Von Etappe zu Etappe: Die Jugend einer jüdischen Sozialistin im Schtetl (1871-1896). Eine Autobiographie. Herausgegeben und kommentiert von Birgit Schmidt [1 ed.] 9783412515232, 9783412515218

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Von Etappe zu Etappe: Die Jugend einer jüdischen Sozialistin im Schtetl (1871-1896). Eine Autobiographie. Herausgegeben und kommentiert von Birgit Schmidt [1 ed.]
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Wer war Nadja Strasser? Eine Einführung. Birgit Schmidt
Von Etappe zu Etappe. Nadja Strasser
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Nadja Strasser

Von Etappe zu Etappe Die Jugend einer jüdischen Sozialistin im Schtetl (1871–1896) Eine Autobiographie Herausgegeben und kommentiert von Birgit Schmidt

Lebenswelten osteuropäischer Juden 18

Lebenswelten osteuropäischer Juden Erinnerung an die Lebenswelten osteuropäischer Juden, an ihre Geschichte und Kultur, ist eine Erfahrung des Leidens, aber auch des Selbstbewusstseins und der Kraft. Mit den Arbeiten dieser Reihe – wissenschaftlichen Forschungen, Neuausgaben bedeutender älterer Beiträge und Quelleneditionen – sollen Lebensverhältnisse und Alltag, Werte, Normen und Einstellungen, Denken, Fühlen und Verhalten der Juden ebenso wieder gegenwärtig werden wie das Zusammenleben mit der nichtjüdischen Umwelt und das Einwirken politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen. In der Auseinandersetzung mit diesen Welten gewinnen wir sie als Teil unserer eigenen Geschichte zurück.

Herausgegeben von Heiko Haumann, Julia Richers und Monica Rüthers Band 18

Nadja Strasser

Von Etappe zu Etappe Die Jugend einer jüdischen Sozialistin im Schtetl (1871–1896) Eine Autobiographie Herausgegeben und kommentiert von Birgit Schmidt

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Neoma Ramm als junge Frau in Wien 1897. Aus: Julijana Ranc: Alexandra Ramm-Pfemfert. Ein Gegenleben, Edition Nautilus, Hamburg 2003, S. 27, mit freundlicher Genehmigung von Julijana Ranc. Korrektorat: Adina Stern, Berlin Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Satzweise, Bad Wünnenberg

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51523-2

Inhalt

Wer war Nadja Strasser? Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Birgit Schmidt Von Etappe zu Etappe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nadja Strasser

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Wer war Nadja Strasser? Eine Einführung

Birgit Schmidt Nadja Strasser, die Verfasserin der vorliegenden Erinnerungen, war bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein eine im deutschsprachigen Raum bekannte literarische Übersetzerin und Autorin. Sie übersetzte Klassiker der russischen Literatur wie Fjodor Dostojewski und Andrei Bely ins Deutsche, aber sie war auch selbst eine Schriftstellerin von bemerkenswerter Originalität und Radikalität. 1917 erschien in Berlin ihr Buch „Die Russin“, 1919 folgte „Das Ergebnis. Lyrische Essays“. Mit beiden Arbeiten hat Strasser sich als eine der frühesten Frauenrechtlerinnen in der europäischen Kulturgeschichte ausgewiesen, wobei sie selbst diesen Begriff aber entschieden zurückgewiesen hätte. Sich selbst nannte sie eine „Frauenpflichtlerin“, denn sie war der Meinung, als Frau habe sie die Pflicht, sich gegen die bestehenden Geschlechterverhältnisse aufzulehnen. Andere Frauen attackierte sie wegen ihrer unterwürfigen Haltung den Männern gegenüber. Nadja Strasser war eine Schwester von Maria Einstein-Schäfer, einer literarischen Übersetzerin aus dem Französischen, und zeitweise Schwägerin des Kunsthistorikers Carl Einstein, eines der ersten Deutschen, die sich mit dem Kubismus beschäftigt haben. Und sie war eine Schwester von Alexandra (Anja) Ramm-Pfemfert, die ihren Mann Franz Pfemfert bei der Herausgabe seiner avantgardistischen Zeitschrift „Die Aktion“ (1911–1932) unterstützte und ihrerseits als Übersetzerin aus dem Russischen hervortrat. Ohne selbst Trotzkistin zu sein, übersetzte Alexandra Ramm-Pfemfert die Schriften Trotzkis zu Zeiten, als dies großen persönlichen Mut erforderte. Vor einigen Jahren übergab Nadja Strassers Urenkelin Jodi Canti dem Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam ein Typoskript, das bis zu diesem Zeitpunkt nur in Auszügen zugänglich gewesen war. In diesem Manuskript erinnert sich Nadja Strasser an ihre Kindheit und Jugend im zaristischen Russland und an sich selbst als junge Frau, die zum Studium nach Wien aufbrach. Ich wusste von der Existenz dieses Manuskriptes, da Nadja Strasser es in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre im letzten Jahrhundert in Briefen an den

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deutschen Anarchisten Rudolf Rocker erwähnt hat. 1 Im Juli 2016 erteilte Jodi Canti mir die Erlaubnis, es zu publizieren und der Öffentlichkeit somit auch die russische Kleinstadt Starodub vorzustellen. In diese Stadt mit ihren zahlreichen jüdischen Einwohnern und Einwohnerinnen war Nadja Strasser im Jahr 1871 als Neoma Ramm in eine große jüdische Familie hinein geboren worden. 2 Nadja Strasser erinnert sich an Starodub als Kulisse ihrer Kindheit und Jugend. Sie erinnert sich daran, wie sie und ihre Geschwister aufzubegehren begannen gegen die strikten Regeln eines streng religiösen Elternhauses. Sie erzählt von Lektüre und Diskussionen und davon, wie sich die Kinder und Jugendlichen erst für den Zionismus begeisterten und dann für den Sozialismus. Sie berichtet von einer typischen Kindheit und Jugend in einem typischen Schtetl, also einer von ihrer jüdischen Einwohnerschaft geprägten osteuropäischen Kleinstadt, die sich mit Handel und Handwerk beschäftigte, während in der Umgebung Landwirtschaft betrieben wurde: „Die Schtetl waren jüdische Zentren in einer nichtjüdischen, meist bäuerlichen Umgebung.“ 3 Die Welt des Schtetls umfasste immer einen Marktplatz, wo Land- gegen Stadtprodukte gehandelt wurden, es gab meistens eine Synagoge und Schulen. Der Alltag der gläubigen Schtetl-Bewohner und -Bewohnerinnen wurde

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Vgl. Birgit Schmidt: Die Schwestern Ramm. Zum Briefwechsel zwischen Nadja Strasser und Rudolf Rocker, in: Wolfgang Braunschädel (Hrsg.): Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit. Nr. 17, Fernwald 2003, S. 407–420. Dieses Geburtsjahr steht auf ihrem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in der Berliner Heerstraße. Von der letzten Postkarte, die ihr ihr Lebensgefährte Alexander Levy schrieb, wissen wir, dass Nadja Strasser ihren Geburtstag am 25. September feierte. Doch es ist unklar, ob sie diesen Tag nach dem Julianischen Kalender bestimmte, der in Russland – statt des in Westeuropa seit 1582 gültigen Gregorianischen – bis zum 1./14. Februar 1918 galt. Dann wären den entsprechenden Daten für eine Umrechnung im 19. Jahrhundert 12 und in den Jahren von 1900 bis 1918 13 Tage hinzu zu zählen. Möglicherweise hatte Strasser diese Umrechnung aber bereits vorgenommen. Im Folgenden nenne ich die Daten nach dem Gregorianischen Kalender. Bei meinen Ausführungen zum geschichtlichen Kontext stütze ich mich auf die im Folgenden genannten Werke, ohne sie in jedem Einzelfall – abgesehen von Zitaten – gesondert nachzuweisen. Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden, 4. Aufl. München 1998, S. 61.

Wer war Nadja Strasser?

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stark von den religiösen Geboten und Regeln sowie vom spezifisch jüdischen Streben nach Bildung und Erkenntnis bestimmt. Dieses von ihr als Widerspruch empfundene Verhältnis zwischen Religion und Bildungshunger bestimmte auch Nadja Strassers Kindheit und Jugend. Es ist das vorherrschende Thema ihres Memoirenbuches, das sie zuerst „Eine Jugend“ nennen wollte. Später nannte sie ihr Manuskript „Von Etappe zu Etappe“. Es endet wahrscheinlich im Jahr 1896 – eine genaue Datierung ist nicht möglich –, als Neoma Ramm von Starodub nach Wien ging, um dort ein Studium aufzunehmen. In Wien lernte sie aber bald nach ihrer Ankunft den österreichischen Linkspolitiker Josef Strasser kennen und heiratete ihn. Nach der Scheidung behielt sie seinen Namen bei und begann ihre übersetzende und literarische Arbeit. Dazu gehört „Von Etappe zu Etappe“, also der vorliegende Text, der hier erstmals publiziert wird. Bei ihrem Buch „Die Russin“ handelt es sich um eine expressionistisch überhöhte Darstellung rebellischer Frauen in der Geschichte Russlands. In „Das Ergebnis“ stellt Nadja Strasser Überlegungen zum damaligen Geschlechterverhältnis sowie zur Lage und zu den Verantwortlichkeiten der Frauen an. „Von Etappe zu Etappe“ ist hingegen eine autobiografische Schilderung aus dem provinziellen Russland, das damals einem rasanten Wandel unterlag. Denn während Neoma und ihre Geschwister aufwuchsen, veränderte sich die ökonomische Lage der Bevölkerung des Schtetls schnell zum Schlechteren: Die Industrialisierung setzte ein. Neue Technologien – wie die Nähmaschine – wurden erfunden und machten den einzelnen Handarbeiter überflüssig. Eisenbahnen ersetzten Kutschen und brachten auch Konkurrenten näher zueinander. Die Märkte verloren ihre alte Funktion. In ihren Erinnerungen beschreibt Nadja Strasser den ökonomischen Niedergang der Schtetl und die damit einhergehende, notwendig gewordene Anpassung auch ihrer Eltern an die Veränderungen. Man begann, das Leben, so wie man es gewohnt war, in Frage zu stellen. Zwar war Nadjas Kindheit inmitten einer großen Kinderschar glücklich gewesen, aber die Kinder hatten unter den strengen Regeln gelitten, die im Hause üblich gewesen waren: „Unser Haus“, schreibt sie, „war selbst nach den damaligen Begriffen streng religiös. Das ganze häusliche Leben, von den einfachsten Vorgängen angefangen – wie der Zubereitung der Speisen – war nach feststehendem Ritus geregelt. Jeder Schritt und fast jede Lebensäußerung war in irgendeiner Weise durch Tradition und Ritual beeinflusst und kontrolliert. Alle diese Vorschrif-

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ten zu ertragen und zu befolgen war physisch nur möglich, wenn der unerschütterliche Glaube vorhanden war, dass dies alles in einem höheren Sinne gut und notwendig sei.“ 4 Langsam jedoch machten die Eltern Zugeständnisse an die neue Zeit. Doch gerade, als der feststehende jüdische Ritus für die älteren Kinder seine Bedeutung verlor, erfuhren sie von den antijüdischen Pogromen, die Russland mit Beginn der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts zu erschüttern begannen. Zu Übergriffen und Plünderungen, auch zu Vergewaltigungen und Morden war es immer wieder gekommen, insbesondere auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Immer wieder hatte sich ein tief verwurzeltes Misstrauen der Bauern gegen die jüdische Stadtbevölkerung in gewaltsamen Ausbrüchen geäußert, doch die Pogrome, die nach der Ermordung des Zaren Alexander II. am 1. März 1881 um sich griffen, waren von einer neuen Qualität, wie Nadja Strasser feststellte, als sie sich später an die Pogromzeit der achtziger Jahre erinnerte: „Da geschah etwas, das sich wie eine schwarze Wolke vor unseren Horizont legte und wodurch sich in die frohen Töne unserer Jugend ein Zähneknirschen mischte. Zum ersten Male tauchte jenes abscheuliche Gespenst auf, das man in Russland Judenpogrom nennt.“ 5 Dennoch war sie – und blieb ihr Leben lang – der Meinung, dass die in jenen Jahren in Russland ausbrechenden Pogrome durch die Obrigkeit initiiert und gelenkt worden waren. „Für das hungernde Volk“, sollte sie später in „Die Russin“ über diese Zeit sagen, „werden Judenpogrome erfunden, die den Ableitungskanal für angestaute Leidenschaften und die Ablenkung für den rumorenden Magen bedeuten.“ 6 Als die Pogrome 1881 in Jelisawetgrad und Kiew begannen, war Neoma Ramm zehn bzw. elf Jahre alt. Sie dauerten – mit Höhepunkten im Jahr 1882 – bis 1884. Jüdische Häuser und Geschäfte, vor allem aber Wirtshäuser wurden geplündert. Es kam zu grausamen Übergriffen, deren Zahl bis heute noch nicht hinlänglich erforscht ist. Auch Starodub war betroffen: Die russische Kulturwissenschaftlerin Irina Scherbakowa, deren Vorfahren gleichfalls aus diesem Ort stammten, schreibt über die Geschichte der jüdischen Bevölkerung Starodubs, die um 1793 begonnen hatte, sich anzusiedeln: „Ende der 4 5 6

Nadja Strasser: Von Etappe zu Etappe, Manuskript, S. 22. Ebd., S. 34. Nadja Strasser: Die Russin. Charakterbilder, Berlin 1917, S. 242.

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1830er Jahre lebten in Starodub, einem wichtigen Knotenpunkt für den Handel zwischen polnischen, ukrainischen und russischen Städten, 2000 Juden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es schon 5000 von insgesamt 12.000 Bewohnern.“ 7 Sie schildert die Atmosphäre im Ort – vor dem Hintergrund dieser demographischen Entwicklung – als zunehmend angespannt. Und berichtet für das Jahr 1891 von einem Pogrom, das Nadja nicht erwähnt. Ein Pogrom, „[…], ausgelöst durch die Erlaubnis für die Juden, am Sonntag auf dem Marktplatz Handel zu treiben. In der Stadt brannten jüdische Häuser, jüdische Geschäfte gingen zu Bruch, und Juden, die sich nicht rechtzeitig hatten verstecken können, wurden verprügelt.“ 8 Bei einem weiteren Pogrom im Herbst 1905 wurde sogar die Synagoge zerstört; es gab Tote. Auch auf diese Vorkommnisse bezieht sich Nadja, schon lange in der Ferne lebend, nicht explizit. Sie fängt jedoch eine Atmosphäre ein, die die gesamte jüdische Bevölkerung Russlands in jenen Jahren in Angst und Schrecken versetzt hatte. Die jüdische Bevölkerung Russlands lebte in jenen Jahren in Angst und Schrecken. An das Gefühl der Angst und der Ohnmacht angesichts eines Pogroms, das zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auch in ihrer Heimatstadt stattgefunden hat, hat sich auch Golda Meir, die spätere Ministerpräsidentin Israels, die 1898 in Kiew geboren worden war, in ihrer Autobiographie erinnert: „Das Gefühl der Angst ist die klarste meiner Erinnerungen. Ich war sehr jung, vielleicht dreieinhalb oder vier Jahre alt. Wir wohnten im Erdgeschoss eines kleinen Hauses in Kiew. Damals hörte ich von einem Pogrom, der über uns hereinzubrechen drohte. Ich hatte zu jener Zeit natürlich keine Ahnung, was ein Pogrom war, doch ich wußte, es hatte etwas mit der Tatsache zu tun, daß wir Juden waren. Irgendwie hing es zusammen mit dem Lärm, der sich in der ganzen Stadt erhob, mit Leuten, die Messer und riesige Stöcke schwangen und ‚Christusmörder‘ schrien, während sie nach den Juden suchten; diese Menschen, so spürte ich, würden mir und meiner Familie schreckliche Dinge antun. Ich entsinne mich, wie ich auf der Treppe stand, die in den ersten Stock führte, wo eine andere jüdische Familie wohnte. Hand in Hand mit ihrer kleinen Tochter sah ich unseren Vätern zu, wie sie die Haustür mit Holzbrettern verbarrikadierten. Es kam 7 8

Irina Scherbakowa: Die Hände meines Vaters. Eine russische Familiengeschichte, München 2017, S. 13 Ebd. S. 16

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nicht zu diesem Pogrom. Doch ich weiß bis zum heutigen Tag, wie ich mich fürchtete und wie wütend ich war, daß mein Vater nicht mehr tun konnte, um mich zu schützen, als ein paar Bretter zusammenzunageln, während wir auf den Mob warteten.“ 9

Diese großen und Furcht erregenden Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in den frühen 1880er Jahren politisierten die Opfer und machten aus Neoma und ihren Geschwistern schwärmerische Zionisten, die davon träumten, nach Palästina auszuwandern, sobald sie alt genug sein würden. Doch bald schon trat ein geistiger Mentor in ihr Leben und beeindruckte sie stark. In diesem jungen Mann, der in den Erinnerungen Nadja Strassers eine gewichtige Rolle spielt, ist unschwer ein Anhänger der sogenannten Narodniki zu erkennen, einer sozialen Bewegung, die sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt hatte. Diese jungen Leute aus begüterten Familien, die sich selbst als Volksverbundene bezeichneten, hatten damit begonnen, die Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen, mit der ihre Eltern über Leibeigene verfügten, denen sie ihren gesamten Reichtum verdankten. Söhne und Töchter lehnten sich plötzlich gegen ihre vermögenden Eltern auf und mochten deren Lebenskonzept nicht mehr übernehmen. Manch großer Name, manch revolutionärer Name, ist nicht nur mit dieser Rebellion, sondern auch mit einer reichen Familie verbunden. So ist nicht allein der Anarchist Michail Bakunin aus einer Gutsbesitzerfamilie hervorgegangen. Auch Pjotr Kropotkin, der große Theoretiker des kommunistischen Anarchismus, war ein geborener Fürst. Russische Schriftsteller wie Nikolai Gogol haben die moralische Fragwürdigkeit der Leibeigenschaft behandelt. Und der Schriftsteller und Philosoph Leo Tolstoi fügte den sich entwickelnden sozialistischen und anarchistischen Strömungen eine weitere Variante hinzu, mittels der er ein christlich geprägtes und schlichtes bäuerliches Dasein propagierte. Gesellschaftskritische Schriftsteller verschafften sich zunehmend Gehör, auch nachdem der Zar Alexander II. die Leibeigenschaft der russischen Bauern am 3. März 1861 durch ein Dekret aufgehoben hatte. Dies hatte ihre Lage nicht sehr verbessert: „Diese Befreiung, an die so viele Erwartungen geknüpft gewesen waren“, schreibt der russische Schriftsteller Michael Prawdin darüber, 9

Golda Meir: Mein Leben, Hamburg 1975, S. 11.

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„hatte keine von ihnen erfüllt. Statt, wie die Bauern gehofft hatten, freies und unbelastetes Land zu bekommen, wurden sie mit dem doppelten, ja manchmal bis zum vierfachen Betrag des wirklichen Wertes des Bodens belastet. Der Landanteil, den sie erhielten, war nicht größer, sondern oft kleiner als der, den sie bereits als Leibeigene für sich und ihre Familien bebaut hatten. Sie hatten nicht die geringste Hoffnung darauf, sich der schweren Hypotheken und Steuern entledigen zu können. Außerdem wurde das Land nicht den einzelnen Bauern, sondern der Dorfgemeinde übergeben, die für die Aufbringung der Steuern verantwortlich war und die Landanteile daher immer wieder je nach der Anzahl der Familienangehörigen neu verteilte. Die Bauernwirtschaft war nicht lebensfähig, der Bauer musste den Boden bis aufs äußerste ausnutzen, und die geringste Missernte bedrohte seine Existenz. Die ganze Reform wurde bald als Betrug am Volke empfunden, und oft genug gab der Bauer den aussichtslosen Kampf auf, verkaufte seine Hütte und sein Vieh und zog in die Stadt, um als kleiner Handwerker oder als Arbeiter in der Fabrik sein karges Brot zu verdienen.“ 10

Obwohl die meisten Arbeiter einen Landanteil behielten und viele zur Erntezeit auf ihre Dörfer zurückkehrten, bildete sich in den Städten langsam eine proletarische Schicht. Die Theorie der kapitalistischen Entwicklung, wie sie von Karl Marx und Friedrich Engels erstmals im Frühjahr 1848 in ihrem „Manifest der Kommunistischen Partei“ veröffentlicht worden war, schien auch auf Russland zuzutreffen. Im Landadel hingegen setzte sich der Konflikt zwischen den jungen Leuten und ihren Eltern fort. Und die neuartige, jedoch nicht bessere Lage der Bauern und ihre Not, der daraus folgende soziale Zündstoff und die zahlreichen Diskussionen, die in jenen Jahren in so vielen Familien geführt wurden, scheuchten auch die jungen Frauen auf, die nach neuen, eigenen Möglichkeiten und Wegen zu suchen begannen: „Wie eine Epidemie“, erzählt mit Sonja Kowalewski – die spätere erste Mathematikprofessorin der Welt – eine der zahlreichen Protagonistinnen jenes Aufbruchs, „erfaßte damals die Jugend, namentlich die Mädchen, der Drang, aus dem Elternhause zu laufen. Bis jetzt war gottseidank alles in unserer unmittelbaren Nähe ruhig geblieben, aber aus anderen Orten kamen schon Gerüchte, daß bald bei dem einen, bald bei dem anderen Gutsbesitzer die

10 Michael Prawdin: Netschajew – Von Moskau verschwiegen, Frankfurt a. M./Bonn 1961, S. 14.

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Tochter davongelaufen war, die eine ins Ausland, um zu studieren, die andere nach Petersburg zu den ‚Nihilisten‘.“ 11 Den Begriff Nihilismus hatte der Schriftsteller Iwan Turgenjew im Jahr 1862 mit seinem Roman „Väter und Söhne“ geprägt. Die im Roman beschriebene oppositionelle Haltung den Vorvätern gegenüber reichte vielen jungen Leuten jedoch bald nicht mehr aus. Sie gelangten zu der Überzeugung, dass es nicht genüge, in den Studienzirkeln in den großen Städten über die soziale Lage im Land und über die Lage der Bauern zu beraten. „Schritt für Schritt“, schreibt Pjotr Kropotkin in seinen Memoiren, „kamen sie zu der Überzeugung, die einzige Möglichkeit wäre, sich unter dem Volk niederzulassen und das Leben des Volkes selbst zu leben“. 12 So bildete sich die Bewegung der Narodniki, der Volksverbundenen, die für Neoma Ramm eine große Bedeutung gewinnen sollte. Ihr schlossen sich junge Menschen an, die sich am Volk, an den Armen, orientieren und unter den Bauern leben und diese unterrichten wollten. Junge Männer wurden Ärzte, Lehrer und Dorfschreiber, junge Frauen wurden Hebammen und Lehrerinnen. Sie zogen in die Dörfer, um die leibeigenen Bauern über ihre Lage aufzuklären. In der Hochzeit der Bewegung, um das Jahr 1874, hielten sich rund 10.000 junge Leute auf dem Land auf. Aus dieser Bewegung der Narodniki ging im Jahr 1902 die Sozialrevolutionäre Partei Russlands unter der Leitung von Wiktor Tschernow, Abraham Gotz und Grigori Gerschuni hervor. Die Mitglieder der jungen Partei wollten die soziale Revolution und setzten ganz auf die Bauern, die sie nicht nur als das revolutionäre Subjekt jeder weiteren Geschichte ansahen, sondern auch auf eine – aus der historischen Distanz – fragwürdige Art und Weise idealisierten. Diese Idealisierung ging mit einem großen Pathos und einer immensen Opferbereitschaft einher, ja – mit einer Todes- und Leidenssehnsucht der Revolutionäre, in der sich auch das Schuldgefühl spiegelte, das man als Sohn oder Tochter ehemaliger Leibeigenenbesitzer wohl empfunden hat. Auch Nadja Strasser spricht, wenn sie die jungen Leute beschreibt, die aufs Land geströmt waren, von den „adligen

11 Sonja Kowalewski: Jugenderinnerungen, Frankfurt a. M. 1968, S. 106. 12 Peter A. Kropotkin: Memoiren eines Revolutionärs. Band II, Münster 2002, S. 333.

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Büßern“, die sich ein Gewissen angewöhnt hätten und als Anwälte des Volkes gegen die eigene Klasse aufgetreten seien. 13 Doch das Bemühen der Narodniki und der mit ihnen verbundenen Strömungen und Zirkeln, den russischen Bauern durch Aufklärung zur Revolte zu bewegen, blieb erfolglos. Nadja Strasser berichtet: „In einem Punkt aber trafen sich alle Schattierungen. Sie alle sahen in der Bauernschaft, im schlafenden Koloss, auf dessen Schultern das ganze Riesenreich ruhte, die einzige Kraft und die einzige Macht, die den Völkern Russlands Befreiung bringen würde. Wenn sich dieser Koloss reckte, dann würde das Zarenjoch abgeschüttelt; dann fielen die Ketten, die die äußeren und inneren Kräfte eines seelisch und geistig überreichen Volkes nieder hielten … . Wenn der Koloss sich reckt … . Und alles Sinnen, alles Streben und Trachten jedes revolutionär empfindenden Russen ging dahin, diesen Koloss aus dem Schlafe zu rütteln; den Bauern aufzuklären, ihn zum Bewusstsein seiner Unterdrückung zu bringen und in ihm das Streben nach Befreiung und Besserung wach zu rufen. Eine Sisyphusarbeit. Der Koloss schlief und schlief …. Nichts vermochte ihn aus seinem tiefen bleiernen Schlaf aufzupeitschen.“ 14

Die jungen Leute, die aufs Land gegangen waren, waren sehr mutig und brachten große persönliche Opfer. Sie teilten die Lebensumstände derjenigen, die sie unterweisen und aufrütteln wollten, die ihnen aber nicht selten misstrauisch oder gar ablehnend gegenüberstanden. „Heute kann man sich kaum noch vorstellen,“ heißt es so auch in dem autobiografischen Roman „Das Leben Arsenjews“ von Iwan Bunin, „wie sich der Durchschnittsrusse zu jemand verhielt, der es wagte, sich gegen den Zaren aufzulehnen, der trotz der ununterbrochenen Jagd auf Alexander des Zweiten und selbst nach dessen Ermordung immer noch das ‚Ebenbild Gottes auf Erden‘ blieb und in den Hirnen und Herzen mystische Ehrfurcht genoß. Mit einem Anklang von Mystik wurde auch das Wort ‚Sozialist‘ ausgesprochen; doch das bedeutete einen schweren Schimpf und Schrecken, denn man verband mit diesem Wort die Vorstellung von allerlei Verbrechen.“ 15 Die Bauern standen den Aufklärern also meist verständnislos gegenüber, manchmal riefen sie selbst die Staatsmacht und lieferten die jungen Leute an 13 Strasser: Russin, S. 81. 14 Strasser: Etappe, S. 76. 15 Iwan Bunin: Das Leben Arsenjews. Eine Jugend im alten Rußland, München/ Wien 1980, S. 107.

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die Polizei aus, die somit eine immense Niederlage hinnehmen mussten: „Sie scheiterten kläglich. Ohne Vermittler blieben die narodniki den Bauern fremd. Die Agitation ging über die Köpfe der Angesprochenen hinweg, vor allem wenn sie von konkreten Nöten und Beschwerden zum Aufruf, den Zaren zu stürzen, überleitete. Der Zarenmythos war noch lange ungebrochen, die Revolutionäre fanden nicht den Weg, ihn zu entschleiern.“ 16 Wie sollte, wie konnte man dieses Scheitern überwinden? Was konnte man daraus lernen? Wie sollte es weitergehen? Einige frustrierte Narodniki gründeten im Jahr 1876 eine Geheimgesellschaft, die sich „Land und Freiheit“ („Semjla i Wolja“) nannte und bis zum Jahr 1879 bestand. Radikale Mitglieder von „Land und Freiheit“ – wie Wera Figner oder Sophia Perowskaja – griffen zu terroristischen Mitteln. Dafür bezahlte Perowskaja mit ihrem Leben, während Figner zwanzig Jahre in Haft verbrachte. Ihr ehemaliger Genosse Georgi Walentinowitsch Plechanow hingegen hatte sich ins Schweizer Exil gerettet. Dort gründete er mit anderen die Gruppe „Befreiung der Arbeit“, die mit den alten Vorstellungen der Narodniki brach. In der Broschüre „Sozialismus und politischer Kampf“ wandte sie sich von den Bauern ab und setzte alle revolutionäre Hoffnung auf das junge russische Proletariat. Noch dem DDR-Duktus verhaftet resümiert sein Biograf Detlef Jena über Plechanow: „Er erkannte im Sommer 1883 die marxistische Theorie als einzig richtige Weltanschauung für die Arbeiterklasse an und identifizierte sich mit ihr.“ 17 In „Sozialismus und politischer Kampf“ behauptete Plechanow, dass die Dorfbevölkerung wegen der rückständigen Verhältnisse nicht nur weniger fähig zur politischen Initiative sei als das Industrieproletariat, sondern auch weniger aufnahmebereit für jegliche revolutionäre Idee. Er beschrieb im Wesentlichen die Erfahrung, die all die jungen Leute gemacht hatten, die so aufopferungsvoll aufs Land gegangen waren und versucht hatten, die Bauern zu agitieren. Sie hatten persönliche Opfer gebracht, sie hatten unter harten Bedingungen gelebt und waren doch gescheitert. Plechanow erklärte ihnen nun die Gründe für dieses Scheitern. Er sagte, das Industrieproletariat müsse

16 Heiko Haumann: Geschichte Russlands, 2. Aufl. Zürich 2010, S. 274. 17 Detlef Jena: Georgi Walentinowitsch Plechanow. Historisch-politische Biografie, Berlin 1989, S. 52.

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die führende Rolle übernehmen und für die Demokratie und den Sozialismus kämpfen. Auch Neoma Ramm, die den Weg vom Zionismus zu den Narodniki gegangen war – denn auch sie hatte vorübergehend in einem Weiler in der südrussischen Steppe gelebt –, wurde nun von älteren Freunden zum Marxismus geführt und war begeistert. Später schrieb sie: „Der Glaube an die revolutionierende Wirkung der Propaganda unter den Bauern, an die Änderung des absolutistischen Regimes durch Terrormittel, war durch die bisherigen Misserfolge und Enttäuschungen erschüttert. Die eindringlichen, überzeugenden Worte Plechanows fielen auf fruchtbaren Boden.“ 18 Und: „Ich sah ein Gesetz, wo ich früher nur Willkür erblickte. Wo ein Gesetz waltet, mag es unerbittlich und hart sein, da ist ein Weg zur Regelung, zur Ueberwindung gegeben. Das von Marx-Engels gefundene Entwicklungsgesetz der menschlichen Gesellschaft hat die strenge Logik eines Naturgesetzes.“ 19 Doch Neoma, die somit die typische Entwicklung vieler junger Russen und Russinnen im 19. Jahrhunderts durchlief, fieberte nicht allein der Befreiung der russischen Bauern und Proletarier entgegen, immer ging es ihr auch um ihre eigenen Interessen und um die Stellung, die sie als Mädchen und als junge Frau in ihrer Familie und in der Gesellschaft einnahm. Denn das Verhältnis zwischen den Geschlechtern war auch in Russland von der traditionell-patriarchalischen Rollenaufteilung geprägt. Der Mann galt als Familienvorstand, die ihm in jeder Hinsicht untergeordnete Frau war für den häuslichen Bereich und die Kinder zuständig. Wählen durfte sie erst nach der Februarrevolution 1917. In adeligen und bürgerlichen Familien hingegen, in denen ein hohes Bildungsideal galt, wuchsen junge Frauen heran, die gleiche Rechte für sich und ihre Geschlechtsgenossinnen forderten, die lernen und ihre Elternhäuser verlassen wollten. Wie Neoma, die keine Lust hatte, eine Ehe einzugehen und stattdessen studieren wollte, entwickelten viele junge Frauen Wünsche, die über das hinausgingen, was ihre Eltern für sie planten. Eva Broido, aus der später eine führende menschewistische Politikerin werden sollte, erinnert sich gleichfalls an den weiblichen Aufbruch jener Jahre: „Knaben und Mädchen ohne Unterschied strebten nach den Städten, nach den Universitäten 18 Strasser, Etappe, S. 122. 19 Ebd., S. 123.

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und Kursen, um dort ‚die Wahrheit des Lebens‘ zu erfahren. Unklar und unbestimmt war diese Sehnsucht, dieses Verlangen nach Wissen, nach freier Entfaltung der Persönlichkeit, aber es war so allgemein, daß die lächerliche Bezeichnung ‚ein junges Mädchen mit Bestrebungen‘ zu einer charakteristischen Phrase wurde.“ 20 Dieser Entschlossenheit, mit der auch die jungen Frauen begannen, ihr Recht auf Bildung einzufordern, die sich auch in ihrem Erscheinungsbild ausdrückte und in ihrem ganzen Verhalten niederschlug, sollte Nadja Strasser mit ihrem Buch „Die Russin“ ein Denkmal setzen. Darin feiert sie einen neuen Frauentypus, den sie selbst verkörperte: „Mit der ganzen lange verhaltenen Inbrunst“, schreibt sie über den Beginn der weiblichen Emanzipationsbewegung in Russland, „wirft sich die Frau auf Bildung, auf Studium, auf öffentliche Betätigung. Ihrem mutigen Ansturm weicht selbst die Regierung. Es werden überall höhere Mädchenschulen und Bildungsanstalten verschiedenster Art eröffnet. Bald werden die Straßen von Petersburg und Moskau von Tausenden junger Mädchen mit Büchermappen unterm Arm belebt: die ‚Kursistinnen‘ der sechziger Jahre mit den kurz geschnittenen Haaren und jubelndem Freiheitsgefühl im Herzen.“ 21 Bemerkenswert ist, dass der weibliche Aufbruch, der Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen hatte, bei den russischen Männern auf mehr Verständnis und Sympathie stieß als es in westeuropäischen Ländern der Fall war. Russische Frauen partizipierten in weit größerem Ausmaß an sozialen, politischen und auch terroristischen Bewegungen und Gruppen als beispielsweise in Deutschland. Und so sollte Nadja Strasser auch dem russischen Mann in ihrem Buch „Die Russin“ ihre Referenz erweisen. Sie bescheinigte dem Russen: „Er identifiziert nicht Frauenhaftigkeit mit Ignoranz, Unschuld mit Unwissenheit. Teilt seine Unterhaltungsstoffe nicht wie Liköre in ernste für Männer und ‚leichte‘ für Damen. Die Russin darf an jedem Thema teilnehmen, das zur Voraussetzung selbständiges Urteil hat: dieses verlangt man von ihr nicht weniger als von dem Manne.“ 22 Auch Neoma Ramm konnte immer auf die Unterstützung durch ihren ältesten Bruder rechnen, der ihr, nachdem sie in einer entfernt gelegenen 20 Eva Broido: Wetterleuchten der Revolution, Berlin 1929, S. 20. 21 Strasser: Russin, S. 76. 22 Ebd., S. 89.

Wer war Nadja Strasser?

Abb. 1: Titelbild von Nadja Strassers literarischem Erstlingswerk „Die Russin“ (S. Fischer Verlag, Berlin 1917). Die Frau mit Umhang zeigt Wera Sassulitsch. Foto: Birgit Schmidt 2018.

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Kleinstadt als Externe das Abitur abgelegt hatte, das Geld überreichte, das eigentlich für ihre Mitgift gedacht war. Nun stand es ihr frei, zum Studium in eine europäische Großstadt zu gehen. Die Zeiten hatten sich wirklich geändert. Nach längerem Überlegen entschied sich Neoma für Wien, eine der interessantesten Möglichkeiten, die sich ihr boten. Denn Wien – im Jahr 1910 sollte die Stadt mit mehr als zwei Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen ihre größte Bevölkerungszahl erreichen – war bereits auf dem Weg zur Metropole. Dazu kam, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil von Wiens Einwohnerschaft jüdisch war, das dürfte für Neoma Ramm nicht unwichtig gewesen sein. Die Wiener Juden und Jüdinnen konnten auf Anfänge im 12. Jahrhundert zurückblicken. Einen ersten zahlenmäßigen Höhepunkt hatte es zwischen 1350 und 1400 gegeben. Damals machten Juden und Jüdinnen rund fünf Prozent der Wiener Bevölkerung aus. Ein Rückschlag erfolgte 1420/21, als es unter Herzog Albrecht V. zu Vertreibungen kam und von denjenigen, die sich nicht hatten vertreiben lassen, gar 200 bis 300 auf dem Scheiterhaufen ermordet wurden. In Folge des Massakers mieden Juden die Stadt, aber mit Beginn des 17. Jahrhunderts ist ein erneuter Anstieg jüdischer Bevölkerungszahlen zu konstatieren. Die Gemeinde wurde 1624 von Kaiser Ferdinand II. unter seinen Schutz gestellt. 1670 aber wurden die Wiener Juden und Jüdinnen unter Ferdinand III. wieder einmal – auf Betreiben der katholischen Kirche – der Stadt verwiesen. Allein Wohlhabenden war es ab 1782 wieder gestattet, sich in der Stadt niederzulassen. Erst die Revolution von 1848 führte zu ihrer verfassungsmäßigen Gleichstellung mit den nichtjüdischen Bürgern und Bürgerinnen. 23 Als Neoma Ramm sich in dieser multi-ethnischen Stadt, der Hauptstadt des Vielvölkerreiches der Habsburger Monarchie, niederließ, war die jüdische Einwohnerschaft durch Einwanderung aus Böhmen, Mähren, Ungarn und Galizien erneut stark angewachsen, die Judenfeindschaft der christlichen, eingesessenen Bevölkerung allerdings auch. Man kann davon ausgehen, dass Nadja Strasser die antijüdische Stimmung in dieser europäischen Metropole gespürt hat. Forschungen sprechen von einer starken antijüdischen Atmosphäre, die um die Jahrhundertwende in Wien geherrscht 23 Vgl. Klaus Lohrmann: Kleine Geschichte der Wiener Juden, in: Michaela Feurstein-Prasser, Gerhard Milchram: Jüdisches Wien, Wien 2016, S. 17–31.

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Abb. 2: Neoma Ramm kurz vor ihrer Heirat mit Josef Strasser. Aus: Julijana Ranc: Alexandra Ramm-Pfemfert. Ein Gegenleben, Edition Nautilus, Hamburg 2003, S. 27, mit freundlicher Genehmigung von Julijana Ranc.

habe: „Antisemitischer Wortschatz gehörte in Wien spätestens mit der Jahrhundertwende zum ‚offiziellen‘ Ton.“ 24 Andererseits erlebte sie die Stadt während ihrer guten und spannenden Jahre zwischen 1890 und 1910, die heute unter dem Begriff „Wiener Moderne“ gefasst werden. Maler wie Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele sowie Schriftsteller wie Arthur Schnitzler prägten das künstlerische Ambiente der Stadt. Sigmund Freud veröffentlichte hier 1899 „Die Traumdeutung“ und vier Jahre später „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“. Die Frauenrechtlerin Auguste Fickert gab die Zeitschrift „Neues Frauenleben“ heraus, in der auch Nadja Strasser publizierte. Und wer auf sich hielt, residierte in einem der zahlreichen Cafés, die das Bild der Stadt noch heute prägen. Wien war in wissenschaftlicher, politischer und künstlerischer Hin-

24 Frank Stern, Barbara Eichinger: Einleitung in: Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien/Köln/Weimar 2009, S. XIV.

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sicht solchermaßen anziehend, dass die US-amerikanische Anarchistin Emma Goldman diese Stadt gewählt hatte, um ab Oktober 1895 im Allgemeinen Krankenhaus eine Krankenpflegeausbildung zu absolvieren. Und sie war begeistert: „She fell instantly in love with the graceful city“, berichten Paul und Karen Avrich, „finding it ‚one of the most beautiful‘ she had ever seen“. 25 Einen weiteren Minuspunkt aber gab es: Die Wiener Welt war für junge Frauen keinesfalls dasselbe wie für junge Männer. Wien, das bedeutete nicht nur Demonstrationen für den Achtstundentag, nicht nur Theaterbesuche und langes Sitzen in schönen Kaffeehäusern. Leben in Wien bedeutete auch die herrschende Moral jener Zeit, eine Moral, die sich durch Lüge und Scheinheiligkeit auszeichnete und schwer auf den Frauen lastete. So berichtet Stefan Zweig, der in Wien aufgewachsen war, in seinen Erinnerungen an diese Stadt von einer ungeheuren Armee an Prostituierten, von jungen Frauen aus den unteren Schichten, die – mit Duldung der Obrigkeit – nicht mehr mit ihrem Leben anfangen konnten, als sich zu verkaufen. Das war die eine Seite. Auf der anderen Seite erzählt er von den Töchtern der bürgerlichen Familien, die nicht einmal Fahrrad fahren durften, um die öffentliche Moral nicht zu gefährden: „Man lasse sich also nicht durch die sentimentalen Romane oder Novellen jener Epoche irreführen; es war für die Jugend eine schlimme Zeit, die jungen Mädchen luftdicht vom Leben abgeschlossen unter die Kontrolle der Familie gestellt, in ihrer freien körperlichen wie geistigen Entwicklung gehemmt, die jungen Männer wiederum zu Heimlichkeiten und Hinterhältigkeiten gedrängt von einer Moral, die im Grunde niemand glaubte und befolgte.“ 26 Wien um die vorletzte Jahrhundertwende war also nicht nur eine schöne, anregende Stadt, es gab auch Doppelmoral und Scheinheiligkeit, Antisemitismus und Unterdrückung von Frauen. Und insbesondere für deren schlechte Stellung hatte Nadja Strasser immer eine Antenne: „Es lag in der damaligen Zeit“, erinnerte sie sich später an jene Zeit in ihrem Leben, „der Frühepoche der Frauenemanzipation, dass die Frau nur eine Alternative 25 Paul Avrich, Karen Avrich: Sasha and Emma. The Anarchist Odyssey of Alexander Berkman and Emma Goldman, Cambridge/Mass./London 2012, S. 122. 26 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Berlin 2013, S. 111.

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offen hatte – Ehe oder Beruf. Das brachte gerade die aufgeklärte Frau von damals, ob verheiratet oder unverheiratet, in tragische Konflikte.“ 27 Dass sie diesen Konflikt erkannt und beschrieben hat, hat sie nicht vor ihm bewahrt. Zwar erfüllte sich Nadjas Wunsch, an der Wiener Universität ein Studium aufzunehmen. Doch erst im April 1899 – also drei Jahre nach ihrer Ankunft in Wien – stellte sie einen Antrag auf Immatrikulation an der Wiener Universität, dem auch stattgegeben wurde. 28 Zu diesem Zeitpunkt aber hatte sie schon einen kleinen Sohn – Alex Strasser war im Vorjahr in Wien geboren worden – und war mit dessen Vater Josef Strasser verheiratet, einem österreichischen Sozialdemokraten. Ehe und Mutterschaft machten es Nadja Strasser letztlich unmöglich, ihr Studium abzuschließen. Und die aufregende Metropole Wien musste sie im Jahr 1901 gegen das weniger interessante Reichenberg (heute Liberec) im Böhmischen tauschen, da ihr Mann dort eine Stelle als Redakteur der Zeitschrift „Freigeist“ antrat und sie ihm folgte. Als die Ehe zerbrach, musste Nadja feststellen, dass sie viel aufgegeben, aber wenig gewonnen hatte. Am 17. September 1906 wurden Nadja und Josef Strasser in Wien geschieden. 29 1919 trat Josef Strasser in die Kommunistische Partei Österreichs ein. Von 1923 bis 1928 lebte er mit seiner zweiten Frau Isa in Moskau. Beide waren bald desillusioniert von der dortigen Politik. In Österreich wurden sie dann wegen „linker Abweichungen“ kaltgestellt. Josef Strasser starb 65-jährig 1935 in Wien. 30 Die Gründe für den unglücklichen Verlauf der Ehe – autobiografische Hinweise in „Die Russin“ und in „Das Ergebnis“ lassen diesen Schluss zu – lagen nicht allein, aber auch im schwierigen Charakter Strassers, der eine wenig schöne Kindheit unter einem strengen und dominanten Vater erlebt hatte, was auch ihn zu einem strengen und harten Mann gemacht hatte. Dazu kam wohl ein weiterer Aspekt, von dem Nadja in „Die Russin“ spricht:

27 Strasser: Etappe, S. 172. 28 Gabriella Hauch: „Besiegt ist, wer nie den Kampf aufgenommen, wer ihn nie gewollt!“ Nadja Strasser, geb. Neoma Ramm (1871–1955), in: Werner Michael Schwarz/Ingo Zechner (Hrsg.): Die helle und die dunkle Seite der Moderne, Wien/Berlin, S. 162–171, hier S. 164. 29 Ebd. S. 164. 30 Isa Strasser (geborene Klothilde Isadora von Schwartzkoppen) lebte von 1891 bis 1970.

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Abb. 3: Passfoto (um 1900) von Josef Strasser, Nadjas erstem Ehemann, dessen Namen sie beibehielt. Aus: Archiv für ArbeiterInnengeschichte, Wien (V3_535.tif ).

„In dieser Zeit“, heißt es dort, „und noch später, bis in die neunziger Jahre [des 19. Jahrhunderts] hinein, war die ‚Russin‘ in gewissen Kreisen Westeuropas Mode. Manche Männer radikaler Richtung in der Schweiz, in Frankreich, sowie in Deutschland-Österreich haben sie zur Lebensgefährtin gewählt. Ob diese Ehen immer glücklich waren? Zweifelhaft. War nicht der Mann irgendwie zufällig oder durch persönliche Anlage auf den besonderen, der Russin gewohnten Maßstab des Verhaltens zur Frau eingestellt, mußten sich bald für beide Teile störende Mißklänge ergeben. Je störender, je mehr die Frau ihr Eigenwesen behielt und sich nicht zur Anpassung an Fremdes eignete.“ 31

Man spürt aus diesen Worten Nadja Strassers eigene Unfähigkeit zur Anpassung, ihr Bestehen auf sich selbst als ein Eigenwesen heraus. Zur Unterordnung unter die Anweisungen und Ansichten eines Mannes war sie offenbar weder gewillt noch fähig.

31 Strasser: Russin, S. 98.

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Abb. 4: Lotte Jacobi: Laszlo Moholy-Nagy, Alex Strasser und Jonas Reissmann 1929 im Theater am Nollendorfplatz in Berlin. Alex Strasser war Fotograf und Regisseur. 1934 ging er nach Großbritannien, wo er 1974 verstarb. Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Steven Schuyler.

Die autobiographischen Bezüge in „Das Ergebnis“ lassen den Schluss zu, dass die Initiative zur Scheidung von ihr ausgegangen war – ein Schritt, den damals nur wenige Frauen wagten, da er zu ihrer gesellschaftlichen Ächtung führte. Nach der Trennung von Strasser litt auch Nadja unter der mangelnden Akzeptanz, die einer eigenständigen, geschiedenen Frau zu jener Zeit entgegengebracht wurde. Sie litt unter quälender Einsamkeit, die ihr vor allem von den anderen Frauen bereitet wurde, die sie als Konkurrenz fürchteten. Und sie litt unter den wirtschaftlichen Folgen. Denn eigentlich hatte sie geglaubt, sich und ihren kleinen Sohn mit Privatunterricht und literarischer Arbeit über Wasser halten zu können, aber sie musste die Erfahrung machen, dass sie – auch weil sie eine Frau war, die als solche nicht ernst genommen wurde – mit Groschen abgespeist wurde, die nicht zum Leben reichten.

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Der Versuch, sich in Prag als literarische Übersetzerin zu etablieren, scheiterte. Deshalb entschied sich Nadja Strasser, wahrscheinlich im Jahr 1911, zur Übersiedlung nach Berlin. Dort lebten ihre beiden Schwestern, dort war ihr Schwager Franz Pfemfert aktiv. Ab 1911 gab Pfemfert in Berlin die Zeitschrift „Die Aktion“ heraus, die in künstlerischer und literarischer Hinsicht Maßstäbe gesetzt hat. Für „Die Aktion“ malten, zeichneten und schrieben Künstler/innen, die heute einen großen Namen haben, damals aber oftmals erst am Anfang ihrer Laufbahn standen: Egon Schiele, Lyonel Feininger, Ludwig Rubiner, Georg Heym, Gottfried Benn und viele andere. Auch politisch war „Die Aktion“ von bemerkenswerter Radikalität. Gemeinsam mit seiner Frau Alexandra Ramm nahm Pfemfert immer einen oppositionellen, bisweilen extremen, Standpunkt auch innerhalb der damaligen Linken ein. Während des Kriegstaumels 1914 stand er für einen bedingungslosen Pazifismus und Anti-Nationalismus. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der um die Jahreswende 1918/19 ins Leben gerufenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), einige Monate später aber bereits zur internen Parteiopposition und wurde bald aus der KPD ausgeschlossen. Heute gilt Pfemfert als Wegbereiter des Expressionismus und der antistalinistischen Linken, seine Zeitschrift „Die Aktion“ bildete einen ausgezeichneten Nährboden für Malerei, Lyrik, Prosa und politische Theorie. Während der rund zwanzig Jahre, in denen er seine Zeitschrift herausgab, hatte Pfemfert sich auf seine Frau gestützt. Alexandra Ramm-Pfemfert führte eine Buchhandlung, die sogenannte Aktions-Buchhandlung in BerlinCharlottenburg, deren Erlöse in „Die Aktion“ flossen. Zeitweilig hatte sie einen eigenen Verlag und übersetzte aus dem Russischen. 32 Auch Nadja Strasser konnte in der deutschen Metropole bemerkenswerte Erfolge verzeichnen. Die österreichische Historikerin Gabriella Hauch vermerkt: „In Berlin gelang es Nadja Strasser zusehends, größere Übersetzungsprojekte zu verwirklichen: Im Jahre 1913 erschien ‚Der Siegesaltar. Roman aus dem vierten Jahrhundert‘ von Waleri J. Brjussow, 1916 ‚Peters32 Vgl. Julijana Ranc: Alexandra Ramm-Pfemfert. Ein Gegenleben, Hamburg 2003. Eine Kurzbiografie Franz Pfemferts in: Hermann Weber/Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945. 2. Aufl. Berlin 2008, S. 672–673.

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Abb. 5: Franz Pfemfert, Nadjas Schwager und Herausgeber von „Die Aktion“ (1917 bis 1932). Aus: Lisbeth Exner und Herbert Kapfer (Hrsg.): Pfemfert. Erinnerungen und Abrechnungen, belleville Verlag, München 1999, S. 7, mit freundlicher Genehmigung von Michael Farin. Das Foto wurde wahrscheinlich Ende der 1920er- oder Anfang der 1930er-Jahre aufgenommen.

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burg‘ von Andrej Bely und 1924 ‚Memoiren aus einem Totenhause‘ von Fjodor M. Dostojewski in ihrer Übersetzung.“ 33 Insgesamt hat Nadja Strasser nicht nur die genannten Romane übersetzt, sondern auch Shemaryahu Goreliks „Fünf Jahre im Lande Neutralien. Schweizer Kriegserlebnisse eines jüdischen Schriftstellers“. Dieses Buch kam im Jahr 1919 im Jüdischen Verlag in Berlin heraus. 1920 erschien vom selben Autor das Buch „Jüdische Köpfe“ beim Verlag Gurliff in Berlin, das Nadja gemeinsam mit ihrer Kollegin Stefania Goldenring übersetzt hatte. 34 Und 1923 erschien ihre Übersetzung von Leo Isaakowitsch Schestows „Tolstoi und Nietzsche“ beim Marcan-Block-Verlag in Köln. Doch Nadja Strasser begnügte sich nicht damit, die Werke anderer zu übersetzen. Nachdem 1917 ihr bereits beschriebenes erstes Buch „Die Russin“ erschienen war, eine Würdigung der fortschrittlichen russischen Frau, veröffentlichte der S. Fischer Verlag im Jahr 1919 ihr zweites Werk „Das Ergebnis. Lyrische Essays“. Darin greift Nadja Strasser nicht nur die bestehenden Geschlechterverhältnisse scharf an, sondern auch die Frauen, die sie akzeptieren: „Es gehört zu den geschichtlichen Notwendigkeiten, daß die Frau sich der männlichen Lebenseinstellung angepaßt, daß sie sich vor des Mannes Prioritätsgefühl gebeugt und an dessen göttlichen Ursprung fromm zu glauben sich gewöhnt hatte.“ 35 Für sich selbst hatte sie einige Zeilen zuvor bereits klar gestellt: „Ich aber – will die geschichtlichen Notwendigkeiten nicht, ich erkenne sie nicht an und respektiere sie nicht.“ 36 Außergewöhnlich ist an diesem Buch, dass Nadja Strasser die Schuld für die unterlegene Position, die die Frauen in der damaligen Gesellschaft einnahmen, bei den Frauen selbst sucht. Das hebt sie von anderen Autorinnen 33 Hauch: Besiegt, S. 167. Mit der Datierung der deutschen Version von Belys Roman irrte sich Hauch: Sie erschien erst 1919. 34 Bei Stefania Goldenring handelt es sich um eine der herausragenden Übersetzerinnen aus dem Russischen und Polnischen, die ungefähr von der Jahrhundertwende bis 1920 tätig war, leider ist fast nichts über sie bekannt. Internetrecherchen ergeben eine beeindruckende Liste an von ihr übersetzten literarischen Werken. Ihre Lebensdaten werden mit 1873–1920 oder 1857–1920 angegeben. Sie lebte in Berlin und gab unter dem männlichen Pseudonym Dr. Stephan Roskoschny auch Lehrwerke und Grammatiken der polnischen Sprache heraus. 35 Nadja Strasser: Das Ergebnis. Lyrische Essays, Berlin 1919, S. 11 f. 36 Ebd., S. 11.

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und Aktivistinnen ab. Die sogenannte Frauenfrage war ihr schon in „Die Russin“ mehr als nur die Frage nach dem weiblichen Stimm- und Wahlrecht, nämlich eine Menschheitsfrage gewesen. Nun richtet sie sich an die Frau direkt, die sie bezichtigt, selbst an ihrer eigenen „Seifenblasen- oder Ameisenexistenz“ schuld zu sein. 37 Einerseits präsentiert Nadja Strasser den Frauentypus, den sie verachtet, die alberne Gattin eines wohlhabenden Schriftstellers beispielsweise, die während eines Gesprächs ihr Hündchen liebkost. Andererseits stellt sie Frauen dar, die – wie sie selbst – aus einer unterlegenen oder aus der Gattinnenrolle ausgebrochen sind, die sich haben scheiden lassen, aber dann gezwungen waren, sehr schlechte Erfahrungen zu machen. Nicht die Männer möchte Strasser attackieren, sie rechnet hingegen mit der Bösartigkeit ihrer Geschlechtsgenossinnen anderen Frauen gegenüber ab. Insbesondere dann würden diese richtig infam, wenn es um die „verwundbarste und wundeste Stelle in der Frauenexistenz“ gehe, nämlich um das Alter einer Frau. Die Frau, diesen Schluss zieht Nadja Strasser resigniert, sei zur Freundschaft mit anderen Frauen nicht fähig. Sie giere nach Luxus und Überfluss, missgönne den Alleinstehenden jedes erotische Erlebnis und bekämpfe voller Wut die Mütter unehelicher Kinder. Verlassene Frauen, deren Mann oder Verlobter im Felde stehe, wünschten sich gar seinen Tod, um ihre Schmach nicht publik machen zu müssen. Und letztlich kommt sie zum größten Vorwurf, den sie den bürgerlichen Frauen in ihrem Buch „Das Ergebnis“ macht: Sie wirft ihnen vor, den Krieg nicht verhindert zu haben. Denn zwar sei es schlimm, das Leben mit dem Ruf „Ach Gott, ein Mädchen!“ beginnen zu müssen. Aber durch den Krieg hätten die Männer sterben müssen, bevor sie erwachsen geworden seien, und es seien die Frauen gewesen, die – zu unreif und zu egoistisch – nicht laut genug dagegen protestiert hätten. Somit müssten die Frauen die Verantwortung für die Millionen Kriegstoten übernehmen, unter denen ein junger Hartmut sich genauso befände wie ein junger Wolodja, während die größte Sorge der Frau derweil die um ihren Teint sei. 38 Die Frau, dieses „reizende Objekt für die reizbare Substanz“ Mann, fährt Nadja fort, habe bisher jede Demütigung hingenommen, die der Mann ihr

37 Ebd., S. 14. 38 Ebd., S. 14 und 15.

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zugefügt habe. 39 Sie habe sich auf die Funktion der Ehefrau reduzieren lassen und wisse von daher, ihrem Leben nur diesen einen Sinn zu geben, die Ehe eben und allein auf die Ehe zu warten. Doch seit dem Krieg, seit dem Tod von Millionen jungen Männern, sei die Absurdität dieser Haltung offenbar geworden. Der Frau, die noch immer davon träume, Ehefrau und Mutter zu werden und sich keinerlei anderen Fähigkeiten angeeignet habe, ruft Nadja Strasser zu: „Aber du weißt so gut wie ich, daß die Rechnung nicht mehr stimmt. Du wartest vergeblich.“ 40 Für Nadja Strasser selbst ist die Rechnung noch einmal aufgegangen. Im Jahr 1920 finden wir sie an der Seite ihres neuen Lebensgefährten, des Berliner Architekten Alexander Levy. Im Gegensatz zu Josef Strasser war Levy Jude und interessierte sich sehr für die jüdische Geschichte und Kultur. Darüber hinaus vertrat er eine denkwürdige Kombination: Er war – wenngleich bis zu einem gewissen Grad der Desillusionierung aufgrund der Erfahrungen, die er in Palästina machen sollte – ein überzeugter Zionist. Und er war Anarchist. So jedenfalls charakterisierte ihn der ungarische Schriftsteller Emil Szittya 1923: „[…] zu ihm gesellte sich ein Berliner namens Alexander Levy, der Sohn eines reichen Kaufmanns aus Berlin W. Er ist ebenfalls zionistischer Anarchist. Lebt in freier Liebe mit der bekannten russisch-jüdischen Schriftstellerin Nadja Straßer. Sie huldigen im Heiligen Lande dem nationalistischen Anarchismus und der freien Liebe.“ 41 1883 in Berlin geboren, war Alexander Levy zwölf Jahre jünger als Nadja. Für die 1920er-Jahre bedeutete dies, dass sich beide um die herkömmlichen Konventionen, denen entsprechend der Mann immer älter zu sein hatte als die Frau, nicht scherten. Levy hatte lange auf das Ziel hingearbeitet, in Palästina leben und arbeiten zu können. 1920 war das Paar gemeinsam nach Tel Aviv gegangen, wo Levy als Architekt arbeitete. 42 Doch 1927 mussten beide – offenbar auf-

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Ebd., S. 17. Ebd., S. 19. Emil Szytta: Das Kuriositätenkabinett, Konstanz 1923, S. 147. Die Grundlage für die Ausführungen über Alexander Levy bildet der Aufsatz von Edina Meyer-Maril: Alexander Levy – ein deutsch-jüdischer Architekt zwischen Berlin, Tel Aviv, Paris und Auschwitz. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 9 (1998), S. 315–337.

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Abb. 6: Nadja Strasser in Tel Aviv 1927. Aus: Julijana Ranc: Alexandra Ramm-Pfemfert. Ein Gegenleben, Edition Nautilus, Hamburg 2003, S. 67, mit freundlicher Genehmigung von Julijana Ranc.

grund der mangelnden Zahlungsmoral von Levys Kunden – nach Berlin zurückkehren. Über mögliche Aktivitäten Nadja Strassers in den Jahren zwischen 1927 bis 1933 liegen kaum Informationen vor. Einige Hinweise deuten darauf hin, dass sich die einst so revolutionär Gesinnte mit Schaudern von der Entwicklung in der Sowjetunion abgewandt hat, die sie im Jahr 1930 noch einmal besuchte. Julijana Ranc zitiert aus einem Brief, in dem Anja Pfempfert Leo Trotzki berichtet, dass ihre ältere Schwester Nadja gerade von dieser Reise in die Sowjetunion zurückgekehrt sei: „Alles, was sie in den ersten beiden Stunden erzählt hat, war schrecklich. Im Lande fehlt es an allem: Es gibt weder Fleisch noch Eier oder Reis, selbst Buchweizengrütze gibt es nicht. Ein Pfund Zucker kostet 8 Rubel, in der Regel ernährt man sich von Hirse!

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Auf Karten erhält man: Brot in ausreichender Menge, an allem anderen aber mangelt es. Alle reden nur vom Essen.“ 43 Wann genau Strasser und Levy Deutschland wieder verlassen haben, ist unklar. Vermutlich ging das Paar bereits im Frühjahr 1933 von Berlin nach Paris: „Infolge der veränderten politischen Lage in Deutschland war Levy gezwungen, Deutschland 1933 zu verlassen. Er folgte der Einladung eines Bankiers nach Paris, wo er einige Häuser in der Stadt selbst und in den Außenbezirken gebaut haben soll.“ 44 Während Nadja Strasser in Paris publizistisch nicht in Erscheinung getreten ist, veröffentlichte Levy zu jüdischen Themen und gründete im Jahr 1935 einen „Jüdischen Bund“, dessen Ziel es war, das jüdische Selbstbewusstsein in diesen Zeiten des Angriffs und der Verfolgung zu stärken. In den Zeiten der Verfolgung erlangte der Altersunterschied zwischen Nadja und Alexander plötzlich existenzielle Bedeutung: Er führte dazu, dass Nadja Strasser den Krieg und die Verfolgung überlebte, während Levy den Deutschen in die Hände fiel. Als Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich befanden sich auch Levy und Strasser nach dem sogenannten Hitler-Stalin-Pakt vom Spätsommer 1939, vor allem aber nach dem Waffenstillstandsabkommen, das am 22. Juni 1940 zwischen Frankreich und Deutschland geschlossen wurde, in prekärer Lage: „In den letzten Augusttagen und ersten beiden Septemberwochen [1939] erfuhren die deutschen und die österreichischen Flüchtlinge, daß das Asylrecht für sie kaum mehr galt, daß sie offiziell ab 1. September ‚sujets ennemis‘, d. h. feindliche Ausländer geworden waren. Nach der Unterzeichnung des deutsch-französischen Waffenstillstandsabkommens vom 22. Juni 1940 befanden sich die deutschen Emigranten ohne jeglichen Rechtsschutz. Sie waren vollständig der Willkür der kollaborierenden Vichy-Regierung und den Verfolgungsmaßnahmen der deutschen Besatzungsmacht ausgesetzt, die sich nach der Totalbesetzung Frankreichs am 11. November 1942 zusehends verschärften!“ 45 43 Ranc: Ramm-Pfemfert, S. 332. Pfemfert gab damals Kommunisten, die in Opposition zur offiziellen Parteilinie standen, eine Plattform. Vgl. Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 672; Mirjam Zadoff: Der rote Hiob. Das Leben des Werner Scholem. München 2014, S. 197 mit S. 334 Anm. 272, S. 299. 44 Meyer-Maril: Levy, S. 329. 45 Barbara Vormeier: Die Lage der deutschen Flüchtlinge in Frankreich. September

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Zwei Tage nach der französischen Kriegserklärung vom 3. September 1939 befahlen die französischen Behörden die Internierung aller Männer, die aus dem Deutschen Reich stammten und zwischen 17 und 50 Jahre alt waren. Elf Tage später, am 14. September, erging die Anweisung, dass die Männer zwischen 50 und 65 Jahren ebenfalls interniert werden sollten, auch die Juden unter ihnen, selbst bekannte Antifaschisten. Nun war auch Alexander Levy, der zu diesem Zeitpunkt 56 Jahre alt war, betroffen. Als die Deutschen im Mai 1940 Belgien besetzten und am baldigen Einmarsch in Nordfrankreich nicht mehr zu zweifeln war, wurden die Internierungslager, die sich in der Nordhälfte Frankreichs befanden, in den Süden verlegt. Doch nach dem Waffenstillstandsabkommen waren auch aus dem Süden, dem unbesetzten Teil Frankreichs, Internierte auf Verlangen der Deutschen auszuliefern. Wer in einem französischen Lager einsaß, musste daher befürchten, an diejenigen übergeben zu werden, vor denen er geflohen war. Und ab August 1940 wurden auch Frauen bis zum Alter von 65 interniert, befanden sich also in derselben Gefahr. Nadja Strasser, zu diesem Zeitpunkt bereits 68 Jahre alt, blieb auf freiem Fuß, aber Alexander Levy kam in eines der mehr als 100 Lager, die in Südfrankreich schnell und provisorisch aus dem Boden gestampft wurden. Mehrfach wurde er verlegt. Überliefert sind Aufenthalte in den Lagern von Francillon, Capoy, Les Milles, dann in Gurs und zum Schluss im sogenannten Camp de Noé in der Nähe der Pyrenäen, wo Kranke und Menschen interniert waren, die älter als 50 Jahre waren. 46 Das Lager Noé befand sich südlich der südfranzösischen Stadt Toulouse. Hier hatte man zuvor – ähnlich wie in einigen der anderen Lager – spanische Republikaner gefangen gehalten, die sich nach der Niederlage im Bürgerkrieg 1939 über die Pyrenäen nach Frankreich geflüchtet hatten. Ebenso wurden in Noé auch viele Juden interniert. 47 1939–Juli 1942, in: Jacques Grandjonc/Theresia Grundtner (Hrsg.): Zone der Ungewißheit. Exil und Internierung in Südfrankreich 1933–44, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 210–223, hier S. 210. Vgl. diesen Aufsatz auch zum Folgenden. 46 Meyer-Maril: Levy, S. 332. 47 Das gilt auch für andere Lager. In Gurs wurden beispielsweise die am 22. 10. 1940 aus Baden und der Saarpfalz deportierten Juden zusammengefasst, bevor man sie auf verschiedene Lager verteilte und später in die Vernichtungslager im Osten verschleppte. Vgl. Gerhard J. Teschner: Die Deportation der badischen und saarpfäl-

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Ab Sommer 1942 wurden im Rahmen der vollständigen Kooperation Frankreichs mit dem Deutschen Reich sämtliche Juden und Jüdinnen deportiert, derer man habhaft werden konnte – darunter auch viele, die nicht aus Deutschland stammten. Man muss davon ausgehen, dass rund 76.000 Betroffene von Frankreich aus in die Vernichtungslager im Osten deportiert wurden. 48 Das war auch Alexander Levys Schicksal. Ob seine Auslieferung allerdings wirklich von Noé aus geschah, wie Edina Meyer-Maril meint, ist unklar. Alexandra Ramm-Pfemfert sollte am 7. März 1947 in der New Yorker Zeitschrift „Aufbau“ ein Inserat aufgeben, in dem es heißt: „Wer kann Auskunft geben über das Schicksal des deutschen Architekten Alexander LevyLee? Er gehörte zu der Gruppe von 1006 oder mehr Personen, die am 25. August 1942 aus dem französischen Lager Recébédou abtransportiert wurde.“ 49 Recébédou war ein Teil des für Internierte bestimmten Lagersystems in der Nähe der Pyrenäen. Möglicherweise wurde Levy von Noé zunächst dorthin verlegt. Sicher ist: Man brachte Levy und rund 1000 andere Menschen, von denen 133 aus dem Lager Noé kamen, zuerst in das berüchtigte Sammel- und Durchgangslager Drancy bei Paris. Von dort aus wurde Alexander Levy nach Auschwitz deportiert und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmittelbar nach seiner Ankunft ermordet. Während seiner Deportation war es ihm noch gelungen, einer Person namens Gelber, ob Mann oder Frau wissen wir nicht, eine Postkarte für Nadja zu übergeben, auf der er geschrieben hatte: „Meine Liebe, je mehr man sich den Realitäten nähert, desto weniger sind sie erschreckend. Ich befinde mich im Zug und habe die Fahrt gut verbracht. Die Freunde [Auslassung durch Meyer-Maril] haben mir versprochen, sich um Dich zu kümmern. Alles wird zum Besten in der besten dieser Welten und auf baldiges Wiedersehen hoffe ich. Ich werde Dir vor Weihnachten nicht mehr schreiben. Meine Glückwünsche zu Deinem Geburtstag am 25. Sept.“ Adressiert hatte er die Postkarte an „Mme. N. Strasser, AYEN,

zischen Juden am 22. Oktober 1940. Vorgeschichte und Durchführung der Deportation und das weitere Schicksal der Deportierten bis zum Kriegsende im Kontext der deutschen und französischen Judenpolitik. Frankfurt a. M. 2002. 48 Vormeier: Lage der deutschen Flüchtlinge, S. 223. 49 Ranc: Ramm-Pfemfert, S. 175.

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Abb. 7: Alexandra Ramm-Pfemfert, Nadjas Schwester, und Alexander Levy (hier in einer Aufnahme von 1927 in Tel Aviv). Aus: Julijana Ranc: Alexandra Ramm-Pfemfert. Ein Gegenleben, Edition Nautilus, Hamburg 2003, mit freundlicher Genehmigung von Julijana Ranc.

Corréze“ [!] 50 Sie kam an. Nadja Strasser muss sich also im Jahr 1942 in Ayen, einem sehr kleinen Ort in der Nähe von Brive la Gaillarde, aufgehalten haben. Dort hat sie von der Verschleppung ihres Lebensgefährten erfahren, seine Ermordung konnte sie sich denken. Nadja Strasser lebte mit großer Wahrscheinlichkeit noch in Ayen, nachdem die Deutschen im November 1942 auch in den vorher unbesetzten Süden des Landes einmarschiert waren, und das aus gutem Grund. Denn die Corrèze, eine Region nördlich des südlicher gelegenen Périgord im Süd50 Der ganze Abschnitt nach Meyer-Maril: Levy, S. 337. Der französische Originaltext der Postkarte ist auf S. 333 zitiert. Der Expediteur hatte dort den Akzent falsch gesetzt, tatsächlich heißt die Region, in der Nadja sich aufhielt, Corrèze.

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westen Frankreichs, wurde in den Zeiten der deutschen Besatzung zum Inbegriff des Maquis, also des Widerstands. Der Landstrich verfügte über eine aktive Résistance, die sich in der ländlichen Region gut verstecken konnte, und über eine Bevölkerung, die erbittert gegen die Besatzer opponierte. Diese reagierten mit brutalen Straf- und Abschreckungsaktionen gegen die Stadtbevölkerung, für Angst und Schrecken sorgte ab Juni 1944 insbesondere die SS Panzerdivision „Das Reich“. Zu deren berüchtigtsten Taten gehört das Massaker an der Zivilbevölkerung des Ortes Oradour-sur-Glane, die im Juni 1944 in ihrer Kirche verbrannt wurden. 51 Das nur wenige Kilometer südlicher gelegene Ayen verfügt heute über rund 700 Einwohner, 1942 waren es etwas mehr. Wir können davon ausgehen, dass die jüdische alte Dame, die Nadja Strasser damals war, von der Bevölkerung dieses Ortes versteckt und geschützt worden ist. In Ayen hat sie Kenntnis von der Deportation ihres Mannes erhalten, dort ist sie aller Wahrscheinlichkeit nach bis zum Sieg der Alliierten über die Nationalsozialisten geblieben. Die nächste Nachricht, die es über Nadja Strasser gibt, stammt von ihrem Schwager Franz Pfemfert, der am 29. Juli 1945 an Rudolf Rocker schrieb: „Wir haben grauenhafte Nachrichten von Anjas jüngster Schwester, Manja, aus Berlin. Nadja, die andere Schwester, liegt in Paris im Hospital, was mit den Schwestern in Moskau, Leningrad und in Shanghai geschehen sein mag, und den Brüdern (Anja hat 8 Geschwister in dieser zerfetzten Welt!), wissen wir nicht.“ 52 Franz Pfemfert und seine Frau Alexandra Ramm-Pfemfert hatten sich im März 1933 nur knapp in die Tschechoslowakei retten können, waren von dort nach Paris gegangen und hatten nach dem Einmarsch der Deutschen erneut fliehen müssen. Über die USA gelangten sie letztlich nach MexikoStadt, wo Pfemfert im Mai 1954 sterben sollte. Seine Frau Anja konnte danach nach Berlin zurückkehren. Bei Manja, die Pfemfert in seinem Brief erwähnt, handelt es sich um Maria Einstein-Schäfer. Sie war in zweiter Ehe mit dem Studienrat Heinrich Schaefer verheiratet gewesen, der im Gegensatz zu ihr kein Jude war. Zunächst hatten die Nationalsozialisten die jüdischen 51 Vgl. Lea Rosh/Günther Schwarberg: Der letzte Tag von Oradour, Göttingen 1992. 52 Lisbeth Exner/Herbert Kapfer (Hrsg.): Pfemfert. Erinnerungen und Abrechnungen. Texte und Briefe, München o. J., S. 424.

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Abb. 8 und 9: Das Städtchen Ayen in der französischen Region Corrèze, wo Nadja Strasser die deutsche Okkupation überlebte und die letzte Nachricht von ihrem Mann vor seiner Ermordung in Auschwitz erhielt. Fotos: Birgit Schmidt.

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Partner in sogenannten Mischehen nicht angetastet, aber Schaefer war 1943 gestorben und Maria Schaefer musste in die Illegalität, um ihr Leben zu retten. 53 Sie hat zwei Jahre als so genanntes U-Boot im nationalsozialistischen Berlin überlebt. 54 Überlebt hat auch Nadjas Sohn Alex Strasser, der sich in London als Regisseur und Filmemacher etabliert hatte. 55 Dort schloss seine Mutter sich ihm an, nachdem sie aus der Pariser Klinik entlassen worden war. Und von London aus wandte Nadja Strasser sich an Rudolf Rocker, den sie noch aus ihren Berliner Jahren kannte. Rudolf Rocker, 1873 in Mainz geboren, war der führende Vertreter des deutschen Anarchosyndikalismus. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte er im Londoner Stadtteil East End gelebt und gewirkt, bis er infolge des Krieges als Deutscher ausgewiesen wurde. In Berlin setzte er sich an die Spitze der anarchistischen Gewerkschaftsorganisation FAUD, der Freien Arbeiterunion Deutschlands. Bis Mitte der zwanziger Jahre war die FAUD ausgesprochen 53 „Die Frau war ungeheuer mutig.“ Das erzählte Kläre Bloch ihrer Interviewerin Gerda Szepansky. „Sie hat es geschafft, in der Konstanzer Straße ein möbliertes Zimmer zu kriegen. Sie hat sogar Lebensmittelkarten bekommen, ich weiß nicht wie, aber sie bekam Karten für Arier. Sie hat überlebt.“ Gerda Szepansky: Frauen leisten Widerstand 1933–1945, Frankfurt a. M. 1996, S. 201. 54 Auf das Schicksal des ältesten Bruders Noi und der Schwester Ewa wird noch eingegangen werden. Die Jüngste, Basja (verheiratete Adorjan), lebte mit ihrem Mann zwischen 1923 und 1953 in China, von wo aus die Familie nach Brasilien übersiedelte. Zu den Geschwistern Jakow, Samuil und Jelischewa, die in der Sowjetunion lebten, gab es auch nach 1945 aus politischen Gründen keinen Kontakt. Jakow hatte den Zweiten Weltkrieg überlebt, da er nach Sibirien evakuiert worden war, Jelischewa lebte bis zu ihrem Tod 1976 in Moskau. Samuil Ramm wurde – nach der Verhaftung und Erschießung seiner Ehefrau Esfir Solmonowna im Jahr 1937 – verbannt und kehrte erst 1948 nach Leningrad zurück, wo er 1960 verstarb. Vgl. Ranc: Ramm-Pfemfert, S. 193 ff. 55 Julijana Ranc listet als Familienmitglieder auf: Die Ehefrau von Alex Strasser Annie Asch-Morgenstern (genannt Sesu, 1898–1978), die 1930 in Berlin geborene Tochter Andrea, die bereits 1984 verstorben ist, und die Töchter von Andrea und ihres Ehemannes Peter Keen: Alexandra Keen (1957–1984) und Jodi Canti, geborene Keen (geboren 1955), die das Manuskript ihrer Urgroßmutter an das Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam übergeben hat. Vgl. Ranc: Ramm-Pfemfert, Stammbaum der Familie Ramm.

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erfolgreich und konnte eine beeindruckende Anzahl an Mitgliedern verzeichnen, dann war der Höhepunkt überschritten und die Organisation verlor stark an Bedeutung. Rocker trat von nun an insbesondere als Redner und Autor hervor, bis er mit seiner Familie unmittelbar nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 fliehen musste. Da er den beiden damals bekanntesten Anarchisten Emma Goldman und Alexander Berkman politisch und persönlich verbunden war, kamen er und seine Frau Milly Witkop in Goldmans Haus in Südfrankreich unter. Von dort aus flüchteten sie in die USA und ließen sich in einer der anarchistischen Kolonien an der amerikanischen Ostküste nieder. 56 Dorthin schrieb ihnen Nadja Strasser am 3. Juli 1948. Sie wandte sich mit der Bitte an Rocker, ihr bei der Veröffentlichung des Manuskripts „Von Etappe zu Etappe“ behilflich zu sein und teilte ihm mit: „Ich schrieb es vor dem ersten Krieg und fügte später nur einiges hinzu. Aus rein persönlichen Gründen blieb es liegen, obwohl es im Prinzip von einem Verlag schon vor vielen Jahren angenommen wurde und ich selbst versagt habe.“ 57 Nadja Strasser gab an, sie habe „Von Etappe zu Etappe“ auf Deutsch geschrieben, aber in dieser Sprache fände es, die deutschen Juden lebten ja nicht mehr, keine Leser. Aus diesem Grunde halte sie eine Übersetzung ins Jiddische für sinnvoll. Sie lebe bei ihrem Sohn, sei von daher mit dem Nötigsten versorgt und wolle zugunsten der Übersetzung gerne auf ein Autorinnenhonorar verzichten. Eine Veröffentlichung aber wünsche sie sich sehr. Rocker muss solchermaßen aufmunternd reagiert haben, dass Nadja Strasser in London in freudiger Erwartung zurückblieb. Doch dann hörte sie nichts mehr von ihm. Verunsichert fragte sie am 4. Dezember 1948 nach. Nadja Strasser wusste noch nicht, dass der ältere der beiden Söhne Rockers, Rudolf Rocker Jr. zwischenzeitlich überraschend verstorben war – für seinen Vater und seine Stiefmutter Milly Witkop ein schwerer Schlag, von dem sich beide nicht mehr richtig erholen sollten. Briefe blieben liegen, Aufgaben unerledigt. Nachdem Nadja vom Tod Rudolf Rocker Jr. erfahren hatte, kon-

56 Vgl. Peter Wienand: Der „geborene“ Rebell. Rudolf Rocker. Leben und Werk, Berlin 1981; Rudolf Rocker: Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten, Frankfurt a. M. 1974. 57 Nadja Strasser an Rudolf Rocker am 3. 7. 1948, Archiv des Internationalen Institutes für Sozialgeschichte Amsterdam, Nachlass Rudolf Rocker.

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dolierte sie den Eltern und schrieb ihnen: „Ich sagte jemand vor kurzem, der von einem ebenso harten Schlag getroffen wurde, ganz spontan, an mich selbst denkend: ‚Seien Sie glücklich, dass der, den Sie liebten, nur gestorben und nicht zu Tode gequält wurde.‘ Ein schwacher Trost und dennoch …“ 58 Rudolf Rocker war nicht mehr in der Lage, Nadja Strassers Manuskript auf den Weg zu bringen. Nach dieser großen Enttäuschung ist sie nur noch einmal publizistisch in Erscheinung getreten, und zwar in der DDR-Zeitschrift „Aufbau. Kulturpolitische Monatszeitschrift“. Das wirkt auf den ersten Blick befremdlich, denn der Gegensatz zwischen dem deutschen Staatssozialismus und den Ansichten des Kreises um Pfemfert, Ramm und Rocker hätte eigentlich nicht größer sein können. Niemand von ihnen befürwortete die politische Entwicklung im Osten Deutschlands, sie hassten und bekämpften das stalinistische System. Auch stand es weder für die Pfemferts noch für Nadja Strasser jemals zur Debatte, sich auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) oder – in den Jahren nach 1949 – auf dem der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) niederzulassen. Dennoch veröffentlichte Nadja 1950 im „Aufbau“ einen Artikel, dessen Titel „Sowjetische Kriegsdichtung“ bereits irritiert. Beim weiteren Lesen wundert man sich darüber, dass und in welchem Ausmaß Strasser den damals gepflegten kommunistischen Sprachgebrauch hymnischer Sowjetverehrung übernommen hat und die Sowjetliteratur, insbesondere deren Lyrik, überschwänglich feiert: „Daß eine umwälzende Epoche, eine Epoche der Neugestaltung des ganzen Lebens eines Volkes und zuletzt das gewaltige Erleben des an Grausamkeit jede Vorstellung übersteigenden Krieges ihren unmittelbaren Ausdruck im Epos und der Lyrik gefunden hat, ist nicht verwunderlich. Und wir sehen eine Plejade von Sowjetdichtern, die zusammen ein monumentales Werk der Epoche geschaffen haben!“ 59 Plejade? Monumental? Nun waren auch „Die Russin“ und „Das Ergebnis“ nicht frei von expressionistischem Pathos gewesen, doch was war in Nadja Strasser gefahren, als sie den russischen Lyriker Sergei Jessenin einen „Sohn des Volkes“ nannte und behauptete, dass die sowjetischen Massen zwischen 58 Nadja Strasser an Rudolf Rocker, Brief vom 22. 6. 1949, Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam, Nachlass Rudolf Rocker. 59 Neoma Ramm: Sowjetrussische Kriegsdichtung, in: Aufbau. Kulturpolitische Monatszeitschrift 6 (1950) H. 1–6, S. 66–68, hier S. 66.

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Murmansk und dem Kaspischen Meer den Rhythmus seiner Verse fühlen würden? Warum diese verbale Anbiederung an ein System, an das sie nicht glaubte? Doch wer dem Text das übertriebene Pathos entzieht, merkt schnell, dass es Nadja Strasser nicht darum ging, für die Sowjetunion Propaganda zu machen. Sie wollte den Lesern und Leserinnen die Dichterin Vera Inber nahebringen, eine Sowjetdichterin, die geschmacklich eigentlich nicht auf ihrer Linie lag. Doch Vera Inber, die mit einem Arzt verheiratet war, der in Leningrad arbeitete, ging 1941 in diese Stadt, um bei ihm zu sein. Somit erlebte Vera Inber die Belagerung von Leningrad zwischen September 1941 und Januar 1944, die von der deutschen Heeresgruppe Nord und finnischen Truppen mit dem Ziel durchgeführt wurde, die Sowjetunion ins Mark zu treffen. Von den rund zwei Millionen Menschen, die in Leningrad eingeschlossen waren, verhungerten rund 1,1 Millionen. Vera Inber, die die Blockade überlebt hat, hätte die Stadt rechtzeitig verlassen können, meint Nadja Strasser, aber sie sei aus Solidarität bei den Hungernden geblieben: „Vera Inber verlebte die Jahre 1941/1942 im blockierten Leningrad, der dem Untergang geweihten Zweimillionenstadt.“ 60 Vera Inber hat die Blockade Leningrads und das Leiden der Bevölkerung in einem Gedicht, „Der Meridian von Pulkovo“, und in einem Tagebuch, „Fast drei Jahre“, beschrieben. In nüchternem Telegrammstil schildert sie darin die Luftangriffe durch die Gegner, den (vorläufigen) Rückzug der Roten Armee und die Aufgabe wichtiger Städte. Sie schildert den Verfall von Leningrad, die ständige Kürzung der Brotrationen, das Verhungern der Menschen und die unzähligen Leichen, die ohne Sarg beerdigt werden, weil es auch keine Särge mehr gibt: „Die Gesichter, die man in den Straßen sieht,“ schreibt sie, „sind entweder unnatürlich straff und von einem seltsamen Glanz (dann sind sie gedunsen) oder von grünlicher Farbe und mit Beulen bedeckt. Unter der Haut kein Tropfen Fett. Der Frost nagt an diesen ausgetrockneten Knochengerüsten.“ 61 Des Weiteren schildert sie, wie zum Hunger die Kälte kommt, dass das Stromnetz der Stadt nicht mehr funktioniert, und sie beschreibt das persönliche Unglück, das auch ihr geschieht, als ein Enkelkind stirbt. 60 Ebd., S. 67. 61 Vera Inber: Fast drei Jahre. Aus einem Leningrader Tagebuch, Berlin 1946, S. 14.

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Die Lektüre von Inbers Bericht hinterlässt den Eindruck, dass das erste Jahr der Blockade das schlimmste, das am wenigsten überwindbare gewesen war. In diesem Jahr kam auch Nadjas älterer Bruder Noi, der im Manuskript „Von Etappe zu Etappe“ unter dem Namen Mark auftritt, ums Leben. Noi Ramm verhungerte mitsamt seiner Ehefrau und seinem Sohn Semjon im Jahr 1941 in der belagerten Stadt, von der hier die Rede ist. Wenige Monate nach der Familie ihres Bruders, im Jahr 1942, erlitt die Schwester Eva, die einst als Zahnärztin in Warschau gearbeitet und die junge Nadja in die revolutionären Umtriebe jener Zeit eingeführt hatte, dasselbe Schicksal in der Leningrader Wohnung ihres Bruders. Deshalb liebte und bewunderte Nadja Strasser Vera Inber, sie liebte das Gedicht, das Inber über diese qualvollen Jahre geschrieben hat. Sie liebte es für „[…] das überströmende Gefühl für die Leidenden, die Schuldlosen, die sich verzweifelt Wehrenden“. Und sie liebte es für den „ebenso große[n] Haß gegen die Schuldigen, gegen die von Unmenschlichkeit Beladenen“. 62 Nadja Strasser hat ihren Lebensgefährten an diese „von Unmenschlichkeit Beladenen“ verloren. Die Deutschen haben eine ihrer Schwägerinnen ermordet, einen Neffen und zwei Geschwister. In Starodub, dessen blühende jüdische Gemeinschaft sie in „Von Etappe zu Etappe“ so eindrucksvoll beschreibt, gab es nach dem Krieg keinen einzigen Juden, keine einzige Jüdin mehr. „1847 lebten in Starodub 2558, 1897 5109 und 1926 3317 Juden. Die deutsche Okkupation (1941) überlebte keiner von ihnen.“ 63 Nadja Strasser zeichnete, das wundert nicht, ihren Artikel über Vera Inber mit ihrem jüdischen Namen Neoma Ramm. Innerlich war sie zu ihrer jüdischen Herkunft zurückgekehrt, offiziell hat sie ihren Namen aber offenbar nicht geändert. Das erweist sich daran, dass sie sich, als sie sich im Jahr 1951 dazu entschloss, London zu verlassen und wieder nach Deutschland zu gehen, unter dem Namen Nadja Strasser bei der Jüdischen Gemeinde meldete. Sie lebte vorerst in der Iranischen Straße, also im Durchgangslager der Gemeinde. 1951 war sie achtzig Jahre alt. Ihre letzten Jahre verbrachte sie in einem jüdischen Pflegeheim, wo sie am 19. August 1955 verstarb. Alexandra Ramm-Pfemfert starb am 17. Januar 1963 in Berlin. Sie liegt im selben Grab 62 Ebd., S. 67. 63 Ranc: Ramm-Pfemfert, S. 488.

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Abb. 10: Der Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in der Heerstraße in Berlin. Foto: Birgit Schmidt 2010.

wie Nadja Strasser auf dem jüdischen Friedhof in der Heerstraße in BerlinCharlottenburg. Mit Nadja Strassers Tod war ein schweres Leben, ein produktives Leben, ein Leben zwischen Starodub in der heutigen Ukraine, in Litauen und Wien, im böhmischen Reichenberg, in Prag, Berlin, Tel Aviv, und wieder in Berlin, Paris, Ayen, London und – zum Schluss – noch einmal in Berlin zu Ende gegangen. Ihre beiden Bücher wurden nicht mehr aufgelegt und sind heute nur noch antiquarisch aufzufinden. Die Veröffentlichung von „Von Etappe zu Etappe“ erfüllt endlich ihren sehnlichen Wunsch.

Von Etappe zu Etappe Nadja Strasser I Novodub oder Neu-Eiche hieß die uralte russische Kreisstadt, die meine Heimat war. Sie liegt im einstigen Gouvernement Tschernigow, dessen südlicher Teil zur Ukraine oder Kleinrussland gehörte. 1 Da fließt der herrliche Dnjpr zwischen wundervollen grünen Ufern, da spricht das Volk den melodischen kleinrussischen Dialekt und singt seine schönen und melodischen Lieder. Im Norden schließt sich dieses Gebiet an die mittlere Zone Russlands an, die wegen ihres schwarzen Bodens „schwarze Erde“ genannt wird. Zwischen dem südlichen und dem nördlichen Teil liegt der Kreis Novodub. Die Bezeichnung Eiche trägt die Stadt wohl wegen der vielen Wälder, die sie in weitem Kreis einschließen. Diese Wälder machen den Boden dieser Gegend feucht und fruchtbar und bringen der Bevölkerung sowohl Nahrung als auch Malaria. Novodub war die Hauptstadt eines Landbezirkes, der viele Dörfer, Güter, Flecken und ein paar kleine Städtchen umfasste. Es war beinahe eine Ehre, zu diesen Bürgern dieser Stadt zu zählen, denn nach Novodub kamen die Leute aus dem ganzen Kreise, um ihre Einkäufe zu besorgen. Von hier holten sich die ländlichen Schönen ihren Chic und hierher kamen sie auch, um sich zu amüsieren, und wenn es gelang, sich zu verloben. Novodub hatte einen Klub, in dem in den ersten Nachtstunden getanzt, geflirtet, in den vorgerückteren bis zum Morgen Hasard 2 gespielt wurde. Novodub besaß einen hübschen Stadtpark, wo im Sommer in einem Pavillon täglich eine Militärkapelle spielte. Jährlich zweimal fand ein Jahrmarkt statt, zu dem alle Pferde, Bauern und Dorfpopen aus der weitesten

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Tatsächlich stammte Neoma Ramm aus dem Ort Starodub, also Alt-Eiche, dessen Namen sie zu Novodub (Neu-Eiche) verfremdet hat. Starodub liegt im Westen Russlands, nahe der Grenze zur Ukraine und zu Weißrussland. Der Ort war eine Bezirkshauptstadt (Ujesd) im Gouvernement Tschernigow. Würfelspiel, Glücksspiel.

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Umgebung zusammenkamen. Novodub war der Sitz des Kreis- und Geschworenengerichts und hier stand endlich auch ein großes, weiß angestrichenes Gefängnis, in welchem die hervorragendsten Verbrecher des ganzen Umkreises, in dringenden Fällen auch die „Politischen“ untergebracht wurden. Mit einem Worte, Novodub war für ein winzig kleines Stück Land die Großstadt. Außer einer Beamtenschaft und der halbbäuerlichen Bevölkerung, die an der Peripherie der Stadt Gärtnerei, Gerberei und dergleichen trieb, gab es eine zahlreiche jüdische Einwohnerschaft, in deren Händen der Handel und das Kleingewerbe lag. Unser Gouvernement gehörte nämlich zum „jüdischen Ansiedlungsrayon“, d. h. zu jenem südwestlichen Teile Russlands, in denen die Juden in den Städten unbeschränktes Wohnrecht hatten, im Gegensatz zum übrigen größten Teil des Landes – Petersburg und Moskau mit einbegriffen –, wo bekanntlich das Wohnrecht der Juden eingeschränkt war. Der jüdische Teil der Bevölkerung lebte hier vollständig abgesondert von dem anderen. Der Verkehr ging über das Geschäftliche nicht hinaus. Selbst die Vorschulen waren gesondert. Die Verkehrssprache der Juden war Jiddisch. Nur mit den kleinen Kindern, besonders in den besser situierten Kreisen, wurde Russisch gesprochen, da sonderbarerweise die Ammen und Kinderfrauen ausschließlich der christlichen Bevölkerung angehörten. 3 Die Juden in Novodub bildeten, wie in jeder anderen Stadt des „Ansiedlungsrayons“, eine Stadt für sich. Sie hatten ihre oberen und unteren Schichten, ihren Adel und ihren Plebs, sie hatten ihre eigenen führenden Geister, die alle speziell jüdischen öffentlichen Angelegenheiten ordneten und leiteten. Die Juden hatten Ehren und Ämter zu vergeben, die zwar mit den offiziellen Ämtern nichts zu tun hatten, an Bedeutung aber diesen nicht nachstanden, denn die Verwaltung aller religiös-synagogalen Angelegenheiten, die 3

Nadja Strasser hat „einschliesslich“ geschrieben. Ich habe alle offensichtlichen Irrtümer und Rechtschreibfehler korrigiert. Dass Ammen und Kinderfrauen aus der christlichen Bevölkerung kamen, ist in der Tat nicht selbstverständlich. Nach dem Talmud ist die Mutter für 24 Monate verpflichtet, ihr Kind zu stillen. In einer gläubigen Familie wird sie deshalb nicht ohne wichtigen Grund eine Amme angestellt haben, schon gar nicht eine christliche. Die Beschäftigung christlicher Dienstboten allgemein hängt damit zusammen, dass nach den religiösen Vorschriften am Schabbat bestimmte Arbeitsvorgänge untersagt waren. Dafür brauchte man den „Schabbesgoj“.

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Armen- und Krankenpflege sowie das Schulwesen der Juden lag in ihren eigenen Händen. Die Leitung dieser Einrichtungen konnte man ebenso gut ein öffentliches Amt für Kultus, Unterricht und Wohlfahrt nennen. Denn selbst in einer so kleinen Stadt wie der unsrigen mussten die Interessen zehntausender Menschen gewahrt werden. Dieser Umstand brachte es mit sich, dass die Juden trotz ihrer vollständigen Rechtlosigkeit als Staatsbürger, trotz der Verfolgungen, denen sie bald in schärferem, bald in milderem Grade ausgesetzt waren, in Novodub, wie überhaupt in ganz Russland, ein tief ausgeprägtes Selbstbewusstsein hatten und in Bezug auf ihr Volkstum von einem Gefühl innerer Würde getragen wurden, das allen äußeren Entwürdigungen standzuhalten vermochte. In Novodub und seiner Umgebung waren meine Verwandten mütterlicherseits seit Generationen zu Hause. Meinem Großvater gehörte ein großes, weißes, steinernes Haus auf dem Marktplatz, in dessen unterer Etage und der Vorderfront sich seine und meiner Eltern Geschäftsräume befanden. Mein Großvater galt als vermögender Mann, doch war es nicht sein Vermögen allein, das ihm eine geachtete Stellung in der Stadt einräumte. Er war außerdem sehr fromm und menschenfreundlich und beteiligte sich in hervorragender Weise an allen Hilfswerken für die Armen. Nie ging ein Bedürftiger leer bei ihm aus. Eine beträchtliche Zahl unserer Familien, die in irgendeiner, wenn auch nur entferntesten Verwandtschaft zu ihm standen, hatte in ihm eine ständige Stütze. Er half nicht nur mit Geld oder dadurch, dass er die Leute irgendwie bei sich beschäftigte; er versagte auch niemals, wenn Rat und Tat und moralische Unterstützung nötig waren. In seinem Haus kamen und gingen fortwährend Leute ein und aus, die in ihren eigenen, oft intimsten Angelegenheiten sich an ihn wandten. Trotz seiner ziemlich umfangreichen Geschäfte fand er immer Zeit und Muße auch für andere. Er war Richter bei Familienstreitigkeiten und seine Stimme war entscheidend bei öffentlichen Angelegenheiten, die Juden betrafen. Dabei verging kein Tag, an dem mein Großvater sich nicht zu irgendeiner Zeit ein bis zwei Stunden seinen talmudischen Werken widmete. Soweit ich zurückdenken kann, sehe ich mich in unserem geräumigen, zweistöckigen hölzernen Hause, dessen beiden Stockwerke durch eine innere Treppe verbunden waren und dessen Besonderheit darin bestand, dass es zwei Haupt- und zwei Nebeneingänge hatte. Je einen oben in den hochgele-

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genen Hof und je einen unten in die tief abfallende Straße. Diese Bauart unseres Hauses erklärt sich durch die hügelige Bodenbeschaffenheit unserer Stadt, deren Straßen an manchen Stellen fast übereinander hingen. Sie würden dadurch ein ziemlich malerisches Bild geboten haben, wenn nicht Ungepflegtheit eine poetische Vorstellung schwer hätte aufkommen lassen. Das Passieren der Straßen war zu manchen Jahreszeiten eine schwere und nicht ungefährliche Aufgabe. Uns Kindern aber gaben diese Steigungen und Hügel Gelegenheit zu vielerlei lustigem Treiben. Mit besonderem Vergnügen erinnere ich mich an einen von uns „Der Berg“ genannten großen Hügel vor unserem Hause. Oben, dicht am Rande des Hügels, stand eine Kirche, zu der und über die hinaus eine Straße führte. Von der Kirche fiel ein Abhang schräg und glatt hinab. Und schon nach dem ersten Frühlingssonnenschein lockte uns durch die Fenster sein hellgrüner Teppich. Auf diese Anhöhe kletterten wir immer hinauf, um dann von oben je nach Laune langsam oder mit rasender Geschwindigkeit hinunter zu kollern. Was war das für ein Spaß so zu rollen, bald den blauen Himmel, bald das grüne Gras vor Augen! Im Winter war dieser „Berg“ auch wieder unser liebster Spielkamerad. In warme Mäntel wie kleine Eskimos gehüllt, sausten wir immer und immer wieder mit dem Schlitten in die Tiefen hinunter, schrien und lachten, bis uns die scharfe Kälte des früh anbrechenden Abends ins Haus jagte. Ich war die Drittälteste einer großen Geschwisterzahl. An den trüben Vorfrühlings- und Herbsttagen, wo wegen des schwer passierbaren Schmutzes auf der Straße wir Kinder das Haus nicht verlassen konnten, und ebenso an den langen Winterabenden, erschien unser Haus wie ein kleiner Kindergarten, in dem selbst erdachte lustige Spiele gespielt wurden, und wo es an Lachen, Lärm und Streitigkeiten nicht fehlte. Jedes Sofa verwandelte sich in eine herrliche Staatskutsche, drei Stühle wurden zur Troika, 4 die über Stein und Hügel in die Ferne raste. Der Kutscher knallte mit der Peitsche und schrie: „Hollaho Pferdchen!“ Den im Wagen Sitzenden erschien aber die Fahrt immer zu langsam und sie riefen: „He Kutscher, schneller, schneller!“ Ging ein Pferd durch oder fiel es hin, bekam der Kutscher Hiebe und wurde zum Passagier degradiert.

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Dreispänniger Wagen (Kutsche) oder Schlitten in Russland.

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Unsere Mutter war tagsüber wenig zu Hause, da wir ein Waren-Engros Geschäft hatten und die Mutter im Geschäft mithalf, besonders während der Abwesenheit des Vaters, der oft geschäftliche Reisen nach Moskau, Warschau und Lodz machte. Wir waren uns meist selbst überlassen, denn die Dienstboten hatten in dem großen Hause mehr als genug zu tun. Die Wärterin oder „Njanja“ widmete den Jüngsten meiner Geschwister ihre ganze Sorgfalt. Uns Größeren schenkte sie nur insofern Aufmerksamkeit, als sie immer und immer wieder in der Tür unseres Spielzimmers erschien und drohend den Finger an die Nase legte oder uns „Pst, Teufel!“ zurief, was so viel bedeutete wie „Kindchen schläft – seid still!“ Aber „still sein“ war niemals unsere Stärke gewesen, das brachten wir nur dann fertig, wenn sich die Kinderfrau zu uns setzte und uns ihre Geschichten „aus der alten Zeit“, d. h. aus der Zeit der Leibeigenschaft, erzählte. Und sie sprach aus Erfahrung, denn sie war entweder selbst in ihrer Jugend eine „Herrschaftliche“, d. h. Leibeigene, gewesen oder doch ihre Eltern. Viel Grausiges und Absonderliches erfuhren wir da von unseren alten Kinderfrauen. Von zu Tode gepeitschten Bauern; von „Gnädigen“, die ihre Zofen zur Belustigung so lange kitzelten, bis sie ohnmächtig wurden; von griesgrämigen, alten Gutsherren, deren wildes Treiben manchmal selbst dem Teufel zu arg erschienen wäre, so dass er sich durch allerlei bösen Schabernack rächte. Wir hörten solchen Erzählungen sehr gern zu und bestürmten die Alte bei jeder Gelegenheit mit der Bitte: „Njanja, erzähl uns was!“ Ich sehe die alte Frau noch lebhaft vor mir, wie sie bei manchen Erinnerungen plötzlich innehielt und den Kopf schüttelte: „Ja, Kinder, das waren bittere Zeiten!“ Eine dieser Kinderfrauen blieb jahrelang in unserem Hause; nicht nur das kleine Schwesterchen, das sie zu betreuen hatte, sondern auch wir Größeren hingen zärtlich an ihr, denn sie war unerschöpflich im Erzählen von Märchen und Fabeln. Sie kannte die wunderlichsten Sprüchlein; verstand sich auf Reime und lustige Wortverdrehungen. Aber eine furchtbare Eigenschaft besaß sie: Sie war Quartalssäuferin, ohne dass man es verhindern konnte, lief sie plötzlich weg und verschwand für zwei oder drei Tage. Wir alle und die Mutter gerieten in die größte Aufregung, die Kleine schrie nach der Njanja, man suchte und forschte überall nach ihr; dann erschien sie von selbst, verschämt, zerknirscht und reumütig. Sie bat uns um Verzeihung, kniete vor der Mutter, schwor tausend heilige Schwüre, nie wieder auch nur

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ein Tröpfchen in den Mund zu nehmen, und war nun wieder die goldene „Njanja“ – bis der Schnapsteufel sie nach einigen Monaten wieder entführte. Meine Mutter verlor oft die Geduld und beschloss, die Alte fortzuschicken, konnte sich aber nicht entschließen, uns diesen Kummer zu bereiten. Eines Tages wurde der Mutter mitgeteilt, dass man die Njanja mit dem Kinde auf dem Arm die Schenke betreten gesehen hatte. Das machte das Maß voll – sie musste unser Haus verlassen. Wir waren alle tief betrübt, und mein kleines Schwesterchen wurde schon vorher zu Verwandten weggeführt. Die Alte packte weinend ihre Sachen, nahm weinend Abschied und wiederholte immer wieder: „Grüßen sie mir mein liebes Täubchen!“ Schlimm war es aber erst, als die Kleine zurückkehrte und die Njanja nicht wiederfand. Sie schrie herzzerreißend und ließ sich durch nichts trösten. Sie schlief weder die erste noch die zweite Nacht und ihr klägliches Jammern „Meine Njanja, wo ist meine Njanja?“ erfüllte das ganze Haus. Unsere Mutter war verzweifelt und nur die Energie des Vaters verhinderte, dass sie die Alte zurückrief. Durch die Wärterin und ebenso durch die Eltern waren die Geschwister daran gewöhnt, in den Jüngsten unter uns immer die Hauptperson zu sehen. Sowohl der drohende Finger an Njanjas Nase und ihr beständiger Ruf: „Seid still, das Kind schläft“ als auch die Ermahnungen der Mutter: „Stört das Kind nicht!“ erzeugten in uns das Gefühl, als wären alle dem „Kinde“ unbedingte Ehrfurcht schuldig. Mit dem zwei- bis dreijährigem Kinde gingen auch die Eltern ganz anders um als mit den Größeren. Es wurde von ihnen verwöhnt und verhätschelt und ihm galten die zärtlichsten Liebkosungen. Als das Kind älter geworden, änderte sich auch ihr Verhalten ihm gegenüber. In den Beziehungen zwischen den Eltern und den größeren Kindern lag eine gewisse Sprödigkeit, und sentimentale Gefühlsäußerungen wurden von beiden Seiten vermieden. Nur in Krankheitsfällen fielen die harten Schranken. Und der Erkrankte wurde wieder ein Ausnahmeliebling, dem die zärtlichste Aufmerksamkeit der Eltern und aller anderen galt. Deswegen erinnere ich mich auch der leichten Krankheiten, die ich in der Kindheit durchgemacht, mit den wärmsten Gefühlen, als wären es kleine Feste gewesen. Besonders zurückhaltend waren unsere Beziehungen zum Vater. Wir lebten in grenzenloser Ehrfurcht vor ihm, die bis zur Scheu ging, obwohl er nur selten streng mit uns war. Seiner äußeren Bedeutung und seiner Haltung wegen schien er uns in einem Maße ernst und den andern überlegen, dass

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uns ein vertraulicher Verkehr mit ihm unmöglich war. „Der Vater kommt!“ bedeutete für uns so viel wie das militärische „Achtung! Still gestanden!“. Des Vaters Nachmittagsschlaf zu stören, schien uns ein Verbrechen. Und nie wären wir den Vater um einen Naschgroschen oder dergleichen Kleinigkeiten angegangen. Eines Tages saß mein Bruder, dem schon als Achtjährigen keine Mauer zu steil war, kein Zaun zu hoch, gerade rittlings auf dem Schutzbrett über dem hohen Tor unseres Hofes und produzierte sich vor einer bewundernden Kinderschar. Da erblickte er den Vater, der dem Hof zu schritt. Verwirrt und erschreckt warf sich der Junge auf das schmale, schräge Brett und blieb in dieser gefährlichen Lage mäuschenstill liegen, bis der Vater den Hof passiert und das Haus betreten hatte. Die kleinste unvorsichtige Bewegung – und der Junge wäre aus Dreimeterhöhe hinuntergestürzt. Aber vom Vater bei einer Ungezogenheit erwischt zu werden, war schrecklicher als die Gefahr. Mit allen unseren kleinen und großen Schmerzen wandten wir uns ausschließlich an die Mutter. Diese war jedem von uns Helfer, Freund und Richter. Sie war uns Licht und Wärme, die man fühlt, auch ohne sie zu sehen. Wenn wir in unserer Stube oder im Esszimmer, die beide im unteren Stockwerk lagen, spielten, und oben die Klingel anzeigte, dass Mutter kam – wie stürzten wir da alle die Treppe hinauf! Jeder wollte zuerst oben sein, ihr die Tür öffnen, ihr beim Abnehmen der Oberkleider behilflich sein. Was war das für ein Glücksgefühl, ihr zu erzählen, ihr zu berichten, ihre Hände zu fassen, neben ihr zu sitzen und zu fühlen: Mutter ist da. Sie war die Verkörperung echtester Weiblichkeit, wie man sie in solcher Reinheit nur noch in den Werken alter Romandichter findet. Anschmiegsam und weich ging sie vollkommen in ihrer anbetenden Liebe zu unserem Vater auf. Ihm gegenüber hatte sie keine eigene Meinung und keinen eigenen Willen. Was er gut oder hässlich fand – war gut und hässlich, konnte gar nicht anders sein. Auch uns Kindern gegenüber war sie ungemein nachgiebig, wenn sie sich auch aus erzieherischen Gründen bemühte, hie und da einen Schein von Strenge und Festigkeit zu zeigen. Es betraf insbesondere Dinge, denen sie selbst ihrem Wesen nach tief abgeneigt war. Nie durften wir Scheltworte gebrauchen, oder gar flunkern und lügen, nie durften die Größeren den Kleineren etwas fortnehmen. Strafbar war auch, ohne sie gefragt zu haben, in der Vorratskammer seine Gelüste zu stillen und dergleichen mehr.

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Sonst aber wusste Mutter nichts von Erziehungstheorien. Wenn sie an Winterabenden oder an Feiertagen zu Hause war, wichen wir nicht von ihrer Seite und jeder von uns bemühte sich, ein nahes Plätzchen neben ihr zu bekommen. Mutter erzählte uns dann Märchen und Geschichten. Der Stoff war meist der jüdischen Vergangenheit entnommen. Wir kannten jedes heilige Gefäß im Tempel zu Jerusalem und jeden Winkel in den Palästen des Königs Salomo. Sie erzählte uns von dem schwermütigen Saul, dem Liebling Gottes. Wir hörten mit verhaltenem Atem von den Kämpfen mit den Römern, von dem bösen Titus und von den jüdischen Helden, den Makkabäern und anderen; sie erzählte auch von den späteren furchtbaren Verfolgungen der Juden. Sie hatte die Gabe, selbst im Traurigen und Schrecklichen das Erhabene herauszufinden und dieses in den Vordergrund zu stellen. Ich habe nie jemanden natürlicher und schöner erzählen hören als meine Mutter. Ein anderer beliebter Stoff waren Familienerinnerungen. Nicht nur ihre eigenen Erinnerungen, sondern alle solche, die sich Generationen hindurch erhalten hatten, wusste sie lebendig wiederzugeben. Eine wahre Familienchronik bewahrte sie in ihrem Kopfe. Wir saßen stundenlang um sie und verfolgten die Lebensschicksale unserer Urgroßväter und Urgroßmütter. Und es war gewiss nicht der Stoff an sich, der uns fesselte, sondern die Art, wie die Mutter erzählte. Meist waren es die Freitag- und Samstagabende, wenn der Vater zum Beten ging oder im Nebenzimmer vor dem Folianten eines talmudischen Werkes saß und wir uns um die Mutter scharten. Es waren traute, liebe, stille Stunden, an die man später nur mit Rührung zurückdenkt. Von der Mutter erfuhren wir, dass unter unseren Ahnen viele waren, die durch Geist und Gelehrsamkeit hervorgeragt hatten, dass unseres Vaters Vater ein Buch unter dem Titel „Die Prunkkleinodien am Hofe des König Salomo“ geschrieben; dass einer unserer Vorfahren, der ein sehr frommer Rabbiner gewesen war, sogar Wunder gewirkt haben sollte. Und ähnliche Dinge mehr, die uns Kinder sehr stolz machten. Meinen schriftstellernden Großvater, der ebenfalls Rabbiner in einer ziemlich weit entfernten Gouvernementsstadt war, sah ich nur einmal in meiner Kindheit. Amtsmüde geworden und kränklich, fasste er den Entschluss, nach Jerusalem zu gehen, um dort seine Tage zu beschließen und in geweihter Erde begraben zu werden. Das war auch der Wunsch seiner Frau, die von männlicher Gelehrsamkeit und Frömmigkeit war, vielleicht des-

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wegen, weil sie – was damals eine große Seltenheit war – die hebräische Sprache vollkommen beherrschte. Bevor die Großeltern die weite Reise antraten, kamen sie zum Abschiedsbesuch zu uns herüber und blieben bei uns mehrere Wochen. Ich behielt den schönen Kopf des Großvaters in der Erinnerung mit weißen langen Haaren, blaugrauen Augen, wie sie auch unser Vater hatte, und sein sanftes, fast kindliches Lächeln. Dieses Lächeln erschien mir so seltsam und so rührend bei dem großen weißhaarigen Mann, zu dem alle, selbst der Vater, in größter Ehrfurcht aufblickten. Ich sah ihn immer verwundert an, wenn er lächelte. Ich hätte mich am liebsten an ihn geschmiegt und ihn liebkost. Aber das durfte ich nicht, denn solche Gefühlsäußerungen waren bei uns nicht üblich. Während dieses Großelternbesuches kamen täglich viele Menschen zu uns ins Haus, zahlreiche Verwandte und auch Freunde, die es für ihre Pflicht hielten, den Gast zu besuchen und ihm nach altem jüdischen Brauch Willkommen zu bieten. Vater und Mutter hielten sich in dieser Zeit meist zu Hause auf, es fehlte nicht an reichlicher Bewirtung und wir Kinder hatten das Gefühl: Feiertag. An zwei oder drei Sonnabenden verwandelte sich unser großes Wohnzimmer in ein dicht gefülltes Auditorium, vor dem der Großvater einen Vortrag über ein talmudisches oder alttestamentarisches Thema hielt. Die weiblichen Familienangehörigen saßen im Nebenzimmer und unterhielten sich leise. Wir Kinder kamen von Zeit zu Zeit herein und drückten neugierig das Ohr gegen die Türe, hinter der der Großvater sprach. Aber uns sowie den Frauen blieb dieser Vortrag im doppelten Sinne unverständlich, sowohl seiner uns fremden „Weisheit“ als auch der uns fremden hebräischen Sprache wegen. Als die Großeltern abreisen sollten, wurde für sie eine dreispännige Kutsche gemietet, die sie bis zur nächsten Stadt, von wo die Bahn ging, bringen sollte. In zwei anderen Wagen gaben Mutter und wir mit mehreren Verwandten den Großeltern etwa zwei Stunden weit das Geleit. Mir blieb diese Fahrt trotz des ernsten Anlasses als ein ungemein heiteres Erlebnis in Erinnerung. Besonders freute ich mich, als auf freiem Felde Halt gemacht wurde und alle bis auf die Abreisenden ausstiegen. Während sich die Erwachsenen um den Wagen der Großeltern versammelten, mit den mitgebrachten Gläsern anstießen und Abschiedsreden gehalten wurden, unter-

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hielten wir uns mit den Kutschern und baten sie, uns auf dem Rückweg zu sich auf den Bock zu nehmen. Dann küssten wir die Großeltern und sahen zu, wie ihre Troika mit lustigem Schellenklang auf der Straße davon rollte. Wir blieben noch lange stehen, bis das Schellen verstummte, der Wagen zu einem kleinen schwarzen Punkt zusammenschrumpfte und in der Ferne verschwand. Dann ging es zurück, und zu meiner unendlichen Freude erlaubte mir der Kutscher auch wirklich, neben ihm auf dem Bock Platz zu nehmen. Der Kutschersitz, die Reise in großer Gesellschaft, das wogende Feld auf beiden Seiten der Straße stimmte mich freudig und mich störte nur, dass meine Mutter weinte und die anderen traurige Worte sprachen. Dass es für die Eltern ein Abschied für immer war und dass ich niemals mehr den weißen Kopf und das Lächeln Großvaters wiedersehen würde – wollte mir nicht in den Sinn. Unsere in Novodub lebenden Großeltern sahen wir wohl täglich, aber es bestand kein rechter vertraulicher Verkehr mit ihnen. Die Großmutter litt, solange ich mich ihrer erinnere, an schlechter Verdauung. Und wie es bei Menschen mit schlechter Verdauung gewöhnlich der Fall ist, interessierte sie sich für wenige Dinge, die nicht mit ihrer Verdauung in Zusammenhang standen. Sie konsultierte fortwährend Ärzte und über ihr ewiges Medizinieren machten sich die Angehörigen untereinander insgeheim lustig. Der Großvater aber war zu beschäftigt, um der Schar seiner Enkelkinder viel Aufmerksamkeit zuzuwenden. Nur wenn eins von uns erkrankte, kam er zu uns, setzte sich ans Bett, fühlte regelmäßig den Puls, dann die Stirn des Patienten und ließ sich die Zunge zeigen. Darauf versicherte er, dass es morgen ganz bestimmt wieder gut sein würde und ging. Sonst aber sahen wir ihn bei uns im Hause nur an den Festtagen. Er kam regelmäßig am zweiten Vormittag jedes Festes zu uns, während alle Angehörigen ihm ebenso regelmäßig am ersten Festvormittag ihren Besuch machten. Zur gleichen Zeit wie er kamen auch gewöhnlich die anderen Verwandten der älteren Generation. Sie wurden oben von den Eltern feierlich empfangen und dann mussten auch wir erscheinen, um den Großvater zu begrüßen. Doch behagte uns dieses zeremonielle Auftreten so wenig, dass wir die erste Gelegenheit benutzten, um uns davon zu machen und uns in die geliebte erste Etage, wo wir ein demokratischeres Leben führen konnten, zurück zu ziehen. Einen Raum gab es jedoch auch oben, der uns zu allen Zeiten unwider-

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stehlich anzog, ganz besonders bei festlichen Gelegenheiten. Das war die Vorratskammer, zu der eine kleine, mit Tapeten bedeckte Tür neben dem Treppengeländer führte. Hier standen in Reihen riesengroße Gläser mit Eingemachtem, hier bewahrte die Mutter besseres Obst und vieles andere, was man neugierigen Kindern und Dienstbotenzungen fernzuhalten pflegte. Aus der Enge einer zeremoniellen Großvaterbegrüßung in das Freie dieses süßen Raumes zu gelangen, war eine wahre Lust. Freilich die Mutter war von einem solchen Raubüberfall nicht gerade erbaut. Mit der Zeit bildete sich zur beiderseitigen Zufriedenheit eine Taktik heraus, die, ohne dass wir zu kurz gekommen wären, uns die Jagd nach Beute und der Mutter den Ärger ersparte. War die Mutter nämlich dabei, die Teller mit Süßigkeiten herzurichten, blieben wir, als ginge nichts in der Welt vor, ganz brav unten im Ess- oder Spielzimmer. Einer von uns wurde dann als Abgesandter zur Mutter geschickt. Der beladen Zurückkehrende wurde mit Hallo empfangen und der Inhalt der Schürze oder der Schüssel schwesterlich und brüderlich geteilt. Dass es dabei hie und da zur Rebellion kam, ist selbstverständlich; doch die Treppe hinauf zu laufen und Mutters Gerechtigkeitsgefühl anzurufen, war für den, der sich benachteiligt fühlte, Sache eines Augenblicks. Viel gemütlicher als die offiziellen Vormittage verliefen die Feiertagsnachmittage bei uns. Da kamen die jüngeren Verwandten und Freunde des Hauses, auch die kleinen Cousins und Cousinen. Da durfte man laut sein und fühlte sich umso ungebundener, als Vater entweder gar nicht herauskam oder sich bald zu seinen Folianten zurückzog. Der übliche Nachmittagstee wurde in überreichem Maße durch Gebackenes, Eingesottenes und Eingemachtes ergänzt. 5 Man saß meist nicht in der steifen Gaststube, sondern im großen gemütlichen Esszimmer, plauderte, scherzte, unterhielt sich. Wir spielten mit unserem Besuch in einem Nebenraum oder zur Sommerzeit im Hof, wo es hundert heimliche Verstecke gab. Und nur das Gelüst nach einem süßen Bissen erweckte in uns von Zeit zu Zeit Sehnsucht nach den Erwachsenen. Zu den Feiertagen, auf die wir Kinder uns schon lange vorher freuten, gehörte auch das kurze „Purimfest“ im Winter. Das war ein echter Kinderfeiertag, wenn auch die Erwachsenen dabei in hervorragender Weise beteiligt waren. Da wurden wir alle von den Eltern und den Großeltern beschenkt. 5

Eingesottenes sind durch Sieden haltbar gemachte Früchte.

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Auch wir Geschwister beschenkten uns gegenseitig und tauschten mit Freunden und Freundinnen Geschenke aus. Diese verschickten wir durch kleine, eigens dazu bestellte Boten. Es war so herrlich, voll Spannung zu erwarten, womit dieser oder jener das ihm übersandte Geschenk erwidern würde. Man flog dem Boten voll brennender Neugier entgegen, um zu sehen, was er unter dem weißen Tuche verbarg. Manchmal gab es Enttäuschungen, meist aber wurde man durch etwas Unerwartetes und Lustiges erfreut. Oft spielten auch Scherze und Neckereien mit, über die man sich ärgerte oder lachte. In dieser angenehmen Aufregung verbrachten wir Kinder den ganzen Tag, während die Erwachsenen das „Purim“ nur zu den Halbfeiertagen zählten und ihren täglichen Geschäften nachgingen. Erst abends wurde das Fest allgemein. An diesem Abend, dem einzigen im Jahre, wurde bei uns oben im Wohnzimmer gespeist. Zu diesem Zwecke wurden zwei bis drei Tische zu einer langen Tafel zusammengestellt. Nicht nur die große Hängelampe brannte, sondern es wurden auch die Lichter in dem fünfarmigen Kandelaber angezündet und in die Mitte des Tisches gestellt. Außer unseren unverheirateten Angestellten waren, wie immer an Feiertagen, ein bis zwei Freunde bei Tische, die der Vater aus der Synagoge mitgebracht hatte. Jeder fand auf seinem Platz einen großen dreieckigen, mit Mohn und Honig gefüllten Purimkuchen, die speziell für diesen Tag gebacken wurden und „Hamantaschen“ 6 hießen Aber Mutter und wir Kinder kamen kaum zum Essen, denn jeden Augenblick sprangen wir auf, um Sendungen, welche Boten oder Dienstboten überbrachten, entgegenzunehmen. Am Abend sandten nämlich auch die erwachsenen weiblichen Verwandten und Freundinnen einander Geschenke, meist Dinge, die für die Tafel bestimmt waren: Torten, Zuckerwerk und dergleichen. Viele arme Frauen schickten eine bescheidene, mit Süßigkeiten geschmückte Schüssel an die Frau des Hauses, die aber nicht angenommen, 6

„Hamantaschen“ in Erinnerung an Haman, den Vertrauten des Perserkönigs Ahasver, der die Juden des Landes ausrotten wollte. Der Jüdin Esther gelang es jedoch, den König von der Unschuld der Juden zu überzeugen. Haman wurde hingerichtet. Mit dem Purimfest Ende Februar / Anfang März gedenkt man der Errettung der Juden. Anders als im Folgenden dargestellt, war Esther während dieser Vorgänge bereits die (zweite) Frau Ahasvers, folgt man dem „Buch Esther“ in der Hebräischen Bibel oder im Alten Testament.

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sondern mit Zugaben und einer Geldspende zurückgeschickt wurde. So eine Schüssel machte ihre Runde oft durch zehn und fünfzehn Häuser und brachte der Absenderin reichliche Gaben ein. Auch die Dienstboten, die eigenen sowie die der nahestehenden Familien, wurden am Purimfest in ausgiebiger Weise bedacht. Kaum war die Bescherungsaufregung vorüber, zeigte ein Stampfen im Hofe, ein Stimmgewirr und Lärm uns an, dass die „Purimspieler“ kamen. So hießen die Wandertruppen, die aus acht bis zehn jungen jüdischen Burschen des Ortes bestehend, am Purimabend von Haus zu Haus zogen und die geschichtlichen Geschehnisse des Tages vorführten. Das war der Höhepunkt der Freude! Alles drängte sich eng zusammen, die Tische wurden beiseite geschoben oder hinaus getragen. Die Schauspieler entledigten sich auf der Diele ihrer Oberkleider und richteten sich geschwind für die Vorstellung her. Zwei nebeneinander stehende Lehnstühle bildeten einen Königsthron. Auf dem einen Stuhl saß mit der Krone auf dem Haupt der König, an seiner Seite die böse Königin, die alle Juden umbringen lassen wollte und sich zu diesem Zweck mit dem ersten Minister, dem grausamen Haman, verbunden hatte. Haman trat auf und hielt eine feurige, antijüdische Rede in Versen. Seine Sporen klirrten und sein Säbel rasselte fürchterlich. So sehr wir ihn als unseren größten Feind hassten, imponierte er uns doch ganz ungeheuer durch seine dröhnende Stimme und durch seinen Säbel, mit dem er bei den Worten: „König, ich rate dir, töte alle Juden!“ in der Luft herumfuchtelte. Mordechai, der durch Ungehorsam gegen Haman das Unheil über sein Volk heraufbeschworen hatte, schüttelte verzweifelt den langen, weißen Flachsbart und jammerte dabei so komisch, dass wir in ein lautes Lachen ausbrachen. Dann trat seine Nichte auf, die schöne zarte Esther, die des Königs Herz gewann und die Juden rettete. Sie hatte ein derbes Jung-Burschengesicht, einen Blumen geschmückten Sommerhut auf dem Kopf, einen ausgestopften Busen und einen Schlepprock, unter dem dicke Männerstiefel hervorguckten. Sie gewann als die edle jüdische Heldin und triumphierend sahen wir zu, wie sich die Säbel der Soldaten erst über dem Kopfe der bösen Königin und darauf über dem Kopfe des grimmigen Haman kreuzten – und beide Judenfeinde tot waren. Nach der Vorstellung gingen die Eltern und wir drei größeren Geschwister zu den Großeltern. Dort waren auch schon die anderen Verwandten mit den Kindern anwesend. Kamen da gerade die Schauspieler an, dieselben oder

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eine andere Truppe, so sahen wir derselben Vorstellung mit der gleichen Begeisterung wieder zu. Wir durften auch selbst am Purimabend irgendwas Ulkiges vorführen. Zur Erhöhung des Vergnügens tauschten wir Mädchen die Kleider mit den Knaben. Es gab dann einen Heidenspaß, wenn uns der Großvater nicht mehr erkannte und uns miteinander verwechselte. Aber es gab auch zwei Festtage im Jahr, an denen lustig Sein eine Sünde gewesen wäre und die doch durch ihre Stille, andächtige Feierlichkeit, durch die besonders vertiefte Seelenstimmung, die sie hervorriefen, mir immer ein großes, zugleich angenehmes und wehmütiges Erlebnis waren. Das war der Festtag zur Erinnerung an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem und der große Versöhnungsfasttag im Herbst. Letzter wirkte besonders stark auf mich, schon in meiner frühesten Kindheit. Es lag eine eigentümliche Verinnerlichung in der Stimmung aller, eine milde, versöhnende Schwermut. Schon am Vorabend wurde alles Geschäftliche zeitig abgebrochen, die Eltern kamen nach Hause, um noch vor Sonnenuntergang die letzte Mahlzeit für diesen und den nächsten Tag einzunehmen. Dann zogen sie Feiertagskleider an und gingen in die Synagoge, woher sie erst gegen Mitternacht zurückkehrten. Vor dem Weggehen verabschiedeten sie sich von uns, als träten sie eine Reise an. Die Mutter küsste uns mit verhaltenen Tränen und bat uns, uns still und ruhig zu verhalten. „Heute will Gott Ruhe und Reue sehen, Kinder“, sagte sie. Als wir schon lesen konnten, mussten wir zu Hause beten und Mutter zeigte uns diejenigen Gebete, die für diesen Abend und für den nächsten Tag vorgeschrieben waren. Mit diesem Tag war noch ein besonderer Brauch in unserer Familie verbunden. Im Hause der Großeltern lebte noch eine Urgroßmutter, die Mutter meiner Großmutter, die ihre neunzig Jahre mit Rüstigkeit und guter Laune trug. Obwohl es ihr an nichts fehlte, hielt es meine Mutter für ihre Pflicht, ihr öfters allerhand Leckerbissen oder eine Flasche stärkenden Weins zu bringen und ein Stündchen bei Urgroßmutter zu sitzen. Die alte Frau erzählte gern und ich hörte ihr ebenso gern zu. Sie sprach so eigentümlich leise, langsam und feierlich, als müsste sie die Dinge, die sie sagen wollte, erst aus einem verborgenen Winkel ihres Gedächtnisses hervorholen. Gewöhnlich leitete sie ihre Erzählungen mit den Worten ein: „Es war nach den Franzosen“ oder „Es war, als die Franzosen kamen“. 7 7

Vermutlich eine Erinnerung an den Russland-Feldzug Napoleons 1812. Auf dem

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Ihre Erzählungen hörten sich wie Geschichten aus der Bibel an. Alljährlich am Vorabend des Versöhnungsfestes gingen alle Urenkel und Enkel zu ihr, um sich von ihr segnen zu lassen. Ich ging immer mit einem gleichaltrigen Cousin hin, der mir der liebste Spielkamerad meiner frühen Kindheit war. Während Urgroßmutter feierlich und andächtig ihre hageren Hände auf unsere Köpfe legte und kaum hörbar ihren Segen flüsterte, suchte der übermütige Kamerad meinen Blick zu erhaschen, um mich, wenn nicht zum Lachen, so doch zum Lächeln zu bringen. Ich hielt tapfer aus, und wenn wir draußen waren, sagte ich ihm, dass er ein Dummkopf sei und nicht begriffe, dass uns Gott beim Segnen der Urgroßmutter zusah. Mir erzählte einmal die Wartefrau der Urgroßmutter, dass, wenn sich noch bei deren Lebzeiten mein Bruder – ihr ältester Urgroßenkel – verheiratete, und seine Frau ein Kind bekäme, der Urgroßmutter im Jenseits die Zeit der Läuterung erspart bliebe und sie direkt und unmittelbar ins Paradies käme. Ich dachte oft daran und sagte mir, dass es eigentlich meines Bruders Pflicht wäre, sich sobald als möglich zu verheiraten. Aber es gelang meinem Bruder nicht, unserem Urgroßmütterchen den Eingang ins paradiesische Leben zu erleichtern.

II Als meine älteste Schwester die Schule zu besuchen begann, bat und quälte ich die Mutter so lange, bis auch ich mitgehen durfte, obwohl ich nicht viel über fünf Jahre alt war. Der erste Unterricht galt dem Hebräischen, d. h. wir lernten das Hebräische fließend lesen, ohne jedoch zu wissen, was die Worte bedeuteten. Wir saßen – etwa acht bis zehn Mädchen (für die Knaben gab es andere Schulen und die Lehrmethode war dort eine andere) – vor einem großen Tisch und sagten mit lauter Stimme der Reihe nach Sätze aus den Psalmen oder einem Gesetzbuch auf. Der Inhalt kümmerte niemanden, da wir ihn nicht verstanden, aber die Worte recht hübsch auszusprechen, den Satz nach der Steigerung der Stimme in der Mitte sanft und melodisch ausklingen zu lassen, darin bestand die Kunst. Mir machte dieses „Lernen“ unVormarsch nach Moskau stieß das 1. Armeekorps von Minsk aus an den Dnjepr vor und erreichte dabei die Gouvernements Mogiljow und Tschernigow.

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gemein viel Spaß und ich war so eifrig bei der Sache, dass mich der Lehrer bald durch einen liebkosenden Klaps auf die Schulter, bald durch einen sanften Kniff in die Backe auszeichnete. Nach etwa einem Jahre fingen wir bei einem anderen Lehrer mit dem Schreibunterricht an, Jüdisch und Russisch zugleich. Mit dem Schreiben ging es mir aber sehr schlecht. Meine Buchstaben wollten nie gerade stehen und sahen wie Betrunkene aus, auch konnte ich mich nicht daran gewöhnen, die Feder vorschriftsmäßig zu halten. Dafür wurde ich vom Lehrer nicht nur gescholten, ich bekam auch oft mit dem Lineal harte Schläge auf die Finger. Nach der Stunde jedoch – ob von Reue geplagt oder aus Angst vor meinen Eltern – nahm mich der Lehrer gewöhnlich auf den Schoß und sagte mir, dass ich eigentlich sein Liebling sei und dass er mich nur deswegen strafe, weil er mich am meisten liebe. Um mir diese Gegensätze plausibel zu machen, fügte er hinzu: „Sieh mal, auch die Juden werden von Gott härter als alle übrigen Völker gestraft und das geschieht nur, weil er unser Volk liebt.“ Es war mir ein großer Trost, dass ich das gleiche Schicksal wie unser Volk zu tragen hatte und söhnte mich mit meinem Lehrer wieder aus. Aber das Schönschreiben blieb mir für immer verhasst und ich hatte auch später manch harte Rüge – jetzt aber ohne den tröstenden Zusatz – wegen meines „Geschreibsels“ auszustehen. Da wir dieser Schule sehr bald entwuchsen – und für Mädchen eine höhere Schule in Novodub nicht vorhanden war –, wurde unser Unterricht durch einen Privatlehrer fortgesetzt. An einen von diesen erinnere ich mich mit besonders warmen Gefühlen. Es war der Lehrer einer Knabenschule, als solcher natürlicherweise Christ, einer jener schönen, idealen Gestalten, wie sie die russische Romantik der achtziger Jahre in Fülle hervorgebracht hat. Sei es, dass wir die ersten jüdischen Kinder waren, mit denen er in unmittelbare Berührung kam und dass es ihm Freude machte, in der Zuneigung zu uns sich selbst seine freie Gesinnung zu bekunden, sei es, dass er sich persönlich zu uns hingezogen fühlte: er war uns dreien – meinen zwei Geschwistern und mir – bald der treueste Freund geworden. Er las mit uns Puschkin und Lermontow und machte uns mit diesen großen Dichtern vertraut. Er war es auch, der uns als erster die traurigen, von Schmerz um das Volk erfüllten Gedichte Nekrassows verstehen lehrte. 8 Er trug den deutschen Na8

Nikolai Alexejewitsch Nekrassow (1821–1877) war ein Dichter, Publizist und Lyriker, dessen Gedichte um soziale Themen, insbesondere um das Leben der russi-

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men Kestelmann, aber er war in echt russisch-tolstoiischer Weise von Ehrfurcht und vor der Seelengröße und dem Leiden des russischen Volkes erfüllt und voll Liebe zur Freiheit. Mit uns verkehrte er, als wären wir nicht noch Kinder, sondern gleich ihm denkende Menschen. Wir verehrten und liebten ihn und seine Stunden waren für uns eine Quelle der Freude und Anregung. In diese Zeit fielen die ersten Kämpfe, die wir auf geistigem Boden, zuerst innerhalb der Familie, auszukämpfen hatten. Mein Bruder – der älteste von uns – ging ins vierzehnte Lebensjahr, ich war etwa elf. Ich liebte diesen Bruder abgöttisch und ließ mich von ihm immer stark beeinflussen. Meines Bruders wegen lebte bei uns im Haus ein jüdischer Lehrer, ein buckliger, sehr gelehrter Mann, der Rabbi David hieß und den Bruder im Talmud unterrichtete. Im Sommer und Winter stand dieser Mann vor Morgengrauen auf und las, oder vielmehr sang halblaut Abschnitte aus religiösen Werken. An manchen Tagen der Woche nahm auch sein Schüler daran teil. Oft weckte mich diese eintönige, wehmütig und geheimnisvoll klingende Melodie aus dem Schlaf. Dann lag ich halbwach und horchte mit einem Gefühl seltsamer Beklommenheit auf diese Töne. Mein Bruder kam mir vor wie in unbekannte, ferne Regionen entrückt und es schien mir immer, als erlebte er in diesen von nächtlichen Schauern erfüllten Morgenstunden etwas Absonderliches. Als all diese Tage längst der Vergangenheit angehörten, als mich nichts Reales mehr mit dieser Zeit verband – waren für mich die Stunden winterlichen Morgengrauens noch immer mit beklemmendem Bangigkeitsgefühl, mit Schauern und mit leise summendem Gesang verbunden. Gegen Rabbi David richteten sich die ersten Angriffe, als unser Kampf entbrannte. Unser Haus war selbst nach den damaligen Begriffen streng religiös. Das ganze häusliche Leben, von den einfachsten Vorgängen angefangen – wie der Zubereitung der Speisen – war nach feststehendem Ritus geregelt. Jeder schen Bauern nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, kreisen. Nadja Strasser bedient sich manchmal der Schreibweise Nekrassoff. Ich habe die Schreibweise – wie auch in vergleichbaren Fällen – vereinheitlicht. Michail Jurjewitsch Lermontow (1814–1841) schrieb bedeutende romantische Gedichte und übte mit seinem psychologischen Roman „Ein Held unserer Zeit“ großen Einfluss aus. Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799–1837) begründete die moderne russische Literatur und gilt mit seinen Gedichten, Versromanen, Dramen und Erzählungen bis heute als „Klassiker“.

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Schritt und fast jede Lebensäußerung war in irgendeiner Weise durch Tradition und Ritual beeinflusst und kontrolliert. All diese Vorschriften zu ertragen und zu befolgen, war physisch nur möglich, wenn der unerschütterliche Glaube vorhanden war, dass dies alles in einem höheren Sinne gut und notwendig sei. Jedes Übertreten der Vorschriften setzte nicht nur ein beträchtliches Maß selbstständigen Denkens voraus, es bedeutete auch einen Kampf gegen feste, tief eingewurzelte Anschauungen. Jeder rituell lebende Jude empfand die Verletzung der Vorschriften umso schmerzhafter, als er in ihnen den einzigen Schutz gegen die Auflösung seines Volkswesens erblickte. Wir Kinder lebten bis dahin ebenso im festem Glauben, dass die Entweihung des Sabbath durch Arbeit oder die Berührung des Geldes für den Juden eine Todsünde sei. Uns war es ganz selbstverständlich, dass am Tage der Zerstörung des Tempels gefastet werden musste, dass man am Passahfest Brot weder essen noch berühren durfte, dass uns unzählige Dinge verboten und ebenso viele vorgeschrieben waren, eben weil es uns Juden eine göttliche Offenbarung so bestimmt hatte. Aber nun drang durch unsere Lektüre ein neuer geistiger Strom in unser Leben. Wir warfen uns auf das Lesen mit der ganzen Gier aufgeweckter junger Köpfe. Die ersten Folgen waren religiöse Zweifel, die uns erst heimlich, dann offen in schroffem Gegensatz zu unserer streng gläubigen Umgebung brachten. Bei meinem Bruder war es die neuhebräische Literatur, die damals in ihrer ersten Blüte stand, und die ihn an den alten Überlieferungen irremachte. Besonders stark war der Einfluss des nach Amerika geflüchteten neuhebräischen Schriftstellers und Reformators Smolenski, der für die junge Generation der russischen Juden zu einem Luther oder Melanchthon wurde. 9 Wir, meine Schwester und ich, konnten die Bücher der hebräischen Sprache wegen nicht lesen, aber mein Bruder gab uns den Inhalt jedes Buches, Kapitel für Kapitel, wieder. Wir besprachen und kritisierten die Dinge, die wir bisher als selbstverständlich angenommen hatten. Immer klarer wurde uns, dass ein mächtiger, allweiser Gott alle die kleinen und kleinlichen

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Peretz ben Mosche Smolenskin (1842–1885) war ein russisch-jüdischer Schriftsteller und Herausgeber, der die hebräischsprachige Zeitschrift „Haschachar“ („Die Morgenröte“) verlegte. Smolenski(n) plädierte für ein neues jüdisches Nationalbewusstsein und gilt als Vordenker des Zionismus.

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Vorschriften, die unser inneres und äußeres Leben einengten, nicht gemacht haben konnte. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie merkwürdig, fast beängstigend mir zu Mute wurde, als mein Bruder mir eines Tages auseinandersetzte, dass selbst die Zehn Gebote nicht von Gott in eigener Person auf dem Berge Sinai an Moses gegeben worden sein konnten. „Aber warum steht es dann geschrieben?“ fragte ich, noch im Zweifel, ob ich meinem Bruder auch das glauben durfte. „Ja, siehst du: Moses war ein großer Prophet und Reformator, größer noch als Buddha oder Lygurkus. 10 Er brachte den Menschen den Glauben an den einzigen Gott bei und wollte ihnen auch neue, bessere Gesetze geben. Aber die Menschen waren zu dumm und heidnisch gesinnt, um seine Gesetzte anzuerkennen, und so zwang er sie dazu, indem er diese Gesetze als von Gott gegeben hinstellte.“ Meine Ehrfurcht vor Moses stieg nach dieser Erklärung ganz erheblich. Ich war ungemein stolz auf unseren Propheten, aber mit meinem Glauben an den göttlichen Ursprung irgendwelcher religiöser Vorschriften war es vorbei. Dass die anderen Menschen und auch unsere Eltern sich im Irrtum befanden, war für uns nun eine traurige, aber feststehende Tatsache. Ein Stück des Respekts vor Vater und Mutter war damit abgebröckelt. Nicht ohne Zagen und Bangigkeit fing ich an, verschiedene religiöse Vorschriften zu umgehen. Ich erinnere mich, mit welch seltsamen Gefühl von Trotz und Angst ich eines Samstags die Feder in die Hand nahm und etwas niederschrieb. Zum ersten Mal diese Entweihung des heiligen Tages! – Wenn Vater und Mutter das gewusst hätten! … Wir hüteten uns, sie in ihren religiösen Empfindungen zu verletzen, aber unmerklich entwickelten sich mehr und mehr Konflikte. Machte uns die Mutter Vorwürfe, dass wir nicht beteten, und sagte dabei: „Kinder, selbst ein Goj bekreuzigt sich und betet, wenn er aufsteht, ihr aber wollt ohne Gebet in den Tag gehen“, da konnten wir innerlich nur wehmütig lächeln. 11

10 Lygurkus – sofern er gelebt hat: zwischen 900 und 800 v. Chr. – gilt als Vordenker der spartanischen Werte: Gleichheit, militärische Wehrhaftigkeit, Wohlstand. Möglicherweise eine mythologische Figur. 11 Goj (Plural: Gojim) war ursprünglich die neutrale Bezeichnung für Volk und wandelte sich später zum Ausdruck für einen Nichtjuden.

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Mein Bruder hatte als Ältester und Knabe besonders stark unter seinem Freidenkertum zu leiden. Da der Vater zu verärgert war, um mit seinem störrischen Sohn friedlich zu verhandeln, lud er eines Tages zwei ältere Verwandte zu uns ein, die mit vereinten Kräften, mit Beredsamkeit und Argumenten den Knaben zur „Vernunft“ bringen sollten. Mein Bruder musste eine förmliche Verteidigungsrede halten. Er erzählte uns später, dass er die Alten so in die Enge getrieben hatte, dass sie zuletzt keine Argumente mehr aufbringen konnten. Da erhob sich ein Onkel und sagte: „Also höre, mein Sohn! Dass uns die heilige Thora auf dem Berge Sinai durch Gott gegeben wurde, wirst du hoffentlich nicht in Zweifel ziehen. Und alles andere lernst du schon wieder einsehen!“ Damit war das Tribunal zu Ende. Wir amüsierten uns köstlich über den Schluss der Diskussion, und die Worte: „Höre, mein Sohn! Dass die Thora …“ wurde für uns zur stehenden Redensart. Wollte einer von uns sagen, dass der andere in der Logik schwach sein, stellte er sich in Positur und fing an: „Höre, mein Sohn …“. Das genügte, der andere wusste schon, dass das hieß: Du bist ein Schwachkopf. So gemütlich verlief aber die Sache nicht immer. Mein Bruder musste wegen Verletzung verschiedener religiöser Gebräuche immer wieder strenge Ermahnungen anhören, seine Lektüre wurde überwacht. Da dies nichts half, wurde eines Tages sein Zimmer auf verbotene Schriften hin durchsucht, und alle Bücher freiheitlichen Inhalts wurden vom Vater feierlich, eins nach dem anderen, in den Ofen befördert. Solche Maßregeln, die in erster Linie den Bruder, aber doch auch uns betrafen, hielten uns in beständiger Aufregung. Wir betrachteten uns als Märtyrer und die Eltern, vielmehr eigentlich den Vater, als unseren Verfolger. Vielleicht war gerade dieser Kampf um die Gesinnung die Ursache, dass wir in unserem Kritisieren und Denken weiter gingen, als es unserem Alter entsprach. Wir gelangten bereits zu der Frage, ob denn ein Gott überhaupt existiere. Diese Frage war mir zur persönlichen Seelenangelegenheit geworden. Sie nahm mich so sehr gefangen, dass ich stundenlang allein herumirrte, gequält von dem Wirrwarr neuer und von früher her ungewohnter Vorstellungen. Nicht imstande, die Zweifel abzuwehren, vermochte ich ebenso wenig unseren lieben alten, wenn auch strengen Gott aufzugeben. Wie in einem Zauberkreis voll unbekannter Dinge drehte ich mich herum und kam immer wieder an denselben Punkt: Ja oder Nein? Oft blieb ich plötzlich irgendwo stehen und rang verzweifelt die Hände. Ich bat leise: „Gott, du siehst, wie

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gern ich an Dich glauben will – zeig mir doch, dass Du da bist! Gib mir ein Zeichen!“ Wie dieses Zeichen aussehen sollte, wusste ich nicht, aber dieses unerbittliche Schweigen schien mir beleidigend, wie der Hohn eines Mächtigen und Starken einem Schwachen gegenüber. So konnte ein Gott nicht handeln, und ich kam wieder zu dem Schluss: „Nein, es gibt keinen!“ Aber vor der Vorstellung eines ewigen, stummen, leeren Alls graute mir; ich spürte dieses Grauen beinahe physisch. Der Gedanke der Unendlichkeit, die ich mir nicht vorstellen konnte, drückte und ängstigte mich. Das Leben, ohne Führung eines höheren, uns ähnlichen Wesens, schien mir öde und wertlos. Ich fragte mich fortwährend: Welchen Zweck hat denn eigentlich mein eigenes Leben? Ich sagte mir wohl, dass ich leben müsse, weil ich die Meinigen liebte und ihnen mein Tod Schmerz bereiten würde. Aber oft, wenn wir uns mit unseren Eltern gar nicht mehr verständigen konnten, uns in unserer nächsten Umgebung seelisch bedrängt fühlten, erschien mir das Dasein, das meinige und das der anderen, als eine nutz- und sinnlose Quälerei … Zum Glück waren mein lebensbejahendes Naturell und die gesunde kindliche Anpassungsfähigkeit stärker als meine Philosophie. Dazu kam auch, dass unsere Beziehungen zu den Eltern nach und nach an Gereiztheit und Schärfe verloren. Wir wurden nicht mehr immer wieder zum Beten angehalten, und mein Bruder Mark musste nicht mehr zu einem unbekannten Zweck unendlich lange Talmudabschnitte auswendig lernen. Sein Hauslehrer Rabbi David, den wir als die Verkörperung des Dunkelmännertums gehasst und dem wir oft sogar grausam mitgespielt hatten, verließ unser Haus. Ich wurde nicht mehr im Morgengrauen von der wehmütigen Melodie geweckt, die mich mit Bangigkeit erfüllte. Es wurde uns überlassen, über religiöse Dinge zu denken, wie wir wollten, wenn wir nur äußerlich nicht roh und pietätlos das Gefühl anderer verletzten. „Die Welt ist nun mal anders geworden!“ – das war der stehende Satz, an den wir Jungen appellierten und durch welchen die Alten vor sich selbst ihre Konzessionen zu entschuldigen suchten. Meine weltabgeschiedene Verträumtheit wich vor dem wachen Schritt des Lebens, das in hörbarem Tempo auf uns von allen Ecken und Enden eindrang. In erster Linie waren es natürlich Bücher, die zu uns eine neue Sprache redeten. Dazu kamen aber auch Menschen, die, in dieser oder jener

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Weise unseren Weg kreuzend, unserem Gedanken- und Gefühlsleben frische Nahrung zuführten.

III Wenn auch die religiösen Konflikte an äußerer Schärfe verloren hatten, so blieb als Folge dieser Zeit doch ein noch reserviertes Verhalten der älteren Kinder gegen den Vater zurück. Er tat, als übersehe er uns in allem, was über den Kreis des engsten Familienlebens hinausging. Wir benützten seine Taktik, um die Ellipse seiner Laufbahn so wenig als möglich zu berühren. Des Vaters Nachmittagsschlaf war schon immer die Stunde, in der sich alles still zu verhalten hatte. Aber auch an anderen Stunden, war Vater zu Hause, mieden wir die oberen Zimmer und zogen die untere, republikanische Etage vor. Das ging umso besser, als auch unsere Freunde den Eingang unten lieber benutzten, wenn sie auch dabei einen kleinen Umweg ums Haus herum machen mussten. Zwischen Vater und uns war ein unverabredeter Waffenstillstand zustande gekommen, bei dem beide Parteien fühlten, dass es das Klügste und Beste sei, es nicht zu offenem Kampfe kommen zu lassen. Doch auch von einem vollständigen Frieden konnte keine Rede sein. Unserem Verhältnis zur Mutter hatte selbst der Kriegszustand nichts anzuhaben vermocht. Und sie war es auch, die mit leisem Seufzer stets alles auszugleichen suchte, die beim Vater für uns eintrat, die früher als andere einsah, „dass die Welt nun einmal anders geworden war“. Sie besorgte uns die richtigen Lehrer, sie bemühte sich, unserer Erziehung gerecht zu werden und sie einer neuen Zeit anzupassen. Aus einem Grunde, dessen ich mich nicht mehr entsinne, blieb Kestelmann nicht allzu lange unser Lehrer. Seine Stelle übernahm ein Petersburger Student, der wegen politischer Betätigung relegiert worden war. Die „Politik“ hatte in unserem stillen Neste damals noch keinen Boden und unser Lehrer hatte sie klugerweise wohl schon während der langen Reise von Petersburg nach Novodub in die entfernteste Tasche gesteckt. Selbst aus einem Hause ähnlich dem unsrigen hervorgegangen, entdeckte er sofort in uns die ersten Novoduber Schwalben des angebrochenen Aufklärungsfrühlings. Er wurde bald zum Kameraden meines Bruders, der um einige Jahre jünger war als er, und brachte ihn mit anderen jungen Menschen gleicher

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Gesinnung, seinen Schülern oder Bekannten, zusammen. Bald bildete sich ein enger Kreis von Freunden, die sehr verschieden im Alter, doch einig in ihrem Streben und Denken waren. Man traf sich sehr oft, meist bei uns, diskutierte, las und amüsierte sich nebenbei. Diesem Kreis gehörten wir zwei Mädchen auch an. Wir hatten nur wenige Freundinnen und mit diesen verband uns keine Interessengemeinschaft. Die Freunde meines Bruders betrachteten uns als ihresgleichen, trotzdem wir fast noch Kinder waren. Das ein bisschen herablassende Wohlwollen uns gegenüber störte uns keineswegs. Ich war schon von meinem Bruder her gewöhnt, mich bei gewissen Fragen und Themen, für die ich noch kein eigenes Urteil hatte, mit Zuhören zu begnügen. Hier war das umso leichter, als es im Verhalten der jungen Männer bei aller Kameradschaftlichkeit an einer gewissen Galanterie nicht fehlte. Traf es sich, dass ein paar Bekannte, die nicht zu unserem engen Kreis gehörten, sich bei uns einfanden, so stand das Amüsement im Vordergrund. Doch schloss das Vergnügen die Beschäftigung mit ernsten Dingen nicht aus. Von einer Diskussion über irgendein Lebensproblem zum Pfänderspiel – wie es so auf Russisch heißt: Fantenspiel – überzugehen, war Sache eines Augenblicks. Wer soeben noch seinen Tee kalt werden ließ, um eine Auseinandersetzung über die Willensfreiheit zu Ende zu führen, sprang eine Viertelminute später nach richterlichem Spruch auf einem Bein um den runden Teetisch, oder musste unter großem Applaus sechsmal hintereinander „Kikeriki“ rufen. Im Sommer bestand unser Hauptvergnügen im Freibaden und Rudern. Wir ruderten, erfrischt vom Baden und Schwimmen, stundenlang, bis uns die Dunkelheit ans Ufer trieb. Stand der Mond hell am Himmel, dehnten wir unsere Ruderpartien bis über Mitternacht aus. An dem schlafenden Schilf vorbei glitt unser Boot. Wir zogen mit den Rudern die geschlossenen weißen Wasserrosen zu uns heran. Und in der stillen weiten Luft erklang das alte, jedem in Russland Lebenden vertraute, bald gedehnte und traurige, bald ausgelassene Lied von der Wolga. Mit sonnigen Tagen und Spiel, mit Scherz und Lachen, blieb für mich noch ein hübscher junger Birkenwald verbunden, der eine halbe Stunde vor Novodub lag. Hinter diesem Wäldchen befand sich das kleine Gut einer uns entfernt verwandten Familie, die wir oft besuchten. Dort gab es eine Tochter, die meine und meiner Schwester Freundin war, und einen Sohn, der als Freund unseres Lehrers zu unserem intimsten Kreise gehörte. Diesem schlanken Jüngling, der übrigens fast um ein Jahrzehnt älter war als ich, galten auch

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meine ersten Liebesträume. Er imponierte mir durch sein weltmännisches Auftreten und die selbstbewusste Nonchalance seiner Manieren, die er sich durch den Aufenthalt in verschiedenen Großstädten angeeignet hatte. Er kleidete sich tadellos, erschien nie ohne Handschuhe und trug – was als Gipfel des Dandytums galt – bei trübem Wetter nicht einen Überzieher, sondern ein über die Schulter geworfenes Herrenplaid. Er dichtete sogar, wenn auch ziemlich dilettantisch. Aber er gab uns wenig Anlass, sich über ihn lustig zu machen, weil er selbst seine Gedichte nicht ernst nahm, dafür aber die Werke unserer großen Dichter temperamentvoll und gut vortrug. Seine Glanzleistung war der schaurig-packende Monolog Gogols: „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“. 12 Unvergesslich ist mir im Zusammenhang damit eine kleine lustige Szene geblieben: Unser Freund trug eines Abends diesen Monolog vor und stand aufgelöst im Wahn mit Schauergebärde vor uns, als mein vierjähriges Brüderchen leise ins Zimmer hereinkam. Der kleine Knirps blieb in einiger Entfernung vor dem Vortragenden stehen, sah ihn eine Weile mit großen, erstaunten Augen von der Seite an und rief voll tiefen Ernstes und trauriger Überzeugtheit: „Oh, der ist ja wahnsinnig geworden!“ Ein brausendes Bravo unterbrach den Vortrag unseres Freundes, aber es war doch der größte Erfolg, den er je mit seinen Rezitationen erzielt hatte. Die Beziehungen zwischen mir und meinem Helden gingen über einen verstohlenen Händedruck und manche kleinen Aufmerksamkeiten nicht hinaus. Als er aber wieder auf längere Zeit verreiste, schrieb er mir lange, zärtliche Briefe, nannte mich seine kleine Muse und dergleichen. Ich aber schrieb am Tage seiner Abreise in mein Tagebuch: „Stehe still, Leben. Du gehst mich nichts mehr an: Leo ist fort.“ Zur selben Zeit war meine Schwester in unseren Petersburger Lehrer verliebt. Nie sprachen wir ein Wort darüber, wir gaben uns den Anschein, als merkte die eine von dem Erlebnis der anderen nichts. Und in der Tat waren es für uns Episoden, die nur so nebenher gingen: denn unser innerstes Inte-

12 Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809–1852) veröffentlichte die „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ 1835. Darin schilderte er in Briefform die Entwicklung einer Geisteskrankheit. Darüber hinaus schrieb er folkloristisch-phantastische, satirische und religiöse Werke. Am berühmtesten wurde sein Fragment gebliebener Roman „Die toten Seelen“ (1842).

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resse gehörte den verschiedenen Ideenrichtungen, den alten und neuen Weltfragen und den Büchern. Wenn wir uns später mit den halb-verträumten, kompliziert-gradlinigen Helden Turgenjews identisch fühlten, so war es, weil trotz der Unterschiede im Milieu, in der Lebensweise, die geistige Atmosphäre im Allgemeinen und die Quellen, aus denen jene Helden und wir Nahrung schöpften, dieselben waren. Die Romantiker der Literatur: Belinski, Dobroljubow, Herzen und die Romantiker der Revolution: derselbe Herzen und Tschernychewski, der leidenschaftliche idealistische Pissarew – alle standen sie, wenn auch selbst schon tot, im Vordergrund des russischen geistigen Lebens, sowohl in der echt russischen, wie in den russisch-jüdischen Kreisen der Jugend. 13 Man verwob ihre Gedanken mit den eigenen. Das Gefühlsleben jedes einzelnen war von dem wundervollen Licht, das von diesen Meistern ausging, beeinflusst und beschienen. Wer jene Zeit nicht voll durchlebt hat, vermag nicht zu ermessen, welche erzieherische Wirkung, welche suggestive ethische Kraft in den Worten dieser Meister der russischen Intelligenz lag und welchen Widerhall sie in den frisch erwachten, von der Brutalität des Lebens noch unberührten jungen Gemütern fanden. Und dann die klangvoll-derbe Stimme eines Saltykow-Schtschedrin, eines Michalowski. 14 Dazwischen Dostojewski und Tolstoi. Jeder von ihnen war wie tönendes Erz. Es ergab sich aus ihnen eine Symphonie, die allen Schmerz, Hoffnung und Lebensfreude in sich einschloss. In dieser klingenden Atmosphäre lebte die russische gebildete Gesellschaft Jahrzehnte lang nach der russischen so genannten Aufklärungsepoche der sechziger Jahre. Und ihren lebhaftesten Widerhall fand sie ganz speziell 13 Wissarion Grigorjewitsch Belinski (1811–1848) war Literaturkritiker und Publizist, Nikolai Alexandrowitsch Dobroljubow (1836–1861) Literaturkritiker, Publizist, materialistischer Philosoph und revolutionärer Demokrat. Alexander Herzen (1812–1870) war der wohl bekannteste russische Autor, Publizist und Herausgeber, der aus dem Exil wirkte. Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski (1828– 1889) beeinflusste mit seinen Schriften – namentlich „Was tun?“ (1863) – die Entwicklung des Sozialismus in Russland. Dmitri Iwanowitsch Pissarew (1840–1868) war russischer Literaturkritiker, Sozialkritiker, Philosoph und Nihilist. 14 Michail Jewgrafowitsch Saltykow-Schtschedrin (1826–1889), Schriftsteller und Satiriker, der die gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit scharf anprangerte. An späterer Stelle wird deutlich, dass mit Michalowski der Publizist Nikolai Konstantinowitsch Michailowski (1842–1904) gemeint ist, einer der Wegbereiter der „Volksverbundenen“.

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in der russisch-jüdischen jungen Generation, die den Emanzipationskampf gegen uralte, lebensbeengende Dogmen hinter sich hatte und den empfänglichsten Boden für alles abgab, was durch Größe und Schönheit lockte. War es für die gesamte russische Intelligenz die Zeit der schönen Träume, so war es für den jüdischen Teil dieser Intelligenz zugleich die Zeit des Erwachens aller schlummernden Kräfte und des Dranges nach geistiger Betätigung. Was haben wir nicht alles in dieser Zeit an geistiger Nahrung in uns aufgenommen! Wie flog unser Denken und Fühlen jedem Gedanken und jedem Gefühl der Großen entgegen! Zu jeder wichtigen Lebensfrage Stellung zu nehmen, sie zu durchdenken, war uns ein zwingendes Bedürfnis, ohne dass wir dabei ein konkretes Ziel im Auge gehabt hätten. Selbst noch halb ein Kind, las ich damals mit Begeisterung Rousseaus „Emile“ und die „Erziehung“ von Spencer. 15 Über „Emile“ schrieb ich meiner Schwester, die auf kurze Zeit verreist war, einen acht Seiten langen Brief, dessen Inhalt war: „Wer schafft das Milieu, in dem Emile aufwuchs, wer erzieht die Eltern, die Emile erzogen haben?“ – Spencers Erziehungsprinzipien dagegen dienten uns bereits als Grundlage bei unseren erzieherischen Versuchen mit den kleineren Geschwistern, denen wir mütterlich zugetan waren.

IV Da geschah etwas, das sich wie eine schwarze Wolke vor unseren Horizont legte und wodurch sich in die frohen Töne unserer Jugend ein Zähneknirschen mischte. Zum ersten Male tauchte jenes abscheuliche Gespenst auf, dass man in Russland Judenpogrom nennt. 16 Man begann von oben herab jene verruchte Politik zu treiben, bei gärenden Volksunruhen die Bauern und das Lumpenproletariat auf die Juden zu hetzen, um sie von den wirklichen Ursachen ihres Elends abzulenken und eine Entladung der aufgespeicherten Unzufriedenheit herbeizuführen. Wie hungrige Kinder am Lutschen, so betäubte sich der hungernde Pöbel an wilden, sinnlosen Brutalitäten gegen 15 Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Hauptwerk (1762): „Émile oder Über die Erziehung“. Herbert Spencer (1820–1903): „Erziehung“ (1861). 16 Gemeint sind die Pogrome nach der Ermordung des Zaren Alexander II. im März 1881, die von rechtsgerichteten Kreisen den Juden in die Schuhe geschoben wurde.

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einen Teil der Bevölkerung, der gestern noch fröhlich Wand an Wand mit ihnen gelebt hatte und morgen wieder leben wird. In einer großen Stadt Südrusslands mit zahlreicher jüdischer Bevölkerung brach zuerst der Pogrom aus. 17 Drei Tage wütete der Pöbel, betrunken von Wodka und lustmörderischer Freude an Grausamkeiten gegen Frauen und Kinder … Mit Blitzeseile verbreitete sich auch bei uns die Nachricht von den Exzessen. Grauenhafte Einzelheiten gingen von Mund zu Mund. Sie erfüllten jeden von uns mit Entsetzen und Abscheu. Alle waren verwirrt und niedergeschlagen. Zu dem Schmerz und die Aufregung trat die Angst um das eigene Schicksal hinzu. Was tun? An wen appellieren? War es menschliche Bosheit, die den Plan ersonnen hatte, so waren es elementare Kräfte, der sie sich bei der Ausführung bediente. Ein Teil der christlichen Bevölkerung war von den Vorgängen beschämt und empört, ein anderer verbarg seine Schadenfreude nicht. Bei den kleinsten, unbedeutendsten Anlässen konnte man von Betrunkenen und Halbbetrunkenen die Drohung hören: „Man sagt, es wird auch bei uns los gehen … !“ Die christlichen Dienstboten, die ihren Herrschaften gewöhnlich gut gesinnt und ergeben waren, unterließen es nicht, immer wieder mit der Neuigkeit zu kommen: „Bald werden wir es hier auch so haben!“ Wochenlang lebten alle in dem Gefühl einer lauernden, tückischen, furchtbaren Gefahr. Und es lag etwas unheimlich Sinnloses, etwas Albdruckartiges in dem Gedanken an diese Gefahr. Wie böse Feinde werden Menschen, denen wir nie etwas getan hatten, in unser Haus eindringen, werden alles, was mit Liebe und Sorgfalt bewahrt, vernichten, besudeln, verwüsten – die Betten, in denen wir schlafen, die Tische, vor denen wir sitzen, die Bilder, die wir gewohnt sind, an unseren Wänden zu sehen – sie werden alles mit Äxten zerschlagen, aus den Fenstern werfen, in Asche verwandeln … Man wird unser stilles, liebes Heim zu einem Schutthaufen machen. Man wird deinen Vater, mit dem du kaum je in frivoler Weise zu sprechen wagtest, misshandeln. Auf diesem feinen, denkenden Kopf werden schmutzige Fäuste sinnlos Betrunkener einschlagen. Sie werden deine Mutter, diese liebe, warmherzige, naive Märchenerzählerin in gemeinster Weise beleidigen. Dich … 17 Die Pogrome begannen in Jelisawetgrad (heute: Kropywnyzkyj) und griffen dann auf Kiew und andere Städte und Ortschaften über. Nadja Strasser kommt später auf den Pogrom in Kiew zurück.

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Das gesunde Gehirn sträubte sich gegen das Spukhafte dieser Vorstellungen. Und doch brachte jeder neue Tag Einzelheiten dieser Art aus einer Pogromstadt. Zerschlagene Möbelstücke, Spiegel, Schränke flogen durch die Fenster auf das Pflaster. Die Straßen waren weiß von den ausgelassenen Federn der Betten. Aus den Läden wurden Waren weggeschleppt oder zu Haufen zusammengeworfen, mit Petroleum übergossen und angezündet. Kinder wurden gefoltert. Frauen aus den Kellern hervorgeholt und in furchtbarer Weise misshandelt. Also es ist kein Spuk! Kein Albdruck, von dem man erwacht und den man von sich abschüttelt. Alles das war dort geschehen, es kann auch bei uns eintreten, heute, morgen. An Abwehr oder Vorbeugungsmaßregeln war nicht zu denken. Wie auch? Wo wäre dagegen anzukämpfen gewesen und wie? Man konnte nur ohnmächtig die Zähne zusammenbeißen und schweigen. Und warten. Und warten, bis man sich selbst und seine Liebsten in den Händen eines zur Bestie gewordenen betrunkenen Menschenhaufens sah. Doch es kam diesmal weder bei uns noch in anderen Gegenden zu weiteren Ausschreitungen. Diesmal blieb der Fall vereinzelt. Die Spannung und die Depression lösten sich. Aber ein Gefühl schmerzhafter Bitterkeit, grenzenloser Empörung blieb zurück. Wir alle waren bis zum Überschäumen von Ekel und Abscheu erfüllt. Jeder fühlte sich gedemütigt ohne Schuld, in seinem innersten Menschlichkeitsgefühl getroffen, aus hellen Träumen gerissen. Wofür? Warum? Wir sind nicht schlechter als die, die uns bedrängten. Wir sind besser! Gibt es Juden, die besoffen auf den Straßen herumtorkeln? Nahmen die Alten dieses Besser-Sein als einen Trost hin, beugten sie sich vor dem Schicksal, das sie als Besseres seit jeher zum Leiden bestimmte, so weckte es in der Jugend Trotz und Kampfesmut. Das Gefühl der Zugehörigkeit zum Judentum erwachte in ihr mit frischer Kraft. Nur zusammenhalten! Nicht weichen, nicht wanken! Ein Feigling, der die Hand drückt, die schlägt. Der Mutige protestiert. Protestieren? Gegen wen? Gegen was? Ist unser Feind nicht die Luft, die wir atmen? Sagt nicht jeder Stein auf der Straße: „Ihr seid Fremde hier – hütet Euch!“ Dann fort? Dann dorthin, wo wir keine Fremden sind: In eine Heimat, in UNSERE Heimat … Palästina! – Das war das Wort, das Erlösung brachte. Palästina wurde nun unser Traum und unsere Sehnsucht. Das Heim unserer Väter, unser Heim – wie lockend erschien es, wie schön! Als stünde

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noch immer der Tempel dort und wartete, dass wir kämen und die Lichter vor dem Altar anzünden sollten. Als blühten für uns die Ölbäume auf dem Berge Carmel in alter Pracht und riefen uns zum Reigen. Fort von hier, wo wir nur hassen müssen! Freunde unter Freunden wollen wir leben, Menschen unter Menschen, Bürger unter Bürgern. Wie unsere Väter wollen wir eins mit der heiligen Scholle sein, mit ihr und von ihr leben. Nach Palästina! Das war der Ruf, der durch die Reihen der russisch-jüdischen Jugend ging. Hunderte Studierende verließen die Universitäten und zogen fort nach Palästina, um dort den Boden zu bebauen. Ihnen folgten Schwestern und Bräute, zahlreiche Familien verließen ihre alten Wohnplätze und gingen nach Palästina. Wir, das heißt unser engerer Freundeskreis, lebten zu weit von den Zentren, und ein anderer Teil war auch noch zu jung, um an eine sofortige Verwirklichung unserer Palästina-Träume zu denken. Aber wir lebten in diesem Traum, wir sahen ihn für uns alle in der nahen Zukunft verwirklicht, wir kultivierten alles, was uns diesem Gedanken näherbrachte. Die russischen Vornamen vertauschten wir nun mit unseren ursprünglichen, hebräischen, wir lernten die hebräische Sprache, diesmal nicht nur der Buchstaben, sondern der Gesänge Deborahs wegen. 18 Wie früher Nekrassow, der Sänger der Leiden des russischen Volkes, so wurde unser Lieblingsdichter jetzt Frug, der Sänger der Leiden des jüdischen Volkes. 19 Diese Zeit schuf auch einen geistigen Kontakt zwischen den Jungen und den Alten. Wir fühlten uns mit ihnen vereint durch die gemeinsame Schmach und den gemeinsamen Schmerz. Für mich hatten die Märchen der Mutter, die sie uns einst erzählte, einen neuen, lebendigen Sinn bekommen. Wohl ging die ältere Generation in der Palästina-Schwärmerei aus Vernunfterwägungen nicht bis zu jenem konkreten Punkte, der uns vorschwebte. Aber die Alten verstanden uns hier und fühlten mit uns. Wir waren für sie Träumer, aber es ging ein Wärmestrom von diesen Träumen aus, in dem auch sie Trost fanden. In unserem Haus durften jetzt unsere Freunde und 18 Deborah war eine Richterin und Prophetin im biblischen Israel. Im „DeborahLied“ (Buch der Richter 5, 1–31) wird der Sieg über die Kanaaniter besungen. Dies gilt als einer der ältesten Psalmen in der Hebräischen Bibel. 19 Frug ist Semjon (Simon) Grigorewitsch Frug (1859–1916), ein russischer jüdischer Volksdichter, der in seinen Schriften versuchte, die Lebenswelt des Schtetls mit der russischen Kultur zu verbinden.

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Bekannten frei verkehren. Die Mutter saß oft bei uns, und selbst der Vater verschmähte es nicht mehr, sich manchmal zu uns zu gesellen. Auf dem Boden der Palästina-Idee schloss sich uns ein Mann an, der eine ganz eigene Persönlichkeit war und uns in seiner besonders stillen Weise gewaltig anzog. Auch er stammte aus einem Rabbinerhaus und wurde in seiner Jugend noch strenger in religiöser Beziehung gehalten als wir. Schon als Schüler zeichnete er sich durch seine ungewöhnlichen Fähigkeiten aus. So war ihm der Weg eines frommen Gelehrten vorgezeichnet. Als zukünftiger „Goen“, als Talmudgenie, 20 genoss er die Achtung und die Bewunderung seiner ganzen Umgebung und wurde von den Verwandten wie ein Kleinod behandelt und gehätschelt. Dafür musste er das tun, was seine Pflicht und Aufgabe war: lernen, lernen, lernen. Keine Pause war ihm gegönnt, keine Erholung. Er war von Gott dazu ausersehen, die Hunderte von dicken Folianten, die den Talmud enthielten, die Mischna, und wie all die Nebenfächer des Talmud noch heißen, auswendig zu lernen. 21 Zu jeder Stunde des Tages, bis spät in die Nacht hinein, saß der Knabe und später der Jüngling über den tiefsinnigen Werken der religiösen jüdischen Philosophen und mühte sein junges Hirn mit Problemen ab, die keine andere Bestimmung hatten als geistige l’art pour l’art zu sein. Wie eine Bombe platzte der neue Zeitgeist in unsere Existenz hinein. Der geschärfte, im spezifischen Denken geübte Geist wendete sich gegen sich selbst, und was noch gestern vor dem jungen Gelehrten als unumstößliche Wahrheit stand, wurde heute umgeworfen und mit derselben Klarheit widerlegt. Ein tiefer Riss klaffte plötzlich zwischen ihm und seiner Umgebung. Er wendete sich von seiner frommen Gelehrsamkeit ab und fing an, heimlich 20 In der Regel als „Gaon“ wiedergegeben (Plural: Geonim). Der Begriff bezeichnet ursprünglich den Leiter einer hohen rabbinischen Schule. Später trugen herausragende rabbinische Gelehrte diesen Titel. Besonders berühmt ist Elia, der Gaon von Wilna (1720–1797). 21 Der Talmud besteht aus der ersten schriftlichen Fassung zunächst nur mündlich überlieferter Religionsgesetze, die um 200 n. Chr. niedergeschrieben wurden. (Mischna), den 300 Jahre später redigierten Mischna-Erörterungen (Gemara) und weiteren Kommentaren dazu. Man unterscheidet die Halacha, die Gesetze, und die Haggada (Aggada), die erzählenden und auslegenden Teile. Überliefert sind der palästinensische (Jerusalemer) und der – umfangreichere – babylonische Talmud.

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westliche Wissenschaft zu treiben. Als er bei seiner gottlosen Beschäftigung ertappt wurde, ging ein offener, scharfer Kampf los. Mit der Rabbinerzukunft war es aus, und die Eltern, denen sich seine Frau, die ihm als Achtzehnjährigen angetraut worden war, anschloss, verdammten den Abtrünnigen. Er verließ seine Familie und trieb sich in der Welt herum. Hornfeld wurde später ein bekannter Publizist, mit dessen Meinung man rechnete; damals aber schlug er sich mit Hebräisch-Stunden 22 durch, trieb philosophische und mathematische Studien und war ein begeisterter Palästina-Schwärmer. Er hielt sich einige Zeit in Novodub auf und zwischen ihm und unserem Bruder Mark entstand sehr bald eine sehr warme Freundschaft, vielleicht weil er und Mark manchen verwandten Zug, besonders den Hang zu abstrakten Träumen, besaßen. Meine Schwester und mich nahm Hornfeld erst so, wie wir von Marks Freunden gewöhnlich genommen wurden; als eine selbstverständliche Ergänzung unseres Bruders. Doch wurde er bald unser Lehrer im Hebräischen und unsere Beziehungen änderten ihren Charakter. Er zeigte uns innige Zuneigung, wir aber verehrten ihn in derselben Weise wie einst unseren ersten russischen Lehrer Kestelmann. Wie oft mögen da unsere Augen in schwärmerischer Bewunderung an ihm gehangen haben! Hornfeld war eine religiöse Natur, trotzdem er alles Formal-Religiöse von sich abgestreift hatte. Wenn er vom Judenproblem, von der PalästinaIdee sprach, schien es uns, als wäre einer der alten Propheten aufgestanden. Er hauchte frische Luft in die alte, graue, längst vergangene Welt ein. Die Berge, die Weingärten und Städte des alten Judenlandes erfüllten sich mit Leben. Die fernen versteinerten Helden wurden lebendige Menschen, die eine erhabene und doch uns verständliche Sprache redeten. Palästina war keine Vision mehr. Der Schleier fiel, und voll reicher, pulsierender Wirklichkeit standen die Vergangenheit und die Zukunft vor uns. Es erfüllte uns mit Stolz, dass so viel Schönes unter uns war und ist. Einmal saß unsere Mutter während der Stunde dabei und hörte zu. Wehmütig sagte sie: „Ja Kinder, so war es gewesen, alles war gewesen, solange der heilige Tempel in Jerusalem stand. Aber nach der Zerstörung des Tempels

22 Nadja Strasser hat „mit hebräischen Stunden“ geschrieben, aber aus dem Kontext geht hervor, dass er Hebräischunterricht erteilte, um Geld zu verdienen.

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zürnte Gott und wandte sich von seinem Lande ab und ließ es tot und arm werden. Doch wenn Messias kommt …“ Diese uns wohl bekannte, aber diesmal besonders weh tuende Resignation versetzte mich in helle Aufregung und ich rief: „Mutter, wir haben zweitausend Jahre auf Messias gewartet, aber er kam nicht! Messias wird nicht mit Sang und Klang kommen, Mutter, wie es die Märchen erzählen. Wir sind selbst unser Messias! Wenn wir nach Palästina [gehen] und uns dort eine Heimat bauen, wird der Messias gekommen sein.“ Die Mutter meinte: „Ihr Jungen denkt eben über alles anders. Wir glauben an Messias und hoffen, dass er kommen wird, wie uns versprochen wurde. So denken euer Vater und ich und alle anderen!“ Doch sagte sie es ohne Kränkung oder Ärger, es war nur eine kleine Abgrenzung der Standpunkte, der Gefühlsboden blieb derselbe. Hornfeld nickte mir zu. Als die Mutter fort war, sagte er: „Ich bewundere an Ihrer Mutter die Einfachheit und Reinheit, mit der sie Gott und dem Schicksal ergeben ist, – aber bleibt ihr nur so, wie ihr seid. Wir brauchen Begeisterung, wir brauchen Mut. Das ist die eiserne Brücke, von der es heißt, Gott werde sie bauen, wenn die Zeit gekommen sein wird, dass wir ins Land unserer Väter zurückkehren. Der Zeitpunkt ist gekommen, aber die Brücke zu bauen, ist uns selbst überlassen. In uns müssen wir sie bauen, Kinder …“ Wegen seiner komplizierten Familienverhältnisse musste Hornfeld nach einigen Monaten Novodub verlassen. Am Abend vor seiner Abreise kamen wir drei und noch einer von unseren gemeinsamen Freunden zu ihm, um Abschied zu nehmen. Er führte uns in einen großen, halb leeren Raum hinein, der ein Schulzimmer zu sein schien. Es standen nur zwei lange, gelb gestrichene Tische darin und ein paar Bänke. Hornfeld entschuldigte sich, dass er uns mit Licht nicht dienen könne. Er empfing uns hier, weil wir da ungestört seien. Aber seine Wirtsleute hatten keine Lampe für dieses Zimmer übrig. Wir setzten uns an einen der Tische. Durch zwei große, offene Fenster schien wundervoll hell der volle Mond herein. In dieser Beleuchtung schien der Raum tief und geheimnisvoll. So mochten die Katakomben ausgesehen haben. Wir sprachen davon, wo und wann wir uns wiedersehen würden. „Ich wünschte, wir sehen uns wieder an der Stätte, die uns allen heilig ist“, sagte Hornfeld. Damit kam er wieder auf seinen Lieblingsgedanken, den er uns schon oft und oft auseinandergesetzt hatte: „Seht“, meinte er, „wir haben zweitausend Jahre äußerlich nur von den Abfällen, und nicht von den besten, fremder Kulturen gelebt. Innerlich aber blieben wir unserer Mis-

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sion treu, die uns durch Moses in den uralten Zeiten zugeteilt worden war: die Idee des Geistes in den Menschen zu erhalten. Aber der Zwiespalt zwischen dem inneren und äußeren Leben und das lange Leiden hat unser Volk krank gemacht. Und doch sind die Leiden, die wir in früheren Zeiten und jetzt zu erdulden haben, nicht das Schrecklichste für uns. Viel schrecklicher ist die seichte, halbe Toleranz, die uns in den westlichen Ländern entgegengebracht wird. Das richtet die Volksseele viel mehr zu Grunde als all die Scheiterhaufen und Pogrome, denn sie zerstört in den jüdischen Seelen die Widerstandsfähigkeit und Tiefe. Vor dieser Verflachung, vor dieser Zermürbung müssen wir uns retten. Und das können wir, wenn wir den Gedanken des einheitlichen Geistes mit dem Gedanken an ein einheitliches Land für unser Volk verschmelzen.“ Der Mond beschien Hornfelds Gesicht, machte es blass, und er sah auch äußerlich wie ein Prediger aus. Mein Bruder hatte zur Abschiedsfeier eine Flasche Wein mitgebracht und holte dann von Hornfelds Wirtin Gläser. Wir stießen an, ohne etwas zu sagen. Wir brauchten unseren gemeinsamen Wunsch nicht weiter auszusprechen. Keiner fügte ihn auch hinzu, als wir beim Weggehen „Auf Wiedersehen“ sagten. Hornfeld drückte uns zum letzten Male die Hände mit den Worten: „Bleibt treu!“

V Doch ohne eine Zeitung geblieben, vermochten wir keine konkreten Schlüsse aus der Idee Palästina zu ziehen. Es bestand damals, wenigstens bei uns, keine Organisation, der wir uns hätten anschließen können. Für eigene Initiative fehlte uns Erfahrung und Mut. – Wir gaben zwar die Zionsidee nicht auf. Wir fuhren fort, Hebräisch zu studieren. Jedes neue Gedicht Frugs lernten wir auswendig, und es lebte in uns ein intensiveres, verstärkteres Empfinden der Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft. Aber der Palästinarausch, jene Ekstase, die aus einer Illusion eine greifbare Wirklichkeit machte, war allmählich verblasst. Die tiefe Depression, die der Kiewer Pogrom verursacht hatte, legte sich allmählich und damit verlor auch das Gefühl: „Ihr seid Fremdlinge hier!“ seine Schärfe. Fragen von konkreter, unmittelbarer Bedeutung tauchten für uns, meine Geschwister und mich, auf und nahmen uns vollständig in Anspruch. Die

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wichtigste war: was nun anfangen? Wie das Streben nach Wissen, nach Bildung in Tat umsetzen? Unser Lehrer verließ Novodub nach mehr als zweijährigem Aufenthalt. Bei uns gab es damals keine andere mittlere Schule als ein Progymnasium für Knaben. Für Mädchen existierte nur ein Pensionat nach Art der großstädtischen, in welchem auch an Nichtpensionärinnen Unterricht in Französisch, Deutsch und Musik, alles sehr oberflächlich, erteilt wurde. Meine Schwester und ich besuchten dieses Institut ein halbes Jahr lang, nachdem Kestelmann seine Lehrtätigkeit bei uns aufgegeben hatte und noch kein anderer Lehrer für uns da war. Schon damals behagte uns dieser Unterricht nicht. Die Mädchen, Kinder aus der Beamtenaristokratie, die sich mit zierlichen Schürzchen im Knixemachen übten, kamen uns wie plappernde Puppen vor. Ich konnte kaum ein überlegenes Lächeln unterdrücken, wenn irgendeine meiner Mitschülerinnen vor der Stunde, nervös und aufgeregt, auf und ab ging und büffelte: „Tisch – la table, la table, la table …“ Das war nichts für uns, und wir baten die Mutter, uns nicht mehr hin zu schicken. So gern uns die Mutter eigentlich als Schülerinnen dieses feinen Institutes sah, tat sie uns doch unseren Willen. Ein ernster Unterricht war nur in einem Mädchengymnasium möglich, die so genannt wurden, weil sie ungefähr das Pensum der Knabenrealgymnasien hatten und den Zutritt zur Hochschule gestatteten. Das bedeutete aber für uns dauernden Aufenthalt außerhalb des Hauses und setzte materielle Opfer seitens der Eltern voraus. Die Sache war umso komplizierter, als die Eltern, ganz besonders der Vater, die Notwendigkeit solcher weitgehenden Bildungspläne überhaupt nicht einsah. Wozu? Waren wir nicht Kinder aus gutem Hause, denen es an nichts fehlte und – will’s Gott – auch weiter an nichts fehlen würde? Lebten nicht sie selbst und so viele andere glücklich und zufrieden in Novodub, ohne sich selbst und die anderen durch unerfüllte Wünsche zu quälen? Das war eben der wehe und weheste Punkt unseres Lebens: ohne es zu wollen, verletzten wir mit allen unseren Gedanken und Wünschen andere und unsere Eltern. Wie war eine Verständigung möglich? Wie war ihnen klar zu machen, dass wir nicht so leben konnten, wie sie lebten? Das Leben ruft uns: Hört ihr’s nicht? Das Leben will wissende, freie, selbstständig denkende Menschen, das Leben treibt uns vorwärts: könnt ihr das nicht verstehen? Sie konnten’s nicht verstehen, denn auch sie waren Menschen, die mitten im Leben standen und nur Gutes wollten, und die doch Kinder ihrer Eltern

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geblieben waren. Dieser stille Kampf zog sich geraume Zeit hin. Ein äußerer Umstand veränderte die Verhältnisse in unserem Elternhause. Die Bewohner Novodubs hatten lange Zeit damit gerechnet, dass die Eisenbahnlinie, die für unsere Gegend geplant war, auch unsere Stadt, als die größte im Kreise, berühren würde. Das sollte neues Leben und einen geschäftlichen Aufschwung mit sich bringen. Aber eine andere kleinere Stadt, die indessen mehrere kleine Fabriken besaß, bewarb sich um dieselbe Gunst. Ein harter Kampf entbrannte, der mit dem Siege des Fabrikstädtchens oder vielmehr der Fabrikanten endete, die das Nötige dazu getan hatten. Das war ein schwerer Schlag für unsere Stadt. Denn im Nu war die Hauptstadt des Kreises zu einem Ort zweiten Ranges degradiert. Der ganze Verkehr ging auf die größeren Nachbarstädte über, die an der Bahnlinie lagen. Auch für unser Geschäft war ein starker Rückgang zu erwarten. Deshalb beschloss mein Vater, in dem rivalisierenden Ort eine Filiale zu gründen. Die Leitung oder die Aufsicht über diese Filiale, die für die Zukunft eigentlich als Hauptgeschäft geplant war, sollte, wenn der Vater nicht da war, der Bruder übernehmen. So verließ Mark unser Heim und die Stadt. Damit war eine unausfüllbare Lücke in unserem Leben entstanden. Wir versuchten eine Zeit lang, sie durch eifriges Korrespondieren auszufüllen. Wir schrieben uns so überzärtliche Briefe, dass unsere Mutter, der wir sie oft vorlasen, mehr aus ihrem guten Instinkt heraus als bewusst, davon öfter unangenehm berührt war. Bald im Scherz, bald im Ernst verbot sie uns, in dieser Weise zu schreiben: „Und wenn es auch euer Bruder ist – Maß muss gehalten werden“, pflegte sie zu sagen. „Solche Überschwänglichkeit ist unschön.“ Aber selbst das Korrespondieren mit dem geliebten Bruder konnte nicht lange die geistige Vereinsamung ausfüllen. Ich wollte um jeden Preis aus Novodub fort. Meine Heimat erschien mir wie ein Gefängnis, in dem ich zu Grunde gehen müsste. Was hier anfangen? Wie vorwärts kommen? Jeder leere Tag hier schien uns ein Vergehen an unserer Zukunft. Wir trugen uns mit Plänen und Gedanken, die unseren Eltern und Verwandten unverständlich, überspannt, geradezu lächerlich erschienen: „Ihr seid frei. Ihr seid auch schon gebildet, wie es die heutige Welt will! Was wollt ihr noch?“ „Wir wollen studieren!“ „Wozu?“ „Wir wollen einst selbstständig sein!“ „Lächerliche Geschöpfe. Ihr – selbstständig! Was werdet ihr mit eurer Selbstständigkeit anfangen? Ist eure Mutter etwa nicht selbstständig? Hat sie je um etwas

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bitten müssen? Und warum wollt ihr selbstständiger sein als alle übrigen Menschen der Welt?“ So redeten wir aneinander vorbei. Und kamen uns nicht näher. Nun aber beschlossen die Eltern, ich sollte auf einige Zeit nach P., den Ort, wo unser neues Geschäft war, reisen. Das sollte eine Abwechslung für mich sein, zugleich wurde aber damit ein praktischer Zweck verbunden. Ich sollte der alten Wirtschafterin, welche die kleine neue Hauswirtschaft in P. zu führen hatte, zur Hand gehen. Das lebendige, bunte Treiben, das durch den Bahnbau in dem kleinen P. herrschte, riss mich in der ersten Zeit mit sich fort. In der Stadt wimmelte es von Ingenieuren, großartig und großtuerisch auftretenden Bauunternehmern, allerlei Beamten, Lieferanten etc. Wie es gewöhnlich in solchen Fällen in Russland zugeht, floss ein Goldstrom aus dem Staatssäckel in die Taschen von Privatpersonen, hauptsächlich der am Bau beteiligten Ingenieure und Unternehmer. Er brachte auch unter das übrige Volk das klingende Metall und damit zugleich gehobene Stimmung und Lustigkeit. Es kam Leben in die Stadt. Troikas flogen hin und her, ein vordem unbekannter Luxus wurde getrieben. Den Putz der zugereisten Gattinnen oder Mätressen der Ingenieure machten die Damen des Ortes nach. Es entwickelte sich neben dem regen, geschäftlichen Tagesleben ein lustiges Nachtleben mit Champagnergelagen und allerlei übermütigen Streichen. Es war ein Gemisch von Großstadt und ausgelassener Provinz, die sich sagte: „Mein ist der Tag – mein ist die Ewigkeit!“ Unser Geschäft ging glänzend, und das verleitete meinen Vater zu immer neuen Vergrößerungen, die zwar vorläufig dem Bedarf entsprachen, später aber für uns verhängnisvoll werden sollten. Jetzt glitten wir mit dem lustigen Strom dahin. Alles, was jung war, sammelte sich um uns. Es gab Wagenpartien, Ausflüge, Amüsements, Unterhaltung aller Art. Bei uns war es nichts als harmlose, übermütige Lustigkeit. Mir machte es, da ich viel hofiert wurde, Spaß, wenn mir bei rasender Schlittenfahrt einer der jungen Herren die in den Schnee geworfenen, warmen Gummischuhe holen musste. Oder wenn ich einem anderen, der mir eine viertel Stunde lang seine Zuneigung versicherte, plötzlich sagte: „Ach, entschuldigen Sie, ich habe über etwas nachgedacht und gar nicht zugehört. Was sagten Sie?“ Eine tiefere Neigung fasste ich nur zu einem jungen Studenten mit warmen, schwarzen Augen. Er hieß Sima und weilte hier bei seinen Verwandten. Er konnte so zart und aufmerk-

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sam sein und teilnahmsvoll schweigend zuhören. Bei Spaziergängen blieben wir zusammen und gingen zehn Schritte vor oder zehn Schritte hinter den anderen her. Das gab Anlass zu allerlei Neckereien, aber das kümmerte mich nicht. Ob Sima mich dabei durch Gespräche unterhielt, das weiß ich nicht mehr. Bei der Lebhaftigkeit meines Temperaments war übrigens das Unterhaltungstalent meines Freundes keine unerlässliche Vorbedingung für eine rege Unterhaltung. Aber es war mir ein wohliges Gefühl, seinen warmen Blick in meiner Nähe zu fühlen. Und wenn ich allein war, sah ich immer diesen Blick und konnte stundenlang mit geschlossenen Augen dasitzen und von ihm träumen. Dieses Liebeserlebnis fand auf merkwürdige Weise ein jähes Ende. Einmal erlaubte sich jemand mit meinem Freunde einen harmlosen, aber dummen Witz. Ich stand abseits und wartete darauf, dass Sima den Frechling mit einem treffenden Wort abfertigen würde. Stattdessen wurde er ganz verlegen, fand überhaupt kein Wort und stand so hilflos da, dass der andere triumphierend lachte. Ich war verletzt und wie von einem kalten Wasserstahl getroffen. Ich sagte innerlich laut: „Oh, du bist ein Dummkopf!“ Und aus war es mit meiner Verliebtheit. Zu meinem eigenen Befremden erlosch in mir in diesem Augenblick jedes Interesse und jedes Gefühl für Sima. Weder seine flehenden Blicke noch seine Vorwürfe vermochten meine Stimmung zu ändern. Seine bald darauf erfolgende Abreise ließ mich völlig kalt. Mich ödete auch bald das ganze Treiben mit dem Einerlei des ewigen Amüsements an. Mark war tagsüber vom Geschäft vollständig in Anspruch genommen. Nur manchmal sprachen wir miteinander in alter Weise, waren aber selten allein. Es gab niemanden und nichts, was mich interessierte. Mein tiefstes Fühlen, meine Sehnsucht galten etwas Fremden, das keine Gestalt hatte, das etwas Unbestimmtes war und Leben hieß, und aus der Ferne mit tausend Stimmen lockte … Hinaus! Hinaus! Ich wusste nicht, wohin. Ich hätte kaum sagen können, was ich eigentlich wollte. Aber mit jedem Tag fühlte ich mich beengter und unglücklicher und es zog mich unwiderstehlich fort von hier. Ich war sechzehn Jahre alt. Und nun tauchte zum ersten Mal das Wort Revolution in seiner konkreten, rufenden Gestalt vor mir auf.

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VI Eines Tages erschien in P. ein Tanzlehrer aus der Residenz und eröffnete in dem elegantesten Saal, den er auftreiben konnte, eine Tanzschule. Es gab auch bald kaum einen nicht tanzenden jungen Menschen in ganz P. Ich tanzte schon immer mit wahrer Leidenschaft. Wenn ich hochrot war, wusste ich, dass ich noch weiter tanzen konnte, nur wenn man mir sagte: „Du bist schon ganz blass“, fühlte ich, dass ich bald aufhören musste. Jetzt kam System und Schule in die ganze Sache. Unser Bekanntenkreis bildete eine Gruppe für sich, wir trafen uns allabendlich mehrere Wochen hindurch in dem hell erleuchteten großen Saal. Eine wahre Tanzraserei war es, die uns befiel. Zu dieser Zeit kam Alexander Ratow nach P. zu seiner hier wohnenden Schwester. Sie hieß Frau Lindin, war sehr lebhaft und liebte es, junges Volk um sich zu sammeln. Ich kannte sie gut. Sie erzählte mir viel von ihrem jüngeren Bruder, den sie und ihre Kinder anbeteten. Er war Schriftsteller und Revolutionär. Beides machte mich aufs Äußerste neugierig. Ich erwartete ihn fast ebenso ungeduldig wie seine Verwandten. Ich hatte das unbestimmte Gefühl: „Er hilft dir, deine Bahn zu finden.“ Als er kam, benachrichtigte mich Frau Lindin, und ein paar Tage darauf ging ich hin. Ich sah ihn, noch bevor ich in das kleine Haus eintrat, durch das niedere Fenster und blieb unwillkürlich eine Weile stehen. Er saß in Hemdsärmeln vor dem Tische. Seine zwei kleinen Nichten saßen auf seinen Knien, während die ältere, den Kopf an seine Schulter gelehnt, auf dem Tische hockte. Daneben stand ein 8–9-jähriger Knabe, von dem ich bereits wusste, dass es Ratows Zögling Liowa war, den er mitgebracht hatte. Liowas Vater war plötzlich gestorben und die Mutter in Not geraten. Um den begabten Knaben nicht verkommen zu lassen, nahm Ratow ihn zu sich, pflegte und unterrichtete ihn. Jetzt brachte er ihn mit zu seiner Schwester, die ihn als Neffen aufnahm. Der Onkel erzählte den Kindern offenbar etwas, was sie sehr interessierte. Ich konnte mich kaum entschließen, das reizende Bild durch mein Eintreten zu stören. Endlich klopfte ich an. Ich hörte, dass eine kleine Verwirrung entstand. Als ich ins Zimmer trat, war Ratow verschwunden. Aus dem Nebenzimmer drangen das verhaltene, schalkhafte Lachen der Kinder und die Stimme des Onkels, der man das vergebliche Bemühen, drohend zu sein, anmerkte. Bald erschien er im schwarzen Gehrock, aber ohne Kragen und Krawatte. Diese hatten ihm die Schlingel verlegt und deswegen gelacht.

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Ratow war groß, breitschultrig und schlank zugleich, er hatte einen kaum merklich schief sitzenden Kopf und ein nicht gerade schönes, aber ungemein geistvolles Gesicht. Sein langes Haar, die klugen lebhaften Augen, die sicheren Bewegungen, machten ihn zu einer interessanten, auffallenden Erscheinung. Frau Lindin stellte mich ihrem Bruder mit den Worten vor: „Da ist sie!“ Das machte mich einen Augenblick verlegen, dann aber lachten wir alle. Ich sprach bald mit Ratow, als wäre er ein langjähriger Bekannter von mir. Als ich nach einer Stunde bemerkte, dass mich meine Tanzpflicht wegrief, bot mir Ratow seine Begleitung an. Von diesem Tage an holte er mich allabendlich von der Tanzstunde ab. Er erkundigte sich jedes Mal ironisch, wie es mir denn mit dem Pas tombée gehe. 23 Wir machten meist noch einen kleinen Spaziergang und gingen entweder zu seiner Schwester oder zu uns. Ratow las uns seine eigenen und auch fremde Sachen vor. Er war ein ausgezeichneter Rezitator. Ich erinnere mich noch lebhaft, welchen tiefen und hinreißenden Eindruck einige von ihm vorgetragenen revolutionären Gedichte auf mich machten. Ratow verstand es aber auch, zart und fein die kleinen stimmungsvollen Sachen seines Lieblingsautors Gleb Uspenskis und anderer zu lesen. 24 Eines Abends, als er mich wieder in seiner liebenswürdigen Art fragte: „Na – was machen die Pas tombées und die Pas glacées?“ sagte ich ihm: „Bitte, lachen Sie über mein Tanzen nicht! Ich tanze aus Verzweiflung!“ „So, warum denn?“ Ich schwieg und wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Meine Gedanken und Wünsche waren zu unklar und verworren. Ich konnte den richtigen Ton nicht finden. Die Sache war mir zu ernst, um sie mit Scherzton zu behandeln, und dennoch fiel es mir schwer, einen anderen Ton anzuschlagen. Ich fürchtete, ich würde mich nicht beherrschen können und am Ende wie ein kleines dummes Mädel zu weinen anfangen. Ich ging schweigend neben Ratow, der mit keinem Wort in mich drang, mich nach Hause brachte und sich verabschiedete. Zu Hause schrieb ich ihm einen langen Brief. Ratow hatte eine Gabe, die ich erst später richtig einschätzen und bewundern gelernt habe. Er ging mit unglaublicher Elastizität, aufrichtig und 23 Pas tombées und Pas glacées sind Tanzschritte. 24 Gleb Iwanowitsch Uspenski (1843–1902) war ein Anhänger der „Volksverbundenen“, der die Lebenswelten von Bauern und städtischen Unterschichten thematisierte.

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warm auf jede fremde Stimmung ein; für jeden wahren Ton fand er sofort den geeigneten Gegenklang. Ich hatte bei ihm die Empfindung, er versteht dich. Ich war nicht die erste, die sich an ihn um Hilfe aus innerer Bedrängnis wandte. Wo er auch lebte, hatte er stets um sich eine Schar von Jüngern und Anhängern, von denen fast jeder und jede in dieser oder ähnlicher Weise wie ich [an ihn] herangetreten war. Er war es gewöhnt, und darum begann auch sein Brief an mich mit den Worten: „Ich habe darauf gewartet!“ Das weitere war eine Mahnung: „Sei mutig, lerne wollen, gehe, wohin es dich treibt!“ Das war’s, was ich brauchte. Ich las den Brief zweimal, dreimal, fünfmal … . Ich rang die Hände wie einst, als ich Gott suchte, aber diesmal voll freudiger Dankbarkeit, denn jetzt hatte ich den gefunden, an den ich glauben konnte. Er versteht mich und wird mich nicht verlassen. Er wird mir helfen, meinen Weg [zu] finden. Er wird mir zeigen, wie ich das finde, was mir wie ein unklarer, lockender Traum vorschwebte, ohne dass ich es zu fassen vermochte. Ich fühlte, wie mir Flügel wuchsen. So muss Kolumbus gefühlt haben, als nach langem Warten seine Schiffe bereitstanden, ihn in das unbekannte Meer zu tragen, wo er das Land seiner Träume zu finden hoffte. Alexander Ratow war das Schiff, das mich liebevoll aufnahm, um mich in das Land meiner Sehnsucht zu bringen. Am folgenden Tage ging ich nicht in die Tanzstunde, sondern begab mich gegen Abend zu Frau Lindin. Ich sagte Ratow nichts, drückte ihm nur schweigend die Hand. Dann gingen wir zusammen fort. Er lenkte den Schritt dem nahe gelegenen Wiesenweg zu, von wo wir bald auf die Chaussee gelangten. Hier sagte er: „Nun erzählen Sie!“ „Ich habe nichts zu erzählen. Ich lebe wie hundert andere. Aber mir ist dieses Leben unerträglich. Es zieht mich fort von hier. Ich will, dass mein Leben einen Inhalt und einen Sinn bekommt. Herr Ratow, ich weiß nicht, wo das zu finden ist, ich kenne überhaupt kein Leben als das unsrige. Aber ich weiß: ‚Etwas muss es geben, ich fühle es mit jeder Fiber. Hier schleicht das Leben dumpf dahin. Hier sitzt man und wartet …‘.“ „Auf die gute Partie“, ergänzte Ratow. „Ich habe dazu keine Neigung, ich will fort, hinaus … Mich erdrückt diese Leere. Ich weiß, ich muss noch viel lernen. Und das will ich, um etwas zu werden. Meine Eltern halten es für Überspanntheit. Wie soll ich ihnen auch sagen: ich kann nicht so leben, wie ihr gelebt habt! Es klingt wie Hochmut, wie Einbildung. Alle anderen sind ja zufrieden, heißt es immer. Was gehen mich die anderen an? Die sehen und fühlen die Dinge

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eben anders. Kann ich was dafür, dass ich es nicht kann? Herr Ratow, mir ist manchmal, als müsste ich mit den Fäusten um mich schlagen oder schreien wie ein kleines Kind …“ Wir schwiegen eine Weile beide. Ratow schritt neben mir her, als dächte er über etwas nach, langsam sank der Abend herab. Wie ein helles Band zog sich die Chaussee zwischen den dunklen Wiesen vor uns hin. Rechts schimmerten vereinzelte Lichter aus den Häusern. „Dina“, sagte er dann, „da haben Sie meine Hand zum Zeichen meiner Freundschaft. Ich will Ihnen in allem beistehen. Das, wovon Sie träumen, ist kein Wahn. Wenn Sie den Willen haben, es zu verwirklichen. Bleiben Sie nur weiter so tapfer, wie Sie es jetzt sind. Ihr Weg ist klar. Sie gehören zu uns.“ „Zu uns?“ Was meinte er? Ich wusste es nicht deutlich. Aber wenn einem Menschen plötzlich Flügel wachsen können, so geschah es in jener Stunde. Und wenn jemand aus einem engen, grauen Raum sich plötzlich durch ein Wunder auf eine sonnige, blühende Wiese versetzt sah – so war es hier der Fall. „Vor allem müssen Sie studieren, Dina. Sie sollen Ärztin werden, um nützlich zu sein, um den Armen und Schwachen zu helfen. Wir müssen alle dem Volke dienen, nur dann hat unser Leben Sinn und Wert.“ Ich hörte Glocken klingen. Wie hell klangen sie. Wie lockend. Aber ich sagte nur: „O, Herr Ratow, Sie kennen all die Schwierigkeiten nicht, vor denen ich stehe. Das ist es ja eben. Meine Eltern wollen von Studienplänen bei mir nichts wissen.“ „Ja, ich kenne es. Es geht nicht Ihnen allein so. Die Jugend muss sich eben durchkämpfen. Bleiben Sie nur fest, bleiben Sie sich treu, dann siegen Sie, glauben Sie mir.“ Aus diesem Spaziergang ging ein Schicksal hervor. Hier begann jener Zauberknäuel sich abzurollen, dessen Faden ich von nun an folgte. Nie ist dieser Faden gerissen, nie habe ich ihn aus den Augen verloren. Auf dem Heimweg erzählte mir Ratow von seinen Freunden, die durch das gemeinsame Streben einen eng zueinander gehörenden Kreis, eine Familie bildeten, die immer miteinander in Fühlung blieben, wo sie auch waren. Die nichts voreinander verbargen, weil sie nichts zu verbergen hatten. Die alle dasselbe wollten: dem Volke dienen, ihm helfen, aus der Unwissenheit und Not heraus zu kommen. Die alle in demselben Glauben lebten: an die endliche Befreiung Russlands aus den furchtbaren Fesseln des Zarismus. Ratows Predigernatur ließ das Fernste in helle Nähe rücken. Ich sah

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mich in eine Atmosphäre versetzt, die wundervoll und neu und doch die meinige war. Hier allein fühlte ich, konnte ich atmen, voll atmen. Jenes unbestimmte Etwas, nach dem ich mich bisher heiß und schmerzhaft gesehnt hatte, dem ich aber keinen Namen zu geben wusste, hier nahm es Form und Inhalt an. Von nun an hatte ich ein Ideal, ein Ziel. Das Ideal war weit – das Ziel: ein in irgendeiner Ferne schimmernder Lichtpunkt. Aber es war das Zentrum, von dem aus alles erhellt wurde. Der Freiheit zu dienen, an der Seite der Bedrängten zu kämpfen, mit ihnen eins zu sein – das war es, was mich von nun an rief. Der Weg dahin führte durch Wissen, Arbeit und Kampf, das wusste ich. Ich musste noch viel lernen, musste vor allem so bald als möglich festen Boden unter meinen Füßen fühlen. Die Wirklichkeit aber, die jetzt gelebt wurde, war Ratow, war die wunderbar warme, fast metaphysisch reine Atmosphäre, in die er den hineinzuziehen wusste, der auf ihn einging. Er wurde selbst getragen, indem er den anderen trug und das machte den Verkehr mit ihm zu einem wahren Dauerfest. Alles Alltägliche verlor seine vulgäre Seite, da ein tieferer Sinn es durchleuchtete. Je mehr ich mich in die Ideenwelt Ratows hineinlebte, umso mehr fühlte ich mich gegen alles Profane gefeit. Nun wusste ich, was Ratow gemeint hatte: „Sie gehören zu uns.“ Es war mir völlig klar, dass sich die Meinigen mehr als bisher gegen meine Pläne sträuben würden. Denn durch den beständigen Kontakt, der zwischen Novodub und P. bestand, war es auch ihnen zu Ohren gekommen, dass ich mit dem Revolutionär Ratow freundschaftlich verkehrte. Schon das hatte zur Folge, dass ich verschiedene Ermahnungen und Warnungen erhielt. Und wenn ich erst ausgesprochen hätte, dass ich fort wollte? Selbst mein Bruder stellte sich mir merkwürdigerweise ziemlich schroff entgegen. „Es sind Luftschlösser“, sagte er immer. „Wo willst Du hin? Was denkst Du, auf der Bahn anzufangen, auf die Dich Ratow lockt. Das sind Phantastereien, durch die Du den Deinigen Schmerz bereitest, ohne selbst glücklich zu werden.“ Mir war es schmerzhaft, dass gerade Mark, mit dem wir so lange Hand in Hand gegangen waren, der mein erster Wegweiser gewesen, so sprach. Er ärgerte sich über Ratow, brauchte oft heftige Worte gegen ihn und ironisierte seine Freiheitsideen. Ihm behagte in erster Linie nicht, dass für Ratow, der selbst Jude war, das „bedrängte, leidende Volk“ nicht das jüdische, sondern das russische Volk war. Ratow war Revolutionär im vormarxistischen Sinne. Die Befreiung Russlands vom feudal-zaristischen System war das Endziel. Er

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vertrat jedoch jene Richtung, die im Tolstoischen Sinne die Befreiung durch Aufklärung, durch Propaganda unter den Bauern und Arbeitern zu erreichen hoffte. Gleiche Rechte für alle, Achtung und Toleranz fremden Minoritäten gegenüber waren die ersten Programmpunkte. Daraus ergab sich die Stellung zu der Frage der Juden von selbst. Für die Träger dieser Richtung existierte keine „jüdische Frage“: es gab nur ein „jüdisches Recht“ im Rahmen der Menschenrechte, wie sie von der Französischen Revolution proklamiert worden waren. Das alles erschien aber Mark zu theoretisch und abstrakt. Sein unmittelbar jüdisches Gefühl lehnte sich gegen diese Verallgemeinerung auf. Mein Bruder und Ratow vertrugen sich so schlecht, dass sie nicht mehr zusammenkommen konnten, ohne sich in mehr oder weniger abstrakter Form unangenehme Dinge zu sagen. Mir war diese Situation unerträglich, denn ich liebte doch meinen Bruder und verstand ihn, wenn ich mich auch der Ideenrichtung Ratows angeschlossen hatte. Nach und nach entstanden jedoch zwischen mir und dem Bruder peinliche Reibungen, die zur Folge hatten, dass ich mich umso fester an Ratow hing. Er war nun mein einziger Halt, denn auch meine Schwester, durch den Bruder einseitig unterrichtet, schrieb mir vorwurfsvolle und mahnende Briefe, in denen sie mir meine Pflichten gegen die Familie und anderes mehr vorhielt. Ich sah mich plötzlich ganz isoliert, auch von denjenigen in Stich gelassen, die ich gewohnt war, immer als eins mit mir zu wissen. Das tat mir weh, doch es machte mich keinen Augenblick wankend. An meine Schwester schrieb ich: „Wenn ich Novodub und P. verlasse, schließt du dich mir an.“ Viel schwerer war es, die Sprache zu finden, in der ich mich mit meinen Eltern verständigen könnte. Darüber grübelte ich Tag und Nacht. Noch war ich mir über den einzuschlagenden Weg nicht klar, als ein Ereignis eintrat, das die ganze Situation veränderte. Eines Morgens, als ich noch schlief, trat Frau Lindin in mein Zimmer. Ich erwachte und sah sie erstaunt an. „Ängstigen Sie sich nicht, Dina,“ sagte sie, „ich muss Ihnen etwas Unangenehmes mitteilen. Alexander ist gestern Abend verhaftet worden.“ Ich verstand kaum ihre Worte. Gestern Abend hatte mich Ratow nach einem langen Spaziergang ziemlich spät nach Hause gebracht. Hier hatte es das übliche Renkontre 25 mit meinem Bruder gegeben, gegen zwölf Uhr war er weggegangen. 25 Begegnung, Zusammenstoß.

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„Ja, die Gendarmen erwarteten Alexander, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass er nicht zu Hause war, in der Nähe unserer Wohnung und verhafteten ihn dort. Sie ließen ihn nicht einmal erst nach Hause gehen, um mir seine Verhaftung mitzuteilen. Heute früh um sechs Uhr waren sie schon da und nahmen eine Haussuchung vor. Dann durfte ich mitgehen und mit Alexander sprechen. Er ist munter, er bat mich, Sie aufzusuchen und Ihnen seine Grüße zu überbringen. Außerdem wollte er, dass Sie die Briefe, Zettel und Gedichte, die Sie von ihm haben, sofort vernichten, denn Sie müssen sich darauf gefasst machen, dass auch bei Ihnen das Haus durchsucht wird. Also stehen Sie auf, Dina, und tun Sie das Nötige.“ So sprach Frau Lindin und bemühte sich, harmlos und ruhig zu erscheinen. Aber ich konnte das Geschehene nicht fassen. Alexander fort, eingesperrt, allein … Ich werde ihn weder heute noch morgen sehen, vielleicht Wochen und Monate lang nicht. Ich sagte kein Wort. Frau Lindin war blass vor Aufregung, doch sprach sie mir Mut zu. Ich sollte mich nicht ängstigen, es würde wohl kaum etwas Ernstes dahinterstecken, Alexander sei viel zu vorsichtig, man würde bei ihm sicher nichts Kompromittierendes finden und ihn bald wieder in Freiheit setzen. Dann ging sie. Nun war ich allein. Ich war wie betäubt. Das war der erste, große, persönliche Schmerz, der mich traf. Und er kam von einer mir völlig unbekannten Seite, so ganz unvorbereitet für mich, als wenn jemand auf einem Spaziergang in hellem Sonnenschein von unbekannter Hand hinterrücks durch einen dumpfen, tötenden Schlag niedergestreckt würde. In einer Stunde wusste bereits die halbe Stadt, dass man Ratow in der Nacht verhaftet hatte. Meinen Namen brachte man damit verschiedentlich in Verbindung. Mark sagte mir kein Wort, aber ich sah ihm an, wie es in ihm wogte. Endlich sagte er so ruhig, wie es ihm möglich war: „Hast du etwas von Ratow bei dir? Beseitige es!“ Gegen Mittag kam die erwartete Haussuchung. Es erschienen zwei unbekannte Polizeibeamte, die zum Gendarmeriekorps gehörten, und der Polizeihauptmann von P., der uns gut bekannt war. Er begrüßte mich, wie es immer seine Art war, in charmantester Weise, lächelte mich an, als hätte er mir ein Geschenk zu überbringen. „Entschuldigen Sie, liebes Fräulein“ – sagte er, „es ist nichts als eine Formalität. Wir wissen ja. Ich kenne Sie. Aber

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Sie wurden oft mit Herrn Ratow gesehen. Ha, liebes Fräulein – Herr Ratow … Herr Ratow ist keine ungefährliche Bekanntschaft, liebes Fräulein.“ So plapperte er ununterbrochen, während die anderen „suchten“. Wie tat dieses Geplapper meinen Ohren weh! Wie wünschte ich, dass sie schon fortgingen – ganz gleich, was dann auch kam! Sie fanden natürlich nichts und gingen endlich. Der Hauptmann verabschiedete sich in derselben charmanten Art und lächelte wieder beglückend. „Na also, Sie sehen, nichts als eine Formalität. Leben Sie wohl, liebes Fräulein … Empfehlen Sie mich Ihrem Herrn Bruder.“ Sie gingen. Aber allein blieb ich nicht. Dieser und jener unserer Bekannten erschien bei uns – teils aus Neugier, teils aus wirklichem Interesse. Man wollte Genaueres wissen, man sprach verschiedene Vermutungen aus. Der eine meinte, der Haftbefehl kam von außerhalb, der andere – Ratow müsse denunziert worden sein. Man fragte mich, man warnte. Ein junger Arzt, der viel bei uns verkehrte, sprach väterlich auf mich ein: Ich sollte mich in acht nehmen, ich sei noch viel zu jung, und was für Ratow passe, brauche für mich noch nicht richtig zu sein. Ich war total krank von allem. Was wollten sie? Warum ließen sie mich nicht in Frieden? Was ging mich das alles an? Die Hauptsache war, dass man Alexander verhaftet hatte, dass er zwischen vier grauen Polizeiwänden steckte, dass ich ihn nicht mehr sah, vielleicht niemals wiedersehen würde. Mein Bruder sprach kein Wort, wie immer, wenn er innerlich aufgewühlt war. Nur einmal sagte er mit ruhiger, aber fester Stimme: „Du gehst nicht mehr zu Frau Lindin?“ Ich sagte: „Nein.“ Doch sie kam selbst und brachte von Ratow einen Zettel, den er mit Hilfe des Wärters durchgeschmuggelt hatte. Er teilte mit, dass er am nächsten Morgen fortgeführt werde, wohin, wisse er noch nicht, jedenfalls aber in die nächste Stadt, in der sich eine Untersuchungsbehörde für politische Angelegenheiten befände. Er beruhigte seine Schwester und fragte nach mir. Wie freute ich mich über dieses Lebenszeichen! Und über Frau Lindins Kommen. War sie doch die Einzige, mit der ich über alles sprechen konnte. Sie informierte mich über ihre Pläne. Man würde sie jedenfalls benachrichtigen, wohin Alexander abtransportiert werde, dann würde sie hinreisen und um eine Besprechung mit dem Bruder ansuchen. Diese werde ihr auch wohl bewilligt werden, da sie als Schwester das Recht habe, ihn mit Geld und den nötigen Kleidungsstücken zu versorgen. Sie hoffte, von ihm zu erfahren, ob die Sache ernst sei. Sie war

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munter und gefasst, keine Klage kam über ihre Lippen. Das bewunderte ich umso mehr, als ich wusste, wie sehr sie an ihrem Bruder hing. Sie nahm das Geschehene als etwas unvermeidlich Selbstverständliches hin und erzählte in scherzhaftem Tone von ihrem Besuch beim Bruder in Polizeigewahrsam und vom Polizeihauptmann, der ihr mit seiner hinlänglich bekannten Galanterie und kaum verstellter Schadenfreude Mut zugesprochen hatte. „Leute mit gewisser Gesinnung“, meinte er, „müssen solche Unannehmlichkeiten nur als kleine Zwischenfälle betrachten, die nicht tragisch zu nehmen sind.“ „Ist Ihnen, meine liebe Dina, die Anekdote von jenem Professor bekannt, der die Angehörigen eines Verstorbenen damit tröstete, dass der Typhus, an dem ihr Verwandter gestorben war, das Musterbeispiel eines schön verlaufenden Typhusfalles gewesen sei?“ So plauderte Frau Lindin und brachte eine erlösende Note in die niederdrückende Stimmung dieses Tages hinein. Sie war eine tapfere Frau und von jener genialen Mütterlichkeit, die alles erträgt und alles auf sich nimmt, wenn es gilt, ein geliebtes Wesen, sei es Mann, Kind oder Bruder, zu schützen. Es war still geworden um mich und in mir. Ich sprach kaum ein Wort, weder mit meinem Bruder noch mit den anderen im Hause. Ich dachte an nichts. Wie wenn der Tod eingezogen wäre und auf einmal alles starr und stumm gemacht hätte. Ich fühlte, dass ich meinem Bruder Sorgen machte. Er hatte wohl auch meinethalben an die Eltern geschrieben, denn es kam ein eiliger Brief von ihnen, ich sollte nach Hause kommen. Ich machte mich rasch reisefertig. Es waren nur vierzig Kilometer bis Novodub, und Privatfuhrwerksbesitzer hielten den Verkehr zwischen den beiden Orten aufrecht. Unser Geschäftsdiener besorgte für mich einen Platz in der Kutsche, die am nächsten Morgen abging. Ich nahm fast wortlos Abschied von meinem Bruder und dem Personal. Den zweiten Platz im Wagen nahm eine mir unbekannte Dame ein. Ich wechselte kein Wort mit meiner Mitreisenden, ich drückte mich fest in die Ecke und tat, als schliefe ich. Ich kannte die Gegend und die Dörfer, durch die wir fuhren, sehr gut. Von Zeit zu Zeit sah ich mich um, weil ich wissen wollte, wie weit wir schon gekommen waren. Den ersten solchen Augenblick benützte die Dame, um die Bemerkung zu machen, dass ich mich nicht ganz wohl zu fühlen scheine. Ich sagte: „Ja.“ Beim andern und dritten Male erkundigte sie sich, ob es mir nicht besser ginge, ich sagte: „Nein.“ Gegen Abend kam ich zu Hause an. Man empfing mich wie immer. Die

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Eltern fragten nach dem Geschäftlichen und Häuslichen in P. Die jüngeren Geschwister, für die ich auf einige Tage die Hauptperson war, umringten mich und schmiegten sich an mich. Mir aber kam unser liebes, gemütliches Haus fremd und öde vor. Mit meiner älteren Schwester hätte ich mich wohl bald verständigt, das wusste ich, wenn ich nur sprechen und aus der dumpfen Starrheit hätte heraustreten können. Aber das vermochte ich nicht. Ich merkte auch sehr bald, dass man mit mir wie mit einer Kranken, schonend und vorsichtig, umging. Das schlug mich vollends nieder und ich floh die anderen, wo ich konnte, um nur mit mir allein zu sein. Eines Tages klingelte es und herein kam – Frau Lindin. Oh, wie war ich beglückt. So wurde ich sogleich gesund. Alexander war hier, im Novoduber Gefängnis. Sie hatte ihm bereits Geld und manche Sachen übergeben lassen. Sehen durfte sie ihn nicht. Sie hatte alle in Betracht kommenden Amtspersonen aufgesucht und sie mit Bitten bestürmt. Es half nichts. Sie musste warten, bis die Untersuchung etwas weiter fortgeschritten war. Sie beschloss, nach Hause zu fahren und nach etwa vierzehn Tagen nach Novodub zurückzukehren. Am Abend kam Frau Lindin wieder zu mir. So wenig die Eltern von meinem Umgang mit ihr erbaut waren, war es doch ganz natürlich, dass sie Frau Lindin gut und freundlich aufnahmen. Man sah in ihr vor allem einen von schwerem Kummer getroffenen Menschen. Sie sprach auch so einfach, lebhaft und unbefangen von dem Geschehnis, als wäre es selbstverständlich, dass jeder Mensch dafür Interesse und Mitgefühl haben musste. So war ihre ganze Art und sie gewann dadurch immer die Menschen. Ich fühlte mich wie von einem schweren Druck befreit. Ratows Name wurde genannt, man sprach von dem Vorgefallenen, man tat nicht, als gäbe es etwas, was verschwiegen werden musste. Ich taute wieder auf und war meinen Eltern unendlich dankbar für ihre Teilnahme Frau Lindin gegenüber. Als sie abgereist war, wurde ich vollständig von dem Gedanken gefangen genommen: Alexander ist hier in der Nähe, er sitzt dort hinter den hohen weißen Mauern. Die konnten wir sehen, wenn wir auf dem Wege längs des Flusses gingen. Dort, zwanzig Minuten von unserer Haustür entfernt, stand das Gefängnis, oben auf einer Anhöhe, die nach der Seite des Flusses steil abfiel. Nie waren mir diese Mauern mit dem großen eisernen Tor, vor dem Tag und Nacht ein Soldat auf und ab ging, so nahe, so vertraut vorgekommen. Ich wünschte sehnsüchtig, auch ich wäre dort hinter dieser Mauer, in

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einer engen Zelle mit kleinen Gitterfenstern, die man aus dem Hofe über die Mauer hervorragen sah. Es erschien mir als eine Ungerechtigkeit, dass ich mich frei bewegte, Luft und Sonne atmete, während Ratow dort seine Tage zubrachte. Ich wusste allerdings damals nicht, dass Ratow in dem Gendarmeriehauptmann, der die Untersuchung zu führen hatte, einen seltsam liberalen Mann fand, welcher Ratows Gefängnishaft beinahe zu einem Stubenarrest in des Hauptmanns eigenen Hauses verwandelte. Schon bei der ersten Vernehmung fesselte ihn die Person Ratows, er ließ ihn dann jeden Morgen zu sich bringen. Hier blieb Ratow fast den ganzen Tag, saß im Arbeitszimmer des Hauptmanns und half ihm, sich in der Unmenge von Briefen, Manuskripten und Papieren, die bei Ratow beschlagnahmt worden waren, zurechtzufinden. Der Hauptmann stellte Ratow seine Zigaretten zur Verfügung, sie tranken gemütlich Tee zusammen und führten Gespräche über politische und andere Themen. Der Hauptmann sagte: „Ich verstehe Sie ganz gut. Ich kann vieles begreifen, was Sie tun. Aber ich selbst bin überzeugter Monarchist, halte Ihre Ideen für grundfalsch und muss sie bekämpfen.“ Er lernte durch die Briefe eine Anzahl Freunde Ratows kennen und gelangte in ein bestimmtes Verhältnis zu verschiedenen von ihnen. Er sagte: „Na, sehen Sie, Marie B. ist eine begabte, interessante Person, sie ist befähigt, einen Platz auszufüllen; aber wie können Sie Anjuta M. ernst nehmen? Die hätten Sie ruhig weiter Staub wischen lassen sollen.“ Ratow kam nur zur Essens- und Schlafenszeit ins Gefängnis. Das alles erzählte er mir später. Vorläufig wusste ich nur, dass Alexander im Gefängnis saß, und in der Hoffnung, ihn einmal von weitem aus einem der vergitterten kleinen Fenster zu erblicken, ging ich mit meiner Schwester täglich den schmalen Weg am Fluss entlang spazieren. Woche um Woche verging. Frau Lindin kam nun wieder und nahm ihre Gänge von neuem auf, von einem Beamten zum anderen, von einem Bürozimmer in das andere. Endlich gelang es ihr, Alexander zu sehen. Das Rendezvous fand in der Kanzlei des Gendarmeriehauptmanns und im Beisein eines Beamten statt. Alexander konnte keine Einzelheiten mitteilen, er sagte nur, er hoffe bald auf freiem Fuße zu sein. Mit dieser Hoffnung fuhr Frau Lindin nach Hause und beschloss nach einiger Zeit, heimzufahren. Wieder verging Tag um Tag. Bei einem meiner üblichen Spaziergänge längs des Flusses schlenderte ich eines Tages in unbestimmter Richtung allein

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weiter, während meine Schwester nach Hause ging. Ich dachte: „Wie, wenn du jetzt plötzlich auf Alexander gestoßen wärst? Wenn er plötzlich vor dir erschienen wäre? Ich ging durch die leeren Straßen immer weiter, bis ich zu einer Ecke kam, in die ich gedankenlos einbog. Und da erblickte ich fünf Schritte vor mir Ratow, der mit hastigen eiligen Schritten mir entgegenkam. Ich blieb stehen, unfähig einen Laut von mir zu geben. Er eilte auf mich zu, nahm meine beiden Hände in die seinigen und sah mir ins Gesicht. Da wusste er alles, was ich durchlebt hatte, seit er fort war. Er sagte nur: „Liebe arme Dina …“ Dann gingen wir zusammen weiter. Ich hängte mich in seinen Arm und sagte immerfort zu mir, lautlos: „Nein. Es ist kein Traum, es ist kein Traum …“ Ratow erzählte unterdessen, wie es ihm ergangen war. Lebhaft und humorvoll schilderte er seinen zweimaligen Transport in Gesellschaft der Gendarmen. Erst wurde er nach der Kreisstadt, die zum Bezirk P. gehörte, gebracht. Dort verblieb er eine Woche lang, bis es sich herausstellte, dass es hier keine höhere politische Behörde als den Polizeichef oder Isprawnik gab. So wurde er nach Novodub befördert. Er erzählte von seinen Unterhaltungen mit dem Gendarmeriehauptmann und von den guten Teacakes, die die Hauptmannsgattin ihrem Mann und seinem Sträfling in das Arbeitszimmer geschickt hatte. Er war lustig und guter Dinge, als hätte er nur Schönes und Gutes erlebt. Erst als wir vor unserem Hause standen, fragte er, wo wir denn hingingen: „Zu uns“, sagte ich. „Glaubst Du, es geht?“ (wir sagten uns unmerklich, vom ersten Augenblick an, als wir uns an der Ecke trafen, Du). „Darf ich mich vor Deinen Eltern zeigen?“ Ich vertraute meinen Eltern und sagte: „Ja. Sie werden einem, der im Gefängnis geschmachtet, nicht unfreundlich begegnen.“ „Na, dann in Gottes Namen.“ Er wurde auch wirklich in freundlichster Weise aufgenommen. Meine Eltern sahen jetzt in ihm nicht den Revolutionär, der auch ihr Kind in Gefahr gebracht hatte, sondern einen Menschen, der Schweres erlebt hatte. Mein Vater interessierte sich für seine Erlebnisse und fragte, wie es denn weiter mit ihm werden sollte. Ratow erzählte, man hätte die sehr milde Verfügung getroffen, dass er auf ein Jahr unter Polizeiaufsicht gestellt werde. Er verpflichtete sich, nirgends anders sich aufzuhalten, als an dem Orte, den er angeben werde. Diesen Ort zu wählen stand ihm frei, doch durfte es weder eine der Residenzen noch überhaupt eine Großstadt sein. Es wurde ihm ein vierzehntägiger Aufenthalt in P. bei seiner Schwester gestattet. Novodub

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musste er am nächsten Tag verlassen. Ratow beabsichtigte, dieses Jahr in einem kleinen südrussischen Orte zu verbringen, wo er bereits früher einige Zeit gelebt hatte. Dort hoffte er, trotz der Polizeiaufsicht in Fühlung mit seinen Freunden zu bleiben und literarisch tätig zu sein. Die Eltern waren, als sie den künftigen Aufenthaltsort Ratows erfuhren, vollständig beruhigt. Als wir einen Augenblick auf meinem Zimmer allein waren, nahm Ratow meine Hand und sagte: „Du bleibst allein, Dina, aber Du weißt, was Du zu tun hast. Du wirst tapfer sein. Und Du schreibst mir!“ Er behielt eine Weile meine Hand in der seinen und sagte dann: „Wie kalt sie ist!“ Und fügte nach einer Pause hinzu: „Wo werde ich dich wiedersehen?“ Das war alles, was wir miteinander sprachen. Am nächsten Morgen reiste er nach P. und vierzehn Tage später war er in dem kleinen Städtchen Südrusslands, das ein Jahr lang sein Aufenthaltsort werden sollte. Die Diagnose meiner Mutter sowie der weiblichen Verwandtschaft lautete auf „Liebeskummer“. Andere konnten sich mein vollständig verändertes Wesen nicht erklären. Mir wurde nichts gesagt. Aber ich merkte doch, dass man, wie schon einmal vor Wochen, schonend mit mir umging. Das ärgerte mich. Ich selbst möchte meinen damaligen Zustand mit dem Wort „Heimweh“ bezeichnen. Ich hatte die Empfindung, aus meiner Heimat fortgerissen zu sein, in der es hell und schön gewesen war. Jetzt lag die Heimat fern und ich musste immer und immer an sie zurückdenken. Nicht Schmerz, nicht Kummer war es – es war Sehnsucht. Diese Heimat aber war nicht Ratow allein. Es war alles das, was er mit sich in mein Leben gebracht hatte. Der warme Glaube an ein großes Ziel, der erweiterte Horizont, das Streben nach Betätigung, das Kraftgefühl, die berauschenden Worte: Freiheit, Kampf … Ich fühlte mich einsam wie in einer Wüste, wo jeder Laut ohne Echo verklingt. Wieder rief es mächtig in mir: Fort von hier! Und jetzt wusste ich wohin: „Von den zufrieden Genießenden, von den müßig Plappernden, führe mich zu denen, die sterben für die große Sache der Liebe!“ In diesen Worten Nekrassows war alles, wonach ich mich sehnte, und was ich vor mir sah.

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VII Meine Eltern machten mir eines Tages einen Vorschlag, der meinen Wünschen sehr entgegen kam. Ich sollte zu meinem Onkel reisen, der in einer mittelgroßen Stadt eines westlichen Gouvernements lebte. Die Tante war die Schwester meiner Mutter, der Onkel ein Vetter meines Vaters. Diese zweifache Verwandtschaft verband unsere Familien umso enger. Mein Onkel war ein viel modernerer Mensch als seine Novoduber Verwandten. Er war ein Weltmann, hatte ein heiter-liebenswürdiges Wesen, spielte Klavier und Geige, und war zufrieden, wenn er heitere und sorglose Menschen um sich sah. Er kam hie und da nach Novodub und brachte jedes Mal einen Strom frischen Lebens mit. Wir hingen alle seit jeher mit besonderer Zuneigung an ihm. Er war Bauunternehmer großen Stils, es ging ihm zu dieser Zeit sehr gut und er wünschte schon längst, dass einer von uns zu ihm käme. Meine Eltern hofften, dass mich der Aufenthalt in einer neuen Umgebung aufheitern und von meinen Gedanken ablenken würde. Mir kam es aber vor allem darauf an, aus Novodub herauszukommen. So reiste ich nach B. Wieder einmal ging die heidnische Seite meiner Natur auf einige Zeit mit mir durch. Mein Onkel führte ein offenes Haus. Das bedeutete, dass fast zu jeder Stunde des Tages bis spät in den Abend irgendein Besuch da war. Jeder fühlte sich in diesem Hause wohl. Man aß gut und trank Tee mit reichlichen Zutaten, plauderte, amüsierte sich, musizierte und führte verschiedene lustige Streiche aus. Nachmittags wurde ausgefahren, denn gute Pferde waren eine Passion meines Onkels. Er besaß zwei Luxuspferde und einen eleganten Wagen, und durch nichts war er mehr zu erfreuen, als wenn man seine Rappen bewunderte. Auch mir war es ein großes Vergnügen, wenn ich mit dem Onkel in dem kleinen Schlitten, in dem knapp zwei Personen Platz hatten, ausfuhr und selbst kutschieren durfte. Wie der Wind raste das herrliche Tier die schneeglatte Chaussee dahin. Unter den Hufen sprangen kleine Schneeklumpen wie sprühende Funken in die Höhe. Zum Schutz dagegen war ein blaues Netz über den Rücken des Pferdes und die halbrund gebogene Deichsel gespannt. Ich wickelte die Leine, um sie straff zu halten, zwei Mal um die Hände, wandte die Augen nicht von der vor mir liegenden Straße und bemühte mich, keinen Augenblick die Herrschaft über das feurige Tier zu verlieren. Der Onkel aber neigte den Oberkörper zur Seite hinüber, um den

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Gang des Pferdes zu beobachten, und rief immer wieder entzückt: „Sieh mal, wie es die Knie beugte! Sieh mal diese Beine!“ Ein paar Mal in der Woche machten wir unsererseits Besuche oder fuhren abends ins Theater. Wenn wir dann um halb eins oder ein Uhr, wie in Russland üblich, aus dem Theater zurückkehrten, begleitete uns oft noch ein Bekannter. Da blieb man ein und zwei Stunden am Teetisch sitzen und plauderte, während der Samowar lustig summte. Eine Zeit lang ließ ich mich von diesem leichten Strom tragen, allmählich aber schämte ich mich meiner Lebensweise. Mein Müßiggang begann, mich zu quälen. Ratow, dem ich getreulich alles berichtete, ironisierte mich. „Erst warst du Tochter, jetzt bist du Nichte – Dina, wo bist DU?“ Das brachte mich vollends zu mir zurück. Eines Tages sagte ich meinem Onkel, dass ich mir einen Lehrer nehmen wollte, um mich zum Maturitätsexamen vorzubereiten. „Wozu brauchst du das?“ „Ich will dann studieren.“ „So, studieren willst du.“ Er fuhr mir über das Haar und sagte mit einer Note von Galanterie: „Mädchen brauchen nicht zu studieren. Überlass das den anderen!“ Ich rief empört: „Onkel, wie kannst DU so etwas sagen!“ „Na ja, ich hab’ ja nur Spaß gemacht. Wir wollen uns die Sache überlegen. Wir sprechen noch darüber.“ Mein Onkel war keinesfalls gegen das Studium überhaupt. Aber er liebte über alles die Behaglichkeit, und es erschien ihm störend, dass jemand in seiner Nähe etwas tun sollte, was von dem sonstigen Gang des Lebens abwich. Dazu gab die Anwesenheit eines jungen Mädchens dem Hause noch eine besondere Note der Heiterkeit. Es machte ihm Spaß, mich mit diesem oder jenem Bekannten zu necken, mir beim Nachhausekommen zu sagen: „Weißt du, wen ich getroffen habe?“ oder „Weißt du, wer dich grüßen lässt?“ Er war tüchtig und ernst, wenn es dem Geschäft galt. War er aber frei, so wünschte er, dass die Angehörigen seine Muße teilten, mit ihm plauderten und vergnügt waren. Doch er war ein aufrichtig guter Mensch. Und damit rechnete ich. Ich wartete nicht erst ab, bis sich der Onkel die Sache überlegte. Ich suchte einen Lehrer auf, den man mir empfohlen hatte, und sagte ihm, zu welcher Zeit ich fertig sein wollte. Er examinierte mich in dem einen und anderen Gegenstand und sagte: „Viel Fleiß vorausgesetzt wird’s vielleicht gehen.“ Und er fügte scherzhaft hinzu: „Da müssten Sie aber 24 Stunden täglich arbeiten.“ „Gut, das werde ich tun!“

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Ich arbeitete in der Tat sehr fleißig. Ich verließ mein Zimmer nur zum Essen und spät abends. Sehr selten beteiligte ich mich an einer Unterhaltung im Hause oder an einer Ausfahrt. Meine Verwandten waren anfangs verblüfft und wussten nicht, wie sie sich dazu stellen sollten. Aber ich machte ihnen nach und nach klar, dass ich vor einem Examen stünde und dass es nicht anders ginge. Da ließen sie mich in Frieden. Wie war ich meinem Onkel und meiner Tante dafür dankbar! Ich saß bis zum Halse vergraben in Geometrie, Algebra und Geschichte. Jedes neue Pensum, das ich bewältigt sah, stimmte mich froh und ermutigte mich. Ich musste vieles einholen, was durch die lange Unterbrechung im Unterricht versäumt war. Ratow schrieb mir regelmäßig ein oder zwei Mal die Woche, ich ihm ebenso oft. Er nahm teil an allem, was mich betraf, und führte mich in seine Ideen, Pläne und Wünsche ein. Jeder seiner Briefe, so gewohnt ich es nun war, sie ein-zwei Mal wöchentlich zu bekommen, war mir immer wieder ein Ereignis, ein neues Erlebnis. Jedes seiner Worte, die wie aus einer anderen Welt zu mir herüberdrangen, sprach von Kampf und Freiheit, von der Liebe zur Menschheit. „Lerne die Freude, Dich für das Glück der Menschheit zu opfern“, klang aus allem, was Ratow sagte, klang wie ein Ruf, der alles andere übertönte. Wie weit entfernt davon war, was ich um mich herum sah! Und wie musste ich arbeiten und mich beeilen, um selbstständig zu werden und um zu jenem Leben zu gelangen, das mir einzig und allein lohnend und wertvoll erschien! Es war ganz natürlich, dass zu jener Zeit Tolstoi meinem Fühlen am nächsten stand. Der schroffe Gegensatz zwischen seiner Forderung der [?] 26 Liebe und seinem Gebot „Widersetze dich dem Bösen nicht!“ war mir damals noch nicht klar geworden. Ich verehrte in Tolstoi den Propheten der Menschenliebe und des freien Denkens. Wie Ratow damals zu Tolstoi stand, weiß ich nicht; ich vermute aber, dass er ein viel nüchternes Urteil über ihn hatte. Jedenfalls, mir ließ er ungestört meinen ekstatischen Glauben an ihn. Nach einigen Wochen schrieb ich den Eltern von meinem Vorhaben und bat um die Erlaubnis, nach M. zu reisen, wo sich ein Gymnasium befand. Ich wollte einige Zeit vor meinem Examen dort sein, um die eventuellen Lücken in meinen Kenntnissen auszufüllen. Es folgte eine briefliche Auseinanderset26 Im Original unlesbar.

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zung. Meine Eltern wollten von meinen Plänen nichts wissen, sie warfen mir Rücksichtslosigkeit vor und meinten, es wäre an der Zeit, dass ich aufhörte, eine ständige Sorge für sie zu sein. Das wiederholte sich in einer ganzen Reihe von Briefen. Doch war die Sache schon zu weit gediehen. Als sich dann auch noch mein Onkel für mich ins Zeug legte, hatte ich die Schlacht gewonnen. Ratow jubelte mir zu. Er war ganz glücklich über meinen Sieg, lobte meine „tapfere Haltung“ und schickte mir ein mir gewidmetes Gedicht im Stil einer altertümlichen Ode, das mit den Worten begann: „Mädchen, Dir sing ich mein Lobeslied …“ Ich hatte die Prüfung in zehn oder elf Gegenständen abzulegen. Das zog sich mit Zwischenpausen von 2–3 Tagen einen ganzen Monat hin. Nach jedem erledigten Gegenstand warf ich die betreffenden Bücher und Hefte unter den Tisch und betrachtete sie als erlegte Feinde. Als das letzte Buch und das letzte Heft in die Ecke flogen, streckte ich meine müden Arme hoch und schwor einen heiligen Schwur, drei Jahre keinen Bucheinband zu berühren und keine andere Zahl als die des Briefdatums zu schreiben. Am nächsten Morgen holte ich mein Zeugnis ab, nahm die Glückwünsche der Direktorin und der anwesenden Lehrer entgegen und stürmte die breite steinerne Treppe hinunter. Ich fühlte mich als Schülerin, nichts als Schülerin – und hatte Ferien – meine ersten und letzten Gymnasialferien! Anderthalb Tage später – so lange hatte ich zu fahren – war ich zu Hause. Meine Eltern freuten sich, waren stolz auf meinen Erfolg und die Mutter sorgte für meine körperliche Erholung.

VIII Ich stand vor der Frage, ob ich nach den Ferien in die achte Ergänzungsklasse, eine Art praktisch-pädagogisches Seminar mit einem, höchstens zwei Spezialfächern, eintreten sollte. Vernunftgründe sprachen dafür. Mit der achten Klasse erwarb man das Lehrerinnendiplom, und wenn ich auch als Jüdin zu einer öffentlichen Lehrtätigkeit niemals zugelassen würde, so erwarb ich doch das Recht, an einer von Glaubensgenossen geleiteten Privatschule tätig zu sein oder eine eigene Elementarschule zu gründen. Indessen die Berufsfrage erschien mir im höchsten Grade gleichgültig und mir widerstrebte es, ein Jahr in der Schülerinnenuniform zu stecken;

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ein Jahr, wie ich es im Stillen bezeichnete, zu „verlieren“. Was mich lockte, war die Universität. Doch die Hochschulen in Russland blieben mir verschlossen, da ich weder in St. Petersburg noch in Moskau leben durfte, und an eine Reise ins Ausland war vorderhand nicht zu denken. Meine Schwester hatte sich dem zahntechnischen Studium gewidmet und ein Jahr bereits bei einem Zahnarzt in Novodub praktisch gearbeitet. Sie beabsichtigte, nach Schluss der Ferien nach Warschau zu reisen, um dort zwei Jahre lang ein bekanntes zahnärztliches Privatinstitut, das keine Prozentnormen für jüdische Schüler hatte, zu besuchen. Dieser Umstand in erster Linie, dann aber auch die bedeutenden Ausgaben meiner Eltern für den Unterricht der jüngeren Geschwister machten es mir unmöglich, ihnen zu gleicher Zeit eine beträchtliche Ausgabe für mich aufzuladen. Ich hatte mich fast definitiv mit der achten Klasse abgefunden, als mir Ratow einen anderen Vorschlag machte. Eine ihm bekannte Familie, Juden, doch völlig assimiliert, die auf dem Lande, einige Eisenbahnstationen von seinem Aufenthaltsort wohnte, suchte für ihre beiden Knaben einen Lehrer oder eine Lehrerin. Er hatte mit ihnen von mir gesprochen und sie vertrauten seiner Empfehlung. Wenn ich bereit wäre, die Stelle anzunehmen, sollte ich sobald wie möglich kommen. Ratow schrieb: „Hier hast Du Gelegenheit, Deine Kräfte zu versuchen, Du wirst auf eigenen Füßen stehen und wirst das Volk in seinem Leben und in seinen Nöten kennen lernen.“ Ich schwankte nicht. Es war mir klar, dass ich diese Gelegenheit, ins Leben hinauszutreten, nicht vorübergehen lassen durfte. Selbstständig über mich verfügen, in eine fremde Welt hineinsehen und vor allem: jenes geheimnisvolle, unbekannte Volk kennen zu lernen, dessen Leiden und Schmerzen mir nahe gingen, sie zu teilen und zu lindern ich jeden Augenblick bereit war – was konnte mich mehr locken als das? Aber nun!? Wie meinen Eltern auch nur sagen, dass ich auf Ratows Ruf hin zu unbekannten Leuten, aufs Land, weit fort in eine unbekannte Umgebung fahren wollte? Schon dass die Sache von Ratow ausging, ließ sie als gefährlich erscheinen; aber auch sonst musste ihnen das Ganze als ein sinnloser, leichtsinniger Streich erscheinen. Wozu hatte ich nötig, ein in weiter Ferne gelegenes Steppendorf aufzusuchen, um dort Unterricht zu erteilen? Legte ich Wert darauf, selbst etwas Geld zu verdienen, so konnte ich das auch hier tun. Viel besser noch in M., wo ich so gut, ja glänzend mein Examen bestanden und dieses Jahr noch weiter zu studieren gedachte. Wohl war für den Eintritt in die pädagogische Ergänzungsklasse

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jeder Absolventin eine Frist von zwei Jahren gegeben, aber es lag nicht der geringste Grund für mich vor, die Sache aufzuschieben. Das war plausibel und klar und durch keine Argumente zu widerlegen. Ich kämpfte einen schweren Kampf mit mir, ging einige Tage ganz verwirrt herum und konnte nachts keinen Schlaf finden. Sollst du es tun? Darfst du deinen Eltern diesen neuen Kummer zumuten? Dann aber drängte sich der Gedanke gebieterisch vor: Wenn Du beim ersten ernsten Schritt versagst, wie willst du noch an Dich glauben? Wie kannst Du Dein Streben noch ernst nehmen? Wolltest du ein gefügiges Töchterchen sein, so brauchtest du Novodub überhaupt nicht erst verlassen zu haben. Es sind nur Gespenster, die Deine Eltern sehen. Für Dich aber heißt es jetzt, den ersten Schritt in jenes Leben zu tun, von dem Du träumst und das Du herbeisehnst. Es waren qualvolle, schwere Tage und Stunden, die ich verlebte. Dann aber stand mein Entschluss fest. Ich schrieb Ratow: „Ich komme.“ Seine Antwort zeigte mir, dass auch er meinen Entschluss als eine bestandene Probe ansah. Er beglückwünschte mich zu meiner „Tapferkeit“ und freute sich, dass ich ihn nicht enttäuscht hätte. „Das Leben“ schrieb er, „braucht starke Menschen, tapfere Menschen. Wie bin ich glücklich, dass Du eine von dieser Art bist! Sei es, bleib es doch immer, Du wirst wohl viel Schweres in diesen Tagen erleben müssen. Sei mutig. Denke daran, dass Deine Selbstständigkeit dich jenem Leben näher bringt, in dem Kampf und Glück eins ist. Denke auch daran, dass ich mit Dir bin, geliebte Schwester, jeden Augenblick mit Dir, mit meinem ganzen Fühlen und Denken.“ Täglich kam ein Brief von ihm, manchmal zwei an einem Tage. Er schickte mir einen genauen Reiseplan, erteilte mir allerlei Ratschläge für mein Verhalten während der Reise. Er schrieb mir, dass die Familie meiner zukünftigen Schüler mich erwarte und sehr darauf bestehe, dass ich so rasch wie möglich käme. Er fügte nichts hinzu, aber schloss den Brief mit den Worten: „So werden Träume Wirklichkeit, und jede Wirklichkeit birgt einen schönen, schönen Traum. Siehst Du den Traum so, wie ich ihn sehe?“ Ich war an seine Sprache gewöhnt, doch lag diesmal etwas Besonderes in ihr, zum ersten Male tauchte in mir der Gedanke auf, ob nicht Ratows Beziehungen zu mir anders wären als die eines Freundes. Doch es war nur ein flüchtiger Gedanke, eigentlich mehr ein undeutliches Empfinden, das in meinem Bewusstsein keinen eigentlichen Platz einnahm.

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Diese Vermutung aber, wenn sie auch nicht ausgesprochen wurde, spielte bei dem Widerstand meiner Eltern wohl eine große Rolle. Ich bemühte mich, ihnen klar zu machen, dass es gute und vertrauenswürdige Leute seien, zu denen ich käme. Ich erzählte ihnen alles, was ich selbst von der Familie der Kinder, die meine Schüler sein sollten, wusste. Ich veranlasste sogar, dass die Mutter dieser Kinder meinen Eltern schrieb. Sie tat es in einer [sowohl] freundschaftlichen als [auch] geschäftsmäßigen Weise. So harmlos auch die Sache an sich war, musste sie doch der Nebenumstände wegen in den Eltern das Gefühl erwecken, ich gehe einer Gefahr, einem Unglück entgegen. Zum ersten Mal, glaube ich, sprach ich da mit meinem Vater ohne kindliche Scheu, als Erwachsene mit ihresgleichen. Ich suchte ihm nachzuweisen, dass ich doch das Recht auf einen eigenen Willen habe, dass mein Vorhaben nichts Schlimmes sei, und ich bat ihn, mir die Erlaubnis zur Reise zu geben. Er ging im Zimmer auf und ab, dann blieb er vor mir stehen und sagte ganz langsam, mit Mühe die Worte hervorstoßend: „Soll ich ruhig zusehen, wie mein Kind nach einem Messer greift, um sich den Hals durchzuschneiden?“ Mich überfiel plötzlich der Gedanke, der Vater würde weinen. Ein weinender Mann war in meiner Vorstellung immer nur ein komisches Bild; ein weinender Mann könnte, schien es mir, mich nie rühren, ich könnte nur lachen über ihn. Aber bei dem Gedanken, mein Vater würde weinen, erschauerte ich und mein Mut sank. Einen Augenblick war ich wankend geworden: „Du reist nicht fort! Du kannst ihnen nicht so weh tun!“ Dann aber stand es wieder vor mir: „Es ist Dein erster Schritt ins Leben hinein, willst du zurückschrecken? Wagst Du nicht, den Kampf aufzunehmen?“ Vierzehn Tage später saß ich im Eisenbahncoupé und fuhr nach dem Süden. Die Reise dauerte fast drei Tage. Wir fuhren, fuhren … Die Züge wechselten, und ich musste auf mancher Station zwei bis drei Stunden auf Anschluss warten. In einer großen südrussischen Stadt, die wir passierten, schlief ich die Hälfte der zweiten Nacht im gemütlichen Damenwartezimmer des Bahnhofs durch. Gegen Morgen wurde ich geweckt, trank noch schlaftrunken im Wartesaal Tee und fuhr weiter. Wie auf den meisten Bahnen Russlands durfte man auch hier auf der Plattform des Wagens stehen. Das erleichterte das Fahren ungemein. Der Zug rast dahin, man hat kaum Zeit, die starke Luft zu schlucken, der Wind zerrt an den Kleidern und an den Haaren, immer wieder muss man gegen seine Angriffe sich wehren. Das

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machte mir Spaß, es unterbrach das Einerlei der langen Stunden; erfrischt trat ich in den Wagen zurück. Die Wälder verschwanden, die Steppe bereitete sich weit vor uns. Man sah in unendliche Fernen. Nur hie und da ein Hügel, nur hie und da ein paar Sträucher, ein einzelner dünner Baum. Statt der grauen Holzhütten standen in den Dörfern weiß getünchte Häuschen, die hübsch aussahen. Wir kreuzten den breiten, gewaltigen Don. Wuchtige Gestalten alter Kämpfer stiegen in der Erinnerung auf. Ausgelassen-schwermütige Kosakenlieder drängten sich ans Ohr. Ich sah stundenlang aus dem Fenster oder las, wenn mich das ermüdete. In meiner Nähe saß ein kleiner Gutsbesitzer. Er fragte, woher ich reiste und wohin. Ich sagte es ihm. Er schüttelte nachdenklich den Kopf. „Wie kühn die jungen Mädchen von heute sind!“ „Wieso, ist denn das Reisen gefährlich?“ fragte ich verwundert. Am späten Nachmittag langten wir in der kleinen Stadt, Slowjansk, einem wegen seiner Heilquellen bekannten und in der Gegend ziemlich besuchten Badeort, an, wo mich Ratow erwartete. 27 Mir schlug heftig das Herz, als wir uns der Station näherten. Ich machte schon lange vorher mein Handgepäck zurecht und stand aufgeregt wartend am Fenster. Am Bahnhof ein Menschengewühl, in dem niemand zu erkennen war. Ich stieg aus, schwindlig von der langen Fahrt und hatte den absonderlichen Gedanken: „Du wirst Alexander nicht mehr erkennen.“ Es war wie eine Ahnung. Als Ratow kurz darauf vor mir stand, sah ich, dass er sich in der Tat verändert hatte. Er sah viel älter aus und mir fiel das etwas Zurechtgemachte in seinem Äußeren auf, in der Kleidung, in der Haar- und Barttracht. Ich vermisste die einstige Legèrheit in diesen Dingen, die meinem Gefühl nach zu ihm gehörte. Und etwas Gezwungenes war in seinen Bewegungen, das ich früher an ihm nicht gekannt hatte. Ein Ruck ging durch mich … ein fremder Mann! Erst viel später wurde mir klar, was mich bei dieser ersten Wiederbegegnung mit Ratow so sehr befremdet hatte. Er hatte die anderthalb Jahre unserer Trennung ganz anders verlebt als ich. Er hatte viel gearbeitet, für sich und in der Bewegung. Trotz der polizeilichen Überwachung fuhr er viel in der Gegend umher, agitierte eifrig unter den Bauern und den Bergarbeitern. 27 Slowjansk liegt im Donezbecken und ist nicht zuletzt bedeutend wegen der Salzgewinnung in der Umgebung.

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Doch hatte ihm seine Tätigkeit zu dieser Zeit keine innere Befriedigung gebracht. Vielleicht sah er ein, wie wenig fruchtbringend diese Tätigkeit im letzten Grunde war. Die aufklärende Arbeit eines Einzelnen und hundert und tausend Einzelner – was konnte sie gegen den stehenden Sumpf, in dem das Volk lebte, tun? Es fehlte an einer Gewalt, die den ganzen Boden aufgewühlt hätte. Welche Art von Gewalt konnte es sein? Die meisten Revolutionäre jener Zeit sahen sie damals in der politischen Tat, im Terror. Die terroristische Tätigkeit war aber Ratows ganzer Natur fremd. Er war Propagandist, Agitator seinem Wesen nach. Sein Tun war aufklärerische Arbeit. Darin lagen seine Stärke und die Wirkung seiner Person auf die Jugend. Aber nun lebte er abgeschnitten von aller Welt, verzettelte sich in Versuchen, Kontakt mit den arbeitenden Massen, die für Aufklärung keinesfalls reif waren, zu finden. [?] 28 Zu seiner Depression mochte auch sein persönliches intimes Leben beigetragen haben. Die Liebe zu einem Mädchen, das noch ein halbes Kind war, das sich nur mittragen ließ auf den Schwingen eines Ideals, das aber auf nichts reagierte, was außerhalb dieser Traumwelt lag. Ein schlafendes Dornröschen, das erst vom Kuss geweckt werden konnte. Und wie zu ihr? Wo eine Hoffnung auf ein Wiedersehen? Und ist er derjenige, der das schlummernde Weib in diesem Kinde erwecken könnte? Weiß er überhaupt, ob er für dieses Mädchen als Mann existierte? Erst später erfuhr ich, mit welchen bangen Zweifeln Ratow mir entgegenkam. Welche Tage und Nächte voll Sehnsucht und Ungewissheit er vor unserem Zusammentreffen durchlebte. Und nun standen wir einander gegenüber auf dem kleinen Bahnhof. Ich konnte mir dieses unruhige, zaghafte und zugleich geschäftige Wesen Ratows nicht erklären. Warum ist er nicht EINFACH? Warum ist er nicht der Frühere, unbefangen Freundliche? Er sah vergrämt oder überanstrengt aus. Mich befremdete, dass er so tat, als müsste er sich vor mir zusammennehmen, vor mir etwas verbergen. Nur Minuten sind vergangen. Meine Eindrücke hatten sich noch nicht zu einem klaren Bilde gefügt, es haben sich keine Worte eingestellt; aber ich fühle, dass etwas gerissen ist, dass Ratow sich verändert und dass diese Veränderung ihn mir entfremdet hat. Dass mich selbst in seinem Äußeren etwas Fremdes anhaucht. 28 Es folgt ein unverständlicher Satz.

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Bis zum Ziel meiner Reise waren noch einige Stunden Fahrt, die man mit einer anderen Bahn machen musste. Ratow fragte, ob ich schon heute weiterfahren oder einen Tag hier bleiben und mich ausruhen wollte. Ich überlegte. Ein seltsame, schwere Traurigkeit überfiel mich, während ich so auf dem Perron des kleinen Bahnhofes stand, Hand in Hand mit dem mir fremd erscheinenden Alexander, weit, weit von allem, was mein war … Am liebsten hätte ich gesagt: „Ach, bitte, lass mich nach Hause gehen!“ Ratow sagte zärtlich: „Du bist müde, bleibe hier, ruhe über Nacht aus, morgen bringe ich Dich weiter.“ Ich willigte ein. Wir fuhren mit einer Droschke in die Stadt, die ganz in dunkles Grün gehüllt war. Vor einem Hotel mit einem Vorgarten, in dem große Sonnenblumen prangten, machten wir halt. An dem Zimmer, in das wir geführt wurden, fiel mir auf, dass kein einziges Bild an den glatten, weißen Wänden hing. Die kleinen Fenster hatten blendend weiße, zweiteilige Mullvorhänge. Und von draußen grüßten die großen Sonnenblumenköpfe durch die Scheiben. Ratow ging fort, um etwas Essbares zu besorgen und mir Zeit zum Waschen und Umkleiden zu lassen. Dann kehrte er zurück. Bald stand der Samowar dampfend auf dem Tische, Alexander brachte Blumen und verschiedene Leckerbissen mit. Wir saßen und plauderten. Wir erinnerten uns der Erlebnisse in P., in Novodub. Ratow fragte, ob ich später noch viel getanzt hätte. Ich sagte: „Die Mazurka nicht mehr, ich habe ja durch Deine Schuld die Pas tombées nicht weiter geübt.“ Wir erinnerten uns des Nachmittags, an dem er das Gefängnis verlassen hatte und wir uns unerwartet auf der Straße getroffen hatten – und hundert anderer Dinge. Eine schwüle, südliche Spätsommerdämmerung brach herein. Vor dem offenen Fenster neigten die Sonnenblumen die Köpfe mit ihren goldig schimmernden Kränzen schwer auf die Seite. Eine beseligende Ruhe kam über mich. Wieder sah ich Ratow so, wie er in meiner Vorstellung lebte: der Überlegene und Gute, der Leitende und Schützende – unendlich nahe und weit zugleich. So wünschte ich ihn mir, so wollte ich ihn haben. Meine sorglose Heiterkeit kehrte zurück und die Bangigkeit wich. Plötzlich hielt Ratow inne. Er setzte sich zu mir aufs Sofa, sah mich mit merkwürdigen, durchdringenden und zugleich verdunkelten Blicken an und sagte: „Dina, Du musst es doch längst gewusst haben, dass Du mir nicht nur Schwester, dass Du mir viel, viel mehr bist …“ Er sagte es mit gedämpfter

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Stimme und streckte die Arme vor, um mich an sich zu ziehen. Ich wehrte erschreckt seine Hände ab. Ich fühlte, wie ich leichenblass wurde. Gedankenlos rief ich halblaut, aber fest: „Das nicht! Das nicht!“ Ratow blieb sitzen, wie von einem Schlag auf dem Kopf betäubt. Sekunden unheimlicher Stille vergingen. Dann raffte er sich auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Seine Mundwinkel zuckten nervös, auf den Lippen lag ein Lächeln, in dem sich Spott und Ironie mit Ärger und Kränkung mischten. Ich lehnte in der Ecke des Sofas, erdrückt von dumpfen, unklaren Gefühlen. Tränen würgten meinen Hals, Scham und Reue jagten mir wieder das Blut ins Gesicht. Ich wusste, was mich erschreckte, war die Vorstellung: Du bist allein, Du bist wehrlos. Jetzt schämte ich mich dieser Empfindungen. Vor wem hast du dich gefürchtet? Wovor? Aber eine unerklärliche eisige Kälte hielt mich gebannt. Ratow erschien mir ganz fremd, ganz weit … Er aber setzte sich zu mir und sah mich schweigend lange an. In seinem Blick lag so viel Vorwurf, Frage, Verwunderung und Leid, dass ich mein Gesicht an seiner Brust verbarg und flüsterte: „Verzeihe mir!“ Er neigte sich zu mir, berührte leicht meine Haare und sagte zaghaft bittend: „Also Dina … sag mir …“ Dann schwieg er. Plötzlich schob er mich leicht vor sich hin und sagte mit verwunderter, fast harter Stimme und gemachter Nonchalance: „Also – nun weißt du es: Ich liebe Dich. Wie steht es denn eigentlich mit Dir?“ Ich schwieg. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Betete ich Alexander nicht an? Lebte ich nicht anderthalb Jahre seine Gedanken, seine Wünsche? Wenn er mir gesagt hätte: Stirb für mich! – ich hätte es lächelnd getan. Ob ich ihn aber liebte? Anders liebte? Ob ich seine körperliche Nähe wünschte? Ob ich von ihm geküsst sein wollte? Ich hatte mir diese Fragen nie vorgelegt, nie darüber nachgedacht. Was war mir der Mann, der da vor mir saß, mit nervös zuckendem Munde und forschendem Blick – ich wusste es nicht. Er wich von meinem Bilde ab. Ich hatte mich an das Neue in ihm noch nicht gewöhnt. Ich fand keine bestimmte Note in dem Wirrwarr meiner Empfindungen. Ich fand zu ihm als Mann, als Gestalt, als Person keine Beziehung. In rastloser Verwirrung sah ich Ratow an: Du, der mein Helfer war und sein sollte, warum hilfst du mir jetzt nicht? Er saß wartend vor mir, mit ernstem, fast strengem Gesichtsausdruck und schwieg. Kein Funken kam zu mir von ihm herüber, kein erlösendes

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Blitzaufzucken, dunkel und stumm blieb es in mir. Plötzlich tauchte, wie aus einem Nebel, der Gedanke in mir auf: „Du verlierst ihn. Er verlässt dich. Er geht von dir!“ Wie das glimmende Auge eines Ungetüms sah mich dieser Gedanke aus dem Nebelgewirr an. Er durchdrang, durchbohrte mich. Mir war, als müsste ich gleich verbluten und in ein Nichts versinken. Wie ein von Angst gepeitschtes Kind sich zu seiner Mutter flüchtet, so flüchtete ich mich zu Ratow! Rette mich; bleibe bei mir. Ich umschlang seinen Hals und gab mich seinen Küssen hin. Ratow mochte meine instinktive Angst vor einem Leidenschaftsausbruch von seiner Seite gefühlt haben. Er erklärte es sich vielleicht durch meine Abgespanntheit von der langen Reise und das Neue meiner ganzen Lage. Jedenfalls waren seine Liebkosungen schonend-zart. Er erzählte von seinen Erlebnissen in den anderthalb Jahren unserer Trennung, von seiner Sehnsucht nach mir, den Hoffnungen und Zweifeln der letzten Wochen. Er küsste meinen Mund, meine Hände und flüsterte: „Nun bist Du da, Täubchen, und alles ist gut.“ Ich drückte mich an ihn, umfasste seinen Kopf und sagte mehr für mich, als um von ihm gehört zu werden: „Du bist mein! Du bist mein!“ Die Nacht begann vor einer graublauen Morgendämmerung zu weichen. Ein sanfter Wind bewegte die leichten, schneeweißen Mullvorhänge am Fenster. Dahinter zeichneten sich, goldig schimmernd, die großen Sonnenblumenkränze ab. Bald ergoss sich die südliche Sonne freudestrahlend ins Zimmer.

IX Das Haus, wohin ich kam, konnte mit Recht „das stille Haus“ genannt werden, wenn es auch ausschließlich stilles Glück war, das darin wohnte. Schon deswegen, weil Herr Mirny – so hieß der Vater meiner Schüler – herzleidend war und jede ernstere Tätigkeit vermeiden musste, Frau Mirny aber in ständiger Angst lebte, ihren Mann zu verlieren, und noch mehr in der quälenden Sorge, dass ihre Kinder demselben Schicksal wie ihr Mann verfallen würden, besonders der eine der Knaben, der die Konstitution des Vaters hatte. Doch in diesem Hause fand sowohl die Sorge als auch die Freude ihren stillsten und friedlichsten Ausdruck. Am Ende des Dorfes Manilowska, etwas abseits,

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am hohen Ufer eines kleinen Flusses, stand das weiß getünchte Haus der Familie Mirny. 29 Trat man aus der Flurtür, so sah man rechts tief unten den Fluss und über ihn hinweg die auf dem anderen Ufer gelegenen Wiesen und wogenden Felder, die sich in der unendlichen Ferne verloren. Ging man den Fluss entlang, etwa zehn Minuten weit von unserem Hause, kam man zu einer talartigen Vertiefung, wo man bequem baden konnte. Hier lagen im flachen Uferwasser große und kleine Steine und hier stand Herr Mirny mit seinen beiden Knaben manche Stunde, die Angel in der Hand, und wartete geduldig, bis sich eine Forelle oder ein anderes harmloses Fischlein in den Haken verfänge. Einmal ließ ich mich auch bewegen, die Freude des Angelns kennen zu lernen. Mit leuchtenden Augen brachten mir meine beiden Schüler eine für mich zurecht gemachte Angel. Sie waren äußerst gespannt, wie ich mich bei der Sache anstellen würde. Wir standen auf drei nebeneinander liegenden Steinen und warteten und warteten. Die Jungen behandelten meine Angel nicht weniger aufmerksam wie ihre eigenen. Nach einer halben Stunde riefen sie in freudiger Erregung: „Es zieht! Es zieht!“ Ich zog meine Angel hoch und wirklich baumelte ein Fischlein an dem Angelhaken. Nach der ersten Verwunderung über meinen Erfolg wurde ich von einem derartigen, fast physischen Widerwillen erfasst, dass ich, ohne den zappelnden Fisch aus dem Haken zu befreien, die Angel fort warf, den Kindern zurief, sie möchten nur allein weiter angeln und ins Haus zurück ging. Noch lange nachher erzählten die Knaben bei jeder passenden Gelegenheit, wie ich mich bei meinem ersten und einzigen Angelversuch benommen hatte. Die Mirnys besaßen mit dem Bruder der Frau Mirny zusammen eine kleine Kohlengrube, die etwa 3–4 Stunden Wagenfahrt von Manilowska entfernt lag. In den letzten Jahren wurde das Unternehmen von Frau Mirnys Bruder allein geleitet. Dieser lebte die ganze Woche über auf dem Werk, kam aber jeden Samstagnachmittag herüber und blieb bis Montag früh bei seinen Verwandten. Sein Kommen störte jedoch die Stille des Hauses nicht. Er war ein sehr ruhiger Mann, etwa fünfzig Jahre alt und Junggeselle. Er

29 Manilowka ist ein Dorf in Gogols „Die toten Seelen“. Man kann davon ausgehen, dass Nadja Strasser, die manchmal Manilowka, aber meistens Manilowska geschrieben hat, beim Schreiben an diesen fiktiven Ort des russischen Romanciers gedacht und den Namen übernommen hat. Sprechend ist auch der Familienname Mirny, der auf Russisch „friedlich“ bedeutet.

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hatte einst in vollen Zügen ein fröhliches Leben genossen und dabei in mancher Beziehung Schaden genommen und war aus einem Großunternehmer, der er einst gewesen, zum Besitzer eines kleinen Kohlenbergwerks geworden. Nun lebte er seit Jahren ganz zurückgezogen, in vornehmer Resignation, als Pessimist und kluger Ironiker. Er verstand die Jugend und verzieh ihr ihre dummen Streiche, zu denen er auch die Begeisterung für sozialistische Ideen zählte. Er versuchte anfänglich auch mir gegenüber einen ironischen Ton anzuschlagen, machte leise Bemerkungen, die mir sein verzeihendes Verständnis kundtun sollten, und erwartete, dass ich protestieren und opponieren würde. Da ich aber, durchaus nicht kriegerisch gestimmt, auf diesen Ton nicht einging, ließ er es bald sein und zeigte mir gegenüber ein vornehmfreundliches, wenn auch etwas väterlich-herablassendes Benehmen. Wenn der Onkel kam, durften Mischa, Liowa und die kleine vierjährige Manja in seinem Wagen spazieren fahren. Das war für die Kinder eine große Freude. Auch die Mahlzeiten wurden dann festlicher zubereitet, denn er hatte sich aus seinen früheren Jahren neben mancher anderen Vorliebe auch diejenige für gutes Essen bewahrt. Sonst unterschieden sich diese Tage von den anderen nur wenig. Hatte man die Mahlzeit oder den Tee eingenommen und ein Weilchen geplaudert, griff ein jeder zu seinem Buch und vertiefte sich in seine Lektüre. Darin bestanden nämlich die Hauptbeschäftigung und das Hauptvergnügen dieser Familie. Die Mirnys waren wohl die am meisten lesenden Menschen, die man sich denken kann. Sie lasen alte und neue Bücher, alte und neue Journale, belletristische und publizistische und wissenschaftliche Werke, legale und illegale Literatur. Sie lasen alles mit dem gleichen Interesse und dem gleichen Eifer. Frau Mirny las in jedem freien Augenblick. Selbst vormittags beim Kochen hatte sie in der Küche ein Buch liegen, in das sie während der Pausen hineinsah. Manchmal rief sie ihren Mann zu sich und während sie den Kuchenteig walkte und knetete, las er ihr einen Artikel, eine Novelle oder irgendeine publizistische Abhandlung vor. Auch die Knaben waren auf das Lesen so versessen, dass man sie nach Tisch oder nach Beendigung der Schularbeiten antreiben musste, die Bücher fortzulegen und sich im Freien zu tummeln. Selbst die kleine Manja saß zu Füßen der Mutter vor ihrem Tischchen und blätterte in einem Buch, in dem Bilder waren. Hatte sie ein solches gefunden, beugte sie sich tief über das Blatt, zeigte mit den Finger-

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chen auf verschiedene Stellen des Bildes und sagte sich selbst leise vor, was sie da sah: „Ein Baum, eine Kuh, ein Mann.“ Nur ein Besuch unterbrach hie und da die Stille des Hauses und den üblichen Gang des Lebens, aber das kam nur selten vor. Zu den großen Geschehnissen, die mit Aufregung erwartet und hingenommen wurden, gehörten die, welche Haustiere betrafen. Einige Zeit nach meiner Ankunft in Manilowska wurde ich eines Morgens von sonderbaren Lauten geweckt. Ich sah aus meinem Zimmer, das durch einen Vorhang von dem der zwei Knaben getrennt war, wie Mischa im Hemd in seinem Bette stand, mit beiden Händen sein Höschen vor sich hielt und sich unter tollem Hüpfen und unglaublichen Clownssprüngen vergeblich bemühte, hinein zu schlüpfen. Er warf die Beine so in die Höhe und zappelte derart mit den Händen, dass er bald daneben geriet, bald mit dem rechten Bein in die linke Hosenhälfte kam, und umgekehrt. Dabei rief er fortwährend laut seinen Namen und sprach dazu ein kleinrussisches Wort, das ich nicht kannte. 30 Ich hörte das ununterbrochene „Mischa Skasiwaja“, sah die tollen Sprünge und war ein paar Minuten lang völlig sprachlos. Dann rief ich „Mischa!“, doch er hörte es nicht. Endlich gelang es ihm, in die Hose zu kommen, eine Sekunde später hatte er Bluse und Pantoffel an, und mit dem Ruf: „Mischa Skasiwaja“ stürmte er aus dem Zimmer. Jetzt merkte ich, dass auch Liowa nicht mehr im Bette war und auch sonst kein Mensch im Hause zu sein schien. Mich packte die Neugierde, ich warf das Morgenkleid über und lief über den Flur, um zu hören, was vorgefallen sei. Da rannte das Dienstmädchen an mir vorbei und rief mir zu: „Fräulein, unsere Kuh hat ein Kälbchen bekommen!“ Das war es also gewesen! Später fragte ich Frau Mirny, was „Mischa Skasiwaja“ denn eigentlich bedeute. Sie lachte und sagte, es hieße: „Mischa ist wahnsinnig geworden.“ Mischa hatte sich selbst also fortwährend beteuert, er sei aus Freude darüber, dass die Kuh ein Kälbchen bekommen hatte, wahnsinnig geworden. Eine Woche lang konzentrierte sich das Interesse aller Familienmitglieder auf das kleine Kälbchen, dann aber wurde es dem Fleischer verkauft, weil es zu viele Scherereien verursachte. Die Kinder waren anfangs untröstlich, bald vergaßen sie aber das Kalb und alles ging wieder seinen altgewohnten Gang. 30 Im russischen Sprachgebrauch wird die ukrainische Sprache häufig als „Kleinrussisch“ bezeichnet.

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So friedlich und still das Haus war, in dem ich lebte, so friedlos und unruhig sah es in mir aus. „Sie haben in der ersten Zeit viel geweint“, sagte mir später einmal Frau Mirny. Das war ein Irrtum. Ich weinte nicht und hatte in Tränen auch niemals Erleichterung in meinen seelischen Bedrängnissen gesucht und gefunden. Aber mit dem kundigen Auge einer mütterlich empfindenden Frau hatte Frau Mirny gesehen, dass ich litt und mit irgendeiner inneren Unruhe nicht fertig wurde. Was mich ruhelos machte und quälte, war der Gedanke: „Du liebst Ratow nicht, du hast ihn belogen, hast ihn und dich aus Feigheit belogen!“ Ratow schrieb mir täglich, aber diese Briefe, die so ganz anders als die früheren waren, brachten mir viele peinvolle Stunden. Ich fand den richtigen Ton für die Antwort nicht, ich empfand meine eigenen Worte als unecht, zerriss meine Briefe, schrieb wieder, ärgerte mich und schalt mich verlogen. So leicht und einfach es mir früher gewesen war, Ratow alles zu schreiben, so schwer fiel es mir jetzt. Es war zwischen mir und ihm verabredet, dass er mich in einigen Wochen in Manilowska besuchen würde. Aber die Erwartung stimmte mich nicht freudig, sie erfüllte mich im Gegenteil mit noch größerer Unruhe. Bald fasste ich den Entschluss: Ich sage ihm alles, ich erkläre ihm, ich spreche offen mit ihm. Dann aber sah ich, wie er mit nervös zuckenden Mundwinkeln vor mir saß und in einem Ton, der sich wie eine Grimasse anhörte, sprach: „Also – wie steht es denn eigentlich, Dina, mit Dir?“ Und ich fühlte: Er wird von dir gehen, er wird Dich verlassen. Dieser Gedanke erfüllte mich jedes Mal mit derselben tödlichen Angst, wie damals, als er zum ersten Mal auftauchte. Ich konnte mir ein Leben ohne Ratow nicht denken. Ich hatte die Empfindung, ich müsste ohne ihn ersticken, wie man im luftleeren Raum erstickt. Hilflos, einem dunklen Schicksal preisgegeben, suchte ich vergeblich nach einem Auswege in dieser Wirrnis. Eines Morgens, Anfang September, bekam ich von Ratow die Nachricht, dass er am selben Tage komme. Ich teilte es meinen Schülern während der Stunde mit. Sie brachen in lautes Hallo aus und rannten, mich im Stich lassend, zu der Mutter in der Stube. „Mama, Alexander Samoilowitsch kommt heute!“ riefen sie schon von weitem. Einen Augenblick später trat Frau Mirny ins Kinderzimmer hinein. „Ist es wahr, kommt wirklich heute Alexander Samoilowitsch?“ „Ja, Klara Michailowna, er schrieb heute, er

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kommt wahrscheinlich schon zu Mittag.“ „Und da schweigen Sie, Sie böses Geschöpf! Dachten Sie gar nicht daran, dass ich Hausfrau bin und für Futter für liebe Gäste sorgen muss?“ Daran hatte ich in der Tat nicht gedacht. Nun ging Frau Mirny in die Küche, um die nötigen Veränderungen für den Mittagstisch vorzunehmen. Ich setzte den Unterricht mit den Kindern fort, aber ich kann nicht sagen, dass ihr Wissen an diesem Tag sich bereichert hätte. Die Knaben plauderten unaufhörlich, erzählten von den früheren Besuchen Ratows, erinnerten sich dabei verschiedener lustiger Anekdoten und Vorfälle. Sie ergänzten sich gegenseitig ihre Erinnerungen und fielen einander ins Wort: „Aber nein, Mischka, die Geschichte mit dem Dach war doch beim letzten Besuche Alexander Samoilowitsch’s. Wie er aber das letzte Mal da war, hatten wir …“ „Da hatten wir eine Hütte gebaut“, fuhr Liowa unbeirrt fort. „Eine Indianerhütte. Dort, wissen Sie, auf der kleinen Wiese, hinter dem Stall. Den Eingang hatten wir mit einem schönen, bunten Tuch verhängt.“ „Das hat Mama uns geliehen“, rief Mischa so laut und aufgeregt dazwischen, dass ich mich sogleich auf ein katastrophales Schicksal für das schöne bunte Tuch gefasst machte. „Aber in der Nacht hat sich das Kalb von Mitiucha auf die Wiese geschlichen … und hat das Tuch von Mama ganz zerkaut … Nur Fetzen sind übrig geblieben!“ Um elf Uhr sagte ich zu den Kindern: „Ich schenke Euch heute eine Stunde, in Gottes Namen, geht nur und spielt bis zu Mittag.“ Die Kinder sprangen ganz begeistert davon. Ich atmete erleichtert auf und eilte auf mein Zimmer, denn ich fühlte mich müde wie nach einer ungeheuren, körperlichen Anstrengung. Mit der Empfindung leichten Fiebers streckte ich mich auf das Sofa hin. Gegen Mittag kam Ratow. Alles freute sich, die Kinder wichen nicht von seiner Seite. Die vierjährige Manja saß auf seinen Knien und bat immer wieder: „Machen Sie doch einmal, wie die Lokomotive den Dampf heraus pustet!“ Nachmittags schlug Ratow mir einen Spaziergang vor, wir gingen über das Dorf hinaus in die freie Steppe. Es war so wundervoll still in der Heide. Kein Laut, kein Windstoß. Alles schlief; die Luft, das Gras, die kargen Feldblumen, die Insekten. In weiter, weiter Ferne lag die scharf geschnittene Kreislinie des Horizonts und über ihm spannte sich blau, hoch und still der wolkenlose Himmel. Wir setzten uns auf den Abhang eines Hügels. Eine solche Fülle von

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Schweigen und Ruhe war um uns, dass wir lange kein Wort sprachen. Ratow hielt meine Hand in der seinen und streichelte sie. Er schien traurig und verstimmt. Ihm mochte mein unruhiges Wesen schon während des Mittagessens aufgefallen sein; vielleicht hatten ihn schon früher meine Briefe nachdenklich gemacht. Jeder von uns fühlte, dass ein Riss durch die eigene Seele und durch die Seele des anderen ging, jeder von uns sah, dass ihm und dem anderen ein Traum und eine Sehnsucht zu zerrinnen drohte. Er suchte in mir das weibliche Wesen, dessen Sehnsucht der seinen entgegen flattern möchte – und fand es nicht. Ich suchte den geliebten Meister, an den sich meine Seele anklammern konnte – und fand ihn nicht. Wie Blinde tasteten wir uns innerlich aneinander vorbei. Wir saßen da, als wäre der Hügel unter uns ein Grabhügel. Endlich fragte Ratow, ob ich mich in die neuen Verhältnisse eingelebt hätte, ob ich mich mit den Leuten wohlfühle, ob ich zufrieden sei. Ich bejahte alles. Dann schwiegen wir. Hinter seinen Fragen schwebte die viel wichtigere, die Schicksalsfrage: Willst Du, kannst Du mit mir glücklich sein? Aber er sprach sie nicht aus. Vielleicht weil er ahnte, wie sehr ich mich vor dieser Frage fürchtete. Vielleicht in dem Bewusstsein, dass sie nicht gestellt zu werden brauchte, wenn die Antwort ein klares, sicheres Ja gewesen wäre. Er zog mich an sich und ich schmiegte mich in seinen Arm. Wie glücklich wäre ich gewesen, wenn ich mit ihm einfach und unbefangen hätte reden können, plaudern. Mich einfach und unbefangen geben, ohne das Bleigewicht einer Schicksalsentscheidung auf mir zu fühlen. Meine Empfindungen waren: Bleib mir gut, verstoße mich nicht! Ich weiß nicht, ob ich Dich so liebe, um Deine Frau zu werden, aber siehst Du nicht, dass ich Dir meine ganze Seele gebe, dass ich ohne Dich nicht sein kann? Doch fühlte ich, dass ich ihm das nicht sagen konnte, dass dann alles aus wäre. Ratow küsste mich und ich wehrte ihm nicht, doch ich empfand quälend und kalt: „Es ist Lüge, wenn Du es duldest, es ist eine Sünde.“ Ratow mochte wohl gemerkt haben, wie es in mir aussah. Zärtlich bittend sagte er: „Liebste, sag mir etwas, erzähle, vertrau Dich mir an.“ Mein Herz fing an, laut und ungleichmäßig zu schlagen. Einen Augenblick kämpfte in mir der Entschluss, offen alles auszusprechen, mit der Angst vor der Entscheidung. Aber die Notwendigkeit auf die Frage zu antworten, gab den Ausschlag. Zögernd, fast stotternd sagte ich: „Alexander – ich fürchte, dass ich Dich weniger liebe, als ich es möchte – oder vielmehr, dass ich Dich

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anders liebe.“ „Ach Kind, wozu dieses Grübeln?“ Ich hörte eine Note von Ungeduld in seiner Stimme. „Ich will nicht grübeln“, sagte ich, „dass ich es tue, macht mich irre an mir selbst.“ Wir saßen eine ganze Weile still. Die Erde um uns atmete Ruhe. Meine wilden, gehetzten Gedanken versanken in dieser Ruhe, wie der Körper in ein laues Bad versinkt. Jede Erinnerung an die nahe Vergangenheit wich von mir. Ich legte den Kopf in Ratows Schoß und gab mich der traumhaft stillen, von jeder Erdenschwere befreiten Ruhe hin. Mich weckte Ratows Stimme: „Nun? Und was denkst du weiter?“ Sein Ton war verändert und hart, es klang wie ein ironisches, kaltes Lächeln, das mich verletzte und in mir etwas wie Trotz hervorrief: „Bin ich Dir so wenig, dass du bereit bist, mit solcher Leichtigkeit mich preiszugeben?“ Ein unendlich weh tuendes Gefühl der Einsamkeit überkam mich, einer Einsamkeit, vor der mir körperlich bangte. Aber gefasst sagte ich: „Ich denke – wir nehmen Abschied voneinander.“ Wie diese Worte über meine Lippen kamen – ich wusste es nicht. Nun aber waren sie ausgesprochen, und ich nahm sie als eine Entscheidung hin, der ich mich fügen musste. Ratow schwieg und sah mich nicht an. Endlich wendete er sein Gesicht zu mir und sagte langsam, jedes Wort abwägend: „Glaubst Du – bist Du überzeugt – dass es das Beste ist?“ Ich saß ganz gerade und umklammerte mein Knie mit beiden Armen. Mir war, als würde ich von eisig kalten Händen in die Tiefe gezogen. Ich hätte aufschreien mögen: „Nein! Nein!“ Aber die scharfe Erinnerung an den Kampf der letzten Wochen tauchte wieder frisch in mir auf. Ich fühlte die Qual der inneren Irrungen, und eine Sehnsucht nach Ruhe, nach Befreiung, nach Entlastung überkam mich, die alles andere verdrängte. Ich sagte fest: „Ja, ich glaube, es ist das Beste.“ Vor uns lag die Heide, erfüllt von der Andacht einer langen, fließenden blau-grauen Dämmerung. Ich saß nach vorne gebeugt, immer mit den Armen die Knie umklammernd, und blickte in die Dämmerung. Ich dachte an nichts. Ich dachte auch nicht daran, dass ich soeben mit eigenen Händen etwas, das meinem jungen Dasein die Schwungkraft gab, zertrümmert hatte. Ich wandte mich Ratow zu, der halb liegend auf den Arm gestützt, unbeweglich vor sich hin blickte. Einen Augenblick trafen sich unsere Augen. Ich begegnete einem durchdringend forschenden Blick, der den meinigen zu enträtseln suchte. Dann erhoben wir uns und gingen schweigend nach dem

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Dorfe zurück. Zu Hause sagte Ratow Herrn und Frau Mirny, dass er sich entschlossen habe, noch einen Besuch bei einem seiner Freunde in der Nachbarschaft zu machen, und reiste am gleichen Abend fort. Er verabschiedete sich von mir in Gegenwart der Familie Mirny mit einem Händedruck. Die Kinder liefen eine kurze Strecke neben Ratows Wagen her und riefen: „Kommen Sie doch bald wieder, Alexander Samoilowitsch!“ Dann verschwand der Wagen hinter dem Gutshofzaun. Die Kinder traten mit den Eltern ins Haus zurück, ich blieb allein und war völlig gebrochen. Ich lief die steile Böschung des Ufers hinunter, warf mich auf die Erde und stöhnte in wahnsinniger Verzweiflung: „Warum? Warum? Warum?“

X Bis zu Ende der achtziger Jahre gab es in Russland eine einzige, große, revolutionäre Partei, die sich nur den Kampfmethoden und den besonderen örtlichen Verhältnissen nach in besondere Gruppen teilte. Der Unterschied der Methoden und der Programme in diesen verschiedenen Gruppen war allerdings sehr groß. Während die einen den Weg der alten Kampforganisationen gingen, die im Jahre 1880 das Todesurteil über Alexander II. verhängt und ausgeführt hatten, hielten sich die anderen Gruppen an das Mittel der friedlichen Propaganda, der Agitation unter dem Volke und der politischen Aufklärung in der Gegend. Von Marat bis Leo Tolstoi! In einem Punkte aber trafen sich alle Schattierungen. Sie alle sahen in der Bauernschaft, im schlafenden Koloss, auf dessen Schultern das ganze Riesenreich ruhte, die einzige Kraft und die einzige Macht, die den Völkern Russlands Befreiung bringen würde. Wenn sich dieser Koloss reckte, dann würde das Zarenjoch abgeschüttelt; dann fielen die Ketten, die die äußeren und inneren Kräfte eines seelisch und geistig überreichen Volkes niederhielten. 31

31 Nadja Strasser spielt hier auf die Entwicklung der Bewegung der „Volksverbundenen“, der Narodniki, an. Die Organisation „Semlja i Wolja“ („Land und Freiheit“) war gespalten in die Anhänger von Attentaten auf Repräsentanten des zaristischen Systems, um die Bauern zum Aufstand zu bewegen („Narodnaja Wolja“, „Volkswille“ oder „Volksfreiheit“), und Revolutionäre, die den Weg zum Dorfsozialismus

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Wenn der Koloss sich reckt … Und alles Sinnen, alles Streben und Trachten jedes revolutionär empfindenden Russen ging dahin, diesen Koloss aus dem Schlafe zu rütteln; den Bauern aufzuklären, ihn zum Bewusstsein seiner Unterdrückung zu bringen und in ihm das Streben nach Befreiung und Besserung wach zu rufen. Eine Sisyphusarbeit, der Koloss schlief und schlief. Nichts vermochte ihn aus seinem tiefen, bleiernen Schlaf aufzupeitschen. Und wenn er ab und zu einmal die Glieder reckte, konnten seine vom Schlaf und Wodka trüben Augen die Dinge nicht unterscheiden. Er schlug dort zu, wo er anbeten, und betete dort an, wo er zuschlagen sollte. Und schlief dann weiter. Hunderte und Tausende junge Leute aber sanken bei dieser Arbeit dahin. Hunderte und Tausende gingen in den weißen Wüsten Sibiriens unter, starben den Heldentod, die Arme segnend über die nachfolgenden Kämpfer gebreitet, auf den Lippen die Worte: „Lerne die Freude, dich zu opfern!“ Und immer wieder füllten sich die Reihen mit neuen Kämpfern. Sie sangen dieselben sehnsuchtsvollen Kampflieder, sie grüßten mit demselben Jubel in Gedanken den kommenden Tag, an dem der schlafende Koloss sich recken, erwachen und sich rüsten würde – für den letzten siegreichen Kampf. Sie übergaben einander als letztes Vermächtnis jenen Mahnruf Nekrassows, der so vielen zum Leitfaden ihres Lebens wurde: „Säet das Gute, Vernünftige, Ewige! Säet – einst dankbar wird Euch sein das Volk.“ Einem jener Kampfkreise war auch Ratow, kein Marat, sondern ein leidenschaftlicher Prediger, ein Apostel der Freiheit und ein Dichter [zugehörig]. Zu Propagandazwecken lebte er Jahre hindurch auf dem Lande unter den Bauern, teilte ihre Leiden und Freuden, feierte mit ihnen ihre primitiven Feste, teilte mit ihnen das Wenige, was er verdiente, und trank sich manchen Rausch mit ihnen zusammen an. Um das Leben der Bergarbeiter kennen zu lernen, arbeitete er eine Zeit lang in einem Kohlenbergwerk im Dongebiet, lebte in einer aus Lehm gebauten Arbeiterbaracke. Er war Mitarbeiter verschiedener im Auslande und in Geheimdruckereien in Russland erscheinenden revolutionären Blätter, schrieb auch Novellen aus dem Bauernleben und gelegentlich Gedichte im Volksstil und Märchen. Sich Ratow zuzugesellen, an seiner Seite mitzuwirken, durch ihn und mit seiner Hilfe das mir fremde Volk kennen zu lernen, war der Traum gedurch Aufklärung beschreiten wollten („Tschorny Peredel“, also „Schwarze Umteilung“: Landverteilung durch freie Selbstbestimmung der Bauern).

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wesen, mit dem ich nach Manilowska gefahren war. Nun stand ich allein, mir selbst überlassen. Ich sollte ins Leben hinein, es dort anpacken, wo es mich am meisten anzog. „Säet das Gute, das Wahre, das Ewige …“ Wie ein Leitmotiv ging es durch alle meine Wünsche. Aber wie, wo es ins Leben umsetzen? Ein leiser Groll gegen Ratow regte sich in mir. Ich empfand im Tiefsten meiner Seele: Er hat dich verraten, er hat dich im Stich gelassen. Schrieb er mir nicht noch vor unserem letzten Zusammentreffen: „Ich liebe dich deiner Seele wegen. Ich liebe dich für deine Liebe zum Guten.“ Und doch wurde er mir untreu, weil auch ich nur seine Seele liebte. Mich erdrückte das Gefühl der Verlassenheit, der Verwaistheit. Ich verlor mich in der plötzlich entstandenen Leere und vermochte nicht, mich in ihr zurecht zu finden. Im dunklen Gewirre meiner Gedanken prägte sich nur eine Frage deutlich in meinem Hirn: Wie kam es, dass ich von Ratow im Stich gelassen wurde? Wie konnte er es tun? Allmählich aber siegte der Stolz, ich begann mich meiner Schwäche zu schämen. Suche Dich zu finden, sagte ich mir. Wollte Ratow Dir nicht bedingungslos nahestehen, dann erlerne, ohne ihn zu sein! „Ratow ist tot!“ war der Schluss dieser Grübeleien, und es war eine halbe Befreiung von der Pein des Nichtbegreifens. Den Tod begreift man nicht, aber man findet sich mit ihm ab. Ich entschloss mich nun auf eigene Faust, eine Annäherung an die Dorfbewohner, die in unserer Nähe lebten, zu versuchen. Ich begleitete zu diesem Zwecke meine beiden Schüler, wenn sie mit irgendeinem Auftrag der Mutter in ein Bauernhaus gingen. Meist handelte es sich um Arbeiten und Reparaturen, die in Haus und Hof auszuführen waren. Oder Frau Mirny ließ sich Sachen, die gewöhnlich vom Gutsverwalter bezogen wurden, Gemüse, ein paar Eier oder Butter von irgendeiner Bäuerin, die es entbehren und verkaufen konnte, bringen. Auf diese Weise lernte ich verschiedene Bauernfamilien kennen. Eine von ihnen stand mir besonders nahe, da dieser Bauer, Mikola mit Namen, mich in seinem Wagen mitnahm, wenn er in die nahe kleine Stadt fuhr. Ich kam dann öfters in Mikolas Haus und unterhielt mich mit ihm und seiner Familie. Diese bestand außer seiner Frau aus zwei halbwüchsigen Söhnen und einer dreijährigen Enkelin, deren Mutter im Wochenbett gestorben war. An der kleinen Sascha mit schokoladenbraunem Körperchen und flachsweißen Haaren hingen alle Mitglieder der Familie mit rührendster Zärtlich-

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keit. Tagsüber war Sascha mit den Erwachsenen auf dem Felde; kamen sie gegen Abend nach Hause, beschäftigte sich jeder fortwährend mit der Kleinen. Wenn Mikola in den Stall ging, saß Sascha hoch oben auf seiner Schulter. Setzte sich die Mutter zum Kartoffelschälen auf den Boden im Flur oder Hof, kauerte die Kleine, einer braunen Kugel gleich, auf dem Schoß der Alten und plapperte ununterbrochen in einem Kauderwelsch, den nur die Angehörigen zu verstehen gelernt hatten. Es war Spätsommer, die Arbeit auf dem Felde war jetzt hart und mühsam. Die Bäuerin band den ganzen Tag die trockenen Halme in Garben. Ihre Arme und Füße waren zerschunden und geschwollen. Zu Hause schleppte sie sich mühsam von einer Stelle zur anderen, während sie das aus Salzkartoffeln bestehende Abendbrot für die Familie bereitete. Den ganzen Sommer über sah ich die Leute nie etwas anderes essen. Ich sprach einmal meine Verwunderung darüber aus. „Ja“, meinte die Bäuerin, „jetzt haben wir nichts anderes; aber zu Weihnachten schlachten wir unser Schweinchen und da gibt es wieder Fleisch.“ Der Sascha wegen hielten die Leute eine Ziege, und die Kleine bekam täglich früh und abends Milch zu ihrem Brot. Ich kam oft zu ihnen nach Sonnenuntergang und setzte mich auf die Steinstufe, die vom Hof in den dunklen Flur führte. Und während die Männer das Vieh für die Nacht besorgten, setzte sich die Bäuerin in der Küche des Flurs, ausruhend, und erzählte unter fortgehendem Geplapper der auf ihrem Schoß sitzenden Sascha von ihrem mühereichen Leben, von ihrer verstorbenen Tochter, von ihren Hoffnungen auf bessere Zeiten, die eintreten würden, wenn sich der ältere Bursche verheiratet haben würde. Mikolas Häuschen bestand aus zwei Stuben, die voneinander durch einen dunklen Flur getrennt waren. Sie bewohnten jedoch nur die eine Hälfte, die andere vermieteten sie für einen Rubel monatlich an einen jungen Angestellten der Gutsökonomie. Fast ein Viertel ihrer Stube nahm der riesige Backofen ein, an den sich eine breite, mit allerlei Lumpen bedeckte Bretterpritsche anschloss, die einzige Lagerstätte der Familie. Außer dem Tisch aus gehobelten Brettern und den zwei langen Bänken davor befand sich nichts mehr in der Stube. In der rechten Ecke hingen eine große Anzahl kleinerer und größerer Ikonen, auf denen die Gesichter der Heiligen kaum noch zu unterscheiden waren. An jedem Sonnabend nach Einbruch der Dämmerung wurde das kleine Öllämpchen, das an einer an der Decke befestigten dünnen Messingkette hing, vor den Heiligenbildern angezündet, und dann ging aus dieser Ecke, in der die halb ver-

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blassten dunklen Farben geheimnisvoll schimmerten, ein fast mystischer Schauer aus. Als die Abende länger wurden und Mikola mit seinen Angehörigen sich mehr im Hause aufhielt, brachte ich einmal ein kleines Buch aus dem Volksleben mit und fragte, ob sie zuhören wollten. Sie wollten es gern. Mit großem Interesse hörten sie zu und machten ihre Glossen und Bemerkungen. Bald beteiligten sich auch andere Nachbarn an unseren Zusammenkünften, und später, als der Winter herannahte, waren es oft 6–7 Personen, die dasaßen und aufmerksam zuhörten. Manchmal brachte ich auch eine Zeitung und las oder erzählte, was in der Welt vorgefallen war. Wir unterhielten uns sehr eifrig und stellten Betrachtungen über dieses und jenes an. Verfängliche politische Themen mied ich, denn es war nicht meine Absicht, Propaganda unter diesen Leuten zu treiben. Ich wollte nur sie selber, in ihrem Leben, ihrem Denken und Fühlen verstehen lernen. Ich hatte mir eine kleine Bibliothek von geeigneten Schriften zusammengestellt, und die las ich ihnen nach und nach vor. Meist waren es die kleinen Geschichten von Leo Tolstoi, die er für das Volk geschrieben hatte. Einen Leser fand meine Bibliothek außerhalb der mir befreundeten Bauernfamilie, der mich lebhaft interessierte. Er war ein Bursche von 18–19 Jahren, der in einer Kohlengrube in der Nachbarschaft arbeitete. Jeden Morgen frühzeitig ging er hin und kehrte abends heim. Er las so viel und mit solcher Gier, dass ich nach kurzer Zeit fast nichts mehr für ihn hatte. Als mein kleiner Vorrat an Erzählungen erschöpft war, gab ich ihm populärwissenschaftliche oder halbwissenschaftliche Broschüren, und auch diese wurden von ihm förmlich verschlungen. Wann er Zeit zum Lesen fand, blieb mir stets ein Rätsel. Seine Tage verbrachte er unter der Erde, den größten Teil des Abends raubte ihm der anderthalbstündige Weg von der Arbeitsstätte bis zum Dorfe. Welcher Trieb nach geistiger Nahrung mochte doch in diesem jungen Menschen gesteckt haben! Was meine Sympathie für diesen jungen Arbeiter noch erhöhte, war der Umstand, dass er mir mehrmals in der Woche Post brachte. Briefe! Wer, wie ich, voll heißen, jungen Lebensdranges in einem einsamen Dorf lebte, fern von allem Gewohnten, fern von denen, die man liebte, der weiß, was Briefe bedeuten. Weiß, wie man sie erwartet, wie man sie genießt, mit welchem Herzklopfen man dem Boten entgegenläuft: Bringt er was oder bringt

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er nichts? – Der weiß, wie man die Hände zu lieben beginnt, die einem das auf weißem Papier mit schwarzer Tinte fixierte Stück Leben bringen. Und ich liebte meinen schwarzen Boten, weil er mir viele Briefe brachte, und rannte ihm freudig und aufgeregt entgegen. Ich korrespondierte am häufigsten mit meiner Schwester. Schrieb aber auch ausführlich meinen Eltern über mein Leben, über die Menschen und die Besonderheiten ihrer Sitten und Gebräuche. Ich tat das, sowohl um sie zu beruhigen, teils aus Mitteilungsbedürfnis. Es fiel mir nicht schwer, meine jüngeren Geschwister durch Schilderungen des Landlebens zu interessieren, der Steppe mit ihren Taranteln, diesen uns unbekannten Goliath-Spinnen; ihrer nur im Süden vorkommenden Riesen-„Pusteblumen“ und dergleichen mehr, die sie wie Beschreibungen der Südseeinseln fesselten. Auch mit Liowa und Mischa machte ich sie bekannt, und diese waren wiederum sehr erfreut, als ich ihnen den Gruß meines in ihrem Alter stehenden Bruders bestellte, der schrieb: „Sag Deinen Schülern Liowa und Mischa, dass Du einen Bruder hast, der ihr bester Freund wäre, wenn ihn nicht einige Breitegrade der Erdkugel von ihnen trennten.“ Danach setzen sich Liowa und Mischa hin und rechneten aus, wie viel Breitegrade zwischen Novodub und Manilowska lagen. Meine große Korrespondenz gab der Familie Mirny zu allerlei Neckereien Anlass, und selbst mein Freund Mikola sagte mir einmal, scherzhaft mit dem Finger drohend: „Fräuleinchen, Fräuleinchen, ob Sie nicht am Ende eine Politikerin sind!“ Aber das verhinderte meine Freude an den Briefen nicht, und diese Briefe halfen mir, mich über die seelische Bedrängnis, in der ich mich befand, hinwegzusetzen. Immer eindringlicher und lauter stiegen Zweifel in mir auf, ob das, was ich tat, auch richtig und nützlich sei, ob ich nicht vielmehr meine Zeit zwecklos, ohne Nutzen für mich oder andere vergeudete. Was willst du hier? Ist es das Leben, das dich gelockt hatte? Lernst du hier für Freiheit kämpfen? Geht von da der Weg zum Kampf und zum Opfer? Und wenn Mikola und die anderen alle Deine Bücher ausgelesen haben werden, und wenn Du ihnen noch ebenso viele andere gegeben hast – was ist damit erreicht? Kannst Du verhindern, dass Mikola tagein, tagaus als einzige Nahrung Kartoffeln und Brot isst? Kannst du es ändern, dass er ebenso wie Millionen anderer Mikolas in geistiger Dunkelheit tastet und nicht unterscheiden kann, wer sein Freund und wer sein Feind ist? Führt der Weg zur

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Freiheit überhaupt über Manilowska, Nitowska, und wie die Dörfer sonst noch heißen mögen? Haben nicht vielleicht diejenigen, die das bezweifeln, recht? Und vor allem, liegt Dein Weg in dieser Richtung? Der Winter war eingezogen und schleppte sich langsam hin. Der Fluss lag zugefroren da, die Steppe war weiß und tot. Ich machte gewöhnlich nach Tisch, meist mit Ljowa und Mischa, weite Spaziergänge. Kehrten wir zurück, gingen die Knaben an ihre Aufgaben, Herr und Frau Mirny saßen im Speisezimmer, jeder mit einem Buche in der Hand, und lasen. Ich ging in meine Stube und setzte mich an den Tisch, in der Absicht zu schreiben oder mich sonst irgendwie zu beschäftigen. Aber mich überfiel ein unaussprechlich wehes Gefühl der Einsamkeit. Ich horchte auf die Stille des Hauses, ich blickte durch das Fenster in die leere, weite Ferne, und wie ein leises Weinen klang es mir entgegen: wie weit, wie weit … wie weit vom Leben, von den Menschen, von den Träumen und Gedanken, die mich auf dem Wege hierher begleitet hatten.

XI Schon früher, im Spätherbst, noch bevor der erste Schnee fiel, hatte mich Ratow wieder einmal besucht. Er schrieb mir vorher, dass er die Gegend verlassen und nach Petersburg oder ins Ausland gehen wollte. Er fühlte sich hier aus mancherlei Gründen nicht mehr sicher und eine Verhaftung wollte er jetzt keinesfalls riskieren. Er wäre auch abgespannt und benötigte dringend eine Auffrischung der Kräfte. Ratow kam auf einen Tag nach Manilowska. Es war ein schwerer und merkwürdiger Tag für mich. Ratow hüllte sich in einen Ton ernster Sachlichkeit, ich störte ihn nicht dabei. Er sagte mir, er machte sich oft Vorwürfe, dass er mich hierher hatte kommen lassen. Ich beruhigte ihn und erwiderte, dass ich hier sehr viel Interessantes gesehen und erlebt hätte. Ich erzählte ihm von meinen Versuchen, einen Einblick in das Leben der Bauern zu gewinnen, und von meiner Absicht, in einen näheren Kontakt mit ihnen zu treten. Er freute sich darüber und versprach, mir geeignete Bücher zu schicken. Am Nachmittag machten wir einen Spaziergang und gingen den Fluss entlang. An einer Stelle, wo das Ufer steil und kluftig abfiel, zog mich Ratow sanft vom Rand zurück und meinte lachend: „Willst du dich etwa hinunter-

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stürzen?“ Ich blieb stehen und sagte ganz ernst: „Mir dir zusammen. Ja.“ Ich hatte in diesem Augenblick die greifbar klare Vorstellung, wie ich mit ihm in die Tiefe stürzte, schwebte, fiele, fiele … und dann Ruhe. Er sah mich ein paar Sekunden lang an und etwas huschte über seinen Blick. Wie gingen schweigend weiter. Nach fünf Minuten sagte er: „Wer kennt sich in Euch Frauen aus, seid Ihr Engel oder seid Ihr Teufel?“ Ich blickte ihn verwundert an: Warum sagte er das? Wie konnte er überhaupt etwas so Banales sagen? Einige Tage später verließ Ratow seinen Wohnort, nachdem ihm ein wohlgesinnter Polizeischreiber heimlich davon verständigt hatte, dass am nächsten Tage eine Haussuchung bei ihm vorgenommen werden sollte. Was tun? Wo blieb das Leben, von dem ich geträumt? Das helle, klingende, lockende Leben? Wollte es denn ein Traumbild bleiben und niemals Wirklichkeit werden? Um mich herum sah ich hunderte von schmutzigen Bauernhütten, in denen schwer schaffende Menschen halb hungernd dahinlebten. Sie ließen sich von den sengenden Strahlen der Sonne brennen, schunden sich in mühseliger Arbeit die Hände wund, und zuckten nur gleichgültig die Achseln, wenn ich sie mitleidig ansah: „Ja, Fräuleinchen, das ist nun einmal Bauernschicksal! Sie haben es gewiss besser!“ Sie hatten dieses Leben immer gelebt und werden es vielleicht noch lange, lange leben. Ob hier die vielen, die für eine Erneuerung und Verbesserung des Lebens kämpften, etwas erreichen werden? Wann? Wie? Und wenn nicht – von wo wird die Befreiung kommen? Welches ist der richtige Weg und welches sind die richtigen Kampfmittel? Auf alle diese Fragen fand ich keine Antwort, aber eines fühlte ich: Hier konnte ich nicht bleiben. Du wolltest der Menschheit dienen, sagte ich mir, und führst nun hier ein behagliches Dasein in halbem Müßiggang. Wozu das? Wer braucht Dich hier? Ich bemühte mich, in meinem äußeren Betragen nicht zu zeigen, wie deprimiert und unglücklich ich mich fühlte. Meine Hausgenossen merkten es aber und stellten dieselbe Diagnose wie vor zwei Jahren meine Mutter: Liebeskummer. Vorsichtig und besorgt erkundigte sich bald Frau Mirny, bald ihr Bruder, ob denn Herr Ratow auf längere Zeit verreist sei und ob er nicht bald einmal wieder herkommen würde. Sie erschienen mir beinahe einfältig. Wie einfach Ihr doch die Dinge macht! Ihr glaubt, ich beweine Ratow, während ich MICH und meinen Glauben beweinte. Meiner Stimmung gab ich in einem Gedicht Ausdruck, das ich meiner Schwester schickte und dessen erste Strophe lautete:

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Ich habe mich verirrt im Wald des Lebens, Mit bangem Herzen steh ich da Und kann nicht weiter: Wo ist der Weg? Meine Schwester redete mir zu, ich sollte doch nach Hause kommen. Sie schrieb mir, dass die Mutter vor Freude fast geweint hätte, als sie mit ihr darüber gesprochen habe. Das weckte in mir heiße Sehnsucht nach den Meinigen und befestigte meinen Entschluss, Manilowska zu verlassen. Doch wollte ich damit solange warten, bis die Mirnys für mich Ersatz gefunden haben würden. Als ich mir über meine Zukunft klar geworden war, wich allmählich meine trübe Stimmung. Ich streifte viel in der Umgegend umher, bald allein, bald mit meinen Schülern. Der Winter humpelte nunmehr wie ein alter siecher Mann dahin. Eines Morgens wurden wir von einem dumpfen Geräusch geweckt. Mischa und Liowa stürzten hinaus und kehrten sofort mit dem Jubelschrei „Das Eis geht!“ zurück. Sie liefen in den Unterrichtspausen immer wieder ans Ufer hin und sahen zu, wie die mächtige, grauweiße Masse vorbeizog. Dann blieben sie den ganzen Nachmittag am Fluss und wussten die wunderlichsten Einzelheiten vom Eisgange zu erzählen. Es war Mitte März, als wir, Liowa, Mischa und ich, auf einem Spaziergang von dem ersten starken Gewitter überrascht wurden. Von da ab flutete es Sonne und Helligkeit. Die Steppe erwachte mit kräftigem, tiefem Atemzug und leuchtete in grüner und bunter Farbigkeit. Immer wieder rief mich der Frühling ins Freie. Besonders liebte ich die Heide, wenn die Sonne weit, weit am Horizont in die Tiefe sank und ein leichtes, durchsichtiges Grau sich über alles breitete. Da lag ich manche Stunde am Abhang eines Hügels mit über dem Kopf gekreuzten Armen. Ich sah dem wunderlichen Spiel der weißen kleinen Wolken zu, dachte an nichts und fühlte nur die Freude: es ist Frühling. Die Hirten zogen mit ihren Schafen ins Dorf an mir vorbei. Einmal näherte sich der Hirtenknabe dem Hügel, wahrscheinlich durch meine Regungslosigkeit neugierig gemacht. Beim Herannahen der Schritte setzte ich mich mit jähem Ruck auf. Der Knabe erschrak und sprang zurück. Dann lachten wir beide. Er fragte gutmütig: „Hab ich Sie erschreckt?“ und kehrte zu seinen Schafen zurück. Der Hirtenjunge mit dem Brotsack über die Schulter gehängt und dem langen Stock in der Hand sah auf dem Fond des Himmels wie ein Stück

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Landschaft aus, wie das Gras auf dem Hügel und die vereinzelten Sträucher tiefer unten. Und sein Lachen war, als hätte die Natur selbst mir zugelacht. Einige Zeit vor der Abreise bat ich Frau Mirnys Bruder, Gregor Moissewitsch, er solle doch sein längst gegebenes Versprechen einlösen und mir das Kohlenbergwerk zeigen. Er willigte ein und wir setzten einen Nachmittag fest, an dem ich ihn in dem Werk aufsuchen sollte. Er bewohnte einen kleinen Flügel im Hause, während sich vorne das Comptoir sowie die Wohnungen der anderen Angestellten befanden. In den drei Zimmern Gregor Moissewitschs atmete alles Ruhe und Behaglichkeit wie im Hause seiner Schwester. Nur fühlte man hier den vornehmen Junggesellen, der gewohnt ist, dass sich ihm alles widerspruchslos füge, dass alles auf seinen Winke geschähe – rasch, prompt, lautlos und unauffällig. Der mir wohl bekannte Kutscher Michailo war gleichzeitig Diener bei Gregor Moissewitsch. Er trat leise auf, servierte leise den Tee, nett und sauber, zog sich dann still zurück. Ich sagte Gregor Moissewitsch, ich könnte so viel Ruhe und Behaglichkeit auf die Dauer nicht aushalten, ich hätte Lust „Kickericki“ zu schreien oder wenigstens zwei Stühle auf einen Tisch mit den Beinen nach oben zu stellen. Gregor Moissewitsch lachte und meinte onkelhaft-gutmütig und zugleich mit jener diskreten Galanterie, die er sich aus früheren Zeiten bewahrt hatte: „Wenn es Ihnen Spaß macht, tun Sie es! Übrigens würde Michailo Tisch und Stühle sofort wieder in Ordnung bringen.“ Er zündete sich eine Zigarette an und reichte auch mir ausnahmsweise eine – sonst war er gegen das Rauchen der Frauen, was seine Schwester aber nicht hinderte, viel zu rauchen und mich ebenfalls dazu zu verleiten. Dann meinte er: „Ja, sehen Sie, Dina Ossipowna, Sie suchen in Ihrem Jugenddrang den Sturm, weil Sie glauben – erinnern Sie sich der Verse Lermontows? Dass im Sturm die Ruhe sei? Ich aber suche jetzt einfach und unmittelbar die Ruhe. Wenn man so jung ist wie Sie, ahnt man gar nicht, wie wunschlos man später wird, wie still es in einem wird … . Mich zum Beispiel würde nur eines locken: Eine Weltreise zu machen, Indien, Afrika, Südamerika zu sehen, sonst wünsche ich nichts. Ich würde es vielleicht auch gemacht haben, wenn nicht manches …“ Ich wusste, was er sagen wollte. Er war seit der Erkrankung seines Schwagers die einzige Stütze der Familie seiner Schwester und musste es wohl auch bleiben. Wir plauderten ein Stündchen und gingen dann in den Schuppen, wo

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sich der Eingang zum Schacht und die Dampfmaschine für die kleinen Förderwaggons befanden. Ich hüllte mich in einen Mantel mit Kapuze, den mir Gregor Moissewitsch gab, und wir setzten uns in eines der Wägelchen, aus dem gerade Kohle abgeladen wurde. Ein Druck auf den elektrischen Knopf und der Wagen rollte die steil liegenden Schienen hinunter. Bald verschwand das Tageslicht, der Schacht war nur schwach erleuchtet von der kleinen Öllampe, die der Steiger, der vorne in unserem Wägelchen hockte, an der Brust trug. Dicht über unseren Köpfen und an beiden Seiten schimmerten die schwarzfeuchten Kohlenwände. Wie ein Gespenst mit einem einzigen leuchtenden Auge glitt auf der Nebenmaschine der nach oben gehende, beladene Wagen vorbei. Die Schienen fielen auf halbem Wege noch steiler, beinahe senkrecht, ab, wir rasten mit unheimlicher Schnelligkeit in die Tiefe und in die Dunkelheit. Gregor Moissewitsch sagte, um mich zu necken: „Nun reißt das Seil, und dann …“ Ich ließ mich natürlich durch seine Neckereien nicht schrecken, aber die bloße, flüchtige Vorstellung dieser Möglichkeit rief einen Schauer in mir hervor. Ich musste den Atem anhalten und dachte unwillkürlich: Unten zerschellen wir. Zu meiner Verwunderung blieb unten der Wagen mit kaum merklichem, sanftem Stoß stehen. Wir befanden uns im Stollen, einem ziemlich breiten, langen Gang. Die Decke war gerade so hoch, dass ein Mann stehen konnte. In der Mitte des Stollens lagen Schienen, auf ihnen liefen hin und zurück dieselben Wägelchen wie das, worin wir hinunter gefahren waren. Sie wurden von Pferden gezogen. Mir fiel Zolas „Germinal“ ein. 32 Ich dachte: auch hier sind wohl die Pferde erblindet. Von den Wänden rieselte überall Wasser herunter und erfüllte die Stille mit einem leisen, dumpfen Geräusch. Auf den beiden Seiten des Ganges waren schmale, grabenartige Vertiefungen, in denen das Wasser sich sammelte. Von da lief es in einen Brunnen beim Schacht zusammen und wurde durch eine Dampfpumpe nach oben gepumpt. Einen halben Meter über dem Boden lagen die „Fenster“, kleine, enge, schräg nach oben aufsteigende Gänge, die quer in die Kohlengänge gelegt werden. In jedem solchen Fenster sah man bald ganz tief und hoch, bald nachher das Licht einer Grubenlampe schimmern, und bei ihrem 32 „Germinal“ ist ein 1885 erschienener Roman des französischen Schriftstellers Émile Zola (1840–1902), in dem er die extremen Arbeitsbedingungen in französischen Bergwerken im 19. Jahrhundert beschreibt.

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Schein die unklaren Konturen eines kauernden und liegenden Menschen, der mit einer kleinen Axt ununterbrochen kleine Stückchen Kohle von Wand und Decke abschlug. Diese Kohlenstückchen rutschten wie Steingeröll den schrägen Gangboden hinunter, sammelten sich in Haufen unten vor dem „Fenster“ und wurden in die Wagen geschaufelt. Wir gingen weiter die Schienen entlang. Hier und da kamen uns dunkle Gestalten mit der kleinen Lampe an der Brust entgegen. Die Stollen verzweigten sich. In einer dieser Nebengassen sahen wir in einiger Entfernung von uns Bergleute. „Dort wird ein neuer Gang gelegt“, sagte mir Gregor Moissewitsch. Wir gingen hin. In die glatte Kohlenwand wurde mit einem Bohrer ein tiefes Loch gebohrt, in dieses sollte dann Dynamit gelegt und damit die harte Wand gesprengt werden. Die dumpfen Aufschläge des Bohrers hörten sich hart, echolos an. Gregor Moissewitsch hob vom Boden ein längliches, rundes Päckchen und zeigte es mir: „Hier ist das Dynamit, damit könnte man ganz Manilowska und noch manches Dorf dazu in die Luft sprengen.“ Ich nahm das runde Päckchen in die Hand und besah es; ein Päckchen kondensierter Naturkraft. Wie einfach! Es sah wie ein harmloses, rundes Zikoroenpäckchen aus. 33 An einem der beiden Enden war ein Faden angebracht. Die Zündschnur. Wenn das Bohrloch tief genug ist, wird das Dynamit hinein geschoben und sie angezündet. Während sie brennt, laufen die Bergleute so weit fort, bis sie aus dem Bereich des Sprenggebietes sind. Wir gingen in die anderen Teile der Grube und Gregor Moissewitsch erklärte mir dies und jenes. Ich blieb aber bei den Fenstern immer wieder stehen und sah nach den dort kauernden oder liegenden Menschen hin, die mit der Kohlenaxt ununterbrochen auf den Stein loshämmerten, eins, zwei-eins, zwei … Ich war von dem Anblick gefesselt, wie man oft durch ein von Krankheit entstelltes Gesicht gefesselt ist. Ich dachte nicht an das furchtbare dieses Anblickes, ich fühlte es. Jede Fiber in mir rief: Das ist nicht möglich! Stunde um Stunde, Tag um Tag in diesem engen, nassen Loch zu liegen – jahrelang, das ganze Leben lang – das erschien mir so widersinnig, unnatürlich, so unmöglich, dass ich die Wirklichkeit des Bildes gar nicht zu fassen vermochte. Ich war wie im Traumzustand. Sind wir überhaupt noch im Bereich der Erde? Gibt es Sonne? Gibt es Leben? Ist nicht am Ende alles, was ich jetzt erblicke, 33 Nadja Strasser schreibt Zikoroenpäckchen. Vermutlich meint sie Zichorie (russisch: zikori), aus deren Wurzeln ein Kaffeesurrogat hergestellt werden kann.

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nur eine dunkle Vision? Oder war das andere ein Spiel der Phantasie? „Nun haben wir alles gesehen“, sagte Gregor Moissewitsch, „jetzt geht die Reise wieder hinauf zum Tag“. Ich war beeindruckt von dem Gesehenen und sprach kein Wort während der Rückfahrt. Endlich dämmerte das Licht, erst unklar, grau in grau, dann heller, heller, und endlich war wieder Tag vor uns. Ich atmete tief auf. Gregor Moissewitsch half mir aus dem mit Kohlenstaub bedecktem Mantel, dann verließen wir den Schuppen. Ich bedankte mich bei dem freundlichen Wirt und sagte ihm, dass ich gern noch vor Abendanbruch zu Hause wäre. Bald war Michailo mit dem Wagen da, ich stieg ein und Gregor Moissewitsch winkte mir chevaleresk mit der Hand Abschied zu. Als ich auf dem freien Felde war und meine Augen in den rötlichen Strahlen der sinkenden Sonne badete, erschien mir die Vorstellung unmöglich und grotesk, dass es im selben Augenblick irgendwo tief unter der Erde Menschen gab, die nie die Sonne sehen, nie diese Luft atmen sollten. Zu Hause angekommen, musste ich den Kindern alle meine Erlebnisse erzählen. Mischa sagte: „Ich will Steiger werden und täglich in die Grube fahren; vielleicht werde ich sogar Schienenarbeiter.“ Es war ein wundervoller, heller Morgen zu Anfang Mai, als ich von Manilowska und dem stillen, weiß getünchten Haus am Ufer des Flusses, von der Heide und von Mikola mit seiner braunen, flachshaarigen Sascha Abschied nahm. Frau Mirny mit Liowa, Mischa und Manja gaben mir das Geleit bis zur Bahn. Ich hatte mir eine andere Route gewählt und so die Station, an der Ratow vor zehn Monaten mich erwartet hatte, nicht berührt. Drei Tage später war ich im Kreise der Meinigen. Ich wusste plötzlich von hundert Dingen zu erzählen, die mir und den anderen ungemein interessant waren, fragte nach hundert Dingen, an die ich während der ganzen Zeit der Abwesenheit nicht gedacht hatte, und atmete in vollen Zügen den Zauber: Elternheim.

XII In den letzten Jahren hatte sich vieles im Elternhaus geändert. Vater und Mutter waren noch ebenso fromm wie früher und hielten noch ebenso streng alle religiösen Vorschriften und Bräuche inne. Aber die jüngeren Geschwister

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blieben von dem harten religiösen Kampf verschont, der auf uns Älteren gelastet hatte. Wozu wir uns erst durchkämpfen hatten müssen, war ihnen eine Selbstverständlichkeit. Die beiden jüngeren Brüder wurden nicht mehr wie unser älterer mit dem Talmud gequält. Das Hebräische war für sie ein Lehrgegenstand wie jeder andere, und die Mädchen wussten nichts von den täglichen Gebeten. Dagegen kam jetzt die siebenjährige Manja öfters zu mir und sagte: „Ach bitte, bitte, erzähle mir was von der Chemie!“ 34 Das bedeutete, dass ich ihr sagen sollte, woraus die Luft besteht und warum das Feuer brennt. Das Thema, das meinen zehnjährigen Bruder Jascha meistens beschäftigte, war der Stoffwechsel im menschlichen Körper. Mit der Miene eines wissenschaftlich beschlagenen Menschen sagte er zu den Schwestern: „Wisst ihr, jeden dreiunddreißigsten Tag seines Lebens wird der Mensch ein anderer.“ Da sie ihm keinen Glauben schenkten, ärgerte er sich sehr und versuchte es ihnen zu erklären. Wenn sie ihm auch dann noch immer nicht glauben wollten, kamen sie zu den älteren Geschwistern gelaufen und Jascha rief ganz aufgeregt: „Die dummen Mädels glauben nicht, dass ich vor dreiunddreißig Tagen ein anderer war.“ Sowohl meine Schwester, die ihre Ferien zu Hause verbrachte, als auch ich gaben uns sehr viel mit den jüngeren Geschwistern ab. Meine Schwester hing mit besonderer Zuneigung an der blonden, rotbackigen Manja, die ein reizendes, apfelrundes Gesichtchen und die graublauen Augen meines Vaters hatte. Mich beschäftigte mehr die schlanke Sima mit ihren großen, schwarzen Augen und den langen Wimpern, die sich schwer hoben und senkten. Sie konnte wütend wie ein kleiner Tiger sein und dann sprühten ihre Augen Funken, aber gleich darauf wurde sie anschmiegsam und weich wie ein Kätzchen. Ganz anders geartet war Anjuka, die infolge einer in frühester Kindheit überstandenen Malaria, häufig in unserer Gegend, von zarter Gesundheit war und deswegen von der Mutter stets besonders geschont und verwöhnt wurde. Sie behielt davon ein Gefühl der Superiorität den anderen Geschwistern gegenüber. Fünf Jahre jünger als ich wollte sie den Altersunterschied 34 Manja ist Maria Ramm, die 1908 nach Berlin ging und dort in erster Ehe den Kunsthistoriker Carl Einstein, in zweiter den Lehrer Heinrich Schäfer heiratete. Als Schäfer 1943 starb, musste die literarische Übersetzerin Maria Einstein-Schäfer in den Untergrund gehen; sie hat die nationalsozialistische Verfolgung überlebt.

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nicht gelten lassen und verlangte in allem Gleichstellung. Schon mit vierzehn Jahren vertrug sie weder in der Schule noch in der Familie als „Backfisch“ behandelt zu werden und revoltierte bei jeder Gelegenheit dagegen. In ihr war etwas von einer geborenen Anarchistin. Sie verabscheute jede Autorität, ob es der Lehrer, die älteren Geschwister oder der liebe Gott sei. Bei jedem Verbot und bei jeder Regel war ihre Frage: „Wozu? Welchen Zweck hat das?“ Und sie erklärte mir bei einem Disput, bei dem ich glaubte, kraft meines Älterseins ein wenig lehrhaft mit ihr sprechen zu dürfen, glattweg und energisch: „Wenn Du mir den Sinn des Lebens nicht angeben kannst, dann verzichte ich überhaupt auf das Leben.“ Und ihr Gesicht, das eine interessante Mischung von Jüdisch und echt Russisch war, jenem Russisch, in dem ein Schimmer von Asien war, zeigte Trotz und ein wenig Verachtung. Älter geworden fügte sie sich in das „sinnlose“ Leben. Doch wenn sie später, in einem europäischen Kulturzentrum lebend, den linkesten Flügel jeder politischen, literarischen oder künstlerischen Bewegung bevorzugte, so war es nichts Auffälliges: es war ihrer Natur adäquat. Das Intransigente, das Extreme, das Sich-Nicht-Einem-Gesetz-Unterwerfen zog sie an. In der heißwissbegierigen, ungeduldigen und unduldsamen Anjuta von Novodub war schon diese zukünftige Linie vorgezeichnet. Und es entsprach dieser Linie, dass sie später treuer Lebenskamerad eines ebenfalls intransigenten Mannes geworden war. 35 Der Wissensdurst der Kinder übertrug sich allmählich in merkwürdiger Weise auf unseren Vater. Er nahm hie und da eines unserer Bücher zur Hand und vertiefte sich in dessen Inhalt. Es war für mich ein seltsamer Anblick, den Vater statt über einen hebräischen Folianten über ein russisches Buch gebeugt zu sehen. Manchmal forderte er mich oder die Schwester auf, ihm etwas vorzulesen. Nie äußerte er sich über den Eindruck, den er dabei gewann; daran hinderte ihn wohl sein Stolz. Aber diese stillen Versuche, in eine neue Gedankenwelt einzudringen, sie zu verstehen, ergriffen mich ungemein. Ich dachte oft: Welche Zweifel mögen in Dir, stolzer Vater, rege

35 Alexandra Ramm heiratete den Berliner Herausgeber und Publizisten Franz Pfemfert und wurde seine wichtigste Mitarbeiterin insbesondere bei der von ihm herausgegebenen avantgardistischen Zeitschrift „Die Aktion“ (1911–1932).

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geworden sein, wenn Du es über Dich bringst, in dieser Weise Annäherungsversuche an uns zu machen. Einmal fragte mich der Vater: „Kannst Du mir sagen, wie stellen sich eigentlich die Gelehrten zu der Frage, ob es auf anderen Planeten auch Menschen gibt?“ Ich sagte ihm, was ich darüber wusste, nämlich dass auch auf anderen Planeten das Vorhandensein menschenähnlicher Wesen angenommen wird. Er schwieg eine ganze Weile, dachte nach, dann sagte er: „Es ist doch alles Geschwätz. In der Heiligen Schrift steht ausdrücklich geschrieben, dass nirgends außer auf der Erde Menschen vorhanden seien.“ Ein anderes Mal sah der Vater auf meinem Tische ein dickes Buch liegen. Es war eine Bibel in deutscher Sprache, die das Alte und Neue Testament enthielt. Ich hatte sie mir einmal hauptsächlich wegen der deutschen Sprache gekauft. Der Vater bat mich, ihm etwas aus dem Neuen Testament vorzulesen. Ich war sehr erstaunt, sagte aber nichts und las zwei oder drei Kapitel. Er hörte anfangs mit kaum bezwungenem innerem Widerstreben, zugleich mit lebhafter Neugierde zu. Dann aber merkte ich, dass er sichtlich enttäuscht war. Ich konnte es ihm nachempfinden, denn auch mir ist es ähnlich ergangen. Wer, wie mein Vater, mit den Psalmen und den alten großen Propheten wie Jesaja und allen anderen groß geworden ist; wer ohne Berücksichtigung der historischen Zusammenhänge und ohne die Voreinstellung des Glaubens an das Neue Testament herangeht, dem bleibt das Verhältnis zwischen diesem Werk und der von ihm später ausgegangenen Macht ein unlösbares Rätsel. Der Vater näherte sich auch unseren Bekannten und unterhielt sich mit ihnen über Themen, die sonst nicht das Gebiet der älteren Generation waren. Er setzte uns oft alle in Erstaunen durch Gedanken und Anschauungen, auf die wir erst durch die Lektüre wissenschaftlicher Bücher gebracht worden waren, zu denen aber der Vater durch ursprüngliches und selbstständiges Denken gelangt war. Oftmals sagte uns nach solchen Unterhaltungen der ein oder andere Besucher: „Ihr Vater ist ein sehr interessanter Mann. Warum haben Sie uns das nie erzählt?“ Einmal antwortete meine Schwester darauf lachend: „Ganz einfach, wir wollten uns in Vater keinen Rivalen schaffen.“ Nach und nach gewöhnten wir uns daran, in Vater nicht mehr einen Gegner und den Vertreter einer uns fremd gewordenen Welt zu sehen, und wir tauschten manche Gedanken mit ihm aus, die früher als verpönt gegolten hätten.

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Zu unseren Bekannten gehörte auch ein Lehrer, Kadynow, der den Geschwistern Unterricht erteilte. Er kam oft auch als Gast ins Haus; Kadynow hatte viele Jahre in England und Deutschland gelebt und war nach Russland zurückgekehrt, weil seine Frau in der Fremde fast krank vor Heimweh geworden war. Kadynow war Sozialdemokrat und hatte als erster die junge Generation in Novodub mit den Namen Marx, Engels und Bebel vertraut gemacht. In seinem Hause versammelte sich ein-zweimal in der Woche ein Kreis junger Leute und Mädchen, die gemeinsam sozialistische Schriften lasen. Als ich nach Novodub kam, war Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ an der Reihe. 36 Ich sagte das nur, weil ich tief verstimmt war, nicht mehr an mich glaubte, über meine Unzulänglichkeit für große Fragen und Probleme grübelte und mich bankrott fühlte. Der Begriff „Menschheit“ galt für mich nur im Tolstoischen Sinne; die leidende Menschheit, der jeder von uns eine Schuld abzutragen hat, der wir dienen müssen. Ich kannte nur diese leidende Menschheit, ich hatte das hoffnungslose Leben der Bauern, ich hatte das Martyrium der Kohlengräber gesehen, ich kannte das Leid erfüllte Dasein des jüdischen Volkes. Wo ist der Punkt, von dem aus ihnen allen geholfen werden könnte? Ich wusste es nicht und traute mir auch die Fähigkeit nicht zu, den rechten Weg einmal zu finden. Ob Sozialdemokrat oder Sozialist im Ratowschen Sinne – sie alle wurden vom dem gleichen heißen Drang getrieben, die Befreiung der Menschen herbeizuführen und zu helfen. Dazu gehörte der feste, volle, unerschütterliche Glaube, dass es möglich sei. Aber in mir war der Glaube erstorben. Warum sollte ich zu dem endlichen Sieg der einen mehr Vertrauen haben als zu dem der anderen? Vor allem aber: Ich selbst vermag nichts. Nur Ratow konnte mich glauben machen, ich besitze die Kraft, in der Menschheit Dienst zu treten, weil er selbst diese Kraft in sich fühlte. Nun war er fort – und ich wusste, dass ich keinen großen Aufgaben gewachsen war. Dass nichts in mir war, was mich befähigte, der Menschheit zu dienen. Solche Gedanken und Empfindungen trug ich mit mir herum, und die innere Leere machte mich elend und krank. Kadynow, der mich zum Marxismus bekehren wollte, ahnte nichts von meinen Seelenzuständen. Der marxistische Gedanke hatte damals noch wenige Anhänger in Russland. Einige 36 „Die Frau und der Sozialismus“, 1879 erschienen, war das erfolgreichste Buch von August Bebel (1840–1913), einem der Begründer der deutschen Sozialdemokratie.

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russische Theoretiker hatten sich wohl schon mit Marxismus befasst, aber sie vermochten nicht, ihn in die breiten Reihen der Intellektuellen zu tragen. Erst wenige Zeit später hielt der Marxismus Einzug in die russische Literatur und gewann sich im Sturm feste Position. [!] Kadynow, von meinem indolenten Verhalten zu seinem Vorschlag betroffen, meinte kühl: „Ach so, Sie sind wohl Nietzscheanerin?“ Ich hatte Nietzsche damals noch nicht gelesen, aber doch schon von ihm gewusst. Nun beschloss ich, ihn zu studieren. Ich ließ mir durch unseren Buchhändler zwei Bände Nietzsche besorgen. Dass ich damals „Zarathustra“ mangelhaft verstand, wurde mir erst später klar, als ich ihn zum zweiten, dritten, vierten Male las. Aber soweit ich ihn damals aufnehmen konnte, war er mir zu einer Quelle neuen Lebens geworden. „Zarathustra“ half mir aus der dunklen Depression heraus, in der ich mich befand. Er half mir Tolstoi zu überwinden und befreite mich aus dem Zauberkreis, der mich gefangen hielt. Jenseits von Gut und Böse wurde für mich: Jenseits von der Verpflichtung, mich als Schuldnerin der Menschheit zu betrachten. Es war wie ein Freibrief auf ein eigenes Leben. Du darfst leben, auch wenn Du nicht für andere, sondern für Dich selbst leben willst. Du darfst Dich des Lebens freuen, auch wenn es unzählige andere gibt, denen das Leben eine Qual ist. Genieße die Schönheit von morgen und verachte den Jammer von heute. Wer sich zum natürlichen Egoismus erst durchringen muss, für den ist es fast eine Offenbarung. Wer, wie die vielen in der russischen Jugend, gewöhnt war, nur das Stöhnen leidender Menschen zu hören, der ist glücklich, es überhören zu dürfen. Jetzt war es nicht mehr üble Laune, als ich von neuem ablehnte, die sozialistischen Leseabende des Lehrers zu besuchen, und wenn ich sagte, mich ginge die dumme, gequälte Menschheit nichts an. Ich freute mich, dass ich mich freuen durfte, Anlass dazu waren der blühende Sommer und meine Jugend. Ich widmete mich ganz meiner nächsten Umgebung, beschäftigte mich viel mit den Geschwistern, gab mich mit forciertem Eifer den kleinen Vergnügungen, die Novodub bot, hin, Schwimmen, Ruderpartien, Ausflüge. Der kleine Birkenwald, der eine halbe Stunde vor der Stadt lag, war oft das Ziel unserer Ausflüge. Wie vor Jahren war er auch jetzt voll Sonne und hallte von unseren Stimmen, unserem Lachen wider. Ich erinnerte mich da meiner ersten Liebe und erwartete oft, die schlanke Gestalt Leos zwischen den Bäumen auftauchen zu sehen.

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Unsere Mutter, die Verkörperung heiterer Friedlichkeit, war glücklich, dass alles so ging, wie es ging. Sie freute sich über die Annäherungsschritte zwischen Vater und uns und tat sich darauf etwas zugute. Dass das Abschwenken in eine andere, ganz neue Richtung für den Vater vielleicht einen schweren inneren Riss bedeutete, dass es ihm nicht leichtgefallen sein konnte, die unerschütterliche Wahrheit seiner bisherigen Anschauungen anzuzweifeln, darüber machte sich die Mutter keine Gedanken. Sie besaß eine unversiegbare Quelle lebensbejahenden Optimismus und sah in allem nur das Gute und Angenehme. Sie sagte oft: „Seht ihr, Kinder, wenn Ihr nur vernünftig seid, so bringt der Vater Euch genügend Verständnis entgegen.“ Sie empfing unsere Bekannten und Freunde mit doppelter Aufmerksamkeit, da sich jetzt auch der Vater oft und gern mit ihnen unterhielt. Doch nahte eine dunkle Wolke dem Elternhaus von einer anderen Seite, von der ich sie am wenigsten vermutet hätte. Ich selbst würde die Gefahr nicht so bald erkannt haben, wäre ich nicht direkt darauf hingewiesen worden. Mein älterer Bruder Mark, der öfters aus P. für einen Tag nach Novodub kam, blieb am Ende des Sommers ein bis zwei Wochen bei uns. Der Vater siedelte während dieser Zeit nach P. über und er beabsichtigte, von dort aus eine längere Geschäftsreise anzutreten. Dann sollte Mark nach P. zurückkehren. Die alten, guten Beziehungen zwischen dem Bruder und mir waren schon längst wiederhergestellt. Mark besaß eine Eigenschaft, die es sehr erleichterte, und die mir schon damals, weit mehr noch später, Respekt einflößte. Mark verstand es in bewundernswürdiger Weise, in seinen Beziehungen zu nahestehenden Menschen unliebsame Störungen auszuschalten. Unangenehme Empfindungen, die durch dies oder jenes in ihm ausgelöst worden waren, ja selbst die Erinnerungen an die Tatsachen und Geschehnisse, die sie hervorgerufen hatten, wusste er nach einiger Zeit gleichsam einzukapseln und außer Gebrauch zu setzen. Er verzieh nicht und vergab nicht: Das unangenehme Geschehnis war für ihn einfach nicht vorhanden. „Du hast anders gehandelt, als ich es wünschte, Du hast mich gekränkt, aber ich will mich nicht zum Richter machen über dich; doch lass mir das Recht, nichts mehr davon zu wissen.“ Mark erwähnte auch jetzt niemals Ratows Namen, sprach nie ein einziges Wort über Manilowska; von allem, was mit Ratow und dieser Zeit in Zusammenhang stand, wusste er nichts. Das war eingekapselt, aus dem Ge-

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brauch ausgeschaltet. Umso wärmer und inniger gestalteten sich sonst unsere Beziehungen. Mein Bruder stand immer schon zu mir auf vertraulicherem Fuß als zu meiner älteren Schwester. Vielleicht weil ich durch den größeren Altersunterschied mich ihm williger unterordnete als die ältere Schwester. Vielleicht weil ich von Kindheit an sehr an ihm hing. Er war damals gerade von einer Liebesangelegenheit innerlich in Anspruch genommen und nahm die Dinge in seiner nachdenklichen Art schwerer als sie waren. Er weihte mich in seine Liebesgeschichte ein. Er glaubte, dass ich manchen Zweifel von ihm nehmen könnte, aber es machte ihn zugleich verlegen, dass er, der Ältere, sich gewissermaßen Rat bei mir holte. „Du als Mädchen kannst vielleicht manches besser beurteilen“, sagte er. Dann fügte er nachdenklich hinzu: „Wer kennt sich in Euch Mädchen aus, wer weiß, was in Euch Naivität und was Raffinement ist?“ Mich durchzuckte es. Weh tuend scharf stieg in mir die Erinnerung an den Herbsttag auf, an dem ich von Ratow Abschied nahm. Mein Bruder brauchte jetzt fast dieselben Worte und denselben Ton wie Ratow damals. „Wie seltsam sich die Dinge wiederholen“, dachte ich. „Oder gleichen die Männer einander so sehr?“ Eines Tages fragte ich Mark, besorgt durch sein Aussehen, was ihn denn so missmutig mache. Seine Herzensangelegenheit gäbe doch zu solch ernster Verstimmung keinen Anlass. „Nein“, sagte er, „es ist nicht die persönliche Angelegenheit, die mich niederdrückt. Es fällt mir auch schwer, mit Dir darüber zu sprechen. Aber eigentlich ist es doch gut, wenn unter uns allen volle Klarheit über die Situation herrscht.“ Und er erzählte mir in kurzen Worten, dass es um das Geschäft in P. sehr traurig bestellt sei und dass wir möglicherweise sogar vor einem Zusammenbruch stünden. Ich fühlte, wie meine Hände bis in die Nagelspitzen eisig kalt wurden. Ich fragte, wie er es meinte, was denn geschehen sei. „Geschehen ist nichts, aber dennoch steht alles schlecht. Vaters großangelegter Geschäftsplan, die großen Vorräte, die verschiedenen Neuerungen, die er in der Behandlung des Personals und der Kundschaft einführte, das Prinzip: kleiner Verdienst, großer Umsatz – das ist alles ganz schön und gut, nur passt es weder für Novodub noch für eine Stadt wie P. Unser Vater ist auch als Kaufmann Grübler, Theoretiker. Er ließ sich durch den geschäftlichen Aufschwung während des Bahnbaus irreleiten, glaubte, nun wird P.

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eine Großstadt, und wer klug ist, bereitet sich beizeiten vor und passt sich den neuen Verhältnissen an. Ja, wir haben uns an die vermeintliche Großstadt sehr schön angepasst, aber P. passte sich uns nicht an. Wie dem auch sei, das Experiment ist missglückt.“ So lange mein Bruder sprach, hörte ich ihm zu und ging über das hinweg, was seine Worte im letzten Grunde eigentlich andeuteten. Als er schwieg, erfasste mich die klare Empfindung, dass etwas Schreckliches, etwas, was ich noch nicht ganz zu greifen vermochte, geschehen sei. Ich sagte ihm nur immer wieder, dass ich das alles nicht verstehe. Es sei doch ein großes Vermögen, das in beiden Geschäften steckte; wir hätten doch unser Haus, von dem zwei Nebenflügel vermietet seien – war denn das alles nichts? „Das verstehst Du eben nicht. Ja, siehst Du, wäre Vater kein Philosoph und weniger Ehrenmann, dann wäre das Ganze nicht so schlimm. Uns drohen Zahlungsstockungen. Du verstehst wohl, was das heißt, aber es wären, um aus diesem Dilemma herauszukommen, geschäftliche Vereinbarungen mit unseren Gläubigern möglich gewesen, wie sie hundert andere vornehmen, und alles wäre seinen Gang weiter gegangen. Aber mit Vater geht das nicht. Er wird eher sich und die Familie aufgeben als seinen Namen und seine Ehre antasten zu lassen.“ Im Tone Marks lag, als er über Vater sprach, eine Gereiztheit, die mich sehr befremdete. Ich fragte, ob er sich denn schon mit Vater über diese Dinge ausgesprochen hätte. „Du bist ein Kind. Ausgesprochen? Auf ein Gespräch kommt es hier nicht an. Das innere Verhalten des Vaters zur Sache müsste vor allem etwas weniger feinfühlend sein in Bezug auf den Punkt Ehre und nur das eine Ziel im Auge haben: die Situation retten – um jeden Preis. Das tut aber Vater nicht!“ Mir verursachte die Gereiztheit des Bruders, mit der er über den Vater sprach, physischen Schmerz, aber ich wusste ihm nichts zu erwidern. „Was denkt denn Vater nun? Was will er tun?“ fragte ich schüchtern. „Er grübelt! Er stellt Theorien auf über den raschen Entwicklungsgang von Industrie und Handel in unserer Gegend. Er spricht davon, wie träge das Publikum und der kleine Kaufmann sind, und wie dumm sie wären, dass sie vor Neuerungen zurückschrecken, statt sie in eigenem Interesse aufzunehmen und sie zu fördern. Er spricht und denkt über tausend Dinge, die sehr interessant sind, aber uns keinen Schritt vorwärtsbringen. Wäre doch Vater Rabbiner gewor-

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den oder Universitätsprofessor! Aber er ist Kaufmann und muss daran denken, dass von seinem Verhalten als Geschäftsmann jetzt das Schicksal unserer ganzen Familie abhängt. Du musst Dich nicht wundern, dass ich gereizt bin, ich stecke ja in den Geschäften drin, sehe die Gefahr und kann sie nicht abwenden. Dass ich Vater als Ehrenmann schätze, weißt Du. Ich finde es ja ganz begreiflich, dass er Wert auf die Erhaltung seines guten Namens legt, aber der Vater übertreibt auch hier wieder. Würde er die Dinge konsequent zu Ende denken, so müsste er sich doch sagen: Wenn ich alles so weiter gehen lasse, wie es eben geht, so verliere ich nicht nur mein Vermögen, sondern auch den guten Namen dazu. Ich ruiniere mich, mache mich und die Meinen unglücklich, ohne meine Ehre im mindesten gerettet zu haben. Aber von so nüchtern geschäftlicher Denkweise ist Vater weit entfernt, ihm ist die Ehre kein realer, sondern ein mystisch-religiöser Begriff.“ Der Bruder ging erregt auf und ab. Ich sah, wie schwer er litt, aber ich vermochte ihm kein tröstendes Wort zu sagen. In mir war alles starr vor Entsetzen. „Was wird kommen, was wird kommen …“, dachte ich nur. „Der Vater wird wohl eingesehen haben“, fuhr er nach einer Weile fort, „dass sich zwischen Talmud und Synagogenbesuchen heutzutage kein Geschäft mehr führen lässt. Unser Großvater konnte sein Geschäft glänzend in die Höhe bringen und auf der Höhe halten, ohne ausgesprochen kaufmännische Fähigkeiten zu besitzen. Das Geschäft ging eben, es entwickelte sich von selber und es genügte schon, dass Großvater so viel geschäftliche Tüchtigkeit besaß, alles fest zusammen zu halten. Dass er als ehrenhafter Charakter dabei das Vertrauen der Geschäftswelt und seiner Kundschaft genoss, gab ihm eine nach allen Seiten hin gefestigte Position. Großvater wird sich, so lange er lebt, wohl auf der Höhe halten, ohne seine Art zu ändern; ob das dem Onkel, wenn er das Erbe antritt, gelingt, möchte ich bezweifeln. Mit den patriarchalischen Verhältnissen im Geschäftsleben ist es vorbei. Was hat allein schon die neue Bahnlinie für eine Umwälzung mit sich gebracht. Du magst darüber lachen, Dina, aber ich sage Dir, die Bahn hat den Charakter der Leute verdorben. Der kleine Geschäftsmann sagt heute: ‚Was geht mich Deine Biederkeit und Deine Ehrsamkeit an! In vier bis fünf Stunde bin ich in der Großstadt N. und Z., dort besorge ich meine Einkäufe nach Gutdünken, wie es mir passt. Willst Du mich hier behalten und willst Du, dass ich meinen Bedarf bei Dir decke, so musst du Dich darum kümmern; ich will aber sehen, dass ich dabei im Vorteil bin. Deine ehrlichen Augen gehen mich

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einen Pfifferling an!‘ Der Vater hat ja einerseits die Dinge richtig vorausgeahnt und war bestrebt, ihnen entgegen zu kommen. Er hat nur zu weit ausgeholt und sich vertheoretisiert. Er rechnete fest mit einer Hebung des ganzen Kulturniveaus unserer Gegend, – weil die Bahn sie durchkreuzte! Die Rechnung mag auch richtig sein, unsere Bahn wird wie jedes andere Kulturmittel das Niveau heben. Es fragt sich nur, wann?“ Ich hörte dem Bruder aufmerksam zu, obwohl mich die Erklärung dieser geschäftlichen Dinge viel weniger interessierte als die Sache selbst. Aber ihm schien es ein Bedürfnis, sich einmal von Herzen auszusprechen. „Vater hat den Lauf der Dinge überschätzt“, fuhr Mark fort, „oder ihn – sagen wir – von einer zu hohen Warte eingeschätzt. Die Verhältnisse haben sich wohl geändert, aber vorderhand nicht gebessert, sondern eher verschlechtert. Ich muss sogar sagen, der neue Geist, den der erste Hauch der Zivilisation zu uns herübergebracht, hat unseren sowieso schon sumpfigen Boden auch noch moralisch versumpft. Das alles merkt der Vater kaum. Und sieht er es wirklich einmal in schwachen Umrissen, dann wendet er sich davon schnell ab und glaubt mit seiner Rechtlichkeit und seinem guten Namen Herr der Situation zu werden. Er tut mir leid; vielleicht noch mehr die Mutter und wir alle, obwohl es mir persönlich – du weißt – leicht wäre, über alle Schwierigkeiten hinweg zu kommen, wenn ich es wollte. Aber ich will es nicht. Schon der Mutter wegen nicht.“ Mit wurde immer banger und trostloser zu Mute. Die letzten Worte des Bruders riefen einen Wirrwarr von verschiedenen Empfindungen in mir hervor. Wie sonderbar klangen mir die Worte: „Schon der Mutter wegen …“ Wie fertig er mit allem war! Und die Geschwister? Und der Vater? Ich wusste sehr gut, wie viel meinem Bruder im Grunde am Vater und an uns allen lag, aber dass er so sprechen konnte? Wie mochte es in ihm aussehen? „Sag, weiß die Mutter etwas von unserer Lage?“ fragte ich, nachdem wir beide eine Zeitlang geschwiegen hatten. „Mutter? Kennst du denn unsere Mutter nicht? Wenn ihr der Vater beweisen wird, dass er nach bestem Gewissen gehandelt habe und seiner Überzeugung nach nichts tun konnte, um den Zusammenbruch zu verhindern, wird sie mit Stolz zu ihm aufsehen. Er wird ihr auch klarmachen, dass Sorge und selbst Not ebenso zum Leben gehören wie alles andere. Er wird seine Ansichten durch philosophisch-religiöse Argumente erhärten, und Mutter wird sich nicht nur in alles schicken, sie wird sogar suchen, selbst dem Un-

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glück etwas Versöhnendes abzugewinnen. Es ist noch nicht zu spät, und wenn sich der Vater energisch aufraffen könnte, so ließe sich das Schlimmste von uns abwenden, ließe sich ein Weg finden, der aus diesem Dilemma führt. Aber der Vater neigt dazu, sich über die drohende Gefahr hinweg zu philosophieren, sich hinter Argumente zu flüchten. Das aber bedeutet für uns Bankrott!“ Es war tief in der Nacht, als wir das Wohnzimmer, in dem wir dieses Gespräch geführt hatten, verließen. Als ich in mein Zimmer, das ich mit der älteren Schwester teilte, hinein trat, erwachte sie und fragte, weshalb wir denn so lange aufgeblieben seien? Ich sagte, wir hätten allerlei gesprochen. Dann setzte ich mich zu ihr und fragte nach einigem Schweigen, ob sie denn eigentlich eine Ahnung hätte, dass wir vor einer Katastrophe stünden, vielleicht vor einem Bankrott. Sie setzte sich mit einem Ruck im Bette auf. „Dass es nicht gut geht, ahnte ich“, sagte sie, „aber dass es so schlimm ist …“ Ich erzählte ihr kurz, was ich vom Bruder erfahren hatte. Wir sprachen lange und stellten alle möglichen Kombinationen auf, was werden sollte. Meine Schwester sagte schließlich: „Ich werde, wenn ich mit meinem Studium fertig bin, mein zahnärztliches Atelier in einer Stadt eröffnen, wo ein Gymnasium liegt. Dann nehme ich Manja und Sonja zu mir, sie sollen bei mir leben und ein Gymnasium besuchen.“ Es war schon heller Morgen, als wir endlich einschliefen. Ich erwachte spät und hatte das Gefühl: Gestern hat sich etwas Schreckliches ereignet, was war es denn nur?“

XIII Als mein Bruder wieder nach P. zurück reiste und das Leben seinen gewohnten Gang nahm, erschien es mir ungeheuer und fast undenkbar, dass es anders werden sollte, dass sich auf unsere heitere Umgebung, in der alles zum Leben drängte, die tote Hand des Kummers und der Sorge legen sollte. Ich suchte unwillkürlich die drohende Gefahr als gar nicht vorhanden oder doch stark übertrieben anzusehen. Vielleicht irrt sich der Bruder, vielleicht sieht er die Lage zu pessimistisch an. Er neigt ja dazu, die Dinge schwer zu nehmen. Es kann sich alles noch wieder wenden. Merkwürdigerweise klammerte ich mich gerade an das, was mir zuerst als das eigentliche Schreckgespenst er-

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schienen war. Bankrott – was ist dabei? Wie oft wurde über den und jenen Geschäftsmann erzählt, er hätte Bankrott gemacht, und doch setzte er sein Geschäft fort. Steht es so schlecht um uns, dass, wenn der Vater Bankrott anmelden muss, wir dann auch vollständig ruiniert seien? War Vater nicht lange genug Geschäftsmann, um sich am Ende dann doch noch behaupten zu können? Stand ihm nicht schließlich der Großvater zur Seite? Hinter solchen Erwägungen, deren Stichhaltigkeit ich nicht beurteilen konnte, und hinter Fragen, auf die ich keine Antwort wusste, suchte ich meine Angst vor einer möglichen Katastrophe zu verbergen. Das gelang mir auch. Umso leichter, als Vater verreist war und Mutter weder mit mir noch mit der Schwester über geschäftliche Dinge sprach. Dagegen beschäftigte mich die Frage, ob ich nach den Ferien die achte Ergänzungsklasse besuchen sollte. Nichts war mir jedoch schwieriger, als eine Entscheidung in solchen Dingen zu treffen, bei denen Vernunftgründe allein ausschlaggebend waren. Gab es in einer Sache keinen Punkt, bei dem mein Gefühl sein kräftiges Ja oder Nein sprach, verlor ich mich in den verschiedensten Erwägungen, war ratlos und wählte schließlich das erste Beste. Ich war deswegen froh, als meine Angehörigen, die sehr für den Besuch der Ergänzungsklasse waren, die als Lehrerinnenseminar galt, mir die Entscheidung erleichterten. Meine Mutter ließ mir die vorgeschriebene Schüleruniform anfertigen, ein braunes glattes Kleid, dazu eine schwarze Trägerschürze, und Anfang September fuhr ich nach N. Die Beschäftigung in der Schule gestaltete sich viel interessanter, als ich anfänglich gedacht hatte. Wir waren nur acht Schülerinnen in der Klasse, die Hälfte darunter intelligente, fortgeschrittene junge Mädchen. Man behandelte uns übrigens nicht wie Schülerinnen, sondern mehr wie junge Lehrerinnen und wir wurden von den Lehrern mit Mademoiselle angesprochen. Neben den theoretischen Stunden hatten wir den Lehrern der unteren Klassen zu assistieren und, wenn einer fehlte, ihn zu ersetzen. Außerdem war jede von uns auf einige Wochen je zwei kleinen Schülerinnen zugeteilt, die gewissermaßen als unsere Zöglinge galten. Wir mussten ihre Schularbeiten überwachen, sie beim Unterricht und in den Pausen beobachten und ihnen während der Schulstunden in jeder Weise zur Hand gehen. Über diese Zöglinge führte jede von uns Tagebuch, das dann dem Lehrer übergeben und am Schluss des Jahres dem Kollegium vorgelegt wurde. Mir machte die Beschäftigung mit meinen beiden Zöglingen und die Aufzeichnungen über sie große Freude.

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Ich hatte in M., wo ich im vorigen Jahr anlässlich des Matura-Examens fünf Monate verlebt hatte, eine Freundin. Sie hieß Lia. Als ich vor mehr als einem Jahr zum ersten Male nach M. kam, suchte ich auf Wunsch meines Onkels und der Tante bald nach meiner Ankunft Lias Familie auf. „Es sind alte, gute Freunde von uns“, sagte mein Onkel, „und sie werden dich gut aufnehmen. Auch zwei Töchter sind dort, die Dir in mancher Beziehung behilflich sein können.“ Ich machte also meinen Besuch bei den Rosows, der Familie Lias, und wie nicht anders zu erwarten war, taten sie alles, um mir die kleinen Sorgen der Installierung in der fremden Stadt abzunehmen. Mit Hilfe der älteren Schwester Lias hatte ich in zwei Stunden ein passendes kleines Zimmer mit Pension gefunden und war gleich vollkommen eingerichtet. Auf Einladung der Familie kam ich ein paar Tage später abends zu ihnen. Es war Besuch da, aber ich blieb unbeteiligt bei der mich wenig interessierenden Unterhaltung und war im Begriff, mich recht bald zu verabschieden. Aber da trat Lia ins Zimmer und nahm sofort meine ganze Aufmerksamkeit gefangen. Sie war ganz anders als ihre ältere Schwester. Während diese die liebenswürdige, umsichtige Haustochter war, bemüht, die Gäste zu unterhalten, saß Lia still da und sah alle mit großen, braunen, seltsam tiefen Augen an, als wollte sie an jeden der Anwesenden eine Frage richten. Nahm sich wie eine Fremde aus, die sich in dieser Umgebung nicht zurechtfand. Es lag etwas ungemein Rührendes in ihrer zarten, schlanken, gebrechlich scheinenden Gestalt mit den ein wenig eckigen, knabenhaftscheuen Bewegungen; in der Art, wie sie den Kopf trug, als wäre der dicke Zopf ihr eine Last. Ihre ganze Erscheinung, besonders aber die ernsten, sehnsüchtigen Augen unter der kindlich klaren Stirn, bestärkten mich in dem Gefühl: Du bist eine andere, wer bist du? Mich fesselte der merkwürdige Gegensatz zwischen äußerer Unbeholfenheit und der sicheren Überlegenheit, die aus dem Wenigen, das sie an diesem Abend sagte, und aus ihrem ganzen Wesen sprach. Als ich sie nachher kennen lernte, empfand ich diesen Gegensatz in ihr nicht als Gegensatz, im Gegenteil. Ihre Gebrechlichkeit und körperliche Zartheit schien sich mit der Festigkeit ihres geistigen Naturells harmonisch zu verbinden. Sie war nur ein oder anderthalb Jahre älter als ich, aber sowohl bei der ersten Bekanntschaft wie später schien sie mir bald bedeutend jünger, bald viel älter als ich. Lia war, wie ich später erfuhr, nur meinetwegen im Wohnzimmer erschienen. Es interessierte sie eine frisch angereiste Altersgenossin, die des Stu-

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diums wegen hierher gekommen war, kennen zu lernen. Sonst war es nicht ihre Gewohnheit, bei Familienbesuchen zugegen zu sein. Sie blieb für gewöhnlich in ihrem kleinen Zimmer bei einer Arbeit oder bei ihren Büchern sitzen und kümmerte sich nicht um die verwandtschaftlichen oder fremden Besuche im Hause. Wer zu ihr selbst kam, suchte sie in ihrem Zimmer auf. Lia hatte bereits vor einem Jahre, nach Überwindung des Widerstandes von Seiten der Eltern, dieselbe Matura des Mädchengymnasiums bestanden, die ich zu machen jetzt im Begriffe war. Sie bereitete sich vor, des Medizinstudiums wegen ins Ausland zu reisen. Dagegen sträubten sich jedoch die Eltern hartnäckig, aber Lia hoffte auch hier, ihren festen Wunsch durchzusetzen. Wegen dieses Kampfes waren die Beziehungen zwischen den Eltern und der Tochter ziemlich gespannt und Besuche, die die Tochter interessierten, waren [!] von den Eltern mit einigem Misstrauen betrachtet, da sie in ihnen eventuelle geistige Stützen ihrer renitenten Tochter sahen. Mir gegenüber zeigten sie sich wohlwollend wegen der Empfehlung meiner Verwandten, mit der ich zu ihnen kam. Bemerkenswerterweise hatten die Eltern Rosow es ohne sonderlichen Protest geduldet, dass einer ihrer Söhne, Lias älterer Bruder, sich nicht wie die anderen Brüder dem kaufmännischen Beruf des Vaters, sondern dem Studium zugewandt hatte und bereits seit drei Jahren in Berlin Medizin studierte. Dieser Bruder stand begreiflicherweise Lia näher als die anderen Geschwister und unterstützte sie in ihrem Wunsch, sich ebenfalls dem Medizinstudium zu widmen. Meine Sympathie für Lia stieg je öfter ich sie sah. Nur einmal war ich vom ersten Augenblick an von einem Menschen so gefesselt wie von Lia: das war Ratow. Von nun an galten meine Besuche bei Rosows nur ihr. Wenn ich abends mit meinem Pensum fertig war oder ausruhen wollte, ging ich zu ihr; wir saßen allein in ihrem gemütlichen Zimmer und unterhielten uns über all die Dinge, die uns beide in gleicher Weise beschäftigten. Sie erzählte auch oft von ihrem Bruder Nahum. Lias und Nahums erste Jugendjahre waren weniger von Konflikten beschwert, wie es bei mir und meinen Geschwistern der Fall war. Ihre Entwicklung verlief ruhiger und gleichmäßiger, sie hatten keine religiösen Kämpfe zu bestehen. Wenn auch die Familie Rosow nicht weniger traditionell jüdisch war als die meinige, so gab es doch einen Unterschied in der Atmosphäre, im Gehaben. Der Zuschnitt hier war weltlicher und großstädtischer; die Be-

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ziehung zwischen älterer und jüngerer Generation war nicht so gespannt. Es gab kein fatales Entweder-Oder; man konnte Jude und Weltmensch sein. Das Jüdische als geistige Substanz war nicht ausschließlich an das Religiöse und Mystische gebunden. Auch auf anderen geistigen und sonstigen Gebieten waren die Menschen hier beherrschter, ausgeglichener. Es gab viele Zionisten in M., Leute, die dieser Idee treu und tief ergeben waren, die im Zionismus die Lösung der jüdischen Frage, die Erlösung der Juden von ihrem trüben und schweren Los sahen. Aber diese Leute hier hatten nicht die Pathetik, die wir einst mit dem Wort Palästina verbanden. Sie haben hier weder in den Zionismus noch in andere sie interessierende Probleme jenes Maß von Romantik hineingelegt, das mit dem heißen Drang, mit dem Gefühl des Sich Opferns, des Sich Aufgebens verbunden war. Vielleicht lag es an der anderen sozialen Struktur hier, vielleicht lag es an der größeren Kompaktheit der jüdischen Bevölkerung in dieser Gegend; manchmal sagte ich: hier in Weißrussland sind die Leute dem Klima nach gemäßigter als wir, jedenfalls war der Träger der zionistischen Idee in Novodub ein Held, ein Heros, hier war er ein Realist, der weiß, was er will und warum. Diese Fähigkeit, die Dinge gelassen und mit klarem Blick zu betrachten, die mich manchmal befremdete und mir als Nüchternheit erschien, äußerte sich nicht nur in allgemeinen Fragen, sondern auch in Bezug auf Probleme privater Natur und persönlicher Erlebnisse. Lia und ihr Bruder waren von derselben Art, sie waren in allem real, unpathetisch. Ihre Emanzipierung von den alten traditionellen Formen des jüdischen Lebens war auch bei ihnen nicht ohne innere und äußere Kämpfe vor sich gegangen, aber es war nicht mit Rissen, mit Katastrophen verbunden. Beide waren dem Zionismus gefühlsmäßig zugetan. Sie hatten unter den dortigen Zionisten Freunde, die später eine führende Rolle in der zionistischen Bewegung spielten. Aber für sich selbst zogen sie keine Konsequenzen daraus. Vielleicht aus richtiger Einschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten und Kräfte blieben sie praktisch abseits und hatten nicht die Absicht, mitzutun oder gar nach Palästina auszuwandern. Die gleiche Haltung bewahrten sie den anderen, damals herrschenden, auch politisch-revolutionären Strömungen gegenüber. Lia kannte, wie alle, die die linksgerichtete Presse verfolgten, genau die bestehenden Meinungsstreitigkeiten und ihre Bestrebungen. Sie kannte im Besonderen die sozialistisch-marxistischen Tendenzen, die aus Deutschland herüberkamen, beson-

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ders [!] noch aus den Erzählungen und Berichten ihres Bruders, der in Berlin die Gewohnheit hatte, die damals dort in voller Blüte stehende Arbeiterbewegung zu verfolgen, der die Reden Bebels und Wilhelm Liebknechts oft gehört hatte. Aber sowohl er wie Lia, Individualisten ihrer Natur nach, verbanden all das nicht mit Verpflichtungen für die eigene Person. Sie hörten nicht aus einer Idee, die sie gedanklich aufnahmen, die Mahnung an ihre eigene Aktivität und empfanden nicht den Drang, in dieser Idee aufzugehen, sich ihr zu opfern. Lia hasste die Lüge in jeder Form, auch in der des Selbstbetrugs. Ihre Aufrichtigkeit war, was mich am meisten zu ihr hinzog. Mit unfehlbarem Instinkt verstand sie, das Wahre vom Unwahren zu unterscheiden und ließ sich nicht durch Äußerlichkeiten verführen. Selbst rechtlich in allen Dingen, großen wie kleinen, forderte sie Rechtlichkeit und Gerechtigkeit auch von anderen und war darin unerbittlich, fast hart, was merkwürdig von ihrer zarten und gebrechlichen äußeren Erscheinung abstach. Man hatte das Gefühl: eine Heilige, aber eine, deren Heiligkeit nicht auf das Jenseits, sondern auf das Diesseits gerichtet war. Als ich ihr Verschiedenes von Ratow und von meinen Beziehungen zu ihm erzählte, erfasste sie alles so, als wäre sie Zeugin gewesen. Aber in ihren Worten lag etwas wie Bedauern über einen begangenen Irrtum, der notgedrungen Leiden zur Folge haben musste. Ich verstand später, dass für Lias Geradheit alle verworrenen Gefühlswege, die auf Nebengeleisen irren, als ein Versagen, als ein Mangel an Selbsterkenntnis erschienen. Und ich gab ihr recht darin wie in vielem anderen, was sie intuitiv und fast naiv erfasste. Wir waren bald eng befreundet, trotz der Verschiedenheit unserer Charaktere. Vielleicht war es die Andersartigkeit, die jede von uns an die andere band. Nahum war seiner Schwester in vielem ähnlich. Ebenso gerade und unkäuflich, ohne Prahlerei; ebenso rechtlich. Aber es fehlten ihm die besonderen Qualitäten der Schwester, die sie zu einer weltlichen Heiligen machten: die bedingungslose Wahrhaftigkeit gegen sich selbst, die Einfühlungsfähigkeit anderen gegenüber, die aus dem Tiefsten fließende Güte und Teilnahme, frei von jeder äußeren Geste. Während des Jahres zwischen meinem ersten und zweiten Aufenthalt in M. korrespondierte ich häufig mit Lia. Und als ich jetzt wieder nach M. kam, freute ich mich, mit ihr zusammen zu sein, in ihrem Zimmer in vertrauter Unterhaltung zu sitzen, oft bis tief in die Nacht hinein. In den Monaten,

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wo [!] Nahum der Ferien wegen zu Hause war, war er Dritter im Bunde. Er hatte viel zu erzählen, über das Leben in Berlin im Allgemeinen, über seine eigenen Erlebnisse und über das Tun und Treiben in den vorwiegend zionistischen russisch-jüdischen Studentenkreisen, in denen er sich in Berlin bewegte. Es waren viele Freunde und Freundinnen von Lia darunter, die auch ich zum Teil kannte. Er erzählte auch von Theatern, Konzerten, von „Tannhäuser“ und „Lohengrin“, die damals die Jugend berauschten; von den imposanten Volks- und Arbeiterversammlungen, bei denen die russische studierende Jugend nie fehlte. Es war alles interessant und fesselnd für uns. Wenn ich mich endlich in später Stunde von ihnen trennte, so brachte mich Nahum nach Hause. Es war uns allmählich zur Gewohnheit geworden, dass wir diesen Weg Arm in Arm machten. Ich protestierte nicht sehr, wenn er meinen Arm dabei an sich drückte. Es ergab sich auch fast von selbst, dass ich mit ihm in gleicher Weise wie mit Lia auf Du übergegangen war. Im Übrigen blieb unser Verkehr harmlos freundschaftlich und wurde durch nichts gestört, was Befangenheit hätte bringen können. Die Bekannten in M. und selbst die Familie Rosow sahen die Sache anders an. Und Nahum sagte mir einmal halbernst: Die Leute um uns glauben, wir seien Verlobte. Ob ich nicht meine, dass wir ihnen recht geben können? Und ich sagte ihm: „Du, der mich und meine Zukunftspläne besser kennt, sag ihnen, dass ich ganz andere Absichten habe, als mich zu verloben oder zu verheiraten.“ Er schwieg dazu. Vielleicht glaubte er, der Moment sei noch nicht gekommen. Er berührte dieses Thema, solange wir zusammen waren, nie mehr. Ich war daher peinlich berührt, als Nahum einmal im Laufe einer Unterhaltung über die besonderen Charaktereigenschaften von dem und jenem aus unserem Bekannten etwas spitz sagte: „Welcher ist Dinas besonderer Zug? Nun … Wenn ich mich hinstelle und dreimal hintereinander laut sage: Dina, Du bist tot! – dann geht Dina und holt die Totengräber, damit sie sie begraben.“ Ich ärgerte mich, denn ich wusste, dass er mit diesem Scherz etwas Bestimmtes meinte und zwar mein, seiner Meinung nach, übertriebenes Festhalten an Ratows Ideenwelt. „Das ist schon möglich“, sagte ich, „nur zweifle ich, ob gerade Du dies zustande brächtest, denn es müsste jemand sein, an den ich absolut und bedingungslos glaube.“ Wohl hatte Nahum recht, wenn er mir vorwarf, Einflüssen von Men-

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schen, die ich besonders schätzte, unterworfen zu sein. Doch von den beiden Geschwistern war es Lia, von der eine suggestive Wirkung ausgehen konnte. Schon allein durch die Sicherheit, Bestimmtheit und Unbestechlichkeit ihres Urteils über Dinge und Menschen. So stand sie auch zu der uns lebhaft interessierenden Frage der Beziehungen zwischen Frauen und Männern anders als die damalige Jugend, besonders die weibliche. „Im Manne“, pflegte sie zu sagen, „sind die Grenzen des ganzen weiblichen Daseins zu suchen. Die Frau ist nichts als ein treues Echo. Der Mann erst schafft uns Frauen den Resonanzboden. Ist seine rufende Stimme vorhanden – existieren wir, sonst sind wir tot.“ „Aber Lia, wozu streben wir denn überhaupt noch, Du, ich und alle anderen, nach Bildung, nach selbstständigem Denken, wenn unser ganzes Dasein nur vom Manne bedingt ist – wozu?“ „Wir streben danach, weil wir nicht anders können, weil es für uns Notwendigkeit geworden ist. Wozu? – Im Grunde genommen glaube ich, dass wir es tun, um eine größere Fläche für unsere Anpassungsfähigkeit an den Mann zu gewinnen.“ Dieselbe Stellung wie seine Schwester nahm auch Nahum in dieser Frage ein, nur fasste er sie in seine eigenen Worte. Er sagte: „Wir brauchen die Frau für unser gedeihliches Schaffen. Ihr seid uns für unser Vorwärtskommen in Arbeit und Beruf unentbehrlich.“ Ich geriet in Empörung, wenn ich solche Äußerungen von ihm hörte: „Ihr braucht uns! Damit meine Suppe kocht, brauche ich das Feuer … Was geht das Feuer Eure fade Suppe an? Es ist an sich etwas Lebendiges und will flackern, Funken sprühen, in die Höhe steigen; es will Feuer sein, weil es den Willen hat, Feuer zu sein und nicht, Eure Suppe zu kochen.“ Ich dachte darüber nach, wie anders sich doch die gleichen Charaktereigenschaften im Manne und in der Frau prägen. An Nahum und Lia konnte man es besonders gut beobachten. Ich sagte einmal Lia: „Du bist für mich der Typus der Frau par excellence und Nahum der des Mannes. Aber während Du durch das Streben, Dir Deines Wesens bewusst zu werden, durch Dein Denken und Vorwärtsschreiten einen Schritt zum Menschen getan hast und reicher geworden bist, hat Nahum durch seine bewusst-scharfe Betonung des Männlichen einen Schritt vom Menschen weg getan und ist ärmer geworden.“ Lia sah mich mit ihren großen, prüfenden Augen an, dachte nach, als wäre etwas Neues in meinen Worten für sie und sagte: „Ich glaube, Du hast

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recht. Und ich glaube ferner, in Deinen Worten liegt Nahums Schicksal besiegelt, soweit seine Hoffnungen auf Dich in Frage kommen.“ Lia hat auch da richtig gesehen. Es war das erste Mal, dass Lia mir gegenüber eine Äußerung über die Beziehungen zwischen mir und ihrem Bruder tat. Ich selbst hatte immer ängstlich vermieden, dieses Thema zu berühren, denn ich erwartete kein Verständnis zwischen uns in diesem Punkt. Bruder und Schwester waren sich zu ähnlich, als dass ich freimütig aussprechen konnte, welche Züge des Bruders es mir unmöglich machten, seine still werbende Liebe zu erwidern. Mein Verhalten war gegen beide das gleiche. Ihrer Freundschaft verdankte ich, dass der Bruch mit Ratow in mir keine unausfüllbare Lücke hinterließ. Doch die Bedeutung, die Ratow für mich hatte, konnten sie nicht haben. Lia und Nahum waren beide real und klar denkende Menschen, klug und vornehm in ihrer Gesinnung. Typische Repräsentanten der gebildeten Schicht der westrussischen Juden, die man gewöhnlich als litauische Juden bezeichnete. Mein südlicheres Temperament mit dem kleinrussischen Einschlag verlangte aber nach Pathetisch-Heroischem, nach Zündung, Ekstase. 37 Das alles hatte im geistigen Verkehr mit Ratow Befriedigung und Steigerung erfahren und das vermisste ich bei den Geschwistern Rosow. Ihr berechnendes Gefühlsleben, ihre Klarheit im Denken und Empfinden hatte für mich etwas Beengendes, fast Beängstigendes. Bei aller Nähe und Freundschaft gab es doch etwas, das mich wie ein letzter Vorhang von ihnen trennte. Vielleicht, weil ich ihre Überlegenheit in mancher Hinsicht fühlte und meine Schwächen nicht gerne vor mir selbst entlarvt sehen mochte; mag sein, weil neben ihrer Bewusstheit und Sicherheit dem Leben gegenüber mir meine eigene tastende Unruhe doppelt klar vor Augen trat und mich noch unruhiger machte. Es waren verschiedene, kaum merkbare und kaum definierbare Unterschiede, die mich an einer restlosen Hingabe in dieser Freundschaft hinderten; und das war bestimmend für meine Beziehungen zu Nahum. So, wie Ratow mir als Mann fremd geblieben war, so blieb es 37 Hier spiegelt sich eine weit verbreitete Auffassung. Diese kann daran anknüpfen, dass sich in Litauen und Weißrussland das Zentrum des gelehrten, rationalistischen Rabbinismus befand, während die jüdischen Siedlungen im südlichen Polen, in Galizien und in der Ukraine überwiegend dem Chassidismus zuneigten, einer Volksfrömmigkeit, die in lebensfroher und zugleich mystischer Weise den direkten Zugang zu Gott suchte.

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auch Nahum, doch in ganz anderer Weise. Ich wusste, dass bei aller Nähe mein Verhältnis kühl und abweisend werden würde, sobald das Wort Liebe von Nahums Seite wieder ernst fallen würde. Nahum selbst schien es zu ahnen. In diesem Jahre hielt sich Nahum lange zu Hause auf. Als er wieder abgereist war, lasen wir, Lia und ich, viel, besonders in deutscher Sprache. Lia breitete sich auf ihre bevorstehende Reise nach Deutschland vor. Unsere Hauptlektüre waren die Klassiker, aber auch Ibsen in deutscher Übertragung, dessen Gesamtwerk Nahum mir und Lia zum Geschenk gemacht hatte. An dem großen Norweger berauschten wir uns wie einst an Turgenjew und Dostojewski. Mir waren insbesondere „Die Stützen der Gesellschaft“ ein starkes und tiefes Erlebnis gewesen. Ich hörte hier bekannte Melodien heraus; der kühne Rebell weckte in mir die wehmütige und warme Erinnerung an jemand, dem einst meine Seele geschworen: „Ich folge Dir!“ Aber auch in den anderen Gestalten des Norwegers fanden wir beide eine uns bekannte, vertraute Welt. Der Frühling nahte. Zu Ostern fuhr ich für einige Tage nach Hause. Das Fest verlief in üblicher Weise und löste tausend liebe Kindheitserinnerungen aus. Es wurde von nichts gesprochen, was die Feiertagsstimmung hätte stören können, doch es lag eine schwere Sorge hinter der äußeren harmlosen Ruhe meiner Eltern und der erwachsenen Geschwister. Kurz nach den Feiertagen reiste Lia ins Ausland. Nach vierzehn Tagen schrieb sie mir verzweifelt: „Ich verstehe kaum ein Zehntel von dem, was meine Wirtin zu mir spricht!“ Und das nach der Lektüre von Schiller, Goethe und Heine!

XIV Es war mir sehr angenehm, als mir gegen Ende des Sommers nach Schulschluss mein Onkel und die Tante den Vorschlag machten, mit ihrer elfjährigen Olja ein paar Wochen nach einem kleinen Kurort zu gehen. Sie selbst wollten etwas später nach Berlin reisen, um einen bekannten Facharzt zu konsultieren und von dort einen geeigneten deutschen Badeort aufsuchen, da sich der Onkel nicht gesund fühlte. Meine Mutter sorgte zu Hause für meine Ausstattung, und ich fuhr erst nach B. und von da mit der kleinen

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Olja nach dem Kurort Druskeniki am Njemen. 38 Dieser Ort würde in einem Lande mit Unternehmungsgeist seiner Heilquellen und seiner herrlichen Lage wegen der Anziehungspunkt für Zehntausende geworden sein. Da er aber in einem stillen Gouvernement Litauens lag, war es nur ein gemütlicher Sommeraufenthalt für ein paar hundert Liebhaber, die aus ökonomischen oder anderen Gründen nicht nach Karlsbad, Kissingen usw. fahren konnten. Ohne dass ich etwas dazu tat, hatte ich hier bald Anschluss an andere Badegäste gefunden. Jeder suchte, mehr oder weniger, einen passenden Unterhaltungspartner zu finden, um die Zeit totzuschlagen. In der Villa, wo ich mit meiner kleinen Cousine ein Zimmer nahm, wohnte auch eine jüdische Fabrikantenfamilie aus Warschau, die einen Wirrwarr von Schwestern, Schwägerinnen, Brüdern und anderen Familienangehörigen darstellte. Eine dieser Schwägerinnen gewann meine Aufmerksamkeit und großes Interesse. Sie war eine schöne, schlanke, junge Frau von unnahbar-stolzem Äußeren und innerlich gedämpftem, etwas zerrüttetem Wesen. Dass sie, trotz Reichtums und eines süßen Babys, nicht glücklich war, merkte ich bald und das zog mich zu ihr hin. Wir sprachen oft miteinander, auf der gemeinsamen Gartenterrasse sitzend, über alles Mögliche, über Nahes und Fernes, über die Frauen und Mädchen, die uns umgaben, über besondere Frauentypen, über Frauengeschmack. Selbst ungemein stilvoll suchte sie überall nach Stil. Mich beschenkte sie aus diesem Grunde immer mit orangegelben Blumen, weil diese, meinte sie, zu meinem Stil gehörten. Sie setzte mir einen Kranz aus solchen Blumen, den sie selbst geflochten hatte, auf den Kopf oder dekorierte mein Kleid mit einer Girlande und bat mich, ins Grüne zu treten, damit sie die Wirkung sehen könnte. „Wären Sie in Italien oder Spanien geboren“, sagte sie, „so wäre Rot Ihre Farbe; da Ihre Geburtsstätte aber im Gouvernement Tschernigow in Russland liegt, hat sich Ihre Farbe bis zum Orangegelb gemildert. Orange ist ja nichts anderes als ein krankes, verpfuschtes Rot.“ Scherzhaft fügte sie hinzu: „Aber ich liebe das Orangegelb, weil es die Farbe der verborgenen Leidenschaft ist, die man erst aufspüren muss.“ Für sich nahm sie die dunkelste Nuance des Rots in Anspruch. Blumen 38 Russische Bezeichnung für die Memel, die südlich von Minsk entspringt und in das Kurische Haff mündet. Druskeniki (Druskininkai) ist ein Kurort mit ungefähr 15.000 Einwohnern im Süden Litauens nahe der weißrussischen Grenze.

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dieser Farbtönung gab es aber so wenig, dass ich sehr lange suchen musste, bis ich die richtigen für sie fand. Wenn sie nachmittags zum Kurkonzert kam, im langen schwarzen Spitzenkleid, mit dünner Goldkette um den Gürtel, einem breiten gelben Hut mit großer schwarzer Feder auf dem Kopfe, einer tiefdunkelroten Rose an der Brust, leicht, schlank, graziös, bewunderte ich sie so, dass ich einmal sagte: „Frau H., ich genieße Sie wie ein schönes Gedicht.“ Mit ihrer weichen Stimme, in der man manchmal etwas wie Wehmut oder eine leise Klage zu hören glaubte, sagte sie lächelnd: „Ein Gedicht? Für wen?“ Ihr junger, sehr netter Schwager machte uns beiden den Hof. Er lehrte mich reiten, und nach den ersten gelungenen Versuchen ritten wir alle drei öfters in den Wald. Frau H., in einem eleganten schwarzen Reitkleid, ich in gewöhnlichem grauen Rock und weißer Bluse. Eines Tages veranstaltete unsere Gesellschaft eine Kahnpartie. Wir fuhren ein paar Stunden lang den Fluss hinunter und landeten im Walde, der sich längs des Ufers meilenweit hinzog, von wundervollen kleinen Lichtungen und Wiesen unterbrochen. In einem Bauernhof wurden wir für gutes Geld großartig bewirtet; bald stand der dampfende Samowar auf dem Tisch; dazu schmackhaftes Landbrot, Milch, Eier, Butter, frisch gepflückte Erdbeeren und was sonst noch vorrätig war. Als wir uns spät nachmittags auf den Heimweg machten, sah ich zu meiner Verwunderung, dass unser Kahn jetzt außer den beiden Ruderern noch von zwei Männern, die längs des Ufers gingen, an Stricken gezogen wurde. Ich fragte, was das zu bedeuten habe und erhielt zur Antwort, dass es ganz unmöglich sei, den schweren Kahn gegen die Strömung des reißenden Njemen allein mit Hilfe der zwei Ruderer vorwärts zu bringen. Wir saßen unsere zehn bis zwölf Personen im Kahn, schwatzten, lachten, machten Witze und amüsierten uns aufs Beste. Und längs des Ufers schritten die beiden Männer, einer hinter dem anderen, das Seil, das an unserem Kahn befestigt war, um den Leib gebunden; ihre Füße stemmten sich bei jedem Schritt schwer gegen den Boden, der Oberkörper war tief nach vorn gebeugt und die Arme hingen schlaff herunter. Im Nu war meine Lustigkeit dahin, wie wenn ein Gespenst aus dunkler Tiefe plötzlich vor mir aufgetaucht wäre. Ich konnte meine Augen nicht von den beiden grauen, stillen Gestalten am Ufer abwenden und glaubte zu fühlen, wie sich die schweren Zugstricke in die Körper der Männer einschnitten. Ich vermochte die Landung kaum zu erwarten und konnte das Bild nicht

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loswerden. Ich wusste, dass täglich Kahnpartien auf dem Njemen von Sommerfrischlern unternommen wurden. Täglich sitzt eine ausgelassene lustige Gesellschaft im großen Kahn und täglich schreiten zwei graue, müde Gestalten keuchend das Ufer entlang und ziehen den schweren Kahn stromaufwärts. 39 Meine gute Laune war weg, ich war verstimmt, sagte aber selbst meiner Polin, trotz ihrer besorgten Fragen, den Grund nicht. Du würdest mich doch nicht verstehen, dachte ich, das passt nicht zu Deinem Stil. Ein paar Tage später machte ich eine Bekanntschaft, die mich veranlasste, meinem bisherigen eleganten Kreise ein wenig untreu zu werden, und die mir zugleich über meine Verstimmung hinweghalf. Ich begleitete die kleine Olja öfters zu ihrer Gymnastikstunde und lernte dort ein junges Mädchen kennen, das mit ihrer kleinen Nichte zu den Stunden kam. Diese hieß ebenfalls Olja. Die beiden Oljas waren bereits durch das gemeinsame Turnen gute Freundinnen geworden. Als mir das junge Ding ihren Namen Graber sagte, horchte ich auf. Ich sagte ihr: „Ich habe früher öfters den Namen Lew Graber nennen hören.“ – „Das ist mein Bruder“, sagte das junge Mädchen. Er ist ebenfalls hier.“ Graber war ein Jugendfreund Ratows. Am allerwenigsten dachte ich damals an jemanden aus diesem Kreise. Aber schon allein der Name, eng mit Ratow verbunden, löste in mir die verschiedensten Gefühle aus. Es war mir, als sei ein Verwandter, der lange verschollen war, plötzlich in mein Zimmer getreten. Von da ab war ich täglich mit den Geschwistern Graber zusammen. Einige Zeit darauf reiste die Schwester mit der Nichte ab, so dass in den letzten drei Wochen, die ich in Druskeniki verblieb, Lew Graber fast meine einzige Gesellschaft bildete. Nur der Polin widmete ich noch öfters ein Stündchen. Ich ging mit ihr zum Konzert oder wir saßen zusammen auf unserer gemeinsamen Veranda und plauderten. „Es sind Ihre Gesellschaftsverpflichtungen“, meinte Graber lachend. „Nein,“ antwortete ich, „diese Dame liebe ich wie die Gedichte von Lermontow. Wäre ich ein Mann, hätte ich mich ihretwegen erschossen.“ Graber lachte. „Nur dumme Kerle oder Müßiggänger erschießen sich heute einer Frau wegen. Die anderen sagen, ich habe Besseres zu tun.“ 39 Nadja Strasser hat statt „ziehen“ „zogen“ geschrieben. Die Zeitform wurde angepasst.

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Ich antwortete nichts und Graber sagte nach einer Weile: „Ich weiß, was Sie denken und weiß, dass es falsch ist.“ „Nun?“ fragte ich neugierig. „Sie denken: Wir sind entwertet, wir können als Frauen unsere frühere Position nicht mehr behaupten.“ Er hatte recht. Etwas Ähnliches war mir durch den Kopf gegangen. „Und warum ist es falsch?“ „Weil sich die Bedeutung der Frau für den Mann gar nicht vermindert hat. Man lebt nur nicht mehr wie früher ausschließlich der Liebe. Nicht die unbeschränkte Macht der Liebe, sondern die Beschränktheit des Interessengebietes des Mannes ist verschwunden.“ „Bedeutet das nicht doch im letzten Grunde, dass die Frau an Wert verloren hat?“ „Es bedeutet nur, dass heute die Frau größere Werte aufzuweisen hat und dass sie einem größeren Komplex von Anforderungen des Mannes entsprechen muss. Sie hat im Grunde genommen an Wert gewonnen. Mich würde zum Beispiel die schöne Polin keineswegs fesseln, weil sie einem großen Kreise meiner Interessen, meiner Gedanken, Empfindungen immer fremd bliebe. Sagten Sie nicht selbst, dass Sie mit ihr über viele Dinge, die Sie persönlich berühren, kein Wort sprechen könnten? Also? Und sie wollen, dass mir diese Frau alles bedeuten und ich mir ihretwegen eine Kugel in den Kopf jagen soll?“ Ich musste an Lia denken, an ihre Stellung zu der Frage: Frau und Mann, und erzählte Graber von meiner Freundin. Er meinte: „Ihre Freundin ist sicher klug und zum mindesten sehr aufrichtig, wenn sie im Streben der Frau nach höherer Entwicklung den unbewussten Willen, sich dem Mann anzupassen, erblickt. Schließlich leitet der Instinkt die Menschen am richtigsten. Nur etwas komplizierter, als man es sich denkt. Denn eigentlich ist die heutige gebildete Frau nicht das ausschließliche Echo des Mannes. Sie hat sich auf dem Wege zu ihrer Anpassung an den Mann doch auch selbst manche neue Position gewonnen. Sie reagiert heute unmittelbar auf die Dinge des Lebens und ist vielleicht in mancher Beziehung dem Manne voraus.“ Ich hätte ihm für die letzten Worte am liebsten: „Ich danke Ihnen“ gesagt. Denn sie sprachen das aus, was ich selber empfand und nur nicht zum Ausdruck zu bringen vermochte. Selbstverständlich sprachen wir viel und oft von Ratow, sowohl von ihm als Person als auch als revolutionär eingestellten Menschen. 40 Ich erzählte 40 Der Originalsatz lautet: „Selbstverständlich sprachen wir viel und oft von Ratow, sowohl von ihm als Person wie als den revolutionär eingestellten Menschen.“

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auch Graber von den Wandlungen meiner Empfindungen und Anschauungen in Bezug auf die revolutionäre Strömung. Eigentlich klagte ich darüber: „Was mich an der revolutionären Denkart irre gemacht hat, ist folgendes: Sehen Sie, es lebt im Menschen die deutliche und bestimmte Vorstellung von einer besseren, vernünftigeren Gestaltung des Lebens. Wir haben diese Idee – also ist es möglich, sie kann sein! Warum wird es nicht? Weshalb? Millionen stöhnen im Elend und in Sklaverei und gehen zu Grunde; Millionen sehnen eine Besserung herbei, wollen eine Besserung. Man kann sogar sagen: alle wollen sie, denn wo sind wirklich Zufriedene? Und wie viele sind ihrer? Sagen Sie: Warum kommt sie nicht? Wo liegt der Grund? Weshalb versagt gerade hier der menschliche Instinkt? Die Vögel wissen, wie sie sich am besten im Leben einzurichten haben und ziehen im Herbst nach den wärmeren Ländern; die Heuschrecken und Heringe wissen es – nur die Menschen wissen es nicht! Sind wir dümmer als die Tiere? Sind wir dazu verdammt, schlechter zu sein als die Tiere? Jeder Versuch, die Lebenslage der Menschheit zu bessern, ist kläglich gescheitert. Können Sie mir sagen: woran? Ich meine nicht, dass Sie mir die Logik der geschichtlichen Tatsachen darlegen sollen; zeigen Sie mir die höhere Logik, die Logik der Vernunft. Tolstoi sagt: Wir brauchen nur alle gut zu sein, um glücklich zu werden, und ziehen es vor, schlecht zu sein und in namenlosen Elend zu leben. Ich verstehe das nicht! Und das hat mir den Glauben an eine bessere Weltordnung und an die Wirkung der revolutionären Gesinnung und Betätigung überhaupt geraubt. Ich weiß nicht, wohin ich nun flüchten soll: zum verzweifelten Pessimismus oder …“ „Oder zum verzweifelten Optimismus!“ fiel mir Graber ins Wort. „Sie zogen aber Letzteres vor und haben sich zu Nietzsche geflüchtet.“ „Ja, ich habe mich zu Nietzsche geflüchtet. Aber ich fühle mich Zarathustra nicht gewachsen. Ich kann kein ‚Herrenmensch‘ sein! Ich will es auch gar nicht. Nach Nietzsche muss das Mitleid überwunden werden, es sei veraltet. Ich werde damit beim besten Willen nicht fertig. Das kann man doch nur, wenn man entweder so übermenschlich groß ist wie Zarathustra oder so klein wie der erste beste engherzige Kleinbürger. Ich besitze nicht die Sinnesstumpfheit des Spießbürgers, sehe aber auch nicht den Weg, der zu den Zarathustrahöhen führt. Ich glaube, solange es Leiden gibt, muss es auch Mitleiden geben, eines gehört zum andern, wie das Dunkel zum Licht. Aber auf sentimentale Betrachtungen über das menschliche Leiden allein kommt es ja

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nicht an. Lew Markowitsch, geben Sie mir den Glauben an eine bessere Zukunft wieder!“ Graber hörte mir aufmerksam zu, dann sagte er: „Haben Sie eigentlich schon vom Marxismus gehört?“ „Gehört gewiss“, sagte ich, „aber nicht allzu sehr zugehört. Ich habe die Vorstellung, dass es nur etwas für die Deutschen ist. Und ich glaube noch an unser altes Sprüchlein: Was für den Deutschen gesund ist, ist für den Russen der Tod.“ 41 „Liebe Dina, Sie sollten sich mit den marxistischen Ideen bekannt und vertraut machen. Das sollen Sie, ich bringe Ihnen heute noch ein paar Bücher.“ „Ich verreise übermorgen, Lew Markowitsch.“ „Schadet nichts, ich sehe Sie wohl noch in B., wenn Sie sich dort einige Zeit aufhalten. Ich habe mir nur ein paar Monate Urlaub gegeben und mache eine kleine Weltreise durch einige westliche Städte. Mit anderen Worten, ich sammle Material für eine statistische Arbeit, die ich vorhabe. In B. habe ich Bekannte und komme sehr bald dorthin. Jetzt mit umso größerem Vergnügen“, fügte er galant hinzu. Es blieb unklar, ob das eine Liebenswürdigkeit sein sollte oder nur auszudrücken hatte, wie viel ihm daran gelegen sei, mich zum Marxismus zu bekehren. Ich nahm Abschied von Frau H. und bedankte mich bei ihrem Schwager für die hübschen Reitstunden, zu denen er mich angeregt hatte. Er sagte: „Reiten Sie nur fleißig weiter. Je mehr man reitet, umso mehr Freude macht es einem.“ Frau H. und ich gaben uns gegenseitig das Versprechen, uns von Zeit zu Zeit zu schreiben. „Geben sie mir das Wort, mir mitzuteilen, wenn Sie sich verloben“, sagte sie. Ich schrieb ihr nur ein einziges Mal nach meiner Ankunft in B., auch geritten bin ich nie wieder. Mein Onkel und meine Tante teilten mir aus Ems mit, dass sie noch einige Zeit dort zu bleiben gedachten. Ich kümmerte mich um Olja, erteilte ihr Unterricht und überwachte neben der bewährten Haushälterin die Wirtschaft. Es blieb mir aber Zeit genug, um andere Interessen zu verfolgen.

41 Der Originalsatz lautet: „Was dem Deutschen gesund ist, ist für den Russen der Tod.“

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XV B. war eine mittelgroße Stadt im westlichen Teil Russlands mit zahlreicher jüdischer Bevölkerung. Eine der Städte, die man oft als jüdisch-litauische Stadt bezeichnete zum Unterschied von polnischen Städten mit ebensolcher zahlreichen jüdischen Bevölkerung. Neben Kleingewerbetreibenden, Handwerkern, kleinen Händlern, gab es auch eine Schicht wohlhabender Leute, zu denen auch mein Onkel, der Unternehmer staatlicher Chausseebauten war, gehörte. Es gab Vertreter des Export- und Importhandels, Brauereiund Großmühlenbesitzer. Sie verdienten für die damaligen Verhältnisse gut und gaben gern das Geld aus. Sie reisten alljährlich in die bekanntesten ausländischen Kurorte, die Frauen ließen sich oft ihre Kleider und Hüte aus Paris und Wien kommen, sie hielten für ihre Kinder ausländische Gouvernanten. War bei den damaligen russischen Großgrundbesitzern und gut gestellten Beamten der Provinz die Hauptpassion Kartenspiel und ähnliche mehr sinnliche Zerstreuungen, so war die Passion der wohlhabenden Juden, ihrem Haus ein westeuropäisches Gepräge zu geben. Die beliebteste Fremdsprache war Deutsch, man trug sich überhaupt gerne deutsch und ließ sich das was kosten. In beiden Volksteilen lebte aber die Jugend, besonders die studierende Jugend, ganz anders. Da herrschten geistige Interessen vor. Und dies geistige Leben wurde aus den gleichen Quellen genährt wie das der intellektuellen Schichten des übrigen Russland. Jedes literarische oder politische Ereignis fand lebhaftes Echo. Bücher und Blätter, in denen man zwischen den Zeilen oppositionelle Gedanken herauslesen konnte, gingen von Hand zu Hand. Der große Saltykow-Schtschedrin, dessen Werke eine verschleierte, aber wuchtige Satire auf das damalige herrschende Regime waren, bezwang alle Geister. Michailowski, der bedeutendste Vertreter der sogenannten völkischen Richtung, zündete mit seinen Artikeln. 42 Alles war auf den Sturz des zaristischen Regimes gerichtet und man erwartete davon allein die Beseitigung aller Nöte, materieller und geistiger, für das Volk. Traditionsgemäß war aber das Volk – der Bauer. Das städtische Proletariat übersah man; zum Teil, weil die industrielle Entwicklung sich im größ42 Michailowski ist der bereits erwähnte Publizist, vgl. Anmerkung 14. Mit „völkisch“ ist hier „volksverbunden“ gemeint.

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ten Teil des Landes noch nicht merkbar genug abgezeichnet hatte; vor allem aber aus der genannten traditionellen Einstellung heraus, nach der Russland, ein Bauernland par excellence, von der europäischen Entwicklung unberührt geblieben war und bleiben werde. Diese Anschauung vertraten auch die völkisch revolutionären Kreise, und die Extremisten unter ihnen gingen so weit zu glauben, dass die primitiven Landkommunen, unter dem Namen „Mir“ bekannt, die in einem Teil Großrusslands seit jeher bestanden, unmittelbar zu einem idealistisch gesehenen kommunistischen Regime führen würden. 43 Gegen Ende der neunziger Jahre bekam diese fest verwurzelte revolutionäre Ideologie einen Riss. Aus dem westlichen Europa sickerten allmählich neue sozialistische Ideen durch. Um diese Zeit erschien ein Buch, das den Auftakt zu einer neuen Epoche gab. Das Buch, dessen Autor sich Beltow nannte, nahm scharf Stellung gegen die bisherige Strömung und trat ebenso scharf für die marxistische Lehre ein. Es wurde bald bekannt, dass der Autor kein anderer als der sehr bekannte, im Ausland lebende Revolutionär Plechanow war, der früher einer der hervorragenden Vertreter der bisherigen sozialrevolutionären Partei in ihrer extremsten terroristischen Färbung gewesen war. 44 Das Buch schlug wie ein Blitz ein. Es rief einen wahren Sturm der Meinungsstreitigkeiten hervor. Die Presse teilte sich in zwei Lager, die einander heftig bekämpften. Michailowski, der Altmeister und Lehrer, wetterte in seiner viel gelesenen Revue gegen die neue Richtung. Bisher hatte jedes Wort von ihm gewirkt. Auch jetzt noch behielt er durch seinen sprühenden Geist, seine Ehrlichkeit und unbeugsame Radikalität für viele seinen alten Platz. Ein Ausspruch von ihm wurde zum geflügelten Wort: „Die Marxisten wollen 43 Die Dorfgemeinde, russisch „Obschtschina“ oder „Mir“ („Welt“, „Frieden“), verwaltete sich selbst, verteilte in regelmäßigen Abständen das Land neu um und haftete solidarisch für die Steuerzahlung. Viele Revolutionäre hofften, dass auf dieser Grundlage eine egalitäre, sozialistische Agrargesellschaft aufgebaut werden könne. Selbst Karl Marx schloss dies in seinem Briefwechsel mit der russischen Revolutionärin Wera Sasulitsch (1849–1919) unter bestimmten Bedingungen nicht völlig aus. 44 Georgi Valentinowitsch Plechanow (1856–1918) war einer der Begründer der russischen Sozialdemokratischen Partei (1883). Seit 1880 lebte er als Exilant in der Schweiz, von wo aus er starken Einfluss auf die sozialistische Bewegung in Russland ausübte. Es war Plechanow, der das revolutionäre Interesse von den Bauern auf die entstehende Arbeiterklasse lenkte.

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den russischen Bauern, ähnlich dem westeuropäischen Fabrikarbeiter, im kapitalistischen Kessel schmoren lassen.“ Aber auch die Gegnerschaft eines Michailowski konnte es nicht verhindern, dass die marxistischen Ideen von Tag zu Tag an Boden gewannen. Der Glaube an die revolutionierende Wirkung der Propaganda unter den Bauern, an die Änderung des absolutistischen Regimes durch Terrormittel, war durch die vielen bisherigen Misserfolge und Enttäuschungen erschüttert. Die eindringlichen, überzeugenden Worte Plechanows fielen auf vorbereiteten Boden. Dieses Werk von Beltow war es, das mir Graber vor seiner Abreise aus Druskeniki gebracht hatte. Ich las es und fühlte von Seite zu Seite, wie ein Nebel aus meinem Kopf wich. Ich nahm dieses Buch ganz anders auf, als ich einst die Lehren von Ratow aufgenommen hatte. Es faszinierte nicht nur meine Gefühle, sondern auch mein Denken. Ich sah ein Gesetz, wo ich früher nur Willkür erblickte. Wo ein Gesetz waltet, mag es unerbittlich und hart sein, da ist ein Weg zur Regelung, zur Überwindung gegeben. Das von MarxEngels gefundene Entwicklungsgesetz der menschlichen Gesellschaft hat die strenge Logik eines Naturgesetzes. Aber jede Krankheit beruht letzten Endes auf einem Naturgesetz, doch gibt das Erkennen dieses Naturgesetzes zugleich die Mittel zu seiner Bekämpfung. Hier liegt das Sinnvolle und Befreiende für einen suchenden Menschen. Ich verfolgte von nun an alles, was in der linksgerichteten Presse in den maßgebenden, wie man sie bezeichnete, Zeitschriften, die im damaligen Russland öffentliches Leben, Parlament und alles andere ersetzte, für und gegen die neue Richtung geschrieben wurde. Alle meine Vorstellungen und Gedanken fügten sich zu einer festen Einheit. Wer wie ich durch Wirrungen aller Art zur marxistischen Denkweise gekommen ist, der weiß, wie neu und anders die Welt und der früher verworren und dunkel scheinende Werdegang der menschlichen Geschichte einem plötzlich erscheint, und wie hell die Zukunft der Menschheit. Inzwischen war auch Lew Graber in B. erschienen. Er sagte: „Ich wusste, dass Marx Ihnen aus der Sackgasse, in die Sie geraten waren, heraushelfen würde.“ Durch Graber lernte ich auch noch andere Leute kennen, die alle mehr oder weniger revolutionär und sozialistisch gesinnt waren. Unter ihnen war einer, Damerstam mit Namen, der auf mich wie auf viele andere faszinierend wirkte. Er war der Sohn eines alten, jüdischen Lehrers. Da er keine

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Mutter mehr hatte, lebte er mit seinem Vater in einer ärmlichen Wohnung und ernährte sich und den alten kränklichen Mann durch Privatstunden. Schon durch sein Äußeres stach Damerstam ab: groß, schlank, jugendlich und ernst zugleich, von scharfen Gesichtszügen und innere Energie verratende Haltung. Das Besondere seines Gesichts war der ausgeprägt sinnliche Mund neben der gewölbten, hohen Stirn. Er war bis vor kurzem leidenschaftlicher Zionist gewesen und hatte große Anhängerschaft unter der Jugend. So wie Graber wurde auch er auf den Sozialismus hingelenkt. Das Werk Plechanows einerseits, die ganze ungeheure Spannung der damaligen Zeit andererseits drängten ihn dazu, seine bisherige Einstellung zu revidieren und machte aus ihm einen ebenso leidenschaftlichen Sozialisten. Er war zu der Überzeugung gekommen, dass die jüdischen Probleme nur ein Teil der allgemeinen menschlichen Probleme sind, und dass die jüdische Not die gleichen Wurzeln wie die Not der anderen Völker hat, und dass in der Befreiung aller Völker von dem Götzen Kapitalismus auch die Befreiung der Juden liegt. Er besuchte mich öfters in seinen freien Stunden, und es gefiel ihm, in meinem gemütlichen Zimmer im Hause des Onkels auf und ab zu schreiten: „Wie tut es einem wohl, so viel Raum um sich zu haben. Unsere zwei Stuben sind so klein, dass es mir manchmal ist, als müsste ich die Wände sprengen, um mir Raum zu schaffen“, sagte er zuweilen. Und wenn er dann plötzlich stehen blieb und am Ofensims lehnend mit nach innen gerichtetem Blick über etwas grübelte, glaubte man, seine Gedanken verfolgen zu können. Er nahm einmal meine Hand, führte sie an seine Stirn und sagte: „Sie müssen doch fühlen, wie heiß es da drinnen ist.“ Ich erwiderte lachend, dass sich seine Stirn kühl anfühlte. Aber ich konnte ihn gut verstehen. Damerstam war seit einem Jahr mit einem Mädchen verlobt, das er liebte. Ich lernte dieses Mädchen nicht kennen, da sie damals von ihren Eltern, gerade wegen ihrer Liebe zu dem armen Schlucker Damerstam, zu Verwandten verbannt war. Er sprach mit mir oft von seiner Braut und war überzeugt, aus ihr, die aus einer solid fundierten bürgerlichen Familie stammte, eine treue Sozialistin zu machen. Das Wissen von dieser Verbindung und der Respekt, den mir der Kampf der beiden für ihre Liebe einflößte, hielt meine eigenen Gefühle für Damerstam, wie durch einen warnenden Instinkt, in den gegebenen Grenzen. Wir waren Freunde und Kameraden mit all der Wärme und Ergebenheit, die die Jugend jener Zeit in solche Beziehungen

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hineinzulegen wusste. (Ob Zufall oder Vorbestimmung: Der Mann, der mir einige Jahre später mehr als nur freundschaftlich nahestand, 45 hatte viele Züge, auch äußerliche, mit Damerstam gemein.) Auch Graber besuchte mich oft, und durch seine behäbige, ruhige Art, die sich auch in seiner Stimme und seinen Bewegungen dokumentierte, bildete er eine interessante Ergänzung zu Damerstam. In unserem engen Kreise hatte jeder damals die marxistische Lehre nur aus der Literatur über den Marxismus aufgenommen, denn kaum einer hatte Gelegenheit gehabt, sich mit dem Studium der Werke von Marx selbst zu befassen. Karl Kautsky, 46 Beltow-Plechanow und manche anderen waren unsere Lehrer gewesen. Einmal wurde in unserer kleinen Gesellschaft die Frage aufgeworfen, wer von uns wohl zuerst das Marxsche „Kapital“ studieren würde. Ich sagte: „Was unseren Freund Graber betrifft, so prophezeie ich, dass in zwei Jahren ein Buch erscheinen wird mit dem Titel ‚Das Kapital von Karl Marx mit Randglossen von Lew Graber‘, in dem die Graberschen Randglossen den Text bilden und der Marx-Text den Rand ausfüllen wird.“ Alle lachten darüber. Graber drohte mir mit dem Finger und sagte: „Unsere Freundin Dina wird das ‚Kapital‘ von Marx überhaupt nicht lesen, aber sie wird die Marxidee zu einem Gedicht verarbeiten und es ihre kleinen Schüler und Schülerinnen auswendig lernen lassen.“ Von Damerstam meinte einer der Anwesenden, er werde die Werke von Marx und Engels in Miniaturdruck auf einer Schnur als Amulett um den Hals tragen, wenn er beim Ausbruch der Revolution auf die Barrikade steigen würde. Wöchentlich einmal trafen wir uns bei den mehr oder weniger heimlichen Zusammenkünften der männlichen und weiblichen Jugend von B., in denen über die gleichen weltanschaulichen Themen diskutiert wurde. Manchmal gab ein aus dem Auslande Zurückgekehrter einen Bericht über die politische Bewegung drüben, über Parlaments- und Versammlungsreden der großen Führer wie Bebel, Wilhelm Liebknecht oder Viktor Adler. 47 Wie 45 Im Original: „nahe gestanden hatte“. 46 Karl Kautsky (1854–1938) war einer der führenden deutschen Sozialdemokraten und popularisierte mit seinen Schriften die Arbeiten von Karl Marx und Friedrich Engels. 47 August Bebel (1840–1913) und Wilhelm Liebknecht (1826–1900) zählen zu den Gründern der deutschen Sozialdemokratie, Victor Adler (1852–1918) war ein bedeutender Politiker der österreichischen Sozialdemokratischen Partei.

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aufmerksam hörte man diesen Berichten zu! Wie lebendig war in manchem dabei der Wunsch, diese Apostel der Bewegung selbst einmal zu hören! In diesen Diskussionsabenden konnte man manchmal auch Einwände und Kritik hören. Einem solchen Kritiker, der glaubte, den Marxisten die Geringschätzung der Rolle der Kunst als Kulturfaktor vorwerfen zu müssen, erwiderte Graber in seiner ruhigen sachlichen Art: „Sie sind im Irrtum, Freund. Niemand will die Bedeutung der Kunst als Kulturfaktor leugnen. Aber Sie übersehen, dass die Kunst kein treibender Faktor ist. Sie reflektiert nur den Zustand einer Epoche, aber sie kann – und will es gar nicht – ihn abändern. Das liegt nicht in ihrem Bereiche. Nicht umsonst spricht man in Bezug auf die Kunst nur von Betrachten, Genießen. Die Kunst appelliert an das Gefühlsleben der Menschen, an ihre Sinne, aber von da bis zum Bewusstwerden des Sinnes des Ganzen, der in den Fundamenten jeder historischen Epoche liegenden Struktur, ist es ein weiter Weg. Die Kunst dringt nicht bis an diese Fundamente, rüttelt nicht an ihnen, mag noch so viel Misere in ihnen stecken. Sie hat es nie getan. Hat die hohe Kunst der Periklesepoche die Misere jener Zeit, z. B. die Galeerensklaverei, gemildert? Auch Michelangelo oder Beethoven haben nicht die Übel ihrer Zeit abzuschwächen vermocht. Puschkin, ein genialer Dichter und als Mensch bester Repräsentant der damaligen russischen Intelligenz, ist über die Grausamkeit der Leibeigenschaft glatt hinweggegangen. Nur ein Dichter oder Künstler, der selbst vom Elan einer revolutionären Epoche ergriffen ist – und die hier wirkenden Faktoren haben mit Kunst nichts zu tun – vermag seinen eigenen Elan an andere zu übertragen. Wenn Nekrassow, der als Dichter gewiss weit hinter Puschkin und Lermontow steht, eine so gewaltige suggestive Kraft besaß, so doch nur, weil er selbst von den neuen Freiheitsideen ganz und gar erfasst war. Seine Werke spiegelten eine große freiheitliche Epoche und hielten das Gewissen seiner Zeitgenossen wach, das ist sein bleibender Verdienst. Und diesen Verdienst unterschätzt niemand.“ Einem Kritiker bei einer anderen Gelegenheit antwortete Damerstam erregt und mit jenem Feuer im Blick, der jedem von uns zeigte, wie ernst es ihm mit dem Thema war: „Ja, man nennt uns Materialisten! Welches Unverständnis und welcher Missbrauch mit Worten! Weil die Marxlehre auf geschichtlichen Realitäten basiert, weil sie sich auf wissenschaftlich erweisbare Tatsachen stützt und – um von den blutleeren utopistischen Dogmen und Formeln abzurücken – sich bewusst ‚historischer Materialismus‘ genannt hat,

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glaubt man, konstruieren zu können, dass der Marxismus eine materialistische Weltanschauung sei. Ohne zu beachten, ohne beachten zu wollen, dass diese quasi materialistische Lehre an die höchste Gerechtigkeit, an die restlose Befreiung der Menschen: die Befreiung vom Joch der Armut, an die tiefste Humanität appelliert. Wie viel Ignoranz oder böser Wille gehört dazu, diese verlogene Waffe ernst zu gebrauchen.“ Es fand sich bei einem dieser Diskussionsabende jemand, der – wenn auch in milder Form – Damerstam seine Untreue der Palästinaidee zum Vorwurf machte. Damerstam wurde nicht heftig, wie man erwarten konnte, er ging auf den Betreffenden zu, er sagte: „Es mag so scheinen. Aber es geht hier nicht um Treue oder Untreue. Meine Gefühle und mein Verhältnis zum besonderen jüdischen Schicksal und den besonderen jüdischen Problemen hat sich ja keinesfalls geändert. Ich bin nur davon abgekommen, die Lösung in einer Illusion zu suchen. Mag die Illusion noch so lockend sein, sie bleibt unwirksam, weil sie eine Illusion ist. Wenn Moses einst das jüdische Volk befreit und es in das Gelobte Land gebracht hat, so stand ihm Gott zur Seite, half ihm durch Wunder. Gott waltet aber heute nicht mehr über die Schicksale der Völker, und Wunder gibt es nicht. Ohne Glauben an das Wunder sehe ich die Befreiung des jüdischen Volkes nur in der Befreiung der Menschen überhaupt. Und diese erhoffe ich vom Sozialismus. Würde es sich mir darum handeln, meinem eigenen Leben einen romantischen Rahmen zu geben, so würde auch ich nach Palästina gehen und dort Redarbeiter werden. 48 Es ist ein schöner und sogar erhabener Rahmen. Es ist, persönlich gesehen, auch eine Erlösung; aber es ist keine Lösung. Keine Lösung für das ganze Problem, für unser Volk als Ganzes. Am Persönlichen aber liegt mir nichts. Wenn Sie das Untreue nennen, so sehen Sie die Dinge anders. Ich fühle mich nicht getroffen. Ich vertraue dem Fortschritt, der allgemeinen menschlichen Entwicklung, die den Unterdrückten und auch uns Befreiung bringen wird. Hier will ich mittun und helfen.“ Niemand von uns ahnte damals, dass es Damerstam nicht bestimmt war, über die Jugendjahre hinaus zu kommen, und dass ihn drei Jahre später ein jäher Tod hinwegraffen würde. Nachdem er für Propaganda unter den Arbeitern einer größeren südlichen Industriestadt anderthalb Jahre Haft verbüßt 48 Mit dem Begriff Redarbeiter ist möglicherweise ein Redaktionsmitarbeiter oder Redakteur gemeint.

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hatte, kehrte er in die Heimat zurück und ging, mit der Geliebten endlich vereint, in einen nahe gelegenen Ort am Dnjepr, wo er ein paar glückliche Monate in Freiheit zu verleben hoffte. Wenige Wochen später ereilte ihn beim Schwimmen in dem herrlichen Dnjepr der Tod. Ein Herzschlag machte diesem jungen, sprühenden Leben ein Ende. Ebenso wenig waren wir darauf vorbereitet, dass Graber bald seine politisch-revolutionäre Tätigkeit ganz aufgeben und sich voll und ganz seinem Privatberuf als Advokat widmen würde. Damerstam, der in dieser Zeit illegal lebte und tätig war, konnte unserem Freunde dieses Versagen, wie er es nannte, nicht verzeihen und sprach in einem Brief an mich scharfe Worte gegen Graber. Mich hatte es anders berührt. Ich sah darin nur ein Zeichen der Müdigkeit, für die er nichts konnte. Und meine freundschaftlichen Beziehungen zu ihm ebenso wie die Schätzung seiner Person änderten sich nicht. Im Spätherbst kehrten Onkel und Tante von ihrer Auslandsreise zurück. Ems hatte dem Onkel die erhoffte Besserung nicht gebracht, die Ärzte, die er auf dem Rückweg in Berlin von neuem konsultierte, sprachen der Tante gegenüber zum ersten Mal deutlich die Befürchtung aus, es könnte eines jener tückischen Leiden vorliegen, gegen die es keine ärztliche Hilfe gab. Sehr bald wurde diese Befürchtung Gewissheit. Eine tiefe Traurigkeit lagerte über dem bisher so frohen Haus, wenn auch jeder bemüht war, dem Onkel gegenüber den Schein der Ruhe und Sorglosigkeit zu bewahren. Auch er selbst tat, als läge durchaus nichts Beunruhigendes vor. Er machte in seiner alten, gewohnten Weise gutmütig Scherze, war glücklich, wenn ihm die kleine Olja täglich auf dem Klavier etwas vorspielte und küsste sie dafür zärtlich auf die Stirn. Diese hatte allerdings die musikalischen Fähigkeiten ihres Vaters nicht geerbt und kam trotz langjährigen Unterrichts über die „Donauwellen“ nicht hinaus. Der Onkel erledigte noch wie immer vormittags mit seinem Verwalter seine Geschäfte und ging selbst unmittelbar nach dem Frühstück in den Hof, wo die Ställe lagen, besichtigte die Pferde und konferierte mit dem Kutscher. Doch konnte weder er noch jemand der Angehörigen sich darüber täuschen, wie ernst sein Zustand war. Er wurde täglich zusehends magerer, die Kräfte schwanden, das Herz setzte oft aus. Manchmal hielt der Onkel bei einer harmlosen Unterhaltung plötzlich wie aufhorchend inne, mit jenem fremden Ausdruck in Gesicht, den Schwerkranke oft haben, und der den Anwesenden sagt: „Es geht etwas vor, was Euch anderen unsichtbar ist.“ Einmal sagte er in

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einem solchen Augenblick merkwürdig gelassen: „Ja Dina, es geht zu Ende.“ Er war erst 36 Jahre alt, aber seine dünn gewordene Gestalt und die fahle Gesichtsfarbe sprachen nur zu deutlich. Als ich endlich nach langer Abwesenheit von zu Hause zu den Meinigen zurück reiste und vom Onkel Abschied nahm, dachte ich jedoch nicht, dass ihn nur noch fünf Monate vom Grabe trennten.

XVI Durch Briefe meiner Angehörigen war ich über die Veränderungen, die im Elternhause eingetreten waren, bereits unterrichtet. Unser Geschäft in P. war aufgelöst worden; auch das in Novodub konnte sich, nach allem, was vorausgegangen war, nur durch eine teilweise Fusion mit dem des Großvaters, das nach wie vor blühte, halten. Damit war die wirtschaftliche Selbstständigkeit unseres kleinen Staates „Elternhaus“ auf Jahre hinaus gebrochen. Mein Bruder blieb zwar im Geschäft, er hatte aber für später eigene Pläne und Absichten. Seine Gereiztheit gegen den Vater war, wie ich bald merkte, nicht gewichen. Sie erhielt sich noch lange Jahre, wenn sie auch nie roh oder verletzend zum Ausdruck kam. Wir vermieden deswegen, wie auf Verabredung, über den Vater zu sprechen. Umso öfter sprachen wir von der Mutter. Wir bewunderten beide ihren Mut und die Elastizität, mit der sie sich der neuen Lage anpasste. Nach wie vor zeigte sie sich heiter und ließ in keinem ihrer Angehörigen das Gefühl aufkommen, dass durch die Neugestaltung der Dinge Anlass gegeben wäre, weniger froh und harmlos weiter zu leben. Die jüngeren Geschwister lernten fleißig und gern und die Eltern – Wandel der Zeiten! – sahen jetzt ihre Hauptaufgabe darin, die Kinder zum Studium anzufeuern. Des Vaters eigenes Interesse an wissenschaftlichen Problemen nahm übrigens in dieser Zeit sehr zu und spezialisierte sich auf Gebiete, auf denen weder ich noch die anderen Geschwister ihm zu folgen vermochten. Mathematik und Mechanik nahmen ihn vollständig gefangen und ihrem Studium widmete er jede freie Stunde. Er war auf diesen Gebieten bald vollständig zu Hause. Aber auch hier ging er zu theoretisch vor, nahm hauptsächlich das große Allgemeine und vernachlässigte dabei das Kleine, die Details. So kam es, dass er bei Aufgaben der Mechanik oft die feinsten Berechnungen, die

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bereits Kenntnisse der höheren Mathematik voraussetzten, aufstellen konnte, ein andermal aber über eine einfache Berechnung stolperte, weil er irgendeine nebensächliche, feste Formel, die jeder Schüler kennt, außer Acht ließ. Dann quälte er sich tagelang mit einer solchen Aufgabe ab und konnte nicht hinter den Fehler kommen. Manchmal rief er einen von uns zu Hilfe, aber meine Kenntnisse, besonders in Mathematik, waren viel zu gering, als dass ich ihm hätte behilflich sein können. Dass ihn besonders die unlösbaren Probleme der Mathematik und Physik anzogen und interessierten, erklärt sich sowohl aus der Besonderheit seiner Natur als auch aus der autodidaktischen Methode seines Studiums. Das Perpetuum mobile und die Quadratur des Kreises nahmen monatelang seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. „Warum sollte es nicht gehen?“ sagte er nachdenklich und sah das Blatt an, auf dem er Zahlen und geometrische Figuren gezeichnet hatte. Es klang fast wie Sehnsucht aus Vaters Stimme. Ich sagte ihm: „Warum das nicht geht – das weiß ich natürlich nicht, Vater, aber es ist eine feststehende, wissenschaftliche Tatsache, dass die Quadratur des Kreises ebenso wie das Perpetuum mobile Unmöglichkeiten sind.“ „Wie viele andere Dinge“, antwortete er dann, „galten in der Wissenschaft als unmöglich, bis neue Erforschungen diese Ansichten umstießen.“ Interessierte ihn jedoch die Idee eines ewigen Motors nur theoretisch, so widmete er sich mit dem größten Eifer praktisch der Aufgabe, wie mit geringstem Kraftverbrauch die höchste Arbeitsleistung technisch möglich zu machen sei. Er machte Berechnungen und Zeichnungen und untersuchte aufs Genaueste jede Maschine, die ihm zugänglich war. Da aber in unserer Umgebung wie überhaupt in Novodub nur die einfachsten, für das Handwerk bestimmten Maschinen vorhanden waren, ließ er sich Prospekte und Kataloge verschiedener größerer Maschinenfabriken schicken. Er wusste bald in der Konstruktion selbst der kompliziertesten Maschinen Bescheid und kannte die Funktion jeder Schraube; waren es deutsche Kataloge, so musste ich dem Vater die Bezeichnungen übersetzen, und er erklärte mir dabei, was dieses und jenes Detail des Maschinenkörpers bedeutete, und wie dies oder jenes anders und besser gemacht werden könnte. Leider konnte ich den abgebildeten eisernen Ungeheuern, die ihn so entzückten, nur ein geringes Maß an Verständnis entgegenbringen. Der Vater sagte mir mehrmals: „Wenn du weiter studieren willst, so studiere doch Technik! Es gibt ja technische Hochschulen, die Frauen auf-

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nehmen.“ Ich erwiderte ihm: „Vater, mir gehen alle Fähigkeiten, die dazu nötig sind, vollständig ab.“ „Das glaubst du nur“, meinte er, „wenn Du dich erstmal diesem Gebiet zuwendest, wirst Du bald sehen, wie ungeheuer interessant und lebendig es ist.“ Einmal sagte er mir: „Wenn es ginge, und ich wüsste, dass ich in irgendeiner Schule Aufnahme finde, ich würde heute noch das technische Studium auf mich nehmen.“ Ich litt förmlich für den Vater, wenn ich sah, wie viel heiße Sehnsucht in seinen Bemühungen lag, technische und mathematische Probleme zu erfassen und sich volle Klarheit über sie zu verschaffen. Ich dachte mir oft: Wäre doch Dein Interesse für all diese Dinge nie erwacht, als dass es Dir jetzt zu einer Pein geworden ist! Wärst Du doch lieber der selbstzufriedene Talmudgrübler geblieben wie so viele andere. Einige Zeit später versuchte der Vater die eine oder andere seiner technischen Ideen praktisch durchzuführen. Er fertigte mit Hilfe eines Klempners kleine Modelle der ihm vorschwebenden Maschinen oder vereinfachte Motoren an. Diese wurden oft geändert, verbessert oder ganz neu gebaut. Bald war ein ganzer Raum in unserem Hause mit solchen improvisierten kleinen und größeren Triebmaschinen angefüllt. Den jüngeren Geschwistern machte das ungeheuren Spaß. Die Knaben wussten sehr bald die Namen aller Teile dieser Modelle und besprachen untereinander mit ernster Miene die Bedeutung dieses oder jenes Details. Wir Älteren glaubten an die Richtigkeit und Zuverlässigkeit der vom Vater aufgestellten Konstruktionen nicht, wenn auch keiner von uns im Stande gewesen wäre, die Beweise dafür zu erbringen. Wir folgerten es nur aus der einfachen Tatsache, dass Vaters Grundkenntnisse auf diesem Gebiete zu lückenhaft waren, und dass ihm auch der praktische Einblick in die Dinge fehlte. Das sagten wir ihm aber nicht, weil wir alle die Empfindung hatten, dass wir ihn, der unerschütterlich fest zu seiner Sache stand, mit unserem Skeptizismus nur kränken würden. Anders jedoch verhielten sich die Verwandten zu Vaters Experimenten. Sie sahen darin eine sonderbare und wegen ihrer Kostspieligkeit unangebrachte und unerlaubte Liebhaberei. Gelegentlich fielen unangenehme Bemerkungen dieser Art. Und so verkaufte eines Tages unsere Mutter ihren ganzen Schmuck bis zum letzten Ring und übergab die dafür erlöste Summe dem Vater, damit er die für seine technischen Experimente notwendigen Mittel nicht mehr der Geschäftskasse zu entnehmen brauchte. Das erfuhr ich aber erst später, als mein jüngerer Bruder Jakob Student

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einer technischen Hochschule geworden war, erfuhr, an welchen Umständen eigentlich Vaters technische Versuche scheiterten. Wie nah er in vielen Punkten der Lösung gekommen und wiederum wie weit er ihr entfernt geblieben war. Jakob sagte mir auch, dass gerade das Problem, welches den Vater so intensiv Tag und Nacht beschäftigte: den Motor zu finden, der bei geringster Kraftverwendung die größtmögliche Arbeit leistete, der schwierigste und brennendste Punkt der gesamten modernen Technik sei. Unter denen, welche den technischen Experimenten des Vaters nur sehr ungern zusahen, befand sich auch mein Bruder Mark, doch sprach er darüber nie ein Wort. Er hielt sich überhaupt ziemlich abseits des ganzen häuslichen Getriebes, und wenn er da war, schien er mir wie ein Unbeteiligter, wie einer, der seine eigenen Gedanken hatte, seine eigenen Wege ging und nicht gerne stören, aber auch nicht gestört sein wollte. Er hatte jetzt kaum einen richtigen Freund, wie er in den Jahren seines tapferen Kampfes für religiöse Freiheit manchen hatte. Niemand aus jener Zeit war ihm zurückgeblieben. Die Jahre in P., der geschäftliche Misserfolg, an dem er sich vielleicht zum Teil mitschuldig fühlte; die mit gewissem inneren Protest übernommene Verpflichtung, das Geschäft in Novodub, das nun mit dem des Großvaters vereinigt war, zu leiten – all das schien ihn in eine Art Gleichgültigkeit und dauernde Depression versetzt zu haben. Es mochte auch eine Enttäuschung in einer Liebesangelegenheit hinzugekommen sein. Jedenfalls nahm er kaum an etwas teil und verkehrte mit niemandem, außer wenn es unvermeidlich war. Seine ganze freie Zeit füllte das Lesen aus. Er las meist nur belletristische Werke, verschlang ein Buch nach dem anderen mit einer geradezu fieberhaften Hast, als läge ihm alles daran, nur ja keine Pause zwischen dem einen und dem anderen eintreten zu lassen. Er las von jedem Autor alle Werke, soweit sie zu erreichen waren; schluckte den Autor gewissermaßen herunter. Er las Klassisches und Modernes, russisch oder ins Russische übersetzte Werke. Maupassant gehörte zu seinen Lieblingsautoren, er delektierte sich an seinen Büchern. 49 Vor allem aber las er alles, was mit dem jüdischen Leben im Zusammenhang stand, abonnierte die jüdischen Zeitungen in hebräischer und russischer Sprache. Den jüdischen Problemen schon immer innigst, wenn auch passiv, verbunden (und was er Ratow seinerzeit in allererster Linie nicht ver49 Guy de Maupassant (1850–1893) war ein bedeutender französischer Schriftsteller.

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zieh, war dessen Uninteressiertheit an diesen Problemen), verfolgte er alles, was im Zusammenhang damit stand. Doch las er nie etwas in Jiddisch, da die Wendung, die das Jiddische zu einer gleichwertigen europäischen Literatursprache gemacht hat, erst ein paar Jahre später erfolgte und in unserer von jüdischen Kulturzentren entfernt gelegenen Gegend noch nicht wahrzunehmen war. Sich an Tschechow begeisternd, wusste Mark ebenso wenig wie die anderen bei uns etwas vom jüdischen Tschechow: dem großen Scholem Alechem. 50 Mich quälte oft Marks gleichgültiges, äußerlich träges Wesen bei einer nervösen inneren Unruhe. Ich dachte oft: Wie anders bist du geworden! Was hat Deine Seele so schwer gemacht? Es drängte mich manchmal, ihm die Haare zu streicheln und ihm zu sagen: „Sei doch heiter, Du bist so jung, das Leben steht vor Dir.“ Aber solche Gefühlsäußerungen waren unter uns nicht üblich, und wenn wir spät abends eine Stunde in seinem oder meinem Zimmer zusammensaßen, sprachen wir über Tolstoi, Zola, Maupassant und über die Unterschiede zwischen ihnen. So lebte Mark als einsamer und verschlossener Mensch abseits von den anderen und fast völlig allein. Aber auch ich begann trotz reger Teilnahme am Leben und Treiben in der Familie durch die Ungewissheit in Bezug auf meine eigene Zukunft zu leiden. Mein Versuch, in die in Petersburg befindliche einzige Hochschule für Frauen Aufnahme zu finden, misslang, da ich als Jüdin den Aufenthalt in der Hauptstadt nicht erlangen konnte. An eine Reise ins Ausland wagte ich bei den jetzigen Verhältnissen in der Familie nicht zu denken. Meine ältere Schwester Bella, die nun Zahnärztin geworden war, fand in Warschau eine Stellung als Assistentin im selben Institut, in dem sie soeben ihr Studium abgeschlossen hatte. Sie bewohnte zusammen mit einer befreundeten Kollegin eine kleine Wohnung und redete mir zu, nach Warschau zu kommen. Sie wusste, dass mir der zahnärztliche Beruf nicht lag, aber sie

50 Anton Pawlowitsch Tschechow (1860–1904) gehört zu den bedeutendsten russischen Schriftstellern. Seine Theaterstücke, Kurzgeschichten und Erzählungen zeigen das Leben der Menschen ohne Beschönigung und wirken durch ihre eindrucksvolle Sprache. Scholem Alejchem (eigentlich Schalom Rabinowitsch, 1859–1916) schilderte das Leben im Schtetl und gilt zusammen mit Mendele Mojcher Sforim (1836–1917) und Isaak Leib Perez (1852–1915) als Begründer der jiddischen Literatur. Sein bekanntestes Werk ist „Tewje der Milchmann“.

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wollte mir Gelegenheit geben, mich in Ermangelung anderer Studienmöglichkeiten eventuell für das Institut zu entschließen. Das leuchtete mir und den Meinigen ein, und ich beschloss, den Vorschlag Bellas anzunehmen.

XVII Die Reise von Novodub nach Warschau dauerte 24 Stunden. Für Russland eine kurze Entfernung. Aber mir kam sie endlos lang vor. Die Strecke an sich bot keine Reize. Die Gegenden, durch die ich fuhr, unterschieden sich durch nichts von denen um Novodub. Dieselben Wälder und Äcker, soweit der Blick reichte; keine Erhöhung, die die Linie des Horizontes unterbrochen hätte, kein einziger großer Fluss. Auf den Bahnhöfen überall das gleiche Bild bis zur Monotonie. Ein Knäuel aufgeregter Menschen, ein wirres Durcheinander von russisch und jiddisch, zu dem sich, je weiter man kam, immer mehr polnisch gesellte. Auf den kleinen Bahnhöfen dieselben paarweise promenierenden geputzten Fräuleins in Begleitung eines jungen Mannes mit Kokardenmütze. Es waren die Bürgertöchter aus dem Orte, die zu jedem Zug kamen, um sich der Welt zu zeigen, die im Vorübersausen sich für 10 Minuten vor ihren Augen auftat. Sie lachten überlaut bei den Witzen ihres Begleiters und warfen verstohlene Blicke zu den Fenstern der Wagen erster und zweiter Klasse. Es schienen immer dieselben Mädchen und derselbe junge Mann zu sein. Es waren langweilige 24 Stunden des Wartens auf das Reiseziel wie das Warten im ungemütlichen, mit Menschen vollgestopften Vorraum eines Amtszimmers. Endlich am Morgen des zweiten Tages zeigte eine wachsende Bewegung, eine Aufrüttelung im Kupee [!], dass wir dem Ziele nahe waren. Meine Ungeduld ging in ein Fieber über. Noch ein paar Minuten, und ich werde in einer Großstadt sein. Ich zitterte leicht vor der Vorstellung all des Unbekannten, das mich erwartete. So viele neue Dinge, neue Menschen! Die Lokomotive raste dahin, als hätte sie bewusst für die letzte kurze Strecke ihre Kräfte aufgespart. Ich stehe am Fenster und höre, wie die Räder mit aufdringlicher Munterkeit immer dieselben drei, vier Noten eines lustigen Liedes singen. Plötzlich ändert sich ihre Melodie, es entsteht ein polterndes Durcheinander: Wir fahren über die lange, schöne Weichselbrücke.

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Vor meinen Augen weiten sich tief unten die breiten Fluten und geben den Vorgeschmack einer großen Stadt. Es ist die erste Großstadt, die ich sehen soll, und meine Pulse schlagen ihr entgegen. Die Augen saugen die Ferne ein. Nun ist auch die Brücke hinter uns. Die Räder nehmen ihre frühere Melodie wieder auf. Aber bald beginnen die Noten sich zu überschlagen. Der Zug wechselt das Gleis. Und schon entrollt sich vor unseren Blicken das wogende Bahnsteiggetriebe. Diesmal beachte ich kaum das Gewirre der Menschen, völlig auf den nächsten Augenblick gerichtet, in dem ich die Gestalt meiner Schwester zu entdecken hoffe. Da: Freudig lächelnd winkt Bella mit beiden Händen mir entgegen, während sie gleichzeitig einem neben ihr stehenden jungen Mädchen – ich errate, dass es ihre Freundin ist, mit der sie zusammenwohnt – zuruft: „Da ist sie, da ist sie!“ Bald sitzen wir alle drei samt meinem Koffer in der Droschke. Wir fahren durch den belebtesten und schönsten Teil Warschaus, da meine Schwester, wie die meisten Studierenden, in einer Seitengasse im Zentrum der Stadt wohnt. Freudig erregt durch das Wiedersehen mit der Schwester unter diesen ungewohnten Verhältnissen; durch die neue Bekanntschaft und all das Neue, das sich meinem Auge bot, war ich nahe daran, wie ein Kind aufzujubeln: „Ach wie schön, wie schön ist das alles!“ Die nächsten acht oder zehn Tage waren hauptsächlich dem Bekanntwerden mit der Stadt gewidmet, und ich begleitete Bella und ihre Freundin auf allen Wegen, die sie zu erledigen hatten. Die schönen Straßen und Plätze, die eleganten Läden und Restaurants, das rhythmische Gewoge der Menge auf den breiten, abends im hellen Glanz der elektrischen Lichter erstrahlenden Trottoirs, die mit der etwas steifen Grazie der Warschauerinnen dahin schwebenden, elegant gekleideten Damen, die in mir die Gestalt der schönen Frau H. aus dem vorjährigen Badeorte wach riefen, – alles versetzte mich in eine unaussprechlich glückliche Stimmung, als gehörte all diese Schönheit, Eleganz und Heiterkeit mir selbst. Ich habe später oft diesen Freudentaumel bei der ersten Bekanntschaft mit einer neuen, schönen Großstadt empfunden. Aber später auch oft an den Vers Nekrassows gedacht: „Wie anders wird dein Lied erklingen, Entdeckst du erst, wie dieser helle Glanz, Verflochten ist in deines Schicksals dunklem Kranz.“ Aber damals genoss meine Jugend unbefangen diesen hellen Glanz. Die-

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sen Großstadttaumel. Nur als ich in das jüdische Viertel kam, wo nur die ärmsten Juden wohnten, trübte sich meine Stimmung. Hier gab es nur enge, schmutzige Gassen. Auf den schmalen Trottoirs drängten sich dahineilend ärmlich gekleidete Männer und Frauen oder hielten an den zahlreichen ebenso ärmlich aussehenden Läden. Die Ladenbesitzer lockten durch Worte und Gesten die Passanten zum Eintreten ein und priesen laut ihre Ware. Es herrschte ein wirres Durcheinander von Stimmen und Lauten. Durch ihre besondere, mittelalterlich anmutende Tracht, durch ihren abweichenden Dialekt, der so ganz anders klang als das mir gewohnte Jiddisch, waren mir die Juden, die ich hier sah, neu und fremd. Aber die Not, die hier wie ein Reptil durch die trüben Gassen kroch, erfüllte mich mit Weh; mit jenem Weh, das den jüdischen Menschen, wo er auch sei, mit allen Ghettos verbindet. Ich habe nicht allzu oft diesen Teil Warschaus besucht. Aber jedes Mal, wenn der Zufall mich hinbrachte, hämmerte es deutlich in mir: Hier harrt eine große Aufgabe der jungen jüdischen Generation! Hier müssen alte, morsche Fundamente beseitigt und eine neue Lebensbasis geschaffen werden. Durch Bella und ihre Freundin kam ich bald in Berührung mit einem ziemlich ausgedehnten Kreis von Personen, die fast alle aus anderen, nicht polnischen Teilen Russlands stammten und meist zu Studienzwecken hierher gekommen waren. Viele der jungen Mädchen waren Schülerinnen des zahnärztlichen Institutes, der einzigen auch Frauen zugänglichen Bildungsanstalt in Warschau. Wie im übrigen Russland war die Jugend auch hier fortschrittlich gesinnt und geistig wie politisch interessiert. Eine abgeschlossene Gruppe für sich jedoch bildeten diejenigen, die aktiv politisch tätig waren. Zum größten Teil waren es ebenfalls die Studenten, die Hand in Hand mit den polnischen Gesinnungsgenossen sich propagandistisch und organisatorisch unter der jüdischen Arbeiterschaft betätigten. Sie hielten ihre Zugehörigkeit zu den aktiven revolutionären Elementen naturgemäß geheim und verkehrten außer mit ihren Genossen nach Möglichkeit nur mit Personen, zu deren Gesinnung und Verschwiegenheit sie volles Vertrauen hatten. Bella und ihre Freundin, obwohl selbst nicht aktiv tätig, hatten Freunde und Freundinnen unter den aktiven Genossen und erwiesen ihnen manchen Dienst, indem sie gefährdete Kameraden bei sich aufnahmen oder zuweilen geheime Literatur bei sich verbargen. Dass ich den lebhaften Wunsch hatte,

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dieser Gruppe näher zu treten, war verständlich. Und die Gelegenheit dazu ergab sich bald. Schon am Abend nach meiner Ankunft lernte ich einen Freund von Bella kennen, einen Studenten, Tjoma mit Namen, der ein tätiges Mitglied jener Gruppe war und viel für die Propaganda tat. Tjoma kam in irgendeiner Angelegenheit, blieb aber lange sitzen. Bella hatte ihm von meiner bevorstehenden Ankunft bereits erzählt. Man unterhielt sich lebhaft. Tjoma berichtete über Vorkommnisse in dem gemeinsamen Bekannten- und Freundeskreis, auch manches Komische darunter, was alle heiter stimmte. Man trank wie üblich Tee, und Bella servierte dazu einen von mir mitgebrachten Kuchen. Er war speziell für Bella und ihre Freundin, die ja häusliche Leckerbissen entbehrten, gebacken worden. Bella stellte den Teller mit unserem Lieblingskuchen auf den Tisch und sagte zu dem Gast: „Hiermit mache ich Sie mit einem Kuchenmeisterwerk unserer Mutter bekannt. Kosten Sie und sagen Sie, ob er Ihnen auch so gut schmeckt, wie er uns immer geschmeckt hat.“ Tjoma nahm ein Stück, dann ein zweites und drittes, aber vergeblich warteten wir auf ein Wort der Anerkennung. Er aß den Kuchen, trank langsam seinen Tee und erzählte allerlei Begebenheiten des Tages. Dabei musterte er mich gleichsam, als wollte er meinen eventuellen Platz in den Reihen der Gesinnungsgenossen bestimmen. Er interessierte sich für meine Absichten und Pläne, forschte vorsichtig nach meiner politischen „Richtung“ und sprach nebenbei über alles Mögliche, nur kein Wort über den uns interessierenden Gegenstand. Als er sich ziemlich spät erinnerte, dass ich eine lange Reise hinter mir hatte und wohl müde sein dürfte, war unser schöner Kuchen fast restlos verzehrt. Bella konnte nicht mehr an sich halten und platzte heraus: „Aber nun Tjoma, sagen Sie bitte, ob Ihnen der Kuchen unserer Mutter auch wirklich geschmeckt hat?“ Tjoma sah sich verwirrt um und murmelte verlegen: „Der Kuchen? Nein, wirklich … Ich bitte um Entschuldigung, ich habe tatsächlich nicht darauf geachtet, wie er geschmeckt hat.“ Minutenlang stand unser Gast hilflos und verlegen da und sah zu, wie wir lachten, bis uns die Tränen in den Augen standen. Noch lange nachher brach jedes Mal eine Lachsalve aus, wenn wir uns erinnerten, wie Tjoma, ohne es zu merken, Mutters herrlichen Kuchen verspeiste. Den guten Beziehungen zu Tjoma hat dieser belustigende Zwischenfall wenig Abbruch getan. Er kam öfters, wenn er einen freien Abend hatte, zu uns, und bald stand auch ich mit ihm auf freundschaftlichem Fuße. Auf seine

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Einladung hin begleitete ich ihn zu kleinen Zusammenkünften, die zum Zwecke der Information und Aufklärung da und dort heimlich stattfanden, und wo es neben Intellektuellen auch Arbeiter gab. Nach einiger Zeit und nach gegenseitigem sich Kennenlernen gehörte ich formal der Gruppe an. Unter den Kameraden, die ich nach und nach kennenlernte, gab es eine Anzahl, die in illegaler revolutionärer Arbeit gereift war, die die Bekanntschaft mit dem „Kommunistischen Manifest“ von Marx-Engels nicht erst dem aufrüttelnden Buch von Beltow-Plechanow verdankten, die mit den im Auslande lebenden prominenten Führern der russischen sozialistischen Partei in unmittelbarem Kontakt standen. Sie leiteten hier die organisatorische Arbeit, und ihnen fiel auch die Aufgabe zu, die im Ausland gedruckte Parteiliteratur, wie auch das ganze meist dort verfertigte Propagandamaterial unter den Augen der überall spähenden unzähligen Polizeispione von der anderen Seite der Grenze herüber zu schaffen, die gefährlichen Gepäckstücke dann sicher unterzubringen und für die Verbreitung der Drucksachen unter den Arbeitern in den Fabriken und Werkstätten wie unter der intellektuellen Jugend zu sorgen. Es waren Menschen, die hingebungsvoll der Idee dienten und eine Atmosphäre von reiner Menschlichkeit um sich verbreiteten. Ich dachte oft an den jung verstorbenen Damerstam und hörte seine Worte: „Ich sehe mich aufgehen in einer großen Sache und das ist – der Sozialismus.“ Hier wäre er auf seinem Platze, denn hier waren seine geistigen Brüder. Unter den anerkannten Leitern der Warschauer Gruppe gab es einen, den man nur unter seinem konspirativen Namen Leo kannte, dessen Namen man aber mit einem Nimbus der Verehrung umgab. Man sah ihn selten, nur bei besonderen Anlässen in vertrautem Kreise. Aber sein Name wurde häufig genannt, und ich hatte ihn schon im Gespräch zwischen Tjoma und meiner Schwester am ersten Abend meines hier Seins gehört. Es war für mich daher ein gewisses Ereignis, als ich diesen sagenhaften Leo zum ersten Mal in der Mitte einer Anzahl Genossen vor mir sah. In seiner blauen Studentenuniform sah er jugendlicher aus, als er vielleicht in Wirklichkeit war. Und es wäre schwer zu definieren gewesen, worin sich seine Überlegenheit fühlbar machte und wodurch er faszinierte. Vielleicht war es seine Haltung, aus der ruhige Sicherheit und beherrschter Wille sprachen, vielleicht die Verbindung dieser Züge mit einer gewinnenden, fast naiv anmutenden Natürlichkeit und einem Humor, der ihn auch im Ernst nicht verließ. Man liebte ihn, hing an jedem seiner Worte, und die jungen Genossinnen schwärmten heimlich und

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offen für ihn. Aber man zitierte eine gelegentlich von ihm gemachte Äußerung: „Liebe? Nein, wir Revolutionäre dürfen niemanden an uns binden, wir müssen frei und unabhängig bleiben.“ Zu Tjomas Obliegenheiten gehörte es, geeignete Kräfte unter den Kameraden zu finden, die neben propagandistischer Arbeit auch Unterricht in allgemeinen Fächern an junge Arbeiter und Arbeiterinnen erteilen sollten. Dies geschah auf dringenden Wunsch der Arbeiter selbst, die, zum Denken erwacht, nach Wissen dürsteten. Es lag aber mehr dahinter. Hier, wie in Polen überhaupt (entsprechend der anderen Struktur des Landes und seiner fortgeschrittenen Industrialisierung), war die Durchdringung der Arbeiter wie der Führung mit sozialistisch-marxistischen Ideen vollendete Tatsache. Und die Umstellung der propagandistischen und organisatorischen Arbeit auf die neue Basis vollzog sich hier reibungsloser und sozusagen schmerzloser als im übrigen Russland. Das traf in gleicher Weise auf die jüdische Bewegung zu. Was dem jüdischen Arbeiter aber fehlte, war eine Sprache, in der er dasjenige lesen konnte, was ihm jetzt zu wissen Bedürfnis war. Seine Sprache war Jiddisch, es gab aber bisher in Jiddisch weder eine Presse noch eine politisch aufklärende Literatur. Der jüdische Arbeiter war darauf angewiesen, sich in einer Sprache, die er oft nur mangelhaft beherrschte – polnisch oder russisch –, über das, was ihn anging, und über die ihn interessierenden Probleme zu orientieren. Es war den verantwortlichen jüdischen Leitern der sozialistischen Bewegung klar, dass man diesem Mangel nicht durch Gruppenunterricht abhelfen konnte. Diese geistige Lücke musste in ganz anderer Weise ausgefüllt werden. Das geschah durch die Gründung des „Bund“, der jüdischen Arbeiterorganisation für Litauen und Polen, die formell das Jiddisch für alle propagandistische und organisatorische Arbeit aufgenommen hatte. Aus einer praktischen Notwendigkeit geboren, war der „Bund“ berufen, zu einem Kulturfaktor größter Bedeutung zu werden, nicht nur für einen großen Teil der jüdischen Bevölkerung in Russland und Russischpolen selbst, sondern überall in der Welt, wo jüdische Arbeitermassen lebten. Der „Bund“ hat aus einer Sprache, die nur profanen, geschäftlichen und kleinen täglichen Zwecken gedient hatte, die Sprache des geistigen Schaffens gemacht. Er hat – geistig gesehen – aus einer Durchgangsstraße, die man im Laufschritt durcheilte, eine Avenue gemacht mit Bänken zum Ruhen und Nachdenken. Die Schaffung des „Bund“ war eine Wendung im jüdischen Volksleben.

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Dies vorauszusehen und zu fördern war das Verdienst der Gründer und ersten Leiter der jüdischen Arbeiterbewegung. An erster Stelle hier steht Medem, ein Führer von Geist und Initiative, von großer suggestiver Wirkung und ungewöhnlichem persönlichen Charme. 51 Der Halbjude Medem, Sohn eines russischen Generals und einer jüdischen Mutter, bekannte sich bewusst und rückhaltlos zum Judentum. (Im Gegensatz zu vielen Söhnen jüdischer Mütter, die den jüdischen Anteil in ihrem Blute gerne verschwiegen sehen wollten, darunter auch ganz Große, wie in moderner Zeit Marcel Proust oder in früheren Tagen Montaigne.) 52 Medem machte das Jiddisch, die Sprache des jüdischen Arbeiters, zu der seinigen. Der jüdische Arbeiterbund war die Schöpfung einer Anzahl bewährter jüdischer Arbeiterführer, und Medem war einer von ihnen, der mit restloser Hingebung, Wärme und Glauben die Sache des „Bund“ verfocht. Vielleicht spiegelte sich etwas von seinem Wesen und seiner Persönlichkeit in den schönen und melodischen bundistischen Arbeiterliedern, die zu jener Zeit entstanden sind. Zum ersten Mal haben jüdische Arbeiter, aber auch die jüdische intellektuelle Jugend moderne Kampf- und Ruflieder in Jiddisch vernommen, während sie bisher in dieser Sprache bloß von Müttern gesungene traurige und wehmütige Wiegenlieder zu hören gewohnt waren. 53 Der „Bund“ bahnte dem jüdischen Leser den Weg zu Scholem Alechem und Perez, zur ganzen bald aufblühenden jiddischen Literatur. Der „Bund“ gab aber auch anderen jüdischen Schriftstellern und Dichtern von europäischem Format Mut, in Jiddisch zu schreiben, und ebnete ihnen den Weg zum jüdischen Leser. Hier hat später auch Alexander Ratow den endgültigen Boden für sein geistiges Schaffen gefunden. Die jüdische Folklore wurde sei51 Wladimir Dawidowitsch Medem (1879–1923) war einer der Gründer des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes in Litauen, Polen und Russland, kurz BUND. Ihm war bewusst, dass sich die Partei auf Jiddisch verständigen müsse, um das jüdische Proletariat zu erreichen. 52 Marcel Proust (1871–1922) war ein bedeutender französischer Schriftsteller, Michel de Montaigne (1533–1592) ein Jurist und Essayist. 53 Besonders berühmt wurde die mitreißende Parteihymne „Di Shvue“ („Der Schwur“), die mit der Zeile beginnt: „Brider un shvester fun arbet und noyt“ („Brüder und Schwestern in Arbeit und Not“) – eine für die damalige Zeit einmalige Einbeziehung weiblicher Parteimitglieder. Schöpfer dieser 1902 neu verfassten Version war der Schriftsteller und Forscher Semjon Akimowitsch Anski (1863–1920, eigentlich Schlojme Zejnvil Rapoport).

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ne Domäne. Und Jiddisch war die Sprache, die ihn mit den Volksmassen, jetzt den jüdischen, verband. Diejenigen, die in diesem Moment sich organisatorisch unter den jüdischen Arbeitern in Litauen oder Polen, also auch in Warschau, betätigten, waren die unmittelbaren Vorläufer des „Bund“; sie mussten sich aber noch meist der russischen oder polnischen Sprache bedienen, da ihre Kenntnisse des Jiddischen für ein Referat oder eine politische Diskussion nicht ausreichend waren. Auch mir erging es nicht anders. Mir wurden von Tjoma zwei Arbeiterinnengruppen zugeteilt, denen ich vorerst Unterricht in populärer Geschichte, Volkskunde und dergleichen erteilen sollte. Schon für diese Lehrfächer reichte mein häusliches Jiddisch nicht aus, und ich bediente mich der russischen Sprache. Das hat meinen Beziehungen zu meinen Schülerinnen und den ihrigen zu mir als Lehrerin keinen Abbruch getan. Und es gab kaum irgendwo eine Schülerschaft, die ihren Lehrern so zugetan war wie hier, und kaum anderswo Lehrer, die mit mehr Ergebenheit ihre Arbeit leisteten als wir, die wir uns im Dienste einer wichtigen Sache fühlten. Die Zugehörigkeit zur Arbeiterbewegung, die mit Aufbewahrung der illegalen Literatur und des Propagandamaterials verbunden war, auf die die Polizeispitzel mit besonderer Gier Jagd machten, verursachte viele Opfer unter den Anhängern der Bewegung. Die kleinste Unvorsichtigkeit oder Unbedachtsamkeit erweckte den Verdacht der Polizeiagenten, und eine Haussuchung oder Verhaftung waren die Folge. Dass nicht alle, die in der Arbeit sich gut bewährten, in der Einzelhaft, die die Regel war, standhalten konnten, bewies ein Fall, den ich zu beobachten Gelegenheit hatte. Die treue Lena, die wir alle gut kannten, wurde wegen Aufbewahrung verbotener Schriften verhaftet. Als sie nach einem halben Jahr entlassen werden sollte, weigerte sie sich mit allen Kräften, die Zelle zu verlassen. Denn in der Zelle sei Gott leibhaftig bei ihr erschienen, er habe zu ihr geredet, sei in hellem Schein als Mensch vor ihr gestanden, habe von Barmherzigkeit und Menschenliebe gesprochen. Sie wollte diesen geheiligten Raum nicht verlassen und nicht in die sündige Welt zurückgehen. Man musste sie mit Gewalt aus dem Gefängnis entfernen. Lena wurde für ein paar Tage, bis die Verwandten in der Provinz sie abholen kamen, von gemeinsamen Bekannten zu uns in die Wohnung gebracht. Sie blieb abwesend und in sich versunken, obwohl sie uns alle erkannte und beim Namen nannte. Sie erzählte auch uns, wie Gott bei ihr

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erschienen sei, und sagte dann unvermittelt: „Habt ihr schon einmal Lermontow richtig gelesen? Ich habe ihn mir in der Zelle auswendig vorgesagt, und da erst erkannte ich, welche verborgenen Tiefen in ihm liegen, die niemand bisher ergründet hat.“ Lena erholte sich langsam in häuslicher Pflege, aber die Spuren des überstandenen Nervenschocks wichen nie ganz von ihr und zeichneten sie als Sonderling. Die Spitzelfurcht war die natürliche Folge der ständigen Gefahr, die über jedem in der illegalen Arbeit Stehenden wie ein Damoklesschwert hing. Und die einzige Abwehr konnte nur sein – Konspiration. Diese Konspiration jedoch überstieg zuweilen die Grenzen des absolut Nötigen und nahm oft peinliche, ja selbst groteske Formen an. So schien es wenigstens denen, die ihrer Natur nach – wie ich selbst – alle Geheimtuerei, alle übertriebene Vorsicht nicht vertragen. Mir erschien diese übertriebene Konspiration zuweilen als fixe Idee oder als Pose und Getue. Man erwiderte mir oft, ich spreche so, weil ich noch nicht von einem Polizeispitzel Tag um Tag und Schritt für Schritt verfolgt gewesen sei. Das verhinderte jedoch nicht, dass bei uns im Chor revolutionäre Lieder laut gesungen wurden, die allein schon genügt hätten, die Beteiligten zu politischen Verbrechern zu stempeln und in die Zitadelle zu bringen. Besonders beliebt war die polnische Arbeiterhymne mit dem Refrain „Marsch, marsch, Warschawa“! 54 Diese schöne, klangvolle Melodie prägte sich Herz und Ohr so ein, dass man sie noch zu hören glaubte, wenn sie schon längst verklungen war. Ich glaube, noch im Schlaf hörte ich diesen Klang. Drollig war, wenn man auf der Straße unbewusst „Marsch, marsch, Warschawa“ leise vor sich hin summte, und ein Entgegenkommender, ein Student oder ein anderer

54 Möglicherweise meint Nadja Strasser das polnische Lied „Noch ist Polen nicht verloren“, das seit 1927 – leicht verändert – die Nationalhymne des Landes ist. Die erste Zeile des Refrains lautet: „Marsch, marsch, Dąbrowski“. Jan Henryk Dąbrowski (1755–1818) war ein polnischer General, der eine wichtige Rolle in den polnischen Freiheitskämpfen spielte. Er kommandierte u. a. die polnischen Legionen während Napoleons Italienfeldzug. In diesem Zusammenhang verfasste Józef Wybicki (1747–1822) 1797 das erwähnte Lied, mit dem er das Verlangen ausdrücken wollte, dass der General die polnischen Truppen zurück nach Polen führen solle, um die Unabhängigkeit des Landes wiederherzustellen.

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Passant, dasselbe Lied ebenso leise vor sich hin pfiff. Da wusste man, dass man zueinander gehörte. Am nächsten aus unserem Bekanntenkreis, von den Schülerinnen abgesehen, stand mir ein junges Mädchen namens Rosa. Es war ein wunderliches Wesen, groß, schlank, mit schmalem, kindlichem Gesicht, wirren braunen Locken und funkelnden dunklen Augen. Ihre Familie, die früher in Moskau gelebt hatte, war nach Warschau übergesiedelt, als infolge eines Ukases der Zarenregierung alle Juden – bis auf eine kleine Kategorie: „Kaufleute erster Gilde“ – Moskau verlassen mussten. 55 Rosas Vater, ein religiös frei denkender Mann, gebildet und belesen, war in Moskau Büroangestellter gewesen. Die zwei erwachsenen Söhne hatten dort die Schauspielerschule besucht. Rosa war damals noch im Vorschalter gestanden. In Warschau fand der Vater weder Stellung noch sonstige Verdienstmöglichkeiten. Die zwei Söhne traten gelegentlich im Varieté und in kleinen Theatern in stummen Rollen auf. Davon lebte die Familie sehr ärmlich in einer der schmalen Gassen des jüdischen Viertels, ohne sich in dem neuen Milieu assimilieren zu können. Ihrer Sprache, ihrer Kultur und ihrer Unfrömmigkeit nach blieben sie hier Fremde und fanden bei den ansässigen Juden wenig brüderliche Gefühle, wurden im Gegenteil mit gewisser Verachtung angesehen. Nicht selten bei kleinen Zwischenfällen wurde ihnen das Wort „Moskowitische Hunde“ zugeworfen. Rosa hatte unter diesen prekären Verhältnissen nie einen richtigen Schulunterricht genossen. Das Elementare, was sie gelernt hatte, stammte vom Vater und den Brüdern, soweit diese Letzteren Zeit hatten, sich der kleinen Schwester zu widmen. Aber durch einen der Brüder lernte Rosa später ein junges Mädchen kennen, die zu den russisch-jüdischen, intellektuellen Kreisen gehörte, sich Rosas warm annahm und sie mit anderen Studierenden in Verbindung brachte. Auf diese Weise kam sie in das revolutionäre Milieu. Auch meine Schwester und ihre Kollegin gewannen das schlanke, hübsche Mädchen bald sehr lieb, behielten sie oft zu den Mahlzeiten bei sich 55 Nach der Ermordung des Zaren Alexander II. 1881 wurden die meisten der Zugeständnisse, die zuvor der jüdischen Bevölkerung gewährt worden waren, wieder zurückgenommen. Dazu gehörte, dass in den 1890er Jahren Juden, die sich in Moskau hatten niederlassen dürfen, bis auf wenige Ausnahmen die Stadt und das Gouvernement verlassen und in den sogenannten Ansiedlungsrayon zurückkehren mussten. Vgl. zum Ansiedlungsrayon die Abbildung in: Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden. 4. Aufl. München 1998, S. 81.

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und bereiteten ihr für die Nacht ein Lager auf dem Sofa, um ihr den weiten Weg nach dem Elternhaus zu ersparen. Rosa nahm einfach und gern alle diese Sympathiebeweise hin und fühlte sich als Zugehörige in jeder dieser kleinen Gemeinschaften. So lernte auch ich sie kennen. Kurz vorher hatte ihr Vater, des Elends überdrüssig, sich das Leben genommen. Die Freundinnen Rosas, die erst durch diese Tragödie in die traurigen Verhältnisse, unter denen sie lebte, Einblick genommen haben, schlossen sich ihr umso enger an. Rosa wohnte jetzt ganz bei uns und ging nur von Zeit zu Zeit in die alte Behausung, um die Mutter und die Brüder zu besuchen. Alles war an Rosa unberechenbar. Ihre Gedanken, ihre Bewegungen, ihre Gefühle. Sie schrieb Gedichte, rasche, flimmernde Stimmungen voll Klang und Rhythmus, die aber meist Bruchstücke blieben. Spät in der Nacht oft, wenn sie schon im Bette lag, fiel ihr plötzlich ein Vers ein, sie stürmte zum Tisch, warf hastig ein paar Strophen hin und legte sich wieder nieder. Dann kümmerte sie sich nicht wieder um das Geschriebene. Ohne je etwas Systematisches gelernt zu haben, griff sie alles gleichsam aus der Luft auf, dann saß es aber fest in ihr. So hatte sie auch die Idee des Sozialismus erfasst, ohne je ein Wort darüber selbst gelesen zu haben; sie war mit Leib und Seele Revolutionärin, jede Stunde zu den größten Opfern bereit. Auch ihre Gedichte gaben fast nur revolutionäre Stimmungen wieder. Um das Leben der Arbeiter kennen zu lernen und es zu studieren, trieb sie sich in den weit draußen gelegenen Fabrikvierteln Warschaus herum und gab dann in ihren Gedichten das Bild ihres eigenen Zustandes wieder: Sie sah an Stelle der grauen Fabrikgebäude mächtige Festungen und sah die Bataillone der Arbeiter dagegen Sturm laufen. Einfach und offen in allen Dingen war Rosa doch in mancher ihrer innerlichen Empfindungen scheu und zurückhaltend. Niemand von uns merkte, dass sie im Stillen eine heiße Liebe zu einem unserer gemeinsamen Bekannten gefasst hatte, dessen Zuneigung zu Rosa uns bekannt war. Vielleicht wusste oder ahnte er auch die ihrige, doch erst durch äußere Umstände wurde ihre heimliche Liebe zu einer offenen. Es war der erste Mai, der abends heimlich gefeiert wurde. Wir versammelten uns – etwa 50 bis 60 Personen – unter den nötigen Vorsichtsmaßregeln in der Wohnung eines polnischen Genossen, die in einer ganz entlegenen Straße lag. Man kam vereinzelt oder doch höchstens zu zweit hin; niemand durfte nach der Straße fragen, und diese in der Dunkelheit zu finden, war keine leichte Aufgabe. Trotz alledem war es sehr gemütlich und

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lustig. Die zwei großen Zimmer der Wohnung waren mit den Porträts von Marx, Engels und Lasalle geschmückt. 56 Wir hatten eine Blumengirlande mitgebracht, welche Rosa feierlich um die Bilder legte. Einer der Anwesenden hielt eine Ansprache und wies auf die Bedeutung hin, die dieser Tag für die Arbeiterschaft hatte. Eine Arbeiterin, Schiffra, ernst und tüchtig in der Bewegung, im gewöhnlichen Leben aber oft übermütig und lustig, mit viel Humor, schritt von einer Gruppe zur anderen und höhnte lachend die „Intelligenzler“: „Hoch das Proletariat! Wir sind Trumpf!“, rief sie ausgelassen. „Was seid ihr? Was wärt ihr ohne uns? Platz den Proletariern und Proletarierinnen!“ In einem der Zimmer befand sich ein Buffet, wo Tee, Kuchen und belegte Brote gereicht wurden. Und alle griffen wacker zu. Was indessen die anfänglich so fidele Stimmung nach ein paar Stunden herabsetzte und trübte, war der Umstand, dass Leo nicht kam. Man glaubte erst, er hatte sich verspätet, aber Stunde um Stunde verging, und er erschien nicht. Man wunderte sich und wurde schließlich unruhig, besonders diejenigen unter uns, die wussten, dass Leo vor ein paar Tagen an die Grenze gereist war, um einen Transport revolutionärer Schriften in Empfang zu nehmen. Noch nie bisher war Leo bei der Durchführung dieser gefährlichen, ihm aber gewohnten Aufgabe etwas zugestoßen. Doch, war auch diesmal alles gut gegangen, hätte er unbedingt heute zurück sein müssen. Das Ausbleiben unseres geliebten Genossen ließ Böses ahnen, und diejenigen, die die Sachlage kannten, waren um ihn in größter Besorgnis. In bangen Gefühlen gingen wir schließlich auseinander. Am folgenden Vormittag erschien Michael, Rosas Freund, ganz verstört bei uns: Leo war gefasst worden! Zwei der leitenden Genossen, die in unmittelbarer Verbindung mit Leo standen, waren bereits in der Nacht verhaftet worden. Mittags kam auch Schiffra, die lustige Arbeiterin, die gestern so ausgelassen war, zu uns herauf. Sie ließ sich blass und still auf einen Stuhl nieder und wiederholte immer wieder: „Leo verhaftet! Leo verhaftet! Kinder, was kommt nun?“ 56 Ferdinand Lasalle (1825–1864) war ein Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie. Als genossenschaftlich eingestellter Vertreter der Arbeiterbewegung, der über Verhandlungen mit dem Staat und über Wahlen Fortschritte erreichen wollte, stand er im Gegensatz zur marxistischen Lehre.

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Erfahrungsgemäß wusste man, dass diesen wichtigen Verhaftungen eine Reihe anderer folgen würde. Für diejenigen, die sich unsicher fühlten, gab es nur eines: schleunigst Warschau verlassen. Unter den stark Kompromittierten befand sich auch Michael. Er beschloss, nicht mehr in seine Wohnung zurückzukehren, sondern sich bei einem Freund versteckt zu halten. Aber das bedeutete höchstens einen kleinen Aufschub. Wohin verreisen? Michael lebte von Privatstunden; verstand sich sehr wenig auf praktische Dinge. Die Aussicht, rasch irgendwo unterzukommen und seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, war für ihn gleich Null. Aber er musste gerettet werden, daran lag uns umso mehr, als Rosa, die bisher ihre Liebe zu Michael nie deutlich hervortreten ließ, sich jetzt völlig verzweifelt gebärdete. Sie saß starr und regungslos da mit abwesendem Blick, die dünnen, feinen Hände verkrampft, sprach kein Wort und fuhr von Zeit zu Zeit nervös zusammen. Jeder von uns machte einen Rettungsvorschlag, der aber bald wieder abgelehnt werden musste. Schließlich kam ich auf einen Gedanken, der uns durchführbar und hoffnungsvoll erschien. Ich dachte an Frau Lindin, Ratows Schwester, die wie immer ruhig und friedlich in P. wohnte. Ich hatte mir ihr nicht korrespondiert, aber wir sandten uns durch andere gelegentlich freundschaftliche Grüße. Ich schrieb ihr nun und fragte, ob sie Michael in P. zu Privatstunden verhelfen könnte. Die Antwort kam prompt. Frau Lindin schrieb, er käme sehr a propos [!], da die bisherige Lehrerin ihrer zwei Kinder vor kurzem P. verlassen habe, und sie so wie einige andere Mütter sich freuen würden, wieder einen erfahrenen Lehrer für ihre Kinder zu bekommen. 57 Welche glückliche Fügung! Unsere Freude war groß. Rosa sollte mitfahren und mit Michael zusammenbleiben. Rosa erwachte aus ihrem Starrkrampf und fuhr sich vor freudiger Erregung immerzu mit beiden Händen durch die braunen Locken. Wir überlegten, ob es nicht auch für mich ratsamer sei, Warschau im Moment zu verlassen. Tjoma redete mir dringend zu. Wenn ich auch noch wegen der Kürze der Zeit bis dahin kaum unter den Verdächtigen figurierte, so konnte ich es, wenn ich meine Tätigkeit fortsetzen wollte, jede Stunde werden. Denn nun war, nachdem leitende Personen festgenommen worden waren, eine verstärkte Spionenjagd auf alle Zugehörigen der Gruppe unaus57 Der Begriff „a propos“ in diesem Satz ist unpassend, Nadja Strasser meinte sicherlich „sehr gelegen“.

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bleiblich. Tjoma selbst, dessen Familie in Warschau ansässig war, hatte die Möglichkeit, leichter durch die Maschen des Gendarmerienetzes durch zu schlüpfen. Für andere gab es keine Chance außer dem blinden Zufall. Dem wollte ich mich, besonders mit Rücksicht auf meine Schwester und die Freundin, deren Existenz an Warschau gebunden war, nicht aussetzen. Wir beschlossen, dass ich zusammen mit Michael und Rosa abreise. Ich entschied mich, auf dem Wege nach Novodub den kleinen Umweg über P. zu machen, die beiden dort unterbringen zu helfen, und bei dieser Gelegenheit einmal wieder Frau Lindin zu sehen. Wir machten in aller Eile die nötigen Vorbereitungen. Unter den Arbeitern, die zu meinen Unterrichtsgruppen gehörten, waren besonders drei, von denen ich wusste, dass sie meine Abreise schmerzlich treffen würde. Die rundliche, rotwangige, aber sensible Genia, die in einer überschwänglichen Weise an mir hing. Sie litt hie und da an Nervenzusammenbrüchen, und ich musste mich dann wie eine Krankenschwester um sie bemühen; ihr die Stirn streicheln, ihre Hände festhalten, ihr leise tröstliche Worte flüstern, – das beruhigte sie und sie sah mich dann mit dankbarem Blick an. Während des Unterrichts und den daran anknüpfenden Unterhaltungen, freute sie sich über jeden neuen Gedanken, den sie glaubte gefunden zu haben. Sie suchte mich gern in einer freien Stunde auf, saß still in der Sofaecke, beobachtete teilnahmsvoll, wenn ich mit etwas beschäftigt war, und wartete, bis ich Zeit hatte, mit ihr über das, was sie im Augenblick besonders interessierte, zu sprechen. Mir tat es leid, dieses Mädchen sich selbst überlassen zu müssen. Die zweite war ein junges Mädchen von 16 Jahren, zart und dünn. Sie war aufgewachsen und lebte auch jetzt noch unter schlimmen Familienverhältnissen, wo Bosheiten, Zank und Streit eine ständige Erscheinung waren. Sie litt furchtbar darunter, schämte sich ihrer rabiaten, zanksüchtigen Mutter und traute sich nicht, mit jemandem darüber zu sprechen. Mir vertraute sie sich an, erzählte weinend von all diesem Elend, bat mich in verschiedenen Fällen um Rat. Sie war Lehrmädchen in einem Schneideratelier. Von Kameradinnen in ihrem Alter mit hinzugezogen, schloss sie sich dem Unterrichtszirkel mit Leib und Seele an. Der Besuch der Kurse war für sie, was für andere in gleicher seelischer Bedrängnis der Besuch der Kirche ist: Hier fühlte sie sich dem Bösen entrückt, gereinigt, geläutert. Sie verstand nicht viel von dem, was über den Unterschied der Klassen und andere Probleme gesprochen wurde, aber sie fühlte, dass hier vom Menschsein und von menschlicher

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Würde die Rede war. Und wenn wir gelegentlich allein waren, äußerte sie sich darüber in naiven und ungeübten Worten. Ich trug mich mit Plänen und Gedanken, wie es zu ermöglichen wäre, dass dieses junge Wesen das unheilvolle Elternhaus verlassen konnte. Mein Weggang bedeutete einen großen Verlust für das junge Mädchen. Es gab noch eine junge Arbeiterin in einer der Gruppen, die einen ganz besonderen Fall darstellte, und die meine Abreise ebenfalls sehr treffen musste. Eine Freundin hatte mich auf sie aufmerksam gemacht und mir vom Schicksal dieses jungen Mädchens erzählt. Sie heiß Rivka und war jetzt ebenfalls etwas über 16 Jahre alt. Rivka wuchs in großer Armut auf. Ihre Mutter, früh verwitwet, schlug sich mit gelegentlichen Hilfsarbeiten in verschiedenen Haushaltungen durch. Sie nahm manchmal die Kleine in ihre Arbeitsstelle mit, wo diese ihr an die Hand ging, besser aß und Leute sah, die ihr als sehr vornehm erschienen. Bei einer solchen Gelegenheit sah meine Freundin die kleine Rivka und interessierte sich für sie. Sie beschenkte sie manchmal mit dem und jenem und – da das Kind nie in einer Schule gewesen war – lehrte sie sie nach und nach lesen und schreiben. Mit Hilfe meiner Freundin kam sie mit 12 oder 13 Jahren als Lehr- und Laufmädchen in einen kleinen Kunstblumenbetrieb. Das Mädchen war im Gegensatz zu ihrer robusten Mutter zart, hatte ein blasses Gesicht und dunkle Augen, die durch einen scheuen, oft ängstlichen Ausdruck auffielen, obwohl ihre Mutter nicht streng mit ihr umging, im Gegenteil: soweit es unter diesen Verhältnissen möglich war, sie liebevoll behandelte. Rivka hängte sich innig an meine Freundin, wenn es auch nur schüchtern zum Ausdruck kam. Nach und nach wurde sie zutraulicher, und eines Tags berichtete sie ihr ihre Not. Rivkas Mutter hatte eine Schwester, die ein trauriges Metier ausübte. Sie war Vorsteherin eines ärmlichen, kleinen „Freudenhauses“, vermietete zwei Zimmer an Mädchen, die von der Liebe lebten. Diese Tante kam oft zu Rivkas Mutter und erzählte von dem Leben, das sich in ihrer „Pension“ abspielte, schilderte im Einzelnen die Insassinnen und die Besucher, sprach von dem lustigen, oft ausgelassenen Treiben in ihrem Häuschen. Rivka hörte das alles mit neugierigen Ohren. Manchmal sprachen die Frauen mit gedämpfter Stimme mit Rücksicht auf Rivka. Das irritierte und intriguierte [!] das Mädchen, nach all dem, was sie bereits gehört hatte, umso mehr. Die Frauen lachten oft aus voller Kehle oder kicherten geheimnisvoll, indem sie sich gegenseitig mit dem Ellenbogen anstießen. All das weckte nach und nach in

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Rivka den unwiderstehlichen Drang, als Pensionärin in das Haus ihrer Tante zu ziehen und ebenso zu leben, wie die anderen Mädchen bei ihr. Sie wusste, dass es eine Schande war, so zu sein wie diese Mädchen; sie wusste, dass es ein unsittliches Leben war, das sie führten, dass diese Mädchen verdorbene, verworfene Geschöpfe waren. Sie wollte kein schlechtes Mädchen sein, sie wollte keinen Schandberuf ausüben. Aber der Drang in ihr wuchs mit jedem Besuch ihrer Tante, es zog sie mit Gewalt dorthin, und sie kämpfte einen heimlichen, zermürbenden Kampf und fürchtete zu unterliegen. Sie irrte oft abends durch die Straßen und weinte. Sie blieb in ihrer Arbeitsstelle länger als alle anderen, aber endlich musste sie doch nach Hause gehen. Sie hing an ihrer Mutter, aber sich ihr zu eröffnen, traute sie sich nicht; und sie glaubte auch nicht, dass es etwas ändern würde. In dieser Bedrängnis wandte sie sich an meine Freundin, ihre Wohltäterin, erzählte ihr alles und bat weinend, ihr eine anderweitige Unterkunft zu verschaffen. Es gelang meiner Freundin nach eifrigem Suchen endlich für Rivka eine Lehrstelle in einem ähnlichen Betrieb zu finden, wo sie auch wohnen konnte. – Im Kursus war Rivka die stillste und eifrigste Schülerin. Sie verfolgte jedes Wort, bemühte sich, alles zu verstehen und zu erfassen. Merkte sie, dass es ihr gelungen war, eine befriedigende Antwort auf eine an sie gerichtete Frage zu geben, leuchtete ihr Gesicht mit den umflorten Augen vor Freude auf. Und sie hatte fast immer intuitiv eine zutreffende Antwort und erfasste, worauf es ankam. Das Aufhören oder zumindest zeitweise Unterbrechen der Kurse bedeutete eine unausfüllbare Lücke in ihrem Leben. Ich tröstete mich nur damit, dass ihre treue Beschützerin sich ihrer immer annehmen würde. Drei Tage später standen wir auf demselben Perron, auf dem ich vor zehn Monaten angekommen war. Wieder standen Bella und ihre Freundin in einer Gruppe junger Menschen, die sich mit gemachter Sorglosigkeit Abschiedsworte zuriefen. Jeder vermied es, anderen die Stimmung noch mehr herunterzudrücken. Ich sagte meiner Schwester: „Auf baldiges Wiedersehen!“, denn sie sollte im Sommer, wenn sie Urlaub haben würde, nach Hause kommen, um Eltern und Geschwister zu besuchen. Mir war ganz seltsam zu Mute, als ich mich unter so veränderten Verhältnissen wieder in P. sah. Die Veränderung war übrigens mehr auf meiner Seite, denn in P. hatte sich das Leben nicht allzu sehr verändert. Ich traf frühere Bekannte, die in alter Weise lebten und ihren Geschäften nachgingen. Unter meinen Altersgenossinnen hatten sich manche bereits verheiratet,

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andere waren im Begriff es zu tun. Meine einstige intimste Freundin Gitta mit dem dunkelbraunen Lockenkopf und Funken sprühenden, schwarzen Augen war reifer geworden, hatte das Kindliche verloren, war aber genau so hübsch. Ihr Vater, früher ein Kaufmann von mittlerem Wohlstand, war inzwischen durch glückliche Holzgeschäfte ein reicher Mann geworden und Chef einer großen Handelsfirma. Sie bewohnten ein großes, herrlich gelegenes Haus und führten einen pompösen Haushalt. Gitta, die ältere von zwei Geschwistern, schon immer verwöhnt und gehätschelt, hatte jetzt Anspruch auf einen Freier ersten Ranges. Solcher fand sich im kleinen P. nicht. Aber durch Vermittlung gelang es den Eltern, mit einem passenden Bewerber für die Hand ihrer Tochter in Verbindung zu treten. Er war ein junger Arzt aus achtsamer Familie, dem Gittas Mitgift zu einer guten Praxis in der Großstadt verhelfen sollte. Durch eine vorgeschobene Reise hatte Gitta Gelegenheit, den angehenden Bewerber kennen zu lernen. Gitta gewann die Partie nicht. Mit der ihr eigenen Offenherzigkeit und in alter Anhänglichkeit berichtete sie mir von dem peinlichen Erlebnis, unter dessen Wirkung sie noch immer stand. Der junge Doktor, mit dem sie sich traf, gefiel ihr außerordentlich. Dass auch er an Gittas Erscheinung nichts auszusetzen hatte, durfte angenommen werden. Aber er erklärte ihrem Vater: „Mein Herr, der Mangel an genügender Bildung steht im Gegensatz zu der Schönheit Ihrer Tochter und Mitgift. Ich verlange von meiner Lebensgefährtin, dass sie an Bildung mir selbst nicht zu sehr nachstehe.“ – Damit war Gitta eine tiefe Wunde geschlagen und sie weinte, als sie es mir erzählte. „Siehe“, sagte sie, „ich bin Deinem Weg nicht gefolgt. Ich blieb eine gehorsame Tochter meiner Eltern. Ich glaubte, man kann auch in der alten Weise glücklich und zufrieden leben. Aber nun, was habe ich davon!“ Gitta wurde die bestzahlende Schülerin Michaels. Sie bemühte sich fleißig, sich Geschichte und Literatur anzueignen. Gitta verheiratete sich auch einige Zeit später mit einem Doktor, wie es ihr Wunsch war. Es bleibt nur dahingestellt, ob gerade Michaels Stunden dabei den Ausschlag gegeben haben. Ich blieb zwei Tage in P. Mit Hilfe Frau Lindins waren Michael und Rosa noch am selben Tage glücklich untergebracht. Es war ein kleines Häuschen, das in einer schmalen Seitengasse mitten unter Gemüsebeeten mit Sträuchern stand und einer alten Frau, einer halben Bäuerin, gehörte. Über dem Flur lag das Zimmer der Besitzerin des Häuschens, in dem die ganze rechte

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Ecke mit bereits angedunkelten Heiligenbildern bedeckt war. Das Ganze war ein Idyll, und Rosa glänzte das Glück aus den Augen. Wie viele Gedichte, die nie zu Ende geschrieben wurden, mochten da später entstanden sein! Abends saß ich allein mit Frau Lindin. Wir sprachen von den früheren gemeinsam erlebten Dingen. Ich musste ihr von mir erzählen, und sie berichtete ihrerseits alles, was ihre Familie betraf. Sie erzählte auch von dem Bruder, der mit der alten Zärtlichkeit an sie und die Kinder aus Paris schrieb. Ob er glücklich, ob er zufrieden war – ich fragte sie nicht danach. Was konnte sie mir auch sagen? „Ich vermutete eine Zeit lang, Dina“, sagte sie dann, „dass Sie und Sascha noch durch ein anderes, bleibendes Band miteinander verbunden waren.“ Und da ich schwieg, fügte sie hinzu: „Man sieht menschlichen Seelen nie auf den Grund.“ Ich sagte nichts, sah in ihre gütigen Augen und drückte ihre liebe Mutterhand mit beiden Händen. Dann gingen wir zu den Angelegenheiten der Stunden für Michael über. Am nächsten Tage fuhr ich nach Novodub ab. Am Abend nach meiner Ankunft im Elternhause, und nachdem alle schon zur Ruhe gegangen waren, saß ich mit Mark allein im Zimmer. Nach einigem Schweigen fragte er mich: „Also wie ging es Dir eigentlich? Erzähle!“ Statt einer Antwort auf seine Frage sagte ich: „Ich bin müde, Mark!“ und fügte scherzhaft hinzu: „lebensmüde.“ Er schwieg eine Weile. Dann sagte er: „Ich habe über Dich in der letzten Zeit viel nachgedacht. Du verbrauchst Dich in Dingen, die – verzeih, dass ich es sage – meiner Meinung nach ohne Nutzen für Deine Zukunft sind und Dich nicht vorwärtsbringen. Ich will Dir einen Vorschlag machen. Ich bleibe noch einige Zeit hier im Geschäft. Wie lange? Du weißt, ich bin darüber mit mir selbst noch nicht im Klaren. Ich bin aber der Meinung, dass Dir die Möglichkeit gegeben werden muss, ein Studium zu ergreifen und will dafür sorgen, dass Dir wenigstens für die ersten Jahre die Mittel dazu gegeben werden. Du weißt: Würdest Du jetzt heiraten, so wäre eine bestimmte Summe, auf die jede von Euch noch immer rechnen kann, sofort da. Sag aber mal unserem Großvater, er soll Dir die Hälfte dieser Summe für Studienzwecke geben … Wir wissen beide, wie seine Antwort lauten würde. Immerhin, ich will es durchsetzen, dass Du reisen kannst und ein paar Jahre gesichert bist. Ich rechne mit Deinen Fähigkeiten und denke, es müsste Dir doch ein Leichtes sein, Dir später durch Übersetzungen oder journalistische Arbeit eine Existenz zu schaffen.“

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Mir kam das so überraschend, dass ich es noch kaum zu fassen vermochte. Ich war gerührt, aufgeregt, froh und traurig zugleich. Ich konnte nur aufrichtig, aus tiefstem Herzen ausrufen: „Du bist ein guter, guter Kerl, Mark!“ Dann wünschte ich ihm gute Nacht und sagte, ich wollte über die Sache nachdenken und morgen mit ihm weitersprechen. Ich blieb die halbe Nacht wach. Tausend Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Endlich sollte ich dorthin, wohin es mich so lange schon rief, hinaus, in die ferne, große Welt. Lernen, studieren, arbeiten, Kultur genießen. Bebel und Viktor Adler hören. Große Arbeitermeetings besuchen. Ein Wirbel von Empfindungen zog durch meine Seele. Ich fühlte mich auf einmal gekräftigt und gestärkt. Mir war, als spannten sich meine Muskeln. Das Leben rief: „Hinaus! Hinaus!“ Mark nahm es auf sich, die Geldseite zu ordnen. Die Eltern für den Plan zu gewinnen, bedurfte es jetzt keiner Mühe mehr. Auch alles andere erledigte Mark in seiner Weise, still und ohne viele Worte. Noch bevor die Feiertage zu Ende gingen, war meine Reise beschlossene Sache. Auch die komplizierte und langwierige Geschichte der Besorgung eines Auslandspasses ging durch Marks Zutun rasch vonstatten. Die Mutter sorgte inzwischen für die nötige Ausstattung für mich. Meiner Schwester Anjuta, die gerade die Mittelschule beendet hatte, durch Unterricht sich ein Taschengeld verdiente und ungeduldig weitere Berufspläne erwog, sagte ich voll Zuversicht: „Warte ab, Du kommst mir nach.“ Nur meine kleinen Geschwister sahen ein wenig melancholisch meiner bevorstehenden Reise entgegen: „Jetzt kommst du lange nicht mehr nach Hause“, sagte Sima traurig. Ich versicherte ihnen, dass ich sie im Sommer besuchen werde. Aber sie glaubten mir nicht. – Ahnten die kleinen Herzen, dass die Trennung eine viel, viel längere werden würde, als ich selbst damals dachte? Anjuta blieb dann auch nicht mehr lange im Elternhause und schaffte sich durch Unterricht in einer benachbarten Stadt eine eigene vorläufige Existenz. Sie war die erste, die ich nach nicht allzu langer Zeit in der Fremde an meiner Seite sah. Der kleine Altersunterschied hat sich allmählich verwischt, wir waren Kameradinnen, und sie fragte mich nicht mehr: „Sag mir, wo der Sinn des Lebens ist.“ Sie suchte ihn selbst zu erfassen, oder überließ es, wie die anderen auch, den Berufeneren, nach dem ewigen Sinn zu forschen.

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Übrigens verließen später auch die übrigen Geschwister, flügge geworden, einer nach dem anderen das alte Nest. Jeder ist seinen Weg gegangen und jeder hat seinen Beruf gefunden. Wenn die blonde Manja, die als Schulkind so gerne von der Chemie hörte, auch nicht Chemikerin geworden ist, so hatte ihr Beruf doch mit der Chemie des menschlichen Lebens etwas zu tun. Und wenn von den zwei jüngeren Brüdern keiner den technischen Erfindergeist des Vaters geerbt – vielleicht, weil es nicht die Zeit der Erfindungen, sondern der praktischen Arbeit war –, so waren sie doch gute Techniker geworden. So wirkte eine Zeit sich aus. In weniger als einer Generation verwandelte sie die Gruppe kleinbürgerlichen Menschen aus der kleinen russischen Provinz in Zugehörige der internationalen Intelligenzschicht. Welcher der beiden Faktoren dabei den Ausschlag ab: die einem Gesetz folgende Zeitströmung oder der individuelle Wille und die Fantasie des Menschen, das ist nicht leicht zu bestimmen. Beides muss jedoch da gewesen sein. [Es folgt ein unlesbarer, da im Original überklebter Abschnitt, der sich auf den Bruder oder Verlobten/Ehemann der Freundin Lia bezieht.] Davon hingen auch Lias weitere Pläne ab; es war ungewiss, ob sie ihr Studium beenden oder eventuell abbrechen würde. Die Schweiz, damals der Aufenthaltsort vieler studierender Russen und Russinnen, lockte mich nicht. Ich wollte dorthin, wo das große Leben pulsierte: in eine europäische Hauptstadt. Ich wollte das politische Leben in seinen Brennpunkten sehen. Es lag nahe, Berlin zu wählen. Dort befand sich Nahum und stand gerade vor dem Abschluss seines Studiums als Arzt. Unsere Beziehungen hatten sich seit meinem Aufenthalt in M. klar gestaltet und zwar im negativen Sinne. Nahum hatte mich in Warschau auf der Durchreise nach seinen letzten Ferien besucht. Er blieb einen Tag da. Er hatte keine direkte Frage an mich gerichtet. Aber sie hing wie ein trennender Schleiervorhang zwischen uns. Ich wusste, dass er gekommen war, um sich selbst die Antwort zu geben, die ich ihm hätte geben sollen. Er berichtete seiner Schwester dann über diesen Besuch in Warschau, und Lia schickte mir seinen Brief: „In Dinas Verhalten war nichts“, schrieb Nahum, „was mich hätte enttäuschen können, bis auf das eine, auf das es ankommt. Damit ist ein Definitivum geschaffen worden, und so war mir dieses Zusammensein von Wert. Ich weiß nun, woran ich bin.“

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Das hinderte mich, nach Berlin zu gehen, da ich nicht wollte, durch mein Kommen, durch unausbleibliche häufige Begegnungen neue Irritationen entstehen zu lassen. Und so entschied ich mich für Wien, trotzdem ich dort niemanden kannte oder vielmehr, weil ich dort niemanden kannte. Ich sagte mir: „Du suchst Dir die Bausteine für den zukünftigen Bau, in dem du hausen wirst, selbst zusammen.“ Mark und die anderen hatten gegen Wien nichts einzuwenden, da ihnen bekannt war, dass es dort viele studierende Russen und Russinnen gab. Ich teilte Graber mein Vorhaben mit und tat es in einer Form, in der ich noch nie bisher mit ihm gesprochen hatte. Ich war beim Schreiben von einem Gefühl tiefer Zuneigung, fast Zärtlichkeit zu ihm erfüllt, und die Sätze formten sich unwillkürlich, ohne meinen Willen. Nach den ersten sachlichen Mitteilungen schrieb ich ihm: „Wie gerne hätte ich mit Ihnen jetzt gesprochen, wie gerne hätte ich mich mit einem warmen Händedruck von Ihnen verabschiedet! Ich danke Ihnen für alles, was Sie mir gegeben haben. Es war sehr viel. Sie gaben mir Richtung. Diese brauchte ich, und Sie wussten, dass ich Sie brauchte. Aber Sie gaben mir auch Freundschaft und Liebe, und auch das brauchte ich. Was aber noch mehr ist: Sie wollten nichts von mir, und nahmen mich so, wie ich bin. Sie hielten es nicht für absonderlich, dass ich noch keine klare Linie für meine Zukunft gefunden habe, und tadelten mich nicht, dass ich sie auf meine eigene Art suchen will. Vielleicht fehlt es mir an jenem Künstlersinn, der einem sagt, wo Bewegung in Beharren übergeht. Ich hatte Alexander Ratow, der meinen Drang nach Bewegung und Weite erkannt und gestützt hatte, dadurch enttäuscht, dass ich für den Schlussakkord nicht bereit war. Ich hatte eine Schuld an ihn abzutragen und vermochte es nicht. War es Undankbarkeit? Ich weiß es bis heute nicht. Sie waren nach Ratow meine zweite entscheidende Etappe, und Ihnen gehören meine wärmsten Gefühle und werden immer – das verspreche ich Ihnen – gehören.“ Graber antwortete mit einem langen und ausführlichen Brief. Wie ich nicht anders erwartete, freute er sich für mich und sprach die Hoffnung aus, dass ich einen mich befriedigenden Weg finden werde. „Sie gehören“, schrieb er, „zu den Menschen – und ich setze mit Absicht hier das Wort Mensch statt Frau –, deren innerste Natur auf Dynamik eingestellt ist. Ich erinnere mich, wie Sie mir einmal erzählten, dass eines Ihrer stärksten Kindererlebnisse eine Zirkusreiterin war, die in schimmerndem Kleid tanzend auf dem Sattel des

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galoppierenden Pferdes durch alle Hindernisse hindurch schwebte. 58 Sie ähneln geistig – und es ist vielleicht der Erbteil, den Sie von Ihren Ahnen und von Ihrem Vater haben – dieser Zirkusreiterin. Sie müssen weiter, da nur in der Vorwärtsbewegung Ihr Halt ist. Ratow hatte es – das lag in seinem Wesen – richtig erfasst, als er Ihnen den ersten Schwung gab. Nur beging er den Fehler zu glauben, man könne Schwungrad und Bremse zugleich sein. Er wollte sie festhalten, als Mann – ist das nicht eigentlich normal? Aber das war in Ihrem Fall nicht seine Bestimmung, Sie für sich festzuhalten. Sie suchten in ihm das Irreale, das Allgemeine, den Vertreter einer Idee, mit der Sie Ihre eigenen Wege und Ihre Zukunft verbinden wollten. Wie fern waren Sie davon, plötzlich Halt zu machen und sich in die Rolle einer Geliebten oder einer um das persönliche Wohle eines Mannes sorgenden Lebensgefährtin hinein zu finden. Dass Ratow es übersah, war ein Fehler von ihm. Und ich bin sicher, dass er diesen Fehler später einsah, und dass es mitbestimmend für seine eigene Umorientierung gewesen ist. Ich glaube auch, dass diese Neuorientierung, die Umstellung auf eine reale geistige Basis gut und wichtig für ihn war. Und damit haben Sie ungewollt Ihre ‚Schuld‘, wie Sie sagen, bei ihm abgetragen. Doch all das ist Vergangenheit. Ratow als Person hat für Sie ausgespielt, doch Ratow als – ich finde keinen anderen Ausdruck – als Irrealität begleitet Sie noch immer und wird vielleicht Sie in Ihrem Such- und Bewegungsdrang auch weiter begleiten. Ich wünsche Ihnen, dass Sie vor allzu schweren Konflikten und Prüfungen bewahrt bleiben und eine glatte Bahn finden. Sollten Sie aber einmal müde werden und, wie die Reiterin im Zirkus, sich nach einem festen Punkt sehnen, denken Sie daran, dass es jemand gibt, der glücklich sein wird, Ihnen diesen festen Punkt ‚hinter der Manege‘ zu bieten.“ Graber fügte in einem Postskriptum hinzu: „Ich besitze seit einiger Zeit eine schöne, braune junge Dogge. Diese gehört Ihnen.“ Ich war von Grabers Brief tief bewegt und gerührt. Ich dachte: Ja, Du bist die Ruhe. Und mir fiel sogleich der Vers von Lermontow ein: „Doch wahnumfangen sucht er den Sturm, als wenn im Sturm die Ruhe wär.“

58 Der Satz wurde leicht verändert. Im Original: „Ich erinnere mich, wie Sie mir einmal erzählten, dass eines Ihrer stärksten Kindererlebnisse war – eine Zirkusreiterin, die in schimmerndem Kleid tanzend auf dem Sattel des galoppierenden Pferdes, durch alle Hindernisse hindurch schwebte.“

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Ich bin später oft in Konflikt mit Menschen, mit mir selbst und mit den Dingen gekommen. Unvorhergesehene Ereignisse kreuzten sich auf der Arena meines Lebens mit den eingeschlagenen Wegen und verursachten schmerzhafte Störungen. Doch nie habe ich den festen Punkt „hinter der Manege“ gesucht. Und wenn ich mich nach nicht allzu langer Zeit einem Mann anschloss, der mir einen Bund fürs Leben – so glaubten wir wenigstens damals beide – anbot, so war es eine gemeinsame Aufgabe und gemeinsame Arbeit, die uns verband. Meiner Freundschaft zu Graber und Lia haben die äußeren Geschehnisse jedoch nichts anzuhaben vermocht. Mit Lia korrespondierte ich regelmäßig und wir hielten uns gegenseitig über alles Wichtige auf dem Laufenden. Das Schicksal hat in Lias Leben seltsam eingegriffen und trotz der Klarheit und Gradheit ihrer Natur (am Ende vielleicht gerade deswegen) sie in innere Widersprüche verwickelt. Sie ist ihrem Mann, den sie liebte, nie nach Palästina, für das sie schwärmte, gefolgt und trennte sich nach anderthalbjähriger Ehe von ihrem Gefährten. Denn dieses Zusammenleben gewährte ihrer eigenen Tatkraft und ihren eigenen Fähigkeiten einen zu engen Platz. Sie wollte keine unbefriedigende Gemeinschaft mit all den deprimierenden oder degradierenden Aspekten des äußeren und inneren Zwanges für beide Beteiligten. Es lag in der damaligen Zeit, der Frühepoche der Frauenemanzipation, dass die Frau nur eine Alternative offen hatte – Ehe oder Beruf. Das brachte gerade die aufgeklärte Frau von damals, ob verheiratet oder unverheiratet – in tragische Konflikte. Die damalige Dichtung und Literatur spiegelte diese Konflikte und das ganze Problem. Ibsen wandte sich ihm mit all seiner großen Liebe zu, Strindberg mit all seinem großen Hass. In der realen Wirklichkeit lösten sich die Konflikte je nach Charakterlage der Betroffenen und noch mehr vielleicht nach den äußeren Umständen. Lia nahm ihr durch die kurze Ehe unterbrochenes Studium wieder auf und etablierte sich später als Landärztin in der Nähe ihres Heimatortes. Im damaligen, notorisch unfreien Russland, hatte diese Frau sich – um Jahrzehnte früher als irgendwo anders – volle Gleichstellung im Beruf, speziell im ärztlichen, erworben. Lias zarte Gesundheit hinderte sie nicht, ihren Beruf mit all der Pflichttreue und Ergebenheit, die ihr eigen war, zu erfüllen. Sie hatte sich selbst im zaristischen Russland Achtung und Auszeichnung erworben. Ich war stolz, sie in einem großen russischen Blatte an der Spitze einer Sanitätskolonne

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abgebildet zu sehen, die zur Bekämpfung einer Epidemie nach einer entlegenen Gegend abkommandiert wurde. Noch während ihrer Leipziger Studienzeit, ein paar Semester nach meiner Installierung in Wien, besuchte mich Lia. Ich hatte mich da bereits in das neue Leben und die neuen Verhältnisse völlig eingelebt. Nicht weniger als von den Vorlesungen an der Universität war ich von dem allgemeinen geistigen Leben Wiens gefangen genommen, besonders aber von den damals in hohen Wogen treibenden politischen Ereignissen. Wie mein Bruder Mark mir vorausgesagt hatte, fand ich bald Anschluss an ein russisches links stehendes Blatt, für das ich erst gelegentlich, dann regelmäßig Artikel und Feuilletons schrieb über die alten schönen Denkmäler Wiens, über das Kaffeehausleben und vor allem über die großen Arbeiterdemonstrationen für den Achtstundentag, die damals im Gange waren. Lia hatte für diese allgemeinen Angelegenheiten weniger Interesse, aber sie bewahrte ihr feines Ohr und ihr nie versagendes Einfühlungsvermögen bei allen persönlichen Dingen und Konflikten. Damit trug sie ihren alten gewohnten Teil in unserem Freundschaftsverhältnis auch diesmal bei. Auch später, als sie bereits in der Heimat war, benutzte Lia gerne ihre Ferienzeit, um gelegentlich ins Ausland zu gehen, und es war selbstverständlich, dass wir uns in solchen Fällen sahen. Sei es, dass sie mich besuchte, sei es, dass wir nach vorherigem Arrangement einige Sommerwochen anderswo verlebten. Zuletzt waren wir zusammen, als ich von sehr langer Abwesenheit von meiner Heimat dorthin zurückkehren durfte. Es war nicht mehr das alte Russland, es war das veränderte neue Sowjet-Land. Lia war zu dieser Zeit leitende Ärztin eines Tuberkulosesanatoriums für Kinder in der Wolgagegend. Es war eine weite, etwas umständliche Reise von Moskau dorthin, dennoch machte ich sie und blieb 14 Tage bei Lia. Das Sanatorium war ein nach allen modernen Grundsätzen und mit allen medizinischen Hilfsmitteln ausgestattetes Rekonvaleszentenheim für etwa hundert kranke Kinder in schulpflichtigem Alter. Ich hatte hier wieder einmal Gelegenheit zu bewundern, mit welcher Sicherheit, Umsicht und rastloser Ergebenheit Lia ihre verschiedenen Pflichten erfüllte, und wie sie es verstand, zwischen sich und ihren Mitarbeitern, von den Krankenschwestern und Lehrerinnen bis zum Verwalter und Hauspersonal, ein absolutes Vertrauensverhältnis zu schaffen.

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Nadja Strasser

Wie schon immer stand sie auch da abseits vom eigentlichen politischen Leben. Aber sie war in ihrer Aktivität von einem unverrückbaren sozialen Gewissen geleitet, das um sie eine geistige und moralische, weit über das Persönliche hinausgehende Atmosphäre schuf, der sich auch die anderen nicht entziehen konnten. Es war für mich fesselnd zu beobachten, wie die gemeinsame Aufgabe und die gemeinsame Pflicht eine Einheit zwischen der übersensiblen, grübelnden jüdischen Intellektuellen aus Litauen-Russland und den einfachen, kräftigen und etwas bäuerlichen schlauen Wolgamenschen herzustellen vermochte. In Lias Mußestunden am späten Nachmittag gingen wir öfters in den nahen Wald spazieren, und da waren die Vergangenheit und die Menschen der Vergangenheit meist das Thema unserer Gespräche. Dieser Zeiten gedenkend, als vieles von dem, was jetzt Verwirklichung fand, erst Theorie und Idee gewesen ist, erörterten wir die Frage, welchen Weg der eine und andere wohl später eingeschlagen haben mag. Ich sagte, wenn es jemanden gab, dem der Weg zu heute vorbestimmt war, so war es Damerstam, wenn das Schicksal ihn nicht so früh aus den Reihen gerissen haben würde. Lia stimmte lebhaft zu und meinte: „Ja, ich habe bei mancher Gelegenheit Gesichter vor mir auftauchen sehen, die mich an Damerstams Gesicht und an seine eindringlich sprechenden Augen erinnerten.“ Wir sprachen auch oft von den zionistischen Freunden, die Lia besonders nahe gestanden hatten. Bei einem dieser Gespräche blieben wir eine Weile auf einem Baumstamm sitzen, schweigend, jede ihren eigenen Gedanken folgend. Da hörte ich plötzlich Lia mit ganz leiser Stimme singen oder traumvergessen vor sich summen, das Lieblingslied ihrer Jugendzeit: „In jenem fernen Lande, am blauen Meeresstrand …“ Es klang nun besonders wehmütig. Doch verweilten weder Lia noch ich bei dieser Stimmung. Unsere gemeinsamen Stunden waren zu kurz, als dass wir an einem Punkte der Vergangenheit verblieben wären oder verbleiben wollten. Auch gehörte Lia zu den Menschen, in denen Gegenwart und Vergangenheit, Romantik und Aktivität sich stets in gleicher Weise auswirkten und ihre Impulse wachhielten. Auch meine Verbindung mit Graber dauerte lange fort. Wir schrieben uns erst häufig, und jeder von uns nahm Anteil an den Erlebnissen des anderen. Allmählich wurden die Pausen in unserer Korrespondenz länger. Ich vergaß jedoch nicht, wenn ich ihm schrieb, mich nach dem Wohlergehen der

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mir gehörenden Dogge zu erkundigen. Ereignisse allgemeiner Natur trennten uns später ganz. Und ich habe Grabers tiefe, warme, so wohltuende Stimme nie mehr gehört. Auch meine schöne Dogge habe ich nie gesehen.