Apocolocyntosis Divi Claudii. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Allan A. Lund 3825301397, 9783825301392

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Apocolocyntosis Divi Claudii. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Allan A. Lund
 3825301397, 9783825301392

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Apocolocyntosis Divi Claudii (1994)
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Wissenschaftliche Kommentare zu griechischen und lateinischen Schriftstellern
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KAPITEL 14......Page 122
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WISSENSCHAFTLICHE KOMMENTARE ZU GRIECHISCHEN UND LATEINISCHEN SCHRIFTSTELLERN

L. Annaeus Seneca

Apocolocyntosis Divi Claudii Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von ALLAN A. LUND

HEIDELBERG 1994

UNIVERSITÄTSVERLAG C. WINTER

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Lund, Al/an A.: L. Annaeus Seneca, Apocolocyntosis divi Claudii

I

hrsg., übers. und kommentiert von Allan A. Lund.­ Heidelberg: Winter,

1994

(Wissenschaftliche

Kommentare

zu

griechi­

schen und lateinischen Schriftstellern) ISBN

3-8253-0139-7

NE: Seneca, Lucius Annaeus

( Philosophus) : Apo­

colocyntosis divi Claudii

Powarad by LATINSCAN

I S B N 3-8253-0139-7 Alle Rechte vorbehalten. © 1994. Universitätsverlag C. Winter Beideiberg GmbH Photomechanische Wiedergabe und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen nur mit ausdrücklicher Genehmigung durch den Verlag lmprime en Allemagne. Printed in Germany

Druck: Strauss Offsetdruck GmbH, 69509 Mörlenbach

FürAnna

Inhalt Praefatio

9

.

Einleitung

11

L. Annaei Senecae Divi Claudii Apocolocyntosis: Übersetzung und Text

30

Kommentar

. . .

58

Literaturverzeichnis

130

.

Praefatio Inter fere omnes qui in linguis classicis versantur satis constat libellum qui vulgo inscribitur Apocolocyntosis non facilem esse explicatu. Praebent enim quaedam lectiones diversae (vel variae) et verba corrupta et lacunae codicum extantium non paucis in locis impedimenta editori superanda, quamquam vix superabilia videntur. Quare, cum editorum officium sit opus arduum et difficile, alius alia via loca impeditissima transire conatus est. ltaque alia editio, ut in licentia vetustatis, ab alia non nullis locis abhorret. Quae cum ita sint, in prooemio Germanice scripto infra accuratius exponam qua ratione in textu constituendo USUS sim. Mihi cum difficultatibus locorum, quibus scatet libellus noster, eluctanti alius vir doctus alio modo opem tulit. In primis gratias agere velim hoc loco W. Kierdorf, professori Coloniensi, qui, qua est liberalitate singulari, commentarios manu sua conscriptos mihi ad expilandum tradidit commentariolosque a me ipso factos purgavit nec non A. Städele, doctori Monacensi, qui benigno animo a me composita omnia adhuc expolivit. Praeter hos collegas eruditos etiam gratia mihi habenda est doctissimis viris N. W. Bruun, doctori Hauniensi, et D. Timpe, professori Herbipolensi, et N. Holzberg, professori Monacensi, ipsis quoque de studiis Claudianis bene meritis, nec non R. Köchy, magistro Dachauensi, qui in hoc opusculo conficiendo perficiendoque varie me adiuverunt. Neque omit­ tenda est mentio Danicae illius fundationis quae earlsbergfandet vocatur, quae mihi stipendium ad novam Senecae libelli qui vulgo inscribitur Apocolocyntosis editionem parandam large effuseque dedit. Scripsimus mense Maio anno 1993 apud Monacos Bavariae.

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Einleitung Datierung und Titel des Werkes

Über den Autor der kleinen satirischen Schrift, die als 'Apocolocyntosis' bekannt ist, herrscht heute unter den Gelehrten weitgehend Einigkeit: Es scheint L. Annaeus Seneca, der Philosoph ( 4-65 n.Chr.), zu sein. 1 Anders verhält es sich mit dem Titel des Werkes: 'Apocolocyntosis', der noch immer die For­ scher zu neuen, oft ziemlich phantasievollen Erklärungsversuchen anregt? Das ist darauf zurückzuftihren, daß dieser nicht auf dem handschriftlichen Befund beruht, sondern nur indirekt durch Cassius Dio bezeugt ist (60,35,3 ; epit. des Xiphilinus), 3 wo es heißt: 'tt: (ö 'tt: ) ao'tfJp ö KOIJ.TJ'tT]t; ö n OKTJ1t'tÖt; ö f:c; 't& öopuq>o­

OÜ'tW IJ.EV ö IUaiiötoc; IJ.E'tf]AACl�t:V, f:c; 'tOih·ö f:1ti dt:io'tov Öq>ßt:ic;, xai..; ljlex&c;..; aiiJ.CX'tWÖT]c;,

ptx& OT]IJ.t:i'a EIJ.1tt:owv, xai ..; au'tÖIJ.CX'toc; •oii vaoii 'tOU ßtöc; 'tOii Ntxaiou ävm�tc;, •6 'tt: OIJ.i'jvoc; •o f:v •ii> o'tpa'to1teöcy ouo•paq>ev, xai Ö'tt f:� a1taowv

'tWV apxwv t:ic; aq> . EKtXO'tT]t; ht:Ät:ii'tT]Ot:V, EÖO�t: OT]IJ.i'jVCl1. huxe öe xai 'ti'jc;

'taq>i'jc; xai •wv &Uwv öawv ö Aüyouo•oc;. Ayp11t1ti'va öe xai ö Nepwv 1tt:Vßt:iv 1tp00t:1t010UV't0 öv cX1tt:K'tÖVt:OClV, i:c; 'tt: 'tOV oupavöv avf)yayov öv EX 'tOU OUIJ.1tOOiou q>optXÖT]V E�t:VT]VÖXt:OClV. ößt:V1tt:p Aoiixtoc; 'Ioiivtoc; raUiwv Ö 'tOU I:evexa aÖt:Aq>Öc; cXO'tt:1Ö'tCl'tÖV 't1 cX1tt:q>ßey�a'to. ouveßT]xt: IJ.EV y&p xai Ö I:evexac; oiiyypCXIJ.IJ.Cl, cX1tOKOAOKUV'tW01V ClU'tO W01tt:p 't1VCt aßavtX't101V övo­ IJ.tXoac;· f:xt:ivoc; öe f:v ßpaxu'ttX't(jl 1toU& eim�v a1tOIJ.VTJIJ.OVt:iit:'tat. E1tt:1ÖTJ y&p 'tOUt; EV 'tij> Öt:OIJ.W'tT]picy ßaVCl'tOUIJ.CVOUt; ayxio'tpotc; noi IJ.EyiXA.otc; oi ÖTJIJ.101 i:c; 'tt: 'tfJv ayop&v avt:Uxov KcXV'tt:Ußt:v f:c; 'tOV 1tO'tCliJ.OV i:oupov, Elj)T] 'tOV IUaiiötov ayxio'tp(jl f:c; 'tOV oupavöv avevexßi'jva t .

Wenn das Werk nach dem Vorbild einiger menippeischer Satiren Varros einen Doppeltitel trug,4 hat dieser vermutlich so gelautet: A1toxoA.oxiiv'twotc; - 1tt:pi 5 a1toßewoewc; Divi C/audii. Gehen wir von der einschlägigen Stelle bei 'Cassius 1

Dies bezeugen unabhängig voneinander die Inscriptio und die Subscriptio des Codex S (vgl. Anm. 12) sowie die weiter unten zitierte Stelle bei 'Cassius Dio'. Sonst müßte man, wie es N. W. B ruun (per litteras 17. 02. 93 datas) zugespitzt formuliert hat, mit zwei Schriften Senecas über Claudius rechnen. Siehe ferner K. Bringmann ( 1 985) 885914, bes. 885fT. 2 Vgl. K. Bringmann (1985) 889fT . und M. Coffey ( 1 9 6 1 ) 239-27 1 , bes. 245fT . 3 Die Überlieferung ist nicht einhellig : a1tOXOAOXUV'tWO\V (Lb), a1tOXOAOXeV'tWO\V (C). 4 Vgl. L. Alfonsi (1973) 26-59, bes. 27fT. 5 So K. Bringmann (1985) 889.

12

Einleitung

Dio' aus, können wir aber folgendes feststellen: zum einen, daß dieser den Titel auf griechisch nennt, zum anderen, daß er sich dabei die Mühe macht, dem grie­ chischsprachigen Publikum den Sinn und Zweck des merkwürdigen Titels genauer zu erklären. 6 Das erste besagt an sich nichts / das letzte ist in der Tat sehr auffällig. Daher darf man folgern, daß die Bedeutung des Titels für grie­ chischsprachige Leser keineswegs selbstverständlich war. Es gibt zwei mögliche Erklärungen dafür: 1) Er war wahrscheinlich ursprünglich nicht auf griechisch konzipiert, sondern stellt die griechische Wiedergabe eines lateinischen Wortes bzw. eines römischen Begriffs dar. 8 2) Der Titel, der metaphorisch zu verstehen ist, bietet eine überraschende griechische Metapher. 9 Ist das erste der Fall, ent­ hält die Stelle bei 'Cassius Dio' mit anderen Worten eine interpretatio Graeca im weiteren Sinne des Ausdrucks. Dessenungeachtet aber, ob dies zutrifft oder nicht, ist klar, daß der griechische Ausdruck per analogiam zu aitav&:notv bzw. anaitav&:ttatv (i.e. apotheosin) steht und doppeldeutig ist: Er ist wahrscheinlich ein Nomen (im konkreten Sinn) gewesen, das gleichzeitig auch metaphorisch aufgefaßt werden konnte. Des weiteren kann man vermuten, daß der ursprüng­ liche Titel - wie es mit dem Begriff der Apotheose der Fall ist - eine 'Erhebung' oder eher eine 'Erhöhung' mit nachfolgender Erniedrigung bezeichnet hat - wie es gerade ftir die karnevaleske Handlung typisch ist -, 10 die aber keine Apotheose war. 1 1 Hieraus ergibt sich, daß der codex optimus S diesmal kein Zeuge der Wahr­ heit ist, 1 2 es sei denn die Stelle bei 'Cassius Dio' bezieht sich nicht auf unsere 6

7 8 9 10 11

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Apoco locyntosis leitet man gern aus dem griechischen Wort fl.ir Kürbis her: xoA.oxuv-cT], wobei 'Kürbis' fl.ir 'Dummheit' stehen soll, was beides m.E. zweifelhaft bleibt. Den Stand der Forschung faßt J. Adamietz ( 1 986) 356-382, bes. 363 so zusammen: "Das Bild des Kürbisses soll den Eindruck des Lächerlichen erzeugen und den Gedanken nahelegen, daß die Apotheose des Claudius eine Farce sei. Ob darüber hinaus fl.ir den antiken Leser in dem Hinweis auf den Kürbis eine spezielle Pointe lag, ist heute mit dem vorhandenen sprachlichen Material nicht mehr zu erkennen. Alle übrigen Lösun­ gen werfen noch größere Probleme auf. " Vgl. K.-E. Henriksson ( 1 956) passim. Es ist dagegen wenig wahrscheinlich, daß in Apocolo cyntosis ein mit griechischen Buchstaben geschriebenes lateinisches Wort steckt. Auffällig ist auch, daß die Schrift des Seneca über Claudius im Gegensatz zu den Äußerungen seines Bruders nicht als witzig charakterisiert wird. Vgl. M. M. Bachtin ( 1 990) bes. 50. Man vergleiche dazu etwa die Wiedergabe der Worte des Iunius Gallio bei 'Cassius Dio': eq>TJ -rov KAauötov ayxio-rpcv f;� -rov oupavov avevexßijvat, i . e . Latine oratione directa redditum: Claudius unco in caelum sublatus. Noch interessanter ist die Bemer­ kung weiter oben ibidem : i:� -re 1:0V oupavov av�yayov, was eine Wiedergabe des Latei­ nischen in caelum eum deduxerunt ist. S liest Divi Claudii apotheosis per saturam, V bietet Ludus de morte Claudi und L hat Ludus de morte C!audii Caesaris. Keiner dieser Titel stammt vom Autor selbst, vgl. dazu den jüngsten Beitrag von N. W. Bruun ( 1 990a) 69-78, bes. 76ff., der fl.ir Apocolo­ cyntosis eintritt und den Titel so interpretieren will : Apocolo cyntosis i.e. apotheosis per satiram.

Einleitung

13

Schrift, was allerdings eher unwahrscheinlich ist. Auf jeden Fall muß man sich darüber im klaren sein, wenn man an dem mutmaßlichen Titel 'Apocolocyn­ tosis' herumkorrigiert, daß man dabei im Grunde eine Korrektur an 'Cassius Dio' unternimmt.

Textzeugen und Textkonstitution

Die Herstellung des Textes der 'Apocolocyntosis' beruht auf dem handschrift­ lichen Befund, d.h. auf drei Handschriften (SVL). Von den beiden ersten stam­ men alle übrigen ab : L hatte keine Nachkommen. 13



S

V

L

Unter ihnen gilt S (St. Gallen 569, s. /XIX) mit Recht durchgehend als die zuver­ lässigste Hs., während V (Valenciennes 4 11, s. IX ex.) und L (British Library, Add. 11983, fortasse s. XII ineunte) weniger zuverlässig sind. Ihre 'Verwandt­ schaft', die vor allem aus negativen distinktiven Merkmalen wie etwa gemein­ samen Lücken hervorgeht, 14 läßt sich so ausdrücken, daß S direkt vom vermute­ ten Archetyp abstammt, wogegen V und L einen vermuteten Hyparchetyp gemeinsam haben. Da die 'Apocolocyntosis' sehr unsicher und lückenhaft überliefert ist, kommt der Herausgeber nicht umhin, Rechenschaft über sein textkritisches Verfahren abzulegen. Bekanntlich gibt es keine allgemein akzeptierte textkritische Methode, was Anlaß zum Nachdenken gibt; denn erst durch ein methodisch konsequentes textkritisches Verfahren lassen sich willkürliche ad-hoc-Lösungen vermeiden. Seit einigen Jahren ist aber deutlich, daß die Herausgeber jüngerer Texte, etwa im Bereich der Germanistik, Edition als Interpretation auffassen. In diesem Trend steht auch die vorliegende Ausgabe, obwohl die Altphilologen abgesehen von einzelnen Ausnahmen 1 5 - in der Praxis nicht gerne editorische Textentscheidungen auch als Interpretation(en) sehen. Weithin gilt in der Zunft der klassischen Philologen die Textologie, d.h. die Herstellung des Textes, als eine Disziplin, die mit der literarischen Interpretation prinzipiell nicht viel gemeinsam hat. Darin haben sie nur zum Teil Recht, und in der philologischen Praxis spielt diese prinzipielle Unterscheidung bei der Herstellung des Textes, d.h. bei der Textentscheidung, gewöhnlich keine Rolle. Nur relativ selten kommt es vor, daß man sich bei der Textkonstitution auf die folgende zuge13 14 15

Vgl. P. T. Eden ( 1 979) 1 49- 1 6 1 ; L. D. Reynolds ( 1 983) 3 6 1 f. ; R. Roncali ( 1990) pr. Vgl. etwa c. 8 , 1 ; c. 8,2 und c. 1 3 , 1 . Vgl. etwa R . G . M . Nisbet ( 1 991) 65-91; siehe ferner D. L. Seiden ( 1 987) 33-50.

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Einleitung

spitzte Formulierung stützen kann: "Die Handschrift ist der Befund, nicht etwa der Text der Hs. Die Hs. bedarf der Interpretation: das Ergebnis der Interpre­ tation ist der Text. [ ... ] Von dieser editorischen Interpretation, der Interpretation der Hs., ist zu unterscheiden die Interpretation im herkömmlichen Sinn, die Interpretation des Textes." 16 Dem sei hinzugefügt, daß sich die jüngeren Philo­ logien generell - anders als die älteren - der ars emendandi gegenüber skepti­ scher verhalten. 1 7 Für die lateinische Philologie ist und bleibt noch immer die beste Darstel­ lung des Verfahrens eines Herausgebers im allgemeinen die unverdient in Ver­ gessenheit geratene Darstellung des deutschen Juristen und Mittellateiners H. Kantorowicz. 1 8 In seiner Arbeit bedient sich dieser u.a. der textkritischen Begriffe 'richtig' und 'echt', die ich auch in meiner Arbeit gern verwende 1 9 jedoch nicht in genau demselben Sinn. Da es sich dabei um präskriptive Defini­ tionen handelt, wie es in der Wissenschaftstheorie heißt / 0 umschreibe ich hier diese wichtigen Begriffe genauer, weil sie für die Textherstellung und Interpreta­ tion einer so unsicher überlieferten Schrift wie der 'Apocolocyntosis' wichtig sind. Unter dem textkritischen Begriff 'richtig' verstehe ich eine morphogram­ matisch, morphosyntaktisch und lexikographisch korrekt überlieferte Schreib­ weise, unter dem Begriff 'echt' aber verstehe ich eine morphologisch, syntak­ tisch und lexikographisch korrekt tradierte Lesart, die auch vom Autor selbst stammt, also das Autographon. Die uns überlieferten Manuskripte wimmeln, wie man vermuten darf, von Lesarten, die richtig, jedoch nicht unbedingt auch echt sind. Die Frage nach der Echtheit einer Lesart ist wohl die heikelste Ent­ scheidung des Herausgebers. Denn es geht dabei nicht darum, ob der auf der Grundlage des handschriftlichen Befundes konstituierte Text für den heutigen Leser verständlich ist, sondern darum, ob er für das antike Publikum sinnvoll war. Der Erwartungshorizont des antiken Publikums war eben anders als der des heutigen Lesers: Für literarische Texte und Gattungen unterschiedlichster Art ist gleichermaßen kennzeichnend, daß sie auf epochenspezifischen Mustern von Wirklichkeit aufbauen. Bei der Interpretation geht es demnach auch um die Wahrnehmung einer anderen Kultur (s.u.). , Die Frage, ob der auf der Basis des handschriftlichen Befundes hergestellte Text sinnvoll sei, ist aber nicht die erste, die sich der Herausgeber eines antiken lateinischen Textes stellen muß : Sie gehört nämlich zur Stufe der literarischen Interpretation. Vorher muß, wie schon oben angedeutet, folgende Frage beant­ wortet werden: Ist der Text 1) morphogrammatisch, 2) morphosyntaktisch und 3) lexikographisch richtig? 16

Vgl. H. Zeller ( 1966) 15 und W. Woesler ( 1 988) 126- 130, bes. 1 26. Siehe auch H. Zeller ( 1 987) 145- 1 58. 1 7 Vgl. K. Maurer ( 1 984) 324-3 55. 18 Vgl. H. Kantorowicz ( 1 9 2 1 ) 4fT. Noch immer beachtenswerte Lektüre bietet A. E. Hausman ( 1 922) 67-84. 1 9 Vgl. etwa A. A. Lund ( 1 989) 204-2 10; ders., ( 1 989a) 1 1 6- 1 1 9. 20 Vgl. K. Frerichs ( 1 981) 33fT.

Einleitung

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Die beiden ersten Kategorien gehören zum Bereich der Iangue, die dritte zur parole; denn es gibt zwar Ieges syntacticae, jedoch keine Ieges stilisticae, die jeder römische native speaker befolgen mußte. 2 1 (Dies ist selbstverständlich nicht der Fall für Autoren - und Abschreiber - des Mittelalters und der Renaissance, die ja keine native speakers des Lateinischen waren). Was die Wortwahl betrifft, konnte der antike Autor lockerer arbeiten. Diese ersten drei Stufen des methodi­ schen Verfahrens des Herausgebers bei der Überprüfung des handschriftlichen Befundes befassen sich demnach in erster Linie mit der Frage nach der Richtig­ keit des zu konstituierenden Textes aus sprachlicher Sicht. Ist der 'Text' sprach­ lich nicht richtig überliefert, kann er selbstverständlich auch nicht echt sein. 22 Aber selbst wenn sich die oben erwähnten drei Fragen nach der Richtigkeit im konkreten Fall positiv beantworten lassen / 3 heißt das noch nicht, daß der über­ lieferte Wortlaut auch echt, und schon gar nicht, daß er auch authentisch ist. 24 Erst mit der vierten Stufe kommt der Herausgeber zur Fragestellung, wie das richtig Überlieferte zu interpretieren ist, d.h., ob es aus antiker Sicht sinnvoll ist - und somit echt aus der Optik des heutigen Philologen. Dabei steht der Inter­ pret auch dem Hauptp roblem der modernen Ethnographie und Kulturanthro­ pologie gegenüber, wie die andere Kultur, ja Fremdheit überhaupt zu verstehen ist. 2 5 Bei der römischen Kultur kommt bekanntlich noch die Schwierigkeit hinzu, daß wir in manchen Bereichen nur über ein fragmentarisches, trümmer­ hartes Wissen verfügen. Meistens muß jedoch die Frage, ob der überlieferte Text sinnvoll ist, schon bei der Analyse des handschriftlichen Befundes gestellt und entschieden werden, d.h., ohne inhaltliche Analyse und literarische Inter­ pretation gibt es oft keine Textentscheidung - und somit auch keine Textedition. Dem sei hinzugefügt, daß es in der philologischen Praxis - jedenfalls in dieser Ausgabe - in hohem Maß um zwei Prozesse geht, die eng miteinander verknüpft sind. Im Fall des Lateinischen steht der Herausgeber und Interpret noch anderen Schwierigkeiten gegenüber. Etwa 80% der lateinischen Wörter, die uns aus der Antike überliefert sind, sind durch weniger als 50 Belegstellen vertreten, die sich außerdem über mehrere Jahrhunderte verteilen. Man kann demnach nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß uns alle Bedeutungsbereiche eines Wortes über21

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Gewöhnlich wird nicht zwischen den beiden Kategorien unterschieden. Zu den son­ stigen Entscheidungskriterien vgl. P. V. Rubow ( 1 938) 37fT. und 69fT.; P. Maas (41 960); J. Willis ( 1 972) 7 f.; B . Bergh ( 1 979- 1 980) 5 f.; G . Luck ( 1 9 8 1 ) 1 64- 1 94; E. Tov ( 1 982) 429-448; E. Thomassen ( 1 990) 37-64, bes. 59 f. Der deutsche Sprachgebrauch ist insofern ungenau, als 'falsch' ft.i.r 'nicht richtig' und 'nicht echt' überliefert stehen kann. Man muß dabei mit phonologischen, morphologischen und syntaktischen Ambigui­ täten rechnen. Dieses Problem gehört zu einer anderen Fragestellung, nämlich detjenigen der Glaubwürdigkeit, und hat demnach Belang etwa für historische Texte. Vgl. etwa R. Bettlage ( 1 988) 195-222.

Einleitung

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liefert sind - geschweige denn daß wir alle kennen. Man muß dann je nach Lage der Dinge abschätzen, ob und inwieweit das uns bekannte Sprachmaterial reprä­ sentativ ist - ganz wie die prähistorischen Archäologen die Repräsentativität der materiellen Funde und Befunde einzuschätzen versuchen. Zu den direkten Belegen kommen noch indirekte wie etwa Synonyme und gelegentlich auch Antonyme, gleichwertige syntaktische Konstruktionen etc. Noch komplizierter wird die Aufgabe des Interpreten und Editors dadurch, daß er sich mit einer anderen Sprache beschäftigt, die in eine andere, d.h. fremde Kultur eingebettet ist. Es geht dabei nicht darum, ob der konstituierte lateinische Text etwa ins Deutsche übersetzbar ist oder nicht, sondern um das Verständnis der römischen Begriffe und Vorstellungen, die Ausdruck einer anderen, einer fremden Menta­ lität sind. Dabei muß man versuchen, diese zu isolieren, zu beschreiben und konstatierend zu definieren, um die Fremdheit oder Andersartigkeit doch zu veranschaulichen; denn es besteht keine kulturelle Identität zwischen den anti­ ken Römern und den heutigen Mitteleuropäern.2 6 Bei der Analyse und der Inter­ pretation des sprachlichen und inhaltlichen Befundes läßt sich demnach etwa Deutsch als Beschreibersprache, Metasprache wenn man so will, verwenden, wenn man die Alienität bzw. Alterität doch irgendwie verständlich zu machen versucht. 27 Bei der Herstellung des Textes bin ich fast überall so verfahren, daß ich Ver­ besserungsvorschläge nur dann aufgenommen habe, wenn diese aus mehreren Gründen ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit für sich haben.2 8 Für diese Berichtigungen habe ich im Kommentar die Bezeichnung Emendation reser­ viert. Unter Konjekturen dagegen verstehe ich Mutmaßungen, die den richtigen und echten Lesarten wahrscheinlich entsprechen, deren 'Echtheit' sich jedoch nicht genügend erhärten läßt. 29 Nur ausnahmsweise habe ich Konjekturen mein Imprimatur gegeben. 30 Generell werden also keine Konjekturen in den konsti-

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Auch der Leser der 'Apocolocyntosis' muß bedenken, daß sich Begriffe wie 'Grausam­ keit' und crudelitas nur teilweise decken, siehe J.-L. Voisin ( 1 984) 241 -293, bes. 276fT. Ein weiteres Beispiel ist der Begriff der Wahrheit bei den antiken Historikern, der auf anderen Voraussetzungen beruht, siehe J. Percival ( 1 992) 1 3 - 1 6 . Vgl. H. Turk ( 1990) 8-3 1 . Siehe z. B . c. 1 ,3 : . et illi pro tam bo no nuntio nemo credidit quod iurarat verbis co n­ ceptis; c. 2, 1 : puto magis intel/igi (posse), si dixero; c. 3 , 1 : nec umquam tam diu cruciatus exeat?; c. 5,2 : nuntiat (is) Jovi venisse quendam bonae staturae, bene canum; c. 6, 1 : Et imposuerat Herculi minime vajro; c. 8, 1 : i/lud eum ab Iove . . . ; c. 8,3 : . quod (hunc) nunc barbari colunt et ut deum orant; c. 9,2 : quacumque visus jert etc. Zu unterscheiden ist zwischen negativen und positiven Korrekturen am handschrift­ lichen Befund. Das erste betrifft Emendationen und Konjekturen, das zweite Ergän­ zungen von mutmaßlichen Lücken. Vgl . etwa c. 1 3 ,4 : medius erat in hac cantantium turba Mnester pantomimus, quem Clau­ dius decoris causa minorem jecerat, et Messalina[m]. Die Korrektur an der Überliefe­ rung ist lediglich kontextuell bedingt. .

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.

Einleitung

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tuierten Text aufgenommen,3 1 wenn nicht mehrere Gründe bzw. der Kontext eindeutig dafür sprechen. 32 Bei der Textentscheidung spielt in erster Linie der unmittelbare Kontext, d.h. der sprachlich und inhaltlich nächste Zusammen­ hang, stets eine entscheidende Rolle. 33 Dieser kann jedoch gelegentlich das ganze Werk umfassen. Aber auch Parallelstellen bei anderen antiken Autoren werden dabei berücksichtigt, insofern sie auf identischen oder vergleichbaren Voraussetzungen aufbauen, also homolog oder analog sind. 3 4

Zur A nalyse und Interpretation der 'Apocolocyntosis'

Während sich die Analyse mit dem befaßt, was im 'Text' steht, geht es bei der Interpretation darum, wie dieser zu verstehen ist. Analyse und Interpretation decken sich somit im Prinzip nicht. Um dem Erwartungshorizont des römischen Publikums gerecht zu werden, das, wie wir annehmen dürfen, über ein bestimm­ tes Vorwissen verfügte, ohne das es den vorgetragenen Text nicht hätte verste­ hen können, werde ich bei der Interpretation des 'Textes' versuchen, ihn aus sich heraus zu deuten bzw. nur zeitgenössisches Quellenmaterial zur Rekonstruktion des Erwartungshorizontes heranzuziehen. 35 Der Blickwinkel ist demnach vor31

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Eine Ausnahme bildet c. 6, 1 : hunc ego tibi recipio Luguduni natum, ubi Licinus multis annis regnavit, wo ich nur zögernd die Konjektur von Bücheler, Licinus, in den Text aufgenommen habe. Die Hss. (SVL) bieten licinius. Man hätte aber in Verbindung mit regnavit im Kontext im weiteren Sinn ein Wort für 'Dummkopf (vgl. etwa c. 1 , 1 : aut regem aut fatuum) erwarten können. Konjekturen, die sich weder grammatisch noch kontextuell begründen lassen, werden normalerweise auch nicht im Apparat erwähnt. Vgl. etwa c. 14,3, wo viele, einer extrapolierten Mutmaßung Büchelers folgend, so lesen: erant qui dicerent, Si ( syph) um diu laturamfecisse[nt] . . . (siehe Kommentar zur Stelle) . Gleichwohl ist im textkritischen Apparat die Konjektur von Promond zu c. 2,1 erwähnt: Iam Phoebus breviore via co ntraxerat ortum, wo er das sicherlich verderbte ortum durch orbem ersetzen will, obwohl dies eigentlich nur eine "halbe" Konjektur ist. Man hätte dann eher schreiben müssen: /am Phoebus breviore via confecerat orbem. · Methodisch ist aber jede Korrektur an co ntraxerat falsch, weil es im Gegensatz zu crescebant unten steht. c. 9,6 : variae erant sententiae, et videbatur +Claudius sententiam+ vincere. Einiges spricht zwar dafür, daß Claudius sententiam in Clausii [= lani] sententia zu ändern ist, doch ist der Sinn der Fortsetzung nicht eindeutig zu ermitteln. Der Kontext reicht als Entscheidungskriterium im Prinzip nur aus, wenn sich das text­ kritische Problem in der Mitte des einschlägigen Zusammenhangs befindet. So nehme ich an, daß c. 12,3, Vers 8 nicht ille rebelies fundere Parthos, sondern ille imbelles fundere Parthos zu lesen ist, weil im Nachstehenden vieles dafür spricht. Vgl. etwa c. 9,2 : homo quacumque visus fert, und Kommentar dazu. Die stereotypisierte Charakterschilderung des Claudius in der 'Apocolocyntosis' deckt sich einigermaßen mit dem Bild seiner Person in den zeitgenössischen Quellen (Taci­ tus; Sueton; Dio Cassius; Plinius d. J.), das ebenfalls einer Typisierung unterliegt. Vgl . V. Y. Mudimbe (1 977) 3 1 5-323, bes. 32 1 und D. Timpe (im Druck) passim. Zu dem

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wiegend synchron, nicht diachron, zumal das Werk - sehen wir von gewissen literarischen Reminiszenzen, Zitaten und Nachahmungen ab, die bestimmt auch eine Rolle ftir das Verständnis spielen 3 6 - in die römische Kultur der frühen Kaiserzeit eingebettet ist. Man soll hier demnach keine Geschichte der menip­ peischen Satire bei den Römern erwarten, 37 zumal sich der Gattungsbegriff 'menippeische Satire' nicht ohne eine petitio principii38 definieren läßt. 39 Dabei wird Menippeische Satire im engeren Sinne zu Unrecht menippeischen Satiren im weiteren Sinne gleichgesetzt, 4 0 was sich u. a. aus der Vieldeutigkeit des unscharfen Begriffs der Satire erklären läßt. 4 1 Dies ist auch darauf zurückzufüh­ ren, daß uns außer der 'Apocolocyntosis' nur sehr fragmentarische Überreste der menippeischen Satiren der Vorgänger (Menippos selbst und Varro) überliefert sind. Man wird allenfalls vorsichtig von gewissen Gemeinsamkeiten sprechen können, die die Menippeen aus einem diachronischen Blickwinkel miteinander verbinden etwa im Sinne von familles historiques. 42 Diese verwandtschaftlichen Züge sind eher formell als inhaltlich. 4 3 Auch setzen sie eine gewisse Kontinuität voraus, die fraglich ist. 44 Man kann demnach zwischen Satire als historischer Gattung und gattungsübergreifender Schreibart unterscheiden, wobei sich die

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Begriff normative Erwartung siehe jetzt die gute Zusammenfassung von P. Mauritsch ( 1 992) 7-13, bes. 9. Vgl. etwa J. Blänsdorf ( 1 986) 1 -26. Ich verweise etwa auf U. Knoche e197 1 ) passim; 0 . Weinreich ( 1 923) passim. Vgl. E. P. Kirk ( 1 980) bes. Xf. H. K. Riikonen ( 1 987) 2 1 , der im besonderen den Studien von M. M. Bachthin über die menippeische S atire nachgegangen ist, kommt in Anlehnung an diesen zum folgen­ den Ergebnis: "Instead of a definition of the genre Bakhtin points out that we can find 'Menippeanism', so to speak, can vary from work to work and from age to age. " Vgl. A. Baumstark ( 1 862) 543-549. Vgl. J. Brummack ( 1 9 7 1 ) 275 : "Er [sc. der Begriff Satire] bezeichnet eine historische Gattung, aber auch ein Ethos, einen Ton, eine Absicht, sowie die in vielerlei Hinsicht höchst verschiedenen Werke, die davon geprägt sind." Siehe auch J. B rummack e1977) 60 1 - 6 1 4, bes. 60 1 f. Vgl. H.-R. Jauss ( 1 970) 79-1 0 1 , bes. 82; siehe auch E. P. Kirk ( 1 980) XI. Vgl. M. Coffey e1 989) bes. 172: "The essential characteristic of the work [sc. Apocolocyntosis] as a Menippean satire is the insertion of original verse into the prose narrative". E. P. Kirk (op. cit., XI) : "The chief mark of Menippean style was unconven­ tional diction. Neologisms, portmanteau words, macaronics, preciosity, coarse vul­ garity, catalogues, bombast, mixed languages, and protracted sentences were typical of the genre, sometimes appearing all tagether in the same work. In outward structure, Menippean satire was a medley - usually a medley of alternative prose and verse, sometimes a jumble of flagrantly digressive narrative, or again a potpourri of tales, songs, dialogues, orations, letters, lists, and other brief form, mixed tagether (i. e., fantastic voyages, dreams, visions, talking beasts) and extreme distortions of argument (often, "paradoxes"). In theme, Menippean satire was essentially concerned with right 1earning or right belief." Vgl. H.-R. Jauss ( 1 970) bes. 97.

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historische Gattung wiederum in die römische Verssatire (Lucilius, Horaz, Per­ sius und Juvenal) und die Menippeische Satire griechischen Ursprungs aufglie­ dern läßt. 4 5 Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich eine werkimmanente Inter­ pretation der 'Apocolocyntosis', die auf c/ose-reading beruht. 4 6 Da die sprach­ liche Begründung der Textkonstitution im Kommentar ausführlich gegeben ist, können wir uns hier auf die inhaltliche Interpretation beschränken. Der historische Hintergrund für die Handlung der 'Apocolocyntosis' ist fol­ gender: Am 13. Oktober 54 starb Kaiser Claudius (41-54 n. Chr.) anscheinend infolge einer Pilzvergiftung,4 7 die ihm nach den antiken Quellen von seiner Gat­ tin Agrippina bereitet worden war. 4 8 Die 'Apocolocyntosis' ist wahrscheinlich relativ kurz nach dem Tod des Claudius geschrieben. 49 Einen terminu s post quem bringt der Tod des Narcissus, der als einziger unter den in der Unterwelt (vgl. c. 13,2) Anwesenden, die Claudius dort voller Freude empfangen, ihn kurz über­ lebte. Das genaue Todesdatum des Narcissus läßt sich aber nicht ermitteln.50 Aus dem Sprachgebrauch der Satire (vgl. c. 2,2 : mensis erat October, dies Ill idus Octobris, und c. 1 , 1 : anno novo, initio saeculi felicissimi) geht jedoch indirekt hervor, daß die Niederschrift nach dem Oktober 54 stattfand. 5 1 Dazu paßt aufder Handlungsebene, was freilich kein Beweis ist, daß Claudius in der Unterwelt wie/als der wiederentdeckte Gott Osiris mit Jubel empfangen wird (vgl. c. 13,4). Diese inventio Osiridis geschah am letzten Tag des Festes der lsia, d. h. am 1 . November. 52 Dazu stimmt die zuerst von H. Furneaux geäußerte, aber nicht beweisbare Annahme, daß die Schrift dem engen Kreis um den neuen Kaiser Nero aus Anlaß der Saturnalien vorgelesen wurde, die am 17. Dezember began­ nen und drei bis sieben Tage andauerten. 53 Das paßt insofern inhaltlich zur 'Apocolocyntosis', als die Schrift von dem Ende dieses anomalen Zustandes handelt (vgl. c. 12,2: 'dicebam vobis: non semper Saturnalia erunt'). Vorbei ist die Epoche der Diktatur des Kaisers Claudius, der als Saturnalicius princeps negativ charakterisiert wird - sein Regime ist die Kehrseite der Utopie der Saturnia regna 45 46 47

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Vgl. B. Könneker ( 199 1 ) bes. 12. So verfährt auch R. C. Tovar ( 1 986) bes. 1 29-293. Die anregende Arbeit von Tovar geht an vielen Stellen von einer anderen Textherstellung aus. Vgl. A. Mehl ( 1 974) 1 7 5 : "Die Ungewißheit in der Quellenlage ist bei den Berichten über Claudius' Tod nicht geringer als bei den Darstellungen von Messalinas Ende. In der Frage der Historizität ist letztlich keine Entscheidung möglich. " Dies wird neuerdings bezweifelt, vgl. etwa V. Grimm-Samuel ( 1991) 178- 1 82 . Vgl. G. Bagnani (1 954) bes. 20 f. , d e r für November oder Dezember eintritt. Vgl . dazu P. T. Eden ( 1 984) 4: "The sequence of Tacitus' narrative (Ann. 1 2.69-1 3.3) implies that he was driven to suicide even before Claudius' consecration. He may reasonably be presumed quite dead by late October A.D. 54. " Auf der Handlungs­ ebene wird c. 1 3,4 auf die /sia angespielt, die zwischen dem 28. Oktober und dem 1 . November gefeiert wurden. Vgl. C. F. Russo ( 6 1985) 1 1 . Vgl. S . K. Heyob ( 1 975) bes. 54-56. Vgl. H. Furneaux e 1 896) bes. 23 f.

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gewesen -,54 und der Anfang/die Rückkehr einer neuen Ära, eines neuen Zeit­ alters wird angekündigt.55 Nun zur Handlung des Werkes, die zuerst auf Erden, dann im Himmel und schließlich in der Unterwelt spielt. 56 Im Prooemium stellt der anonyme Autor fest, worüber er berichten will : Quid actum sit in cae/o ante diem /// idus Octobris anno novo, initio saecu/ife/icissimi, vo/o memoriae tradere (c. 1 ,2). 57 Obwohl aus in caelo die Unverbindlichkeit der Erzählung oder eher des Märchens zur Genüge hervorgeht, stellt der Autor danach, was eigentlich paradox ist, seinen Gewährs­ mann (nicht für die gesamte Darstellung, sondern lediglich) für die Himmelfahrt des Claudius vor,58 den er anscheinend als einen zuverlässigen Zeitzeugen zeigen will : Dieser ist curator viae Appiae. Das bringt es mit sich, daß der Zeuge, ob er will oder nicht, alle Himmelfahrten beobachtet. Das Werk wird dabei nur dem Anschein nach als Geschichtsschreibung (historia) vorgeführt. Nun konnte aber das römische Publikum, d.h. der enge Kreis der Hofleute um den neuen Kaiser Nero, für die der Text wahrscheinlich ursprünglich bestimmt war,59 gemäß ihrem Vorwissen nicht umhin, den anonymen Informanten mit einer bestimmten historischen Person, nämlich Livius Geminus, zu identifizieren, obwohl er sowie die 250.000 Denare, die er für seine erfreuliche Nachricht von der Himmelfahrt der Drusilla bekam, unerwähnt bleiben. Da der Autor das Gegenteil von dem, was er sagt, erreichen will, ist klar, daß das Werk eben keine Geschichtsschreibung ist, was die einleitenden Worte : Quid actum sit in cae/o . . . 54 55

Vgl. H . S . Versnel ( 1 993) 1 -24. Wie aus c. 4, Vers 25 bis 32 hervorgeht, ist Phoebus gleich Sol gleich Apollon gleich Nero. Vgl. Ed. Norden et958) passim. Dementsprechend geht es c. 2 , 1 um den Unter­ gang des Claudischen Zeitalters, wie sich c. 4, Vers 25 ff. mit dem Aufgang des glück­ lichen Neronischen beschäftigt (zur dort verwendeten Bildersprache vgl. L. Bösing [ 1 986] 145-1 78, bes. 1 60fT.). Es besteht demnach eine inhaltliche Analogie zwischen dem Ende und dem Anfang (d. h . lanus Aion) des Sonnenjahres am 24./25. Dezem­ ber und dem Ende des Claudischen und dem Anfang des Neronischen Zeitalters am 13. Oktober. (Vgl. Ov.fast. 1 , 1 64 f. : 'bruma novi prima est veterisque novissima solis: I principium capiunt Phoebus et annus idem') . Mit dem Beginn der glücklichen Neroni­ schen Ära nach der unheilvollen Regierungszeit des närrischen Tyrannen Claudius wird ein normaler Zustand wiederhergestellt: eine Apokatastasis, wie die Stoiker mit einer astronomischen Metapher sagten, vgl . Reallexiko n for Antike und Christentum, Bd. 1 , Stuttgart 1950ff. , 5 10 f. Es geht wieder aufwärts, vgl. C. Monteleone ( 1 986) 83137, bes. 129fT. Wenn diese Analyse und Interpretation stichhaltig sind, darf man annehmen, daß die Satire über Kaiser Claudius am 24./25. Dezember vorgelegt wurde, und zwar unter dem Titel Apokata.sta.si.s. Beweisen läßt sich das nicht. Zu diesem für die menippeische S atire typischen Ablauf der Handlung siehe die gute Zusammenfassung der literarischen Studien von M. M. Bachtin durch H. K. Riikonen ( 1 987) bes. 22-3 1 und 4 1 -50. Quid actum .sit bezieht sich wahrscheinlich nur aufdas, was im himmlischen S enat zur Debatte stand. Vgl. Komm. zu c. 1 , 1 . Der Gewährsmann kann nur die Hinfahrt, nicht die Rückfahrt des Claudius bezeugen. Vgl. R. R. Nauta ( 1987) 69-96, bes. 75. =

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auch nicht zu erwarten geben; denn sie lassen eher auf das Gegenteil schließen: auf literarische Fiktion. Aber das ist die Schrift auch nicht ausschließlich. Geht es doch um eine Mischung von realen und fiktiven Komponenten, deren Bezug zueinander das literarische Universum der Satire bildet, nur werden dabei histo­ rische Fakten gelegentlich auf den Kopf gestellt. Demgemäß wird dem Zeit­ zeugen Livius Geminus jede Glaubwürdigkeit versagt: Hatte man ihm früher auf jeden Fall offiziell - geglaubt, als er behauptete, die Himmelfahrt Drusillas beobachtet zu haben, 6 0 was sich in einer reichen Belohnung niederschlug, gibt es nach dem anonymen Autor unseres Werkes keinen Grund dazu. 6 1 Die Wirkung der Darstellung beruht auf dem Prinzip der Umkehrung. Dementsprechend fun­ giert dieser unzuverlässige Augenzeuge als Berichterstatter: ab hoc ego quae­ cumque audivi certa, clara ajfero (c. 1 ,3). 62 Und dementsprechend heißt es c. 5, 1 : in caelo quae acta sint audite (fides penes auctorem erit): nuntiat (is) Iovi venisse quendam etc. 6 3 Der anonyme Erzähler vermittelt seine Auskünfte gemäß dem distanzierenden Prinzip der antiken Historiker seit Herodot: re/ata rejero. 6 4 Das Ergebnis ist hier eine Karikatur des historischen Genos. Im zweiten Kapitel wechselt die Prosa des historiographischen Genos zum epischen Genre, das ebenfalls parodiert wird. Die Illusion von Geschichtsschrei­ bung im engeren Sinn wird durch diese Mischung von Stilarten, prosimetrum genannt, die eben für die antike menippeische Satire insgesamt charakteristisch ist, durchbrochen. 6 5 Dementsprechend enthalten cc. 2-4 in einer Rückschau die Voraussetzungen für die im himmlischen Senat ausgetragene Debatte ( cc. 5-1 1). 60

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Die Aussage dieser Augenzeugen war besonders wichtig, weil die Divinisierung davon abhing, vgl. W. Kierdorf (1986) 43-69, bes. 58, Anm. 64: "Das Zeugnis des Senators Livius Geminus ( . . . ), er habe Drusilla zum Himmel aufsteigen sehen, wird über­ raschend erst nach der Festsetzung der kultischen Ehren nachgetragen. " Wichtig für die Herrschaftslegitimation war auch der Anspruch auf die Bezeichnung Divi fllius, vgl. H. Gesche (1978) 377-390, bes. 379. Vielleicht ist c. 1, 3: nam ex quo in senatu iuravit se Claudium [Hss. Drusillam] vidisse, zu lesen; denn im Fall der Drusilla hat man ihm geglaubt. Vgl. Komm. zu c. 1,2-3. Zur Herstellung der Textstelle vgl. A. Perutelli (1984) 161-169, bes. 162f. Die Herstellung der Textstelle setzt inhaltlich voraus, daß der Gewährsmann (auctor) auch als Subj ekt (sc. is) vorkommt. Es ist dabei grammatisch gleichgültig, ob er mit dem schon c. 1, 2 erwähnten auctor oder, wie ich annehme, mit Ianus, dem ianitor schlechthin, identisch ist. Ist diese Gleichsetzung falsch, dann muß man entweder /anus als Subjekt für nuntiat[ur] ergänzen oder aber eine Lücke in der Überlieferung annehmen (vgl . S. Koster [1979] 70-77, bes. 73f.) und lanus als Subj ekt hinzudenken. Es gibt demnach zwei Augenzeugen bzw. Gewährsmänner (auctores) im Werk, einen für die Himmelfahrt des Claudius (c. 1, 2) und einen für die Ereignisse im Himmel (c. 5, 1). Siehe ferner Komm. zu c. 5, 1. [Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, daß die Fortsetzung ( c. 1, 2) einen Positionswechsel ausdrückt : Appiae viae curator est, qua scis et divum Augustum et Tiberium Caesarem ad deos isse. ( ...) nam ex quo in senatu iuravit se Drusillam vidisse caelum aseendentern ... , was die Himmelfahrt bezeugt] . Vgl. Herodot 7,152,3. Vgl. D. Bartankova (1976) 65-92, bes. 78ff.; H. K. Riikonen (1987) passim .

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Umschrieben wird bei dieser Rückblende zunächst das Todesdatum des verstor­ benen Kaisers Claudius durch eine Schilderung der Jahreszeit, die durch den nach dem Herbstaequinoctium stets kürzeren (niedrigeren) Tageslauf der Sonne charakterisiert ist. 66 Dies läßt sich sinnbildlich als eine Anspielung auf den Tod des Claudius deuten, zumal die 'Geburt' einer neuen Ä ra mit dem Amtsantritt des jungen Kaisers anfangt. 67 Die Stelle enthält bei den Römern übliche Vorstel­ lungen und Metaphern. 6 8 Den Untergang der einen Sonne und den Aufgang der nächsten kann man vielleicht durch 'Der König ist tot. Es lebe der König' ver­ anschaulichen. 6 9 Auf der analytischen Ebene handelt die Stelle denotativ von dem Anfang einer neuen Epoche, auf der interpretatorischen Stufe schwingt dabei konnotativ der Begriff 'Gerechtigkeit' mit; denn mit dem Begriff initium wird für das römische Publikum auf den Gott allen Anfangs, Ianus, angespielt, der im Bewußtsein der Römer einer Vergangenheit angehörte, in der es Iustitia auf Erden noch gab, was als eine historische Utopie zu deuten ist: 7 0 nondum Iusti­ tiam facinus mortale fugarat I (ultima de superis illa reliquit humum) (Ov. fast. 1 ,249f.). Vor allem bedeutet der Tod des Claudius, der als Narr und Tyrann zugleich dargestellt wird, das Ende einer unfreien Epoche : ego scio me liberum factum, ex quo suum diem obiit ille qui verum proverbium fecerat, aut regem aut fatuum nasci oportere (c. 1 , 1). 7 1 Vorbei ist die Tyrannei (regnum) des Claudius, der kein rex iustus im Sinne der Stoiker war, und somit auch die Ungerechtigkeit (iniuria). 12 Die Zeit des Claudischen Regimes war wie ein langes, ununterbro­ chenes Saturnalienfest non semper Saturnalia erunt (c. 1 2,2), weil Claudius der Untertan seiner liberti war. Die Darstellung baut auf der Voraussetzung auf, daß Claudius Narrenkönig (Saturnalicius princeps [c. 8,2]) gewesen ist, wird doch sug­ geriert, daß die römischen Bürger keine Sklaven mehr sind : populus R. ambu­ /abat tamquam liber (c. 12,2). Die neugewonnene Freiheit (libertas) des anony­ men Erzählers setzt frühere Sklaverei (servitus) voraus, wie es gemäß der uto­ pischen Vorstellung vom glücklichen Zeitalter (aurea aetas) des Saturnus ( Kronos), als lanus noch König auf Erden war, auch der Fall war. 73 Aus der erzähl=

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Siehe Chr. Schäublin ( 1 987) 1 1 8- 1 2 1 und Komm. zu c. 2, 1 . 67 Vgl. c . 1 , 1 : initio saeculi jelicissimi. Das Thema wird weiter ausgesponnen c . 4, Vers 23fT. : '. . . jelicia /assis I saecula praestabit /egumque silentia rumpet. I qua/is discutiens jugientia Lucijer astra I aut qualis surgit redeuntibus Hesperus astris, I qualis, cum primum tenebris Aurora so/utis I induxit rubicunda diem, Sol aspicit orbem I /ucidus et primos a carcere concitat axes: I talis Caesar adest, talem iam Roma Neronem I aspiciet. jlagrat nitidus ju/gore remisso I vultus et adjuso cervix formosa capillo. ' Siehe ferner Ed. Norden e i 958) 1 4fT.; L. Bösing ( 1 968) 145- 178, bes. 160fT. 68 Vgl. etwa M. Clauss ( 1 990) 7 1 -99; V. Buchheit ( 1 986) 245-259, bes. 246; Ed. Norden e1 958) passim. 69 Vgl. A. L. Motto und J. R. C!ark ( 1 983) 29-40, bes. 36. 7 0 Vgl. M. M. Bachtin ( 1 989) 78fT. 7 1 Siehe Komm. zur Stelle. 7 2 Vgl. cc. 10- 1 1 , bes. c. 1 1 ,4: vindicate iniurias meas. 73 Vgl . A. 0. Lovejoy und G. Boas ( 1 973) 55 und 67; RE II A,l 202 .

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ten Wirklichkeit, die auf dem Prinzip der Verkehrung beruht, entsteht eine satirische Darstellung mit imaginären Komponenten. 74 Mit dem dritten Kapitel setzt schließlich das schon im zweiten angedeutete Sterben des Claudius ein: C/audius animam agere coepit nec invenire exitum pot­ erat (c. 3,1). Dies ist nur teilweise vor der geschichtlichen Tatsache verständlich, daß der Tod des Claudius.ein langwieriger Prozeß war bzw. als solcher dar­ gestellt wurde. 75 Wie im ersten Kapitel auf einen geistigen Defekt von Claudius dem Trottel (fatuus) angespielt wurde, wird dies hier weiter ausgeführt. Claudius (homo stu/tus) ist nicht in der Lage, den natürlichen Ausgang für seine Seele aus­ findig zu machen. Dann hilft ihm Mercurius dabei, und seine anima verläßt, wie suggeriert wird, den Körper durch den After (c. 4,2- 3), 7 6 das "gesprächige" und lautstarke Organ des Claudius: u/tima vox eius haec inter homines audita est, cum maiorem sonitum emisisset il/a parte quafacilius loquebatur (c. 4,3). 77 Bei des, das langjährige Ringen des Claudius mit seiner Seele und der Umstand, daß er als physisch defekt dargestellt wird, nimmt inhaltlich das fünfte Kapitel vorweg. Hier wird er klar und deutlich als monstrum oder portenturn mit angeborenen Mißbildungen bezeichnet, 78 und zwar im Sinne von Angehöriger einer Monster­ rasse, die irgendwie am Rande des Orbis ansässig ist. 7 9 Die antike Denkweise ist physiognomisch: Das mißgebildete Äußere entspricht einem mißgestalteten Inneren, seinem Charakter. 8 0 Mit anderen Worten: Claudius wird alles Mensch­ liche versagt. Oder eher: Bei näherem Hinschauen stellt sich heraus, daß er fast wie ein richtiger Mensch aussieht. Er wird als quasi homo - 'einem Menschen ähnlich' (c. 5,4)- abqualifiziert, er war ja - so meinte man- nie richtig geboren: nemo enim umquam illum natum putavit (c. 3,2). Die Schilderung der aus römi­ scher Sicht 'angeborenen' physischen und psychischen Defekte dienen dazu,8 1 74

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Vgl. E. W. Leach ( 1 989) 197-230, bes. 202 f. : " . . . Menippean satire becomes something now frequently likened to science-fiction which penetrates into an unknown, fantastic world . Like all fictive worlds, however, these have points of tangency with the real world. Seneca's satire assumes a middle position between a known world and a fan­ tastic." Vgl. Svet. Claud. 45. Unsere Stelle (c. 3,1) enthält, wie ich vermute, eine Anspielung darauf, daß die Sterbestunde des Claudius manipuliert wurde, damit sich sein Horo­ skop und/oder das des Nero erfüllt. Ein wenig anders sieht es D . Timpe ( 1 962) 100: "Unterdessen, so muß man schließen, wurde wohl weniger auf den Eintritt der rich­ tigen Sternstunde gewartet als vielmehr die Vorbereitung der Akklamation durch die Praetorianer getroffen. " Vgl. 0. Weinreich ( 1 923) 53fT.; H. K. Riikonen (1 987) 43 . Dies enthält selbstverständlich eine Umkehrung des Normalen. Vgl. Svet. Claud. c. 3,2: Mater Antonia portentum eum hominis dictitabat, nec absolutum a natura, sed tantum incohatum. Zum antiken Begriffmo nstrum vgl. etwa P. Mason (199 1 ) 1 -39; A. Perrig (1 987) 3 1 -7 1 ; J. B . Friedman ( 1 98 1 ) bes. 5-25; B. Roy ( 1 975) 7 1 -80; G. Canguilhem (1 962) 27-62. Vgl. E. C. Evans ( 1 969) 1 - 1 0 1 . Daß es sich vielleicht um durch die Littlesche Krankheit erworbene Schwächen han-

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ihn als homo non articulatus darzustellen und aus der Menschheit (humanitas) auszugrenzen: 82 assidue enim caput movere; pedem dextrum trahere. (. . . ) pertur­ bato sono et voce confusa. ( . . . ) vocem nullius terrestris animalis, sed qualis esse marinis beluis solet, raucam et implicatam (c. 5,2-3). 8 3 Die hybride Gestalt des Claudius ist derart, daß sie keinem Element der Natur angehört. In der Fortsetzung werden die wohlbekannten antiquarischen Interessen des Claudius ironisiert, der sich zu Unrecht als Nachkomme der Trojaner ( !Iiens es) ausgibt (c. 5,4). 84 Dies veranlaßt die Göttin Febris (Malaria) zu einer Berichti­ gung. Sie verweist darauf, daß Claudius aus der Provinz Gallien stammt, und zwar aus Lugudunum (Lyon). Er wird demnach als ein echter Gallier ( Gallus germanus) eingestuft, 85 d. h., er ist ein Barbar, kein Römer. 8 6 Wiederum eine Ausgrenzung, diesmal aus der gens lulia sowie aus dem zivilisierten Teil der humanitas. Dies bringt es mit sich, daß Claudius zornig wird : excandescit hoc loco Claudius et quanto pofest murmure irascitur (c. 6,2). Seinjähzorniges Naturell und undiszipliniertes Benehmen sowie seine fehlende sprachliche Artikulation, kurz: sein unzivilisiertes Gehabe bestätigen sein Barbarentum. An dieser Stelle erneuert Hercules, der inzwischen aufgetaucht ist, seine Frage nach der Her­ kunft und Abstammung des Claudius, und zwar in einem brüsken Ton (c. 7). Aufgrund einer Lücke in der Überlieferung zwischen dem 7. und 8 . Kapitel läßt sich nicht sagen, ob sich Claudius dazu noch geäußert hat. Das fragmentarisch überlieferte KapitelSläßt sich nur schwer in den Zusammenhang einordnen und ist für den heutigen Leser ohne Erläuterungen nicht ohne weiteres verständlich: "In der Rede wird ein beträchtliches Bildungsgut aufgeboten. Mit Hilfe der epi­ kureischen Gottesdefinition soll Claudius als ein Nichts charakterisiert werden, die stoische Definition bietet die Gelegenheit, ihm ein weiteres Mal wesentliche menschliche Eigenschaften abzusprechen." 87 Aber auch des Kaisers Claudius =

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delt (vgl. R. F. Martin [ 1 989]149-1 62), ist natürlich für die literarische Interpretation völlig belanglos. Vgl. A. A. Lund ( 1 993). Es geht dem Autor dabei nicht darum, Claudius mit einem bestimmten Seeungeheuer zu identifizieren, wie es einige Kommentatoren wollen, vgl. etwa P. Robin ( 1 983) 1 8 1 1 9 1 , sondern um seine Ausgrenzung vom genus humanum. Die Schrift ist eine litera­ rische Satire, keine Satire des Genos naturalis historia. Vgl. D. C. Braund ( 1 980) 420-425. Gemäß dem argumentum etymologicum leitete man in der Antike den Namen der gens Iulia von l/ium her. Vgl. etwa Liv. 1 ,3,2: Haud ambi­ gam ( . . . ) hicine fuerit Ascanius an maior quam hic, Creusa matre Ilio incolumi natus comesque inde paternae fugae, quem lu/um eundem lulia gens auctorem nominis sui nuncupat. Eine Tradition, der zufolge der O rtsname Lugudunum mit Ilium verknüpft wurde, ist mir nicht bekannt. Siehe ferner S. Koster ( 1 993) [im Druck]. Darauf wird noch c. 7,3 angespielt: Gallum in suo sterquilinio p/urimum passe. Vgl. H. Kloft ( 1 972) 205-222, bes. 2 1 0 : "Die Diffamierung richtet sich aber nur auf die geographische Herkunft ( . . . ) nicht auf seine Abstammung". Diese Unterscheidung dürfte ein Anachronismus sein : Für die Römer waren Benennungen wie Ga/li, Ger­ mani u. ä. kulturelle und geographische Kategorien, vgl. A. A. Lund ( 1 990) passim. J. Adamietz ( 1 986) 373.

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- für römische Begriffe - inzestuöses Verhältnis wird angeprangert, galt es doch als unrömisch, fremd : A thenis dimidium licet, Alexandriae totum (c. 8,3). 88 Schließlich verspottet der Autor den Anspruch des Claudius auf Göttlichkeit dadurch, daß ihm diese Verehrung nur bei Barbaren zuteil wird, die ihn angeb­ lich als einen Narrengott anflehen: 8 9 . . . ( hunc) nunc barbari colunt et ut deum orant IJ.Wpoü einA.a-rou -ruxeiv (c. 8,3). 90 Es geht demnach aus römischer Sicht nicht um religio, sondern um superstitio, 91 d.h. einen fremden, nicht römischen Kult. Die Ausgrenzung des Claudius aus dem Römerturn ist damit perfekt. Obwohl das neunte Kapitel im einzelnen durch kleinere Überlieferungsfeh­ ler gestört ist, ist klar, daß es sich dabei um eine Art von Karikatur einer römi­ schen Senatsversammlung handelt. 92 Der älteste der Götter und der Gott allen Anfangs, Ianus, der zu Saturnus' Zeiten König war, will mit seinem Beschluß­ antrag, der tatsächlich einem Privilegium, einer Iex in Claudium lata, gleich­ kommt, 93 Claudius und allen anderen Sterblichen in Zukunft verbieten, divi zu werden. Das Kapitel enthält eine Reihe von Anspielungen, die uns wegen ihrer Doppeldeutigkeit nicht mehr verständlich sind. 9 4 Zunächst legt Ianus seinen Beschlußantrag vor, dann Diespiter oder eher Dis pater. Jener, der im Himmel ansässig ist, spricht gegen die Aufnahme des Claudius in den Himmel, wogegen dieser, der eigentlich der Unterwelt angehört, dafür eintritt. Beide, sowohl der Gott des echten Saturnischen Zeitalters wie auch der Herrscher der Unterwelt, bei dem Claudius letztendlich als Gallier natürlich landet, versuchen ihn los­ zuwerden. Die Kapitel 10 und 11 enthalten eine Rede des Kaisers Augustus,9 5 des Vor­ bildes des Claudius, die gegen seine Person gerichtet ist. Diesen Teil, der nur als Folie der Darstellung vor dem Hintergrund des Verfahrens im römischen Senat verständlich ist, haben vor allem Historiker mit Recht als das Kernstück der 88

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Vgl. Nep. pr. 1,4: neque enim Cimoni fuit turpe, Atheniensium summo viro, sororem ger­ manam habere in matrimonio, quippe cum cives eius eodem uterentur instituto. Zum Begriff des Inzestuösen siehe K. Hopkins ( 1980) 1 1 3- 143. J. Adamietz ( 1 986) 373 f. : "So wird schließlich dem Anspruch auf einen Sitz unter den Göttern die wirklich angemessene Position entgegengehalten, die Verehrung durch die Barbaren im fernen Britannien als Narrengottheit. " Vgl. D. Fishwick ( 1 99 1 ) 137- 1 4 1 . Vgl. R. Freudenherger e 1969) bes. 1 89- 199; W. Otto ( 1 939) 398-405; S. Calderone ( 1 972) 377-396. Vgl. U. Knoche e 197 1) 66. Vgl. Komm. zu c. 9,3. Der c. 9,4 erwähnte Gott Diespiter bzw. Dis pater, der wie auch Claudius 'Staatsange­ hörigkeiten' an peregrini verkaufte, enthält eine weitere Anspielung auf die gallische Herkunft des Claudius. Vgl. Caes. Gall. 6, 1 8, 1 : Galli se omnes ab Dite patre prognatos praedicant . . . Vgl. S. Wolf ( 1 986) passim (siehe dazu R. Jakobi [ 1 988] 202-209 und H. Schoonhoven [ 1 992] 257-260); 0. Zwierlein ( 1 982) 1 62-175; U. Knoche ( 1 966) 463-470.

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Einleitung

Schrift bezeichnet. 9 6 Es steht aber nicht kontextlos da, sondern hängt mit einem vorherrschenden Zug in der vorhergehenden satirischen Schilderung des Clau­ dischen Charakters zusammen, der saevitia, die gemäß der physiognomischen Denkweise zu seiner mißgebildeten Gestalt paßt. Diese hat den Tyrannen dazu gebracht, vornehme Römer, darunter auch Freunde (amici) im allgemeinen sowie Angehörige (necessarii) der domus Iulia im besonderen, hinrichten zu lassen oder in den Tod zu treiben. 9 7 Aus der saevitia des Claudius leitet sich natürlich seine fehlende iustitia her, die seine Verurteilung, Verbannung aus dem Himmel in die dritte Welt, also die Unterwelt, zur Folge hat. Dies geschieht ausgerechnet durch den Beschlußantrag des kaiserlichen Vorbildes des Clau­ dius, Augustus, den er gern nachahmte und dessen Sippenangehörige (neces­ sarii) er töten ließ; denn dies ist mit dem Leben unter den wahren Göttern (dii) im Himmel nicht zu vereinbaren - und zeigt, daß Claudius nach menschlichem Dafürhalten zwar divus, jedoch kein deus ist. 9 8 Die Konsequenz, die sich aus der vorgebrachten umständlich formulierten sententia des Augustus ergibt, 99 ist der Verweis des Claudius aus dem himmlischen Bereich in die Unterwelt. 100 Die Verbannung a caelo ad inferos erfolgt auf der Stelle und wird von Mer­ curius prompt in die Wege geleitet. Der anonyme Autor läßt die beiden unter­ wegs haltmachen auf der via Sacra, damit Claudius - auf der Handlungsebene die Möglichkeit bekommt, seinem eigenen Begräbnis beizuwohnen. An dieser Stelle der Handlung wird zum ersten Mal deutlich darauf angespielt, daß sich die römische Ö ffentlichkeit über die faktische deificatio des Claudius habe täuschen lassen wegen des mit großem Aufwand arrangierten Begräbnisses eines Gottes: et erat omnium formosissimum et impensa cura, plane ut scires deum efferri (c. 12, 1). Wiederum findet eine Degradierung des Claudius statt. Er, der schwer von Begriff ist, erkennt erst jetzt, daß er gestorben ist: Claudius, ut viditfunus suum, intellexit se mortuum esse (c. 12,3). Gleichzeitig erwachen die wahren Vertreter der Gerechtigkeit und stellen fest, daß die Zeit der 'verkehrten Welt' vorüber ist: 96

Vgl. A. Momigliano (1961) bes. 77 : "It is significant that it should be Augustus who exposes the cantrast - Augustus, the man whom Claudius pretended to imitate and follow. Attention has never been drawn to the fact that this is the real kerne! of the attack on Claudius - the comparison of him with Augustus, the choice of Augustus, whose name was for ever in Claudius' mouth, as Claudius' accuser. The rest of the Apoco/ocyntosis may be Iight-hearted fantasy". 97 Vgl. H. Horstkatte ( 1 989) 1 13- 1 43. Zu den römischen Begriffen domus und necessarii siehe Komm . zu c. 1 0,3 und zu c. 1 1 ,4. 9 8 Vgl. c. 10,4: die mihi, dive C/audi, quare quemquam ex his, quos quasque occidisti, ante­ quam de causa cognosceres, antequam audires, damnasti? hoc ubifieri so/et? in caelo non fit. 99 Vielleicht enthält die unbeholfene Sprache des Augustus Anspielungen auf die des Claudius. 100 Vgl. c. 1 1 ,5 : p/acet mihi in eum severe animadverti nec illi rerum iudicandarum vacatio­ nem dari eumque quam primum exportari et cae/o intra tringinta dies excedere, 0/ympo intra diem tertium.

Einleitung

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'dicebarn vobis, non sernper Saturnalia erunt' (c. 12,2). Zur Ehrung eines Toten gehörte im antiken Grabritus außer der laudatiofunebris noch die nenia, ein von einem Chor gesungenes Klagelied. 101 Das vorliegende Klagelied ist eine Parodie der Gattung und bringt eine ironische Huldigung des Claudius: Alles wird auf den Kopf gestellt: Die Tapferkeit des Verstorbenen wird gelobt und seine Schnelligkeit, seine sichere Hand, seine gerechte Tätigkeit als Richter werden hervorgehoben. Dies wird alles geschildert, um die Dummheit und Naivität des Claudius herauszustellen, der es natürlich für bare Münze nimmt: delectabatur laudibus suis Claudius et cupiebat diutius spectare (c. 13,1). Er hat zwar verstan­ den, daß er gestorben ist, jedoch noch nicht wahrgenommen, daß er lediglich rnortalis gewesen und nicht irnrnortalis geworden ist. Die Menschen auf Erden ­ außer dem Publikum der 'Apocolocyntosis' - erfahren es ja auch nicht: inicit illi rnanurn Talthybius deorurn, nuntius ( . . . ) , 102 et trahit capite obvoluto, ne quis eurn possit agnoscere, per carnpurn Martiurn, et inter Tiberirn et viarn Teetarn descendit ad inferos (c. 13,1). Wie von einem richtigen Gallier nicht anders zu erwarten wäre, landet Claudius schließlich beim pater Dis, wo er mit großer (Schaden-)Freude empfangen wird, als wäre er der wiedergefundene Gott Osiris. 103 Der Kaiser Claudius, dem die Sterblichen auf Erden durch die Apotheose die Unsterblich­ keit zugesprochen haben, wurde von den Unsterblichen im Himmel abgelehnt und zu seinen natürlichen Genossen weggeschickt. Mit anderen Worten : Er landet aus der Sicht der Götter in der richtigen, aus der Sicht der Menschen aber in der verkehrten Welt, was wiederum eine Umkehrung des Richtigen ist. Im Reich der Toten widerfährt Claudius dasselbe Schicksal, das er selbst vielen anderen hat zukommen lassen ; denn er wird ohne einen richtigen Prozeß ver­ urteilt: Aeacus, horno iustissirnus, vetat et illurn altera tanturn parte audita condern­ nat . . . (c. 14,2). Die Gerechtigkeit in der Unterwelt ist somit auch eine 'verkehrte Welt', jedoch gleichzeitig eine Spiegelung der richtigen - jedenfalls so, wie sie war, solange Claudius noch princeps Saturnalicius war. Seine Richtertätigkeit wird somit als eine Karikatur abgestempelt: 10 4 Claudio rnagis iniquurn videbatur quarn novurn (c. 14,3). 10 5 Die Fortsetzung enthält einige Verderbnisse. Der Sinn des Zusammenhangs läuft jedoch wahrscheinlich darauf hinaus, daß man Clau­ dius zu einer frustrierenden Straf- oder eher Sklavenarbeit verurteilen soll, 106 die analog zu der des Sisyphus ist und die mit einer seiner Leidenschaften verknüpft werden kann. Man entscheidet sich ftir Würfeln mit einem Becher, der ebenso durchlöchert ist wie das doliurn der Danaiden : turn Aeacus iubet illurn alea ludere 101 1 02 1 03 1 04 1 05 1 06

Vgl. W. Kierdorf ( 1 980) 96fT. Zur möglichen Ergänzung der Lücke siehe Komm. zur Stelle. Das Tertium comparationis zwischen Osiris und Claudius dürfte der Begriff Inzest sein. Dieser hatte ein Verhältnis zu seiner Nichte, jener zu seiner Schwester. Vgl. J. G. Wolf ( 1 993) [im Druck] . Zur Herstellung der Textstelle siehe S. Mariotti ( 1 976- 1 977) 4 8 1 -483 . Claudius war nach stoischer Auffassung ein Sklave seiner Leidenschaften, vgl. Cic.fin. 3,75 : (sapiens est) solus /iber nec oboediens cupiditati.

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Einleitung

pertuso fritil/o (c. 14,4). Diese Strafe kommt nicht von ungefähr, sondern ist gezielt gewählt. Auf Erden war das Würfeln nur während des Saturnalienfestes erlaubt, obwohl es das ganze Jahr über ausgeübt wurde. 10 7 Claudius setzt somit gewissermaßen im 'Jenseits' seine Lebensweise im 'Diesseits' fort. War sie auf Erden die verkehrte, ist sie aber dort die richtige Welt, wobei die Ordnung per­ fekt und die Saturnalien auf Erden vorüber sind. Am Ende der Satire über den toten Kaiser Claudius wird dieser mit einer doppelten Strafe belegt: einer Ewigkeitsstrafe nach dem Muster der Bestraften Tantalus und Ixion und andererseits der Versklavung nach römischem Vor­ bild. 1 0 8 Geschildert werden die ewige Sisyphusarbeit des Claudius sowie seine Ausgrenzung aus der Gesellschaft der freien Römer, was ftir einen ingenuus schlimmer war als die Ausgrenzung aus der Welt der Zivilisierten (humani­ tas) : 109 apparuit subito C. Caesar et petere illum in servitutem coepit (c. 1 5,2). Clau­ dius, der ehemalige Richter, muß demnach Sklavendienst leisten in der Unter­ welt, und zwar vor Gericht (a cognitionibus) bei einem Freigelassenen, was ftir ihn nicht die verkehrte Welt ist. Er war ja im richtigen Leben Sklave auch dieser Leidenschaft (cupiditas) 110 , d. h. seiner Richtertätigkeit - und der Sklave seiner Freigelassenen. l l l Solange Claudius, der Narr und Tyrann zugleich war, noch lebte, war aber die richtige Welt die verkehrte - ftir das römische Publikum (vgl. c. 12,2). Claudius wird in der ganzen Schrift - wie etwa auch bei Sueton - als homo stultus et saevus dargestellt, was zur Auffassung der Stoiker paßt, daß alle Toren (insipientes) auch wahnsinnig (non sani) sind. Oder wie es einmal Cicero formuliert hat: omnis insipientes esse non sanos ( . . . ) insipientia autem quasi insanitas quaedam, quae est insania eademque dementia (Tusc. 3 , 1 1). Mit anderen Worten : Claudius bildet den Gegenbegriff zum sapiens der Stoiker; denn er ist ein böser Tor, der Verbrechen begeht, und muß demnach wahnsinnig sein: ergo ubi prava I stultitia, hic summa est insania: qui sceleratus, I et furiosus erit (Hor. sat. 2,3,220)_ 1 12 Aus der oben vorgebrachten Deutung der Handlung der 'Apocolocyntosis' geht hervor, daß die ganze Satire sich streckenweise wie eine Invektive gegen die Person des Claudius liest: 1 1 3 Es wird nur Negatives berichtet, und zwar vorwie­ gend aus der Sicht eines Stoikers. 1 1 4 Claudius, homo stultus et saevus, paßt ja zum Bild des sapiens der Stoiker nicht. 1 1 5 Hauptthema der Satire ist die Ausgren1 07

Vgl. J. Väterlein ( 1 976) bes. 54. Vgl. G. Binder (1991) 54-67. 1 09 Vgl. Y. Thebert ( 1 99 1 ) 1 58-199; J. Andreau ( 199 1) 200-225 . 1 10 Vgl. Svet. Claud. 14. 111 Vgl. Svet. Claud. 40,2. 1 12 Vgl. B. P. Wallace ( 1 990) 17 1-183, bes. 1 74. 1 13 Vgl. S . Koster ( 1 980) bes. 2 8 f. 1 14 Nero hat auch selbst Claudius in derselben verächtlichen und abschätzigen Weise behandelt: certe omnibus rerum verborumque co ntumeliis mortuum insectatus est, modo stultitiae, modo saevitiae arguens (Svet. Nero 3 3 , 1 ) . 115 Vgl. M. Altman ( 1 938) 198-204.

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zung des Narren und Tyrannen Claudius aus dem Römerturn und aus der Welt der Götter, kurz: seine totale Dehumanisierung und Entdivinisierung. Eine poli­ tische Satire ist die 'Apocolocyntosis' nicht, wenn man darunter negative Kritik an Personen, die noch am Leben sind, versteht: Keine lebenden Personen wer­ den ja in der Schrift angegriffen. Auf eine politische Zielsetzung läßt die Satire schließen, insofern als die vituperatio Claudii den Iaudes Neronis gegenüber­ gestellt wird und gegen die Konsekration des aus stoischer Sicht unwürdigen Kaisers Claudius gerichtet ist. 1 1 6 Es darf dabei nicht vergessen werden, daß sich Satire und Geschichtsschreibung generell dadurch berühren, daß sie sich mit einer geschichtlichen Person befassen, nur ist dabei die Perspektive verschieden: Der Historiker sucht die Wahrheit, der Satiriker ist Moralist. Dazu paßt, daß das Ziel der Satire nicht nur das Moralisieren, sondern auch das Unterhalten sein sollte. Ebendas bezwecken die vielen 'spoudaiogeloia', von denen die 'Apocolo­ cyntosis' voll ist. 1 17

1 16

1 17

Zum politischen Hintergrund siehe K. Bringmann ( 1 9 7 1 ) 56-69; M. T. Griffin ( 1 976) bes. 129- 1 3 3 . Vgl. L. Giangrande ( 1 972) b e s . 1 05 fT.

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L. Annaei Senecae Divi Claudii AnoxoÄoxuv't'watc; 1 1. Quid acturn sit in caelo ante diern III idus Octobris anno novo, initio saeculi felicissirni, volo rnernoriae tradere. nihil nec2 offensae nec gratiae dabitur. haec ita vera. si quis quaesiverit unde sciarn, prirnurn, si noluero, non respondebo. quis coacturus est? ego scio rne liberurn facturn, ex quo suurn diern obiit ille qui verurn proverbiurn fecerat, aut 3 regern aut fatuurn nasci oportere. (2) si libuerit respondere, dicarn quod rnihi in buccarn venerit. quis urnquarn ab historico iura­ tores4 exegit5? tarnen si necesse fuerit auctorern producere, quaerito 6 ab eo qui Drusillarn euntern in caelurn vidit: idern7 Claudiurn vidisse se dicet iter facien­ tern "non passibus aequis". velit nolit, necesse est illi ornnia videre quae in caelo aguntur8 : Appiae viae curator est, qua scis et divurn Augusturn et Tiberiurn Cae­ sarern ad deos isse. (3) hunc si interrogaveris, soli narrabit: corarn pluribus nurn­ quarn verburn faciet. narn ex quo in senatu iuravit se Drusillarn9 vidisse caelurn aseendentern et illi pro tarn bono nuntio nerno credidit quod iurarat 10 verbis con­ ceptis, affirrnavit se non indicatururn, etiarn si in rnedio foro horninern occisurn vidisset. ab hoc ego quaecurnque 1 1 audivi certa, clara affero, ita illurn salvurn et felicern habearn ! 2.

1

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3 4

5 6 7 8 9

10 11 12

Iarn Phoebus breviore via contraxerat +orturn+ 1 2 lucis et obscuri crescebant ternpora Sornni, iarnque suurn victrix augebat Cynthia regnurn Tit. DIVI CLAVDII INCIPIT AII00HOCIC ANNEI SENECE 1!- SATIRÄ S SENECE LVDVS DE MORTE CLAVDII V INCIPIT EIVSDEM SENECE LVDVS DE MORTE CLAVDII CESARI S L. nec S : om. VL. aut . . . aut in et . . . et mutandum suspicor. ab historico iurato (aucto) res Ruhkopf. commendant Mommsen et Flach : an ab historico iurat(os auct) ores scribendum? exegit SV : exigit L. quaerito S : quaerite VL. idern SL : itern V. aguntur S : agantur VL. Drusillarn SVL: suspicor Claudiurn legendum. quod iurarat scripsi : quod viderat Gertz : Quod viderit S : quid viderit VL. quaecurnque VL : quae turn S. orturn SVL : orbern dub. Framond : aueturn conicio.

Übersetzung, Interpretation

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1 , 1 . Was am 1 3 . Oktober im neuen Jahr, am Anfang der allerglücklichsten Ära, im himmlischen Senat behandelt wurde, das will ich hier der Nachwelt überlie­ fern. Keinesfalls werde ich mich dabei von Haß oder von Zuneigung lenken lassen: Ich berichte die Wahrheit. Fragt man mich, woher ich mein Wissen habe, so werde ich zunächst, wenn ich nicht mag, gar keine Antwort darauf geben: Wer will mich denn dazu zwingen? Ich weiß ja, daß ich ein freier Mann geworden bin seit dem Tag, als jener aus der Welt ging, der das Sprichwort wahr werden ließ : Zum Despoten oder zum Trottel muß man geboren werden. (2) Gefällt es mir aber zu antworten, so sage ich, was mir gerade in den Schnabel kommt. Wer hat denn je von einem Historiker Schwurzeugen verlangt? Wenn es jedoch nötig sein sollte, einen Gewährsmann vorzuführen, dann frage doch den Zeugen, der einst die Himmelfahrt der Drusilla beobachtete : Der wird auch behaupten, er habe Claudius gesehen, wie dieser dorthin unterwegs war

mit humpelnden Schritten.

Ob er will oder nicht, er kann nicht umhin zu sehen, was sich so alles im Himmel ereignet: Er ist Wegbauinspektor der Via Appia, auf der, wie du weißt, schon der göttliche Augustus und Kaiser Tiberius zu den Göttern gegangen sind. (3) Wenn du diesen Zeugen fragst, erzählt er es dir aber nur unter vier Augen; in Gegen­ wart mehrerer sagt er nie auch nur ein Wort. Denn seitdem er im Senat schwur, er habe Drusilla zum Himmel aufsteigen sehen - und niemand ihm trotz dieser Freudenbotschaft glaubte, was er mit bindendem Eid geschworen hatte, be­ teuerte er, daß er selbst dann, wenn er auf offener Straße einen Ermordeten sehen sollte, dies nie anzeigen würde. Alles, was ich von ihm erfahren habe, will ich nun klar und deutlich berichten, so wahr ich ihm Glück und Gesundheit wünsche ! Schon in engerem Pfad zog Phoebus zusammen den +Lichtkreis+, I und die Stunden des Schlafs, des finsteren, waren im Wachsen, I schon auch mehrte ihr Reich im Siegeszuge Selene, I und es pflückte der garstige Winter des üppigen 2.

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L. Annaei Senecae

et deformis Hiemps gratos carpebat honores divitis Autumni iussoque senescere Baccho carpebat raras serus vindemitor uvas. (2) puto magis intelligi ( posse ) 13 , si dixero : mensis erat October, dies III idus 1 4 Octobris. horam non possum certarn tibi 15 dicere : facilius inter philosophos quam inter horologia conveniet: tarnen inter sextarn et septimam erat. (3) + nimis rustice + 1 6 adquiescunt omnes poetae, non contenti 17 ortus et occasus describere, ut etiam medium diem inquietent: tu sie transibis horam tarn bonam?' (4) lam medium curru Phoebus diviserat orbem et propior nocti fessas 1 8 quatiebat habenas obliquo flexam deducens tramite lucem: 3. Claudius animam agere coepit nec invenire exitum poterat. turn Mercurius,

qui semper ingenio eius delectatus esset, unam e tribus Parcis seducit 19 et ait: 'quid, femina crudelissima, hominem miserum torqueri pateris? nec umquam tarn diu cruciatus exeae 0 ? annus sexagesimus et quartus est, ex quo cum anima luctatur. quid huic et rei publicae invides? 2 1 (2) patere mathematicos aliquando verum dicere, qui illum, ex quo princeps factus est, omnibus annis omnibus mensibus efferunt. et tarnen non est mirum, si errant et horam eius nemo novit: nemo enim umquam illum natum putavit. fac quod faciendum est: dede neci, melior vacua sine regnet in aula.' (3) sed Clotho 'ego mehercules' 22 inquit 'pusillum temporis adicere illi volebam, dum hos pauculos qui supersunt civitate donaret - constituerat enim omnes Graecos, Gallos, Hispanos, Britannos togatos videre -, sed quoniam placet ali­ quos peregrinos in semen relinqui et tu ita iubes fieri, fiat!' (4) aperit turn cap­ sulam et tres fusos profert: unus erat Augurini, alter Babae, tertius Claudii. 'hos' inquit 'tres uno anno exiguis intervallis temporum divisos mori iubebo, nec illum incomitatum dimittam. non oportet enim eum, qui modo se tot milia hominum sequentia videbat, tot praecedentia, tot circumfusa, subito solum destitui. contentus erit his interim convictoribus.' 13 posse addidi. 14 III idus S V : I (spatiuncu/o vacuo insequente) eiusdern L. 15 certarn tibi SV : tibi certarn L. 1 6 locus desperatus. 1 1 contenti VL : conventi S. 1 8 nocti fessas S : noctis fessus VL. 1 9 seducit S : educit VL. 20 exeat Bruun : an anirnus supp/endum ? : esset S VL : (c)esset plerique editores recentiores lunio auctore /egunt. 2 1 et rei publicae invides S : et respondit invides V : invides et respondit L 22 rne hercules S V3 : rnehercule L : rne erculus V.

Übersetzung, Interpretation

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Herbstes I köstliche Zier, und spät erst pflückte der Winzer - von Bacchus I höheres Alter erheischend - die späten, spärlichen Trauben. "Ich denke, es ist leichter verständlich, wenn ich sage: Der Monat war der Oktober, der Tag war der 1 3 . desselben. Die genaue Uhrzeit kann ich dir leider nicht mitteilen: Denn eher werden Philosophen übereinstimmen als Uhren, es muß jedoch zwischen zwölf und eins gewesen sein. (3) + . . . . . + 1 zufriedengeben, so daß sie sogar die Mittagsstunde nicht in Ruhe lassen : Da willst du eine so gute Stunde einfach übergehen? (4) Schon war über die Mitte der Kreisbahn Phoebus gefahren, I und er schüttelte, näher der Nacht schon, die schläfrigen Zügel, I führte auf schrägem Pfade die Sonne im Bogen hinunter: 3. Da fing Claudius an, seine Seele auszuhauchen, konnte aber den Ausgang

nicht finden. Da nahm Mercurius, der schon immer an der Begabung dieses Mannes Freude gefunden hatte, eine der drei Parzen zur Seite und sagte : "Wieso erlaubst du, grausames Weib, daß der arme Kerl gequält wird? Soll er denn, obwohl er schon so lange geplagt worden ist, nie sterben? Seit vierundsechzig Jahren ringt er nun mit seiner Seele. Warum bist du ihm und dem Staat so böse? (2) Laß doch die Astrologen endlich einmal die Wahrheit prophezeien! Sie haben ihn, seitdem er Kaiser ist, jedes Jahr und jeden Monat zu Grabe getragen. Es ist aber kein Wunder, wenn sie irren und niemand seine Stunde kennt. Hat ihn doch niemand je für geboren gehalten. Tue deshalb, was du tun mußt: Weih ihn dem Tod', ein Besserer herrsch ' im geräumten Palaste. (3) Clotho aber erwiderte: "Ich wollte ihm weiß Gott noch ein bißeben Zeit zuge­ ben, bis er die paar Leutchen, die noch übriggeblieben sind, auch mit dem römi­ schen Bürgerrecht beschenkt hätte (er hatte sich ja vorgenommen, alle Grie­ chen, Gallier, Spanier und Britannier in der römischen Toga zu sehen), aber da man offensichtlich will, daß noch einige Nichtrömer übrigbleiben für die Nach­ zucht, und du es so willst, soll es geschehen." (4) Darauf öffnet sie eine Kapsel und holt drei Spindeln heraus: Die eine war die des Augurinus, die zweite die des Baba, die dritte die des Claudius. "Diese drei", sagte sie, "will ich in einem Jahr kurz nacheinander sterben lassen; denn ich will ihn nicht ohne Gefolgschaft weggehen lassen. Es gehört sich nämlich nicht, daß einer, der sich bis vor kurzem von so vielen tausend Menschen auf allen Seiten umgeben sah, plötzlich ganz allein gelassen wird. Mit dieser Gesellschaft muß er sich vorerst zufrieden­ geben."

1

Verbesserungsvorschlag : mit der Astrologie.

34 4.

L. Annaei Senecae

Haec ait et turpi convolvens stamina fuso abrupit stolidae regalia tempora vitae. at2 3 Lachesis redimita comas2\ ornata capillos, Pieria crtnem lauro frontemque coronans, candida de niveo subtemina2 5 vellere sumit felici moderanda manu, quae ducta colorem assumpsere novum. mirantur pensa sorores: mutatur vilis pretioso lana metallo, aurea formoso descendunt saecula filo. nec modus est illis : felicia vellera ducune 6 et gaudent implere manus: sunt dulcia pensa. sponte sua festinat opus nulloque labore mollia contorto descendunt stamina fuso. vincunt Tithoni, vincunt et Nestoris annos. Phoebus adest cantuque iuvat gaudetque futuris et laetus nunc plectra movet, nunc pensa ministrat: detinet intentas2 7 cantu fallitque laborem. dumque nimis citharam fraternaque carmina laudant, plus solito nevere manus humanaque fata laudatum transcendit opus. 'ne demite, Parcae', Phoebus ait, 'vincat mortalis tempora vitae ille mihi similis vultu similisque decore nec cantu nec voce minor. felicia lassis saecula praestabit legumque silentia rumpet. qualis discutiens fugientia Lucifer astra aut qualis surgit redeuntibus Resperus astris, qualis, cum primum tenebris Aurora solutis induxit rubicunda diem, Sol aspicit orbem lucidus et primos a carcere concitat axes: talis Caesar adest, talem iam Roma Neronem aspiciet. flagrat nitidus fulgore remisso vultus et adfuso cervix formosa capillo.'

(2) Haec Apollo. at Lachesis, quae et ipsa homini formosissimo faveret, fecit illud plena manu et Neroni multos annos de suo donat. Claudium autem iubent omnes

23 24 25 26 27 28

at S V : et L. comas VL : comes S. subtemina S' V : subtemine S : subtegmitra L. ducunt SL : dicunt V. intentas L : intentus S V. locu m restituit lunius secundum Eur. Cresph. fr. 449 N2 : XAIPON TAIC EYCII H MOYN­ TAICE SL: XAIPONTAYC EYCII H MOYTAYC V.

Übersetzung, Interpretation

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Sprach's. Und zusammengerollt auf häßlicher Spindel die Fäden, I riß sie sie ab, die Herrschertage des törichten Lebens. I Lachesis aber, die Haare geschmückt, umwunden die Flechten, I Locken und Stirn umrankt vom Kranze pierischen Lorbeers, I nimmt mit glückhaft führender Hand von schneeiger Wolle I gleißende Fäden. Sie wechseln, gesponnen, im Nu ihre Farbe. I Staunen erfüllt nun die ganzen Schwestern ob solchen Gespinstes. I Denn in köstlich Metall verwandelt sich ärmliche Wolle: I Goldene Zeiten, sie steigen herab vom herrlichen Garne. I Endlos spinnen sie fort : Sie ziehen glückselige Fäden, I fül­ len freudig die Hände, und süß ist ihnen die Arbeit. I Ganz wie von selber eilet das Werk, und mühelos fließen I weich die Fäden herab von emsig rollender Spindel : I Spenden der Jahre mehr als Nestor zählt, als Tithonus. I Phoebus ist nah und hilft mit Gesang und freut sich der Zukunft, I rührt bald fröhlich die Saiten, bald reicht er den Schwestern die Wolle. I Hält mit Gesang sie am Werk und macht sie vergessen die Arbeit. I Während sie Spiel und Gesang des Bruders mit Lob überhäufen, I spinnen sie mehr als gewöhnliches Maß, und mensch­ liches Schicksal I schon übersteigt ihr gepriesenes Werk. "0 nehmet, ihr Par­ zen," I sprach da Apoll, "o nehmt nichts hinweg ! In des irdischen Daseins I enge Umgrenzung bannet nicht ihn, der mir ähnlich von Antlitz, I ähnlich an Schön­ heit, gleich an Gesangskunst! Selige Zeiten I bald wird er bringen den Müden und brechen das Schweigen des Rechtes. I Gleichwie Lucifer, all die fliehenden Sterne verscheuchend, I oder wie Hesperus, kehren sie wieder, die Sterne, emporsteigt, I gleich wie Helios - wenn Aurora, das Dunkel zerstreuend, I rosig geleitet den Tag - im Strahlenkranze den Erdkreis I anschaut und aus den Schranken den Sonnenwagen hervorlenkt: I Solch ein Kaiser ist nahe! So wird jetzt Rom seinen Nero I schauen ! So lieblich erstrahlt im milderen Glanze sein Antlitz I und unter wallendem Haar sein schöngestalteter Nacken! 4.

(2) Also sprach Apollon. Aber Lachesis, die auch selbst dem schmucken Kerl wohlgesinnt war, schenkte großzügig Nero von sich aus noch viele Jahre oben­ drauf. Claudius dagegen hießen sie alle voll Glück und Freude aus dem Hause tragen.

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L . Annaei Senecae

et ille quidem animam ebulliit, et ex eo desiit vivere videri. expiravit autem dum comoedos audit, ut scias me non sine causa illos timere. (3) ultima vox eius haec inter homines audita est, cum maiorem saniturn emisisset illa parte, qua facilius loquebatur: 'vae me, puto 29 , concacavi me.' quod an fecerit nescio: omnia certe concacavit. 5.

Quae in terris postea sint acta supervacuum est referre. scitis enim optime, nec periculum est ne excidant +quae memoriae gaudium publicum impres­ serunt+ 30 : nemo felicitatis suae obliviscitur. in caelo quae acta sint audite (fides penes auctorem erit). (2) nuntiat ( is ) 3 1 lovi venisse quendam bonae staturae, bene canum; nescio quid illum minari 3 2, assidue enim caput movere; pedem dextrum trahere. quaesisse se cuius nationis esset: respondisse nescio quid per­ turbato sono et voce confusa; non intellegere se linguam eius : nec Graecum esse nec Romanum nec ullius gentis notae. (3) turn luppiter Herculem, qui totum orbem terrarum pererraverat et nasse videbatur omnes nationes, iubet ire et explorare quarum hominum esset. turn Hercules prima aspectu sane perturbatus est +ut qui etiam non omnia monstra timuerit+ 33 , ut vidit novi generis faciem3 \ insolitum incessum, vocem nullius terrestris animalis, sed qualis esse marinis beluis solet, raucam et implicatam, putavit sibi tertium decimum laborem venisse. (4) diligentius intuenti visus est quasi homo. accessit itaque et, quod facillimum fuit Graeculo, ait: 'ttT]IJOÜV'tac; EX1tEIJ1tf:1V ÖÖ!JWV (vgl. auch die Übersetzung bei Cic. Tusc. 1 , 1 1 5 : nam nos decebat coetus

ce/ebrantis domum I lugere, ubi esset aliquis in lucem editus I humanae vitae varia reputantis mala; I at qui Iabores mortefinisset gravis, I hunc omni amicos laude et /aetitia exsequi). Unsere Stelle beschreibt demnach eine Umkehrung des nor­ malen Verhaltens bei einem Todesfall. et ille quidem animam ebulliit, et ex eo desiit vivere videri) An

die Stelle des übli­ chen animam efflare (vgl. ThLL V,2 190,34ff.) tritt hier der sehr konkrete, flir die Vulgärsprache typische Ausdruck animam ebullire (vgl. ThLL V,2 17,23ff.). Zu desiit vivere videri vgl. c. 5,4: visus est quasi homo, und c. 3,2 : nem o enim umquam illum natum putavit. i.q. mortuus est comoedos audiens. Die Bemerkung spielt auf folgenden Umstand an: (Svet. Claud. c. 45, 1 ) mors eius celata est, donec circa successorem omnia ordinarentur. Zu diesem Zweck wurden sogar Komödianten in den Palast gebeten, als ob der Kaiser noch lebte und nach ihnen verlangt hätte.

expiravit autem dum comoedos audit)

ultima vox eius haec inter homines audita est, cum maiorem sonitum emisisset illa parte, qua facilius loquebatur) Die Junktur ultima vox ist zweideutig; denn einer­

seits steht sie flir 'Laut', andererseits flir 'Ausspruch'. Die Stelle spielt auf die Tatsache an, daß Biographen und Historiker die ultimae voces bedeutender Män­ ner mitzuteilen pflegten (vgl. Svet. A ug. c. 99, 1 ; id. Nero c. 49,4; id. Vesp. c. 24; Tac. ann. 1 5,64,4 ; Plin. epist. 3,16,6 u. 13; Mart. 1 , 1 3 ; siehe ferner W. SCHMIDT [ 1 9 1 4] passim). Der Satz cum maiorem sonitum emisisset steht überraschend flir das zu erwartende cum animaml animum emisisset (vgl. ThLL V,2 503,54ff.). Die Stelle beschreibt Claudius als homo non articulatus (vgl. A. A. LUND [1993] pas­ sim) und bestätigt die Annahme, daß c. 2,4: Claudius animam agere coepit nec invenire exitum poterat, mit Bezug auf den Mter des Claudius steht. il/a parte ist eine übliche Periphrase (also keine ad-hoc-Bildung) für einen bestimmten Kör­ perteil (i.e. artus), um das Wort culus zu vermeiden (siehe J. N. ADAMS [ 1982] 232 und 1 10fT. ; vgl. noch ThLL X, 1 467,83ff.). Formal ähnlich Svet. Vesp. c. 23,4: 'vae', inquit, 'puto, deusfio '. Zur Parataxe statt Hypotaxe vgl. A. SZANTYR (1965) 528. Zum

'vae me, puto, concacavi me')

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Kommentar

seltenen concacare vgl. Phaedr. 4, 1 8, 1 1 : totam concacarunt regionem ; siehe ferner ThLL IV 3,56ff. [Vielleicht kommt con- nur in Perfektbildungen von cacare vor] . Zum volkssprachlichen vae me für das übliche vae mihi siehe A. SZANTYR (1965) 48 und J. B. HOFMANN e 195 1) 106f.

KAPITEL 5 5,1. Quae in terris postea sint acta supervacuum est referre)

postea steht für post­

quam Claudius desiit vivere videri. scitis enim optime, nec perleuiom est ne excidant +quae memoriae gaudium publi­ cum impresserit+) scitis .. optime steht für certissime scitis. Zur prosaischen Junk­

tur gaudium publicum, die eine feste Verbindung ist, vgl. ThLL VI, 1 1717,32ff. ; (zum Begriff gaudium publicum vgl. A . ALF Ö LDI [1955] 1 3 1 - 1 50). S o wie die Stelle gemäß dem handschriftlichen Befund (quae memoriae SVL) heute gern konstituiert wird, ist excidant absolut verwendet, wie Liv. 22, 15,6. BÜCHELER konjizierte die Wortfolge memoriae, quae. . . , nach der memoriae als Dativ­ Komplement fungiert, was wenig plausibel erscheint (siehe ThLL V,2 1239,49). Aber auch der Dativ (sc. memoriae) nach impresserit bzw. impresserunt ist nicht problemlos (vgl. ThLL VII,1 682,70ff.). Vor dem Hintergrund des nicht eindeu­ tigen handschriftlichen Befundes konjizierte P. T. EDEN (1984) 82 quae memo­ riae (per) gaudium pub/icum impress(a) erunt, was nur ein Verbesserungsvor­ schlag unter mehreren möglichen ist.

Mit dieser Phrase, die dem Jargon der Historiker ent­ nommen ist (vgl. Sall. Iug. c. 17,7 ; Plin. nat. 17,93), greift der Autor auf den Abschluß der Vorrede zurück und distanziert sich klar von seinem dort nicht namentlich erwähnten Gewährsmann, vgl. Sen. nat. 4,3 , 1 : quod historicifaciunt et ipsefaciam; il/i, cum multa mentiti sunt ad arbitrium suum, unam a/iquam rem nolunt spondere sed adiciunt: 'p enes auctores fides erit'.

fides penes auctorem erit)

Die über­ lieferte Lesart nuntiatur (SVL) kann weder richtig noch echt sein, weil sie einen ganz neuen Abschnitt anfangen läßt, der syntaktisch und inhaltlich ohne jeden Bezug zum Vorhergehenden steht. Abgesehen davon, daß nuntiatur im Kontext nicht erklärbar ist, bereitet vor allem quaesisse se weiter unten Schwierigkeiten; denn se setzt voraus, daß eine im überlieferten Text nicht erwähnte Person in Gedanken ergänzt wird, wie Friedländers Ergänzung (a ianitore) nuntiatur und Wachsmuths nuntiat (ianit) or zeigen. Diese Lösungsvorschläge führen eine sonst weder im unmittelbaren noch im mittelbaren Kontext erwähnte Person ein. Man beachte, daß nuntiatur im Kontext für nuntiatum est steht: in cae/o quae acta sint audite. Es gibt demnach einen inhaltlichen Bruch im Zusammenhang. Denn so, wie die Stelle überliefert ist, kann nuntiatur lovi venisse quendam . nur 5,2. nuntiat (is) Iovi venisse quendam bonae staturae, bene canum)

. .

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Kommentar

als direkte Rede interpretiert werden, und zwar im Sinne von : " nuntiatur [sc. ab auctore] lovi venisse quendam ... " Die Textstelle enthält demnach einen Überlie­ ferungsfehler, da das Passivum seinem Wesen nach eben keinen spezifischen Agenten hat (vgl. A. SCHERER [ 1975] 59). Um das überlieferte nuntiatur lovi venisse. .. mit dem Vorhergehenden zu verknüpfen, kann man auf zweierlei Art und Weise verfahren. Man kann entweder den Berichterstatter (auctor) direkt im Text erscheinen lassen : nuntiat (is) lovi venisse .. , oder folgendermaßen indirekt zur Rede kommen lassen: nuntiatum [sc. esse] lovi venisse quendam ... Im Kontext ist die persönliche Konstruktion der unpersönlichen wegen quaesisse se und non intellegere se vorzuziehen. (Oratio obliqua ist keine syntaktische Konstruktion, die von einem konkreten Wort abzuhängen braucht, vgl. A. SCHERER [ 1 975] 172). Die Hauptschwierigkeit der Stelle besteht darin, daß es syntaktisch und somit auch inhaltlich keine Verbindung zwischen dem Gewährsmann (auctor) des Erzählers und dem ianitor gibt. [Daraus schließ S. KüSTER (1979) 70-77 folgerichtig, daß es eine Lücke in der Überlieferung gibt] . Diese Diskrepanz ist darauf zurückzuführen, daß man fides penes auctorem erit auf den c. 1 ,2 erwähn­ ten auctor, der Appiae viae curator est (vgl. Komm. zur Stelle) bezieht. An unserer Stelle geht es aber um einen weiteren Augenzeugen, den ianitor des Himmels. Obwohl sein Name hier fehlt, hat das römische Publikum aus dem Umstand, daß er ianitor cae/estis war, ohne weiteres verstanden, daß es sich um den Gott Ianus handelt, schwingt doch die vis numinis bei dem Begriff ianitor mit. Man ver­ gleiche dazu Ov. fast. 1 , 1 3 9 : ego (sc. lanus) perspicio caelestis ianitor aulae Eoas partes Hesperiasque simul; und bes. ib. 1, 125 : praesideo (sc. lanus) foribus cae/i cum mitibus Horis I it, redit officio luppiter ipse meo): I inde vocor lanus . . V gl. dazu P. RARDIE ( 1 99 1 ) 47-64, bes. 50 und 60f. Hinzu kommt noch, daß die Senats­ sitzung so dargestellt wird, als ob sie im Tempel des lanus Geminus stattfinde, vgl. Komm. zu c. 8,1. bonae staturae ist eine volkstümliche Ausdrucksweise für pu/chrae staturae (vgl. ThLL II 2092, 1 lff.). Zum umgangssprachlichen bene valde als Ersatz ftir den fehlenden Superlativ (hier von canus) vgl. ThLL II 2 125,53ff. und J. B. HOF­ MANN ( 195 1) 74f. .

.

=

Die Hss. bieten zweierlei : illuminari S, illum mirari VL. Claudius hatte ein caput .. cum semper, tum in quantu/oque actu vel maxime tremulum (Svet. C/aud. c. 30,2). Da caput movere als drohender Gestus galt (vgl. Hor. sat. 1 ,5,58ff.), läßt sich die Schreibweise von S sinnvoll in illum minari auflösen (vgl. ThLL VIII 1028,55ff.).

nescioquid illum minari, assidue enim caput movere)

Die Stelle spielt auf die schlechte Motorik des gehbehin­ derten Claudius an: (Svet. Claud. c. 2 1 ,6) non sinefoeda vacillatione discurrens. Vgl. Komm. ad c. 1 ,2. Die Junktur pedem trahere auch Ov. rem. 378 (im übertra­ genen Sinne). Diese Stelle zeigt - wie unten das chiastische perturbato sono et voce confusa Claudius als homo non articulatus (vgl. A. A. LUND [ 1993] pas­ sim). pedem dextmm trahere)

-

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Kommentar

Sowohl perturbatus als auch conjusus bezeichnen den unartikulierten Laut. sonus und vox sind Syn­ onyme. Vgl. Sen. dial. 3,3,7 : vox ... non explanabilis et perturbata. Zu vox conjusa vgl. ThLL IV 266,59ff. Vgl. auch c. 5,3. respondisse nescio quid perturbato sono et voce confusa)

non intellegere se linguam eins: nec Graecum esse nec Romanum nec ullius gentis notae) Claudius wird zunächst als Barbar im sprachlichen Sinne des Wortes

beschrieben, dann auch im kulturellen: Er gehört weder zur griechischen noch zur römischen Kultur, ja er kommt dem ersten Eindruck nach von jenseits der bekannten Welt. Zum antiken Barbarenbegriff siehe A. A. LUND ( 1990a) 3-19. 5,3. tum luppiter Herculem, qui totum orbem terrarum pererraverat e t nosse vide­ batur omnes nationes, iubet ire et explorare quomm hominum esset) Hercules wird

ausgesandt, weil er sich überall auf Erden auskennt, zugleich weil der Autor Claudius dann trefflich als monstrum (s.u.) hinstellen kann. tum Hercules primo aspectu sane perturbatus est, +ut qui etiam non omnia monstra timuerit+) Die Hss. (SVL) bieten turn Hercules primo aspectu sane perturbatus est,

ut qui etiam non omnia monstra timuerit. Zum letzten Satz bemerkt P. T. EDEN (1 984) 84: "a contorted expression, once vexed with a variety of emendations, including the replacement of etiam by uicta (Baehrens), or of non omnia by luno­ nia (Gronov) or noua lunonia (Orelli) or non enormia (Gertz), or of timuerit by domuerit (Nie. Faber and Lipsius). More recently both Ball 1 76 and Russo 67f. have asserted that the paradosis makes sense, and have made different sense of it. Ball gives 'even though he was one who didn't fear any sort of monsters', taking ut qui as concessive, non with timuerit, and omnia quaequam (!). Russo translates 'come se non avesse ancora affrontato ogni specie di mostri', taking ut qui ut si, etiam non nondum (cf. Plaut. Ps. 280), timuerit with the pregnant sense of sustinuerit (cf. Weinreich 63f.) (!)." Die Stelle enthält zu viele inhaltliche und sprachliche Fragen, als daß sie sich eindeutig korrekt herstellen ließe. Ich vermute jedoch, daß der folgende Vorschlag dem ihr ursprünglich zugedachten Sinn einigermaßen gerecht wird: turn Hercules primo aspectu sane perturbatus est et, qui ( a ) etiam non ( (cog)noverat) omnia monstra, terruit, ut vidit novi generis faciem etc. Diese Vermutung hat zur sprachlichen Voraussetzung, daß etiam non für nondum steht und daß omnia m onstra im Sinne von omnia genera monstrarum zu verstehen ist. Inhaltlich baut sie auf der Tatsache auf, daß Claudius als ein monstrum einer ganz neuen Art (novi generis) beschrieben und Hercules als Entdecker unbekannter Welten (inventor) im antiken Sinne geschildert wird (siehe ferner A. A. LUND [1993] passim und A. KLEINGÜNTHER [1933] pas­ sim). Die Echtheit der Lesart timuerit (SVL) hat als inhaltliche Voraussetzung, daß Hercules tatsächlich als Feigling dargestellt wird (vgl. 0. WEINREICH [1923] 62ff.). Trifft dies nicht zu, ist domuit eine schon längst geäußerte plausible Mutmaßung, die auf dem Gedanken basiert, daß Hercules im Kontext als aÄt#­ xaxoc; beschrieben wird (vgl. Lukian Alex. 4). =

=

=

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Kommentar

ut vidit novi generis faciem, insolitum incessum, vocem nullins terrestris animalis, sed qualis esse marinis beluis solet, raucam et implicatam, putavit sibi tertium deci­ mum Iaborern venisse) Um die Textstelle korrekt zu analysieren, zu interpretie­

ren und zu konstituieren, muß man sich vergegenwärtigen, daß die alten Römer - wie viele "primitive" Völker heute - die Lebewesen nach dem Element, in dem sie lebten, gliederten: animalia in tribus locis quod sunt, in aere in aqua in terra (Varro 1. 1. 5,76). Was Hercules vor sich sieht, ist demnach weder ein animal volucre, noch ein animal terrestre, noch ein animal aquatile, sondern ein 'Mischwesen', lateinisch hybrida, monstrum oder portenturn genannt; denn obwohl es ein animal terrestre ist, hat es die Stimme eines animal marinum. (Zum Begriff Mischwesen siehe P. MASON [ 199 1] 1-39). Es geht mit anderen Worten um eine unbekannte Art von Mischwesen, dessen einmalige Eigenart durch die Fortsetzung expliziert wird: insolitum incessum, vocem nullius terrestris animalis, sed qua/is esse marinis beluis solet. Die überlieferte Junktur novi generis faciem besagt lediglich, daß das Erscheinungsbild (statura) des Claudius andersartig sei (vgl. ThLL VI, 1 44,77ff.), sagt aber nichts darüber aus, daß er primo aspectu kei­ nem animal terrestre ähnlich sieht. Steht der Genetiv novi generis im Sinne von 'einer völlig neuen, unbekannten Art', liegt die folgende Konjektur auf der Hand: novi generis (s) peciem. Dabei wäre species = specimen zu verstehen, und der partitive Genetiv novi generis wäre Oberbegriff, speciem Unterbegriff, vgl. ThLL VI,2 1902,39ff. und A. A. LUND (1993) passim. Zum Begriff vox imp/icata vgl. c. 5,2 : perturbato sono et voce confusa. Unter marinae beluae verstanden die Alten verschiedene im Meer lebende, riesengroße Tiere, wie Walfische (ThLL II 1861 ,75ff.), d.h. monstra, die gelegentlich auch ceti/ceta heißen (vgl. ThLL III 976,45ff.). Unsere Stelle spielt auf die Vorstellung an, daß Hercules außer den 12 kanonischen Arbeiten auch eine 13. hat leisten müssen, vgl. Sen. Herc. f 13 16: eat ad Iabores hic quoque Herculeos Iabor, und ib. : 1282 : ingens opus, Iabore bis seno amplius. Eine 13. Tat wird ausdrücklich erwähnt in Lukian Fug. 23 . Es scheint sich um eine geläufige Redensart zu handeln (vgl. A. P. 16,92,13f. ; Clem. Alex. Protr. 2,24). Der gewöhnliche Ausdruck für die Arbeiten des Hercules ist acta (vgl. ThLL I 1407,76ff.), nicht Iabores. accessit itaque et, quod facillimum fuit Graeculo, ait) Graeculus, aus Graecus deri­ viert, kommt in den überlieferten Texten nicht besonders häufig vor und ist erst seit Varro und Cicero belegt (vgl. M. DUBUISSON [ 1 991] 3 1 5-335, bes. 323f.). Das Wort läßt gelegentlich negative Konnotationen mitschwingen (vgl. etwa Cic. Phi!. 13,33 und orat. 1 ,47; siehe ferner A. N. SHERWIN-WHITE e 1970] 62ff. und N. K. PETROCHEILOS [1 984] bes. 50-56), was auf die zwiespältige Haltung der Römer zur griechischen Kultur und zur griechischen Sprache zurückzufüh­ ren ist (vgl. M. DUBUISSON [ 1 98 1 a] 27-45, id. [ 1 98 1b] 274-286, id. [ 1 982] 2 1 -29, id. [1983] 35-47, id. [1 984] 55-68 und id. [1 985] 108- 1 15). Das griechische Zitat stammt aus "Homer" Od. 1, 170, enthält jedoch dem griechischen "Originaltext" gegenüber eine kleine Variante : 7tOt11 statt 1t6ih -cm (so auch Lukian /car. 23). Der Vers galt als "geflügeltes Wort", wie viele spätere Zitate beweisen.

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Kommentar

Claodios gaodet esse illic philologos homines: sperat fotorum aliqoem historiis sois locom) Die Stelle dient dazu, Kaiser Claudius' flir einen Römer auffälliges Inter­

esse an griechischer Sprache und Kultur, das dieser sich nicht scheute, öffentlich zu zeigen, negativ zu charakterisieren: nec minore cura Graeca studia secutus est amorem praestantiamque linguae occasione omni professus (Svet. Claud. c. 42, 1). Gleichzeitig wird darauf angespielt, daß Claudius gerne "Homer" zitierte : m ul­ tum vero pro tribunali etiam Homericis locutus est versibus. Zu Claudius' umfang­ reicher Schriftstellerei siehe Svet. Claud. cc. 41-42. Zu illic esse adesse vgl. ThLL VII, 1 372, 10ff. und c. 6, 1 . Die Junktur philologi homines auch Cic. ad A tt. 13, 12,3 . =

Das nachstehende Zitat (von Odysseus zu Alkinoos gesagt) aus "Homer" Od. 9,39 erinnerte das römische Publikum daran, daß sich die Julier flir Nachkommen des Aeneas aus Troja (Ilium) hielten. Vgl. Verg. A en. 1 ,267 und 1 ,288; siehe dazu W. SUER­ BAUM ( 1967) 176-204, bes. 180. Diese Tradition spielte auch flir Claudius, den Antiquar, eine wichtige Rolle : Iliensibus quasi Romanae gentis auctoribus tributa in perpetuum remisit (Svet. Claud. c. 25,3). Vgl. auch Tac. ann. 12,58, 1 : utque studiis honestis ( et) eloquentiae gloria enitesceret, causa lliensium suscepta Roma­ num Troia demissum et luliae stirpis auctorem A eneam aliaque haud proculfabulis ve ( te) ra jacunde exsecutus perpetrat, ut Ilienses omni publico munere solverentur. Die Kikonen, ein wildes thrakisches "Volk", waren die ersten Barbaren, die Odysseus besuchte, nachdem er Troja verlassen hatte. Der Erzähler läßt an die­ ser Stelle den Philhellenen Claudius sich mit dem echten Griechen Odysseus identifizieren, und zwar so, daß er dessen hellenischen Barbarenbegriff über­ nimmt, dem zufolge alle Nichthellenen - und somit auch die Römer - als Bar­ baren gelten (vgl. A. A. LUND [ 1990] bes. 3ff.). Für den historischen Claudius trifft dies nicht unbedingt zu. Er hielt das Griechische sowie das Lateinische flir die beiden Sprachen der Zivilisierten schlechthin (vgl. M. DUBUISSON [1981] 274-286) : cuidam barbaro Graece et Latine disserenti: " cum utroque", inquit [sc. Claudius], "sermone nostro sis paratus " (Svet. Claud. c. 42, 1). itaqoe et ipse Homerico verso Caesarem se esse significans ait)

KAPITEL 6 6,1. Et imposoerat Hercoli minime vafro, nisi foisset illic Febris, qoae fano soo relicto sola com illo venerat) i .q. et imposuisset re vera Hercu/i homini minime vajro,

nisi adfuisset Febris. (Bei derartigen Appositionen ist ein Bezugswort wie homo nicht obligatorisch, wie die Grammatiken lehren, vgl. Val. Max. 7,3, ext. 8: nisi ... Hannibalis vafri mores fuissent notissimi). Durch den Indikativ des Hauptsatzes, der in einem irrealen konditionalen Satzpaar keineswegs üblich ist (vgl. H. & H. B. ROSEN [ 1980] 1 5ff.) wird betont, daß die Handlung fast geschehen ist (vgl. die Beispiele bei Fr. KNOKE (1925) 17ff.). Hierzu paßt, daß et flir et projecto steht (vgl. ThLL V,2 892,77ff.). Zu imponere im Sinne von "hinters Licht führen"

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Kommentar

vgl. ThLL VII, 1 659,7 1 ff. IUNIUS emendierte minime vafro auf der Basis der ver­ derbten Überlieferung (minime fabro SV : minimo discrimine L), vgl. Cic. nat. deor. 1 ,85: de homine minime vafro male existimant. Fraglich bleibt, ob die Emen­ dation minime vafro ( stultissimo) unserer Stelle gerecht wird : Sie enthält für meine Begriffe eher eine nüchterne Feststellung als eine ironische, witzige Bemerkung. minime fungiert hier als Negation (vgl. ThLL X, l 584,52ff.). Die Konjektur von GERTZ ( 1 888) 845, nach der et imposuerat Herculi nimiofabro zu lesen ist, hat demnach einiges für sich. Zur Umschreibung illic esse für das übliche adesse vgl. c. 5,4. Die uralte römische Göttin Febris (i.e. Malaria) (vgl. RE XIV 844,32ff.) hatte u.a. ein Heiligtum auf dem Palatin (vgl. Cic. nat. deor. 3,63 und Plin. nat. 2,16)., wo auch Claudius eine Wohnung hatte. Ihr Auftreten an dieser Stelle erklärt sich vielleicht dadurch, daß Fieber als offizielle Todes­ ursache des Claudius angegeben worden war oder daß er lange an Malaria gelit­ ten hatte (vgl. unten: ego tibi dico, quae cum il/o tot annis vixi). =

sc. Febris. Sprachlich schließt das exklu­ sive ceteros in ceteros omnes deos wohl Claudius als Subjekt aus. ceteros omnes deos Romae reliquerat)

Dieselbe Redensart auch Plaut. Pseud. 943 : mera iam mendacia fundes; Mart. 2,56,3 : mera narrantur mendacia.

'iste' inquit 'mera mendacia narrat)

Der letzte Satz bezieht sich wahrschein­ lich auf die N achbarschaft von Claudius und Febris auf dem Palatin. Die Junktur annis vivere bei Sen. auch epist. 77,20; 85,23 ; 93,3 ; 93,4; 93, 1 1 . Zur Verwendung des Ablativs in Zeitangaben (volkstümlicher als der Akkusativ) siehe E. L Ö F­ STEDT [ 19 1 1 ] 5 1 fT., vgl. auch unten: multis annis regnavit. Zur unbestimmten Verwendung von tot vgl. etwa Tac. ann. 1, 12,3 : . . . quaeque in toga per tot annos egregie fecisset admonuit. Eine Abänderung von tot in totis scheint demnach überflüssig. ego tibi dico, quae cum illo tot annis vixi)

Luguduni natus est, Araricum municipem vides) In absichtlichem Mißverstehen von Claudius' Herkunftsangabe nennt Febris den Geburtsort des Kaisers. (Clau­ dius wurde aller Wahrscheinlichkeit nach am 1 . August 10 v.Chr. in Lyon gebo­ ren (vgl. Svet. C/aud. c. 2,1 und siehe C. J. SIMPSON [1987] 586-592), als sein Vater Drusus an der germanischen Grenze eingesetzt war). Die Handschriften SVL bieten marci municipem vides, das den meisten Herausgebern unerklärlich vorkommt (RONCALI [ 1990] behält es jedoch im Text) ; es ist deshalb in Marci, Munati und Planci geändert worden. Ein Personenname dürfte, ungeachtet seines möglichen Bezugs zur Provincia Lugdunensis, an dieser Stelle falsch sein, weil es im Kontext um die Angabe des Geburtsortes des Claudius geht. Man müßte dementsprechend die Erwähnung eines spezifischen Ortsnamens vom Typ : (Cic. Rose. 6) Sex. Roscius, pater huiusce, municeps Amerinus fuit erwarten. Dies zeigt sowohl der unmittelbare Kontext vor und nach unserer Stelle : Lugu-

Kommentar

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duni natus ... ad sexturn decimum lapidem natus est a Vienna, Gallus germanus, als auch der mittelbare : (c. 7,2) vidi duobus imm inens f/uviis iugum, I quod Phoebus ortu semper obverso videt, I ubi Rhodanus ingens amne praerapido f/uit I A rarque, dubitans quo suos cursus agat, I tacitus quietis adluit ripas vadis. I estne illa tellus spiritus altrix tui ? Gemeint ist das Ge]?iet zwischen den beiden Flüssen Rhöne und Saöne (d.h. A rar) . Das Adjektiv A raricus ist inschriftlich mehrmals belegt, vgl. ThLL II 397,22ff. und Tac. ann. 15,50, 1 : Vulcacium A raricum. Siehe ferner A. A. LUND (1991) 24lff. quod tibi narro, ad sextum decimum lapidem natus est a Vienna, Gallus germanus)

Zwischen den Einwohnern von Vienna und denen von Lug(u)dunum herrschten starke Spannungen : (Tac. hist. 1 ,65,1) Veterem inter Lugdunenses ( et Viennenses) discordiam proximum bel/um accenderat. Vienna, die Hauptstadt der Allohroger (vgl. etwa Cic. adfam. 10,9,3 ; Mela 2,75 ; Plin. nat. 2,(120) 121 und id. 3,36), lag innerhalb der 27 v. Chr. errichteten Provinz Gallia Narbonensis, Lug(u)dunum außerhalb. Claudius ist demnach ein "echter" (wir würden aus einer anderen Perspektive jedoch eher sagen "waschechter"), d.h. ein unzivilisierter Gallier (vgl. R. SYME [ 1 958] I, 460f.). Der Witz, die Zweideutigkeit der homophonen Wörter Gallus und gallus, erinnert an Cic. Phi!. 1 1 ,14: germanum Cimber occidit, und an den Versuch von Strabon (geogr. 7,1,2 p. 290 C), den Namen der Ger­ manen als römisch zu erklären: "Darum auch haben meiner Meinung nach die Römer ihnen diesen Namen beigelegt, um sie als echte Galater zu bezeichnen; denn Germani heißt in der Sprache der Römer 'die Echten '. " Die Gallier unter Brennus hatten 387 oder 390 v. Chr. Rom erobert und zerstört. Der Autor spielt mit ande­ ren Worten auf den metus Gallicus der Römer an. Der Witz war schon c. 5,4 und c. 5,5 vorbereitet. cepit ist zweideutig: Es steht zugleich für 'einnahm' und 'über­ nahm' (vgl. ThLL III 326,7 und ib. 328, 19).

itaque quod Gallum facere oportebat, Romam cepit)

Febris insistiert nochmals auf der gallischen Herkunft des Claudius. Zur Verbindung tibi recipio + A cl für "ich garantiere, versichere dir, daß ... ", die der Umgangs­ sprache angehört, vgl. OLD, 1582, lOb. Die Junktur annis regnare kommt vor Seneca nur noch an den folgenden Stellen vor: Liv. 6,40,7 ; id. 45,9,5 ; Vell. 1 , 1 ,3 ; vgl. auch Vell. 1 , 1 ,4. BÜCHELER konjizierte Licinus auf der Basis des hand­ schriftlichen Befundes: SVL bieten licinius. Die Konjektur ist paläographisch befriedigend (vgl. Sen. epist. 1 19,9 und id. 120, 19, wo der Überlieferungsfehler vorkommt), überzeugt jedoch nicht völlig im Kontext: Licinus, ein Gallier von Geburt und Freigelassener Caesars, "regierte" nur kurz ( 16-1 5 v.Chr.) als Procu­ rator der gesamten Provinz Gallia Lugudunensis, wobei er sich maßlos berei­ cherte (vgl. J. F. DRINKWATER [ 1983] S. 25) und zwar so, daß sein Reichtum zu Senecas Zeiten sprichwörtlich war, vgl. A. OTTO e t 965) Nr. 950. hone e g o tibi recipio Luguduni natum, ubi Licinus multis annis regnavit)

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Kommentar

tu autem, qui plura loca calcasti quam ullus +mulio perpetuarius+ Lugudunensis, scire debes multa milia inter Xanthom et Rhodanum interesse) Febris wendet sich

jetzt persönlich an Hercules. Von seinen weiten Reisen war schon c. 5,3 die Rede. Man vergleiche auch Sen. Herc. f. 535 : (Hercules) calcavitfreti terga rigentia et ... mare; Mela 2,36: novissime ca/catum Graio Hercu/i so/um, saltus Oetaeus. Die Textstelle ist verderbt und die übliche Herstellung methodisch nicht einwand­ frei (siehe A. A. LUND [1992] 2f.) : tu autem, qui p/ura /oca ca/casti quam ullus mulio perpetuarius, [Lugudunenses} scire debes multa milia inter Xanthum et Rho­ danum interesse. Es ist prinzipiell falsch, ein sprachliches Element (hier: Lugu­ dunenses) aus dem handschriftlichen Befund auszuklammern, um dadurch ein anderes, zumal unverständliches (hier: perpetuarius, das nur an dieser Stelle in der Literatur belegt ist) doch retten zu können (zu perpetuarii siehe RE XIX 902,60ff.). Da es im unmittelbaren Kontext um Claudius und dessen Herkunfts­ ort (sc. Lugudunum) geht, liegt die Annahme auf der Hand, daß das überlieferte Lugudunenses irgendwie darauf anspielt. Dieser Bezug läßt sich durch die Ände­ rung Lugudunensis herstellen (vgl. M. C. GERTZ [1 888] 845). Die Stelle enthält ja einen Vergleich zwischen Hercules und einer anderen Person bzw. einem anderen Lebewesen aus Lugudunum (vgl. tu autem, qui plura loca calcasti quam ullus +mulio perpetuarius+ Lugudunensis). Da der Archetyp in scriptura continua geschrieben war, könnte mulio perpetuarius durch eine Verlesung aus mu/us operarius ('Arbeitsmaultier') oder aber aus mulio operarius entstanden sein (zu operarius vgl. ThLL IX,2 669,57ff. und ib. 67 1,43ff.). Die originale Schreibweise des Autors läßt sich kaum mehr eindeutig korrekt herstellen. Mit multa milia inter Xanthum et Rhodanum wird wiederum auf den falschen und wahren Geburtsort des Claudius angespielt: Er behauptete ja selbst, aus Ilium am Fluß Xanthus (i.e. Skamander) zu stammen, war aber in Lugudunum am Rhodanus geboren (vgl. auch c. 5,4). Zu excan­ descere 'außer sich vor Wut sein' vgl. ThLL V,2 1200,72ff. murmure irascitur steht, wie aus dem Kontext hervorgeht, für per iram dixit. Am nächsten vergleichbar Sen. clem. 1 ,9,5 : maiore multo voce sibi quam Cinnae irascebatur; 'quid vivis etc. (vgl. ThLL VII,2 373,74ff.). Claudius neigte zu Zornausbrüchen (ira) wegen seiner angeborenen Aggressivität (iracundia), vgl. Svet. C/aud. c. 38,1 : irae atque iracun­ diae conscius sibi; ib. c. 40,3 : cum excanduisset; Tac. ann. 1 1 ,26,2 : irae properus. 6,2. excandescit hoc loco Claudius et quanto potest murmure irascitur)

ille autem Febrim duci iubebat illo gestu solutae manus et ad hoc unum satis firmae, quo decollare homines solebat: iusserat illi collum praecidi) Claudius wollte (iube­

bat) Febris zur Hinrichtung abführen lassen. Zu ducere (sc. ad supplicium) abso­ lut in dieser Bedeutung vgl. c. 13,4 (siehe ferner ThLL V, 1 2 140,46ff.). Daß die Hand des Claudius zitterte, bezeugt auch Cass. Dio 60,2, 1 . Vgl . auch c. 1 2,3 Vers 9: certaque manu (ironisch). decollare ist volkssprachlich für securi caedere. Zur Junktur collum praecidere vgl. Sen. dial. 3, 16,5 : cervicem noxio imperabo praecidi und ThLL X,2 43 1 ,53ff.

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Kommentar

Es war notorisch, daß der historische Claudius von den Freigelassenen, mit denen er sich umgab, igno­ riert wurde (vgl. Svet. Claud. c. 25,5 ; c. 29, 1 und Cass. Dio 60,8,4 und 6).

putares omnes illius esse libertos, adeo illum nemo curabat)

KAPITEL 7 7 , 1 . Tom H ercules 'audi me' inquit 'tu desine fatuari. venisti huc, ubi mures ferrum rodunt. citius mihi vemm, ne tibi alogias excutiam.') Hercules wendet sich an

Claudius in betont legerem Stil : Die Formel audi me gehört der Umgangs­ sprache an und dient dazu, die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu gewinnen (vgl. ThLL II 1270,68ff.). Der Imperativ desine (bzw. desinite) + Infinitiv ist gleich einem negierten Imperativ (vgl. ThLL V, 1 726,46ff.). Zur Betonung des Impera­ tivs durch das persönliche Pronomen in der Umgangssprache vgl. J. B. HOF­ MANN [1951] 100) . fatuari (i.e . fatui more se gerere) kommt an dieser Stelle zum ersten Mal vor. Die Redensart ubi mures ferrum rodunt ist im Kontext nicht leicht erklärbar (vgl. Th. HOPFNER [ 1 925] 1 16- 120, A. SIZOO [ 1 929] 2 19-220, W. H. ALEXANDER [ 1 935] 350-352, D. KUIJPER [ 1 965] 64-7 1 , J.-Th. PAPADIMI­ TRIOU [1970] 94- 1 05 und M. MARCOVICH [1977] 85-89), es sei denn, der Umstand, daß das Tierchen Eisen (d.h. Metall) frißt, soll Claudius einschüch­ tern, weil dies ein schlechtes Omen ist (vgl. Plin. nat. 8,222: . . . mures haud sper­ nendum in ostentis etiam publicis animal. adrosis Lanuvi clipeis argenteis Marsi­ cum portendere bel/um . . . Theophrastus auctor est, in Gyara insula, cum incolas fugaverint, ferrum quoque rosisse eos; vgl. auch Liv. 27,23,2 : mures in aede lovis aurum rosisse; siehe ferner ThLL VIII 1 690,7ff.). Zu citius cito vgl. ThLL III 12 1 1,70ff. citius mihi verum steht elliptisch (ergänze die). a/ogiae ist zum ersten Mal hier belegt. Die Stelle Petron. 58,7 ist unsicher überliefert. Mit ne tibi a/ogias excutiam am nächsten vergleichbar ist wohl Cic. Sulla 24: excutient tibi istam verborum iactationem. =

et, quo terribilior esset, tragicus fi t e t ait) Der komische Hercules wechselt jetzt den Charakter: Er wird tragisch (vgl. 0. WEINREICH [1923] 76f.) und befragt Claudius in jambischen Senaren drohend nochmals nach seiner Herkunft. 7,2 v. 1 . 'exprome propere sede qua genitus cluas, I hoc ne peremptus stipite ad terram accidas) Anfang und Ende der metrischen Einlage sind stark rhetorisch

aufgeputzt. Zum gehobenen, ausgesprochen poetischen Vokabular gehören exprome, propere, cluas, profatu, eduxit caput, edissere, altrix. Zu expromere vgl. ThLL V,2 1 804,69ff. Zu propere vgl. Herc. f 1 242 und Tro. 8 1 3 . Zu cluas dicaris vgl. A. SZANTYR [ 1965] 365. Zu cluere, das nur hier bei Seneca belegt ist, vgl. ThLL III 1361,7ff. =

Die Junktur rexjerus ( barbarus) bei Seneca auch Herc. f 5 1 8 . mactavit steht für inteifecit (vgl. ThLL VIII 22,56ff.).

7,2 v. 3. haec clava reges saepe mactavit feros)

=

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Kommentar

profatu begegnet - nur in dieser Form - in der Kaiserzeit (vgl. Stat. silv. 5,3,103 und Gell. 1 8, 1 1 ,2). Zur unartiku­ lierten Aussprache (profatu incerto) des Claudius vgl. c. 5,3 . 7,2. v. 4. quid nunc profatu vocis incerto sonas?)

Obwohl die Handschriften SL nobile und V mobile bieten, lesen die Herausgeber, die sonst gerne mechanisch verfahren, hier mobile, nicht nobile. Methodisch geht man offensichtlich davon aus, daß die Lesart mobile ... caput die lectio difficilior eoque per se verior ist. Die Junktur mobile caput hat freilich im weiteren Kontext einiges für sich, vgl. c. 5,2 : assidue enim caput movere. I m engeren Kontext geht e s aber an unserer Stelle um die wohlbekannte Frage, woher und von wem eine Person abstammt (vgl. c. 5,4). Aus dieser Sicht ist die Textgestalt: quae patria, quae gens nobile eduxit caput? sinnvoller, weil dadurch die Frage nach der edlen Geburt zum Ausdruck kommt. Es geht mit anderen Worten um eine Enallage adiectivi (sc. gens nobi/is, vgl. ThLL VI,2 1 852,65f.). Abgesehen davon ist die Junktur nobile caput belegt Lucan. 7,7 12f. : vidit prima tuae testis Larisa ruinae I nobile nec victum fatis caput. Dem sei hinzugefügt, daß eduxit für educavit steht (vgl. ThLL V,2 122,75ff. und ib. 1 19,80ff.). 7,2 v. 5. quae patria, quae gens nobile eduxit caput?)

7,2. v . 6. edissere. equidem regna tergemini petens I Ionginqua regis, unde ab Hesperio mari I Inachiam ad urbem mobile advexi pecus) Bei Seneca findet sich

das feierliche edissere noch Oed. 787 und Ag. 966. Hercules führte als seine 10. Arbeit die Rinder des dreileibigen Monsters Geryon von der Insel Eryka nach Argos bzw. Mykene, vgl. Sen. Ag. 840f. : duxitque ad ortus Hesperium pecus, Geryo­ nae spolium triformis; Herc. f 23 1ff. ; vgl. auch Lucr. 5,28 : quidve tripectora ter­ gemini vis Geryonai?; Verg. A en. 8,20 1 : nam maximus ultor I tergemini nece Geryo­ nae spo/iisque superbus Alcides aderat taurosque hac victor agebat ... (Inachia heißt die urbs wegen der Gründung durch den Flußgott und ersten König lnachos. Vgl. Verg. A en. 7,792 und 7,206 ; die Junktur Inachia urbs noch ib. 1 1 ,286). Die Verbin­ dung Hesperium mare bei Seneca noch Herc. f 1 1 40. Die Lesart mobile (V) ist der Variante nobile (SL) vorzuziehen, weil es um den Raub beweglichen Guts geht, vgl. ThLL X, 1 947,28ff. und ib. VIII 1 1 99,5ff. 7,2 v. 9. vidi duobus imminens fluviis iugum, I quod Phoebus ortu semper obverso videt) Die Stelle enthält eine Umschreibung der geographischen Lage der Stadt

Lug(u)dunum, die auf einem Hügel über dem Zusammenfluß von Rhöne und Saöne lag. (Eine Stelle bei Seneca [epist. 9 1 , 1 0] verrät Ortskenntnis : civitas ... uni tarnen inposita et huic non latissimo monti). quod Phoebus ortu semper obverso videt besagt, daß die Ostseite des Hügels der aufgehenden Sonne zugewandt ist. 7,2 v. 10. ubi Rhodanus ingens amne praerapido fluit I Ararque dubitans quo suos cursus agat, I tacitus quietis adluit ripas vadis) Der langsame Lauf des Arar galt in

der Antike als ein Wunder der Natur: (Caes. Gall. 1,12,1) (A rar) in Rhodanum influit, incredibili lenitate, ita ut oculis in utram partem jluat iudicari non possit. Siehe ferner ThLL II 397,10ff.

Kommentar

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Zur poetischen Junktur vgl. Pacuv. trag. 404: Calydonia a/trix exuperantum virum; Sen. Phaedr. 25 1 und 358. Zu altrix terra u.ä. vgl. ThLL I 1 770,81ff.

7.2 v. 15. estne illa tellos spiritus altrix tui?)

7,3 . haec satis animose et fortiter, nihilo minus mentis suae non est et timet IJ.Wpoü

Das synonyme Wortpaar animose et fortiter bei Sen. noch dia/. 1 ,4,5 ; 7,24,4; epist. 67,4. Man beachte die Ellipse von dixit oder locutus est. Zu mentis suae non est impotens mentis est vgl. ThLL VIII 7 1 8,20ff. IJ.Wpoü 1tATJYTJV steht statt des traditionellen ih:oü nA.T]yf]v, was einen unerwarteten Schicksalsschlag bedeutet, vgl. Lexikon DEMETRAKOU 1 1, 5876. Siehe auch c. 8,3 .

nA.T]yf]v)

=

Claudius u t vidit vimm valentem, oblitus nugamm intellexit neminem sibi Romae parem fuisse, illic non habere se idem gratiae) Als Claudius den starken Mann sah,

vergingen ihm die Possen (zur volkstümlichen Ausdrucksweise oblitus nugarum vgl. Petron. 7 1 ,4 und 136,5 und ThLL IX,2 1 12,48ff.). Die Junktur vir valens schon Cic. Cati/. 2,4: viros . . . valentes, hier wohl der Alliteration wegen statt der übli­ chen Verbindung homo valens. Zur Verwendung des partitiven Genetivs (sc. gratiae) nach idem vgl. ThLL VII,1 1 86,12ff. Zur Junktur (habere) idem gratiae im Sinne von (habere) eandem auctoritatem vgl. ThLL VI,2 22 1 1, 1 0ff. Zum syn­ onymen Ausdruck p/urimum posse vgl. ThLL X,2 148,56ff. Das Sprichwort ('Der Hahn ist König auf seinem Miste', vgl. ferner A. OTTO f 1965] Nr. 752) spielt hier mit den ver­ schiedenen Deutungen der Homonyme ga/lus (gallinaceus) und Ga/Jus, wobei an Claudius den Gallier gedacht ist. Vergleiche dazu Quint. inst. 7,9,2 : singula adfe­ runt errorem, cum p/uribus rebus aut hominibus eadem appe/latio est (oJ.lOVVJ.lia dicitur), ut gallus avem an gentem an nomen anfortunam corporis significet, incer­ tum est. Die Schreibweise sterquilinium ersetzt anscheinend stercilinium seit Phaedr. 3,12, 1 . gallum in suo sterquilinio plurimum posse)

Die unverständliche Sprache des Claudius wird wiederum verspottet, vgl. c. 5,2.

7,4. itaque, quantum intelligi potuit, haec visus est dicere)

Die Anredeform Hereule (vgl. die Interjektion hercle) statt Hercules wie Varr. 1. /. 8, 16 nach griechischem Muster.

fortissime deomm Hercule)

notor ("Identitätszeuge"), das hier zum ersten Mal belegt ist, ist eine Neubildung ftir cognitor der Klassiker. Die übrigen Belegstellen sind Sen. epist. 39, 1 ; Petron. 92, 1 1 ; Flor. epit. 3,16, 1 ; Peregr. A eth. 12 und 16,3 .

et, si quis a me notorem petisset, te fui nominatums, qui me optime nosti)

nam, si memoria repetis, ego eram qui +tibi+ ante templum tuum ins dicebam totis diebus mense lulio et Augusto) Zur Verbindung memoria repeto vgl . OLD, 1096

und bes. ib. 1619. totis diebus steht ftir omnibus diebus bzw. in singulos dies, siehe

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Kommentar

A. SZANTYR (1965) 203 (vgl. c. 6,1). Zur Ausdrucksweise mense lulio et A ugusto vgl. ThLL VIII 752,5 1ff. Im Juli waren normalerweise Gerichtsferien, vgl. Plin. epist. 8,2 1 ,2 : Iulio mense, qua maxime lites interquiescunt, und im August gab es zahlreiche Feiertage und dies nefasti. Dies hielt jedoch den historischen Clau­ dius nicht davon ab, Gerichtsverhandlungen abzuhalten : (Svet. Claud. c. 14,2) ius et consul et extra honorem laboriosissime dixit, etiam suis suorumque diebus sollemnibus, nonnunquam festis quoque antiquitus et religiosis. Vgl. c. 12,3 v. 23 : quis nunc iudex foto lites I audiet anno ? Der "Satzsplitter" ego eram qui . . . ius dice­ bam für ego . . . ius dicebam wird wohl volkstümlich sein. Im überlieferten tibi ante templum tuum ius dicebam ist tibi (oder aber tuum falsch). Das einhellig über­ lieferte tibi wollte Bücheler - vielleicht zu Recht - in Tiburi in lokativer Funktion ändern. Er bezog sich dabei auf Svet. A ug. c. 72,2, eine Stelle, die für Claudius vielleicht belanglos ist: praecipue frequentavit [sc. A ugustus] . . . proxima urbi oppida, Lanuvium, Praeneste, Tibur, ubi etiam in porticibus Hercutis templi per­ saepe ius dixit. Man hätte jedoch auch einen Vokativ nach tibi erwarten können. (Zur syntaktischen Funktion des Vokativs siehe G. SERBAT [ 1987] 7-13 und R. 0. FINK [ 1 972] 61-68). 7,5. tu scis quantum illic misedarum ego pertulerim, cum causidicos audirem diem et noctem) Das überlieferte contulerim (SVL) habe ich in pertulerim ( s) geändert,

vgl. Sen. Thy. 307: leve est miserias ferre, perjerre est grave. Im Kontext wird die Berichtigung weiter unten durch das Synonym exhausi bestätigt (vgl. ThLL V,2 14 1 1 ,38ff.). Die Konjektur von J. A. RICHMOND (vgl. P. T. EDEN [ 1984] 97), nach der contulerim in cum tulerim aufzulösen ist, ist demnach nicht stark genug, um das zu leisten, was Claudius nach seinem Dafürhalten bei den Gerichtshand­ lungen an 'Elend' und 'Leiden' durchzustehen hat. Für die Verbindung miserias conferre im Sinne von miserias ferre bzw. perferre, wie es der Kontext erfordert, gibt es keine Belegstellen. illic bezieht sich eher auf ante templum tuum als auf cum . . . audirem, steht also lokativisch. causidicus ist ein abschätziger Ausdruck, vgl. c. 12,2, Cic. de or. 1 ,202 und Tac. dial. 1 , 1 . i n quos s i incidisses, valde fortis Iicet tibi videaris, maluisses cloacas Augeae purgare : multo plus ego stercoris exhausi) Die sprichwörtliche Redensart (sc.

cloacas Augeae purgare), die sich auf die siebte Arbeit des Hercules bezieht, d.h. die Reinigung der Ställe der 3000 Rinder des Königs Augeas (vgl. Hyg. fab. 30 und Serv. ad Verg. A en. 8,299), bezeichnet eine Dreck- oder Riesenarbeit, die ertragen werden muß (vgl. gr. avavüw 7tÖvou nenia cantabatur anapaestis) Für einen bilin­ gualen Sprecher, wie es die gebildeten Römer mehr oder weniger waren (vgl. M. DUBUISSON [1981a] 27-45), enthält die Verbindung der Synonyme ingenti ... IJ.EyiiA. eine Tautologie, die unerträglich bzw. nicht erklärbar ist, weil enim dazwischen steht. Daher folgere ich, daß nach ingenti enim ein Wort im Ablativ, das den Begriff Laut/Stimme bezeichnet, ausgefallen ist, wie etwa voce, wodurch die Verbalhandlung cantabatur charakterisiert wird. Vgl. zum sachlichen Inhalt Lucr. 6,1284: namque suos sanguineos aliena rogorum I insuper extructa ingenti clamore locabant. . . ; vgl. zur grammatischen Konstruktionfrg. Non. p. 77 : pueri ... cantarent carmina antiqua ... assa voce... Siehe auch ThLL III 265,3ff. Für Junk­ turen wie ingens ( magnus) clamor, sonitus, vox etc. gibt es mehrere Belege, siehe ThLL VII, 1 1539,74ff. Die Lesart ingenti . . . voce würde eine weitere Anspie­ lung auf die Schwerhörigkeit des Claudius enthalten, vgl. c. 1 2, 1 : ... tantus con­ centus, ut etiam Claudius audire passet. Zu nenia vgl. Cic. leg. 2,62 : eas (sc. Iaudes) etiam cantus ad tibicinem prosequa­ tur, cui nomen neniae, qua vocabulo etiam apud Graecos cantus lugubres nominan­ tur; (Paul. Fest. p. 163) nenia est carmen, quod in funere laudandi gratia cantatur ad tibiam. Ein Beispiel dafür liefert Svet. A ug. 100,4 : . .. canentibus neniam prin­ cipum liberis utriusque sexus. Ob auch bei dem Begräbnis des Claudius ein Toten­ lied (nenia = carmen funebre) gesungen wurde, ist unbekannt, vgl. W. KIER­ DORF ( 1980) 96fT. ; siehe ferner G. WILLE (1967) 65fT. Einige Herausgeber klammern anapaestis aus, andere behalten es im Text.

ingenti enim

=

12,3, v. 1. 'fundite ßetus, edite planctus)

Die Verbindung funditefletus auch Sen.

Tro. 13 1 . 12. 3 , v. 3 . cecidit pulehre cordatus homo) cecidit wird gern von dem i m Kampf Gefallenen gesagt, vgl. ThLL III 23,9ff. cordatus ( prudens, sapiens, vgl. IV 949,40ff.) steht im Gegensatz zu c. 8 , 1 , wo es von Claudius heißt: nec cor . . . habet. =

12,3. v. 4. quo non alius fuit in toto I fortior orbe)

Claudius wird hier - ironisch der tapferste Mann in der ganzen Oikumene genannt, was weiter unten an seinen Kämpfen im Westen gegen Brigantier und Britannier, im Osten gegen Parther und Perser dargestellt wird. Ähnlich werden Westen und Osten einander gegen­ überstellt bei Prop. 2,27,5 : seu pedibus Parthos sequimur seu classe Britannos. . . Zum Begriff orbis vgl. J. VOGT ( 1 929).

111

Kommentar

1 2,3, v. 6. ille citato vincere cursu I poterat celeris, I ille rebelies rundere Parthos)

celeris bezieht sich auf Parthos. Gedacht wird dabei an die schnelle und beweg­ liche Reiterei der Parther. Die Schreibweise Celeres muß abgelehnt werden, weil sich dies auf die römische Reiterei beziehen (vgl. ThLL III 750,50ff.) und an unserer Stelle gewissermaßen einen allgemeinen Oberbegriffbilden würde. Hier geht es dagegen um eine ethnische Großgruppe (Parthi gelegentlich auch Persis genannt, vgl. Plin. nat. 6,4 1 : Persarum regna, quae nunc Parthorum intelligimus, und ib. 6, 1 1 1 : ipsa Persis . . . in Parthorum iam pridem tralata nomen), deren Mobi­ lität und Schnelligkeit charakterisiert und stereotypisiert werden: Galt dies bei den Römern doch als ein Zeichen der Feigheit (vgl. Tac. Germ. c. 30,3 : eque­ strium sane virium id proprium, cito parare victoriam, cito cedere: velocitas iuxta formidinem, cunctatio propior constantiae est). Ich vermute aus dem Kontext, daß das einhellig überlieferte rebelies in imbelles zu ändern ist. Es geht hier um das nach römischem Dafürhalten feige Benehmen der Reiterei der Parther (s.o.). Die Stelle enthält eine - für heutige Begriffe - sehr bösartige Anspielung auf Claudius' wegen seiner labilen Kniegelenke (vgl. Svet. Claud. 30) fehlende Agili­ tät (vgl. c. 1 ,2 etc.). Er ist tardipes. Zur Junktur citatus cursus vgl. ThLL II 1201 ,75ff. Das Adjektiv rebellis ist seit Verg. A en. 6,858 belegt. Die Verbindung rebelies Parthi nur an dieser Stelle. 12,3, v. S. levibusque sequi I Persida telis) Auf der analytischen Ebene besagt

levi­ bus ... telis lediglich, daß Claudius mit seiner leichten Angriffswaffe nur wenig Schaden anrichtet, vgl. unten vulnere parvo. Da sich dies aber auf der interpreta­ torischen Stufe als eine erotische bzw. obszöne Bemerkung liest, ist klar, daß auch die arma levia des Claudius so zu verstehen sind: Sie taugen wegen ihrer Kleinheit im Grunde nicht viel, vgl. Liv. 28,33,5 : missis levibus telis quae inritare magis quam decernere pugnam poterant (diese Stelle ist konkret zu verstehen). Persis ftir Persae bei Seneca nur an dieser Stelle. 12,3. v. 9. certaque manu tendere nervum, I qui praecipites vulnere parvo I tigeret hostes) Die Stelle ist gezielt zweideutig. Anscheinend handelt sie nur von der

Verfolgung und Tötung von Feinden, die rasch fliehen (praecipites fugientes tergum dantes), gleichzeitig sind die Begriffe alle als sexuelle Metaphern zu ver­ stehen. So ist certaque manu tendere nervum konkret als das Spannen des Bogens durch den Bogenschützen zu deuten (vgl. Ov. amor. 3 , 1 0,26: figentem certa terga ferina manu, und ThLL 111 924, 1 8ff.), im übertragenen Sinne steht nervum tendere ftir sexuelle Potenz, Erektion, vgl. Priap. 68,33 : nemo meo melius nervum tendebat Ulixe (vgl. J. N. ADAMS [ 1 982] 2 1 , 25, 38). Vgl. noch Hor. epod. 8 , 1 7 ; Priap. 8 1,2 : huc ades et nervis, tente Priape, fave; ib. 83,40. Die Junktur nervos tendere im kon­ kreten Sinn auch Lucan 6,755. certaque manu tendere nervum spielt demnach wahrscheinlich auf Masturbation an (zu manus siehe J. N. ADAMS [ 1982] 209). Vgl. Petron. 13 1 : ... admotisque manibus temptare coepit inguinum vires. dicto citius nervi paruerunt imperio manusque aniculae ingenti motu repleverunt. Zu nervi in der konkreten Bedeutung penis vgl. Ov. amor. 3,7,3 5 ; certa manus bildet dem=

=

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nach einen Gegensatz zu Claudius' sonst unsicheren und unkontrollierten Handbewegungen (vgl. c. 6,2 : solutae manus). Auch vulnere parvo figeret hostes steht für heutige Begriffe sensu obsceno da, wie die folgende Parallele bezeugt: L. Habonius sauciat irrumat Caesum Felic(e)m (vgl. J. N. ADAMS [ 1 982] 138 und 1 52). Zur Metonymie von vulnus vgl. Verg. A en. 4, 1 : at regina gravi iam dudum saucia cura vulnus a/it... Zufigere in metaphorischer Verwendung vgl. ThLL VI, 1 7 1 5 ,55ff. Die Stelle spielt darauf an, daß die Völker des Orients wegen des üppi­ gen Lebens und des ausgeglichenen Klimas generell als feige (imbelles) galten, vgl. I. BORZSAK (1971) 4 1 -55. 12,3. v. 1 2 . pictaque Medi terga fugacis) Die Bedeutung von picta ... terga läßt sich nicht eindeutig festlegen : Entweder steht picta terga für 'gefärbte Rücken' oder aber für 'tätowierte Rücken' : pingere bezieht sich entweder auf Körperbemalung oder auf Tätowierung (vgl. R. ZIMMERMANNIK. ZIMMERMANN [1981] 324330 und F. B. PYATT et alii [1991] 61-73, bes. 66ff. (Aber aufgar keinen Fall steht picta nach Ausweis des Thesauruszettelmaterials für bunte bzw. gefärbte Klei­ der, wie einige Kommentatoren meinen. Dies verbietet auch schon der Jägeraus­ druck tigeret ... terga, vgl. Ov. amor. 3 , 1 0,26. Siehe vor allem die metonymische Verwendung von tergum 'Haut' [der Frucht] Colum. 10, v. 1 8 : . . picto quoque Lydia tergo). Bei des, das Bemalen und vor allem die Tätowierung des Körpers, galt bei den antiken Römern und Hellenen als typisch barbarisch. Das Adjektiv fugax scheint nicht eindeutig zu sein. Zum einen kann es eine vorgetäuschte Flucht bezeichnen (vgl. ThLL VI, 1 1473 ,49ff.), zum anderen kann es, wie es wohl hier der Fall ist, für homo imbe/lis ('Schlappschwanz') stehen (vgl . ThLL ib. 36ff.), wie oben praecipites eine Umschreibung für tergum dare a/icui ist. Medi ... fugacis bezeichnet die Schnelligkeit der Meder (vgl. ThLL VI, 1 1474,6 1ff.). .

1 2,3, v. 13. ille Britannos ultra noti I litora ponti I et caeruleos scuta Brigantas I dare Romuleis colla catenis I iussit) Zur Vorstellung von den Britanniern als Rand­

völkern, die außerhalb des Erdkreises leben, vgl. etwa Catull. 1 1 , 1 0 : . . . Caesaris visens monimenta magni, I Gal/icum Rhenum horribi/e aequor ulti- I mosque Britannos ... ; Verg. ecl. 1,66 : ... et penitus toto divisos orbe Britannos; Hor. carm. 1 ,35,29 : . . . Caesarem in ultimos I orbis Britannos . ; Flor. epit. 3, 10,2 : . . toto orbe divisi ... Britanni. IUNIUS schlug vor, das einmütig überlieferte caeruleos scuta Brigantas in caeruleos cute Brigantas zu ändern, was tatsächlich einiges für sich hat, vgl. Mart. 1 1 ,53 , 1 : C/audia caeru/eis ... Rufina Britannis edita; siehe auch ThLL III 1 05,58ff. In beiden Fällen bezieht sich caeruleos jedoch nicht auf die Hautfarbe, steht demnach etwa für pictos. Während der ethnische Oberbegriff Britanni seit Catulls Zeit bekannt ist (s.o.), kommt der Name Brigantes zuerst hier vor, vgl. ferner Iuv. 5, 14, 196; Tac. Agr. 17,1 und 3 1 ,4 ; ann. 12,32, 1 ; ib. 12,36, 1 ; ib. 12,40,2 ; hist. 3,45, 1 . Die persön­ liche Teilnahme des Claudius an der Invasion Britanniens war eher beschränkt, blieb er doch nur insgesamt 16 Tage in Britannien und eroberte, wie Sueton iro­ nisch bemerkt, einen Teil des Landes, ohne Blut zu vergießen und bekam dafür . .

.

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als erster Kaiser seit langer Zeit einen Triumph zugesprochen: . . sine ullo proelio aut sanguine intra paucissimos dies parte insulae in deditionem recepta, sexto quam profectus erat mense Romam rediit triumphavitque maximo apparatu. Bei Tac. Agr. c. 1 3,3 heißt es so : divus Claudius auctor totius [codd. auctoritate} operis, transvec­ tis legionibus auxiliisque et adsumpto in partem rerum Vespasiano, quod initium venturae moxfortunaefuit: domitae gentes, capti reges et monstratusfatis Vespasia­ nus. Siehe weiter S. FRERE e 1 987) 48ff., P. SALWAY e 1984) und A. MOMI­ GLIANO ( 1 934) 54ff. .

12,3, v. 1 6 . dare Romuleis colla catenis) Romuleis ... catenis steht für das übliche Romanis vinculis. Das poetische Adjektiv Romuleus ist belegt seit Ov. met. 14,845 (siehe jedoch Liv. 10,17,6; ib. 10,17,7; ib. 10,17, 1 1). Zu dare colla catenis vgl. ThLL III 1 660,6 1ff., vgl. auch c. 1 1,6: obtorto collo. 12,3, v. 17 iussit et ipsum nova Romanae I iura securis tremere Oceanum) Sueton ( Claud. 17,3) schreibt über den britannischen Triumph des Claudius: inter hosti­ lia spolia navalem coronamfastigio Palatinae domus . . .fixit, traiecti et quasi domiti Oceani insigne. securis symbolisiert bei den Römern Macht und Autorität, vgl. Cic. Flac. 1 9 : eos quibus odio sunt nostrae secures; Caes. Gall. 7,77, 16: finitimam Galliae, quae ... securibus subiecta perpetua premitur servitute; unserer Stelle am nächsten vergleichbar ist Hor. carm. saec. 54 (Medus) A lbanas . . . timet securis. Die Junktur timere iura auch Mart. 8,55,7. 12,3, v. 20. potuit citius discere causas)

Vgl. c. 10,4 : antequam ... cognosceres . . .

audires. 12,3, v. 22 quis nunc iudex toto lites I audiet anno ?) Vgl. c. 7,4 : totis diebus mense /ulio. Zur Verbindung lites audire vgl. ThLL VII,2 1497,19ff. 13,3, v. 25. qui dat populo iura silenti I Cretaea tenens oppida centum) Die Stelle enthält eine Umschreibung von Minos, der zusammen mit Aeacus und Rhada­ manthys als Richter im Reich der Toten galt (populo silenti ist ein Euphemismus für apud inferos), berühmt für seine Gerechtigkeit, vgl. c. 1 4,2 : A eacus, homo iustissimus, vgl. ferner Serv. Aen. 6,566: Rhadamanthus Minos A eacusfilii Iovis et Europaefuerunt: qui posteafacti sunt apud inferos iudices; Ov. met. 13,25 : Aeacus ... iura silentibus reddit; zu iura dare vgl. ThLL VII,2 697,40ff. Die Verbindung oppida cen tum steht für das gr. exa-rÖ!JnoA.tc; (vgl. /Iias 2, 649 und Strab. 8,4, 1 1) das sich auf Kreta, die Heimat des Minos, bezieht. Vgl . ThLL III 826,55ff. 12,3, v. 27. caedite maestis pectora palmis I o causidici, venale genus) Zu causidici vgl. c. 12,2 : causidici plorabant. caedere pectora ist ein Zeichen der Trauer, vgl. ThLL III 59,84ff. und ib. X,1 91 4,47ff. 1 2,3, v. 29. vosque poetae lugete novi) Worauf diese Bemerkung anspielt,

kannt.

ist unbe­

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vosque in primis qui concusso I magna parastis lucra fritillo)

Die Bemerkung

bezieht sich auf alle aleatores. Zu fritillus vgl. c. 1 5 , 1 .

KAPITEL 1 3 1 3 , 1 . Delectabatur Iandibos suis Claudius e t cupiebat diutius spectare) laudibus steht für laudibusfunebribus, vgl. ThLL VII,2 1 063, 72fT. Claudius gefällt es offen­ sichtlich, als Augenzeuge (spectare spectatorem esse) seiner eigenen Iaudatio beizuwohnen. =

inicit illi manum Talthybius deorum, nuntius ( . . ) , et trahit capite obvoluto, ne quis eum possit agnoscere, per campum Martium, et inter Tiberim et viam Teetarn descendit ad inferos) inicere manum alicui ist ein Terminus technicus für den .

Begriff 'festnehmen', vgl. ThLL VIII 360,32ff. und ib. VII,1 1 6 1 3,80ff., steht hier aber wohl eher für das volkstümliche 'am Kragen packen' (vgl. Petron. 1 1 5,5). Die Lesart nuntius ist nach dem Dafürhalten vieler Herausgeber eine spätere Ergänzung, weswegen das Wort gern ausgeklammert wird; denn, so argumen­ tiert man, der 'Talthybius' der Götter im allgemeinen und des Jupiter im beson­ deren war Mercurius (vgl. Hor. carm. 1 , 1 0,5 : [vorhergeht Mercuri] nuntius lovis et deorum ; Plaut. Stich. 274: Mercurius lovis qui nuntius perhibetur; zur metony­ mischen Ausdrucksweise vgl. ferner Ov. ars 1 ,8 : Tiphys et A utomedon dicar Amoris ego). Die Erklärung ist zweifellos teilweise korrekt. Bei der Ausklamme­ rung von nuntius, die methodisch einen größeren Eingriff in den Text darstellt als die Annahme einer Lücke, fehlt aber ein Bezugswort, eine appositive Ergän­ zung, die genauer angibt, wer mit Talthybius deorum gemeint ist, oder besser, in welcher Rolle er da ist. Geht es doch um eine metonymische Verwendung, die nur an unserer Stelle belegt ist. Sie dürfte deshalb kaum geläufig gewesen sein. Ich habe demnach den Text so gestaltet: . . . Talthybius deorum, nuntius ( . . . ) , . . . Wahrscheinlich ist, daß die appositive Ergänzung etwas über Mercurius als Boten hat aussagen sollen. Aus dem Text geht weiter unten hervor, daß es sich um eine Freudenbot­ schaft handelt, obwohl Mercurius den Tod verkündet. Die Ergänzung mortis scheint deshalb weniger wahrscheinlich als etwa laetitiae bzw. gaudiilgaudiorum oder vielmehr laetus (vgl. OLD 1206, 3a; ThLL VI, 1 17 14,83 ; ib. VII,2 887,56). Aber auch bonus kommt in Betracht (vgl. Resch. 6677: EutiyyeA.oc; 6 'Ep�fjc;), obwohl die Junktur bonus nuntius nur im Sinne von 'gute Nachricht' (vgl. Plaut. Amph. 8; Cic. A tt. 3 , 1 1 , 1 ; Sen. Apoc. 1,3) überliefert ist. [Zur zynischen Denk­ weise vgl. etwa Sall. Catil. 5 1 ,34: quibus Damasippi mors laetitiae fuerat]. Zur Verbindung capite obvoluto vgl. ThLL IX,2 326,73ff. Die Entführung des Claudius mit verhülltem Kopf über das Marsfeld und nachher über die via Tecta ist konkret zu verstehen : Sie bietet die Erklärung dafür, daß die Menschen (vgl. ne quis [sc. mortalium] eum possit agnoscere) von der Katabasis des Claudius in

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die Unterwelt (ad inferos) nichts wußten, sondern bei der falschen Überzeugung blieben, er sei unter die Götter aufgenommen (ad deos isse). Diese Deutung baut auf dem literarischen Universum der Apocolocyntosis auf, in dem es um die Fik­ tion einer vera historia, die Enthüllung des descensus ad inferos des Claudius geht (vgl. c. 1), die eine wahre Freudenbotschaft darstellt. Die via Tecta, vielleicht eine Arkade, wird auch Mart. 3,5,5 und 8,75,2 erwähnt. Zur Stelle bemerkt C. F. RUSSO (6 1985) 1 16 u.a. folgendes : "Probabil­ mente la via Tecta va identificata con la via ehe dai portici di Ottavia portava alla fine delle Porticus Maximae), ci doveva essere un passaggio per discendere agli inferi, il cosidetto Tarenturn o Terentum, e ci6 perehe il terreno in quel sito emet­ teva fumo senza ehe si vedesse fiamma (cf. Val. Max. 2,4,5). Ed ivi era eretta l'ara Ditis patris et Proserpinae e li si celebravano i Iudi saeculares Tarentini (cf. Fest. p. 420 [440] L.: . . . quodpopulus Romanus in !(oco eo antea sacrafecerat et) aram quo­ que Diti ac (Proserpinae consecraverat, in) extremo Martio campo qui /ocus Taren­ turn appellatur), dei quali Claudio era stato restauratore (cf. Suet. 2 1)." 13,2. antecesserat iam compendiaria Narcissus libertus ad patronum excipiendum)

antecesserat enthält eine euphemistische Anspielung auf den frühzeitigen Tod des Narcissus, vgl. ThLL II 1 4 1 ,8 1 ff., wie unten c. 13,5 : quos Claudius omnes ... praemiserat. compendiaria (sc. via, vgl . ThLL III 2036, 13ff.) steht konkret für tramite, bringt aber vielleicht eine weitere Anspielung auf den frühzeitigen Tod des Narcissus (was man gewöhnlich durch via brevior mortis ausdrückte). Ist die Stelle konkret zu deuten, bezieht sich der 'Abkürzungsweg' wahrscheinlich auf den Umstand, daß Narcissus erst nach dem Tod des Claudius hingerichtet (vgl. Tac. ann. 1 3 , 1 ,3), jedoch vor diesem begraben wurde: Er hat ja nicht den unnö­ tigen Umweg über den Himmel mitgemacht. Ist der Ausdruck abstrakt zu verste­ hen, besagt er lediglich, daß Narcissus eines frühzeitigen Todes gestorben ist. Zum Tode des Narcissus vgl. Tac. ann. 1 3 , 1 ,3 ; siehe ferner RE XVI 170 1 , 1 9ff. ut ist kausal (vgl. A. SZANTYR [ 1965] 635). Der historische Narcissus wurde unmittelbar nach dem Tode des Claudius getötet, während er zur Kur in Sinuessa war, wo er in den Thermen (darauf bezieht sich a balineo) seine Fußgicht (vgl. c. 13,3 : podagricus) behandeln ließ. venienti nitidus, ut erat a balineo, occurrit)

Der Ausdruck steht konkret mit Bezug auf das Gelände und den Abstieg in die Unterwelt (vgl. Verg. Aen. 6, 126 : jacilis Averno descensus), hat jedoch gleichzeitig im übertragenen Sinne sprichwört­ lichen Charakter, wie aus omnia sowie aus dem generellen Praesens hervorgeht, vgl. mutatis mutandis: facilis enim in proclivi vitiarum decursus est (Sen. dial. 4, 1 , 1).

omnia proclivia sunt, facile descenditur)

sc. veniunt, i.q. cur immortales ad mortales veniunt? Wie­ derum eine Anspielung auf ein Sprichwort: -ri �EOi 1tpöc; 6:v�p6mouc; (Suidas S 63 p. 3 16,30 A). Die Anwesenheit eines Gottes in der Unterwelt ist - abgesehen

quid d i a d homines?)

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natürlich von Mercurius wuxo1to�1tö