierungsthese sowie für eine Spezifizierung der Reichweite ihrer Gültigkeit, etwa in regionaler Hinsicht.23 Wichtiger für diesen Beitrag sind jedoch die normativen Neuformulierungen hinsichtlich des Umgangs mit Religion in modernen, demokratischen Gesellschaften und diejenigen Ansätze, die ich als kritische Säkularismustheorie bezeichnen würde. Für ersteren Debattenstrang sind in Deutschland vor allem das von Jürgen Habermas entwickelte Theorem der postsäkularen Gesellschaft und seine Neubestimmung der Rolle von Religion im öffentlichen Raum wichtig. Religion könne angesichts der Entgleisungen der säkularen Moderne eine korrektive Rolle einnehmen und ihre semantischen Potentiale als moralische Ressource zur Verfügung stellen.24 Allerdings müssten die Beiträge der religiösen Mitbürgerinnen unter einen Übersetzungsvorbehalt gestellt werden, d.h. in ein liberal-säkulares und damit nach Habermas neutrales, für alle verständliches Sprachspiel überführt werden.25 Die Einschränkung des Vorbringens religiöser Argumente in der Öffentlichkeit beruht nicht nur auf der Annahme, dass säkulare Gründe einen Vorrang in der politischen Arena haben.26 Sie nimmt darüber hinaus religiöse Gründe als zunächst einmal unverfügbar oder opak für säkulare Bürgerinnen an. Diese Annahme problematisiert Charles Taylor als eine Fetischisierung des Religiösen, die nur innerhalb eines Verständnisses von Säkularismus als institutionell verankerter

21 Vgl. Berger 1999; Habermas 2009; Reder 2013. Während die Debatte über Post-Säkularismus zunächst aus einer Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Entwicklungen in Europa entstand, wurden ihre Erkenntnisse und theoretischen Begrifflichkeiten später auch für den globalen Kontext angeeignet bzw. kritisch weitergedacht. 22 Berger 1999, S. 2. 23 Vgl. Bruce 2002; Norris/Inglehart 2004; Pickel 2014. 24 Habermas 2001, S. 22-25. 25 Habermas 2009, S. 119-154. 26 Ebd., S. 143.

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Trennung von Staat und Kirche bzw. Politik und Religion habe entstehen können.27 Sie beruhe auf einer unhaltbaren, »spezifisch erkenntnistheoretischen Unterscheidung, der zufolge religiös geprägtes Denken weniger rational ist als der rein ›säkulare‹ Vernunftgebrauch. Die Haltung hat sowohl einen politischen Grund (Religion als Bedrohung) als auch eine erkenntnistheoretische Begründung (Religion als mangelhafte Form der Vernunft)«.28

Für Taylor sind religiöse Gründe nicht weniger neutral und nicht weniger plausibel als säkulare Gründe. Säkularismus, so Taylor, könne daher in normativer Hinsicht nicht bedeuten, die Übergriffigkeit von Religion auf den Staat und die formale Öffentlichkeit institutionell zu verhindern. Er diene vielmehr der Verwirklichung bestimmter Werte, nämlich der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Herstellung harmonischer und einvernehmlicher Beziehungen »zwischen den Anhängern unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen«.29 Was Säkularismus in normativer Hinsicht bedeute, sei daher nicht auf eine universelle, zeitlos gültige Formel zu bringen, sondern müsse immer wieder neu austariert werden. Es brauche einen neuen Säkularismus, der eine Art Äquidistanz des Staates zu allen umfassenden Lehren einfordere – seien diese säkular oder religiös. Drei Impulse aus Taylors Überlegungen sind hier zentral: (1) Eine teleologische Erfolgsgeschichte der Säkularität,30 welche die Überwindung der Religion als Selbstbefreiung der Menschen von Illusionen oder Wissensbegrenzungen begreift, ist abzulehnen.31 Vielmehr ist die Säkularität westlicher Gesellschaften erklärungsbedürftig32 und vielschichtig.33 Ähnlich argumentiert auch José Casanova, dass die Annahme eines Weges in das säkulare Zeitalter auf die Universalisierung einer spezifisch europäischen Geschichte und die Vermischung unterschiedlicher, kontingenterweise parallel auftretender Säkularisierungsphänomene zu einer Großentwicklung zurückzuführen sei.34 (2) Säkularismus als normatives Prinzip, das der Umsetzung bestimmter Werte dienen soll, kann vor diesem Hintergrund 27 28 29 30

31 32 33

34

Taylor 2010, S. 5-9. Ebd., S. 22. Ebd., S. 6, eigene Hervorhebung. Säkularität (Zustand) bezeichnet das Ergebnis von Säkularisierung (Prozess). WohlrabSahr und Burchardt (2012) schlagen dagegen vor, Säkularitäten als diejenigen kulturellen Sinnstrukturen zu interpretieren, die der Grenzziehung zwischen und Verhältnisbestimmung von Religion und nicht-religiösen Sphären zu Grunde liegen. Taylor (2007, S. 22) bezeichnet diese Art von Erzählungen als »subtraction stories«. »[W]hy is it so hard to believe in God in (many milieux of) the modern West, while in 1500 it was virtually impossible not to?« Taylor 2007, S. 539. Taylor unterscheidet drei Arten der Säkularität, die nicht kausal miteinander verknüpft sind. Diese sind erstens das Verschwinden der Religion aus dem öffentlichen Raum, zweitens das Abnehmen religiöser Praktiken und religiösen Glaubens und drittens »a move from a society where belief in God is unchallenged and indeed, unproblematic, to one in which it is understood to be one option among others, and frequently not the easiest to embrace«. Ebd., S. 3. Casanova 2012, S. 25-26.

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nicht als überzeitlich gültiges, institutionelles Arrangement verstanden werden. Vielmehr ist der Begriff immer wieder neu an die spezifischen historischen Gegebenheiten anzupassen, um so eine Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen, wie etwa das Faktum des vernünftigen Pluralismus,35 geben zu können. Dies hat zwei Implikationen. Zum einen gibt es die konkreten Umsetzungen des Säkularismus, sei es als institutionelle Trennung von Religion bzw. anderen umfassenden Lehren und Politik,36 sei es als ein gesellschaftliches Leitbild des Zusammenlebens etwa in der Bildung, immer nur im Plural. Sie unterliegen zeitlichem Wandel und sie sind spezifisch für einzelne Gesellschaften.37 Zum anderen bedeutet es in demokratietheoretischer Hinsicht, dass die Linie zwischen Religion und Politik immer wieder Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungen sein muss.38 (3) Schließlich findet sich in Taylors Überlegungen bereits ein Hinweis auf die Machtdynamiken, die in der Unterscheidung zwischen religiösen und säkularen Sphären bzw. Bewusstseinsformen zu finden sind. Er beschreibt diese Machtdynamiken in Form von Zuschreibungen, die von außen an die Religion herangetragen werden, indem diese einerseits als politische Bedrohung und andererseits als minderwertige Wissensform ausgewiesen wird.39 Damit erscheint die Frage, wer autoritativ bestimmen darf, was Religion ist und nicht ist, als zentral für die Analyse von Machtbeziehungen in denjenigen Gesellschaften, in denen die Unterscheidung zwischen religiösen und säkularen Akteuren wirkmächtig und die Trennlinie zwischen Religion und Politik umkämpft ist. Für die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Macht und Religion ist Talal Asad seit den 1990er Jahren ein zentraler Referenzautor. Seine Kritik richtet sich zunächst gegen »Religion« als Kategorie in der Anthropologie und fokussiert damit auf den Zusammenhang zwischen Wissen und Macht. »Religion« werde in der Anthropologie heute als ein System von symbolischen Bedeutungen und generischen Funktionen verstanden, wodurch sie einen überzeitlich gültigen und abstrakten Charakter gewinne. Dieses Verständnis von Religion werde als universell angenommen, obwohl es eine christliche Geschichte habe und von der Entwicklung unterschiedlicher sozialer Praktiken und Macht-Wissens-Formationen nicht zu trennen sei.40 Die Gültigkeit von Religionskonzepten sei immer an spezifische Traditionen und partikulare historische Entwicklungen gebunden. Deshalb weist Asad jeden Versuch zurück, einen universellen Begriff von Religion zu entwickeln: Nicht nur wandelten sich die für die Religion konstitutiven Elemente und ihre Be35 Vgl. Rawls 1993, S. xvi. 36 Im Folgenden beziehe ich mich ausschließlich auf die Trennung zwischen Religion und Politik bzw. Staat, wenn es um den Säkularismus als normatives Prinzip geht, und nicht auf andere umfassende Lehren. Auch wenn es ein dezidiertes Anliegen von Charles Taylor ist, eben diese Fokussierung auf das »Problemkind« Religion zu überwinden, so dient diese Engführung dem Erkenntnisinteresse dieses Aufsatzes. 37 Vgl. Hurd 2012. 38 Mahmood 2015, S. 4; Walzer 1998, S. 298. 39 Taylor 2010, S. 22. 40 Asad 1993, S. 17.

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ziehungen, sondern auch der Akt des Definierens selbst sei ein Produkt historisch kontingenter, diskursiver Prozesse.41 Das oben genannte wissenschaftliche Konzept von Religion als universeller und einzigartiger menschlicher Form der Erfahrung, die lediglich unterschiedliche kulturelle und historische Spielarten hervorbringe,42 sei etwa eng verbunden mit dem »Säkularen« als Raum moderner Politik und Wissenschaft. Das Säkulare und das Religiöse tauchen oftmals in Form von binären Oppositionen als Begriffspaar auf, vor allem, so Asad, innerhalb des (polemischen) säkularen Diskurses. Beispiele hierfür sind Rationalität vs. Mythos bzw. Irrationalität, Wissen vs. Glaube, Vernunft vs. Einbildung, Geschichte vs. Fiktion, profan vs. heilig.43 Eine weitere wichtige Unterscheidung innerhalb des säkularen Diskurses ist diejenige zwischen (illegitimer und irrationaler) Gewalttätigkeit der Religion44 und der legitimen, rationalen Gewalt oder gar der Friedfertigkeit des modernen, säkularen Staates, der als Wegbereiter der liberalen Demokratie ausgewiesen wird. Zentral dabei ist die Erzählung des Westfälischen Friedens als Teil einer »liberalen Mythologie«,45 welche das Ende der gewaltsamen Zeit der Religionskriege als Verdienst der Privatisierung der Religion, der Säkularisierung der Politik und des Aufstiegs des modernen Staates konstruiert. Dieses Narrativ der Einhegung besitzt bis heute Wirkmächtigkeit, weil es eine politische Funktion erfüllt: Der »Mythos religiöser Gewalt«, so etwa William T. Cavanaugh, diene als einer der wichtigsten Legitimationsmythen des liberalen Nationalstaates. Dies bedeute, dass die Festlegung dessen, was als »Religion« gelte, ein politisch hochrelevanter Akt sei: Was in einem gegebenen Kontext als religiös oder säkular erscheint, ist für Cavanaugh das Ergebnis von Machtkonfigurationen. Dabei sei gerade der Mythos religiöser Gewalt entscheidend, weil er dabei helfe, einen religiösen Anderen zu konstruieren, der einem säkularen, rationalen Subjekt gegenüber stehe. Innenpolitisch könne dies beispielsweise genutzt werden, um bestimmte Praktiken und Gruppen zu delegitimieren, indem sie als religiös und damit als potentiell gewalttätig, in jedem Fall jedoch als unzulässig im öffentlichen Raum und der Sphäre der Politik ausgewiesen würden.46 Ein Beispiel hierfür ist die sogenannte Versicherheitlichung des Islams in Europa, welche die Konstruktion von muslimischen Gemeinschaften als Sicherheitsbedrohung und die Zunahme von Maßnahmen jenseits etablierter und regelgebundener Politik in westlichen Gesellschaften seit den frühen 2000er Jahren bezeichnet.47 Für die internationale Politik, so Cavanaugh, sei der Mythos re41 42 43 44

Ebd., S. 29. Scott/Hirschkind 2006, S. 6-7. Asad 2003, S. 21-23. Dies gilt für die Religion insgesamt, vor allem jedoch für den Islam. Vgl. Asad 2003, S. 9-11. 45 Thomas 2000, S. 819. 46 Cavanaugh 2009, S. 3-4. 47 Für einen Überblick über die Versicherheitlichung des Islams in westlichen Gesellschaften siehe Mavelli 2013, S. 163-167. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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ligiöser Gewalt für die Rolle des Schurken relevant, die nicht-säkularen Ordnungen und insbesondere muslimischen Gesellschaften zugeschrieben würde. Eine solche Einordnung erlaube es, Gewalt gegen diese Gesellschaften zu legitimieren, um der Gefahr religiös motivierter Gewalt vorzubeugen.48 Die politische Relevanz der Einordnung von bestimmten Gruppierungen, Praktiken oder Ansprüchen als religiös erstreckt sich jedoch weiter als lediglich auf die Versicherheitlichung bestimmter Gruppen oder die Legitimation von säkularer Gewalt zur Prävention religiöser Gewalt. Vielmehr kann, wie beispielsweise Elizabeth Shakman Hurd argumentiert, der Akt des Definierens eines politischen Raums als nicht-religiöser Raum selbst als Machtpraxis verstanden werden. Von diesem Standpunkt wird mit der Politik des Säkularismus oder auch nur dem Begriff des Säkularismus eine Praxis staatlicher Souveränität bezeichnet, welche den Raum des Politischen erst schafft, indem sie »Religion« als privates Gegenstück zur Politik definiert, die Religion also als das der Politik Äußere behauptet. Gleichzeitig jedoch, und dies zeichnet gerade die Macht dieser Praxis aus, wird die Trennlinie zwischen Politik und Religion als natürlich gegebene und universell gültige ausgewiesen, so dass historisch kontingente Setzungen als normal erscheinen.49 Hurd versteht Säkularismus daher als produktive Macht, die Strukturen und Diskursen innewohnt. Dies bedeutet, dass die Kategorien »religiös« vs. »säkular« nicht durch einen einzelnen Akt hergestellt werden, sondern Teil einer oder mehrerer diskursiven Traditionen sind. Hurd interessiert sich in ihren Analysen für unterschiedliche westliche, diskursive Traditionen des Säkularismus.50 Diese konstruierten den politischen Islam als Verweigerung, die westlich-säkularen Kategorien des Privaten und des Öffentlichen als getrennte Sphären anzuerkennen. Dabei gerate aus dem Blick, dass in der islamischen Tradition selbst sehr wohl über Formen der Trennung zwischen privat und öffentlich sowie religiös und säkular verhandelt werde.51 Das Entscheidende an dem Verständnis von Säkularismus, dem ich diesem Artikel folgen möchte,52 sind drei Punkte: (1) Die Unterscheidung zwischen den Sphären der Religion und der Politik sowie zwischen säkularen und religiösen Akteuren und Praktiken wird diskursiv hergestellt und reproduziert. Sie ermöglicht so bestimmte Machtpraktiken, die als Politik des Säkularismus bezeichnet werden 48 Cavanaugh 2009, S. 3-4, 59. Diese Position zu vertreten, bedeutet nicht, religiös motivierte Gewalt als legitim auszuweisen oder sie als unproblematisch anzusehen. Vielmehr richtet sie den Blick auf die legitimatorischen Potentiale, die durch eine Einordnung der Gewalt als religiös für säkulare Politik und insbesondere Gewaltanwendung freigesetzt werden. In meiner Lesart ist der Ansatz daher als grundsätzliche Kritik gegenüber Praktiken der Gewaltlegitimierung zu verstehen. 49 Hurd 2012, S. 46. 50 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Idee einer Politik des Säkularismus nur auf westliche Kontexte anwendbar wäre. Vgl. Mavelli 2014. 51 Hurd 2008, S. 1-11. 52 Dieses Verständnis ist angelehnt an die Arbeiten von Asad 1993, 2003; Cavanaugh 2009; Hurd 2008, 2012; Mahmood 2015; Mavelli 2012, 2013, 2014.

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können. (2) Säkularismus ist dann ein »power-knowledge regime«,53 das Religion als Gegenstand von kontinuierlichem Management und Interventionen begreift und das diejenigen Praktiken, Formen und Modi bestimmt, die Religiosität mit der Reproduktion von staatlicher Souveränität kompatibel machen. Dieses Wissens- und Macht-Regime zeichnet sich dadurch aus, autoritativ die Trennlinie zwischen dem Religiösen und dem Säkularen ziehen und ihnen den Platz zuweisen zu können, den sie legitimerweise in der Gesellschaft einnehmen dürfen.54 (3) Die Unterscheidung zwischen »Islamisten« und »Säkularen« erscheint damit nicht nur als entlang unterschiedlicher politischer Visionen geformte und durch politischen Streit entstandene Identitäten, sondern auch als Produkt dieser staatlich ausgeübten Machtpraxis.55 Damit diese Perspektive auf den Säkularismus nicht missverstanden wird, sollen der weiteren Analyse folgende Klärungen vorneweg gestellt werden. Zunächst ist zu betonen, dass es sich um eine sehr spezifische Verwendung des Begriffs Säkularismus handelt, die gerade nicht ein politisch-normatives Programm zur institutionellen Trennung von Politik und Religion als Voraussetzung für eine demokratische Ordnung im Sinne des Liberalismus bezeichnet, wie dies in der Regel der Fall ist. Vielmehr betont die hier gewählte Annäherungsweise Machtaspekte des Säkularismus als eine auf diskursiv hergestellten Identitäten beruhende Hoheit über die Definition und das Management des Religiösen und Politischen sowie die damit verbundenen Legitimitätsansprüche bzw. deren Verweigerung im politischen Raum. Damit konzentriert sich dieser Beitrag mehr auf die Schattenseiten der Politik des Säkularismus als auf die normativen Errungenschaften säkularer Ordnungen.56 Weiterhin ist aus der diskursiven Herstellung und politisch-praktischen Reproduktion der Identitäten von »Säkularen« und »Islamisten« nicht zu schließen, dass diese lediglich eingebildet und daher nicht wirkmächtig wären. Ich wende mich hier gegen eine Essentialisierung von Identitäten, d.h. gegen die Idee, es gäbe ein klar bestimmbares Set an konstitutiven Eigenschaften, die eine Gruppe bestimmen.57 Dies impliziert jedoch nicht, dass diese Identitäten nicht politisch folgenreich sind. Allerdings, so würde ich mit Peter Katzenstein argumentieren, ist es nicht die Kategorie »islamistisch« oder »säkular« selbst, die dies bewirkt, sondern 53 Mavelli 2014, S. 172. 54 Mahmood 2015, S. 3; Mavelli 2014, S. 172-173. 55 Mavelli 2014, S. 172. Es ist darauf hinzuweisen, dass die hier betrachteten islamistischen Oppositionsakteure diesen Diskurs nicht nur annahmen und reproduzierten, sondern teils auch verschärften. Aus Platzgründen kann dies hier nicht näher ausgeführt werden. 56 Dies bedeutet nicht, diese positiven Aspekte im Sinne demokratischer Gleichheit und religiöser Freiheit ideengeschichtlich zu verneinen. Sie sind lediglich nicht Thema dieses Aufsatzes. Ich möchte auch nicht die problematischen Praktiken islamistischer Akteure leugnen. Allerdings wurden diese in der Literatur bereits breit behandelt, z.B. in Tibi 2009. 57 Young 2000, S. 87. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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erst ihre Reifikation als »mental map«, anhand derer Identitäten immer wieder bestätigt und Interessen ausgerichtet werden.58 Aus meiner Position folgt auch nicht, dass die polarisierten Identitäten nicht ebenso Ausdruck eines effektiven Dissenses über die politische Ordnung, den angemessenen Raum von Religion in der Gesellschaft und damit das Ergebnis gravierender ideologischer Differenzen sein können.59 Gerade dies ist jedoch eine eher gängige Perspektive auf »Säkulare« und »Islamisten« in Ägypten und Tunesien. Hier soll hingegen der Aspekt der Herstellung dieser sich scheinbar ausschließenden Identitäten betont werden. Diese ist auf die souveräne Macht des Staates zurückzuführen, die angemessene Stellung, Bedeutung und Funktion von Religion in der Gesellschaft zu definieren.60 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass eine Reifikation von Identitäten nicht deterministisch gedeutet werden sollte. Identitäten sind wandelbar. Ein solcher Wandel kann beispielsweise durch Gegendiskurse oder subversive Praktiken herbeigeführt werden, wie ich am Ende des Aufsatzes skizzieren werde. Zunächst werde ich in den folgenden beiden Teilen jedoch argumentieren, dass der Säkularismus im hier verfolgten Sinne der Debatte um die Stabilität post-populistischer Regime einen Aspekt hinzufügen kann, und dies am Beispiel Ägyptens und Tunesiens vor der Arabellion kurz demonstrieren. Politik des Säkularismus in Tunesien und Ägypten vor der Arabellion Die Stabilität jahrzehntelanger autoritärer Herrschaft im arabischen Raum war seit der sogenannten dritten Welle der Demokratisierung ein beliebtes Thema der Auseinandersetzung, wobei ganz unterschiedliche Theorietraditionen eine Rolle spielten. Die frühe Modernisierungstheorie legte kulturalistische Erklärungsmodelle nahe, während spätere Ansätze auf die Probleme von Transitionsgesellschaften im Nation-Building und dem Auseinanderfallen von Staat und Identität durch das Erbe des Kolonialismus hinwiesen.61 Ansätze, welche die Sozialstruktur von Gesellschaften als Erklärungsmodell heranzogen, unterschieden zwischen zwei in der arabischen Welt vorhandenen Regimetypen, einem »shaikhly authoritarianism of the right« und »populist authoritarianism of the left«.62 Schließlich fokussierten institutionentheoretische Ansätze auf regimespezifische Mechanismen der Inklusion und Exklusion. Für den im arabischen Raum dominanten Typus des populistischen Autoritarismus ist die Masseninklusion in der Phase der Regimekonsolidierung durch nationalistische Legitimationsnarrative (insbesondere gegen äußere, westliche Bedrohungen) bei gleichzeitiger Marginalisierung des Bürgertums 58 59 60 61 62

Katzenstein 2010, S. 12. Mavelli 2014, S. 177. Ebd. Vgl. Hinnebusch 2006. Während ersterer sich auf tribale Strukturen und Ölrenten stützt, entsteht letzterer durch Allianzen zwischen der Mittelklasse und dem Bauernstand. Vgl. ebd., S. 379-380.

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(als potentiell tragender Kraft der Demokratisierung) typisch. Die strukturelle Konsolidierung erfolgt bei diesem Regimetyp durch die Ausweitung des bürokratischen und militärischen Apparates sowie die Entwicklung zuverlässiger Repressionsinstrumente. Wie der andere dominante Regimetyp im arabischen Raum, die Rentiermonarchie, zeigte sich der populistische Autoritarismus als äußerst krisenrobust. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass er sich auf Wandlungsdruck hin durch ökonomische Liberalisierung in einen sogenannten post-populistischen Autoritarismus transformieren konnte, ohne dabei jedoch demokratischer zu werden.63 Auch wenn es innerhalb der unterschiedlichen Theorietraditionen Ansätze für die Erklärung der Persistenz autokratischer Regime gibt, so fehlte lange eine umfassende Theorie dazu, wie autokratische Stabilität, verstanden als »die Kapazität, Herausforderungen zu begegnen und sich ändernden Umweltanforderungen anzupassen«,64 hergestellt werden kann. Wenn man davon ausgeht, dass für das Überleben von Regimen mindestens »die Tolerierung des Regimes seitens der herrschaftsunterworfenen Akteure«65 vonnöten ist, dann können nach Johannes Gerschewski et al. drei Motive für diese Unterstützung identifiziert werden: (1) die Anerkennung des Regimes als rechtens, (2) der eigene Nutzen durch das Regime und (3) die Angst vor Sanktionen. Damit korrespondieren drei Säulen autokratischer Stabilität, nämlich Legitimation, Repression und Kooptation, die jeweils eine Akteursgruppe ansprechen: Die Rechtmäßigkeit sollte die Bevölkerung als Ganze anerkennen, während die Repression sich an die (aktive) Opposition und die Kooptation an gesellschaftliche und wirtschaftliche Eliten richtet,66 aber auch an Teile der gemäßigten Opposition. Die Kombination aus Kooptation und Repression kann zu dem paradox erscheinenden Effekt führen, dass die Opposition zu einer Stütze autoritärer Herrschaft wird.67 Während Demokratisierungstheorien in der Regel davon ausgehen, dass die Existenz einer Opposition eine Bedingung für Demokratisierung ist, kann sie in bestimmten Konstellationen eine regimestabilisierende Funktion einnehmen. Dies ist dann der Fall, wenn Repression als selektives Instrument verwendet, mit Mechanismen der Repräsentation, Beratung und Kooptation kombiniert und ihr Ausmaß dadurch verdeckt wird.68 Kooptations- und Repräsentationsmechanismen, wie beispielsweise gelenkter Pluralismus und kontrollierte Wahlen, werden dann angewandt, wenn der gesellschaftliche Druck zur Partizipation zu hoch wird,69 Repressionsmechanismen hingegen dann, wenn die Opposition zu mächtig zu werden droht. Darüber hinaus kann die Opposition je nach Rolle auch zur 63 64 65 66 67 68 69

Ebd., S. 381-386. Gerschewski et al. 2013, S. 108. Ebd., S. 112. Ebd., S. 113. Vgl. Albrecht 2005. Diamond 2010, S. 99; vgl. auch Albrecht 2005. Gerschewski et al. 2013, S. 109.

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Selbstlegitimierung autoritärer Regime und damit auch zur ersten Säule, also der Legitimation beitragen. Oft werden oppositionelle Akteure als »Feindbild der Nation« konstruiert und dienen so der Versicherung der nationalen Identität sowie der Legitimität des herrschenden Regimes. Die Opposition kann beispielsweise auch dann legitimierend wirken, wenn nicht-staatliche Akteure durch karitative Tätigkeit das Versagen staatlicher Sozialpolitik kaschieren.70 Im folgenden Kapitel versuche ich, diese Regime-Oppositions-Dynamiken unter der Perspektive des Säkularismus für Ägypten und Tunesien vor der Arabellion zu skizzieren.71 Die Ausführungen beziehen sich auf bereits vorliegende, umfassende Studien zur Muslimbruderschaft in Ägypten und al-Nahda in Tunesien72 und bieten eine Lesart an, die den Fokus auf den Beitrag der Politik des Säkularismus zur Regimestabilität richtet.73 Die Fallbeispiele sind daher entlang der drei Säulen autokratischer Stabilität strukturiert. Ägypten Repression Wenn auch die Muslimbruderschaft zunächst als ein wichtiger Verbündeter für die Freien Offiziere unter Jamal ʿAbd al-Nasir (Gamal Abdel Nasser) im Kampf gegen die Briten und die Monarchie und für die Etablierung eines parlamentarischen Systems und der Republik Ägypten erschien, so mehrten sich in den 1950er Jahren doch innerhalb kürzester Zeit die Spannungen zwischen dem Regime und der Bruderschaft. Diese sah sich massiven Repressionen ausgesetzt, nachdem eine militante Fraktion der Muslimbruderschaft 1954 einen missglückten Mordanschlag auf al-Nasir verübt hatte. So wurden im selben Jahr 30.000, zehn Jahre später weitere 18.000 ihrer Mitglieder verhaftet und wichtige Teile ihres Führungspersonals hingerichtet. Während sich die Situation unter Anwar al-Sadat zunächst entspannte, wurde dessen Ermordung durch ein Mitglied von al-Jihad, einer Abspaltung der Bruderschaft, mit erneuter, massiver Repression beantwortet. Die sich ab dem Jahr 1981 anschließende Phase unter Mubarak folgte wiede70 Hinnebusch 2006, S. 385. 71 Aus Platzgründen konzentriere ich mich für Ägypten auf die Phase unter Husni Mubarak. Für eine ausführlichere Darstellung des Umgangs mit der Muslimbruderschaft durch die Regime unter Jamal ʿAbd al-Nasir und Anwar al-Sadat vgl. Ranko 2015, S. 43-74; Rutherford 2008, S. 77-91. 72 Es werden keine eigenen empirischen Daten für die Analyse herangezogen. Weil der Beitrag darauf abzielt, einerseits eine theoretische Ergänzung zur Frage nach autokratischer Stabilität zu bieten und andererseits ein weiteres mögliches Anwendungsfeld für kritische Säkularismustheorien auszuweisen, scheint mir dies vertretbar. 73 Für Ägypten verfolgt Saba Mahmood in Religious Difference in a Secular Age. A Minority Report (2015) einen ähnlichen Ansatz, um zu zeigen, dass Säkularismus in Ägypten als Management von Religion, nicht etwa als wechselseitige Nicht-Einmischung zwischen Staat und Religion erscheint, und damit religiöse Ungleichheit und Spannungen zwischen Religionsgemeinschaften eher erhöht als verringert.

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rum dem Muster der Abmilderung der Repressionsmaßnahmen, bevor ab 1992 die Anti-Terrormaßnahmen in Kraft traten und der Unterdrückung islamischer Gruppierungen aller Art den Weg bahnten.74 Legitimation Gewann das Feindbild des »Islamisten« bzw. islamistischen Terroristen im westlichen Diskurs vor allem seit 9/11 an Bedeutung, so etablierte Husni Mubarak bereits in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren das Narrativ der Muslimbruderschaft als Feind der Nation. Waren zuvor noch die Kolonialmächte als wesentliche Bedrohung der ägyptischen Nation ausgewiesen worden, so nahm die Muslimbruderschaft nun diesen Platz ein. Wesentlich war hierbei die Kontrastierung der Bruderschaft mit einer säkularen, aufgeklärten politischen Kultur als »wahrem kulturellen Wesen«75 Ägyptens, die auch die Rationalität und Objektivität politischer Verhandlung miteinschlösse. Mubarak selbst zeichnete sich als Führer eines liberal-säkularen Lagers, das der Religion ihren angemessenen Platz jenseits des Staates zuweise, und damit als Antipode zu den Islamisten. Die Selbstbeschreibung als säkular diente außerdem als Argument gegenüber westlichen Unterstützern, um eine externe Quelle für die Legitimation des Regimes zu gewinnen.76 Die Selbstdarstellung als »Bollwerk« gegen islamischen Fundamentalismus und die Muslimbruderschaft sowie als Verteidiger der säkularen Tradition Ägyptens77 bediente den Sicherheitsdiskurs westlicher Akteure. Insbesondere vor dem Hintergrund des globalen Kampfes gegen den Terror avancierte dies zu einer Erfolgsstrategie, weil der Islamismus zum »chief ideological ›other‹«78 des Westens wurde. Der »säkulare Sicherheitshabitus«,79 der die Tendenz der USA und der EU beschreibt, a priori selbsterklärt säkularen Akteuren zu vertrauen und Kooperation mit als islamistisch geltenden Akteuren auszuschließen, trug zur Reifikation der Regimeidentität als säkular bei. Dabei ist die Charakterisierung, wenn sie als Neutralität gegenüber der Religion gemeint ist, ganz offensichtlich unzutreffend, wie Saba Mahmood beobachtet: »Not only does the Egyptian state proclaim an Islamic identity, it also regards the shari‘a as the principal source of law in the country [...]. Islamic concepts continue to permeate court decisions and political debates«.80 Der Islam dient nicht nur islamistischen Akteuren, sondern auch selbsterklärt säkularen Akteuren als Artikulationsform und Sprachspiel der Politik.81 Obwohl eine strenge Unterschei74 75 76 77 78 79 80 81

Rutherford 2008, S. 77-87. Ranko 2015, S. 123. Albrecht/Schlumberger 2004, S. 376-377. Hirschkind 2012, S. 50. Mandaville 2013, S. 184. Vgl. Gutkowski 2015. Mahmood 2015, S. 6-7. Eickelmann/Piscatori 1996, S. 12.

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dung deshalb aus einer essentialistischen Perspektive nicht haltbar erscheint, so erfüllte die Reproduktion der Kategorien säkular und islamistisch dennoch eine Funktion: Sie diente der Selbstlegitimation und Delegitimierung der Opposition. Kooptation Wenn man Säkularismus nicht institutionell oder essentialistisch, sondern als souveräne Macht darüber begreift, der Religion und dem Säkularen ihren Ort in der Gesellschaft zuzuweisen, dann wird sichtbar, wie dem Regime die Möglichkeit offen blieb, religiöse Akteure zu kooptieren. Luca Mavelli konstatiert eine kontinuierliche Praxis des »managing Islam« in Ägypten seit Gründung der Republik.82 Ein Beispiel hierfür ist der Umgang mit der Universität al-Azhar in Kairo, die unter al-Nasir unter direkte staatliche Kontrolle gebracht wurde. Der Machthaber nutzte die Institution dazu, seine Ideologien und Politiken in Einklang mit islamischen Lehren zu bringen und ihnen so eine breitere Legitimitätsbasis zu verschaffen. Umgekehrt war Mubarak etwa dazu bereit, der Forderung der Azhar nach einer stärkeren Islamisierung der Gesellschaft nachzugeben – im Gegenzug für die religiöse Rückendeckung durch die Azhar, die ihm bei der Legitimierung seiner Repressionen gegen Islamisten helfen sollte.83 Ein ähnliches Muster lässt sich im Bildungsbereich finden. So wurden Schulbücher unter Mubarak einer neoliberalen Islamisierung unterzogen. Während das Mubarak-Regime sich also als Wächter über den säkularen Nationalstaat gegen die islamistische Bedrohung gerierte, beaufsichtigte es gleichzeitig eine Islamisierung der öffentlichen Sphäre und vor allem des Bildungssystems durch die aktive Verbreitung von Formen des Islams, die auf individuelle Frömmigkeit und die Kontrolle der öffentlichen Moralität setzten.84 In Bezug auf die Opposition bestand die Strategie des Regimes hauptsächlich darin, eine Spaltung entlang der Linie säkular-islamistisch hervorzurufen und sie so insgesamt zu schwächen.85 Die Kooptation von und Kooperation mit säkularen Oppositionskräften führte in Verbindung mit Machtgefällen und der starken Betonung der Unterschiede zwischen den Lagern dazu, dass Allianzen zwischen islamistischen und säkularen Oppositionsakteuren stets rein taktischer Natur blieben.86 Aber selbst in Bezug auf islamistische Akteure waren Repression und »Othering« nicht die einzige Strategie des Umgangs. Vielmehr wurde beispielsweise in den 1980er Jahren unter Mubarak der Versuch unternommen, »moderate« Islamisten zu kooptieren und von den Militanten bzw. Radikalen abzuspalten, die wiederum massiver Repression ausgesetzt wurden.87 Je nach Opportunitätsstruktur gestattete das Regime der Bruderschaft, am politischen System, z.B. in Form 82 83 84 85 86 87

Mavelli 2014, S. 173-177. Ebd., S. 177. Sobhy 2014, S. 806. Hirschkind 2012, S. 49; siehe auch Mavelli 2014. Shehata 2010, S. 145-159. Rutherford 2008, S. 83-84.

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von Wahlen, teilzunehmen. So sah sich das Mubarak-Regime zu Beginn der 2000er durch internen wie externen Druck zu einer politischen Liberalisierung gezwungen und die Muslimbruderschaft erneut in das politische System zu inkludieren.88 Genau dies, nämlich die Trennlinie zwischen Religion und Politik zu ziehen, ist Ausdruck der souveränen Macht des Staates: Er kann bestimmen, wann ein Akteur als (zu) religiös gilt, unter welchen Bedingungen seine Teilnahme an politischen Prozessen legitim ist und welche Rolle er im öffentlichen Raum einnehmen darf. Tunesien Repression Tunesiens islamische Bewegung begann in den 1970er Jahren zunächst als Gesprächskreis von jungen Graduierten, die ihre Entfremdungserfahrungen mit der tunesischen Gesellschaft und ihr Verhältnis zu Fragen der Religion diskutieren wollten. 1979 gründete sich al-Jamaʿa al-Islamiya als religiöse und kulturelle Antwort auf als anti-religiös und pro-westlich wahrgenommene Politiken unter alHabib Burqiba (Habib Bourguiba).89 In dieser Zeit beschränkte die Bewegung sich auf Aktivitäten in der Moschee und die Veröffentlichung religiöser Schriften. Die zunehmende Politisierung ihres Diskurses begann erst in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, auch als Reaktion auf die zunehmenden Repressionen des Regimes, das seit der Islamischen Revolution im Iran 1979 eine gesteigerte Bedrohungswahrnehmung gegenüber der islamischen Bewegung hatte.90 Als al-Jamaʿa al-Islamiya 1981 den lokalen und internationalen Medien erklärte, dass sie als eine legale, politische Partei anerkannt werden wolle, stellte dies einen Wendepunkt für die islamische Bewegung in Tunesien dar. Als Mouvement de la Tendance Islamique (MTI) agierte sie von da an nicht mehr nur im Untergrund, sondern auch als öffentlicher Akteur. Jedoch wurden bereits fünf Wochen nach dieser Erklärung 107 Aktivisten, darunter auch Rashid al-Ghannushi, inhaftiert. Das Regime unter Burqiba zeigte sich zunächst zögerlich hinsichtlich einer vollständigen Verdrängung der Islamisten aus der tunesischen Gesellschaft, hatte es doch eine Ära der Offenheit ausgerufen. So ließ es das MTI, beispielsweise als Studentenvereinigung in den Universitäten, weiterhin gewähren. Zwar wurde auch die nachfolgende Führungsriege 1983 wiederum verhaftet, allerdings nur zu kurzen

88 Allerdings erreichte die Anti-Muslimbruderschafts-Propaganda zu dieser Zeit – mangels der Möglichkeit materieller Eindämmungsmethoden – ein neues Hoch, wobei besonders Sicherheitsdiskurse eine Rolle spielten, welche die Bruderschaft in Verbindung mit gewaltsamen islamistischen Bewegungen wie der Hizbullah und der Hamas sowie dem Iran brachten, sie als Teil der sogenannten Widerstandsaxe darstellten und daraus eine terroristische Bedrohung der ägyptischen nationalen Sicherheit ableiteten. Vgl. Ranko 2015, S. 156-178. 89 Hamdi 1998, S. 12-19. 90 El-Ouazghari 2014, S. 277-286. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Haftstrafen verurteilt; ein Jahr später folgte gar eine präsidentielle Amnestie.91 Während die folgenden vier Jahre als eine Art Waffenstillstand zwischen Islamisten und Regierung beschrieben werden können, endete dieser spätestens im Jahr 1987 mit der erneuten Verhaftung von al-Ghannushi und 200 weiteren Islamisten.92 Als nach Anschlägen auf touristische Ziele im Jahr 1987 die Täter behaupteten, eine Verbindung zum MTI zu haben, nahm Burqiba dies zum Anlass, zur »vollkommene(n) Vernichtung der islamistischen Bewegung in Tunesien«93 aufzurufen. Im selben Jahr übernahm Zayn al-ʿAbidin bin ʿAli die Macht als neuer Präsident Tunesiens. Während es zunächst so schien, als würde Bin ʿAli nicht nur die Führungsmitglieder des MTI freilassen, sondern die Bewegung auch an politischen Prozessen beteiligen, so veranlasste er schon ein Jahr später, also 1988, ein Gesetz, das es Parteien verbot, sich auf eine bestimmte Religion zu berufen. Obwohl im selben Jahr ein erneuter Antrag der Partei unter dem Namen al-Nahda auf offizielle Anerkennung mit Verweis auf die kriminelle Geschichte ihrer Gründer abgelehnt werden sollte, konnte sie auf einer unabhängigen Liste Kandidaten für die Parlamentswahlen 1989 benennen.94 Wenn die Wahl auch nicht als fair gelten konnte, so gelang es al-Nahda dennoch, 15 Prozent der Stimmen auf nationaler Ebene, in Tunis sogar 30 Prozent zu gewinnen.95 Allerdings bedeutete dies nicht, dass sie Sitze im Parlament erlangt hätten. Die erneuten Spannungen, die durch die Wahlen und die darauf folgenden Demonstrationen entstanden, erreichten ihren Höhepunkt in einer Attacke auf ein lokales Büro des Rassemblement constitutionnel démocratique, der eine massive Repressionswelle gegen die Islamisten folgte.96 Schätzungen zufolge wurden über die nächsten Jahre 20.000 Mitglieder von al-Nahda verhaftet und verurteilt; weitere 10.000 sollen ins Exil gegangen sein.97 Das tunesische Regime unter Bin ʿAli demontierte systematisch alNahda (mitsamt al-Ghannushi), innerhalb Tunesiens wie auch international,98 so dass die Partei von 1993 an bis zur sogenannten Jasmin-Revolution 2011 als nahezu von der Bildfläche verschwunden galt.99 Legitimation Ähnlich wie in Ägypten wurde auch in Tunesien über Jahrzehnte der Islamismus als Feindbild des säkularen, modernen Staates stilisiert. Die Säkularisierungspoli91 92 93 94 95 96 97 98 99

Hamdi 1998, S. 41-49. Ebd., S. 49-53. El-Ouazghari 2014, S. 294. Ebd. 2014, S. 293-303; Hamdi 1998, S. 67-71. Stepan 2012, S. 100. Hamdi 1998, S. 71-74. Stepan 2012, S. 100. Hamdi 1998, S. 72-73. El-Ouazghari 2014, S. 300-312.

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tik von oben war ein besonderes Merkmal des Regimes unter Burqiba, der sich selbst als Verfechter des Säkularismus und damit auch von Modernität und Fortschritt konstruierte.100 In der Zeit der Eskalation der Auseinandersetzungen zwischen dem MTI und Burqiba 1987 begann das Regime, die Islamisten als Teil einer internationalen, fundamentalistischen Verschwörung zu stilisieren. So brach Burqiba die diplomatischen Beziehungen zu Iran mit dem Vorwurf ab, dieser versuche gemeinsam mit tunesischen Extremisten, das Land zu destabilisieren. Der islamistischen Bedrohung für die Errungenschaften des Säkularismus sollte ein für alle Mal ein Ende gesetzt werden.101 Unter Bin ʿAli folgte der Phase der relativen Toleranz, die u.a. zu den Wahlerfolgen von al-Nahda geführt hatte, ab den frühen 1990er Jahren eine Politik der Versicherheitlichung gegenüber den Islamisten, welche nun von der Regierung nicht nur als Phänomen einer illegitimen Vermischung von Religion und Politik, sondern auch als terroristische Gefahr für Tunesien gebrandmarkt wurden.102 Anknüpfend an die Rhetorik Burqibas verstärkte Bin ʿAli die Angst vor islamistischer Gewalt und gerierte sich und sein Regime als die einzige Macht, die diese zu verhindern wüsste. Unterstützend für dieses Legitimationsnarrativ wirkte der Bürgerkrieg im benachbarten Algerien, der zwischen dem Front islamique du salut und anderen islamistischen Gruppierungen einerseits und der Regierung andererseits geführt wurde und damit als Beleg der islamistischen Gefahr für die Stabilität und den gesellschaftlichen Frieden in Tunesien herangezogen werden konnte.103 Auch für Tunesien wirkte die Konstruktion des Regimes als säkularer Verbündeter im Kampf gegen den globalen islamistischen Terrorismus als erfolgreiche Strategie zur Gewinnung externer Unterstützung und Legitimation. So gelang es Bin ʿAli, die zunehmende autokratische Schließung des Systems und Unterdrückung der Opposition als Sieg des Säkularismus über den Islamismus zu zelebrieren und gleichzeitig weiterhin die Angst vor einer islamistischen Machtübernahme im Westen zu schüren.104 Auch in Tunesien wurden formaldemokratische Institutionen aufrechterhalten. Allerdings boten gerade Ereignisse wie Wahlen den Anlass für Dritte, so etwa europäische Staaten und die USA, vermehrt Stützungsmaßnahmen für das autokratische Regime aufzubieten, wie es für externe »Autokratieförderung« typisch ist.105 Kooptation Auch in Tunesien kann man von einem Management des Islams durch das Regime unter Burqiba und Bin ʿAli sprechen. Zu Burqibas Säkularisierungsprojekt zählten 100 101 102 103 104 105

Ebd., S. 275. Hamdi 1998, S. 52-55. El-Ouazghari 2014, S. 303-306. Stepan 2012, S. 100-101. Jebnoun 2014, S. 109. Kästner 2015, S. 496.

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nicht nur die Normierung und teilweise Verbannung islamischer Symbole und Praktiken aus dem öffentlichen Raum, sondern auch die Integration der ZaytunaMoschee in die Universität Tunis und die Kontrolle über die Imame in den Moscheen.106 Während diese Politik in der Regel als Ausdruck von Burqibas unzweifelhaft und konsequent säkularer Haltung bewertet wird, betonen einige Autorinnen und Autoren, dass der Islam vielmehr als Teil der Regimeideologie verstanden werden müsse. Zum Beispiel finanzierte das Regime unter Burqiba alle religiösen Aktivitäten im Land. Wie Mohamed Elhachmi Hamdi treffend beobachtet, war die Vereinbarkeit dieses Staatsislams und des Selbstbildes Burqibas als Säkularismus-Verfechter nur durch eine Neudefinition der Religion möglich. Eine besondere Rolle in den Reden Burqibas spielte der ijtihād.107 Im Gegensatz zu seinem Vorgänger demonstrierte Bin ʿAli sein religiöses Bewusstsein in den ersten Monaten seiner Herrschaft weit offensichtlicher, etwa durch seine Pilgerfahrt nach Mekka, die Verwendung religiöser Sprache in seinen Reden und seinen Einsatz für ein offizielles Einhalten des Ramadan. Die theologische Fakultät der Zaytuna-Moschee wurde wiedereröffnet.108 Der Umgang mit der Opposition zeichnete sich, wie in Ägypten, dadurch aus, dass säkulare Akteure teilweise kooptiert wurden, während islamistische Akteure zwar hie und da eingebunden, dann aber immer wieder verfolgt und letztlich zerschlagen wurden.109 Diese Politik des divide et impera führte zu einer Schwächung der Opposition insgesamt, aber auch zu dauerhaft negativen Konsequenzen für das Anliegen bestimmter zivilgesellschaftlicher Gruppen und sozialer Bewegungen. Ein Beispiel hierfür ist die tunesische Frauenbewegung, die durch die Identitätskonstruktion und Abgrenzung entlang der Unterscheidung zwischen islamistisch und säkular über Jahrzehnte in eine immer tiefere Spaltung geriet. Dabei war es eine tunesische Besonderheit, dass die Trennlinie nicht nur säkulare und islamistische Aktivistinnen voneinander schied, sondern auch den Staatsfeminismus von der islamistisch-feministischen Opposition. Dieser Konflikt schreibt sich selbst in der Post-Bin ʿAli-Ära fort: Säkularen Feministinnen wird von islamistischen Aktivistinnen Regimetreue und Kooptation vorgeworfen; umgekehrt vermuten die säkularen Feministinnen bei Aktivistinnen, die mit al-Nahda affiliiert sind, eine letztlich islamistische Agenda, die der Sache der Frauen nur schaden könne.110

106 107 108 109 110

Esposito et al. 2016, S. 174-185. Hamdi 1998, S. 12-16. Esposito et al. 2016, S. 174-185. Ebd. Feldman 2015.

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Anstelle eines Schlusses: Das demokratische Moment einer a-säkularen Revolution Die beiden skizzenhaften Fallbeispiele zeigen, wie die Politik des Säkularismus zur Regimestabilität in Ägypten und Tunesien beitragen konnte. Durch die Kriminalisierung und Repression der islamistischen Opposition wurde deren politisches Programm als illegitim, ja sogar als gesetzeswidrig ausgewiesen. Dies war möglich, weil die autoritären Regime vor allem unter Bin ʿAli und Mubarak im Windschatten des »global war on terror«, aber auch durch Anknüpfung an die Sicherheitsnarrative ihrer Vorgänger auf beträchtliche diskursive Legitimationsressourcen zurückgreifen konnten: Sie gerierten sich als säkulare Herrscher, die als einzige dazu in der Lage wären, die islamistische Bedrohung einzudämmen. Die Muslimbruderschaft und al-Nahda wurden als Teil einer global vernetzten, gewaltbereiten Fundamentalismusszene konstruiert und ihr Programm wurde als unzulässige Vermischung von Politik und Religion abgelehnt. Dabei zeigte sich, dass die vermeintlich säkularen Regime selbst religiöse Institutionen kooptierten und eine neue Form des (Staats-)Islams definierten, also vielmehr ein Management des Islams, denn eine strenge institutionelle Trennung zwischen Staat und Religion betrieben. Blickt man auf die Situation Ägyptens und Tunesiens mehr als fünf Jahre nach der Arabellion, dann lassen sich sowohl Wandel als auch Kontinuität erkennen. In Ägypten herrscht nach zwei Militärputschen (2011 gegen Mubarak, 2013 gegen Muhammad Mursi) und der kurzen Zwischenphase der Präsidentschaft eines demokratisch gewählten Muslimbruders wieder eine autokratische Militärregierung unter der Führung von ʿAbd al-Fattah al-Sisi.111 Bereits unter Mursi wurde die Differenz zwischen Islamisten und Säkularen wieder bestimmend für die ägyptische Politik, wenn auch in umgekehrten Rollen. So wurde dem Regime der Versuch unterstellt, die ägyptische Gesellschaft vorbei an der Rechtsstaatlichkeit und mithilfe einer neuen Verfassung zu »ikhwanisieren«.112 Seit seiner gewaltsamen Machtübernahme setzt al-Sisi dem Modernisierungsversprechen und Volksnähe entgegen. Seine Selbstlegitimation beruht wiederum zu großen Teilen in der Beschwörung des Narrativs der Bedrohung der ägyptischen Nation und der patriotischen Ägypter durch Islamisten.113 In Tunesien stellt die Situation sich anders dar. Einige Zeitdiagnostiker lobten die Aushandlung einer neuen Verfassung und, im Zuge dessen, der zentralen Frage nach der Rolle von Religion114 und sahen darin Anzeichen für eine dauerhafte Überwindung der Identitätsdifferenz zwischen säkularen und islamistischen Akteuren.115 Andere sind skeptischer und weisen darauf hin, dass immer dann, wenn es politisch opportun erscheine, diese Differenzen sehr wohl weiterhin mobilisiert 111 112 113 114 115

Vgl. Demmelhuber 2014. Lintl et al. 2014, S. 305. Vgl. Ranko/Sabra 2015. Vgl. Stepan 2012. Feldman 2015, S. 76.

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würden, vor allem durch die beiden zentralen Kräfte al-Nahda und Nidaʾ Tunis. Die effektive Behandlung drängender Probleme und strukturelle Reformen würden damit natürlich verhindert.116 Zudem ist mit Ansar al-Shariʿa eine neue, jihadistisch-salafistische Bewegung in der politischen Landschaft Tunesiens aufgetaucht.117 Diese trägt insofern zu einer weiteren Polarisierung bei, als von vielen al-Nahda eine mindestens ambivalente, tendenziell jedoch kooperationsbereite Rolle mit dieser Bewegung zugeschrieben wird. Befördert wird die Polarisierung weiterhin durch die Rolle externer Akteure, wobei zur bereits bekannten westlichen Parteinahme für säkulare Akteure die Einmischung durch die sogenannten »Petrodollars« aus Saudi-Arabien und Katar hinzukommt.118 In beiden Gesellschaften, Ägypten und Tunesien, droht sich also eine Polarisierung der Gesellschaft und der politischen Eliten um die Unterscheidung zwischen säkularer und islamistischer Identität zu reproduzieren. Im Falle Ägyptens scheint diese Polarisierung eine Demokratisierung, im Falle Tunesiens die effektive demokratische Behandlung drängender Fragen zu behindern. Die Entwicklungen in beiden Ländern zeigen, dass sowohl ein Rückfall in eine autokratische Politik des Säkularismus möglich ist als auch das islamistische Äquivalent dazu.119 Allerdings wäre das Bild unvollständig, wenn nicht auch skizziert würde, welche Möglichkeiten es gibt, dieser Art von Politik zu begegnen – das heißt, welche (demokratischen) Gegenpraktiken der (autokratischen) Politik des Säkularismus und einer ebenso exklusiven Politik des Islamismus entgegengesetzt werden können. Die Arabellion als »Aufstand der Lebenswelten gegen Politik und Herrschaft«120 oder »dignity revolution«121 bietet hierfür einen Ansatzpunkt.122 Anstelle eines Schlusses möchte ich deshalb die Arabellion selbst als einen Aufstand skizzieren, der sein demokratisches Moment durch seinen a-säkularen Charakter gewinnt.123 Damit gemeint ist, dass die Identitätskategorien »säkular« und »isla-

116 117 118 119

120 121 122

123

Vgl. Boubekeur 2016. Vgl. Merone 2015. Labat 2013, S. 119-146, 214-219. Damit gemeint sein könnte eine Politik des Islamismus, die mit der souveränen Macht des Staates ausgestattet das »Säkulare« definiert, als Feindbild aufbaut und exklusive oder repressive Politik betreibt. Die Ähnlichkeit beider Phänomene wäre im Detail noch zu untersuchen, scheint aber ins Auge zu stechen. Vgl. dazu Scott 2014. Schulze 2013, S. 19. Esposito et al. 2016, S. 237. Diese Ausdrücke scheinen für die Beschreibung des ursprünglichen Impulses der Arabellion weit angemessener zu sein als etwa die Zuweisung von Bezeichnungen »islamische Revolution« oder »islamistische Revolution«, wie z.B. von Totten et al. (2012) diskutiert und von Bayat (2011) richtigerweise kritisiert. Vgl. Agrama 2011. Mavelli (2012) zielt auf dasselbe Phänomen, wenn er in Bezug auf Ägypten von einem postsäkularen Moment spricht. Ich bevorzuge »a-säkular«, weil gerade nicht das Postsäkulare im Habermasschen Verständnis benannt werden soll.

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mistisch« im Moment des Protestes gerade keine Rolle spielten.124 Dies bringt Hussein Ali Agrama im folgenden Zitat treffend auf den Punkt: »Not surprisingly, the protests expressed every potential language of justice, secular or religious, but embraced none. In the sense that it stands prior to religion and politics, and that it is indifferent to the question of their distinction, the bare sovereignty manifested by the protest movement stands outside the problem-space of secularism.«125

Für kurze Zeit konnte der souveränen Macht des Staates und seiner Politik des Säkularismus also die »nackte« Souveränität der Protestierenden entgegengesetzt werden, die es ablehnten, sich die Unterscheidung zwischen säkularer und islamistischer Identität zu eigen zu machen. Vielmehr handelte es sich hier um einen Moment des solidarischen Protests gegen das Regime. Mit Blick auf die Bestimmung der Bedeutung und des angemessenen Raumes von Religion sowie deren Verhältnis zur Politik zeichnete sich dieser Moment zudem durch radikale Offenheit aus. Es ist gerade die permanente Offenheit und die stets zu bestreitende Neuverhandlung umstrittener Themen, die eine demokratische Gesellschaft kennzeichnen.126 Dabei ist die Frage nach der Religion sicher zentral, sollte aber unter der Leitidee einer Pluralität von Säkularitäten, d.h. Formen der Trennung des Religiösen von nicht-religiösen Sphären der Gesellschaft, diskutiert und eher als Ergebnis denn als Voraussetzung demokratischer Aushandlungsprozesse anerkannt werden.127

124 In Ägypten hatte die Revolution von 2011 in dieser Hinsicht einen institutionellen Vorreiter. Bereits die 2004 entstandene Kifaya-Bewegung setzte neue Impulse für Praktiken der Kooperation, Solidarität und politischen Auseinandersetzung. Innerhalb dieser Bewegung fanden sich Linke und Liberale, aber auch Muslimbrüder und islamische Aktivistinnen, darunter auch solche, die dezidiert dafür eintraten, die Frage der politischen Rolle des Islams gerade nicht nur innerhalb der engen Grenzen der binären Unterscheidung zwischen religiös und säkular zu verhandeln. Vgl. Shorbagy 2007, S. 175-176; Hirschkind 2012, S. 50-52. 125 Agrama 2011. 126 Vgl. bspw. Walzer 1998. 127 Vgl. Wohlrab-Sahr/Burchardt 2012. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Zusammenfassung: Dieser Beitrag folgt einem Verständnis von Säkularismus als Machtpraxis des Staates, durch die er die Religion definiert und reguliert. Er problematisiert diese Politik des Säkularismus der Regime in Ägypten und Tunesien vor der Arabellion hinsichtlich ihrer regimestabilisierenden Wirkung und kontrastiert sie mit dem a-säkularen, demokratischen Moment der Arabellion. Stichworte: Politik des Säkularismus, Regimestabilität, Demokratie und Islam, Arabellion

Islamists and the Politics of Secularism in Egypt und Tunisia. Autocratic Stability and the Democratic Moment of an A-Secular Arabellion Summary: This article embraces an understanding of secularism as a power practice by the state through which it defines and regulates religion. It problematizes the politics of secularism as practiced by the regimes in Egypt und Tunisia pre-Arabellion with regard to its stabilising effects on the regimes. This is contrasted by the Arabellion itself as an a-secular, democratic moment. Keywords: Politics of secularism, regime stability, democracy and Islam, Arabellion

Autorin Hanna Pfeifer, M.A. Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg Institut für Internationale Politik Holstenhofweg 85 DE-22043 Hamburg [email protected]

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Ivesa Lübben

Der Begriff des religiösen Feldes bei Bourdieu und die Neuordnung der Beziehung zwischen islamischem und politischem Feld in Tunesien und Ägypten im Kontext der Arabellion

Einleitung Die arabische Welt befindet sich in einem historischen Transformationsprozess, der vergleichbar mit dem ist, was der Historiker Eric Hobsbawm im Hinblick auf Europa als das »lange 19. Jahrhundert« bezeichnete: Revolutionen, die von Konterrevolutionen abgelöst werden, Reformen und die (vorübergehende?) Restauration überlebter Herrschaftsfigurationen, implodierende staatliche Ordnungen, Bürgerkriege und die Bedrohung des regionalen Staatensystems. Nicht nur die politische Ordnung und die Verteilung nationaler Reichtümer wird in Frage gestellt, die Umbrüche haben zur Rekonfiguration vieler sozialer Felder geführt: Kunst und Literatur, Medien und Ausbildungsinstitutionen, Beziehungen zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern sowie dem, was Pierre Bourdieu als »religiöses Feld« bezeichnet. Zur Disposition stehen die Bedeutung der Shariʿa für Rechtsprechung und Alltagshandeln, das Verhältnis religiöser Akteure untereinander und die Frage, welche Bedeutung Religion für die Neuordnung der politischen Ordnung haben soll. Aus den ersten demokratischen Wahlen in Tunesien und Ägypten gingen islamistische Parteien, die sich zugleich als religiöse Daʿwa-Bewegung und politischer Akteur verstehen und in deren Praxis sich politische und religiöse Handlungslogiken vermischen, als Sieger hervor. Die Debatten um neue Verfassungen waren von religiös konnotierten Identitätsdebatten begleitet. Der Islam ist jedoch nicht nur Referenz für Oppositionsbewegungen, sondern dient auch den herrschenden Eliten zur Legitimation ihrer Herrschaft. So inszenierte General al-Sisi die Absetzung des ersten gewählten Präsidenten Ägyptens, des Muslimbruders Muhammad Mursi, flankiert vom Scheich der islamischen al-Azhar, dem koptischen Papst und dem Führer der größten salafistischen Partei des Landes, der Hizb al-Nur (Partei des Lichtes). Das starke Abschneiden islamistischer Parteien ist Symptom eines grundsätzlichen Strukturmerkmals der arabischen Staaten, die sich nur in Teilbereichen säkularisiert haben. Mit Ausnahme des Libanon ist der Islam in allen arabischen Ländern Staatsreligion. Als Gesetzesreligion setzt der Islam Regeln für das Diesseits und das Jenseits, was zu einer starken gegenseitigen Durchdringung von politischem und religiösem Feld und vielfältigen Machtarrangements zwischen herrschenden Eliten und religiöser Orthodoxie geführt hat. Diese reichen vom iranischen vilayat-i faqih, bei dem die höchste weltliche Souveränität in den Händen

Die Neuordnung der Beziehung zwischen islamischem und politischem Feld

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der Geistlichkeit liegt, über einen »Cäsaropapismus«1 in Marokko, wo der König zugleich amir al-mu’minin (Führer der Gläubigen) und damit höchste religiöse Autorität ist, bis hin zur Marginalisierung des religiösen Feldes im Fall Tunesiens durch den Staatsgründer Burqiba (Bourguiba). Dazwischen gibt es Formen der Kohabitation, wie den autoritären Pakt zwischen der absolut herrschenden saudischen Dynastie und der Sekte der wahabitischen Geistlichkeit oder den Versuch der politischen Machtelite in Ägypten, sich das religiöse Feld mittels Verstaatlichung unterzuordnen und für die Produktion eines Herrschaftsdiskurses zu instrumentalisieren. Diese unterschiedlichen Arrangements sind das Ergebnis von Machtkämpfen innerhalb und zwischen den Feldern, die im Transformationsprozess neu verhandelt werden. Sie haben die Programmatiken und Aktionslogiken islamistischer Akteure nachhaltig geprägt und sind ein wichtiger Faktor2 für unterschiedliche Transformationsdynamiken, wie im Folgenden am Beispiel Ägyptens und Tunesiens auf der Basis des Bourdieuschen Konzeptes des »religiösen Feldes« gezeigt werden soll. In die dabei gemachten Überlegungen sind eigene Beobachtungen der Transformationsprozesse, die bei wiederholten Feldforschungsaufenthalten in Tunesien und Ägypten zwischen 2011 und 2016 gemacht wurden, eingeflossen. Nicht berücksichtigt werden das Thema der islamistischen Gewalt, z.B. auf dem Sinai, und die vielfältigen Formen der Volksreligion vor allem in Ägypten, weil dies den Rahmen eines Zeitschriftenbeitrages sprengen würde. Das religiöse Feld bei Pierre Bourdieu und Spezifik eines »Feldes des Islam« Bourdieu stellt sich Gesellschaft als einen durch soziale Klassen vertikal strukturierten Raum vor, der sich über klassen- und gruppenspezifische Lebensstile und Habitusformen reproduziert. Diese vertikale Struktur wird durch eine horizontale Strukturierung in autonome soziale Räume, die er »Felder« nennt, ergänzt. »Der soziale Raum drückt topologisch das ›Ganze‹ der Gesellschaft aus, während einzelne Felder spezifische Welten und Mikrokosmen im Makrokosmos der Gesellschaft darstellen.«3 Positionen innerhalb der Felder sind nicht statisch, sondern werden von den in ihnen wirkenden Akteuren und Institutionen umkämpft. In jedem Feld erfolgt dieser Kampf auf der Basis eines geteilten Glaubens und nach einer eigenen feldimmanenten Logik, vergleichbar den Regeln eines Spiels, die Bourdieu illusio4, an

1 Vgl. Bourdieu 2011, S. 83. 2 Damit wollen wir nicht die Bedeutung anderer Analyse-Ebenen, wie politische Strategien, regionale Einflussfaktoren oder Klassenstrukturen, schmälern. Vgl. bspw. den Beitrag von Ouiassa/Sold in diesem Band zur Rolle von Mittelschichten im Transformationsprozess. 3 Müller 2014, S. 74. 4 Vgl. Bourdieu/Waquant 1996, S. 128. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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anderen Stellen auch nomos5 nennt. Die einzelnen Felder sind hierarchisch strukturiert. Starke Felder, wie z.B. das ökonomische Feld, können in die Eigenlogik schwacher Felder eingreifen, indem sie »ihren Nomos geradezu in andere Felder einpflanzen«.6 Dominiert wird diese Hierarchie von dem »Feld der Macht«, das sich quer zu den anderen gesellschaftlichen Feldern konstituiert. Mit dem Feld der Macht assoziiert Bourdieu die Vorstellung gesellschaftlicher Eliten, die die unterschiedlichen Felder dominieren, jedoch zugleich um hegemoniale Positionen innerhalb des Feldes der Macht konkurrieren.7 Den Begriff des Feldes hat Bourdieu in der Auseinandersetzung mit Weber und Durkheim am Beispiel des »religiösen Feldes« entwickelt. Bourdieu geht es jedoch nicht um die Religion als Glaubenssystem, sondern – in Anlehnung an Durkheim – um dessen gesellschaftliche Funktion und die sozialen Beziehungen zwischen Akteuren, die auf einem gemeinsamen »religiösen Interesse« beruhen. Dieses religiöse Interesse besteht darin, in einer Welt unerklärlicher Kontingenzen Sinn zu stiften.8 Bourdieu vergleicht das religiöse Feld mit einem Markt, auf dem die Akteure des religiösen Feldes – Institutionen, wie die Kirche, charismatische Persönlichkeiten, wie Propheten und Mystiker, sowie religiöse Bewegungen – religiöse Dienstleistungen und Heilsgüter produzieren und feilbieten, die von den Laien nachgefragt werden. Dem religiösen Feld kommt die Funktion zu, die etablierte politische und gesellschaftliche Ordnung zu legitimieren. Dies geschieht jedoch nicht durch eine unmittelbare Instrumentalisierung der Religion durch die herrschende Klasse, wie es Marx und Engels postulierten, sondern indem sie gesellschaftliche Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata propagiert, die die gesellschaftliche Ordnung »naturalisieren« und zugleich häretische Bewegungen, die subalternen Klassen als Sprachrohr dienen, bekämpft, aus dem religiösen Feld ausschließt und damit de-legitimiert.9 Das Bourdieusche Konzept lässt sich unter Berücksichtigung einiger Spezifika auch auf den Islam übertragen. Der Islam kennt keine strikte Abgrenzung zwischen Sakralem und Profanem. Der Koran umfasst Glaubensdogmen (ʿibadat) wie Handlungsanweisungen für das Diesseits (muʿamalat), die regulierende Normen für die unterschiedlichen gesellschaftlichen Felder setzen. Es wäre jedoch falsch, daraus zu schließen, dass alle Felder des sozialen Raums islamischer Gesellschaften religiös determiniert wären, zumal es in der Geschichte des Islam keine hegemoniale Institution, wie die Kirche, mit einem umfassenden Machtanspruch gab, die in der Lage gewesen wäre, sich andere Felder unterzuordnen und ihre feldinternen Spielregeln (nomos) extern zu bestimmen. Die gegenseitige Durchdringung

5 6 7 8 9

Vgl. Barlösius 2011, S. 188. Ebd., S. 96. Vgl. ebd., S. 97. Vgl. Bourdieu 2011, S. 68. Vgl. ebd., S. 79.

Die Neuordnung der Beziehung zwischen islamischem und politischem Feld

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von Religion und anderen gesellschaftlichen Bereichen, wie Recht, Medizin, Handel, ist von Feld zu Feld unterschiedlich. Religion ist kein »eigenständiger Agent, sondern ein Faktor, der in jedem der verschiedenen Teilsysteme auf seine eigene Weise aufgefasst und gestaltet wird, ohne dass die jeweilige Auffassung und Gestaltung von Religion für die jeweils anderen Teilsysteme maßgeblich wäre. […] Es hat also jedes gesellschaftliche Teilsystem seine eigene Religion, während sich andererseits ein gesellschaftliches Teilsystem der Religion nicht auffinden lässt.«10

Erst in der Konfrontation mit der Moderne begann sich ein klar abgegrenztes religiöses Feld herauszukristallisieren. Faktoren, die dies begünstigten, waren die Institutionalisierung religiöser Subsysteme und Institutionen, wie al-Azhar in Ägypten, in Abhängigkeit vom Staat11 und die Konstruktion eines »wahren« religiösen Diskurses in Reaktion auf westliche Diskurse der Aufklärung, die ebenfalls einen absoluten Wahrheitsanspruch erhoben.12 Ein weiterer Faktor ist die Ideologisierung des Islam durch islamische Reformbewegungen, die versuchen, sich die westliche Moderne mittels islamischer Konzepte anzueignen. Unter Bezug auf die Frühphase des Islam postulieren sie eine Identität von Religion (din) und Staat (dawla) und konkurrieren sowohl gegen staatliche Macht im politischen Feld wie auch gegen die altehrwürdigen religiösen Institutionen innerhalb des religiösen Feldes. Diese Bewegungen, die ihre soziale Basis überwiegend unter den aufsteigenden Mittelschichten haben, predigen einen Laienislam und stellen den individuellen Zugang des gebildeten Gläubigen in Aussicht, wodurch sie einerseits das symbolische Kapital der traditionellen Rechtsgelehrten entwerten. Über eine Neudefinition sozialer islamischer Werte shura (das Gebot der gegenseitigen Beratung), ʿadala (soziale Gerechtigkeit) oder haqq (Recht) versuchen sie andererseits ihr Gewicht im politischen Feld mit dem Ziel sozialer Umverteilung und einer Rekonfiguration der Machtbeziehungen zu erhöhen. Diese konfligierende Struktur hatte bedeutenden Einfluss auf die Dynamiken in den Transformationsprozessen in Tunesien und Ägypten. Struktur und Rekonfiguration des religiösen Feldes in Tunesien Die Grundstruktur des religiösen Feldes in Tunesien wurde unter der Herrschaft des Republikgründers Burqiba gelegt. Tunesien ist das einzige arabische Land, dessen Verfassung und Rechtssystem keine Shariʿa-Bezüge aufweist, wenngleich der Islam sowohl in der Verfassung von 1959 wie auch der neuen Verfassung von 2013 als Staatsreligion festgeschrieben wurde, allerdings unter jeweils völlig anderen Kontextbedingungen: In der ersten Verfassung als religiöses Residuum auf dem Wege einer weitgehenden Säkularisierung des Landes durch das Burqiba-Regime, im zweiten Fall als identitärer Kompromiss zwischen dem islamistischen und dem säkularen Lager in der post-revolutionären Phase. 10 Bauer 2011, S. 200. 11 Vgl. Eccel 1984, besonders Kapitel 3 (S. 60-122) und Kapitel 6 (S. 194-229). 12 Vgl. Bauer 2011, S. 340. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Die Säkularisierungspolitik Burqibas Um sein Machtmonopol durchzusetzen und weil er fest daran glaubte, dass die islamische Orthodoxie seinen Modernisierungsbemühungen im Wege stände, versuchte Burqiba, das religiöse Feld so weit wie möglich zu schwächen, indem er einige Funktionsbereiche verstaatlichte und entideologisierte und andere in vom Staat kontrollierte Felder eingliederte. Mit der Forderung der Trennung von Staat und Religion kappte er die Verbindungen des religiösen Feldes zu anderen Feldern, um so zu verhindern, dass religiöse Akteure ihr symbolisches Kapital in Bereichen wie der Justiz, dem Bildungswesen oder der Wirtschaft zur Geltung bringen. Er kreiste das religiöse Feld ein und schuf mit dem Diskurs der »Tunisité« und der »Modernité« ein alternatives Narrativ, aus dem religiöse Akteure ausgeschlossen waren und das ihre islamisch-arabischen regionalen Verbindungen entwertete.13 Unmittelbar nach Erringung der staatlichen Unabhängigkeit ließ Burqiba das Familien- und Strafrecht nach französischem Vorbild novellieren und die ShariʿaGerichte auflösen.14 Wichtigster symbolischer Akt der Säkularisierung des Rechts und der Modernisierung des Staates war die Abschaffung der Polygamie und die Einführung des Scheidungsrechtes für Frauen. Andere Maßnahmen folgten: Die Vermögen der religiösen Stiftungen (habus)15 wurden vom Staat beschlagnahmt, das religiöse Schulwesen aufgelöst und private Koranschulen dem Bildungsministerium unterstellt. Die Autonomie der traditionsreichen Zituna, der die älteste Universität der Welt angeschlossen war, wurde aufgehoben und ihre Fakultäten der Université de Tunis angegliedert. Imame wurden vom Staat bestellt und die auf dem Land einflussreichen Sufi-Bruderschaften staatlicher Kontrolle unterstellt. Heute spielen sie kaum noch eine Rolle. Der Mufti, der bis dato von einem Rat aus Geistlichen gewählt wurde, wurde auf Grundlage der neuen Verfassung vom Staatspräsidenten ernannt. Damit wurde das Feld der religiösen Rechtsprechung, das durch die Abschaffung der Shariʿa-Gerichte und den Verzicht auf Shariʿa-Bezüge in der Verfassung sowieso nur noch symbolische Bedeutung hatte, der säkularen Macht untergeordnet und faktisch aufgelöst. Burqiba versuchte sogar, islamische Kulte, wie das Fasten, die Pilgerfahrt oder das Schlachten von Hammeln zum Opferfest, abzuschaffen. Damit sollte das symbolische Restkapital religiöser Akteure entwertet, ihm die Wirkmächtigkeit im sozialen Raum entzogen und verhindert werden, dass sich auf der Basis religiöser Kulte autonome, subversive Milieus bilden. Allerdings konnte sich Burqiba in dieser Frage selbst bei der vom Staat kooptierten Geistlichkeit nicht durchsetzen. Rechtsgelehrte aus dem Umfeld der Zituna opponierten gegen die Politik Burqibas und leiteten eine islamische Erneuerungsbewegung ein. Sie gründeten im ganzen Land unpolitische Vereinigungen zum Schutz des Koran und der guten Sitten, 13 Vgl. Merone 2014, S. 4. 14 Zur Religionspolitik Burqibas vgl. ausführlich Faath 2007, S. 216ff. 15 Der Begriff habas (pl.: habus oder hubus) im maghrebinischen Arabisch ist gleichbedeutend mit dem im Maschrek verwendeten waqf (pl.: awqaf).

Die Neuordnung der Beziehung zwischen islamischem und politischem Feld

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die zu den Vorläufern der islamischen Bewegung werden sollten, die sich Ende der 1970er Jahre in Tunesien formierte.16 Die Machtkämpfe um die Säkularisierungspolitik Burqibas setzten die Machtkämpfe der beiden Flügel der Befreiungsbewegung, der Burqibisten und der Yusifisten, fort17 – eine Spaltung, die bis heute die Struktur des sozialen Raums und des politischen Feldes der tunesischen Gesellschaft prägt. Mit seinem Diskurs der »Tunisité« gelang es Burqiba, die frankophonen, in die koloniale Wirtschaft integrierten sozialen Gruppen der Küstenregion zu mobilisieren: Freie Berufe, Angestellte des öffentlichen und privaten Sektors, Teile der Kleinbourgeoisie sowie die Arbeiterbewegung.18 Sein Widersacher, Salah Bin Yusif (Ben Youssef), der aus einer Familie von Kaufleuten und Notabeln stammte und stark vom Nasserismus beeinflusst war, wusste die arabophone Elite der Zituna, die Landbesitzer und die Stämme des Südens hinter sich.19 Diese konservative Elite sah ihre Interessen durch wirtschaftspolitische Maßnahmen – wie die Aufhebung des kollektiven Landbesitzes der Stämme – sowie die Abwertung ihres symbolischen Kapitals durch Burqibas Säkularisierungspolitik gefährdet. Burqibas Nachfolger Zayn al-ʿAbidin Bin ʿAli (Zine el-Abidine Ben Ali) modifizierte die Religionspolitik Burqibas, indem er einerseits in dem Versuch, die religiöse Opposition zu neutralisieren, im Rahmen einer Kampagne zur »Rehabilitierung des Islam« das religiöse Feld mit einigen symbolischen Zugeständnissen aufwertete,20 andererseits die polizeistaatliche Aufsicht über Institutionen, Akteure und Regularien, aber auch die im religiösen Feld produzierten Diskurse verschärfte. Er zog die Grenzen des religiösen Feldes noch enger und unterwarf es der engmaschigen und direkten Kontrolle durch das Feld der Macht.21 Außerhalb der engen Grenzen des von den Sicherheitsorganen kontrollierten Raumes des religiösen 16 Vgl. Preuschaft 2011, S. 19 f. Die Vereinigung zum Schutz des Koran und der guten Sitten wurde als Ventil für Kritiker aus dem religiösen Feld vom Regime toleriert. Sie enthielt sich strikt jeder politischen Stellungnahme. Trotzdem wurde sie zum Inkubator für die MIT, die sich Ende der 1970er Jahre von der Vereinigung abspaltete, eben weil ihr diese zu unpolitisch war. 17 Bin Yusif war ab 1945 Generalsekretär der Neo-Dustur, dessen Vorsitzender Burqiba war. Die beiden Politiker entzweiten sich über die Frage des Verhältnisses zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Nach der Unabhängigkeit musste Bin Yusif nach Deutschland fliehen, wo er 1961 vermutlich von Schergen des tunesischen Geheimdienstes ermordet wurde. 18 Vgl. Chouikha/Gobe 2015, S. 13. 19 Vgl. ebd., S. 14. 20 So wurde unter Bin ʿAli der Gebetsruf fünfmal am Tag im staatlichen Radio übertragen. Die Regierung ließ 200.000 Exemplare des Korans drucken und in den Moscheen verteilen. Bin ʿAli selbst reiste demonstrativ zur kleinen Pilgerfahrt nach Mekka. Vgl. Faath 2007, S. 221ff. 21 Vgl. ebd. Ein Religionsministerium wurde 1994 eingerichtet. Ihm wurden die Moscheen unterstellt, es bestellte die Imame und leistete »Hilfestellung« bei der Abfassung der Freitagspredigten. Moscheen und Heiligenmausoleen, die engmaschig vom Geheimdienst observiert wurden, blieben bis auf die Gebetszeiten geschlossen. Private Treffen, Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Feldes wurden religiöse Symbole – wie das Tragen des Kopftuches oder das Tragen des Bartes – verboten.22 Burqibas und Bin ʿAlis Politik zementierten die Spaltung des sozialen Raumes Tunesiens, die zugleich eine religiöse, soziale und geographische Dimension hatte. Ihre Politik hinterließ ein Vakuum im religiösen Feld. Trotz der Verknappung und staatlichen Lenkung des Angebots an religiösen Dienstleitungen konnte Burqiba die gesellschaftliche Nachfrage nach religiösen Dienstleistungen nicht vollständig austrocknen. Weder Burqiba noch seinem Nachfolger gelang es, mittels der säkular konnotierten »Tunisité« eine unangefochtene, hegemoniale nationale Referenz zu etablieren. Daran änderte auch die veränderte Symbolpolitik unter Bin ʿAli nichts. Dieses Vakuum wurde seit Ende der 1970er Jahre von klandestinen islamischen Zirkeln ausgefüllt, aus denen 1981 als wichtigste der Mouvement de la Tendence Islamique (MIT), der sich 1989 in Mouvement al-Nahda umbenannte, hervorging, und der bis 2011 nur im Untergrund wirken konnte. Die Rekonfiguration des religiösen Feldes nach 2011 Die Absetzung Bin ʿAlis und der Zusammenbruch des repressiven politischen Regimes hatten die Rekonfiguration der inneren Struktur der gesellschaftlichen Felder sowie ihrer Hierarchie im sozialen Raum durch Neuverhandlungen der formalen Spielregeln zur Folge. Dabei traten neue Akteure in Erscheinung, die unter Bin ʿAli entweder verboten oder in ihrem Aktionsradius eingeschränkt waren oder die sich im Verlauf des revolutionären Prozesses und der Transformationsphase konstituierten. Religion gewann in diesem Prozess an Bedeutung und mit ihr der Wert des symbolischen religiösen Kapitals. Der bedeutendste dieser Akteure war die islamistische al-Nahda, die die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung 2011 gewann und von 2011 bis Anfang 2014 gemeinsam mit den beiden kleineren säkularen Parteien Forum démocratique pour le travail et les libertés (al-Takattul) und Congrès pour la République (CpR) eine Regierungskoalition bildete. Al-Nahda musste – die gewaltsame Absetzung Muhammad Mursis in Ägypten als drohendes Beispiel vor Augen – relativ schnell feststellen, dass ein konsensualer Verfassungsprozess als Garant für ihre Integration in das politische Feld und ihr Eintritt in das Feld der Macht nur durch die Überwindung der Spaltung des sozialen Raumes im Rahmen eines historischen Kompromisses zwischen dem konservativen Bürgertum, das die soziale Basis alNahdas repräsentiert, und der säkularisierten Modernisierungselite, die sich auf

Versammlungen oder Koranlesungen wurden strikt verboten. Vereinigungen zur Memorisierung des Korans wurden strikter Kontrolle von Regierung und Sicherheitsbehörden unterstellt. 22 Vgl. ebd. Das Kopftuchverbot wurde unter Bin ʿAli rigoros durchgesetzt. Die Regime ließ sogar Kopftücher in Bekleidungsgeschäften durch die Polizei beschlagnahmen. Diese konnten nur unter dem Ladentisch verkauft werden. Gespräche der Autorin mit Händlern auf dem Stoffmarkt von Gabès, Oktober 2014.

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das Erbe Burqibas beruft, möglich ist.23 Dieser Kompromiss basierte einerseits auf der Anerkennung der »Tunisité« und damit implizit von Burqibas Modernisierungspolitik durch al-Nahda, andererseits auf der Zustimmung zur Beibehaltung des Artikels 1 der Verfassung, wonach der Islam Staatsreligion ist, durch die säkulare Modernisierungselite. 24 Durch diese diskursive Fusion von »Tunisité« und Islam wurde die Basis für ein inklusives Identitäts-Narrativ der »Nationalen Einheit« gelegt und in der Verfassung festgeschrieben. Al-Nahda verzichtete trotz des Protestes anderer religiöser Akteure und zum Unmut von Teilen der eigenen Parteibasis auf jeden Shariʿa-Bezug in der neuen Verfassung und stimmte dem Grundsatz der politischen Neutralisierung der Moscheen und damit einer strikten Trennung zwischen dem Feld der Politik und dem Feld der Religion bei Entpolitisierung des Letzteren zu. Um die funktionale Trennung nicht nur zwischen Religion und Politik, sondern zwischen Politik und jedweder zivilgesellschaftlichen Aktivität – darunter solcher im religiösen Feld – festzuschreiben, initiierte die Nahda-Regierung ein Vereinsgesetz, auf dessen Grundlage Doppelfunktionen in Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen verboten sind.25 Eine starke und unabhängige Zivilgesellschaft ist in den Augen al-Nahdas ein wichtiges Korrektiv politischer Entscheidungen und Garant der demokratischen Transformation.26 Der Vorsitzende alNahdas, Rashid al-Ghannushi (al-Ghannouchi), beschreibt Zivilgesellschaft als eine Form der unabhängigen Selbstorganisation der islamischen umma, die das Individuum vor Zugriffen des Feldes der Macht schütze.27 Die Trennung politischer und religiöser Funktionen bedeute nicht die Ausgrenzung der Religion aus der Zivilgesellschaft. Im Gegenteil: Das religiöse Feld bleibe integraler Teil der Zivilgesellschaft. Der Islam könne zur Legung normativer Grundlagen der Zivilgesellschaft beitragen, so al-Ghannushi.28

23 Vgl. Merone/Cavatorta 2013, S. 311. Im August 2013 trafen sich die Führer von Nidaʾ Tunis und al-Nahda, al-Baji Qaʿid al-Sabsi und Rashid al-Ghannushi heimlich in Paris und beschlossen, ihre Differenzen zugunsten eines inklusiven Verfassungsprozesses einzufrieren. 24 Die Formulierung des Artikel 1 war ein Zugeständnis Burqibas an die Anhänger der Yusifisten gewesen, mit der er die Kritik der Führung der Bewegung, er sei gegen den Islam, entkräften wollte. Real betrieb er jedoch die politische und gesellschaftliche Säkularisierung. Nach dem Sturz des Bin ʿAli-Regimes wollte die säkulare Elite ganz auf Islambezüge in der Verfassung verzichten. Die Festschreibung der islamischen Identität Tunesiens war jedoch für al-Nahda essentiell. Dafür war sie bereit auf Shariʿa-Bezüge in der Verfassung zu verzichten. 25 Interview mit Badr al-Din ʿAbd al-Kafi, Tunis, November 2014. Vgl. auch Lübben 2015, S. 14 f. 26 Interview mit Samir Dilu, Tunis, November 2014. 27 Vgl. Lübben 2015, S. 4. 28 Vgl. ebd. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Die Integration al-Nahdas in das Feld der Politik und ihr Aufstieg in das Feld der Macht in Form des Elitenkompromisses29 mit Nidaʾ Tunis, die sich auf Burqibas Erbe beruft, wurde auf ihrem 10. Parteitag im Mai 2016 durch die beschlossene Trennung von Religion und Politik besiegelt. Damit hat al-Nahda ihre Rolle im religiösen Feld aufgegeben und sich als politische Partei mit einer islamischen Wertereferenz rekonstituiert. Parteichef al-Ghannushi sprach in dem Zusammenhang in Anlehnung an die europäische Christdemokratie von der Ablösung des »politischen Islam« durch eine »Muslimdemokratie«.30 Bis dato hatte sich alNahda, wie ihr offizieller Name »Partei der Bewegung der Renaissance« (Hizb harakat al-nahda) besagt, sowohl als religiöse Bewegung wie auch politische Partei verstanden, die parallel im politischen wie auch im religiösen Feld agierte. Allerdings hatte al-Nahda, bedingt durch die Dynamiken des Transitionsprozesses seit ihrer Legalisierung 2011, ihre Aktivitäten auf die Ausgestaltung der neuen Verfassungsordnung konzentriert. Dabei trat zumindest der Parteikader faktisch nur noch als politischer Akteur auf und zog sich unter dem Druck säkularer Kräfte, die ihm vorwarfen, er würde sein religiöses Kapital für politische Gewinne einsetzen, aus religiösen Aktivitäten zurück.31 Der Parteitagsbeschluss besiegelte diesen Rückzug aus dem religiösen und den endgültigen Übergang in das politische Feld, dessen Spielregeln schon in den letzten Jahren immer stärker die Handlungslogiken von al-Nahda bestimmt hatten. Diese Selbstentmächtigung im religiösen Feld – die Aufgabe des Islamismus als Doktrin und die Trennung von Politik und Religion in ihrer eigenen Praxis – war ein tiefer Einschnitt in die Identität und das Selbstverständnis der Bewegung, die auch auf Kritik an ihrer eigenen Basis stieß. Offiziell ist deswegen von der »Spezialisierung« (takhassus) als Form der Arbeitsteilung die Rede. Parteimitglieder sind aufgerufen, sich in zivilgesellschaftlichen und religiösen Organisationen zu engagieren, die jedoch von der Partei unabhängig sind.32 Inwieweit trotz dieser funktionalen Trennung ein identitäres Band zwischen den in verschiedenen Feldern agierenden »Nahdawis« erhalten bleibt und ob sie weiterhin koordiniert handeln oder ob ihr Handeln in Zukunft von den unterschiedlichen Aktionslogiken der Felder, in denen sie sich positionieren, bestimmt wird, bleibt abzuwarten. Einige der Vertreter des konservativen Flügels haben bereits angekündigt, dass sie sich mittelfristig aus der Politik zurückziehen werden, um ein Netzwerk von religiösen Vereinigungen zu gründen.33 Im religiösen Feld hat die Integration al-Nahdas in das politische Feld, die mit den Parlamentswahlen 2011 begann, ein Vakuum hinterlassen, das zum Teil von 29 Um den Kompromiss zu besiegeln, hielt Staatspräsident al-Sabsi ein Grußwort auf dem Parteitag, während al-Ghannushi zuvor auf dem Parteitag von Nidaʾ Tunis gesprochen hatte. 30 Vgl. Ghannouchi 2016. 31 Viele Kader der Partei hielten deswegen keine Freitagspredigten in Moscheen mehr. Interview mit ʿAbd al-Fattah Muru, Tunis, November 2014. 32 Vgl. Lübben 2016 a. 33 So Habib al-Lawz in einem Hintergrundgespräch mit der Autorin in Tunis, Mai 2016.

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salafistischen Bewegungen gefüllt wurde, zumal staatliche religiöse Institutionen seit Burqiba so marginalisiert wurden, dass sie die wachsende Nachfrage nach religiösen Dienstleistungen nicht decken können. Salafistische Gruppen verfügen über ein großes soziales Mobilisierungspotential unter der Jugend aus den benachteiligten Regionen des Landes. Tunesien stellt heute das größte Kontingent an ausländischen IS-Kämpfern in Syrien.34 Auch wenn die Mehrheit der Salafisten den bewaffneten Jihad ablehnt, ist dies zumindest ein Symptom für den Bedeutungszuwachs extremistischer Positionen. Aus den Debatten um ein inklusives politisches System blieben die subalternen Schichten, v.a. die jungen Männer aus den Ghettos der Städte und den Provinzen der Zentralregion, die die Hauptträger der Revolution von 2011 waren, ausgeschlossen. Die Forderungen dieser schlecht ausgebildeten, chancenlosen Jugend, die sich wirtschaftlich, sozial und kulturell marginalisiert fühlt, wurden durch die Elitenkoalition im Namen eines ökonomischen Realismus ignoriert.35 Viele dieser Jugendlichen haben sich salafistischen Gruppen, die inzwischen über ein weitverzweigtes Netzwerk in Tunesien verfügen, angeschlossen. Salafismus ist für sie nicht deshalb attraktiv, weil sie von ihm die Lösung ihrer sozialen Situation erwarten, sondern weil er ihnen das Gefühl der moralischen und intellektuellen Überlegenheit über eine Elite vermittelt, die in ihren Augen die religiösen Prinzipien zugunsten profaner Machtinteressen verraten hat. »Salafismus verwandelt die erniedrigten, geschlagenen, wütenden jungen Menschen, die diskriminierten Landflüchtigen, die politisch Unterdrückten in eine ausgewählte Sekte, die ihnen den Zugang zur Wahrheit verspricht.«36 Von alNahda und der Aufgabe der verfassungsmäßigen Verankerung der Shariʿa enttäuscht, gibt ihnen der Salafismus nicht nur einen kognitiven Rahmen, der ihnen erlaubt, die eigene Lage zu verstehen, sondern vermittelt ihnen das Gefühl eines höheren sozialen Status als Teil eines Kollektivs, dem die göttliche Wahrheit offenbart wurde.37 Trotz des Rückzugs aus dem religiösen Feld verfolgt auch al-Nahda kein säkulares Staatsmodell, sondern strebt die innere Neuordnung des religiösen Feldes und die Neustrukturierung seines Verhältnisses zum Feld der Macht an. Auf dem 10. Kongress hat al-Nahda explizit betont, dass sie als politische Partei Programmatiken auch für das religiöse Feld entwickeln wird. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass sie nicht mehr von innen um Positionen im religiösen Feld ringen will, sondern extern aus ihrer Position im politischen Feld bzw. dem Feld der Macht – sei es als Partei oder über Institutionen der Macht, an denen sie beteiligt ist – auf dessen Regularien, interne Normen und ethische Grundsätze sowie Zugangsbedingungen Einfluss nehmen will.38 Damit hat sie die von Burqiba begründete Hege-

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Vgl. Trofimov 2016. Vgl. Merone/Cavatorta 2013, S. 310; Lamloun 2016, S. 14ff. Merone/Cavatote 2013, S. 317. Vgl. ebd. Vgl. Harakat al-Nahda 2016, S. 39ff.

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monie des politischen über das religiöse Feld fortgeschrieben, wenngleich in einem neuen Kontext. Die politischen Rahmenbedingungen, in die die Religionspolitik eingebettet ist und die auf das islamische Feld wirken, haben sich seit 2011 substantiell geändert. Durch die neuen politischen Freiheitsspielräume sind in Form einer islamischen Zivilgesellschaft tausende von religiösen Vereinen entstanden, die das Spektrum religiöser (Vereine zum Memorieren des Koran) und religiös begründeter Aktivitäten (karitative islamische Vereine und Stiftungen) erweitern und damit die Grenzen des religiösen Felds ausgeweitet haben.39 Während unter Burqiba und Bin ʿAli Religionspolitik durch den autokratischen Herrscher oktroyiert wurde, ist sie jetzt Objekt von komplizierten Aushandlungsprozessen zwischen erstens den Akteuren innerhalb des religiösen Feldes – Institutionen, Persönlichkeiten und Laienorganisationen –, zweitens zwischen den politischen Kräften im Feld der Macht und drittens zwischen den Feldern der Religion und der Macht bzw. im weiteren Sinne des politischen Feldes. Wie schwierig sich das gestaltet, zeigt sich bei Personalentscheidungen, über die Akteure des politischen Feldes versuchen, auf die religiösen Institutionen Einfluss zu nehmen, deren symbolisches Kapital seit 2011 beträchtlich gewachsen ist. Immer wieder leisten Gemeinden oder die Gewerkschaft der Prediger Widerstand gegen die Absetzung lokal verankerter, aber staatlich nicht lizensierter Imame und gegen Versuche, Moscheen unter die Kontrolle des Religionsministeriums zu stellen.40 Indiz für die Schwierigkeiten dieses Prozesses ist die Tatsache, dass es auch fünf Jahre nach dem Sturz des Bin ʿAli-Regimes der Elite nicht gelungen ist, sich über die Modalitäten eines Moscheengesetzes zu einigen. Struktur und Rekonfiguration des religiösen Feldes in Ägypten In Ägypten spielt Religion als Handlungsanleitung im Alltag, bei der Strukturierung von Wahrnehmungen und Werten, als Instrument der Herrschaftslegitimierung und als Ausdruck sozialen Protestes eine unvergleichbar größere Rolle als in

39 Die wichtigsten dieser Vereine sind über ein Internetportal vernetzt; URL: islamentunis ie.com/ [20.10.2016]. 40 So sollen etwa die Hälfte der Imame ohne eine Lizenz des Religionsministeriums predigen; URL: huffpostmaghreb.com/2016/03/23/mosquee-tunisie-controle_n_9531150.ht ml [15.07.2016]. Immer wieder kommt es zwischen dem Religionsministerium und einzelnen Gemeinden zu Auseinandersetzungen um die Besetzung des Amtes von Imamen; URL: tunisienumerique.com/tunisie-plus-de-la-moitie-des-mosquees-hors-control e-fermees/260936 [15.07.16]. Ein gutes Beispiel ist der Versuch des ehemaligen Großimams der Zituna, Husayn al-ʿAbidi, vom Bildungsministerium autonome Bildungsgänge an der Zituna einzurichten. Der Streit führte schließlich zur Absetzung des Grand Imams durch die al-Nahda-Regierung.

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Tunesien.41 Indiz hierfür ist die Tatsache, dass sich im Vorfeld der Verfassungsdiskussion im Jahr 2012 87 Prozent aller Ägypter und 82 Prozent aller Ägypterinnen für Shariʿa-Bezüge in der Verfassung aussprachen und 95 Prozent aller Befragten angaben, der Islam solle eine Rolle in der Politik spielen.42 Die Debatten nach dem Sturz des Mubarak-Regimes drehten sich deswegen auch nicht um die Frage, ob es Islambezüge in der Verfassung geben solle, sondern welche religiöse Normen verfassungsmäßig verankert werden sollen, wie verbindlich diese sind und wer autorisiert ist, im Namen des Islam zu sprechen. Das religiöse Feld in Ägypten ist heterogen und lässt sich nur schwer von anderen gesellschaftlichen Feldern, wie dem Feld der Politik, dem Feld der Macht oder dem des Rechtes, abgrenzen. Es ist Schauplatz von Machtkämpfen nicht nur zwischen religiösen Akteuren innerhalb des Feldes, sondern auch zwischen Akteuren des politischen Felds, die sich über die Kontrolle des religiösen Feldes symbolisches Kapital zur Legitimation ihrer eigenen Machtstrategie versprechen, während umgekehrt religiöse Akteure unter Einsatz ihres religiösen Kapitals um Einfluss im politischen Feld konkurrieren. Viele der religiösen Akteure – vor allem Organisationen des politischen Islam43 – agieren aufgrund eines holistischen Islamverständnisses parallel in verschieden gesellschaftlichen Feldern. Die Nachfrage nach religiösen Dienstleistungen variiert entsprechend der sozialen Klassenlage und des sozio-kulturellen Hintergrundes der Klientel. So unterscheidet Sasnal drei Formen des Islam in Ägypten, die die religiöse Nachfrage unterschiedlicher sozialer Gruppen decken: erstens salafistische Gruppen, die vor allem Unterschichten ansprechen, zweitens die 1928 gegründete Muslimbruderschaft, die als Mutterbewegung des politischen Islam gilt und deren Anhänger sich hauptsächlich aus der Mittelschicht und dem Kleinbürgertum rekrutieren, sowie drittens die obere Mittelschicht sowie Segmente der Oberschicht, die das Publikum moderner Televangelisten, wie ʿAmr Khalid oder Mustafa Husni, bilden.44 Man könnte dem noch viertens die auf dem Land und in den traditionellen urbanen Milieus verbreiteten Sufi-Orden mit ihren mehr als 10 Mio. Mitgliedern sowie fünftens die in der Stammesgesellschaft Oberägyptens verankerte militante Islamische Gruppe (al-Jamaʿa al-Islamiyya) hinzurechnen, die in den 1990er Jahren den bewaffneten Kampf gegen die Zentralregierung führte. Im Zentrum des islamischen Feldes in Ägypten steht jedoch die Azhar, die sowohl Moschee wie auch Bildungsanstalt ist. Die Azhar erstellt islamische Rechts41 Das gilt für Muslime und Christen, die nach unterschiedlichen Angaben zwischen 5 und 15 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Wir werden uns an dieser Stelle auf das »islamische Feld« beschränken. 42 URL: gallup.com/poll/155324/arab-women-men-eye-eye-religion-role-law.aspx [20.10.2016]. 43 Dazu zählen auch islamische Wohlfahrtsorganisationen, wie die 1912 gegründete konservative Jamʿiat al-Shariʿa, die größte Wohlfahrtsorganisation Ägyptens. Neben religiösen Aktivitäten leistet sie Sozialarbeit und hat Einfluss auf das Weltbild großer Segmente subalterner Schichten. Sie enthält sich jedoch politischer Stellungnahmen. 44 Vgl. Sasnal 2015, S. 4. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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gutachten und unterhält sog. Fatwa-Komitees im ganzen Land, in denen jeder Muslim auch in Alltagsfragen religiöse Rechtleitung einholen kann. Der Azhar angegliedert ist die größte Universität Ägyptens mit 300.000 Studenten sowie ein über ganz Ägypten verteiltes Netz von Schulen, die von 2 Mio. Schülern – in der Regel aus unterprivilegierten Schichten – besucht werden. Die Institution der Azhar ist eng mit dem politischen Machtapparat verflochten. Sie spielt eine wichtige Rolle als Transmissionsriemen staatlicher Politik, bei der religiösen Legitimierung umstrittener Regierungsentscheidungen und außenpolitisch zur Stärkung der Position Ägyptens innerhalb der islamischen Welt.45 »Egypt has a very substantial bureaucratic apparatus intertwining religion and state. Nobody in Egypt is arguing for a separation of religion and state; the dispute is over the terms and ways in which they will interact. All within al-Azhar want it to become more authoritative, respected, and autonomous, but there are sharp differences on how to accomplish that and how much it should control.«46

Die Politik der »Verstaatlichung des religiösen Feldes« Die Grundstruktur des Verhältnisses zwischen religiösen und politischen Institutionen wurde, wie in Tunesien unter Burqiba, durch das post-koloniale Regime unter Jamal ʿAbd al-Nasir (Gamal Abdel Nasser) gelegt. Mit der »Verstaatlichung« der Azhar wurde das religiöse Feld in die patrimonialen Staatstrukturen integriert und verlor seine Autonomie. Akteure, die sich der Kooption verweigerten – allen voran die Muslimbruderschaft – wurden verboten.47 Bereits 1952 wurden die Ländereien der religiösen Stiftungen (awqaf), aus denen sich die Azhar und die ihr angeschlossenen Moscheen finanziert hatten, im Rahmen der Agrarreform verstaatlicht. 1955 wurden die Shariʿa-Gerichte abgeschafft und damit ein wichtiger von der Azhar kontrollierter Bereich aus dem religiösen Feld ausgegliedert. Kern der Verstaatlichung der Azhar ist das bis heute gültige Gesetz 103 aus dem Jahre 1961. Durch dieses Gesetz wurde das autonome Amt der Hohen Rechtsgelehrten (Hi ͗at Kibar al-ʿUlama) aufgelöst und durch die Islamische Forschungsakademie (Majmaʿ al-Buhuth al-Islamiyya) ersetzt, deren Mitglieder vom Staatspräsidenten ernannt werden. Der vom Präsidenten ernannte Shaikh al-Azhar erhielt Ministerrang, was einerseits eine symbolische Aufwertung bedeutete, ihn 45 So legitimierte die Azhar das umstrittene Friedensabkommen mit Israel oder die Beteiligung ägyptischer Truppen am 2. Golfkrieg 1990/91. 2005 erklärten Prediger ägyptische Reformkräfte zu Ungläubigen. Zwei Jahre später forderte Azhar-Shaikh Tantawi in einem Rechtsgutachten das Auspeitschen regierungskritischer Journalisten. Vgl. Almasri al-Yawm vom 10. Oktober 2007 und URL: alarabiya.net/articles/2007/10/14/40 344.html [30.09.2016]. 46 Brown 2011 a, S. 1. 47 Der Konflikt zwischen al-Nasir und der Muslimbruderschaft wurde immer als Konflikt zwischen einem säkularen Regime und einer religiösen Opposition wahrgenommen. Jedoch wurden viele der religiösen Führer der Muslimbruderschaft in das Regime integriert und bekleideten hohe Ämter, während v.a. die Laien der Muslimbruderschaft, die die Rückkehr zu verfassungsmäßigen Strukturen forderten, verfolgt wurden.

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aber andererseits weisungsabhängig vom Ministerpräsidenten und vom Staatspräsidenten machte.48 Die Universität der Azhar wurde um säkulare Fakultäten, wie Medizin, Fremdsprachen, Jura und Ingenieurswissenschaften, ergänzt und der Dienstaufsicht durch das Bildungsministerium unterstellt, die verbliebenen Stiftungen wurden dem Ministerium für religiöse Stiftungen untergeordnet. Dadurch wurde die finanzielle Unabhängigkeit der Azhar aufgehoben, ihre Gelehrten und Imame werden seitdem wie Angestellte anderer Ministerien vom Staat finanziert. Paradoxerweise wurde durch das Gesetz 103 einerseits die Funktion der Azhar ausgeweitet und ihre gesellschaftliche Rolle gestärkt. »Die Azhar soll die größte und älteste islamische Universität im Orient und Okzident bleiben«, eine »Zitadelle der Religion und der arabischen Kultur«, heißt es in dem Gesetzestext.49 Andererseits wurde jedoch mit der Reform das religiöse Feld als Unterfeld in das Feld der Staatsbürokratie integriert und seine Grenzen und die internen Spielregeln extern durch das Feld der Macht definiert. Die Azhar mit den angegliederten Institutionen ist jedoch auch ein sozialer Körper, der mit seinem Umfeld interagiert und auf den andere Akteure des religiösen Feldes versuchen, Einfluss zu gewinnen. Deswegen wurden durch das al-Nasir-Regime Parallelinstitutionen geschaffen, die die Azhar kontrollieren und für die Einhaltung der durch das Regime gesetzten Regeln innerhalb des religiösen Feldes sorgen sollen. So wurde das Fatwa-Amt in das Justizministerium integriert, die Kontrolle der Moscheen dem Religionsministerium übergeben und mit der Einrichtung eines Obersten Rates für Islamische Angelegenheiten (al-Majlis al-Aʿla lil-Shu ͗un al-Islamiyya), der ebenfalls dem Religionsministerium unterstellt ist, eine Parallelinstitution zur Islamischen Forschungsakademie geschaffen. Burqibas Reform der Zituna und die Azhar-Reform mögen oberflächlich betrachtet Parallelen aufweisen; ihr Ziel und ihre Funktion sind jedoch völlig konträr zueinander. Während Burqiba säkulare, religionsfreie Räume schaffen wollte, war das nasseristische Ägypten nie säkular, auch wenn dies von einigen Wissenschaftlern postuliert wird.50 Die Konstruktion der Einheit von Religion und Gesellschaft ist bis heute zentrales Moment des ägyptischen Herrschaftsdiskurses. So heißt es in der Präambel des Gesetzes 103: »Der Islam […] macht keinen Unterschied zwischen der Wissenschaft von der Religion (din) und den Wissenschaften von dieser Welt (dunya). Der Islam ist eine soziale Religion (din ijtimaʿi). Der Islam verpflichtet jeden Muslimen, sich allem zu bedienen, was er in der Religion und in der Welt vorfindet. Jeder Muslim ist zugleich ein Religionsgelehrter und ein Mann des Diesseits.«51

48 Bis dahin war er vom Amt der Hohen Rechtsgelehrten gewählt worden. Dem AzharShaikh wurde außerdem ein Minister für Azhar-Angelegenheiten vorgeschaltet. Der erste Azhar-Minister war Husayn Shafiʿi, eines der führenden Mitglieder der Freien Offiziere. Unter Sadat wurde das Azhar-Ministerium mit dem Ministerium für religiöse Stiftungen zusammengelegt. 49 Zitiert nach Zeghlal 1996, S. 123. 50 Vgl. bspw. Harris 1964, S. 138; McDermontt 1988, S. 182; Samuel/Philpott 2011, S. 45ff. 51 Zitiert nach Zeghlal 1996, S. 122. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Die Bedeutung des islamischen Feldes als Säule der Machtstrategie nahm unter Sadat und Mubarak noch zu. Sadat benutzte den Islam, um eine neue Herrschaftskoalition zu schmieden und nasseristische Machtzentren zu isolieren. Unter seiner Herrschaft wurde die Shariʿa in Artikel 2 der ägyptischen Verfassung als Hauptquelle der Gesetzgebung festgeschrieben. Dies diente der Verbreiterung seiner Unterstützerbasis und gab dem neuen Machtblock juristische Machtmittel gegen oppositionelle Machtzentren an die Hand.52 Die Staatskontrolle der Azhar wurde beibehalten, aber Sadat lockerte die Grenzen des religiösen Feldes für autonome religiöse Akteure: Er entließ die Muslimbrüder aus dem Gefängnis, erlaubte den Exilierten die Rückkehr nach Ägypten und unterstützte die Gründung islamischer Studentengruppen an den Universitäten, aus denen später die radikale Islamische Gruppe (al-Jamaʿa al-Islamiyya) und salafistische Bewegungen hervorgehen sollten. Innerhalb des religiösen Feldes entstanden neue Räume für Bewegungen des politischen Islam, deren Aktionsradius sich nicht auf das religiöse Feld beschränkte und die im politischen Feld zu einer Herausforderung für das Regimes wurden.53 Sie füllten Lücken im Sozialsektor, die durch den Rückzug des Staates aus sozialen Dienstleistungen entstanden waren und begannen, mit dem Regime um Einfluss innerhalb der Azhar und der Moscheen zu konkurrieren, deren Anzahl durch den Bau Zehntausender von Privatmoscheen rapide angestiegen war. Mittels des sozialen Kapitals, das sie dabei akkumulierten, konnten sie ihre Klientel erheblich ausweiten. In den Augen vieler Gläubigen waren die islamistischen Bewegungen oft glaubwürdiger als die Azhar, die als verlängerter Arm des Regimes wahrgenommen wurde. Um die Verbindungen zu ihrer sozialen Basis zu kappen, versuchte das Mubarak-Regime die Grenzen des religiösen Feldes erneut einzuengen und strikte Spielregeln zu implementieren. Privatmoscheen wurden der Kontrolle des Religionsministeriums unterstellt. Viele der sozialen Einrichtungen und Schulen der Muslimbruderschaft wurden geschlossen.54 Damit sollte verhindert werden, dass islamistische Akteure das im religiösen Feld akkumulierte soziale und symbolische Kapital in größere Positionsgewinne im politischen Feld, z.B. bei Wahlen, verwandelten, auf deren Basis sie das Monopol der herrschenden Eliten, bestehend aus Militär, Geschäftsleuten, Polizei und der Spitze der Staatsbürokratie, im Feld der Macht infrage stellen könnten. Die Umbrüche von 2011 und das religiöse Feld Der Sturz des Mubarak-Regimes im Januar 2011 markiert eine Zäsur, in deren Folge auch die Beziehungen zwischen dem religiösen Feld und anderen gesell52 Vgl. Farah 1986, S. 108. 53 Sadat wurde selbst Opfer der Islamischen Gruppe, deren Gründung er begünstigt hatte. 54 Es gab weitere Maßnahmen, die die Staatskontrolle über das religiöse Feld festschrieben: Kollekten mussten vom Sozialministerium genehmigt werden; Alphabetisierungskurse in Moscheen benötigten eine Lizenz des Bildungsministeriums; Moscheen wurden durch Sicherheitsorgane überwacht.

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schaftlichen Feldern sowie die Spielregeln innerhalb des religiösen Feldes neu verhandelt wurden: Erstens entstand als Ergebnis des Wegfalls der strikten Grenze zwischen religiösem und politischem Feld eine äußerst heterogene und dynamische politische Landschaft von islamistischen Parteien. Dabei kam es zweitens zu wachsenden Disharmonien zwischen dem Feld der Religion und dem Feld der Politik, da sich viele neue politische Akteure parallel im politischen und religiösen Feld bewegten, wo sie jeweils anderen Bewegungsgesetzen unterlagen und in andere Machthierarchien eingebunden waren. Und drittens konnte sich die Azhar von der staatlichen Bevormundung befreien, um selber als Akteur in Erscheinung zu treten. In der kurzen Phase zwischen 2011 und 2013 entstanden mehr als ein Dutzend neuer islamistischer Parteien. Die Muslimbruderschaft, die unter Mubarak und Sadat zwar verboten aber geduldet war, hatte schon vor 2011 ein Zwitterdasein geführt und sich neben ihren missionarischen (daʿwa)-Aktivitäten im politischen und sozialen Feld betätigt und mit Erfolg an Parlamentswahlen beteiligt. 2011 wurde sie legalisiert. Von der Muslimbruderschaft spalteten sich mehrere kleinere Gruppen ab, die mehrheitlich junge, urbane Mittelschichten repräsentierten, die gegen die Enge der strikten Hierarchie innerhalb der Muslimbruderschaft und das Prinzip des »Hörens und Gehorchens« (samʿa wa-taʿa) revoltierten und die die reformistischen Übergangstaktiken der Führung der Muslimbrüder zugunsten einer konsequenten revolutionären Demontage alter Staatstrukturen ablehnten. Sie gründeten liberale, postislamistische Parteien, die sich auf eine islamische Werteordnung stützten und bei den Parlamentswahlen 2011 auf einer gemeinsamen Liste mit säkularen, revolutionären Kräften kandidierten. Weitere islamistische Parteien entstanden durch den Eintritt bislang unpolitischer religiöser Akteure in das politische Feld. Das gilt gleichermaßen für salafistische und Sufi-Milieus. Eine letzte Gruppe islamistischer Parteien entstand durch die Integration militanter Gruppen, wie den Islamischen Jihad und der Islamischen Gruppe, die Ende der 1990er Jahre der Gewalt abgeschworen hatten, in den politischen Transitionsprozess. Die Bedeutung des Islamismus wurde in den ersten freien Parlamentswahlen 2011/2012 deutlich, in denen islamistische Parteien fast 70 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten.55 Im Juni 2012 wurde der Muslimbruder Muhammad Mursi zum Staatspräsidenten gewählt. Die Gründe für die Wahlentscheidung hatten jedoch höchstens indirekt etwas mit Religion zu tun. Die Wähler trauten den Islamisten eher als den säkularen Parteien aufgrund ihres religiösen Ethos zu, für distributive Gerechtigkeit in Ägypten zu sorgen.56 Sie bewerteten damit Akteure des religiösen Feldes mit Maßstäben, die der Logik anderer Felder, wie dem der Wirtschaft oder dem der Politik, entstammten. Das ist auch der Grund dafür, 55 Die von der Muslimbruderschaft geführte Demokratische Allianz erhielt 37,5 Prozent, der salafistische Islamische Block 27,8 Prozent und die liberal-islamistische Wasat-Partei 3,7 Prozent der Stimmen; URL: almasryalyoum.com/news/details/146347 [30.09.2016]. 56 Vgl. Masoud 2014, S. 142ff. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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dass sie sich relativ schnell wieder von der Muslimbruderschaft abwandten, nachdem ihre Erwartungen nicht erfüllt wurden. Einige der islamistischen Akteure versuchten, islamische und politische Handlungslogiken durch die Gründung politischer Parteien zu entzerren und ihre Integration in das politische Feld zu erleichtern. So gründete die Muslimbruderschaft die Freedom and Justice Party (FJP) oder die Islamische Gruppe die Building and Development Party (BDP). Dabei wurde allerdings deutlich, dass ein gemeinsames Ethos im religiösen Feld sich nicht notwendigerweise in eine gemeinsame Wirtschaftsprogrammatik oder eine gemeinsame politische Strategie übersetzen lässt. Hier liegt einer der Gründe für mehrere Abspaltungen aus der Muslimbruderschaft sowie das heterogene salafistische Parteienspektrum. Oft wurde diese Trennung nur halbherzig vollzogen, wie an den Interventionen des Maktab al-Irshad, des Führungsgremiums der Muslimbruderschaft, in die Amtsgeschäfte der MursiPräsidentschaft oder an den offenen Differenzen zwischen Vertretern der FJP und der Muslimbruderschaft in der Verfassungsgebenden Versammlung deutlich wurde.57 Besonders folgenreich war die Vermischung religiöser und politischer Feld-Logiken in den Debatten um das Verfassungsreferendum im Frühjahr 2011, bei dem über eine Roadmap für den Transitionsprozess abgestimmt wurden. Salafisten hatten mit der Begründung die Shariʿa verteidigen zu wollen, für ein »Ja« geworben, obwohl es bei dem Referendum überhaupt nicht um die Beibehaltung oder Erweiterung der Shariʿa-Bezüge in der Verfassung ging. Durch diese Kampagne wurde die Debatte über eine politische Übergangsstrategie in eine Kontroverse über die Islamisierung des politischen Systems überführt, ideologisch aufgeladen und in destruktiver Weise politisiert und so der Boden für die Polarisierung bereitet, die schließlich zur gewaltsamen Absetzung Präsident Mursis durch das Militär führte.58 Eine neue Rolle für die Azhar? Auch die Azhar musste nach 2011 nach einer neuen Rolle suchen, verdankte sie doch ihre hegemoniale Rolle im religiösen Feld in den letzten 50 Jahren der Einbindung in die Strukturen des Feldes der Macht, während gleichzeitig ihr symbolisches Kapital durch diese Anbindung an den autoritären Staat gelitten hatte. Die Strategie der Azhar-Führung bestand deswegen darin, die Azhar als unabhängige nationale moralische Instanz, die einen gemäßigten Islam des gesellschaftlichen Ausgleiches vertritt, zu rehabilitieren. In einer Anfang 2012 veröffentlichten Charta bekannte sie sich zu Meinungs- und Religionsfreiheit, zu Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und der künstlerischen Kreativität. Diese Azhar-Charta, die gemeinsam von Azhariten und liberalen Intellektuellen verfasst worden war, 57 So präferierten die Vertreter der FJD ein parlamentarisches System und die Abschaffung der zweiten Parlamentskammer, des Shura-Rates, während die Vertreter der Muslimbrüder für eine Mischform aus parlamentarischem und Präsidialsystem sowie die Beibehaltung des Shura-Rates eintraten. 58 Zu den Details der Debatte vgl. Lübben 2013 b, S. 298ff.

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entsprang nicht unbedingt einer liberalen Geisteshaltung der Azhar, sondern war Teil eines politischen Aushandlungsprozess zwischen der liberalen Elite und den Rechtsgelehrten.59 Während die liberale Elite angesichts des Erstarkens salafistischer Bewegungen und eines patriarchalischen Habitus der Muslimbrüder in der Azhar einen Verbündeten gegen konservative islamische Kräfte sah, versuchte die Azhar, durch eine vermittelnde Rolle in post-revolutionären Konflikten und indem sie sich die Forderungen der Revolution nach Demokratisierung und Liberalisierung zu eigen machte, ihr gesellschaftliches Prestige als führende islamische Autorität im religiösen Feld zurückzugewinnen.60 In der Novelle des Azhar-Gesetzes von 2012, das die Unabhängigkeit der Institution betonte, wurde das Amt der Hohen Rechtsgelehrten (Hi ͗at Kibar al-ʿUlamaʾ) als Selbstverwaltungsorgan wieder eingesetzt, das künftig auch den Shaikh al-Azhar und den Mufti wählen soll. Aber die Azhar wie auch das Religionsministerium sind nicht nur Akteur, sondern auch ein innerhalb des religiösen Feldes umkämpftes Terrain. So versuchten Moscheevereine, deren Moscheen in den Jahren vor 2011 durch das Religionsministerium beschlagnahmt worden waren, diese – zuweilen auch handgreiflich – wieder in Besitz zu nehmen und die Imame des Religionsministeriums durch ihre eigenen Prediger zu ersetzen. Auch innerhalb der Azhar wurden Forderungen nach Reformen laut. Viele junge Azhariten hatten sich im Januar 2011 an den Demonstrationen beteiligt. Nach dem Sturz des Mubarak-Regimes wollten sie die offiziellen religiösen Institutionen auch von innen revolutionieren. Sie forderten die Unabhängigkeit der Moscheen von staatlichen Eingriffen, den Rücktritt korrupter Elemente in der religiösen Bürokratie, den Rückzug der Staatsicherheitsorgane aus religiösen Angelegenheiten sowie bessere Entlohnung und eine gewerkschaftliche Interessenvertretung für Imame. Gleichzeitig verteidigten sie mit der Forderung nach Bewahrung der islamischen Identität des Landes und der Shariʿa als Quelle der Gesetzgebung und einer Shariʿa-konformen Verwendung des vom Religionsministerium verwalteten Stiftungsvermögens das symbolische religiöse Kapital der Azhar.61 Anders als in Tunesien unterstützen alle politischen Kräfte Ägyptens, einschließlich der liberalen Parteien, eine aktive und unabhängige Rolle der Azhar sowie Shariʿa-Referenzen in der Verfassung. Umstritten war jedoch, was dies genau impliziere. Während Salafisten in der Azhar einen Motor der Islamisierung des Landes sahen, repräsentierte sie für die Muslimbrüder ein Instrument zur moralischen Erneuerung des Landes und für Liberale sowie Sufis einen Schutzwall gegen eine Salafisierung des Landes. Diese unterschiedlichen Visionen über die Strukturierung und Funktion des religiösen Feldes wurden in den Debatten über die Verfassung von 2012 deutlich, in denen Salafisten versuchten, ihre eigene enge Shariʿa-

59 Vgl. Brown 2011, S. 12. 60 Vgl. ebd., S. 12 f. 61 Dies waren die Forderungen vor dem Religionsministerium demonstrierender Imame am 1. März 2011 (eigene Beobachtung). Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Auslegung durchzusetzen.62 Der schließlich ausgehandelte Kompromiss räumte der Azhar das Monopol über die Definition der Shariʿa ein. Bei jeder Gesetzesnovelle sollte die Meinung der Azhar eingeholt werden.63 Dies kam einer Aufwertung der Azhar gleich, die letztlich symbolisch blieb. Bei der ersten Probe, der Debatte um das Gesetz über islamische Staatsleihen (sukuk), über die Präsident Mursi hoffte, dringend benötigtes Kapital im Umfang von bis zu 10 Mrd. $ anzuziehen, wurde das Veto der Azhar durch Abgeordnete der Muslimbrüder übergangen. Die Verfassung besage, dass man die Azhar-Meinung anzuhören habe, sie sei jedoch nicht bindend, lautete die Begründung.64 Dies zeigt, dass für die FJP und die Muslimbrüder politische Handlungslogiken und ökonomische Erwägungen gegenüber religiösen Dogmen in dem Moment überwogen, wo es um die Verteidigung neu errungener Positionen im Feld der Macht ging. Für die Azhar bedeutete dieser Affront die Entwertung ihres symbolischen Kapitals durch einen konkurrierenden religiösen Akteur. Es gab weitere Gründe, warum sich die Azhar von der Muslimbruderschaft entfremdete und sich schließlich hinter Feldmarschall al-Sisi stellte, als dieser Präsident Mursi für abgesetzt erklärte. Viele Azhariten warfen dem von Mursi eingesetzten Religionsminister Talaʿat Afifi vor, im Ministerium erfahrene Kader durch Muslimbrüder ersetzt zu haben. Besonderen Anstoß erregte die Entlassung des populären Predigers Mazhar Shahin, nachdem dieser Mursi Inkompetenz vorgeworfen hatte.65 Die Azhar befürchtete, dass die Muslimbrüder einerseits ihre neue Machtposition im politischen Feld nutzen würden, um ihre Rolle im religiösen Feld zu stärken und damit das faktische Interpretationsmonopol der Azhar zu unterlaufen, und dass sie andererseits ihre Position im religiösen Feld für Positionsgewinne im Feld der Macht auf Kosten der traditionellen Eliten einsetzten könnten.66 Die Unterordnung des religiösen Feldes unter den autoritären Staat nach dem Putsch von 2013 Mit der gewaltsamen Absetzung Präsident Mursis durch den General und späteren Staatspräsidenten ʿAbd al-Fattah al-Sisi am 3. Juli 2013 wurde die Hegemonie des Militärs innerhalb des Feldes der Macht wiederhergestellt. Schon unter Sa62 Die Forderung der Salafisten, die Shariʿa als einzige Quelle der Gesetzgebung in der Verfassung festzuschreiben, wurde sowohl von liberalen wie auch von Vertretern der Muslimbruderschaft abgelehnt. 63 Siehe Artikel 4 und Artikel 219 der Verfassung von 2012. 64 So begründete der Fraktionsvorsitzende der FJD im Shura-Rat, ʿIsam al-ʿIryan, die Annahme des Gesetzes trotz der Einwände durch die Azhar. 65 URL: english.ahram.org.eg/NewsContent/1/0/69064/Egypt/0/Suspension-of--Egypts-Ta hrir-imam-spawns-new-preac.aspx [30.09.2016]. 66 Der Muslimbruderschaft war es trotz der gewonnenen Präsidentschaftswahlen nie gelungen, eine hegemoniale Position im Feld der Macht zu erringen. Mursis Maßnahmen wurden systematisch von Geschäftseliten und Elementen der Staatsklassen (Polizei, Richter, Militär, Staatsbürokratie) blockiert.

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dat und Mubarak war das Militär innerhalb des Feldes der Macht marginalisiert worden. Nach der Wahl Mursis musste es befürchten, dass die Muslimbrüder mittelfristig versuchen würden, die Armee und ihr Wirtschaftskonglomerat ziviler Kontrolle zu unterstellen, wodurch die Macht des Militärs weiter erodieren würde.67 Mit der Rekonfiguration des Feldes der Macht entlang nasseristischer Vorbilder wurde auch die innere Struktur des religiösen Feldes sowie seine Beziehung zu anderen gesellschaftlichen Feldern entlang den Grundlinien nasseristischer Religionspolitik restauriert – jedoch mit einem Unterschied: War zwar der Islam integraler Teil nasseristischer Herrschaftsideologie, agierte al-Nasir selber jedoch als arabischer Nationalist außerhalb des religiösen Feldes. Präsident al-Sisi hingegen hat die Verteidigung der Religion zur Staatsraison erklärt. Er rechtfertigte den Putsch mit dem Argument, er habe Ägypten und den Islam vor der Muslimbruderschaft retten müssen.68 Repräsentanten des religiösen Establishments und der staatlichen Medien repräsentierten al-Sisi als neuen Propheten69 und verliehen ihm damit religiöse Legitimität, die ihm den Eintritt in das religiöse Feld erlaubte, in dem er seitdem die Rolle eines mit religiöser Richtlinienkompetenz ausgestatteten informellen Führers ausübt, der sich nicht auf Regeln, sondern auf seinen Nimbus und sein Charisma stützt. In diesem Prozess der Rekonfiguration des religiösen Feldes wurden alle unabhängigen Akteure des religiösen Felds ausgeschaltet. Die Azhar wurde über das Religionsministerium dem Feld der Macht untergeordnet. Am Vorabend des Prophetengeburtstages am 1. Januar 2015 rief Präsident al-Sisi in der Azhar zu einer »religiösen Revolution« auf.70 Die Ägypter sollten ihr Land auf der Basis des Koran und der Sunna aufbauen.71 Durch die Reformulierung des religiösen Diskurses wurden der nomos, die Spielregeln, die Einsätze, das Ziel und die Grenzen des religiösen Feldes neu definiert. Die Muslimbruderschaft wurde verboten und zur terroristischen Organisation erklärt, Protestaktionen wurden blutig niedergeschlagen und zehntausende Mit-

67 Vgl. Lübben 2016 b, S. 141. 68 Vgl. Anani 2014. 69 So behauptet der ehemalige Mufti der Republik, Ali Jumaʿ, den Propheten im Traum gesehen zu haben. Dieser hätte die Gläubigen aufgerufen, ʿAbd al-Fattah al-Sisi zu unterstützen; URL: youtube.com/watch?v=2I8UFK0YW0 o [15.10.2016]. Einen Überblick über die Aussagen von religiösen Persönlichkeiten, die al-Sisi mit dem Propheten gleichsetzen, findet sich unter URL: alaraby.co.uk/medianews/2014/11/22/ [10.12.2016]. 70 URL: youtube.com/watch?v=dmeA0p7CWQE [15.10.2016]. Er wiederholte den Aufruf am 15. Juli 2015 während des Ramadan; URL: youtube.com/watch?v=HfKXPLfrA Iw [15.10.2016]. 71 Ebd. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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glieder verhaftet oder exiliert.72 Aber nicht nur die Muslimbruderschaft wurde aus dem religiösen Feld ausgeschlossen. Auch potentiellen religiösen Opponenten soll die Legitimitätsbasis entzogen werden. Die größte salafistische Organisation, die Hizb al-Nur, die den Putsch in der Hoffnung unterstützte, dass das Regime in ihr einen Partner bei der Kontrolle von Moscheen und islamischen Bildungseinrichtungen sehen würde und sie das durch das Verbot der Muslimbruderschaft entstandene Vakuum ausfüllen könnte, wird seit 2013 immer stärker in ihren Spielräumen eingegrenzt. In dem 50-köpfigen Komitee, das die Verfassung überarbeiten sollte, war die Hizb al-Nur nur noch mit einem Repräsentanten vertreten.73 In dem unter der Militärherrschaft gewählten Parlament stellt sie bloße 3 Prozent der Abgeordneten. Nach der modifizierten Verfassung von 2014 sind Parteien auf religiöser Grundlage verboten. Damit droht auch der Hizb al-Nur ein Verbot, sollte sie sich nicht regimekonform verhalten. Vielen ihrer Prediger wurde inzwischen die Lizenz entzogen. Obwohl der Azhar in der Verfassung von 2012 eine weit größere Rolle zugesprochen worden war als in der 2014 unter al-Sisi verabschiedeten Verfassung,74 hat sich die Azhar-Führung dem Militärregime unterworfen. Zwischen den beiden Zielen der Azhar – eine größere Autonomie der Institution und die Hegemonie über den religiösen Diskurs – hat sie sich letztlich für eine durch den politischen Machtapparat garantierte Hegemonie im religiösen Feld entschieden. Dafür wurde ihr von Präsident al-Sisi die federführende Rolle bei der Neuformulierung des religiösen Diskurses übertragen. Auch wenn al-Sisi wiederholt gefordert hat, dass der islamische Diskurs mit dem Zeitgeist kompatibel sein müsse, schwebt weder ihm noch der Azhar ein liberales Religionsverständnis vor. Es geht vielmehr darum, über die Formulierung eines homogenisierten religiösen Diskurses die Grenzen des religiösen Feldes zu schließen und sowohl herrschaftskritische Diskurse wie dogmatische Abweichungen auszuschließen und zu kriminalisieren. Dies trifft nicht nur die Muslimbrüder, sondern auch religionskritische Intellektuelle und religiöse Minderheiten, wie sich an den Kampagnen der Azhar gegen Atheisten und Homosexuelle, Schiiten und Bahai sowie die verstärkte Zensur von Büchern unter al-Sisi zeigt.75

72 Bei der gewaltsamen Auflösung des Protestcamps an der Rabiʿa al-ʿAdawiyya-Moschee am 14. August 2013 starben mindestens 700 Muslimbrudersympathisanten. Die Muslimbrüder sprechen von 2.600 Toten. 73 Vgl. Auf 2013. 74 In der Verfassung von 2014 wurden die Artikel 4 und 229 der Verfassung von 2012 gestrichen. Stattdessen betont der Artikel 7, dass die Azhar eine unabhängige Institution sei, deren Aufgabe darin bestehe, den Islam in Ägypten und der Welt zu verbreiten. Die Finanzierung der Azhar erfolge über den Staat. 75 URL: madamasr.com/news/man-sharqiya-sentenced-2-years-prison-propagating-shia-te achings [15.10.2016]; URL: madamasr.com/news/al-azhar-grand-imam-warns-attempt s-spread-shia-islam-egypt [15.10.2016]; URL: madamasr.com/sections/politics/state%E 2%80%99s-moral-authority [15.10.2016].

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Ein zusätzliches Instrument der endogenen Kontrolle des religiösen Feldes durch das Feld der Macht – und auch hier lassen sich Parallelen zur nasseristischen Religionspolitik ziehen – ist das Religionsministerium, das nach dem Putsch vom 3. Juli 2013 aufgewertet wurde. Es soll dafür sorgen, dass sich in den Reihen der Azhar, die trotz ihrer Nähe zum Staat immer verschiedene Strömungen des religiösen Feldes widerspiegelte, keine Opposition gegen das Regime formieren kann.76 Das Religionsministerium ließ seit 2013 27.000 Moscheen schließen und entzog 55.000 Predigern die Lizenz.77 Inzwischen dürfen die Imame nur noch die standardisierten Freitagspredigten des Religionsministeriums halten78 – ein Prozedere, das auch auf die Kritik der Azhar stößt, die darin eine Entwertung ihres religiösen symbolischen Kapitals sieht. Ob dem al-Sisi-Regime die Kontrolle und Gleichschaltung des religiösen Felds mittelfristig gelingen wird, bleibt dennoch dahingestellt, da sich soziale Felder auch virtuell reproduzieren. Das gilt auch für die religiösen Akteure, die mit staatlicher Gewalt aus dem religiösen Feld ausgeschlossen wurden, aber über Twitter, Facebook und andere digitale Medien parallele virtuelle religiöse Felder gebildet haben, die sich jederzeit in der realen sozialen Welt aktivieren lassen.79 Fazit Es wurden viele Vergleiche über die Ähnlichkeiten (soziale Polarisierung, autokratische Herrschaftsstrukturen) und Unterschiede (politische Reife al-Nahdas versus Unreife der Muslimbrüder, Rolle des Militärs) der Transformationsprozesse in Ägypten und Tunesien gezogen. Die unterschiedlichen Feldstrukturen des sozialen Raums wurden dabei jedoch kaum beachtet, obwohl sie nicht unerhebliche Auswirkung auf die Konstituierung und die Aktionslogiken relevanter Akteure haben. Das gilt in Gesellschaften mit einer hohen Nachfrage nach religiösen Dienstleistungen in besonderem Maße für das Verhältnis zwischen religiösem und politischem Feld. Die unterschiedlichen Feldstrukturen sind ein wichtiger Faktor – wenn auch nicht der einzige – für den andersgearteten Verlauf der Transformationsprozesse in Tunesien und Ägypten. Auch wenn es in Tunesien keine völlige Trennung zwischen Religion und Politik gibt, wurde das religiöse Feld dennoch dem politischen Feld untergeordnet und 76 Nach den Massakern auf dem Rabiʿa al-ʿAdawiyya-Platz kam es zu Studentenaufständen an der Azhar-Universität. Außerdem bildete sich ein Netzwerk von »Imamen gegen den Putsch«. 77 Galal 2015. 78 Die Predigten sind auf der Webseite des Ministeriums nachzulesen; URL: ar.awkafonli ne.com/?cat=20 [16.10.2016]. 79 So hat allein die Facebook-Seite der Muslimbrüder 300.000 »likes«, die Facebook-Seite Ikhwan-Online hat über eine Million »likes«; URL: facebook.com/Ikhwan.Official [15.10.2016]. Auch andere oppositionelle islamistische Akteure, wie der Salafist Fathi Mahmud, haben über 120.000 »likes«; URL: facebook.com/MahmoudFathy003/?fref= ts [15.10.2016]. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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die Grenzen des politischen Feldes für religiöse Akteure geschlossen. Dadurch konnte die Einmischung religiöser Akteure in den politischen Prozess weitgehend verhindert werden. Dem musste letztendlich auch al-Nahda Rechnung tragen, die sich – als Partei – aus dem religiösen Feld verabschiedete. Damit war die Voraussetzung für die Neukonstituierung eines politischen Feldes gegeben, das sich in einem nicht widerspruchfreien Übergangsprozess in Form der neuen tunesischen Verfassung Spielregeln und eine Legitimitätsgrundlage gab, die erstens ausschließlich einer politischen Logik folgen und zweitens von allen Akteuren des politischen Feldes anerkannt werden. Mit dem Verfassungsprozess wurden außerdem Spielregeln für das Verhältnis der Felder untereinander festgelegt, denen auch das religiöse Feld unterworfen wurde. Es bleibt jedoch das Problem, dass marginalisierte soziale Milieus in diesen Prozess nicht einbezogen waren, sich ihm verweigern und die Spielregeln nicht anerkennen. Ein Teil dieser Milieus versucht in Form des Salafismus im religiösen Feld soziales Kapital zu akkumulieren, um damit im politischen Feld unter Umgehung der feldinternen Spielregeln ihre Interessen mittels religiöser Legitimität zur Geltung zu bringen. Hier liegt ein Faktor der Instabilität, der nur durch soziale und politische Integration dieser Milieus beseitigt werden kann – unter der Voraussetzung, dass diese den nomos des politischen Feldes anerkennen. In Ägypten stellt sich die Situation sehr viel komplexer dar. Hier ist das religiöse Feld Kampfplatz um symbolisches (Legitimation) und soziales Kapital (Prestige, Masseneinfluss), das die religiösen Akteure im politischen Feld zur Geltung bringen bzw. auf das politische Akteure zurückgreifen. Dadurch wird das religiöse Feld zur Ressource für die Legitimation politischer Handlungen, die die Spielregeln des politischen Feldes, wie rechtstaatliche Verfahrensweisen, untergraben. Dies gilt nicht nur für islamistische Oppositionsbewegungen, sondern auch für die Staatsmacht oder für säkulare Kräfte, die unter Rückgriff auf das Prestige der Azhar den Einfluss konkurrierender islamistischer Parteien zurückdrängen wollen. Die Präsidentschaft al-Sisis ist ein Beispiel dafür, wie über die Schaffung eines homogenen religiösen Legitimitätsdiskurses konkurrierende religiöse Akteure, politische Bewegungen und kulturelle Milieus nicht nur aus dem religiösen Feld, sondern aus dem sozialen Raum ausgeschlossen werden. Aufgrund der unscharfen Abgrenzungen des religiösen zu anderen sozialen Feldern haben die Machtkämpfe um religiöse Deutungshoheit und die Vermischung mit politischen Debatten den Transformationsprozess erheblich gestört. Bourdieus Feldkonzept ist ein Instrument, um sich diese Dynamiken zu erschließen. Bourdieus Feldanalysen basierten auf aufwendigen empirischen Forschungen, in denen er in akribischer Kleinarbeit der inneren Logik des Feldes (illusio), der Positionen der Akteure im Feld – im doppelten Sinne von einerseits der sozialen Position des Akteurs und der Position, die er im Feld bezieht – und den Mechanismen der Reproduktion des Feldes unter der Anwendung vielfältiger qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden auf die Spur ging. Mit unseren Thesen erheben wir nicht den Anspruch, eine solche Analyse zu liefern. Unsere Absicht war es lediglich, am Beispiel der Rekonfiguration des religiösen Feldes in Tunesien und Ägypten einen Denkanstoß dafür zu geben, die Machtkämpfe, die sich aus dem

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Erstarken des Faktors Religion in den arabischen Transformationsprozessen ergeben, aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Was könnte der Gewinn einer solchen Perspektive sein? Die Auseinandersetzungen zwischen den Akteursgruppen in den arabischen Ländern sind in der Regel als Machtkämpfe zwischen unterschiedlichen politischen Fraktionen oder als Kampf sozialer Klassen beschrieben und analysiert worden, die den Logiken des politischen Feldes – nämlich die Optimierung der politischen Macht – oder des ökonomischen Feldes – die Aneignung eines größtmöglichen Anteils des gesellschaftlichen Mehrproduktes – folgen. Diese Logiken wurden auch auf andere Felder übertragen, z.B. wenn Islamisten a priori unterstellt ist, dass sie allein der Machtoder Profitlogik folgen. Wenn sie selber ethische oder religiöse Handlungsmotivationen anführen, wird ihnen Doppelzüngigkeit vorgeworfen. Die Perspektive der Feldanalyse trägt zu einer entideologisierten Betrachtung der ambigen Handlungslogik islamistischer Akteure bei, deren Ursache darin liegt, dass sie parallel in mehreren Feldern agieren, die aufgrund des unterschiedlichen nomos unterschiedlichen Handlungslogiken unterliegen, die oft nicht kongruent zueinander sind. Sie zeigt zweitens, dass diese Handlungslogiken nicht nur den Akteuren immanent, sondern von Strukturierungen der Felder im sozialen Raum determiniert sind und diese zugleich produzieren und reproduzieren. Literatur Anani, Khalil 2014. »Unpacking Sisi’s Religiosity«, in: madamasr, 17. Juni, URL: madamasr.c om/opinion/unpacking-sisis-religiosity [20.10.2015]. Auf, Yussef 2013. »Egypt’s Constitutional Committees«, in: Atlantic Council, 5. September, URL: atlanticcouncil.org/blogs/menasource/egypt-s-constitutional-committees [20.10.2016]. Barlösius, Eva 2011. Pierre Bourdieu. Frankfurt a.M.: Campus. Bauer, Thomas 2011. Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam. Berlin: Verlag der Weltreligionen. Bourdieu, Pierre 2011. Religion. Schriften zur Kultursoziologie 5. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre; Wacquant, Loïc 1996. Reflexive Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brown, Nathan J. 2011. »Post-Revolutionary Al-Azhar«, in: The Carnegie Papers, September, URL: carnegieendowment.org/files/al_azhar.pdf [20.10.2016]. Chouikha, Larbi; Gobe, Eric 2015. Histoire de la Tunisie depuis l’indépendance. Paris: La Découverte. Dermontt, Anthony 1988. Egypt from Nasser to Mubarak. A Flawed Revolution. New York: Routledge. Eccel, Chris A. 1984. Egypt Islam and Social Change: al-Azhar in Conflict and Accommodation. Berlin: Klaus Schwarz Verlag. Faath, Sigrid 2007. »Die Religionspolitik der Republik Tunesien. Kontinuität von Modernisierung und religiöse Reformen«, in: Staatliche Religionspolitik in Nordafrika/Nahost. Ein Instrument für modernisierende Reformen?, hrsg. v. Faath, Sigrid. Hamburg: GIGA Institut für Nahoststudien, S. 215-248. Farah, Nadia Ramsis 1986. Religious Strife in Egypt. Montreux: Gordon and Breach Science Publishers. Galal, Rami 2015. »Egypt Closes 27,000 Places of Worship«, in: al-monitor, 3. März, URL: almonitor.com/pulse/originals/2015/03/egypt-endowments-decision-close-worship-places.ht ml [15.10.2016].

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Zusammenfassung: In den durch die »Arabellion« ausgelösten Transformationsprozessen wurden nicht nur die politischen Ordnungen neu verhandelt, sondern auch die Machtverhältnisse in anderen gesellschaftlichen »Feldern« (Bourdieu) sowie die Hierarchien zwischen ihnen. Das gilt besonders für das »religiöse Feld«, zumal die arabischen Gesellschaften nur partiell säkularisiert wurden und sich politisches und religiöses Feld überschneiden. Welche Auswirkungen unterschiedliche Strukturbeziehungen zwischen politischem und religiösem Feld auf den Transformationsprozess haben, wird vergleichend am ägyptischen und tunesischen Beispiel auf der Basis der Bordieuschen Theorie sozialer Felder diskutiert. Stichworte: Arabellion, Bourdieu, religiöses Feld, Islamismus, Tunesien, al-Nahda, Zituna, Salafismus, Ägypten, Abd al-Nasir, Muslimbrüder, Burqiba, Mursi, Zituna, al-Azhar, al-Sisi.

The Notion of the Religious Field at Bourdieu and the Reorganization of the Relation between the Islamic and the Political Fields in Tunisia and in Egypt in the Context of the Arabellion Summary: Not only the political order has been negotiated in the transformation process that was initiated by the so-called «Arabellion”, but also the power relations within other «social fields” (Bourdieu) and the hierarchical relation between them. That is particularly the case for the «religious field« as Arab societies have been only partially secularized so that political and religious fields partly overlap. Taking the example of Egypt and Tunisia the article discusses the effects of different structural relationship between political and religious field on the transformation processes. Keywords: Arabellion, Bourdieu, religious field, islamism, Tunisia, Burqiba, al-Nahda, Zituna, salafism, Egypt, Abd al-Nasir, Muslim Brotherhood, Mursi, al-Azhar, al-Sisi

Autorin Ivesa Lübben Universität Marburg Centrum für Nah- und Mitteloststudien (CNMS) Deutschhausstraße 12 DE-35032 Marburg [email protected]

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V. Medien und Öffentlichkeit

Carola Richter

The revolution still needs to be televised Erklärungsansätze zur Rolle der Medien in den Arabellionen Als die ägyptische Armeeführung am 11. Februar 2011 die Absetzung Husni Mubaraks bekanntgab, wurde dieser Diktatorensturz als »Facebook-Revolution« gefeiert. Euphorisch dankte Wa’il Ghunim (Wael Ghonim) an diesem Abend in einem CNN-Interview Facebook. Ghunim – einer der Administratoren der Facebook-Seite »We are all Khaled Said« – galt als Mitinitiator der Proteste in Ägypten. Auf die Frage des Moderators, was nach dem Sturz Mubaraks als nächstes passieren würde, antwortete er: »Ask Facebook! […] If you want to liberate a society, just give them the internet.«1 Noch zwei Jahre später nahm Facebook-Gründer Mark Zuckerberg dieses Argument der politischen Demokratisierung durch soziale Medien implizit auf, um seinen Plan, die ganze Welt mit schnellem Internet zu versorgen, zu rechtfertigen: »Here [in den USA, d.A.] we use things like Facebook to share news and catch up with our friends, but there [im globalen Süden, d.A.] – they’re gonna use it to decide what kind of government they want, get access to healthcare for the first time ever, connect with their families hundreds of miles away that they haven’t seen in decades. Getting access to the internet is a really big deal!«2

Der Abstand zu den Aufständen 2010/11 erlaubt uns nun aber, die unmittelbare Euphorie hinter uns zu lassen und rein technik-induzierte Erklärungen zu hinterfragen. Entsprechend soll in diesem Beitrag Raum gegeben werden für eine multifaktorielle Analyse der Rolle von Medien beim Aufbruch der autoritären Strukturen 2010/11. Es wird argumentiert, dass die jeweils spezifischen mediensystemischen Strukturbedingungen in den drei nordafrikanischen Ländern Tunesien, Ägypten und Libyen auch unterschiedliche Auswirkungen darauf hatten, welchen Beitrag Akteure mit ihrer Medienproduktion und -nutzung für den Anstoß eines Transformationsprozesses leisten konnten. Bei der Verwendung des Akteursbegriffs wird insbesondere auf die Forschung zu sozialen Bewegungen rekurriert, in der die untersuchten Akteure verstanden werden als »soziale Gebilde aus miteinander vernetzten Personen, Gruppen und Organisationen, die mit kollektiven Aktionen Protest ausdrücken, um soziale bzw. politische Verhältnisse zu verändern oder um sich vollziehenden Veränderungen entgegen zu wirken«.3 Es geht in diesem Beitrag also dezidiert um jene Akteure, die proaktiv die Rebellionen mitzutragen versuchten.

1 Siehe das Video CNN: Egyptian activist, Wael Ghonim »Facebook to thank for freedom«; URL: youtube.com/watch?v=JS4-d_Edius [14.06.2016]. 2 Mark Zuckerberg auf CNN, 21. August 2013; URL: youtube.com/watch?v=F8N3wGjiP Yg [14.06.2016]. 3 Rucht/Neidhardt 2001, S. 537. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017, S. 259 – 278

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Der Beitrag beginnt mit einer Sichtung der in den letzten Jahren produzierten Literatur zum Thema und entwirft dann Zug um Zug ein Analysemodell, anhand dessen Dimensionen sich ein umfassenderes Bild zur Rolle von Medien in einer Aufbruchphase zeichnen lässt. Exemplarisch wird dies dann entlang der drei Länder Tunesien, Ägypten und Libyen durchgespielt. Was die Wissenschaft zu sehen meint: »Massive effects« reloaded Beim Versuch, die Rolle von Medien in arabischen Ländern zu analysieren, dominiert seit dem Ende der 1990er Jahre mit dem Siegeszug des Satellitenfernsehens und insbesondere al-Jazira (al-Jazeera) ein Fokus auf die demokratisierende Kraft von Medien. Marc Lynch, der sich in einer Metastudie mit der bis dato produzierten Literatur kritisch auseinandergesetzt hatte, erkennt darin die Rückkehr der Schule der großen Effekte, die an das Modernisierungsparadigma der 1950er Jahre erinnere: »[A]s in the earlier generation of Western media effects research, the absence of serious empirical research and undertheoretized causal mechanisms allow a politically convenient and superficially plausible ,massive effects’ assumption to go largely unchallenged.«4 So hat der Politikwissenschaftler Larry Diamond gar von einer »liberation technology« gesprochen, die er definiert als »any form of information and communication technology (ICT) that can expand political, social, and economic freedom«.5 In einer weiteren Metastudie identifiziert Hanan Badr zudem ein Revival der Öffentlichkeitstheorie in der Literatur zum »Arabischen Frühling«.6 Demnach wird weithin argumentiert, dass die technologische Entwicklung durch Online-Medien in der Lage sei, die vermachtete Öffentlichkeitsstruktur zu erweitern. Politische Akteure könnten sich dadurch leichter in die Formierung der öffentlichen Meinung einbringen und dezentral entstandene Gegenöffentlichkeiten können sich abseits der kontrollierten Massenmedien Gehör verschaffen. Badr fasst das Argument, das insbesondere im Hinblick auf die Rolle sozialer Netzwerke von vielen Autoren gemacht wird, so zusammen: »Social media, therefore, break the monopoly of traditional elites and successfully put neglected topics on the media agenda.«7 Im Gegenzug hat sich gegenüber diesem auf Ermächtigung fokussierenden Diskurs bei einigen Autoren auch ein so genannter dystopischer Strang entwickelt. Evgeny Morozov, als ein prominenter Vertreter dieses Strangs, argumentiert vor allem dahingehend, dass digitale Technologien autoritären Regimen wie in China oder Weißrussland noch bessere Werkzeuge der Kontrolle und Repression böten.8 Nicht zuletzt der NSA PRISM-Skandal hat auch in Europa gezeigt, dass Regierungen und staatliche Institutionen sich modernste Überwachungsmethoden zunutze 4 5 6 7 8

Lynch 2008, S. 18. Diamond 2010, S. 70. Vgl. Badr 2015. Ebd., S. 3. Vgl. Morozov 2011.

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machen. Beispiele aus arabischen Ländern zeigen, dass sich die Regime natürlich auch dort technisch weiterentwickeln. Marc Lynch schlägt in einer neueren Veröffentlichung in die gleiche Kerbe und spricht davon, dass Aktivisten im Zusammenspiel mit Journalisten eine Form von »Tahrir bubble« kreiert hätten, in der sich gegenseitig über die Wichtigkeit von sozialen Medien rückversichert wird, diese Teilöffentlichkeit aber nur ein sehr kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit ist.9 Nicht zuletzt, so lässt sich im dystopischen Strang argumentieren, sorgt auch die Normalisierung jeder Innovation dafür, dass sich nach und nach Hierarchien herausbilden, die häufig die vor der Innovation bestehenden Machtkonstellationen wieder abbilden.10 Wenngleich also die Arabellionen vor allem Forschungsarbeiten inspirierten, die die ermächtigende Rolle von Technologien hervorhoben, lassen sich durchaus zahlreiche relativierende Argumente in der Literatur finden, die auch bei der Analyse der Strukturbedingungen der Rebellions-Länder berücksichtigt werden sollten. Diese umfassen Faktoren wie Verbreitung, Zugänglichkeit und Repression von Medien und insbesondere dem Internet. Vom Mythos des omnipräsenten Internets: Zur Internet-Infrastruktur in der arabischen Welt Wenn wir uns die Internetverbreitung in der arabischen Welt im Jahr 2010 ansehen, so lässt sich der Mythos der »Facebook-Revolutionen« sowieso leicht begraben. Die Internetnutzung hatte zwar tatsächlich in kürzester Zeit einen immensen Sprung gemacht. Hofheinz war noch 2004 davon ausgegangen, dass mittelfristig eine Obergrenze von 15 Prozent Nutzern aus der Bevölkerung im gesamten arabischen Raum zu erwarten sei.11 Aber bereits 2010 waren laut offizieller Statistiken der International Telecommunication Union (ITU) rund 25 Prozent der Bevölkerung in der arabischen Welt online.12 Schaut man sich die einzelnen arabischen Länder an, so gab und gibt es allerdings nach wie vor deutliche Unterschiede: Während im Jahr 2010 im reichen Katar rund 82 Prozent der Bevölkerung Internetzugang hatten, waren es im armen Mauretanien nur 3 Prozent. Deutlich wird aber auch, dass diejenigen Länder, in denen das Internet als Symbol für Modernität und Bildung propagiert worden war, besonders schnell wachsende Nutzerzahlen zu verzeichnen hatten. So hatten die Regime in Ägypten, Marokko und Tunesien trotz ihrer Bedenken gegenüber dem Internet als Hort politischen Aktivismus’ die DSL-Infrastruktur ausgebaut und mit Kampagnen wie »Jedem Haushalt einen Computer« die Zugangsmöglichkeiten für einen Großteil der Bevölkerung enorm erweitert.13 Ein noch stärkeres Wachstum hatte der Mobilfunksektor erfahren. In 9 10 11 12 13

Lynch 2013. Vgl. Anstead/Chadwick 2009. Hofheinz 2004, S. 453. URL: itu.int/ITU-D/ICTEYE/Indicators/Indicators.aspx [14.06.2016]. Vgl. Abdulla 2005.

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der Regel besaß statistisch gesehen bereits 2010 mindestens die Hälfte der arabischen Bevölkerungen ein eigenes Handy. Zeitgleich mit diesem rasanten Ausbau des Internet- und Mobilfunksektors hatten sich die Anwendungsmöglichkeiten beider Medien vervielfältigt. Fungierte das Internet bis Mitte der 2000er Jahre vor allem als ein Multiplikator für spezifische Inhalte von auch offline organisierten Akteuren, wie beispielsweise Parteien oder sozialen Bewegungen, so konnte mit der Einführung von Blogs und sozialen Netzwerkdiensten eine neue Dynamik von Interaktivität und der Vermischung von Nutzung und Produktion aufkommen. Diese entfaltete sich aber in unterschiedlicher Weise in den arabischen Ländern, was einerseits am Status des Ausbaus der Infrastruktur lag (wie lang braucht das Upload eines YouTube-Videos?), andererseits den Grad der Repression der Politik widerspiegelte (ist Facebook zugänglich oder nur über einen Proxy erreichbar?). Zudem ist das Internet ein Pull-Medium, bei dem der Nutzer anders als im Fernsehen aktiv nach spezifischen Inhalten suchen muss. Der Zugang zu bestimmten Gruppen und Inhalten erfolgt häufig über eine bereits bestehende Peer-Group oder bestimmte Interessen. Das Internet ermöglicht also trotz der unüberschaubaren Vielfalt an inhaltlichen Angeboten vor allem die Zuwendung zu Inhalten, die die eigenen Interessen stützen. Dies kann zu einer mehrfach fragmentierten Öffentlichkeit führen, innerhalb derer für verschiedene Anliegen in Kleingruppen mobilisiert wird, deren Wirkung sich aber kaum über diese Gruppen hinaus entfaltet. Entsprechend wichtig scheint es für die Formierung einer Gegenöffentlichkeit zu sein, dass die durch nicht-institutionalisierte Medienproduzenten erstellten Inhalte über diese Kleingruppen hinaus Resonanz erfahren. (Immer noch) Das »Sine qua non« des Aktivismus: Resonanz in den Massenmedien Schon Untersuchungen zur Rolle der Medien während der Revolution in Iran 1979 genauso wie zum Umbruch in Osteuropa am Ende der 1980er Jahre konnten zeigen, dass sich die marginalisierten Akteure sogenannte »kleine Medien« zunutze machten, um sich in den vermachteten Mediensystemen artikulieren zu können.14 Der Sammelbegriff »kleine« oder »alternative« Medien bezeichnet diejenigen Kanäle, die sich weitgehend einer hegemonialen Kontrolle durch den Staat oder Konzerne entziehen.15 Dazu gehörten die von Ayatollah Khomeini besprochenen Audio-Kassetten, die dann in Moscheen zirkulierten, genauso wie die im Untergrund vervielfältigten Samisdat-Zeitungen in der Sowjetunion oder PunkKonzerte in Kirchen in der DDR. Mit diesen kleinen oder alternativen Medien ließen sich partikulare Öffentlichkeiten erreichen, deren Diskurs aber letztlich in diesen exklusiven Gruppen verblieben wäre, hätte er nicht breiter zirkulieren kön14 Vgl. bspw. für Iran Sreberny-Mohammadi/Mohammadi 1994; für Osteuropa Downing 1996. 15 Vgl. Atton 2001.

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nen. Um tatsächlich auf gesellschaftlichen Wandel hinwirken zu können, ist es von essentieller Bedeutung, auch über die im informellen Bereich aktivierten Netzwerke hinaus Botschaften vermitteln zu können. John Downey und Natalie Fenton sprechen davon, »beyond the radical ghetto« der eigenen Community gehen zu müssen.16 Hier kommen die so genannten Massenmedien ins Spiel: Dieter Rucht formuliert, dass ohne den über Massenmedien aufgebauten öffentlichen Druck die Beachtung von Forderungen und Alternativen durch die politischen Machthaber meist unerreichbar bleibt. Denn »selbst wenn staatliche Entscheidungsträger in direkter Konfrontation beeinflusst werden sollen, so kann kaum erhofft werden, dass die Konfrontation als solche Eindruck erzeugt, sondern erst die Resonanz, die die Spiegelung der Konfrontation in den Massenmedien auslöst«.17

Diese Aussage mag in Zeiten euphorischer Diskurse über die Abwanderung von Nutzern aus klassischen Medien ins Internet anachronistisch wirken. Man sollte sich dennoch die Situation von 2010/11 in den arabischen Ländern vor Augen führen: Fernsehen hatte auch damals eine nahezu hundertprozentige Abdeckung – zumal in Form von transnational operierenden Nachrichtensendern wie al-Jazira.18 Zeitungen hatten zwar eine deutlich geringere Reichweite, galten aber als Referenzorgane der Elitenkommunikation. Hinsichtlich ihrer Reichweite waren soziale Netzwerke wie alle Internetplattformen tatsächlich »kleine Medien«. Ohne den Einbezug der Massenmedien in die Strategien von Protestgruppen wäre eine Ansprache breiter Bevölkerungsschichten schwer möglich gewesen. Ein probates Beispiel, um aufzuzeigen, wie wichtig die massenmediale Resonanz von in Internet-Communities erzeugten Inhalten für die Breitenmobilisierung in der arabischen Welt war (und sicherlich noch ist), ist die Bewegung des 6. April in Ägypten.19 Eine Gruppe junger Leute, die auch bei der früheren Protestbewegung Kifaya aktiv war, hatte 2008 eine Facebook-Gruppe gegründet, um die schon länger laufenden Streiks von Textilarbeitern in der Nildelta-Stadt Mahalla al-Kubra zu unterstützen. Sie riefen dazu auf, den für den 6. April geplanten Streiktag der Arbeiter zu unterstützen. Innerhalb von zwei Wochen waren 70.000 von damals nur rund 800.000 ägyptischen Facebook-Nutzern dieser Gruppe beigetreten.20 Die Popularität dieser Gruppe war vor allem deshalb so groß, weil es kaum andere Möglichkeiten der Protestäußerung gab. Erstmals konnte man gemeinschaftlich mit anderen politische Kritik üben, ohne für diese Handlung unmittelbare Repressionen befürchten zu müssen, wie sie beispielsweise für öffentliche Demonstrationen erwartet worden wären. Es war also überaus fraglich, ob die »online« versammelten Unterstützer ihren Protest auch »offline«, also auf der Straße, artiku-

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Downey/Fenton 2003, S. 190; vgl. auch Gamson/Wolfsfeld 1993. Rucht 1994, S. 347. Vgl. Dubai Press Club 2010. Vgl. auch meine Ausführungen in Richter 2010. Vgl. Faris 2008.

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lieren würden. Möglicherweise wäre der 6. April also ein Tag wie jeder andere gewesen, wenn die Aktion lediglich im Internet verblieben wäre. Der Hauptgrund, warum sich das Phänomen damals tatsächlich zu einem öffentlichkeitswirksamen Ereignis entwickeln konnte, lag in der intensiven Berichterstattung, die die privaten ägyptischen Zeitungen und die panarabischen Medien der 6. April-Facebook-Seite widmeten. Allein der Umstand, dass ein neues Internetformat, wie Facebook, so schnell so viele Menschen zusammenbringen konnte, war berichtenswert. Aufgrund der Berichterstattung erfuhren wiederum mehr Menschen von der Gruppe und konnten sich ihr anschließen oder sich zumindest eine Meinung dazu bilden.21 Problematisch war aber die öffentliche Durchsetzungskraft der inhaltlichen Botschaften dieser scheinbar nur virtuell existierenden 6. April-Bewegung. Die scheinbare Ideologiefreiheit und der Graswurzelcharakter brachten viele bis dahin unbeteiligte Individuen sicherlich erst dazu, sich für eine politische Sache stark zu machen. Diese Stärke für die Gewinnung von Unterstützern war aber gleichzeitig auch eine Schwäche der 6. April-Bewegung: Das Phänomen stand vor allem für sich selbst und führte damit dazu, dass die verschiedenen Medien es auch vollkommen unterschiedlich dekodieren und bewerten konnten.22 Effekte waren deutlich, aber nicht eindeutig interpretierbar: Am 6. April 2008 blieben tatsächlich viele Straßen und Büros leer, was von einigen Medien als Ausdruck breiter Unzufriedenheit mit dem Regime interpretiert wurde, von anderen aber eher als Angst der Bürger vor erwarteten gewaltsamen Zusammenstößen. Hier setzten Lernprozesse im Hinblick auf konkrete Medienkompetenzen sowohl bei einem Teil der Journalisten als auch bei den Internetaktivisten ein.23 Die Aktivisten lernten, mit konzertierten Aktionen »nachrichtenwerte« Ereignisse zu schaffen. Die Journalisten wiederum lernten, Kampagnen, die über das Internet verbreitet, oder Sammlungsprozesse, die über das Internet vollzogen wurden, stärker wahrzunehmen und sie als Anlass für Berichterstattung zu nutzen. Für sie ergab sich somit die Möglichkeit, »näher dran zu sein« an dem, was scheinbar einen wichtigen Teil des Publikums bewegte, sowie sich gegenüber der traditionellen Protokoll-Orientierung der staatsnahen Medien abzuheben. Medienliberalisierung als Voraussetzung für Resonanzerzeugung Das Anliegen, Publikumsinteressen zu bedienen, war natürlich nicht für alle Medien in arabischen Ländern die Hauptmotivation ihrer Berichterstattung. Eine wesentliche Voraussetzung für die Ausübung der Resonanzfunktion durch Massenmedien ist aber, dass sich ihre Produzenten selbst als Rechercheure und Bereitsteller von Informationen verstehen – mithin, dass sie eine Mittlerfunktion in der Ge21 Faris 2009. 22 Vgl. Al-Ahram Weekly, 10.-16. April 2008; URL: weekly.ahram.org.eg/2008/892/fr1.h tm [14.06.2016]. 23 Vgl. Richter 2010.

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sellschaft ausüben wollen. Dies ist für autoritär gelenkte Mediensysteme alles andere als selbstverständlich. In einer vergleichenden Studie in verschiedenen arabischen Ländern beschreiben Lawrence Pintak und Jeremy Ginges eindrücklich, das viele Journalisten bestimmte Funktionen ausüben wollen, aber aufgrund der Medienstrukturbedingungen gar nicht können.24 Je nach Land waren die meisten oder gar alle Medien über Jahre hinweg in staatlichem Besitz und galten als Mobilisierungsinstrumente der Regierung und verbreiteten hauptsächlich Protokollnachrichten.25 Strukturelle Liberalisierungen haben aber allmählich diese monolithische Kontrolle aufgebrochen und damit einen ersten Resonanzraum für gesellschaftliche Partikularöffentlichkeiten geschaffen. Auf transnationaler Ebene war insbesondere der Fernsehsender al-Jazira seit 1996 zum Symbol für eine neue Berichterstattungskultur der Massenmedien in der arabischen Welt geworden. Dabei ist der Kanal weniger aus Idealismus für eine freie Berichterstattungskultur, denn aus einer strategischen Entscheidung des Emirs von Katar entstanden, um dem Emirat mehr Gewicht in der Region zu verleihen.26 Die Marktstrategie von al-Jazira sollte im Gegensatz zu den bis dato existierenden Medien eine kritische und tabulose Berichterstattung bieten. Aus diesem Umstand ergab sich ein wechselseitiger Effekt: Aktivisten sprachen den Sender aufgrund seines Rufs gezielt mit Informationen und Videos an, der Sender wiederum suchte gezielt nach Informationen und Akteuren, die er der restriktiven Berichterstattung der arabischen Staatsmedien entgegenstellen konnte.27 Genauso wichtig ist aber auch zu analysieren, ob und inwiefern sich dieser Resonanzraum in den nationalen Mediensystemen manifestieren konnte. Privatisierungen wurden Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre zwar allmählich Alltag in vielen arabischen Ländern, beispielsweise im Zuge der Erfüllung der neoliberalen Anforderungen des IWF im Rahmen so genannter Strukturanpassungsmaßnahmen oder als Strategie der wirtschaftlichen Diversifizierung. Aber sowohl im Wirtschafts- als auch im Mediensektor bedeutete dies häufig einen Ausverkauf von Gemeingütern an jene Eliten, die Thomas Demmelhuber und Stephan Roll als »Kumpelkapitalisten« bezeichnen.28 Im Medienbereich wurden beispielsweise Lizenzen für reichweitenstarke Fernsehsender nur an einflussreiche Wirtschaftsmagnaten vergeben, von denen entsprechend Loyalität erwartet wurde. Holger Albrecht und Oliver Schlumberger haben bereits lange vor den Arabellionen eindrücklich geschildert, dass Strategien wie »elite rotation« innerhalb der Regime, »imitative institution building« und »shift from allocative cooptation to inclusionary cooptation« von den herrschenden Regimen genutzt wurden, um

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Pintak/Ginges 2008; vgl. auch Ramaprasad/Hamdy 2006. Rugh 2004. Vgl. Da Lage 2005. Vgl. Schäfer 2009. Vgl. Demmelhuber/Roll 2007. Der englische Begriff ist »crony business elites«.

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ihre Macht ohne großen Repressionsaufwand zu sichern.29 Und trotzdem: auch wenn sich in der Tat kein kausaler Zusammenhang zwischen Privatisierungen und Demokratisierung ziehen lässt, so lässt sich dennoch zumindest für den Medienbereich zeigen, dass eine gewisse Wettbewerbssituation durch diese Privatisierungen dazu geführt hat, dass sich neue Berichterstattungsmuster herausbilden konnten. Dazu gehörte auch, dass bestimmte – gerade für das Publikum interessante – Themen und Akteure sichtbar gemacht wurden, um sich von der Konkurrenz abzuheben und größere Reichweite zu erlangen. Die (Pseudo-)Privatisierungen im Medienbereich haben also einigen Akteuren die prinzipielle Möglichkeit eröffnet, überhaupt erst einmal eine Plattform zu bekommen, um darüber Resonanz für ihre Themen erzeugen zu können. Die Machthaber haben zwar nach wie vor strukturelle Vorteile, mithilfe derer sie die Medien in ihren Dienst stellen können; die politische Kontrolle über Massenmedien ist aber nicht (mehr) unbegrenzt möglich.30 Zwischenfazit: Infrastruktur, (De-)Liberalisierung und Medienkompetenzen Entlang der bisherigen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass für eine Analyse der Rolle von Medien in den Arabellionen ein komplexes Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren zu beachten ist und somit differenzierte Erkenntnisse erwartet werden müssen. Für jeden Kontext müssen natürlich zunächst unabhängig von den Medien die politischen Konstellationen berücksichtigt werden, die ich hier aber nur andeuten kann. Mein Fokus liegt demnach auf den mediensystemischen Strukturbedingungen, die bestimmte Handlungen von politischen Akteuren erst ermöglichen bzw. sie prägen. Ich habe unter Rückgriff auf die soziale Bewegungsforschung abgeleitet, dass öffentlichkeitswirksame Resonanzerzeugung zu bestimmten gesellschaftlichen Anliegen über die Massenmedien dazu führen kann, dass die herrschenden Regime unter Druck gesetzt werden. Dazu werden neben konkreten Aktionen vor allem kleine Medien genutzt, wobei davon auszugehen ist, dass das Internet dabei eine Hauptrolle spielt. Um aber über die Potentiale von Resonanzerzeugung auf diesem Weg Aussagen machen zu können, müssen wir zunächst verstehen, (1) welche Infrastruktur die digitalen Medien im Kontext der jeweiligen Mediensysteme haben. Dabei gilt es im Hinblick auf die Ermöglichung von Resonanzerzeugung vor allem zu analysieren, welche Rolle und Reichweite das Internet und andere Mediengattungen haben, wie sie kontrolliert werden und wie sie miteinander in Beziehung stehen. Zudem ist es wichtig, (2) die (De-)Liberalisierungsmaßnahmen im Mediensektor zu analysieren, denn nur so erkennen wir die sich ergebenden oder verengenden Freiräume für Akteurshandeln. Welche Effekte haben sie auf Besitzstrukturen und damit Öffnungstendenzen gegenüber neuen Themen sowie auf die Zugangsmöglichkeiten zu Medien? Andererseits müssen diese Möglichkeitsfenster auch von Akteuren entsprechend er29 Albrecht/Schlumberger 2004, S. 378, 382-383. 30 Wolfsfeld 1997, S. 25.

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kannt und genutzt werden können, wie am Beispiel der 6. April-Bewegung gezeigt wurde. Entsprechend ist es relevant, (3) die Medienkompetenzen von Aktivisten (aber auch von Journalisten als ihre Counterparts) im Umgang mit diesen Strukturbedingungen zu untersuchen. Dabei geht es vor allem um auf die jeweils gültige Medienlogik abgestimmten Handlungen, um größtmögliche Resonanz zu erzeugen. Diese drei Dimensionen werden im Folgenden anhand der drei nordafrikanischen Länder Tunesien, Ägypten und Libyen durchgespielt, die als die Kernländer der Arabellionen gesehen werden können. Tunesien: Das Gefühl von Ermächtigung Tunesien war ein Vorreiter beim Ausbau der technischen Infrastruktur. 1991 hatte Tunesien als erstes arabisches Land das Internet eingeführt und unter dem Schlagwort der Modernisierung seine Verbreitung stark vorangetrieben.31 Die Webaffinität breiter Schichten stieg so in kurzer Zeit enorm. Allerdings wurden durch die zentrale Internetagentur ATI lange vor den Umbrüchen Websites und Blogs sowie einzelne Facebook-Foren und Accounts gesperrt. Die Behörde blockierte zudem ganze Domains und wies Service Provider an, die in ihren Augen unliebsamen Inhalte zu löschen.32 »Error 404« für die aufgrund der Blockade nicht auffindbaren Seiten war ein typischer Anblick in Tunesien.33 Der größte Internetanbieter, planet.tn, war zudem in der Hand einer Tochter von Bin ʿAli (Ben Ali). Diese starke politische Vermachtung einer technisch guten Infrastruktur im digitalen Bereich setzte sich auch im Rest der Medienlandschaft fort und wurde durch die einsetzenden Privatisierungsmaßnahmen eigentlich noch zementiert. In Tunesien gab es ab Mitte der 2000er Jahre durchaus eine vielfältigere Medienlandschaft, in der etablierte Organisationen, wie etwa Gewerkschaften, Printmedien herausgeben durften.34 Der »Musterschüler des IWF«35 privatisierte ab 2003 auch im audiovisuellen Bereich, allerdings mit Hilfe einer Behörde, der »complete discretionary power in order to give and take away licences« attestiert wurde.36 In Folge dieser Pseudo-Privatisierung konnten fast ausschließlich Mitglieder des al-Tarabulsi-Clans (Trabelsi-Clan) – der Familie der Frau des Präsidenten Bin ʿAli – unpolitisch ausgerichtete Radio- und Fernsehsender betreiben.37 Neben zwei staatlichen Sendern gab es im tunesischen Fernsehmarkt noch Hannibal TV, das von Bin ʿAlis Schwager kontrolliert wurde, und Nessma TV, das in

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Vgl. Ibahrine 2009. Vgl. Pies 2015. El Difraoui/Abel 2011. Vgl. Ibahrine 2009. Pies 2015, S. 187. Barata 2013, S. 126. Vgl. Haugbølle/Cavatorta 2010.

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Kollaboration mit Berlusconis Mediaset entstanden war.38 Die Medienkontrolle durch den Clan Bin ʿAlis über den massenmedialen Sektor blieb aufgrund dieser nur sehr begrenzten Liberalisierung innerhalb einer »mafia-type family structure«39 also stark. Andererseits war der Zugang zu Satellitensendern aus dem arabischen Raum, aber natürlich auch aus dem »nahen« Frankreich nicht eingeschränkt und fast alle Haushalte hatten auch Zugang zu Satellitenfernsehen. Die Möglichkeit für die Zirkulation von politischen Informationen an eine breitere Bevölkerung war also durchaus gegeben, allerdings musste man dazu »über Bande spielen« und ausländische Fernsehsender nutzen. Da zugleich Internetinhalte vergleichsweise streng überwacht und Internet-Aktivisten auch verhaftet wurden, führte dies dazu, dass mehrheitlich technik-affine Zirkel mit Wissen über Proxy-Server über die Unterhaltungsfunktion des Internets hinausgehen konnten.40 Regimekritisches Medienoutput wurde insbesondere von Aktivisten in der Diaspora eingestellt, die aber Wege fanden, sich in das kontrollierte System »hineinzutunneln«. Zwei unterschiedliche Phänomene dienen dafür als Beispiel: Zum einen waren das Gruppen wie das Hacker-Netzwerk Takriz (»Überdruss«), das vor allem von Frankreich aus mit Cyberattacken die Kontrollmöglichkeiten des Regimes einzuschränken versuchte.41 Dies führte dazu, wenigstens einige Freiräume für Netzaktivisten auch in Tunesien selbst zu schaffen. Zum anderen gab es eine große Anzahl von Blogs und Websites, die zumeist im Ausland betrieben wurden und über die Informationen aus Tunesien wieder nach Tunesien gepostet wurden. Vor allem der Kollektiv-Blog nawaat.org hatte hier eine zentrale Stellung. Nawaat.org kann man als eine Art alternative Nachrichtenagentur beschreiben, die das Netz nach politischen Botschaften aus Tunesien durchsuchte, sammelte und nach Tunesien zurück und ins Ausland verteilte. Es war diese »Kärrnerarbeit« der Diaspora, die dazu führte, dass im geeigneten Augenblick einer politischen Krise Internet- und Resonanzstrukturen bekannt waren und genutzt werden konnten. Immerhin hat dann in einem Land, in dem das Internet streng kontrolliert war, eben diese Aktivisten-Community im In- und Ausland dabei geholfen, den Akt der Selbstverbrennung eines perspektivlosen jungen Mannes so massiv zu verbreiten, dass er zum politischen Symbol wurde. Das Video der Verbrennung von Muhammad al-Buʿazizi (Mohamed Bouazizi) fand absichtsvoll seinen Weg zum Fernsehsender al-Jazira, der es in die Wohnzimmer der Tunesier und der ganzen arabischen Welt zurückspielte. Es ist davon auszugehen, dass diese Resonanz mit dafür sorgte, dass die Proteste nicht lokal begrenzt blieben und andauernder waren als Unruhen in den Jahren zuvor. Die technisch versierten Aktivisten konnten in diesem Kontext dafür sorgen, dass aus dem Hotspot des Protests in Sidi Bouzid herausgeschmuggelte Fotos, Videos oder auch nur Textbotschaften schnell über Blogs und YouTube weiterverbreitet wurden, um 38 39 40 41

Barata 2013, S. 121. Ebd., S. 118. Kallander 2013. El Difraoui/Abel 2011.

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dann wiederum von ausländischen Medien aufgegriffen zu werden.42 Als in diesem Crescendo aus Medienberichterstattung Bin ʿAlis Legitimität durch die massiven Arbeiterproteste ins Wanken kam, hielten breite Schichten von bisher vorsichtigen Internetnutzern sich nicht mehr mit Kritik zurück und artikulierten sich auf Facebook und in Blogs. Der so vermittelte Eindruck einer riesigen kritischen Netzgemeinschaft wurde wiederum über das panarabische Satellitenfernsehen kolportiert und in Zusammenhang mit den bestehenden Protesten gebracht, so dass hier der Eindruck von kollektiver Unzufriedenheit erzeugt wurde. Am Beispiel Tunesiens gab es also erste Eindrücke davon, wie aus dem Zusammenspiel von verschiedenen Medien eine kollektive Befindlichkeit erzeugt und verstärkt wurde, die dann für die Legitimation von Protesten genutzt werden konnte. Allerdings gibt es für Tunesien keine eindeutigen Anzeichen für eine aktivistische Nutzung des Internets zur konkreten Mobilisierung für Proteste – vielmehr waren die Proteste willkommener Anlass für eine konzertierte und gelungene Resonanzerzeugung durch translokale Aktivisten und transnationale Medien. Ägypten: Ideale Allianz von Aktivisten und Journalisten Bereits 1996 wurden in Ägypten private Internet Service Provider zugelassen, die auch unabhängig von der staatlichen ägyptischen Telekom ihre Infrastruktur ausbauen konnten. Zu dieser Zeit war an privatwirtschaftlich betriebene, andere Mediengattungen noch nicht zu denken. Diejenigen, die diesen Wettbewerb vorantrieben, waren eine nicht ganz uneigennützige technokratische Elite: Sie sicherten sich die ersten Lizenzen für die ISPs.43 Einer der Technokraten, Tariq Kamil, wurde unter Mubarak Informationsminister, ein anderer, Ahmad Nazif, gar Premierminister. Auch auf inhaltlicher Ebene stellten Internetmedien lange eine Ausnahme von den übrigen Mediengattungen dar. Das Internet war lange Zeit kaum reguliert und die ägyptische Bloggerszene breitete sich nahezu explosionsartig aus und entwickelte sich zur größten im arabischen Raum.44 Mit dem stetig wachsenden Zugang zum Internet verbreiteten sich auch soziale Netzwerkdienste immer schneller: Gab es 2007 noch 800.000 Facebook-Mitglieder, so waren es 2010 bereits über vier Millionen. Dann erfuhr das ägyptische Mediensystem ab dem Jahr 2001 auch auf anderen Ebenen Liberalisierungen. Damals wurden die ersten mehrheitlich privaten Fernsehsender zugelassen, z.B. Dream TV, das dem Business-Tycoon Ahmad Bahgat unterstand oder al-Mihwar, für das Hasan Ratib verantwortlich zeichnete. 2004 folgten dann private Printmedien. Während die Möglichkeiten für Kritik und freie Meinungsäußerung im Fernsehen weiterhin limitiert blieben, entwickelte sich der Zeitungsmarkt zu einem überaus lebendigen Forum für Meinung und Gegenmei42 Vgl. Kallander 2013; Breuer 2012; Lim 2013. 43 Vgl. Human Rights Watch 2005. 44 Schätzungen gehen von mehreren Zehntausend Blogs aus. Vgl. Isherwood 2008; Radsch 2008. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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nung. Insbesondere al-Masri al-Yawm (al-Masry al-Youm) und al-Dustur erfüllten die Funktionen von quasi freien Medien. Al-Masri al-Yawm wurde 2004 als erste private Tageszeitung seit den 1950er Jahren zugelassen.45 Diese Liberalisierung stand offensichtlich in engem Zusammenhang mit dem US-Einmarsch in Irak 2003, der viele Herrscher in der Region mehr oder weniger subtil unter Druck setzte, um nicht auch Objekt der »Demokratisierungsbemühungen« von George W. Bush zu werden.46 In Ägypten entstand im Pressesektor eine Art polarisiertpluralistische Medienlandschaft, wie Daniel Hallin und Paolo Mancini es auch für den südeuropäischen Raum konzeptualisieren.47 Die Zeitungsjournalisten der neu gegründeten Medien wiederum nutzten das Internet als Ankerpunkte für ihre Berichterstattung. In vielen Systemen mit Medienzensur hat sich ein Mechanismus des »Über-Bande-Spielens« entwickelt – so zitieren bspw. israelische Medien gern aus amerikanischen oder europäischen Medien die Fakten, die ihnen die Militärzensur verbieten würde, wenn sie diese als eigenständige Recherche ausgeben würden.48 In ähnlicher Weise bedienten sich die Printmedien in Ägypten bei Internetquellen oder dem panarabischen Satellitenfernsehen: Was dort geschrieben stand oder gesendet wurde, kolportierte man ja quasi nur. Al-Dustur veröffentlichte eine Zeitlang ganze »Blogrolls« auf seinen Seiten. Die Muslimbrüder, über die in den Medien in staatlichem Besitz nur als die »Verbotene Vereinigung« gesprochen wurde, gaben Interviews für die privaten Zeitungen.49 Diese Allianz zwischen Internetmedien als progressiven Vorreitern und Printmedien als Erfüllungsgehilfen war möglich, weil die Internetinfrastruktur massiv gefördert worden war und gleichzeitig die Privatisierung im restlichen Medienbereich nicht nur eine Pseudo-Liberalisierung war, sondern tatsächlich – insbesondere im Printbereich – Freiräume für eine neue Form der Medienberichterstattung schuf. Der größte organisierte politische Herausforderer des Regimes, die Muslimbruderschaft, hatte sich zudem seit 2004 zu einer digitalen Macht entwickelt, die sich mittels Webseiten und eigener sozialer Dienste vernetzte und immer wieder Resonanz in den neugegründeten Medien Ägyptens sowie dem panarabischen Satellitenfernsehen fand.50 Auch andere politische Oppositionsgruppen wie Kifaya hatten sich bereits über das Internet und internationale Medien vernetzt. Als 2010 um Muhammad al-Baradaʿi (Muhammad El Baradei), den ehemaligen Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, die National Association for Change entstand, war dies bereits eine insbesondere von virtueller Unterstützung getragene

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Black 2008. Vgl. Richter 2013. Vgl. Hallin/Mancini 2004. Vgl. Bareikyte et al. 2014. Vgl. Richter 2011. Vgl. ebd.

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Massenbewegung, die darüber hinaus auch politische Graswurzelarbeit in lokalen Komitees anstrengte.51 Diese bereits vernetzten Akteure mobilisierten ebenfalls ihre Anhänger, als eine ad-hoc gegründete Gruppe namens »Wir sind alle Khaled Said« zum Gedenken an ein Opfer von Polizeifolter zu einem Protesttag am 25. Januar 2011 aufrief. Zwar gingen an diesem Tag, für die jüngere ägyptische Geschichte unglaubliche, zehntausende Protestierende allein in Kairo auf die Straße, dennoch berichteten Augenzeugen wieder von Angst und zögerndem Abwarten bei großen Teilen der Bevölkerung, wie es schon am 6. April 2008 der Fall gewesen war.52 Der Funke aber sprang spätestens am 28. Januar über, dem Freitag, den die Aktivisten der Internetkoalition zum »Tag des Zorns« ausgerufen hatten. Zwar hatte das Regime am Vorabend mit einem Abschalten der Internetserver reagiert, Twitter, Facebook und YouTube weitgehend unerreichbar gemacht und auch die drei privaten Mobilfunkunternehmen veranlasst, jeglichen Funkverkehr zu unterbinden. In dieser Situation wurden die Fernsehsender al-Jazira und al-ʿArabiya jedoch mit ihren Reportern vor Ort zu quasi lokalen Medien und übernahmen die Rolle eines aktivistischen Organs anstelle des Internets. Ihre Fernsehstudios befanden sich zentral in Kairo mit direktem Blick auf den Tahrir-Platz. Die Korrespondenten berichteten mitten aus dem Geschehen, stellten die Handyvideos von Bürgern ins Fernsehen, holten Demonstranten aller Couleur an die Mikrofone – und das über Tage hinweg ohne Unterbrechung durch Nachrichten aus anderen Regionen. Der Sender al-Jazira Direkt blendete zudem pausenlos Unterstützungs-SMS ein, die den Ägyptern über das Fernsehen aus der ganzen Welt zugesandt wurden. Slogans wie die vom »Freitag des Zorns« (28.1.), vom »Marsch der Millionen« (1.2.) oder vom »Tag der Abdankung« (4.2.), die die Aktivisten kreiert hatten, wurden zu griffigen Formeln, die die Journalisten der beiden arabischen Sender aufnahmen und zum diskursiven Allgemeingut machten. Auch die massive Gegenpropaganda des Regimes, die nach wenigen Tagen einsetzte, konnte dieses in weiten Teilen der ägyptischen Bevölkerung einmal erzeugte Gefühl einer mächtigen Gemeinschaft nicht mehr stoppen, zumal die privaten Printmedien, Ägypter im Ausland mit Telefonanrufen und die erneute Zugänglichkeit zu Internet-Communities die Protestbewegung bestärkten. Im Falle Ägyptens lässt sich also durchaus von tatsächlichen und intendierten Medieneffekten auf den Umbruch sprechen, da hier in einer politischen Krisensituation genau die Mechanismen aus medienstrukturellen Voraussetzungen mit im Jahrzehnt zuvor eingeübten Medienkompetenzen zusammenspielen konnten, die es braucht, um maximale Aufmerksamkeit und Mobilisierung zu erzeugen.

51 Vgl. auch Lim 2012. 52 Vgl. Stryjak 2011. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Libyen: Schlupflöcher aus der Abschottung In Libyen fand sich zum Beginn der Unruhen am 17. Februar 2011 dagegen eine völlig andere Ausgangssituation. Schon die politischen Strukturen unterschieden sich massiv: Die Macht war viel zentralisierter auf den »Revolutionsführer« Muʿammar al-Qadhdhafi (Muammar al-Gaddafi) zugeschnitten und nicht wie in Ägypten durch verschiedene strategische Gruppen getragen.53 Ebenso existierte nur eine schwache Zivilgesellschaft, politische Parteien gab es nicht und die relevanten Köpfe der Opposition befanden sich im Exil. Auch die Medien waren unter al-Qadhdhafi weitgehend »gleichgeschaltet«.54 Anders als in Ägypten gab es zum Beispiel in Libyen kein Medium, das in privaten Händen war. Auch ausländische Printmedien waren in Libyen nur sporadisch und nach händischer Zensur zugänglich, Büros ausländischer Korrespondenten und Nachrichtenagenturen waren nicht zugelassen. Das Satellitenfernsehen war zwar für die libysche Bevölkerung uneingeschränkt zugänglich, allerdings hatten weder al-Jazira noch ein anderer arabischer Sender ein Büro im Land und hätte Vor-Ort-Berichterstattung anbieten können. Eine Internetinfrastruktur wurde in Libyen erst im Jahre 2000 öffentlich zugänglich gemacht. Trotz hochtrabender Pläne blieb der Wille zum Ausbau des Internets ein Lippenbekenntnis. Für die Mehrheit der Bevölkerung spielte das Internet also kaum eine Rolle; unter 10 Prozent der Bevölkerung hatten 2010 überhaupt Zugang. Nicht zuletzt aufgrund der geringen Reichweite blieb es im Prinzip der freieste mediale Raum. Allerdings ließ sich dieser durch das Betreibermonopol der Libyan Telecom jederzeit regulieren.55 Für die unmittelbare Vernetzung von Aktivisten und eine etwaige Breitenmobilisierung war das Internet angesichts der fehlenden Infrastruktur und einer nicht-existenten Netzkultur deshalb irrelevant. Auf der Ebene der Medieninfrastruktur lässt sich also kein hinreichender Ansatz dafür erkennen, dass Medien eine ähnlich stimulierende Rolle wie in Ägypten gespielt haben. Zwar hatte es auch im libyschen Mediensystem eine kurze Phase der Liberalisierung gegeben.56 2007 wurden mit al-Libiya und al-Shababiyah schlagartig zwei neue landesweite Fernsehsender eingeführt und der eine (!) bis dato bestehende Kanal mit diesen beiden ergänzt. Außerdem wurden zwei Zeitungen, ein Radiosender, eine Nachrichtenagentur und einige Websites als offiziell private Medien gegründet. In Wirklichkeit waren diese Medien Teil des von Sayf al-Islam alQadhdhafi (Saif al-Islam al-Gaddafi) initiierten Programms namens Libya alGhad (»Libya for Tomorrow«), mit dem der Versuch unternommen wurde, Libyen allmählich an Wirtschaftsliberalisierungen heranzuführen. Man kann annehmen, dass der über lange Zeit als westlich orientierte Reformer betrachtete al53 Vgl. Mattes 2009. 54 Vgl. Richter 2004. 55 Die Libyan Telecom befand sich in der Hand des Sohnes von Muʿammar al-Qadhdhafi, Muhammad. 56 Vgl. ausführlich zu diesem Prozess Richter 2013.

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Qadhdhafi-Sohn dieses Programm auf Weisung seines Vaters ausführte.57 Die dabei gegründeten Fernsehprogramme erhielten aufgrund ihrer vergleichsweise professionellen Aufmachung einige Aufmerksamkeit. Auch das immer wieder angeführte Argument von Sayf al-Islam, gegen Korruption und Missstände im Land angehen zu wollen, zeugte von einer Art Aufbruchsversuch. Tamir Abu al-ʿAynayn von der libyschen Exilopposition bewertete die Initiative allerdings schon früh pessimistisch: »All the activities that took place, including new newspapers or forums or associations, sprang from one organization. Therefore, despite our appreciation of the steps they took, this is a continuation of the policy of exclusion and marginalization.«58 Die Pseudo-Liberalisierung fand entsprechend auch bereits 2009 ihr abruptes Ende: Nach der Ausstrahlung einer Talkshow mit dem bekannten ägyptischen Journalisten Hamdi Qandil, die das Tabu-Thema der Beziehungen Ägyptens zur Hisbollah aufgegriffen hatte, gab es Gerüchten zufolge einen wütenden Anruf Husni Mubaraks bei al-Qadhdhafi.59 Wenige Tage später wurde al-Libiya geschlossen und al-Shababiya als zweiter Kanal ins Bouquet der nationalen Fernsehanstalt eingegliedert. Die Zeitungen existierten noch mit sporadischen Ausgaben bis Ende 2010, ehe auch sie komplett verschwanden. Offensichtlich hatten sich die Hardliner in der Führungsebene um al-Qadhdhafi durchsetzen können und den Testballon einer Liberalisierung von oben platzen lassen.60 Für al-Qadhdhafi war die sehr eng geführte Liberalisierung nur eine weitere Strategie des Machterhalts, die aufgrund der kurzen Zeit und der Beschränkung auf nur eine Firma kaum Auswirkungen auf die Pluralisierung der Öffentlichkeit nehmen konnte. Interessanterweise spiegelte sich in dieser Strategie eine modernisierte Version früherer Versuche wider, eine Art öffentliche revolutionäre Selbstreinigung anzustoßen, ohne dabei die Zügel aus der Hand zu geben. So erfolgte in der Frühphase seiner Herrschaft auch »revolutionäre Kritik« mittels der Medien.61 In den frühen 1990er Jahren hatte er selbst ein Magazin namens »La« (Nein) ins Leben gerufen, das Kritik von innen an den internen Zuständen leisten sollte.62 Mediale Artikulation von Unmut fand bis 2011 fast ausschließlich über die Exilopposition statt und zwar in Form von Websites. Wir haben es im Falle Libyens also mit zwei nicht-symbiotischen Systemen zu tun: Eine gegen alle Liberalisierungsversuche immune, vermachtete Mediensystemstruktur, die einer in ihrem »radikalen Ghetto« schmorenden Exilopposition gegenüberstand, die seit langem Websites betrieb, die aber kaum wahrgenommen wurden. Dazu gab es Einzelper57 Vgl. Mattes 2005. 58 Aljazeera.net, 10. November 2008; URL: aljazeera.net/news/archive/archive?ArchiveId =1161097 [14.06.2016]. 59 Al-Quds al-ʿArabi, 29. April 2009; URL: 81.144.208.20:9090/pdf/2009/04/04-29/All. pdf [14.06.2016]. Es gibt allerdings verschiedene weitere Gerüchte, was der Grund für die Schließung gewesen sein soll. 60 Vgl. St. John 2011; Libyapress.net, 6. Dezember 2010. 61 Vgl. zur Funktion von politischen Karikaturen in Libyen Faath et al. 1984. 62 Vgl. ausführlich Richter 2004, S. 68-69. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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sonen insbesondere im Ostteil von Libyen, die technisch aufgerüstet hatten und sich über Proxies und Satellitentelefone mit der Exilopposition verknüpft hatten. Aber erst mit der militanten Konfrontation zwischen Rebellen und al-QadhdhafiGetreuen gewannen die von den Rebellen über Satellitentelefone ins Ausland übertragenen Informationen an Relevanz. Die inländischen Aktivisten luden ihre vorher bei Protesten aufgenommene Handyvideos hoch, die Exiloppositionsgruppen fungierten als Multiplikatoren und Ansprechpartner für die internationalen Medien, die ja keinen direkten Zugang nach Libyen und den dortigen Gruppen hatten. Die libyschen Rebellen prägten mit dieser Methode der Resonanzerzeugung den Tenor internationaler Medien enorm. In Libyen selbst versuchten alQadhdhafi-treue Fernsehsender diese über al-Jazira oder CNN wieder ins Land getragenen Informationen als Feindpropaganda zu diskreditieren. Im mit der Opposition sympathisierenden Katar wurde sogar ein Fernsehsender für Libyen lanciert. In der Phase der heißen Kämpfe im Frühling 2011 ergaben sich dabei bizarre Medienschlachten, in denen beide Seiten mit Musik unterlegte heroisierende Kampfvideos und Verunglimpfungen der Gegenseite zeigten. Im Vorfeld dieser medialen Auseinandersetzungen spielten die Medien aber weniger für eine direkte Mobilisierung der Bevölkerung wie in Ägypten eine Rolle oder für die Erzeugung einer gesamtgesellschaftlichen Befindlichkeit wie in Tunesien: Hier versorgten die Aktivisten vielmehr gezielt internationale Beobachter mit Partikularinformationen und leisteten so Kompensation für fehlenden Informationszugang. Fazit: Kollektivbildung, Mobilisierung und Durchbrechen von Informationskontrolle – aber keine Diktatorenstürze Die Beispiele von Tunesien, Ägypten und Libyen in der Aufbruchsphase aus autoritärer Herrschaft 2011 zeigen, dass sich die politischen Umwälzungen immer auch in Zusammenhang mit Effekten von Medienresonanz setzen lassen – allerdings in kontextuell unterschiedlichen Ausprägungen. Für Tunesien und Ägypten konnte verdeutlicht werden, dass der staatlich betriebene Ausbau der Internet-Infrastruktur zu einer durchaus breiten Nutzung führte, während es in Libyen auch zu Unterhaltungszwecken ein absolut randständiges Medium war. Im Unterschied zu Ägypten taugte aber Internetkommunikation in Tunesien aufgrund einer engmaschigen Kontrolle nicht zur direkten Mobilisierung breiter Massen. Wohl aber lässt sich für alle drei Länder sagen, dass damit die Vernetzung von Aktivisten erleichtert wurde, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß. Für alle drei Länder waren auch transnational operierende Medien wichtig, denn darüber zirkulierten die von Aktivisten thematisierten Angelegenheiten und die Proteste in die Ursprungsländer zurück und konnten so breitere Resonanz erzeugen. Diese Resonanz wurde insbesondere in Ägypten durch die im Land im Vergleich zu Tunesien und insbesondere Libyen deutlich freieren Medien sichtbar. Sie verlieh damit den Forderungen der Aktivisten ein größeres Gewicht. Die Liberalisierung des Mediensektors und die innerhalb dieses Kontexts über Jahre bei

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Aktivisten und Journalisten gewachsene Kompetenz, die Handlungslogiken der jeweils anderen zu verstehen, boten die Grundlage für diesen enormen medialen Resonanzraum. Nicht zu vernachlässigen für eine Erklärung des unmittelbaren Aufeinanderfolgens der Ausbrüche der Revolten ist natürlich auch die schnelle Zirkulation von Informationen, die durch das Internet und transnationale Fernsehsender katalysiert wurden:63 Nach dem für die meisten überraschenden Sturz von Bin ʿAli in Tunesien konnten die auf Stabilität abzielenden Legitimationsstrategien der anderen arabischen Machthaber kaum mehr argumentativen Rückhalt finden. Es war sozusagen ein Fenster an politischen Möglichkeiten aufgestoßen, das Aktivisten nutzen konnten – und insbesondere in Ägypten auch unter Zuhilfenahme von Medien tatsächlich nutzten. Es lässt sich schlussfolgern, dass solch direkte Mobilisierungseffekte, wie wir sie in Ägypten beobachten konnten, kaum erfolgen, wenn das jeweilige Regime noch über genügend Repressionspotenzial verfügt und eigene Ressourcen für Kontrolle und Gegensteuerung mobilisieren kann und will, wie das Beispiel China eindrücklich zeigt. Medien haben insofern keine per se oder in ihren technologischen Eigenschaften begründete Wirkung, sondern einen instrumentellen Charakter, deren Effekte abhängig sind von den politischen Strukturbedingungen und den Kompetenzen der handelnden Akteure. Literatur Abdulla, Rasha A. 2005. »Taking the e-Train: The Development of the Internet in Egypt«, in: Global Media and Communication, 1 (2), S. 149-165. Albrecht, Holger; Schlumberger, Oliver 2004. »,Waiting for Godot‹: Regime Change without Democratization in the Middle East«, in: International Political Science Review, 25 (4), S. 371-392. Anstead, Nick; Chadwick, Andrew 2009. »Parties, Election Campaigning and the Internet: Toward a Comparative Institutional Approach«, in: The Routledge Handbook of Internet Politics, hrsg. v. Chadwick, Andrew; Howard, Philip. New York: Routledge, S. 56-71. Atton, Chris 2001. Alternative Media. London: Sage. Badr, Hanan 2015. »Limitations of the Social Media Euphoria in Communication Studies«, in: Égypte/Monde arabe, 12, URL: ema.revues.org/3451 [14.06.2016]. Barata, Joan 2013. »Tunisian Media under the Authoritarian Structure of Ben Ali’s Regime and After«, in: National Broadcasting and State Policy in Arab Countries, hrsg. v. Guaaybess, Tourya. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 117-130. Bareikytė, Miglė; Dachwitz, Ingo; Yang, Lu 2014. »Living with Control, Working with Control: Reflections of Israeli Journalists«, in: Global Media Journal. German Edition, 4 (1), URL: db-thueringen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-29828/GMJ7_Bareikyte_Dachwit z_Yang_final.pdf [14.06.2016].

63 Beispiele transnationaler Zirkulation von Informationen gab es aber auch schon lange vor dem Internet. So wird in Osteuropa häufig über die einflussreiche Rolle des aus Westeuropa sendenden Radio Liberty/Radio Free Europe gesprochen. Vgl. Puddington 2003. Auch die Rolle der westdeutschen Tagesschau am 9.11.1989 für die Zirkulation des Gerüchts in der DDR, dass die Mauer offen sei, wird hervorgehoben. Vgl. Hertle 1996. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Zusammenfassung: In diesem Beitrag werden die Ausgestaltung der Mediensysteme, die (De-)Liberalisierungsmaßnahmen im Mediensektor und die Kompetenzen von Aktivisten und Journalisten in den Aufbruchsphasen der Arabellionen in Tunesien, Ägypten und Libyen untersucht, um differenzierte Aussagen über die Rolle von Medien machen zu können. Stichworte: Soziale Medien, Fernsehen, Journalismus, Arabischer Frühling, Tunesien, Libyen, Ägypten, Protest

The Revolution still Needs to be Televised. Towards an Explanation for the Role of Media during the Arab Uprisings Summary: This article examines the structure of the media systems, the (de)liberalization measures in the media sector, and the competences of activists and journalists in the early phases of protest during the Arab uprisings in Tunisia, Egypt and Libya in order to make differentiated statements about the role of media. Keywords: Social media, television, journalism, Arab Spring, Tunisia, Libya, Egypt, protest

Autorin Prof. Dr. Carola Richter Freie Universität Berlin Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft Garystraße 55 DE-14195 Berlin [email protected]

Kai Hafez

Zivilgesellschaft am Scheideweg der Demokratie Anerkennungskämpfe in der ägyptischen Öffentlichkeit Einleitung Ägypten ist nach zwei Jahren eines demokratischen Experiments seit Mitte 2013 de-facto wieder eine Diktatur, die viele Beobachter in ihrem Grad der inneren Repression mit der Ära unter Jamal ʿAbd al-Nasir (Gamal Abdel Nasser, 1954-70) vergleichen. Einige der Minimalkriterien der Demokratie – ein funktionierendes Parlament, Versammlungs- und Meinungsfreiheit – sind nicht mehr vorhanden, die Gefängnisse sind voller politischer Gefangener, der Staat ist zu weitgehender rechtlicher Willkür zurückgekehrt, von politischen Morden ganz zu schweigen. Zwar haben sich politische Umwälzungen auch in anderen Teilen der Welt und zu anderen Zeiten oft über Jahrzehnte erstreckt, so dass von einem endgültigen Scheitern des Arabischen Frühlings nicht die Rede sein kann. Die Ideen des politischen Umbruchs sind im Untergrund weiter lebendig. Dennoch ist es an der Zeit, nach den Ursachen für die »Gegenrevolution« des Militärcoups des jetzigen Präsidenten ʿAbd al-Fattah al-Sisi zu fragen. Die politischen Umwälzungen 2011-13 haben zwar das Regime Mubarak beseitigt und eine Wahldemokratie1 eingeführt, aber weder wurden die politischen Strukturen maßgeblich verändert – Militär und Geheimdienste zum Beispiel blieben weitgehend intakt –, noch haben ökonomische Einschnitte für die Entmachtung alter geldbesitzender Eliten gesorgt. Die beharrenden Gewalten der politisch-ökonomischen Klasse in Ägypten waren es denn auch, die die junge Demokratie zu Fall brachten, die nie genug Verbündete im Establishment fand, um eine echte Konsolidierung der Institutionen herbeizuführen. Dass westliche Staaten dies stillschweigend duldeten und nach ihrer ohnehin zurückhaltenden Unterstützung der Demokratiebewegung nun auch noch den Militärcoup tolerierten, war ein weiterer zentraler Faktor des politischen Scheiterns. Vor allem amerikanischer Druck auf das von Waffenlieferungen abhängige ägyptische Militär hätte den Coup möglicherweise verhindern können. Man könnte es dabei bewenden lassen, vielleicht noch die Unfähigkeit der regierenden Muslimbrüder unter Präsident Mursi hinzufügen und könnte sich damit zufrieden geben, dass Ägyptens Demokratie durch das Zusammenwirken alter und neuer Herrschaftseliten im In- und Ausland zu Fall gebracht wurde – aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die Narration einer Unterteilung der jüngeren Geschichte in systemische »Täter« und zivilgesellschaftliche »Opfer« lässt die Strukturen der Zivilgesellschaft und der politischen Kultur außer Acht, die den Coup von 2013 begünstigt haben. Natürlich könnte man weiterhin argumentieren, dass die zum Fundamentalismus neigende Muslimbruderschaft, ihr Präsident sowie de1 Rosenberger 2009. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017, S. 279 – 300

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ren Wähler eben nicht Teil der Zivilgesellschaft gewesen seien, weil sie selbst die säkulare Konstitution des Staates nicht hinreichend anerkannten. Aber auch eine solche Erklärung beinhaltet bestenfalls eine Teilwahrheit, denn sie übersieht, dass die Mehrheit der islamistischen Wähler die Demokratie bejahte und dass auch säkulare Kräfte der Zivilgesellschaft beim Sturz des gewählten Präsidenten Mursi eine fragliche Demokratieauffassung vertraten und sich – willentlich oder nicht – in den Dienst einer neuen Militärdiktatur stellten. Dieser Beitrag geht von der Prämisse aus, dass die Anerkennungsverhältnisse innerhalb der Zivilgesellschaft für eine stabile Demokratie ebenso wichtig sind wie politische Institutionen. Demnach wäre zu fragen, inwiefern etwa das in der politischen Kultur verwurzelte Schisma zwischen islamistischem und säkularem Lager für den Niedergang der Demokratie in Ägypten nicht genauso verantwortlich zu machen ist wie das Handeln von Eliten, Gegeneliten und internationale Mächten. Gerade in den Nahoststudien sind polit-ökonomische Ansätze und soziostrukturelle Analysen verbreitet, wonach arabische Mittelschichten zu klein und eine ordnende Struktur der Zivilgesellschaft außerhalb von Familie und Klan zu instabil seien, um demokratische Institutionen hervorzubringen.2 Diese Erklärungen sind jedoch aus kultur- und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive unbefriedigend, denn sie übersehen, dass moderne Gesellschaften Öffentlichkeiten hervorgebracht haben, die die Denk- und Verhaltensweisen von Menschen auch jenseits ökonomischer und soziostruktureller Momente prägen können. Einflüsse gehen dabei nicht nur von den Massenmedien aus, die in jedem politischen Umbruch von den politischen Eliten und Gegeneliten beherrscht werden. Diskursive Strukturen gibt es auch in jener anderen Sphäre, die Jürgen Habermas den Systemen gegenüber gestellt hat: in der Lebenswelt des Menschen.3 In ihr spielen nicht nur private, nicht-öffentliche, sondern auch öffentliche Formen der Versammlungskommunikation – face-to-face wie auch mediatisiert – eine erhebliche Rolle. Lebensweltliche Kommunikation ist für die Demokratie ebenso wichtig wie das System der Massenmedien. Beide zusammen prägen die öffentliche Meinung. Für ein Land wie Ägypten steht ein ganzes Arsenal an Forschungen zu Mediensystem, Öffentlichkeit und Lebenswelten zur Verfügung. So sind, trotz empirischer Lücken, Tendenzaussagen auch über die ägyptische öffentliche und lebensweltliche Kommunikation in den Jahren 2011-13 und deren Folgen für die politische Entwicklung des Landes möglich. Der folgende Beitrag unternimmt einen ersten Versuch, die bislang getrennten Felder der Anerkennungs- und Kommunikationstheorie zu verbinden und zusätzlich zu einem Überblick über die reichhaltige, aber theoretische wie methodisch disparate Forschungslage einige übergreifende Strukturen der kommunikativen Anerkennungsverhältnisse zu ermitteln, die als Ausgangspunkt für zukünftige interdisziplinäre Forschungsbestrebungen in diesem Feld dienen können.

2 Bspw. Zakaria 2015. 3 Habermas 1995.

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Theoretische Vorüberlegungen: Pluralistische Anerkennung, Demokratie und Kommunikation In der Politikwissenschaft sind zumindest zwei theoretische Quellen zur Erklärung des Zusammenhangs von Demokratie und zivilgesellschaftlicher Anerkennung vorhanden. In der sogenannten Pluralismustheorie wurde seit dem Zweiten Weltkrieg die Auffassung vertreten, dass soziale Verbände, Organisationen und Institutionen an der Staatsmacht teilhaben sollten, um die Demokratie zu stabilisieren.4 Der Charme dieses Ansatzes bestand ohne Zweifel im Abrücken von der Elitenorientierung und der einseitigen Vorstellung vom Bürgertum als dem zentralen Träger von Demokratie. Eine Verbreiterung der Akteurskomposition ist gerade für die Demokratie in Ägypten wie überhaupt in Ländern der arabischen Welt unabdinglich, da hier die soziale Organisation der bürgerlichen Mittelschichten zu schwach ist, eine pluralismustheoretische Ausweitung der Basis der Demokratie also erforderlich ist.5 Das Problem ist allerdings, dass auch die soziale Organisation jenseits des Bürgertums in Ägypten wenig ausgeprägt ist, weswegen im Jahr 2011 auch nur die damals erst zustande gekommene übergreifende soziale Protestbewegung in der Lage war, Mubarak zu Fall zu bringen.6 Erst die ungewöhnliche Bündnisbildung zwischen Islamisten und Säkularen setzte genug Kräfte frei, um den Umsturz zu ermöglichen. Interessanter als die Pluralismustheorie ist daher die werteorientierte Anerkennungstheorie, die etwa mit Namen wie Charles Taylor, Iris Marion Young oder Axel Honneth verbunden ist. Zwar wird sie heute vor allem mit Migrationsfragen in Verbindung gebracht. Sie zielt aber im Grunde, wie Honneth sagt, auf jede Form der »symmetrischen Wertschätzung« zwischen Individuen und Gruppen.7 Young argumentiert, dass derartige Solidaritätsverhältnisse wichtig seien für die Demokratie. Zwar wendet sie sich gegen eine Überbetonung des integrativen Konsenses und unterstreicht das Konfliktabsorptionspotential moderner Gesellschaften.8 Gleichwohl spricht sie von »differenzierter Solidarität«, die erforderlich sei, um bei aller Differenz als Staat und Gesellschaft funktionieren zu können.9 Demnach sind Minima eines politischen und ökonomischen Konsenses erforderlich, die auch Anerkennungsverhältnisse zwischen signifikanten Gesellschaftsgruppen und politischen Lagern einbeziehen. In dieser erweiterten liberalen Demokratievorstellung muss neben der Akzeptanz der Techniken der Wahldemokratie bei allem Meinungsstreit eine Anerkennung anderer Gruppen als legitime politische Subjekte erfolgen. Moderne partizipative Gesellschaften funktionieren erst, wenn sie eine civic culture aufweisen, die sich von der Fixierung auf traditio4 5 6 7 8 9

Bspw. Fraenkel 1974. Beinin 2012. Hafez 2012 a. Honneth 1994, S. 209. Young 2000, S. 7. Ebd., S. 221.

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nelle Loyalitäten und die »Kirchturmspolitik« zwar nicht vollständig lösen muss, aber diese unter einem Dach einer gemeinsamen staatsbürgerlichen Kultur vereint. Rainer Forst hat dargelegt, dass gesellschaftliche Anerkennung aus mindestens drei Teilkomponenten besteht: 1. Ablehnung im Sinne einer eigentlichen Ablehnung dessen, was »negativ« zu dulden man sich gleichwohl entschließt; 2. Akzeptanz, also einer Form der positiven Toleranz und Wertschätzung, wobei ein gemeinsamer Nenner herausgearbeitet wird; und 3. Zurückweisung, die die Grenzen des vom Akteur Tolerierten markiert.10 Auch in Ulrich Becks und Edgar Grandes Konzept des Kosmopolitismus geht es um ein Zusammenspiel verschiedener interaktionistischer Formen, die vor allem Forsts »Akzeptanz« und »Zurückweisung« ähneln.11 Die Herausforderung besteht nun darin, zu ermitteln, ob in einer politischen Kultur eine gesunde Mischung aus solchen Anerkennungsverhältnissen besteht. Eine grundsätzliche Zurückweisung einer anderen Gruppe führt zu einer polarisierten Gesellschaft. Weder vollständige Zurückweisung noch rückhaltlose Akzeptanz sind gefordert, sondern grundsätzliche Anerkennung der Existenzberechtigung des Gegners bei gleichzeitiger rationaler Verhandlungsoffenheit. Kompromiss- und Konsensbereitschaft zwischen gesellschaftlichen Anspruchsgruppen ist zur Stabilisierung junger Demokratien unabdinglich, was, wie noch zu zeigen sein wird, die Anerkennung eng an Kommunikationskompetenzen knüpft. Überträgt man die bisherigen Überlegungen auf Ägypten, so fällt zunächst auf, dass nach dem Sturz Mubaraks 2011 der soziale Protest nicht ausreichte, um die Demokratie zu stabilisieren. Alle erfolgreichen Transformationen der jüngeren Geschichte (Ukraine, Polen u.a.) basierten auf einer sinnvollen Vernetzung des parlamentarischen mit dem außerparlamentarischen Raum, wie sie am Nil gerade nicht stattfand.12 Ein weiterer Grund ist, dass der Anfang 2011 erkennbare säkular-islamistische Schulterschluss rasch wieder beendet war. Dies hatte viel mit elitären Positionswechseln zu tun – aus den Islamisten wurden Regierende –, aber auch mit einer intoleranten politischen Kultur, von der der ägyptische Soziologe Zaki sagt, ihr mangele es an Respekt vor religiösen, ethnischen und sozialen Gruppen.13 Aktuelle Studien zur politisch-kulturellen Einstellungen der Ägypter bestätigen dies: die allgemeine Zustimmung zur Demokratie fällt in Ägypten hoch aus, die Zustimmung zu vielen pluralistischen Gemeinschaftsdimensionen (z.B. Gleichberechtigung von Frauen) ist hingegen eher gering.14 Insbesondere die tief verwurzelte Gegnerschaft zwischen säkularen und islamistischen Kräften hat sich von jeher als Problem einer ausgehandelten und verhandlungsoffenen demokratischen Transformation erwiesen.15

10 11 12 13 14 15

Forst 2006. Beck/Grande 2006. Hafez 2016. Zaki 1994. Guérin 2014, S. 324. Hafez 2009, S. 85ff.

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Aus Sicht der Kommunikationswissenschaft drückt sich die politische Kultur nicht nur in demoskopisch messbaren Einstellungen, sondern auch im konkreten kommunikativen Handeln aus. Bevor wir aber den Versuch unternehmen, kommunikative Anerkennung in Anlehnung an Forst näher zu definieren, sollen einige der theoretischen Herangehensweisen, die bereits in diese Richtung weisen, vorgestellt werden. In der klassischen Einteilung nach Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt hängen drei Ebenen der Öffentlichkeit – die Massenmedien, die Versammlungsund die Encounter-Kommunikation des Austauschs zwischen Individuen – sogar unmittelbar zusammen und beeinflussen sich wechselseitig.16 Im Bereich der Massenmedien dominiert vor allem der konsensorientierte Ansatz der Öffentlichkeitstheorie von Jürgen Habermas, der die rationale und problemlösungsorientierte Deliberation in den Vordergrund rückt.17 In der Mediensystemtypologie von Daniel Hallin und Paolo Mancini finden derartige Unterschiede etwa in der Abgrenzung von schwachem und starkem »politischen Parallelismus« ihren Niederschlag. Die Frage ist hier, inwieweit Medien »objektiv« und parteiübergreifend oder aber parteinah agieren.18 Die Frage bleibt allerdings offen, wann hoher Parallelismus (auch als »externer Pluralismus« bezeichnet) in radikale Polarisierung umschlägt. In solchen Fällen stehen Medien nicht mehr nur für eigene politische Positionen, sondern auch für die fundamentale Ablehnung des politischen Gegners, was den demokratischen Grundkonsens, trotz unterschiedlicher politischer Vorstellungen in einem gemeinsamen Verfassungsrahmen zu agieren, in Frage stellt und Feinbilder von Gegnergruppen bis zur Androhung von Gewalt lanciert. Im Bereich der Versammlungskommunikation, die wissenschaftlich heute fast ausschließlich über das Internet erforscht wird, stellt man schnell fest, dass klassische Internettheorie, wie die der »virtual community« (Rheingold) oder der »Netzwerkgesellschaft« (Castells), hier erste Hinweise auf Anerkennungsverhältnisse liefern. Howard Rheingold hat die gemeinschaftsbildende Kraft der digitalen Individualkommunikation beschrieben; Manuell Castells die kulturkämpferischen Dimensionen der vernetzten Welt.19 Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes eher positiver Bewertung neuer digitaler Sozialkommunikation stehen nun aber Studien wie die von Michael Margolis und Gerson Moreno-Riaño gegenüber, die zumindest eine starke Persistenz, wenn nicht sogar eine Zunahme rassistischer Artikulationen im Internetzeitalter vermerken.20 Das Internet als so genanntes »pull medium«, in dem man Informationen als Rezipient aktiv suchen muss, verstärkt Tendenzen einer konsonanten Gruppenbildung und Agitation. Neben den vielen Vorzügen des Internets für eine bessere Vernetzung von Zivilgesellschaften und Lebenswelten entsteht ein oft ebenso starker Trend zur radikalen anerkennungs16 17 18 19 20

Gerhards/Neidhardt 1990. Habermas 1990. Hallin/Mancini 2004. Rheingold 2000; Castells 2002. Laclau/Mouffe 2010; Margolis/Moreno-Riaño 2009.

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feindlichen Aufladung der Öffentlichkeit über »soziale« Medien, in denen sich Stereotype und Vorurteile eine Landes deutlich zeigen. Gruppenfeindlichkeit tritt in der virtuellen Versammlungsöffentlichkeit des Internets in unterschiedlichen Formen auf, von den weithin rezipierten Knoten des Netzes, dem so genannten »Short Head« des Internets (z.B. Websites von sozialen Bewegungen oder deren Präsenz auf Facebook oder Twitter), bis zum »Long Tail«, also bei der Mehrzahl der eher reichweitenschwachen »Netzauftritte«.21 Beide Sphären verbindet eine oft dynamische Beziehung, die eine neue Kraft entstehen lässt, die nicht nur in Deutschland mit Bewegungen wie Pegida, sondern auch in Ägypten Anerkennungsverhältnisse mit prägt. Lebensweltkommunikation findet jenseits der Massenmedien und der Sozialen Medien entweder in öffentlichen Begegnungen (so genannten Encounters) oder mit Hilfe privater mediatisierter interpersonaler Kommunikation (Telefon, E-Mail usw.) statt. Die kommunikative Lebenswelttheorie ist jedoch sehr heterogen; es existieren viele Ansätze zur interpersonalen Kommunikation,22 aber es gibt kein übergreifendes Theorieschema.23 Soziale Encounter-Kommunikation gilt als schwer erforschbar, als flüchtig und launisch, und Forscher stehen schon methodisch vor dem Problem, bei der Untersuchung von Kleingruppen eben diese zu manipulieren, da sie selbst die zu erforschende Situation oft signifikant verändern. Als ein adäquates Hilfsmittel der Forschung hat es sich jedoch erwiesen, lebensweltliche Kommunikation auf dem Umweg über möglichst neutrale dritte Objekte zu untersuchen, etwa die Anschlusskommunikation an Fernsehunterhaltung zu verfolgen, um die sozialen Konstrukte zu verstehen, die für Menschen bedeutsam sind. Gerade mit Blick auf die arabische Welt hat die Rezeption von Unterhaltungsfernsehen, insbesondere dem so genannten Reality-TV, Konjunktur.24 Anders als bei oft stark ideologisch und von Informationsmedien geprägten politischen Diskursen, legt dieser eher beiläufige medienethnologische Blick auf Alltagskommunikation Haltungen zu ethnischen, religiösen und sozialen Gruppen frei, und auch wenn die soziale und politische Virulenz von Unterhaltungsformaten und der dazugehörigen Forschung nicht überschätzt werden darf, ist sie für vorliegende Frage nach Anerkennungsverhältnissen in der ägyptischen politischen Kultur eine bedeutsame Ergänzung zur sonst starken Konzentration der Forschung auf geschriebene Texte der Massenmedien und des Internets. Die drei Felder der Massenmedien-, Versammlungs- und Lebensweltkommunikation zeichnen sich durch verschiedene Kommunikationsdynamiken aus, deren Eigenschaften mit dem Konzept der »gruppalen« Anerkennung verbunden werden können. Zwar existiert bislang kein Konzept der kommunikativen Anerkennung, aber mit Michael Giesecke wissen wir, dass Menschen die Beobachtungsleistung der sie umgebenden Mediensysteme dekonstruieren, dialogisch aufarbei-

21 22 23 24

Schmidt 2013. Littlejohn/Foss 2011. Vgl. auch Knoblauch 1996. Kraidy 2010; Armbrust 2000.

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ten, verändern und in Systeme und Lebenswelten weiterleiten.25 Giesecke geht, ähnlich wie auch Vilém Flusser, von zwei grundunterschiedlichen Kommunikationsmodi von Diskurs und Dialog aus.26 Formen der Anerkennung bzw. Nicht-Anerkennung, wie »Ablehnung«, »Akzeptanz« und »Zurückweisung« nach Forst, sind demnach in den Massenmedien diskursiv und in der Lebenswelt dialogisch konstruierbar. Auf der Zwischenebene der Versammlungskommunikation (etwa in Sozialen Medien) existieren hingegen beide Modi. Anerkennung und Nicht-Anerkennung müssten sich demnach durch zwei Haupteigenschaften auszeichnen: – Diskursiv konstruierte Freund- oder Feindbilder, wobei Feindbilder zumindest zwei Dimensionen aufweisen: »Zurückweisung« nach Forst äußert sich in pauschalen Negativurteilen des Gegners und der Unterstellung einer grundsätzlichen Feindlichkeitsabsicht.27 Feindbilder sind zudem nicht nur auf der kognitiven Ebene, sondern zudem affektiv aufgeladen und konativ geprägt (z.B. Gewaltandrohung). – Dialoge bzw. Dialogverweigerung: »Akzeptanz« nach Forst kann nur erfolgen, wenn ein Dialog eingegangen wird, bei dem nach Kompromissen und Konsensflächen gesucht wird. Dialog ermöglicht es, von der pauschalen Zurückweisung zur differenzierten Akzeptanz fortzuschreiten. Der Grad der Polarisierung einer Gesellschaft bestimmt sich nun danach, ob auf den unterschiedlichsten Bühnen der Kommunikation fundamentale Nicht-Anerkennung herrscht, indem Feindbilder lanciert und/oder ein Dialog verweigert wird. Diese noch sehr vorläufige heuristische Bestimmung des theoretischen Zusammenhangs zwischen Anerkennung und Kommunikation ist gleichwohl ausreichend, da, wie wir im folgenden Überblick über Einzelforschung zu säkularen und islamistischen Kommunikationsangeboten in Ägypten sehen werden, die relevante empirische Forschung derzeit noch mit sehr unterschiedlichen Kategorien arbeitet, die eine exaktere Bestimmung dessen, was kommunikative Anerkennung ist, unmöglich machen. Gleichwohl wird im Fazit der Versuch unternommen, Aspekte der diskursiven und dialogischen Anerkennung bzw. Polarisierung, die sich aus der Forschung herauslesen lassen, nach der vorstehenden Heuristik zu ordnen, um die unterschiedlichen Phänomene beschreiben und Anerkennungsverhältnisse in Ägypten besser bilanzieren zu können. Massenmedien in Ägypten – der säkular-islamistische Medienkrieg Zum Wissensarsenal der Kommunikations- wie auch der Politikforschung gehört die Erkenntnis, dass sich moderne Gesellschaften nicht nur durch die Ressourcen Macht und Kapital, sondern auch durch Kommunikation erklären lassen. Zwar sind sowohl der Arabische Frühling (2010-13) als auch die Grüne Revolution in Iran (2009) Belege für die Tatsache, dass bei politischen Transformationsprozes25 Giesecke 2002. 26 Flusser 1998. 27 Hafez 2002, S. 35ff. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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sen noch lange nicht von einem Primat der Kommunikation über die anderen Ressourcen ausgegangen werden kann und sie das Geschehen bestimmt.28 Dennoch besitzen Medien in bestimmten Phasen der Transformationen – vor allem während der so genannten Transition zwischen autoritärer und beginnender demokratischer Herrschaft – ein erhebliches Irritationspotenzial. Während in Ägypten in den ersten Aufstandstagen im Januar 2011 die Sozialen Medien bedeutsam waren, erwies sich nach der Abschaltung des Internets vor allem der Fernsehsender al-Jazira (al-Jazeera) als äußerst einflussreich. Al-Jazira steht im arabischen Raum gleich für zwei markante Merkmale der heutigen Mediengesellschaft: öffentlicher »Strukturwandel« und mediale »Kolonisierung«. Der von Habermas und anderen beschriebene Strukturwandel der Öffentlichkeit befähigt Menschen zur politischen Deliberation; zugleich unterliegen Massenmedien durch ihren industriellen Charakter ständig der Gefahr, von machtvollen Eliten manipuliert zu werden. Gerade transnationale arabische Fernsehsender verringern die Abhängigkeit von national kontrollierten Medien. Eine neue arabische Öffentlichkeit ist entstanden, die pluralistischer, diverser und authentischer ist. Zugleich ist das arabische Fernsehen insgesamt weit entfernt davon, Kolonisierungstendenzen überwunden zu haben. Nicht zuletzt al-Jazira unterliegt zahlreichen Zwängen, und alle anderen ägyptischen privaten wie staatlichen Medien sind in der Regel Spielbälle staatlicher und anderer elitärer Interessen. Eine echte rechtliche Absicherung gibt es nicht. Die während des Arabischen Frühlings angestrebte Transformation etwa des staatlichen Mediensektors ist nie vollzogen worden.29 In der weltweit verbreiteten Medientypologie von Hallin und Mancini, die Mediensysteme Europas und Nordamerikas systematisiert und die heute – mit gebührendem postkolonialen Abstand zu eurozentrischen Kategorien – als Ausgangsfolie für die Systematisierung weltweiter Mediensysteme verwendet wird, werden unterschiedliche Formen des Pluralitätsverständnisses erfasst.30 Grob gesagt lässt sich zwischen internem und externem Pluralismus unterscheiden sowie zwischen unterschiedlichen Traditionslinien in mediterranen, zentraleuropäischen und anglo-amerikanischen Mediensystemen. Nach Hallin und Mancini besteht das grundlegende Problem der Beziehung zwischen den Medien und der Zivilgesellschaft in der Frage, ob die Medien zum sogenannten liberalen »Zentrismus« (interner Pluralismus innerhalb eines Mediums) oder aber zum »Politischen Parallelismus« (externer Pluralismus im Gesamt des Mediensystems) tendieren. Gerade in jungen Demokratien weisen die Massenmedien oft eine enge Bindung zu politischen Parteien und anderen Kräften der Zivilgesellschaft auf, sind also eher durch einen externen Pluralismus und hohe politische Parallelität gekennzeichnet. In Ägypten besteht seit dem Arabischen Frühling die Frage, ob die Medien in der Lage sind, alle relevanten gesellschaftlichen Meinungen auch wirklich abzubilden, statt nur eine kleine Elite zu repräsentieren. 28 Hafez 2014 a. 29 UNESCO 2011. 30 Hallin/Mancini 2004, 2012.

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Die zweieinhalb Jahre des Arabischen Frühlings waren von einem erheblichen politischen Antagonismus in der ägyptischen Öffentlichkeit geprägt, den man als radikalen politischen Parallelismus bezeichnen kann. Ägyptische Medien waren pluralistisch überwiegend in dem Sinne, dass sie unterschiedliche politische Standpunkte vertraten, sie waren aber zugleich radikal, indem sie anderen politischen Lagern die Existenzberechtigung absprachen.31 Die entscheidende Bruchlinie verlief zwischen Islamisten und Säkuralisten bzw. Mursi-Befürwortern und MursiGegnern. Diejenigen Medien, die zu Mursi tendierten, zum Beispiel der Fernsehsender Misr 25, al-Rahma, al-Hafiz, al-Nas oder al-Khalijiya, waren sehr einseitig in ihrer Berichterstattung. Sie verbreiteten vielfach Gerüchte über diejenigen, die gegen die Regierung Mursi und seine Verfassung demonstrierten, bezeichneten sie als Trunkenbolde und soziale Parasiten. Die islamistischen Medien verhielten sich oft sektiererisch und propagandistisch. Viele Nutzer bekamen Angst vor einer nachhaltigen Islamisierung des Landes, zumal ja auch die staatlichen Medien von Mursi kontrolliert wurden. Allerdings war auch das Auftreten der gegen Mursi gerichteten Medien vielfach radikal zu nennen. Die linksliberale Zeitung al-Tahrir beispielsweise war sehr pauschal gegen die Muslimbrüderschaft eingestellt: eine Tatsache, die selbst von Journalisten innerhalb des Blattes kritisiert wurde, die sich mehr innere Meinungsfreiheit gewünscht hätten.32 Nur sehr wenige Medien, wie die Tageszeitung al-Masri al-Yawm (al-Masry al-Youm), konnten für sich beanspruchen, zentristisch und zumindest vergleichsweise unabhängig zu berichten. Das ägyptische Mediensystem während des Arabischen Frühlings war durch eine starke Tendenz der Boulevardisierung und des Politainment gekennzeichnet. Massenmedien nutzten ihre neu gewonnene Freiheit, um nicht nur polemisch, sondern auch ohne sichere Quellengrundlage über Politiker zu berichten, was beispielsweise in der Skandalisierung des Nobelpreisträgers Muhammad al-Baradaʿi (Mohammed al-Baradei) und seiner Tochter zum Ausdruck kam. Obwohl wir über keine vollständigen Inhaltsanalysen verfügen, kann man davon ausgehen, dass sowohl der Inhalt als auch der Ton vieler ägyptischer Medien nicht auf Kompromiss und Konsens ausgerichtet war, die Habermas in seiner Öffentlichkeitstheorie als Zielhorizont der rationalen Öffentlichkeit vorgibt. Khaled Abou alFadl etwa konzediert eine immer stärkere Zuspitzung des Lagerstreits im Laufe des Arabischen Frühlings.33 Die ägyptischen Medien erinnerten mit zunehmender Zeit immer mehr an die Weimarer Republik mit ihren radikalen politischen Debatten und kompromisslosen Auseinandersetzungen zwischen Ultranationalisten, Kommunisten und Nationalsozialisten, die nur sehr wenig konstruktive Unterstützung für das gewählte Parlament und die Weiterentwicklung der Demokratie und ihre Institutionen bot. 31 Hafez 2014 b. 32 Diesen Hinweis verdanke ich meiner Promovendin Nadia Leihs, die sich mit den innerredaktionellen Prozessen der ägyptischen Presse während des Arabischen Frühlings beschäftigt; URL: uni-erfurt.de/kommunikationswissenschaft/forschung/promotion/dokto randen/doktoranden-prof-dr-kai-hafez/nadia-leihs/ [06.09.2016]. 33 Abou El Fadl 2015. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Die Öffentlichkeit der jungen deutschen Demokratie war mit ihren Aufgaben ebenso überfordert, wie es die Medien während des ägyptischen Frühlings waren. Nach Jahrzehnten der autoritären Zensur genossen viele Medien und wohl auch Menschen ihre neu gewonnene grenzenlose Meinungsfreiheit. Mit dem Militärcoup vom Juli 2013 endete die Phase einer nicht immer idealen, aber dennoch lebendigen Medien- und Meinungsfreiheit in Ägypten. Die Rückkehr zu autoritären Zensurformen und die propagandistische Gleichschaltung der Medien haben seit dem Machtantritt von al-Sisi einen absoluten Höhepunkt erreicht. Die Regierung übt einen enormen Druck auf die Medien aus, in einen hypernationalistischen Chor gegen die Muslimbrüder einzustimmen. Kritiker oder Skeptiker dieser Politik werden als Verräter bezeichnet und müssen mit ernsthaften Konsequenzen rechnen. Wer von den Medien erwartet, dass gegen den neuerlichen Niedergang der Demokratie und den weitgehenden Eingriffen in die Medienfreiheit protestiert würde, der sieht sich enttäuscht. Vor dem Militärcoup von 2013 hätte man Ägyptens Mediensystem durchaus mit dem von Hallin und Mancini konzipierten »Mittelmeermodell« demokratischer Medien vergleichen können: einer Variante, die in Südeuropa verbreitet ist und in der insbesondere die Regierung nach wie vor eine starke Stellung in einer ansonsten stark polarisierenden privaten Medienlandschaft einnimmt. Nach dem Sturz der Regierung Mursi kann das ägyptische Mediensystem jedoch nicht mehr als demokratisch eingestuft werden; es ist seinem Wesen nach autoritär. Versammlungskommunikation in Ägypten – unsoziale Medien Der bedeutsame Anteil der Sozialen Medien im Arabischen Frühling ist vielfach hervorgehoben worden.34 Dennoch waren die Umbrüche weder in Ägypten noch an anderen Orten der arabischen Welt als »Facebook-Revolutionen« zu bezeichnen. Facebook-Gruppen organisierten den Protest über das Internet. Der Begriff der »Facebook-Revolution« gehört aber ebenso wie der der »Jugendrevolution« zu den Mythen der arabischen Revolution, und er ist selbst unter ägyptischen Bloggern höchst umstritten. Das Internet war bei den Umbrüchen in Ägypten gerade in den ersten Tagen bedeutsam, dann allerdings wurde es ebenso wie die gesamte Mobiltelefonie vom Regime abgestellt. Der Dynamik des Protests tat dies jedoch keinen Abbruch. Hinter dem Tahrir-Platz in Kairo und in zahlreichen anderen Städten Ägyptens etwa bildeten sich, wie vorher bereits in Tunesien, kleine Demonstrationsgruppen, die durch Mund-zu-Mund-Propaganda Menschen aus ihren Häusern riefen und dabei ganz traditionelle Formen der Versammlungskommunikation verwendeten, wie sie Menschen schon seit Jahrtausenden praktizieren. Diese Prozesse werden gerne übersehen, wir konzentrieren uns auf technische Innovationen, auf die neuen Medien, die häufig vom Westen geprägt worden sind und die uns insofern eine eigene Rolle in diesen welthistorischen Entwicklungen zu geben scheinen. Man muss jedoch daran erinnern, dass demokratische Umbrü34 Bspw. Khamis/Vaughn 2011.

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che auch schon in früheren Jahrzehnten, etwa in Lateinamerika, ohne das Internet möglich gewesen sind. Und auch in der arabischen Welt hat das Internet die Transition angeschoben, aber die revolutionsähnlichen Prozesse haben schnell eine Eigendynamik entwickelt. Man kann sogar weitergehen und argumentieren, dass gerade das säkulare Lager mit seinem starken Akzent auf Aktivitäten einer internetgestützten außerparlamentarischen sozialen Bewegung auf Kosten einer Herausbildung klassischer Parteienstrukturen einem falschen Verständnis der von Charles Tilly und Sidney Tarrow so prominent beschriebenen »Möglichkeitstrukturen« (opportunity structures) der politischen Transformation erlegen ist.35 Den institutionellen Raum der Wahldemokratie durch einen Mangel an Selbstorganisation der Säkularen nahezu kampflos den Islamisten zu überlassen, schuf eine machtpolitische Asymmetrie, die die islamistische Regierung Mursi und die außerparlamentarische Opposition in eine Konstellation zwang, in der die Kräfte der Opposition gegen die von ihnen selbst geschaffene Demokratie vorgingen, die dann durch einen Militärcoup abgeschafft wurde.36 Im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes sollen aber die politische Kultur und ihre Anerkennungskämpfe im Vordergrund stehen, und auch hier ist die Bilanz nicht durchweg erfreulich. Zu Teilen des Internets liegen heute solide empirische Untersuchungen vor. Das Internet ist ein Hybridmedium, das verschiedene Onlinediskurse vereint: es existieren massenmediale, kollaborative und persönliche Öffentlichkeiten im »Short Head« und »Long Tail« des Netzes.37 Die unterschiedlichen Sphären sind teilweise durch dynamische Informationsflüsse als Netzwerke verbunden, wobei allerdings die Verknüpfungen nicht vollständig sind und das Netz alles andere als machtfrei ist, sondern zahlreiche Hegemonien und Hierarchien aufweist. Zum Short Head in Ägypten während der Periode 2011-13 konnte man sicherlich einige der großen sozialen Bewegungen des Landes zählen; zum Long Tail gehörten die meisten Twitter-Nachrichten. Auf Grund der geradezu explosionsartigen Zunahme von Artikulationen im ägyptischen Internet während des Arabischen Frühlings hat Rasha Abdulla zu Recht argumentiert, dass digitale Medien für den sozialen Wandel eine bedeutsame Katalysatorfunktion besaßen, indem sie kritische Meinungsäußerungen ermöglichten, bestehende Medienhegemonien herausforderten und eine Mobilisierung gegen das Regime Mubarak erleichterten.38 Text- und Bildbotschaften der Sozialen Medien erweiterten den öffentlichen Raum in Ägypten in jedem Fall ganz erheblich. Hanan Badr und Mehrez Ghali haben eine umfangreiche empirische Studie über die Onlinepräsenz sozialer Bewegungen durchgeführt.39 Das bekannte 6 April 35 36 37 38 39

Tilly/Tarrow 2007. Hafez 2016. Schmidt 2013. Abdulla 2012, 2014. Badr/Ghali 2016.

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Youth Movement beispielsweise organisierte auf diese Weise einen erheblichen Protest gegen das Regime Mubarak, zerfiel jedoch nach dessen Fall in verschiedene Interessengruppen ohne klare, einheitliche oder gar auf den Parteienraum konzentrierte Strategie. Die Revolutionary Socialists, eine andere große soziale Bewegung, entwickelten mit dem Fortgang der Verfassungsdebatte in der Ära Mursi einen konfrontativen und polemischen Debattenstil, indem sie dem Staat unter anderem mit einem anarchischen Aktivismus drohten. Der Onlinediskurs der Muslimbruderschaft blieb kompromisslos und illiberal und wurde vom offiziellen Organ der Bruderschaft, Ikhwan Online, beherrscht. Gerade die jüngeren und liberalen Anhänger der Bewegung zeigten keine kohärente politische Strategie zur Moderierung der kompromisslosen Politik Mursis gegenüber dem säkularen Lager. Die Salafyo Costa-Bewegung war eine Ausnahme insofern, als ihr Diskurs weniger dogmatisch war. Insgesamt aber kann der Onlinediskurs sozialer Bewegungen in Ägypten als introvertiert und hinsichtlich der säkular-islamistischen Beziehungen als wenig interaktiv betrachtet werden. Konsens war eine nur selten erkennbare politische Strategie, sondern eher ein Kampfbegriff zur Stigmatisierung der jeweiligen politischen Opponenten, die als intolerante Kräfte bezeichnet wurden, die die nationale oder islamische Identität Ägyptens zerstörten. Ingmar Weber, Venkata R. Kiran Garimella und Alaa Batayneh haben ägyptische Twitter-Nachrichten im Zeitraum 2012-13 untersucht.40 Unter den zentralen Schlagworten bei Twitter, den so genannten Hashtags, fanden sich demnach viele islamistische, es gab aber auch einige wenige bekannte Hashtags, die islamistische wie säkulare Argumente vereinten. Die Daten zeigen aber insgesamt eine im Laufe der Zeit abnehmende Dialogbereitschaft der ägyptischen Twitter-Nachrichten während der Verfassungsdebatte im Jahr 2012, die unter anderem darin zum Ausdruck kam, dass immer weniger Hashtags vom säkularen und islamistischen Lager gemeinsam genutzt wurden. Die Autoren schlussfolgern zudem, dass TwitterPolaritäten als Barometer für Spannungen in der Gesellschaft angesehen werden können, was man insbesondere an den Twitter-Bewegungen vor den Gewaltausbrüchen im November 2012 erkennen konnte. Javier Borge-Holthoefer et al. kommen bei ihrer Analyse der Twitter-Nachrichten in der Periode des Militärcoups 2013 zu dem erwartbaren Bild, dass säkulare Twitter-Nutzer den Militärcoups wesentlich öfter unterstützten als islamistische Anhänger.41 Zugleich gab es innerhalb des säkularen Lagers auch Meinungsunterschiede in dieser Frage, was neben der starken Polarität immerhin auf ein gewisses Potential der Anerkennung in Teilen der Sozialen Medien Ägyptens hinweist und als Entwicklungschance für die Zukunft betrachtet werden kann. Charles Hirschkind hat in seiner Analyse der ägyptischen Blogosphäre vor dem Arabischen Frühling 2011 ebenfalls darauf hingewiesen, dass die scharfe Trennung zwischen säkularen und islamistischen Lagern und Diskursen hier zumindest in Teilen einer kooperativen und integrativen Haltung gewichen war, die allerdings, wie der Autor ebenfalls anmerkt, seit dem Jahr 2012 in eine »schrille« Polemik zwischen den 40 Weber et al. 2013. 41 Borge-Holthoefer et al. 2015.

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Lagern zurückfiel.42 Nur eine Politik, so merkt er richtig an, die die »ideologische Falle« der Polarisierung zwischen Säkularismus und Islamismus überwinde, werde künftig in der Lage sein, wirklichen Wandel hervorzubringen. Insgesamt muss also retrospektiv festgestellt werden, dass bestehende Untersuchungen des Onlinediskurses den Eindruck vermitteln, als sei dieser vielfach dogmatisch, feindbildartig und dissensorientiert gewesen. Von den idealtypischen Habermas’schen Anforderungen an eine deliberative, dialogische und an praktischer Partizipation interessierte Öffentlichkeit war nicht viel zu erkennen. Diese Ergebnisse stimmen mit Studien aus zahlreichen anderen Ländern überein, die zeigen, dass Onlinediskurse der Zivilgesellschaft oft Qualitätsdefizite aufweisen, sich auf eine geringe Anzahl von Themen konzentrieren und wenig kompromissorientiert sind.43 Derartige Charakteristika müssen gegen die von Abdulla erwähnten unbestreitbaren Vorzüge Sozialer Medien, alternative Sichtweisen zu artikulieren und als Mobilisierungsinstrument wirken zu können, gewichtet werden. Encounter-Kommunikation – tolerante Lebenswelten? Da Encounter-Kommunikation im Alltag kaum wissenschaftlich zugänglich ist, behilft sich die Kommunikationswissenschaft hier vielfach mit qualitativen Studien zu scheinbar harmlosen Gegenständen. Eines der wesentlichen Felder ist hier die Untersuchung der politischen Dimensionen der Rezeptionsprozesse von Populärkultur. Frei nach dem medienanthropologischen Slogan »entertainment is political« geht man heute davon aus, dass auch scheinbar apolitische Unterhaltungskulturen Politik- und Gesellschaftsvorstellungen transportieren können. Sie senden politische Metabotschaften, die nicht nur im populärkulturellen Text enthalten sind, sondern vom Konsumenten auch in anschließenden Rezeptionsprozessen in unterschiedlicher Weise dekodiert werden können. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten Vertreter der Frankfurter Schule, wie Theodor Adorno oder Max Horkheimer, und andere Denker, wie Walter Benjamin und Sigfried Krakauer, konträre Vorstellungen mit Blick auf eine positive Wirksamkeit von Unterhaltung in der Politik.44 Nach dem Zweiten Weltkrieg dann setzte sich diese Debatte in der modernen Medienwissenschaft oder auch den Cultural Studies fort, und Akademiker wie Neil Postman, John Fiske oder Graeme Turner revitalisierten optimistische wie auch pessimistische Sichtweisen auf den Gegenstand.45 Dabei ging es im Kern um die Frage, ob sich politisches Denken durch Populärkultur entwickeln oder ob es lediglich manipuliert werden könne. Die Optimisten betonen bis heute, dass Populärkultur, auch wenn sie apolitisch erscheint, keineswegs nur als Ablenkung vom Politischen betrachtet werden muss, sondern durch die Repräsentation des Individuums und die aktive Teilhabe der Bevölkerung eine 42 43 44 45

Hirschkind 2016, S. 30. Vgl. die Literaturübersicht bei Stromer-Galley/Wichowski 2013. Vgl. Klein 2004. Postman 1985; Fiske 1989; Turner 2010.

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geradezu demokratische Repräsentation erfolge, die in den elitären politischen Diskursen wenigen vorbehalten bleibt. Selbst wenn das Internet den Partizipationsraum der politischen Debatte erweitert hat, so wird man einräumen müssen, dass die Zahl derjenigen, die sich über dieses Hypermedium zu politischen Fragen äußern, selbst über berühmte Soziale Medien wie Facebook und Twitter noch immer sehr eingeschränkt ist. Ob es sich bei der Populärkultur allerdings um eine systemrelevante »demokratische« oder eher um eine »demotische« (volkstümliche; Turner) Partizipationsform ohne echte politische Veränderungskraft handelt, ist bis heute umstritten. Interessanterweise hat im Feld der Nahostforschung lange Jahre eine positive Interpretation des Zusammenhangs zwischen Populärkultur und Politik vorgeherrscht. Eine Schwerpunktausgabe der renommierten Fachzeitschrift Transnational Broadcasting Studies stellte 2005 die Frage, ob Reality-TV – also Spielsendungen im arabischen Fernsehen – die arabische Welt »demokratisieren« könnte.46 Marwan Kraidy argumentiert, dass Reality-TV ein Hypermedium für Araber sei, um die moderne arabische Kultur zu definieren und die Grenzen der arabischen Identität in einer Zeit zu testen, in der diese Identität durch Gewalt und Islamisierung herausgefordert werde.47 Er kritisiert die kulturpessimistische Sicht, wonach Unterhaltungs- und Populärkultur eine korrumpierende Wirkung für die Demokratie besitze, obwohl er einräumt, dass demokratieförderliche Tendenzen nicht automatisch mit der Ausbreitung von moderner Populärkultur wie Reality-TV verbunden seien.48 Aus theoretischer Sicht stehen die Populärkultur und die damit verbundenen Rezeptionsprozesse und Anschlussdiskurse der Lebenswelt in Verbindung mit einer Reihe von Werteentwicklungen vor allem im Bereich der individuumsbezogenen Werte, etwa bei Geschlechterbildern. Das Individuum steht im vorliegenden Zusammenhang jedoch weniger im Vordergrund als die gesellschaftliche Anerkennung von sozialen und anderen Gruppen. Populärkultur spricht eben auch gruppen- und systembezogene Metawerte an oder kann mit ihnen in Beziehung stehen. Definiert man politische Kultur als eine Kombination aus individuums-, gruppenund systembezogenen Einstellungen von Menschen, dann kann die Populärkultur durchaus Auswirkungen auf alle drei Bereiche haben. Als systembezogene Werte der politischen Kultur kann man diejenigen bezeichnen, die für die politische Ordnung zentral sind. In Demokratien lassen sich diese Werte wiederum in zwei Unterkategorien aufteilen: Werte, die das politische System der Wahldemokratie berühren, also insbesondere die Partizipationsbereitschaft betreffend, und zivilgesellschaftliche Werte, die auf die gewaltfreie Anerkennung von Gruppen innerhalb der Gesellschaft zielen. Von unpolitischer Populärkultur, wie etwa Spielshows im Fernsehen, kann nicht erwartet werden, dass Partizipationswerte direkt angesprochen werden, da politische Sachverhalte in al46 Armbrust/Kraidy 2005. 47 Kraidy 2010, S. 13, 15. 48 Ebd., S. 19, 33.

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ler Regel nicht Gegenstand dieses Genres sind. Partizipation kann allenfalls spielerisch und symbolisch eingeübt werden, der Bürger gewöhnt sich daran, ein Hauptakteur in der Öffentlichkeit zu sein. Natürlich wissen wir nie, ob diese Simulationen dem Test der politischen Realität standhalten, denn die Teilhabe an einer Show ist nicht gleichbedeutend mit einer allgemeinen, politischen Beteiligungsbereitschaft. Genau dies will Turner in seiner Unterscheidung zwischen einer demotischen und einer demokratischen Populärkultur zum Ausdruck bringen. Die Werte der zivilgesellschaftlichen Anerkennung können jedoch wesentlich direkteren Niederschlag finden als partizipationsbezogene Werte. Die Repräsentation sozialer, ethnischer und religiöser Gruppen innerhalb der Populärkultur kann die Anerkennung von Differenz und Toleranz in einer Gesellschaft fördern oder behindern. Ob eine differenzierte Solidarität nach Young entsteht, die die Demokratie stabilisiert, hängt also auch vom populärkulturellen Sektor und den kommunikativen Verhältnissen in der Alltagswelt der Rezipienten ab. Populärkultur kann auch ein Resonanzfeld der nach innen gerichteten Gruppenidentitäten sein. Hier geht es weniger um die Anerkennung von Fremdgruppen, wie im Bereich der systembezogenen Werte (out-group), sondern vielmehr um Identitätsverhältnisse innerhalb von Gruppen (in-group). Während traditionelle Gruppen wie die Familie durch direkte soziale Interaktion und private Beziehungen verbunden werden, sind moderne Großgruppen wie die Nation oder die Religionsgemeinschaft nur sehr lose und symbolisch vernetzt. Populärkultur ist ein wesentlicher Teil moderner gruppenbezogener Identitätsbildungsprozesse. Die meisten Studien über arabische Unterhaltung argumentieren, dass gerade die modernen Medien für eine Hybridisierung und Modernisierung des arabischen Nationenbegriffs sorgen.49 Allerdings können zugleich religiöse oder ethnische Partikularidentitäten forciert werden. Christa Salamandra etwa hat auf einen säkularen Trend in arabischen Fernsehserien hingewiesen.50 Auch Kraidy geht davon aus, dass Reality-TV in der arabischen Welt nicht umsonst vor allem religiös orientierte Kritiker gefunden habe.51 Gerade die arabische Fernsehunterhaltung als Teil der Populärkultur scheint also zumindest in einigen Ländern ein Gegengewicht zum starken islamistischen Trend in anderen Teilen der arabischen Gesellschaften darzustellen. Schaut man sich die empirische Lage zur Erforschung system- und gruppenbezogener Resonanzen in der ägyptischen Populärkultur an, so hat sich vor allem Anne Grüne um ein genaues Bild der Rezeptionsprozesse bemüht.52 Ihre Studie zur Rezeption von Reality-TV unter ägyptischen Jugendlichen zeigt recht deutliche Tendenzen auf. Im Bereich der Gruppenwerte werden gerade arabisch-natio49 50 51 52

Armbrust 2000. Salamandra 2008. Kraidy 2010. Grüne 2016. Vgl. auch die weiterführende Rezeptionsanalyse der im Rahmen dieses Dissertationsprojekts durchgeführten zwölf Fokusgruppeninterviews mit insgesamt 46 Schülern und Studenten im Raum Kairo (unveröffentlichter Transkriptionsanhang zur Dissertation an der Universität Erfurt).

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nalistische Identitätsmuster durch transnationale Unterhaltungsformate verstärkt; die Wir-Sie-Dichotomie wird durch Fernsehunterhaltung im modernen Gewand fortgeschrieben, Kosmopolitismus ist hingegen die Ausnahme. Religiöse Identitäten bleiben zumeist latent, werden aber durch islambezogene Wissensinhalte etwa in Quizshows auch unterschwellig stimuliert. Was die uns hier vor allem interessierenden systembezogenen Wertemanifestationen angeht – und hier insbesondere die Frage nach der zivilgesellschaftlichen Anerkennung von Gruppen –, so ist auffällig, dass solche Repräsentationen eher latent vorhanden zu sein scheinen. Grüne spricht in diesem Zusammenhang von einem begrenzten Wirkpotential von Reality-TV, das wesentlich beschränkter sei, als in den weniger empirisch ausgerichteten Arbeiten von Kraidy und Armbrust angenommen. Zwar werden Individualwerte der Modernisierung und der flexiblen Geschlechterrollen in der Tat nachhaltig aktiviert, aber die Anerkennung von Gesellschaftsgruppen wird ungeachtet ihrer gelegentlichen Repräsentation (z.B. Kopten) weder im Fernsehen noch in der anschließenden Rezeption praktiziert. Gruppen, die aus der Öffentlichkeit weithin ausgeschlossen werden (z.B. Homosexuelle, religiöse Minderheiten), finden auch in der Populärkultur keine verbesserte Anerkennung – im Gegensatz zu einigen deutschen Shows, die eine postmoderne und abweichende Lebensführung wesentlich deutlicher abbilden. In Ägypten hingegen werden die Möglichkeiten einer populärkulturellen gruppalen Toleranzförderung kaum genutzt. Politische Anerkennung von Säkularen und Islamisten spielt ebenfalls keine Rolle, schon eher eine ja auch von Salamandra bemerkte stille säkulare Hegemonie, die Grüne in der wesentlich stärkeren Präsenz unverschleierter Frauen in den Spielshows und ihrer Rezeption erkennt. Diskussion und Fazit Die Ausgangsfrage war, ob und wie sich die wechselseitige Anerkennung bzw. Nicht-Anerkennung von säkularen und islamistischen Gruppen in Massenmedien, Versammlungs- und Lebensweltkommunikation in Ägypten seit dem Arabischen Frühling geäußert haben. Anerkennung/Polarisierung wurden dabei auf der Basis von Forsts Unterscheidung zwischen »Zurückweisung«, »Akzeptanz« und »Ablehnung« als diskursiv-feindbildartig und dialogverweigernd konzipiert. Für Ägypten lässt sich bilanzieren, dass Muster der Polarisierung je nach kommunikativer Eigenlogik des jeweiligen Feldes deutlich erkennbar werden: ausgeprägte Feindbilder und grundsätzliche Zurückweisungen in den Massenmedien; Feindbilder und Dialogverweigerung und damit Zurückweisung und Akzeptanzverweigerung in Sozialen Medien und eher latente Formen der Ablehnung und Duldung durch Nicht-Thematisierung in der Populärkultur der Lebenswelten. Feindbilder waren zudem tendenziell auf allen Ebenen erkennbar, von negativen Pauschalurteilen und der Unterstellung gegnerischer Feindlichkeit (kognitiv) über emotionale Aufheizung (affektiv) bis zu Gewaltandrohung (konativ). Damit ist ungeachtet der disparaten Forschungsgegenstände, Begrifflichkeiten und Methoden das gesamte Panoptikum der Forst’schen Nicht-Anerkennung feldübergreifend nach-

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weisbar – sicherlich nicht als alleiniges Muster, aber in gehäufter Qualität und mit nachhaltigen gesellschaftlichen Folgewirkungen: – Massenmedien: Es stellt sich die Frage, ob nicht die radikale Polarisierung der ägyptischen Medien während des Arabischen Frühlings das öffentliche Klima aufheizte und damit den Weg für eine Intervention durch den heutigen Präsidenten al-Sisi bereitete. Der Verlauf des ägyptischen Demokratieexperiments zeigt, dass es nicht ausreicht, dass Phänomen des Aufstiegs einer arabischen Öffentlichkeit in den letzten Jahrzehnten zu konzedieren, sondern dass auch die arabische Zivilgesellschaft, die politische Kultur und die öffentlich ausgetragenen Anerkennungskämpfe genauer analysiert werden müssen. Die Unfähigkeit vieler säkularer und islamistischer Medien zu verstehen, dass Freiheit immer auch die »Freiheit der Andersdenkenden« ist, wie Rosa Luxemburg meinte,53 hat die Legitimität der Wahldemokratie erheblich untergraben. Radikal polarisierte Öffentlichkeit ist in historischer Perspektive ein verbreitetes Phänomen junger Demokratien und einer der wesentlichen Gründe dafür, warum die Konsolidierung der demokratischen Transformation oft ein so langwieriger und schmerzvoller Prozess ist. Eine der erfolgreichsten Formen der Transformation ist der zwischen radikalen politischen Kräften ausgehandelte Systemwandel, wobei ehemals radikale Kräfte nach demokratischen Wahlen aufeinander zugehen und einen neuen Konsens schaffen. Genau dies aber steht in Ägypten derzeit noch aus. – Versammlungskommunikation: Ägyptens oft radikal-polarisierter Internetdiskurs während des Arabischen Frühlings fand vor dem Hintergrund von Klassenkonflikten und zahlreichen sozio-ökonomischen Konflikten statt. In beiden politischen Lagern befanden sich zur damaligen Zeit Kräfte auf unterschiedlichen sozialen Niveaus, die islamistische oder aber anti-islamistische Slogans als politische Kampfbegriffe nutzten. Interessant ist in diesem Zusammenhang etwa, dass, je höher der ökonomische Status von in politischer Einstellungsforschung befragten Ägyptern war, ihre Zustimmung zum Arabischen Frühling umso geringer ausfiel. Die ideologischen Dispute etwa über die Verfassung des Landes basierten auf einer oft zu wenig beachteten Matrix sozialer Verteilungsrivalität, die eng mit der radikal polarisierten politischen Kultur verbunden war. Die Zivilgesellschaft agierte hier durchaus ähnlich wie die von ihr oft kritisierten klassischen Massenmedien. Zumindest sind ernsthafte Zweifel angebracht, ob von den Sozialen Medien eine zivilisierende Wirkung auf die mediale Öffentlichkeit wie auch auf die Vorder- und Hinterbühnen der Politik ausging. Natürlich wäre es verfehlt, der Zivilgesellschaft und den Sozialen Medien die alleinige Schuld für den Militärcoup von al-Sisi geben zu wollen. Das Versagen der politischen Institutionen, der konterrevolutionäre Trend weiter Teile der alten Eliten in Militär, Bürokratie und Wirtschaft sowie das polarisierende Agieren vieler Massenmedien besaßen einen erheblichen Anteil am vorläufigen Scheitern des Arabischen Frühlings in Ägypten.

53 Luxemburg 1922, S. 109. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Lebensweltkommunikation: Hier entsteht der Eindruck, als würde neben der individuellen Werteentwicklung vor allem die hegemoniale Gruppenidentität (v.a. Nation) gefördert, wohingegen die innerhalb dieser Gruppen bestehenden ethnischen, religiösen und sozio-politischen Identitäten jedoch weitgehend ausgeblendet blieben. Auch wenn bisher empirisch lediglich ein Ausschnitt der populärkulturellen Praxis in Produktion und lebensweltlicher Rezeption untersucht werden konnte, so lässt sich die ägyptische Populärkultur zumindest nicht ohne Weiteres als anerkennungsorientiert und als Gegentrend zu den eher polarisierenden Massenmedien und Sozialen Medien einstufen. Wahrscheinlich ist es die ökonomische Opportunität, die zumindest die kommerzielle ägyptische oder arabische Populärkultur abhält, in einem hochaufgeladenen politischen Umfeld das »heiße Eisen« der säkular-islamistischen Beziehungen oder andere Minderheitenprobleme anzugehen. Ein abschließendes Urteil über Anerkennungsverhältnisse und deren Rolle bei der Destabilisierung der jungen Demokratie Ägyptens in den Jahren 2011-13 ist derzeit noch auf keiner Ebene der Öffentlichkeit möglich. Gerade die lebensweltlichen Kommunikationsverhältnisse sind bislang erst im Ansatz erforscht und zu komplex, um vorschnelle Urteile zu fällen. Die bisherige Forschungslage zeigt aber bereits deutlich, dass es sich lohnt, die nahostbezogene Kommunikationsforschung über die etablierte Analyse der Massenmedien hinaus in den Raum der Sozialen Medien, der realweltlichen Versammlungskommunikation und die private Encounter-Kommunikation auszuweiten. Die aktuelle Forschung deutet an, dass die in den politischen Kulturen vieler arabischer Länder spätestens seit Beginn des Jahrtausends in allen politischen Lagern erkennbare Hinwendung zu Werten der Demokratie, so bemerkenswert sie auch sein mag und so sehr sie auch die Klischees einer Unvereinbarkeit von »Islam« und Demokratie widerlegt, unterschwellig zugleich Wertedefizite aufweist, die es erschweren, eine einmal errungene Demokratie langfristig zu konsolidieren. Es hat sich im Arabischen Frühling leider bewahrheitet, dass das genaue und konsensuale Mischverhältnis von Demokratie, Säkularismus und Islamismus in der arabischen Welt noch unklar bleibt und sich erst in der Praxis der Demokratisierung herausbilden können wird.54 Wie in vielen jungen Demokratien der Weltgeschichte in Europa und andernorts wirken die sozialen Rivalitäten der Diktaturzeit nach und die durch den elitären Autoritarismus verstärkten sozialen und ideologischen Klüfte – etwa zwischen Säkularen und Islamisten – schlagen sich in gesellschaftlichen Anerkennungsdefiziten nieder, die einen grundlegenden Verfassungs- und Gesellschaftsvertrag bzw. ‑konsens verunmöglichen. Bei allem Willen zur Demokratie ist das Verständnis von Pluralismus bei vielen Beteiligten – im politischen System, in den Medien ebenso wie in der Zivilgesellschaft – offensichtlich hegemonial bis fundamentalistisch geprägt. Zwar ist es durchaus denkbar, dass eine Demokratie im öffentlichen Raum in bestimmten Phasen ihrer Geschichte bestimmte hegemoniale Tendenzen aufweist. Ähnlich wie in Israel, wo Juden in vielen Bereichen ein auch rechtlich gesichertes 54 Hafez 2009, S. 59-63.

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Privileg zukommt, oder selbst in Europa, wo in Staaten, wie England und Dänemark, bis vor kurzem auch in Schweden und Norwegen, das Christentum bzw. einzelne Konfessionen Staatsreligionen sind, muss man damit rechnen, dass auch Demokratien in der islamischen Welt, sofern sie echte Säkularität ablehnen, eine fundamentalistische Färbung annehmen können.55 Eine solche hegemoniale Tendenz muss allerdings in klaren Grenzen gehalten werden. Sie darf nie und zu keiner Zeit die privat ausgeübten Menschenrechte anderer Ethnien, Religionen, Geschlechter und demokratiekonformen Ideologien gefährden. Und sie darf nie – dies ist im vorliegenden Kontext entscheidend – die politischen Partizipationsrechte dieser Ethnien, Religionen, Geschlechter und Ideologen einschränken. Sonst sind Mindestanforderungen an die Demokratie gefährdet. Zwar ist vorstellbar, dass bestimmte staatliche Hoheitssymboliken von Mehrheiten geprägt werden; private wie auch öffentliche Räume, einschließlich des Parlaments, müssen jedoch neutral bleiben. Ohne solche grundlegenden Anerkennungsverhältnisse muss es jede Demokratie auf Dauer schwer haben, zu überleben. Ob es in Ägypten einen zweiten Arabischen Frühling geben wird, hängt also auch davon ab, ob die politische Kultur und die in ihr wirksamen Meinungsführer zu einer Korrektur ihres bisherigen politischen Denkens und Verhaltens in der Anerkennungsfrage bereit sind. Nicht zu Unrecht werden mittlerweile Stimmen laut, die davor warnen, dass der derzeitige neo-autoritäre Kurs eines intoleranten Pseudo-Säkularismus eines Tages eine islamistisch-autoritäre Revanche wie in Iran nach sich ziehen könnte.56 Soll die demokratische Transformation nicht aus den Augen verloren werden, müssen die verfeindeten radikalen Gruppen der Gesellschaft aufeinander zugehen und sich wechselseitige Bestandsgarantien geben. Literatur Abdulla, Rasha 2012. Diversity Observatory Report 2. Media Diversity during Egypt’s Presidential Elections (May-June 2012). Kairo: Media Diversity Institute, URL: media-diversity .org/en/additional-files/documents/b-studies-reports/MDI_Egypt_Media_Monitoring_Repo rt_2.pdf [06.09.2016]. Abdulla, Rasha 2014. Egypt’s Media in the Midst of Revolution. Washington: Carnegie Endowment for Peace, URL: carnegieendowment.org/files/egypt_media_revolution.pdf [06.09.2016]. Abou El Fadl, Khaled 2015. »Failure of a Revolution. The Military, Secular Intelligentsia and Religion in Egypt’s Pseudo-Secular State«, in: Routledge Handbook of the Arab Spring. Rethinking Democratization, hrsg. v. Sadiqi, Larbi. New York: Routledge, S. 253-270. Armbrust, Walter (Hrsg.) 2000. Mass Mediations. New Approaches to Popular Culture in the Middle East and Beyond. Berkeley: University of California Press. Armbrust, Walter; Kraidy, Marwan (Hrsg.) 2005. The Real (Arab) World. Is Reality TV Democratizing the Middle East? Themenheft der Zeitschrift Transnational Broadcasting Studies, 1(2). Averbeck-Lietz, Stefanie 2010. Kommunikationstheorien in Frankreich. Der epistemologische Diskurs der Sciences de l’information et de la communication (SIC) 1975-2005. Berlin: Avinus.

55 Hafez 2012 b. 56 Abou El Fadl 2015, S. 269. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Zusammenfassung: Geht man davon aus, dass die Anerkennungskämpfe innerhalb der Zivilgesellschaft für eine stabile Demokratie ebenso wichtig sind wie politische Institutionen, dann ist zu fragen, inwiefern etwa das in der politischen Kultur Ägyptens verwurzelte Schisma zwischen islamistischem und säkularem Lager für den Niedergang der Demokratie im Zeitraum 2011-13 nicht genauso verantwortlich zu machen ist wie das Handeln von Eliten, Gegeneliten und internationalen Mächten. Auf der Basis der vorhandenen empirischen Sozialforschung belegt der vorliegende Beitrag, dass in Ägypten nach dem Ausbruch des Arabischen Frühlings trotz der mehrheitlichen Hinwendung zur Demokratie zugleich starke, kulturell verfestigte und sozio-ökonomisch strukturierte Anerkennungsdefizite und radikale Polarisierungen zu erkennen waren, die die junge Demokratie destabilisierten. Nachweisbar sind solche Bruchstellen der politischen Kultur auf allen Ebenen der Öffentlichkeit, in den Massenmedien ebenso wie in den Sozialen Medien und in den privaten Rezeptionsdiskursen selbst in politikfernen Arenen der Populärkultur. Stichworte: Arabischer Frühling, Ägypten, Öffentlichkeit, Medien, Kommunikation

Civil Society at the Crossroads of Democracy. Battles of Recognition in the Egyptian Public Sphere Summary: On the basis of the assumption that recognition within civil society is as important for a stable democracy as political institutions, elites, counter elites and international powers, the question remains, whether the schism between Islamists and secularists has, in fact, reinforced the downswing of the Arab Spring and helped to end the democracy in Egypt in the period 2011-13. Reflecting on the existing empirical social research, this contribution reveals that despite the enormous support for democracy in Egypt during the Arab Spring, deep-seated cultural and socio-economic resentment and a lack of recognition destabilized the system. Such radical polarizations were evident on all levels of public opinion, in the mass media as well as in social media, and they were effective also in (seemingly) non-political reception processes of popular culture. Keywords: Arab Spring, Egypt, public sphere, media, communication.

Autor Prof. Dr. Kai Hafez Universität Erfurt Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft Nordhäuser Str. 63 DE-99089 Erfurt [email protected]

VI. Emanzipatorische Perspektiven

Annette Jünemann

Zum Wandel arabischer Geschlechterdiskurse in Zeiten von Transformation, Restauration und Bürgerkrieg1

Hoffnung und Ernüchterung – eine Einleitung Die großen Hoffnungen, die der Arabische Frühling 2011 auslöste, sind einer ernüchternden Bilanz gewichen. Nicht Transformation und Demokratisierung, sondern Repression, Restauration und Bürgerkrieg prägen heute das Bild vom Nahen Osten und Nordafrika (MENA). Vor allem in Syrien sind Frauen extremer Gewalt ausgeliefert, durch den Krieg des Regimes gegen die eigene Bevölkerung, durch den Terror des sogenannten Islamischen Staats (IS) und selbst noch auf der Flucht, so sie denn gelingt. In Libyen, wo Machtkämpfe rivalisierender Gruppen in dem von Staatszerfall bedrohten Land (auch) gewaltsam ausgetragen werden, ist die Situation für Frauen ebenfalls prekär. Aber selbst in denjenigen Ländern, in denen es zumindest vordergründig ruhig ist, hat sich die politische, ökonomische und rechtliche Situation von Frauen seit 2011 verschlechtert oder steht zumindest zur Disposition. Lediglich Tunesien entwickelte sich zum Hoffnungsträger für alle Kräfte eines demokratischen Wandels. Zu ihnen zählen vor allem Frauen, die sich als die großen Verliererinnen des Arabischen Frühlings verstehen – auch im Transformationsland Tunesien.2 Vor diesem eher trüben Hintergrund soll der Wandel der Geschlechterverhältnisse fünf Jahre nach dem Arabischen Frühling einer kritischen Analyse unterzogen werden. Grundlage sind vor allem die regionalen Diskurse, in denen Frauen die gegenwärtigen Geschlechterverhältnisse kritisieren und alternative Entwürfe aushandeln. Diese Diskurse werden determiniert von den spezifischen Rahmenbedingungen der einzelnen Länder, aber nicht nur:3 Trotz der zunehmenden Heterogenität der MENA-Region gibt es nach Fatima Sadiqi und 1 Ich danke den anonymen GutachterInnen für ihre wertvollen Anregungen, ebenso meinem Mitarbeiter Mathias Krämer für seine konstruktive Kritik und sein Lektorat. 2 Eine Auswertung des Gender Gap Index von 2009–2014 erlaubt keine Aussage über die Entwicklung der Geschlechterverhältnisse in der gesamten MENA-Region. Zu unterschiedlich ist die Situation von Frauen in den verschiedenen Ländern. Noch vielschichtiger wird das Bild, wenn man nach Kategorien wie ökonomischer Teilhabe, politischer Partizipation, Gesundheit und Bildung differenziert, da Fortschritte in einem Bereich begleitet werden können von Rückschritten in anderen Bereichen. Das Gefühl, Verliererin des Arabischen Frühlings zu sein, misst sich nicht allein an dem geschlechterdemokratischen Ist-Zustand, sondern auch und vor allem an den Hoffnungen auf geschlechterdemokratische Fortschritte, die die Proteste ausgelöst hatten. Vgl. den Gender Gap Index 2014; URL: reports.weforum.org/global-gender-gap-report-2014/ [23.06.2016]. Für die Unterstützung bei der Auswertung des Gender Gap Index 2009–2014 danke ich meiner Mitarbeiterin Kati Bojang. 3 Für eine theoriegeleitete Analyse aus komparatistischer Perspektive vgl. Sadiqi 2016. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017, S. 303 – 324

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Moha Ennaji grundlegende Gemeinsamkeiten, die einen regionalen Analyseansatz aus feministischer Perspektive rechtfertigen: »The countries of the MENA region share women-linked commonalities that are strong, deep, and pervasive: a space-based patriarchy, a culturally strong sense of religion, a smooth co-existence of tradition and modernity, a transitional stage in development, and multilingualism/multiculturalism – hence the importance of understanding the historical, socio-cultural, political, economic, and legal issues in the region.«4

Anstatt also aus komparatistischer Perspektive den geschlechterpolitischen Wandel einzelner Länder zu analysieren, wird im Folgenden regional übergreifenden geschlechterspezifischen Diskursen nachgespürt.5 Ausgangspunkt der Analyse sind Reflexionen über die arabisch-muslimische Frauenbewegung aus postkolonialistischer Perspektive im ersten Abschnitt dieses Beitrags. Denn nur aus dem historischen Kontext, so meine These, lässt sich erklären, warum in der MENA-Region Prozesse von Liberalisierung und Demokratisierung kaum mit der Entwicklung von Geschlechterdemokratie korrelieren.6 Plakatives Beispiel für dieses Paradox ist Tunesien, das vor dem Arabischen Frühling eines der repressivsten Länder der gesamten MENA-Region war, aber dennoch über einen hohen Grad an Geschlechterdemokratie verfügte.7 Erst seit der erfolgreichen Revolution, mit der sich Tunesien 2011 von der Diktatur befreite, stehen ausgerechnet diese Errungenschaften wieder zur Disposition. Solche Paradoxien haben Auswirkungen auf die aktuellen Geschlechterdiskurse, die geprägt sind von einer starken Dichotomie zwischen säkularen und religiösen Frauengruppen. Im zweiten Abschnitt dieses Beitrags werden deshalb die (geschlechter‑)politischen Positionen beider »Lager« vor und nach dem Arabischen Frühling genauer beleuchtet. Dabei soll jedoch gleichzeitig verdeutlicht werden, dass der Riss durch die arabische Frauenbewegung nicht nur entlang der religiösen Konfliktlinie verläuft. Vielmehr tragen Generationenkonflikte und nicht zuletzt die enorme sozio-ökonomische Diskrepanz 4 Sadiqi/Ennaji 2011, S. 1. 5 Der Beitrag basiert auf der Auswertung der einschlägigen Sekundärliteratur und von mir durchgeführter Interviews mit Frauenrechtlerinnen aus der MENA-Region. Hinzu kommen Ergebnisse teilnehmender Beobachtung am Rande von akademischen und/oder politischen Konferenzen zum Themenkomplex Menschenrechte und Geschlechterdemokratie. Publikationen, die sich nicht nur an ein akademisches Publikum richten, wurden aufgrund der dort veröffentlichten Interviews mit arabischen Frauenrechtlerinnen ebenfalls rezipiert. 6 Bewusst wird hier der Begriff »Geschlechterdemokratie« genutzt, weil er am umfassendsten ist und engere Konzepte wie »Frauenrechte« oder »Gleichstellung« integriert. Erst wenn Frauen und Männer ungeachtet ihrer Differenz auf allen Ebenen gleichberechtigt partizipieren können, also in Politik, Ökonomie, Kultur, Wissenschaft und allen anderen gesellschaftlich relevanten Bereichen, ist das Postulat der Geschlechterdemokratie erfüllt. Dies entspricht den Kategorien im Arab Human Development Report 2002 des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen; URL: arab-hdr.org/publications/other/ ahdr/ahdr2002 e.pdf [23.06.2016]. 7 »[I]n 2010 Tunisia topped the Arab ranking (and outranked many Western countries) with its almost 28% female parliamentary deputies in the dictator-controlled parliament.« Johannson-Nogués 2013, S. 397.

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zwischen den aktiven Frauenrechtlerinnen der urbanen Mittel- und Oberschicht und ihrer unterprivilegierten weiblichen Klientel, insbesondere im ländlichen Raum, mit zur Segregation der Gesellschaft und damit auch der Frauenbewegung bei. Vor diesem Hintergrund werden im dritten Abschnitt Kompatibilitäten und Antagonismen in den politischen Positionen der auf mehrfache Weise segregierten Gruppierungen untersucht und darüber hinaus die Chancen auf eine geeinte arabische Frauenbewegung ausgelotet. Der vierte und letzte Abschnitt fasst die Ergebnisse des Beitrags zusammen und wagt einen Ausblick in die Zukunft. Den momentanen Rückschlägen zum Trotz wird davon ausgegangen, dass der arabische Frühling zumindest auf Diskursebene Spuren hinterlassen hat, die zu gegebenem Zeitpunkt in der politischen und gesellschaftlichen Praxis Wirkungsmacht entfalten könnten. Der Arabische Frühling mag vorerst gescheitert sein, sein Geist ist es nicht, denn die revolutionären Erfahrungen in den Köpfen der Menschen, und hier insbesondere der Frauen, lassen sich nicht löschen. Tradition und Moderne: Zur Aktualität des orientalistischen Narrativs »Die Frauenfrage war im arabischen Diskurs nie Nebenwiderspruch, sondern Austragungsort des Hauptwiderspruchs zwischen Moderne und Tradition, zwischen Orient und Okzident.«8 Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, wenn eine Europäerin einen Beitrag über arabische Geschlechterdiskurse schreibt? Meinen Beitrag verfasse ich aus einer Position der Außenwahrnehmung, denn als Europäerin nehme ich an den geschlechterpolitischen Aushandlungsprozessen in der MENA-Region nicht direkt teil. Über deren Einbettung in einen historisch gewachsenen euro-arabischen Geschlechterdiskurs besteht jedoch ein Nexus, der für diesen Beitrag relevant ist. Seit der Kolonialzeit ist der Geschlechterdiskurs in der MENA-Region von einem durch und durch orientalistischen Narrativ geprägt, das den Islam als archaisch und rückständig mit einem modernen und aufgeklärten Europa kontrastiert. Der Begriff »orientalistisch« geht auf Edward Said zurück, der in seinem postkolonialistischen Standardwerk Orientalism die Darstellung des Orients erstmals systematisch im Kontext kolonialer Herrschaftsansprüche analysierte.9 Danach sahen bereits Briten und Franzosen die vermeintlich niedrigere Kultur der Araber im geringen Status der Frau begründet. Als Manifestation europäischer Fortschrittlichkeit galt ihnen die Emanzipation der europäischen Frau im Unterschied zur rückständigen Orientalin, für deren Unterdrückung symbolisch das Kopftuch stand. Die Kopftuchfrage wurde damit zum Austragungsort machtpolitischer Auseinandersetzungen, bei denen es jedoch nur vordergründig um die gesellschaftliche Stellung der Frau ging, eigentlich aber um die Legitimation gesamtgesellschaftlicher Herrschaftsansprüche. Auf brutale Weise manifest wurde diese Strategie, als die französische Kolonialmacht algerische Frauen aus den Dörfern in die Städte karren lies, um sie auf öffentlichen Plätzen 8 Wettig 2013, S. 18. 9 Said 1979. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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gewaltsam zu entschleiern.10 »Indem man die Algerierinnen entschleierte, wurde deren ›Befreiung‹ vom arabisch-muslimischen Patriarchat zum Ziel des Kolonialismus und der Zivilisierung erklärt.«11 Das orientalistische Narrativ hat bis heute kaum an diskursiver Wirkkraft verloren. Es findet sich im Legitimationsdiskurs der Kriege des Westens in Afghanistan 2001 und im Irak 2003,12 aber auch in den gut gemeinten europäischen Programmen zur externen Förderung von Geschlechterdemokratie in der arabischen Welt.13 Vor allem aber prägt es den Geschlechterdiskurs in der Region selbst. Die arabische Frauenbewegung hat sich nicht überall gleich und vor allem nicht gleichzeitig entwickelt, weist aber dennoch eine regional übergreifende Dimension auf, die sich u.a. aus gemeinsamen historischen Erfahrungen speist. Sie geht ins 19. Jahrhundert zurück und orientierte sich in ihren Anfängen, wie andere Reformbewegungen auch, noch stark an Europa als Inbegriff der Moderne. Entsprechend stand das Kopftuch auch in Ägypten in den 1920er Jahren noch für die Unterdrückung der Frau, so dass selbst Frauen der islamischen Gelehrten oder der Muslimbrüder bis Ende der 1960er Jahre kein Kopftuch trugen.14 Erst im Kontext von Befreiungskrieg und De-Kolonialisierung entwickelte sich ein nationalistischer Gegendiskurs, in dem das Kopftuch zum Symbol für die Abgrenzung vom Westen wurde; zu einem nationalistischen Symbol des antikolonialen Widerstandes. Heute wird das Kopftuch sowohl von Islamistinnen zum Zeichen der Ablehnung eines westlichen Modells getragen als auch von re-islamisierten Frauen, die gegen fundamentalistische Weisungen protestieren, ohne dabei auf ihre Religion verzichten zu wollen.15 Die symbolische Aufladung des Kopftuchs steht stellvertretend für die Instrumentalisierung der Frauenfrage zur Legitimation von gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsansprüchen; ein Muster, das mit der De-Kolonialisierung keinesfalls beendet war. Nach erreichter Unabhängigkeit bemächtigten sich die neuen Herrscher schon bald des Themas und instrumentalisierten die Frauenfrage zur Durchsetzung ihrer Machtansprüche vor allem gegenüber traditionellen religiösen und tribalistischen Eliten. Am weitesten ging dabei Tunesiens erster Präsident Habib Burqiba (Habib Bourgiba), der kurz nach der 1956 erreichten Unabhängigkeit das regional fortschrittlichste Personenstandsrecht einführte, das ein Verbot der Polygamie enthielt und Männer und Frauen im Scheidungs-, Erb- und Sorgerecht gleichstellte. Nicht ganz so weit ging Ägyptens Präsident Jamal ʿAbd al-Nasir (Gamal Abdel Nasser), der den Frauen 1956 zwar das aktive und passive Wahlrecht zugestand, eine Reform des Personenstandsrechts nach tunesischem Beispiel aufgrund heftigster Proteste der islamistischen Opposition jedoch nicht durchsetzen konnte.16 Sein Nach10 11 12 13 14 15 16

Vgl. Wettig 2013, S. 18. Ali 2013, S. 28. Vgl. die Aussage von Soummana Ghannouchi, zitiert in Gray 2012, S. 301. Vgl. Jünemann 2013. Vgl. Salah 2013, S. 23. Vgl. Zarah 2013, S. 28. Vgl. Johannsen-Nogués 2013, S. 397.

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folger Anwar al-Sadat, der von 1971 bis 1976 eine strategische Allianz mit den Muslimbrüdern eingegangen war, brach zunächst mit dieser geschlechterpolitischen Strategie und beschnitt bereits gewährte Frauenrechte wieder. Erst 1977, nach dem Scheitern der säkular-islamistischen Allianz, machte das Regime zur Rehabilitierung seines liberalen Images den Frauen wieder einige Konzessionen.17 Auch Sadats Nachfolger Husni Mubarak führte diese geschlechterpolitische Strategie fort, indem er das Personenstandsrecht zumindest in Teilen reformierte und eine Frauenquote für das Parlament einführte.18 Aber auch ihm galt Frauenpolitik lediglich als Mittel zum machtpolitischen Zweck: »Mubarak would also off and on champion women’s rights as a way to divide and rule the Islamist and secular opposition, as well as to secure good will from foreign donors.«19 In Libyen ging es Revolutionsführer Muʿammar al-Qadhdhafi (Muammar al-Gaddafi) vor allem darum, über die Frauenfrage die traditionellen Familienstrukturen der Clans zu schwächen, die seinen absoluten Machtanspruch in Frage stellten.20 Gemeinsam war diesen Bemühungen stets die anti-islamistische Stoßrichtung, die schon die europäischen Kolonialmächte, insbesondere die Franzosen in ihrer mission civilatrice, eingeschlagen hatten. »From the time Tunisia was a French protectorate (1882–1956) to first post colonial president, Habib Bourguiba, who was succeeded in a bloodless coup by Zine el Aibidine Ben Ali in 1987, this part of the Maghreb has experienced more than 100 years of anti-Islamic indoctrination.«21 Aufgrund ihrer rein strategischen Funktion hielten sich die Fortschritte des sogenannten Staatsfeminismus jedoch in engen Grenzen. Die Differenz zum islamistischen Geschlechterdiskurs fiel dadurch auch geringer aus als der aufgeregte dichotome Diskurs »säkular versus islamistisch« vermuten ließ, wie Mervat Hatem für Ägypten Mitte der 1990er Jahre konstatierte: »The options offered by the secular state and the Islamists are similar. The differences between the two are incremental and not as radical as apologists of each side maintain. While Islamists are not at all committed to the liberal process, secularists are only committed to it if liberalization does not dislodge them from their positions of power.«22

Der Arab Human Development Report der Vereinten Nationen stellte 2002 die systematische Benachteiligung von Frauen in politischer, ökonomischer, gesellschaftlicher und rechtlicher Hinsicht fest.23 Und auch auf dem im Auftrag der OECD erstellten Social Institutions and Gender Index (SIGI) 2016 rangieren die arabischen Staaten, mit Ausnahme Tunesiens und bedingt auch Marokkos, kon-

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Vgl. hierzu ausführlich Hatem 1994. Vgl. Prasch 2013, S. 83. Johannsen-Nogués 2013, S. 398. Für einen systematischen Ländervergleich Tunesiens, Ägyptens und Libyens vgl. Johannsen-Nogués 2013, S. 399. Für länderspezifische Details zur Geschlechterpolitik nach dem Arabischen Frühling vgl. Agapiou-Josephides et al. 2012. 21 Gray 2012, S. 286. 22 Hatem 1994, S. 676. 23 URL: arab-hdr.org/publications/other/ahdr/ahdr2002 e.pdf [23.06.2016].

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stant weit unten am Ende der Skala, so dass man von einem regionalen Exzeptionalismus sprechen kann.24 Aber ist es auch ein muslimischer Exzeptionalismus? Die Rolle des Islam in den politischen und gesellschaftlichen Systemen der arabischen Welt wird – vor allem von arabischen Feministinnen – sehr kontrovers diskutiert, wobei jedoch Kontroversen über Säkularisierung und Laizismus auch in Europa, beispielsweise in Polen oder Italien, in den Kontext geschlechterpolitischer Diskurse gehören. Analogien zwischen arabischen und europäischen Geschlechterdiskursen finden sich in der Kritik an einer verklemmten Sexualmoral mit ihrer obsessiven Fixierung auf Körperlichkeit und Sexualität, wie man sie auch im Katholizismus findet. Alternativen werden in den Debatten um feministische Koran- bzw. Bibel-Interpretationen gesucht. Diese Parallelen sind insofern nicht verwunderlich, als nicht nur der Islam etablierte Gesellschaftsstrukturen stabilisiert und damit zur Persistenz traditionaler Geschlechterordnungen beiträgt; andere Religionen tun dies auch.25 Nach Bronwyn Winter sind dabei nicht die Religionen an sich das Problem, sondern deren jeweilige Fundamentalismen, die Winter alle als rückwärtsgewandte Ideologien kategorisiert und kritisiert: »To return to the question: Is Islam harmful for women? My answer is yes, but not to the same extent in all circumstances and not intrinsically more so than other religions, given similar political contexts and uses (or not) of religion by the community or state. Does Islam necessarily carry the seeds of Islamism? Yes, just as Christianity and Judaism carry the seeds of their own fundamentalisms.«26

Vor diesem diskursiven Hintergrund möchte ich der in Europa noch immer gängigen orientalistischen Wahrnehmung eines »muslimischen« Exzeptionalismus eine Analyse entgegenstellen, die Fragen der Geschlechterverhältnisse in der MENARegion nicht monokausal auf den Einflussfaktor »Islam« reduziert, sondern diejenigen historischen, politischen, ökonomischen und natürlich auch kulturell-religiösen Faktoren identifiziert, die für Persistenz und Wandel der Geschlechterverhältnisse in der MENA-Region relevant sind. Denn, um es noch einmal mit Sadiqi und Ennaji zu sagen, »understanding women’s agency cannot be achieved without understanding the sources of power and power-negotiations in the region.«27 Im Zentrum der Analyse stehen somit Fragen der politischen Machtverteilung vor und nach dem Arabischen Frühling.

24 URL: genderindex.org/ [23.06.2016]. 25 Eindrucksvoll weist beispielsweise Luise Chappell in einer Untersuchung über die transnationale Kooperation religiöser Eliten auf Ebene der Vereinten Nationen deren gemeinsamen Abwehrkampf gegen geschlechterpolitischen Wandel nach: »The Vatican together with a number of Islamic governments have used their religious standing to advance arguments that sit in direct contrast to the rights agenda proposed by the transnational feminist movement.« Chappell 2004, S. 2. 26 Winter 2001, S. 14. 27 Sadiqi/Ennaji 2011, S. 1.

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Akteurskonstellationen – Machtkonstellationen Die Tatsache, dass Frauen zwar maßgeblich zum Arabischen Frühling beigetragen haben, bei der Neuordnung der politischen Strukturen in den arabischen Transformationsländern jedoch kaum noch eine Rolle spielen,28 kam zunächst einmal nicht unterwartet. Vergleichbare Entwicklungen waren auch anderswo zu beobachten, beispielsweise nach dem Ende der Apartheid in Südafrika29 oder nach der politischen Wende in Mittel- und Osteuropa.30 Dort wurden Frauen trotz ihres hohen Einsatzes für den politischen Umbruch im anschließenden Transformationsprozess ebenfalls in die zweite Reihe zurückgedrängt. Dies erklärt sich aus dem Umstand, dass revolutionäre Umbruchphasen in der Regel ein gesteigertes Bedürfnis nach Ruhe und Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung nach sich ziehen, so dass postrevolutionäre Transformationsprozesse auch anderswo nur wenig Spielraum für eine grundlegende Neuordnung der Geschlechterverhältnisse lassen, die den Kern jeglicher gesellschaftlichen (Neu‑)Ordnung berühren.31 Beim Arabischen Frühling kommt jedoch eine Besonderheit hinzu, die ihn aus Perspektive der Revolutionsforschung zu einem Sonderfall macht. Obwohl islamistische Parteien und Organisationen an den Protesten, die von progressiven Kräften der Gesellschaft initiiert worden waren, zunächst kaum Anteil hatten, konnten sie sich nach dem Sturz der jeweiligen Autokraten soweit durchsetzen, dass sie in Tunesien an der Regierung beteiligt wurden32 und in Ägypten sogar für ein Jahr die Regierung alleine stellten. Auch in anderen Ländern der MENA-Region konnten islamistische Bewegungen die Unerfahrenheit und den mangelnden Grad an Organisation auf Seiten der revoltierenden Kräfte nutzen, um ihren eigenen politischen Einfluss zu steigern. Elisabeth Johansson-Nogués weist darauf hin, dass, anders als beispielsweise bei den Revolutionen Lateinamerikas oder Südeuropas in den 1980er Jahren, autoritäre Regime in der MENA-Region nicht durch progressive, sondern durch gesellschaftlich konservative(re) Kräfte beerbt wurden.33 Genau diese Entwicklung hat Colm Regan vorhergesehen, als er nicht nur die Chancen,

28 Vgl. Agapiou-Josephides et al. 2012; Sadiqi 2016. 29 Vgl. Hassim 2003, S. 505-528. 30 Zur Situation der Frauen nach der Wende in Osteuropa erklärte Sonja Lokar: »Once again women were, shoulder to shoulder with men, enthusiastic soldiers and activists of the velvet, singing and spring revolutions, only to wake up in the bleak reality of transition where they found themselves robbed of any political or economic power […] they were transformed overnight after the first free elections into the biggest group of losers of transition.« Zitiert in Avallone/Valota-Cavaletti 2009, S. 14. 31 Vgl. Harders 2011. Für eine konzeptionell-analytische Vertiefung gendersensibler Transformationsforschung in der MENA-Region vgl. Moghadam 2013. 32 Zur innenpolitischen Entwicklung Tunesiens nach dem Arabischen Frühling vgl. Preysing 2013. 33 Vgl. Johansson-Nogués 2013, S. 395. Johansson-Nogués attestiert den autoritären Regimen der MENA-Region sogar »leftish/liberal socioeconomic ambitions« (ebd.); Begriffe, die ich aufgrund ihrer mangelnden Klarheit in diesem Kontext nicht übernehme. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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sondern vor allem die Risiken des Arabischen Frühlings aus geschlechterpolitischer Perspektive benannte: »While the Arab Spring is not about gender equality per se, it is clear that it presents an opportunity to advance the position and rights of women while, at the same time, representing the danger that old traditions and discriminations will remain in place and could be reinforced if some of the most conservative Islamist parties and candidates consolidate their position in the coming months and years.«34

Diese Besonderheit erklärt die Polarisierung des aktuellen geschlechterpolitischen Diskurses zwischen religiösen und säkularen Frauen in der MENA-Region, denn während sich erstere als Siegerinnen der Revolution positionieren können, werden letztere als (vermeintliche) Parteigängerinnen der alten Regime diskreditiert. Vor diesem Hintergrund sollen die relevanten Akteurskonstellationen im Folgenden näher beleuchtet werden. Zwischen Opposition und Kooptation: Die säkulare Frauenrechtsbewegung Für säkular ausgerichtete Frauenrechtsgruppen ist eine strikte Trennung zwischen staatlicher und religiöser Sphäre die wichtigste Voraussetzung zur Umsetzung von Geschlechterdemokratie. Entsprechend scharf positionieren sie sich in ihrer Gegnerschaft zu jeglichem religiösen Fundamentalismus; in ihrem konkreten regionalen Umfeld aber besonders in Gegnerschaft zum politischen Islam: »[R]eligious fundamentalisms are a major threat to women’s rights and freedoms. As long as religions interfere in the political and public sphere, the word ›moderate‹ to describe them is deprived of meaning.«35 Die geschlechterpolitische Zielsetzung säkularer Frauenrechtsgruppen fokussiert vor allem die politischen Partizipationsrechte von Frauen sowie das Personenstandsrecht, das in den meisten arabischen Ländern Frauen massiv benachteiligt, etwa in Fragen der Scheidung, des Unterhaltsrechts oder der Rechte am eigenen Kind.36 In der Regel engagieren sich in den säkularen Organisationen Frauen mit höherer Bildung, insbesondere Juristinnen. Viele von ihnen haben in Europa, meist in Frankreich, studiert und dabei eine westliche Sozialisation erfahren. Es wäre jedoch zu einfach, wenn man davon auf eine ungefilterte »Verwestlichung« schließen wollte. Der Vorwurf der Verwestlichung ist bereits Teil des binären Diskurses, der in diesem Beitrag problematisiert wird. Denn so wenig wie es »den« westlichen Feminismus gibt, gibt es »den« arabischen Feminismus. Gleichwohl kann ein gewisser Einfluss auf die Vorstellungen davon, wie die Geschlechterverhältnisse in einer demokratischen Gesellschaft organisiert sein sollten, bei europäisch sozialisierten Aktivistinnen angenommen werden, der jedoch nur ein prägender Faktor unter vielen ist. Insgesamt fällt auf, dass die säkulare Frauenrechtsbewegung international gut vernetzt ist und diese Kontakte für ihren politischen Kampf effizient zu nutzen weiß. Bei der Analyse ihrer politischen Aktivitäten ist wichtig, dass Säkularismus nicht mit Atheismus verwechselt wird. Die meisten säkularen Frauenrechtlerinnen sind 34 Regan 2012, S. 244. 35 RDFL/IFE 2011. 36 Vgl. Mashhour 2005.

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gläubige Musliminnen, zu einem geringeren Teil auch Christinnen und nur selten Atheistinnen. Religion ist für sie Teil ihrer privaten, nicht ihrer politischen Identität. Aus der Gegnerschaft zum politischen Islam erklärt sich eine strategische Allianz, die viele säkulare Frauenrechtsgruppen mit den autoritären Regimen ihrer jeweiligen Länder – mehr oder weniger freiwillig – eingegangen sind. Das beidseitige Interesse an einer Zurückdrängung gesellschaftlicher Islamisierungstendenzen hat autoritäre Regime veranlasst, den Frauenrechtlerinnen gegenüber Konzessionen zu machen, die freilich niemals soweit gingen, den staatlichen Autoritarismus an sich in Frage zu stellen. Nur bedingt freiwillig verlief die Anlehnung an das Regime in Ägypten, wo al-Nasir nach seiner Machtergreifung 1956 die seit den 1920er Jahren aktive unabhängige und säkulare Frauenrechtsbewegung unter seinen Staatsfeminismus zwang. Im Rahmen dieses Staatsfeminismus wurden zwar durchaus fortschrittliche Gesetze beispielsweise im Bereich Schulbildung und Kinderbetreuung erlassen, gleichzeitig wurden jedoch autonome Feministinnen, die sich nicht ein- und unterordnen wollten, politisch verfolgt. Eine der bekanntesten war Durriyya Shafiq (Doria Shafik), die Mitte der 1950er Jahre einen Hungerstreik für das Wahlrecht mit organisiert hatte und später, zermürbt vom Hausarrest, Selbstmord beging.37 Das Konzept des ›Staatsfeminismus‹ wurde von al-Nasirs Nachfolgern fortgesetzt, besonders erfolgreich von Präsident Husni Mubarak. Frauenrechtsgruppen wurden teilweise vom Staat kooptiert, teilweise aber auch vom Staat selber gegründet und folglich von VertreterInnen der Zivilgesellschaft gerne als GONGOs38 belächelt. Eine typische GONGO war der im Jahr 2000 per Dekret gegründete National Council for Women (NCW), dessen Vorsitz die First Lady Suzanne Mubarak übernahm. Frauenfreundliche Gesetze, mit denen sich das Regime vor allem nach außen legitimierte, firmierten fortan als Suzanne Laws.39 Nach dem erfolgreichen Sturz Mubaraks war der NCW als Aushängeschild des alten Regimes bei den regierenden Islamisten vollkommen diskreditiert, obwohl der Militärrat 40 neue Mitglieder ernannte und vor allem die Präsidentin auswechselte.40 Aber nicht nur der NCW, auch Durriyya Shafiq als Vertreterin eines säkularen Feminismus war ihnen nicht genehm, obwohl sie nachweislich selber Opfer des alten Regimes war. Nachdem die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbruderschaft und ihre Bündnispartner in der Demokratischen Allianz 2011/12 die ersten freien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gewonnen hatten und folgerichtig die Regierung übernahmen, wollte ihr neuer Bildungsminister »die Curricula ändern und dabei alle Bilder und Informationen über Doria Shafik aus den Schulbüchern streichen«.41 Tunesiens Staatsfeminismus folgte dem gleichen Muster und ist, wie einleitend bereits festgestellt, ein besonders prägnan37 38 39 40 41

Vgl. Salah 2013, S. 23. Governmental Non-Governmental Organisations. Sholkamy 2012, S. 164 f. Vgl. Prasch 2013, S. 83. Salah 2013, S. 23.

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tes Beispiel für das strategische Zusammenspiel zwischen autoritärem Regime und säkularen Frauenrechtsgruppen. Im Ergebnis entwickelte Tunesien einen im Vergleich zu allen anderen arabischen Staaten hohen Grad an Geschlechterdemokratie,42 der jedoch auch dort von kompromissloser Repression aller politischen Kräfte begleitet wurde, die den Herrschaftsanspruch des Regimes an sich in Frage stellten. Davon zeugt das Schicksal der Frauenrechtlerin Sihem Bensedrine, einer Galionsfigur des Widerstandes gegen die Diktatur unter Zayn al-ʿAbidin bin ʿAli (Zine el Aibidine Ben Ali), die in den 1990er Jahren mehrfach inhaftiert und gefoltert wurde, das Land verlassen musste und erst im Januar 2011 nach Tunesien zurückkehrte, dem Tag, an dem Präsident Bin ʿAli die Flucht ergriff. Zu erinnern ist auch an Khadija Arfaoui und Radhia Nasraoui, »who were either jailed or sentenced in absentia after speaking out against human rights abuses in their country«.43 Besonders eng gestaltete sich die strategische Allianz zwischen autoritärem Regime und säkularer Frauenbewegung jedoch in Algerien während des mit aller Härte ausgefochtenen Bürgerkrieges der 1990er Jahre. In diesem Konflikt wurde die gesamte demokratische Zivilgesellschaft zwischen dem autoritären Regime und einem besonders militanten Islamismus geradezu aufgerieben. Da der Druck des Regimes »nur« repressiv, der der militanten Islamisten jedoch buchstäblich mörderisch war, stellten sich fast alle säkularen Frauenrechtsgruppen auf Seiten des Regimes und unterstützen dessen harte Linie im Kampf gegen den Islamismus.44 Für die gesamte MENA-Region lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die säkulare Frauenbewegung mehr als andere Frauengruppen für geschlechterdemokratische Errungenschaften gekämpft hat. Beim Ausloten ihrer Handlungsspielräume zwischen repressiven Regimen und islamistischer Opposition ist sie dabei stets ein hohes Risiko eingegangen, denn wer die unsichtbaren roten Linien überschritt, musste mit Bedrohung und Verfolgung von der einen oder der anderen Seite rechnen. In ihrer Mehrzahl gingen sie eine strategische Allianz mit den autoritären Regimen ein, wobei sie sich als Aushängeschild vermeintlicher Reformbereitschaft gegenüber westlichen Geldgebern instrumentalisieren ließen; den Geldgebern, zu denen sie meist selber gute Kontakte unterhielten. Aufgrund dieser strategischen Allianz werden ihre Errungenschaften von islamistischen Gegnern – und Gegnerinnen – heute als Resultate des Staatsfeminismus der alten Systeme und der ideologischen Komplizenschaft mit dem Westen diskreditiert. Vor dem Hintergrund der engen Handlungsspielräume zivilgesellschaftlichen Engagements in autoritären Regimen ist diese Kritik insgesamt überzogen, denn es erscheint keinesfalls gerechtfertigt, alle säkularen Frauenrechtlerinnen als Parteigängerinnen der alten Regime zu verunglimpfen. Viele von ihnen sind zu Recht stolz auf die Errungenschaften, die sie zum Teil unter hohen Risiken den jeweiligen Regimen abgetrotzt haben. Nichtsdestoweniger enthält die Kritik seitens islamistischer Ak-

42 Vgl. Kelly 2010. 43 Gray 2012, S. 288. 44 Vgl. Jünemann 1997, S. 129.

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tivistinnen einen wahren Kern: »Today, secular women’s rights activists are at pains to explain their lack of solidarity with Tunisian Islamist women who were unjustly imprisoned under the previous regimes.«45 Dieses nicht zu leugnende Versagen, das sich aus der enormen Dichotomie zwischen dem säkularen und dem islamistischen Lager erklärt, ist eine schwere Hypothek, die einer Annäherung im Wege steht und noch der zeitgeschichtlichen und politischen Aufarbeitung harrt. Islamismus und Geschlechterpolitik: Ein Widerspruch in sich? Schwieriger ist die Deutung der geschlechterpolitischen Aktivitäten von Frauen, die ihre Identität primär religiös definieren und sich in islamistischen Parteien oder Bewegungen organisieren. Die Schwierigkeit fängt bereits damit an, dass die Akteure der islamistischen Bewegung im Gegensatz zum säkularen Gesellschaftsspektrum weit weniger homogen sind. »Sie repräsentieren unterschiedliche soziale Schichten und Klassen, Generationen und sozio-kulturelle Milieus und stehen in unterschiedlichen intellektuellen Traditionen. […] Keine der großen politischen Strömungen in der arabischen Welt zeichnet sich zur Zeit durch eine so große Entwicklungsdynamik und innere Heterogenität aus, wie die islamistische Bewegung(en).«46

Relevant für die Analyse aktueller Geschlechterdiskurse sind alle Praktiken, egal ob intendiert oder nicht, mit denen religiös orientierte Frauen die politische und gesellschaftliche Teilhabe von Frauen fördern. Intendiert und damit eindeutig emanzipatorisch sind Ansätze von Wissenschaftlerinnen, den Koran aus feministischer Perspektive neu zu interpretieren. Die marokkanische Soziologieprofessorin Fatima Mernissi, Beraterin der UNESCO und Mitglied im Beraterstab der Weltbank für den Nahen Osten und Nordafrika, ist die vielleicht bekannteste Repräsentantin eines »islamistischen Feminismus«, der sich u.a. im International Congress on Islamic Feminism organisiert und auf der Überzeugung aufbaut, dass der Koran das Patriarchat nicht rechtfertigt, wenn man ihn zeitgemäß und unter Einbeziehung weiblicher Perspektiven auslegt. Islamistische Feministinnen, die sich das Recht nehmen, den ontologischen, theologischen, soziologischen und eschatologischen Status der muslimischen Frau neu zu definieren,47 sind liberalen Strömungen des politischen Islam zuzuordnen. Sie verstehen sich als Teil der globalen Frauenbewegung und zeigen sich offen für die Vielfalt auch europäischer Geschlechterdiskurse. Trotzdem stoßen sie bei dezidiert säkularen Frauenrechtlerinnen auf Kritik, denen allein die Bezeichnung »islamistischer Feminismus« als Widerspruch in sich erscheint. So kann Fatiha Hizem von der säkularen Association Tunisienne des Femmes Démocrates, befragt nach der Rolle sogenannter »islamischer Feministinnen« im regionalen Diskurs, nur lachen: »Den wollen uns die Westler und Amerikaner immer einreden. Wir halten das für Heuchelei. Denn wenn der ›islamische Feminismus‹ die Rechte von Frauen nicht als integralen Be45 Gary 2012, S. 288. 46 Lübben 2013, S. 283. 47 Hassan 1997, S. 217. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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stand der Menschenrechte behandelt, dann ist es kein Feminismus.«48 Es ist interessant, dass in der Kritik an den islamistischen Feministinnen die gleichen Argumente auftauchen, mit denen üblicherweise der säkulare Feminismus bedacht wird; hier der Vorwurf der Nähe zum Westen. Die Abgrenzung gegenüber einer Verwestlichung des arabischen Geschlechterdiskurses könnte somit zu einem potentiellen Punkt der Annäherung dieser sehr unterschiedlichen Strömungen des arabischen Feminismus werden. Auch der Vorwurf des elitär Abgehobenen, mit dem in der Regel säkulare Feministinnen bedacht werden, findet sich in der Kritik am islamistischen Feminismus wieder, z.B. bei der Politologin Hoda Salah, die dieser Bewegung an sich offen gegenübersteht. »Das ist eine intellektuelle Bewegung an der Universität Kairo, zu der aber nur wenige Frauen zählen. […] Leider ist die Bewegung sehr abstrakt und der Geschichte verhaftet. Die Frauen sind nicht auf der Straße aktiv und beziehen sich nicht auf die Revolution.«49 Sie konzediert den islamistischen Feministinnen zwar, dass sie positive Anstöße zur Förderung von Frauenrechten gegeben haben, wie beispielsweise das Recht, Mufti oder Richterin werden zu können. Bedenklich findet sie jedoch das Risiko einer Islamisierung der Debatte die zu einer ungewollten Stärkung des Fundamentalismus und einer Islamisierung der Frauenrechte führen könnte.50 Dazu dürfte auch die verstärkte Präsenz von Islamistinnen in der Politik beitragen. Weitgehend unerforscht ist bislang die geschlechterpolitische Rolle religiöser Frauen, die auf kommunaler oder nationaler Ebene, in Ministerien oder Parlamenten, den Weg in die Politik geschafft haben, beispielsweise in Ägypten über die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, die al-Wasat- und die al-Nur-Partei 51 oder in Tunesien über die al-Nahda-Partei.52 Die Frage, warum und von wem islamistische Politikerinnen gewählt werden, welche Einstellung sie zur Demokratie haben, wie sie als Gesetzgeberinnen agieren und inwieweit sie tatsächlich Gestaltungsmacht entwickeln können, wird sich mit Blick auf die sehr unterschiedlichen arabischen Transformationsländer erst mit zeitlichem Abstand untersuchen lassen. Ungeachtet ihrer jeweiligen politischen Programmatik sind jedoch alle Frauen in politischen Ämtern durch ihre bloße Existenz bereits eine Manifestation der weiblichen Forderung nach politischen Partizipationsrechten. Darüber hinaus schaffen sie durch ihre Anwesenheit in der Politik eine neue Normalität. Gesellschaftliche Normen, wie die räumliche Trennung der Geschlechter in öffentliche (Männer-) und private (Frauen‑)Räume, werden verschoben und jede Politikerin ist immer auch Rollenmodell für junge Frauen, denen weibliche Vorbilder als Ermutigung dienen, um sich selber eine Zukunft in der Politik überhaupt nur vorstellen zu können. Über politisch aktive Frauen können weibliche Perspektiven in den politischen Entscheidungsprozess einfließen, müssen es aber nicht. Auch in Europa ist 48 49 50 51 52

Fatiha Hizem, zitiert in Dietrich 2013, S. 25. Salah 2013, S. 23. Salah 2012. Vgl. El-Hawary et al. 2012. Vgl. Preysing 2013.

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nicht jede Parlamentarierin eine Feministin, Vertreterinnen konservativer Parteien vertreten in der Regel auch in Europa eher konservative Positionen zur Geschlechterpolitik.53 Im Falle der Muslimschwestern, die 2011/12 ins ägyptische Parlament gewählt wurden, ist deren Programmatik aus Perspektive säkularer Frauenrechtlerinnen jedoch eine Provokation. So klagt Hoda Salah: »Die wenigen Frauen, die im Parlament sitzen, sind zumeist streng religiös. Sie wehren sich zum Teil aggressiv gegen die Etablierung von Frauenrechten. Weibliche Abgeordnete der Muslimbrüder etwa wollen die Ratifizierung der UN-Übereinkunft, dass Staaten gegen die Diskriminierung von Frauen aktiv werden müssen, das sogenannte CEDAW-Abkommen rückgängig machen.«54

Vor diesem Hintergrund kritisiert sie den liberalen Feminismus, der nur auf Quoten bedacht ist: »Die Frage ist nicht, ob Frau oder Mann, sondern ob ein Bewusstsein für Menschenrechte vorhanden ist.«55 Mit dem Sturz Präsident Mursis durch den kalten Militärputsch im Juli 2013 ist diese Debatte zwar vorerst obsolet geworden, nicht aber das grundsätzliche Problem einer von islamistischen Frauen vertretenen rückwärtsgerichteten Geschlechterpolitik, das auch in anderen arabischen Ländern kontrovers diskutiert wird. Hoffnungen richten sich in diesem Kontext auf junge Islamistinnen, die traditionelle Geschlechterrollen ebenfalls zunehmend in Frage stellen, denn es sind vor allem ältere Frauen, die die konservativen Programme der sie entsendenden religiösen Parteien vertreten. Dies verweist auf die nicht zu vernachlässigende Tatsache, dass dem Arabischen Frühling auch ein Generationenkonflikt zugrunde lag, der sich in allen Segmenten der Gesellschaft manifestiert und quer zu allen anderen Konfliktlinien verläuft. Der Aufstand gegen den Autoritarismus richtete sich nicht nur gegen den autoritären Staat, sondern auch gegen die starren Strukturen einer auf Seniorität basierenden traditionalen Gesellschaftsordnung, die den Entfaltungsspielraum der nachwachsenden Generationen über Gebühr begrenzte. So ist zu hoffen, dass vor allem junge Frauen innerhalb islamistischer Parteien und Organisationen Veränderungen bewirken werden.56 Gewiss ist das jedoch nicht, so dass die Sorgen säkularer Feministinnen, wie Hoda Salah, nichts an Gültigkeit verloren haben. Vom feministischen Islamismus zu unterscheiden sind Praktiken der Selbstermächtigung religiös orientierter Frauen, die einer emanzipatorischen Intention folgen können, aber nicht unbedingt müssen. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Entstehung zahlreicher Arbeitsplätze für Frauen in den karitativen Einrichtungen der Muslimbrüder Ägyptens. In Krankenhäusern und Schulen erhalten auch Frau53 Für eine systematische Analyse der Bedingungen, unter denen die politische Repräsentanz von Frauen in Transformationsländern auch zu produktiver Geschlechterpolitik führt, vgl. Waylen 2008. 54 Salah 2012. 55 Salah 2013, S. 23. 56 Für eine Innenansicht der islamistischen Parteien und den dort ausgetragenen Generationenkonflikten vgl. Lübben 2013, S. 279-306. Zur politischen und gesellschaftlichen Rolle der Jugend in der arabischen Welt vgl. Gertel/Ouaissa 2014. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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en aus extrem traditionellen Milieus die Möglichkeit, die private Sphäre des Hauses auf legitime Weise zu verlassen, nämlich als Krankenschwester oder Lehrerin in einer religiösen Einrichtung. Ihre Rolle innerhalb der Familie ändert sich durch die damit einhergehende Reduktion wirtschaftlicher Abhängigkeit vom vordem alleine verdienenden Mann. Sollte letzterer, wie nicht selten der Fall, auch noch arbeitslos werden, wird aus dem Nebenverdienst der Frau der Hauptverdienst. Solche Entwicklungen revolutionieren noch nicht die Geschlechterverhältnisse innerhalb der Familien, führen jedoch zu Verschiebungen und Erschütterungen.57 All dies kann geschehen, ohne dass der weiblichen Ermächtigung eine politisch bewusste Absicht vorangegangen wäre. In dieser Konstellation verliert letztlich auch das Kopftuch an Bedeutung, das im säkularen Geschlechterdiskurs einseitig als Symbol weiblicher Unfreiheit interpretiert wird. Für religiös orientierte Frauen kann es eine gegenteilige Funktion annehmen, indem es ihnen den Eintritt in die öffentliche Sphäre erleichtert. Als Ausweis moralischer Integrität schützt es ihren guten Ruf, der in traditionalen Gesellschaften ein hohes soziales Kapital darstellt. Als geschlechterpolitisches Identifikationsmerkmal ist das Kopftuch damit einmal mehr ungeeignet. Gemeinsam sind wir stark? Probleme einer vielfach segregierten Frauenbewegung Im dichotomen Geschlechterdiskurs stehen sich säkulare und religiöse Frauen weitgehend unversöhnlich gegenüber. Säkulare Frauenrechtlerinnen werden in Ägypten als »Klone des Westens« und Feministinnen generell als männerhassende, homosexuelle und schamlose Feindinnen der Institution Familie stigmatisiert. Islamisch orientierte Aktivistinnen werfen ihnen Missachtung der »eigentlichen Interessen ägyptischer Frauen vor«.58 Auch in anderen arabischen Ländern leiden säkulare Frauenrechtlerinnen unter sexistisch eingefärbten Diffamierungskampagnen, die vor allem in den sozialen Medien ausgetragen werden. Aber auch anders herum ist man nicht zimperlich, wenn es darum geht, die politische Teilhabe von Islamistinnen am politischen Diskurs zu diskreditieren.59 Besonders erbittert ist der Streit um die Kernfrage, ob das Verhältnis der Geschlechter zueinander »gleich« oder »komplementär« sein soll. Letzteres ist die islamistische Lesart, die Frauenrechte im übergeordneten Kontext von Familienrechten bzw. Familienpflichten verortet und damit gleichzeitig relativiert.60 In Tunesien stand diese Frage 2014 im Fokus heftigster Auseinandersetzungen über die neue Verfassung, bei 57 Vgl. Kabeer 2014. 58 Block 2013, S. 24. 59 So verleumdeten säkulare Feministinnen auf einer internationalen Konferenz islamistische Parlamentarierinnen in einem öffentlichen Vortrag als dumm, dick, faul und ungepflegt. Beobachtung der Autorin in Mersin, 23. März 2013. 60 Auch in diesem Diskurs spielt die Abgrenzung zum Westen eine wichtige Rolle, wie sich aus den Ausführungen von Muhammad al-Baltaji erkennen lässt, Generalsekretär der islamistischen Partei für Freiheit und Gerechtigkeit in Ägypten: »The people want integration and coordination of the roles of men and women, a shared responsibility,

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der sich säkulare Kräfte mit ihrer Forderung nach Verankerung des Gleichheitspostulats jedoch zumindest de jure durchsetzen konnten. Aufgrund der nach wie vor bestehenden Diskrepanz zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit steht das Ende dieser Kontroverse noch aus. Auch in Ägyptens neuer Verfassung von 2014 konnte die Gleichheit der Geschlechter festgeschrieben werden, allerdings eingebettet in die übergeordneten Familienpflichten der Frau.61 Allen Antagonismen zwischen säkularem und islamistischem Lager zum Trotz gibt es aber auch Schnittmengen in den Positionen. Gemeinsamkeiten finden sich beispielsweise in der Forderung nach politischer Partizipation und materieller Besserstellung von Frauen, u.a. durch besseren Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem. Mitunter kommt es sogar zu gemeinsamen Aktionen, wie beispielsweise der Kampagne für ein neues, die Frauen weniger benachteiligendes Scheidungsrecht im Jahre 2000 in Ägypten.62 Lagerübergreifende Übereinstimmungen lassen sich auch in der Selbstverortung innerhalb der Gesellschaft finden, beispielsweise in der Argumentation, dass die Befreiung der Frau nachrangig sei, solange das gesamte Land erst einmal befreit werden müsse, sei es von Autoritarismus oder von fremder Besatzung. Angesichts der notwendigen Überwindung von Unfreiheit steht für die meisten Frauen die Solidarität zwischen den Geschlechtern im gemeinsamen Kampf gegen ein verhasstes System oder einen äußeren Feind im Vordergrund. Während des Arabischen Frühlings betonten etliche Frauen auf Kairos Tahrir-Platz, dass sie in dieser historischen Ausnahmesituation gegen den Autoritarismus des Mubarak-Regimes kämpften, von dem sie ihr Land gemeinsam mit den Männern befreien wollten. Diese freiwillige Zurücknahme eigener Interessen trägt mit dazu bei, dass Frauenpolitik in der arabischen Welt noch immer als nachrangiges Thema einer weiblichen Minderheit gilt. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Minderheit vorrangig aus gebildeten Frauen der gehobenen Mittelschicht besteht, die in ihrem täglichen Leben mit ihren Klientinnen wenig Kontakt haben. In breiteren Gesellschaftsschichten werden sie kaum als Vorbild wahrgenommen, sondern eher als fremd und abgehoben. Gleichwohl ist die gängige Deutung, die den säkularen Geschlechterdiskurs mit »Mittel- und Oberschicht« und den islamistischen mit »Unterschicht« gleichsetzt, unterkomplex. Zum einen gibt es auch im islamistischen Spektrum der Gesellschaft wohlhabende Frauen mit Bildung und entsprechender beruflicher Tätigkeit. Und zum anderen sind es nicht nur religiöse Einrichtungen, die armen und ungein accordance with a special Egyptian agenda, not an agenda imposed by the women’s office in the United Nations.« Zitiert in Prasch 2013, S. 84. 61 »Article 11: The place of women, motherhood and childhood: The state commits to achieving equality between women and men in all civil, political, economic, social, and cultural rights in accordance with the provisions of this Constitution. […] The state commits to the protection of women against all forms of violence, and ensures women empowerment to reconcile the duties of a woman toward her family and her work requirements.« Ägyptische Verfassung von 2014, englische Übersetzung durch das International IDEA; URL: constituteproject.org/constitution/Egypt_2014.pdf [24.06.2016]. 62 Vgl. Block 2012, S. 59. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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bildeten Frauen aus überwiegend traditionalen Milieus Arbeitsmöglichkeiten außer Haus verschaffen. Immer mehr arabische Frauen finden Arbeit in den exportorientierten Branchen der Textil- und Elektronikindustrie, weil die geschlechterideologische Vorstellung vom Mann als Familienernährer es erlaubt, Frauen zu Niedriglöhnen einzustellen. Frauen sind damit billiger als die um den gleichen Arbeitsplatz konkurrierenden Männer.63 Von ihrer zumindest partiellen finanziellen Eigenständigkeit können sie Ansprüche auf politische und gesellschaftliche Teilhabe ableiten und werden in diesem Bestreben auch von etablierten Frauenrechtsgruppen säkularer Prägung unterstützt, wie beispielsweise der Association démocratique des femmes du Maroc.64 So anerkennenswert diese Aktivitäten einzelner NGOs sind, der gesellschaftliche Trend geht in den meisten arabischen Ländern in eine gegenteilige Richtung, nämlich in eine Hierarchisierung unter Frauen aufgrund sozialer Ungleichheit. »Gender is one factor in these inequities, but class, family, and power are more important.«65 So beschäftigen in den marokkanischen Großstädten nicht nur privilegierte Karrierefrauen, sondern ein erheblicher Teil der erwerbstätigen Frauen selbst aus den unteren sozialen Schichten Hausmädchen, deren Minimallohn zumeist vom Gehalt ihrer Arbeitgeberinnen bezahlt wird.66 Auch in Ägypten haben soziale Ungleichheit und ein starkes Bewusstsein für die eigene soziale Stellung nahezu getrennte Lebenswelten je nach Schichtzugehörigkeit etabliert.67 Das wachsende Wohlstandsgefälle in den arabischen Gesellschaften ist geschlechterpolitisch nicht irrelevant, denn die Dichotomie zwischen säkularen und religiösen Frauengruppen wird durch eine zweite Dichotomie zwischen den sozialen Milieus ergänzt: »In the stratified MENA societies, social class, along with state action and economic development, acts upon gender relations and women’s social positions. Although state-sponsored education has resulted in a certain amount of upward social mobility and has increased the number of women seeking jobs, women’s access to resources, including education is largely determined by their class location.«68

Da viele arme und damit auch ungebildete Frauen im ländlichen Raum leben, könnte man als dritte Dichotomie die zwischen Stadt und Land hinzufügen. Zusammengenommen erschwert die starke gesellschaftliche Segregation die Herausbildung einer großen und schlagkräftigen Frauenbewegung, die alle Segmente der Gesellschaft umfasst. Eine positive Ausnahme stellt auch in diesem Kontext wieder Tunesien dar, denn dort wurde die Kampagne von 2015 zum Schutz von Frauenrechten in der Verfassung von weiten Teilen der Bevölkerung mitgetragen und

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Vgl. Kreile 2009, S. 261. Vgl. Berriane 2011. Sholkamy 2012, S. 165. Vgl. Kreile 2009, S. 261. Die verbreitete Beschäftigung von Hausmädchen erklärt sich u.a. damit, dass berufstätige Frauen in der Regel nicht damit rechnen können, dass ihre Männer sich an den häuslichen Pflichten beteiligen. 67 Block 2012, S. 58. 68 Moghadam 2013, S. 22.

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hatte erstmals eine BürgerInnenbewegung hervorgerufen, die alle sozialen Klassen sowie auch Frauen in ländlichen Regionen mit einbezog.69 Aussichten auf politischen Wandel und Geschlechterdemokratie Angesichts von Repression, Restauration und Bürgerkrieg könnten die Rahmenbedingungen in der MENA-Region für einen weiblichen Aufbruch kaum schlechter sein. Günstige Voraussetzungen finden sich nur dort, wo man tatsächlich von Transformation sprechen kann, und das ist allein in Tunesien der Fall. Dort sind relativ gesehen auch die größten geschlechterpolitischen Erfolge zu verzeichnen. Nicht nur im Abwehrkampf gegen eine religiös legitimierte Rücknahme von Frauenrechten, sondern auch auf struktureller Ebene. In Tunesien haben Frauen angefangen, sich ernsthaft um eine Überbrückung der sozialen Segregation der Frauenbewegung zu bemühen. Ansätze zur Überwindung der Dichotomie zwischen säkularen und religiösen Frauengruppen sind hingegen kaum zu erkennen. In der gesamten MENA-Region bilden säkulare Frauenrechtlerinnen nach wie vor eine – aktive – Minderheit in einer mehrheitlich konservativen Gesellschaft. Mit ihrem egalitären Rollenverständnis und ihrer Überzeugung, dass die Trennung von Religion und Politik die Voraussetzung für die rechtliche Besserstellung von Frauen sei, verfügen sie über wenig gesellschaftlichen Rückhalt. Ganz im Gegenteil sehen sie sich mit einer breiten Akzeptanz patriarchaler Strukturen konfrontiert, sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Dies führt auf die eingangs gestellte Frage nach der Bedeutung des Islam für die geschlechterpolitischen Defizite in der MENARegion zurück. Aus den bisherigen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass das Problem nicht die Religion an sich ist, sondern deren fundamentalistische Interpretation, wie sie von unterschiedlichen islamistischen Parteien und Gruppierungen vertreten wird. Der Islamismus ist kein Fremdkörper innerhalb der arabischen Gesellschaft, sondern institutioneller Ausdruck eines Massenbewusstseins,70 so dass seine Exklusion aus dem geschlechterpolitischen Diskurs weder sinnvoll noch möglich ist. Aber warum sind rückwärtsgewandte Interpretationen des Islam, mit allen negativen Implikationen für die Stellung der Frau, in den arabischen Gesellschaften mehrheitsfähig? Wieso stößt eine besonders konservative Interpretation des Islam heute mehr denn je auf Zustimmung? Die Besinnung auf vermeintlich kulturelle Wurzeln lässt sich als Abwehrreflex gegen Gefühle der Überfremdung und des Identitätsverlusts deuten.71 So wie einst der Kolonialismus auch als Angriff auf die eigene Identität abgewehrt wurde, sind es heute Prozesse der Globalisierung und der westlichen Dominanz. Einmal mehr zeigt sich diese Analogie in der symbolischen Aufladung des Kopftuchs als Dis69 Vgl. Soudani 2015. 70 Vgl. Lübben 2013, S. 283. 71 Vermeintlich, weil der islamistische Geschlechterdiskurs mit seiner restriktiven Islaminterpretation auf einer in weiten Teilen konstruierten Vergangenheit basiert. Vgl. Winter 2001, S. 20. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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tinktionsmerkmal gegenüber dem Westen und westlichen Frauenbildern. Modernisierungsprozesse einerseits und die zunehmende Verarmung weiter Teile der Bevölkerungen andererseits72 schwächen traditionale Herrschaftsverhältnisse, in denen Großfamilien und Familiennetzwerke von Bedeutung sind, und stellen damit auch den darin verankerten geschlechterpolitischen Gesellschaftsvertrag in Frage. Davon betroffen sind vor allem Männer, die in einem sich wandelnden sozialen und ökonomischen Kontext ihre traditionelle Rolle als Beschützer und Ernährer der Familie oft nicht mehr erfüllen können. Der politische Islam bietet mit seiner Betonung der traditionalen Rolle der Frau in einer auf Gemeinschaft ausgerichteten Gesellschaftsordnung einen religiös legitimierten Gegenentwurf zur westlichen Moderne, mit dem Ängste vor Überfremdung abgewehrt und die eigene, in Bedrängnis geratene Identität stabilisiert werden kann, vor allem die der Männer.73 Vor diesem Hintergrund spielen in der arabischen Welt patriarchale Ordnungsvorstellungen heute mehr denn je eine entscheidende Rolle für die Konstruktion einer eigenen, als authentisch wahrgenommenen Identität. Gleichwohl wurde die darauf aufbauende tradierte Ordnung durch die Arabellionen nachhaltig erschüttert. Auch wenn sie vorerst gescheitert sind, geht der dahinter stehende ordnungs- und gesellschaftspolitische Machtkampf weiter und wird, einmal mehr, auf dem Feld der Geschlechterordnung ausgetragen. Auf besonders drastische Weise ist dieser Zusammenhang derzeit in Ägypten zu beobachten. Dort hat seit dem Scheitern des Arabischen Frühlings sexualisierte Gewalt gegen Frauen massiv zugenommen, so dass man geradezu von einer Welle des Frauenhasses sprechen kann. Frauen wurden vor dem Arabischen Frühling zwar auch verbal belästigt oder begrapscht, nun geht es jedoch um Messerattacken und öffentliche Vergewaltigungen. Anders als vor dem Arabischen Frühling werden diese frauenfeindlichen Übergriffe heute jedoch offen angeprangert. Über die Schuldfrage ist man sich keineswegs einig, denn während säkulare Gruppierungen hinter den Angriffen gezielte Einschüchterungsversuche der Islamisten vermuten, beschuldigen diese organisierte Schlägertruppen aus dem Umfeld des Regimes.74 Defizite in der öffentlichen Ordnung, die zu einem allgemeinen Anstieg der Kriminalitätsrate geführt haben, begünstigen sicherlich auch die Zunahme öffentlicher Gewalt gegen Frauen. Noch fehlt es jedoch an einer systematischen polizeilichen Aufarbeitung dieses neuen Phänomens. Für die künftige Entwicklung der Geschlechterverhältnisse relevant sind die öffentlichen Debatten über das Thema trotzdem. Ein konkretes Beispiel für die produktive Dynamik öffentlicher Diskurse ist die sogenannte HarassMap, eine Internetplattform, auf der Frauen publik machen, wann und wo sexuelle Übergriffe stattgefunden haben.75 Damit wird das Thema sexualisierter Gewalt enttabuisiert; die Opfer schweigen nicht 72 Für eine Analyse des Arabischen Frühlings aus politökonomischer Perspektive vgl. Talani 2014. 73 Vgl. Kreile 2009, S. 259 f. 74 Vgl. Prasch 2013, S. 82. 75 URL: harassmap.org/en/ [24.06.2016].

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mehr beschämt, sondern beschämen vielmehr die Täter und tragen damit zu einem Wandel tradierter Moralvorstellungen bei. Diskutiert werden im Kontext sexualisierter Gewalt aber auch andere Konfliktfelder der Gesellschaft, wie Rassismus und Klassenkampf, Maskulinität und Feminität. Diese Debatten werden keinesfalls nur in Ägypten geführt, sondern in der gesamten MENA-Region. Erst jüngst hat der algerische Schriftsteller und Journalist Kamel Daoud mit seiner scharfen Kritik an der gesellschaftlich dominanten Sexualmoral eine ebenso kontroverse wie fruchtbare Debatte ausgelöst: »Sex is a complete taboo, arising, in places like Algeria, Tunisia, Syria or Yemen, out of the ambient conservatism’s patriarchal culture, the Islamists’ new, rigorist codes and the discreet puritanism of the region’s various socialisms. […] The sexual misery that results can descend into absurdity and hysteria. […] In some of Allah’s lands, the war on women and on couples has the air of an inquisition.«76

In den neuen, tabulosen und kritischen Debatten liegt die Chance auf eine bessere Zukunft. Der momentan zu beobachtende backlash für Frauen – so meine These – wird nicht von Dauer sein, da patriarchale Strukturen, die Frauen (und jungen Menschen) eine subalterne Rolle in der Gesellschaft zuweisen, durch den Arabischen Frühling nachhaltig erschüttert wurden. Selbst wenn der unmittelbar erhoffte politische Wandel in fast allen Ländern der MENA-Region ausgeblieben ist, kann davon ausgegangen werden, dass der Prozess der weiblichen und jugendlichen Emanzipation weitergeht, denn revolutionäre Erfahrungen lassen sich auch durch Repression und Restauration nicht rückgängig machen. Ein selbstkritischer, inklusiver Diskurs, in dem säkulare und islamische Frauen und Männer unabhängig von westlichen Vorbildern die künftigen Geschlechterverhältnisse kritisch diskutieren, bietet die besten Chancen für politischen Wandel und damit auch für Geschlechterdemokratie. Ein solcher Diskurs hat das Potential, zu gegebener Zeit politische und gesellschaftliche Praxis zu werden, auch wenn dieser Zeitpunkt momentan noch weit entfernt sein mag. Literatur Agapiou-Josephides, Kaliope; Benoît-Rohmer, Florence; Jünemann, Annette; Aluffi, Roberta; Jordens-Cotran, Leila; Kaili, Christina 2012. Enhancing EU-Action to Support Universal Standards for Women’s Rights during Transition. The Case of Democratic Transition in the MENA Region. Brüssel: Europäisches Parlament, URL: europarl.europa.eu/RegData/et udes/etudes/join/2012/457119/EXPO-JOIN_ET(2012)457119_EN.pdf [23.06.2016]. Ali, Zarah 2013. »Mit dem Koran gegen Sexismus. Plädoyer für einen Feminismus ohne Grenzen«, in: Blätter des Informationszentrums 3. Welt, 19 (337), S. 28-29. Avallone, Stella; Valota-Cavaletti, Bianca (Hrsg.) 2009. The Role of Women in Central Europe after Enlargement. Frankfurt a.M.: Peter Lang. Berriane, Yasmine 2011. »Le Maroc au temps des femmes? La féminisation des associations locales en question«, in: L’Année du Maghreb, VII, S. 332-342.

76 Daoud 2016. Mit diesem Beitrag in der New York Times, der ursprünglich in Le Monde erschien, zog Daoud vor allem die Kritik westlicher Intellektueller auf sich, die ihm vorwarfen, postkoloniale Stereotype zu bedienen und damit die grassierende Islamophobie zu befeuern. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Zusammenfassung: Nicht der Islam an sich, sondern ApologetInnen einer fundamentalistischen Islaminterpretation einerseits und eine durchwegs patriarchale Tradition andererseits stehen der Durchsetzung von Geschlechterdemokratie im Wege. Die Dichotomie zwischen säkularen und religiösen Gruppen aber auch tiefe sozio-ökonomische Diskrepanzen werden machtpolitisch instrumentalisiert und stehen der Ausbildung einer starken Frauenbewegung entgegen. Stichworte: Gender, Arabische Welt, Islam, Geschlechterverhältnisse, Diskurs, Arabischer Frühling

Gender Discourses in the Arab World in Times of Transformation, Restauration, and Civil War Summary: This contribution argues that not Islam as such, but its most reactionary representatives stand against gender-democracy, together with an overall patriarchal tradition in the MENA region. The exploitation of dichotomies between secular and religious groupings and socio-economic divisions in the struggle for power impedes the formation of a strong and unified women’s rights movement. Keywords: Gender, Arab World, Islam, gender-relations, discourse, Arab Spring

Autorin Prof. Dr. Annette Jünemann Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg Institut für Internationale Politik Holstenhofweg 85 DE-22043 Hamburg [email protected]

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Aufbruch von unten und Restauration von oben Ägypten im Jahr sechs seiner postrevolutionären Dauerkrise Einleitung: Politischer Aufbruch in Ägypten Seit dem revolutionären Moment1 vom Januar 2011 erlebt Ägypten eine nie da gewesene Blüte politischen und sozialen Engagements. Allein im Jahr 2011 wurden zwischen 50 und 110 Parteien gegründet2 und selbst während der nicht mehr als frei zu bezeichnenden Parlamentswahlen von 2015 konkurrierten mehr als 40 Parteien miteinander.3 Auf der lokalen Ebene entstand eine große Vielfalt an Jugendinitiativen, kommunalen Radiostationen, Nachbarschaftskomitees, Stadtentwicklungsinitiativen, Rechtshilfeorganisationen, Entwicklungsprojekten, Graffitikunst im öffentlichen Raum, aber auch Haus-, Land- und Fabrikbesetzungen in vielen Städten des Landes. Diese Aktivitäten wurden durch Menschen getragen, für die 2011 vor allem die Rückeroberung des politischen Raumes, des »Rechts auf Rechte« und neue Möglichkeiten der aktiven Mitgestaltung von Politik und Gesellschaft bedeutete. Zugleich erstarkte die unabhängige Gewerkschaftsbewegung und eine anhaltende Streikwelle brachte Bewegung in das Verhältnis von Kapital und Arbeit.4 Beduinen und Bauern, die für ein geplantes Atomkraftwerk an der Küste enteignet und vertrieben wurden, kehrten auf ihr Land zurück und forderten Entschädigung, sowie eine langfristige Lösung im Konflikt um die Nutzung des Bodens. BewohnerInnen mehrerer von Räumung bedrohter Gemeinden in Alexandria und Kairo widersetzten sich den von oben dekretierten und mit Gewalt durchgesetzten Plänen zum Teil erfolgreich. Arbeiter besetzten von Schließung bedrohte Fabriken und übernahmen ihre Leitung. Arme Menschen besetzten leerstehende Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus und hofften auf diese Weise, ihre Rechte gegenüber dem Staat durchzusetzen.5 Nachbarschaftskomitees entwickelten Nutzungspläne für unbebaute Flächen, organisierten die private Finanzierung von Jugendzentren, Bibliotheken, Nachbarschaftscafés.6 Jugendinitiativen publizierten lokale 1 Revolution bezeichnet in der Politikwissenschaft meist eine plötzliche, umfassende, oft auch gewaltvolle Veränderung der politischen Ordnung. McAdam et al. 1996, S. 165, unterscheiden griffig zwischen »revolutionary situations« und »revolutionary outcomes«, wobei letztere auch den grundlegenden Umbau des politischen Systems beinhalten. 2 Gemeinder et al. 2011, S. 1-23; Rashwan 2015. 3 Rashwan 2015. 4 Vgl. Abdalla 2016. 5 Vgl. Shenker 2016. 6 Vgl. Bremer 2011 a, b; El-Meehy 2012; Hassan 2015; Harders/Wahba 2017. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017, S. 325 – 348

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Nachrichten online und gedruckt. Nachbarschaftsgruppen organisierten am Vorabend der Parlamentswahlen von 2012 kritische Diskussionen mit einer Vielzahl von Kandidaten und erarbeiteten Wahlempfehlungen. Erstmals in der Geschichte des postkolonialen Ägyptens ließen sich korrupte und arrogante Kommunalverwaltungen auf direkte Verhandlungen mit lokalen Gruppen ein, um dringliche Alltagsfragen von der Müllentsorgung bis zur Straßenverschönerung zu diskutieren. Mit der zunehmenden Polarisierung ab Januar 2013 gerieten jedoch auch lokale AkteurInnen in den Strudel der sich zuspitzenden Konfrontation zwischen Militär, Bevölkerung und Muslimbruderschaft, was einschneidende Folgen für ihre Handlungsfähigkeit hatte. Der im Sommer 2012 ins Amt gewählte islamistische Präsident Mursi und seine Regierung hatten ihren Vertrauensvorschuss rasch verspielt, sie wurden von den alten Eliten in den Verwaltungs- und Sicherheitsapparaten obstruiert und versuchten zugleich, ihre eigene Gefolgschaft in allen wichtigen Institutionen zu etablieren. Dieser Prozess der Ikhwana (wörtlich: »Muslimbrüderisierung«) löste massive Ängste, vor allem auch bei der christlichen Minderheit aus, die durch immer wieder aufflammende Gewalt gegen Christen befeuert wurde. Im November 2012 erließ Präsident Mursi ein Dekret, das ihm weitreichende Macht verschaffen sollte; im Dezember wurde über die neue Verfassung mit niedriger Wahlbeteiligung abgestimmt. Es folgten blutige Konfrontationen zwischen empörten BürgerInnen und den Muslimbrüdern mit vielen Toten und eine zunehmende Polarisierung des öffentlichen Diskurses. Im Frühjahr 2013 wurde eine große zivile Protestkampagne, die Tamarrud-Rebellion, initiiert, die Tausende von Unterschriften für einen Rücktritt Mursis sammelte. Im Sommer 2013 eskalierte der Konflikt in Form eines Massenprotestes-cum-Militärintervention. Am 4. Juli 2013 wurde Mursi abgesetzt; das Militär übernahm die Macht, setzte eine zivile Übergangsregierung ein und versprach rasche Neuwahlen. Die folgende Protestwelle von Mursi-Anhängern war breit und intensiv, zum Teil auch gewaltvoll. Im August 2013 wurden zwei große Protestlager (Rabaʿa und Nahda) mit maximaler Gewalt geräumt; es kamen weit über 1000 Menschen ums Leben.7 Die ägyptische Regierung deklarierte ihren eigenen »Krieg gegen den Terror«, verhaftete Tausende, verbot die Muslimbruderschaft und ihr nahestehende Parteien und Organisationen, verschärfte das Demonstrationsrecht, erklärte den Notstand und verhängte eine Ausgangssperre. Es folgten Massenverurteilungen mit über 600 Todesurteilen.8 Seither haben sich die öffentlichen Räume für abweichende Meinungen drastisch verringert und eine Repressionswelle ging über das Land, die zunächst vor allem Islamisten, später aber auch die linke und unabhängige Opposition und vor allem Menschenrechtsaktivisten umfasste. Der ehemalige Verteidigungsminister ʿAbd al-Fattah al-Sisi wurde 2014 zum Präsidenten gewählt. 2015 folgten Parlamentswahlen mit Ergebnissen, die an Mubaraks Zeiten erinnern: die Opposition ist weitgehend marginalisiert, das Parlament wird von Pro-Regime-Parteien und sogenannten Unabhängigen kontrolliert. Die Men7 Vgl. Grimm/Harders 2017; EIPR 2014. 8 Human Rights Watch April 2014.

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schenrechtsbilanz ist katastrophal, der öffentliche Diskurs wird von Sicherheitsthemen dominiert, viele zivilgesellschaftliche Organisationen wurden geschlossen oder haben ihre Aktivitäten auf ein Minimum reduziert. Die Revolution in Ägypten, so scheint es, ist tot. Der bürgerschaftliche Aufbruch endet in den Blutbädern von 2013 und seither weisen alle Zeichen auf die gewaltvolle Rückkehr des Autoritarismus. Diese Analyse ist nicht ganz falsch, aber sie verfehlt den tiefgreifenden sozio-politischen Wandel, der – aller Repression zum Trotz – in Ägypten im vollen Gange ist, so meine These. Ein Zeichen dafür ist die weiterhin erkennbare Mobilisierung und Politisierung der Bevölkerung auf der nationalen und auf der lokalen Ebene. So lancierten Ärzte und Ärztinnen 2015 auf Facebook eine Kampagne, die auf die katastrophalen Zustände in öffentlichen Krankenhäusern hinwies und innerhalb von 24 Stunden mehrere Tausende Followers hatte.9 Im Frühling 2016 entzündeten sich an der geplanten Übergabe von zwei ägyptischen Inseln im Roten Meer an Saudi-Arabien die ersten größeren Proteste seit der Machtübernahme von Präsident al-Sisi.10 Zugleich kam es zu öffentlichen Demonstrationen von Ärzten und Journalisten, die sich gegen Repression bei der Ausübung ihrer Arbeit wehrten. Regelmäßig sind kleinräumigere Aktionen zu beobachten: Die Minibusfahrer von Maʿadi, einem wohlhabenden Stadtteil von Kairo, traten in den Streik, um gegen die Todesumstände eines Kollegen in Polizeigewahrsam zu protestieren. Im November 2016 beschlossen Vertreter nubischer Dörfer, die im Rahmen staatlicher Megaprojekte ohne Kompensation aus ihren Dörfern vertrieben wurden, einen offenen Streik, um die Rückkehr dorthin zu erkämpfen. Und auch die im Jahr 2011 ins Leben gerufenen lokalen Nachbarschaftskomitees sind weiterhin aktiv, wenngleich in geringerem Umfang als früher. Diese Beispiele illustrieren die Ausgangsannahme meines Beitrags, die im Folgenden konzeptionell und empirisch unterlegt werden soll: Das wichtigste Ergebnis der Proteste von 2011 liegt in der dann folgenden einzigartigen politischen Mobilisierung der Bevölkerung und der damit einhergehenden Pluralisierung des politischen Feldes. Dabei entstanden als unmittelbare Produkte des gesellschaftlichen Aufbruchs sogar ganz neue informelle Partizipationsformen, die sogenannten lijan shaʿabiyya (Nachbarschaftskomitees),11 um die es in diesem Beitrag insbesondere gehen soll. Die revolutionären Momente von 2011 waren für viele Menschen eine transformative Erfahrung mit langfristigen Wirkungen, die so – etwa die Annahme von Sari Hanafi – zur Entstehung neuer politischer Subjektivitä-

9 URL: facebook.com/tahrirdoctors/ [09.01.2017]. 10 Abd Rabou 2016. 11 Die wörtliche arabische Übersetzung lautet »Volkskomitee« (popular committees). Dies hat im Deutschen eine andere Konnotation als im Arabischen und Englischen, daher nutze ich den Begriff des Nachbarschaftskomitees. In der Literatur kursieren unterschiedliche Namen wie »Nachbarschafts(schutz)brigaden«, »Nachbarschaftsversammlungen«, »Bürgerwehr« – abhängig davon, wie die Funktion der Gruppen wahrgenommen wird. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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ten und damit substantiellem, langfristigem Wandel führt.12 Dieser Wandel ist auf der lokalen Ebene deutlich erkennbar, auch wenn auf der Ebene des Regimes, der nationalen Eliten und formalen Institutionen seit 2011 kein grundsätzlicher politischer Wechsel erreicht werden konnte. Darin liegt auch laut Einschätzung der hier befragten InterviewpartnerInnen der zentrale Erfolg der Aufstände: »Die Menschen erheben ihre Stimme«, so ein älterer Nachbarschaftsaktivist aus Kairo im Gespräch im November 2016, »und das werden sie auch weiterhin tun. Man kann versuchen, sie zum Schweigen zu bringen, doch das macht die Veränderung nicht ungeschehen. Die Erfahrung von 2011 bleibt«. Die Revolution ist also nicht gescheitert, sondern der langfristige gesellschaftliche Umbruch in Ägypten ist trotz der politischen Restauration von oben in vollem Gange, so meine These. Neue, oft informelle und kleinräumig-lokale Teilhabeformen, wie die Nachbarschaftskomitees, sind entstanden und zu Arenen für vorher marginalisierte AkteurInnen, wie Jugendliche, Frauen oder die urbanen Armen, geworden. Gerade informelle Gruppen erweisen sich als Orte für eine neue politische Praxis, oft getragen von einem Diskurs der Rechte und Teilhabe. Hier werden die machtvollen Strukturen des alten autoritären Gesellschaftsvertrags hinterfragt und neu verhandelt. Dabei stehen vor allem die etablierten Klassen-, Altersund Geschlechterhierarchien in Frage, wie ich im empirischen, dritten Abschnitt genauer zeigen will. Zugleich waren und sind dem politischen Aufbruch Grenzen gesetzt, denn die Herrschaftsmechanismen des autoritären Gesellschaftsvertrags, die ich im folgenden konzeptionellen, zweiten Abschnitt näher erläutern werde, sind nicht ohne weiteres aufzubrechen – zumal nicht, wenn sich auf der nationalen Ebene die Rückkehr zum Autoritarismus vollzieht. Dennoch verfügen lokale Akteure über Spielräume, die sie allen Widerständen zum Trotz produktiv zu nutzen suchen. Um diese lokalen Dynamiken nachvollziehen zu können, ist jedoch ein anderer Blick nötig, als ihn die Politikwissenschaft üblicherweise bietet, wenn sie sich auf Regierungen, formale Organisationen, nationale Institutionen und öffentliche Formen der Teilhabe konzentriert. Daher nutze ich für meine Analyse den Ansatz einer »Staatsanalyse von unten«, der systematisch kleinräumige, informelle, weniger sichtbare und oft nicht als »politisch« betrachtete Aktivitäten untersucht. Diese Forschungsperspektive ist dem qualitativen Paradigma verpflichtet und ruht auf feministischer Methodologie, die davon ausgeht, dass jedes Wissen »situiertes Wissen« ist, wie Donna Haraway es nannte. Sie kritisiert die Idee, dass Wissenschaft auf der Basis eines neutralen, gottgleichen, sich der Welt gleichsam enthebenden Blicks von Nirgendwo ruhen könne. Stattdessen geht sie davon aus, dass jede Wissensproduktion mit konkreten Menschen verbunden ist, mit einem Blick »from a body, always a complex, contradictory, structuring, and structured body, versus the view from above, from nowhere, from simplicity«.13 Diese Art der Wissensproduktion nennt sie »situated knowledges« – situiertes Wissen. Damit geht eine klare Präferenz für qualitative Forschungsmethoden einher. 12 Vgl. Hanafi 2011; Bamyeh 2013. 13 Haraway 1998, S. 589.

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Im vorliegenden Fall handelt es sich dabei um semi-strukturierte Interviews, informelle Gespräche und teilnehmende Beobachtung über längere Zeiträume hinweg. Die hier präsentierten Überlegungen sind das Ergebnis eines über 20 Jahre währenden qualitativen Arbeitens in Ägypten. Der Ansatz einer Staatsanalyse von unten ruht auf mehr als 16 Monaten empirischer Feldforschung in armen Vierteln der Kairoer Bezirke von al-Waʾili, al-Sayyida Zainab, Bassatin and Dar al-Salam, die ich zwischen 1995 und 1997 durchgeführt habe. Hinzu kommen Daten von der Beobachtung der Kommunalwahlen in den Jahren 1997 und 2008, als ich mit KommunalpolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und AktivistInnen in Kairo sprach. Im September 2011 und im November 2012 (mit Heba ʿAmr) führte ich Interviews mit AktivistInnen und armen BewohnerInnen aus den Kairoer Bezirken Bassatin und Dar al-Salam. Im April und Oktober 2016 führte ich, gemeinsam mit Dina Wahba, erneut mehr als 20 semi-strukturierte Interviews mit Mitgliedern von Nachbarschaftskomitees und angegliederten Initiativen in den Bezirken Bulaq al-Dakrur, ʿAmraniya, ʿAguza und Duqqi (alle Giza) sowie Bulaq Abu ʿIla (Kairo) durch. Hinzu kommen gedruckte oder digital zugängliche Daten, wie Facebook-Seiten. Im Weiteren werde ich jedoch diese Informationen weitgehend anonymisieren, um jedes Risiko für die ForschungsteilnehmerInnen zu vermeiden. »Staatsanalyse von unten« und autoritärer Gesellschaftsvertrag in Ägypten Der Forschungsansatz einer »Staatsanalyse von unten« interessiert sich für lokale und scheinbar marginale Räume und kleinräumige Zusammenhänge, weil Machtverhältnisse sich hier konkretisieren und abstrakte Konzepte, wie »Staat«, »Regierung« oder »Politik«, greifbar werden. Ziel ist es, größere Zusammenhänge im Verhältnis von »Staat« und »Gesellschaft« zu verstehen, indem politische Mikrodynamiken auf der lokalen Ebene untersucht werden. Es handelt sich um einen akteurszentrierten, qualitativen Ansatz, der nach der Etablierung und Aufrechterhaltung von Herrschaftsstrukturen, aber auch nach dem alltäglichen Widerstand gegen solche Herrschaftsstrukturen fragt. Damit schließt er an die Überlegungen zu »Politik von unten« an und nutzt Ergebnisse aus der kritischen Regionalforschung, der feministischen Forschung, aus konstruktivistischen Debatten sowie aus der Anthropologie des Staates.14 Die lokalen Praktiken und Diskurse bieten dabei – auch weil sie von den nationalen Eliten oft als weniger relevant betrachtet werden – manchmal mehr Autonomie für AkteurInnen und konkretere Herausforderungen autoritärer Herrschaft. Die vielen, jedoch medial und auch wissenschaftlich zumeist unbemerkt gebliebenen lokalen Proteste in der arabischen Welt vor 2011 belegen dies ganz nachdrücklich. Die Aufstände in Tunesien und Syrien, die an der Peripherie und nicht in den Zentren begannen, können ohne eine genaue Kenntnis der lokalen Dynamiken und vorhergehenden Auseinandersetzungen dieser nur scheinbar margina14 Vgl. Migdal 1988; Scott 1985; Bayart et al. 1992. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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len Räume gar nicht verstanden werden. Auch der militärische Erfolg des »Islamischen Staates« in Irak und Syrien ist nur im Zusammenspiel lokaler, regionaler und internationaler Dynamiken angemessen zu analysieren. Insofern ist »das Lokale« nicht nur ein empirisch relevanter Raum, sondern auch eine produktive Forschungsperspektive, wie Malika Bouziane, Anja Hoffmann und ich an anderer Stelle ausführlicher begründet haben.15 Diese Forschungsperspektive ermöglicht es, grundlegende politische Dynamiken im Spannungsfeld von autoritärer Machterhaltung und ihrer Hinterfragung exemplarisch herauszuarbeiten. Die Analyse lokaler Räume der Autonomie und des Widerstandes darf jedoch nicht durch einen romantisierenden Blick verstellt werden, denn wie Jean-Francois Bayart richtig feststellte: »(..) contemporary cultures of the state are created by all social actors, including those from ,below‹, even if their contribution does not necessarily contradict that of the powerful.«16 Der Forschungsansatz interessiert sich für politische Dynamiken anstatt für (Regime-)Stabilität und den so genannten »arabischen Exzeptionalismus«, die vor 2011 oft im Vordergrund der regionalwissenschaftlichen und komparativen Arbeiten zu Staatlichkeit im Maghreb, Mashrek (Mashriq) und Golf standen. Anders als viele funktionalistische politikwissenschaftliche Arbeiten gehe ich zudem nicht davon aus, dass staatliche Akteure automatisch öffentliche Güter bereitstellen und zu Wohlfahrt, Sicherheit und Teilhabe der BürgerInnen beitragen.17 Mit Bourdieu lässt sich festhalten, »[…] dass der Staat der Name ist, den wir – um eine Art von deus absconditus zu bezeichnen – den verborgenen, unsichtbaren Prinzipien der sozialen Ordnung, der physischen und zugleich symbolischen Herrschaft sowie der physischen und symbolischen Gewalt verleihen«.18 Der Staat ist ebenso Effekt von Praktiken wie von Perzeptionen, er bezeichnet ein Größeres, zu dem »Gesellschaft« nur scheinbar im Widerspruch steht. »Der Staat« wird hier als Raum begriffen, in dem Akteure in sozialen Feldern, die formale und informelle Organisationen und Institutionen umfassen, um Zugang zu unterschiedlichen Kapitalien kämpfen. Insofern ist die Frage nach den relevanten AkteurInnen, ihren Interessen, Ressourcen, Praktiken und Perzeptionen eine empirische, deren Beantwortung ein heuristisches Staatsverständnis erfordert.19 Staatliche Herrschaft wird entsprechend als Praxis eines Alltagsstaates, eines »every day state«, wie die Anthropologin und Ägyptenexpertin Salwa Ismail ihn genannt hat,20 aufgefasst. Die Hegemonie dieser Herrschaft ist begrenzt und sie konkretisiert sich in den lokalen Prakti-

15 In Bouziane et al. 2013, S. 5, definieren wir das Lokale sozial und spatial als »a territorialized small-scale place that is demarcated from and interlinked to other scales«. 16 Bayart 1991, S. 65. 17 Für eine kritische Aufarbeitung der nach 2011 entstandenen Literatur vgl. Cavatorta 2016. 18 Bourdieu 2014, S. 24. 19 Trouillot 2001, S. 135. 20 Ismail 2006, S. xxxiii.

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ken, im Umgang des Bürgers mit den Behörden und Organisationen.21 Diese Praktiken sind in spezifische historische, symbolisch-diskursive, soziale, institutionelle, kulturelle und ökonomische Kontexte eingebettet. Sie sind »Politik«, ein Begriff, der hier weit gefasst wird. Politik wird unter anderem auf der lokalen Ebene sichtbar und kann empirisch als unterschiedliche Formen von Partizipation untersucht werden. Partizipation wird verstanden als Teilhabe an den sozialen, politischen und ökonomischen, formalen und informellen Prozessen der Ressourcenallokation,22 denn unter den Bedingungen des Autoritarismus war öffentlicher Massenprotest zumindest bis 2011 eher die Ausnahme in der Region. Partizipation umfasst eine große Bandbreite von legalen und illegalen, kollektiven und individuellen, öffentlichen und privaten Teilhabeformen. Dazu zählt das von Bayat beschriebene »quiet encroachment« – die stille Aneignung öffentlichen Raums und öffentlicher Güter durch die Armen.23 Dazu zählen auch die von Singerman umfassend analysierten informellen Nachbarschafts- und Familiennetzwerke,24 aber auch islamischer Aktivismus, die Arbeiterbewegung, Rechte- und Service-orientierte NGO-Arbeit, Menschen- und Frauenrechtsaktivismus, Internet-Aktivismus, Streiks, Blockaden und öffentlicher Protest. Im Rahmen solcher Aktivitäten wurde die Erosion des autoritären Gesellschaftsvertrags in Ägypten bereits lange vor 2011 zunehmend öffentlich artikuliert. Kleinräumige, informelle Formen der Teilhabe sind auch wegbereitend für Massenproteste. Ressourcenarme AkteurInnen können darüber soziales, kulturelles oder symbolisches Kapital als Voraussetzung für andere Formen der Teilhabe erwerben und ressourcenstarke AkteurInnen können Zugang zu neuen Netzwerken erhalten.25 Besonders Asef Bayats Arbeiten, schon 2007 unter dem wegweisenden Titel How ordinary people change the Middle East zusammengefasst, zeigen den transformierenden Charakter dieser lokalen, »unsichtbaren«, individuellen Aktivitäten von »non-movements«. Zugleich ist der Zugang zu Partizipationsmöglichkeiten durch intersektional verschränkte Ungleichheitsverhältnisse entlang der Grenzen von Geschlecht, Klasse, Ethnie, Religionszugehörigkeit und Alter machtvoll vorstrukturiert.26 Obgleich die »Staatsanalyse von unten« also besonderen Wert auf AkteurInnen und akteursinduzierte Dynamiken legt, so geht sie dennoch davon aus, dass das Verhältnis von Staat und Gesellschaft mit vergleichsweise stabilen Strukturen unterlegt ist. Um diese zu erfassen, benutze ich die Metapher des Gesellschaftsvertrags, also der Idee, dass Herrschende und Beherrschte sich bestimmten Regeln unterwerfen, die – da im freiwilligen oder erzwungenen Konsens konstruiert – den 21 22 23 24 25 26

Gupta 1995, S. 376. Harders 2002, S. 55. Vgl. Bayat 1997, 2007. Vgl. Singerman 1995. Vgl. ebd; Harders 2002. Vgl. Moghaddam 2007; Crenshaw 1989.

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Herrschenden eine gewisse Legitimität verschaffen, wenn die Regeln eingehalten werden. In autoritären Gesellschaftsverträgen geht es dabei zumeist um den Tausch von Teilhabemöglichkeiten gegen Wohlfahrt und Sicherheit. Dies gilt auch für Ägypten. Der nasseristische Gesellschaftsvertrag versprach Entwicklung und Wohlstand im Austausch mit Loyalität, die innerhalb klientelistischer Bahnen kontrolliert und depolitisiert werden konnte.27 Allerdings geriet dieses Arrangement spätestens seit Ende der 1980er Jahre zunehmend unter Druck, denn die Regierung war angesichts einer massiven Schuldenkrise gezwungen, mit Strukturanpassungsmaßnahmen unter IWF-Ägide zu beginnen. Privatisierung, Deregulierung und Subventionsstreichungen waren die Folge, ebenso wie sinkende Investitionen in Bildung und Gesundheit. Damit einher gingen Massenproteste (1977, 1986) und Legitimationsverlust des Regimes, das seinen wohlfahrtsstaatlichen Verpflichtungen aus Sicht der BürgerInnen immer weniger nachkam. Dieser sich über Jahre vertiefenden Legitimationskrise28 setzte das autoritäre Regime fünf Handlungslogiken entgegen, um den eigenen Machtanspruch im Rahmen des autoritären Gesellschaftsvertrags abzusichern: Islamisierung, Informalisierung, begrenzte ökonomische und politische Liberalisierung sowie Repression.29 Die Strategien zielten auf Depolitisierung und Demobilisierung als Kernbestand des autoritären Sozialvertrags und wurden unter Sadat, Mubarak und den Regierungen nach 2011 in unterschiedlicher Intensität genutzt. »Islamisierung« umfasst dabei all diejenigen Prozesse und Maßnahmen, die das Regime Mubarak nutzte, um sich als »islamischer als die Islamisten«, die ihre stärksten Opponenten waren, zu gerieren. Begrenzte politische Liberalisierung begann in Ägypten bereits unter Präsident Sadat, der sich vom nasseristischen Einheitsparteiensystem abwandte und fortan begrenzte und kontrollierte parlamentarische Opposition akzeptierte. Repression ist ein Kernmerkmal autoritärer Herrschaft und kann physische Gewalt, rechtliche Regelungen und immaterielle, diskursive Formen annehmen. Informalisierung30 und begrenzte ökonomische Liberalisierung sind eng miteinander verknüpft. Seit der Initiierung von Sadats wirtschaftlicher Öffnungspolitik

27 28 29 30

Vgl. Harders 2002; Büttner/Büttner 1993. Vgl. Kienle 2003; Albrecht/Schlumberger 2004. Vgl. Harders 2002. Informalität, so formulierten Anja Hoffmann, Malika Bouziane und ich, »is used to describe diverse phenomena ranging from corruption to networks or culture. Thus, the term ,informal‹ becomes a residual category that seems to encompass all issues classified as not formal. Informal institutions are usually understood in line with Helmke and Levitzky’s definition as ,socially shared rules and procedures that […] are created, communicated, and enforced outside officially sanctioned channels‹ (Helmke, Levitsky 2006, S. 5)«, Bouziane et al. 2013, S. 12. Informelle Regeln haben üblicherweise eine begrenzte Reichweite, können aber, so hat Malikas Bouzianes Arbeit zu Politik in Jordanien gezeigt, durchaus schriftlich niedergelegt werden – und sie sind eng mit spezifischen lokalen Akteurserwartungen verknüpft.

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(Infitah) entstand einerseits eine neue Schicht privater Unternehmer, die im engen Kontakt mit staatlichen Autoritäten zu großem Reichtum kamen. Gleichzeitig begann die Massenmigration der ländlichen ägyptischen Bevölkerung in die reichen Golfstaaten, was zu bescheidenem, aber spürbaren Wohlstand in diesem Bevölkerungssegment führte. Mit der wirtschaftlichen Öffnung und den neuen Geldflüssen setze auch ein massiver Wandel im Stadtbild vieler ägyptischer Städte, allen voran in Kairo ein: Ein Bauboom erfasste die Stadt und führte zu einem massiven Wachstum sogenannter informeller Viertel.31 Sie sind der sichtbarste Ausdruck der Relevanz von Informalisierung als Herrschaftslogik, die seit dem Amtsantritt von Mubarak zunehmend zu einer dominanten Logik wird: der autoritäre Gesellschaftsvertrag wird zu einem »Gesellschaftsvertrag der Informalität«, so meine These. Er greift die depolitisierende Seite des nasseristischen Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft auf, minimiert jedoch im Zeitalter neoliberaler Wirtschaftsreformen die wohlfahrtsstaatliche Rolle des Staates. An die Stelle von Rechten und Ansprüchen der Bürgerinnen und Bürger treten kaum einklagbare Möglichkeiten des informellen Handelns und der klientelistischen Interessensvermittlung für Untertanen. Dies gilt nicht nur für arme und exkludierte Menschen, auch wenn die Handlungslogik des Informellen in diesen Armutsvierteln besonders greifbar wird. Dies schließt vielfältige Praxen der Anpassung, des Widerstandes und des Überlebens ein. Dazu zählt etwa die massenhafte illegale und informelle Aneignung öffentlicher Güter, wie Strom und Wasser, aber auch die Nutzung ausgedehnter informeller Netzwerke, um strukturelle Exklusion zu überwinden. Informalität betrifft aber auch die Mittelklasse: es scheint, als gäbe es zu jedem formalen Prozess und jeder formalen Organisation ein informelles Pendant, in enger Verschränkung mit staatlichen Institutionen oder in bewusster Tolerierung illegaler und informeller Aktivitäten. Dies betrifft insbesondere den Bausektor: ein substantieller Teil der Bebauung Großkairos gilt als informell, dies gilt für arme Viertel ebenso wie für reiche.32 Ein weiteres Beispiel ist das Nachhilfesystem: Jedes ägyptische Kind, das eine öffentliche Schule besucht, egal welcher sozialen Herkunft, ist mittlerweile gezwungen, Nachhilfestunden zu nehmen, obgleich es natürlich verboten ist, SchülerInnen dazu zu nötigen.33 Das Jahr vor dem Abitur verbringen AbiturientInnen öffentlicher Schulen nicht einmal mehr in der Schule, sie verlassen sich notgedrungen ganz auf private Prüfungsvorbereitung. Die Grenzen dieses Arrangements werden jedoch einseitig durch die Repressionsmacht des Staates festgelegt: Unlizenzierte Händler und Straßenverkäufer werden brutal vertrieben oder zu Bestechungszahlungen gezwungen, Menschen werden ohne Kompensation vertrieben, die informellen Viertel haben nur minimale Bildungs- und Gesundheitsstrukturen und Konfliktregulierung wird der Mafia überlassen. Organisiertes, gemeinschaftliches Handeln wird massiv durch den Ge31 Vgl. Denis 2012; Deboulet 2012. 32 URL: blog.shadowministryofhousing.org/p/english.html [09.01.2017]; URL: 10tooba. org/ [09.01.2017]. 33 Hartmann 2008. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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heimdienst überwacht und behindert. Die BewohnerInnen der ʿAshwaiyat von Kairo sind zudem massiver gesellschaftlicher Stigmatisierung ausgesetzt: sie gelten als schmutzig, ungebildet, gewaltbereit und »unzivilisiert«. Sie leiden besonders unter arbiträrer Gewalt durch die Polizei, unter Arroganz und Behördenwillkür. Dies gilt insbesondere für junge Männer, die dem Staat ein Dorn im Auge sind.34 Das Ausmaß dieser Alltagsgewalt blieb vielen ÄgypterInnen – mit Ausnahme von Menschenrechtsorganisationen – bis 2011 verborgen, denn sie betraf zunächst die Armen. Später war auch die Mittelklasse betroffen. Das Beispiel des Alexandriners Khaled Said, der 2010 von der Polizei brutal ermordet wurde, entwickelte im prä-revolutionären Ägypten starke Mobilisierungskraft, unter anderem auch, weil Said ein eher der Mittelklasse zuzuordnendes Opfer war.35 Der Gesellschaftsvertrag der Informalität beruht darauf, dass der Staat seine BürgerInnen mit minimalen Wohlfahrts-, Partizipations- und Sicherheitsleistungen versorgt. Wenn diese Versorgung systematisch verringert wird, hat dies Folgen für die Legitimität des Regimes. Das Arrangement der informellen Handlungsspielräume erodierte durch die neoliberalen Reformen unter Mubarak, insbesondere seit 2004. Während die makroökonomischen Indikatoren hohe Wachstumsraten und sinkende Armutsquoten anzeigten, stiegen dennoch zugleich die Arbeitslosenzahlen und die Preise für Grundnahrungsmittel stetig.36 Seit Antritt der Präsidentschaft al-Sisi im Jahr 2014 durchläuft Ägypten erneut eine Phase der neoliberalen Restrukturierung, v.a. bei der Abschaffung von Subventionen. Dadurch wird einerseits die informelle und unbezahlte Aneignung öffentlicher Güter, die die Basis des »Gesellschaftsvertrags der Informalität« darstellt, immer schwieriger. Andererseits entstand so bereits in den 1990er Jahren mit der vom Internationalen Währungsfonds und der EU unterstützten Strukturanpassungs- und Liberalisierungspolitik ein oligarchisches Wirtschaftssystem, dessen zentrale AkteurInnen stets bereit waren, die Kosten für Liberalisierung und Privatisierung, wie Inflation, Nahrungsmittelkrisen, Arbeitslosigkeit oder Subventionsabbau, unabhängig von längerfristigen Entwicklungserwägungen, auf die verarmende Bevölkerungsmehrheit abzuwälzen.37 Diese Widersprüche zwischen einer Rhetorik des paternalistisch-versorgenden Staates und den harten Krisenrealitäten, aber auch der massive gesellschaftliche Wandel, der bessere Zugang zu Informationen und der demografische Wandel trugen das Ihre zu einer tiefgreifenden und umfassenden Legitimitätskrise und damit zu einer Erosion des Gesellschaftsvertrags bei, die schließlich 2011 mit Macht in die Öffentlichkeit getragen wurde. Die prominentesten Slogans der Protestierenden adressierten die hier entfalteten Herrschaftsmechanismen ebenso wie die wichtigsten praktischen Desiderate, die damit einhergehen: »Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit« und bezogen auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft: »Al34 35 36 37

Vgl. Ismail 2006. Vgl. Ali 2012. Vgl. Zorob 2012. Vgl. Marfleet/El Mahdi 2009; Zorob 2012; Bogaert 2013.

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shaʿb yurid isqat al-nizam – das Volk will die Zerschlagung des Systems!« Damit ist das eben beschriebene komplexe System von sozialer Ungleichheit entlang der Kategorien von Klasse, Geschlecht und Alter sowie den autoritären Herrschaftslogiken der Repression, Informalisierung, Islamisierung und begrenzter politischer und ökonomischer Liberalisierung im Rahmen des autoritären Gesellschaftsvertrags gemeint, das jedoch nur in den Blick geraten kann, wenn mikropolitologische Analysen mit Makrostrukturen so wie hier zusammengedacht werden. Dieser Perspektivwechsel ist umso wichtiger, wenn der Wandel auf der Makroebene nach mehreren Jahren des Machtkampfes zwischen Militär, alten und neuen Regimeeliten und den Islamisten bzw. Revolutionären in Restauration und einen gewaltvollen »Krieg gegen den Terror« mündet. Aus meiner Sicht stellt im Lichte jahrelanger Depolitisierung und Repression allein die Tatsache, dass Massenproteste stattfanden, einen fundamentalen Bruch mit den dominanten Herrschaftslogiken des autoritären Gesellschaftsvertrags dar. Dass diese Proteste zudem den Rücktritt Mubaraks erzwingen konnten, stellt einen weiteren fundamentalen Bruch dar. In dieser Überwindung der »Mauer der Angst« liegt eine transformierende Erfahrung von 2011, so meine – und natürlich nicht nur meine – These, die auch in der Feldforschung immer wieder bestätigt wird. »Die Menschen erheben ihre Stimme«, »das Volk fordert seine Rechte ein«, »die Menschen haben ein anderes Bewusstsein« – so unsere InterviewpartnerInnen. Damit geht die Entwicklung neuer politischer Praxen auf der lokalen Ebene einher, die ein weiteres wichtiges, konkretes Ergebnis der revolutionären Momente von 2011 darstellen. Seither haben die Menschen in Ägypten auf vielfältige Weise versucht, die Regeln des autoritären Gesellschaftsvertrags und die Mechanismen, über die diese Form der Herrschaft aufrechterhalten wird, zu hinterfragen und zu verändern. Die Nachbarschaftskomitees sind ein besonders markantes Beispiel für diese durchaus widersprüchlichen Versuche, das Verhältnis von »Staat« und »Gesellschaft« durch neue Formen der lokalen Partizipation zu verändern. Nachbarschaftskomitees – zwischen Innovation und altbekannten Mustern Hinter dem Begriff der Nachbarschaftskomitees verbirgt sich eine große Vielfalt meist informeller, lokaler Gruppen, die überwiegend im städtischen Raum entstanden. Die ersten Nachbarschaftskomitees wurden am Abend des 28. Januar 2011 von besorgten und verunsicherten Bürgern gegründet, die um ihr Leben und Eigentum fürchteten, wie Bremer in einer der ersten empirischen Studien zeigt.38 Diese sicherheitsorientierten Komitees lösten sich zum Großteil nach dem Rücktritt von Mubarak wieder auf. Andere nutzen die neu entstandenen informellen Strukturen, um systematisch die Auseinandersetzung mit der korrupten Kommunalverwaltung zu suchen, wieder andere wurden zu NGO und widmeten sich Entwicklungsfragen. Später gingen einige dieser Gruppen in einer der vielen neuen Parteien auf, andere formierten sich zu unabhängigen Jugendverbünden. Der lo-

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kale gesellschaftliche Aufbruch war einerseits beflügelnd, so Bremer und Hassan, andererseits von Beginn an durch materielle und strukturelle Probleme belastet.39 El-Meehy stellt fest, dass die Gruppen weder gänzlich demokratisch, noch völlig inklusiv waren.40 Die lokalen Akteure konnten sich der Polarisierung und den Konflikten auf der nationalen Ebene nicht komplett entziehen und mit den Blutbädern vom Sommer 2013 und der dann folgenden Repressionswelle lösten sich viele Gruppen auf. Andere arbeiten weiter, suchen nach weniger umstrittenen und politisierten Feldern, engagierten sich aber auch für Kandidaten bei den Parlamentswahlen von 2015 und bereiten sich auf die lange ankündigten Kommunalwahlen vor. Im Winter 2016/17, zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes, ist die Stimmung aufgrund der nationalen Politik und der geopolitischen Lage in der Region gedämpft. Hinzu kommen problematische interne Dynamiken, wie Dina Wahba und ich festhalten: »What is more, the internal dynamics of committees and local initiatives have been fraught with old contradictions, most prominently between older and younger people, between men and women and between rich and poor. As much as many activists have sought to challenge classism, sexism and ageism, questioning the deeply rooted hierarchies of the authoritarian contract and translating them into new practices proved to be a daunting task, we argue.«41

Die Komitees der 18 Tage zwischen revolutionärem Aufbruch und alten Strukturen Nach der für die meisten AktivistInnen überraschend starken Resonanz auf die Protestaufrufe zum 25. Januar 2011, einem der Polizei gewidmeten nationalen Feiertag in Ägypten, erfolgte die nächste Mobilisierung für einen »Freitag des Zorns«, den 28. Januar 2011. Die Sicherheitsapparate, so scheint es, waren zwar gewaltbereit, wurden aber von der schieren Menge an Protestierenden in fast allen größeren Städten Ägyptens überwältigt. Nach heftigen und blutigen Gefechten und massiven Angriffen auf Polizeiwachen im ganzen Land zog sich die Polizei am Abend des 28. Januar 2011 zurück. Verunsichert von diesen, in der modernen Geschichte Ägyptens einmaligen Ereignissen, beschlossen die Menschen in den Städten des Deltas (weniger im Süden und auf dem Land), ihre Sicherheit in die eigenen Hände zu nehmen und gründeten Haus für Haus, Block für Block, Gasse für Gasse und Straße für Straße Nachbarschaftskomitees. Die Bewohnerin eines informellen, armen Viertels, die auch als »Nachbarschaftsorganisatorin« für eine internationale NGO tätig ist, erinnert sich: »Als wir von den Ereignissen auf dem Tahrir-Platz hörten, und als wir hörten, dass überall die Polizeiwachen brennen, sind die Männer hier bei uns in der Gasse sofort auf die Straße gegangen. Sie wollten uns vor Kriminellen schützen und haben Wachen gebildet. Aber in den Tagen der Revolution ist hier bei uns nichts passiert. Unsere christlichen

39 Bremer 2011 a, b; Hassan 2014. 40 El-Meehy 2012. 41 Harders/Wahba 2017, S. 5.

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Nachbarn hatten besonders viel Angst, sie fühlten sich bedroht. Aber auch ihnen ist nichts passiert. Nach dem Ende der Revolution haben wir dann mit den Wachen aufgehört.«

Hier wie in Quartieren der Mittelklasse und sogar in reichen Vierteln Kairos, wie Zamalek und Maʿadi, schlossen sich überwiegend Männer unter Rückgriff auf bestehende Nachbarschaftsnetzwerke, oft aber auch ohne jede vorherige informelle Struktur mit improvisierten Verteidigungsgerätschaften zusammen, um Leben und Eigentum zu schützen.42 Das gleiche gilt für die Protestierenden auf dem Tahrir-Platz, die Gruppen einrichteten, um den Platz vor Angriffen zu schützen, Nahrungsmittel- und Medikamentenversorgung zu sichern und das individuelle Eindringen von Sicherheitskräften zu verhindern. Der Anthropologe Enrique Klaus berichtet auf der Grundlage seiner Erfahrungen in der eigenen Nachbarschaft im Kairoer Stadteil Manyal, dass sich die Gruppen von Nacht zu Nacht und Tag zu Tag professionalisierten. Sie errichteten Straßensperren, sprachen Schichtdienste ab, gestalteten Armbinden und Ausweise, die sie an Mitglieder vergaben und richteten Kommunikationskanäle mit den benachbarten Komitees ein.43 Regierungsnahe Medien befeuerten Gefühle von Angst und Verunsicherung, indem sie von freigelassenen oder ausgebrochenen Kriminellen berichten, von Plünderungen und drohenden Angriffen durch die sogenannte Baltagiyya, professionelle mafiöse, gedungene Schlägertrupps und/oder lokale Gruppen.44 In den wenigen bisher vorliegenden Studien wird berichtet, dass die Nächte überwiegend ohne gravierende Vorfälle verliefen. Die Mitglieder der Komitees, so scheint es, ahmten repressives Polizeiverhalten zum Teil detailgetreu nach: Ausweiskontrollen erfolgten in rüdem Ton, angeleinte Straßenhunde wurden für »Drogentests« verwendet, Anführer nahmen unter Sonnenschirmen Platz und ließen sich Ausweisdokumente fragwürdiger Personen vorlegen – ganz wie die Polizei es vorher auch tat. Verdächtige und/oder Täter wurden gewaltvoll festgesetzt und meist der Armee übergeben, so Ahmed Saleh in seiner qualitativen Untersuchung der Gruppen in Alexandria.45 Die Nachbarschaftskomitees der 18 Tage waren also einerseits eine innovative Form kollektiver, informeller Selbstorganisation und Partizipation. Sie sind damit ein konkretes Produkt des revolutionären Moments von 2011. Sie übernahmen zugleich fundamentale Sicherheitsfunktionen im Moment des Rückzugs der Exekutivkräfte. Die Gruppen könnten sogar, folgt man Salehs Argumentation, einen wichtigen Beitrag zum Erfolg der Massenproteste geleistet haben, da sie de facto eine Ausgangssperre gegenüber der verhassten Polizei durchsetzen konnten, was die Möglichkeiten von polizeilicher Repression während des Aufstandes deutlich einschränkte. Denn im Lichte all der engagierten und empörten BürgerInnen auf der Straße, zog Letztere es vor, in Zivil oder gar nicht auf die Straße zu gehen: 42 43 44 45

Vgl. Bremer 2011 a; Klaus 2012; Saleh 2016. Vgl. Klaus 2012. Vgl. Amar 2012. Vgl. Saleh 2016, S. 57ff.

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»After the army decided not to attack Tahrir, the police remained the only force willing to do so. It was forced to withdraw on January 28th, and the PCs [popular committees] prevented it from even considering regrouping or re-mobilizing […].«46 Frauen, so scheint es auf der Basis der Literatur und unserer eigenen Gespräche, haben – im Rahmen einer klassischen Arbeitsteilung der Geschlechter, wenn es um Gewalt oder Sicherheit geht – eine unterstützende Rolle gespielt: Sie haben Männer ermutigt, sich den unsicheren Straßen zu stellen; sie haben für Essen und Getränke gesorgt; sie haben die Nachrichtenlage im Auge behalten und waren manchmal mit Kommunikationsaufgaben betraut. Nur in Ausnahmefällen waren sie direkt aktiv auf der Straße. Als Passantinnen fühlten sie sich manchmal sogar eher von den Gruppen und ihrem Gebaren bedroht und abgeschreckt, zumindest verunsichert, denn nicht jede Straßensperre wurde tatsächlich von wohlmeinenden Nachbarn errichtet. Die Komitees waren somit auch ein getreuer Spiegel all der klassenspezifischen, geschlechtsspezifischen und altersspezifischen Ungleichheiten und Machtasymmetrien, die den ägyptischen Gesellschaftsvertrag kennzeichnen. Sie wurden befeuert von der Angst der Mittelklasse vor den Armen, von denen gemunkelt wurde, sie wären bereit, die nächstgelegenen reichen Viertel anzugreifen – was nicht passierte, obgleich einige große Supermärkte in abgelegenen Örtlichkeiten geplündert wurden.47 Insofern replizierten die Gruppen Klassenvorurteile, ermöglichten fast keine Partizipation von Frauen und funktionierten nach dem Prinzip der Seniorität. Neuverhandlung des autoritären Gesellschaftsvertrags? Die meisten Nachbarschaftskomitees lösten sich gleich nach dem Rücktritt Mubaraks und der damit eintretenden Stabilisierung der Lage wieder auf. Viele andere arbeiteten weiter, zum Teil mit einer klaren politischen Agenda, so wie dieser Aktivist es beschreibt: »Als wir unser Komitee gegründet haben, ging es uns darum, die Revolution ins Viertel zu bringen und die Menschen zu verändern.« Andere orientierten sich gleich auf eher karitative und entwicklungsorientierte Arbeit, so wie diese erfahrene NGO-Aktivistin, die die Gunst der Stunde nutzte und gemeinsam mit einer Nachbarschaftsgruppe handelte: »Endlich können wir unsere schon lange vorher entwickelten Pläne, unsere besonders heruntergekommenen Ecken im Viertel zu verschönern, umsetzen. Das wollten wir schon seit langem tun, aber die Behörden haben uns nicht zugehört.« Ein junger Mann, der sich in einem anderen Stadtteil zum ersten Mal engagiert, erzählt: »Als Nachbarschaftskomitee hatten wir drei wichtige Ziele: die Partizipation der Menschen im Viertel verbessern, Aufsicht und Kontrolle der öffentlichen Verwaltung und Entwicklung alternativer Informations- und Medienkanäle.« Diese Zitate zeigen bereits, dass sehr unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Erfahrungen zu sehr verschiedenen Zwecken zusammenkamen, was entspre46 Ebd., S. 57. 47 Ebd., S. 46.

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chend unterschiedliche Arbeitsweisen nach sich zieht: Einige suchen den Kompromiss mit den Behörden, andere die Konfrontation. Einige schließen sich eng an politische Parteien an, andere achten sorgsam auf ihre parteipolitische Unabhängigkeit. Einige arbeiten für die Revolution, andere stehen den jeweils amtierenden Regierungen nah. Einige entstanden im Enthusiasmus des Jahres 2011 aus dem Nichts, andere Gruppen können auf Mitglieder mit jahrelanger Erfahrung bei der Mobilisierung und Politisierungsarbeit im Quartier zurückgreifen, etwa, wenn es um von Räumung bedrohte informelle Viertel geht oder um solche, in denen bestimmte politische Parteien historisch sozialen Rückhalt genießen. Gemeinsam ist den Gruppen, dass sie sich auf zumeist auch im Gruppennamen erwähnte Quartiere beziehen und dass sie über knappe Ressourcen verfügen, da die meisten von ihnen über Spenden oder sehr geringe Mitgliedsbeiträge finanziert werden. Gemeinsam sind ihnen auch die vielfältigen Versuche ihrer Mitglieder, die herrschenden Verhältnisse herauszufordern und die Grenzen, die sich dabei immer wieder auftun. Dies soll im Folgenden am Beispiel der Konflikte zwischen Arm und Reich, zwischen Männern und Frauen sowie zwischen informeller Nachbarschaftspolitik und formaler Politik illustriert werden. Gerade in informellen und/oder armen Vierteln forderten die Menschen z.B. eine Verbesserung der Abwasserentsorgung, Entschädigung von Bewohnern, deren Häuser aufgrund von Wasserschäden unbewohnbar geworden waren, Zugang zum Gasnetz der Stadt, Entsorgung illegaler, kleiner Müllhalden in den Vierteln, das Pflanzen von Bäumen, Asphaltierung von Straßen, oder auch eine Verbesserung der Dienstleistungen des kommunalen Krankenhauses. Der Fokus auf Alltagsfragen und der damit oft einhergehende Pragmatismus führten zu vielen konkreten Aktionen und brachte den Gruppen vor allem zwischen 2011 und 2013 beachtliche Erfolge ein. Ein Beispiel: In vielen ärmeren Vierteln besteht kein Anschluss an das kommunale Gasversorgungsnetz. Die Frauen nutzen Kochgaszylinder, die üblicherweise zu subventionierten Preisen bereitgestellt werden. Die lokale Versorgung mit diesen Zylindern brach zusammen und Nachbarschaftsgruppen organisierten den Kauf größerer Quantitäten von zentralen Verteilerstellen, um sie dann im Viertel zu verteilen. Neu ist daran nicht so sehr, dass die Menschen die Lösung ihrer Alltagsprobleme kollektiv in ihre Hände nehmen – denn, wie bereits vorher beschrieben, existierten gerade in den informellen Vierteln Kairos alte Nachbarschaftsnetzwerke, die schon vorher für die informelle Lösung alltäglicher Probleme des Überlebens genutzt worden sind. Neu ist der Diskurs der Rechte, der sich nach der Revolution vom 25. Januar damit verband. In fast allen Gesprächen wurde dieser Aspekt betont: »Wir fordern unsere Rechte«, »ein sauberes Quartier ist unser Recht, schließlich bezahlen wir Müllgebühren«, »nakhud haqqana – wir nehmen uns unsere Rechte«, so einige unserer Interviewpartner. Diese Haltung ist der sichtbarste Ausdruck eines veränderten politischen Bewusstseins und damit einer substantiellen Herausforderung des autoritären Gesellschaftsvertrags: Staatliche Institutionen wurden mit neuem Selbstbewusstsein adressiert und auch konfrontiert. Die allgemeine Aufbruchsstimmung, das ermutigende Gefühl, seine Geschichte erfolgreich in die eigenen Hände nehmen zu können, führte zu einer VielLeviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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zahl ganz neuer politischer Erfahrungen. So berichtete eine Frau 2012 aus einem ärmeren Viertel voller Stolz: »Wir sind zum ersten Mal direkt zur Kommunalverwaltung gegangen und haben unsere Forderungen laut und deutlich gestellt. Wir haben sie konfrontiert und herausgefordert. Und, stell dir vor, die Verwaltung hat mit uns gesprochen, hat uns wie Menschen, wie Bürger behandelt!« Die Tatsache, dass allein schon ein Gesprächsangebot als Sieg betrachtet wird, sagt einiges über das Verhältnis von Verwaltung und Bürger im autoritären System unter Mubarak, das als korrupt, ineffizient und arrogant gilt. Nachbarschaftskomitees nahmen sich auch der Müllfrage an, die gerade BewohnerInnen armer Viertel umtreibt. Viele Menschen zahlen zwar Müllgebühren – seit 2010 werden diese Gebühren gemeinsam mit der Stromrechnung eingezogen – doch die Firmen arbeiten schlecht und unregelmäßig. Mehr als eine Gruppe rief die BewohnerInnen mit großem Erfolg dazu auf, ihren Müll zu sammeln und vor dem Gebäude der Kommunalverwaltung in Giza abzuladen. Die Verwaltung musste handeln und es konnten Verbesserungen erreicht werden, berichtet dieses Mitglied einer Gruppe: »Nach dieser Aktion hat der Leiter der Verwaltung regelmäßig das Gespräch mit uns gesucht. Er hat uns aufgefordert, unsere Forderungen und Probleme zu benennen und wir haben gemeinsam nach Lösungen gesucht.« Im Ergebnis handelten lokale Behörden, öffneten sich dem Gespräch mit den BürgerInnen und machten Zugeständnisse. Dabei, so merkte mehr als eine GesprächspartnerIn an, ging es zum Teil auch um die Umsetzung bereits längst bewilligter Projekte, die aber korruptionsbedingt in der Schublade verschwunden waren. Oder es ging um Projekte mit geringen Kosten, denen man unproblematisch zustimmen konnte. Insofern zeigt sich hier, dass die Verwaltung auf öffentlichen Druck reagierte, aber zugleich versuchte, die Kosten für die neue Bürgernähe niedrig zu halten. Wichtig aus Sicht der BürgerInnen war die Interaktion, war die Tatsache, dass überhaupt mit ihnen gesprochen wurde und die Erfahrung, dass das eigene politische Handeln Ergebnisse erbringen kann. Aus Sicht von engagierten jungen Leuten, die sich aus Mittelklassevierteln aufmachten, um den lokalen Aufbruch zu unterstützen, lag in dieser pragmatischen Orientierung auf Alltagsbedürfnisse aber auch ein Problem, wie dieser Aktivist bereits 2012 mit einigem Frust feststellte: »Andere Organisationen reagieren auf die Servicewünsche. Sie geben den Leuten den Fisch. Wir aber wollen ihnen das Angeln beibringen.« So berechtigt und sinnvoll diese Haltung auch sein mag, sie unterschätzt den Pragmatismus der Armen, die Notwendigkeit, rasche Lösungen finden zu müssen und die lebenslange Erfahrung, dass der Spatz in der Hand besser ist als die Taube auf dem Dach. Sie unterschätzt auch das Ausmaß an sozialer Stratifizierung und damit Interessensdivergenz, das es in den meisten Vierteln gibt – was sich auch in der Bausubstanz widerspiegelt. Ein weiteres Beispiel: In vielen Bezirken finden sich einzelne informelle und oft sehr heruntergekommene Quartiere. Die Menschen dort haben mit maroder Bausubstanz, schlechter Abwasserentsorgung, oft keiner Wasserversorgung und insgesamt unguten Lebensumständen zu kämpfen. Sie sind häufig eher an raschen, konkreten Verbesserungen interessiert, als daran, unklare Besitzverhältnisse langwierig vor Gericht klären zu las-

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sen, wie folgendes Beispiel zeigt. Das innenstadtnahe »Maspiro-Quartier«, nicht weit vom nationalen Fernsehgebäude und dem Außenministerium entfernt, ist schon seit längerem immer wieder von Räumung und Enteignung bedroht, denn hier leben Arme auf hochattraktiven Innenstadtbaugründen. 2011 hat sich der Widerstand dagegen neu formiert und dies wurde auch breit von der Zivilgesellschaft unterstützt. Doch, so berichtet eine der Unterstützerinnen, am Ende konnten die konkurrierenden Interessen der Bewohner nicht unter einen Hut gebracht werden: Landbesitzer waren an hohen Verkaufsgewinnen interessiert, Mieter waren an Kompensation interessiert und die Ärmsten der Armen, die über keine Dokumente und eine schwache Verhandlungsposition verfügten, votierten für eine gründliche Sanierung. Zusammenfassend zeigt sich, dass die Nachbarschaftsgruppen für die urbanen Armen produktive Orte des Engagements sind, in denen ihre konkreten Bedürfnisse priorisiert werden können. Viele Gruppenmitglieder stammen aus ärmeren Vierteln und nutzten die Komitees, um erste politische Erfahrungen zu sammeln und sich zu engagieren. Die Gruppen konnten bis 2013 viele ganz konkrete Erfolge verzeichnen. Ob dabei der Kampf um bessere Dienstleistung ein politischer ist, wie einige Aktivisten betonen, oder doch eher eine entwicklungspolitische Aufgabe, wie andere denken, ist offen und umstritten. Materielle Unterschiede unter den BewohnerInnen der Viertel, ebenso wie die Klassenunterschiede zwischen ihnen und den jungen Unterstützern aus der Mittelkasse führten zu Konflikten über Prioritäten und Strategien im Umgang mit den Behörden. Nach dem Sommer 2013 wirkte sich zudem die scharfe Polarisierung der nationalen Politik auch auf der lokalen Ebene aus: Gruppen zerfielen, den UnterstützerInnen aus der Mittelklasse schlug mehr Misstrauen entgegen und Erreichtes wurde zum Teil durch die Autoritäten mit Gewalt rückgängig gemacht. Behördentüren schlossen sich erneut fest, Verwaltungsleiter waren nicht mehr zu erreichen und der Geheimdienst trumpfte wieder auf. Ähnlich wie die Klassenverhältnisse wurden auch Geschlechterverhältnisse in den Nachbarschaftskomitees auf widersprüchliche Weise verhandelt. Zwar sind sich viele Beobachter darin einig, dass die Revolution vom 25. Januar gerade den Frauen neue Sichtbarkeit und eine stärkere Stimme gegeben hat,48 aber auf der lokalen Ebene lassen sich vor allem eher traditionelle Arrangements beobachten. »Als wir gegen die Preiserhöhungen für Kochgas protestierten, waren es vor allem die Frauen, die mitgemacht haben. Sie haben sich vor der Kommunalverwaltung versammelt, und auf ihren leeren Gaskartuschen herumgehämmert und einen Riesenlärm veranstaltet«, so ein männliches Mitglied aus dem Komitee. Da die Frauen für die Versorgung ihrer Familien zuständig sind, ist es legitim, mit solchen Forderungen auf die Straße zu gehen. Frauen selbst bevorzugen es oft, sich zu solchen Themen zu äußern und sich zu »großen politischen« Fragen zurück zu halten. Zugleich habe ich während meiner Feldforschung 2012 beobachtet, wie Frauen unterschiedlicher Generationen in einem informellen Viertel höchst engagiert den neuesten Verfassungsentwurf diskutierten und auch sonst jederzeit über alle 48 Vgl. Salah 2011; Sholkamy 2012; Sadiqi 2016. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Entwicklungen vorzüglich informiert waren. Frauen sind in allen Viertel aktiv, nehmen aber oft eher Rollen im Hintergrund ein, so berichtet eine junge Aktivistin der Mittelklasse in der Rückschau 2016: »Fast überall findet man sehr starke Frauen, die sehr gut informiert sind, über alle Probleme im Quartier Bescheid wissen und die an der gesamten Arbeit beteiligt waren. Aber wenn es dann an die Öffentlichkeit ging, traten sie in die zweite Reihe. Es gab einen unausgesprochenen Konsens darüber, wer vorne stehen sollte. Natürlich kommen in so einem Moment die traditionellen Geschlechterrollen zum Tragen. Das war ja sogar auf dem Tahrir so, sogar in revolutionären Gruppen. Von daher ist es wohl wenig überraschend, wenn sich das gleiche auf der lokalen Ebene abspielt«, so das ernüchterte Fazit.

Der Wandel im Geschlechterverhältnis artikuliert sich derzeit, so scheint es, vor allem auf der individuellen Ebene und in einem veränderten Diskurs, weniger in veränderten Praxen. So haben mehrere Gesprächspartner, Männer wie Frauen betont, dass Frauen insgesamt sichtbarer und ihre Anliegen hörbarer geworden sind. Die Revolution, so eine Aktivistin, hat mit vielen Tabus gebrochen. Erstmals haben sich Frauen öffentlich zu sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung geäußert und das Thema massenhafter Belästigung bis hin zu den höchst brutalen Massenvergewaltigungen bei politischen Großveranstaltungen ins öffentliche Bewusstsein gehoben. Während sich die Komitees für Frauen nur teilweise als transformierende Räume erweisen, zeigen unsere Interviews, dass sie jungen Männern neue Möglichkeiten für Engagement geboten haben. Auf der lokalen Ebene und in informellen Gruppen, so scheint es, konnte die »Jugend«49 sich besonders gut entfalten. Auf der lokalen Ebene war es für junge Leute möglich, Führungs- und Mobilisierungserfahrung zu sammeln, daran zu wachsen und so stetig mehr Verantwortung zu übernehmen. Sie konnten damit im Bourdieu‹schen Sinne nicht-materielles, soziales und symbolisches Kapital ansammeln, das den Mangel an kulturellem und materiellem Kapital zum Teil wieder wettmachte. Allerdings stießen auch sie auf Klassengrenzen und auf die Grenzen der Kooperation zwischen nationalstaatlich organisierten Parteimaschinerien und informellen Nachbarschaftsgruppen. Die alten Parteiführungen waren äußerst skeptisch über die Qualifikationen und Motivationen all der jungen Leute, die plötzlich mitgestalten wollten, wie dieser junge Kandidat einer Oppositionspartei kritisch anmerkt: »Die meisten Parteien nehmen die Jugend doch gar nicht ernst. Die meisten unabhängigen Jugendkoalitionen und ihr Programm werden nicht unterstützt. Auch die Oppositionsparteien sind rund um die Idee eines ›starken Mannes‹, eines Patriarchen aufgebaut, der der Parteijugend keinen Raum gibt. Junge Leute werden so marginalisiert in der Opposition.«

Auch in der Interaktion mit den Vertretern der formalisierten Parteipolitik kulminierten dann jedoch die intersektionalen Ungleichheitsverhältnisse erneut und führten zu erheblicher Frustration, übrigens nicht nur bei jungen Leuten. Insgesamt vermittelte sich in unseren Gesprächen der Eindruck, dass die Verhältnisse zwischen formaler und informeller Politik, zwischen nationaler und lokaler Ebene voller Widersprüche waren und sind. Einerseits bestehen starke gegenseitige Ab49 Der Begriff der Jugend umfasst eine vergleichsweise große Alterspanne und verweist daher eher auf einen Habitus als auf das tatsächliche Lebensalter.

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hängigkeiten, denn die lokalen Akteure benötigen den Zugang zur nationalen Ebene, um ihre Interessen auch gegenüber höherrangigen Behörden durchsetzen zu können. Die nationalen Akteure benötigen Zugang zur lokalen Ebene, um potenzielle Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren.50 Andererseits wirken Klassenund Generationenvorurteile stark auf diese Beziehungen ein, und zwar zum Nachteil der lokalen Kräfte. Was sich eigentlich als durchaus vorteilhafte Koalition für beide Seiten hätte erweisen können, war in der Praxis konfliktgeladen und oft voller Enttäuschungen für die Nachbarschaftskomitees, wie die folgenden Beispiele aus den Parlaments- und Präsidentschaftswahlkämpfen von 2012/2013 und 2015 zeigen. Die Pluralisierung der Parteienlandschaft der Jahre 2011 und 2012 war auch auf der lokalen Ebene zu spüren. Einige Aktivisten ließen alte Parteimitgliedschaften wiederaufleben, andere wandten sich neuen Parteien zu, wieder andere beschlossen, unabhängig zu bleiben. In vielen Fällen nutzen die Komitees jedoch die Gelegenheit, um ihre Arbeit auf der Ebene der lokalen politischen Bewusstseinsbildung voranzutreiben und um ihren Forderungen nach weniger Korruption und besserer Arbeit Nachdruck zu verleihen. Ein Aktivist berichtete, dass sein Komitee im Vorfeld der Wahlen kritische Diskussionsveranstaltungen mit über 100 Kandidaten durchgeführt hat. »Unser Komitee war politisch plural, von Anfang an. Es waren Linke da, Muslimbrüder und Liberale. Also haben wir die Kandidaten auch in ihrer Breite auf Herz und Nieren geprüft. Am Ende haben wir Wahlempfehlungen für zehn Kandidaten erstellt, um den Menschen die Entscheidung etwas zu erleichtern.«

Mit der Zeit wuchsen die Frustrationen der lokalen Aktivisten. Sie fühlten sich als Stimmvieh benutzt, sahen ihre Anliegen als unpolitisch abqualifiziert und selbst von revolutionären Kräften oft nicht gut integriert. Hinzu kommt, dass bereits 2012 die alten politischen Kräfte hinter den Kulissen aktiv versuchten, die neuen Führungspersönlichkeiten einzubinden und zu kooptieren. Dies führte zu internen Spaltungen und Gruppenzerwürfnissen. 2015 waren die alten Mechanismen und die alten und neuen Hüter des autoritären Gesellschaftsvertrags wieder im vollen Schwange und konnten die meisten Wahlkreise für sich gewinnen. Trotz der angespannten, auf Sicherheitsfragen fokussierten öffentlichen Debatte, entschieden sich Gruppen, oppositionelle oder unabhängige Kandidaten zu unterstützen. Einige von ihnen konnten Wahlkreise gewinnen. »Ihr Sieg bei den letzten Wahlen geht auf unser Konto. Wir haben die lokale Mobilisierung übernommen. Das ist auch unser Sieg«, berichtet ein Aktivist. Nach einem Jahr im Amt wurden in einem anderen Quartier die Parlamentsabgeordneten zu einer kritischen Bilanz eingeladen. Sie stimmten zu, sorgten auf eigene Kosten für einen geeigneten Rahmen und stellten sich einer öffentlichen Debatte über ihre Arbeit im Parlament. Andere Nachbarschaftskomitees zeigen sich weniger zufrieden mit der Arbeit ihres Kandidaten. »Wir haben ihn unter der Bedingung unterstützt, dass er sich auch für die Belange des Viertels einsetzt. Aber er war ein Kompromisskandidat von Anfang an und wir sind nicht

50 Für eine detaillierte Beschreibung dieser Dynamiken vgl. Harders 2002. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Cilja Harders zufrieden. Als Linke und Sozialisten wissen wir, dass sich die Geschäftsleute nur selten für die Probleme der Arbeiter interessieren. Also haben wir jetzt eine Kampagne lanciert, um ihm öffentlich und auch rechtlich das Vertrauen zu entziehen, um ihn zur Rückgabe seines Mandats zu zwingen«, berichtet dieses Mitglied aus Kairo.

Auch unter den sehr schwierigen politischen Bedingungen der Jahre 2015 und 2016 fordern diese Männer und Frauen ihre Rechte als Bürger und Wähler ein. Sie beharren auf öffentlicher Rechenschaft und auf öffentlicher Debatte. Im Kern beharren sie auf Politik als Mittel der friedlichen Aushandlung gesellschaftlicher Zukünfte im Angesicht einer Öffentlichkeit, die sich in den letzten Jahren daran gewöhnt hat, Kritik mit Staatsfeindlichkeit und Illoyalität gleichzusetzen. Es sind diese AktivistInnen und viele andere, die hier nicht zu Gehör kamen, die weiterhin auf Engagement setzen und insbesondere auf die lange angekündigten Kommunalwahlen hoffen, um dort eine passende Arena für ihre Forderungen zu finden. Fazit Sechs turbulente Jahre nach Massenprotesten, Regierungswechseln und Regimewandel im Maghreb, Mashrek und Golf dominieren Stichworte, wie Restauration, Bürgerkrieg und Staatszerfall, die mediale und wissenschaftliche Perspektive auf die Region. Der gesellschaftliche Aufbruch, so scheint es, ist gescheitert. Die autoritäre Restauration in Ägypten wird augenscheinlich nicht zuletzt auch im Lichte der äußerst angespannten geopolitischen und regionalen Lage als kleineres Übel hingenommen. Geschickte Machthaber nutzen nationalistische Gefühle und Repressionen, um die Bevölkerung sogar angesichts der derzeitigen massiven Wirtschaftskrise von der Legitimität ihrer Politik zu überzeugen. Diese Perspektive beleuchtet allerdings nur eine Dimension der derzeitigen Machtverhältnisse in Ägypten. Der Blick auf die lokale Ebene zeigt hingegen, dass der gesellschaftliche Umbruch auch unter diesen schwierigen Bedingungen in vollem Gange ist, so die These dieses Beitrags. Ein eindrückliches Beispiel dafür sind die Nachbarschaftskomitees, eine neue Partizipationsform, die während der »25Januar-Revolution« entstand, weil Menschen nach dem Rückzug der Polizei aus der Öffentlichkeit ihr Leben und ihren Besitz schützen wollen. Seither haben sich die Komitees vielfältig weiterentwickelt und bieten insbesondere für die urbanen Armen und junge Männer, eingeschränkter für Frauen, einen Raum, in dem sie ihre Forderungen artikulieren können. Die Nachbarschaftskomitees sind Räume, in denen die machtvollen Hierarchien zwischen den Geschlechtern, Generationen und Klassen infrage gestellt werden, so die These, die ich hier empirisch zu unterlegen versuchte. Insofern sind sie Orte, in denen für eine grundlegende Transformation des autoritären Gesellschaftsvertrags gekämpft wird und Orte, in denen ein neues politisches Bewusstsein und andere politische Subjektivitäten erprobt werden können. Sie sind als neue Partizipationsform jedoch auch eingebunden in die Strukturen der sozialen Ungleichheit, die Ägypten prägen und in die alten Herrschaftslogiken von Repression, Informalisierung, Islamisierung, begrenzter politischer und öko-

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nomischer Liberalisierung, die jedem tiefgreifenden Wandel entgegenstehen. Diese höchst widersprüchlichen Dynamiken werden jedoch nur sichtbar, wenn das Lokale, Informelle, Alltägliche systematisch in die politikwissenschaftliche Analyse mit einbezogen werden, so wie hier mit Hilfe der »Staatsanalyse von unten« geschehen. Ich habe versucht zu zeigen, wie diese kleinräumigen Aktivitäten einerseits autonome, transformative Eigenlogiken entwickeln und andererseits eng mit der formalisierten Politik auf der nationalen Ebene verbunden sind. Gerade im Lichte autoritärer Kontraktion und massiver Repression bieten die lokalen, oft als »unpolitisch« wahrgenommenen Aktivitäten Möglichkeiten für einen sozio-politischen Wandel, der derzeit auf der nationalen Ebene systematisch bekämpft wird. Daran, dass dieser Wandel dringend nötig ist, kann kein Zweifel bestehen. Die Probleme von 2011, die die Menschen dazu brachten, für »Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Würde« einzustehen, sind auch die Probleme von 2016. Die transformativen Erfahrungen der Jahre seit 2011 sind für viele Menschen unhintergehbar und daher ist der unabgeschlossene, ergebnisoffene Transformationsprozess, der sich 2011 als massenhafte Rückeroberung des öffentlichen Raumes artikulierte, auch in Ägypten noch immer in vollem Gange und wird noch lange andauern. Die aktuelle Feldforschung wurde im Rahmen des SFB-Projektes »Politische Partizipation, Emotion, Affekt und Transformation« durchgeführt und ist gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – SFB 1171 »Affective Societies«. Eine erste Auswertung haben Dina Wahba und ich in englischer Sprache vorgelegt,51 auf die ich mich in dieser deutschen, überarbeiteten Fassung beziehe.

Literatur Abd Rabou, Ahmed 2016. »Not a Revolution Yet«, in: The Tahrir Institute for Middle East Policy, 25. April, URL: timep.org/commentary/not-a-revolution-yet/ [10.01.2017]. Abdalla, Nadine 2016. »The Quest for Accountability and Sociopolitical Change in Egypt: Repertoire of Actions and Challenges for Youth Activism at the Local Level«, in: Youth Activism in the South and East Mediterranean Countries since the Arab Uprisings: Challenges and Policy Options, hrsg. v. Colombo, Silvia. Barcelona: European Institute of the Mediterranean, S. 27-44. Albrecht, Holger; Schlumberger, Oliver 2004. »Waiting for Godot: Regime Change without Democratization in the Middle East«, in: International Political Science Review, 25 (4), S. 371-392. Ali, Amro 2012. »Saeeds of Revolution: De-Mythologizing Khaled Saeed«, in: Jadaliyya, 25. Juni, URL: jadaliyya.com/pages/index/5845/saeeds-of-revolution_de-mythologizing-kh aled-saeed [09.01.2017]. Amar, Paul 2012. »Why Mubarak is Out«, in: The Dawn of the Arab Uprisings. End of an Old Order?, hrsg. v. Haddad, Bassam; Bsheer, Rosie; Abu-Rish, Ziad. London: Pluto Press, S. 83-90. Bamyeh, Mohammed 2013. »Anarchist Method, Liberal Intention, Authoritarian Lesson: The Arab Spring Between Three Enlightenments«, in: Constellations, 20 (2), S. 188-202. Bayart, Jean-François 1991. »Finishing with the Idea of the Third World: The Concept of the Political Trajectory«, in: Rethinking Third World Politics, hrsg. v. Manor, James. London: Longman, S. 51-71.

51 Vgl. Harders/Wahba 2017. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Aufbruch von unten und Restauration von oben

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Leviathan, 45. Jg., Sonderband 31/2017

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Cilja Harders

Zusammenfassung: Trotz Repression ist der in Ägypten eingeläutete, tiefgreifende soziopolitische Wandel im vollen Gange. Die revolutionären Momente von 2011 waren für viele Menschen eine transformative Erfahrung, die zu neuen Partizipationsformen, den so genannten Nachbarschaftskomitees geführt hat, so die Annahme. Diese Veränderungen werden jedoch nur sichtbar, wenn man eine Perspektive »von unten« einnimmt. Stichworte: Ägypten, politische Partizipation, Revolution, soziale Transformation, Politik von unten, Gesellschaftsvertrag, Gender, lokale Gruppen

Egypt six Years after the Revolution. Between Restauration from above and Mobilization from Below Summary: Egypt’s social and political transformation is in full sway – even in light of harsh repression. The revolutionary situations of 2011 were transformative events, which let to new types of participation. Among them are the neighborhood committees. In order to understand the relevance of these micro-dynamics, the paper adopts an analytical perspective «from below«. Keywords: Egypt, political participation, revolution, transformation, politics from below, social contract, gender dynamics, local groups

Autorin Prof. Dr. Cilja Harders Freie Universität Berlin Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft Ihnestraße 22 DE-14195 Berlin [email protected]