Alltag und Kriminalität: Disziplinierungsversuche im steirisch-österreichischen Grenzgebiet im 18. Jahrhundert 9783205159988, 3702904522, 3486648446, 9783205778226

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Alltag und Kriminalität: Disziplinierungsversuche im steirisch-österreichischen Grenzgebiet im 18. Jahrhundert
 9783205159988, 3702904522, 3486648446, 9783205778226

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Alltag und Kriminalität

Mitteilungen des Instituts für Osterreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband 38

R. Oldenbourg Verlag Wien München

Martin Scheutz

Alltag und Kriminalität Disziplinierungsversuche im steirisch-österreichischen Grenzgebiet im 18. Jahrhundert

R. Oldenbourg Verlag Wien München 2001

Gedruckt mit Unterstützung des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Wien

Die deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich.

© 2001 R. Oldenbourg Verlag ges.m.b.H., Wien Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

Satz: Josef Pauser, Wien Druck: Grasl Druck & Neue Medien, A-2540 Bad Vöslau Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Umschlagabbildung: Ausschnitt aus einem gemalten Bild eines Verkehrsunfalles in Neustift bei Scheibbs vom 4. März 1778. Beilage zu Gerichtsakten aus: N O L A , St. Pölten, GA Gaming, Κ 7. ISBN 3-7029-0452-2 Oldenbourg Wien ISBN 3-486-64844-6 Oldenbourg München

Inhalt

VORWORT

9

KAPITEL I THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN ZUR DISZIPLINIERUNG

1. Max Webers Rationalisierungskonzept 2. Norbert Elias und der Prozeß der Zivilisation 3. Gerhard Oestreichs Konzept der „Sozialdisziplinierung" 4. Konfessionalisierung 5. Volkskulturen und Ordnungsmodelle

11

18 19 22 27 30

KAPITEL Π VERBRECHEN UND STRAFEN IN DER F R Ü H E N NEUZEIT

35

1. Grundzüge einer Erforschung

35

2. Historische Erforschung von Kriminalität in Osterreich in der Frühen Neuzeit a) Normative Ordnungen b) Strafprozeßakten c) Strafvollzugsakten

42 43 46 59

KAPITEL Π Ι Z U R W E R T U N G VON AUSSAGEN VOR GERICHT IN ÖSTERREICHISCHEN KRIMINALPROZESSENDES 1 8 . J A H R H U N D E R T S

65

1. Ein Bild des Gerichts 2. Aussagewert der Prozeßakten

65 68

3. grind und geign. Sprache und Markierung 4. Solle Gott die rechte ehre gehen. Strategien vor Gericht 5. daz gewissen keine ruhe gelassen. Das konstruierte Gewissen am Beispiel eines Giftmordes 6. Zur Quellenlage für das Landgericht Gaming und das Scheibbser Marktgericht im Untersuchungszeitraum

71 80 86 93

Inhalt

6 KAPITEL I V

DIE K A R T A U S E G A M I N G IM 1 8 . JAHRHUNDERT. JURISDIKTION UND W I R T S C H A F T . . . .

1. Grundherr und Landgerichtsverwalter

99

99

2. Eisen- und Provianthandel

108

KAPITEL V D A S G A M I N G E R H O F - UND LANDGERICHT IM 1 8 . JAHRHUNDERT

115

1. Konkurrierende Disziplinierungsgewalten im grundherrschaftlichen Markt. Der Hofrichter als verlängerter Arm und obachtsames Auge des Stadtherrn ...

115

2. Das niedergerichtliche Hofgericht - Delikte und Strafen

129

3. Der Landgerichtsdiener. Person und Amt zwischen Markt-, Hof- und Landgericht

143

4. Das „freie" Landgericht Gaming-Scheibbs

154

5. Der Scharfrichter. Ein kostenintensiver Faktor für das Landgericht

171

6. Die finanzielle Struktur eines Hof-/Landgerichtes

179

KAPITEL V I KONKURRIERENDE DISZIPLINIERUNGSGEWALTEN. MARKTRICHTER UND STÄDTISCHE Ä M T E R ZWISCHEN STADTHERRN UND BÜRGERSCHAFT IM 1 8 . JAHRHUNDERT

189

1. Der Einfall der Bayern in Niederösterreich und die Last der bröckelnden Symbole

189

2. was hast du bey dem richter über mich geredet? Zur Stellung des Marktrichters in der Praxis

199

3. zucht und ehrbahrkeit im Markt. Der Scheibbser Marktrichter im Dienste der Bürger

203

4. Die gute Ordnung im Scheibbser Rat

217

5. der marktschreiber müeste der burgerschaft alleinig dienen. Der Scheibbser Marktschreiber im 18. Jahrhundert 6. Die sonst gewöhnlich ungeheure boßheiten und grausames gspäß der Scheibbser Kinder. Der Schulmeister und die Gottesfurcht

225 234

7. alles, was ihme befohlen wird, fleissig verricht. Der zwischen den Obrigkeiten zerrissene Marktgerichtsdiener

242

8. Die Scheibbser Bürger wider die wachter. Tor- und Nachtwächter in Scheibbs 9. Der Viehhirt in der Kirche, ein obachtsambes aug auf die Kinder

250 254

KAPITEL v n D E R STREIT UM DEN SAUBÄREN. INNERE UND ÄUSERE KONFLIKTFELDER IM M A R K T SCHEIBBS WÄHREND DES 1 8 . JAHRHUNDERTS

259

1. Scheibbser Proviant- und Wochenmarkt

259

2. Die Scheibbser Jahrmärkte

267

3. Der Streit um den Saubären. Innerbürgerliche Konflikte im marckht" am Beispiel von Malter, Bier, Fleisch und Brot

„gemeinen 274

Inhalt

7

4. Genossenschaftliche Konflikte um Wasser, Brunnen und Kanäle

293

5. wieder die gewohnheit

299

einen rauch wahrgenohmen.

6. solle künfftighin seinen maister und maisterin Handwerksgesellen im Markt Vffl ... mit dem Soldatenleben

Früchte der Feuerangst

in ehren halten. Unruhige 309

KAPITEL

gezüchtiget

worden.

G E W A L T S A M E R E K R U T I E R U N G ALS

F O R M DER DISZIPLINIERUNG AM BEISPIEL NIEDERÖSTERREICHISCHER L A N D - U N D M A R K T G E R I C H T S P R O T O K O L L E DES 1 8 . J A H R H U N D E R T S

315

1. Selbstverstümmelung aus Angst vor Rekrutierung

315

2. Schmuggler als Opfer der Zwangsrekrutierung

318

3. Rekrutierung und Disziplin auf normativer Ebene

320

4. Das Gaminger Hof- und Landgericht und die Rekrutierung

330

a) Rekrutierung als Strafmaßnahme b) „Freiwillige" Soldaten c) Folgen der Rekrutierung 5. Das Marktgericht Scheibbs und die Rekrutierung a) Rekrutierung als Geschäft - Gekaufte Soldaten b) Rekrutierung als Drohung - Versuchte Disziplinierung im Markt 6. „[...] dem Publico / und Unserem Aerario so nachtheiligen Desertions-Ubel mit allem Ernst vorzubeugen" a) Das Problem der Desertion in niederösterreichischen Gerichtsakten b)... ihnen das vor den Preissen gehen miessen sehr fürchterlich vorkomben. Solidarisierung mit Deserteuren oder Belohnung für Denunziation?

331 334 335 337 338 342

7. Die Lebenswelt abgedankter Soldaten a) Der vater zu meinem kind ist ein soldat b) Invalide als Sozialproblem

362 367 369

348 348 355

KAPITEL I X

3 pflugeisen

von pflügen abgeschlagen.

ELSENDIEBSTÄHLE U N D H A M M E R W E R K S -

E I N B R Ü C H E IN DER EISENREGION G A M I N G - S C H E I B B S IM 1 8 . J A H R H U N D E R T

375

1. Karriere eines Eisendiebes oder in der gegend für einen dieb bekant 2. Normative Grundlagen zum Diebstahl

375 387

3. Eisendiebstahl in der Gegend von Gaming-Scheibbs a) Hammer- und Gelegenheitsdiebe b) zum aufspöhren den vortheil gewust. Zur Arbeitsweise der Hammerdiebe 4. etwas alts eisen [...] enttragen. Gelegenheitsdiebe auf der Suche nach Eisen 5. Gefährliche Begegnungen, „Schlechtes Fahren", grobe Eisenführer und „Kroisenhandel"

402 402 404 413 419

KAPITEL X

Die waischen khundten nit leüden, daß die teutschen nachßuechen.

Z U R R O L L E DER

M A G I S C H E N V O R S T E L L U N G E N IM A L L T A G

1. Der Otscher als magischer Bezugspunkt in der Frühen Neuzeit 2. Magie als Konfliktlösung

431

431 450

Inhalt

8

KAPITEL X I

Ich weis mich keines andern Verbrechens als des bettlens schuldig.

MENSCHENJAGDEN

UND BETTLERSCHÜBE IN DER ERSTEN HÄLFTE DES 1 8 . JAHRHUNDERTS AM BEISPIEL EINES GAMINGER SCHUBPROTOKOLLS

457

1. Obrigkeitliche Verordnungen 2. Streifen und Bettlerschübe

462 466

3. Die Festgenommenen im Gaminger Protokoll (1723-1751)

474

4. Der Gaminger Schub in der Praxis

481

KAPITEL X I I H E R R S C H A F T MIT UND IN DER HERRSCHAFT WÄHREND DES 18. JAHRHUNDERTS. EIN RESÜMEE

487

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

501

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

504

Archivalien

504

Gedruckte Quellen, Nachschlagewerke und vor 1850 erschienene Werke Darstellungen (ab 1850)

506 514

VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN, GRAPHIKEN UND TABELLEN

587

Abbildungsverzeichnis Verzeichnis der Graphiken

587 587

Verzeichnis der Tabellen

588

O R T S - UND PERSONENREGISTER

589

Vorwort Die ursprüngliche Anregung zur Bearbeitung der Gaminger Gerichtsbestände stammte von Frau o. Univ.-Prof. Heide Dienst. Herr ao. Univ.-Prof. Karl Vocelka hat diese Arbeit immer wieder unterstützt, zudem vermittelte das von ihm geleitete Institut für die Erforschung der Frühen Neuzeit wichtige Impulse für die Behandlung des Themas. Dem Direktor des Instituts für Osterreichische Geschichtsforschung, o. Univ.-Prof. Herwig Wolfram, danke ich für die Aufnahme dieses Buches in die Reihe der „Ergänzungsbände der Mitteilungen des Instituts für Osterreichische Geschichtsforschung". Dieses Buch hat viele Unterstützerinnen, die ich nicht vollzählig anführen kann (unter Weglassung sämtlicher Titel und akademischer Grade): Großer Dank gebührt den Bediensteten des Niederösterreichischen Landesarchives (NOLA), namentlich Christine Mochty, Waltraud Winkelbauer und Christine Mick, die mich sowohl im ehemaligen Wiener Standort in der Teinfaltstraße wie auch später im neuen Archivgebäude in St. Pölten gut beraten und mir immer wieder mit Rat und Tat weitergeholfen haben. Der Stadtarchivar von Scheibbs, Herr Johann Eckl, war mir durch seine liebenswerte Art und freundliche Förderung meiner Arbeit ein steter Ansporn zur Fertigstellung dieser Arbeit, die sich mehr und mehr in die Länge gezogen hat. Der Stadtgemeinde Scheibbs danke ich für die gewährte Unterstützung. Rudolf Maurer vom Stadtarchiv Baden danke ich für Hinweise ebenso wie dem ehemaligen Klosterneuburger Archivar Johannes Oman. Den Bibliothekaren und den Mitarbeitern aller von mir benützten Bibliotheken sei gedankt, besonders denen der Universitätsbibliothek Wien sowie der Österreichischen Nationalbibliothek. Stellvertretend für alle „betroffenen" Bibliothekare möchte ich Manfred Stoy vom Institut für Osterreichische Geschichtsforschung und Elfriede Sieder vom Institut für Geschichte nennen. Herr Johann Gröger leistete mir dankenswerte Gesellschaft bei der Identifizierung unzähliger Ortsnamen und beriet mich oftmals dabei, den richtigen Ort auch wirklich zu identifizieren, außerdem besorgte er mir viele Bücher aus der Wiener Universitätsbibliothek. Eva Stain vom Institut für Osterreichische Geschichtsforschung hat sich immer wieder sehr um dieses Buch gekümmert. Der Anteil von Josef Pauser an dieser Arbeit ist kaum zu überschätzen, weil er mich nicht nur auf neueste Literatur aufmerksam machte, sondern mir durch stete Diskussionsbereitschaft wichtige Hinweise und Denkanstöße vermittelt hat. Außerdem hat er mir immer wieder notwendige Hilfe am Computer gewährt und das vorliegende Buch für den Druck eingerichtet. Herwig Weigl lieh mir bei vielen stadtgeschichtlichen Fragestellungen sein geduldiges Ohr. Thomas Winkel-

10

Vorwort

bauer und Christian Lackner haben mir bei verschiedenen Problemen immer wieder entscheidend weitergeholfen. Andrea Griesebner, die parallel zu meinem Vorhaben an einer ähnlichen Studie arbeitete, hat mich auf viele Fragestellungen aufmerksam gemacht. Kritische Kommentare, Anregungen gaben und Hilfe beim Korrekturlesen leisteten Manfred Anselgruber, Lydia Gräbel, Claudia Ham, Elke Hammer, Maria Keplinger, Gerald Kohl, Gerald Mülleder, Susanne C. Pils, Gerhard Sarman, Kurt Schmutzer, Alexander Sperl, Stefan Spevak, Gabriele Stöger, Arthur Stögmann und Harald Tersch, denen ich gar nicht genug dafür danken kann. Wichtige Hinweise verdanke ich außerdem Franz Gstöttenmeier, Linz, sowie Helmut Schöbitz, Manfred Zollinger, Wien, und Ralf-Peter Fuchs, München. Für Diskussionen über militärgeschichtlichen Fragen möchte ich Laurence Cole, Sabine Frühstück, Christa Hämmerle-Ehrmann, Michael Hochedlinger und Peter Melichar danken. Mehrere „ausgefallene" Hinweise vermittelte Anton Tantner. Einige Teile des Buches wurden schon in anderem Zusammenhang zur Diskussion gestellt, entsprechende Hinweise auf den jeweiligen Druckort finden sich in der ersten Fußnote beim jeweiligen Kapitel. Teile des Kapitels VIII, IX und XI konnten in Vorträgen am 2. Juli 1997 in Ardagger, am 7. Juli 1998 in Waidhofen bzw. am 18. November 1999 in Wien vorgestellt werden. Weiters wurde Teile des Kapitels III im Rahmen einer Tagung in Wittlich bei Trier (Trierer Arbeitskreis zur Hexenforschung, 15. Februar 1999) diskutiert. Für die anregende Diskussion über Bettelvisitationen und Bettlerschub danke ich weiters den Teilnehmerinnen des Arbeitskreises „Policey/Polizei im vormodernen Europa" (Stuttgart-Hohenheim am 18. Mai 2000). Viele Kolleginnen vom Institut für Geschichte und vom Institut für Osterreichische Geschichtsforschung haben mich bei meinem Vorhaben unterstützt. Besonderer Dank gilt Ursula Huber vom Oldenbourg Verlag, die dieses Buch mit großer Sorgfalt betreute und wertvolle Anregungen zur Verbesserung gab. Es ist mir ein besonderes Anliegen, mich bei Irmtraud und Theo Jandl, Peter Boigner und Andree Peffer sowie bei Birgit Glaser und Monika Kum für ihre vielfältige Hilfeleistungen, die direkt und indirekt zur Fertigstellung dieses Buches beigetragen haben, zu bedanken und auch dafür, daß sie den Glauben daran nie verloren haben. Das umfassende Weltverständnis von Anna Hauer („Mir ist das zu laut") eröffnete mir viele, mir ansonsten verborgen gebliebene Betrachtungsweisen. Der größte Dank gilt aber meinen Eltern, Herta und Hans Scheutz, die mich nicht nur finanziell unterstützten, sondern auch immer wieder ermunterten, in der Arbeit fortzufahren. Auch meine Schwester Elisabeth war immer wieder in verschiedenen Lebenslagen beratend tätig. Hans und Elisabeth Mattes waren indirekt lange mit dieser Arbeit konfrontiert. Meine Frau Eva Mattes hat die vielfältigen alltäglichen „Auswirkungen" dieses Buches mit großer Geduld ertragen und das ganze Buch kritisch gelesen. Abschließend sei noch auf die druckgraphische Gestaltung der Quellenzitate hingewiesen. Alle Belege, die aus ungedruckten Originalen übernommen wurden, sind kursiv gesetzt. Quellenzitate aus gedruckten Werken oder aus Editionen wurden dagegen mit Anführungszeichen und normal gesetzt wiedergegeben.

Kapitel I Theoretische Überlegungen zur Disziplinierung

D i e K a m m e r h e r r e n , die die S c h l e p p e t r a g e n s o l l t e n , griffen m i t den H ä n d e n n a c h d e m F u ß b o d e n , gerade als o b sie die S c h l e p p e a u f h ö b e n . Sie g i n g e n u n d t a t e n , als o b sie e t w a s in d e r L u f t h i e l t e n ; sie w a g t e n n i c h t , es s i c h m e r k e n z u lassen, d a ß sie n i c h t s s e h e n k o n n t e n . Hans Christian Andersen1

Drei exemplarisch gewählte Beispiele aus dem Marktgerichtsprotokoll des kleinen niederösterreichischen Marktes Scheibbs sollen auf verschiedenen Ebenen obrigkeitliche Eingriffe in das soziale Verhalten ihrer Untertanen und damit die frühmoderne „Formierung von Verhalten, Glauben, Denken und Empfinden"2 verdeutlichen: (1) Der beim grundherrschaftlichen, der Kartause Gaming untertänigen Markt Scheibbs angestellte Viehhirte Jakob Möslinger konnte 1734 mit seinem Gehalt, einem ihm jährlich zugewiesenen Getreide-Deputat, nicht mehr auskommen und suchte um Erhöhung der Kornmenge beim Rat an. Der Marktrat kam diesem Ansinnen nach und bewilligte 15 Metzen Korn jährlich, allerdings mit zwei Auflagen: Solle ihne gegen deme, daß er in der kirchen neben seinen weib auf die kinder ein obachtsambes aug tragen, damit sie nicht schwäzen und possen treiben [...] passirt werden? Zusätzlich mußte er das Vieh der Bürger im Frühjahr so bald als möglich auf die Weide treiben. Dieses unscheinbare Beispiel beleuchtet den engen Zusammenhang von kirchlicher Disziplinierung und „dörflicher" Ordnung in diesem kleinen Markt. Die von ihrer Arbeit nur schwer abkömmlichen Viehhal-

1

ANDERSEN: M ä r c h e n , Bd. 1 (1984) 144: „Des Kaisers neue Kleider".

2

SCHILLING: Disziplinierung (1997) 676.

J

S t A S c h e i b b s , Pantaiding 1. April 1734, fol. 27 r . Siehe auch N Ö W III, 540, Ζ 1: M e l k [1730

S e p t e m b e r 15]: „ D e r viechhirt hat sich an sonn- und gebottenen feiertagen vormittag des austreibens zu enthalten und dafür samt den seinigen dem gottesdienst, der christlichen lehre und dem w o r t e gottes fleißig b e i z u w o h n e n . " In einem neuen E n t w u r f , M e l k 1793, N O W III, 543, Ζ 6 - 9 : „ D e r M a r k t richter hat daher vorzüglich auf die öffentliche Ordnung, zucht und anständigkeit zu sehen, diese werden erhalten, w e n n bei öffentlichen gottesdienste und religionsfeierlichkeiten aller unfug und alle Unordnung scharf geahndet".

Kapitel I

12

ter hatten wie alle anderen Landesbewohner sonntags die Messe zu besuchen. 4 Ahnliche Verordnungen, die sich aber vor allem gegen das Schwätzen in der Kirche wenden, wodurch „der Priester vor dem Altar verwürret wird", finden sich auf der Ebene landesfürstlicher Patente, vor allem für den Zeitraum zwischen 1668 und 1714, konzentriert auf den Bereich der Hauptstadt Wien. 5 Der ohnedies als Außenseiter geltende Scheibbser Viehhirte mußte - obwohl er seinen Lebensunterhalt mit der Betreuung von Tieren verdiente - während der von allen Bürgern verpflichtend zu besuchenden Messe auf die Kinder aufpassen, damit diese der Messe diszipliniert und möglichst aufmerksam folgen konnten. Gleichzeitig unterstreicht diese nicht gerade ehrenvolle Aufgabe vor aller Augen am Sonntag aber zusätzlich die Außenseiterrolle des Viehhirten, wenn auch um den Preis eines geringfügig besser abgesicherten Existenzminimums. (2) Ein Eingriff anderer A r t - ausgelöst durch Beschwerden des obersten grundherrschaftlichen Beamten, des Gaminger Hofrichters Zink, der im Markt Scheibbs seinen Wohnsitz hatte - wird im Scheibbser Marktgerichts-Protokoll wiederholt dokumentiert: Das Marktgericht als erste Instanz im Markt sollte nach einem Hofgerichtspatent vom 27. März 1720 das freie Herumlaufen der Schweine im Markt unterbinden und somit das getrennte Zusammenleben von Mensch und Tier regeln. 6 Eingefordert wurde also: die zeitliche abstellung des salva venia schweinviechs bey sonst würkhlicher vornehmung der alda enthaltenen bestraffung (nemblichen daz zum ersten deren aigenthumber umb 3 reichsthaler gestrafft und zum änderten mahl jene schwein geschlachtet und den spittällern und andern armen leüthen verkocht und außgetheilt werden solle).7 Die als unflätig geltenden und folglich häufig mit „salva venia" gekennzeichneten Schweine 8 sollten sich nicht mehr frei im Marktbereich bewegen dürfen. 9 Der Hofrichter fühlte sich deshalb, als er 1731 neuerlich mit einer Beschwerde beim Marktgericht einkam, in seinem Anliegen

4 C A I, 451 [Wien, 1689 O k t o b e r 16]: „Und fügen euch hiemit gnädigist zuwissen: waß massen W i r mißfällig vernommen / daß ihme der gemeine Mann das Vieh-Halten so eifferig angelegen seyn lasse / daß er gar in der W o c h e n nicht einmahlen an Sonntagen seinem Erlöser ein wenige Zeit schencken / und zu Befürderung seiner Seelen Heyl der Christlichen Lehr beywohnen möge". 5 LEITICH: Maßnahmen (1968) 260-265. Z u m Zusammenspiel Kirche und weltliche Macht für Tirol PALLAVER: Sexualität (1987) lOff.

NOWOSADTKO: Nutztiere (1998) 255f. Zu Tieren auch RUBLACK: Viehisch (1995) 176-177. StA Scheibbs, Ratssitzung 27. März 1720, fol. 41 v . Siehe auch C A I, 550: Infections-Patent [Wien, 1691 O k t o b e r 28]: „lebendige Schwein in der Stadt zu halten (es seye gleich in denen Klöstern / Spitälern / oder sonsten w o es wolle) gäntzlichen und indistincte verbotten seyn solle." Zu Schweine-Krankheiten siehe C A IV, 166-167 [Wien, 1724 Jänner 20], Zur Ahndung von frei herumlaufenden Schweinen und Geflügel im Zusammenhang mit Pest und Infektion in der Stadt KlNZELBACH: Kranke (1995) 9 8 - 1 0 3 ; einige Beispiele auch bei DOBROVOLNY: Hygiene (1994) 26ff. 6

7

8 Das Schwein ist „ein vierfüßiges, häßliches und unfläthiges thier mit einer spitzigen Schnautze und Rüssel, kurtzem Halse, niedrigen Beinen, gespaltenen Klauen und einer starcken mit Borsten bedeckten Haut.", siehe ZEDLER: Universal-Lexikon 36 (1743/1962) Sp. 248; HÄGERMANN: Schwein (1995) Sp. 1639-40; zur Entwicklung des Hausschweines ZEUNER: Haustiere (1967) 2 2 0 - 2 3 2 . Zu Schweinen in der Kirche MÜLLER: Konfessionalisierung (1995) 2 8 5 - 2 8 6 : 1705 kamen in Altenesch Schweine, Gänse und Hühner sogar ,nahe bis an Kanzel und Altar', um ,mit ihrem Grunzen und Geschrei den Gottesdienst [zu] perturbieren'.

' D i e Allgegenwart der Schweine dokumentiert auch, daß versteckte Kindsleichen bei Kindsmordprozessen häufig von herumlaufenden Schweinen angefressen oder sogar vertilgt wurden, siehe HAMMER: Kindsmord (1997) 202, 278. Wenig ergiebig DANNENBERG: Schwein (1990).

Methodische Überlegungen zur Disziplinierung

13

nicht ernstgenommen: [...] ohnerachtet schon verschiedene scharpfe Verordnungen von gnädiger herrschafft ergangen, daß die salva venia schwein nicht ausgelassen und im markht herum zu lauffen gestattet werde. So wäre doch mißfällig verspüret worden, daß solche ausgelossen und nicht allein in marckht herum, sondern auch ins gemäur [Schloß] lauffeten.10 Auch auf dem Scheibbser Marktplatz sahen die gestrengen Augen des Landgerichtsverwalters immer wieder Schweine, wie wann derselbe zur sauhalt geeignet wäre.n Aus diesem Grund wurde nun die Scheibbser Bürgerschaft ernstlich ermahnt, daß sie auf ihre salva venia schwein besser obacht und in marckht herum nicht lauffen lassen solten, wie in widrigen die vorgesehen straff unnachlässlich werde erfolgen. Herrenlose Schweine, die Gärten oder Plätze verwüsteten, waren ein häufig anzutreffendes Problem des alltäglichen Lebens in Märkten und Städten der Frühen Neuzeit. 12 Schon die immer wieder publizierten Infektionsordnungen des 16. Jahrhunderts (etwa 1551 und 1562) betonen zur Vermeidung weiterer Epidemien besonders die Entsorgung des Abfalls und verbieten die Haltung von Schweinen innerhalb der Stadt.13 Sehr viel änderte sich im Leben der Scheibbser Schweine auch nach der erneuten Mahnung des Hofrichters nicht, sodaß der Gaminger Hofrichter Zink schließlich beim Prälaten der Kartause Gaming, dem Stadtherrn von Scheibbs, intervenierte. Der Hofrichter unterbreitete 1741 - und somit gut 10 Jahre später - erneut dem Marktrat, daß seiner hochwürden und gnaden müßfallete, daß selbe vernemen müesten, daß sonn- und feüertag und die ganze wochen die salva venia schwein in marckht, ja so gahr in freidhof und gmäuer umlauffeten, mithin dem raht befehleten solches abzustellen,14 Der Marktrat wollte dieses Vorgehen des Hofrichters nicht akzeptieren - wahrscheinlich war der Markt nicht damit zufrieden, daß der Gaminger Hofrichter direkt beim Prälaten um Unterstützung interveniert hatte. Die Antwort des Marktes bestand daher darin, daß man sich für nicht zuständig erklärte: Es wären keinerweegs marckhts, sondern des Pichmillner, Moser (hammerschmidt) und anderer auswendiger ihre salva venia schwein, mithin möchte er herr hofrichter ihnen diesen unfueg abstellend Die Verwüstung der Gärten und des Jungwalds16 durch die frei herumlaufenden Schweine und auch die damit ver-

10 StA Scheibbs, Michaelipantaiding, 5. O k t o b e r 1731, fol. 297 v . Siehe Einträge in d e n Weistüm e r n , O Ö W I, 55, Ζ 36, Haslach [1701]: „Item alle schwein, klein u n d gross viech, wie auch die hiener sollen o h n e schaden gehalten werden, alß in allen Stödten u n d m a r k t e n recht ist"; weitere Belege: O Ö W I, 467, Ζ 33, Freistadt [1635 M ä r z 10]; O Ö W III, 267, Ζ 28, M a r k t b u c h O f f e n h a u s e n [1630 A p r i l 24]; O Ö W IV, 98, Ζ 34, Schärding R a t w a h l o r d n u n g u n d E i d b u c h [1610 M ä r z 30]: „Die schwein [soll man] auss der statt o d e r d o c h sonsten dermassen m i t seiberkeit halten, d a m i t deren kaine auf d e n pläzen u n d gässen b e t r e t t e n werde." 11 StA Scheibbs, Κ 132, Scheibbs, 1792 O k t o b e r 5, Schreiben des Justiziärs u n d Landgerichtsverwalters J o h a n n Michael Gschaider an das M a r k t g e r i c h t Scheibbs. 12 Siehe das Beispiel eines nachbarschaftlichen Streits u m Schweine, die einen G a r t e n verwüsteten: N O L A , G A G a m i n g , Κ 4, Scheibbs, 1752 S e p t e m b e r 26, Schreiben des L G G a m i n g an d e n Verwalter v o n St. L e o n h a r d a m F o r s t . 13

LANGEDER: Pestbekämpfung (1996) 72, 77. StA Scheibbs, Ratssitzung 14. S e p t e m b e r 1741. 15 Ebenda. 16 StA Scheibbs, G e o r g i p a n t a i d i n g 28. A p r i l 1719, fol. 29 r : I m J a h r 1719 w a r der W e g zwischen d e n G ä r t e n der Scheibbser K a p u z i n e r schadhaft g e w o r d e n u n d sollte auf A u f f o r d e r u n g des M a r k t r a t e s repariert w e r d e n . D e r M a r k t r a t forderte zusätzlich n o c h die Aufstellung eines Gitters, damit niemandt 14

14

Kapitel I

bundene Seuchengefahr17 dürften eine zusätzliche Motivation für den weitgehend erfolglosen Regulationsversuch des Hofrichters gewesen sein. Die Bürger von Scheibbs fühlten sich nicht zuständig und wehrten diesen Eingriffsversuch ab, indem sie dem Hofrichter - so meine verkürzte Interpretation - zu verstehen gaben, er möge am besten vor seiner eigenen Tür kehren und seine (d.h. zur Kartause Gaming gehörige) Untertanen besser beaufsichtigen. (3) Der Gaminger Hofrichter Zink wurde auch in einem anderen Fall regulierend aktiv: Am Sonntag, den 11. Jänner 1739 beauftragte er den Landgerichtsdiener während des Vormittagsgottesdienstes, die Scheibbser Wirtshäuser zu kontrollieren, ob dort verbotenerweise Zecher während des Gottesdienstes zu finden wären. Gasthäuser wurden als besonders unruhige Orte, aber auch als Orte von politischer Öffentlichkeit im Markt in der Frühen Neuzeit zunehmend stärker kontrolliert; die Schenkgerechtigkeit mußte von der Obrigkeit bestätigt werden und man suchte außerdem die Anzahl der Wirtshäuser einzuschränken.18 Der Landgerichtsdiener wurde auch bei seinem Kontrollgang tatsächlich fündig: bey dem Gottbewahr [einem Zinngießer und Wirt] den satler söhn, des tischlermaisters brudern und andere pursch, wie auch des lebzelters rossknecht angetroffen, gleichwie nun dieses dem untern 19. Septembris vorigen jahrs ergangenen und denen würthen abgelesenen decret zuwider lauffete, forthin hätte er [der Hofrichter Zink] den zünngiesser Gottbewahr erfordern lassen,19 Der Marktrat mußte dieser Beschwerde des Hofrichters Folge leisten und lud deshalb den solcherart inkriminierten Wirt Georg Adalbert Gottbewahr, der mehrfach auch Marktämter in Scheibbs bekleidet hatte,20 vor den Rat. Der Zinngießer und Wirt argumentierte geschickt, indem er einerseits den Tatbestand zugab, nämlich er hätte obbemelten burgers söhnen und purschen weder speiß noch tranckh gegeben, des lebzelter knecht hätte allein ein seitl wein getrunckhen, ansonsten hätte der diener auch bey dem haffner und Haussen leüth angetroffen.21 Andererseits betonte er, daß er durch die fehlenden Einnahmen auch keine „täz", keine Getränkesteuer, an die Herrschaft entrichten könne. Er sonsten den gantzen tag hindurch ausser in der früh einigen gast nicht hätte, wan er also, wan die gäst in der früh kommeten, ihnen weder speiß noch trunckh geben dörffte, könte er ohnmöglich gnädiger herrschafft den täz reichen.11 Der Wirt wurde trotz frembter den weeg mit fahren verderben, noch auch die salva venia schwein eintringen mögen. Das Patent betreffs „Waldungsexcessen-Abstellungs-Patentenerneuerung", siehe CA VI, 1134 [Wien, 1768 August 20]: „[...] das Schaf- und Schweinvieh eben so wenig in die Waldungen getrieben, sondern nur außerhalb derselben auf öden Gründen und Brachfeldern unterhalten." Siehe auch OOW II, 360, Ζ 21: Forstordnung für das Salzkammergut, Ort am Traunsee [1756 September 20]: „In den holzschlägen und jungen maissen ist der pferd-, schaf-, gaiß- und schwein-vieh-eintrieb vollkommen verbotten". 17 CA IV, 740 [Wien, 1731 November 17]: Vergrabung des gefallenen Viehes. Ähnlich auch CA IV, 745 [Wien, 1731 Dezember 24] über Viehseuchen. Zu Hunden in der Stadt LAICHMANN: Hunde (1998) 9-12. 18 LEHNER: Drogenpolitik (1996) 364-365; DÜLMEN: Dorf und Stadt (1992) 131ff. Siehe für Horn WINKELBAUER: Untertanen (1990) 51-52. " StA Scheibbs, Ratssitzung 12. Jänner 1739, fol. 166". 20 Georg Adam Gottbewahr ist als Scheibbser Schützenmeister 1723, 1736, 1737, 1738, 1746, 1754 nachweisbar; weiters als Brotbeschauer 1724, 1730, 1731 und als Sperrer des „Markttörls" 1723, 1728, 1733, 1739, 1743, 1748, siehe StA Scheibbs, Marktgerichtsprotokolle dieser Jahre. 21 StA Scheibbs, Ratssitzung 12. Jänner 1739, fol. 166v. 22 Ebenda.

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seiner geschickten, auf den ökonomischen Nutzen abzielenden Verteidigung vom Marktgericht zu einem Dukaten Strafe verurteilt. Der Marktrichter hatte schon einige Jahre zuvor, im Jahr 1735, vor dem Rat bezüglich der Einhaltung der Sonntagsruhe23 referiert; es ist unklar, ob er diesmal selbst oder wiederum auf Intervention des Hofrichters tätig wurde: ohnerachtet zu verschiedenen mahlen denen bürgerlichen würthen auferlegt worden, das sie unter deme Gottesdienst niemanden einige speis oder tranckh reichen solten, so hätte er doch verwichenen sonntag vernehmen müessen, daß unter dem Gottesdienst herr Roseneder, Frölich, Streyssenberger, Gottbewahr, Kling, Wizlsperger, Grienauer, Pierwipfl und Joseph Fritsch den leüthen essen und trinckhen gegeben hätten, welches er zur gemessenen anthung hiemit beybringen wollen.2* Die solcherart Gemahnten waren allesamt Scheibbser Bürger, und somit war die richterliche Ahndung und das Aussprechen von Strafen für den von Bürgern besetzten Marktrat schon bedeutend schwieriger. Das Urteil fiel daher auch gemäßigt aus. Die Bürger brachten zu ihrer Entschuldigung vor, daß besagter Advent-Sonntag, der erste Rorate sonntag gewesen wäre, wo denen leüthen das fruhstukhen als eine alte gewohnheit schwärlich abzubringen seyn wurde. Die von vielen Scheibbsern besuchte Frühmesse zu Rorate 25 diente als Entschuldigung des Gasthausaufenthaltes; das frühe Aufstehen und der Meßbesuch sollten den Hunger und Durst der Wirtshausbesucher rechtfertigen. Schließlich beließ es der Marktrat bei einer allgemeinen, straflosen Ermahnung, künftighin während der Gottesdienstzeit kein Essen und Trinken auszuschenken.26 Die Obrigkeiten versuchten - durchaus mit konfessionalisierender Implikation 27 - immer wieder die Wirtshäuser genauer zu observieren und vor allem den zeitlichen Zugang zu limitieren. Eines von mehreren Beispielen aus dem Jahr 1757, wo im Scheibbser Marktgerichtsprotokoll ein Dekret der Kreisbehörde eingetragen und damit vom Rat und der Bürgerschaft nachweislich zur Kenntnis genommen wurde, soll das abschließend illustrieren:28 Ein Bote des neugeschaffenen Kreisamtes brachte in regelmäßigen Abständen die Patente und Erlässe im kleinen Markt Scheibbs vorbei, und diese wurden dann meist in Form von Regesten blockweise ins Marktgerichtsprotokoll eingerückt. Das Spiel stand diesmal im Zentrum der obrigkeitlichen Aufmerksamkeit. Nachdeme bey dem löblichen k.k. creysamt klagbahr vorgekommen, daß das vormittägige Spillen und zwar noch vor- oder unter dem Gottesdienst an sonn- und feyrtägen in derley häusern widerum in schwung gehe, als werden die orthsobrigkeiten alles ernstes ermahnet, auf solche genaue obsicht zu tragen und derley 23

MÜLLER: Konfessionalisierung (1995) 291-292.

StA Scheibbs, Ratssitzung 1. Dezember 1735, fol. 75 r_v . Siehe auch WINKELBAUER: Zauberei (1987) 10. 25 Dazu SARTORI: Advent, in: HdA I (1927) Sp. 198 und BENZ: Advent (1980) Sp. 170; JUST: Rorate (1964) Sp. 39, LURZ: Engelamt (1959) Sp. 875. 24

26 StA Scheibbs, Ratssitzung 1. Dezember 1735, fol. 75 v : Denenselben wird hiemit auferlegt, das sie sich künfftighin vor abgab des essen und trinckhen unter dem Gottesdienst also gewiß enthalten. 27 Siehe die Salzburger Instruktion für den Zeller Pfleger Kaspar Vogl: Bayerisches Hauptstaatsarchiv SL Salzburg 6, unfoliiert: „Casparn Vogls reverß auf die pfleg Caprun, brobstey Fusch und landtgericht Zell de anno 1601": das unnser Unterthannen [...] vor Vollendung des gotsdiensts mit predigen und gesungenen heiligen ambt nit auß der kirchen gern. Zum mißglückten Bauernaufstand (?) in Zell und Kaprun von 1 6 0 5 / 6 siehe SCHEUTZ, TERSCH: Vogl (1995) 689-748. Zu einem Arbeitsverbot am Sonntag siehe PlRCKMAYER: Sonntagsheiligung (1893) 236. 28 Mehrere Erwähnungen im Codex Austriacus, als Beispiel CA IV, 622 [Wien, 1730 Jänner 28],

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Spillen auf das schärffeste abzustellen, wie auch die spörrung deren würtshäusem in winter umb 9 uhr und Sommerzeit umb 10 uhr nachts aufzutragen ? Diese auch in zahlreichen ober-30 und niederösterreichischen31 Weistümern mehrfach dokumentierten Gebote scheinen direkt wenig gefruchtet zu haben, wie aus den zahlreichen Belegen auf Ebene der Strafpraxis gezeigt werden kann. Der „pädagogische" Einfluß der Normen auf das Alltags-Verhalten der Untertanen läßt sich dagegen schwer abschätzen. Die ansässige Bürokratie griff in Scheibbs immer wieder massiv ins religiöse und soziale Leben des Marktes ein. Im ersten der angeführten Beispiele hatte der Marktrat den Viehhirten gegen Bezahlung zur Beaufsichtigung der Kinder während des Gottesdienstes eingespannt. Es wurde nach dem Dreißigjährigen Krieg verstärkt gebräuchlich, auch kirchliche Belange zur Aufrechterhaltung des tugendsamen Lebens in weltliche Taidingtexte aufzunehmen.32 Die weltlichen Beamten sollten auch in kirchlichen Angelegenheiten über ihre Untertanen wachen. Das zweite und dritte Beispiel aus dem 18. Jahrhundert verdeutlichen andererseits die mediatisierte Stellung des Scheibbser Marktrates und des Marktrichters, der, aufgefordert durch den Gaminger Hofrichter, - nicht immer ganz willfährig den Dekreten des Hofrichters bzw. des Gaminger Prälaten als Stadtherrn nachkommen mußte. Die „von oben" erzwungene Disziplin läßt sich - das machen die angeführten Beispiele deutlich - nicht genau lokalisieren, weil die Urheber

29 StA Scheibbs, Ankunft des Kreisboten 1. Dezember 1759, fol. 108 r . Siehe auch das Patent 1770 März 10 [Republizierung von 1730 Jänner 28], in C A VI, 1310-1311 [Wien, 1770 März 10]: Die N O . Regierung befahl „daß alle Gast- Schänk- Bier- und Brandweinhäuser, auch Gewürz- und Kaffeegewölber an den Sonn- und gebotenen Feyertagen bis auf Mittag, mithin bis nach völlig geendigtem Gottesdienste verschlossen bleiben" [mit Ausnahme der Reisenden]. Zu Spielen - Spielverboten ZOLLINGER: Glücksspiel (1997) 189-208. 30 Siehe (in Auswahl) O Ö W I, 26, Ζ 14: Aigen ( O Ö ) [1679 Dezember 15]: „Es sollen auch all und iede burger zu sonn- und feüertägen nit allein von selbsten dem gottsdienst fleissig besuechen und an gebottenen fastägen sich von fleisch essen enthalten und respective abhalten. Item sollen auch alle wiert, cramer und burger am Aygen under dem gottsdienst nichts kaufen noch verkaufen, kein leitgeberei treiben ausser gegen denen landraissigen, villweniger die cramer einigen lädten eröffnen." Ahnliche Beispiele (in Auswahl): O Ö W I, 52, Ζ 27: Haslach [1701]; O Ö W I, 252, Ζ 27: Hellmonsödt [1594]; O Ö W I, 393, Ζ 38: Leopoldschlag [1765 Mai 15]; O Ö W I, 851, Ζ 14 Banntaiding Aussernstein [1777 Februar 3 und 4]: „wird denen würthen aller ausschank und speis unter denen gottesdiensten an sonnoder feiertägen hiemit aufs aller schärfeste verbothen"; O Ö W I, 700, Ζ 5: Max Lobgott Graf von Kuefstein für Tragwein [ 1 7 0 9 / 2 9 / 5 0 ] ; O Ö W III, 126, Ζ 17: Markt Peuerbach [1699]; O Ö W II, 266, Ζ 22: Markt Spital am Pyhrn [1559 März 6]; O Ö W IV, 97, Ζ 36: Stadt Schärding [1610 März 30]; 31 Siehe (in Auswahl) N Ö W III, 104, Ζ 21: Langenlebarn [1767 Juni 15]: „die junge bursch an sonn- und feirtagen unter den gottesdienst nicht etwan die würthshaüser dem gotteshaus vorziehen und die zu verkündung nothwendiger christlicher Wahrheiten und deren göttlichen gebothen ordentlich gewidmete zeit mit saufen und anderen ungebühren zubringen."; weitere Beispiele: N Ö W III, 131, Ζ 32: Anzbach [1671 März 31]; N Ö W III, 356, Ζ 23: Hollenburg [1563 Juni 28]; N Ö W III, 494, Ζ 6: Kilb [1530]; N Ö W III, 536, Ζ 46: Melk [1730 September 15]; N Ö W III, 845, Ζ 14: Erlakloster [ 1 6 4 0 84], Siehe auch MÜLLEDER: Alkoholkonsum (1989) 211 und zum Spiel am Sonntag DERS.: Spielkarte (1991) 8. 32 Siehe die Auflistung für Oberösterreich bei FEIGL: Taidinge (1984) 169ff.: Die katholische Konfession sollte betont, Sonn- und Feiertage geheiligt und niemand vom Kirchenbesuch abgehalten werden usw. Siehe vor allem auch die aufschlußreiche Gegenüberstellung von Taidingtexten in der Fassung des calvinistischen Georg Erasmus Tschernembl und seines katholischen Nachfolgers Leonhard Helferich von Meggau S. 161-165.

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dieser versuchten Disziplinierungsbestrebungen nicht exakt faßbar werden: Stehen Patente und Dekrete der Regierung bzw. der Kreisbehörden oder aber persönliche Anordnungen des Hofrichters bzw. des Gaminger Prälaten hinter diesen Regulierungsbemühungen? Die Sachlage ist nicht immer genau überschaubar. Wer disziplinierte also hier wen und w o finden Widerstände gegen diese Anordnungen ihren quellenmäßigen Niederschlag? Durch die Verordnungen sollte als Generalziel die „Erziehung" der Untertanen zu Andacht und Sauberkeit erfolgen, und gleichzeitig war die weltliche Behörde als „Religionspolizei" befugt, so Justi, „alle Feierlichkeiten und Zeremonien bei dem Gottesdienst zu bestimmen, die nicht von dem Urheber der Religion selbst vorgeschrieben sind oder zu den Religionslehren und Meinungen gehören." 3 3 Folgende Entwicklungen lassen sich als administrative Grundzüge in der Frühen Neuzeit festmachen: Reguläre Finanzwirtschaft, stehendes Heer, Machtstaatspolitik, Institutionalisierung des Gerichtswesens und der Aufbau einer effektiven Verwaltung. Aus dem Vorgesagten wird schon deutlich, daß sich ein Bündnis zwischen T h r o n und Altar abzeichnete. 34 Die Tendenz zu Konzentration und Zentralisation der Staatsgewalt verbindet sich zudem seit dem 17. Jahrhundert mit den Ansätzen zu einer formalen Rationalisierung 35 sowie tiefgreifenden Änderungen und Reglementierungen im Leben von Individuen und von ganzen Gruppen. Verschiedene theoretische Ansätze wie das Rationalisierungskonzept von Max Weber, die Zivilisationstheorie von Norbert Elias oder das Sozialdisziplinierungskonzept von Gerhard Oestreich versuchten, diese Entwicklungen

33 DIPPER: Volksreligion (1986) 81 [op. zit.: Johann Heinrich Gottlob von JUSTI: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten oder ausführliche Vorstellung der gesamten PoliceyWissenschaft, Bd. 2 (Königsberg 1 7 6 1 / N D Aalen 1965) 32]. Dipper erwähnt übrigens auch ein Beispiel eines Winshauses, das während der Messe geschlossen werden sollte. Siehe auch STOCKERT: Konfessionalisierung (1997) 212: Als ein besonders gutes Beispiel für eine erfolgreiche bürokratische Intervention in Religionssachen siehe die Autobiographie des vorderösterreichischen Kanzleiverwalters in Saulgau J o h a n n Baptist Martin von Arand für das J a h r 1781, der eine Intervention in der Kirche beschreibt: „Der Kammerer und Stadtpfarrer Bestlini in Saulgau hatten einen erst aus dem Seminar gekommenen Kaplan, Arthofer mit Namen. Er war ein sehr bornierter Schwachkopf. Eines Freitags hielt er in der Frauenkapelle zu Mooshaupten ein auffallendes Fastenexempel. D e r Held seiner Geschichte hatte alle Laster begangen. E r starb ohne Beichte. V o r dem Richterstuhle Gottes war der Stab der Verdammnis über ihn schon gebrochen, als die Mutter Gottes herbeikam, das Urteil ihres göttliches Sohnes zurücknahm und die Seele wieder nach der Oberwelt in ihren Körper mit dem Befehle zurückschickte, einen Priester zu rufen, seine Sünden zu beichten und dann erst wieder zu Gerichte zu k o m m e n . Diese Gnade der göttlichen Mutter erhielt der Sünder deswegen, weil er, bei all seinem Lasterleben, alle Samstage einen Rosenkranz zur Ehre Maria gebetet hatte! Glücklich- oder unglücklicherweise wohnte ich eben auch dieser Predigt bei. Ich glaubte vor Verdruß den Pfaffen von der Kanzel herunterwerfen zu müssen, der einer Versammlung von circa 3000 Menschen eine so krasse, Religion und Vernunft tief beleidigende Dummheit vorschwatzen konnte. Gleich ließ ich ihn nachher zu mir k o m m e n , verwies ihm diese abscheuliche Irrlehre und Torheit. E r begriff das ihm detaillierte Ärgerliche, wie ich's ihm schilderte. Er weinte, bekannte, aus einem alten Buche das Unwesen herausgenommen zu haben. Das mußte er mir gleich holen, und ich habe es in meinem Ofen den Flammen geweiht. Auf seine Bitte um besser Belehrung nahm ich mich dieses jungen Priesters an; ich gab ihm stufenweise gute, bessere Grundsätze enthaltende Bücher; er las vieles und wurde noch ein braver Schafhirte." Aus WALLER: Arand (1996) 83-84. 34 35

OESTREICH: Verfassungsgeschichte (1986) 9 1 - 9 3 . BREUER: Bürokratie (1994) 56.

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theoretisch zu erklären bzw. von den Einzelfällen abgehoben zu verdeutlichen, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

1. Max Webers Rationalisierungskonzept Der Heidelberger Jurist, Nationalökonom und Mitbegründer der Fachrichtung Soziologie, Max Weber (1864-1924),36 verwendete den Begriff der „Disziplin" immer wieder als Erklärungsansatz eines universalgeschichtlichen, wenn auch schon von Weber höchst heterogen 37 geschilderten Rationalisierungsprozesses. „Disziplin soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit von Menschen zu finden." 38 An anderer Stelle spricht Weber von der Beamtendisziplin, „d.h. [die] Eingestelltheit der Beamten auf präzisen Gehorsam innerhalb ihrer gewohnten Tätigkeit". 39 Die Disziplin verdrängt das selbstständige Handeln der Menschen innerhalb ihres Berufes bzw. innerhalb der Gesellschaft. Zweckrationales Handeln 40 und als Folge gesteigerte Berechenbarkeit der Handlungsabläufe kennzeichnen den Rationalisierungprozeß. Die Außenwelt des Menschen wird durch zweckrational orientiertes Handeln in verstärktem Maß beherrschbar. Partielle Disziplinierungsvorgänge, besonders in Kirche, Kloster und Militär, werden als Vorhut jener „Umstellung der gesamten gesellschaftlichen Organisation auf Rationalität" 41 aufgefaßt. Die Geschichte der Disziplinierung/Rationalisierung stellt sich als eine „Folge von Diskontinuitäten, von Bewegungsvorgängen und Erstarrungen, von Brüchen und Verschiebungen" 42 dar, die in eine Struktur münden, die alles außerhalb Stehende vernichtet. Die Konzentration der Verfügungsgewalt über die Verwaltungs- und Kriegsbetriebsmittel in einer einzigen Instanz und die Schaffung von Ordnung sei ein Charakteristikum der Ratio36 Zur Biographie FÜGEN: Weber (1997) und zum „retuschierten Klassiker" KÄSLER: Weber (1995) 12-39. Zur angeblichen Abstammung Max Webers von protestantischen Salzburger Emigranten WALKER: Salzburger Handel (1997) 172-174. 37 Dazu BOGNER: Zivilisation (1989) lOlff. 38 WEBER: Wirtschaft (1980) 28-29: „Der Begriff .Macht' ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen. Der soziologische Begriff der ,Herrschaft' muß daher ein präziserer sein und kann nur die Chance bedeuten: für einen Befehl Fügsamkeit zu finden." 39 WEBER: Wirtschaft (1980) 570 und viele weitere Hinweise im Sachregister siehe S. 885. Siehe auch den Artikel „Bürokratie" in: SCHÄFERS: Soziologie (1992) 43-44. 40 Siehe dazu die Aufstellung der verschiedenen Bedeutungen bei BOGNER: Zivilisation (1989) 100-101: 1. Rationalität des Handelns: einerseits im Sinne von dessen forcierter ,intellektualisierter' Bewußtheit; andererseits - aber im engsten Zusammenhang damit - im Sinne der expliziten Disponibilität und des .bewußten Neuschaffens'; 2. Rationalität der .sozialen Beziehungen' im Sinne von deren .Vergesellschaftung'; 3. Rationalisierung als .Entzauberung der Welt' im Sinne der .Verwissenschaftlichung des Weltbildes' und der technischen Weltbeherrschung; 4. Rationalisierung als .Entzauberung der Welt' im Sinne der .Entstereotypisierung', nämlich der .Emanzipation von einem magisch garantierten Traditionalismus'; 5. Rationalität im Sinne der strikten .Konsequenz' und Rationalisierung als .Systematisierung'. 41 BREUER: Sozialdisziplinierung (1986) 51. Zur Rationalisierung des Staates DERS.: Bürokratie (1994) 33-58. Siehe auch LOTTES: Zähmung (1998) 221-239. 42 BREUER: Max Weber (1978) 410.

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nalisierung. Weber hat - und das macht den Begriff der „Rationalisierung" so schwer greifbar - den Prozeß der Rationalisierung, wohl auch bedingt durch seinen frühen Tod, nie umfassender in seinem Werk gedeutet. Vieles bleibt daher recht allgemein formuliert. „Das zunehmende Eingreifen gesatzter Ordnungen aber ist für unsere Betrachtung nur ein besonders charakteristischer Bestandteil jenes Rationalisierungs- und Vergesellschaftungsprozesses, dessen fortschreitendes Umsichgreifen in allem Gemeinschaftshandeln wir auf allen Gebieten als wesentlichste Triebkraft der Entwicklung zu verfolgen haben werden." 43 Weber weist auch auf die spezifisch europäische, neuzeitliche Entwicklung, auf die besondere Symbiose von Gewalt- und Produktionsmittelmonopolisierung hin. 44 Die Arbeiten zur Religionssoziologie, besonders der von ihm hergestellte Zusammenhang des kapitalistischen Geistes mit der protestantischen Ethik, führte ihn zur Frage nach der Ausbildung des „psychologischen Antriebes", der die „Lebensführung" 45 der Individuen so grundlegend beeinflußte. Am Ende der Entwicklung, die mit der asketischen Selbstzucht des abendländlichen Mönchtums begann, steht die „Zucht der Individuen durch die ,Gesellschaft'". 46 Systematische Selbstkontrolle der Trieb- und Affektimpulse stehen im Mittelpunkt von Webers Protestantismus-Aufsatz und verweisen damit - aus heutiger Sicht - auf eine KonkurrenzKonzeption, 47 nämlich auf den langen Prozeß der Zivilisation bzw. der Zivilisierung, auf Norbert Elias.

2. Norbert Elias und der Prozeß der Zivilisation Der Soziologe Norbert Elias (1897-1990) beschrieb in seinem 1939 erschienenen, aber erst in den siebziger Jahren weitreichend rezipierten Buch 48 „Uber den Prozeß der Zivilisation" den Diffusionsvorgang von Fremd- in Selbstzwänge, wie Elias es nannte, sowie den wachsenden „Zwang zur Selbstkontrolle", 49 beginnend mit dem Mittelalter. U m das Konzept des Zivilisationsprozesses gliedern sich mehrere, artverwandte Begriffe wie „Zivilisationsschub", „Schamgrenze" und „Verhöflichung". Elias schildert anhand einer Fülle von spätmittelalterlichen und WEBER: Wirtschaft (1980) 196. BOGNER: Zivilisation (1989) 194. 45 Zur Bedeutung dieses Begriffes bei Weber HENNIS: Weber (1987) 15-16: Weber in Entgegnung zu Werner Sombart: „Für meine Fragestellung, die sich mit der Entstehung desjenigen ethischen .Lebensstils' befaßt, welcher der Wirtschaftsstufe des .Kapitalismus' geistig .adäquat' war, seinen Sieg in der ,Seele' der Menschen bedeutete", sei seine Terminologie die seiner Ansicht nach berechtigte. 43 44

46 HEINS: Weber (1997) 29. Siehe auch WEBER: Wirtschaft (1980) 123: „Gehorsam' soll bedeuten, daß das Handeln des Gehorchenden im wesentlichen so abläuft, als ob er den Inhalt des Befehls um dessen selbst willen zur Maxime seines Verhaltens gemacht habe, und zwar lediglich um des formalen Gehorsamsverhältnisses halber, ohne Rücksicht auf die eigene Ansicht über den W e n oder Unwert des Befehls als solchen."

Zur Sicht von Elias auf die Rationalisierungsthese von Weber BREUER: Elias (1996) 3 0 3 - 3 3 0 . KÖRTE: Elias (1988) 23ff.; KÖRTE: Zivilisationstheorie (1993) 15-49. Zur Rezeption BURKE: Zivilisation (1997) 61f.; zur langsamen Rezeption in Frankreich MUCHEMBLED: Elias (1996) 2 7 5 - 2 8 7 . Zur Biographie ELIAS: Über sich (1990); WALDHÖR: Elias (1996) 1-31. 49 ELIAS: Zivilisation, Bd. 2 (1986) 404. Siehe auch das Kapitel im 2. Bd. „Der gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang", S. 3 1 2 - 3 3 6 . Siehe auch seinen Artikel „Zivilisation" in: SCHÄFERS: Soziologie (1992) 3 8 2 - 3 8 7 . 47 48

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frühneuzeitlichen Beispielen das Verhalten beim Essen, den Gebrauch der Gabel, das Spucken und Schneuzen oder die allmähliche Verschiebung der Intimitätszonen. Ein „Wandel der Affekt- und Kontrollstrukturen von Menschen" fand „in die Richtung einer zunehmenden Straffung und Differenzierung der Kontrollen"50 statt. Der nach England emigrierte Soziologe erkannte darin die immer umfassendere Entwicklung der Trieb- und Affektkontrolle. Der Zivilisationsprozeß wird „blind in Gang gesetzt und in Gang gehalten durch die Eigendynamik eines Beziehungsgeflechts, durch spezifische Veränderungen der Art, in der die Menschen miteinander zu leben gehalten sind."51 Parallelen zwischen dem wachsenden Kontroll- und Uberwachungsapparat in der Gesellschaft und den internalisierten Kontrollen im Seelenhaushalt52 ließen sich konstatieren. In Anlehnung an Freud spricht Elias von einem immer differenzierteren und stabileren Uber-Ich. Der Zivilisationsprozeß schlug Wunden in die Psyche des einzelnen, die zwar nach und nach vernarbten, sich aber bei neuen Konflikten wieder öffnen können und so ein scheinbar verlorenes Erbe der Vergangenheit durchscheinen lassen.53 Der moderne Mensch, ein „homo clausus", baut eine Wand zwischen dem eigenen Ich und der Gesellschaft. Die Oberschicht wurde zuerst von dieser Selbstdisziplinierung erfaßt, indem sie durch „höfische Funktionen in den Herrschaftszentren eines großen Gesellschaftsverbandes und kaufmännische Funktionen in den Zentren der Fernhandelsverflechtung" 54 gebunden wurde. Die Unterschichten gaben ihren „Affekten und Trieben unmittelbarer" 55 nach, sodaß ihr Verhalten weniger reguliert war als das der Oberschicht. Dieser Kontrast zwischen Unter- und Oberschicht verringerte sich im Laufe der abendländischen Gesellschaft immer mehr, wenngleich auch in der Angleichung der Schichten immer wieder retardierende Wellen zu verzeichnen sind. Die höfische Gesellschaft wird für Elias der „Grundstock vieler Verhaltens- und Verkehrsformen". 56 Die „Verhöflichung" des Kriegers, die Ausbildung von Gewalt- und Steuermonopolen ließen die höfische Gesellschaft als neues Zentrum der herrscherlichen Macht erstehen. Das Leben am Hof eröffnet dem Adeligen Zugang zu „wirtschaftlichen und zugleich zu PrestigeChancen, die den Anspruch auf eine repräsentative Oberschichtexistenz einigermaßen befriedigen konnten." 57 Der König ist zwar einerseits Unterdrücker, andererseits aber auch Erhalter des Adels.58 Für Elias stellte das höfische Leben einen ersten Kulminationspunkt der Affektregulierung dar. Die Rationalisierung des 50 REISENLEITNER: Elias (1990) 47-58, hier 47. Am Beispiel des Gestankes in Wien (in Anlehnung an Alain Corbin) PAYER: Gestank (1997) 23-52. 51

ELIAS: Zivilisation, Bd. 2 (1986) 316.

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Ebenda, 327ff. Ebenda, 333-334 54 Ebenda, 339. 55 Ebenda, 342. 56 Ebenda, 352f. 57 Ebenda, Bd. 2 (1986) 364. BOGNER: Zivilisation (1989) 18-27; mit einer Kritik speziell an der Darstellung des Hofes bei Elias siehe DUINDAM: Myths (1993), zu diesem Problem auch BAUER: Höfische Gesellschaft (1993) 33-39. 51 Dazu ELIAS: Höfische Gesellschaft (1987) 178-221, das Kapitel „Die Verkettung des Königs durch Etikette und Prestigechancen." Siehe auch die direkte Anwendung der Elias'schen Konzepte bei EHALT: Ausdrucksformen (1980) oder ZuSCHNIG: Elias (1990). Zur königlichen Inszenierungsfläche 53

H o f : BURKE: L u d w i g X I V (1995).

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Verhaltens und die fortgeschrittene gesellschaftliche Zentralisierung lassen sich deutlich am regulierenden Hof-Zeremoniell ablesen. Veränderte Scham- und Peinlichkeitsgrenzen, eine gewandelte Einstellung zur Sexualität dienten Elias als Indikatoren für diese Sozialisation. Die Angst vor Übertretung gesellschaftlicher Verbote erhält umso stärker „den Charakter der Scham [...], je stärker durch den Aufbau der Gesellschaft Fremdzwänge in Selbstzwänge umgewandelt werden und je umfassender, je differenzierter der Ring der Selbstzwänge wird, der sich um das Verhalten des Menschen legt." 59 Ausgehend von den Höfen breitet sich der Prozeß der Zivilisation nach unten aus. Sozio- und Psychogenese, und damit Makround Mikrobereich, werden aufgrund steigender gegenseitiger Abhängigkeit der Menschen (Interdependenzen) von Elias fortschreitend miteinander verknüpft (Figurationen). 60 Gewalt-, Boden- und Steuermonopol waren auf administrativer Ebene Voraussetzung für die Herrschaftsausbildung. „Die finanziellen Mittel, die zur Verfügung der Zentralgewalt zusammenströmen, halten das Gewaltmonopol aufrecht, das Gewaltmonopol hält das Abgabenmonopol aufrecht." 61 Nach dieser Phase der Monopolbildung beginnt, so Elias, die „Vergesellschaftung der Monopole", indem sich ein Verwaltungsapparat ausbildet; gleichzeitig nimmt die Abhängigkeit der Führungsschicht vom Verwaltungsapparat ständig zu. Der Herrscher muß seine finanziellen Erträge zunehmend an die Beamten umverteilen, die sein Herrschaftsgebiet verwalten. Der Soziologe Elias parallelisiert dies mit der Affektkontrolle: „So wie das funktionsteilige Staatswesen die Untertanen und Mitglieder des Verwaltungsstabes zur Regulierung ihres Verhaltens zwingt, so muß sich auch der Alleinherrscher zunehmend zur Zurückhaltung zwingen, um das komplexer werdende Interdependenzgeflecht, das seinen Staat definiert und stabilisiert, nicht durch Affekthandlungen aus dem Gleichgewicht zu bringen." 62 Die steigende Anzahl von Interdependenzen und eine stärkere gesellschaftliche Ausdifferenzierung charakterisieren den Staatswerdungsprozeß der Frühen Neuzeit. Elias sieht den Prozeß der Zivilisation als weltweiten, bis heute nicht abgeschlossenen, epochenübergreifenden Prozeß. 63 Norbert Elias gilt damit heute als einer der Mitbegründer der Alltagsgeschichte, 64 indem er in seinem Werk besonders die kulturellen Transformationsmechanismen der frühneuzeitlichen Gesellschaft betonte. Die teleologische Zielsetzung seiner Modernisierungstheorie, 65 scheinbar ohne einschneidende Bruchlinien, stieß vor allem aus ethnologischer Sicht auf Bedenken. Hans Peter Duerr unterstellte Elias die Konstruktion eines „unzivilisierten" Mittelalters im Gegensatz zur „zivilisierten" Neuzeit, obwohl Elias immer wieder darauf hingewiesen hatte, daß die Entwicklung der Zivilisation in Schüben und Gegenschüben verlaufen würde. Außerdem betonte Elias zusätzlich zur diachronen Verhaltensdifferenzierung auch die synchrone, also etwa die UnterschieELIAS: Zivilisation, Bd. 2 (1986) 398. GOUDSBLOM: Erforschung (1984) 89ff. 61 ELIAS: Zivilisation, Bd. 2 (1986) 142. 62 BAUMGART, EICHENER: Elias (1991) 71. 63 So auch der letzte Satz seines Buches, ELIAS: Zilisation, Bd. 2 (1986) 454. Elias sah auch seinen „Prozeß der Zivilisation" als Fragment, siehe SCHRÖTER: Harte Arbeit (1996) 95. 64 HARDTWIG: Alltagsgeschichte (1994) 20. 65 BOGNER: Zivilisationsprozeß (1991) 43ff. 59 60

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de zwischen Adel und Bürgern, Stadt und Dorf usw. Duerr verwies in seiner, mit vielen weltumspannenden Beispielen versehenen Kritik am „Zivilisationsmythos" darauf, daß die Scham- und Peinlichkeitsgrenzen nicht global immer weiter vorrücken würden, sondern unterschiedlichen kultur- und zeitspezifischen Einflüssen und Kontexten unterworfen seien.66 Auch von anderer Seite erfuhr seine historisch mitunter recht vage Darstellung einer mittelalterlichen Freizügigkeit in dieser von Elias weitgehend als einheitlich gesehenen Epoche 67 Widerspruch und Kritik. 68 Die Uberschätzung der Eliten und ihres erzieherischen Impetus leitet sich bei Elias auch von seiner Quellenbasis her, indem er vorwiegend Belege des höfischen Lebens als Stütze und Beleg in seinen Untersuchungen benutzte. 69 Die Rolle des Bürgertums 70 oder die Industrialisierung bleiben dabei weitgehend ausgeblendet. Als Besonderheit am europäischen Zivilisationsprozeß im Gegensatz zu außereuropäischen Kulturen erkannte Elias, „daß nicht eine Gruppe das Verhaltensmuster für alle anderen schuf und sie darauf einschwor, sondern daß jede Gruppe ihre eigenen Zivilisationserfahrungen einbrachte."71 Die genauen Mechanismen der zunehmenden „Affekt- und Triebkontrolle" werden von Elias unscharf und schematisch ohne hinreichende, theoretische Erklärung dargestellt.72 Die „relative Autonomie" des Menschen bedeutet für Elias, daß individuelle Handlungen nie von vornherein gesellschaftlich determiniert sind, andererseits ist individuelles Handeln nie völlig frei davon.73 Elias ist einer der ersten, der das lange geltende Theorem von der anthropologischen Konstante hinterfragte. Er schuf somit eine wichtige Voraussetzung für die Beschäftigung der Historiker mit den sich wandelnden Mentalitäten.

3. Gerhard Oestreichs Konzept der „Sozialdisziplinierung" Der Marburger Historiker Gerhard Oestreich74 (1910-1978) war einer der Mitschöpfer der „Frühen Neuzeit" als eigener Fachdisziplin innerhalb der „Ge-

66 DUERR: N a c k t h e i t u n d Scham (1988) 9-12: D u e r r will im Hinblick auf „Scham" gegen Elias zeigen, daß „die Menschen in kleinen, überschaubaren, .traditionellen' Gesellschaften mit den Angehörigen der eigenen G r u p p e viel enger verflochten waren, als dies bei uns Heutigen der Fall ist, was bedeutet, daß die unmittelbare soziale Kontrolle, der man u n t e r w o r f e n war, viel unvermeidbarer u n d lückenloser gewesen ist. D a m i t wird deutlich, wie fragwürdig die Behauptung ist, daß wir heute v o n einem viel dichteren Ring v o n Vorschriften und Regelungen umgeben seien als einst, da die .Zensur u n d der D r u c k des gesellschaftlichen Lebens' erheblich z u g e n o m m e n hätten." Siehe D u e r r s Replik auf die Einwende von Elias bei DUERR: Intimität (1990) 11-24; vgl. REISENLEITNER: Elias (1990) 52. 67

Z u r Kritik des Ethnozentrismus BAUMGART, EICHENER: Elias (1991) 87ff. Z u r Kritik an ein e m „einheitlichen europäischen Muster", MUCHEMBLED: Elias (1996) 283. 68 DÜLMEN: N o r b e r t Elias (1993) 369; SCHRÖTER: Scham (1990) 34-76. Siehe auch die differenzierte Darstellung v o n städtischer Sexualität im Spätmittelalter DERS.: Staatsbildung (1984) 148-192. 69 BOGNER: Sozialdisziplinierung (1996) 129. Siehe auch DÜLMEN: Elias (1993) 365. 70 BAUMGART, EICHENER: Elias (1991) 89ff. 71 DÜLMEN: Elias (1993) 370. 72 BOGNER: Sozialdisziplinierung (1996) 130; DUINDAM: M y t h s (1993) 179f. 73 KUZMICS, MÖRTH: Elias (1991) 14: „Menschen handeln nie n u r aus eigener Wahl!"; BffiRINGER: Zivilisation (1995) 23ff. 74 Z u r Person BRUCH, MÜLLER: Historikerlexikon (1991) 225-226; BAUMGART: Oestreich (1978) 129-138.

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schichte". Er sah in dem, 1958/59 75 erstmals anläßlich eines Vortrages geprägten Begriff der „Sozialdisziplinierung" eines der strukturellen Grundprobleme des europäischen Absolutismus. Er erkannte die frühneuzeitliche Staatsbildung als bewußte „Disziplinierung auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens", 7 6 indem alte Freiheiten abgebaut und neue Herrschaftsapparate geschaffen wurden. Oestreich konnte aufgrund seiner eingehenden Beschäftigung mit der neustoischen Philosophie des Späthumanisten Justus Lipsius (1547-1606) 77 einen immer stärker disziplinierenden Zugriff der „Obrigkeit" auf die „Zucht" der Untertanen feststellen. „Die Sozialdisziplinierung ist das politische und soziale Ergebnis des monarchischen Absolutismus". Ausgehend v o m Heer und dem sitzenden Heer der Beamten überzieht diese Fundamentaldisziplinierung alle Bereiche des sozialen Lebens, sodaß Oestreich schließlich in Zusammenhang mit den Reformen Josephs II. feststellt, daß jede der Josephinischen Reformen „auf den fleißigen und gehorsamen, den tüchtigen und zuchtvollen Untertan zielenden Maßnahmen in Staat und Wirtschaft, Kirche und Schule [...] unter die Überschrift .Sozialdisziplinierung' gestellt werden" kann. 78 Diese rigiden Reglementierungen zeitigten eine „geistigmoralische und psychologische Strukturveränderung des politischen, militärischen, wirtschaftlichen Menschen durch die Sozialdisziplinierung". 79 Oestreich sah sein evolutionäres „Sozialdisziplinierungs"-Modell - ein teleologisch orientierter Idealtyp zweifellos - nicht statisch, sondern differenzierte verschiedene Phasen der Entwicklung. Die „Sozialregulierung", die Vorform der Sozialdisziplinierung in der „Hochrenaissance" 8 0 , erfaßte dabei vornehmlich die Städte. 81 Die städtischen „Policey"- und andere derartige Ordnungen 8 2 (beispielsweise Handwerks- und Marktordnungen) ab der Zeit des Spätmittelalters versuchten, viele Bereiche des sozialen Lebens zu regulieren, wenngleich die Erfolge dieser Bemühungen meist nicht sehr groß waren. 83 Der auch in Quellen oftmals be-

75 OESTREICH: V o r w o r t (1980) 8-9. Titel des Vortrags „ V o n der deutschen Libertät z u m deutschen Dualismus 1648-1789"; Oestreichs Aufsatz erschien 1960 unter dem Titel „Reichsverfassung und europäisches Staatensystem 1648-1789"; N e u a b d r u c k bei OESTREICH: Geist und Gestalt (1969) 235-252. Zur V o r f o r m e n bei Clemens Bauer, der 1931 schon von der „obrigkeitlichen Regelung und Disziplinierung der Wirtschaft" sprach, siehe SCHULZE: Gerhard Oestreich (1987) 298.

OESTREICH: Reichsverfassung (1969) 236. OESTREICH: Lipsius (1969) 35-79. Siehe auch STOLLEIS: Lipsius-Rezeption (1990) 232-267. 78 OESTREICH: Strukturprobleme (1980) 194-195. 7' Ebenda, 188. Z u m Zusammenhang der Entstehung des Gewissens und „Sozialdisziplinierung" K.ITTSTEINER: Gewissen (1991) 293-296. 80 SCHULZE: Gerhard Oestreich (1987) 267. 81 Z u r k a u m zu treffenden Abgrenzung zwischen „Sozialregulierung" und „Sozialdisziplinierung" BUCHHOLZ: Anfänge (1991) 129-147 und NEUMANN: Sozialdisziplinierung (1997) 39ff. 76

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82 Z u „Polizey" KNEMEYER: Polizei (1978) 875-886; PLODECK: Landesordnungen (1975) 95125. Frühester Beleg für „Policey" 1451 in einer Wiener Handwerksordnung (Schlosser- und Büchsenmacher) bei PAUSER: Gravamina (1997) 13-38. Zur österreichischen Policeygesetzgebung BRAUNEDER: Policeygesetzgebung (1996) 229-316. Z u sozialregulierenden Menchanismen siehe auch die edierten Handwerksordnungen bei SCHEUTZ, SCHMUTZER, SPEVAK, STÖGER: Handwerksordnungen (1997) 21-24. 83 OESTREICH: Policey (1980) 371ff.; SCHULZE: Gerhard Oestreich (1987) 267f. W. Schulze stellte die nachgelassenen Skizzen und Fragmente Gerhard Oestreichs zusammen. Siehe auch REINHARD: Sozialdisziplinierung (1997) 43f., vor allem RAEFF: T h e well-ordered police state (1983) 43-179.

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legte Begriff der „guten Policey" wurde von verschiedenen Seiten aufgrund seiner Quellennähe als Gegenkonzept zur Sozialdisziplinierung vorgeschlagen. 84 Oestreich trennte die genossenschaftlich organisierte Sozialregulierung von der obrigkeitlich und damit territorialstaatlich definierten Sozialdisziplinierung: 85 In drei Prozessen läßt sich - und hier wird ein Andocken seiner Konzeption an Weber und Elias ersichtlich - die kulturelle Entwicklung einteilen: erstens in die Rationalisierung als Kennzeichen der abendländischen Entwicklung, zweitens in die Zivilisation als Fortschritt des menschlichen Benehmens seit dem Spätmittelalter, drittens in die Sozialdisziplinierung als Wandlung des inneren Menschen im Rahmen der Staats- und Gesellschaftsbildung. 86 Diese Entwicklung soll also als Kernbereiche die „Vernunft", dann die „Sitte" und abschließend die „Moral" umfassen. Die Sozialdisziplinierung erscheint in nicht ganz scharfer Abgrenzung zum Rationalisierungsmodell Max Webers als ein „weit umfassender Vorgang in seiner Verbindung von sittlicher Mäßigung und kraftvollem Handeln, von Askese und Aktion." 8 7 Oestreichs Sozialdisziplinierung, ein jahrhundertelanger Evolutions-Prozeß, bewirkte gerade „während des absolutistischen Zeitalters im Merkantilismus, Militarismus und in der Bürokratisierung eine neue Auffassung von Arbeit und Berufstätigkeit". Es gelang Oestreich, ähnlich wie Weber, aber nicht mehr, seine Konzeption klarer zu umreißen und den Begriff deutlicher herauszuarbeiten. Die Konzeption Gerhard Oestreichs bewies große integrative Fähigkeiten und ermöglichte es Rechts- und Kirchenhistorikern, aber auch Volkskundlern etc. den Verstaatlichungs- und Bürokratisierungsprozeß der Neuzeit besser zu erklären. Normative Quellen oder religiös-pädagogische Texte boten sich dabei besonders als Untersuchungsgegenstand an.88 Seine „sozialgeschichtliche Version von Absolutismus" hat andererseits auch viel Widerspruch gefunden. Dieser Ansatz einer Disziplinierung als Transformationsprozeß von „oben" hat Heinz Schilling etwa dazu veranlaßt, von der „etatistischen Prägung des Oestreichischen Sozialdisziplinierungskonzeptes" 89 mit einer tendenziellen Uberschätzung der staatlichen/obrigkeitlichen Möglichkeiten („Vermachtungsprozeß") zu sprechen. Der

84 Ζ. B. BLICKLE: Gute Polizei (1996) 105: „Sozialdisziplinierung weitet und generalisiert den vornehmlich in der Politiktheorie der Zeit verbreiteten Begriff Disziplin. Das Wort Polizei hingegen begegnet darüber hinaus auch auf der Ebene der Institutionen und der Gesetzgebung und greift durch seine semantische Nähe zu Politik weiter in das gesellschaftliche und staatliche Leben aus." Siehe auch DÜLMEN: Entstehung (1982) 360: „Unter Policey verstand der frühmoderne Staat den ganzen Komplex der Verwaltung und Ordnung einer Herrschaft; gute Policey bedeutete soviel wie ein gutes Regiment."; BLICKLE: Kommunalismus, Bd. 1 (2000) 99-101; als Beispiel für den großen Umfang des Begriffs KISSLING: Gute Policey (1999).

SCHULZE: Gerhard Oestreich (1987) 273, Anm. 15 Ebenda, 291. 87 OESTREICH: Strukturprobleme (1980) 195. Siehe BREUER: Sozialdisziplinierung (1986) 52. 88 Etwa die Policeyordnungen aus Speyer siehe NEUMANN: Sozialdisziplinierung (1996) 80ff.; HAAG: Predigt (1992). 89 SCHILLING: Disziplinierung (1997) 679; mit einem ergänzenden Vorschlag SCHMIDT: Sozialdisziplinierung (1997) 639-682. Schmidt schlägt in Anlehnung an Anthony Giddens ein Modell einer „lokal eingebettenen Gesellschaft", also ein Verbindung von disziplinierender Makro- und Mikrostruktur vor. 85 86

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Begriff „Staat" ist aber nicht genau umrissen. 90 Noch dazu wird die Motivation der Sozialdisziplinierung nur undeutlich herausgestrichen; „Sozialdisziplinierung" erscheint dabei fast als Selbstzweck. Thomas Winkelbauer hat diesbezüglich auf die große Bedeutung der Kommerzialisierung der Grundherrschaften im Zusammenhang mit der Sozialdisziplinierung anhand grundherrschaftlicher „Policeyordnungen" des Gundaker von Liechtenstein (1580-1658) aufmerksam gemacht. 91 Die „Disziplinierung aller Schichten der Gesellschaft für die politische Ordnung der korporativ-hierarchischen Ständegesellschaft" bzw. die „Diszplinierung des Einzelnen für die gesellschaftliche Ordnung" 92 steht im Vordergrund, also Disziplinierung nicht nur nach „unten", sondern auch nach „oben". 93 Es ist zu fragen, inwieweit nicht regionale und individuelle Erfahrungen als traditionelle Werte sozialer Gruppen ein Gegengewicht zum Disziplinierungsprozeß bilden. 94 Gerade diese Widerstände werden quellenmäßig ja besonders gut greifbar. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich bei der Bewertung und Einordnung von „Sozialdisziplinierung". Es ist kaum möglich, den augenblicklichen Stand der „Sozialdisziplinierung" in einem bestimmten Gebiet zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bewerten bzw. zu beurteilen, wann Beginn bzw. Ende der Sozialdisziplinierung überhaupt anzusetzen ist. Präsentiert sich ein Berner Dorf im 18. Jahrhundert „disziplinierter" als der kleine Ort Heiden in der Grafschaft Lippe? 95 Und wer diszipliniert eigentlich? Welche soziale Schicht diszipliniert wen? 96 Wird über das Vehikel der Sozialdisziplinierung ein Kampf der dörflichen/städtischen Oberschicht gegen die Unterschicht geführt? Diese und ähnliche Fragen fanden bei Oestreich kaum Beachtung. Oestreich merkte in seiner Auseinandersetzung mit der Zivilisationstheorie von Norbert Elias lediglich kritisch an, daß den handelnden Personen oder Gruppen bei der Disziplinierung besonderes Augenmerk geschenkt werden müsse. 97 Die pressure-groups der Sozialdisziplinierung sind meist quellenmäßig leichter faßbar als die Objekte der Disziplinierung und werden deshalb auch verstärkt untersucht. Die „Disziplinierten" blieben dagegen weitgehend unterbeleuchtet. Die Ausgangslage vor der eigentlichen „Sozialregulierung" bzw. „Sozialdisziplinierung" ist zudem bei Oestreich nicht gebührend berücksichtigt. Diese Zeit ist keineswegs durch einen „Zustand der Regellosigkeit gekennzeichnet". 98 Wie kann man das Zusammenspiel von normativen Vorgaben und faktischer Durchsetzung bewerten? Vielfach dienen und dienten ja normative Quellen (etwa Patente, päda-

90 Siehe OESTREICH: V o r w o r t (1980) 12: „Das Wesen des modernen Staates ist schwer in einer Definition einzufangen." " WINKELBAUER: Sozialdisziplinierung (1992) 335ff. Mit vielen weiteren Beispielen WlNKELBAUER: Fürstendiener (1999). 92 OESTREICH: V o r w o r t (1980) 7 - 8 . 93 MAIER: Sozialdisziplinierung (1993) 238. 94 FRANK: Lippe (1995) 31. 95 Vgl. SCHMIDT: D o r f (1995); und die Mikrostudie des Dorfes Heiden bei FRANK: Lippe (1995). A u c h die Fabriksarbeiter des 19. Jhs. wurden noch - hier wird die zeitliche Reichweite von Oestreichs K o n z e p t kritisch hinterfragt - sozialdiszipliniert, siehe LÜDTKE: Fabrik (1992) 206-231. 96 97 98

Als Beispiel, w o dies eindeutig klärbar ist, PAUSER: Bruderschaft (1996) 59-100. SCHULZE: Gerhard Oestreichs Begriff (1987) 266. LOTTES: Disziplin (1992) 65ff.

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gogische Texte oder Gerichtsordnungen) 99 schon als unumstößlicher Beleg für tatsächlich durchgeführte Sozialdisziplinierung. Von der normativen Grundlage wird meist - ein Kurzschluß, wie sich zeigte100 - auf die tatsächlich verwirklichte Disziplinierung in der Praxis geschlossen.101 Die Bestrafung von innerösterreichischen Kindsmörderinnen fiel beispielsweise, trotz rigider Bestimmungen im Franziszeischen Strafgesetzbuch von 1803, in der Praxis äußerst unterschiedlich aus.102 Die Einzelurteile über den Erfolg der Sozialdisziplinierung sind - insbesondere bei Fallstudien - meist „negativ" zu bewerten, die Gesamteinschätzung jedoch positiv.103 Die Disziplinierungsmaßnahmen beschränkten sich oft auf Normproduktion, Publikation und allenfalls auf Normumsetzungsintention. 104 Die unterschiedlichen Zugänge zur Sozialdisziplinierung haben Karl Vocelka veranlaßt, mit Blickrichtung auf die zur Belegung der Sozialdisziplinierung verwendeten Quellengattungen, drei „Phänomene" der Sozialdisziplinierung zu unterscheiden: den normativen, den erzieherisch-schulischen und den propagandistischen Aspekt.105 Die quellenmäßig oft nur schwer zu greifende Ebene der Praxis blieb und bleibt dagegen wenig erforscht, ein Manko, dem unter anderem diese vorliegende Untersuchung abzuhelfen sucht. Die Sozialdisziplinierung als Modell hat den Blick der Forscher vielfach kanalisiert und läßt scheinbar keine andere Entwicklungs-Möglichkeit zu. Oestreichs Konzeption erwies sich als äußerst wirkmächtig und schränkt paradoxerweise die Wahrnehmungsmöglichkeit der Historiker ein.106 Zudem gibt es kein Gegenmodell zur Sozialdisziplinierung, also kein Nicht-Sozialdisziplinierung-Modell.107 Untersuchungen zur frühneuzeitlichen Armenpolitik haben beispielsweise neben dem repressiven obrigkeitlichen Verhalten auch auf die Bedeutung der Selbsthilfe zur Bekämpfung der Armut aufmerksam gemacht.108 Einerseits schuf die absolutistische Herrschaftsbegründung neue Freiräume und Emanzipationsmöglichkeiten (man denke an die Alchemie), andererseits engte sie - scheinbar widersprüchlich - den Spielraum vieler Gruppen ein.109 Die So" Quellensammlung von MÜNCH: O r d n u n g (1984). Zur österreichischen Kriminal-Gesetzgebung auf rein normativer Ebene HELLBLING: Strafrechtsquellen (1996). 100 MEUMANN: Findelkinder (1995) 360ff., 400f.; FRANX: Lippe (1995) 357f.; SCHMIDT: Dorf (1995) 372. Siehe auch FRIEDEBURG: Sozialdisziplinierung (1990) 386ff. 101 DINGES: Armenfürsorge (1991) lOff., Replik bei JÜTTE: Disziplin (1991) 92-101. 102 HAMMER: Kindsmord (1997) 38-41, 302-312. 103 BLICKLE: Gute Polizei (1996) 105. Siehe auch VOGEL: Sozialdisziplinierung (1997) 106: Viele Studien zur Sozialdisziplinierung erbrachten als Ergebnis, „daß in der historischen Realität Sozialdisziplinierung als wirksames Herrschaftsinstrument oftmals wenig sichtbar ist". 104 DINGES: Normsetzung (1997) 39-53. 105 VOCELKA: Überlegung (1994) 33ff. 106 DINGES: Armenfürsorge (1991) 9. 107 Dazu auch FRANK: Lippe (1995) 29: „Der Begriff der Sozialdisziplinierung umschließt potentiell so viele Aspekte, daß er leicht in die Gefahr gerät, letzlich alles oder nichts zu erklären." Als Beispiele für die Vielfalt von Anwendungsmöglichkeiten der Sozialdisziplinierung WEBER: Rohr (1995) 1-20 oder RUBLACK: Beichte (1993) 127-155; SCHMIDT: Agrarpolitik (1992) 15-39, bes. 36-39. 108 DINGES: Armenfürsorge (1991) 20ff. 109 SCHULZE: Gerhard Oestreich (1987) 300. Dazu auch MEUMANN: Findelkinder (1995) 402. Siehe auch TSCHAIKNER: Magie (1997) 65-75 und PEUKERT: Sozialdisziplinierung (1986) 18f., der die Modernisierungstheorie relativiert und das Leiden am Fortschritt anhand der „verwahrlosten" Jugend aufzeigt.

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zialdisziplinierung erklärt zwar, w a r u m etwa Bettlerfamilien von Bauern abgewiesen w u r d e n , erklärt aber nicht, w a r u m so viele Bettler weiterhin in beträchtlichem U m f a n g A u f n a h m e und materielle Unterstützung in Bauernhäusern als zeitweilige „Inlieger" fanden. Oestreich bemerkte schon, daß die „Grenzen der Staatsverwaltung", durch die Brille der „Sozialdisziplinierung" gesehen, deutlich hervortraten. Die reale Durchsetzbarkeit der Disziplinierung stieß aufgrund der Vollzugsdefizite des „absolutistischen" Staates bzw. der noch nicht erfolgten Vergesellschaftung bei Bürokratie u n d H e e r bald an seine Grenzen u n d erscheint somit als fortwährender, nicht abgeschlossener Vorgang. 110

4. Konfessionalisierung „Sozialdisziplinierung ist ein säkularer Prozeß, der durch die religiöse Disziplinierung unterstützt, aber nicht bestimmt wird." 111 Gerhard Oestreich billigte mit dieser Aussage der kirchlichen Sozialkontrolle nur eine subsidiäre F u n k t i o n zu. D e r Freiburger Professor f ü r N e u e r e Geschichte Wolfgang Reinhard (geb. 1937) u n d der Berliner Professor f ü r die Erforschung der F r ü h e n Neuzeit H e i n z Schilling (geb. 1942) kamen dagegen anhand von protestantischen bzw. calvinistischen Organisationsformen zeitgleich 1981 zu dem Ergebnis, daß die Rolle der Kirchenzucht innerhalb der Sozialdisziplinierungskonzeption weitgehend verkannt werde. 112 D e r Begriff „Konfessionalisierung" wird schließlich - bereits verselbständigt - unterschiedlich verwendet. Man hat versucht, Reinhards Konzept als „Konfessionalisierung der Kirchen" bzw. Schillings Entwurf unter „Konfessionalisierung der Gesellschaft" einzuordnen. 1 1 3 Schilling versuchte, seine Schöpfung weit ausgreifend so zu definieren: Konfessionalisierung meine einen „gesellschaftsgeschichtlich fundamentalen Wandlungsvorgang, der kirchlich-religiöse u n d mentalitätsmäßig-kulturelle Veränderungen ebenso einschließt wie staatlich-politische u n d soziale. ,Konfessionalisierung' bedeutet somit nicht n u r die Entstehung der neuzeitlichen Konfessionskirchen als Institutionen, auch nicht nur die ,Konfessionsbildung' im Sinne eines Hervortretens v o n religiös-kulturellen Systemen, die sich bekenntnismäßig in der Lehre, im Ritus, in der Spiritualität u n d nicht zuletzt in der religiösen Alltagskultur deutlich voneinander unterscheiden." Mehrere Phasen kristallisieren sich bei der Entstehung der Konfessionalisierung heraus: N a c h einem ersten Abschnitt, w o eine Klärung und Abgrenzung der religiösen P r o g r a m m e v o r g e n o m m e n wurde, kam es zur Durchsetzung dieser neuen Richtlinien mit einem disziplinierten Stab (neben Pfarrern waren dies vor allem Lehrer, Pfleger, Orden). N e u e oder neu entfaltete Vermittlungsformen wie Wallfahrten, Reliquien- u n d Heiligenverehrungen oder Beichten w u r d e n propagandistisch genutzt. Exerzitien, Generalbeichte (Ohrenbeichte!) u n d eine Verinnerlichung der Reue sollten gemäß der „disciplina interna" auf die Dauer zum G u t e n füh110

OESTREICH: S t r a k t u r p r o b l e m e (1980) 183. SCHULZE: G e r h a r d Oestreich (1987) 279. 112 F ü r den k a t h o l i s c h e n Bereich w i r d dieser Begriff w e n i g verwendet; eher als A u s n a h m e (in H i n b l i c k auf die Jesuiten) HEISS: Konfessionsbildung (1989) 191-220. Siehe d e n S a m m e l b a n d : SCHILLING, REINHARD: Konfessionalisierung (1995); STOCKERT: Konfessionalisierung (1997) 203-225. 113 SCHILLING: P a r a d i g m a (1995) 3 - 4 . 111

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ren. 114 Gleichzeitig wurden diese Helfer beispielsweise durch Visitationen 115 oder mittels Nuntiatur-Berichte stärker als früher beaufsichtigt und kontrolliert. Schließlich erfolgte die Filterung des überlieferten Brauchtums und die Regulierung der Frömmigkeitspraxis der eigenen Anhänger unter dem Aspekt der Abgrenzung gegenüber anderen Konfessionen und der Stimmigkeit mit dem Dogma. 1 1 6 Die genauere Erforschung der kirchlichen Sozialdisziplinierung führte auch zu einer Revision von scheinbar unvereinbaren Begriffen wie Reformation oder Gegenreformation, die zur Durchsetzung ihrer politisch-sozialen Ziele ähnliche Disziplinierungsmechanismen verwendeten. Die Konfessionalisierung brachte neben der verstärkten nationalen und territorialen Identität eine verstärkte staatliche Kontrolle über die Kirche. 1 1 7 Ein mächtiger Rivale der neuen Staatsgewalt war damit als neuer Bündnispartner gewonnen worden. Die Reglementierung des sozialen und religiösen Lebens der Untertanen erscheint somit als eine Spielart, als erste Phase der Sozialdisziplinierung. Die kirchlichen Strukturen halfen, das administrative Defizit des absolutistischen Staates abzubauen und füllten dadurch eine beträchtliche Lücke. Die nachtridentinische Erneuerung erschuf neben der öffentlichen Kirchenzucht zahlreiche, oft von Jesuiten geprägte Disziplinierungs-, Kontroll- und Normierungsmaßnahmen: jesuitische Erziehungsanstalten, Predigten, Theaterstücke, Wallfahrten oder - besonders wichtig - die Bedeutung der Beichte (etwa durch die in der Barockzeit in großer Zahl neugeschaffenen Beichtstühle dokumentiert). 1 1 8 Konfessionalisierung läßt sich dabei keineswegs nur im Kontext von Kriminalisierung, also als Geschichte der „Sünden" (signalisiert durch Kirchenstrafen 1 1 9 besonders für Unzuchtsdelikte 120 ), sehen; sie muß auch Ebenda, 18. An einem lutherischen Beispiel MÜLLER: Konfessionalisierung (1995) 257-319; mit drei Visitationsberichten (1683, 1701, 1720) STOCKERT: Konfessionalisierung (1997) 207ff. Zu Visitationen als Mittel der gegenseitigen Information Herrscher bzw. „Untertanen" SCHNABEL-SCHÜLE: Kirchenvisitationen (1997) 173-186. 114

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116 REINHARD: Zwang (1983) 263: Die methodische Herrstellung neuer Großgruppen wird laut Reinhard folgendermaßen hergestellt: 1. Wiedergewinnung klarer theoretischer Vorstellungen, 2. Verbreitung und Durchsetzung neuer Normen, 3. Propaganda und Verhinderung von Gegenpropaganda, 4. Internalisierung der neuen Ordnung durch Bildung, 5. Disziplinierung der Anhänger, 6. Anwendung von Riten, 7. Beeinflussung der Sprache. Siehe auch PRINZ: Sozialdisziplinierung (1992) 13ff. 117 Zur Rolle der Predigt in der Durchsetzung von Normen ab etwa 1650 DINGES: Normsetzung (1997) 50f. Dinges führt fünf Gründe für die immer wieder auftretenden Republizierungen von Gesetzen an: 1. Aus Anlaß von Herrschaftswechseln oder Erbfällen wurden Gesetze erneut verlautbart. 2. Das Obsoletwerden der alten Norm durch neue Verhältnisse. 3. Die unzureichende Umsetzung der Normen. 4. Umsetzungsprobleme einerseits bzw. das Verhalten der Untertanen andererseits. 5. Die immer wiederholten Tatbestände in den Gesetzen bleiben weitgehend gleich, es kann also kein wachsender Normierungswille festgestellt werden. 118 Siehe SCHILLING: Kirchenzucht (1994) 36ff. Zur „Konfessionalisierung" in Österreich SCHINDLING, ZlEGLER: Südosten (1989) ζ. B. die Beiträge über Innerösterreich von Karl AMON, 102116 und über Nieder- und Oberösterreich von Walter ZlEGLER, 118-133. 119 SCHILLING: Sünde (1986) 169-192. Zur Abfolge von Kirchenstrafe und erst dann weltlicher Leibsstrafe MÜLLER: Konfessionalisierung (1995) 266; zur Konkurrenz (?) von weltlichen und kirchlichen Strafen TÖNZ-LEITICH: Laster (1970) 178: Das Klosterneuburger Taidingprotokollbuch vermerkt bei einem Taiding in Heiligenstadt „der Herr Pfarrer hätte sich beklagt, ,das der Spitalisch Richter Andre Herl ain Ehebruch ohn sein Pfarrers Vorwissen abgehandelt hat'". Ein Beispiel aus Pulkau: Der Schottenabt schreibt an die N O . Regierung (1696 September 12): „massen von undenklichen Jahren her die Prechel jederzeit allda ein geistliche Straff gewesen, auch die Pfarrer per continuam die Je-

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die religiöse und soziale Dimension einschließen.121 Selbst von scheinbar so marginalen Dingen wie der Besetzung der Kirchstühle sind die heftig umstrittenen sozialen Hierarchisierungen ablesbar, die in der Kirche und somit „öffentlich" ausgetragen wurden. 122 Heinz Schilling folgend, lassen sich einige kritische Bemerkungen zur Konfessionalsierungsthese einwenden: Die Konfessionalisierungsdebatte mißachtet weitgehend die Spezifika der einzelnen Theologie- und religiösen WeltanschauungsSysteme. Die Zucht- und Disziplinierungstätigkeit von Luthertum und Katholizismus fand bislang durch die starke Konzentration auf die calvinistische Kirchenzucht wenig Beachtung.123 Innere Verschiedenheiten der kirchlichen Systeme zueinander oder innerhalb der Kirchen wurden weitgehend nivelliert. Zudem wird der Einfluß dieses institutionsgeschichtlich verhafteten Ansatzes meist überschätzt; dieser mag zwar makrohistorisch Entwicklungen erklären, jedoch übersieht er abweichende soziale Akteure weitgehend. So kam es im Laufe der Frühen Neuzeit zu einer Trennung von „Volksfrömmigkeit" (wo endet das Volk?) in einen geduldeten und einen kriminalisierten Teil: Ein Teil der Volksfrömmigkeit (etwa der „Aberglaube") wurde dazu verdammt, in den Untergrund abzutauchen; ein anderer durfte sich weiter in aller Öffentlichkeit in den Kirchen, auf Prozessionswegen und in den Häusern produzieren. 124 Der Umbruchscharakter der Reformation wurde durch die epochenüberschreitende Konfessionalisierung aufgebrochen und relativiert. Schilling verwendet zur periodisierenden Verdeutlichung seines Ansatzes ein saloppes Beispiel aus der Luftfahrtstechnik: Das „späte Mittelalter war die boarding-, die Reformation die runway- und die Konfessionalisierung die take-off-Phase der alteuropäischen Modernisierung, die ihrerseits für die Systemtransformation des späten 18. und 19. Jahrhunderts unabdingbare Voraussetzung war."125 Konfessionalisierung erscheint aufgrund der engen Verzahnung von Staat und Kirche, von Religion und Gesellschaft als eine partielle Anwendung der „Sozialdisziplinierung", wobei letztere immer mehr als übergreifender Gesamtprozeß verstanden wird.126

nige, so in der U n z u c h t delinquiret, in die Prechel c o n d e m n i r e t , U n d nachgehents allein den m a r c k t h richter u m b d e n D i e n e r ersuechet, d a ß E r die v o n d e m P f a r r e r andictirte straff exequiren, u n d die pers o n a m r e a m in die Prechel stellen solle". 120 FRIEDEBURG: Landesherrschaft (1992) 204 m i t H i n b l i c k auf die r e f o r m i e r t e Kirche: „Die Bek ä m p f u n g des coitus anticipatus w a r n e b e n der B e k ä m p f u n g v o n Fornifikationsfällen allgemein das H a u p t a n l i e g e n der K i r c h e n z u c h t . " 121 SCHILLING: Kirchenzucht (1994) 22ff. 122 D a z u f ü r den protestantischen Bereich PETERS: Platz (1991) 93-127; siehe etwa 114: „Die Platzverteilung in der Kirche schien u n v e r r ü c k b a r . Sie u n t e i l a g d e m e h e r n e n Z w a n g , die sozialen S c h r a n k e n , die a u ß e r h a l b der Kirche bestanden, auch i n n e r h a l b ihrer W ä n d e z u realisieren, i n d e m m a n sie sichtbar m a c h t e . " 123 Als Ü b e r b l i c k SCHMIDT: Konfessionalisierung (1992) 24-44, 66-80. F ü r Vorderösterreich ZlMMERMANN: R e k a t h o l i s i e r u n g (1994) bes. 155-208 m i t einer präzisen Z e i c h n u n g eines protestantischen „Rückzugsgefechtes" d u r c h d e n Rat. 124

DIPPER: Volksreligion (1986) 75; VENARD: V o l k s f r ö m m i g k e i t (1995) 258-270. Z u r Instrumentalisierung des L e o p o l d k u l t e s KOVÄCS: F r ö m m i g k e i t (1991) 415. 125 SCHILLING: Paradigma (1995) 35. 126 REINHARD: Sozialdisziplinierung (1997) 47. Schilling u n d R e i n h a r d k a m e n z u m Schluß, „daß .Konfessionalisierung' u n d ,Sozialdisziplinierung' zwei Seiten ein u n d derselben Medaille sein dürf-

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Kapitel I

Abschließend kann konstatiert werden: Die verschiedenen, kurz skizzierten Disziplinierungsmodelle weisen beträchtliche begriffliche Ungenauigkeiten sowie inhaltlich große Überschneidungen auf. Als Folge dieser Terminologienvielfalt verwendet jeder Historiker Begriffe wie „Sozialdisziplinierung", „Rationalisierung" oder „Konfessionalisierung" in verschiedenen Auslegungen, mit unterschiedlichen, sogar widersprüchlichen Bedeutungsinhalten. Diese recht unscharfen Begriffe laden andererseits dazu ein, sie auf verschiedenste Weise zu füllen, ohne aber die Inhalte genau zu charakterisieren oder zu konkretisieren. 127 Die kirchlichen und staatlichen Regulierungstendenzen erfaßten - soviel scheint klar - viele bisher scheinbar autonome Bereiche der Untertanen, wie beispielsweise Brauchtum und Alltag, und transformierten sie langsam.128 Gerade der Blick auf das „Volk" ließ einen seit der Romantik verwendeten und äußerst umstrittenen Begriff wieder aufleben.

5. Volkskulturen und Ordnungsmodelle Die „Entdeckung des Volkes" im späten 18. und im 19. Jahrhundert evozierte ein breites Interesse für „Volksbücher" und ,,-lieder", für Sitten und Gebräuche der Unterschichten. 129 Diese „Volkskultur" kontrastierte immer deutlicher, nach einer einheitlichen Phase Rablais'schen Gelächters,130 zur Kultur der Gelehrten und Eliten. Der „Dirigent des Volkschores", Rabelais, faßte in seinem enzyklopädischen Roman die Volkskultur seiner Zeit zusammen - eine Synthese, die schon bald nicht mehr verstanden wurde.131 Im parodierenden Lachen, und hier besonders im Karneval, fand die Hochkultur eine Korrekturebene, gekennzeichnet durch völlige Veränderung der Ordnung - so die von Michail Bachtin am Beispiel von Rabelais' „Gargantua" entwickelte Theorie. Die Oberschichtkultur habe, so der französische Historiker Robert Muchembled, im Anschluß langsam versucht, die „Volkskultur" zu bändigen und in geordnete Bahnen zu lenken, zu akkultuten." Dagegen FRIEDEBURG: Landesherrschaft (1992) 192: „Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung meinen zwei verschiedene Dinge." 127 VOGEL: Sozialdisziplinierung (1997) 190; und S. 191: „Sozialdisziplinierung hat sich in den vergangenen dreißig Jahren mehr und mehr zum Oberbegriff für verschiedene Formen der Ausübung von Herrschaft gegenüber Untertanen, v.a. den Unterschichten, entwickelt - wobei gleichzeitig die Wirkung dieser Maßnahmen in der Forschung bestritten wurde." 128 Siehe den komprimierten, viele Unebenheiten nivellierenden Uberblick bei HSIA: Social discipline (1989), der am Ende festellt (S.184): „In early modern Central Europe the confessionalisation of daily life replaced the sacralization of society. Translated into psychological term, it meant the internalization of discipline, based on decorum and piety, and the suppression, or at least, the redirection, of violence and anger. While confessional variance can be observered, as in the relative austerity of a Calvinist persona or the emotionial effusiveness of Baroque Catholicism, the larger transformation, however, represented a process subsuming Lutheran, Calvinist, and Catholic confessionalization. Described variously as „the civilizing process", or „social disciplining", the transformation of social norms expressed itself also in the spread of bourgeois values, epitomized by the emphasis on learning and self-quest, and by the simultaneous praise of family life and more rigid definition of its sexual boundaries." 129

Dazu BURKE: Helden (1985); MUCHEMBLED: Kultur des Volkes (1984). BACHTIN: Lachkultur (1990) bes. 32-46. 151 BACHTIN: Rabelais (1995). Das erste Kapitel in Bachlins Buch befaßt sich auch deshalb mit einer Rezeptionsgeschichte Rabelais', der Geschichte eines Mißverständnisses, so Bachtin. 130

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rieren, wie dies besonders augenfällig in der Magie-Diskussion der Frühen Neuzeit deutlich wird. 132 Der Angriff auf die Magie des einfachen Volkes kontrastiert mit der Duldung der gelehrten Magie durch die Oberschicht. Alchemie wurde also toleriert, während Alltagsmagieformen wie Schadenszauber, Wettermachen, Schatzgraben zunehmend seit dem Spätmittelalter kriminalisiert wurden. Die gelehrte Dämonologie konstruierte daraus ein Verbrechen gegen die gottgewollte Ordnung. Auf diese Weise wurden nach den Vorgaben der gelehrten Dämonologen Teufelsbuhlschaften und Schilderungen des Hexensabbats von den Angeklagten in den Verhören erfoltert. 133 Besonders in Krisensituationen sei eine Angleichung der bäuerlichen Kultur an die Kultur der Eliten erfolgt. Die „Hexen" seien keine Außenseiter, sondern Opfer, die von ihren Mitbewohnern als Opfer ausersehen wurden, um die soziale Unsicherheit zu kanalisieren.134 Robert Muchembled sah in den Hexenprozessen - sicherlich in dieser Monokausalität überspitzt 135 - ein Mittel zur Disziplinierung der Unterschichten. Die Akkulturation der Unterschichten war ein Prozeß, der auch massiv über die von den Eliten beherrschten Gerichtsinstanzen ausgetragen wurde. Die Oberschicht habe das Verhalten des „Volkes" durch gezielten Einsatz von Repressionsmitteln unterdrückt. Die unscharfen und oft sehr schemenhaft bleibenden Volkskulturtheorien betonen bewußt soziale Komponenten und suchen die Unterdrücker, die „Eliten", anders als die Sozialdisziplinierungskonzeption, präziser zu benennen. „Volkskultur" als „Nicht-Elitenkultur" wird als Gegenpol zur Uberbetonung des Staates verstanden, doch wurde und wird diese Sichtweise begrifflich immer deutlicher vom Terminus der „Alltagskultur" abgelöst. 136 Der Kieler Volkskundler Karl-Sigismund Kramer definierte 1974 in seinem „Grundriß der rechtlichen Volkskunde" als Untersuchungsgegenstand der rechtlichen Volkskunde das „dreieckige Spannungsfeld, das durch die Ecken Einzelner Gruppe - Staat (Obrigkeit) markiert" wird. 137 Kramer betont somit, anders als die vorher skizzierten Sozialdisziplinierungsmodelle, den Stellenwert der lokalen Gesellschaft und deren miteinander verflochtene Ordnungsmodelle. Das Spannungs152 DÜLMEN: Dorf und Stadt (1992) 281-282 hat diesem bipolaren Modell ein zeitlich und sozial differenzierteres Modell entgegengestellt: die Volkskultur, die Adelskultur und die bürgerliche Kultur. Van Dülmen bezeichnet das 16. Jahrhundert als die Glanzzeit der Volkskultur, während sich die Adelskultur vor allem im 17. Jahrhundert entfaltete, und das 18. Jh. durch das Aufkommen der bürgerlichen Kultur gekennzeichnet sei. 133 EVANS: Habsburgermonarchie (1986) bes. 249-293; Forschungsüberblick bei BIESEL: Hexenjustiz (1997) 24-43. 134 MUCHEMBLED: Kultur des Volkes (1984) 268-269 als aussagekräftiges, nicht ganz verständliches Beispiel für die Akkulturationsthese: „Der gegen die Volkskultur unternommene Kampf konnte sich auf Grund dieser enttäuschenden Erkenntnis in einer Zeit größter Unsicherheit nur verschärfen. Die Rechnung zahlten die Hexen, denn sie wurden nicht nur als Verbrecherinnen, sondern auch als die Verantwortlichen für das Fortleben des Aberglaubens und des magischen Denkens betrachtet. Und nicht zuletzt verstärkte die allmähliche Akkulturation von Teilen der Landbevölkerung die Spannungen innerhalb der Gemeinden und führte dazu, daß die alphabetisierten und gleichzeitig mächtigsten und reichsten Bauern die Existenz von Hexen in ihrem Dorf nicht duldeten. Abgesehen von den bereits dargestellten sozialen und politischen Machtkämpfen trieben vor allem die Schuldgefühle, die die Berührung mit der herrschenden Kultur verursacht hatten, sie zur Hexenjagd an." 135 136 137

BEHRINGER: Hexenverfolgung (1988) 421. Dazu JARITZ: Gemeinsamkeiten (1987) 15-33. KRAMER: Rechtliche Volkskunde (1974) 15.

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Kapitel I

feld zwischen der „tradierten, gruppengebundenen Rechtsanschauung [...] und der obrigkeitlichen, allgemeiner ausgerichteten, autoritativen, staatlichen Rechtsordnung" wird genauer in den Blick gefaßt.138 Unter dem Begriff der Ordnung subsumiert Kramer „das aus Gewohnheit und Notwendigkeit entstandene System von Regeln (Normen) des Zusammenlebens, das im Laufe der Zeit verbindlich und mit Autorität versehen wird."139 Anhand einer idealtypischen nachmittelalterlichen Mustersiedlung umreißt er das nicht scharf zu trennende Verhältnis der „ungeschriebenen Regeln des Verhaltens, zwischen gewohnheitsmäßigen Ordnungen und den frei beschlossenen Ordnungen". Die gesetzten Ordnungen haben obrigkeitlichen Charakter, im Gegensatz zu den frei beschlossenen, die im Zuge der staatlichen Durchgliederung der Gesellschaft immer weniger Raum einnehmen sollten. Die Integrations- bzw. Disintegrationsmechanismen der frühneuzeitlichen Gesellschaft auf Ebene des Dorfes wurden von Kramer exemplarisch anhand der Ehre, Rüge, der Raum- und Zeitvorstellungen erörtert. Der vom Schweizer Schriftsteller und Dorfpfarrer Jeremias Gotthelf (1797-1854) geprägte Begriff des „Dorfauges"140 repräsentiert für Kramer die innerdörfliche Kontrolle. Das „Dorfauge" hält „manches im Geleise" und schafft eine anonyme Kontrolle über das einzelne Dorfmitglied. Niemand versucht aufzufallen, und jeder trachtet danach, sich nach der innerdörflichen Norm zu richten. Offizielle (Marktgerichte etwa) und inoffizielle Kontrollinstanzen Qugendgruppen, Handwerkergesellen) registrieren die Vorgänge und streben nach Korrektur. Informellen Mechanismen wie Charivari, Karneval oder Gerüchte141 - kommt dabei eine wesentliche regulative Rolle zu. Rügebräuche, also gemeinschaftliche oder gemeinschaftsbezogene Handlungen mit Straffunktion, dienten zur Sicherstellung des dörflichen Ordnungssystems.142 Eine zentral ordnende Funktion nimmt die „Ehre" ein, welche die Rangstellung des einzelnen Mitgliedes bestimmt; Ehrminderungen schwächen das soziale Kapital des Betreffenden, desintegrieren also. Dieses „ständisch oder räumlich determinierte Mikro-Ordnungssystem, aus Rechten und Normen zusammengesetzt" regelt „das Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft". Die lokale Ebene verlassend, greift die „Obrigkeit" in dreifacher Weise in das Rechtsleben ein: „in der Rechtsgebung (Normsetzung), in der Rechtsaufsicht (Kontrolle)

138

Ebenda, 15. Ebenda, 17. 110 KRAMER: Rechtliche Volkskunde (1974) kurz erwähnt auf S. 24f u n d ausführlicher 70f. Gotthelfs Erzählung „Leiden u n d Freuden eines Schulmeisters" (1838/39): „Von weitem sah m a n ihr an, daß sie w u ß t e , m a n sehe auf sie, und das Auge des Dorfes sei offen über sie, wann und wie sie ausgehe aufs Feld! Ο so ein Dorfauge ist eine gute Sache und hält manche im Geleise. Es wirkt auf die Weiber viel m e h r als auf die Männer. Man denkt gar nicht, was alles getrieben würde, w e n n die F u r c h t vor diesem Dorfauge nicht wäre." Zu Gotthelf JARCHOW: Bauern (1989) 92-101; HAHL: Gotthelf (1994) 291f. 141 N u r als Beispiel führe ich an: SCRBNER: Reformation (1984) 153-176; SCHINDLER: Ruhestörung (1992) 215-257. 142 Zu einer Typologie KRAMER: Rechtliche Volkskunde (1974) 80ff.: (1) Rügebrauch als Sanktion im Sinne der Sitte mit integrierender Absicht (2) Rügebrauch als Sanktion im Sinne der Sitte mit der Absicht des temporären oder dauernden Ausschlusses (3) Rügebrauch als Scherzveranstaltung mit dem Ziel eines „Lustgewinns" an bestimmten Brauchterminen (4) Rügebrauch als Terrorisierung Andersdenkender (5) Rügebrauch, pervertiert, als obrigkeitliche Zwangsmaßnahme. 139

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und in der Rechtssprechung und Strafausübung (Sanktion)". 143 Obrigkeit bedeutet für Kramer „Gemeinde, größere oder kleinere Guts- und Herrschaftsbezirke, Territorium". Diese Organisationsformen werden als „maßgebende Ordnungsmacht" interpretiert, als frühneuzeitliches Pendant zum heutigen Begriff „Staat" (unter Einschluß der Kirche). Kramer kommt am Ende seines Buches zum Schluß: „Lokale und ständische Ordnungssysteme erweisen sich als ein dichtes Geflecht des Üblichen und Gesetzten, das allerdings noch nicht regelmäßig alle Bereiche des Daseins bedeckte. [...] Die Fäden des Geflechtes schienen umso fester, je stärker Religion und Tradition zu ihrem Material gehörten. Im Leben innerhalb dieses Ordnungsgeflechtes gab es noch eine Menge Freiraum, der nach Belieben ausgefüllt werden konnte - nach Belieben oder nach Willkür. Je stärker die Obrigkeit die Rechtspflege in die Hand nahm, umso mehr wurde der Freiraum eingeengt. Ziel war ein vollkommen lückenloses Rechtssystem, das für alle Eventualitäten eine Regelung parat haben würde." 144 Kramer versucht die Wandlungen im Rechtssystem als Ausdruck eines sozialen und gesellschaftlichen Wandels zu verstehen, mit einem schließlich siegenden staatlichen Ordnungsmodell. Der Volkskundler Kramer sieht, merkt Norbert Schindler kritisch an, die Zeit zwischen 16.-18. Jahrhundert zu statisch als eine Einheit, die erst durch die einsetzende Industrialisierung einem tiefgreifenden Wandel unterworfen wurde. 145 Außerdem betonen die zahlreichen seit 1974 entstandenen Studien verstärkt die spezifischen Ausgestaltungen der verschiedenen Gesellschaften in rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht. - Die sozialen Kontexte müßten genauer beachtet werden. Es kann abschließend mit deutlich polemischer Absicht auf das einleitende Motto von den neuen Kleidern des Kaisers zurückgegriffen werden. - Die hier ansatzweise skizzierten Disziplinierungs- und Ordnungsmodelle ähneln einander beträchtlich, wenngleich jedes von ihnen andere, meist mit Blick auf die Quellengattung gewählte Schwerpunkte setzt. Die „Kleider" sehen sich also, um im Bild des Märchens zu bleiben, recht ähnlich, nur die Zuschauer sehen darin oft verschiedene Erscheinungsformen. Das „Umschreiben der Geschichte" bringt auch eine Neukonzipierung und Modernisierung alter Konzepte mit sich. Unbestritten bleiben aber die eingangs geschilderten Zentralisierungstendenzen des frühneuzeitlichen Staates. Historische Untersuchungen fördern allerdings immer wieder die Defizite beim Ausbau des Staates klar zutage. Die „pädagogischen" Auswirkungen der Disziplinierungsbemühungen auf das Verhalten der Bevölkerung lassen sich dagegen schwer fassen, waren aber sicherlich spürbar. 146 „Die Kritik an der Vorstellung von einer fortschreitenden ,Durchstaatlichung' der frühneuzeitlichen Gesellschaft erschöpft sich aber nicht darin, die administrativen und finanziellen Machtdefizite der landesherrlichen Gewalt aufzuzeigen. Vielmehr gilt es, den Blick darauf zu lenken, daß auch die Anstöße zu bestimmten Initiativen häufig nicht von der Regierung selbst ausgingen, sondern durch Intervention der Untertanen an sie herangetragen Ebenda, 108. Ebenda, 153-154. 145 SCHINDLER: Spuren (1984) 42. 146 LANDWEHR: Normdurchsetzung (2000) 146-162 in Replik auf SCHLUMBOHM: Gesetze (1997) 647-663. 143 144

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Kapitel I

wurden." 147 Diese Fragestellung nach Herrschaft als sozialer Praxis ist eine der zentralen Fragen dieser Untersuchung, wenngleich sich dieses umfassende Problem nur zum Teil beantworten läßt. Es gilt den Zusammenhang von Normen, abweichendem Verhalten und Sanktionspraxis aufzuzeigen. Die Ausübung von Gewalt durch märktische, grundherrschaftliche und landesfürstliche Amtsträger ist dabei ein Mittel der Herrschaftsdurchsetzung und dient auch zur Rechtssetzung. Dennoch verblieb trotz der allmählichen Ausbildung der zentralen Staatsgewalt auch im 18. Jahrhundert ein großer Autonomiespielraum für intermediäre Gewalten wie Märkte und Städte, aber auch für dörfliche Strukturen. 148 Deviante Verhaltensweisen werden dabei als Teil des Alltages der Bevölkerung in der Region Gaming-Scheibbs im 18. Jahrhundert begriffen. 149 Die recht selbständig agierenden Untertanen, Marktbewohner von Scheibbs, aber auch andere Untertanen der Kartause Gaming verstanden es, ihre Interessen anzumelden und durchzusetzen. Zusätzlich muß innerhalb der Gruppe der scheinbar „Beherrschten" aber weiter differenziert werden: Scheibbser Bürger war nicht gleich Scheibbser Bürger, Inwohner nicht gleich Inwohner. Die von den Regulierungen Betroffenen konnten in der Regel mit den an sie gestellten obrigkeitlichen Ansinnen umgehen, indem sie die Normen entweder befolgten, bewußt verweigerten oder noch häufiger - einfach ignorierten.

MEUMANN: Findelkinder (1995) 401. REINHARD: Geschichte der Staatsgewalt (1999) 235-247. A u f das Problem obrigkeitlicher „Gewalt" PRÖVE: G e w a l t und Herrschaft (1999) 796-805. F ü r Österreich vor allem WINKELBAUER: Grundherrschaft (1999) 307-338. 147 1.8

1.9

578.

Einen kritischen Aufriß z u m Begriff des Alltags bietet LÜDTKE: Alltagsgeschichte (1998) 557-

Kapitel II Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit

Horacker, der Räuber, trat aus dem Dickicht; das heißt, er wurde, mit beiden Backen an der Schinkensemmel der Frau Konrektorin Eckerbusch kauend, von der Witwe Horacker am Jackenflügel aus dem Dunkel des Waldes hervorgezogen. Wilhelm Raabe1

1. Grundzüge einer Erforschung Die Behandlung des Themas Kriminalität hat Konjunktur; 2 zahlreiche, meist marktschreierische Publikationen behandeln das T h e m a in Anlehnung an den „Neuen Pitaval" 3 des 19. Jahrhunderts oder in Moritatenform bzw. als Schauspiel. 4 Mörderische City-Guides und Geschichten von Kinderverderbern 5 werden

RAABE: Horacker (1980) 37, Ende sechstes Kapitel. Ich möchte ausdrücklich auf die Subjektivität dieses Literaturberichtes mit Schwerpunkt Ostösterreich hinweisen. 1

2

3 LANDFESTER: Erzähler (1996) 155-183, hier 178: Karl Philipp Moritz 1784 - „Die kurze Geschichte der Verbrecher aus den Kriminalakten gezogen, wie belehrend müßte sie sein, wenn die allmählichen Ubergänge von kleinen Vergehen, bis zum höchsten Grade der moralischen Verderbtheit, mit einigen treffenden, allgemein auffallenden Zügen darin gezeichnet wäre!". Zur Geschichte der literarischen Kriminalitätsgeschichte SCHÖNERT: Kriminalgeschichten (1983) 4 9 - 6 8 ; LINDER: Pitavalgeschichten (1991) 3 1 3 - 3 4 8 . Als Pitaval-Auswahlband erschien HITZIG, HÄRING: Pitaval (1986). A m Beispiel Grillparzers: GÜNTHER: Gestalt (1962). Zu Kriminalromanen als historischen Texten LETTNER: Mörder (1992). Siehe auch die Erwähnung von Kriminalität in „Autobiographien" der Frühen Neuzeit am Beispiel des oberösterreichischen Musikers und Schriftsstellers J o h a n n Beer, bei SCHMIEDECKE: Beer (1965) [mit vielen Beispielen], und des Lambacher Abtes Maximilian Pagl, siehe ElLENSTEIN: Pagl (1920) 113 [1719] und 176 [1724], 4 Etwa „Die Drachenhöhle bei Röthelstein oder der H a m m e r um Mitternacht. Ein vaterländisches Schauspiel" von Ignaz Kollmann (1776-1837), abgedruckt bei KRONSTEINER: Räuber (1987) 114-170. 5 Als Beispiele BENDA, KÖPF, SEYERL: City-Guide (1996) und POHANKA: Räuber (1991): Siehe etwa als Beleg für Pauschalaussagen: „Die Wiener Justiz neigte nun wiederum zum sprichwörtlichen .kurzen Prozeß'. Hatte man einen Übeltäter einmal in Gewahrsam, so dauerte es oft nur wenige Wochen bis zur Verhandlung und zum Urteil und dann nur wenige Tage bis zur Hinrichtung, die oft ge-

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Kapitel Π

zur Befriedigung der Leselust feil geboten, meist in der für diese Textsorte charakteristischen Koppelung von Verbrechen und unweigerlich darauffolgender moralisierender Strafe.6 Die Biographie des Täters, seine psychisch-physische Disposition und das soziale Umfeld bilden das Material dieser mehr oder minder gelungenen und sorgfältig recherchierten Darstellungen von „Verbrechermenschen". Die nur schwer zu lösende Dichotomie von Narration und Analyse in den Darstellungen - ein Grundproblem von Kriminalitätsgeschichte - ist bei näherer Betrachtung fiktiv: Analyse und Erzählung müssen eng verwoben werden und bedingen einander. Das „Grosse vollständige Universal-Lexikon" definiert „Verbrechen" folgendermaßen als „eine Missethat, Mißhandlung, Uebelthat, Frevel, Frevelthat, Schandthat, oder eine Schändliche That genannt, heist eine solche That, so wider die Gesetze begangen und an sich selbst strafbar ist; oder eine solche That, dadurch einer wider die bey Strafe anbefohlne Pflicht jemanden verletzet." 7 Als einer der Gründerväter der historischen Erforschung von Kriminalität kann Gustav Radbruch gelten, der erste Versuche dazu - in Abgrenzung zu Kultur- und Rechtsgeschichte - in den späten vierziger Jahren unternahm. 8 Die Strafrechtsgeschichte sollte in einer „Geschichte des Verbrechens" mit der allgemeinen Geistesund Kulturgeschichte verbunden werden. 9 Die Zusammenschau von Sozialgeschichte und Rechtsgeschichte wurde zusätzlich eingefordert.10 Strafrechtsgeschichte dürfe nicht allein „Geschichte der Strafrechtsnormen" sein.11 Die traditionelle Kriminologie verfügte bis dahin neben einem apolitischen Selbstverständnis über einen weitgehend ahistorischen Grundcharakter. 12 Karl Siegfried Bader (1905-1998) kam zu ähnlichen, vielleicht ein wenig polemischen Ergebnissen: „Selten wird im Gesetzesrecht Wesentliches über das tatsächliche Geschehen ausgesagt."13 Die 1947 entstandene „Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege" von Eberhard Schmidt legt ihren Schwerpunkt vor allem auf die theoretische und praktische Entwicklung des Strafprozesses und ergänzend auf den Strafvollzug.14

nug zu einem Volksspektakel allerersten Ranges wurde, an dem sich auch das Publikum mit allerlei begleitenden Lustbarkeiten beteiligte." 6 Als Literaturübersicht MEYER-KRENTLER: Jurisprudenz (1988) 9-27. 7 ZEDLER: Universal-Lexikon 47 (1746/1982) Sp. 219. 8 GWINNER, RADBRUCH: Verbrechen (1951/1990). Im Vorwort unternimmt Radbruch eine Darlegung seines Vorhabens, mit Bezug einerseits zur Kulturgeschichte und andererseits zu Strafrechtsgeschichte. „Die historische Kriminologie macht es sich zur Aufgabe, die kriminelle Physiognomik der verschiedenen Kulturzeitalter vergleichend zu entwickeln, indem sie zeigt, wie Zeitgeist und Zeitumstände die Kriminalität einer bestimmten Zeit beeinflussen, um so auch die historische Bedingtheit der Gegenwartskriminalität nach ihrem Maß und ihrer Art uns zum Bewußtsein zu bringen." (S. 6). Siehe auch BLASIUS: Kriminologie (1988) 137f. ' BADER: Aufgaben (1984) 577. 10 Z u r Abgrenzung von Rechtsgeschichte und Geschichte LANDAU: Rechtsgeschichte (1980) 117-131. " RADBRUCH: Raub (1986) 26-27 [Wiederabdruck von 1931], 12 BLASIUS: Bürgerliche Gesellschaft (1976) 10. 15 BADER: Aufgaben (1984) 585. 14 SCHMIDT: Strafrechtspflege (1965). Als Weiterführung beispielsweise RÜPING: Strafrechtsgeschichte (1981). Einen Forschungsüberblick bieten: SCHNABEL-SCHÜLE: Überwachen (1997) 1-17,

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Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit

Die historische Erforschung der Kriminalität blieb lange Zeit ein Stiefkind deutscher und österreichischer Historiker, erst die Arbeiten von Dirk Blasius, 15 Uwe Danker, 1 6 Carsten Rüther, 17 Heinz Reif 18 und Ernst Schubert 19 für das 18. und 19. Jahrhundert verhalfen dieser Forschungsrichtung - mit großem Rückstand gegenüber Frankreich und England 20 - zum Durchbruch. 21 Das Kriminalgeschehen, meist Subkulturdelinquenz, wird in diesen Studien in engem Zusammenhang mit der Gesellschaftsentwicklung und der Herausbildung zentralerer staatlicher Strukturen gesehen. - „Kriminalität ist nicht ablösbar vom jeweiligen historischen Bezugssystem; sie hat ihren Ort im Bedingungsgefüge von Recht, Gesellschaft und Ökonomie." 2 2 Jedes Delikt hat also seine eigene Geschichte, bis es überhaupt im Strafrechtskatalog aufscheint. Normkonformität sollte mit Hilfe der in der Neuzeit verstärkt ausgebauten Justiz und Polizei hergestellt und durchgesetzt werden. In diesen Kontext gestellt, wurde die Beschäftigung mit Kriminalität fast immer im Zusammenhang mit „sozialem Protest" 23 und Widerstand gegen die gewaltsame Sozialisation des Individuums bzw. „Sozialdisziplinierung" behandelt. 24 Gesellschaftliche Konfrontationen und latente Konfliktverhältnisse 25 manifestierten sich in vielbeachteten „Räuberkarrieren". Strafrecht und Sozialkontrolle sind gewichtige Faktoren des Staatsausbaues. Erst spät traten in der Forschung, gekoppelt an minutiöse sozialgeschichtliche Untersuchungen, andere Fragestellungen in den Vordergrund. Anläßlich seiner Emeritierung formulierte Hermann Baltl als gewünschte Entwicklungstendenz der österreichischen Rechtsgeschichte unter anderem, daß „das ,Verwaltungsleben' in der Grundherrschaft, am Land und in den Städten und Märkten nicht nur

SCHWERHOFF: Köln (1991)

1 8 - 3 3 ; GLEIXNER: Rechtsfindung (1998) 5 7 - 7 1

und als

Einführung

SCHWERHOFF: Aktenkundig (1999). 15

N e b e n zahlreichen anderen Arbeiten BLASIUS: Bürgerliche Gesellschaft (1976); DERS.: Krimi-

nalität (1979); DERS.: Politische Kriminalität (1983); DERS.: Ehescheidung (1987); DERS.: Diebshandw e r k (1990) 2 1 5 - 2 3 7 . 16

DANKER: Räuberbanden (Frankfurt 1988) [mit einer Darstellung folgender Banden: Nickel

List in Lüneburg-Celle; Lips Tullian in Kursachsen; Jüdische Baldober in Sachsen-Coburg]. 17

KÜTHER: Räuber (1976) und KÜTHER: Menschen (1983). Siehe auch SEIDENSPINNER: Höl-

zerlips (1981) 3 6 8 - 3 9 8 . Als wichtige Vorgängerstudie m ö c h t e ich noch BETTENHÄUSER: Gaunerbanden ( 1 9 6 4 / 6 5 ) 2 7 5 - 3 4 8 nennen. 18

REIF: Räuber (1984).

"

SCHUBERT: A r m e Leute (1983). Siehe auch die Rezension v o n SEIDENSPINNER: Herrenloses

Gesindel (1985) 3 8 1 - 3 8 6 . 20

Als Klassiker gelten: HAY: Fatal T r e e (1975); BEATTIE: C r i m e (1986), FARGE: Brüchiges Le-

ben (1989), FARGE, FOUCAULT: Lettres (1989), FARGE, REVEL: Kinderdeportationen (1989) [als Indikator für das gestiegene Interesse an Kriminalitätsgeschichte mögen die Ubersetzungsdaten genügen!]. 21

Für

Osterreich,

aus

historischer

Sicht,

zur

Entwicklung

des Faches

Rechtsgeschichte

VALENTINITSCH: Rechtsgeschichte (1991) 2 7 5 - 2 8 3 . 22

BLASIUS: Sozialgeschichte (1993) 490.

23

BLASIUS: Gesellschaftsgeschichte (1981) 5 - 1 8 ; BÖKER: Literatur (1996) 13ff.; DETER: Rechts-

geschichte (1988) 2 8 - 5 1 (Erster Teil), 1 3 5 - 1 8 5 (Zweiter Teil); als zeittypischen Artikel für die späten siebziger Jahre SUTHOFF: G a u n e r t u m (1983) 5 5 - 6 8 ; zur „Sozialrebellenthese" HOBSBAWM: Banditen (1972) und DERS.: Sozialrebellen (1962). 2Λ

ALBRECHT: Kriminologie (1996) 37ff. Siehe auch den Begriff der plebejischen Kultur (in An-

lehnung an Edward P. T h o m p s o n ) : MEDICK: Plebejische Kultur (1982) 162ff. 25

Siehe den Forschungsüberblick z u m „sozialen Protest" bei GAILUS: Straße (1990) 2 9 - 4 2 .

38

Kapitel Π

institutionell, sondern auch nach materiellem Gehalt geprüft werden" sollte.26 Dörfliche Strukturen, 27 das Problem der „Herrschaft", Konflikte zwischen Herrschaft und Untertanen, 28 interpersonelle Konstellationen, Geschlechterbeziehungen29 oder die Funktionsweise von Gerüchten lassen sich gerade über die „Sonde" 30 der Kriminalprozeßakten außerordentlich gut erschließen. In seiner Pionierarbeit „Theater des Schreckens" konzentrierte sich Richard van Dülmen vor allem auf den Strafvollzug in der Frühen Neuzeit. 31 Der mehrschichtige Strafvollzug (Kirchen-, Ehren-, Körper- und Todesstrafen) und die Herausbildung der richterlichen Macht werden als öffentliches Schauspiel im Zusammenhang mit der Disziplinierung der Bevölkerung, dem Ausbau des Herrschaftssystems und der rechtlichen Sicherung eines Stadt- und Landbürgers gesehen.32 Neben der Erforschung des Strafrechts verfügt die Sammlung bzw. Dokumentation von Rechtsaltertümern sowohl aus rechtsgeschichtlicher als auch aus volkskundlicher Sicht über eine lange Tradition. 33 Materielle Realien aus der Rechtsgeschichte, bildliche Darstellungen und Schriftquellen, die über das historische Rechtsleben Auskunft geben sollen, werden unter dem Begriff der Rechtsarchäologie erfaßt.34 Die Arbeiten von Karl Siegfried Bader, speziell jene aus dem Jahr 1935 über den Pranger als Rechtswahrzeichen, waren hierbei für die Rechtsarchäologie richtungsweisend.35 Der Rechtshistoriker Wolfgang Schild stellt in einem reich bebilderten Band den Bereich der Strafrechtspflege in den Mittelpunkt. 36 Besonders erwähnenswert für Niederösterreich ist die verdienstvolle

26 17 28

Β AL TL: Österreichische Rechtsgeschichte (1991) 17. FRANK: Lippe (1995). Siehe meine Rezension IN: U H 68 (1997) 1 4 1 - 1 4 2 . Dazu als einführender Ü b e r b l i c k BLICKLE: Deutsche Untertanen (1981).

Siehe den einleitenden Forschungsüberblick über weibliche Kriminalität von ULBRICHT: Einleitung (1995) 1 - 3 7 ; ULBRICH: „Kriminalität" (1995) 2 0 8 - 2 2 0 . 29

30 Siehe das die Forschung stark inspirierende Buch von SCHULTE: D o r f (1989) 24f. Z u r Arbeit des Historikers als Kriminologen, der aus Indizien Schlußfolgerungen zu ziehen hat, GlNZBURG: Spurensicherung (1988) 78ff. 31

DÜLMEN: T h e a t e r (1988); DERS.: Kindsmord (1991).

DÜLMEN: T h e a t e r (1988) 182. Siehe auch DERS.: Verbrechen, Strafen (1990) 8: Van D ü l m e n versucht „ F o r m e n obrigkeitlicher Reglementierung zusammen mit jenen, weitgehend von der Bevölkerung ausgehenden F o r m e n sozialer Kontrolle unter dem Begriff der Disziplinierung aufzuschlüsseln". 32

33 AMIRA, SCHWERIN: Rechtsarchäologie (1943); LlEBL: Altertümer (1951) und DERS.: Folterk a m m e r (1951); BALTL: Rechtsarchäologie (1957); HlNCKELDEY: Strafjustiz (1980); SCHILD: Gerichtsbarkeit (1997); PUTZER: Prolegomena (1981) 3 5 - 1 2 0 ; MAISEL: Rechtsarchäologie (1992). 34 PUTZER: Prolegomena (1981) 46. Z u m Begriff BALTL: Rechtsgeschichte (1972) 124: „Wesentliche Rechtsquellen sind die in ihrem Aussagewert nicht zu unterschätzenden nichtschriftlichen Quellen, wie einerseits die Geräte des Rechtslebens, Strafwerkzeuge, Gerichtshäuser, Rathäuser, Hoheitszeichen, Maße usw., andererseits das Brauchtum bei Rechtsgeschäften, Bräuche mit rechtlichem Inhalt sowie überhaupt die volksmäßige F o r m u n g des Rechtsleben. M i t den erstgenannten Quellen befaßt sich die Rechtsarchäologie, mit den anderen die Rechtssymbolik und die Rechtliche Volkskunde". Siehe auch KOCHER: Rechtsarchäologie (1991) 193-200. Als besonders gelungenes, interdisziplinäres P r o j e k t MANSER: Richtstätte, 2 Bde. (Basel 1992).

BADER-WEISS, BADER: Pranger (1935). M i t zahlreichen österreichischen Beispielen siehe den Bildband v o n SCHILD: Gerichtsbarkeit (1980). Siehe auch den Katalog: HlNCKELDEY: Strafjustiz (1980). Z u r Strafrechtssammlung des N Ö . Landesmuseum (gestiftet von Hans Liebl), das nach längerer Irrfahrt in Schloß Pöggstall gelandet ist, siehe den alten Katalog (noch aus Schloß Greillenstein): LANG: Strafrechtsammlung (1968). 35

36

Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit

39

Sammelarbeit von Hoheitsrechts- und Strafrechtsaltertümern durch Hermann Steininger, der in einer Fülle von größeren und kleineren Arbeiten die Relikte alter Rechtstradition dokumentierte. 37 Außerdem errichtete Steininger 1958 eine Dokumentationsstelle in Perchtoldsdorf, die im Jahr 1986 über 250.000 Zeitungsausschnitte, u.a. auch zur Rechtsarchäologie, verfügte. 38 Der Grazer Rechtshistoriker Gernot Kocher 39 legte unabhängig davon im Grazer Institut eine umfangreiche Bildersammlung zur Rechtsgeschichte an. Die umfassende Pauperisierung und damit das Problem der Unterschichten und Randgruppen - ein bedrohlich wachsender Bevölkerungsteil in der Frühen Neuzeit - stellte eine unlösbare, administrative Herausforderung und ein Sicherheitsrisiko des frühmodernen Staates dar, dem man mit rigorosen Methoden zu begegnen suchte. 40 Die Kriminalitätsakten erzählen vor allem aus dem Leben dieser Unterschichten und Randgruppen. Der Grazer Rechtshistoriker Helfried Valentinitsch unterschied vor allem drei Quellen-Gruppen von alltagsrelevanten, aus der Tätigkeit von Gerichten erwachsenen Strafrechtsquellen: Fahndungs- (vor allem Steckbriefe 41 ), Strafgerichts-42 und Strafvollzugsakten. 43 Kriminalitätsakten können dabei eine wichtige Rolle zur Rekonstruktion von Alltag in der Frühen Neuzeit spielen, müssen aber, um zu schlüssigen Ergebnissen zu gelangen, subsidiär zu anderen Quellen verwendet werden. Die Erforschung der Kriminalitätsgeschichte ist auch deshalb so schwierig, weil von Fall zu Fall jeweils genau nach Norm, Delikt und sozialem Umfeld unterschieden werden muß; deshalb ist etwa bei Übernahme von fremden Untersuchungsergebnissen für den österreichischen Raum Vorsicht angebracht. Die deutschen Rechtssysteme differierten allgemein stark voneinander, sowohl was die „Filter" (wie Gericht, Gerichtspersonal, Polizei) als auch die normativen Grundlagen betraf. Eine besonderes Problem bildet auch die unscharfe Trennung der Rechtsbereiche. Einrichtungen der Kriminalrechts- und Zivilrechtspflege, der Sicherheits- und Wohlfahrtspflege lassen sich im 18. Jahrhundert noch kaum voneinander trennen. 44 Die historische Erforschung von Kriminalität in Osterreich beschränkte sich lange Zeit auf einige Leitsektoren; verstärkt betrieben wurde - besonders im Gefolge der Landesausstellung auf der Riegersburg im Jahr 1987 - die wissenschaftli37 N u r als Auswahl: STEININGER: Prechelstrafe (1972) 229; STEININGER: Schandtafeln (1975) 97-99; STEININGER: Rechtsarchäologie (1979) 5-27; STEININGER: Schriftenverzeichnis (1986); STEININGER: Schandstrafgeräte (1993) 359-368. Wenig neues bietet WESTERHOFF: Prangersäulen (1994).

STEININGER: Schriftenverzeichnis (1986). KOCHER: Zeichen (1992); als Beispiel: KOCHER: Schrift (1984); zur Obersten Justizstelle KOCHER: Höchstgerichtsbarkeit (1979). 40 VALENTINTISCH: Strafvollzugsakten (1992) 69-82. Siehe auch Flugblätter mit Kriminalthematik bei WILL: Flugschriften (1971). Als regionales Beispiel: KUZMICH: Mordsgeschichte (1998) 46-48. 41 ROTH: Zigeunergesindel (1978) 645-655; im ersten Teil ihrer Arbeiten vorwiegend auf Basis von Steckbriefen arbeitend, vor allem GASSLER: Gauner (1986) und KRONSTEINER: Räuber (1987) 3 50; KLUG: Steckbriefe (1990); MÜLLER: Steckbriefe (1991); 38

39

42 VALENTINITSCH: Strafvollzugsakten (1992) 75 unteneilt weiter in Schubakten, Strafprozeßakten im engeren Sinn, Urfehdebriefe und Abrechnungen über Verfahrenskosten. 43 VALTENTINITSCH: Fahndungsakten (1992) 79 gliedert weiter in Akten über die Kosten des Strafvollzuges und in Akten über Personen, die zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden. 44 PlLGRAM: Kriminalstatistiken (1980) 51.

40

Kapitel Π

che Auseinandersetzung mit der Hexenverfolgung. 4 5 Der Rechtshistoriker Helfried Valentinitsch v o m Grazer Institut für Osterreichische Rechtsgeschichte setzte neben der Wirtschaftgeschichte einen seiner Forschungsschwerpunkte im Bereich der Kriminalität in der Frühen Neuzeit. 4 6 Die Wiener Historikerin Heide Dienst, die mehrere v o m Fonds zur Fördung wissenschaftlicher Forschung finanzierte Projekte zur Erforschung österreichischer Zauberei- und Hexenprozeßakten leitete, setzte einen ihrer Forschungsschwerpunkte 4 7 im Gebiet der historischen Erforschung von Magie und Zauberei. 48 Daneben ist auf die Längsschnitt-Untersuchung von Friedrich Hartl über das Wiener Kriminalgericht sowie die strukturgeschichtliche Arbeit von Hannes Stekl über österreichische Zucht- und Arbeitshäuser zu verweisen. 49 Darüber hinaus wurden auf Ebene von Diplomarbeiten und Dissertationen einige, meist landgerichtsbezogene Deliktsorten und die Strafpraxis in bestimmten Regionen erforscht. 5 0 Der Bereich der Niedergerichte ist dabei generell noch weitgehend unberücksichtigt geblieben, 51 obwohl diese Aktengruppe - vielleicht sogar besser als die Landgerichtsakten - die schwierige Frage nach der Umsetzung der Normen in die Rechtswirklichkeit besonders eindrücklich beantworten würde. Eine zusätzliche Schwierigkeit ergibt sich auch durch das weitgehende Fehlen von institutionsgeschichtlichen Untersuchungen für den Kriminalbereich. 5 2 Die historische Erforschung der Kriminalität steht in Osterreich erst am Beginn, wenngleich das Defizit an Kriminalitätsstudien im Vergleich zu 1981 beträchtlich kleiner ge-

45 VALENTINITSCH: Hexenausstellung (1990) 381-393. Siehe auch die Beiträge von DIENST im Literaturverzeichnis. 46 Einige Arbeiten (unter Auslassung der zahlreichen wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten): VALENTINITSCH: Bettlerverfolgung (1986) 105-129; DERS.: Wirtin (1986) 5 1 - 6 1 ; DERS.: Zaubereiprozeß (1987) 2 0 - 2 8 ; DERS.: Gelegenheitsarbeiter (1989) 9 0 - 9 9 ; DERS.: Hexenprozesse (1990) 6 1 - 7 9 ; DERS.: Untertanenunruhen (1990) 2 2 3 - 2 2 9 ; DERS.: Bibliotheksverzeichnisse (1992) 4 9 3 - 5 1 8 ; DERS.: Juristenkarriere (1993) 103-126. Ich danke Herrn Professor Helfried Valentinitsch für die Ubersendung zahlreicher Sonderdrucke. 47 Die von Frau Professor Heide Dienst betreuten Diplomarbeiten zur Thematik: KEPLINGER: Vorstellungswelten (1986); BERGHAMMER: Greinburger Hexenprozeß (1987); SCHÖNLEITNER: Hexenprozesse (1987); SCHEUTZ: Schatzgräberprozeß (1993); WENTKER: Greinburg (1995); SARMAN: Hexenprozeß (1995); GRILZ-SEGER: Konflikte (1997). 48 DIENST: Magische Vorstellungen (1986) 7 0 - 9 4 ; DIES.: Hexenprozesse (1987) 2 6 5 - 2 9 4 ; DIES.: V o m Sinn (1992) 3 5 4 - 3 7 5 . 49 HARTL: Kriminalgericht (1973); HARTL: Strafrecht (1976) 4 2 6 - 4 3 1 ; DERS.: Freiheitsstrafe (1977) 3 1 3 - 3 2 1 ; STEKL: Zuchthäuser (1978); DERS.: Gesellschaftliche Außenseiter (1985) 2 2 1 - 2 2 8 ; DERS.: Unterschichten (1985) 2 9 1 - 3 0 4 . 50 In Auswahl: GASSLER: Gauner (1986); MAYR: Kriminalität (1986); KEPLINGER: Vorstellungswelten (1986); WURM: Seckau (1989); BECKER: Leben (1990); PFEIFER: Bettler (1991); HAMMER: Kriminalität (1992); SARMAN: Hexenprozeß (1995); HAMMER: Kindsmord (1997). [Diese hier aufgezählten Arbeiten wurden zum Großteil von den Professoren Dienst und Valentinitsch betreut.]; AIGNER: Kleinkriminalität (1998). 51 Z u r Forschungssituation FRANK: Lippe (1995) 177ff.; zwei Beispiele aus Österreich: eine Richterrechnungs-Edition, die auch Niedergerichtsbetreffe enthält: MANDL-NEUMANN: Alltagskriminalität (1985) 1 - 1 4 4 ; für Injurien WINKELBAUER: Injurien (1992) 129-158. 52 Als Ausnahmen möchte ich besonders erwähnen: AMMERER: Funktionen (1986). Vorwiegend die häufigen Landgerichts-Grenzstreitigkeiten thematisiert GRÜLL: Landgericht Linz (1957) 131-163.

Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit

41

worden ist:53 Untersuchungen zu einzelnen Deliktgruppen, besonders aber zu Eigentumsdelikten, 54 fehlen ebenso wie mikrogeschichtlich orientierte Studien. Die gesellschaftliche Funktion von Kriminalität in der Frühen Neuzeit wird von der Forschung nicht eindeutig beantwortet - was wahrscheinlich auch nicht möglich ist. Kriminalität wird als Ausdruck einer fortschreitenden „Entwurzelung der Unterschichten bzw. Randgruppen" verstanden, „auf die die Gesellschaft mit Disziplinierung und Marginalisierung reagierte."55 Michael Frank konnte in seiner Mikrostudie am Beispiel des Dorfes Heiden (Grafschaft Lippe) im Zeitraum von 1650 bis 1800 feststellen, daß eine zunehmende Angleichung der Interessen der dörflichen Oligarchie und des Staates erfolgte. 56 Die dörfliche Unterschicht wurde zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens verstärkt sanktioniert. Der frühneuzeitliche Staat war zur Durchsetzung seiner repressiven Normen auf die Kooperation mit der dörflichen Oberschicht angewiesen. Das Strafrecht wurde als Disziplinierungs-Mittel der herrschenden Schicht verstanden 57 - zur Erhaltung ihres materiellen Besitzes und der sozialen Position. 58 Die Widerstände der Untertanen gegen die Disziplinierungsbestrebungen der Obrigkeiten werden andererseits bei einer alle Sparten der Kriminalität - nämlich N o r m und Praxis gleichermaßen berücksichtigenden Auswertung - der Kölner Turmprotokolle durch Gerd Schwerhoff deutlich.59 Obwohl die Opfer der Kölner Disziplinierungsversuche meist aus der Unterschicht stammten, lassen sich viele Delikte (wie Gewalt) nicht schichtspezifisch zuordnen. Die Untertanen präsentierten sich keineswegs nur als Opfer der Justiz, sondern nutzten die Gerichte auch als Schauplatz zur Lösung von sozialen Konflikten. Auf diese Weise entgingen sie meist schweren Strafen. Die Zaubereiprozesse erscheinen als „Waffe der Schwachen gegen die Starken, und diese hatten, wenn sie den Glauben an die Möglichkeit der Zauberei und Hexerei teilten, die Rache der Schwachen zu fürchten." 60 Kriminalisierung wird als Ordnungsstrategie und Mittel einer Kontrollpolitik verstanden. 61 Der Niederschlag der Kriminalität in den Gerichtsakten der Frühen Neuzeit erscheint als Ausfluß tiefgehender sozialer Spannungen. Die Gerichte bekämpften die krisenbedingt auftretenden Vaganten, mußten aber deren Widerstand, z.B. in magischer Form, fürchten und verstärkten in Art eines Regelkreises die Verfolgung um so mehr. Der Schutz des Eigentums ging mit einer versuchten Pazifikation der Gesellschaft einher, der Kampf der Besitzenden gegen die 53

STEKL: K r i m i n a l i t ä t s g e s c h i c h t e (1981) 4.

54

M i t B l i c k auf E i g e n t u m s d e l i k t e siehe d e n F o r s c h u n g s ü b e r b l i c k bei AMMERER: A u f g e k l ä r t e s

R e c h t (1997) 1 0 1 - 1 3 8 [ m i t z a h l r e i c h e n Beispielen], 55

B U R G H A R T Z : D i s z i p l i n i e r u n g (1989) 405. Z u m a u f g e b l ä h t e n B i l d des V e r b r e c h e r s in d e r G e -

sellschaft EVANS: I n t r o d u c t i o n (1988) 3ff. 56

F R A N K : L i p p e (1995).

57

BLAUERT: K r i m i n a l j u s t i z (1993) 1 1 5 - 1 3 6 . B l a u e r t b e t o n t d e n e n g e n Z u s a m m e n h a n g d e r Sit-

t e n r e f o r m d e r S p e y r e r B i s c h ö f e u n d d e r K r i m i n a l j u s t i z als A n t w o r t auf K r i s e n s y m p t o m e . 58

S i e h e a u c h BLASIUS: B ü r g e r l i c h e G e s e l l s c h a f t (1976) 138: „ 1 8 4 2 hatte A b e g g , P r o f e s s o r f ü r

R e c h t s w i s s e n s c h a f t in B r e s l a u , in e i n e m f ü r das P r e u ß i s c h e J u s t i z m i n i s t e r i u m g e s c h r i e b e n e n G u t a c h ten v o r d e r U s u r p a t i o n rechtlicher N o r m e n d u r c h die . V e r m ö g e n d e n ' auf K o s t e n d e r . A r m e n ' gewarnt." 59

SCHWERHOFF: K ö l n (1991).

60

BEHRINGER: H e x e n v e r f o l g u n g (1988) 423.

61

R O M E R : K r i m i n o l o g i e (1992) 235ff.

42

Kapitel Π

A r m e n war eines der Generalthemen der frühneuzeitlichen Gesellschaft. 6 2 D e n Gerichten k a m dabei eine stabilisierende Rolle zu. Sie glichen symmetrische Spannungen zwischen den Bürgern „ex officio" aus und suchten den D o r f f r i e d e n zu wahren, indem sie gleichzeitig die K o n t r o l l e über die U n t e r t a n e n auszubauen suchten. 6 3 D i e Z u o r d n u n g eines konkreten, devianten Tatbestandes zu einem bestimmten Paragraphen des Strafrechts ist ein Teil einer historischen Entwicklung. 6 4

2. Historische Erforschung von Kriminalität in Österreich in der Frühen Neuzeit „Die Heilkunst und Diätetik, wenn die Arzte aufrichtig sein wollen, haben ihre besten Entdeckungen und heilsamsten Vorschriften vor Kranken- und Sterbe-Betten gesammelt. Leichenöffnungen, Hospitäler und Narrenhäuser haben das helleste Licht in der Physiologie angezündet. Die Seelenlehre, die Moral, die gesetzgebende Gewalt sollten billig diesem Beispiel folgen, und ähnlicherweise aus Gefängnissen, Gerichtshöfen und Kriminalakten - den Sektionsberichten des Lasters - sich Belehrungen holen." Friedrich Schiller65 I m Folgenden sollen G r u n d z ü g e der historischen E r f o r s c h u n g v o n Kriminalität in Osterreich, ausgehend v o n einer quellennahen Dreiteilung in normative O r d n u n g e n , Strafprozeß- sowie Strafvollzugsakten, dargestellt werden. 6 6 E s wurde versucht, die jeweiligen Quellenkategorien möglichst breit aufzufassen, sodaß beispielsweise unter normativen O r d n u n g e n die Regulative sämtlicher Herrschaftsträger zu verstehen sind.

62 BEHRINGER: Mörder (1990) 85-132, hier 127. Siehe zur krisenbedingten Verfolgung von „Mordbrennern" SPICKER-BECK: Räuber (1995), siehe auch meine Rezension in: L ' H o m m e 7 (1996) 119-122 und zum selben Thema SCRBNER: Mordbrenner (1988) 29-56. 63 A m Beispiel des Verbots der heimlichen „Vergleiche" in Injurienprozessen WINKELBAUER: Injurien (1992) 129-158. 64 Mit einem Problemaufriß SCHWERHOFF: Devianz (1992) 385-414. 65 SCHILLER: Verbrecher aus Infamie (1988) 118. A n diesem Zitat wird Kriminalität als naturwissenschaftliches Experiment gedeutet. Die Beziehung des einzelnen zur Gemeinschaft, soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit werden in F o r m einer Versuchsanordung literarisch analysiert. Die Vorlage Schillers für die Verbrechen des Gastwirtssohnes Friedrich Schwa[h]n (1729-1760) liegen in der „aktenmäßigen Geschichte" von Schillers Lehrer Jacob Friedrich Abel begründet. Zum sozialgeschichtlichen Hintergrund BRANDSTÄTTER: Verlorene Ehre (1984); OETTINGER: Infamie (1972) 266-276. 66 Ich versuche im folgenden in einer von Helfried Valentinitsch vorgeschlagenen Dreigliederung, die bisherigen österreichischen Arbeiten der letzten Jahre, nach Quellengattungen geordnet (normative Grundlagen, Strafprozeßakten und Strafvollzugsakten), zu besprechen.

Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit

43

a) Normative Ordnungen Neben den städtischen und anderen Ordnungen 67 kam vor allem den Policeyordnungen als überregionalen Gesetzgebungswerken eine zentrale Rolle mit weitreichenden Auswirkungen für das soziale Leben zu. „Gute mantzucht und policey" sollte damit geregelt werden, wie es schon in einer Handwerksordnung vom 30. Juli 1451 für Wiener Schlosser und Büchsenmacher heißt. 68 Die Stände versuchten durch ihre Beschwerden (Gravamina) beim Landesfürsten auf Probleme aufmerksam zu machen, denen der Landesfürst in Patenten und Policeyordnungen Einhalt gebieten sollte. Der Landesfürst brauchte andererseits aufgrund von Finanznot und Türkenkrieg immer wieder das finanzielle Einverständnis der Stände in den einzelnen Ländern. Die Policeyordnung von 1527, ein schon vorweg publizierter Teil der Policeyordnung der niederösterreichischen Ländergruppe von 1552, 69 versuchte - wenig erfolgreich - eine landesweit einheitliche, landesfürstlich erlassene Regelung des Handwerks durchzusetzen. 70 Die Frage des Kleideraufwandes71 wurde u. a. in den Policeyordnungen von 1542 genau geregelt, indem Gewand ständekonform und unter Vermeidung von „übertriebenem" Luxus getragen werden sollte. Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 72 - das erste gesamtdeutsche Strafgesetzbuch, mit seiner Vorgängerin, der Bambergischen Halsgerichtsordnung von 1507, 73 eng verwandt - galt als Vorlage für zahlreiche Landesgesetzgebungen. Die Mischung aus Strafgesetzbuch und Strafprozeßordnung 74 findet auch in der „Land-Gerichts-Ordnung Deß Ertz-Hertzogthumbs Oesterreich unter der Ennß" 7 5 von 1656, der sogenannten Ferdinandea, Eingang. Die Vorgänger, die N O . Landgerichtsordnung von 1514 (inhaltlich weitgehend ident mit der von 1540), verfügten in den Paragraphen 30 bis 48 über eine Aufstellung des materiellen Rechtes, jedoch ohne Strafzumessung. 76 Die aufgrund ihrer bildlichen Darstellung häufig zu Illustrationszwecken herangezogene Constitutio Criminalis Theresiana von

67

Siehe neben den Handwerksordnungen als weiteres Beispiel: AULINGER: Alltag (1987) 2 5 8 -

68

PAUSER: Gravamina (1997) 18.

69

BRAUNEDER: Policeygesetzgebung (1996) 2 9 9 - 3 1 6 ; DERS.: Polizeiordnungen (1976) 2 0 5 - 2 1 9 .

290.

Siehe die weiteren Policeyordnungen: Niederösterreichische Länder 1527, 1542, 1552; Osterreich unter und ob der Enns 1 5 6 6 / 8 ; Steiermark 1577, Kärnten 1577, Tirol 1573. 70

D a z u die Antwortschreiben

der Wiener Neustädter Schneidermeister

und Tischler

bei

SCHEUTZ, SCHMUTZER, SPEVAK, STÖGER: Handwerksordnungen (1997) 1 5 9 - 1 6 2 , 1 6 6 - 1 6 9 [mit der unklaren Zuordnung zu den Policeyordnungen 1527 bzw. 1552], 71

Als Beispiel die Policeyordnung Maximilians II (1568), in C A II, 1 4 7 - 1 5 1 , hier

149-150:

„Frauen-Zier"; siehe auch HAMPEL-KALLBRUNNER: Kleiderordnung (1962) und LEHENBAUER: Kleiderordnung (1994). Als Beispiel der Wirkungsweise von Kleiderordnungen SCHEUTZ, SCHMUTZER: Kleinschroth (1997) 3 2 6 - 3 3 1 . 72

Edition der Carolina (1532) durch Gustav RADBRUCH.

73

KOHLER, SCHEEL: Bambergische Halsgerichtsordnung (1968).

74

LANGBEIN: Carolina (1986) 231.

75

Siehe den A b d r u c k im C A II, 6 5 9 - 7 2 9 . F ü r die normative Ebene von Zauberei ( L G O 1656)

die Arbeit v o n BECK: Hexenprozesse (1987). 76

Siehe einen A b d r u c k der L G O 1514 bei HYE: Strafrechtsgeschichte (1844) 3 7 2 - 3 8 6 .

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Kapitel Π

1768/69 liegt nunmehr in einer neuen, von der Grazer Druck- und Verlagsanstalt vorgelegten Faksimile-Ausgabe vor.77 Der Wiener Rechtshistoriker Ernst Carl Hellbling hat in seiner 1948 approbierten und erst 1996 von Ilse Reiter zum Druck beförderten Habilitationsschrift eine Untersuchung der verschiedenen Landesgerichtsordnungen bis zum Josephinischen Strafgesetzbuch auf ihre normativen Interdependenzen vorgelegt.78 Hellbling gliederte seine Arbeit nach einem allgemeinen Teil über das materielle Strafrecht (beispielsweise: Vorsäpzlichkeit, Erlöschen der Strafbarkeit, Notwehr usw.) in verschiedene Deliktgruppen. Er untersuchte dabei jeweils das Vorkommen und die Behandlung eines bestimmten Deliktes in den regionalen Gerichtsordnungen. Leider fehlt eine synoptische Darstellung der recht unterschiedlichen Gesetzgebungen; unbehandelt blieb ebenso die Ebene der Rechtssprechungspraxis. Die Edition der österreichischen Weistümer,79 die noch im 19. Jahrhundert durch die kaiserliche Akademie der Wissenschaften begonnen wurde, machte diesen höchst interessanten, aber aufgrund des zeitlich nicht genau faßbaren Geltungszeitraumes schwer auszuwertenden Quellenbestand allgemein zugänglich. Viele Regelungen des alltäglichen Lebens, des Handwerks, der Dorfgemeinschaft, aber auch Strafrechtliches wie Diebstahl, Zauberei und Unzuchtsbetreffe lassen sich in dieser vorwiegend aus dem 15. bis 17. Jahrhundert stammenden Quellengattung finden. An den Taidingtexten läßt sich auch die zunehmende Zentralisierung althergebrachter Rechtsvorstellungen gut zeigen. Die Rechtsvorstellungen der Grundherren und auf höherer Ebene die landesfürstlichen Patente schlugen inhaltlich immer mehr auf die Weistümer über; sie schränkten somit die Mitsprachemöglichkeit der Gemeinden und in weiterer Folge der Grundherren zunehmend ein. Die in den sechs Bänden des Codex Austriacus (bis 1770, und später in den Josephinischen und Franziszeischen Gesetzestextsammlungen) nicht ganz vollständig erschlossenen Patente und Mandate lassen neben den Landgerichtsordnungen die legislative Feinsteuerung erkennen. Anlaßbezogene Gesetzgebung bzw. in vielen Fällen obrigkeitliche Drohgebärde und irreale Wunschvorstellung der Behörden lassen sich daran ablesen. Der Kreisbote80 übermittelte diese Patente regelmäßig an die Unterbehörden, welche diese Zirkularien sammelten oder in Protokollbücher eintrugen. 81 Die tatsächliche Durchsetzbar- und Wirksamkeit der Patente ist aber noch weitgehend unerforscht. Ein Beispiel für die nicht deutlich abzuschätzende Wirkweise dieser Patente, in Gegenüberstellung von Norm und Praxis, ist das Spatzenvertilgungspatent vom 7. August 1749: Darin wird einlei77

Siehe den Reprint der CCTh (1769/1993). HELLBLING: Strafrechtsquellen (1996). Die Herausgeberin Ilse Reiter fügte die seither erschienene, einschlägige Literatur in den Fußnoten - allerdings ohne Wertung - bei; weiters DEPINY: Landgerichtsordnung (1924) 97-105. 79 FE1GL: Rechtsentwicklung (1974). Besonders erwähnen möchte ich auch das Register der O O W V aus dem Jahr 1978. Grundsätzlich neben den zahlreichen Arbeiten von Helmuth Feigl noch 78

BALTL: W e i s t ü m e r (1951) 365-410, (1953) 3 8 - 7 8 . 80

Zum Kreisboten für die Steiermark OBERSTEINER: Verwaltungsreformen (1993) 110-111. Als Beispiel das Marktprotokoll Scheibbs, wo die Ankunft des Kreisboten genau verzeichnet und auch ein Kurzregest der Patente eingetragen wurde. Siehe auch für das Propsteiarchiv Mattighofen SONNTAG: Anordnungen (1997) 242-250. 81

Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit

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tend festgestellt, daß „ein einziger Spaz, wenn das Getreid auf dem Felde zu zeitigen anfängt, sich auf die Halme desselben zu setzen pflege, solchen bis auf die Erde umbiege und das Körnel mit dem Schnabel gleichsam ausdresche, dergestalten aber die ganze Getreidähre leer mache, einfolglich vermögend sey, den armen Unterthan sowohl auf dem Felde, als im Winter in der Scheuer in einen großen Verlust vom Getreide setze." 82 Deshalb sollte jeder Untertan „in den Dörfern, wie auch in den kleinen zur Feldwirthschaft eingerichteten Städten und Märkten dahin angehalten werden, alle Jahre fünf Spazenköpfe, besonders aber gleich nach geendigtem Winter" bei den lokalen Behörden abzugeben. Jeder Hauswirt mußte mindestens fünf Köpfe pro Haus vorlegen, sonst war eine Pönale von einem Kreuzer pro Kopf zu erlegen.83 Der Scheibbser Marktrat schenkte diesem Patent in weiterer Folge keine Beachtung - im Gegensatz etwa zur Herrschaft Weinberg in Oberösterreich, wo der Kreishauptmann 1751, nachdem „nur" 350 Spatzenköpfe geliefert wurden, einen strafweisen Ersatzbetrag einforderte. 84 Dieses Spatzenvertilgungspatent galt bis 3. Juli 178285 und wurde - wie Georg Wacha nachwies - in Oberösterreich mit großem Nachdruck zur Anwendung gebracht. Im Jahr 1761, dem zwölften Jahr dieses vogelfängerischen Unternehmens, wurden 12.955 Spatzenköpfe bei den Behörden abgeliefert und 370 fl. Poenale (umgerechnet wären das 22.200 Spatzenköpfe!) erlegt. Es hätten also insgesamt jährlich 35.155 Spatzen in Oberösterreich (ohne Innviertel) ihr Leben lassen müssen. Ein gewaltiger Aufwand zur Schädlingsbekämpfung! Dieses Beispiel zeigt die regionale Bandbreite der Wirkung von Patenten: indem nämlich die Stadt Scheibbs der Aufforderung zur Vertilgung der Schädlinge nicht nachkam, anderenorts dieses Patent aber wiederum sehr ernst genommen und mit allem Nachdruck administriert wurde. Die Behandlung von Unzuchts- und „Sitten"-Delikten in der Frühen Neuzeit, aber auch Reglementierungen geselliger Vergnügungen wie Hochzeitsessen, Spiele oder Trinken standen im Mittelpunkt einer Untersuchung obrigkeitlicher Ordnungen für Ober- und Niederösterreich für diesen Zeitraum. 86 Vor allem religiöse 82 CA V, 441-442. [Wien, 1749 August 7], Siehe auch den Eintrag im Scheibbser Marktgerichtsprotokoll: StA Scheibbs, Ratssitzung 6. Februar 1750, fol. 241 r : Spazen und deren ausrottung betreffend. In dem hierinfahls von ein löbl. hoffgricht anverlangten bericht und gutachten solle angezeigt werden, wie daz zwar von daraus wir unß dermahlen eines grosen schadens wegen denen spazen nicht beschwären konten, indeme wegen abgang deren getrait böden sich solches geflügl so vil nicht sehen laste, wann aber zu ander fruchtbahren jähren deren vermöhrung verhindert werden müste, glaubten solches am füglichsten zu beschehen, wann ein jeder hauswürth im fruhjahr zu ihrer bruthzeit (weilen selbe ohne deme pflegen unter die tächer in deren schwalben näster zu nüsten) solche nach der bruth auszunehmen und zu vertilgen, angehalten wurde. Auch StA Scheibbs, Ratssitzung 8. Juli 1751, fol. 281 r : Spazen patent. 83 C A V, 484-485. [Wien 1750 März 12], Siehe auch StA Scheibbs, Ratssitzung 23. Mai 1750, fol. 251 r : ein jeder haußwürth dies jähr in October anfangend [... freigelassen] jährlich spazenköpf bis zur gänzlichen ausrottung derenselben zu seiner obrigkeit zu lifem oder im widrigen so viel kreüzer straf für die armen desselben orths erlegen müsse, ist publicirt und der ehrsamen burgerschafft die befolgung dessen auferlegt worden. 84 Dazu, mit einer auszugsweisen Quellenpublikation, WACHA: Spatzenvertilgung (1960) 36. 85 Ebenda, 43 [op. zit.: Handbuch aller unter der Regierung des Kaiser Joseph des II. für die K.K. Erbländer ergangenen Verordnungen und Gesetze in einer systematischen Verbindung, enthält die Verordnungen und Gesetze vom Jahre 1780 bis 1784. Bd. 1 (Wien 1785) 84, Nr. 15.: „Die Spatzenköpfe dürfen nicht mehr eingeliefert werden."]. 86 LEITICH: M a ß n a h m e n (1968); Ausschnitte bei: TÖNZ-LEITICH: Laster (1970) 174-187.

46

Kapitel II

Ermahnungen waren als obrigkeitliche Antwort auf Mißernten, Kriege und Seuchen auf Ebene der Patente in der Zeit bis zu den Türkenkriegen gebräuchlich. Die sozialen Probleme der Bettler und Vagierenden finden in der Zeit Kaiser Leopolds I. gesteigerte Beachtung, aber weiterhin in der Koppelung mit einem obrigkeitlich definierten Lasterkatalog. Die normative Kodifizierung wurde vor allem im Bereich der „Unzuchtsdelikte", des Spiels oder der Bekleidung immer differenzierter, gleichzeitig treten neben die religiösen Ermahnungen verstärkt wirtschaftliche Argumentationen. Die Verordnungen unter Karl VI., Maria Theresia und Joseph II. suchten den mechanistischen Teil der bürokratischen Staatsmaschinerie zu stärken: Die Bettler speiste man nicht mehr nur mit „Bettelverboten" ab, sondern ein zentral geregeltes Schubsystem suchte dem Problem kontrolliert Herr zu werden. Die Habilitationsschrift von Ilse Reiter befaßt sich unter diesem Aspekt mit der Entstehung des Schubrechtes in Osterreich auf rein normativer Grundlage. Der eigentliche Ursprung des Schubsystems - mit Generalvisitation und anschließender Abschiebung der Verhafteten - findet allerdings in dieser Arbeit, deren Schwerpunkt im 19. und 20. Jahrhundert (ohne Verwendung von Archivmaterial) liegt, keine Beachtung. 87 Die Fornikationsvergehen und die dadurch bedingte Versorgung der illegitimen Kinder waren häufig in den Patenten behandelte Themen. Einzelne berufliche Sparten wie eine Handswerkslaufbahn waren nur ehelich Geborenen zugänglich.88 Ebenfalls in den Patenten deutlich wird die ungleiche Behandlung der Geschlechter: Frauen waren normativ im Zusammenhang mit unehelichen Geschlechtsbeziehungen deutlich schlechter gestellt als Männer. b) Strafprozeßakten Die amtlichen Kriminalstatistiken, die seit 1819 in Osterreich von amtlicher Seite geführt werden, 89 bilden die Grundlage von Elisabeth Dietrichs 90 Untersuchung der Kriminalitätsstruktur in Tirol und Vorarlberg für den Zeitraum 1850 bis 1903. Die nach unterschiedlichen Kriterien erstellten amtlichen Statistiken geben neben der Kriminalitätsstruktur auch über die erhebenden Behörden wie auch deren Sicht auf die Kriminalität gleichermaßen Aufschluß. Die Autorin untersucht sowohl diese „Filter" (wie Polizei und Gerichtsbehörden) als auch einzelne „Delikte" (beispielsweise Kulturkampf, Eigentums- und Betrugsverbrechen). Die Ausdifferenzierung der Verwahrinstitutionen in Irrenhäuser, Waisen- und Korrektionsanstalten 91 sowie das Entstehen neuer Gefängnisse werden als Teil der neuen polizeilichen wie auch strafrechtlichen Organisationsform dargestellt. Die Statistiker entwickelten bzw. moralisierten aus diesen Daten über Illegitimität signifikante Aussagen über die Sittlichkeit der Gesellschaft. 92 Am anfälligsten für

87

REITER: Ausgewiesen (1997).

88

ELLRICHSHAUSEN: Mutterschaft (1988).

89

PILGRAM: Kriminalstatistiken (1980) 49f.

90 BLASIUS: Bürgerliche Gesellschaft (1976) 29ff.; WETTMANN-JUNGBLUT: Diebstahl 152f.; DIETRICH: Ü b e l t ä t e r (1995).

" 92

Z u einer dieser „Manufakturen": KATZINGER: Waisenhaus (1982) 7 5 - 1 1 3 MITTERAUER: Familienform (1979) 128-131; MANTL: Heirat (1997) 9 - 4 9 .

(1990)

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Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit

soziale Verschiebungen bzw. Krisenzeiten waren die vordringlichen sozialen Problemfelder Jugend, Frauen, Fremde und Bettler. Die amtlichen Statistiken beleuchten das Entstehen eines kriminalisierenden Blickes auf gewisse Schichten wobei die Sexualitätsdelikte eine ganz entscheidende Rolle f ü r die Entstehung des Bildes v o m „Verbrecher" im 19. Jahrhundert spielten. 93 Eine diesbezüglich sehr interessante Untersuchung der spätmittelalterlichen Kremser Stadtrichterrechnungen f ü h r t e Elisabeth Mandl-Neumann 9 4 f ü r die Jahre 1462-1467 sowie 1470, 1475-76 und 1478 durch. Insgesamt w u r d e n 563 Verurteilte u n d 339 Kläger in diesem Zeitraum vor das städtische Gericht gebracht. R u n d 90 % der Geklagten wie auch der Verurteilten waren Männer. Die Herkunftsangaben verdeutlichen den regionalen Charakter des Gerichts - 92,8 % der Verurteilten stammten aus Niederösterreich. H i e r fällt besonders auf, daß die städtischen Fleischhacker sowohl auf seiten der Kläger wie auch auf Seiten der Verurteilten deutlich überrepräsentiert waren. Geistliche, „Beamte" u n d Gerichtspersonen waren bei den Klägern deutlich stärker vertreten als bei den Verurteilten. Die H a n d w e r k e r stellten - f ü r eine Stadt typisch - die größte verurteilte Berufsgruppe dar, gefolgt von den Händlern. Die Betrachtung des sozialen Standes förderte zutage, daß die Verurteilten zu 41 % Gesellen waren (unter den Klägern 15,7 %). Diesem Unruhepotential suchte die Stadt durch Klagen H e r r zu werden. Betrachtet man die Deliktstruktur, so fällt die Vielzahl der Gewaltverbrechen auf (24,2 %). D e n größten Anteil stellten die sogenannten „Verbote" (51,2 %): Die Kläger suchten Vermögenswerte des Beklagten durch einstweilige Sicherstellung vor Gericht zu sperren. Diebstahl n i m m t dagegen vor dem Kremser Stadtgericht überraschenderweise n u r einen äußerst geringen Stellenwert ein (1,4 %). D e r Wiener Rechtshistoriker Friedrich Hartl 9 5 stellte normative Quellen einer Analyse der n u r rudimentär überlieferten städtischen Wiener Strafgerichtsakten (18. J a h r h u n d e r t bis 1848) gegenüber. N a c h einer Einleitung über die Strafrechtskodifikation Qosephinisches Strafgesetzbuch 1787, StG 1803, StG 1852) wird die personelle u n d institutionelle Wiener Gerichtsorganisation dargestellt. Gerade dem richterlichen Personal widmet H a r t l große Aufmerksamkeit. D e r institutionskritische Ansatz des „labeling approach" 9 6 betont v o r allem den Aspekt, daß eine Straftat nicht n u r per se Straftat ist, sondern dazu erst durch den Definitionsprozeß der Strafverfolgungsorgane gemacht wird. Formalrechtliche Bestimmungen (Untersuchungsverfahren, Zuteilung an Referenten, Urteilsfindung usw.) sind einem A b r i ß des materiellen Rechtes, nach Delikten geordnet, angegliedert. Das Wiener Kriminalgericht administrierte zwischen 1793 u n d 1800 im Jahresschnitt 350 Strafverfahren. Die 2888 im genannten Zeitraum begangenen Straftaten bestanden beinahe zu 86 % aus Vermögensdelikten (2475 Fälle). 97 Eigentums93

BECKER: K r i m i n e l l e I d e n t i t ä t e n (1994) 143. A u c h DERS.: D e r V e r b r e c h e r (1995) 1 4 7 - 1 7 3 .

94

MANDL-NEUMANN:

Krems

(1985)

312-327;

DIES.: Ü b e r l e g u n g e n

(1988)

57-63

[mit

einer

kurzen Darstellung einer Ausseer Räuberbande]; DES.: Im Wald (1988) 159-171. 95 HARTL: Kriminalgericht (1973); siehe auch seinen Literaturüberblick DERS.: Historische Krim i n o l o g i e (1978) 2 8 5 - 2 9 4 u n d d e n W i e n e r K a t a l o g v o n DEUTSCHMANN: R e c h t s l e b e n (1986). 96

Z u m „labeling approach" (auch in der Erweiterung von primärer und sekundärer Devianz):

LAMNEK: A b w e i c h e n d e s V e r h a l t e n (1979) 2 1 6 - 2 3 6 ; s i e h e a u c h STEINERT: E t i k e t t i e r u n g (1985) 2 6 7 289. 97

HAR.TL: K r i m i n a l g e r i c h t (1973)

272-273.

48

Kapitel Π

delikte waren überhaupt im Vormärz besonders häufig, im Schnitt zwischen 8090 % der Gesamtfälle. Hartl konfrontiert in seinen Deliktdarstellungen jeweils die normative Behandlung mit den Strafprozeßakten, wodurch ein differenziertes Bild der Strafpraxis entsteht. Ein Kapitel über den Strafvollzug, und hier besonders die Todesstrafe (mit den „Varianten" Schiffsziehen mit hohen Sterbeziffern 98 ), bildet den Abschluß von Hartls Pionierarbeit. Für das 17. Jahrhundert, also vor dem Untersuchungszeitraum Hartls liegend, sind aufgrund der Skartierungen nur wenige Nachrichten aus dem Wiener Stadtgericht überliefert, die von Peter Csendes nach Delikten gegliedert in einem Aufsatz aus dem Jahr 1970 präsentiert wurden." Auf Basis umfangreichen Quellenstudiums von Kärntner Gerichtsakten (Kärntner Landesarchiv und Diözesanarchiv Gurk) entwarf Klaus O . Mayr in seiner in Klagenfurt approbierten Diplomarbeit ein quellenorientiertes Bild der „Kriminalität einer ländlichen Gesellschaft". 100 Er versuchte in seiner Darstellung vor allem die sozialen Konfliktfelder zu charakterisieren, indem er „Devianz aus ökonomischen Motiven" (Diebstahl, Münzfälschung etc.), weiters „interpersonelle Konflikte als Ausdruck klassenspezifischer oder individueller Gegensätze" (Mord, Brandstiftung, Injurien, Arbeitskonflikte etc.) oder „kriminalisierten Sozialprotest" (Steuer- und Robotrevolten, Desertion 101 etc.) ebenso berücksichtigte wie die stark kriminalisierten Sexualdelikte. Die „unzureichenden autonomen Konfliktregelungsmechanismen" der dörflichen Gesellschaft hätten nach Mayr ein verstärktes obrigkeitliches Eingreifen zu Folge gehabt. Gerade hier ist aber das Scheitern der Regulationsmechanismen deutlich spürbar. Der obrigkeitlich vorgeschriebene Termin des Dienstbotenwechsels mit Jahresende ist zwar normativ vorgegeben, dennoch wechselten die Dienstboten weiterhin traditionell zu Maria Lichtmeß ihren Bauern und Dienstgeber. 102 Mayr sieht die entscheidenden Bruchstellen in der Lebenswelt seiner fiktiven - weil als Idealtyp gebildeten - dörflichen Gesellschaft vor allem bezüglich Besitz, Alter und Geschlecht. Alte, verarmte Menschen wurden gesellschaftlich verstärkt an den Rand gedrängt; Frauen waren in ihrer Rechtsfähigkeit, auch im Hinblick auf ihre „Ehre", vermehrt bedroht. Die Sehnsucht nach „nicht alltäglichem Konsum" verursachte viele Diebstähle, aber keine „Sozialrebellen" mit regionalem oder überregionalem Nimbus. Eine vergleichende Sicht auf die Strafrechtspraxis unternahm in einer seiner letzten größeren Arbeiten Walter Pongratz: 103 Anhand zweier niederösterreichischer Herrschaften, der Stadt- und Klosterherrschaft Zwettl, schildert er nach einem einleitenden geschichtlichen Abriß der Zwettler Gerichtsentwicklung eine nach Delikten geordnete Auswahl von Kriminalfällen. Pongratz kommt in seinen 98 D a z u MAASBURG: Schiffziehen (1890) 16: Bei 1100 Häftlingen waren es 721 Todesfälle! Siehe auch die P u b l i k a t i o n v o n MACHO: Schiffziehen (1999).

"

CSENDES: Strafgerichtsbarkeit (1970) 103-119.

MAYR: Kriminalität (1986). 101 D a z u den A u f s t a n d gegen die Einquartierungen in Vorarlberg 1704/05 bei BlLGERI: D e m o kratische B e w e g u n g (1965) 13ff. 100

MAYR: Kriminalität (1986) 107ff. PONGRATZ: G e r i c h t s p r o t o k o l l e (1991) 205-259. D i e D e l i k t g r u p p e n im einzelnen: Selbstm o r d , Diebstahl, T o t s c h l a g , Zauberei, Sexualdelikte, Injurien, außerdem eine A u f z ä h l u n g der Blutgerichtsfälle des Landgerichtes Zwettl. 102

103

Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit

49

Ausführungen u.a. zu dem Schluß, daß die Sanktionspraxis der normativen Strenge beträchtlich hinterherhinkte. So wurde der 1688 ertappte Kirchendieb Wenighuber nicht - wie in der Landgerichtsordnung Ferdinands III. vorgesehen - mit dem Tod, sondern lediglich mit einem Schilling (also 30 Rutenstreichen) am Pranger abgestraft.104 Die allgemeine Darstellung des Stadtgerichtes Eggenburg von Emil Schneid konzentriert sich vorwiegend auf die Strafrechtsaltertümer (Hochgericht, Pranger) und nur wenig auf die Strafpraxis.105 Abschließend berichtet der Autor über einen Diebstahlsfall mit magischem Bezug: Der Dieb Georg Rädl berichtete am 3. Mai 1612 in einem unter Folter entstandenen Verhör, daß er mehrere schwangere Frauen getötet und anschließend deren Leib aufgeschnitten hätte, um an die magisch besetzten Föten zu gelangen. - Die entzündeten Finger der solcherart „gewonnenen" ungeborenen Kinder sollten als „Diebslichtzauber" den Dieb vor der drohenden Entdeckung während der Tat schützen.106 Diese magische Vorstellung war in der Frühen Neuzeit sehr verbreitet.107 Für Eggenburg läßt sich ein weiterer Fall von „Diebslichtzauber" aus dem Jahr 1577 - ähnliche Fälle gab es auch in Oberösterreich 108 - belegen. Allen ist gemein2 daß das Gericht der Frage nicht weiter nachging, ob diese Morde tatsächlich geschehen waren oder nur unter Folter erpreßt wurden. Verurteilungen erfolgten allein nach dem Gestandenen; das Geständnis galt als Faktum. 109 Raub und Diebstahl, also Eigentumsvergehen - in der Forschung der siebziger Jahre vorwiegend als „sozialrebellische" Taten abgestempelt - , waren die neben Unzucht am häufigsten auftretende Deliktgruppe; sie wurden deshalb als frühneuzeitliches Basisdelikt110 bezeichnet. Die Zusammenhänge zwischen Preisentwicklung und Diebstahl lassen sich besonders gut fassen.111 Gestohlen wurden neben Geld und Gewand auch Vieh oder kostenintensive Eisengüter (wie Eggen-

104

PONGRATZ: Gerichtsprotokolle (1990) 236. SCHNEID: Rechtspflege (1958) 6-17. Eine ähnliche Darstellung f ü r die Stadt Klosterneuburg mit der Schilderung eines Kindsmordfalles von 1668 bei HUBER: Gerichtsbarkeit (1912) 138-145. F ü r den Z n a i m e r Kreis gibt es eine ähnliche Ubersicht: TOMASCHEK: Gerichtswesen (1943) 27-46. 106 SCHNEID: Rechtspflege (1958) 16. Eine Regionalstudie liegt auch f ü r Aspang vor: LIEBSCHER: Kriminalgerichtsbarkeit (1984) 132-145. 107 DÖPLER: Schau-Platz (1693) 311: „Ferner findet man daß grausame M ö r d e r u n d Strassenräuber sehr fleißig aufgepasset w e n n sie schwangere Weiber b e k o m m e n k ö n n e / solche aufzuschneiden / die u n g e b o h r n e u n d ungetauffte Kinder gleichfals zu ö f f n e n ihre Hertzlein zu pulverisiren u n d zu fressen / daß w e n n sie etwan gefangen w ü r d e n / dennoch auf der Volter nicht bekennen m ö c h t e n / oder aber aus deren Fingern Diebes-Lichter zu machen / w o v o n die Leute in den H ä u s e r n drin sie stehlen in einen tiefen Schlaff fallen u n d nicht eher aufwachen bis solche in Milch ausgeleschet w o r d e n " 108 WLLFINGSEDER: Aberglauben (1967) 125ff. Michael Hecher gestand in Spital am P y h r n einer schwangeren Frau den Bauch aufgeschlitzt zu haben, u n d dem kind, so ein knäblein gewesen, nicht allein das rechte händchen abgeschnitten, sondern auch das herzchen herausgenommen, folgends die mutter mit dem kind in einem hölzl vergraben. Siehe auch RÖCKELEIN: Hexenessen (1996) 36f. 109 SPICKER-BECK: M o r d b r e n n e r a k t e n (1999) 53-66. 110 BLASIUS: Sozialgeschichte (1993) 492. Als Beispiel aus dem Spätmittelalter die Tabelle bei MANDL-NEUMANN: Krems (1985) 322. 111 DIETRICH: Übeltäter (1995) 24f.; GASSLER: G a u n e r (1986) 69ff. 105

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Kapitel Π

zähne, Eisenbeschläge von Schaufeln usw.).112 Einige dieser Diebesbanden113 nicht nur der scheinbar omnipräsente Grasel des 19. Jahrhunderts - lassen sich besonders gut quellenmäßig verfolgen: Der große Aktionsradius der Gruppe um die „Alte Liesl" etwa erstreckte sich über den gesamten Bodenseeraum.114 Von ihren Aktivitäten besonders betroffen war das unter verschiedenen Herrschaften stehende Gebiet von Chur, Dinkelsbühl, Schaffhausen und Buchloe. Das Metier dieser 1732 ausgehobenen „Bande"115 umfaßte neben dem Bettel auch Einbruchsdiebstahl und Sackgreifen (etwa bei Jahrmärkten). Die geschlechtsspezifische Aufgabenteilung innerhalb der Gruppen wird ebenso transparent wie deren Zwang zu weiterem Diebstahl aufgrund ihrer Subsistenzlosigkeit. Blauert schenkt vor allem der zähen Interaktion von Verhörern und Verhörten besonderes Augenmerk. Die Aufgegriffenen wehrten sich in ihren Verhören so lange sie konnten und gaben nur bereits bewiesene Tatbestände zu. Eine Auswertung von 2502 Diebstahlsprozessen vor dem Kreisgericht Ried im Innkreis im Zeitraum von 1883-1895 (im Oberösterreichischen Landesarchiv aufbewahrt) bildet das Thema von Helmut Pollaks Salzburger Dissertation. 116 Der Autor zeichnete in seiner Darstellung, ohne allerdings die Klassifizierungskriterien seiner Statistiken offenzulegen, das Bild eines idealtypischen Innviertier Diebs der Jahrhundertwende: ein männlicher Einzeltäter mit mehr als einer Vorstrafe, unter 35 Jahren, ledig und kinderlos, ohne festen Wohnsitz, mit geringer Schulbildung und ohne Berufsausbildung. Die 1297 verurteilten Personen (1045 Männer, 252 Frauen) wurden zum Großteil wegen Diebstahls geklagt (668 Fälle), gefolgt von Betrügerei (355 Fälle), weiters 58 Fälle von Veruntreuung und 16 Fälle von Raub. Die Nachfrage der Gerichte bezüglich der Wohnsituation der Delinquenten erbrachte, daß 24 % aller Verurteilten über keinen festen Wohnsitz verfügten, wobei rund 10 % mehr Männer (26 %) unterstandslos waren als Frauen (16 %). Das Kreisgericht Ried klassifizierte 90 % der Verurteilten als „arm", nur rund 10 % verfügten über eigene Mittel zur Subsistenzerhaltung. Den relativ hohen Frauenanteil bei Diebstahlsdelikten angesichts der sonst sehr niedrigen Frauenkriminalitätsrate 117 hat Irene Bauer anhand von Falldarstellungen in Wiener Strafgerichtsakten und amtlichen Statistiken zwischen 1850 und 1914 für Wien untersucht. 118 Die Spitze der Eigentumsdelikte lag demnach in der Zeit der großen Depression 1873-1880 und stieg erst nach 1899 erneut an. 112 Ausführlicher dazu Kapitel IX; siehe den wenig ins Detail gehenden Überblick auf Literaturgrundlage bei MORSCHER: Diebstahl (1994) [am Beispiel von Basel, Bern, München, Nürnberg, Schaffhausen, Zürich]. Als Einzelfalldarstellung liegt vor: JARITZ: Diebsgeständnis (1977/78) 77-86. 113 TEPPERBERG: Räuber (1993) 197-223. Siehe auch die Winklersche Bande (1826) bei VOGL: Kleinkriminalität (1985) 304-334; besonders hervorzuheben ist GASSLER: Gauner (1986) 11 Iff. N o c h nicht untersucht wurden „Aktenmäßige Geschichte" für Osterreich, wie dies für Deutschland bereits geschehen ist: LANGE: Gesellschaft (1994) und SCHÖNERT: Kriminalgeschichten (1983) 58ff. 114 BLAUERT: Sackgreifer (1993). Siehe auch die Rezension von SCHEFFKNECHT zu diesem Buch in: M o n t f o r t 45 (1993) 325-326. 115 Z u r Kritik dieses vor allem in der Romantik (Rinaldo Rinaldini) gebräuchlichen Begriffs DANKER: Räuberbanden 1 (1988) 450-476. 1,6 POLLAK: Eigentumskriminalität (1995) Analyse 1-47 und im Anschluß von S. 49-184 Statistiken (leider ohne Ausweis der Erhebungskriterien). 117 ULBRICH: „Kriminalität" (1995) 208-220. 118 BAUER: Diebinnen (1987).

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Ebenfalls statistischer Methoden, basierend auf den amtlichen Statistiken (zwischen 1853-1903), bediente sich Elisabeth Dietrich f ü r die Bundesländer Tirol (mit Südtirol) u n d Vorarlberg im 19. Jahrhundert. 1 1 9 Eigentumsdelikte bilden auch dort das Hauptdelikt, wobei seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts Lebensmittel-, Kleider-, Feld- und Gelddiebstähle zunahmen. Auch das Verhältnis v o n Frauen- u n d Männeranteil bei den Verurteilten läßt sich mit Hilfe der amtlichen Statistiken erheben: So war beispielsweise Mitte der achtziger Jahre die männliche Straffälligkeit neun Mal so hoch wie die weibliche, u m 1900 dagegen nur m e h r sieben Mal so hoch. Die konstruierte Vorstellung von Weiblichkeit in der F r ü h e n Neuzeit brachte es mit sich, daß Frauen hauptsächlich als Kinds- u n d G i f t m ö r d e r i n n e n oder in Hexen- u n d Magieprozessen vor Gericht auftraten. Gerichte w u r d e n n u r z u m Teil als Austragungsort ihrer Auseinandersetzungen verwendet. Frauen trugen verbale Auseinandersetzungen in der Kirche oder auf der Straße aus; während die physische Gewalt eine D o m ä n e der Männer darstellte. Eine G r u n d k o n s t a n t e der Kriminaltitätsstatistik bleibt bis heute - abseits jeder Interpretation der Ursachen - der geringe Frauenanteil innerhalb der Kriminalitätsrate. 120 D e r Wald w u r d e in der F r ü h e n Neuzeit ein sozial z u n e h m e n d konfliktbeladener O r t - akzentuiert durch akute Holzknappheit, Holzrechtsstreitigkeiten u n d die i m m e r wieder v o r k o m m e n d e n Jagdkonflikte (bis zu Jagdaufständen reichend). 121 Ganze Dorfschaften beanspruchten herrschaftliche Wald- u n d WeideBesitzrechte und trugen diese Konflikte einerseits auf der „öffentlichen" Ebene von Suppliken an den G r u n d h e r r n oder Landesfürsten, 122 aber auch durch „kriminelle" O p p o s i t i o n aus. 123 Die traditionelle Meinung der Bevölkerung zu diesem verbreiteten Delikt des V o r m ä r z war vielmehr, daß es sich dabei nicht u m eine Rechtsverletzung, sondern u m die W a h r u n g wie auch immer gearteter alter Rechte handelte, die ihnen der G r u n d h e r r widerrechtlich entzogen hätte. 124 D e r herrschaftliche Schaftrieb f ü h r t e überdies zu großen Belastungen der Untertanen, die sich dagegen - wie in der Herrschaft Gföhl - meist vergeblich zu wehren suchten. 125 D e r Zusammenhang v o n Verarmung u n d zunehmender Konfliktbereitschaft mit der Herrschaft läßt sich anhand dieser Wald- u n d Holzstreitigkeiten besonders gut erschließen. D e r Kampf u m die Waldnutzung war ein D a u e r t h e m a frühneuzeitlicher Grundherrschaft. Die Stiftsherrschaft Klosterneuburg suchte 119 120

DIETRICH: Ü b e l t ä t e r (1995), ausführlicher m e i n e Rez. in: M I Ö G 105 (1997) 217-219. ULBRICHT: E i n l e i t u n g (1995) 18: i m Schnitt zwischen 10-20 %; DIETRICH: Ü b e l t ä t e r (1995)

136-148. 121

Siehe die F o r s c h u n g s l i t e r a t u r bei ALLMANN: W a l d (1989) 220-250. Eine Ü b e r s i c h t f ü r O b e r österreich bei GRÜLL: Bauer (1963) 205ff., besonders die G r o ß r a m i n g e r Bauernrevolte u n d Jagdbes c h w e r d e n 1712-1713, S. 270ff., O b e r ö s t e r r e i c h i s c h e r Jagdaufstand 1716-1721, S. 282ff. A m Beispiel v o n G ö t t w e i g e r u n d Salzburger W a l d o r d n u n g e n SONNLECHNER, WINIWARTER: R e c h t u n d Verwalt u n g (1999) 57-85. 122 F ü r die Schweiz die Supplikationen als Modernisierungsantrieb bei WÜRGLER: U n r u h e n (1995); f ü r F r a n k r e i c h z u m P r o t e s t ü b e r d e n G e r i c h t s w e g SCHMALE: Widerstandsmittel (1986) 423; Siehe auch HOLENSTEIN: Bittgesuch (1998) 325-357. F ü r d e n bäuerlichen Bereich Bayerns BLICKLE: S u p p l i k a t i o n e n u n d D e m o n s t a t i o n e n (2000) 263-317. 123 m 125

Z u diesem Massendelikt MOOSER: F u r c h t (1984) 43-99; DERS.: H o l z d i e b s t a h l (1981) 20-27. BLASIUS: Bürgerliche Gesellschaft (1976) 46ff.; DERS.: Kriminalität (1979) 5f. WlNKELBAUER: R o b o t (1986) 152-171, zu Waldstreitigkeiten S. 172-180.

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Kapitel Π

dem Holzdiebstahl Einhalt zu gebieten, konnte sich gegen den Interpretationsansatz des „alte herkomens" jedoch nicht durchsetzen, weil die Bevölkerung nach der Grundentlastung von 1848 überzeugt war, Anspruch auf den Waldbesitz zu haben. Holzdiebstahl in großem Umfang war die Folge, von der Klosterneuburger Obrigkeit beispielsweise pejorativ als „Sieveringer Waldfrevel" 126 (1848-49) bezeichnet. Neben dem Schmuggel oder Lottospiel 127 war dies die häufigste kollektive Form des „sozialen Protestes". 128 Am Beispiel der Herrschaft Murau konnten diese „Waldexcesse" (darunter auch Brennholzdiebstahl oder Diebstahl von „Heken und Zaunstängeln") genauer spezifiziert werden: Das Eintreiben von Vieh in den Jungwald, um mehr Weidefläche zu erzielen, oder das Ringeln der Bäume mit der Folge, daß diese langsam abstarben, hatte nur geringfügige Arreststrafen sowie öffentliche Arbeiten zur Folge, wie Bettina Gailberger in ihrer Untersuchung für die Herrschaft Murau erhob. 129 Der Murauer Bauer Anton Panhofer wurde 1793 sogar gezwungen, seine Hube aufzugeben, weil für sein Vieh zu wenig eigene Weidefläche vorhanden war. Auch Brandungen, also das Ausbrennen des Gestrüpps, um anschließend Getreide anzubauen, zeitigte nur kurze Arreststrafen (mehrere Stunden) als Sanktion. Die Mehrzahl der Täter (183 Fälle, 48 % davon Waldfrevel) waren kleinbäuerliche Keuschler (mit wenigen Ausnahmen, etwa die Harzbohrer oder einiger Jäger), die mit der ihnen vom Waldaufseher zugewiesenen „Hausnothdurft" nicht auskamen. Die Harzbohrer (Lorietbohrer) standen als Berufsgruppe zwischen Herrschaft, Jägern und Bauern. Sie wurden als Schädiger der Bäume und der Holzqualität immer wieder angezeigt. Die Strafen für diese willentlichen Waldbeschädigungen fielen - im Gegensatz zur Wilderei - meist sehr gering aus: Die höchste Strafe im Untersuchungszeitraum (1778-1846) war eine achttägige öffentliche Strafarbeit mit nächtlichem Arrest. Der große Wildüberhang bewirkte im Jahr 1848 - noch vor der Änderung des Jagdrechtes - umfangreiche Wilddiebstähle und richtiggehende Kreisjagden, die von der Obrigkeit auch durch massiven Einsatz an Uberwachungsorganen nicht eingestellt werden konnten. 130 Die Konfliktstellung Jäger (als obrigkeitlicher Beamter) gegen wildernde Bauern und Dienstknechte führte zu wilden Handgreiflichkeiten, wenn erstere sowie Gerichtsbeamte Hausdurchsuchungen zur Sicherstellung des geschossenen Wildes anstellen ließen oder auf eigene Faust durchführten.131 Die Wildereien in Salzburg zu Ende des 18. Jahrhunderts, verschärft noch durch Grenzkonflikte und Rekrutenaufstände, wurden vom Salzburger Erzbi-

Dazu VOGL: Kleinkriminalität (1985) 335-361 und AIGNER: Kleinkriminalität (1998) 59-69. SAURER: Straße (1989) 335ff.; ZOLLINGER: Glücksspiel (1997). Als kurze Einzelfalldarstellung: JANECEK: Pargfrider (1957) 142-149. 128 Neben anderen Arbeiten von THOMPSON: Plebeische Kultur (1983) auch DIETRICH: Übeltäter (1995) 29-31; mit Korrekturen zum Konzept HAUSEN: Sozialer Protest (1977) 257-263; LANGE: Gesellschaft (1994) 191-195. Wenig ergiebig zu diesem Thema MONZ: Holzrechte (1993/95) 98-107. 129 GAILBERGER: Waldexzesse (1995) 45ff. Für Niederösterreich auch FEIGL: Grundherrschaft (1998) 125-131. Für die Steiermark beispielsweise MITTERMÜLLER: Holzkohle (1994) 67-80. 150 Zu den Jagdexzessen" 1848 in Österreich (Steyr/OÖ, Himmelberg/Knt.) KOHL: Jagd (1993) 42-55. Zur Wilderei in Kärnten MAYR: Kriminalität (1986) 130-142; für Tirol/Vorarlberg DIETRICH: Übeltäter (1995) 128-129. Zu Wildereien auch WINKELBAUER: Robot (1986) 177f. 131 GASSLER: Gauner (1986) 9 Iff. 126

127

Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit

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schof Colloredo fatalistisch als Prodigien des drohenden Unterganges verstanden: „Sie kündigen mir die Guillotine an, ich sehe sie kommen." 132 Die von Michel Foucault geprägte These von der Verdrängung der Sexualität und gleichzeitig damit verbunden vom Anschwellen des Diskurses darüber, also von der „Diskursivierung von Sexualität", 133 bildet die Ausgangslage der Untersuchung von Günther Pallaver für Tirol in der Frühen Neuzeit (vom 15. bis 17. Jahrhundert). 134 A m Beispiel der nach dem Tridentinum neudefinierten Beichte 135 (und hier besonders der Beichtbücher), aber quellenmäßig gestützt auf Visitationsprotokolle, streicht der Autor diese Verdrängung heraus. Die optische Säuberung der Kirchen von „nackten" Bildern, der Sturm gegen die erotischen Darstellungen führte zu Ubermalungen in der Kirche; Maria lactans-Abbildungen mußten „entsexualisiert" werden. Die enge Verflechtung von weltlichen und kirchlichen Disziplinierungsmechanismen - nicht nur im Kampf gegen die Täufer - wird deutlich herausgestrichen. Die Zentralgewalten suchten disziplinierend auf das Sexualleben der Untertanen einzuwirken, wie am Beispiel der Impotenzdebatte (u.a. „Impotentia ex maleficio") im kirchlichen Zusammenhang gezeigt wird. Die neu geschaffenen bzw. forciert angewandten Gesetze und Patente brauchten eine deutlich verstärkte Zentralmacht zur Durchsetzung, es kam zur konfessionalisierenden Zusammenarbeit von Kirche und Staat.136 Unzuchtsfälle bildeten eines der am stärksten verfolgten und daher auch gerichtsrelevantesten Kriminaldelikte der Frühen Neuzeit. 137 Die stereotype geschlechtsspezifische Selbstdarstellung vor Gericht sah gegenseitige Schuldzuweisungen von „Mensch" und „Kerl" vor. Mann/Frau versuchte sich gerichtsstrategisch immer als Opfer fremder Verführung darzustellen. 138 Die dörfliche Jugendkultur, die sexuelle Kontakte zur Eheanbahnung akzeptierte, stand im Gegensatz zu strikten kirchlichen und staatlichen Sexual-Verboten. 139 Sexualität war ausschließlich im Rahmen der Ehe toleriert. Die Heiratserlaubnis, der sogenannte politische Ehekonsens, wurde von den Gemeinden allerdings nur bei einer ausreichenden finanziellen Unabhängigkeit erteilt, weil man keineswegs für die Armenversorgung des frisch verheirateten Paares aufkommen wollte. Das erklärt auch das spezifische alpine Heiratsmuster, wo erst mit dem Erbfall eine Ehe eingegangen werden konnte. 140 Das Offizialdelikt „Unzucht" stellte denn auch 1787 im Erzstift Salzburg 52 % aller Strafgefälle; wobei Gerhard Ammerer eine besondere 132 SCHINDLER: Schüsse (1997) 99-132, hier 119. Eingehend mit Militärgeschichte beschäftigt sich der kritische Forschungsüberblick von HOCHEDLINGER: „Bella gerant alii..." (1999) 237-277, mit der Rekrutierung 271-272. 133 Dazu EDER: Sexualunterdrückung (1994) 7-29. 134 PALLAVER: Sexualität (1987) 84ff. 135 Dazu auch KALDE: Osterbeichtzettel (1995) 101-130; zur Beichte als weibliche Disziplinierungsform SAURER: Beichtgespräche (1990) 141-170. 136 In diesem Zusammenhang siehe die Analyse von Fastnachtspielen bzw. medizinischen Texten (Hippolyt Guarinoni) bei MÜLLER: Fastnacht (1995). 137 Für die O O . Herrschaften Gleink, Losensteinleithen, Kremsmünster zwischen 1570 und 1640 PATROUCH: Sexualität (1994) 151-165; siehe auch seine Studie zur „Sozialdisziplinierung" anhand oberösterreichischer Herrschaften PATROUCH: Counterreformation (1994). 138 GLEIXNER: Das Mensch (1994). 139 MEUMANN: Findelkinder (1995) 72-91. Siehe meine Rezension in: U H 67 (1996) 159-161. 140 MANTL: Heirat (1997).

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Kapitel Π

Häufigkeit von Ehebrüchen, die vor dem Hofgericht verhandelt wurden, feststellte.141 Die vom Hofrat verhängten Strafen begünstigten bezüglich der Dauer eher Männer; Frauen wurden zu längerdauernden Haftstrafen und öffentlichen Arbeiten verurteilt, Männer dagegen faßten vorwiegend Schandstrafen aus. Eine mikrogeschichtlich angelegte Regionalstudie über die Rolle der Sexualität liegt für das steirische Benediktinerstift St. Lambrecht vor, vorgelegt vom österreichischen „Kleio"-Spezialisten Peter Becker. 142 Die Virginität der Braut war in der ländlichen Gesellschaft keineswegs eine Grundvoraussetzung für die Heirat.143 Illegitimität wurde vom Autor entweder als Zeichen mißglückter Brautwerbung oder plötzlich hereinbrechender Krisen verstanden. Aus der Zahl der unehelichen Kinder rekrutierten die Lambrechter Bauern, deren Existenzgrundlage die arbeitsintensive Viehzucht war, auch ihren familienfremden Arbeitskräftebedarf.144 Die beschränkten Ressourcen und das Anerbenrecht ließen das ländliche Proletariat anschwellen. Die Kontrolle durch das Dorf, das Produktionspotential des Bauernhofes und die wirtschaftliche Entwicklung bestimmten die Illegitimitätsrate entscheidend. Uneheliche Kinder hatten, da sie für die Erbfolge nicht in Frage kamen, eine entscheidende Rolle in der Bereitstellung von Arbeitskräften und trugen gleichzeitig zur Pauperisierung erheblich bei. Das Thema Kindsmord hat besonders in Deutschland breite Bearbeitung gefunden. 145 Auf Ebene der Appellationsgerichte, welche die Entscheidung der Erstinstanz überprüfen mußten, hat Elke Hammer für Innerösterreich diese Deliktform im Zeitraum von 1787 bis 1849 anhand von 771 Fällen untersucht. 146 Die „typische" Kindsmörderin war in der Regel eine zwischen 20 und 25 Jahre alte Dienstmagd, ledig, katholisch, nahe ihrem Geburtsort arbeitend und ohne Vermögen. 147 Die des Kindsmords Angeklagte war meist mit dem Gesetz nie in Konflikt geraten und verfügte über einen guten Leumund. In den Quellen finden sich sehr detaillierte Angaben, die - mit Abstrichen - viele Erkenntnisse über äußere und auch innere Befindlichkeiten der Angeklagten vermitteln. Die Verheimlichung der Geburt, die Umstände des Geburtsvorganges, das Verstecken der Leiche, aber auch das Verhalten der Hausleute werden von der Autorin untersucht. Lediglich ein Drittel der angeklagten Frauen gestand den Kindsmord ein und auch dann nur - hier wird eine Verteidigungsstrategie sichtbar wenn untrügliche Zeichen vorlagen. Die Gerichtsmedizin konnte die Täterinnen meist nicht überführen, zumal wenn der Leichnam des Kindes nicht bald nach der Geburt gefunden werden konnte. Rund ein Drittel der Angeklagten wurde sofort nach der Tat entdeckt, was die rigide soziale Kontrolle des Dorfes untereinander be-

141

AMMERER: Sexualität (1994) 111-150, hier 122. Z u diesem T h e m a ZEHENTNER: Gasseigehen

(1993). 112 143 1,4

BECKER: Leben (1990). Siehe auch das Kleio-Tutorial BECKER, WERNER: Kleio (1991). D a z u MITTERAUER: Ledige Mütter (1983) 55-67. MITTERAUER: Familienformen (1979) 182f.

145 Als Beispiele: ULBRICHT: K i n d s m o r d (1990) und STUKENBROCK: Abtreibung (1993); für Innerösterreich VALENTINITSCH: K i n d s m o r d (1988) 573-591. 146 HAMMER: K i n d s m o r d (1997). Siehe meine Rezension in: U H 69 (1998) 34-37. 147 Z u Dienstboten BARTH-SCALMANI: Dienstboten (1997) 199-218.

V e r b r e c h e n u n d Strafen in der F r ü h e n N e u z e i t

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legt.148 Die neugegründeten Findelhäuser, wie das 1784 geschaffene Wiener Findelhaus, traten mit dem Anspruch an, dem Kindsmord vorzubeugen, indem eine anonyme Kindesabgabe (ohne Drehladen) realisiert werden sollte. Der hohen Kindersterblichkeitsrate taten die Gründungen dieser Gebär- und Findelanstalten aber weiter keinen Abbruch, sie dienten vorwiegend zur punktuellen Entkriminalisierung der Mütter, meist Dienstboten. 149 Die lange Dauer des dörflichen bzw. städtischen Gedächtnisses konnten diese neuen Institutionen kaum beschränken ledige Kinder stigmatisierten die Mütter ein Leben lang. Die fragmentarische Uberlieferung dieser Deliktgattung für das Erzstift Salzburg (zwischen 1776-1803 14 Kindsmordfälle) besitzt nur geringe Aussagekraft, bestätigt aber die oben skizzierte Tendenz: Kindsmord erscheint - zumindest als These formuliert - als ein postnataler Abortivakt, wobei die Frauen den Tatvorsatz schon lange vor der Geburt gefaßt hätten. 150 Den Einfluß des Dorfes auf die Rechtssprechung beleuchtet eine Fallstudie aus dem Marktgericht Perchtoldsdorf (1770), wo der zweiundzwanzigjährige Hauer und Inwohner Franz Riedler sich mit seiner neunjährigen Schwester mehrmals „fleischlich versündiget" hatte. 151 Der „unvollkommen" vollzogene Beischlaf, die Nötigung des Kindes wird im Rahmen der Deliktkategorie „Blutschande" abgeurteilt: Franz Riedler wird nach zweijähriger Zwangsarbeit aus dem Marktgericht ausgewiesen, das Kind wird nach der 101-tägigen Haft mit 30 Rutenstreichen gestraft und aus der Haft entlassen. Diese sexuellen Nötigungen sollten zum Schutz der Beteiligten - so die Conclusio von Andrea Griesebner - nicht an die Öffentlichkeit gezogen werden, wie die weitgehende Absenz von Nötigungsfällen in der Frühen Neuzeit belegt. Der wissende Mantel des Schweigens wurde über Inzestfälle gelegt, nur in Fällen von Schwangerschaften wurden diese offenbar. 152 Kriminalprozesse um Magie und Hexerei, Leitsektoren der historischen Erforschung von Kriminalität in Osterreich, gelten als sichtbarste Konfliktfelder im disziplinierenden, akkulturierenden Diffusionsprozeß der Obrigkeit und der Bevölkerung. 153 Die populären Aberglaubensvorstellungen sollten durch Restriktionen und Normen bekämpft werden, 154 während magische Vorstellungen auf Ebene von Alchemie, solange sie den Rahmen der katholischen Lehre nicht verletzten, durchaus geduldet und propagiert wurden. Die auch heute noch wichtig148 Als weitere Untersuchung zu Kindsmord im Landgericht Gaming liegt - mit ähnlichen Ergebnissen - vor BABOR: Kindesmord (1993). 1 , 9 Siehe dafür die auf einem umfangreichen Datensatz aufbauende Arbeit von PAWLOWSKY: Findelhaus (1996) und PAWLOWSKY, ZECHNER, MATSCHINEGG: Findelhaus (1993) [Exemplar im Wiener Institut für Geschichte]. Einen guten Uberblick gibt auch MEUMANN: Findelkinder (1995) 259-312. 150 AMMERER: Agnes (1994) 339-363, dagegen HAMMER: Kindsmord (1997) 228ff.: Rund 60 % der Frauen gab vor Gericht (!) an, daß sie keinen verbrecherischen Vorsatz zum Kindsmord gehabt hätten. 151 GRIESEBNER: Gewalt (1997) 130-155. 152 RUBLACK: Viehisch (1995) 171-213. 155 Die einzige österreichische Gesamtgeschichte, die Hexerei und Magie behandelt: EVANS: Habsburgermonarchie (1986) 249-293 - mit einer Übernahme des bipolaren Modells von MUCHEMBLED: Kultur des Volkes (1984). Diese Bipolarität wird heute weitgehend bestritten. Explizit erwähnt wird Hexerei jetzt auch bei REISENLEITNER: Frühe Neuzeit (2000) 119-124, 316-318. 154

HELLBLING: Strafrechtsquellen (1996) 70-73.

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Kapitel Π

ste Darstellung von Hexenprozessen, die gehäuft zwischen 1670 und 1700 vor österreichischen Gerichten verhandelt wurden, 155 stammt aus der Feder des steirischen Rechtshistorikers Fritz Byloff. 156 In Osterreich gibt es zwar bereits eine Fülle von Einzelarbeiten - einige davon auch in größerem Rahmen auf Ebene der Bundesländer157 aber noch immer keine zusammenfassende Studie zum Thema. 158 Die Zielgruppen der Verfolgung, im besonderen von Zauberei- und Hexenprozessen, bildeten vor allem die Fahrenden, Bettler und jugendliche Subkulturen. 159 So wurden im Erzstift Salzburg160 auf der Suche nach dem sagenumwobenen Zauberer-Jackl161 gezielt jugendliche Randkulturen verfolgt; unversorgte Kinder waren im frühneuzeitlichen Europa überall anzutreffen.162 Es konnten aber in den österreichischen Erbländern keine Verfolgungswellen, sondern nur punktuell verstärkte Verfolgungstätigkeiten festgestellt werden, wobei es hier auch die schlechte Quellenlage und Archivsituation zu berücksichtigen gilt.163 Im Gebiet der österreichischen Herrschaften vor dem Arlberg standen zwischen 1528 und 1657 mindestens 165 Personen wegen Hexerei vor Gericht, davon wurden 95 nachweislich mit der Todesstrafe belegt.164

BYLOFF: Hexenglaube (1934) 160; Graphik bei KEPLINGER: Vorstellungswelten (1986) 158. BYLOFF: Hexenglaube (1934). Byloff führt die Hexereiprozesse auf folgende Ursachen zurück (S. 165): „daß die Zaubereiprozesse mit Naturereignissen einerseits, mit dem Tiefstand naturwissenschaftlicher Kenntnisse anderseits in innigster Verbindung stehen." Eine eklektizistische Sammlung von magierelevanten Prozeßstücken: DERS.: Volkskundliches (1929). Zur Person: RlNTELEN: Byloff (1943) 121-126 und Ö B L 1 (1967) 132. 155

156

157 RASER: Hexenprozesse (1989) 14-41: Diese verdienstvolle Aufstellung (unter Angabe der jeweiligen Literatur zum Prozeß) leidet an dem schlechten Bearbeitungsstand für Niederösterreich, sodaß eine beträchtliche zeitliche Verschiebung der Hexenverfolgungsintensität durch neue Forschungsergebnisse oder Quellenfunde möglich scheint: Höhepunkte in N O . um 1630 (Zeitraum 1571-1640); weitere Einzelfalldarstellungen (in Auswahl): KATZER: Hexenprozeß (1970) 68-78; DIENST: Alltägliches (1986/87) 65-75; WlNXELBAUER: Zauberei (1987) 3-29; FEIGL: Geisterseherei (1987) 123-133.

Als Überblick: SCHÖNLEITNER: Hexenprozesse (1987). VALENTINITSCH: Zwischenbilanz (1987) 311-313 [daneben zahlreiche andere einschlägige Arbeiten siehe Literaturverzeichnis]; forschungsgeschichtlich wichtig auch WUTTE: Hexenprozesse (1927) 37f. und BYLOFF: Bettelvolk (1939) 27-31. Byloff spricht in interessanter (zeitbedingter?) Diktion (S. 27) von der gewaltigen „Vermehrung des Landstreicher-, Bettler- und Verbrechervolkes", gesteigert durch „seinen organisierten Zusammenschluß und seine offene Kampfansage an die seßhafte und arbeitende Volksmasse, insbesondere die Bauern." Deshalb sei das Hochstift Salzburg zu „rücksichtslosen Bekämpfungsmaßnahmen" genötigt worden. 158

159

160 NAGL: Zauberer-Jackl (1972/73) 385-539 [mit der Liste der Prozeßopfer 524-539], (1974) 7 9 241; SCHINDLER: Unbarmherzigkeit (1992) 258-314. Jetzt vor allem MÜLLEDER: Justiz und Teufel (1999). Die davorliegenden Salzburger Hexenprozesse bei KLEIN: Hexenprozesse (1957) 17-50 (beginnend ab 1443, Schwerpunkt auf das 16. Jh.) 21ff. 161 Zur weiten Ausstrahlung dieser Figur PONGRATZ: Gerichtsprotokolle (1990) 255: In Zwettler Gerichtsprotokollen taucht als Schimpfwort „Zauberjakl" auf; für Spital am Pyhrn WlLFINGSEDER: Aberglauben (1967) 131-138. 162 MEUMANN: Findelkinder (1995) 141ff.; BRÄUER: Bettler (1996) 116ff. 163 Für die Region Grein an der Donau WENTKER: Greinburg (1995); BERGHAMMER: Greinburger Hexenprozeß (1987) und den sogenannten Grillenberger Prozeß von 1729-1731, siehe bei STRNADT: Materialien (1909) 321-354; auch der Hainburger Prozeß 1617/18 bei WINKELBAUER: Zauberei (1987) 24. 164 TSCHAKNER: Vorarlberg (1994) 230-243; größte Prozeßserie 1609 in Bregenz mit insgesamt 16 Hinrichtungen. Tschaikner stellte einen Verfolgungshöhepunkt um 1590 bis etwa 1620 fest.

Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit

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Gerade zur Beleuchtung des alltäglichen Lebens, zur Sichtbarmachung von zwischenmenschlichen Krisen, von Denunziationsvorgängen 165 eignen sich Magieund Zaubereiprozesse besonders gut.166 Die magische Alltagskultur von unterbäuerlichen und bäuerlichen Schichten167 läßt sich sogar geschlechtsspezifisch zuteilen: Heilende und bannende Magie erscheint als Domäne der Männer, während Schadenszauber ein vorwiegend weibliches Konfliktfeld war.168 Der Zusammenhang zwischen krisenhafter Wirtschaftslage und sozialpsychologischer „Entladung" nach erfolgreicher Sündenbocksuche wird in dem von Gerhard Sarman geschilderten Fall des Bettlers Christian Wucher in Maria Saal (Kärnten) deutlich.169 Auslöser für den Prozeß und die erfolgte Hinrichtung war, daß der Bettler 1720 nach größeren Unwettern und beträchtlichen Ernteverlusten beschuldigt wurde, in der wolckhen gewest zu sein.170 Wurden die vom Bettler geäußerten Verwünschungen im Fall von nicht gewährten Almosen wahr, so spitzte sich die Situation für den Bettler auf gefährliche Weise zu und ein Prozeß drohte: Die Folter, durchgeführt vom Bannrichter Georg Wolfgang von Tschabueschnig,171 erbrachte schließlich einen klassischen Teufelspakt mit Schadenszauber nach dem Muster der gelehrten Dämonologie und damit einen ausreichenden Grund zur Verurteilung. Einige Fälle sind dokumentiert, wo zwischenmenschliche Spannungen einen Hexenprozeß auslösten: Der Gföhler Fall der Magd Barbara Stierpaur und ihrer Dienstherrin Margareta Greis (1592/93) kann hier ebenso wie der berühmte „Wiener Hexenprozeß" der Elsa Plainacher aus dem Jahr 1583 angeführt werden.172 Die steirischen Hexenprozesse, die durch erhalten gebliebene Zentralregister der Innerösterreichischen Regierung hervorragend zu benutzen sind, wurde vor allem von Helfried Valentinitsch in zahlreichen Arbeiten eingehend behandelt und analysiert. Schatzgräber/-heberfälle 173 (darunter die weitverbreiteten Christophgebete) wurden auch vor österreichischen Kriminalgerichten häufig verhandelt, fanden

165

WALZ: Hexereiverdächtigung (1997) 80-98. A m Beispiel des Innsbrucker Prozesses des Inquisitors Heinrich Institoris (1485) DIENST: Lebensbewältigung (1987) 80-116; AMMANN: Hexenprocess (1890). 167 LABOUVIE: Verbotene Künste (1992); DIES.: Zauberei (1991). 168 TSCHAKNER: Magie (1997) 82, KEPLINGER: Schadenszauber (1995) 176f.; für Vorarlberg TSCHAIKNER: Hexenverfolgung (1992). Siehe auch AHRENDT-SCHULTE: Hexenprozesse (1995) 347358. 169 SARMAN: Hexenprozeß (1995) und DERS.: Wucher (1997) 461-494. Eine Übersicht über Kärntner Hexenprozesse bei WUTTE: Hexenprozesse (1927) 27-67 [84 Prozesse mit 53 Hinrichtungen - allerdings bei noch wenig erforschter Quellenlage]. Forschungsüberblick über Kärntner Hexenprozesse bei SARMANN: Hexenprozeß (1995) 7-30 (mit vielen neuen Prozessen); auf Niedergerichtsebene GRILZ-SEGER: Konflikte (1997). 170 Siehe auch WUTTE: Hexenprozesse (1927) 35. Ein ähnlicher Fall bei VALENTINITSCH: Bettlerverfolgung (1986) 105-129. 171 Siehe auch WUTTE: Gerichtsgebräuche (1908) 41-59. m WINKELBAUER: Zauberei (1987) 14ff.; OBERMAYER: Wiener Hexenprozeß (1963) Transkription S. 46-70; dazu auch HEISS: Propaganda (1990/91) 103-152. 173 Siehe den Eintrag bei ZEDLER: Universal-Lexikon 34 (1742/1961) Sp. 986: „Schatz-Graben, ist diejenige Bemühung, da man Geld, so an einem O r t verborgen, suchet und ausgraben will. Weil dieses eine Art der Zauberey, wenn man durch Hülffe des Teufels Schätze suchet, so wollen wir unten in 166

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Kapitel II

aber in der Forschung bislang wenig Resonanz. Diese Delikte stellen einen späten, weit verbreiteten Typus von Zauberei- und Magieprozessen dar und avancierten zu einem auch in Osterreich häufig anzutreffenden Delikt des 17. und 18. Jahrhunderts.174 Große Summen konnten durch - heute würde man sagen - Trickbetrüger, „Spezialisten des Hilfszaubers", 175 erschwindelt werden. Schadenssummen von über 100 Gulden waren keine Seltenheit. Patente, Landgerichtsordnungen und andere normative Quellen warnen eindrücklich davor, daß Christoph- und andere derley gebetter abgelesen und denen ainfeltigen außgethailt werden.176 Schatzgräber· und -beterprozesse, darunter der Freistädter Prozeß 1728/29 gegen den Lederermeister Peter Ferdinand Käselister, beleuchten sehr gut sonst kaum faßbare Lebensbereiche, wie etwa ökonomische und soziale Krisen und Abstiegsängste. Die frühneuzeitliche Sozialhilfe- und Fürsorgepolitik wurde für den Wiener und niederösterreichischen Raum durch den Leipziger Historiker Helmut Bräuer177 untersucht, der anhand von rund 1500 Bettlerbiographien die Bandbreite von Bettlerexistenzen für das 17. Jahrhundert aufzeigen konnte. Diese Datenfülle - gegengelesen mit normativen Quellen - erlaubt neben quantitativen Analysen auch detaillierte qualitative Aussagen, beispielsweise über bevorzugte Bettelplätze, Kleidung und Organisation der Bettler. Auch der Kampf zwischen den erlaubten Wiener „Stadtzeichenträgern" und den unerlaubten Bettlern (entweder ortsfremde oder „starke" Bettler) spitzte sich ebenso zu wie die Konflikte mit der ansässigen Bevölkerung. Eine Unterscheidung zwischen Arbeitenden und Bettelnden war kaum zu treffen, deshalb unterscheidet Bräuer auch fließend zwischen temporärem und saisonalem Bettel, weiters zwischen Ankunftsbettel und Krankenbettel. Bräuer nahm eine Typologie der Bettler vor. Der zunehmend ausschließende Ton der Patente, gekoppelt mit einem verstärkten obrigkeitlichen Verfolgungswillen gegenüber den scheinbar allgegenwärtigen Bettlern, wird kontrastiert mit einer zumindest teilweise tolerierenden Haltung der Bevölkerung bzw. einzelner Hauswirte, die immer noch - auch im 18. Jahrhundert - Quartiere für Bettler und somit Unterschlupf zur Verfügung stellten.178 Die entstandene Unbarmherzigkeit gegenüber Bettlern traf auf lokale Toleranz durch die Bevölkerung. Die Unterschicht wurde zur Bedrohung, zumindest verkünden dies die normativen Texte. dem Artikel von der Zauberey ausführlich davon handeln." Siehe auch ZEDLER: Universal-Lexikon 61 (1749/1964) Sp. 7 9 - 8 0 . 174 Für Schatzgräberfälle COMMENDA: Schatzgräber (1960) 171-195; RASER: Hexenprozesse (1989) 14-41. Oft auch Schatzbeterfälle in lokalgeschichtlichen Untersuchungen beispielsweise MAROLI: Hollenburg (1975) 59ff., 77ff.; KATZER: Schatzgräbersegen (1970) 3 - 5 . Für Deutschland KLINKHAMMER: Schatzgräber (1993); DAXELMÜLLER: Aberglaube (1996) 2 9 6 - 3 1 4 ; HAGEN: Schatzgräber (1997) 175-186.

LABOUVIE: Verbotene Künste (1992) 117-123. SCHEUTZ: Schatzgräberprozeß (1993) Transkription S. 109: Erlaß des Landeshauptmannes, Linz 1748 Mai 25. 175

176

177 BRÄUER: Bettler (1996). Siehe auch meine Rezension in: U H 68 (1997) 348-350. Erwähnenswert ist auch die Diplomarbeit von SCHWAIGER: Bettelei (1986). Siehe auch den Ausstellungskatalog JUST, PILS: Unbarmherzigkeit (1997). 178 Mit einer Dorfstudie über einen Lynchmord an einem bettelnden Dieb: ULBRICHT: Lynchjustiz (1997) 3 7 9 - 3 9 7 . Der von Ulbricht geschilderte Fall lehnt sich an einen französischen LynchjustizFall an, ist aber in seiner Schlußfolgerung wesentlich differenzierter als CORBIN: Kannibalen (1992).

Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit

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D e r Abdeckersohn J o h a n n Georg Grasel (1790-1818), ein - wie es pathetisch heißt - „Räuber o h n e Grenzen", 1 7 ' wurde erst nach mehreren Diebstählen u n d M o r d e n im tschechisch-österreichischen Grenzgebiet durch die List des Drosendorfer Justiziars Franz Joseph Schöpf (1787-1859) gefaßt. 180 V o r allem die Infrastruktur der Abdeckereien wurde von der losen G r u p p e u m Grasel als Operationsbasis genutzt; wobei sich die häufig strittigen Gerichts- u n d damit Kompetenzgrenzen f ü r die Täter beim Rückzug als vorteilhaft erwiesen. Die Schremserbuben, eine weitere gefürchtete Diebsbande in besagter Gegend am Beginn des 18. Jahrhunderts, verwerteten beispielsweise ihre Abdeckervergangenheit geschickt u n d erhielten bei befreundeten Berufskollegen immer wieder Unterschlupf. 1 8 1 Die Geschichte der Raubüberfälle in Osterreich ist allerdings noch nicht geschrieben. Gewalt zählte zu den G r u n d k o n s t a n t e n menschlicher Erfahrung im 17. u n d 18. Jahrhundert; dennoch sind die österreichischen Archive der Gewalt 182 noch kaum geöffnet. 183 Differenziertere, größere Darstellungen über Mord- u n d Gewaltdelikte fehlen f ü r Osterreich noch weitgehend. Meist wurde diese D e l i k t f o r m in kleineren Abhandlungen - in F o r m von wenig analytischen Aktenreferaten - mitgeteilt. Mehrere Mordfälle aus dem Landgericht Aspang f ü r das beginnende 19. J a h r h u n d e r t belegen zwar die Häufigkeit von Gewaltverbrechen, 1 8 4 aber weitere Forschungen auf dem Gebiet der strukturellen Gewalt wären noch anzustellen. 185 Die O r t e u n d F o r m e n von Gewalt im historischen Kontext müssen noch präzisiert werden. c) Strafvollzugsakten Abdecker u n d Scharfrichter galten lange als der Inbegriff des „infamen Menschen". 186 Diese Berufsgruppe des Strafvollzugs wurde in der historischen u n d volkskundlichen Forschung des 19. Jahrhunderts häufig behandelt und mit vielen Assoziationen bedacht. Das Bild der Scharfrichter als Diener der Obrigkeit u n d Beauftragte Gottes 1 8 7 huscht noch heute als dunkle, unehrliche Gestalt durch die Siehe d e n tschechisch-österreichischen S a m m e l b a n d v o n ΗΓΓΖ: Grasel (1994). Z u einem K ä r n t n e r R ä u b e r WEINGAND: K r a m e r (1998) 465-481. 180 N u r die wichtigste Literatur zu dieser „Identifikationsfigur" des Waldviertels: BARTSCH: Grasel (1924); BLETSCHACHER: Grasel (1981) [ R o m a n h a f t ] ; SCHINDLER: Grasel (1979). Z u einer ähnlichen F i g u r a u c h FRANKE: Schinderhannes (1990) [im wesentlichen A k t e n b e r i c h t e ] u n d BOEHNCKE, SARKOWICZ: R ä u b e r b a n d e n , 2 Bde. (1991). 181 D a z u das leider u n g e d r u c k t e Referat v o n Petra RUPRECHT: „Stichwurtzen - H u n d s h a n n e r l S c h r e m s e r b u b e n . K r i m i n a l t o u r i s m u s im Niederösterreich des f r ü h e n 18. J a h r h u n d e r t s " a m 17. Symp o s i o n des N i e d e r ö s t e r r e i c h i s c h e n Instituts f ü r Landeskunde, 2. Juli 1997. 182

MANDL-NEUMAN: I m Wald (1988) 159-171; AMMERER: Colloredo-Diebstahl (1997) 156-166. MEUMANN, NlEFANGER: Gewaltdarstellung (1997) 15. 184 LIEBSCHER: Kriminalgerichtsbarkeit (1984) 136ff. 185 Als Beispiel f ü r einen A r s e n m o r d : WANNER: G m ü n d (1958) 672-677; als Beipiel f ü r einen M o r d : HIERHAMMER: Kriminalfall (1970) 185-189 [1563]; M o r d in einem Gasthaus: ENGEL: R ä u b e r (1997) 236-240; VALENTINITSCH: R a u b ü b e r f a l l (1991) 10-13; DERS.: M o r d (1988) 501-512. Z u einem klassisch weiblichen D e l i k t BURTSCHER: G i f t m o r d e (1996); VANDERBANK: R a u b m o r d (1873) 53-64. 186 DÜLMEN: D e r i n f a m e Mensch (1990) 106-140. Siehe besonders FUCHS: U n e h r l i c h e Berufe (1987); siehe auch den versteckten F r e i m a n n s t u h l in der Kirche v o n Kötschach bei MESSNER: Rechtsd e n k m ä l e r (1996) 564-566. 183

187

WlLBERTZ: Standesehre (1976) 159.

Kapitel II

60

Geschichte. 188 Die These von Werner Danckert 189 von der „Unehrlichkeit" gesellschaftlicher Randgruppen - ein weit überschätztes Phänomen der Sozialgeschichte 190 - erweist sich bei genauer Betrachtung als nicht in vollem Umfang haltbar. Die Differenz von „ehrlich" und „unehrlich" spielte beispielsweise für Scharfrichter, vor allem im handwerklichen Diskurs als Ausgrenzungsstigma, eine große Rolle. Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts formierte sich eine breite, bis heute wirksame Front der Ablehnung gegen Abdecker und Scharfrichter. 191 Andererseits hatte der Hohenemser Scharfrichter und Abdecker keinerlei Schwierigkeiten, als allseits geschätzter Gutachter beim Pferdekauf aufzutreten. Dieser anatomisch Versierte war gesellschaftlich gern gesehen, das Stigma des Unehrlichen hinderte die Leute nicht, ihn sogar in Privathäuser einzuladen. Sogar bei Krankheiten wurde er um Rat gefragt.192 Zur Absicherung ihres Gewerbes waren Scharfrichter und Abdecker gezwungen, gezielte Familienpolitik zu betreiben. Ein Netz von Verwandtschaftsbeziehungen wurde aufgebaut. Man versuchte auf diese Art, sich gegenseitig Stellen zuzuschanzen. 193 Gleichzeitig erforderte der Scharfrichterberuf ein hohes handwerkliches Können, das nur durch mehrjährige Lehre bei einem anderen „Nachrichter" erlangt werden konnte. Die Witwen von Abdeckern und Scharfrichtern suchten sich durch Heiraten im Bekanntenkreis die berufliche Stellung zu erhalten und gleichzeitig solcherart zu einer Altersversorgung zu kommen. 1 9 4 Die Randgruppen der Freimannsknechte und Abdecker stellten trotzdem ein bedeutendes kriminelles Potential dar. Allein 60 Mitglieder der Grasel-"Bande" waren Schinder. Die Hälfte dieser Abdecker war wiederum untereinander verwandt, ein infrastruktureller Vorteil. 195 Scharfrichter 196 und ihre „Tagebücher" (meist sind damit zur Abrechnung gedachte Tätigkeitsberichte gemeint 197 ) bilden eine wichtige Quelle des Strafvollzugs 1 , 8 MOSER: Scharfrichter (1982) 37-42 [mit einer biographischen Auflistung der Haller und Meraner Scharfrichter], Die stark auf Subsistenzerhaltung ausgerichtete Heiratspolitik der Scharfrichter wird als Folge der Randständigkeit der Scharfrichter dargestellt; „Unehrlichkeit" als „moralischer" Makel.

DANCKERT: Unehrliche (1979). Dazu NOWOSADTKO: Scharfrichter (1994) 37-43. Siehe meine Rezension in: M I Ö G 104 (1996) 181-182; DIES.: Unehrlichkeit (1995) 64-73. 189 1.0

1.1 Siehe etwa das in seiner Schwarz-Weiß-Malerei wohl einmalige, graphologische Gutachten bei PUTZER: Salzburger Scharfrichter Tagebuch (1985) 34. Der Wiener Schriftpsychologe Ernst Hönel erstellte das folgende psychologisierende Gutachten über den Salzburger Scharfrichter Franz Joseph Wolmuth: „eine Gefühls- und Gemütskälte extremen Ausmaßes [...], wie man sie sonst nur bei Mördern findet, und zwar bei denen der ärgsten Sorte, nämliche [!] den Lustmördern. Es muß ihm geradezu eine triebhafte Lust gewesen sein, seine Opfer zu quälen und zu töten. Unter anderen Umständen wäre er ein sadistischer Massenmörder geworden."

SCHEFFKNECHT: Scharfrichter (1995) 175f. Eindrucksvoll erhoben von MATSCHEK: Wasenmeister (1990) 410ff.; für Vorarlberg SCHEFFKNECHT: Scharfrichter (1995) 147-162; für München NOWOSADTKO: Scharfrichter (1994) 218ff.; besonders deutlich auch für Grasel HlTZ: Karriere (1994) 11-50. 1.2

1.3

WlLBERTZ: Standesehre (1976) 168f. PAMMER: Randgruppenkriminalität (1994) 61 und DERS.: Complicität (1988) 1-26, bes. 9ff. Zu Unehrlichen auch GASSLER: Gauner (1986) und HARTINGER: Raubkriminalität (1974) 15ff. 1 . 6 Zu den strafvollziehenden Tätigkeiten des Scharfrichters SCHEFFKNECHT: Scharfrichter (1995) 30-117. 1.4 1.5

197 PUTZER: Scharfrichter Tagebuch (1985); zum Wiener Totenbruderschaftsbuch FISCHER: Todten Bruderschafft (1993); siehe als zusätzliche Quelle noch die bei Strnadt angeführten „Ingedenk-

Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit

61

in der F r ü h e n Neuzeit, belegen auch gut die abschließende A b w i c k l u n g der Strafprozesse u n d deren finanziellen Hintergrund. D e n Hinrichtungen k a m im Hinblick auf ihre F u n k t i o n f ü r das öffentliche Leben - man denke an die b e r ü h m t gewordene Schilderung des Hinrichtungsrituals des K ö n i g s m ö r d e r s R o b e r t Francois Damiens 1 9 8 am Beginn v o n Foucaults „ U b e r w a c h e n und Strafen" - eine wichtige R o l l e bei der Inszenierung obrigkeitlicher Macht zu. 1 9 9 D e r H i n r i c h t u n g v o n G e o r g Staudinger a m 12. April 1828 200 ging, wie andernorts üblich, eine öffentliche Zurschaustellung des Delinquenten in Eisenstadt voraus. A u c h bei der letzten öffentlichen H i n r i c h t u n g in Tirol 1861 stellte man den „ G w a l t w o l f e r l " im „Arm e n s ü n d e r z i m m e r " des Gerichtes Wilten öffentlich aus. D e r Delinquent mußte sogar durch Kaiserjäger v o r dem A n d r a n g der Menge geschützt werden. 2 0 1 D a n a c h setzte der R ü c k z u g der öffentlichen E x e k u t i o n ein; es wurde ab 1873 nur mehr unter Ausschluß der Öffentlichkeit innerhalb der Gefängnismauern gerichtet. 2 0 2 D i e Haftsituation frühneuzeitlicher Gefangener ist weitgehend unbekannt; vereinzelt haben die Gefangenen selbst über die konsumierten N a h r u n g s m i t t e l tagweise A u f z e i c h n u n g e n geführt. 2 0 3 V o n der F o r s c h u n g wurde - im G e f o l g e von Foucaults Studie „ U b e r w a c h e n und Strafen" - v o r allem den Strafvollzu^sanstalten besonderes A u g e n m e r k geschenkt. H a f t s t r a f e n begannen allmählich die Kapital- und Schandstrafen abzulösen. D i e Geschichte der Strafvollzugsanstalt, die Disziplinierung des K ö r p e r s , die E n t w i c k l u n g der Freiheits- 2 0 4 und Deportationsstrafe 2 0 5 aus d e m Geist der Beschäftigungspolitik zeichneten H a n n e s Stekl, 2 0 6 Helfried Valentinitsch 2 0 7 und H e l m u t

Protokolle", welche ebenfalls ein Strafvollzugsregister darstellen: STRNADT: Materialien (1909) 161520: Landgericht Wartenburg (1592-1807) S. 354-356 und Puchheim (1629-1772) S. 356-359, Kloster Lambach (1595-1771) S. 359-364, Stift Kremsmünster (1570-1771) S. 364-387, 394-396 und Spital am Pyhrn (1547-1684) S. 387-394. 198 FOUCAULT: Uberwachen (1989) 9-43. Siehe auch die eigenwillige Zusammenstellung bei KARASEK: Damiens (1994). 1 , 9 DÜLMEN: Theater (1988) 145-160. Als Fallbeispiel STRASSMAYER: Kirchstetter (1952) 213217; zu Wiener Hinrichtungsstätten ENGLISCH: Gänseweide (1959) 60-66. 200 TOBLER: Hochgericht (1997) 137-141. Z u Richtstätten KOLLROS: Richtstätten (1993) 50-58. 201 DIETRICH: Übeltäter (1995) 59-60; für Wien HARTL: Kriminalgericht (1973) 132. Siehe auch EVANS: Öffentlichkeit (1984) 203, als Überblick auch DERS.: Rituals (1996); MARTSCHUKAT: Inszeniertes Töten (2000) 185-234. 202 EVANS: Öffentlichkeit (1984) 228: Letzte öffentliche Hinrichtung in Deutschland 1864. Zur Pongauer Hinrichtung eines Diebes KLEIN: Hinrichtung (1972/73) 160-163. 203 Ü b e r den wegen angeblicher Beteiligung an Bauernunruhen hingerichteten Kaspar Vogl, der auch Angaben über seine psychische Haftdisposition leistete: ζ. B. „Ist mein schwalben wider ausbliben" SCHEUTZ, TERSCH: Vogl (1995) 689-732, Edition 733-748; BRUNNER: Saufen (1997) 139-198. Siehe auch PÖRNBACHER: Prosch (1964) 134ff. berichtet über seine Haft in Innsbruck um 1767/68 (nach einem Selbstmordversuch). 204 Dazu noch immer HOEGEL: Freiheitsstrafe (1916). 205 Als Beispiel des Dorfes Rineck: NESER: Diebskolonie (1993) 381-386. Siehe mit zwangsweisen Amerika-, Brasilien- und Sibiriendeportationen EVANS: Szenen (1997) 26-140. 206 STEKL: Zuchthäuser (1978). Siehe auch MAASBURG: Schiffziehen (1890); Entstehungsdaten von Zuchthäusern (in Auswahl): Leopoldstadt 1671; Innsbruck 1725; G r a z 1735; zur Architektur RIEDL: Gefängnisbau (1968). 207 VALENTINITSCH: Zuchthaus (1978) 495-514. Siehe auch die kurze Beschreibung des mährischen Spielberges als Gefängnis, UHLIR: Spielberg (1985) 59-62.

Kapitel Π

62

Beneder für Wien, Graz, Salzburg208 und andere Orte der Monarchie nach. Besonders die Formierung der modernen Disziplinargesellschaft und die Auswirkung der frühmodernen Sozialpolitik209 lassen sich an diesen neugeschaffenen Institutionen gut zeigen. Die österreichischen Zucht-, Arbeits- und Korrektionshäuser differenzierten sich erst allmählich - aus dem Geist von Fürsorge,210 Armenhaus und sozialer Kontrolle kommend - in wirkliche Gefängnisse.211 Das am 13. Jänner 1755 eröffnete Salzburger Zuchthaus hatte folgendes Erziehungsprogramm: „12 Stunden zur Arbeith, 2 Stunden zum Gebett, 2 zum Essen und Ausrasten, dann 8 zum Schlaffen".212 Der „Müssiggang" und vor allem die „üble Erziehung, welche die Eltern ihren Kindern angedeihen ließen," führte zur Errichtung dieses Salzburger Korrektionshauses. 213 Besonders effizient scheint diese, auf unsicheren finanziellen Beinen214 stehende, kombinierte Strumpf- und Sockenmanufaktur, die ursprünglich für 100 Sträflinge beiderlei Geschlechts ausgelegt war, nicht gewesen zu sein. Allein im Jahr 1770 flohen 22 Zuchthausinsassen aus dem Gefängnis. Die Zuchthäuser dienten vor allem zur Disziplinierung der Gesellschaft, vielleicht als Antwort auf die Dynamisierung des Bevölkerungswachstums; Zielpublikum waren, wie sich an den eingelieferten Züchtlingen zeigen läßt, die Unterschichten. Der Kampf um die innerliche Besserung215 der Delinquenten wurde im 18. und 19. Jahrhundert ausdauernd geführt. Verschiedenartige Ausbildungen während der Haftzeit sollten den Inhaftierten einen gesellschaftlichen Wiedereinstieg erleichtern. Isolierzellen, Klassifikation der Häftlinge beispielsweise in Rückfällige und Erstankömmlinge wurden als zusätzliche zuchthausinterne Disziplinierungen angewandt. Die Gefangenen mußten in der Haft arbeiten bzw. wurden an Fabriken gegen Bezahlung verliehen.216 Dennoch waren die Zuchthäuser nicht in erster Linie Manufakturen - die Bilanz dieser Zucht- und Arbeitshäuser war 208

BENEDER: Zuchthaus (1996) und DERS.: Arbeitshaus (1998). Für Kärnten MAYR: Kriminalität (1986) 335f. Zu aufgelassenen Klöstern als Strafanstalt beispielsweise ZANZINGER: Suben (1989) 395318; zur Klosterhaft SCHERHACK: Klosterkerker (1986). 209 Vor allem auf Ebene von Bettelordnungen SCHEFFKNECHT: A r m u t (1990) 69-96, bes. 76ff. 210 KATZINGER: Fürsorgewesen (1978) 11-94 [Siechenhaus, Waisenhaus]. Dazu auch LOSCH, MATSCHINEGG, MÜLLER, NEUMANN, RATH, TEIBENBACHER, WILDING: Tod (1982) 11-73; MALLE: Armenversorgung (1991) [Aktenanhang im 2. Bd.] 211 Siehe auch BRÄUER: Bettler (1996) 58ff. Mit einer Übersicht der Sozialhilfeeinrichtung (mit Schwerpunkt auf die Landeshauptstädte) HOFER: Sozialeinrichtungen (1989); RACHHOLZ: Armenfürsorge (1970). Siehe auch die beispielhafte Untersuchung von FRANK: Detmold (1992) 273-308. 212 BENEDER: Zuchthaus (1996) 6; für Bregenz VOLAUCNIK: Armenfürsorge (1988) 259ff. 2,5 BENEDER: Zuchthaus (1996) 20: Im Erstentwurf des Salzburger Zuchthauses heißt es dementsprechend: Weder Diebe noch schwere Verbrecher sollten eingeliefert werden, „sondern nur die, so sich fleischlich verbrochen, in gässl gehen, oder in ander Weeg zugegen der Sitten Ordnung betretten worden, Raufhändel verüebet, nicht minder Kinder oder Puppillen, so gegen ihre Eltern und Gerhabere Respektlos und ohngehorsam sich aufgeführet, pocherische oder anderen Weegs sich unartig aufführende dienstbotten, auf dem Miessigang betrettene Handwerchs Burschen, endlichen auch, und wenn das haus nicht ohnehin besezet, Salz Schwärzer und Wildbrädschüzen." 214

Als Dotierung waren neben der Privatschatulle des Erzbischofs Schrattenbach „Pflasterfundation" und Legate vorgesehen, BENEDER: Zuchthaus (1996) 14ff.; zum Fundationsprinzip MEUMANN: Findelkinder (1995) 372-379; Dirk Blasius bezeichnete für das 19. Jh. den Kostendruck als Problemachse des preußischen Strafvollzugssystems, BLASIUS: Bürgerliche Gesellschaft (1976) 79. 215 Als Beispiel: Die Diskussion um Onanie unter den Häftlingen bei BLASIUS: Bürgerliche Gesellschaft (1976) 88ff. 216 SAURER: Strafvollzug (1986) 11-33.

Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit

63

meist stark verlustträchtig. Die Disziplinierung der Anstaltsinsassen funktionierte außerdem eher schleppend. Nach Abklingen der überzogenen Gründungsphantasien hatte die Arbeitspflicht der Häftlinge vor allem die Kosten und Investitionen zu decken. Die Arbeitskraftnutzung und das pädagogische Element sollten die Häftlinge zur eigenen Subsistenznutzung in der Zeit nach der Haft anleiten.217 Zuchthäuser wurden ähnlich wie Findel-, Waisen- und Invalidenhäuser als Mittel der Sozialpolitik verstanden, um dem eigentlichen Hauptproblem, nämlich der Armut, beizukommen. Die historische Erforschung von Kriminalität in Osterreich als Teil der Sozialgeschichte steht noch immer weitgehend am Beginn, wenngleich schon für einige Deliktarten bzw. Strafvollzugsinstitutionen gute Studien vorliegen. Längsschnittuntersuchungen fehlen in Osterreich noch weitgehend, wie auch mikrogeschichtliche Ansätze bisher kaum verwirklicht wurden. Viele Fehlstellen also, die auch durch die vorliegende Arbeit kaum gefüllt werden können.

2 , 7 STIER: Pforzheimer Zuchthaus (1988); zur Entwicklung dieser Institution (beginnend mit Thomas Morus und Bridewell) PELZ: Zuchthäuser (1979) 16-49.

Abbildung 1: Tagendes Landgericht Illustration aus: WOLF HELMHARD VON HOHBERG: Georgica Curiosa oder Adeliches Landleben, Bd. 1 (Nürnberg 1701) 52, Kapitel 54 „Von den Land-Gerichten".

Kapitel III Zur Wertung von Aussagen vor Gericht in österreichischen Kriminalprozessen des 18. Jahrhunderts 1. Ein Bild des Gerichts Zu den Rechten und Pflichten eines adeligen Grundherrn gehörte auch die Rechtssprechung in seiner Grundherrsch aft, wobei nicht wenige der nieder- und oberösterreichischen Grundherren neben der Niedergerichtsbarkeit auch im Besitz der Landgerichte waren und somit ihr „Haus" auch in Jurisdiktionsangelegenheiten selbst verwalten konnten. 1 Die Aufgabe des adeligen „Hausvaters" um· faßte aus der Sicht des berühmten Wolf Helmhard von Hohberg (1612-1688) auch die Sorge um die meist recht kostenintensive „Erhaltung der Gerechtigkeit." 2 Die administrativ aufwendige Verwaltung des Gerichtes wurde damit unter die häuslichen (d. h. ökonomischen) und im 18. Jahrhundert zunehmend anachronistisch werdenden Pflichten des idealtypischen Hausherrn im frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozeß gerechnet. 3 Der Grundherr gelangte in den Besitz einer zusätzlichen Kontroll- und Interventionsinstanz über seine Untertanen, die entsprechend angewendet - ein zusätzliches Herrschaftsmittel darstellte. 4 Der mit den äußerst kleinen niederösterreichischen Herrschaften Rohrbach und Klingen-

1 SCHMIDT: Hausväter (1998) 214-216. Siehe auch FLORINUS: Haus-Vatter, Buch 1 (1722) 124125: „daß ein Haß-Vatter / ohngeachtet derselbe berührter Massen kein hoch-erfahrner Practicus seyn darff / der sich aus allen und jeden intracten Casibus auswicklen / und rechtliche Processe mit dickausgespickten Allegaten aus dem Corpore Juris, Bartolo, Baldo & c . zu führen weiß / gleichwohl so er nur derer Land-Rechte und Policey Ordnungen kundig / vieles viel ordentlicher und richtiger in seiner Haußhaltung einrichten wird / als ein anderer / der hievon nichts verstehet". Zu Franz Philipp Pfalzgraf bei Rhein (1630-1703) bzw. zur fiktiven Person „Florinus", hinter der sich mehrere Autoren verbergen, siehe N D B V (1961) 255. 2 HOHBERG: Georgica. Erster Theil (1701) 52; FEIGL: Grundherrschaft (1998) 138-139. Zum Begriff „Hausväter" HAUSHOFER: Hausväter (1985) 127-141.

-1 Dazu BRUNNER: Ganzes Haus (1968) 103-127. Mit einer Kritik an der „sentimental-verklärenden" Konzeption Brunners GROEBNER: Außer Haus (1995) 6 9 - 8 0 ; DÜRR: Mägde (1995) 11-22. Zur problematischen Gleichsetzung von „Volk" und „Hausvätern" DIPPER: O t t o Brunner (1987) 79. Zu Brunners W e r k JÜTTE: O t t o Brunner (1984) 2 3 7 - 2 6 2 und HEISS: Wiener Schule (1989) 4 7 - 4 9 , 52, 61. 4

TROSSBACH: Basiskategorie (1993) 2 9 5 - 2 9 7 und RAPPE: Schelten (1996) 87.

66

Kapitel ΠΙ

brunn 5 ausgestattete, arme protestantische Adelige Wolf Helmhard Hohberg 6 beschreibt in den 1682 erschienenen zwölf Büchern der „Georgica curiosa" idealtypisch nahezu alle Facetten einer großen adeligen Grundherrschaft und die daraus folgenden wirtschaftlichen Unternehmungen. 7 Die Illustration zum Kapitel „Von den Land-Gerichten" zeigt die Darstellung eines landgerichtlich geführten Prozesses, gegliedert in Anzeige, Verhör, Protokollierung und schließlich Strafvollzug. 8 Mehrere Szenen sind in diesem, allein von Männern dominierten Bild simultan auf verschiedenen Ebenen abgebildet (Abbildung l). 9 Einige Ankläger, vielleicht auch nur Zuschauer oder Zeugen, bringen einen gefesselten, bärtigen Mann, der von zwei mit Hieb- bzw. Stichwaffen gesondert gekennzeichneten Männern geleitet wird, vor das Landgericht. Unter Beachtung der standesmäßigen Differenz sowie aus gebührender Achtung vor dem Gericht haben diese Männer devot ihre H ü t e v o m Kopf gezogen. Das Vorführen des Angeklagten vor Gericht beendet die auch in der Frühen Neuzeit weidlich genutzte, kaum quantifizierbare Möglichkeit eines außergerichtlichen Austragens des Konfliktes. Im Fall von ertappten Dieben war beispielsweise die Mindesteinheit an außergerichtlicher Strafe - gewissermaßen ein „privates" normatives System - eine gehörige Tracht Prügel. A n einem Tisch sitzend tagt das aus Pfleger, 10 Landgerichtsschreiber und mehreren Beisitzern bestehende Gericht. Die Sitzenden tragen offensichtlich Perücken und unterscheiden sich in ihrer Kleidung deutlich von den stehenden, bärtigen Männ e r n . " Ein Schreiber beginnt am rechten Bildrand bereits mit der Protokollierung, während der Pfleger mit der Hand auf den Angeklagten weist.

BRUNNER: Hohberg (1949) 50. Zu seinen Lebensdaten BRUNNER: Hohberg (1949) 11-59. Siehe auch CERNY: Hohberg (1990) 5 9 - 7 7 [Anhang Leichenpredigt S. 7 3 - 7 7 ] . Z u m Gegensatz des armen Hohberg zu seinem W e r k FRÜHSORGE: H o h b e r g (1986) 1085. 5 6

7 Zu grundherrschaftlichen Aspekten BRUNNER: Hohberg (1949) 280-293; zum Recht siehe 290. Zu O t t o Brunner ALGAZI: O t t o Brunner (1997) 166-203. 8 Siehe HOHBERG: Georgica, Buch 1 (1701) 52. Dieses ca. 14,5*10,5 c m große, dem Kapitel 54 zugeordnete Bild trägt am linken oberen Rand die Zuordnungsbezeichnung „Lib. I c. 33". Eine Zuteilung zum Kapitel 33 des ersten Buches „Von den Handwerkern / die darzu gehören" macht aber wenig Sinn. Die Herkunft der Illustrationen zu Hohbergs „Georgica" ist noch nicht geklärt, die Verweiszahlen auf den Bildern würden vielleicht (?) für eine Übernahme aus einem anderen Buch sprechen. Richarz spricht von „Bildern im Stil der Zeit" (ohne Herkunftsangabe und Angaben zum Kupferstecher), RlCHARZ: O i k o s (1991) 153-154; auch BRUNNER: Hohberg (1949) 238, der auf die Bilder nicht näher eingeht. 9 Gerichtsangelegenheiten werden aber nicht in allen Haushaltungsbüchern thematisiert, beispielsweise nicht in einer der Vorlagen Hohbergs, dem Hausbuch der Grünthaler, siehe die Edition von SPERL: Grünthaler (1994). 10 HOHBERG: Georgica, Buch 1 (1701) 167: „Wie eine Herrschafft sich gegen einen Pfleger erzeigen solle: „Welche Herrschafften grosse weitschichtige / oder mehr / und ferne zerstreute Güter haben / oder die in unterschiedliche Hof-Landes- und Kriegs-Diensten / nicht allein abkommen / und öffters abwesend seyn müssen / thun wohl / wann sie ihnen um ein taugliches Subjet (ohngefehr von dreysig biß fünffzig Jahren) umsehen / ihre Stelle zu ersetzen / so wohl auf die Wirthschafft / Regalien und Unterthanen / acht zu haben / und keinen praejudicirliche Eingriff / ohne Erinnerung und Abstellung / zu gestatten." 11 HUFTON: Gericht (1994) 249: Hufton stellt auf Grundlage ihrer genauen Kenntnis der englischen und französischen Gerichte fest: „Das Gericht war ein gesellschaftlicher Mikrokosmos, in dem die Wohlhabenden Strafen verteilten und die Armen, deren elender Zustand manifest wurde, für Eigentumsdelikte und Vergehen gegen die Werte des Establishments zahlen mußten."

Zur Wertung v o n Aussagen vor Gericht

67

Hohberg stellt als Anforderungsprofil für den Pfleger fest: „daß die Barmhertzigkeit nicht weichmütig und kleinhertzig / die Gerechtigkeit aber nicht grausam und Tyrannisch werde: Als ist nothwendig / daß die Herrschafft sich um einen frommen / verständigen / erfahrnen und gewissenhaften Mann umsehe / der ihr mit Pflichten verbunden sey / an ihrer Statt alles und jedes zu verwalten / wie er ihms an jenem strengen und erschröcklichen Gerichts-Tage vor dem allerhöchsten Welt-Richter trauen werde zu verantworten." 12 Der beispielhaft angenommene Adelige verwaltete das Gericht also nicht selbst, sondern delegierte diese Funktion an einen Pfleger bzw. Landgerichtsverwalter.' 3 Der Pfleger sollte von der Herrschaft gegenüber den Anfeindungen der Untertanen, denen er als Reaktion ausgesetzt war, in Schutz genommen werden. 14 Gleichsam zwischen Herrschenden und Beherrschten eingepfercht, sollte der Pfleger als Gegenleistung für den Schutz seines Herrn als stellvertretendes Ohr und Auge des Grundherrn fungieren und alle Vergehen selbsttätig zur Anzeige bringen. 15 Besondere Aufmerksamkeit widmet Hohberg naturgemäß der Rolle des adeligen Landgerichtsinhabers, der dem Pfleger „eine Instruction und gewisse Limites geben / die der Verwalter nicht überschreiten" sollte.16 Der Verwalter mußte den Angeklagten nach einem in der Landgerichtsordnung vorgegebenen und je nach Delikt nur bedingt frei wählbaren Interrogatorium verhören. Ein am Tisch sitzender Schreiber protokollierte mehr oder minder exakt das Gesagte; die beisitzenden Männer bestätigten die Ubereinstimmung von Gestandenem und Protokollierung sowie die Rechtmäßigkeit der Verhöre und sollten anschließend das Urteil gemäß der Gerichtsordnung fällen. Die weltliche Gerichtsbarkeit tagte im Angesicht der geistlichen Gewalt - vor dem Hintergrund einer großen, symbolisch dargestellten Dorfkirche. Die Verfahren vor Gericht verschriftlichten StreitHOHBERG: Georgica, Buch 1 (1701) 53. WEGENER: O e c o n o m i a (1666) 117-118: „Instruction eines Pflegers in Oesterreich" [gesamte Instruction S. 110-134]: „ Z u m sechsten / wan sich unter der Herrschaft Irrung unter den Unterthanen zutrug / soll Pfleger dieselben so viel möglich / mit den treulichsten zu orth handien / unnd die Unterthanen in ihren A n r u f f e n und Handlungen nottürftig und ordentlich hören / und verstehen / den A r m e n als den Reichen / unnd den Reichen als dem A r m e n ein gleiches Gericht und Recht halten / auch keinem wider das alte H e r k o m m e n nit beschweren / sondern in allem f ü r k o m m e n d e n Verhörs Handlungen / alles das erbahr / auffrichtig / unnd wohl gehandelt haist / auch Recht und Billigkeit erkent wird / fürnemmen / und dasselbige durch Geschänck / oder eygenen N u t z e n mit nichten verhindern." Z u m Bezug zu H o h b e r g BRUNNER: H o h b e r g (1949) 269. 12

15

14 HOHBERG: Georgica, Buch 1 (1701) 167: „Soll auch von einem Herrn / der Pfleger / nicht stracks / auf eines oder des andern Angeben / in Verdacht gezogen und beurlaubet werden / sonderlich wann er seinem Dienst wohl vorsteht / indem offt die Beamten und das Gesind einem scharffen Pfleger / der ihren Muthwillen nicht läßt angehen / feind werden / und / wie sie können / Verleumdung auf ihn erdichten / und die leicht-gläubige Herrschafft dardurch betriegen." 15 Siehe als sozialdisziplinierendes Beispiel in der Interaktion von weltlicher und geistlicher Macht den Jesuiten FISCHER: Land-Leben, 2. Teil (1696) 123: „Drittens Sobald er erfähret / daß etwas groses wider G O t t und sein G e b o t begangen worden, es werde ihm gleich von anderen klagbar angebracht / oder aus den gemeinen und beständigen Aussagen der Leute / darvon benachrichtet / soll es alsobald und ohne Verzug sehen / daß es durch die ordentliche Richter / Zeug / und die Wissenschaft darvon haben / gewissen Grundes der Wahrheit sich erkundige / und mit den Herrn / wie die Sach zu thun / oder die Bosheit gebührend abzustraffen / sich genugsam unterrede." Z u Fischer siehe RlCHARZ: O i k o s (1991) 172. 16 HOHBERG: Georgica (1701) 53. Wichtig auch die Pflegerinstruktionen bei SPERL: Haushalt (1999), Anhang.

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Kapitel ΠΙ

fälle und Anklagen: Die mündliche Tradition, in der die Angeklagten standen, wurde in die Schriftkultur des Gerichts transformiert. Das Gericht entschied ab nun über die weitere Relevanz des Gesagten, über Wahrheit und Unwahrheit. Das Gesagte wurde protokolliert, Gesten und Symbole mußten von den Schreibern verschriftlicht und damit auch interpretiert werden. 17 Die Schrift wurde dabei von den Verhörten als Herrschaftsinstrument verstanden. Die Gerichtsherrschaft erhält mit der Protokollierung und der daran anschließenden Interpretation des Falles die Definitionsmacht über die „Verbrechen" der Untertanen. 18 Die Angeklagten befanden sich damit zusätzlich zu ihrer sprachlich unterlegenen Position vor Gericht benachteiligt,19 weil sie das von ihnen Gesagte in verschriftlichter Form meist - aufgrund mangelnder Lese- und/oder Schreibfähigkeit sowie des beschränkten Zugangs zu den Akten - nicht nachvollziehen konnten. 20 Dieses Gerichtsszenario spielte sich vor dem Hintergrund eines Wegkreuzes und einer Richtstätte ab, wo gerade eine Person vor einem vierstempeligen Galgen unter Anwesenheit einer größeren Anzahl von Menschen enthauptet wird. Diese idealtypische Illustration zur Hohbergschen „Georgica" würde den Schluß einer Linearität von frühneuzeitlichen Gerichtsprozessen nahelegen. - Nach dem Verhör des Angeklagten sei bald danach das Urteil gefällt und die Bestrafung erfolgt, was den historischen Sachverhalt aber nicht zutreffend wiedergibt.

2. Aussagewert der Prozeßakten Gerichtsakten zählen nicht zu den hoch bewerteten, besonders sorgfältig aufbewahrten oder gründlich archivierten Quellensorten, wie die zahlreichen Archiwerluste oder die bis ins 20. Jahrhundert erfolgten Skartierungen dieser lange pejorativ bewerteten Quellengattung in den Archiven beweisen. Man muß zumindest für Ostösterreich anmerken, daß die Uberlieferungssituation grundsätzlich in klösterlichen Archiven günstiger gewesen zu sein scheint als für „weltliche" Landgerichte. Uber den genauen Ablauf der Verhöre ist neben den Verhörsprotokollen und den Abhandlungen der Rechtsgelehrten über den Verlauf eines Verhörs bzw. Prozesses auch im 18. Jahrhundert noch wenig bekannt. 21 Die Memoirenliteratur der Beamten setzte meist erst später ein und liefert Darstellungen, die als stilisierte Selbstdarstellungen verstanden werden müssen: Karl Heinrich Ritter von Lang (1764-1835) beschreibt beispielsweise in seinen Erinnerungen seinen bürokratischen Alltag als Regierungssekretär in fürstlich öttingen-wallersteinischen Diensten (1786-1792): „Wenn ich Gesindel mehrfach selbst zu verhören bekam, so war mein Trachten, sie entweder ohne, oder mit einer kleinen Tracht Prügel wieder schlüpfen zu lassen, worüber sie in die lauteste, Rock und Hände 17 ULBRICH: Zeuginnen (1996) 208-210. Z u r Prämierung visueller K o m m u n i k a t i o n s f o r m e n und z u m Gegensatz v o n „Volkssprache" u n d „Verschriftlichung" GlESECKE: Sinnenwandel (1992) 93. Z u r Verschriftlichung auch WENZEL: H ö r e n und Sehen (1995) 356-370. 18

BLASIUS: K r i m i n o l o g i e (1988) 146; MEDICK: M i s s i o n a r e (1984) 2 9 5 - 3 1 9 .

"

BAUSINGER: S p r a c h s c h r a n k e n (1976) 2 2 - 2 7 .

!0

GÖTTSCH: K o n s t r u k t i o n (1991) 4 5 0 - 4 5 1 . A l s F a l l b e i s p i e l HEILINGSETZER: S c h i f f n e r (1986)

219-223. 21

Z u Urgichten SPICKER-BECK: Räuber (1995) 22-24. Vielfach haben sich aufgrund der Akten-

verluste nur Urgichten der Prozesse erhalten.

Zur Wertung von Aussagen vor Gericht

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küssende, Dankbarkeit sich ergossen."22 Man weiß über die konkrete Situation vor Gericht wenig. - Gewiß ist, daß der ungewohnte „Schauplatz" die Aussage der Angeklagten und Zeugen wesentlich beeinflußte, wenngleich dies auch nur selten protokollarischen Niederschlag fand. Das Schlagen der Verhörten oder andere gerichtliche Drohgebärden, aus heutiger Sicht Vorformen der Folter, fanden nur zeitweilig Eingang in die Protokolle, manchmal wurden die nonverbalen oder emotionalen Äußerungen der Verhörten schriftlich vermerkt, deren Lachen23 oder ihr Weinen,24 seltener schon die gerichtlichen Druckmittel. Verschiedene Zeitebenen lassen sich in den Gerichtsprotokollen feststellen:25 Das Delikt wird durch das „Gerede", durch untrügliche Zeichen oder unumstößliche Beweisstücke „ruchbar". Diese erste Zeitebene wird erst retrospektiv durch die Verhöre vor Gericht, also schon vor der zweiten Zeitebene, greifbar und für den Historiker erfahrbar. Die in Konzeptform abgefaßten „summarischen"26 und „artikulierten" 27 Verhöre werden in einer dritten Zeitebene von der Konzeptform in Reinschrift übertragen und dabei durch diesen Ubertragungsvorgang auch verändert, wie der Vergleich der gelegentlich erhaltenen Konzepte mit den Reinschriften beweist.28 Die „summarischen", in Erzählform abgefaßten „Verhöre" boten für den Angeklagten die wohl beste Möglichkeit, den Verlauf des Verfahrens gravierend zu beeinflussen, weil anschließend daran das Landgericht, gestützt auf dieses Verhör, die Untersuchung aufnahm. Die Angabe des Verhörten wurde in Deliktkategorien wie Mord, Diebstahl, Schadenszauber usw. klassifiziert. Man

Zit. nach WUNDER: Kanzlei (1994) 161. Zu Lang N D B 13 (1982) 542-543. Schloßarchiv Grein an der Donau, Herrschaftsarchiv Prandegg-Zellhof, Sch. 19, Weissenbach, 1729 Juli 30, Artikuliertes Verhör mit Sybilla Wenigwisserin, 20. Frage und Antwort: Ob sye oder wer gegenwertig gewesen, daß die 3 mäuß denen khüen gegeben worden? Seye sye und die Miedl gegenwertig gewesen und babe drey khüen, jeder aine lebendige mauß in ainen brodt gegeben, fanget hierüber an zu lachen-, ebenda, Zellhof, 1729 August 19, Fünftes Artikuliertes Verhör mit Magdalena Grillenberger, 28. Frage und Antwort: Wann unnd zu was zeit sye es dennen khüen gegebenf Am Weynachttag, sonnsten aber niemahlen. Auf welches die Sibilla Weningwiserin lachent gesaget: Am Sonnabentag in aller früehe zwischen zway brodt. 24 SCHNABEL-SCHÜLE: Überwachen (1997) 24-26. Als Beispiel die Urteilsverkündigung für den Dieb Joseph Pacher N Ö L A , GA Gaming, Κ 10, Scheibbs, 1794 Dezember 19, Verhör mit Joseph Pacher: So wurde dieses dem untersuchten sogleich seinem vollen inhalt nach kund gegeben und weil selber sobald nach Vernehmung des urtheils in sondere angst geröth und weinend sich erklärte, zu rekurieren und um begnädigung bath. So wurde die straffe auch nicht in Vollziehung gesezt, sondern dessen rekurs um die gebetten begnädigung von ihm aufgenommen. 25 Ich folge dem Modell von GLEKNER: Das Mensch (1994) 26-27. Man müßte bei größeren Prozessen auch noch die oft zahlreichen Zeugenverhöre berücksichtigen. 26 Als „summarisch" werden in den Quellen jene Verhöre bezeichnet, die nicht in Frage und Antwort protokolliert wurden. Diese Quellengattung entspricht vielleicht noch am ehesten dem Begriff des „Ego-Dokuments", der auf Kriminalitätsakten nur bedingt - aufgrund der zahlreichen obrigkeitlichen Filter - anwendbar erscheint. 27 „Artikulierte Verhöre" werden immer in einem Frage- und Antwort-Schema, also Interrogatorium und Responsorium, aufgezeichnet. 28 HOHKAMP: Herrschaft (1998) 222-223: „Textgestaltung und Überlieferung lassen vermuten, daß die archivalischen Quellen inhaltlich nicht mit den schriftlichen Aufzeichnungen identisch sind, die im Verlauf einer jeden Verhandlung verfaßt wurden. Vielmehr scheint es sich um nachträglich gefertigte Protokolle zu handeln." 22

23

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Kapitel ΙΠ

begann, die Aussagen des Verhörten gemäß den normativen Erfordernissen minutiös nachzuprüfen. 29 Die Einleitung der artikulierten Verhöre verlief stereotyp: Fragen nach Vorund Zuname, Geburtsort, Alter, Religionsbekenntnis, Name der Eltern, Familienstand und Geschwister, Lebensstationen (mit Konzentration auf den letzten Aufenthaltsort) usw. werden gestellt.30 Erst nach diesem stark formalisierten Fragenkatalog kam das deliktspezifische Interrogatorium zum Zug, und der Angeklagte wurde ausführlich - auch mehrmals - über die Tatumstände befragt. Wiederholt versuchten die Angeklagten durch unrichtige Namensnennung das Gericht in die Irre zu führen, um auf diese Weise ihre Vorstrafen bzw. den ihnen zur Last gelegten Anklagepunkten zu entkommen. Die steigende Korrespondenz der Gerichte untereinander verringerte aber die Chance auf Erfolg dieser Verschleierungstaktik zunehmend. 31 Die Genauigkeit, mit der das schnell mitgeschriebene Konzept in eine Reinschrift umgeformt wurde - also die Genauigkeit der Wiedergabe des tatsächlich Gesprochenen ist ungewiß. Eine eindeutig zu treffende Unterscheidung von wörtlicher Rede der Verhörten und den verändert reproduzierten Formulierungen bzw. Zusätzen des Schreibers läßt sich in der Praxis kaum treffen. 32 Ein deutlicher Beweis für direkte Ubernahmen aus bereits früher abgelegten Verhören und ein Belege dafür, daß die Protokolle nicht immer wörtlich protokolliert, sondern als „Textbausteine" nach Art einer Collage montiert wurden, lassen sich allerdings selten eindeutig erbringen.33 Die Schreiber erfreuten sich - so dürfen wir aber auch nur vermuten - an den Sprichwörtern und Redewendungen der Verhörten. Die Aussage der Soldatenwitwe Maria Zobotin, die 29

SCHNABEL-SCHÜLE: Ego-Dokumente (1996) 298-299. Als Einführung zu Kriminalakten auf Basis der Quellengattung VALENTIN1TSCH: Strafvollzugsakten (1992) 69-82. Dazu auch SCHULZE: Annäherung (1992) 417-450 und SCHWERHOFF: Aktenkundig (1999) 61-68. 31 Im August 1777 wurde der böhmische Teichgräber Joseph Storch vernommen, der im Lager vor Kolin als Soldatenkind geboren wurde. Er gab in seinem Verhör zu, schon einmal vom Wiener Stadtgericht wegen Bettels verhört worden zu sein. Der Hofrichter schrieb daraufhin nach Wien, u m diese Aussage zu verifizieren, erhielt aber eine negative Antwort. Zwei Monate später versuchte man erneut die wahre Identität des Verhörten aufzudecken: sage also deinen wahrhafften namen an, widrigens man wieder dich mit schelferen verhaltungsmittln verfahren müste? Der Böhme antwortete daraufhin: Ich habe zu Wien meinen wahrhafften tauf und Zunamen Joseph Spaceck angegeben, welcher auch teutsch Storch haisset, und zwar von darummen - Storch suchte damit seine verdächtige Vorgangsweise vor dem Landgericht plausibel zu erklären - weillen ich damahlens noch sehr wenig teutsch redete, mithin glaubte besser zu seyn, alhier meinen Zunamen teutsch anzugeben, damit ich nichts erreget und desto eher auskomme möge, N O L A , GA Gaming, Κ 7, Scheibbs, 1777 August 25, Summarium mit Joseph Storch bzw. Scheibbs, 1777 November 14, 2. Artikuliertes Verhör. 3. Frage und Antwort. Siehe zu diesem Fall ausführlicher SCHEUTZ: Ego-Dokumente (2000) 101-104. 30

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Dazu SCHEUTZ: Keine Edition (1998) 75. Als eindeutiges Beispiel für textliche Interdepenzen (in einem Abstand von mehr als zweieinhalb Monaten): N O L A , G A Gaming, Κ 8, Scheibbs, 1786 Juli 31, Summarium von Johann Lägler: haben wir hin und wieder herumgestohlen, bis ich endlich zu Krumnusbaum bei Marbach im straif eingefangen, nach Pöchlam eingeliefert und sodann wegen bei mir gehabten weibergewand nach Pöggstall zum landgericht übergeben worden bin. ebenda, Scheibbs, 1786 O k t o b e r 17, Artikuliertes Verhör mit Johann Lägler: haben wir verschiedener orthen herum gestolen, bis ich endlich zu Krumnußbaum bei Marbach in straif eingefangen, nach Pöchlarn eingelieferet und sodann wegen bei mir gehabten weibergewant nach Pöggstall zum landgericht abgegeben worden bin. Dazu auch SCHNABEL-SCHÜLE: Uberwachen und Strafen (1997) 25f. 33

Zur Wertung von Aussagen vor Gericht

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vor dem Gericht Zellhof (OÖ.) wegen Christophgebet verhört wurde, beantwortete die Frage, warum sie unzüchtig mit einem abgedankten Soldaten herumzog, folgendermaßen: Mein Gott, man wais ja woll, wann feuer und stro zusambenkomt, so zünd eß leicht.34 Ebenso wörtlich dürften Schimpfwörter ihren Niederschlag in den Akten gefunden haben, wo sich abfällig gemeinte Wendungen wie teütscher jurist oder ein altes zanckheysen finden lassen.36 Die Mittlerstellung des Schreibers zwischen dem Verhörten und der Protokollierung der Aussagen wird durch die öfters auftretende, entschuldigende Markierung von Ausdrücken der Verhörten wie reverendo oder salva venia deutlich - ein Hinweis auf direkte Übernahme bzw. Zitierung der unflätigen Worte durch den Schreiber und vorangestellter ritualisierter Distanzierung bei der Wiedergabe des inkriminierten Ausdruckes. Der Umfang der Protokollierungen nahm im Laufe des 18. Jahrhunderts immer größere Ausmaße an. Während zu Jahrhundertbeginn die Kriminalfälle noch knapp und in wenigen Seiten abgehandelt wurden, entstanden gegen Ende des Jahrhunderts selbst bei alltäglichen Deliktformen wie kleinen Diebstählen äußerst umfangreiche Aktenkonvolute, die sich auf die zahlreichen Zeugeneinvernahmen und den Schriftverkehr mit anderen Gerichten zurückführen lassen.

3. grind, und geign. Sprache und Markierung Die Sprache der Protokolle verstellt aufgrund zahlreicher semantischer und syntaktischer Verständnisschwierigkeiten häufig den Blick auf die Geschichte der Prozeßbeteiligten; andererseits öffnen uns nur diese Protokolle den Blick auf die Rolle der Beteiligten bei der Inszenierung der herrschaftlichen Gewalt vor Gericht.37 Eine Eigenheit der Protokollierung stellen die zahlreichen, in nahezu allen deutschsprachigen Verhörprotokollen attributiv gebrauchten Entschuldigungsformeln und Distanzierungsfloskeln wie „reverendo"38 oder „salva venia" dar, die es erlauben, den amtlichen Blick auf negativ bewertete Ausdrücke nachzuvollziehen. Diese Eigenheit gehört zu den interessantesten sprachlichen Fremdheiten 34 Schloßarchiv Grein an der Donau, HA Prandegg-Zellhof, Sch. 19, „Zauberer, Kristallseher, Christophsegen (1671-1748)", 10. Antwort der Soldatenwitwe Maria Zobotin. 35 StA Scheibbs, Fastenpantaiding 9. Februar 1761, fol. 143r. Der Scheibbser Marktgerichtsdiener beschimpfte im Wirtshaus einen Schuhmachermeister als teütschen Juristen. Siehe SABEAN: Soziale Distanzierungen (1996) 223, der annimmt, daß nur diese Worte wörtlich aus den Aussagen der Verhörten übernommen wurden. 36 OÖLA, StA Freistadt, Schuber 365, pag. 557; Harrachstal, 1736 Mai 19, Artikuliertes Verhör mit dem wegen Gotteslästerung angeklagten Bader Ignaz Muzerhardt, 11. Frage und Antwort: Was er dem dienstmenschen für lose worth gegeben? Er hat es ain alte hagen und ein altes zanckheysen undter andern gehaissen. 37 GOERTZ: Geschichte (1995) 147-149. Siehe auch die Einleitung zu Sprachanalyse und Geschichtswissenschaft bei JÜTTE: Abbild (1988) 1-25. 38 Zum nicht geklärten unterschiedlichen Gebrauch von „reverendo" und „salva venia" siehe die „reverendo"-Belege: mit reverendo Schweinen begegnet (10 Mal); reverendo diebstall (5 Mal); daß reverendo entfrembde eysen (4 Mal); reverendo vichhalten (insgesamt 4 Mal, zweimal nur viech); reverendo gaißstall (3 Mal); dem reverendo ross-, schweinnn- und stierschneiden (2 Mal); JE 1 BELEG: mezgers söhn von Reichersperg reverendo (nachgestellt!); ... in dem reverendo khiestall; reverendo hosen; von 4 reverendo gaissen-, einer reverendo kue; reverendo bestohlen habt. Daneben gibt es 1663 auch einen Beleg für salvo honore diebställ. Siehe dazu Salzburger Belege bei ZlLLER: Schelme (1972/73) 377-384.

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Kapitel ΠΙ

frühneuzeitlicher bürokratischer Texte. 3 9 Prozeßrelevante Beleidigungen, verfemte Berufe, weiters sexuelle Konnotationen, Verunreinigungen und Schmutz, aber auch Kleidungsstücke (wie Socken und Hosen), unreine Tiere (Schaf, Schwein, Kuh, Ziege usw.) und als unrein empfundene Körperteile {arschbacke,

Füße) wer-

den somit als Zitat der Verhörten v o n den Beamten gekennzeichnet und entschuldigend markiert. 4 0 Diese Markierung soll in den amtlichen Schriftstücken den unflätigen Begriff ins Gegenteil verkehren und auf diese Weise als Zitat markiert unschädlich machen bzw. entschärfen. So vermied man auch das pejorative W o r t „Abdecker" und wandte, zumindest legt das Zedlersche Universal-Lexikon dies nahe, das neutralere „Feldmeister" an: „Bey denen H a n d w e r c k e r n wird derselbe [gemeint ist der Abdecker, M.S.], u m ihren Mund auch so fern rein zu behalten, insgemein der Feldmeister genannt, weil das offene Feld seine W e r c k s t a t t ist." 4 1 D e r Zivilisationsprozeß, 4 2 die Verschiebung der Schamgrenzen, der Niedergang des „analen Jubels", 4 3 die „Bürokratisierung der Bürokratie" 4 4 oder auch die M a c h t unausgesprochener bürokratischer Konvention beim Abfassen v o n P r o t o kollen 4 5 werden an diesen Markierungen spürbar. Die Protokollführer (Kanzlist und Landgerichtsverwalter) schalten sich - deutlich sichtbar - als Vermittlungsinstanz dazwischen und bewahren den (nachfolgenden) Leser v o r der verschriftlichten Beleidigung des Auges. Es gilt bei diesen Markierungen die Quellengattung zu berücksichtigen. E i n niedergerichtliches P r o t o k o l l würde im Gegensatz zu landgerichtlichen Gerichtsprotokollen sicherlich andere Begriffe, etwa Injurien und

39 Laut dem Duden Fremdwörterbuch von 1982 (4. Auflage) auf Seite 683 bedeutet Salva venia: .mit Erlaubnis, mit Verlaub" [zu sagen]. Siehe auch KRAMER: Rechtliche Volkskunde (1974) 51. 40 Mit einem Sample von markierten Ausdrücken BYLOFF: Volkskundliches (1929) 21, 25, 37, 41, 48, 49, 51, 52: ... an der strassen (die reverndto zu melten ir erste plodigkheit nit lengst gehabt ... (1611); ... ain menntsch (re.) prunzt, ... in (re.) prunzstoz, ... die (re.) schamb (1645); salva venia von ihrer urin gehen lassen (1672); ... seiner s. v. khue die milch in ein s. v. saudroch gössen (1674); gefundenes s. v. gestunkhenes schweinsfleisch genomben unnd in s. v. sautrog gelegt, ... zway s.v. schwein verdorben. Er hab s. v. das koth von der sizstatt genomben (1701); des s.v. ohngeziffers (1728); dahin der s. v. urin (1741). Siehe auch den Fluchtbericht aus dem Jahr 1683 von Balthasar Kleinschroth WATZL: Kleinschroth (1983) 35, 114, 123, 195: ... ich wolte ihm, salvo honore, ein paar hosen leihen, dan er keine anhette (35), ... hab ich etliche knaben müesßen, salvo honore, schuech kauffen (114) ... Da zugen die knaben, salvo honore, ihre schuech ab (123), ... und salvo honore, mit koth bemackhlet (195); siehe den Bericht des Herzogenburger Geistlichen Gregor Nast von MAURER: Beschreibung (1885) 118,119, 122, 130, 137: „heimblichen S. V. Schwein" (118), „S.V. Viech" (119) „S. V. Misthaufen" (122), „S. V. Misthaufen" (130), „von 2 S. V. Kuhhaldern" (137); siehe für den Käselisterprozeß 1728/29 in Freistadt S C H E U T Z : Schatzgräberprozeß (1993) Edition S. 10, 48, 95:... salva venia ohngeziffers,... ein salva venia schwein vorbeygelojfen,... vor einen salva venia lugner anzugeben. 41 Stichwort „Schinder": ZEDLER: Universal-Lexikon 34 (1742/1961) Sp. 1597: „Übrigens gehören dieselben denen Rechten nach unter die infamen und ehrlosen, oder vielmehr wegen ihrer geringen oder verächtlichen Lebens-Art nicht vor so gut und ehrlich, als andere, geachtet Personen." Hervorhebung des Autors. 42 Dazu den Aufriß bei ROPER: Ödipus (1995) 16ff. und SCHRÖTER: Scham (1990) 42-86. 43 MUCHEMBLED: Gefühlsdifferenzierung (1990) 43-57. 44 Dazu, wenn auch großteils für die Zeit nach 1780, HEINDL: Rebellen (1991) 35-47. 45 Ein Versuch, explizite Richtlinien für die Markierung in den Formularbüchern der Beamten zu finden, scheiterte. Es scheint sich um eine unausgesprochene, aber in Mitteleuropa überall anzutreffende Konvention gehandelt zu haben. Auf diesen Aspekt hin durchgesehen wurden: FORMULAR (1535); FORMULAR (1545), das ausdrücklich „den jungen Schreibern [...] zu nutz" kommen solle;

FORMULAR (1544).

Zur Wertung von Aussagen vor Gericht

73

vermutlich eine Vielzahl von Schimpfwörtern, an den Tag fördern. A u ß e r d e m m u ß bedacht werden, daß ein Landgericht n u r gewisse Delikte ahndet: Die Dienstmagd Regina Teuflin - die ,,-in"-Form des N a m e n s weist die weibliche Identität, zusätzlich z u m V o r n a m e n der Aussagenden, doppelt aus46 - sagt in ihrer eidlichen Aussage am 20. O k t o b e r 1742 über die wegen Abtreibung u n d Kindsm o r d angeklagte Magdalena Hellman aus: und hefftig gebetten, sie über nacht zu behalten, vorschuzend, das selbte grosse schmerzen in dem creuz und salva venia [Hessen leydete, und also wegen solchen alß auch der fmstern nach ohnmöglich weiters gelangen kunte.47 Auffällig ist auch die Markierung der als unrein e m p f u n d e n e n Füße der Angeklagten. 4 8 Eine Untersuchung der gesamten Gaminger Gerichtsprotokolle des 18. Jahrhunderts liefert eine Liste von ungefähr 70 W o r t e n und Ausdrükken, die entweder mit salva venia, reverendo oder ähnlichen W o r t e n gekennzeichnet waren. Häufig w u r d e n unflätige Begriffe umschrieben oder n u r gekürzt wiedergegeben (so beispielsweise hunds eic.49 f ü r „Hundsfott'). Manche Kleidungsstücke w u r d e n z u n e h m e n d - zumindest von den Protokollierenden - als makelhaft e m p f u n d e n . Die Gleichartigkeit dieser Markierungen im deutschsprachigen Bereich ist erstaunlich: D e r amerikanische Historiker David W. Sabean hat anhand mehrerer deutschsprachiger Quellensamples folgende Markierungs-Kategorien erarbeitet: Markierte W o r t e fielen vor allem in den Bereich der Blasphemie u n d des Fluchens; der Unanständigkeit und der Unzüchtigkeit; der Beleidigung und der Entehrung; der Verunreinigung und der Skatologie. 50 Diese markierten Ausdrücke k ö n n e n zum Verständnis der Kulturpraxis „Reinheit" und Hygiene aus obrigkeitlichter Sicht ebenso beitragen, wie sie die untertänige Position der Beamten charakterisieren. Insgesamt fanden sich in 83 Gaminger Kriminalprozessen 407 Belege 51 f ü r solche entschuldigend vorgebrachten Ausdrücke.

46 Z u r S p i t z n a m e n g e b u n g , einer effektiven W a f f e der „Volkskultur", SCHINDLER: S p i t z n a m e n (1992) 78-120. 47 N Ö L A , G A G a m i n g Κ 4, Scheibbs, 1742 O k t o b e r 20, Eidliche Aussage der Bäuerin Regina Teufel. 48 Selbst i m d i r e k t e n Vergleich zu d e n Geschlechtsorgangen w u r d e n sie als m a r k i e r u n g s b e d ü r f tig aufgefaßt: Mit was vich inquisit gesündiget, wie oft, wann, wo, an welchem ort und zu was zeit? Anfangs, da inquisit, wie gesagt, auf der Fischer Oed auferzogen und in den 13"" oder 14"" jähr seines alters die salva venia schwein gehalten, hete er vor 16 oder 17 jähren sommers zeit frühe an einen werchtag hinterhalb des stadels ein schwein hergehalten und auf daz jene still gestanden, gekrazet, volglich an solcher mit sein enthlösst männlichen glied angesetzt und gesündiget. N Ö L A , G A G a m i n g , Κ 2, Scheibbs, 1722 O k t o b e r 19, A r t i k u l i e r t e Aussage im S o d o m i e p r o z e ß gegen G o t t f r i e d Weinegger, 9. Frage u n d A n t w o r t .

" E b e n d a , Κ 2, Scheibbs, 1726 M ä r z 13, Klage v o n Paul Zuser. Diese W o r t e k o n n t e n a u f g r u n d der maschinellen Suche n i c h t berücksichtigt w e r d e n . 50 SABEAN: Soziale D i s t a n z i e r u n g e n (1996) 224. 51 W o b e i der erste Beleg v o n 1673 u n d d e r letzte Beleg von 1801 eigentlich schon a u ß e r h a l b des gewählten U n t e r s u c h u n g s z e i t r a u m e s des 18. J a h r h u n d e r t s lag: Aussage der K i n d s m ö r d e r i n Magdalena D ä m e l b e r g e r i n : alda sie der zeit gedient in dem reverendo khiestall mittag zwischen 12 und 1 uhr ain khindt, so ein mädlein gewesen, auf die weldt gebobren. ( N Ö L A , G A G a m i n g , Κ 1) u n d 1801: die salva venia unweit der schindergrube bei Scheibbs ein kleinhäusel besitzen soll ( N Ö L A , G A G a m i n g , Κ 10).

74

Kapitel ΠΙ Anzahl der „salva venia"-Ausdrücke pro Prozeß

Tabelle 1:

Anzahl Μ

1

2

3

4

5

6

8

9

>10

Summe

1700-1719

4P

4P

-







-



-



69 Μ

1720-1739











-

-



-



53 Μ

1740-1759











-





102 Μ

1760-1779

4P



-







4P

141 Μ

1780-1799

4P



-

1 Ρ



Insgesamt

29 Ρ

16 Ρ



4P



-



7

1 Ρ -



-

1Ρ -









-



42 Μ 83 Ρ / 4 0 7 Μ

Legende: Μ - Markierung, Ρ - Prozeß - Quelle: NÖLA, GA Gaming, Κ 1-10.

Nahezu in jedem zweiten Gerichtsprotokoll verwendete der Gaminger Landgerichtsschreiber einen markierten Ausdruck. Spitzenreiter unter den Markierungen sind die verschiedenen, als entehrend empfundenen Diebstahlsbezeichnungen. Die große Anzahl der Diebstahls-Markierungen korrespondiert mit dem großen Prozentanteil dieser Deliktgattung innerhalb des Archivbestandes des Gaminger Landgerichtes im 18. Jahrhundert. Tabelle 2:

„salva venia"-Wortbelege in Gaminger Prozessen

Anzahl der Belege 102 Belege 61 Belege

mit „salva venia" oder „reverendo" markierte Worte gestohlen entfremden

31 Belege

hoosen

25 Belege

sau, schwein

21 Belege

diebstahl, diebberey

je 11 Belege je 9 Belege 8 Belege

abdecker; viech schuch; füsse; hurrerey abtritt

je 5 Belege

dieh; urin; kuh

je 4 Belege

gaißstall; entwendet; hur ^darunter erzhur); mist; schaf, kühe und schwein

je 3 Belege

fiedl; kuhstall; dung; franzosen krankbeit; socken; grind

je 2 Belege

geign; gehurt; eisendiebstahl; schweinetreiben; pranger; ungezieffer; bundschuch; hohe schnierschuch; lüge; verlogen; gaisen, gaißpock

je 1 Beleg

arschbacke; betriegerey; (er-)brechen; diebbstücke; ehebrüch; entfremdung; beschriene vettl; viechdieberey; viechmensch; frischling; fughüetter; haußdiebstahl; hurrenleben; hurenhandel; kuhestall; übelriechende materia; mezgers söhn; puffen haus; ross-, schwein• und stierschneider; samen; schlauch (Abtritt); schaf; schnopftiechl; säuisch; sauschneiden; Schinder; schindergrube; venerische seuche; stallung; lugenhaffte vorgebung; abgeschmeerte wasch; wasenmeister; winterstrümpf

407 Belege

Insgesamt

Quelle: NÖLA, GA Gaming, Κ 1-10.

Nach größeren Sachgruppen52 gegliedert, zeigt sich zum einen, daß das Konnotationsfeld Diebstahl sehr häufig in Zusammenhang mit „salva venia"-Aus-

52 Nach größeren „Sachgruppen" gegliedert ergibt sich folgendes Bild: SCHMUTZ: Grind, Urin: 10, Dung: 7; SYPHILIS: 4; TIERE: 62; VERFEMTE BERUFE: 16; MENSCHLICHE KÖRPERTEILE:

75

Zur W e r t u n g von Aussagen vor Gericht

d r ü c k e n v e r w e n d e t w u r d e . N a h e z u die H ä l f t e aller B e l e g e s t a m m t aus d e m

Um-

feld „ D i e b s t a h l " - das h ä u f i g e V o r k o m m e n dieser D e l i k t f o r m w u r d e b ü r o k r a t i s c h d u r c h d i e s e n e n t s c h u l d i g e n d e n Z u s a t z e n t s c h ä r f t . D a n e b e n liegt d e r s k a t o l o g i s c h e C h a r a k t e r der m a r k i e r t e n W o r t e 5 3 auf der H a n d . D a s 18. J a h r h u n d e r t n i m m t rade in a m t l i c h e n S c h r i f t e n eine N e u d e f i n i t i o n des „ U n e r t r ä g l i c h e n " v o r . 5 4 gehörten

Hosen55

und

Schuhe,

aber interessanterweise

nicht

oder nur

ge-

Dazu

bedingt

H e m d e n u n d R ö c k e . D i e N ä h e z u m K ö r p e r , die B e s c h m u t z u n g dieser Kleidungss t ü c k e d u r c h m e n s c h l i c h e A u s s c h e i d u n g e n u n d die sich a b z e i c h n e n d e t i o n d e r G e r ü c h e i m 18. J a h r h u n d e r t dürften für die M a r k i e r u n g

Neudefini-

ausschlaggebend

g e w e s e n s e i n . 5 6 U n r a t , a b e r a u c h d e r A b t r i t t , 5 7 w e r d e n z u n e h m e n d als „ i n n e r l i c h " beschmutzend

und

gesellschaftlich

nicht

tragbar verstanden,

zumal

diese

Aus-

d r ü c k e in S c h r i f t s t ü c k e n v e r w e n d e t w u r d e n , die d e r O b e r i n s t a n z v o r g e l e g t den m u ß t e n . 5 8 Selbst d e r alltägliche U m g a n g m i t H a u s t i e r e n 5 9 w u r d e v o n h y g i e n i s c h e n „ P u n z i e r u n g " e r f a ß t . E t w a i n d e r erschrecklichen

werdieser

Erzählung, w o

ein

S c h w e i n den v o n einer K i n d s m ö r d e r i n vergrabenen F ö t u s eines Kindes ans TagesArsch: 4, Füße: 10; MENSCHLICHE KLEIDUNGSSTÜCKE: Hose: 25, Socken: 4, Schuhe: 13; DIEBSTAHL: 199; FIEDEL (gemeint ist die Schandfiedel): 5; HUREREI: 17; ABTRITT: 8; LÜGE: 5. 55 D e r Blick ins H d A ist zwar ein hermeneutischer Zirkelschluß, weil er nur den magischen Charakter der angeführten Worte bestätigt, dennoch lieferte das Wörterbuch die Uberlieferungskontexte der Begriffe: BÄCHTOLD-STÄUBLI: F u ß , in: H d A III (Leipzig 1930/31) Sp. 2 2 4 - 2 3 6 ; RIEGLER: Ungeziefer, in: H d A VIII (1936/37) Sp. 1419-1425; STEMPLINGER: Franzosen (Krankheit), in: H d A II (1929/30) Sp. 1731-1732; JUNGBAUER: Hose, in: H d A IV (1931/32) Sp. 4 0 1 - 4 1 1 ; KARLE: Hure, in: H d A I V (1931/32) Sp. 5 0 6 - 5 1 2 ; HECKSCHER: Dünger, in: H d A II (1929/30) Sp. 4 7 0 - 4 7 4 ; HEROLD: Ziege, in: H d A I X (1938/41) Sp. 8 9 8 - 9 1 2 ; HEROLD: Ziegenbock, in: H d A I X (1938/41) Sp. 9 1 2 - 9 3 3 ; BARGHEER: Harn, in: H d A III (1930/31) Sp. 1472-1484; JUNGBAUER: Schuh, in: H d A VII (1935/36) Sp. 1292-1353; JUNGBAUER: Strumpf, in: H d A VIII (1936/37) Sp. 5 4 5 - 5 5 5 . 54 CORBIN: Pesthauch (1990) 81ff. Mit ähnlichen Ergebnissen für Wien PAYER: Gestank (1997) 15-52. Leider wenig ergiebig und nur Corbin paraphrasierend NEUSCHMID: der kanal (1991). 55 ZEDLER: Universal-Lexikon 13 (1735/1961) Sp. 964: „Hosen sind eine bekannte Kleidung, womit die Manns-Personen den Unter-Leib bedecken. Die alten R ö m e r und Griechen trugen keine, sondern waren um den Unter-Leib herum ganz frey, so daß, wenn einen seine Tunica ein klein wenig zu kurz war, man gleich dessen Scham sehen konnte." 56 Als gutes Beispiel dient N Ö L A , G A Gaming, Κ 6, Scheibbs, 1770 Februar 22, 2. Artikuliertes Verhör mit Joseph Pumhösl, 22. Antwort: Sein inquisitens bey dem Franz Hager gehabte gwand ist bestannden in einem braunen kämisoll, ein roth tüchernen leibl, ein ledernen salva venia schwarzen hoosen, item in eine leiner und 1 ledemene deto alt salva venia hoosen, 1 paar blauen Hamburger Strümpfen, 2 baar salva venia schuchen, 2 hemmetem, 1 stallfürtuch, 1 schnopftüchl, 1 rauchen Schlesinger häubl, 1 neuen huet, einen halßßor, dann einen bärbiermesser, 4 hemmet knöpfln und übrigens alten flecken. 57 Abtritt: [ZEDLER: Universal-Lexikon 1 (1732/1961) Sp. 213]: „Abtritt, häufigen, heimlich Gemach, Secret [...] ist der nothwendige O r t bey einer Haushaltung, dahin der Mensch seinen Leib zu erleichtern Abtritt nehmen kan." Der Zedier konnotiert damit auch „garstigen Anblick" und „Gestanck". 58

behaftet

Beispiele: worauf sie gesaget, daß sie den salva venia urin lasse. (1783); mit dem salva venia (1784); den salva venia grind auf dem köpf gehabt und ihme angestekt (1784).

grind

59 Kuh [ZEDLER: Universal-Lexikon 14 (1737/1961) Sp. 2083]: „ist unter den Rind-Vieh das Weiblein, ein bekanntes grosses vierfüßiges und gehörntes Thier, welches zur Zucht und nur der Milch-Nutzung Willen in einer Haus-Wirthschaft gehalten wird"; Sau [ZEDLER: Universal-Lexikon 34 (1742/1961) Sp. 2 8 3 - 2 8 4 ] : „Verblümter Weise werden unter dem Namen der Säue die in Unfläterey und Unmäßigkeit ganz ersoffene und viehisch gewordene Menschen verstanden"; Schaf [ZEDLER: Universal-Lexikon 34 (1742/1961) Sp. 2083-2091]: „Schaaf .. ist ein bekanntes, vierfüßiges Thier, und das Weiblein von Widder, welches Wolle trägt und Milch giebet"; Vieh [ZEDLER: Universal-Lexikon 48 (1748/1961) Sp. 1044-1052],

76

Kapitel ΠΙ

licht befördert: Es ist noch das glickb gewesen, das das kind gefunden, sonsten selbtes von denen auf der waydt gewesten salva venia Schweinen aufgefressen worden were,60 Oft scheint die Markierung auch in Handlungszusammenhängen vorgenommen worden zu sein. Die Bewertung des Hausschweines veränderte sich in der Sicht der Beamten infolge des verschlungenen Fötus. Anna und Zacharias Spann erzählen 1715 auch über ihre „markierten" Haustiere: nachts gegen 10 oder 11 uhr in seinen nächst an hauß liegenden Stadl und salva venia stallungen ein feuer auskörnen, so ihme und seinem weib als jungen eheleuthen einen grossen schaden verursachet, massen ihnen salva venia schaff, khüe und sauställ samt denen Stadl und heu, wie auch viech [...] verbrunnen.bx Auffällig ist auch, daß sich kein einziger Beleg für eine Markierung des Wortes „Teufel" im Landgericht Gaming finden ließ. Schimpfwörter, deren Inhalt oder Konnotation sexueller Natur war, wurden markiert, wie etwa ertzhur,wobei Reihen-Untersuchungen belegen, daß vor allem Frauen mit dem Verdikt der sexuellen Unehre belegt wurden. 63 Die Gaminger Beispiele belegen diese eindeutige Geschlechtszuweisung gut: Bei 17 Markierungen von hurrerey-Belegen im weiteren Sinne 64 entfielen dreizehn auf Frauen und nur vier Beispiele von ^rrerey-Zuweisungen auf Männer. Gleichzeitig wird deutlich, daß dieses Schimpfwort fast ausnahmslos (zwei Ausnahmen 1750 und 1759) vor 1750 mit salva venia gekennzeichnet wurde, 65 was das erlahmende Verfolgungsinteresse bei Gaminger Sexualdelikten nach 1750 zusätzlich gut belegt. Ein ungeklärtes Problem stellt der unregelmäßige Gebrauch der Markierung dar: In einem Diebstahlsfall aus dem Jahr 1770 wurde die Markierung insgesamt 60 Mal verwendet {entfremdet: 20; gestollen: 19; hooßen: 11; entwendet: 4; socken: 3; diebbstall: 2; bestollen, stellen, khuestall: 1). Das Verb entfremden, also eine TätigNÖLA, GA Gaming, Κ 1, Scheibbs, 1742 Oktober 20, Aussage von Regina Teuflin. Ebenda, Κ 1, Scheibbs, 1715 April 11, Summarische Aussage von Zacharias Spann. 62 Hurerei [ZEDLER: Universal-Lexikon 13 (1735/1961) Sp. 1269]: „In den Rechten heiset Hurrerey eine fleischliche Vermischung, so mit einer ledigen und mit vielen zuhaltende Weibes-Person besonders um einen Huren-Lohn geschiehet." 63 ToCH: Schimpfwörter (1993) 324. Frauen wurden mit sexueller Freizügigkeit und Diebstahl, Männer mit Schimpfworten der Unehre und des Diebstahls belegt. Einen Schimpfwortkatalog bietet KRAMER: Franken (1957) 200-202. Zum Entstehen von Streitigkeiten (Eskalationsschema) mittels „Gezänk" und „Greinhandel" MÜLLER-WlRTHMANN: Raufhändel (1983) 91f. 64 Darunter 9 Belege hurrerey, 4 Belege hur, 2 Belege gehurt, je 1 Beleg hurrenleben, hurenhandel. 65 M Ä N N E R ( 4 B E L E G E , 1 7 1 1 - 1 7 5 9 ) : Erstens were er von wegen zwaymahlig begangenen salva venia hurrerey gewöhndlich abgestrafft worden ( 1 7 1 1 ) , umbwillen er über vorhin zu etwelchen mahlen begangenenen salva venia ehebrüch... und in verdambten laster der salva venia hurrerey ( 1 7 1 3 ) , welcher.... jähr hindurch in salva venia hurrenleben herumbgestrichen ( 1 7 3 7 ) ; der unzucht und salva venia hurerey villfaltig ergeben ( 1 7 5 9 ) . F R A U E N ( 1 3 B E L E G E , 1 7 1 2 - 1 7 5 0 ) : Indeme süe salva venia gehuert ( 1 7 1 2 ) ; sie mit selbigen sich öffters in salva venia hurrerey und respective ehebrüchen versündiget habe ( 1 7 1 3 ) ; nachdem jene von umligenden nachbahrschafft vor ein offene salva venia hur beschrien ( 1 7 1 8 ) , [Sophia Sonnleithnerin] auch einen schlechten wandl führet und ein salva venia beschriene vettl ist ( 1 7 1 8 ) ; daßsye über vorhero lange zeit salva venia geyebte hurerey ( 1 7 1 8 ) ; [Sophia Sonnleithnerin] wegen der bißhero continuierten salva venia hurerey alß wegen der begangenen bluthschandung ( 1 7 1 8 ) ; wegen ihrer begangenen salva venia hurrerey und abtreibung des kinds ( 1 7 2 1 ) ; Maria Läningerin eine salva venia verwisene ertzhur ( 1 7 2 1 ) ; [Maria Sonnleithnerin] eine salva venia hurr abgeben ( 1 7 2 9 ) ; [Anna Katharina Keckin] durch vill jähr verüebten salva venia hurrerey ( 1 7 3 7 ) ; das die Rosalia eine salva venia hurr seyn müesse ( 1 7 4 2 ) ; daz solcher salva venia hurenhandl, der ihr mit Unwahrheit bezüchtiget wird ( 1 7 4 2 ) ; das selbe albereitbs 10 jahrig mit verschidenen baurn bueben in salva venia hurrerey.. ( 1 7 5 0 ) . 60 61

Zur Wertung von Aussagen vor Gericht

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keitsbezeichnung eines strafrechtlichen Deliktes, wurde in diesem Prozeß zwar insgesamt 94 Mal verwendet, aber nur 20 Mal - und damit aus heutiger Sicht inkonsequent - markiert. Die Position und der situative Kontext der markierten Ausdrücke ist schließlich zu berücksichtigen: 15 Mal wurde im angeführten Fall aus dem Jahr 1770 das Wort salva venia entfremdet in den Antworten und nur 5 Mal in den gestellten Fragen verwendet. 66 Das Gesamtsample der 407 Belege nach diesen Kriterien untersucht, bringt folgendes Ergebnis: Tabelle 3:

Kontexte der „salva venia" - Ausdrücke in Gaminger Prozessen

Quellengattung Summarium (summarisch aufgezeichneten Aussagen) artikulierte Verhöre/Gerichtsfragen

Anzahl der Nennungen 127 Nennungen 57 Nennungen

artikulierte Verhöre/in „Antworten" des Verhörten

145 Nennungen

Briefe (an andere Landgerichte oder Oberbehörden)

44 Nennungen

Rechtsgutachten / Urteile

19 Nennungen

Varia (Rechnungen, Quittungen, Listen) Insgesamt

15 Nennungen* 407 Nennungen

Quelle: NÖLA, GA Gaming - * Auflistungen gestohlener Gegenstände: 5; Aktenverzeichnisse: 3; Steckbriefe, Quittungen: je 2; Beschauattestation, Kompaß-Schreiben, Rechnungen: je 1.

Der überwiegende Teil der Markierungen taucht in Summarien und in den Antworten der Verhörten 67 in Interrogatorien (rund 67 %) auf. N u r ein verschwindender Teil wird im direkten, brieflichen internen Kontakt der einzelnen Behörden verwendet. Die Niederösterreichische Regierung benutzte in ihren Urteilen und Rechtsgutachten nur selten die Möglichkeit der Markierung, nur 5 % der Nennungen im Bestand des Landgerichtes Gaming entfallen auf diese Quellengattung. Die untersuchenden Behörden rezipierten die Verhörten - auch das wird an dieser Markierung sichtbar - stark in Kategorien des Schmutzes, der Unflätigkeit und der Verunreinigung. Es wurde im 18. Jahrhundert zunehmend wichtiger, sozial-distinktive Merkmale zu unterscheiden, vielleicht hängt dies auch mit veränderten Mentalitäten bei Hof zusammen. Ein Beamter, der einen Bericht bzw. ein Protokoll verfaßte, exkulpierte sich mit der Markierung vom In66

Neben diesem Fall mit den meisten salva venia-Belegen innerhalb der Kriminalprozesse des Landgerichtes Gaming gibt es noch 8 Fälle mit gehäuftem Vorkommen: 11 Belege - 1773 (jeweiliges Jahresdatum des Falles), 13 Belege - 1721, 14 Belege - 1742 und 1770, 15 Belege - 1716 und 1759, 18 Belege - 1773, 25 Belege: 1752. 67 Die authentische Notierung der Aussagen des Angeklagten muß zumindest stark bezweifelt werden. Zu den Antworten wurden auch die Notandum-Vermerke im Anschluß an die Beantwortung gezählt: Notandum: Auf beschehene citation deren kaufspartheyen des entfrembden salva venia vich hat mann dieselbe anwiderumb zu ersezung angehalten (1753); Notandum: Dieser salva venia diebbstahll kan mit widerverkauffung des hauses ersezt werden (1754); Notandum: Mann hat sich auch dißer aussaag halber so vill möglich erkundiget und somit in erfahrenheit gebracht, daß inquisit zwar in dem Pinsenhoff bey dem salva venia abdeckher nur etliche Wochen gedienet, sodann aber sich heimblich hinweg gemachet hat (1755); Notandum: Daß der inquisit bey Joseph Hämschickhen am Wundsam 2 stückhl schwein geselchtesfleischaus den hefen vor 3 oder 4 jähren salva venia gestollen ... (1770); Notandum: Daß man mit diesem inquisiten bis jezt nicht fortfahren könne, ist die Ursache, daß selber gleich nach aufgenohmenen summario entdeket, •wie er mit der salva venia venerischen seuche behafftet seye und von welcher krankheit er erst anjezo nach zeugnüßdes hiebeiligend chyrurgischen attest A geheillet worden (1778).

78

Kapitel ΠΙ

halt des Vorgebrachten. Die große Zahl der markierten Ausdrücke in den Antworten der Angeklagten deutet darauf hin, daß sich die protokollführenden Beamten von diesen Dingen des täglichen Gebrauches, zumindest in ihren aktenmäßigen Berichten, distanzieren wollten. Andererseits scheint es die Oberschicht gemeint sind die leitenden Beamten und Juristen, an welche die Protokolle ergingen - ihrerseits nicht nötig gehabt zu haben, diese Markierungen in ihren Rechtsgutachten, die wieder an die Landgerichte ergingen, überdurchschnittlich oft zu verwenden. Das Problem der Markierungen scheint eher ein Phänomen des Schriftverkehrs von „unten" nach „oben" als von „oben" nach „unten" gewesen zu sein. Zur Feststellung der zeitlichen Verteilungen dieser Markierungen bedürfte es noch vieler zusätzlicher Studien an vergleichbarem Quellenmaterial: Auf die Zeit vor 1750 entfallen 38 % der Gesamtzahl von 407 Ausdrücken, nach 1750 sind es 62 %. Verzerrend wirkt dabei das archivalisch besonders gut faßbare Jahrzehnt von 1770 bis 1779 mit fast 30 % der gesamten Markierungen. Nach 1790 kommen Markierungen nur mehr selten vor, allerdings ist bei diesen Zahlen die schlechte und unvollständige Uberlieferungssituation der Gaminger Gerichtsakten stets zu berücksichtigen. Tabelle 4:

Zeitliche Verteilung der „salva venia"- und „reverendo"-Ausdrücke in Gaminger Prozessen

Zeitraum

Anzahl der Nennungen

vor 1700:

1

1700-1709:

3

0,74 %

1710-1719:

66

16,22 %

1720-1729:

40

9,83 %

1730-1739:

13

3,19 %

1740-1749:

32

7,88 %

1750-1759:

70

17,20 %

1760-1769:

19

4,67 %

1770-1779:

121

29,73 %

1780-1789:

41

10,07 %

nach 1790:

1

Insgesamt

407

in Prozent 0,25 %

0,25 % 100 %

Quelle: NÖLA, GA Gaming, Κ 1-10.

Die genaue Funktion dieser „salva venia"-Ausdrücke bedarf noch weiterer, vergleichender Forschung - es handelt sich bei dieser ritualisierten bürokratischen Gestik um einen bewußten, allerdings nicht immer konsequent durchgeführten Eingriff in die „Aussage" der Verhörten und gleichzeitig um eine Distanzierung der Beamten von deren Aussagen. Die reverendo-Ausdrücke können neben der sozialen Barriere auch als Zeichen des sprachlichen Abrückens von den Aussagen der Angeklagten und Verhörten bzw. der sprachlichen Repression und des herrschaftlichen Eingriffs in die Aussagen der Untertanen gewertet werden. Die Analyse von Kriminalitätsakten kann ohne Rekonstruktion von Sozialstrukturen auf Lokalebene (etwa Familienrekonstitution, Wirtschaftsgeschichte

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der Region usw.) nur zu begrenzten Aussagen führen. 68 Grundsätzlich erhebt sich daher nach Darlegung der vielen Filter, 69 durch die Verhörprotokolle verschriftlicht werden, die Frage nach der Repräsentativität von Gerichtsprotokollen: Uber manche Ereignisse, Gespräche in Wirtshäusern, Begebenheiten in Ställen oder Wäldern, dem „Alltag" überhaupt, werden wir ausschließlich über Kriminalakten informiert. Alltagsgeschichte tritt dabei als eine Form von geschichtlicher Sehweise, als Konkurrenz von Fremd- und Selbstdeutungen vor Gericht auf. Der Historiker muß sich die Frage stellen, ob und welche Erkenntnisse auf dieser Basis zu gewinnen sind, ob diese Ereignisse für den frühneuzeitlichen „Alltag" typisch sind (wobei schon die Kategorie „Alltag" genug methodische Schwierigkeiten mit sich bringt). 70 Die Gerichtsakten stellen nicht die Wahrheit, sondern nur „Bruchstücke einer Wahrheit, Splitter des Sinns" dar.71 Gerichtsakten sind einerseits eine der wenigen Zugangsmöglichkeiten zum Alltag der „kleinen" Leute in der Frühen Neuzeit, andererseits stellen sie eine stark intentionalisierte, obrigkeitlich geprägte und von vielen Personen mitverfaßte Quellengattung dar, deren Aussagewert durch mehrere Filter stark beeinträchtigt ist. Die hergestellten Akten dienten nicht nur der eigenen Information und Legitimation der Gerichtsbehörden, sondern waren zudem gleichzeitig auch ein Kommunikationsmittel der beteiligten Gerichtsadministrationen und -instanzen untereinander. Die Akten sollten nach Möglichkeit auch vor der Oberbehörde die Schuld (seltener die Unschuld) der Angeklagten belegen und indirekt die Vorgangsweise des Landgerichtes bestätigen. Im Falle von Aktenverschickungen an die N O . Regierung waren diese Akten auch ein Kontrollmittel der Oberbehörde.72 - Nach Abschluß der Verhöre mit dem/den Hauptverdächtigen und der zusätzlich eingeholten Zeugenverhöre wurden die Akten an die Oberbehörde (an die „Regierung") eingesendet und dort begutachtet. Ein „mit dick-ausgespickten Allegaten aus dem Corpore Juris, Bartolo, Baldo &c." 73 versehenes rechtliches Gutachten entschied über die Schuld bzw. Unschuld des Angeklagten. Nach der Rücksendung an das zuständige Landgericht wurde dem Beschuldigten das bei der Regierung schon gefällte Urteil vorgelesen und somit rechtskräftig gemacht. Die grundsätzliche Frage, ob die Akten eine wirklichkeitsnahe Abbildung der Geschehnisse ermöglichen oder ob sie eine Legitimation der getroffenen bzw. noch zu treffenden Entscheidungen darstellen, läßt sich nicht eindeutig und vermutlich nur jeweils im Einzelfall beantworten. Aufgrund der Akten erfährt man explizit nur wenig über informelle Regeln oder handlungsleitende Alltagstheorien der entscheidenden Instanz. 74 Die Akten der Frühen Neuzeit bieten allerdings für den

68 Vgl. das Methodik-Kapitel bei RUMMEL: Bauern (1994) 20-25 und die monumentalen Studien von SABEAN: Property (1990), BECK: Unterfinning (1993) und MEDICK: Laichingen (1996). 69 D a z u für das 19. Jahrhundert DIETRICH: Übeltäter (1995) 32-75. 70 D a z u LÜDTKE: Alltagsgeschichte (1998) 557-578. 71 FARGE: Brüchiges Leben (1989) 12. 72 HERMANN: Realität (1987) 44; BLANKENBURG: Aktenanalyse (1975) 193-198. 73 FLORINUS: Haus-Vatter (1722) 125. 74 SCHUMANN: Justizforschung (1993) 206-207. Z u r Authentizität und Wahrheit von Gerichtsprotokollen KIENITZ: Sexualität (1995) 59-70.

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Historiker keine Möglichkeit, in den scheinbaren, weil konstruierten Verhördialog zwischen Landgerichtsverwalter und Verhörtem einzugreifen.75

4. Solle Gott die rechte ehre geben. Strategien vor Gericht Gerichtsakten sind keine authentische Quellengattung, Rückschlüsse über den wahren Tathergang lassen sich daraus nur begrenzt gewinnen.76 Der Historiker versucht aus einer Anzahl von differierenden oder repetitiv gleichlautenden Aussagen Ubereinstimmendes herauszufinden; die verschiedenen Aussagen der Prozeßbeteiligten werden auf Vergleichbares bzw. Differierendes hin untersucht und gegengelesen - wobei für den Historiker wie auch für den prozeßführenden Richter nicht immer Klarheit über den Tathergang zu gewinnen ist. Die Aussagen vor Gericht (vom summarischen „Rohmaterial" zu immer detaillierteren Befragungen) boten die Grundlage für die Urteilsfindung gemäß den normativen Vorgaben, daneben lassen sich die Aussagen auf einer „latenten", nicht explizit ausformulierten Ebene des Textes auch für Aussagen über das Alltagsleben, über Ordnungsvorstellungen der Beteiligten oder deren Lebensräume verwenden. 77 Einer der wichtigsten, schon zeitgenössisch verwendeten Begriffe vor Gericht war jener der „Wahrheit" oder, seltener verwendet, der „Wahrhaftigkeit". 78 Die untersuchenden Landgerichtsverwalter forderten die Verhörten zur Rekonstruierung der Ereignisse und Feststellung der Schuld des Betreffenden immer wieder auf, die gründliche Wahrheit, die unverfälschte Wahrheit oder gar die ohnverfälscht

gründliche

Wahrheit zu gestehen.79 Die Verhörten mußten deshalb ihre Aussage vor Gericht beschwören oder zumindest angeben, daß sie bereit waren, ihre Aussagen nötigenfalls eidlich zu bekräftigen. 80 Häufig scheinen zur Bestärkung der Verhörten auch Bilder mit Weltgerichtsszenen in den Gerichtsstuben und Rathäusern gehangen zu haben. Das „Jüngste Gericht" drohte den Verhörten wie den Richtern im Falle von falschen Angaben bzw. falschen Richtsprüchen vor Gericht. 81 Der richterstuhl Gottes82 ist in den Verhörprotokollen auch im 18. Jahrhundert noch ständig präsent. Die Seligen wandern auf diesen Bildern ins Paradies, die Ver75

LÜDTKE: Einleitung (1989) 9-47; OPGENORTH: Einführung (1993) 58-60. SCHNYDER.-BURGHAR.TZ: Alltag (1992) 259. 77 Dazu SCHULTE: Dorf (1989) 25-31. Zur „gänzlichen Verworrenheit und Widersprüchlichkeit" der Aussagen vor Gericht KITTSTEINER: Gewissen (1991) 325. 78 HOFFMANN: Erzählformen (1980) 29. Anhand von Unzuchtsdelikten in geschlechtsspezifischer Sicht vor Gericht GLEIXNER: Geschlechterdifferenzen (1995) 65-70. 79 Zu den Schwierigkeiten von Zeugenaussagen in heutigen Prozessen siehe die Einleitung bei SPORER, MEURER: Zeugenaussagen (1994) 1-7. 80 Dazu LOHNER: Prozeßrecht (1988) 189-190. 81 TROESCHER: Weltgerichtsbilder (1939) 139-214; mit einem Beispiel aus dem niederösterreichischen Rossatz vom Beginn des 18. Jhs. S. 194. Das Bild konnte trotz intensiver Suche in Rossatz nicht gefunden werden. Ich danke Herrn Horst Guba für seine Mühen herzlich. Siehe auch GROEBNER: Abbild (1999) 209-238 und ein Trierer Beispiel bei FRANZ: Gerichtsbild (1995) 520-523; SCHWARZ: Christus (1981) 526-553; DELUMEAU: Angst (1989) 340-349. Dazu auch MlNOIS: Hölle (1996) 333-339. 82 NÖLA, GA Gaming, Κ 4, Scheibbs, 1755 September 10, 2. Artikuliertes Verhör mit Michael Weiss, 11. Frage und Antwort: [...] auch solches sich in hinkunfft vordem strengen richterstuhl Gottes und der weit zu verantwortten getraue? Sagt, wisse sich in sonsten nichts schuldig. 76

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dämmten, darunter auch die „Verhehler" der Wahrheit, stürzen in die Hölle, oder der Meineidige wird - wie ein niederösterreichisches Beispiel belegt - vom Teufel als Vollzieher des göttlichen Strafgerichtes gezielt aus der Menschenmenge zur Höllenfahrt abgeholt. 83 Den eindringlichen Fragen der Gerichtsherrschaft nach der Wahrheit stand auf der Seite des Verhörten das Erinnern, das Erinnern-Können oder vielmehr Erinnern-Wollen als Ausweichtaktik vor Gericht gegenüber. 84 Auffällig ist dabei die außerordentliche Erinnerungsleistung von Verhörten: So ist beispielsweise das Geständnis von 69, über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren verübten Diebstählen mit allen Details (wie Einbruchszeit, genaue Beschreibung des Ortes und der Umstände usw.) keine Seltenheit. 85 Viele der Angeklagten oder auch der Zeugen antworteten dagegen abweisend mit wisse von nichts und suchten sich auf diese Weise oder durch Schweigen dem richterlichen Zugriff zu entziehen. 8 6 Die Angeklagten hatten in ihren Aussagen generell eher die Tendenz, vor Gericht möglichst wenig zu sagen bzw. die Obrigkeit möglichst wenig an ihrem täglichen Geschehen teilhaben zu lassen, um den herrschaftlichen Zugang auf ihr Alltagsleben zu erschweren. Es gab für die Zeitgenossen kein Wissen, das nicht mit Machtausübung verbunden war, sodaß es für die Menschen des 18. Jahrhunderts äußerst unklug gewesen wäre, Menschen in Herrschaftspositionen etwas in die Hand zu geben, womit Herrschaft über sie ausgeübt werden konnte. 87 Das „Vergessen" von Ereignissen vor Gericht zählt zu den Widerstandshandlungen der Untertanen - diese gerichtsstrategische Taktik wurde häufig angewandt. 88 Die Verhörten suchten deshalb so lang als möglich, ihre Vergangenheit bzw. den Tathergang zu verschleiern. 89 Häufig ließen die vernehmenden Pfleger am Ende des Verhörs die Frage einfließen, ob der Aussagende über seinen abgelegten eide auch wirklich die Wahrheit aussage.90 Das Verschweigen der Wahrheit

83 Dazu ZELGER: Teufelsverträge (1996) 128-131. Zum Teufel als Vollstrecker göttlicher Gerechtigkeit im „Märchen" HORN: Teufel (1962) 205-208. 84 NÖLA, GA Gaming, Κ 8, Scheibbs, 1787 November 20, Artikuliertes Verhör mit Joseph Schwerz, 26. Frage und Antwort: Solle also die reine Wahrheit bekennen? Ja, ich weiß mich schon zu erinneren. Es ist im 1783 jähr im herbst gewesen, da bin ich einmal abends hint beim hofthor hinein und habe aus dem ochsenstall 1 paar bundschuhe und oben bei der bodenstiegen eine alte lederne hosen gestohlen. An vielen Beispielen, aber kaum auf Gerichtsakten der Frühen Neuzeit anwendbar TRANKELL: Realitätsgehalt (1971). 85 Zu diesem Problem auch JARITZ: Diebsgeständnis (1977/78) 77-86. 86 FRÖLICH: Commentarius (1759) 93: „Es ist nichts neues, daß die Inquisiten und Maleficanten keine eigentliche Antwort geben wollen, sondern sagen: ich weiß nicht, kan schon seyn, meinethalben mag es schon seyn, ich erinnere mich nicht; Ich hab es schon gesagt, was ich anvor gesagt, sage ich noch, etc. Dann dergleichen zweifelhafftige Antworten in Umständen, die die That mercklich betreffen, solle ein Richter nicht zulassen." Zum Schweigen vor Gericht SlMON-MusCHEED: Reden (1999) 35-52 und FENSKE: Dorf in Unruhe (1999) 44-52. 87 Am Beispiel einer rituellen Begrabung des Gemeindebullen während einer Viehseuche untersucht Sabean Aussagen vor Gericht SABEAN: Sünden (1990) 228-229; GÖTTSCH: Alle für (1991) 8894. 88 GÖTTSCH: Alle für (1991) 290. 89 BLAUERT: Sackgreifer (1993) 15-16. 90 NÖLA, GA Gaming, Κ 10, Zelking, 1794 April 18, Aussage von Johann Sieberer. Siehe auch HARTL: Eid (1972) 143-144. Noch um 1800 forderten die Richter mehr Geld für Sachaufwendungen, weil bei der Eidabnahme die Kerzen ständig brennen sollten. Zu dem Thema BURTSCHER: Eid (1991).

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unter einem assertorischen Eid galt als Todsünde.91 Formal wurde die Eidleistung geschlechtsspezifisch differenziert vorgenommen: Männer schworen mit der Hand, 92 während Frauen die Finger an die Brust legten.93 Die davor nicht beschworene Aussage des Angeklagten oder Verhörten gewann erst dadurch eine Gewißheit und Endgültigkeit. Die Ablegung des Eides vor Gericht, ein herrschaftliches Zwangsmittel, sollte aus Furcht vor dem endgültigen Urteil Gottes die Person zur Bekennung der Wahrheit zwingen, gleichzeitig wirkte der Eid herrschaftsstabilisierend. Das Gericht wird durch den Eid als der Ort definiert, der für die Rechtssprechung zuständig ist.94 Der Eid stellte die Verbindung zwischen der unsichtbaren Gerechtigkeit Gottes und der sichtbaren Welt her. Die vor Gericht gezogenen Untertanen scheinen dabei die Form des Schwörens auch in ihrem Alltagsleben verwendet zu haben, etwa bei den obrigkeitlich bekämpften Heiratsversprechen, dem Äquivalent zur obrigkeitlich forcierten, öffentlichen Hochzeitszeremonie. 95 Ein Meineid vor Gericht zog das strafende Gericht Gottes zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar nach sich. Die Begriffe „Wahrheit" und „Gott" waren konnotativ für den Landgerichtsverwalter und den Angeklagten oder Zeugen nahe verwandt. 96 Die Ablegung des Eides setzte den Betreffenden unter Druck und sollte als zusätzliches zwingendes Druckmittel Verborgenes ans Tageslicht befördern. Während des 18. Jahrhunderts wurde im untersuchten Landgericht Gaming auch schon vor der offiziellen Abschaffung der Tortur 1776 in Osterreich kaum gefoltert. Die Folter als verläßliche Geständnismaschinerie

" ZEDLER: Universal-Lexikon 47 (1746/1982) Sp. 1727-28: „Verschweigen, Verhehlen oder die Wahrheit verhalten" [...] Das Zedlersche Wörterbuch führt sogar einen konstruierten Fall an, der die Aussagepflicht vor Gericht drastisch darlegen soll: „Und wenn auch einer dem andern eydlich versprochen und geschworen hätte, heimliche Sachen nicht zu offenbaren; so ist er dennoch, wenn er vor Gerichte zum Zeugen angeführet wird, schuldig, unangesehen solches Eydes, die Wahrheit zu sagen und wird darum nicht meineydig. Vielmehr begehet derjenige, so bey solcher Gelegenheit die Wahrheit verschweiget, eine Tod-Sünde"; KOLMER: Eide (1989) 314ff.; HOLENSTEIN: Huldigung (1991) 5861. 92 Zur Bedeutung der einzelnen Finger: NEUMANN: Sozialdisziplinierung (1996) 94: Die drei erhobenen Finger symbolisieren die Trinität (nach einer Speyerer Vierrichterordnung von 1616): Der Daumen steht für Gott den Vater, der Zeigefinger für Gott den Sohn und der Mittelfinger für Gott den heiligen Geist. Der Ringfinger symbolisiert die Seele und der kleine Finger den Körper. Freundlicher Hinweis von Josef Pauser. 93 ZEDLER, Universal-Lexikon 8 (1734/1961) Sp. 495: „Daß die Weiber weder mit aufgereckten Fingern noch mit Berührung des Euangelii schwören, sondern die Finger an die Brust lenken, ist schon seit vielen Seculis beobachtet worden. [...] Es erklären viele von der Unterwürfigkeit derer Weiber." Dazu auch HOFMEISTER: Eidesformen (1957) 107-109. 94 MOMMERTZ: Text (1996) 324-329. 95 NÖLA, GA Gaming, Κ 7, Scheibbs, 1780 August 26, Artikulierte Aussage von Johanna Mößlerin, 4. Antwort: Er hat mich öfters angegangen, mit ihme den nemlichen tag, da er entlassen würde, durchzugehen und als eines mahls meine eitern nicht zu haus waren, käme er zu mir, zündete 2 lichter an, stehe ein cruzifix dazwischen und schwörete, άίφ er m ich heurathen wollte, er drohte m ir auch zugleich, daß mich der Teufel hohlen solle, wenn ich nicht mitgienge. 96 ZEDLER: Universal-Lexikon 8 (1734/1961) Sp. 479: Das wesentliche ist, daß dabey allemahl G O T T als ein Zeuge und Richter müsse angerueffen werden: Als ein Zeuge, welcher Krafft seiner Allwissenheit weiß, daß man die Wahrheit rede, und als ein Richter, oder Krafft seiner Gerechtigkeit einen straffen werde, woferne man vorsetzlicher Weise einen betrügen wolle."

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fiel damit weg. 97 Das Beweisrecht, das vorwiegend auf das Geständnis aufbaute, geriet damit in eine Krise. 98 Als Reaktion darauf suchte das Landgericht verstärkt zusätzliche Zeugenaussagen oder Sachbeweise 99 zur Beweisfindung heranzuziehen. Gleichzeitig spielte aber die D r o h u n g mit dem unausweichlichen Gericht Gottes bei Meineid eine ungebrochen große Rolle. Die ferdinandeische Landgerichtsordnung v o n 1656 betonte, daß „an Verhörung der Zeugen viel gelegen" sei. V o r dem V e r h ö r m u ß t e n Richter, Beisitzer u n d Gerichtsschreiber die Zeugen „deß Meineyds recht erinnern." Die Beisitzer sollten zudem Acht geben, „ob sie den Zeugen in seiner Aussag wanckelmütig u n d unbeständig befunden / auch was sie f ü r absonderliche U m b s t ä n d in seinen äusserlichen Gebärden vermercken / und dieses alles auffs fleißigste beschreiben / u n d vortragen." 1 0 0 Die des Meineids U b e r f ü h r t e n w u r d e n in K o n k o r d a n z zu den Bestimmungen der Carolina neben dem Ehrverlust im schlimmsten Fall mit dem Abhauen der vorderen zwei Schwurfinger sowie dem Abschneiden der Zunge sanktioniert. 1 0 1 Die Vernehm u n g v o r Gericht konfrontierte den Aussagenden mit der dringlichen Aufforderung, die reine Wahrheit zu gestehen, die du Gott und dem gericht zu sagen schuldig bist.K1 D e r Verhörte stand somit zwar vor einem weltlichen Gericht, doch in Wirklichkeit rührte seine Aussage bereits entscheidend an seinem zukünftigen Leben im Jenseits. Das Landgericht sah sich als irdischer Vertreter eines göttlichen Gerichtes, wobei eine Falschaussage v o r dem Gericht auch den Verlust der Seligkeit mit sich bringen würde, wie man den Angeklagten immer wieder deutlich vor Augen zu f ü h r e n suchte. D e r zu Verhörende befand sich v o r Gericht in einer Zwickmühle: Einerseits war er dem Gericht eidlich zur wahrhaften A u s k u n f t verpflichtet u n d stritt gleichzeitig v o r dem höchsten Gericht u m sein Seelenheil; andererseits sollte der Angeklagte im Eigeninteresse möglichst wenig zugeben. Die Endlichkeit ihrer schlechten Taten im Kontrast zur unendlichen Seligkeit war

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LANGBEIN: C a r o l i n a (1986) 253-255. Z u r F o l t e r k r i t i k als A u s d r u c k einer Legitimationskrise der Strafjustiz LUDI: F a b r i k a t i o n des V e r b r e c h e n s (1999) 41-67. Mit S c h w e r p u n k t auf d e m geltenden R e c h t ZENZ: B e w e i s w ü r d i g u n g (1991) 13-17 u n d MUMELTER: Aussagepsychologie (1995) 16-20. 98 BECCARIA: V e r b r e c h e n (1998) 162 [Kapitel XXVIII]: „Schließlich verdient derjenige, welcher b e i m V e r h ö r h a r t n ä c k i g die A n t w o r t auf die i h m gestellten Fragen verweigert, eine v o m Gesetz bes t i m m t e Strafe, die zu d e n schwersten gehören m u ß , die das Gesetz a n d r o h t , d a m i t die M e n s c h e n n i c h t die N o t w e n d i g k e i t des Beispiels, das sie der Ö f f e n t l i c h k e i t schulden, auf diese Weise geringachten." " So fand sich als D o k u m e n t a t i o n eines Raubüberfalles b e i m A k t die S c h n u r , m i t der die Überfallenen gefesselt w u r d e n . F ü r G i f t m o r d p r o z e s s e ist die Beilage v o n Arsen (in e i n e m Säckchen) belegt. 100

FERDINANDEA (1656) 664, Artikel 16; HELLBLING: Strafrechtsquellen (1996) 73-77. FERDINANDEA (1656) 664: L a n d g e r i c h t s o r d n u n g v o n 1656, Artikel 91: „ N e m b l i c h / w e r v o r G e r i c h t einen falschen E y d / j e m a n d h i e r d u r c h z u r peinlichen Straff z u b r i n g e n / s c h w ö r t / derselbe soll m i t der Straff / die er fälschlich auff einen a n d e r n darzu bringen begehrt / belegt: oder so der eyd zeitliches G u t / oder die V e r l e t z u n g der E h r a n t r i f f t / welches d e m jenigen / der also fälschlich ges c h w o r e n / zu N u t z / o d e r d e m N e c h s t e n z u m Schaden k o m m e n / der ist zuvorderist / w o er das v e r m a g / solch fälschlich abgeschworen G u t / oder E h r d e m Verletzten w i d e r z u k e h r e n schuldig; er solle a u c h d a r z u v e r l e u m b d e t / u n d aller E h r e n entsetzet seyn / o d e r nach Schwäre der Sachen die v o r d e m z w e e n Finger / m i t welchen er geschworen / abgehauet / oder n a c h Grösse d e ß M e i n e y d s auch die Z u n g e n abgeschnitten w e r d e n . " 101

102 N Ö L A , G A G a m i n g , Scheibbs, 1791 O k t o b e r 21, Artikuliertes V e r h ö r m i t J a k o b Esletzpichler, 30. Frage: [...] und dich nicht selbst länger noch außuhalten und durch hartnekiges läugnen dir deine strafe zu vermehren und den arrest zu verlangem.

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den Angeklagten durchaus bewußt. Die Läuterung vor Gericht ging dem göttlichen Gericht nach den Werken voraus. Die seeligkeit ist gross, wird nichts so klein gespunnen, es kommt an die sonnen. Wolle also ihr gewissen reinigen und bekenne es, daz sie schwanger gewesen.10i Die des Kindsmordes angeklagte Frau argumentiert mit der ewigen Seligkeit und der Endlichkeit des weltlichen Lebens. In einem Unzuchtsfall aus dem Jahr 1756 forderte das Gericht die Angeklagte auf, doch endlich vor Gott und der weld die Wahrheit zu reden, wer der rechte kindtsvatter seye, sie solle die sacken wohl betrachten, indeme sie nicht selig werden kunte, wan sie einen andern unschuldiger weis angebetet Die solcherart unter Druck gesetzte Frau gab daraufhin auch wirklich einen bestimmten Mann als Vater ihres Kindes an. Das Auditorium für das Geständnis der Frau war sowohl die „Welt" als auch Gott. Immer wiederkehrend werden die Verhörten meist abschließend gefragt, ob sie ihre Aussagen vor Gott und der weit verantworten könnten. 105 Die bejahende Antwort besteht in einem Wiederholen dieses Begriffspaares „Gott und Welt". Diese häufiger vom Gericht als den Angeklagten gebrauchte Formel bewirkte in manchen Verhören aber auch den Rückzug der Aussagenden auf die schlechte Erinnerung. Wann ich daz vor Gott und der weit bekennen solle, kann mich nicht erinderen [...]·106 Eine andere häufig gebrauchte Formel zur Wahrheitsfindung stellte den Angeklagten vor lebensentscheidende Fragen. Das Gericht fragte nach der Wahrheit, und der Angeklagte antwortete, daß er sich zu leben und zu sterben darüber getraue.107 Die Angeklagten ihrerseits nutzten die oberste Instanz „Gott" - ähnlich wie das Gericht - immer wieder zur Bekräftigung der Wahrheit oder ihres Unwissens: Eine wegen Eisenschmuggels angeklagte Frau gab zur Bekräftigung der Wahrheit ihrer Aussage an, daß sie ihren Ausführungen nichts weiter hinzufügen könnte, allein wan sie es Gott selbsten sagen solte, so wüste sie es nicht.™* Eine wegen Kindsmordes angeklagte Frau leitete das entscheidende Geständnis mit der göttlichen Versicherung der Wahrhaftigkeit ihrer Aussage ein: Mein Gott und herr, ich weiß einmall für allemal nichts anderes als folgendes von dem gähen todt meines kindes auszusagen [...].109 Die Präsenz des Sakralen in diesem, vor einem weltlichen Ge103 Gerichtlich eingeholte Aussage der wegen Kindsmord angeklagten Maria Luberin; Scheibbs, 1731 April 18. Im Text als wörtliches Zitat mit der Wendung: Bekennt inquisitin mit vollenden wor• tten eingeleitet. 104 NOLA, GA Gaming, Κ 4, Scheibbs, 1755 s. d., Artikuliertes Verhör mit Susanne Teiflhoferin wegen Unzucht, 16. Antwort. 105 Zahlreiche Beispiele ließen sich dafür finden, stellvertretend NOLA, GA Gaming, Κ 4, Scheibbs, 1753 August 9, Artikuliertes Verhör mit Jakob Neustiffter wegen Bereitstellung von Diebesunterkünften, 31. Antwort. 106 NÖLA, GA Gaming, Κ 5, Purgstall, 1770 April 5, Artikuliertes Verhör mit Eva Maria Guttböder, 11. Antwort. 107 Ebenda, Κ 10, Scheibbs, 1794 Mai 3, Artikuliertes Verhör mit dem Dieb Ferdinand Bannholzer wegen verschiedenster Einbrüche, 71. und 72. Frage und Antwort: Ist aber nun doch alles wahr, was du dermaln angabstf ]a, es ist alles wahr, was ich izt sagte. So wohl, daz du dir darüber zu leben und zu sterben trauest? Ja, ich traue mir zu leben und zu sterben darüber. 108 Ebenda, Κ 5, Scheibbs, 1759 Oktober 22, Artikuliertes Verhör mit Eleonora Hörmann, 6. Antwort. 109 Ebenda, Κ 6, Scheibbs, 1778 Juli 21, Artikuliertes Verhör: Die angeklagte Theresia Puchbäurin wird dies noch öfters in ihrem Verhör sagen: 19.) Woher ist es dann gekommen, daß dem toden kinde

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rieht abgeführten Prozeß war deutlich zu spüren. Sowohl das Gericht als auch die Angeklagten bzw. Zeugen bemühten im Ringen um die Wahrheit bzw. die Verschleierung der Wahrheit den Zentralbegriff „Gott". Eine falsche Aussage scheint eine Art „Verbalinjurie" Gottes und somit eine Gotteslästerung gewesen zu sein. Das Gericht forderte in den Verhören immer wieder auf, doch Gott die ehre [zu] geben110 oder die Gottliebende Wahrheit ohne einige ab- und Zuneigung zu gestehen.111 Die Ehre Gottes und die eigene Ehre wurden dabei durch die Ablegung des Eides berührt. 112 Das weltliche Gericht als Vollstrecker des göttlichen Gerichts rief immer wieder auch Gott selbst an, um einen nicht Geständigen doch endlich zum Reden zu bringen und so dem gerechten „Lohn" zuzuführen. Gott, der alles vermögende, verleihe nur dermahlen disem spizbueben die lezte gnad, daß ist, daß er all das jenige, woran er die wahre schuld traget, bekennt und somit also seinen wohl verdienten lohn bekomet.m Die Landgerichte bemühten sich, die Tatmotive der Untertanen zu ergründen und stellten in Gerichtsverhandlungen auch immer wieder Fragen nach den tieferen Ursachen und Motiven der Tat. Ein mehrfacher Viehdieb und Deserteur wurde darüber vom Gericht befragt und gab als Antwort nicht etwa, was naheliegen würde, seine Armut, mangelndes Quartier oder etwas Ahnliches an, sondern wisse keine andere ursach, als weillen er Gott völlig auf die seitten gesezt, ihme auch Gott verlassen, mithin nicht gewust, was inquisit ferrers thue.w Das Beiseiteschieben Gottes hätte ihn zu seinen Kriminalstraftaten verleitet. Dieses aus heutiger Sicht fiktive Argument dürfte gerichtsstrategisch angebracht worden sein, das Gericht zumindest stellte daraufhin diesbezüglich befriedigt seine Fragen ein.115 Die Armut, die unversorgte Kinderschar oder ähnliche soziale Argumentationsmuster spielten keine Rolle. In ähnlicher Funktion trat auch der Teufel als Erklärungsmuster auf.

die Zungen hervorgeraget und blutstriemen auf der salva venia linken arschbake gehabt? 19.) Mein Gott, ich weiß es einmahl nicht, wie ich dan gethann habe und woher das herausreken der zunge und die blutstrieme (so auf dem linken salva venia arschbaken gewesen) hergekommen seyen. [...] 26. Du wirst noch zum leztenmahl ernstlich ermahnet, die reine Wahrheit zu bestehen, ob du dem kinde nicht vorsezlich ein leid zugefügt hast? 26.) Mein Gott, nein, ich weiß nichts und ich habe dem kind mit meinem wissen nichts zu leide gethann. [...] 30. Hast du auch anheut die gründliche Wahrheit dergestalten ausgesagt, daß du dir es dereinstens vor Gott zu verantworten getrauest? 30.) Ja, ich habe durchaus die umständliche Wahrheit ausgesagt, so wie ich es mir jederzeit vor Gott und der weit zu verantworten getraue. Ebenda, Κ 2, Scheibbs, 1729 s. d., Interrogatorium Gregor Prindler. Ebenda, Κ 4, Hippersdorf, 1754 Jänner 4, Aussage des Baders Bärtl; N Ö L A G A Gaming, Κ 5, Purgstall, 1747 November 23, Summarische Aussage von Georg Hierner: anheunt dato zu beßrderung Gottliebenter gerechtigkeit in allhiesiger herrschafftscanzley jurato abgehört. 110 111

PRODI: Eid (1992) 19-30. N Ö L A , G A Gaming, Κ 6, Scheibbs, 1772 November 19, Schreiben des L G Gaming an das L G Gmunden wegen des „Kremsmünsterer Seppl"; und weiter: dann alles diesen spizbuben ausbrechend wort seyn lauter lugen. 112

113

1,4 Ebenda, Κ 4, Scheibbs, 1753 Februar 10-13, Zweites artikuliertes Verhör mit dem Deserteur und Viehdieb Mathias Arnhauer, 42. Frage und Antwort: Warumb dan hierauf inquisit sein leben nicht verbessert und von unverlaubten diebbereyen nicht abgestandten, sondern hinnach widerumb derley begangen? Sagt, wisse kdne andere ursach, als weillen er Gott völlig auf die seitten gesezt, ihme auch Gott verlassen, mithin nicht gewust, was inquisit ferrers thue. 115 Zu ähnlichen fiktionalen Einschüben bei französischen Gnadengesuchen DAVIES: Kopf (1991) 37 oder das Beispiel S. 48-49.

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D e r „ B ö s e F e i n d " als teuflischer A n s t i f t e r bei B r a n d s t i f t u n g , 1 1 6 U n z u c h t 1 1 7 o d e r als V e r f ü h r e r z u t e u f l i s c h e r B e g i e r d e t a u c h t in d e n V e r h ö r s p r o t o k o l l e n i m m e r wieder auf. E i n w e g e n H o m o s e x u a l i t ä t A n g e k l a g t e r gab an, aus Teufflischer sich einige

mahlen

an vordem

leib versündiget

begierd

zu h a b e n . 1 1 8 Selbst D i e b s t ä h l e w u r -

den d u r c h die E i n f l ü s t e r u n g e n des Teufels m o t i v i e r t . 1 1 9 D e r laydige

Teufel120

diente

den A n g e k l a g t e n als v o r g e s c h o b e n e r E r k l ä r u n g s a n s a t z , d e r v o m G e r i c h t als Beg r ü n d u n g i h r e r „ U n t a t e n " a k z e p t i e r t w u r d e , w a s w i e d e r u m alle V e r h ö r t e n v o r G e r i c h t u n a u s g e s p r o c h e n g e w u ß t z u h a b e n scheinen, w i e v e r s c h i e d e n e zeitlich auseinanderliegende, aber gleichlautende A u s s a g e n beweisen. F i k t i o n steht in d e n A u s s a g e n der V e r h ö r t e n u n e n t w i r r b a r n e b e n F a k t i z i t ä t . D i e W e r t u n g v o n V e r h ö r p r o t o k o l l e n als E g o - D o k u m e n t ist deshalb zweifelhaft. 1 2 1

5. daz gewissen keine ruhe gelassen. Das konstruierte Gewissen am Beispiel eines Giftmordes D i e d r e i u n d s e c h z i g j ä h r i g e B ä u e r i n G e r t r a u d P ü b e r aus P i c h l 1 2 2 gab v o r Ger i c h t an, i h r e n M a n n a m S o n n t a g , den 2 2 . M a i 1 7 0 7 m i t A r s e n v e r g i f t e t z u hab e n . 1 2 3 Sie h a b e ein z w e t s c h k e n k e r n g r o ß e s S t ü c k v o n d e m G i f t , das die B ä u e r i n v o n e i n e m a b g e d a n k t e n Soldaten als Viehgift eingekauft h a t t e , 1 2 4 u n t e r das E s s e n

116 NÖLA, GA Gaming, Κ 1, Scheibbs, 1680 März s. d., Artikuliertes Verhör mit Paul Türk wegen Brandlegung, 2. Antwort: derowegen auß Teufflisch angestüffter rachgierigkheit ermelten brinnenden schranen hindern Stadl in daz strodach gestekht, welchen der wiindt so damahls starckh gangen, angeblasen [...]; zum Teufel, der „im Herzen" wohnt, KlTTSTEINER: Gewissen (1991) 336-341. 117 Ebenda, Κ 3, Scheibbs, 1740 März 10, Artikuliertes Verhör mit Johann Pogenreither wegen Inzest mit seiner Tochter, 7. Antwort: Das könne inquisit nicht wissen, laugne es auch nicht, wie er es schon vorhin hekent, das er selbst aus Teufflischen antrüb mit ihro sich fleischlich versündiget. 118 Ebenda, Κ 3, Scheibbs, 1742 Februar 28, Summarisches Verhör von Vinzenz Wötzenbacher wegen Homosexualität: dann herunten mit denen jungen mannsbildern aus Teufflischer begierd sich einige mahlen an vordem leib versündiget und seinen saamen verschüttet. Ebenda, Κ 1, Scheibbs, 1714 Juli 27, Erstes Artikuliertes Verhör mit dem Kirchendieb Joseph Wollmuett wegen seiner Diebstähle, 15. Frage und Antwort: Was ihme zu solchen laster beweget oder anlaß gegeben? Habe ihme hierzu niemand anlaß geben, sondern glaubt der Teufel müsse ihme also verführet haben. 120 Ebenda, Κ 3, Scheibbs, 1740 März 10, Artikuliertes Verhör mit Johann Pogenreither wegen Inzest mit seiner Tochter, 12. Frage und Antwort: Was inquisiten zu üebung solch schändlichen lasters bewogen? Wüsse es nicht, glaubt der laydige Teufel. 121 SCHEUTZ: Ego-Dokumente (2000) 126-132. 122 Einzelhöfe Pichl am Schlag, G St. Anton, GB Scheibbs. Eine Edition dieses Falles bei SCHEUTZ: Alltag (1995) 170-181. 123 Zu Arsenmorden ALLESCH: Arsenik (1959) 256-278. Siehe besonders die Salzburger Generalmandate 1695 Juli 18 und 1713 Februar 18; zum Generalmandat 1695: „Demnach die Vergüfftung mit Hüttrauch / je länger je mehr / besonders aber im Gebürg / einreißet und dadurch viel Personen / ja auch sogar die nächst befreundte / hingerichtet werden." Siehe auch 1839 in Aspang LlEBSCHER: Kriminalgerichtsbarkeit (1984) 141-142; SCHNEID: Rechtspflege (1958) 15. Zum Stuttgarter Arsenmord von 1844 BÜHLER: Gift (1995) und mit Bezug auf das Bild der weiblichen Giftmörderinn WEILER: Giftmordwissen (1998). 124 Arsen wurde häufig als Gift gegen Ungeziefer eingekauft, NÖLA, GA Gaming, Κ 4, Scheibbs, 1744 Dezember 12, Artikuliertes Verhör mit der Gattenmörderin Gertraud Teuflin, 27. Frage und Antwort: Wer mit erkaufung dessen darbey gewesen und warumb sie solche erkaufft? Wäre ihr mann selbsten darbey gewesen und hette solches [in Mariazell] umb ain creuzer vor die mäuss erkaufft.

Zur Wertung von Aussagen vor Gericht

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des Ehemannes gemischt. Sie habe es unter ein schweinerns, in einer suppen gekhochtes fleisch und knödlen gerihrt und ihme es also eingeben, habe ihme auch ein semel in einer fleischsuppen gegeben, in welcher aber kein gifft gewesen.125 Meist wurde das Arsen von den Giftmördern unter das Essen gemischt.126 Unmittelbar nach der Sonntagsmahlzeit brach der Bauer nach Mariazell auf, um neue, dringend benötigte Ochsen für die Feldarbeit zu kaufen. Geschickt hatte die Frau den Zeitpunkt der Vergiftung gewählt, weil alle anderen Bewohner des Hauses in der Sonntagsmesse waren. Am Sonntag davor waren die alten Ochsen in der Frühe verkauft worden - das eingenommene Geld mußte zwecks Erhaltung der Zugkraft wieder investiert werden. Schon nach einer Dreiviertelstunde Gehzeit begann der Mann, das eingenommene Gift zu erbrechen. Insgesamt lebte er nach Einnahme des Giftes noch circa 26 Stunden. Deutlich geschwächt übernachtete der Bauer in einem Bauerngasthaus am Weg nach Mariazell. Er scheint gleich bei seiner Ankunft - nach Aussage der Tochter des Gösingbauern 127 - über seinen „verrückten" Körperzustand berichtet zu haben: Es sey ihm sehr schlimb und stesßet ihm grausßamb. Er wisste nicht, was ihme geschehen sey, nur solten ihme ein seitl wein bringen, so er auch bekhommen.m Am Abend verlangte er Milchrahmsuppe, konnte sie aber trotz seines Verlangens nicht essen. Nach dem Essen ging er hinaus (offensichtlich war seine Bettstatt außerhalb des Hauses), ohne daß die Bauersleute nachgeschauet, das heißt sich weiter um ihn gekümmert hätten. Am nächsten Morgen verlangte der Vergiftete zum Frühstück dann ein Seitel Wein und Suppe. Den Wein konnte er noch trinken, die Suppe ließ er stehen. Dazwischen erbrach er immer wieder ins Stroh, auf dem er gebettet lag. Nach Angabe der Dienstmagd des Bauernhauses war es grüner unflath, so einer gall gleich gesehen.™ Am nächsten Tag versuchte er noch nach Hause zurückzukehren, kam allerdings nicht mehr weit und verschied in einem Bauernhof ohne Ablegung der Beichte und Kommunion. Die Frage nach der letzten Beichte vor dem Tod ist eine typische Frage der Gerichte im Zuge der nachtridentinischen Katholizität. Die dreiundsechzigjährige Frau war zum Prozeßzeitpunkt 1707 seit sieben Monaten in dritter Ehe mit Thomas Püber, vermutlich einem ehemaligen Dienstknecht, verehelicht. 130 Ort des Geschehens war Gertraud Pübers ererbter Hof im oben erwähnten Pichl. Die Frau wurde am 19. Juni 1707, also gut einen Monat nach dem Tod ihres Mannes, auf selbst verlangtes anzaigen gefänglich bey den Gä125 Ebenda, Κ 1, Scheibbs, 1707 August 4 und 8, Artikuliertes Verhör mit Gertraud Püber, 18. Antwort. 126 Ebenda, Κ 4, Scheibbs, 1744 Dezember 12, Artikuliertes Verhör mit der Gattenmörderin Gertraud Teuflin, 17. Frage und Antwort: Wie und auf was weißsye ihme benantes gifft beygebracht? Sye habe das gifft klein gestossen und unter geschnittene abgeschmalzene nudln also hergebracht, und 23. Frage und Antwort: Ob sie ihme öffters vorhin und lestlichen gifft geben? Von ja und zwar am Freytag wider darauf in einen schöberl aber nicht sovill alß vorhin so auch gar wenig davon gewesen. 127 Ebenda, Kl, Kirchberg, 1707 August 26, Artikuliertes Verhör mit Magdalena Ennl, 4. Antwort. Sie selbst sagt über ihren Beruf aus: Ich bleibe bey meinen vattem statt einer diem. 128 Ebenda, Artikuliertes Verhör mit Magdalena Ennl, 5. Antwort. 129 Ebenda, 7. Antwort. 130 Nach zwei Ehen - der erste Mann Simon Zeheter starb am 11. Jänner 1681 und der zweite, namens Johann Spißlehner, am 11. Juni 1704 - lebte Gertraud Püber nahezu zwei Jahre allein, bevor sie vor Martini (11. November) 1706 eine dritte Ehe mit dem vermutlich mittellosen Thomas Püber einging.

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Kapitel ΙΠ

mmingischen landtgericht eingefihrt.m Gertraud Püber gab vor Gericht an, daß ihr die Zeit nach dem gewaltsamen Tod ihres Mannes sehr hart gewesen und daz gewissen keine ruhe gelassen, also daß sye weder essen, drinkhen oder schlaffen können, habe sye desthalben bey der obrigkheit selbsten, umb ihre verdiente straff außstehen zu khönnen, anzaigen lassen.132 Diese Angabe der Angeklagten kann aufgrund fehlender Protokolle anderer Zeugen nicht hinterfragt werden. Der Druck auf die Frau könnte aber auch durch das allgemeine Gerede der Mitbewohner, durch das gemeine geschray, so groß geworden sein, daß die Bäuerin zur Selbstanzeige gezwungen wurde. In der Regel zeigte man ein Vergehen entweder unmittelbar an, weil der Täter auf frischer Tat ertappt wurde oder weil das Delikt durch die genaue gegenseitige Kontrolle der Mitbewohner „ruchbar" geworden war. In diesem Fall war eine außergerichtliche Lösung, wie sie häufig bei Diebstahlsfällen vorkam, nicht möglich. Die zweite Zeitebene stellt die Einvernahme vor Gericht dar,133 wobei das angeführte Beispiel schon verdeutlicht, daß der Leser über den Tathergang und den „Vorlauf" des Prozesses (erste Zeitebene) überhaupt erst bei der ersten gerichtlichen Einvernahme Angaben erhält. Die erste Aussage von Gertraud Püber wird in einem Summarium, einer zusammenhängenden Erzählung, wiedergegeben, wo der Tathergang zum ersten Mal geschildert und damit aktenkundig wird. Dieses Summarium bot dem Angeklagten die beste Möglichkeit zur Darstellung seines Falles bzw. zur Beeinflussung des weiteren Prozeßgeschehens. Meist beschränkt sich die Erzählung im Summarium auf die eigentliche Tat. Vorstrafen oder andere Delikte, die dem Verhörten zur Last gelegt werden, kommen in den Summarien meist nicht zur Sprache. Im Fall von Gertraud Püber wurden zwei Verhöre angestellt: ein Summarium (22. Juni 1707) und zwei artikulierte Verhöre (4. und 8. August 1707). Als artikuliertes Verhör wird eine dialogische Frage- und Antwort-Struktur von Verhörendem und Verhörten bezeichnet, die zudem durch das Schriftbild verdeutlicht wird. Die Fragen dürften dabei vom Gericht nicht spontan, sondern angepaßt an den jeweiligen Tatbestand nach dem in der Landgerichtsordnung vorgeschriebenen Interrogatorium gestellt worden sein (Abbildung 2). Die Mitschrift dürfte in Konzeptform erfolgt sein, das heißt die scheinbar „wörtlichen" Aussagen der Angeklagten wurden vom Gerichtsschreiber in der Reinschrift des Protokolles (dritte Zeitebene) zusammengefaßt. Im halbbrüchig geschriebenen Text der Reinschrift des artikulierten Verhöres stehen links jeweils die Fragen (Interrogatoria) und rechts die Antworten (Responsoria). Beim ersten artikulierten Verhör werden am Anfang immer genaue Fragen nach den sozialen Eckdaten des Verhörten gestellt (Name, Alter, Religion, Herkunftsort, Eltern, Familienstand, Beruf usw.). Dann beginnt die eigentliche Befragung. Das sieht im konkreten Fall an einer entscheidenden, weil selbstbezichtigenden Stelle

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NÖLA, GA Gaming, Κ 1, Scheibbs, 1707 Juni 22, Summarium mit Gertaud Püber. Ich habe hier bewußt einen recht kurzen, noch dazu unvollständig überlieferten Fall gewählt, weil sich daran die Probleme von Gerichtsakten besonders gut verdeutlichen lassen. 132 Neben dieser Aussage im Summarium vom 22. Juni 1707 siehe das Artikulierte Verhör vom 4. und 8. August 1707, 61. Frage und Antwort: Wan sie sich entschlossen dise ihre begangene missethatt dem landtgericht anzudeithen? Sagt den 18. Juni als 4 wochen nach ihres manns todt. 133 Zum frühneuzeitlichen Landgerichtsprozeß FEIGL: Gerichtsbarkeit (1989) 42ff.

Zur Wertung von Aussagen vor Gericht

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im Verhör mit Gertraud Püber so aus:134 Wan und waß vor eines todts dieselben [gemeint sind die drei Ehemänner] gestorben? Der erste, als Simon Zehenter, seye den 11. Jenner 1681 nach außgestandner 14 tägiger krankheit gestorben; der änderte, als Hanß Spießlehner, hat den 11. Junii 1704 an einen reisßen und schneiden in leib, waran er 4 wochen lang gelitten, daß zeitliche gesegnet; der dritte aber, als Thoma Püber, seye den 23. Maii diß laufenden 1707"" jahrs umb willen sie ihme einen zwespenkhern großgüfft, hydra genant, eingeben, von diser weldt abgeschieden.135 Der Leser erhält nach dem Summarium viele von sehen des Gerichts vorläufig noch nicht verifizierte Angaben, meist eine detaillierte Schilderung des Tathergangs und der genaueren Umstände aus der Sicht des Tathauptverdächtigen. Zeugen bestätigen oder verwerfen in der Folge die Darstellung des Angeklagten. Das Gericht erstellt daraufhin einen neuen Fragenkatalog gemäß den Angaben der Zeugen oder anderer Informanten. 136 Als vierte zeitliche Ebene wären die richterlichen Urteile anzusehen: Das Aktenmaterial mußte an die Oberbehörde, die N O . Regierung, eingeschickt werden. Diese Aktenversendung erklärt auch, warum manche Prozeßakten in zweifacher Ausfertigung vorliegen. Wenn man vom Problem der verschiedenen zeitlichen Ebenen auf die inhaltliche Ebene dieses Giftmordes umschwenkt, werden zahlreiche Probleme sichtbar. Der Historiker, ganz Kriminalist, 137 hat quellenmäßig nur Zugriff auf protokollierte Vorgänge vor Gericht. Der Aussagewert der Quelle „Protokoll" und deren Informationsqualität müssen von ihm hinterfragt werden. 138 Die Interpretation des Falles m u ß beim Tatmotiv beginnen, weshalb sich folglich Fragen nach dem Ehealltag, nach innerund außerfamiliären Konflikten als prozeßrelevant herauskristallisieren. Gertraud Püber gab vor Gericht zu Protokoll, daß sie als Eheleute kein guettes haußen miteinander gehabt hätten. Als Grund für den vorsätzlichen Giftmord führte die Ehefrau Gertraud Püber an: Alß nemblichen, weillen es sye gereuet, daz sye geheurathet und ihr in die dritte wochen stetts in sünn ware, daß sye ihren mann Thomae Püber ain in kästl gelegenes gift, hydra139 genant, [...] eingeben solle und dise Teüfflische eingebung ihr nit aus dem sünn schlagen oder bringen können.1^ Diese sogenannten „teuflischen Eingebungen" spielen immer wieder als Kausalisierungsstrategie der Verhörten eine wichtige Rolle. Das Böse k o m m t - typisch für die Formierungsphase des Gewissens - nie aus dem Inneren, sondern von außen, vom 134

Im Original in Spaltenschreibweise: Fragen in jeweils linker, Antworten in jeweils rechter

Spalte. 155

NÖLA, GA Gaming, Κ 1, Scheibbs, 1707 August 4 und 8, Artikuliertes Verhör mit Gertraud Püber, 7. Frage und Antwort. 136 Bei einer Antwort des Verhörten wird dann etwa korrigierend vermerkt: Notandum: Mann hat sich auch dißer aussaag halber so vill möglich erkundiget und somit in erfahrenkeit gebracht, ώφ inquisit zwar in dem Pinsenhojf bey dem salva venia abdecker nur etliche wochen gedienet, sodann aber sich heimblich hinweg gemachet, NÖLA, GA Gaming, Κ 4, Scheibbs, 1755 September 10, 2. Artikuliertes Verhör mit Michael Weiss. Laut ZEDLER: Universal-Lexikon 46 (1745/1962) Sp. 1617 wird „Venia" mit „die Erlaubniß, Gnade, Urlaub" übersetzt. 137 Zu diesem Aspekt den mittlerweile klassisch gewordenen Aufsatz zum Indizienparadigma v o n GlNZBURG: S p u r e n s i c h e r u n g (1988) 7 8 - 1 2 5 . 13

« RÜSEN, JAEGER: Historische Methode (1990) 15f. ' Hittrich, Hüttenrauch oder Arsen, siehe BYLOFF: Volkskundliches (1929) 40f.; DERS.: Arsen-

13

m o r d e (1930) 1 - 1 4 ; DERS.: A r s e n i k e s s e r e i (1935) 1 0 7 - 1 1 0 . 140

NÖLA, GA Gaming, Κ 1, Scheibbs, 1707 Juni 22, Summarium von Gertraud Püber.

A r t i k u l i e r t e s Verhör m i t der G i f t m ö r d e r i n Gertraud Ruber (Scheibbs, 4./8. August 1707) G a m i n g e r H o f r i c h t e r : Zacharias Joseph Dietmayr G e r i c h t s s c h r e i b e r : Joann Baptist Dietmayr Ä n d e r u n g gegenüber der L a n d g e r i c h t s o r d n u n g 1656 ist durch U n t e r s t r e i c h u n g a u s g e z e i c h n e t .

16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33.

Maß sie vor ein gifft gebraucht und wievill disse gewesen? k/ie sie es zugericht habe? Wie sie ihms eingeben? Man es beschechen seye? An welchem orth er dises gegesßen und genossen? I^ie sich ihr mann nach und nach darauf verhalten? yie lang er nach dem eingenohmenen gifft gelebt? Maß er vor einen todt genohmen? Ob nicht nach den todt daß maull geschaumet? Ob der leib nicht aufgeschwollen oder gar aufgebrochen? Ob die nägl nicht blau oder schwarz worden? Ob sie ihme öffter ein gifft gegeben und waß gestalt? Maß sie zu solchen bewegt? Woher sie das gifft genohmen? Ob sie etwan selber erkaufft? Wer es gekhaufft? Ob sie es der dochter befohlen, daz sie es khauffen solle? Wer sonsten darbey gewesen, wie sie solches erkhaufft haben?

Abbildung 2: Vergleich der Fragepunkte aus dem artikulierten Verhör der Giftmörderin Gertraud Püber (1707) und den §§ 3 und 4 des 72. Artikels der nö. Landgerichtsordnung (1656) aus: zeitgenössischer Druck (Wien 1657) 105f.

^ » « d S P & i w petnltcgcn i Φ α η η übet bifes ber23erbSci;tige glaubiicf; nicftf ixmfmtt / fcafier baö ©iffi 511 anbern Θ α φ ^ η gebraucfyt/tfb« brauchen weilen/ tmb η ο φ ttw t>oc tifem gegen betObrigfert geiaugnef/baß er ©ifft öifaufft/£ernacf; beflen übertrifenätorben/ fofofl manj£nübermgecs ^ ρ Φ ϊ φ ί tmgefäfcr «uff nacfyfoigenbe pirntten peinlich fragen· f&agffacfc 5 4» -06 et nidjtbettiT?; ©ergeben? ©urcfyroaöSftttl* ce für ein@ifft/t)ni>n>ietjiii>ci[enflewcren^ QSieeröjuegenci;^ 5Bieerjf)ms eingeben? 3 S a n n eß gefeiten? 2ϊη w e i t e m £>ri£? ftcf? bev 7t; η α φ t>nt> η α φ bnrauff mfcafcen < 2ßie langer nacfybem eingenommenen©!^gelebt? e* für einen b bieT^gel ηϊφί 33lan>/ober @ci}«ar$ worben? ö b er j£mc offter ©ifft bepgebr αφί / wib roaö fleftallt i 2 ß a ö jtyn 511 folgen bewegt ? 333c$er er b a s ©ijft genommen ? .06erßfefbergefaufTi? © e r eß geholt? 5Juff ft)efien33cfeici) ? 333er fenfien barjuegefcolffen/ober geraden ? ObberSipoterfer/oberberesfcergefcen gewuft/baßntanö juro vergeben brauchen wolle ? © a n wannbergleidjen aujf&teSftttfceiffer/ita Sipotetfer eri iombt/wüeffen fte ebenfallß als ©ifftgeber cing ejo* werben*

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K a p i t e l ΙΠ

Teufel. Das genannte Beispiel der teuflischen Eingebungen charakterisiert als Beispiel das „maskierte" Reden vor Gericht. Ahnliche Beispiele lassen sich beibringen: Als der offensichtlich gänzlich verarmte Kirchendieb Joseph Wollmut 1714 gefragt wurde, warum er aus den Kirchen der Umgebung allerlei Dinge gestohlen und verkauft hätte, nannte er nicht seine Armut als Grund, sondern: Habe ihme hierzue niemand anlaß geben, sondern glaubt, der Teufel müsse ihme also verführet haben.w Wollmut nannte nicht den offensichtlichen Grund, sondern mußte in seinem Verhör die „tiefere" Motiviation seines Tuns angeben. Doch zurück zum Fall der Giftmörderin Gertraud Püber. In ihrem artikulierten Verhör, fünf Wochen später, führte Gertraud Püber die zum Giftmord führenden Motive detaillierter aus: Sagt, seye ihr in die dritte wochen jederzeit hart genießen und alzeit eingefahlen, ihme daß gifft zu geben und damit sie etwan selbst an verzweifflung khommete und sie von einander khomen möchten, habe sie ihme dises gifft gegeben, seye offtermahlen unter hellen himmel mit aufgreckhten händen nidergekhniet, Gott gebetten, daz er doch dises ihre schlimme gedankhen und einfahl ihr nehme und bessere davor geben möchte, aber nichts erhalten können, sondern stätts in disen ihren schlimmen gedankhen gebliben.w Dieses von der Bäuerin selbst vorgebrachte Erklärungsmuster legt eine Interpretation nahe, die auf eine, wie auch immer geartete und interpretierbare persönliche Krise deuten würde.143 Aufhorchen lassen vor allem Fragen des Gerichtes, die in eine andere, nämlich ökonomische Richtung und auf einen innerfamiliären Konflikt als Motiv zielen. Die Kinder der Bäuerin aus der ersten Ehe fürchteten um ihr Erbe und vor allem um die Übernahme des Bauernhofes.144 Das Gericht hakte hier nach, ob es wahr sei, daß sie kurz vor ihres Mannes Tod zu ihrem Sohn gesagt haben solle: er soll nur gedult haben, es wird baldt besser werden. Die Bäuerin bestritt das verhement. Das Gericht verfolgt also neben dem Teufel zumindest noch einen zweiten, aus heutiger Sicht realeren Erklärungsansatz für den Giftmord. Die aigentliche ursach des Mordes sollte geklärt werden.145 Die Frage der Erbschaft bildet vermutlich den Hintergrund dieses Falles - eine Antwort darauf ist aber aufgrund der Quellenlage und des Aussagewertes der analysierten Protokolle nicht möglich. Der Giftmord könnte als Antwort der Frau auf einen - zumindest aus ihrer Sicht - untätigen, faulen Mann gesehen werden. Vielleicht spielte der Sohn als potentieller Erbe des Hofes eine wichtige Rolle in diesem Fall?146 Die Interpretation des Falles ist äu1,1 Ebenda, Scheibbs, 1714 Juli 27, Artikuliertes Verhör von Joseph Wollmut, 15. Antwort, mit einer Edition dieses Falles SCHEUTZ: Alltag (1995) 182-203. 142 Ebenda, Scheibbs, 1707 August 4 und 8, Artikuliertes Verhör mit Gertraud Püber, 14. Antwort. 143 Z u r Motivik der enttäuschten individuellen Erwartung an die Ehe bei Arsenmorden GÖTTSCH: Vielmahls (1995) 325. 144 Siehe Frage 44: Ob nicht war, daz sie ihren mann daz haus nicht recht vergünstiget? Sagt ja, seye ihm daz haus nicht willig gewesn, und seye ihr jederzeit destwegen so hart gewesen. 145 N Ö L A , G A Gaming, Κ 1, Scheibbs, 1707 August 4 und 8, Artikuliertes Verhör mit Gertraud Püber, 40. Frage und Antwort: Warumh sie ihren mann, daß gifft zu essen geben, solle doch die aigentliche ursach sagenί Sagt, habe sie gereuet, daz sie geheurath habe, damit sie also seiner loß werde, habe sie ihme daz gifft der Ursachen gegeben. 146 Vgl. FEIGL: Verhältnisse (1976) 81: „Die Übernahme durch den überlebenden Ehegatten war sehr häufig. O f t treffen wir daher in Osterreich eine Besitzfolge dieser Art an: Gemeinschaftsbesitz zwischen Mann und Frau - überlebende Ehegattin - Gemeinschaftsbesitz zwischen derselben und ih-

Zur Wertung von Aussagen vor Gericht

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ßerst schwierig u n d f ü h r t letztendlich zu keinem eindeutigen Ergebnis. Das Gift k ö n n t e zur Lösung eines innerfamiliären Konfliktes gedient haben. Die angeklagte Frau verweigerte sich den Fragen des Gerichtes, die auf diesen Konflikt hinwiesen u n d argumentierte mit den gegensätzlichen Begriffen Teufel u n d Gott; ersterer war f ü r die Vergiftung verantwortlich, während die Selbstanzeige scheinbar (?) auf einem belasteten Gewissen beruhte. G o t t als der wirkliche Richter w u r d e u m ain gnädiges urthl angerufen. Absolut sicher ist bei diesem zusätzlich noch unvollständig überlieferten u n d schwer zu interpretierenden Fall n u r das Urteil: Gertraud Püber w u r d e nebst abhauung der rechten handt mit dem schwert hingericht.147 D a m i t erhielt sie eine der Niederösterreichischen Landgerichtsordnung v o n 1656 entsprechende Todesstrafe, die f ü r Frauen in Giftmordfällen die E n t h a u p t u n g vorsah. 148 Das „boßhafftig" Vergiften der Speisen dürfte die zusätzliche Abschlagung der H a n d - ein „beschwerender U m s t a n d " nach der Landgerichtsordnung von 1656 - bewirkt haben.

6. Zur Quellenlage für das Landgericht Gaming und das Scheibbser Marktgericht im Untersuchungszeitraum Die A k t e n des Landgerichtes Gaming haben eine bewegte Geschichte hinter sich. N a c h der A u f h e b u n g der Kartause Gaming 1782 gelangten die Archivalien der Kartause nach "Wien ins Siebenbüchnerinnenkloster, w o sie neu geordnet u n d auf verschiedene Archivkörper verteilt wurden. Die verschiedenen Archivalien darunter sind auch die Landgerichtsakten - dürften nach dem 12. April 1783 an die Kameraladministration in Wien gelangt sein. Beim Verkauf der Religionsfondsherrschaft Gaming an den Grafen Festetics de T o l n a im Jahr 1826 w u r d e Archivmaterial an Gaming rückerstattet. Viele Teile dieses umfangreichen u n d von den Kartäusern gut geordneten Archives gingen dabei oder schon davor verloren. 149 Auf ungeklärtem Weg gelangten die landgerichtlichen Kriminalakten in den Besitz des Wiener Magistratsbeamten H a n s Liebl (1877-1950), 150 der sie seiner Privatsammlung (der sogenannten „Liebischen Strafrechtsaltertümersammlung") einordnete, die den Grundstock des späteren Niederösterreichischen Landesmuseums f ü r Strafrechtsaltertümer mit Sitz in Greillenstein bzw. heute in Pöggstall bildet. Erst im Jahr 1950 gelangten die Reste des Gaminger Gerichtsarchives an das Niederösterreichische Landesarchiv, w o die A k t e n von Franz Stundner bearbeitet u n d mit Kurzregesten versehen wurden. Die Landesarchivarin u n d nachmalige D i r e k t o r i n des Niederösterreichischen Landesarchivs, Silvia Petrin, n a h m im

r e m zweiten M a n n - Alleinbesitz des ü b e r l e b e n d e n zweiten G a t t e n - Gemeinschaftsbesitz zwischen demselben u n d seiner z w e i t e n Frau. 147 D e r A k t ist unvollständig. Das vollzogene Urteil fand sich als erster Eintrag in d e r Aufstellung des Scheibbser F r e i m a n n e s Eder, N O L A , H A Scheibbs, H s . 3/30, pag. 222. 148 FERDINANDEA (1656) 705, A r t i k e l 72. I m gesamten A r t i k e l 72 w i r d i m Gesetzestext sprachlich - wie fast in der gesamten L G O - nicht auf die vorwiegend weibliche Täterschaft eingegangen. 149 Z u r Archivgeschichte HOFFMANN: G a m i n g (1948) 61-64; zur Ü b e r l i e f e r u n g der Klosterarchive LATZKE: Klosterarchive (1938) 434-455, bes. 449. 150 Z u r P e r s o n des W i e n e r Magistratsbeamten H a n s Liebl (1877-1950) H e r m a n n Baltls Beitrag in: Ö B L V (1972) 200 u n d BALTL: Rechtsarchäologie (1957) 17.

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Kapitel ΠΙ

Jahr 1984 eine neuerliche Überprüfung und Sichtung dieses unvollständig überlieferten Bestandes vor. Die Uberlieferungssituation der Gaminger Gerichtsakten ist also lückenhaft, wobei sich aufgrund eines fehlenden landgerichtlichen Zentralregisters die Archiwerluste an Kriminalfällen nicht genau beziffern lassen. Zur Zeit der Aufhebung waren in der Scheibbser verhörr- und commissionsstuben 117 verschiedene Kriminalprotokolle für den Zeitraum von 1592 bis 1751 vorhanden, 151 heute finden sich von dieser genannten Zahl nur mehr 91 Kriminalprozeßakten im Niederösterreichischen Landesarchiv in St. Pölten. Viele der vor das Landgericht gelangten Konflikte und Deliktvorwürfe dürften lediglich in die Landgerichts- und Hofgerichtsprotokollbücher eingetragen worden sein, die leider heute nicht mehr vorliegen. Zusätzlich wirkte sich der unvollständige Erhaltungszustand der Prozesse negativ für die Analyse aus: Urteile, Verhörprotokolle der Angeklagten oder Zeugenaussagen fehlen vielfach. Jeder der im Gerichtsarchiv Gaming erhalten gebliebenen Kriminalfälle von 1592 bis 1801 - insgesamt 185 Prozesse - wurde von mir Wort für Wort (ca. 4000 Seiten im Ausdruck) transkribiert. Die Volltextaufnahme der insgesamt zehn Kartons erwies sich, abgesehen vom großen Arbeitsaufwand, als großer Vorteil, weil sich viele Fragestellungen erst im Lauf der Arbeit an den Protokollen ergaben und neue Fragestellungen durch die Gesamtaufnahme jederzeit zu stellen waren. Tabelle 5:

Verteilung der Gaminger Delikte auf Kategorien

Deliktskategorie

Anzahl

Sexualdelikte (Unzucht, „Inzest", Schwängerung, Ehebruch)

34 „Fälle" (davon 3 A)

Eigentumsdelikte (Raub, Diebstahl, Kirchendiebstahl, Vieh-, Jahrmarkt-)

83 „Fälle" (davon 35 A)

„Kindsmord" (Kindsmord, Abtreibung, Kindesweglegung)

13 „Fälle"

Tötungsdelikte (Mord, Totschlag)

6 „Fälle" (davon 1 A)

Bettelei (Landstreicherei, Generalvisitation)

13 Fälle (davon 4 A)

Varia (Urfehdebruch, vermischte Betreffe, Anfragen usw. 152 )

36 „Fälle" (davon 17 A)

Insgesamt

185 „Fälle" (davon 60 A)

Quelle: N Ö L A , G A Gaming, Κ 1-10 - Legende: A - Amtshilfe.

Bei der Klassifizierung der Delikte ergaben sich bei der Zuordnung zu den gewählten Deliktkategorien (Sexual-, Eigentum-, Tötungsdelikt, Bettelei bzw. Varia) Schwierigkeiten, weil heutige kriminologische Bezeichnungen nur begrenzt auf frühneuzeitliche Delikte bzw. auf eben dieses Strafrecht anwendbar sind. Zum 151 Siehe das „Archiwerzeichnis" der Aufhebungskommission, Scheibbs, 1782 Februar 28, N Ö L A , Klosterakten Gaming, Κ 81, Beilage Gg. Edition dieses Verzeichnisses bei SCHEUTZ: Alltag (1995) 218-226 (Beilage 5). 152 Darunter wurde u. a. verstanden: Falschmünzerei (1674); Brandlegung, Sodomie, Unzucht (1680); Sodomie und Diebstahl (1697); Brandlegung und Diebstahl (1712); Diebstahl und Ehebruch (1712); Todesanzeige (1714); Diebstahl und Blutschande (1724); Unzucht mit Dienstmagd und Diebstahl (1737); Gewalttätigkeit eines Fuhrknechtes (1726); Nichtbezahlung einer Schuld (1733, 1784); Selbstverstümmelung (1737); Steckbrief (1741, 1779, 1786, 1790); Rauferei und Diebstahl (1744); Passiererlaubnis für einen Dieb (1747); Desertion und Viehdiebstahl (1752); Nachbarschaftsstreit um Schweine (1752); Schuldeintreibung (1756); unbefugte Sattlerarbeit (1756); unerlaubtes Entfernen aus der Herrschaft (1757); Verkehrsunfall (1778); Aussage eines Abdeckers (1782, 1783).

Zur Wertung von Aussagen vor Gericht

95

anderen verurteilte das Landgericht einen Angeklagten im Fall von kumulativen Delikten wie Bettelei und Diebstahl zu einer Schandstrafe oder ähnlichem, ohne im Urteil den Anteil der einzelnen Delikte an der Strafe genau auszuweisen. Besonders die große Anzahl von „Amtshilfe"-Verfahren überrascht. Uber 60 „Fälle", fast ein Drittel aller Gerichtsverfahren, nehmen ihren Ausgang durch ein diensthöfliches, nachberliches Schreiben eines anderen Landgerichtsverwalters an das schloßgmeyr Scheybbs. So wurde beispielsweise im Jahr 1748 in Steyr ein abgedankter Soldat namens Paul Höller wegen Diebstahlverdachts inhaftiert. Das Stadt- und Landgericht Steyr richtete daraufhin einen Brief an das Landgericht Gaming-Scheibbs mit der Bitte um Verhör von einigen, offensichtlich von Höller selbst zu Protokoll gegebenen geschädigten Personen. Mit diesen „bestellten" Zeugenverhören sollten der Wahrheitsgehalt von Höllers Aussagen überprüft sowie weitere Indizien gesammelt werden. Das Gaminger Landgericht kam der Aufforderung umgehend nach und übersandte die Verhöre von vier bestollenen partheyen nach Steyr. Diese vier Personen gaben dann auch wirklich an, vom Bettler Höller bestohlen worden zu sein. Der bürgerliche Müllermeister Lettmüller aus Scheibbs gab zu Protokoll, daß ihm ein Zinnkrug durch Höller abhanden gekommen sei. Er habe sich sofort an die Verfolgung gemacht und den Dieb in der Nähe von Scheibbs bey anderen bettlern sizend angetroffen.™ Die Lebenswirklichkeit eines abgedankten Soldaten wird durch diese Aussagen konkretisiert. Eine Verhaftung durch den allgegenwärtigen Landgerichtsdiener scheint aber nicht erfolgt zu sein. Dieses Beispiel läßt schon die hohe Dunkelziffer an Delikten, die nicht zur Anzeige kamen, erahnen. Bei eingehendem Studium der Akten werden aber auch die Kompetenzschwierigkeiten der zahlreichen Landgerichte miteinander deutlich: Ein wegen Bettelei und Diebstahl verhafteter Mann sollte aus einem weiter entfernten A m t nach Scheibbs überstellt werden und mußte dazu 3 oder 4 pixenschuß durch ein anderes Landgericht geführt werden. 154 Dieser Eingriff in ein fremdes Landgericht wurde schließlich nach einigen Briefen ohne praejudiz gestattet. 155 Man war bemüht - im Eigeninteresse - , anderen Gerichten zu helfen. Das Landgericht Gaming hatte seinerseits keine Scheu, andere Landgerichte, oft über weite Entfernungen hinweg, mit der Bitte um Verhör von Zeugen oder der Bitte um weitere Nachforschungen zu belästigen. Lange Prozeßdauer und hohe Arrestkosten waren die Folge. Manchmal suchten auch die Angeklagten ihre wahre Identität zu verbergen - im Vertrauen darauf, einerseits Zeit zu gewinnen und andererseits eine nicht weiter nachprüfbare, unverfängliche Identität aufzubauen. Das Landgericht Gaming verhört 1784 einen jungen Mann, der im ersten Summarium verlauten läßt: Ich heisse Bernhard Schönberger, bin 21 jähr alt, ledigen standes, ein convertirter katholik, zu Foderaus, einem kleinen märktl in der Neuburger Pfalz unter der pfleggerichtsherrschaft Sulzbach, gebürtig.l% Als das Gaminger Landgericht das genannte, weit entfernte Landgericht Sulzbach anschrieb, äußerte der dortige

153 N Ö L A , G A G a m i n g , Κ 4, Scheibbs, 1748 S e p t e m b e r 10, Summarische Aussage des Scheibbser Müllenmeisters Lettmüller. 154 E b e n d a , Κ 4, Scheibbs, 1747 Juli 12, Brief des L G G a m i n g an das L G Peilenstein. 155 E b e n d a , Κ 4, St. L e o n h a r d am F o r s t , 1747 Juli 13, Brief des L G Peilenstein an das L G G a m i n g 156 E b e n d a , Κ 7, Scheibbs, 1784 F e b r u a r 16, Summarische Aussage v o n B e r n h a r d Schönberger. Ein ähnlicher Fall bei REINGRABNER: Kriminalfall (1999) 228-230.

96

Kapitel ΠΙ

Pfleger in seinem Antwortschreiben bereits den Verdacht, daß „Schönberger" einen falschen Geburtsort angegeben haben müsse. Am 9. Juli 1784 wird er dann erneut befragt und muß zugeben: Ich heise Kasimirn Weiweck, bin 22 jähr alt, katholischer religion, ledigen standes und meines thuns ein nicht ausgelehrnter schuchknecht und auch ein solcher mühljung}57 Als Geburtsort wurde schließlich der Spittelberg in Wien eruiert - eine richtige Angabe, wie das Antwortschreiben der dortigen Behörde beweist. Das administrative Netz wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend dichter, die Überwachung der Straßen besser und die Möglichkeit für die Unterschichten, sich diesem enger werdenden Geflecht zu entziehen, deutlich schlechter. Tabelle 6:

Zeitliche Deliktverteilung der Gaminger Prozesse (18. Jh.) Sexualdelikt

Eigentum

Kindsmord

Mord

Bettelei

Varia

Insgesamt

1700-1719

6

8

1

1

2

4

22

1720-1739

12

13

4

1

2

6

38

1740-1759

10

11

2

2

6

8

39

1760-1779

3

15

1

-

2

2

23

1780-1799

-

33

3

-

1

12

49

1700-1800

31

80

11

13

32

171

4

Quelle: N Ö L A , G A Gaming, Κ 1-10.

Die Aufstellung der 171 Gaminger Prozesse des 18. Jahrhunderts, nach Deliktkategorien und zeitlicher Abfolge geordnet, ergibt ein wenig einheitliches Bild. Die einzige Deliktgruppe, die durch das ganze 18. Jahrhundert im Landgericht Gaming-Scheibbs permanent und mit steigender Tendenz repräsentiert ist - soweit sich das bei der schlechten Uberlieferungssituation für Gaming sagen läßt-, sind die Eigentumsdelikte,158 in so unterschiedlichen Ausformungen wie Eisen-, Lebensmittel-, Geld-, Viehdiebstahl oder Diebstahl innerhalb des Haushaltes. Dies läßt den Schluß zu, daß das Landgericht verstärkt von den Besitzenden als Mittel der Konfliktregelung mit den Dieben benutzt wurde. Die außergerichtliche Form des informellen „gleich"-Werdens dürfte zunehmend versagt haben. Das Verfolgungsinteresse bei Sexualdelikten nahm hingegen nach 1750 stark ab; zumindest läßt sich auf landgerichtlicher Ebene kaum mehr ein Niederschlag in den Akten finden. Die ungünstige Uberlieferungssituation der Gaminger Archivalien ließ keine quantitativen Analysen zu, sodaß ich bei der Auswertung der Quellen vor allem nach qualitativen Gesichtspunkten vorgegangen bin. Der Umgang des Landgerichtes mit den Vagierenden, worunter auch die Wallfahrer subsumiert wurden, zeigt die sozialpolitische Wirkungsweise des Landgerichtes, das zunehmend auch eine Bewältigung des Armenproblems übernehmen mußte. Am Beispiel der angedrohten und auch tatsächlich durchgeführten Rekrutierungen konnte die geschlechtsspezifisch angewandte Wirkungsweise des Gaminger Strafvollzuges nachgezeichnet werden. Der Zusammenhang von Eisenproduktion und 157 N Ö L A , G A Gaming, Κ 7, Scheibbs 1784 Juli 12, Artikuliertes Verhör mit Kasimir Weiweck, 2. Antwort. 158 WETTMANN-JUNGBLUT: Diebstahl (1990) 133-177, 293-296.

Zur Wertung von Aussagen vor Gericht

97

Diebstahl wird aufgezeigt, indem die Diebe verstärkt auf diese regionale Besonderheit eingingen und das Eisenhandelsnetz geschickt für ihre Zwecke nutzten. Während die Landgerichtsakten das Funktionieren der Disziplinierungsvorgänge aufzuzeigen scheinen, wird der Widerstand dagegen auf Ebene des Marktes Scheibbs viel deutlicher spürbar und auch quellenmäßig besser greifbar. Zusätzlich zu den umfangreichen Landgerichtsakten wurde das vollständig erhaltene, wenn auch mit unterschiedlicher Sorgfalt geführte „Marktgerichtsprotokoll" des Marktes Scheibbs, einer kleinen grundherrschaftlichen „Stadt" im Voralpengebiet, für das gesamte 18. Jahrhundert als Vergleichsbestand herangezogen. Das Scheibbser „Marktgericht" befaßte sich mit der gesamten Verwaltung des kleinen Marktes. Die mit Scheibbser „Marktgericht" bezeichneten Folianten entpuppten sich als das Protokollbuch des Marktes, wo sowohl sämtliche Marktratssitzungen, aber auch bürgerliche und unterbürgerliche Streitigkeiten, die Verkündigung von neuen Patenten und andere Vorkommnisse des täglichen Lebens in der Stadt penibel vom Scheibbser Marktgerichtsschreiber eingetragen wurden. Diese Quellengattung bot sich als hervorragende Grundlage zur Sichtbarmachung von herrschaftlichen Disziplinierungsbemühungen und dem kommunalen Widerstand dagegen an. Ich habe einundsechzig Jahre des Scheibbser Marktgerichtsprotokollbuches im Volltext transkribiert (ca. 3500 Seiten im Ausdruck) und konnte dadurch die einzelnen Funktionsträger (wie Gerichtsdiener, Nachtwächter, Marktrichter oder Marktrat, Marktschreiber usw.) genau in ihrer Wirkungsweise erfassen. Am Beispiel des Marktrats, -richters und der verschiedenen Amter im Markt lassen sich die inneren und äußeren Konfliktpotentiale innerhalb und außerhalb des Marktes gut ablesen. Einzelne Konfliktfelder wie der Wochenmarkt oder die Auseinandersetzungen um Brot, Bier und Fleisch sollen die innermärktischen Bruchlinien exemplarisch aufzeigen. Es wird deutlich, auf welche Art und von wem „Herrschaft" innerhalb dieser Grundherrschaft ausgeübt wurde. Besonders die dreimal pro Jahr abgehaltenen und protokollierten „Taidinge" (Fasten-, Georgiund Michaelitaiding) und die darauffolgenden „Nachtaidinge", bei denen alle Scheibbser Bürger anwesend sein mußten, lassen viel vom Konfliktpotential Herrschaft gegen Bürger, aber auch von inner- und unterbürgerlichen Konflikten ahnen, wie im Folgenden zu sehen sein wird.

Abbildung 3: Bild der Kartause Gaming aus: Stiftsmuseum Klosterneuburg.

Kapitel IV Die Kartause Gaming im 18. Jahrhundert. Jurisdiktion und Wirtschaft

Nembt, die weil man euch gibt gern, eß kombt die zeit, das sein alleß zwenig würdt werden. Meine kinder was ich euch würdt geben, daß huet und pfleget gar eben. Anton Steyerer, S. J . 1 „Man war höheren Ortes nachgerade erstaunt, daß die Scheibbser schon wieder etwas wollten. Hatte man ihnen doch kurz vorher das zweite weiche kleine ,b' im Stadtnamen bewilligt..." Fritz von Herzmanovsky-Orlando 2

1. Grundherr und Landgerichtsverwalter Das Landgericht Gaming-Scheibbs hatte eigentlich zwei Zentren: zum einen die Eisenhandelsstadt Scheibbs 3 und zum anderen, gut zwei bis drei Gehstunden entfernt, Gaming, als Sitz der Kartause. „Es liegt dieses Karthäuserkloster im V . O . W . W . sieben Meilen südwestwärts von Melk, hinter der Ortschaft Burgstall gegen die steyerischen Gränzen, in einer von lauter hohen Bergen umschlossenen einsamen doch angenehmen Gegend, und wurde vor Zeiten Gemnik genennet." 4 1 H H S T A , Hs. weiß 43, Teil 6, fol. 393 r : P. Anton STEYERER: „Memorabilia der Cartause Gaming". Die Geschenke Albrechts waren so reichhaltig, daß die geistliche selbsten ihne mit gebührender

diemuth gebeten nachzulassen, weilen das stüfft nun gnugsam versehen wäre, denen er aber aus prophetischem geist mit volgenden in raimen nicht unartig gezogenen worthen geantworthet [...]" Zu Steyerer siehe ANTONIUS: Handschriftenabteilung (1938) 281-282; CORETH: Geschichtsschreiber (1950) 6 1 62. 2 HERZMANOVSKY-ORLANDO: Gaulschreck (1957) 49. Der Wochenmarkt von Scheibbs fand übrigens, anders als bei Herzmanovsky-Orlando angegeben, immer an einem Dienstag statt. 3 ZEDLER: Universal-Lexikon 34 (1742/1961) Sp. 1101: „Scheibs, eine kleine Stadt in UnterOesterreich nebst einem Schlosse zwischen den Flüssen Ybs und Erlaph, gehöret dem CarthäuserCloster Gemming". 4 GEISSAU: Nachricht (1782) 14-15; N Ö L A , Hs. 433 (Nachlaß Theodor Wiedemann): „Chronik der Karthause Gaming in Niederoesterreich" [freundlicher Hinweis von Lydia Gröbel]; ZEDLER:

100

Kapitel IV

Die Kartause „Marienthron" wurde am 24. Juni 1330 als Doppelkloster (24 Mönche und 1 Prior) durch Herzog Albrecht II. gegründet (Baubeginn 1332) und 1342 feierlich eingeweiht. 5 Der am 20. Juli 1358 gestorbene Stifter wurde neben seiner Gattin Johanna von Pfirt (gestorben am 15. November 1351) in der von ihnen geplanten Grablege beigesetzt.6 Die Stiftergedenktage dieses für die Kartause so wichtigen Paares beging der Konvent auch im 18. Jahrhundert dementsprechend feierlich: Item fallt auch heütigs tags der jahrtag dominae Joannae de Phirt, unnsers stüffters seel. gemahl und unsers gottshauß stüffterin, darumben auch anheünt die spend geschickt, aber ihr jahrtag würdt gehalten nach der obrigkeit guetachten und derselbe tag ist solennis, würdt auch das convent 2 mahl gespeist7 Schwierigkeiten bereitete nach der Aufhebung der Kartause 1782 die Verbringung des Stifterpaares, das in weiterer Folge in der Pfarrkirche Gaming 1797 beigesetzt wurde, nachdem sich die ursprünglichen Pläne (Wiener Stephansdom) zerschlugen.8 Seit dem 13. April 1985 liegt das Stifterpaar wiederum in der neubelebten Kartause begraben. Das Landgericht wurde der Kartause Gaming 1346 von Albrecht II. als freies Eigen geschenkt, 9 wobei das Gaminger Gerichtsterritorium aus dem Landgericht

Universal-Lexikon 10 (1735/1982) Sp. 812. „Gemming, oder Gaming, ein grosses und schönes Mönchs-Closter, Cartheuser-Ordens in Unter-Oesterreich nebst zubehörigen Flecken zwischen den Fluß Ips und Erlenbach. Es soll vom Hertzog Alberto II. dem Contracten zubenahmet, da es vor etlichen Jahren angeleget, vollends seyn ausgebauet worden, wie er dann auch darinnen nebst noch anderen Fürsten vom Hause Oesterreich begraben lieget." Siehe auch FIDLER: Klerisey (1787) 286-287. 5 Stiftbrief 1330 Juni 24, Bestätigung 1352 Februar 2; zur Gründung STELZER: Grablege (1991) 29-36; PAULHART: Kartausen Mauerbach, Gaming (1979) 279-283; DERS.: Schrifttum (1968) 129-132; GRAUSAM: Schrifttum (1968) 234-237; ZEISSBERG: Gaming (1880) 565-596. HASELBACH: Gaming (1878) 244-260; LATZKE: Klosterarchive (1938) 434-436; zu den Besitzverhältnissen 1330-1358 SPREITZ: Gaming (1929) 25-60. 6 STELZER: Grablege (1991) 31: Die Gründung der Kartause „1330 ist als Indiz für diese Schwerpunktverlagerung vom Südwesten des Reiches zu werten." 7 StiftsA Admont, Β I 78 a: „Directorium der Karthause Gaming, 18. Jh."; unfoliiert, Eintrag 15. November; Eintrag 20. Juli: Anheünt ist auch die spendt, die mesß mit dominicalischen ceremonien, die celebrirende jeder ein mesß und die nicht celebrierende mönich die 7 buespsalmen, disen tag isst man 2 mahl. Siehe auch NÖLA, Klosterakten Gaming, Κ 82, unfoliiert: In des stifters und stifterin jahrtage •wurde am Vorabend das offidum defunctorum in dem chor gebettet und dann in der früh um 7 uhr von herrn prälaten das requiem abgesungen, nach welchen alle priester samt allen pfarrvicarien, so an disen tagen erscheinen musten, die heilige messen applicierten, zumahlen wir aber vermög unseren Statuten kein Stipendium vor die messen annehmen durften, so wurde uns disen 2 tagen zu mittag und auf die nacht eine extra speis und eine halbe extra wein dafür gegeben, an denen übrigen jahrtägen, so noch angemerket sei, wurde zwar nur eine seellenmesse gelesen, doch aber musten wir alle in unseren Zellen die vesper von dem officio defunctorum betten und bekommen an diesen tagen zu mittag eine extra speis und ein seitl extra wein. Siehe auch die Einträge im Anniversarienverzeichnis bei ZEISSBERG: Gaming (1880) 575, 577. Im Refektorium des Kartause Gaming hing das portrait des stifters herzogs Albert von Oesterreich, NOLA, Klosterakten Gaming, Κ 80: Jnventanum über die mobilien undgeräthschaften zu Gaming". 8 NÖLA, Klosterakten Gaming, Κ 81, Scheibbs, 1782 November 29, Schreiben von Joseph Winter: Habe nicht gesaumet die krufft eröfnen zu lassen, in welcher sich 3 hölzerne sargen, welche dermassen marb und zum theil verfaulet seind, daß sie fast nicht beweget werden können. 9 HHSTA, Hs. weiß 23/1, fol. 49 v -50 r : Diplomatar um 1466; N Ö W III, 583: „solin si habn in ierm landgericht schrann, stokch und galgen als in andrn landgerichten im land sitlich und gewohnhait ist." Im Stiftsbrief 1330 wurde vorerst die niedere Gerichtsbarkeit verliehen; SPREITZ: Gaming (1929) 6.

Die Kartause Gaming im 18. Jahrhundert

101

Peilenstein herausgelöst wurde. 10 Das Landgericht wurde dem Kloster in Gaming, in Frankenstein, im Markt Scheibbs, in Ruprechtshofen, Oberndorf und Stinkenbrunn und auf allen dazugehörigen Gütern verliehen.11 Die Schranne mußte seit 1439 vom Markt Scheibbs (seit 1338 im Besitz der Kartause12) besetzt werden. Die Rechte des Landrichters gegenüber dem Scheibbser Marktrichter wurden genau festgelegt:13 Er durfte über rauber, diep, ubelteter, mansleke oder schadhafter, swie so der genant wer,u richten. Der Gaminger Landgerichtsverwalter amtierte im Untersuchungszeitraum im Scheibbser Schloß als dem symbolischen Sitz des Grundherrn, wohnhaft war er im Scheibbser Hofrichterhaus. Dem Landgericht Gaming-Scheibbs unterstanden in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts direkt 723 Häuser. 15 113 Häuser wurden gemeinsam mit dem Landgericht Purgstall verwaltet, die im Folgenden namentlich angeführt werden: Altenreith (19 H.), Anger (32 H.), St. Anton (17 H.), Brandstatt (55 H. gemeinsam mit Purgstall), Fürteben (26 H.), Gabel (3 H.), Ginning (28 Η.), Ginselberg (14 Η.), Gnadenberg (10 Η.), Grafenmühl (23 Η.), Gruft (34 Η.), Heuberg (14 Η., gem. mit Purgstall), Hochbruck (6 H.), Hollenstein (16 H.), Holzhüttenboden (5 H.), Holzschläge (39 zerstreute Häuser), Kienberg (37 H.), Kreuztanen (23 H.), Lackenhof (31 H.), Langau (7 H.), Lunz (55 H.), Mayerhöfl (3 H.), Miesenbach (17 H.), Mitterau 10 GlANONl: Gaming-Scheibbs (1910) 2 1 8 - 2 2 2 ; PAULHART: Gaming (1972) 27: Urkunde 1346 Mai 23 „Prior und Konvent konnten einen .Iudex provincialis' bestellen, der auf den klösterlichen Gütern dieselben Rechte ausüben durfte wie ein herzoglicher Landrichter, also auch die Todesstrafe verhängen und niemandem sonst war es gestattet, auf diesem Boden eine richterliche Funktion auszuüben oder eine rechtsprechende Amtshandlung vorzunehmen. Das war ausschließlich Sache der von Prior und Konvent erwählten Richter und Amtsleute"; siehe auch BÜTTNER: Scheibbs (1982) 68.

" STEYERER: Commentarii (1725) Sp. 55: „Idemquem Judex provinicialis, quem Prior & fratres predicti Monasterii elegerint, qui etiam Banno a nobis utitur, mortis exercendi judicia in locis & bonis subnotatis, super bonis in Gemnickh, ubi idem Monasterium situatum extitit, in Franckenstein, & in his que ad eadem bona pertinent, in foro Scheibs, & bonis ad ipsum pertinentibus, in Ruprechtshoven, & Oberndorff, & bonis ad ipsa spectantibus, in Stinchenprunne, & super bona ad ipsum pertinentia; & universaliter in omnibus dicti Monasterii bonis pro nunc habitis & acquisitis, Sc imposterum habendis ac acquirendis plenariam habeat potestatem, sive hoc sit pro hereditatibus, bonis mobilibus, jure montali, vel emphiteutico aut quocunque nomine nuncupatur; verum etiam ad omnes illos qui mortis supplicia excessu ipsorum exigente meruerint. Insuper idem judex provincialis in ipsorum judicio provinciali pretiorum, cippum, patibulumque habere debebit, tanquam in aliis judiciis provinicialibus terre nostre Austrie solitum & consuetudinarium existit." 12 STEYERER: Commentarii (1725) Sp. 4 5 - 4 6 : „und geben auch unserer Stifftunge, St. Marien T h r o n zu G e m n i c k dem Prior und dem Convent daselb des Ordens von Cartuss, in unserm Land zu Osterreich in dem Pistum zue Passau, unsern Markt zu Scheibs"; SPREITZ: Gaming (1929) 3 3 - 3 4 . A m Martinitag wurden der ganze Markt Scheibbs, Frankenstein, Oberstinkenbrunn, die Berghöfe Baden und Pfaffstätten an die Kartause geschenkt. Zu den Archivalien der Stadt Scheibbs (mit einigen Fehlern) LACKNER: Dokumentation (1993) 114-115. 13 N Ö W III, 6 1 5 - 6 1 6 , Marktrechte Scheibbs (1537): „Wir melden auch das unser genedige herschaft zu Gämingkh hie in unserm markt und purkfrid, darzue auf allen des gotshaus grünten und guetern lantgericht, stok und galgen haben und des gotshaus lantrichter über das pluet und all schedlich sach zu richten hat." Kurz bei HÖDL: Albrecht II. (1978) 114. u

H H S T A , Hs. weiß 2 3 / 1 , fol. 51 r (deutsche Ausfertigung der Urkunde von 1346).

STEINIUS: Landschematismus (1822): BD. 1: 18f„ 24f., 26f„ 68f., 178f„ 18lf, 184f., 200f„ 202f., 208f., 222f., 238f., 288f., 296f., 312f„ 316f., 318f„ 320f., 352f., 380f., 394f„ 398f., 432f.; BD. 2: 26f., 34f„ 36f., 56f., 58f., 62f., 68f„ 134f„ 224f., 232f„ 238f., 258f., 380f., 416f., 442f. Zu Steinius RAIMANN: Bestrebungen (1949) 63. Zu Gaming BAUER: Gaming (1994) und die Bildbände NlEDERBERGER, JELINEK: Gaming (1981) und SONNLEITNER: Spuren des Eisens (1992). 15

102

Kapitel IV

(20 Η.); Naschenberg (15 Η.), Nestelberg (19 Η.), Neuhaus (9 Η.), Neustift (16 Η.), Pockau (18 Η.), Scheibbs (82 Η.), Scheibbsbach (44 Η. gem. mit Purgstall), Schlapperhart (8 H.), Schöllgraben (7 H.), Seekopf (20 H.), Weißenbach (23 H.), Wohlfahrtsschlag (32 H.), Zürner (9 H.). 16 Das Landgericht Gaming kam mit der Aufhebung des Klosters 1782 an die Herrschaft Scheibbs. Die Landgerichtsgrenzen zu den umliegenden Landgerichten waren seit der Verleihung 1346 umstritten, besonders aber die gemeinsame Grenze mit dem Stift Admont (Abbildung 4).17 Grenzstreitigkeiten der einzelnen Landgerichte wie überhaupt Gebietsstreitigkeiten aneinandergrenzender Grundherrschaften waren in der Frühen Neuzeit häufig.18 Praktisch seit der Gründung der Kartause Gaming im 14. Jahrhundert waren die Gaminger Grenzen zum Stift Admont strittig. Der Admonter Stiftsarchivar P. Urban Ecker erstellte 1825 eine recht „admontfreundliche" Darstellung der Grenzstreitigkeiten zwischen Admont, Gaming und Freising. Meist ging es bei diesen Händeln um Holz-, Jagd- und Weiderechte. 19 So beschwerten sich die Admonter Untertanen der Gemeinde Landl 1603 beim Admonter Abt über den „frechen" Gaminger Schäfer, weil durch diesen ihre halter auf der Radtalben unter dem Türnstain mit schlagen tractirt und die

16 Die genauen Lokalisierungen dazu: ZH Altenreith, MG Gaming, GB Scheibbs; ZH Anger, G St. Anton, GB Scheibbs; G St. Anton, GB Scheibbs; ZH Brandstatt, StG, GB Scheibbs; ZH Fürteben, StG, GB Scheibbs; ZH Gabel, G St. Anton an der Jeßnitz; ZH Ginning, StG, GB Scheibbs; R Ginselberg, StG, GB Scheibbs; ZH Gnadenberg, G St. Anton an der Jeßnitz, GB Scheibbs; ZH Grafenmühl, G St. Anton an der Jeßnitz, GB Scheibbs; ZH Gruft, G St. Anton an der Jeßnitz, GB Scheibbs; D Heuberg, StG, GB Scheibbs; R Hochbruck, StG, GB Scheibbs; ZH Hollenstein, G St. Anton an der Jeßnitz, GB Scheibbs; ZH Holzhüttenboden, MG Gaming, GB Scheibbs; Holzschläge bei D Neuhaus, MG Gaming, GB Scheibbs; R Kienberg, MG Gaming, GB Scheibbs; ZH Kreuzthonen, St. Anton an der Jeßnitz, GB Scheibbs; D Lackenhof, MG Gaming, GB Scheibbs; ZH Langau, MG Gaming, GB Scheibbs; Mayerhöfl bei ZH Langau, MG Gaming, GB Scheibbs; ZH Miesenbach, StG, GB Scheibbs; ZH Mitterau, MG Gaming, GB Scheibbs; ZH Naschenberg, MG Gaming, GB Scheibbs; D Nestelberg [zwischen Otscher und der Erlauf gelegen], MG Gaming, GB Scheibbs; Häusergruppe Neuhaus [an der Gränze von Steyermark unweit Mariazell], MG Gaming, GB Scheibbs; D Neustift, StG, GB Scheibbs; ZH Pockau, MG Gaming, GB Scheibbs; StG, GB Scheibbs; ZH Scheibbsbach, StG, GB Scheibbs; ZH Schlapperhart, MG Gaming, GB Scheibbs; R Schöllgraben [unweit Scheibbs], StG, GB Scheibbs; ZH Seekopf, MG Lunz, GB Scheibbs; ZH Weißenbach, MG Lunz, GB Scheibbs; ZH Wohlfahrtschlag, G St. Anton an der Jeßnitz, GB Scheibbs; ZH Zürner [auf dem Berg gleichen Namens oberhalb von Gaming], MG Gaming, GB Scheibbs. 17

GlANONI: Gaming-Scheibbs

(1910) 2 2 0 - 2 2 2 ; LAMPEL: G e m ä r k e

(1886) 3 0 1 - 3 1 9 , hier

313.

Lampel identifizierte die Grasalpe mit den Hängen zwischen dem Niederen und Hohen „Marckeck" (945 und 1202 Meter) und dem Zellerbrunnbach; siehe auch HHSTA, Hs. weiß 672, fol. 10R-12R: Gaminger Archivindex (18. Jh.): Auflistung der Streitigkeiten zwischen Admont und Gaming 1340 und 1 6 0 9 , 1 4 1 6 , 1 4 6 7 , 1 6 3 2 , 1 6 6 0 - 6 2 , 1 7 1 9 . Z u m S t r e i t m i t A d m o n t 1 3 4 0 SPREITZ: G a m i n g ( 1 9 2 9 ) 3 7 - 3 9 . 18

HHSTA, Hs. blau 458, fol. 25R-43R: Streit mit Admont (1340-1646) und HHSTA, Hs. blau

4 9 2 , fol. 25R-34V; WLCHNER: A d m o n t (1878) 4 6 [1332], 58, 2 7 5 - 2 7 6 [1340], 66, 3 0 9 - 3 1 0 [1362],

71

[1368], 114, 3 9 5 - 3 9 5 [1399], 1 3 5 - 1 3 8 , 4 1 5 - 4 1 8 [ 1 4 1 4 - 1 4 1 6 ] , 1 7 9 - 1 8 0 [1450]; Bd. 4 (1880) 37, 4 8 9 - 4 9 0 [ 1 4 9 2 ] , 4 3 [ 1 4 9 8 ] , 1 3 8 - 1 3 9 [ 1 5 4 8 - 1 5 5 1 ] , 2 4 0 [ F e s t n a h m e des A d m o n t e r H o f r i c h t e r s , 1 6 0 8 ] , 2 9 4 [ 1 6 6 2 ] , Z u r F r a g e d e r A d m o n t e r L a n d g e r i c h t s g r e n z e n HASITSCHKA: L a n d g e r i c h t s g r e n z e n ( 1 9 9 5 ) 9 3 - 1 1 0 .

" StiftsA Admont Bbb 72 a, unfoliiert: Information über die zwischen den Stiftern Freisingen, Admont und Gaming strittige confin zumahl am Scheibenberg [unfoliiert]: Streitigkeiten bzw. Grenzbeschauen werden für die Jahre 1416, 1450, 1456, 1548, 1576, 1582, 1585, 1598, 1603, 1608, 1628, 163233, 1646, 1681 berichtet. Die im folgenden verwendeten Belege sind Zitate aus diesem Bericht.

Die Kartause Gaming im 18. Jahrhundert

103

ochsen abgetrieben worden seyen.20 Als am 17. August 1608 die Gaminger Ziegen abgetrieben, der Gaminger Hofjäger Urban Teufel vom landesfürstlichen Forstmeister in Eisenerz Hans Jörger eingesperrt und anschließend in Eisenerz sehr schlecht „gehalten" wurde, ließ die Reaktion der Gaminger nicht lange auf sich warten. Der gerade in Gaming weilende Admonter Hofrichter wurde im Gegenzug ersatzweise drei Tage lang eingesperrt und nur gegen Stellung einer Geisel, des Landler Bauern Joseph Zieberl, auf freien Fuß gesetzt.21 Erst die zweimalige Intervention von König Matthias (am 12. November und 20. Dezember 1608) führte dazu, daß der Landler Bauer nach mehreren Monaten am 7. März 1609 wiederum aus dem Gefängnis entlassen wurde. Aber auch weiterhin standen des öfteren gegenseitige Pfändungen von Almochsen (etwa 1628) und Pferden (1632) auf der Tagesordnung. Erst 1689 und 1719 kam es zwischen dem Admonter Abt und dem Gaminger Prior zu einem „wackeligen" Vergleich, der für Beruhigung an der Grenze sorgte. Genaue Beschreibungen sollten deshalb die Landgerichtsgrenzen möglichst „eindeutig" festlegen und wurden immer wieder vorgenommen. So geschah es auch vom 13. bis 15. Mai 1630 im Gebiet von Scheibbsbach, nordöstlich von Scheibbs. Die Landgerichtsmarkierungen wurden oft in Form eines Kreuzes in die Baumrinden geschlagen. Diese Markierung taugte allerdings nur bedingt als dauerhaftes Grenzzeichen und wurde später durch Grenzsteine ersetzt: Der landgerichtsdienner von Purgstall hat zwar ain creüz in ainem grossen piempaumb, so in des Abrahamben Fluckhen am Egg khaufrechtwisen am Zeillach steth, verwichenen herbst gehackht, weillen aber diser pierpaumb gar zu weit im Gämingischen landtgericht steth, alß ist solches wider hinweckh gehackht worden.11 Die Kreuze in den Bäumen waren aufgrund der Veränderung des Baumbestandes zweifelhafte Grenzzeichen. Die Erinnerung der „an der Grenze" ansässigen Bauern spielte bei der Erstellung der tatsächlichen Grenze eine große Rolle. Der fünfundachtzigjährige Michael Lechner, seit über sechzig Jahren in Scheibbsbach wohnend, beriebt auch, daz ohngevehr vor sechzig jähren ain petler auf disem weeg erfroren, so auf der Purggstaller seithen gelegen und aldorten in ainem weeg, so zwischen beeden eggergründt geth, begraben worden,23 Der Tod des Bettlers wird aber erst im Zusammenhang mit der Begräbnispflicht wichtig, woraus ein Rechtsanspruch des jeweiligen Landgerichtes auf Bestattung schlagend wurde. Das wird auch aus der folgenden Eintragung sichtbar: Auf disem pildtanger ist vor fünfzigg jarn ain peckhenjunger todt

20 Ebenda, 1576: Unterdessen waren aber auch die Streitigkeiten mit Gaming wieder angegangen, indem der dortige prior 56 rinder der Landler gemeinde abtreiben laßen und 6 ochsen zurückbehalten, worüber sich abt Lorenz in dem vorgenommenen bericht an die regierung beklagt. 21 JELINEK: Scheibbs (1952) 56. 22 NÖLA, HA Scheibbs, Hs 3/155, unfoliiert, Beschreibung 1630 Mai 13-15; siehe auch die Beschreibung 1630 Mai 17 dort [auszugweise]: Erstlich befündt sich am Khollegg ain /eichten, darein ain altes creüz, so wider verneüert, gehackht worden; von dann zu ainer grossen puechen darein ebenmessig ain creüz gehackht worden; von dannen wider zu ainer gemörckhten puechen; mer zu ainer feichten; wider zu ainer feichten; mer zu ainer tannen; mer zue ainer puechen; wider zu ainer tannen; mer ain puechen; mer ain puechen; wider ain puechen; mer ain puechen; mer zu ainer tannen, die den Streittrigl unnd den Gärtkhogl voneinander raint. usw. 23 NÖLA, HA Scheibbs, Hs 3/155, unfoliiert, Beschreibung 1630 Mai 13-15.

Kapitel IV

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gefunden graben

worden, haben

so die von Peillenstain,

weillen

derselbig

auf ir Seiten gelegen,

be-

lassen.1*

Ausschließlich die v o m P r i o r erwählten H o f r i c h t e r ,

Landgerichtsverwalter

u n d A m t l e u t e durften ab 1346 richterliche F u n k t i o n e n i m Herrschaftsgebiet des Klosters ausüben. 2 5 D e m mächtigen Kloster 2 6 unterstanden 1 7 8 2 zur Zeit der Aufhebung der Kartause 2 7 als G r u n d h e r r 9 1 1 untertänige H ä u s e r . 2 8 D a m i t w a r der Bestand seit 1591 u m gut ein D r i t t e l gestiegen (682 Häuser). 2 9 D i e Zahl der U n t e r t a nen ist allerdings nicht genau erhebbar. Die Zahl v o n 7 3 0 0 U n t e r t a n e n 3 0 k a n n n u r g r o b geschätzt w e r d e n , w e n n m a n bei dieser B e r e c h n u n g die durchschnittliche Belegung eines H a u s e s mit acht P e r s o n e n a n n i m m t . 3 1 D e m K l o s t e r unterstanden 1 7 8 2 die drei M ä r k t e G a m i n g , O b e r n d o r f u n d Scheibbs. D a s H o f g e r i c h t verwaltete die sechs Ä m t e r Struden, Puchberg, H e u b e r g , Jesnitz, R u p r e c h t s h o f e n u n d O b e r n d o r f . W e i t e r s besaß die Kartause die T a v e r n e u n d H o f m ü h l e zu G a m i n g , das Schlofigmejr u n d H o f r i c h t e r h a u s in Scheibbs, T a v e r n e n in J e ß n i t z , Langau, N e u h a u s u n d N u ß d o r f an der Wegscheid sowie u. a. Lesehöfe in P ö c h l a r n , Weiß e n k i r c h e n , Perchtoldsdorf, N u ß d o r f und Kritzendorf. 3 2

Ebenda. SPREITZ: Gaming (1929) 7, 45-46; hier 7: „Der Klosterrichter kann auch die Todesstrafe verhängen an den genau angeführten Gütern und Ortschaften: Gaming, Frankenstein, Markt Scheibbs, Ruprechtshofen, Oberndorf, Stinkenbrunn und auf allen anderen Gütern, die dazu gehören"; WETCHY: Scheibbs (1987) 30. 24

25

26 Zur baulichen Ausstattung der Bibliothek FISCHER: Bibliotheksprogramm (1986); DIES.: Klosterbibliothek (1987) 3 0 - 4 6 ; TROPPER: Büchersammlung (1983) 142; KLOS-BUZEK: Blumenschein (1990)213-214. 27

HOFFMANN: Gaming (1948).

Die Herrschaft Gaming bestand aus insgesamt 605 Häusern mit insgesamt 1684 Männern, 1860 Frauen, BABOR: Kindesmord (1993) 331-346; NÖLA, Klosterakten Gaming, Κ 81, Verzeichnis 1783 Februar 12. 29 HANSEN: Viertel ober dem Wienerwald (1974) 62, 154, 196, 197, 198, 202, 207, 244, 294, 333, 338. Die Kartause besaß damals 682 Häuser: Ortsobrigkeit in Gaming, Zell, St. Anton an der Jeßnitz, Puchberg, Heuberg, Struden, Oberndorf an der Melk, Siebenhirten, Kernhoff; Häuserbesitz in Ruprechtshofen (4 Vogtholden), Ramsau (GB Hainfeld), Zwernbach. 30 HOFFMANN: Die Aufhebung (1948) 41, übernommen von FEIGL: Kartause Gaming (1984) 30. Zur Stadt Scheibbs liegen keine Einwohnerzahlen vorzuliegen, erst für 1838 werden 1008 Einwohner ausgewiesen, BÜTTNER: Scheibbs (1982) 66. Nach einem Kommunikantenverzeichnis vom 19. März 1666 besuchten 408 Scheibbserinnen die Kommunion. 31 KLEIN: 1695 (1987) 96. Für die Kartause Gaming werden 3.954 Untertanen angegeben; für Ende 18. Jh. KLEIN: 1794/97 (1984) 25: Für die Gemeinde Gaming 1794/97 450 Häuser mit 2755 Einw., für den Ort selbst 72 H. mit 383 Einw.; für die Gemeinde Scheibbs 336 H. 2008 Einw., für den Ort 82 H. mit 552 Einw. 32 HASELBACH: Gaming (1878) 257; HOFFMAN: Gaming (1948) 40-50: weiters einen Freihof in Wien und zwei Häuser; einen Freihof in Baden mit 60 Joch Waldungen; sechs Meierhöfe: Seehof, Lackenhof, Langauhof, Nestelberg- und Wiedenhof, Spitalsmeierhof samt den Feldern und Wiesen; die Grundherrschaft über Markt Gaming, Amt Lunz, Markt Scheibbs sowie Untertanen in den Amtern Struden, Puchberg, Heuberg, Jeßnitz, Ruprechtshofen, Oberndorf (mit vereinzelten Untertanen in Oberstinkenbrunn, Kleinsierndorf, Hippersdorf); Weingärten (Rustikal) in Nußdorf, Kritzendorf, Hofstatt, Sierning, Petersdorf, Weingärten (Dominical) Petersdorf, Weißenkirchen; Wald im Umfang von 30.000 Joch; Fischwässer: der große, mittlere und obere Lunzersee, der Klosterteich, Ziegelmacherteich, der Hofbauer, Tröscher- und Mausrodlteich, die Erlauf drei Stunden weit und die Ybbs zwei Stunden weit. 28

105

Die Kartause Gaming im 18. Jahrhundert

A m 2 8 . J ä n n e r 1 7 8 2 w u r d e den insgesamt 2 2 Insassen des K l o s t e r s G a m i n g (18 G e i s t l i c h e u n d v i e r L a i e n b r ü d e r ) die A u f h e b u n g ihres K l o s t e r s m i t g e t e i l t . 3 3 D a s p o s i t i v b i l a n z i e r e n d e K l o s t e r G a m i n g wies 4 2 3 . 3 5 6 fl. 3 8 x r . an A k t i v v e r m ö gen bei d e r I n v e n t a r i s i e r u n g d u r c h die staatliche A u f h e b u n g s k o m m i s s i o n

auf. 3 4

D i e G e i s t l i c h e n t r a t e n alle geschlossen in d e n W e l t p r i e s t e r s t a n d ü b e r . D e r K o n v e n t b e g a n n sich l a n g s a m z u z e r s t r e u e n . M a n c h e d e r n u n m e h r i g e n W e l t p r i e s t e r blieben in G a m i n g , a n d e r e z o g e n f o r t . 3 5 D i e e i n u n d z w a n z i g Z e l l e n d e r K a r t a u s e w u r d e n bald n a c h d e r A u f h e b u n g v o n L e u t e n aus der U m g e b u n g , meist B a u e r n u n d H a n d w e r k e r n , gekauft u n d b e w o h n t . A u s s a g e n w i e die des Z i m m e r m a n n e s J o s e p h P l a n k sind n i c h t selten. Ich heiß Joseph Plank, verheurathet

und

thäuserzellen

alda, alwo ich mich

ernähre,36

ein herrschaft

Gamingscher

unterthan

und die meinigen

bin bei 60 jähr alt, und

mit meiner

ansidler

katholisch

auf einer

ka-

zimmermannsarbeit

D i e H a u p t g e b ä u d e der e h e m a l i g e n K a r t a u s e selbst verfielen rasch u n d

w a r e n a u f g r u n d m a n g e l h a f t e r A u s b e s s e r u n g s a r b e i t e n bald in s c h l e c h t e m Z u s t a n d . D e r V e r w a l t e r des K l o s t e r s , J o s e p h W i n t e r , m u ß t e m e h r m a l s seine W o h n u n g inn e r h a l b des K l o s t e r s v e r l e g e n , weil der R e g e n d u r c h das schadhaft

gewordene

D a c h in seine W o h n r ä u m e e i n d r a n g . 3 7 D i e A u f h e b u n g der K a r t a u s e b r a c h t e für die G e i s t l i c h e n eine g r o ß e Ä n d e r u n g ihres Lebensstils u n d i h r e r ö k o n o m i s c h e n Basis m i t sich. A u c h die insgesamt 1 1 5 A n g e s t e l l t e n des Stiftes sahen sich p l ö t z l i c h mit einer neuen wirtschaftlichen Situation konfrontiert.38 D e r ehemalige Grund53 Prälat Stefan Braun, 62 Jahre (aus Mistelbach, f 11. 11. 1795 in Scheibbs); Martinus Hueth, Vikarius, 42 J.; Dominikus Lang, 74 J.; Hieronymus Hebenstreit, 71 J.; Laurentius Lescovar, 66 J.; Hugo Hergeth, 59 J.; Hieronymus Wolf, 54 J.; Augustinus Wagner, 48 J.; Leopold Seyerl, 44 J.; Florianus Otto, 49 J.; Petrus Martschitz, 47 J.; Gregorius Pfisterer, Sakristan, 38 J.; Bruno Schlüßelberger, 34 J.; Johannes Obermayer, Infirmarius, 32 Jahre; Josephus Jung, Prokurator, 32 J.; Joachim Bernhauser, Subsakristan, 37 J.; Anton Liebenstein, 29 J.; Gregorius Jurgowitsch, 51 J. (f 21. Mai 1782, NÖLA, Klosterakten Gaming, Κ 81); Fr. Phillipus Penzinger, Kellermeister, 52 J.; Fr. Lukas Braun, Schneidermeister, 64 J.; Fr. Zacharius Gassner, Kuchlmeister, 65 J.; Fr. Bartholomäus Lachner, Kastner, 42 J.; Durchschnittsalter: rund 50 Jahre. Der ehemalige „Kuchlmeister" starb 1789 im Markt Scheibbs, wo auch eine Verlassenschaftsabhandlung aufgenommen wurde, StA Scheibbs, Ratssitzung 23. September 1789, unfoliiert: Zacharias Gassner, gewesten exkarthäuser seelig, dahier verlassenschaftsabhandlung. 34 HOFFMANN: Gaming (1948) 47; JELINEK: Scheibbs (1952) 71. Leider gibt es zur wichtigen Eisenstadt Scheibbs keine neuere, einschlägige Monographie. Zur Aufhebung in Aggsbach ENNE: Aufhebung Aggsbach (1977). 35 Aufenthaltsorte: MARKT GAMING (8): Hyeronimus Hebenstreit; Leopoldus Seyerl; Georgias Pfisterer; Hyeronimus Wolf; Philippus Benzinger, laybruder; Lucas Braun, detto; Zacharias Gassner, detto; Bartholmeus Lachner, detto; SCHEIBBS (3): Stephanus Braun, prälat; Laurentius Lescovar, Hugo Hergelt·, SCHEIBBS KAPUZINERKLOSTER (2): Dominicus Lang; Josephus Jung; RETZ: Martin Hueth; MARIAZELL: Bruno Schlisslberger; PFARRHOF FERSCHNITZ (MG, GB Amstetten): Florianus Otto; PFARRHOF LUNZ: Petrus Martschitz-, HOHENRUPERSDORF (MG, GB Gänserndorf): Augustinus Wagner; GRAZ: Antonius Liebenstein; WIEN: Johannes Obermayer·, ST. ANTON IN DER JESSNITZ: Joachimus Bernhauser; NÖLA, Klosterakten Gaming, Κ 81, Verzeichnis 16. Juli 1782. 36 NÖLA, GA Gaming, Κ 9, Gaming, 1788 Juli 8, Artikuliertes Verhör mit Joseph Plank, 1. Antwort. BLUMENBACH: Landeskunde, Bd. 2 (1834) 323: „nur die 26 Zellen der Carthäuser, zu deren jeder ein Garten gehört, bestehen noch und sind an Bauern vergeben"; EPPEL: Eisenwurzen (1968) 29: Reisetagebuch Kaiser Franz I. (1810) - „Gaming: Die Karthaus fallt schon zusammen; das Dach ist schlecht, Fenster fehlen viele, sehr schade ist es". Zur Nachnutzung des Klosters FUCHS: Aufgehobenen Kloster (1967) 34-41. 37 BECKER: Ötscher, Bd. 2 (1860) 125-126. Zur Person Beckers BECKER: Becker (1990) 1-22. 38 FEIGL: Kartause Gaming (1984) 30.

106

Kapitel IV

Schreiber Joseph Winter wurde vorerst zum Interimsverwalter und später, mit Dekret vom 4. September 1783,39 zum neuen Verwalter der Staatsherrschaft Gaming bestellt. N u r das notwendigste Personal wurde von der nunmehrigen Staatsherrschaft weiterbeschäftigt. 40 Während das Scheibbser Marktgerichtsprotokoll die Aufhebung der Kartause und den Wechsel der Marktherrschaft mit keinem Wort erwähnt, waren andere Personen in viel stärkerem Maße davon betroffen. Der Laborant der Gaminger Stiftsapotheke Joseph Hürber, ein fünfundsechzigj ähriger, lediger Mann, war über die vorgenommene Klosteraufhebung völlig verzweifelt: Nachdeme also nunmehro die löbliche karthaus aufgehoben worden und somit auch seine kosten und lohn aufgehört, ist dieser entleibte in beständiger kumernuß herumgegangen, sich ohne eines weiteren erhangen bei der Refektoriumsstiege. 41 Der Administrator Joseph Winter ließ den Selbstmörder vom Strick abschneiden und erbat weitere Anweisung. Der Landrichter Johann Paul Royß fügte in seinem Schreiben an das Kreisamt hinzu, daß der Selbstmörder daz spittal sehr fürchtete,42 Man ließ ihn nach einigen Wirren - kristlichen gebrauch nach - ehrlich zur erde bestatten. 43 Die Stiftsherrschaft wurde nach der Aufhebung in zwei Herrschaften geteilt (Gaming, Scheibbs), das Landgericht kam an die Herrschaft Scheibbs. Die dem Religionsfonds gehörige Staatsgüterherrschaft Scheibbs wurde am 12. 9. 1826 um 63.000 Gulden an Ignaz und Luise Müller, Hausbesitzer in Wien, und schließlich 1829 weiter an die Familie Ritter von Sallaba verkauft 44 (bis 1849), nachdem es seit 1789 und verstärkt 1817 gestattet war, Staatsgüter (Staats- und Fondsgüter zusammen) zu veräußern. 45 Die Kartause Gaming mit den großen Wäldern veräußerte man 1826 um 162.000 fl. an den Grafen Albert Festetics de Tolna. Das Gaming-Scheibbser Archiv wurde im Zuge der Verkäufe erneut aufgeteilt und in seinem Gesamtzusammenhang endgültig zerstört.

39 HOFFMANN: G a m i n g (1948) 78. Auf H o f f m a n n basierend WINNER: Klosteraufhebung (1967) 110-116; KOVÄCS: A u f h e b u n g (1984) 1-17. 40 HOFFMANN: G a m i n g (1948) 79: 1 Verwalter; 1. Amtsschreiber, 2. Amtsschreiber; 1 Oberförster; 1. Junge; 2. Junge; 1 Jäger; 2 Binder; 1 Hausknecht; 1 Fischermeister; 1 Torwärter; 3 Viehhalter; 2 Nachtwächter; 1 Postbote; 1 Uhrmacher; 2 Wegmacher zu Scheibbs und Gresten; 1 Schulmeister zu G a m i n g ; 1 Schulmeister zu St. Anton. 41 N Ö L A , G A G a m i n g , Κ 7, G a m i n g , 1782 April 6, Summarische Aussage des Stiftsapotheker Gabriel Oswald. Z u m A p o t h e k e r HOFFMANN: G a m i n g (1948) 38. 42 N Ö L A , G A G a m i n g , Κ 7, Scheibbs, 1782 April 9. Im Reskript des Kreisamtes St. Pölten (St. Pölten, 1782 April 15) wurde dekretiert, daß er falls es nicht ohnehin schon beschehen, kristlichen gebrauch nach ehrlich zur erde bestattet werden solle. 43 N Ö L A , G A G a m i n g , Κ 7, St. Pölten, 1782 April 15, Reskript des Kreisamtes. Z u Streitigkeiten u m die Bestattung von Selbstmördern LEDERER: A u f r u h r (1994)189-209. 44 BLUMENBACH: Landeskunde, Bd. 2 (1834) 336. 45 BRUSATTI: Staatsgüterveräußerungen (1958) 267.

ALTSCHLOSS

PLANKEN-

PURGSTALL

STEIN

ο St.

Anton

Kienberg Ο

Gaming Trübenbach

Lunz

ο

Lutjzer

Lackenhof

See

Neuhaus

Maßstab 1:300 000 1 cm « 3 lau 0 1

3

6 ι

9 ι

12 km 1

Abbildung 4: Landgericht Gaming-Scheibbs nach: ALFRED GRUND, KARL GlANONl: Atlas Österreichischer Alpenländer, I. Abt.: Landgerichtskarten, 2. Teil: Niederösterreich (Wien 1910). Kartographie: Christine Unger.

108

Kapitel IV

2. Eisen- und Provianthandel „Dahin gehört der jährliche Verlust beim Proviant, 46 welchen die Hauptgewerkschaft zufolge eines alten Kontraktes von drei österreichischen Märkten: Scheibs, Burgstall und Gresten, um den Wochenmarktspreis und gegen wohlfeiler geschlagenen Flossen abnimmt und sodann den Arbeitern nach einer beinahe 200 Jahre alten Taxe hinausgibt." Kajetan Franz von Leitner 47 D i e G e g e n d u m G a m i n g und Scheibbs ist wirtschaftlich in der F r ü h e n N e u zeit neben der Landwirtschaft wesentlich durch Proviant- und Eisenhandel geprägt. Zusätzlich spielte die H o l z w i r t s c h a f t (siehe etwa O r t s n a m e n wie H o l z h ü t tenboden) u n d die H o l z s c h w e m m e eine bedeutende Rolle. D a s H o l z entlang der steirischen G r e n z e und im Gebiet u m den Otscher wurde z u m H o l z r e c h e n oberhalb Pöchlarns geflößt und v o n dort auf Schiffe nach Wien verladen. 4 8 D e r Proviant· u n d Eisenhandel führte über drei Straßen v o n Innerberg (Eisenerz), also auf der nördlichen Seite des in der F r ü h e n N e u z e i t europaweit gerühmten Erzberges, 49 in R i c h t u n g N o r d e n : eine Straße v o m E r z b e r g über Eisenerz nach Steyr, die zweite ü b e r Weyer und G a f l e n z nach Waidhofen an der Y b b s . D e r Großteil des streng reglementierten Innerberger Eisenhandels 5 0 wurde aber über die Stadt Steyr abgewickelt. 5 1 Hauptabsatzgebiete des Innerberger Eisens waren neben B ö h m e n (via Freistadt) besonders Osterreich ob und unter der Enns. 5 2 D e r seit 1584 in Steyr amtierende E i s e n o b m a n n sollte gemeinsam mit den Eisenüberreitern und d e m L u n z e r „Schnallensperrer" im gesamten nieder- und oberösterreichischen 46 SCHEUCHENSTUEL: Hüttensprache (1856) 184: „Proviant, jene Lebensmittel, Getreide, Schmalz, Speck u. dgl., womit die Berg- und Hüttenarbeiter von ihrem Dienstherrn gegen Abrechnung von dem verdienten Lohne betheilt werden." 47 LEITNER: Reise (1983) 152. 48 BLUMENBACH: Landeskunde, Bd. 2 (1834) 83. Im 19. Jahrhundert zusätzlich: „der berühmte gräflich Festetics-Eszterhazysche Holzaufzug bei Maria Zell, mittels dessen das Holz aus der Salza gehoben und in den Bereich der Erlaf gebracht wird." Als Beispiel auch das Patent der an Wolf Adam Großrucker und Franz Josef Giegl verliehenen Holzschwemme auf der Erlauf von 1745 C A V, 178179 [Wien, 1745 August 11], das diejenigen Übeltäter bestrafte, die Schwemmholz stehlen wollten. Siehe auch die immer wiederkehrenden Schwierigkeiten des Marktes Scheibbs mit dem Schwemminhaber Giegl StA Scheibbs, Kreisbotenankunft 24. Mai 1758, fol. 42 r mit einer Republizierung des Patentes von 1745 oder der Schwemmholzkontrakt des Marktes Scheibbs von 1760, siehe ebenda, Ratssitzung 7. Juli 1760, fol. 125 r . 49 BERGWERCKS-LEXIKON (1730) 630: „Der Steuermärckische Stangen-Stahl, in langen vierekkigten Stangen, ist der beste unter allen, und ist demjenigen, welcher aus Schweden kömmt, weit vorzuziehen." 50 Eisen-Ordnung, 1660 August 12, das gegen die „verbottenen ungewöhnlichen Abweeg[en]" Stellung nimmt: C A I, 318-320. Wiederholung des Patents von 1559, 1569, 1574, 1590, 1602, 1605 und 1621. 51 Z u m Streit Steyr mit Waidhofen FRIESS: Sensengewerke (1911) 147-148. Siehe auch die Karte von CSENDES: Historischer Bergbau (1971). 52 PANTZ: Hauptgewerkschaft (1906) 70-82.

Die Kartause Gaming im 18. Jahrhundert

109

Grenzgebiet darüber wachen, daß dort ausschließlich mit Innerberger Eisen gehandelt wurde und illegaler Handel mit Leobner Eisen unterblieb.53 Die dritte und für Scheibbs wirtschaftlich54 wichtigste Handelsstraße führte über Lainbach, Mendling und Göstling nach Gaming und Scheibbs sowie in weiterer Folge nach Purgstall bis zur Dreimärkte-Eisenladestadt Pöchlarn. Diese Dreimärktestraße (Abzweigung in Wieselburg nach Gresten) spielte eine wesentliche Rolle in der Proviantversorgung des Erzberges bzw. in der Eisenversorgung der sogenannten „Eisenwurzen".55 Der Säumerweg über den Mendlingpaß wurde ab 1544 unter Ferdinand I. gemäß einem Patent (Wien, 1544 August 2)56 zu einem Wagenweg, genannt der „neue Weg", ausgebaut, der um 1561 fertiggestellt wurde.57 Die Scheibbser Marktordnung von 1574 spricht diese neue Straße in der Instruktion deutlich an und benennt auch deren konkrete Bedeutung für den Erzberg: Der jeweils am Dienstag stattfindende Markt habe gemainem nuz zu guettem unnd sonnderlich dem Indern Eisenärzt zu merer provianttierung geraichen unnd khumen solle, darumben auch weillendt khaiser Ferdinandt unnser geliebter herr unnd vatter hochlöblichister und säligister gedächtnuß durch die Menndling ain wagenweg mit sonderm dargewennten uncosten machen lassen.™ Die Aufwendungen für die kostspielige Aufrechterhaltung dieser Straße trug vorerst als „ewige Ausgabe" das Innerberger Amt. Mit der Errichtung der dortigen Hauptgewerkschaft 162559 übertrug man die Erhaltung der Straße den Provianthändlern von Scheibbs, Purgstall und

53

SCHMIDT: Berggesetze, 3. A b t h . / 1. Bd. (1839) 34-35 [ N r . 17], R e s k r i p t 1371 A p r i l 22: „ W ü r e m p f e l c h e n E u c h v n d wollen gar ernstlich d a ß Ihr k h a i n Eisen, w e d e r v o n B ö h a m oder v o n P a y e r n d u r c h U n s e r L a n d t f u h r e n lasset, d a n n allain U n s e r Eisen a u ß d e m Eisenärzt, alß es v o n alter herk h o m b e n ist."; BlTTNER: Eisenwesen (1901) 611-612; PANTZ: H a u p t g e w e r k s c h a f t (1906) 32; SANDGRUBER: P r o v i a n t h a n d e l (1971) 246-252; TREMEL: F r ü h k a p i t a l i s m u s (1954) 111. 54

Z u m e r b i t t e r t e n Straßenstreit zwischen Freistadt u n d Leonfelden KAINDL: S t r a ß e n v o r r e c h t

(1960) . 55

Z u m Begriff BlTTNER: Eisenwesen (1901) 461-462; KRISTEN: Eisenstraße (1937) 12; SANDGRUBER: P r o v i a n t h a n d e l (1971) 16-20 [ Z u s a m m e n f a s s u n g bei KUSTERNIG: E i s e n w u r z e n (1987) 3-76]; NAGL: Eisenstraßen (1969) 49; CSENDES: Straßen Niederösterreichs (1966) 250-251. Siehe auch d e n V o r t r a g v o n POPELKA: A l p e n s t r a ß e n (1956) 3-10; OTRUBA: V e r k e h r s w e s e n (1988) 69-74. 56 SCHMIDT: Berggesetze, 3. A b t h . / 1. Bd. (1839) 257-259 [ N r 68]: „ E u c h ist u n v e r p o r g e n in was b e s c h w e r l i c h e n abfal, die Löblich G o t s g a b u n n s e r , Eisen P e r c h w e r c h , in u n n s e r m F ü r s t e n t h u m b Steier k u m e n ist, dos nit die wenigist ursach, die v e r t h e u r u n g der P r o f a n n t , das auch das Kol in die feer u n d weit, v o n den Pergen k u m b e n , U n n d n u n m a l s m i t Z w i f a c h e m costen h i n t z u e b r a c h t w e r d e n m u e ß . D e r h a l b e n w i r u n n s Z u e r h a l t u n g solcher gnadenreicher Gotsgab, u n n d v e r h ü e t u n g m e r e r u n n d e n n t l i c h e r erligung derselben [...] gnedigclich enntschlossen. Z u Reifling n o c h ainen R e c h e n , Dergleic h e n d u r c h die M ä n n d l i n g ainen fart u n d wagen weeg z u m a c h e n . [...] das Ir Z u m a c h u n g angetzaigts wegs d u r c h die M ä n n d l i n g , w a n n Ir d u r c h u n n s e r n A m b t m a n , u n n d in s o n n d e r h a i t dartzue v e r o r d e n t paumaister, m i t E u r hilff u n d R o b a t e r f o r d e r t werdet, ain zimbliche u n n d erschüesliche hilff u n n d Robat t h u e t , u n n d ertzaiget." 37 MAYER: P r o v i a n t h a n d e l (1910) llOff.; hier 111: „durch die M ä n n d l i n g ainen fart v n d w a g e n weeg z u m a c h e n " ; FRIESS: Scheibbs (1878) 236; KRISTEN: Eisenstraße (1937) 15f.; BlTTNER: Eisenwesen (1901) 566-575; PlRCHEGGER: Eisenwesen (1937) 46. 58 H H S T A , H s . w e i ß 696, fol. insgesamt 28 r -32 v , hier fol. 28 r : Neue kbayserliche markhtordnung zu Scheibbs, W i e n , 1574 M ä r z 1; siehe auch fol. 30 r : [...] das mit dem schmalz grosser betrug und falsch gebraucht wirdt, welches sonderlich den armen arbaittem im Indem Eisenärzt unnd bei den hamerwerchen, die sollich schmalz theuer bezallen müessen unnd nit genüessen khünnen, zu schaden khombt. 59 Z u r I n n e r b e r g e r H a u p t g e w e r k s c h a f t PANTZ: H a u p t g e w e r k s c h a f t (1906); SANDGRUBER: Eis e n p r o d u k t i o n (1974) 72-105.

110

Kapitel IV

Gresten. Trotz der bäuerlichen Verpflichtung zu Zug- und Handrobot 60 gelang es aus Geldmangel nicht, die Dreimärktestraße in guten Zustand zu bringen.61 Die Trennung der erzfördernden und eisenverarbeitenden Betriebe war wesentlich in der Schwierigkeit begründet, ausreichend Lebensmittel und Brennstoffe (Holzkohle) für die Eisenverarbeitung heranzuschaffen. Das Gebiet der Erlauf wurde schon im 15. Jahrhundert den Radwerken von Innerberg als Provianteinkaufsbezirk zugewiesen.62 Ein höchst kompliziertes System von Rechten und Verpflichtungen der Eisenproduzenten gegenüber den Händlern bzw. umgekehrt entstand. Sogenannte Eisen- und Provianthändler übernahmen den Transport der Lebensmittel nach Innerberg und den Rücktransport des gut schmiedbaren Abfalleisens in die „Eisenwurzen". 63 Dieses sogenannte Provianteisen (Hardt, Graglach64 und Waschwerk65) bildete die Gegenfracht der Provianthändler. Erstmals in einem Patent vom Ende des 15. Jahrhunderts (Linz, 1490 Juni 16) wird die Proviantwidmung des Erlauftales für den Erzberg genannt.66 Aufgrund der „merklichen Mängel wegen der täglichen Nahrung und Speiss" wurden einzelne Landesteile wirtschaftlich ausschließlich zur Versorgung der Bergwerksorte gewidmet: „Vorder- und Innerberg im Lendl, Gallenstein gehn Gaming um Waidhofen, Teuperk, Tagöst den nideren Muhr Boden und alle thäller darzwischen." 67 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts 68 bildete sich der Widmungsbezirk vollständig aus (Vorstufe Fürkaufsverbot auf dem „Gäu"69): „das ist 4. Meil umb Scheibs / 60 GÜTTENBERGER: Straßenwesen (1928) 244. Bettler, Taglöhner, Militär und Verurteilte wurden zu Instandhaltungsarbeiten angehalten. Zur Instandsetzung der Straßen aus politischen Gründen (Krönungsreisen) KREITMAYR: Verkehrswesen (1949) 128-146. Siehe H H S T A , Hs. blau 474, als Beispiel die Gravenmülner ruth, anno 1631, fol. 287 r : im November 2 tag wöge macht, 1 mensch; 289 r : in November 2 tag wöge macht, er-, 29 l r : in November 2 tag wöge macht, er; 293 r : in November 2 tag wöge macht mit 2 oxen, 1 diern-, 295': in November 1 tag wöge macht, 1 mensch, den andern tag selbe und 2 oxen; 297 r : in November 1 tag er allein in weeg machen, den andern tag er mit 2 oxen\ usw. 61 Siehe die fortgesetzten Klagen, die bei Daniel von Moser eingetragen sind, KRISTEN: Eisenstraße (1937) 32-59; Patent von 1761 Juli 24 mit der Aufrichtung von Wegschranken in Wieselburg, Purgstall und Wang zur Lukrierung der Ausbesserungskosten der Straße Kolm - Wieselburg - Purgstall - Scheibbs und Wieselburg - Gresten bei GÜTTENBERGER: Straßenwesen (1928) 274. 62 BLTTNER: Eisenwesen (1901) 496-500; SANDGRUBER: Widmung (1977) 193ff.; MAYER: Provianthandel (1910) 128-139; KURZ: Eisenhandel (1939) 8-18; PlCKL: Eisenhandel (1984) 350-351; VALENTIN1TSCH: Eisenverarbeitendes Gewerbe (1984) 219-220. Allgemein EPPEL: Eisenwurzen (1968) 9 50. 63 Für Waidhofen SEMELLECHNER: Sensenerzeugung (1972) 158-198. 64 BlTTNER: Eisenwesen (1901) 490-491 und im Zusammenhang mit Eisenguß 557-558; ΡΑΝΤΖ: Hauptgewerkschaft (1906) 8-9; SANDGRUBER: Provianthandel (1971) 5-8. 65 Z u m produktionsbedingten Anfall von Abfallsorten APFELKNAB: Floßöfen (1986) 69-82. 66 MITTERAUER: Zollfreiheit (1969) 318; SCHMIDT: Berggesetze, 3. Abth. / 1. Bd (1839) 66-68 [Nr. 37]; 228 [Nr. 63] (Amtsordnung Eisenerz 1539 August 31 „Die perg mit profanndt vnd notdurfft aus den Töllern zu versehen"); 420-422 [Nr. 81] (Patent von 1552 Juli 26) [ Ö N B 59 G 50], 67 SCHMIDT: Berggesetze, 3. Abth. / 1. Bd. (1839) 67. 68 Widersprüchliche Angaben bei SANDGRUBER: Provianthandel (1971) 59. Z u r N e n n u n g des Viermeilenbezirkes im Patent 1575 März 7, siehe die Inserierung im Patent 1593 O k t o b e r 1, H H S T A , Hs. weiß 696, fol. 45 v -54 v : Gennerall der vier meill weegs herumben unnd anderes ordtnung mehr betrefend. 69 H H S T A , Hs. weiß 696, fol. 37 v -41 v , Gäuordnung Wien, 1578 O k t o b e r 31: [40r] Uber das seien wir genedigclich, das alle angesessne undterthannen auf diesem lanndt herenthalb der Thonau, sonderlich im viertl ob Wiennerwaldt, so roßzüg haben, auch bekhanndt seyn, über ir aigen anbautt traidt vonn anderen, sovil was sy selbß vonn iren aigenen zügen fueran khinnen, khauffen, unnd auf Scheibß, Waidt-

111

D i e Kartause Gaming im 18. Jahrhundert 3. M e i l u m b S t e y e r u n d W i n d i s c h - G ä r s t e n /

3. Meil u m b W a i d h o f f e n an der

Y b ß . " 7 0 D e r S c h e i b b s e r P r o v i a n t b e z i r k u m s p a n n t e als ä u ß e r e G r e n z e die L i n i e v o n M e l k bis Y b b s , d a n n - der Y b b s e n t l a n g s t r o m a u f w ä r t s - W a i d h o f e n , Y b b sitz, O p p o n i t z u n d H o l l e n s t e i n bis z u r M e n d l i n g ; f e r n e r r e i c h t e er der h e u t i g e n G r e n z e e n t l a n g bis z u m U r s p r u n g d e r P i e l a c h u n d entlang derselben bis z u d e r e n M ü n d u n g . 7 1 D a s W o c h e n m a r k t g e n e r a l v o n 1 5 9 5 listet genau 3 5 H e r r s c h a f t e n auf, die i n n e r h a l b d e r „vier M e i l e n " des Scheibbser B e z i r k e s gelegen u n d deshalb z u m Scheibbser M a r k t gewidmet waren: Gaming, Gresten, Hausegg, Reinsberg,

Er-

negg, Senftenegg [ R Senftenegg, G F e r s c h n i t z , G B A m s t e t t e n ] , F r e y d e g g ,

Per-

warth,

Steinakirchen

am Forst,

Weissenburg,

Strannersdorf,

Weinzierl,

Haus

[ R , G e m . St. H a u s , G B M a n k ] , W i e s e l b u r g , P e t z e n k i r c h e n , Säusenstein, W o c k i n g , L i n d t e g g , P ö c h l a r n , W e i c h s e l b a c h , W o l f p a s s i n g , M e l k , S o o ß , Z e l k i n g , St. L e o n h a r d t , K i r n b e r g an der M a n k , K i r c h b e r g an d e r P i e l a c h , M ä m m i n g , Kilb, R a n z e n b a c h , R a b e n s t e i n an der P i e l a c h , M a l l e t h e i n , P l a n k e n s t e i n , H ü r m , W e i ß e n b u r g an der P i e l a c h . 7 2 D i e s e O r t e sollten ausschließlich d e m Scheibbser W o c h e n m a r k t als i h r e m z e n t r a l e n M a r k t o r t zuliefern. D i e Scheibbser, aber a u c h G r e s t n e r

und

P u r g s t a l l e r B ü r g e r sollten n u r i h r e n u n m i t t e l b a r e n H a u s b e d a r f , die s o g e n a n n t e „ H a u s n o t d u r f t " (1 Scheffel S c h m a l z u n d 1 M e t z e n G e t r e i d e p r o W o c h e ) , k a u f e n . 7 3 hoffen unnd den Innernberg des Eisenärzts duch den neuen weg die Mendling, wie von alter herkhomen, zubringen oderzufueren mögen. Siehe auch das Generalmandat Wien, 1595 Oktober 3, fol. 42 r -45 r . 70 CA I, 318. Patent Wien, 1660 August 12. Ein Exemplar des Codex Austriacus scheint übrigens auch im Inventar der herrschafftscanzley in Scheibbs auf, NOLA, Klosterarchiv Gaming, Κ 83, Gaming, 1782 März 5 und befindet sich im heutigen Stadtarchiv Scheibbs. 71 MITTERAUER: Zollfreiheit (1969) 323; CA V, 374: „Erstens hat der drey Proviantmärktische oder Scheibbsereisen- und Proviantdistrikt seinen Anfang enthalb der Ybbs im Voit, und von dannen in die Mendling, und aus derselben über das Gebirge gegen den Ursprung des Bielachflußes, und längst dessen bis solcher unterhalb Mölk in den Donaustrom einfällt, von dannen diesem Strohme nach aufwärts bis an den Ybbsfluß, und längst der Ybbs bis Waydhofen, denn Uisitz, Oppanitz und St. Georgen im Rait bey Gollenstein, daß also alle zwischen diesen beeden Flüssen Bielach und Ybbs liegende Klöster, Schlösser, Städte, Märkte, Dörfer, Frey- und Edelsitze, Mühlen, Bräu- und Wirths- auch einschichtige Häuser (den gewöhnlichen Wochen- und Jahrmärkten zu Mölk, wie bishero, jedennoch unpräjudicirlich) schuldig und verbunden seyn, das Gekörn, und alles ander Proviant der Eisenwurzen zuzuliefern." Zum Waidhofener Eisenbezirk FRIESS: Sensengewerke (1911) 152. 72 KRISTEN: Eisenstraße (1937) 69-70 [HKA, N Ö HA, Ε 61/C, Nr. 410]; siehe auch SANDGRUBER: Provianthandel (1971) 40-42: S Ernegg, MG Steinakirchen am Forst; D Freydegg, MG Ferschitz, GB Amstetten; MG Gaming, GB Scheibbs; MG Gresten, GB Scheibbs; Burg Hausegg, G Gresten, GB Scheibbs; G Hürm, GB Mank; MG Kilb, GB Mank; MG Kirchberg an der Pielach, GB St. Pölten; D Perwarth, MG Randegg, GB Scheibbs; S Strannersdorf, GB Mank; St. Haus, G Kälberhart, GB Mank; StG, GB Melk; MG Petzenkirchen, GB Ybbs; S Plankenstein, GB Mank; StG Pöchlarn, GB Melk; ZH Ranzenbach, MG Kilb, GB Mank; G Reinsberg, GB Scheibbs; D Säusenstein, GB Persenbeug; D Sooß, G Hürm, GB Mank; MG St. Leonhard am Forst, GB Mank; G Kirnberg an der Mank, GB Mank; S Senftenegg, MG Ferschnitz, GB Scheibbs; MG Steinakirchen, GB Scheibbs; D Weichselbach, G Ritzengrub, GB Mank; D Weinzierl, G Wieselburg, GB Scheibbs; Ruine Weißenburg, G Frankenfels, GB Kirchberg an der Pielach; StG Wieselburg, GB Scheibbs; D Wocking, GB Ybbs; G Wolfpassing, GB Scheibbs; D Zelking, GB Melk. 73 MAYER: Provianthandel (1910) 129, Marktordnung für Scheibbs 1574 März 24; HHSTA, Hs. weiß 696, fol. 28V [datiert mit 1574 März 1!]: als Petenten der Marktordnung traten auf [···] unnd so dann dem Indem Eisenärzt deßgleichen den dreyen werckhstetten, der hämer-, huef- und naglschmidt zu Scheibbß, Gresten und Gäming an beruertten wochenmarckht vüll gelegen. Zur Handwerksordnung der Scheibbser Hammer-, Nagel- und Hufschmiedemeister und -gesellen Scheibbs, 1536 Dezember 21, NÖLA, HA Scheibbs, Hs. 3/155, unfoliiert.

112

Kapitel IV

Überschüssiges Schmalz sollte auf dem Markt „allein fuer daß innerpergerisch Eysenwesen den Ordnungen gemäß"74 eingekauft und danach über den neuen Weg (Mendling) nach Innerberg verhandelt werden. Die Wochenmärkte von Waidhofen, Weyer und Windischgarsten waren den Innerberger Hammermeistern zugewidmet und damit verpflichtet, „das jährlich contrahirte Proviantquantum in leidentlichem Preiße aufzubringen, und gegen Eisen der Innerbergischen Hauptgewerkschaft einzuliefern".75 Eine zusätzliche Einnahmequelle stellte der Salzhandel dar, wobei das Ausseer Salz allmählich das Gmundener Salz verdrängte. 76 Erst 1571 wurde der Scheibbser Widmungsbezirk auch dem Ausseer Salz gewidmet.77 Die reichen Scheibbser Provianthändler (im 17. Jahrhundert 8, später 12 Bürger78) ließen durch ihre Lohnfuhrleute Proviant gegen Eisen auf der Basis von fixen Preisrelationen Lebensmittel/Eisen, den erstmals seit 1625 aufgekommenen sogenannten Proviantakkorden, liefern.79 Der Anteil des Marktes Scheibbs am Dreimärktehandel mit der Gewerkschaft betrug 3/8 des gesamten Handelsvolumens, auf Purgstall und Gresten entfielen je 5/16. Die dreimärktischen Provianthändler selbst bezogen unterschiedliche Mengen von der Innerberger Hauptgewerkschaft: Es gab 6er, 12er und 18er Handlungen, also Händler, die beispielsweise 6 Zentner Graglach oder Waschwerk aus Innerberg wöchentlich bezogen und verarbeiten lassen mußten. 80 Die Eisenhändler brachten das Provianteisen in die dreizehn Großzerrennhämmer, die sich an verschiedenen Orten in Mendling, Hollenstein, Göstling oder Lunz befanden. 81 Ursprünglich trieben die Zerrennhammermeister selbst direkten Handel mit den Innerberger Radmeistern, was ihnen mit dem Proviantgeneral von 15. Jänner 1602 verboten wurde. In der Folge wurden ausschließlich die 74

MAYER: Provianthandel (1910) 130; PANTZ: Hauptgewerkschaft (1906) 56-59. C A V, 375. 76 SRBIK: Salzwesen (1917) 119-120, 192-193. Das Ausseer Salz war seit 1531 in N Ö gestattet. Zur Lage in den 1620er Jahren PANTZ: Hauptgewerkschaft (1906) 18. Siehe H H S T A , Hs. weiß 696, fol. 49 r (Vier Meilen Patent, Wien, 1593 Oktober 1): [...] damit also allen diejbennigen samer, so daz trait nit gen Aussee oder den eisenwessen, sonnder anderer orthen verfieren, gänzlihen außgerottet unnd von der strassen hienweckh gebracht werden. 77 MAYER: Provianthandel (1910) 144. Salzpatent 1571 März 20. Die Ausseer und Admonter Säumer durften Salz gegen Getreide handeln. Z u m Kampf Ausseer mit G m u n d n e r Salz 177-180; SEEFRIED: Gresten (1933/1982) 39; MITTERAUER: Zollfreiheit (1969) 333-335. Z u r Proviantkonkurrenz Innerberg - Aussee PANTZ: Hauptgewerkschaft (1906) 116-118. 78 Tabellen der Händler in Scheibbs, Purgstall und Gresten bei SANDGRUBER: Provianthandel (1971) 168. Z u m Einfluß der Eisenhändler auf die Stadt Scheibbs siehe etwa die Liste der Marktrichter bei JELINEK: Scheibbs (1952) 118-120, und die Liste bei SANDGRUBER: Provianthandel (1971) 278280. 79 PANTZ: Hauptgewerkschaft (1906) 55-56; SANDGRUBER: Widmung (1977) 195. Die Proviantakkorde legten die Menge des zu liefernden Eisens für die Provianthändler fest und bestimmten die Tauschrelation Proviant gegen Eisen. Bis 1770 wurden 113 „Akkorde" abgeschlossen, anfänglich für sechs, später für vier, drei und zwei, im 18. Jahrhundert für ein Jahr, SANDGRUBER: Provianthandel (1971) 121-122. 80 FRIESS: Scheibbs (1878) 243; SANDGRUBER: Widmung (1977) 197; DERS.: Provianthandel (1971) 166. 81 SANDGRUBER: Provianthandel (1971) 179-198; KALLBRUNNER: Kleineisenindustrie (1937) 158-161. Für die Steiermark PlRCHEGGER: Eisenwesen (1937) 120-138. 75

Die Kartause Gaming im 18. Jahrhundert

113

Proviant- und Eisenhändler damit beauftragt. Die Provianthändler übergaben den Zerrennhammermeistern gemäß dem Prinzip des Stichhandels eine bestimmte Menge Roheisen und erhielten im Verhältnis von 2 : 1 dafür das in Stäbe geschlagene Eisen. Ein Viertel des Roheisens galt als Feuerhintangang, das letzte Viertel mußte den Eisenhändlern zu einem festgesetzten Satz abgegeben werden. Das Bestreben der Zerrennhammermeister war die Aufhebung des Widmungssystems und des Zwischenhandels. 82 Die vierzehn dreimärktischen Kleinhammerschmiede im Erlauftal (Scheibbs, Gaming, Gresten) verarbeiteten die Produkte der Zerrennhämmer weiter. Sie stellten vor allem bäuerliche Investitionsgüter her, etwa Radreifen, Faß-, Pflugeisen, Pflug- und Achsbleche. 8 3 Diese fertiggestellten Güter wurden wiederum von den Eisen- und Provianthändlern verlegt, das heißt weitergehandelt. Die verarbeiteten Eisenwaren wurden zu den Niederlagen in Melk, St. Pölten oder Wien weitergebracht. 8 4 Die Eisenverarbeitung war hochspezialisiert: So stammten Sensen, Sicheln und Strohmesser aus Waidhofen, Opponitz und Gaming, Randegg oder Türnitz; Pfannen aus Lunz, Gresten und Purgstall; Nägel von Scheibbs, Gaming und Waidhofen; Messer und Feilen aus Waidhofen und Hacken von Ybbsitz. Diese qualitativ sehr hochwertigen Güter wurden selbst in so entfernten Gegenden wie Rußland oder Polen gehandelt. 85 Die äußerst problematische langfristige Preisbindung von Eisen an die schwankenden Lebensmittelpreise führte zu großen Problemen und wechselweiser Benachteiligung verschiedener Teilnehmer dieses Systems. D i e divergierenden Interessen spielten bei der Aufhebung des Widmungssystems eine Rolle; die „Manufakturisten" waren an billigen Rohstoffen interessiert, während die Rad- und Hammergewerken den Eisenpreis möglichst hoch halten wollten. Die Provianthändler waren im Gegenzug bestrebt, billiges Eisen für ihre möglichst hoch bewerteten Waren einzutauschen. 86 In den Patenten des 16. Jahrhunderts wird die Korrelation von hohen Lebensmittel- und hohen Eisenpreisen bereits angesprochen. [...] daz eben allermaist durch daz schmalz, daz eisen entgegen von der würzen und den zrenhamerschmiden muß erhandlt werden und, wan das schmalz nit zu bekhumen oder dasselb zu aufschlag und Verteuerung khumbt, hingegen den nechsten eisenstaigerung volgen oder woll auch die ganze eisensazung auf dem Scheibser khraiß in potten fallen miesste und khain gewisse eissensazung zu erhalten ware, daran doch unnsern lanndt Osterreich under der Ennß sehr vill gelegen ist.87 Die Interessen der Arbeiter, der Lebensmittelproduzenten, der Eisenhersteller und der Händler zielten in verschiedene Richtungen und waren aufgrund der Interessenskonflikte immer schwerer unter einen Hut zu bringen. A m 29. Dezember 1781 wurden alle PANTZ: Hauptgewerkschaft (1906) 114ff.; BRANDL: Eisenhändler (1965) 171-176. BlTTNER: Eisenwesen (1901) 571-573; SANDGRUBER: Provianthandel (1971) 199-208; DERS.: Eisenproduktion (1974) 87. 84 KÄSER: Eisenverarbeitung (1932) 15. 83 FRIESS: Scheibbs (1878) 238; zum Sensenhandel SEMELLECHNER: Sensenerzeugung (1972) 271-328, Beilage 47; FRIESS: Ferntransport (1936) 162-168. 86 Bericht von Karl von Zinsendorf (1739-1813) für Kärnten RAINER: Zinsendorf (1960) 2 5 8 330. 87 H H S T A HS. weiß 696, fol. 52 v -53 r : Gennerall der vier meill weegs herumben unnd anderes 82

83

ordtnung mehr betrefend.

114

Kapitel IV

Verschleißwidmungen und Preissatzungen „zum allgemeinen Besten, und zu möglichster Beförderung der Industrie in Unsern Erblanden nützlich" aufgehoben. 88 Es stand den Händlern ab diesem Zeitpunkt frei, Eisen und Stahl überall in den Erbländern nach eigenem Gutdünken zu kaufen.89 Der Niedergang der Scheibbser Eisenhändler, aber auch der Kleineisenindustrie hatte damit unweigerlich begonnen. Neue industrielle Techniken - die Errichtung der ersten österreichischen Eisen- und Schwarzblechfabrik (Walztechnik!) durch den findigen Unternehmer Andreas Töpper (1786-1872)90 - bahnten sich ihren Weg und ließen die in viele Sparten diversifizierte Kleineisenindustrie allmählich verschwinden. 91 Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg sperrten im Scheibbser Gebiet von den 43 eisenverarbeitenden Kleineisenbetrieben 32 zu, weil auch hier die fabriksmäßige Erzeugung der Produkte Platz gegriffen hatte.92

88

N Ö L A , kaiserliche Patente, ungebundene Reihe, Wien 1781 Dezember 29. SANDGRUBER: Widmung (1977) 210; DERS.: Provianthandel (1971) 253-275; DERS.: Ökonomie (1995) 184-190; KURZ; Eisenhandel (1939) 92-98. 90 WAWRIK: Töpper (1952) 73-97; BERTHOLD: Töpper (1987) 77-99. " 1784 gab es Hammer-, Nagel-, Neiger- und Kupferschmiede in Scheibbs mit insgesamt 200 Beschäftigten, 1835 existierten noch 8 Eisenhämmer und 17 Nagelschmiede, BÜTTNER: Scheibbs (1982) 67; BACHINGER: Kleineisenindustrie (1968) 44-62, 85-91. n BACMNGER: Kleineisenindustrie (1968) 236-239. 89

Kapitel V Das Gaminger Hof- und Landgericht im 18. Jahrhundert 1. Konkurrierende Disziplinierungsgewalten im grundherrschaftlichen Markt. Der Hofrichter als verlängerter A r m und obachtsames Auge des Stadtherrn Die Arbeit des Gaminger Hofrichters gliederte sich in drei Arbeitsbereiche: Er war in grundherrschaftlichen sowie jurisdiktioneilen Angelegenheiten tätig, daneben überwachte er aber auch sorgfältig die kirchliche Disziplinierung seiner ihm anvertrauten Untertanen. 1 Als der höchste weltliche Beamte der Kartause Gaming zeichnete er für die zahlreichen grundherrschaftlichen Aufgaben in Rechts- und Verwaltungsangelegenheiten, darunter auch das Landgericht, zuständig. 2 Das Amt beinhaltete die weltliche Vertretung der Kartause nach außen und die stellvertretende Ausübung der grundherrschaftlichen Gewalt nach innen. Er übte für den Prälaten bzw. die Kartause die niedere Gerichtsbarkeit über alle Gaminger Stiftsuntertanen außerhalb des Burgfriedsbezirkes des Marktes Scheibbs aus.3 Die umfassende soziale Kontrolle der Scheibbser Einwohner im Sinne von Herrschaftsausübung 4 in der Praxis wurde wesentlich von ihm getragen, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Zur Charakterisierung seiner Tätigkeit seien nur wenige Beispiele angeführt: Der Hofrichter befahl in seiner polizeilich-sozialpolitischen Funktion die „Abschaffung" von vagierenden Bettlern im gesamten Gebiet der Kartause. Weiters schrieb er dem Marktrat die Einrichtung eines märktischen Bettelrichters als eigenes bürgerliches Amt vor. 5 Gleichzeitig leitete 1 Z u m Tätigkeitsbereich des Lambrechter Hofrichters BECKER: Leben (1990) 17-27 und für St. Paul NEUMANN: Klostermärkte (1997) 245-246, 249. Teile des Kapitels V.l erschienen als SCHEUTZ: Konkurrierende Disziplinierungsgewalten (1999) 54-64. Zur bisher kaum erfolgten Anwendung des Konzeptes der Sozialdisziplinierung für die Stadt VOCELKA: Stadtgeschichtsforschung (2000) 33. 2 LAUFS: Hofämter (1978) Sp. 197. Zum umfangreichen Tätigkeitsbereich des Admonter Hofrichters Martin Hörman von Polzenstein siehe die Hofrichterordnung vom 23. April 1689 bei WlCHNER: Admont (1880) 635-641 [Nr. 703] und TOMASCHEK: Admont (1993) 72-75 [in verkürzter Form], 3 Grundsätzlich FEIGL: Grundherrschaft (1998) 219-220; FRESACHER: Hof (1959) 365-375. 4 LÜDTKE: Herrschaft (1991) 9-63, bes. 12-18. Mit einem Forschungsüberblick zu „Herrschaft" HOHKAMP: Herrschaft (1998) 11-25. 5 StA Scheibbs, Ratssitzung 26. Mai 1719, fol. 30 r_v : Wegen der bettlet: Umb die unbefuegten bettler und herumblauffer zu verschieben, somit mit herrn hoffrichter, zu Vorkehrung des behörigen, zu unter•

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Kapitel V

er die ab 1722 jährlich in ganz Niederösterreich stattfindende Generalvisitation und die anschließenden Bettlerschübe, an denen sich die Scheibbser Bürger ebenfalls verpflichtend beteiligen mußten. 6 Daneben administrierte er auch die Steuervorschreibungen für den Markt Scheibbs oder leitete die Rekrutenaushebung der Stände an den Marktrat weiter. 7 Der längstdienende Hofrichter war Andre Adalbert Zink (1708-1749) 8 mit einer über vierzigjährigen Berufserfahrung, im Dienstalter gefolgt von Karl Lorenz Raich (1752-1773) mit über 21 Dienstjahren in dieser Position. 9 Jeder Hofrichter bildete - wie aus den Unterschriften der landgerichtlichen Verhörprotokolle zu ersehen ist - seinen Nachfolger selbst aus, indem er einen actuarius juratus an seiner Seite hatte, der die „Schreiber"- und Konzeptionsdienste versah. 10 Dieser „actuarius" folgte in fast allen Fällen dem Hofrichter im Amt nach. Die angehenden Hofrichter lernten ihr Handwerk durch langjährige Assistententätigkeit, also vorwiegend aus der Praxis. 11 Die Gaminger Hofrichter präsentieren sich dem Betrachter, wie aus dem Vorangestellten schon deutlich wird, als sehr erfahrene Beamte, welche lange Jahre vorbereitend in untergeordneter Position tätig gewesen sein mußten, um dieses umfangreiche und arbeitsintensive Pensum bewältigen zu können. 12 Das hohe Hofrichtergehalt betrug 300 Gulden im Jahr und wurde vierteljährlich mit jeweils 75 Gulden ausbezahlt. reden-, ähnlich Ratssitzung 26. August 1740, fol. 195v: Bettlrichter betreffend. Zur Gründung der Polizeihofstelle 1749 MAYER: Polizeiwesen (1986) 77-84. 6 Michaelipantaiding 28. September 1722, fol. 74 v : Generalvisitation die herumbvagterende leüth betreffend: Herr hoffrichter hat vermög vorgelesenen landtsfürstlichen befelch anennneret, daz wegen zigeüner, abgedankhten soldathen, bettlern, diennem und anderen vagirenden leüthen im ganzen landt eine generalvisitation und zwahr auf künfftigen mittwoch veranstaltet seye [...] daz auf beschehene ansaag ermelten herm markhtrichters jedes hauß ihre mannschafftsleüth, wohin selbe biß nacher Wang werden beordert werden, unwaigerlich stehlen solle. Zum Schubwesen auf normativer Ebene REITER: Ausgewiesen (1997) 72-95. 7 Als Beispiel StA Scheibbs, Ratssitzung 10. Dezember 1745, fol. l l l v : Werbung pro anno 1746 betreffend: Herr marktrichter relationirt, wißmassen er gestern mit einigen rahtsmitglidern beym hofgericht gewesen, ihnen herr hofrichter das werbpatent (innhalt welchen von 20 hauß ein mann zu ende January negst eingehenden jahrs gestellt werden solle) abgelesen, anbey bedeutet hatte, daz er vor den marckht keinen mann stellen könte und wolte, weillen ihme in vorigen Werbungen durch einige burger die zu Soldaten taugliche leuth vertuschet worden wären. Siehe auch Fastennachtaiding 17. März 1721, fol. 56 r ; grundsätzlich zur Aushebung ZlMMERMANN: Militärverwaltung (1965) 96-127. » NÖLA, HA Scheibbs, Hs. 3/53, 32r, Hofrichterrechnung 1749 Dezember 31. 9 Das wird deutlich aus einem Pensionsstreit der Witwe des verstorbenen Hofrichters Karl Lorenz Raich mit dem neuen Amtsinhaber, NÖLA, Klosterakten Gaming, Κ 83, Scheibbs, 1783 April 18: Die Witwe suchte 1783 um gnädige pension an. Ihr Mann Karl Lorenz Raich seelig (welcher durch 21 jähr bey dem stifft Gamming hofrichter zu Scheibs gewesen) durch 2 Ά jähr eine pension von jährlich 50 fl. genossen, solche ihr aber als dann aus blosser gehässiger abneigung des dermalligen hofrichters herm Johann Paul Rcryß nicht mehr gereicht worden ist. 10 Joseph Leopold Pachinger ist seit 1737 als „Actuarius juratus" (seit 1732 als Beisitzer) nachweisbar, Royß seit 1750, Wedl ebenfalls seit 1750, Gschaider seit 1786. Lediglich Karl Lorenz Raich taucht vor seiner Bestellung zum Hofrichter weder als Aktuar noch als Zeuge in den Gaminger Landgerichtsprotokollen auf. " Zur nach Anforderung gestaffelten Beamtenausbildung in der 2. Hälfte des 18. Jhs., die allerdings für das Land- und Hofgericht Gaming noch nicht wirksam wurde, HEINDL: Rebellen (1990) 98. 12 Die in der Folge angeführte Amtsdauer der Gaminger Hofrichter und LG-Verwalter lassen sich nur aufgrund der Nennungen im Marktgerichtsprotokoll, der Hofrichterrechnungen und der Unterschriften in den Landgerichtsakten erschließen.

D a s G a m i n g e r H o f - und Landgericht i m 18. Jahrhundert

Tabelle 7:

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Gaminger Hofrichter (Amtszeit)

Hofrichter

Amtszeit

ZACHARIAS JOSEPH DIETMAYR

4. Juli 169613 - 170814

ANDRE ADALBERT ZINK

1708-1749 15

JOSEPH LEOPOLD PACHINGER

15. Jänner 1750 - 30. Juni 1752 16

KARL LORENZ RAICH

Dezember 1752 - November 1773 17

JOHANN PAUL ROYSS

1774 - September 1784

PAUL WEEDL

Februar 1786 - März 1789

JOHANN MICHAEL GSCHAIDER

April 1789 - November 1796

Quelle: NÖLA, GA Gaming.

Der bedeutende Rang des Hofrichters innerhalb des Marktes und der Klosterherrschaft Gaming wird am Beispiel der Konduktordnung anläßlich der Begräbnisse des Scheibbser Stadtherrn besonders augenfällig: Als der Gaminger Prälat Joseph Kristelli am 13. August 1739 verstarb, mußte der Markt Scheibbs ebenso wie der Markt Gaming verpflichtend Teilnehmer für den zwei Tage später stattfindenden Trauerkondukt stellen. An der Spitze dieses in Gaming abgehaltenen Trauerzuges gingen zuvorderst Schulkinder sowie die zum Gebet verpflichteten Insassen des Gaminger Spitals,18 gefolgt von mehreren Stiftsuntertanen und Bauern, die mit gelben Kerzen geschmückt einherschritten. Unmittelbar danach kamen der Gaminger Kartäuserkonvent und die beiden Marktrichter von Gaming und Scheibbs sowie der Stiftsjurist, der agent Bernard. Der Leichnam des Stadtherrn wurde von sechs Scheibbser Bürgern des inneren Rates in tieffer klag getragen.19 Die rangmäßig besonders wichtige erste Stelle nach der Leiche nahm bezeichnenderweise der Hofrichter als der oberste weltliche Beamte des Stifts ein, erst dann folgten die übrigen Beamten der Kartause, weiters der Scheibbser Marktrat und ein zwölfköpfiger „Ausschuß" der Scheibbser Bürgerschaft, als „pars pro toto" der gesamten Bürgerschaft.20 Der Hofrichter hatte in diesem zere13 StA Scheibbs, Ratssitzung 4. Juli 1696; zu Johann Dietmayr, Gaminger Hofrichter zwischen 1. Juli 1667-1696 und Vater des berühmten Melker Abtes, HOLLY: Dietmayr (1949) 5ff.; JELINEK: Scheibbs (1952) 60. u Für 1702 JELINEK: Scheibbs (1952) 64. 13 NÖLA, HA Scheibbs, Hs. 3/53, 32r, Hofrichterrechnung 1749 Dezember 31. 16 NÖLA, HA Scheibbs, Hs 3/56, 26v, Hofrichterrechnung 1752 Juni 30; HHSTA, Hs. 672 (weiß), fol. 184v: Archivindex 18. Jh.: Hofrichter Pachinger eidliche Versicherung über seine Verwaltung de anno 1750; Hofrichter Pachinger instrukzion für den hofrichter de anno 1750. 17 NÖLA, Klosterakten Gaming, Κ 83. 18 Dazu als Vergleich WANKER: Judenburg (1993) 140-142; NAGLIS: Murau (1994) 56. 19 Zur zeremoniellen Reihenfolge beim Begräbnis des Georgenberger Abtes Adolf 1704 NAUPP: Bestattung (1997) 151. 20 Eintrag ins Ratsprotokoll, 13. August 1739, fol. 178v: Den 15. Augusti 1739 seynd hochgedacht ihro hochwürden und gnaden herr Josephus Kristelli von Bochau, praelath zu Gäming seelig, zur erden bestattet worden, worhey folgende Ordnung beobachtet worden: lm°: Giengen die schull- und andere kinder; 2Die spitäller zu Gäming; 3"°: die unterthanen und bauem mit gelben kertzen; 4'": Das löbliche convent; 5°: Herr marktrichter alhier und der herr marktrichter von Gäming zwischen ihnen aber herr agent Bernard; Die leich, welche in tieffer klag von herm Albert Fritsch und Friderich Michael Stilpp, herrn Lieder, Hillerprandt, Nidermayr et Schmelzler getragen wurde; 7"m°: Herr hoffrichter; 8Die canzleyverwandte nebst dem appothecker; 9ηο: Der Scbeibbserische magistrat nebst einen ausschuss von der burgerschafft, 12 persohnen in der klag gleichfahls mit weissen kertzen. Nach vollendter function seynd samentlich

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Kapitel V

monieilen „Tod des Mächtigen" seinen festen Platz unmittelbar nach den sterblichen Uberresten des Stadtherrn. Die Anwesenheit des Hofrichters beim Kondukt unterstrich auch den grundherrschaftlichen Herrschaftsanspruch der Kartause über seine Stiftsuntertanen.21 Alle Klosteruntertanen waren damit symbolisch bei diesem Trauerzug um die sterblichen Uberreste des Stadtherrn vereint.22 Der obrigkeitliche Zugriff des Hofrichters auf die Bewohner des Marktes war äußerst vielschichtig. Seine Kontrolle über das Alltagsleben der Scheibbser reichte weit. Der schlechte Zustand der ungepflasterten Marktgassen, die phasenweise im Morast versanken,23 erforderte ebenso die Aufmerksamkeit des herrschaftlichen „Auges" wie die frei herumlaufenden Schweine der Scheibbser24 oder die Überwachung des Jagdverbots. 25 Der Hofrichter war auch für die Einteilung der Robottage zur Erhaltung der Straßen in und um Scheibbs zuständig.26 Die Preiskontrolle über das verkaufte Fleisch lag zwar beim Marktgericht, doch scheint der Hofrichter immer wieder aktiv in die Preisgestaltung eingegriffen zu haben.27 Der eigentliche Ursprung dieser hofrichterlichen Interventionen kann aber nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden. Es läßt sich aus den Marktgerichtsprotokollen häu-

von markht Scheibbs anwesende tractiret worden. Zur abhollung und herausführung seynd vom closter zwey wägen geschickt worden. Der T o d des Prälaten Benedikt 1702 fand keinen Niederschlag im Scheibbser Marktgerichtsprotokoll. Auch der Tod des letzten Prälaten und ehemaligen Stadtherrn Stefan Braun (11. November 1795), der in Scheibbs nach der Aufhebung der Kartause lebte (und etwa durch einen Brand vom 1. Dezember 1792 in seiner Wohnung aktenkundig wurde), wird nicht im Marktgerichtsprotokoll erwähnt. Siehe auch KRAFT: Einzug (1936) 22-25 und WINKELBAUER: Untertanen (1990) 44. SCHULZ-BOURMER: Repräsentation (1997) 368-372. Variierte Konduktordnung vom 2. Oktober 1757, fol. 9r~v, T o d des Prälaten: seynd seine hochwürden und gnaden herr Johann Baptist Jerum, praelath zu Gäming, vor mittag im herren seelig verschieden. Requiescat in pace: Den 3m Octobris 1757 seynd [...] zur erde bestattet worden, worbey folgende Ordnung beobachtet worden: lm°: Gingen die schuel- und andere kinder mit ihrem creuz voraus; 2io: Die spitahler von Gäming; 3"°: Die löbliche carmeliter bruderschaft von Gäming; 4t0: Die [...] capudner, sodann daz löbliche convent der cartheüseren; 5'°.· Die herrn pfarrgeistlichen, sodann die fratres von der carthaus; (>": Herr marktrichter von Scheibbs, zwischen herrn ricbter von Gaming und Oberndorf mit weisen kerzen; /""": Die leich von inneren rath zu Scheibbs getragen und von 6 Gaminger bürgern mit brüder rocken und windlichtem versehen; Herr hofrichter und übrige herren stüfft officier; 9"": 6 äussere rathsherren nahmens gesammt burgerschafft zu Scheibbs mit kerzen; lff"°: Die samentlichen unterthanen N.: Hiebey ist zu mercken, daß die hiesige rathsfreund mit 4 wägen auf des closter spesen dahin und zuruck befördert und zu mittag dortselbst tractirt. 21

22

StA Scheibbs, Ratssitzung 16. August 1723, fol. 82r~v: Säuberung der markhtgässen betreffend. Ebenda, Ratssitzung 14. September 1741, fol. 229 r : Herr hofrichter proponiret, weiters lmo daß seine hochwürden und gnaden müßfallete, daß selbe vernehmen müeste, daß sonn- und feüertag und die ganze wochen die salva venia schwein in marckht, ja sogahr in freidhof und gmäuer umlauffeten, mithin dem raht befehleten, solches abzustellen; Auch JUNG: Verwaltungsgeschichte (1968) 42-43. 23

24

25 StA Scheibbs, Georginachtaiding 19. Mai 1740, fol. 19l r : Rehe und hasen betreffend: Hoffgerichts decret, de dato 2. currentis, inhalt dessen verbotten worden, daß niemand ein reh oder hasen zu fangen, zu schüessen oder zu erkauffen sich unterstehen solle. 26 Ebenda, Ratssitzung 11. September 1728, fol. 190 v -191 r : Weegreparation: (TitlJ herr obercommissarius verlanget zu wissen, wie und auf waß weis die burger zu Scheibbs in der Wegreparation ihre 6 robathtäg verrichtet haben. Resolution: Solle mit herrn hoffnchter eine unterredung gepflogen werden. 27 Ebenda, Ratssitzung 21. September 1739, fol. 1 7 Γ : Das rindtfleisch ist auf Verordnung des hoffgerichts per 4 xr. das pfund auszuhackhen ihnen erlaubet worden. Außerdem mußte der „Fleischkreuzer" der Fleischhauer, eine Pachtabgabe, an die Herrschaft abgeführt werden: Zum Fleischkreuzer-Streit Ratssitzung, 26. Februar 1717, fol. 375 r_v .

Das Gaminger Hof- und Landgericht im 18. Jahrhundert

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fig nicht klären, ob der scheinbar nur „ausführende" Hofrichter oder doch der Stadtherr selbst hinter den hofrichterlichen Befehlen stand. Aktenkundig wird meist nur der Hofrichter und nicht der Prälat. Der scheinbar omnipräsente Hofrichter überwachte gemeinsam mit dem Scheibbser Pfarrer alle Aktivitäten des Marktrichters und -rates. Deutlich wird das etwa, als der Gaminger Prälat als Stadtherr am Abend des 25. Juli 1702 überraschend das Scheibbser Rathaus gemeinsam mit den beiden genannten Begleitern inspizierte: Alles gezaiget und in Augenschein genomben worden so wohl in der rathsstuben, anderen zimmeren alß herunten in der canzley und markhtschreiber wohnung.2' Der Person des Hofrichters bzw. Landgerichtsverwalters als verlängertem Arm des Marktherrn kam daher für den Patrimonialmarkt Scheibbs eine wichtige Rolle zu. Neue Inhaber des Hofrichteramtes mußten dem Marktrat vom Stadtherrn im Scheibbser Schloß, dem Symbol des Stadtherrn, präsentiert werden. 29 Die zahlreichen Kompetenzkonflikte zwischen Markt- und Hofrichter werden auch in Rangfragen deutlich, etwa als man dem Prälaten Stephan Braun bei der Rückkehr vom Generalkapitel am 23. Juni 1768 im Markt Scheibbs mit allen Ehren die Aufwartung macht: Direkt vor dem Kirchentor führten der Gaminger Hofrichter und der Scheibbser Marktrichter gemeinsam und doch gegensätzlich in ihren differierenden Kompetenzbereichen die reyhen der Scheibbser Bürger an.30 Ende des 17. Jahrhunderts versuchte der Stadtherr den Scheibbser Marktrat verstärkt unter seine Kontrolle zu bekommen. Der Prälat schlug 1696 dem Scheibbser Marktrat scheinbar arglos vor, den langjährigen Hofrichter Johann Antonius Dietmayr, den Vater des späteren Melker Abtes, in allen rathssessionen 28 Ebenda, E i n t r a g ins M a r k t g e r i c h t s p r o t o k o l l 25. Juli 1702, fol. 138 r : mit rotten und weissen weinn bediennet worden, die solchen willig angenomben, ihro römisch kayserlich auf königliche mayestät etc. etc. und dero gerechten waffen [Spanischer Erbfolgekrieg], wie auch herrn N. richter und eines ehrsamen raths gesundtheit getrunckhen, diße aufwarthung mit gnaden angenomben [...] auch die neuerpaut stainene stiegen sehr gerüemet und eines ehrsamben raths gemachte einrichtungen herzlich aestimiret, Gott der herr segne weüther. 29 StA Scheibbs, Ratssitzung 15. J ä n n e r 1750, fol. 240 r : ist herr Joseph Bachinger, der dem löblichen stüfft schon 17 jähr als hoffschreiber und hofineister gedienet, von seiner hochwürden und gnaden (titl) praelat in gmäuer einer ehrsamen burgerschafft als ordinari richter vorgestellet [...] worden. Diese Stelle ist auch einer der seltenen H i n w e i s e auf d e n Bildungsweg b z w . die vorherige Tätigkeit der G a m i n g e r H o f r i c h t e r , die v e r m u t l i c h nicht aus Scheibbs selbst s t a m m t e n , z u m i n d e s t lassen sich d e r e n N a m e n n i c h t i m M a r k t g e r i c h t s p r o t o k o l l u n t e r den Bürgern nachweisen. Siehe die Präsentation eines n e u e n H o f r i c h t e r s i m „Tagebuch" des L a m b a c h e r Abtes Maximilian Pagl: „ D e n 21. [April 1716] habe ich J o h a n n F r a n z C a r l E r b f ü r einen H o f r i c h t e r d u r c h den H o f s c h r e i b e r A n d r e a s Messerer d e n e n U n t e r t h a n e n vorstellen lassen" bei EILENSTEIN: Pagl (1920) 84. Z u r ambivalenten P o s i t i o n v o n H e r r schaftsverwaltern KN1TTLER: K o r r u p t o d e r innovativ (1999) 275-289. 50 StA Scheibbs, E i n t r a g ins R a t s p r o t o k o l l 23. J u n i 1768, fol. 124r~v: R ü c k k e h r des Prälaten v o m Generalkapitel n a c h seiner E r n e n n u n g z u m Generaldefinitor: Seine hochwürden und gnaden schon gegen Mörgenstetten annahet, welches auch von dem kürchenthum gesehen worden, so hat man alsogleich angefangen mit allen glocken zu läutten, die poller bständig abzufeuren, (titl) seine hochwürden herr pfarrer Andreas Emerenz nebst zweyen leviten erwarthet die höchst erfreüliche ankunfft in ganzen kürchen apparat, (titl) herr hoffrichter Lorentz Raich und der dermahlige herr marcktrichter Ferdinand Praunseys fangen gleich ausser den kürchhofthor die reyhen an und ist jeder burger in mantl erschinen. D e m n e u e n Lambacher A b t Maximilian Pagl w i r d nach seiner I n f u l a t i o n u. a. v o n den L a m b a c h e r Bürgern aufgewartet: „16. A p r i l [1705] bin ich v o n L i n z nach H a u s gereist u n d auf d e m Platz v o n der in G e w e h r s t e h e n d e n Bürgerschaft, i m H o f aber v o m löblichen K o n v e n t e m p f a n g e n u n d n o c h m a l s in der A b t e i m i t einer zierlichen lateinischen R o d c o m p l e m e n t i e r e t w o r d e n . " [EILENSTEIN: Pagl (1920) 18],

Kapitel V

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und anderen bürgerlichen zusamenkhunfften beiwohnen zu lassen.31 Der langgediente Hofrichter sollte dem Marktrichter lediglich vorgehen und des clossters interesse besser mesßen. Der Marktrat reagierte auf diesen verstärkten Zugriff des Stadtherrn auf die erworbenen bürgerlichen Freiheiten entrüstet und wies dieses Ansinnen, das den Marktrat zu einem Exekutivorgan des Stadtherrn gemacht hätte, entschlossen zurück. Die Anwesenheit des alten Hofrichters wäre nach Ansicht der Marktrates in Wahrheit gannz unnoth und von darumben sein, weillen dißes wider daz uhralte herkhommen?2

nicht thuenlich zu

Die dominante Mittlerstellung des Hofrichters zwischen dem Gaminger Prälaten als Stadtherrn und dem Markt Scheibbs erschwerte die Arbeit des untergeordneten Marktrichters beträchtlich. Unmittelbar nach der Wahl führte der Hofrichter in Vertretung des Stadtherrn und als Ausdruck der übergeordneten Instanz den neu gewählten Scheibbser Richter im Anschluß an die feierliche Messe in die Scheibbser Ratsstube und präsentierte den durch den Prälaten bestätigten Marktrichter offiziell der Bürgerschaft. 33 Der Scheibbser Marktrichter wußte genau, daß er nur in besonders wichtigen und alle Bürger gemeinsam betreffenden Angelegenheiten offen und erfolgreich gegen den Hofrichter agieren konnte und ordnete sich deshalb strategisch immer wieder in weniger essentiellen Punkten unter. Die herumlaufenden Hunde und Schweine waren dem Hofrichter ein ständiger Dorn im Auge und er wies 1734 den Gerichtsdiener an, alle im Markt streunenden Hunde erschießen zu lassen.34 Mit dieser Anordnung war zwar der Marktrichter nicht einverstanden, aber er forderte den Marktrat aus taktischen Überlegungen dezidiert zum Nachgeben auf, damit aus dieser sach keine weithläuffigkeit entstehet,35 Die Beziehungen zum Hofrichter waren einerseits durch ständige Spannungen belastet, andererseits versuchte man von beiden Seiten ein gutes Einvernehmen herzustellen. Als der Gaminger Hofrichter Andre Adalbert Zink 1717 heiratete, lud er pflichtschuldig den Marktrat zu seiner Hochzeit ein, woraufhin 31

StA Scheibbs, Eintrag ins Scheibbser Marktgerichtsprotokoll 4. Juli 1696, fol. 22 v . Ebenda, fol. 23 v : [...] weillen dißes wider daz uhralte herkhommen, den 48 jahrigen vergleich, der bey eüer gnaden beschehenen instalation uns gethanen gnädigen Vertröstung und denen anno 1687 gnädig ergangenen regierungs verlass (in welchen von einer solchen neuerung oder anwaldts Vorstellung nicht daz mündeste begriffen), lauffet also in underthänigen bestendig hoffen und glauben wollen, mann werde uns mit dißer so unerhört beschwärlicben, gross außsehenten novitet nicht allein gnädig verschonen (weillen wür ein solches ohne ewigen fluech unnßerer nachkhomen nicht zuelassen können) sondern unnß villmehr alß ehrsame leuthe und gethreue underthanen allzeit in der gnaden erhalten, alß die wür nichts anders gedenkhen ohne beysein derlay anwäldt in immerwehrenter underthänigener threue zu verhaaren und in solcher unßer leben zu endten. 32

33

StA Scheibbs, Ratswahl 10. September 1744, fol. 48 r : Die richterwahl ist anheint von ihro hochwürden und gnaden herm praelaten in gmäur ordentlich vorgenohmen und der raht folgender gestalt besezt und nach den in der löblichen Pfarrkirchen alhier abgesungenen Te Deum Laudamus durch herm hoffrichter in die rahtstuben eingeführt und der ehrsamen burgerschafft vorgestellet, auch derselben auferlegt worden, denen die gebührende ehr und gehorsamb zu erzdgen [danach folgt die Ratsbesetzung]. Als Fallbeispiel OPLL: Herrschaft (1983) 14-15. 34

Z u m P r o b l e m der Hundehaltung WEISS: P r o v i d u m (1997) 89-90. StA Scheibbs, Georginachtaiding 21. Mai 1734, fol. 35 y : Herr marktrichter bringt vor, waßmassen er vernehmen habe, daß herr hoffrichter dem diener befohlen hatte, alle im marckht befindliche hundt zu erschiessen; er seines orths hätte zwar solches verbotten, damit aber aus dieser sach keine weithläuffigkeit entstehet, ist die ehrsame burgerschafft hiemit ermahnet worden, die hund hinweg zu thuen. Siehe auch ROTH: Schwanberg (1986) 161 und CERWINKA: Handwerkerehre (1997) 89-90. 35

Das Gaminger Hof- und Landgericht im 18. Jahrhundert

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z w e i M a r k t r ä t e nebst e i n e m G e s c h e n k dafür abgestellt w u r d e n . 3 6 D e r S c h e i b b s e r Hofrichter

verfügte zusätzlich

w ä h r e n d der F r e i u n g s z e i t

des

Magdalena-Jahr-

m a r k t e s (zwei W o c h e n v o r u n d n a c h d i e s e m T a g ) 3 7 die G e r i c h t s b a r k e i t i m gesamt e n M a r k t Scheibbs, w a s i m m e r w i e d e r z u Streitigkeiten m i t d e m M a r k t g e r i c h t , v o r allem bei der E r s t e l l u n g v o n I n v e n t a r e n , 3 8 f ü h r t e . D e r S c h e i b b s e r M a r k t r i c h t e r u n d d e r M a r k t r a t (das marktgericht)

besaßen im

M a r k t die Z u s t ä n d i g k e i t ü b e r die sehr u n s c h a r f f o r m u l i e r t e niedere G e r i c h t s b a r k e i t 3 9 i n n e r h a l b des g e n a u definierten m ä r k t i s c h e n B u r g f r i e d b e z i r k e s . 4 0 V o r n e h m lich w u r d e n d a r u n t e r in d e r P r a x i s beispielsweise Injurienstreitigkeiten, Baustreitigkeiten o d e r das v e r b o t e n e „ F i s c h e n " n a c h d e m auf der E r l a u f t r a n s p o r t i e r t e n S c h w e m m h o l z v e r s t a n d e n . 4 1 A u ß e r d e m m u ß t e d e r M a r k t r a t die S c h r a n n e (das unparteyische

geding)

bei d e r U r t e i l s f i n d u n g in den L a n d g e r i c h t s p r o z e s s e n , die i m

S c h e i b b s e r S c h l o ß abgehandelt w u r d e n , b e s e t z e n . 4 2 D e r M a r k t r i c h t e r u n d

die

M i t g l i e d e r des M a r k t r a t e s w e r d e n dabei als B e i s i t z e r bei den l a n d g e r i c h t l i c h abgef ü h r t e n V e r h ö r e n a n g e f ü h r t u n d t a u c h e n als Beisitzer (assessoren) auch bei d e n U r teilen auf. 4 3 D e r „ T r a c t a t u s de juribus i n c o r p o r a l i b u s " v o n 1 6 7 9 , der die rechtlic h e n V e r h ä l t n i s s e z w i s c h e n U n t e r t a n e n u n d G r u n d h e r r s c h a f t regelt,

definiert:

„ E i n e m G r u n d - H e r r n s e y n d seine U n t e r t h a n e n in Real- u n d P e r s o n a l - S p r ü c h e n (ausser d e r e n F ä l l e n / s o L a n d - G e r i c h t s - m ä ß i g / o d e r der D o r f f - O b r i g k e i t e n J u r i s 36 StA Scheibbs, Ratssitzung 10. September 1717, fol. 387r: Hochzeit einlaadungs schreiben. Vgl. im Tagebuch des Lambacher Abtes Pagl wird die Hochzeit der Tochter des Lambacher Hofrichters geschildert, wobei Pagl das Hochzeitsessen zahlte: „23. October [1709] hat H. Oexenschlager, kaiserl. Obereinnehmer zu Englszell, allhier mit meines Hofrichters Jungfrau Tochter Hochzeit gehalten. Die Copulation hab ich in der Laureta Kapelle selber vorgenommen, auch das Hochzeitsmahl ausgehalten, der Jungfrau Braut eine silberne Tasse per etlichen 40 Loth verehrt." bei EILENSTEIN: Pagl (1920) 39. 37 Als Beispiel StA Scheibbs, Ratssitzung 4. April 1764, fol. 294'~v: daß dem löblichen stiffts hof grieht in der bekannt jährlichen 14 tag vor St. Magdalena fest einfallend 4 wöchentlichen freyungs zeit die jurisdiciton vollkommen in dem marckt Scheibbs gebühre. 38 Als Beispiel von Streitigkeiten um Inventare während der Freiungszeit: Ratssitzung 6. August 1746, fol. 135": Zaglauer Johann Georg, schustermaister, betreffend: Herr marktrichter bringt vor, wasmassen bekantlich der Johann Georg Zaglauer, schustermaister, verstrichene freyung entwichen seye, daß eine Inventur von seithen des löblichen hoffgerichter vorgenohmen worden, seye ihme nicht bewust, die schulden seyen gross, die würthschafft nicht allerdings wohl bestellet, indeme die Zaglauenn dem gesellen abgeschafft hätte. 39 N O W HI, 622, Ζ 13: Memorial des Scheibbser Banntaiding [1564]: „Das ain richter oder ambtman nit höher alß umb 72 den, das ist 18. kr., zu straffen hat, die andere straff gehört all gehn Gäming." ,0 Als Beispiel dieses vom Marktrat genau gewahrten Rechtsbezirkes StA Scheibbs, Ratssitzung 28. Mai 1759, fol. 97 r : Burgfridrenovation betreffend: In hocher anwesenheit (tit.) seiner hochwürden und gnaden etc. etc. (tit.) herr pater kuchelmeister, (tit.) herr hoffrichter, herr hoffschreiber [sowie des Marktrichters und mehrerer Bürger]. 41 Genaue Festlegung im Banntaiding von 1537 N O W III, 615-616: „Von des lantgerichts wegen"; ERTEL: Praxis (1737) 3 mit mehreren Definitionen: „die Nieder-Gerichtbarkeit sey eine Jurisdiction, so in rechtlicher Untersuch- und Entscheidung der privat-Händel ausgeübet wird" bzw. „die Nieder-Gerichtbarkeit oder Vogtey sey nicht anders, als eine Gerechtsame, krafft welcher die bürgerliche Sache erörtert, und geringere Laster oder Frevel, dem gemeinen Wesen zum besten, und dem an verschiedenen Orten befindlichen Herkommen gemäß, abgestrafft werden." Mit Praxisbeispielen WlNKELBAUER: Pfarrherrschaft (1982) 418-420. Für das späte 16. Jh. RUSS: Bruck/L. (1962) 52-58. 42 Mehrere Beispiele in StA Scheibbs, Κ 132. 43 In der Regel waren bei einem landgerichtlichen Verhör der LG-Verwalter, der schriftführende Actuarius und zwei Assessoren anwesend.

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diction anhängig) unterworffen." 44 Eine positive, normative Aufzählung der Niedergerichtskompetenz des Marktrichters fehlt auch im Scheibbser Taidingtext und kann nur über die Scheibbser Marktgerichtspraxis rückgeschlossen werden. Der mit der Führung des Marktprotokolls betraute Scheibbser Marktschreiber trug zahlreiche dieser niedergerichtlichen Streitigkeiten ins Scheibbser Marktgerichtsprotokoll ein.45 Die erste Instanz war aufgrund der unscharfen normativen Grundlagen innerhalb der Stadt heftig zwischen Hof- und Marktrichter umstritten, wie zahlreiche Fälle beweisen. Es herrschte große Konkurrenz zwischen der Niedergerichtsbarkeit des Marktes und dem Hofgericht der Grundherrschaft. 46 Als der Hofrichter 1759 einen preußischen Deserteur unmittelbar vor den Toren der Stadt noch im Burgfriedbereich stellte und durch den Landgerichtsdiener gefangennehmen ließ, fühlte sich der Marktrat in seinen Burgfriedsrechten, dem jus primae instantiae, beschnitten 47 und wohl auch um die ansehnliche Ergreifungsprämie des preußischen Deserteurs gebracht. Verärgert appellierte der Marktrichter - erfolglos, wie sich zeigte - direkt beim Stadtherrn. 48 Ahnlich auch ein anderer Streitfall zwischen herrschaftlichem Hof- und bürgerlichem Marktrichter: Der verschuldete Bäcker Johann Michael Hueber scheint sich gegen den drohenden Hausverkauf und den Verlust seiner bürgerlichen Existenz mit groben Beschimpfungen seiner Mitbürger gewehrt zu haben und erschien trotz mehrerer Vorladungen nicht vor dem Hofgericht. Die Frau des Bäckers hatte sich im Mai 1747 beim Hofrichter über ihren gewalttätigen Mann beschwert, daß ihr mann eine zeit her mit ihr greine, sie mit ohrfeigen und schlagen tractire, allein sich nur rahte erhollet, was zu thuen wäre, seye nicht dahin angesehen gewesen, daß er in arrest kommen sollet Der Hofrichter dürfte in Reaktion darauf tätig geworden sein, verhaftete den Mann und überging das eigentlich zuständige Marktgericht, dem in diesen Angelegenheiten die erkantnus gebühret.50 Diese und nachfolgende Appellationen und das energi44

C A 1,587. NEEF: Niedergericht (1984) Sp. 984-987. Grundsätzlich SPIESS: Konkurrenz (1981) 291-292. 46 HOFFMANN: O Ö Städte (1932) 85. 47 Als Beispiel aus dem Banntaidingtext von 1537 N O W III, 615, Ζ 8: „Item, wolt des gotshaus lantrichter u m b schedlich sach u m b ainen in den markt greifen, den soll er des ersten an dem markrichter ervordern. wolt er im den aber nit antwurten und saumig darin sein, so mag er selbs woll nach im greifen." 48 StA Scheibbs, Ratssitzung 22. August 1759, fol. 10Γ-102 Γ : Dieser, der Franz Schrattenbacher, ist fürgefordert und ihme bey verluest seines dienstes untersagt worden, daß selber sich, wie abgewichnen sonntag mit einfangung eines preußischen deserteurs in dem burgfrid beschehen, nicht mehr unterstehen solle in dem burgfried dergleiche zu thuen [...]. Übrigens ist resolvirt, [...] ihro hochwürden und gnaden anzuzeigen, welcher gestalten (tit.) herr hoffrichter abgewichenen sonntag gleich vor dem Fleckhnerthorr einen preussischen deserteurs zum recruten hinweg nehmen lassen und somit daz jus primae instantiae laediret hätte. 45

49 Zu häuslicher Gewalt HOHKAMP: Gewalt (1995) 279-284; RUBLACK: Verhältnisse (1997) 4648; Frauen suchten das Gericht meist erst auf, wenn sie unter unlösbaren ehelichen Bedingungen (vor allem Gewaltanwendung) lebten, BECK: Eheleben (1992) 146. 50 StA Scheibbs, Ratssitzung 15. Mai 1747, fol. 170r_v: Hueber Michael, bürgerlichen beken, arrestirung betreffend: Herr marktrichter proponirt, welcher gestalten verwichenen freytag der Hueber, bekh, dem vernehmen nach durch den diener aus dem haus genohmen und in arrest gebracht worden seye. Ob nun hierdurch dem marckht kein eingriff in seinen recht beschehen, und waß vorzukehren findet? [...] Resolution: In ansehen in denen civilsachen dem marktraht die erkantnus gebühret, solle beym löblichen hoffgericht

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sehe Eintreten des Marktgerichtes beim Stadtherrn für sein Erstinstanzrecht fruchteten aber wenig.51 Die Reaktion des Prälaten und des Hofrichters auf dieses oftmalige bürgerliche Beharren in puncto Erstinstanzrecht und auf das lästige Opponieren gegen den Hofrichter war scharf. Wenige Jahre später erging ein drohendes Hofgerichtspatent an den Scheibbser Marktrat, daß sich keiner mehr unterfangen solle, in bürgerlichen angelegenheiten mit praetendirung ihrer ersten instanz daz löblich hoffgricht anzugehen.52 Gleichzeitig erhielt die Beschwerdeinstanz Prälat aber nicht nur Reklamationen seitens des Marktrats, sondern der Landgerichtsverwalter und Hofrichter in einer Person wandte sich ebenfalls in Fragen von Rechtsbeeinträchtigungen an den Stadtherrn. Im Jahre 1720 scheint der Marktrat eine Frau entgegen der Kompetenzregelung wegen Diebstahl und Unzucht verurteilt zu haben und griff damit seinerseits in die Agenden des Hofrichters ein.53 Die landgerichtlich zu verhandelnden Fälle, wie beispielsweise größere Diebstähle oder Kindsmord, wurden schon im Scheibbser Taidingtext von 153754 als landgerichtsmäßig definiert und folglich dem dafür zuständigen Landgericht zugewiesen. Die N O . Landgerichtsordnung von 165655 erweiterte und spezifizierte die Zuständigkeit des Landgerichtes, das auf dem Gebiet der Kartause Gaming in Personalunion vom Gaminger Hofrichter und Landgerichtsverwalter in einer Person administriert wurde.56 Landgerichtliche Fälle wurden dagegen nur selten ins Scheibbser Marktgerichtsprotokoll eingetragen, obwohl das Marktgericht in der Praxis meist die Vorerhebungen und das erste „summarische" Verhör mit dem

über disen eingriff die antbung mündlich bescheben; ihr Hueberin aber verwisen werden, daß sie mit übergehung des rabts beym hoffgericht geklagt habe. 51 Ebenda, Ratssitzung 24. Jänner 1748, fol. 187": Jus primae instantiae betreffenden ein löbliches closter Gamingerisches hoffgricht dienstgehorsames anlangen: N. richter und rath des marckts Scheibbs über jüngsthin vorgenohmene arrestierung des Johann Michael Hueber, bürgerlichen becken betreffend: Resolution: Mit der nachricht wider hinauszugeben, wasmassen der quaestionierte in causa criminalis ad inquisitionem in contemptu nicht erschinen, als wäre seines ungehorsam belegt, denen angebenen aber ihr vorschüzendes recht primae instantiae unpraejudicierlich vorbehalten worden. 52 Ebenda, Ratssitzung 11. Jänner 1753, fol. 26 r : bey der die 11 complotirte bürgerliche würth mit solchen verbrechen ein jurisdictionsstrittigkeit erwecket, sonsten wurde mit dergleichen übertrettem in schärffe vorgegangen werden. 53 Ebenda, Hofgerichtsdekret 27. März 1720, fol. 41 v -42 r : der seiner hochwürden und gnaden referirte eingriff, den der markhtrath wegen vorgenohmener abhandlung und bestraffung der Catharina Schauerin, die in puncto furti et fomicationis angegeben worden were, verübet haben solle, der Ordnung nach untersuecht. [...] aber die nothdurfft schon vorhin mündtlich bey einer zum hoffgricht angeordtnet gewesten erforderung dergestalten gehandlet und mit mehrern gezaiget worden, daz man wegen gemelter Schauerin abhandl- und bestraffung dem landtgricht nicht in geringsten eingegriffen, sondern einen dem markhtgricht zuständtigen actum jurisdictionis exercieret habe. 54 N O W III, 615: Banntaidingtext Scheibbs [1537]: „Wir melden auch das unser genedige herschaft zu Gämingkh hie in unserm markt und purkfrid, darzue auf allen des gotshaus grünten und guetern lantgericht, stok und galgen haben und des gotshaus lantrichter über das pluet und all schedlich sach zu richten hat; und kain ausser lantgericht hat in unserm markt noch purkfrid noch anderswo auf des gotshaus gruntn kain gwalt zu greifen." 55 Zur umstrittenen Aufgabenteilung zwischen Landgerichten und untergeordneten Gerichten C A I, 6 6 0 ; F E I G L : G r u n d h e r r s c h a f t ( 1 9 9 8 ) 1 4 0 - 1 4 1 . 56 Zur Charakterisierung der gerichtlichen Tätigkeit des Hofrichters BECKER: Leben (1990) 2425; FEIGL: Gaming (1984) 30. Zur häufigen Ämterkumulation Hofrichter und LG-Verwalter KRAWARJK: Offizier (1996) 261.

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Kapitel V

Verdächtigten bzw. Überführten vornahm: Ein Scheibbser Spitalspfründner 57 stahl 1758 aus der Scheibbser Lorettokapelle eine geweihte Kerze. Der Pfründner erhoffte sich von diesem magisch besetzten und kirchlich geweihten Gegenstand die Heilung seines jüngst geborenen, kranken, mit den „Fraisen" behafteten Kindes.58 Der Marktgerichtsdiener zeigte den Diebstahl vermutlich auf Hinweis des Pfarrers sofort beim Marktrichter an. Das Marktgericht erstellte auch die einleitenden Verhörs-Protokollierungen mit dem Festgenommenen, die sogenannten „summarischen Verhöre". Die „Ratio capturae" und das summarische Verhör mußten mit dem zu vernehmenden Delinquenten später zur weiteren gerichtlichen Untersuchung an das Landgericht übergeben werden.59 Die gestohlene Kerze in der Länge von drei Viertel Ellen wurde tatsächlich beim Verdächtigen gefunden und ein summarisches Verhör mit dem Spitalspfründner vorgenommen. Nach den in niederösterreichischen Weistümern häufig angeführten drei Tagen60 wurde der Dieb vom Marktgericht an das Landgericht zur weiteren Verhandlung und Aburteilung überstellt.61 Die Anzeige von landgerichtlichen Delikten erfolgte teilweise durch das Marktgericht, das die Weiterleitung an das zuständige Landgericht übernahm, so beispielsweise 1786, als Eisen von einem Transportwagen, der im Markt Scheibbs vor einem Gasthaus über Nacht „parkte", gestohlen wurde.62 In eindeutig landgerichtlichen Fällen scheint das Marktgericht andererseits gar nicht erst informiert worden zu sein, sondern die Betroffenen erstatteten selbst unmittelbar Anzeige direkt beim Landgericht. Der beim Scheibbser Schlosser Andre Puchberger arbeitende Schlossergeselle Heinrich Linckert stahl in der Nacht vom 26. auf den 27. Mai 1794 aus der Werkstatt des Scheibbser Uhrmachermeisters Joseph Eibl eine Uhr, die sich dort zur Reparatur befand. Die Werkstatt des Schlossers und des „inwohnenden" Uhrmachermeisters befand sich im selben Haus, sodaß der 57

Zu Pfründnern am Beispiel von Klosterneuburg HOLUBAR: Spital (1994) 81-85. Zur Verpflichtung zum Gebet für Murau NAGLIS: Murau (1994) 56. 58 Zu den „Fraisen" GRABNER: Krankheit (1997) 55-62; zu magischen Heilmethoden DIES.: Krankheit (1997) 218-222 und DIES.: Abbeten (1962) 359-370. 59 Diese marktgerichtlichen Akten sind leider ebenso wie die landgerichtliche Behandlung des Falles nicht vorhanden. 60 Als Beispiele N Ö W II, 26, Ζ 34: Bogen-Neusiedel [Ende 16. Jh.]; N Ö W III, 386, Ζ 17: OberWölbling [15. Jh.]; N Ö W III, 391, Ζ 8: Ober-Wölbling [1471]; N Ö W III, 415 Ζ 11: Ambach [circa 1515]; N Ö W ΙΠ, 419 Ζ 3: Obritzberg [vor 1578]; zum Abschieben nach drei Tagen FEIGL: Grundherrschaft (1998) 140. 61 StA Scheibbs, Fastennachtaiding 9. März 1758, fol. 31v: Constitutus möchte also sagen, wie sich die Sache zugetragen: Sagt, seye wahr, was der diener außgesagt, habe solche kerzen von dem frauen-altar linker hand genohmen und nach ihme heschechenen einrathen seinem mit der fraiß behafften, 16 wochigen kindt in der fraiß in die handt truckhen und dem kind J vatter-unser und ave-Maria in die obren betten, sodann die kerzen widerumb in ihr ort stekhen wollen. Resolution: Der canzley aufzulegen in beyseyn herm marcktrichters, eines anderen rathsfreünd ein summarisches examen aufzunehmen und sodann mit dem examen auch inquirirten den 3m tag dem landgericht zu überlieffem; KRAUS-KASSEGG: Scheibbs (1960) 22-24; Der Grundstein zur Lorettokappelle wurde am 25. Juni 1726 gelegt, JELINEK: Scheibbs (1952) 67. 62 N Ö L A , GA Gaming, Κ 8, Scheibbs, 1786 Juni 19: Einem löblichen landgericht dahier wird anmit die geziemende anzeige gemacht, daß heut nacht bey des herm Franz Peten seiner behausung alda von dem auf der gassen gestandenen mit eisen beladnen wagen ein halber ernten blöcheisen entfremdet worden ist.

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Schlossergeselle genau Bescheid über die Auftragslage des Uhrmachers wußte. Gewaltsam öffnete der Schlossergeselle die Tür und entwendete eine Taschenuhr, die dem Scheibbser Turnermeister gehörte. Heinrich Linckert dürfte zu diesem folgenschweren Diebstahl durch andere, mit ihrem Uhrenbesitz prahlende Handwerksgesellen angestachelt worden sein. Deren „Statusbesitz" an Uhren setzte den betrunkenen Linckert sozial unter Druck.63 Er wollte mit einem Diebstahl gleichziehen. Aber schon am nächsten Morgen wurden Diebstahl und Täter entdeckt. Sofort schickte der bestohlene Uhrmacher um den Landgerichtsdiener, offenbar in Kenntnis der Tatsache, daß es sich um ein kriminalgerichtliches Delikt handelte. Unterdessen packte der Geselle seine Sachen zusammen und gab später zu Protokoll: Da ich mich der ankunft des dieners wegen schon sorgte, entfloh ich in gegenwarth mehrerer leute durch den markt hinaus,64 Der Landgerichtsdiener stellte den Entflohenen bald danach und brachte ihn in den Markt zurück. Die landgerichtliche Untersuchung wurde eingeleitet, das Marktgericht dürfte dabei nicht kontaktiert worden sein, sondern die Zuweisung an das Landgericht erfolgte durch das sofortige Alarmieren des Landgerichtsdieners. Der Hofrichter war nicht nur oberstes weltliches Aufsichtsorgan im Markt, sondern auch bei der Durchsetzung religiöser Angelegenheiten entscheidend oder zumindest kontrollierend beteiligt.65 Die Verschränkung von geistlichen und weltlichen Belangen wird am Beispiel des Hofrichters in einer geistlichen Grundherrschaft besonders deutlich:66 Der Hofrichter mußte die Einhaltung der vom Prälaten bei der Kirchenvisitation 1718 beanstandeten Punkte überwachen, obwohl diese Aufgabe offiziell dem Marktrat als zuständigem Organ übertragen wurde.67 Die Einhaltung der Sonntagsruhe wurde dabei von den Handwerkern und den Fuhrleuten dringlich eingemahnt,68 die Wirtshäuser sollten während der Messe geschlossen werden.69 Selbst das für das bürgerliche Selbstverständnis so wichtige Scheibenschießen des Scheibbser Schützenvereins durfte erst nach der Vesper abgehalten werden.70 Mindestens zwei Bürger sollten den Priester ver63 Dazu an englischen Beispielen THOMPSON: Zeit (1980) 42-43. Zu Taschenuhren DOHRNVAN ROSSUM: Zeitordnungen (1995) 116-120. Mit einer Entwicklungsgeschichte des Uhrmacherhandwerks ClPOLLA: Zeit (1999) 35-85. 64 NÖLA, GA Gaming, Κ 10, Scheibbs, 1794 Mai 27, Summarisches Verhör mit Heinrich Linckert. 65 StA Scheibbs, Georgipantaiding 29. April 1717, fol. 380 v : Herr hoffrichter proponirt, daz frau Nestlerin zu Ybbßzu gresserer andacht des 40-stündtigen gebetts eine stüfftung zu machen willens seye; mithin richter und rath, damit alles recht und ordentlich gehalten werde, die inspection und obsicht haben solle. 66 Als Fallbeispiel dieser weltlichen Kontrolle für das Erzbistum Salzburg K.ALDE: Osterbeichtzettel (1995) 108ff. 67 StA Scheibbs, Ratssitzung 20. August 1718, fol. 10r_v. 68 Ebenda, Ratssitzung 18. Mai 1707, fol. 221 v : Daß durchfahren an denen heyligen sonn- undfeyertägen würdet auch nach aller müglichkheit verhiettet, und die nothwendigst unentpöhrlichen fuhren passiert werden, also sollen sich auch dießeischhackher des vieheintreibens und schlachtens ohne grosser noth, nicht weniger die mühlner undpökhen, auch preyer, ihres führens und mahlens bey straff enthalten. 69 Ebenda, fol. 221 v : Allen würthen und leuthgeben ist eben daz wein-, pier- und mosstschenkhen, also auch daz verkhochen der spaßen under den Gottesdiensten (ausser für die kürchfahrter, durchraißente und krankhen leuth), so es höchstens bedürfftig, bey straff verbothen worden. 70 Ebenda, fol. 221 v : Daß bürgerliche kränzlschiessen würdet erst nach vorbey wordener vesper angestellet, daz köglscheiben aber immediate umb3/ auf 2 uhr abgeschaffet und erst wider nach beschehener vesper zuegelassen werden, die kinder und dienstboihen auch bey der kinderlehr erscheinen.

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p f l i c h t e n d n a c h d e r F o r d e r u n g d e r K i r c h e n v i s i t a t i o n v o n 1 7 1 8 auf d e m V e r s e h gang begleiten u n d den „ H i m m e l " ü b e r d e r H o s t i e t r a g e n . 7 1 D a n e b e n m a h n t e diese V i s i t a t i o n die bessere b a u l i c h e E r h a l t u n g k i r c h l i c h e r E i n r i c h t u n g e n ein, b e s o n ders die B ä u m e a n d e r F r i e d h o f s m a u e r m u ß t e n ausgegraben w e r d e n , weil die W u r z e l n g r o ß e n S c h a d e n an d e r M a u e r v e r u r s a c h t e n . 7 2 J e d e r S c h e i b b s e r B ü r g e r o d e r ein jeweils n o m i n i e r t e r S t e l l v e r t r e t e r m u ß t e bei d e n j ä h r l i c h s t a t t f i n d e n d e n P r o z e s s i o n e n n a c h M a r i a z e l l u n d auf den S o n n t a g b e r g t e i l n e h m e n . 7 3 D e r H o f r i c h t e r m a c h t e d e r v e r s a m m e l t e n S c h e i b b s e r B ü r g e r g e m e i n d e 1 7 3 1 a u c h erfolgr e i c h d e n V o r s c h l a g , eine n e u e W a l l f a h r t n a c h M a r i a T a f e r l e i n z u r i c h t e n . 7 4 D i e assistierenden P e r s o n e n bei den C o r p o r i s - C h r i s t i - P r o z e s s i o n e n bis 1 7 1 9 n a m e n t l i c h n a c h i h r e r jeweiligen F u n k t i o n ( e t w a himmeltrager, beglaidter,

jungfrauenführer7S)

ins

Marktgerichtsprotokoll

eingetragen.

wurden himmelDem

S c h e i b b s e r H o f r i c h t e r w u r d e bei diesen bis ins D e t a i l festgelegten 7 6 F r o n l e i c h -

71 Ebenda, Ratssitzung 20. August 1718, fol. 10r: Obwohlen schon zu zweymahlen, wan man in markbt mit dem hochwürdigen guet, zu einen krankhen gehet den darzue gewidtmeten himmel zu gebrauchen und destwegen einige burger zu verordnen per decretum anbefohlen worden, so seye doch ein solches bißhero unterbliben, künfftig aber dergestalten eingerichtet und 4 auß denen burgern [...J denen von rath diser btfelch intimieret werden solle, daz von diesen 4 ausser Gottes gwaldt, so offt man daz abgesezte zaichen leithet, wenigsten 2 mit mäntl erscheinen, den himmel tragen und den priester beglaiten. 72 Ebenda, fol. 9 r : Daz die neben der Gottsakher maur zum schaden derselben eingepflanzten junge und alte baumer lengst disen herbst von denjenig, so solche straffbahr und ohne vorwissen geistlicher obrigkeith dahin eingesezet, bey betrohung gezimendter straff wider außgraben. 73 StA Scheibbs, Ratssitzung 18. Mai 1707, fol. 221 v : Zu beeden votierten processionen nacher Sonntagberg und Zell solle jedesmahlen entweders von jeden burger desßen ehewürthin oder wenigst ein dienstbothen die fleissige erschein- und beywohnung beschehen. Dazu ÜBERLACKER: Wallfahrt (1963) 4058, 68-87. Zu einem Votivbild aus Scheibbs DERS.: Türkenjahr (1983) 300. 74 StA Scheibbs, Michaelipantaiding 5. Oktober 1731, fol. 297 r -298 r : Herr hoffrichter proponirt, daß lm° ein gutthätter hervorgekomen, der eine jahrliche kirchfarth nach dem gnadenorth Maria Täferl zu stifften gesonnen wäre, und wie nun ohnedeme fast kein hauß, aus welchen nicht einschichtig und einzele [!] persohnen jährlich wenigstens einmahl die kirchfarth vernichteten, als glaubte er, daß nach errichteter kirchfarth die burgerschafft (von jeden hauß eine persohn zu schikhen) kein difficultät machen werde. Zu den seltener werdenden Legaten für Wallfahrten PAMMER: Glaubensabfall (1994) 189-191. 75 StA Scheibbs, Einträge ins Marktgerichtsprotokoll 9. Juni 1700, fol. 90 r ; 26. Mai 1701, fol. 124r; [Eintrag für 1702 fehlt]; 4. Juni 1703, fol. 155v; 2. Juni 1704, fol. 167v; 17. Juni 1705, fol. 183v; 19. Mai 1706, fol. 207v; 23. Juni 1707, fol. 223v; [1708 fehlt]; 22. Mai 1709, fol. 247v, 21. Mai 1710, fol. 26l v , 21. Mai 1711, fol. 277'· 23. Mai 1712, fol. 296r; 25. Mai 1714, fol. 325v; 17. Juni 1715, fol. 346v; 8. Juni 1716, fol. 364v; 26. Mai 1717, fol. 381r; 13. Juni 1718, fol. 5 v -6 r : Folgende Funktionen wurden bei der Prozession vergeben, als Beispiel 21. Mai 1711, fol. 277r: Daß venerabile zu beglaidten•. Herr hoffrichter und herr eißencamerer; Den himmel zu tragen: Herr Stainkhellner, Fux, Johann Weedl, Herrr Sebaldter; Den himmel zu beglaidten: Herr Carl Simpekhen, Eyßner, Roßeneder, Sechefehlner; Jungfrauenführer: Herr Hannß Georg Rickhendorffer; Frauenführer: Herr Joseph Kriegl; Vor denen handtwerchszunfften: Vor denen schneidern: Mathias Mutz; Vor denen schmidten: Hannß Georg Lay; Vor denen pökhen: Andree Berdoldt; Vor denen wöbern: Hannß Hausß; vor denen Maurern: Anthoni Högnstorffer; Vor denen schuesstern: Frantz Piehlawizer; Vor denen mühlnern: Zacharias Schlager; Als Fallbeispiel KlMMINICH: Fronleichnamsfest (1990) 10-12, 16-22. 76 StA Scheibbs, Ratssitzung 3. Juni 1738, fol. 156v: Procession am Corporis-Christi-fest zum untern spital betreffend: Herr marktrichter referirt, welcher gestalten er vemohmen, daß der herr pfarrer althergebrachter gewohnheiten nach morgen die procession zum untern spital nicht halten, sondern nur zu denen wohlehrwürdigen patres Capucinern gehen wolle. Derley alte gewohnheit aber abzubringen seye nicht löblich, waß also zu thuen. Resolution: Es solle der weeg zwischen den zieglgarthen gesäubert und in stand gebracht, folgends der ausgang erwarttet worden-, Georgi Nachtaiding 23. Mai 1739, fol. 174r: dahin zu

127

D a s G a m i n g e r H o f - u n d Landgericht i m 18. Jahrhundert

nams-Prozessionen die ehrenvollste Aufgabe zugewiesen:77 G e m e i n s a m m i t d e m M a r k t r i c h t e r o d e r d e m S c h e i b b s e r E i s e n k ä m m e r e r d u r f t e e r das venerabile,

die

H o s t i e , 7 8 w ä h r e n d d e r P r o z e s s i o n b e g l e i t e n . D i e s e P r o z e s s i o n e n d i e n t e n seit d e r G e g e n r e f o r m a t i o n als ö f f e n t l i c h e s , a u c h v o m M a r k t r a t g e t r a g e n e s B e k e n n t n i s z u r k a t h o l i s c h e n R e l i g i o n u n d s t e l l t e n O r d n u n g u n d H e r r s c h a f t i n n e r h a l b des M a r k tes h e r . 7 9 D i e s e P r o z e s s i o n e n g i n g e n u n t e r h e f t i g e m S c h i e ß e n d e r

doppelhackhen

v o r sich.80 D i e enge V e r f l e c h t u n g v o n R e l i g i o n u n d H e r r s c h a f t w i r d auch deutl i c h , w e n n d e r H o f r i c h t e r die U n t e r t a n e n z u r E n t r i c h t u n g d e r unmittelbar nach dem Corporis-Christi-Amt

Grundabgaben

i n die A m t s s t u b e i m

Scheibbser

Schloß beorderte. D i e grundherrschaftlichen Abgaben und der Besuch der Messe waren verpflichtend aneinandergekoppelt.81

D i e Ü b e r w a c h u n g der

aber auch weltlichen Angelegenheiten wurde mit den Theresianischen

geistlichen, Reformen

in i m m e r s t ä r k e r e m M a ß e v o n d e n n e u e n Z e n t r a l b e h ö r d e n ü b e r n o m m e n u n d d e n l o k a l e n H e r r s c h a f t s t r ä g e r n e n t z o g e n . 8 2 D e u t l i c h w i r d das e t w a a u c h d a d u r c h , d a ß n u n d i e p u b l i z i e r t e n P a t e n t e des K r e i s a m t e s j e w e i l s i n K u r z f o r m ins S c h e i b b s e r Marktgerichtsprotokoll

eingetragen wurden. D e r Stadtherr hatte nun

weniger

Einfluß in seinem patrimonialen M a r k t . Stärkstes Herrschaftsinstrument

blieb

das H o f g e r i c h t , das a u f g r u n d d e r P e r s o n a l u n i o n H o f r i c h t e r u n d L a n d g e r i c h t s v e r walter sowie der funktionellen E i n h e i t v o n Land- u n d Niedergericht eine der wichtigsten K o n t r o l l m ö g l i c h k e i t e n i m M a r k t u n d in der R e g i o n besaß.

trachten, damit an heüer widerumben am fest Corpons-Christi die procession zum untern spital vorgenohmen und gehalten werde. 77 Zur gegenreformatorischen Implikation der Fronleichnamsprozessionen CORETH: Pietas (1982) 27-34; KOVÄCS: Frömmigkeit (1990) 401; CORETH: Zeremoniell (1979) 125. Als Steyrer Beispiel aus dem 17. Jh. bei Jakob Zetl aus dem Jahr 1618: „In dissem Jahr ist widrumb ein Corporis Christi Procession Zum ersten mahl gehalten worden, aber die Lutheraner haben Kaumb den Huet vor dem hochwürdigen Guett geruckht;" EDELBACHER: Zetl (1878) 18. Zu Steyr im 17. Jh. DOPPLER: Steyr (1968) 106-127. 78 Allgemein TRE XI (1983) 122. Zu den Corporis-Christi-Bruderschaften als Instrument der Konfessionalisierung KATZINGER: Bruderschaft (1980) 97-112, bes. 101-105. Zur Bedeutung der Hostien in Zauberei- und Hexenprozessen VALENTINITSCH: Hostienschändung (1987) 5-14, bes. 9-10. 79 Hofrichter und Marktrichter gemeinsam: 1700-1701, 1703-1705; Hofrichter und Eisenkämmerer gemeinsam: 1706-1707, 1709-1710; ab 1711 keine namentlichen Eintragungen mehr im Marktgerichtsprotokoll unter der Rubrik: daß venerabile zu heglaiten. Für Ischl HOFMAIR: Ischl (1957) 203206; für Melk POLENSKY: Melk (1968) 200-201 und für Krems SCHÖNFELLNER: Krems (1985) 297309. Mit einigen Fallbeispielen LÖTHER: Prozessionen (1998) 435-459, hier 458. 80 StA Scheibbs, Eintrag 8. Juni 1719, fol. 30v: Gregor Enikhl, gewester schlossermaister, durch einen bey gehaltener Corporis-Christi-procession zersprungenen doppelhackhen an der hiemschall verlexet umb mittagzeit dises seine zeitliche mit dem ewigen verwechslet. 81 Ebenda, Ratssitzung 11. September 1719, fol. 34': Michaeli-dienst betreffend: Hoffgrichts decret sambt einen beigeschlossenen edict, de dato 7"" September, vermög welchen unter anderen anerinnert worden, daz den 28m instehendten monnaths nach dem gewöhnlichen Corporis-Christi ambt fruehe umb 9 uhr in dem schloss gmeyr alda die grundtbüecher gewöhnlicher massen übem markht Scheibß und überige ämbter werden eröffnet werden. Ähnlich auch die Ratssitzung vom 14. September 1724, fol. 95 v ; Ratssitzung 30. August 1745, fol. 98v. 82 Ebenda, Ratssitzung, 22. September 1753, fol. 59': Geistliche policey: Creysamtverordnung de dato 21. August 1753 crafft derselben von denen weltlichen obrigkeiten auf denen geistlichen Verrichtungen als predigen, christenlehr und andern dergleichen functionen ein aufsieht gehalten und in entstehung derenselben nachlässigkeit, auch allenfahls ärgernus etc. etc. an daz löbliche creysamt einberichtet. Siehe auch VOGLER: Herrschaft (1996) 291-292.

Kapitel V

128

Die Frage nach der Beziehung von herrschaftlichem Hof- und bürgerlichem Marktrichter läßt sich vor allem als Konfliktgeschichte begreifen. Der Hofrichter als unmittelbares Scharnier zwischen Stadtherrn und Markt wurde von den Scheibbser Bürgern vor allem als stellvertretende Herrschaftsgewalt des Gaminger Prälaten gesehen und verstanden, der auf möglichst viele Bereiche in Markt und Herrschaft „ein genaues Aug' haben" sollte.83 Seine disziplinierende Gewalt über die Bürger im Markt war zwar groß, sein Einflußbereich in sozialen, rechtlichen, aber auch - wie gezeigt - in kirchlichen Angelegenheiten ausgedehnt; dennoch läßt sich das Verhältnis von Marktrichter/-rat und Hofrichter nicht nur als eine Beziehung von Befehlsempfängern und Befehlendem, Beherrschten und Herrschendem beschreiben, sondern als wechselhafte Beziehung zwischen diesen Instanzen. 84 Das Aufscheinen des Hofrichters im Marktgerichtsprotokoll bedeutet meist eine Beschränkung von bürgerlichen Rechten oder bestimmten Tätigkeitsgebieten der Bürger. Der Hofrichter wies den Marktrichter und -rat immer wieder insistierend auf zu behebende Probleme hin. Der auch innerhalb der Bürgerschaft nicht unumstrittene Marktrat suchte das kommunale Leben in vielen Bereichen selbst zu regulieren. Der Marktrichter, Rat und die Bürgerschaft sahen im Hofrichter eine konkurrierende Gewalt, die immer wieder in die nicht eindeutig definierten Agenden des Marktes eingriff und das Erstinstanzrecht des Marktes schmälerte. Gelegentlich Schloß der Marktrichter Allianzen mit dem Hofrichter, stellte sich aber auch öfters dezidiert gegen den Stadtherrn und seinen Stellvertreter im Markt. 85 Der Hofrichter suchte dagegen verstärkt den Marktrat, wie in anderen Städten auch, mit „Policey"-Aufgaben im Sinne einer gehorsamen Institution des Stadtherrn zu beauftragen. 86 Der geistliche Stadtherr unternahm mehrere Anläufe, um größere Kontrolle über die Marktrepräsentation zu erlangen und die bürgerliche Selbständigkeit zu verkleinern, 87 war damit aber nur bedingt erfolgreich. Die weltliche und geistliche Ordnungsmacht des Gaminger Hofrichters im Markt Scheibbs nahm erst mit der Einführung der Kreisämter im Zug der Theresianischen Reformen merklich ab.

Als Admonter Beispiel 1689 WlCHNER: Admont (1880) 636. LÜDTKE: Herrschaft (1991) 13. 85 Dazu die Kritik von Heinrich Richard Schmidt am Oestreichschen Sozialdiziplinierungskonzept: SCHMIDT: Dorf (1995) 371-375. Zum „Kommunalismus" BLICKLE: Kommunalismus (1986) 530535 und als Gegenentwurf zur „Sozialdisziplinierung" BUCKLE: Begriffsbildung (1991) 5-38. 86 KONERSMANN: Zweibrücken (1998) 171-200. 87 Dazu mit Bezug auf Max Weber BREUER: Staat (1998) 158. 83 84

Das Gaminger Hof- und Landgericht im 18. Jahrhundert

129

2. Das niedergerichtliche Hofgericht - Delikte und Strafen „Ists möglich, der Codex Austriacus und der Codex Theresianus, die neuesten Gesetzsammlungen, die man in Osterreich hat, enthalten nicht eine Zeile, welche würdig wäre, im Gesetzbuche Rußlands oder Sardiniens zu stehen? - Ach, Sterbliche! ein gutes Gesetz ist ein Stück vom Steine der Weisen." Wilhelm Ludwig Wekhrlin 88

Den 18. November anno 1731 ist die Barbara Teimbachin, des Klein Oschter [sie!] haltter stiefftochter von Gamming, anhero zu dem löblichen landtgricht geliffert Worten, daß sie von Philipp Hendlwöger bey dem Scheiblauer ungebihrlich geschwengert. Er ist ein Grestnerischer waisß, ist zu Reinsperg in Reith in tiensten gewesßen undt, umb willen sie armb ist, so ist sie mit angehenkhter geign zur straff auf die püen gestölt worden.89 Dieser Eintrag in das Strafbuch, das Schwartz register und prothocoP° des Land- und Hofgerichts Gaming-Scheibbs, geführt in den Jahren 17101717 und 1722-1728, enthüllt den Zusammenhang zwischen Vermögensstand und verhängter Strafe, den Konnex zwischen Armut und Ehren- oder Geldstrafe. Dieser Zusammenhang zwischen Unzuchtsdelikten und den finanziellen Ressourcen auf Ebene des Hofgerichtes war auch auf der Seite der „Täter" ebenso entwickelt und vorhanden. Die Verschmelzung von Sexualität und Ö k o n o m i e ließ innerhalb der ländlichen Gesellschaft keinen Platz für Promiskuität im Sinne von folgenlosen und unverbindlichen „Verhältnissen". 91 Erst das feierliche Ablegen eines Heiratsversprechens zwischen Mann und Frau bahnte in der Regel eine auch von den Mitbewohnern akzeptierte sexuelle Beziehung an.92 Das von beiden Teilen als bindend angesehene Heiratsversprechen konnte in Form eines feierlichen Gelübdes erfolgen. Eine Dienstmagd gab an, daß sie ihren Heiratsvertrag mit dem Blut des jeweils anderen unterzeichnet und sich damit auch gegenseitig die Treue geschworen hätten. 93 In einem anderen Fall bekräftigte ein Ring symbolisch das 88 WEKHRLIN: A n s e l m u s (1988). Z u r P e r s o n MONDOT: W e k h r l i n (1986) [ k o n n t e n i c h t eingesehen werden]. 89

N Ö L A , H A Scheibbs, H s . 3 / 3 0 , pag. 97 [1722]. E b e n d a : Titelblatt: Schwartz register und prothoeol über alle diß jähr bey der Gämmingischen hoff- und landgrichtcanzley gmeyr Schloß Scheybbs verkommene clagen, injuri und salva venia huerhändl, alß darüber beschechenen bestraffungen. (Das Register ist nach V o r n a m e n geordnet, ein Indiz d a f ü r , d a ß die V o r n a m e n viel b e s t i m m e n d e r als die N a c h n a m e n f ü r die K o n s t i t u i e r u n g der Identität der M e n schen v o r der O b r i g k e i t waren). 90

91 D a z u BECK: Illegitimität (1983) 112-150, hier 137-138. D i e innere V e r s c h m e l z u n g v o n Sexualität u n d Ö k o n o m i e ließ i n n e r h a l b der ländlichen Gesellschaft keinen Platz f ü r P r o m i s k u i t ä t i m Sinne u n v e r b i n d l i c h e r u n d folgenloser Verhältnisse. D a z u auch MITTERAUER: Ledige M ü t t e r (1983) 62-63. 92 SCHWAB: Heiratserlaubnis (1978) Sp. 60-66. D i e beste U n t e r s u c h u n g dazu s t a m m t v o n BREIT: Leichtfertigkeit (1991) 99-116; f ü r die Steiermark BECKER: Leben (1990) 280-289. 93 N Ö L A , G A G a m i n g , Κ 6, Scheibbs, 1776 F e b r u a r 10, Artikuliertes V e r h ö r m i t Rosina Platschin, 16. A n t w o r t : Ich bin mit diesen eßmeister heimlich versprochen und zwar ohne zeügen, jedoch nahmen wir Gott zum zeugen und unterschrieben uns gegeneinander mit blut, welches er aus seinem daumen und ich aus meinem finger, in welche wir uns gestochen, herausnahmen. Diese unterschreibung geschähe in

130

Kapitel V

Heiratsversprechen. 9 4 Die angeklagten F r a u e n rekurrierten v o r Gericht i m m e r wieder darauf, daß ihnen v o n männlicher Seite die Ehe, 9 5 allenfalls nach dem T o d der jeweiligen Ehefrau, 9 6 versprochen worden war. D e r M a n n sollte für die F r a u eine sichere Subsistenzgrundlage 97 schaffen oder zumindest bei seinen E l t e r n u m eine Heiratserlaubnis einkommen. 9 8 Die M ä n n e r stritten, wenn sie nicht schon v o r h e r die Flucht ergriffen hatten, dieses v o r Gericht schwer beweisbare Versprechen meist ab. 99 A b e r es gab auch Unzuchtsfälle, in denen die Frauen v o r Gericht keineswegs auf ein Heiratsversprechen plädierten und w o die beklagte F r a u unzichtig angetastet, und wie ihro selbst gar recht gewesen.100

N e b e n den interpersonel-

len Heiratsversprechen mußte v o r allem die Obrigkeit dieser E h e zustimmen, was eine entsprechende materielle Basis der Eheleute zur Voraussetzung haben mußte, andernfalls verweigerte die Grundherrschaft die Zustimmung. Viele Heiratswillige wandten sich deshalb nach U n g a r n , w o die Heirat im 18. Jahrhundert leichter möglich schien. A b e r selbst in U n g a r n w a r es beispielsweise für einen Gerichtsdiener nicht möglich, eine Heiratserlaubnis zu bekommen. 1 0 1 Das Hofgericht gegeneinander gewechselten briefen, in welchen wir einander die treue mit den größten schwüren (und zwar daß uns Gott straffen möchte, wenn wir nicht wort hielten) zusagten. Zu dieser Form des Gelübdes mit Blut auch KRAUSEN: Blutweihebriefe (1953) 52-56. 94 NÖLA, GA Gaming, Κ 6, Scheibbs, 1770 Juni 28, Artikuliertes Verhör mit Magdalena Geringerin, 7. Antwort: Sagt, er hätte ihr nicht nur allein das heürathen versprochen, sondern auch zu mehrern Versicherung dessen die goldenen ring gegeneinander ausgewechslet, welche dann deponentin am finger stekend vorgewisen. 95 Ebenda, Κ 4, Scheibbs, 1755 sine dato, Artikuliertes Verhör mit Susanna Teufelhoferin, 6. Antwort: Sagt mit ihme Mathiowiz seye sie von darauß bekant, weillen selber dazumahlen eben dorten als mahler in arbeith gestandten und somit zu ihr in die kuchl gekommen und daz heürathen versprochen hat. Ebenda, Κ 4, Scheibbs, 1755 Mai 23, Artikuliertes Verhör mit Rosina Grienauer, 7. Antwort: Sie hätte sich in seine bitten sicher nicht begeben, wan er sie nicht gar so sehr gequellet, und ihr auch die ehe versprochen hätte. 96 Ebenda, Κ 1, Scheibbs, 1718 September 10, Summarische Aussage von Sophia Sonnleitner: [...] bedeuter Kall hete ihr versprochen, wan sein weib wurde sterben, sye zu heürathen. Siehe auch Κ 4, Scheibbs, 1751 Juni 16, Artikuliertes Verhör mit der Dienstmagd Magdalena Prandstetter, 23. Antwort: Habe ihr die ehe versprochen, wan sein weib sterben solte; an geld aber oder an gelds werth habe er ihro nichts geben, ausser einen ΐΤσ daz leztemahlbey der linie alß beede miteinander auf Sifering gegangen. 97 Ebenda, Κ 7, Scheibbs, 1780 August 26, Artikuliertes Verhör mit Johanna Möslerin, 3. Antwort: Da ich täglich ums wasser zum diener gegangen bin, wurde ich mit seihen bekannt, da er mich dan überredet, ihn zu lieben mit versprechen, daß er mich, wenn er seines arrests los würde, heürathen und weil er verschiedene arbeiten könnte, mich leicht ernähren wollte. 98 Ebenda, Κ 3, Scheibbs, 1732 Juli 16, Artikuliertes Verhör mit Johann Schwarz, 16. Frage und Antwort: Ob inquisit ihro Wöchnerin daz heürathen versprochen, und wirckhlich das versprechen gegeneinander gethann? In so weith, wann es vatter und muetter zuelassen. 99 Ebenda, Κ 4, Gaming, 1742 Juni 1, Konfrontation von Georg Wippel und Rosalia Fröhlich: Fröllichin gibt vor, beklagter habe ihr würklichen die ehe versprochen, wessentwegen sie sich zu der Schwängerung und [dem] sündigen eingelassen. Beklagter widerspricht all dises, das er dergleichen mit kanen worth versprochen, massen sie ihme verführt hette. Zudeme will er ihr weisen, daß sie mit anderen zuegehalten und mit kerln in böthem gelegen. Frölichin ist dessen in negativus. 100 Ebenda, Scheibbs, 1752 sine dato, Artikuliertes Verhör mit Katharina Waltershoferin, 6. Antwort: habe sie unzichtig angetastet, und wie ihro selbst gar recht gewesen. Die ehe aber habe er ihro nicht versprochen. 101 NÖLA, GA Gaming, Κ 5, Scheibbs, 1761 November 6, Artikuliertes Verhör mit Michael Töllinger: Sagt sie Seyen glaten weegs nach Hungam lang gegangen, und nachdeme sie sich schon zu Aspach ehelich versprochen, daselbst copuliren zu lassen, Seyen daselbst 14 täge gewesen, und sich mit bettlen ernähret, jedoch aber, weillen er von einem dienners stände ware, seye er mit ihr [in Ungarn] nicht copuliret

Das Gaminger Hof- und Landgericht im 18. Jahrhundert

131

suchte gegen diese privaten, ohne den Konsens der Eltern und der Obrigkeit vorgenommenen Heiratsabsprachen sanktionierend vorzugehen. Die für das Delikt „Unzucht" verhängten Geldstrafen im Hofgericht Gaming reihen sich in die obrigkeitlich definierte und mit großem Aufwand durchgesetzte Sittenzucht des frühneuzeitlichen Staates ein. Die Fornikationsgesetzgebung zielte besonders auf eine materiell abgesicherte Bevölkerungsreproduktion im Sinne einer Bindung von Fortpflanzung an die geregelte Weitergabe von Eigentum. 102 Die N Ö . Landgerichtsordnung von 1656 weist im 81. Artikel („Von gemeiner Hurerey") schon die Grund- und Dorfobrigkeit als zuständige Behörde aus,103 die eine den Umständen entsprechende Strafe verhängen konnte. Das erste Vergehen hatte eine geringere Geldstrafe als das zweite Vergehen zur Folge und wurde nach der L G O 1656 niedergerichtlich vom Hofgericht abgehandelt. Beim dritten Vergehen wurden die Angeklagten „mit schärffer Leibs-Straff" landgerichtlich verfolgt. 104 Zweimal agierte man also nach dem (niedergerichtlichen) Personalprinzip, während man beim dritten Unzuchtsdelikt das Territorialitätsprinzip anwandte und das überregionale Landgericht für zuständig erklärt wurde. 105 Die Theresiana von 1769 legt eine gestaffelte, differenzierte Bestrafung nahe: 106 Die jeweilige Bestrafung oblag dem Ermessen des zuständigen Richters. Der Tatbestand der Unzucht, der sich strafrechtlich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts 107 ausbildete, wurde somit in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts allmählich beseitigt. So wurde der Ehebruch nicht mehr als Offizialdelikt behandelt, sondern nur mehr aufgrund der Klage des Ehegatten. Die Abschwächung der Kriminalisierung von Unzucht läßt sich auf normativer Ebene gut nachweisen, aber auch auf Ebene der Gaminger Akten nachvollziehen. Unzuchtsdelikte tauchen in der zweiten

worden. Siehe ebenda, Κ 4, Scheibbs, 1755 August 5, Summarisches Verhör mit Balthasar Doppler: weilten ihme andere herumbzichende leuth gerathen, er solle in Hungam reissen, aldort werden sie kopulirt werden, mithin wären sie beede miteinander forth und zu St. Jacob in Hungam ohnweith Hartberg gegen erlegung 1 fl. von dortigen pfarrer copulirt worden. 102 MEUMANN: Findelkinder (1995) 9 3 - 9 5 , das ganze Kapitel 57-95. Der Autor thematisiert das Problem der Unzucht vor allem über die Frage der Jugendversorgung. 103 FERDINANDEA (1656) 715, Artikel 81: „Wann ledige Persohnen in unehrlicher Beywohnung lebten / sollen sie zum ersten von ihrer Grund- oder Dorff-Obrigkeit / welcher auß ihnen jedwedem Orths dergleichen fleischliche Sünden bißhero abzustraffen in Übung ist / davon abzustehen / und die Persohn hinweg zuschaffen / mit Ernst vermahnet: zum andertenmahl durch scharffe Geld- oder Leibs- Straff abgeschreckt: und drittens sodann von dem Land-Gericht mit schärffer Leibs-Straff belegt werden." Z u m Streit zwischen Territorialprinzip und Personalitätsprinzip in Unzuchtsfragen ELLRICHSHAUSEN: Mutterschaft (1988) 58, 67f. Zur Gesetzeslage bei geschlechtlichen Delikten HELLBLING: Strafrechtsquellen (1996) 112-135. 104

(1937) 105

ELLRICHSHAUSEN: Mutterschaft (1988) 68. Zu den Geldstrafen SCHINDLER: Verbrechen 135-138.

FEIGL: Grundherrschaft (1998) 147-148; DERS.: Rechtsentwicklung (1974) 23.

C C T h (1769/1993) 222. Artikel 81: „und endlich, wenn solche zweymahlige Abwarn- und Züchtigung nichts fruchtete, und die Thäter von ihren bösen Lebenwandel nicht abstünden, auf fern e n Betretten durch das Landgericht mit einer gemessenen, und bewandten Umständen nach öffentlichen Leibsstraffe beleget, auch nach Gestalt der Sachen des Lands, oder respective Landgerichts auf ewig verwiesen werden solle." 106

107

V o r allem das Polizeirecht spielt eine große Rolle ELLRICHSHAUSEN: Mutterschaft (1988) 11,

7 2 - 8 6 , GLEDCNER: D a s M e n s c h ( 1 9 9 4 ) 7 3 - 7 5 .

132

Kapitel V

Hälfte des 18. Jahrhunderts seltener in den Gaminger Akten auf, das Verfolgungsinteresse in Fragen der Sexualmoral ließ nach. Tabelle 8:

Delikte vor dem Hofgericht Gaming 1710-1717 und 1722-1728 Unzucht

Schwängerung

Bettelei

Diebstahl

Urfehdebruch

Varia

Gesamt

1710

3

10

7

5

1

1

27

1711

4

9

-

3

-

-

16

1712

7

9

3

2

1

3

25

1713

5

4

-

2

-

-

11

1714

6

8

2

2

1

3

22

1715

2

4

1

5

-

-

12

1716

5

8

1

1

-

-

15

1717

4

2

-

2

-

-

1722

11

23

-

3

-

1723

2

7

-

-

-

-

1724

2

4

-

-

-

-

6

1725

2

11

-

-

-

-

13

1726

-

13

-

1

-

1

15

1727

5

7

-

-

-

-

12

1728

3

1

-

-

-

-

Gesamt

61

120

14

26

3

2 k.A.

10

8 39 9

4 234

Quelle: NÖLA, HA Scheibbs, Hs. 3/30.

Rund die Hälfte der im Gaminger Hofgerichtsprotokoll (1710-1717, 1722-28) aufgelisteten 234 Delikte, nämlich 120 (51,28 %), betreffen Schwangerschaft, gefolgt von 61 Unzuchtsfällen ohne Schwangerschaft (26,07 %) und 26 Fällen von Diebstahl (11,11 %). Mehr als drei Viertel innerhalb der Gesamtdeliktstruktur108 aller vor dem Hofgericht behandelten Fälle betrafen Sexualdelikte. Weiters sind 14 Fälle von Bettelei, meist mit falschen Patenten (rund 6 %), und drei Fälle von Urfehdebruch (1,28 %) verzeichnet. Gerade das letzte Delikt verdeutlicht auch die Probleme der Durchsetzbarkeit dieser an einen Landgerichtsverweis gekoppelten Strafe.109 Zehn Fälle (4,27 %) lassen sich keiner der gewählten Kategorien zuordnen.110 Diese niedergerichtliche Deliktstruktur spiegelt das breite Interesse des Hofgerichtes am Delikt der Unzucht mit/ohne Schwängerung und an geregelten Geburtsvorgängen wider. Die Strafen wurde nicht immer unmittelbar nach der „Tat", sondern oft mit beträchtlicher Verzögerung ausgesprochen und von den Tätern im Fall von Geldstrafen oft erst mit Verzögerung bezahlt.111 Die Rück108 Dazu WETTMANN-JUNGBLUT: Diebstahl (1990) 143f., 149ff.; BEHRINGER: Mörder (1990) 99, 110, 129-132. 109 Zum weitgehend unerforschten Thema Urfehde / Urfehdebruch siehe den kursorischen Überblick bei NlEDERSTÄTTER: Urfehdebriefe (1985) 11-22 und jetzt BLAUERT: Urfehdewesen (2000). 110 Die genaue Auflistung: 1710: 1 Fall von Gewalt; 1712: 1 Fall von Vergewaltigung, 1 Fall von Brandstiftung, 1 Fall k.a.; 1714: 1 Fall von Drohung, 1 Fall von unbeabsichtigem Feuer, 1 Mal Entführung; 1722: 2 Fälle k. Α.; 1726: 1 Fall von Schuldforderung. 111 NÖLA, HA Scheibbs, Hs. 3/30, pag. 103: Ferdinand Hoffmarer, des Ferdinand Hofmarer in Scheibbs söhn, diweil er in Landl ein mensch vor 2 jähren geschwengert, entricht sein gebühr den 5. Julii

Das Gaminger Hof- und Landgericht im 18. Jahrhundert

133

kehr der Dienstboten in den Jurisdiktionsbereich des Hofgerichtes könnte eine Erklärung für diese, allerdings nur selten belegte nachträgliche Bestrafung sein. Ein Blick auf die soziale Herkunft der in diesem Hofgerichtsprotokoll erfaßten Personen bestätigt, daß vorwiegend die wenig Begüterten (weil nicht Heiratsfähigen) und die Nicht-Seßhaften vom Hofgericht bestraft wurden. Von insgesamt 157 Personen liegen Berufsangaben vor (109 Männer und 48 Frauen). Viele der Angeklagten wurden nur mit ihrem Vor- und Familiennamen eingetragen, ohne daß ihre Standes- oder Berufsbezeichnung evident wird." 2 Der Hofrichter fügte bei Namen, die ihm oder den dörflichen Amtsrichtern bekannt waren, keine näheren Angaben zum jeweiligen Angeklagten hinzu.113 Einzelne Namen erscheinen sogar anonymisiert im Protokoll (ein schuechknecht namens Johann N.) die Angeklagten dürften also nicht immer den gesamten Namen der Kindsväter/mütter bzw. der Unzuchtstäter preisgegeben haben. Vor allem bei Unzuchtsdelikten erfolgt zusätzlich - jedoch nicht konsequent - die Angabe des ledigen Standes, die sich implizit auch aus dem standardisierten Beisatz der ungebirlichen Schwangerschaft ergibt. Vorwiegend Gesinde wurde vor dem Hofgericht hauptsächlich wegen der Unzuchtsdelikte abgestraft.114 Unter der Gruppe der 109 Männer lassen sich 45 Männer dem Dienstbotenstand oder einer vergleichbaren Berufsgruppe (etwa löttiger paurnsohn oder sein vatter ein taglöhner)115 zuordnen. Daneben spielten die „Handwerker" im weitesten Sinne eine große Rolle (insgesamt 48 Männer, 44 % der Gesamtzahl der Männer mit Berufsbezeichnung), die nahezu ausschließlich wegen Unzucht angeklagt waren: Die größte Gruppe innerhalb der Handwerker stellten korrespondierend zur dominierenden Eisenverarbeitung die eisenverarbeitenden Betriebe. Die Nagelschmiedgesellen, Hammerschmiedknechte oder Sensenschmied-„Buben" tauchen vor allem im Zusammenhang mit Unzucht auf (insgesamt 13 Männer, ca. 27 % der Handwerker). Danach lassen sich innerhalb der „Handwerksgruppe" je fünf Bäcker und Maurer, je vier Weber- und Müllergesellen, aber auch je zwei Schneider und Zimmerknechte als „fleischliche" Sünder im Gaminger Hofratsprotokoll finden. Die Gruppe der Soldaten - worunter sowohl abgedankte wie auch aktive Soldaten verstanden werden - ist in diesem Strafregister signifikant vertreten. Insgesamt lassen sich dreizehn Soldaten nachweisen (ca. 12 % der Gesamtzahl der Männer), die einerseits wegen Unzucht und andererseits wegen des Einsammelns des sogenannten „Laufgeldes" und gefälschter Bettelattestate verhaftet und abgestraft wurden. Besonders die dragoner sind in diesem Protokoll nahezu ein Synonym für Unzucht. Unter der Gruppe der Frauen mit ausgewiesener Berufsbezeichnung sind nahezu alle Betrof-

[1724]; ebenda, pag. 24: kumbt in arrest Sophia Reichenpfatterin, umb willen srye vor ain jähr von Jacob Schmeisßl, Weissenburgerischen unterdanß kind, an der Perwardt geschwengerth wordten ... [1712]. 112 Ebenda, pag. 106: bekhent Peter Pezenauer in der Edwiss, wie er mit N. Peurrlin, Graff Augustinischen waissin, sich fleischlich vermischet, seindt beede alhier abgestrafft worden [1725]. 113 Als Beispiel: Ebenda, pag. 49: Zumb anderen mahl wierdt abgestrafft Maria Stainerin, weillen sy mermahlen schwanger wahr, von Siman Mundner, ein naglschmit von Afflenz aus Steyrmarch, welcher von hier derentwegen entwichen [1715]. 1,4 Dazu MITTERAUER: Familienform (1979) 123-188, hier 125: Für 1870/74 wird im Bezirk Scheibbs der Anteil der unehelichen Geburten mit 20-30 % angegeben. 115 NÖLA, HA Scheibbs, Hs. 3/30, pag. 4 [1710] und ebenda, pag. 105 [1725].

134

Kapitel V

fenen Dienstmägde oder ledige Bauerntöchter (46 Frauen), die mit wenigen Ausnahmen wegen Schwangerschaft oder Unzucht verhaftet wurden. Der Pranger116 war einerseits ein herrschaftliches Symbol von niedergerichtlichen Rechtsansprüchen, zum anderen aber auch der Ort, an dem die öffentlichen Strafen des Niedergerichtes, oft unter Verwendung einer „Schandfiedel", vollzogen wurden. Die Landgerichtsobrigkeit (Normgeber bzw. Normexekutor) kommunizierte mit dieser Strafform in deutlicher Weise mit der „Öffentlichkeit" des Marktes Scheibbs und der Umgebung (Normadressat) als dem Gerichtsort. Strafen dienten der Verhaltenssteuerung zum Zweck der Verhaltenskonformität. 117 Die produktive Macht der Normen setzte sich, quellenmäßig kaum faßbar, im geänderten Verhalten der Untertanen fest. Die Wirkung dieser niedergerichtlichen Strafen in der face-to-face-Gesellschaft der Frühen Neuzeit muß groß gewesen sein. „Den Anderen zum Beispiel und der betreffenden Person zur Strafe" wurden diese kommunikativen Handlungen, anders als eine Leibstrafe, weder vom Landgerichtsdiener noch vom Scharfrichter, sondern von der Öffentlichkeit durch den „Spott des Volcks und zu ihrer [der Verurteilten] Schande"118 vollzogen.119 Die in der Öffentlichkeit verhängten Strafen blieben den Bewohnern lange im Gedächtnis haften. Niedergerichtsstrafen können im 18. Jahrhundert noch im wörtlichen Sinn in Geldstrafen umgewandelt werden. N u r in besonderen Fällen verhängte das Gaminger Hofgericht Ehrenstrafen, meist wurden Geldstrafen ausgesprochen, die eine der Haupteinnahmequellen des Gerichtes waren. Aber auch „gewöhnliche" Strafen waren wegen der Bloßstellung gefürchtet. Viele der Angeklagten suchten sich deshalb der Strafe durch Flucht zu entziehen. Der Sattlerlehrling Michael Pameder aus Perg (OÖ) sollte sich wegen Schwängerung einer Dienstmagd beim Landgericht Gaming stellen und wurde vom Landgerichtsdiener abgeholt. Um der Strafe zu entkommen, versteckte er sich auf dem Dachboden unter einem alten Bett: iber längs suechen aber solchen gefundten undt mit gewaldt miessen heraußziehen undt in arrest fieren, alda imbe die eissen angesperth undt 5 tag verarrestiertb, weillen sein maister aber vor alles gueth gestandten, ist er witterumb naher hauß gelasßen wordten, worauf er sein straff sambt allen gepieren richtig bezalt hat™ Der Meister dürfte die Strafe seines Lehrlings aus dessen zu erwartendem Lohn vorgestreckt haben. Die Gedächtniskultur des Rechtes währte lange,121 wie ein Fall aus dem Markt Scheibbs verdeutlicht. Der vierundzwanzigjährige Seifensiederknecht Paul 116

DÖPLER: Schau-Platz. Bd. 1 (1693) 829-840; dazu nach wie vor unerläßlich BADER-WEISS, BADER: Pranger (1935); HORNA: Pranger (1937); HAUER: Pranger (1927) 130-138, 142-148. Der Pranger zählte zu den „extra-ordinari und willkürlichen" Strafen, siehe Artikel 52 der L G O 1656, in: FERDINANDEA (1656) 683-684. Vgl. DÜLMEN: Theater (1988) 62-80 und SCHMIDT-WffiGAND: Pranger (1984) Sp. 1877-1884. 117 KERNER: Sanktionen (1993) 437-439; FOUCAULT: Überwachen (1987) 35ff. 118 ZEDLER: Universal-Lexikon 29 (1961/1741) Sp. 186. 119 Zu schimpflichen Prozessionen und Attributen LUTZ: Sitte (1954) 130-257 [Belege zur Geige siehe 159f.]. Im Kontext der Schandstrafen auch MOSER: Jungfernkranz (1976) 140-161. Zu Leibstrafen (vorwiegend Mittelalter) KAUFMANN: Leibstrafen (1978) Sp. 1777-1789. 120 N 0 L A , H A Scheibbs, Hs. 3/30, pag. 8 [1710], Kramer führt ein Beispiel an, w o nach 40 (!) Jahren eine Strafe instrumentalisiert und als Vorwurf in einem Streit verwendet wird, siehe KRAMER: Franken (1957) 97. 121 GRAF: Das leckt (2000) 245-288.

Das Gaminger Hof- und Landgericht im 18. Jahrhundert

135

Tschermann schwängerte im Jahr 1770 eine Dienstmagd, der er zuvor die Ehe versprochen und als Symbol dafür sogar einen goldenen Ring überreicht hatte. Als die Dienstmagd schwanger wurde, wollte der Seifensieder von seinen Versprechungen nichts mehr wissen. Der Gaminger Hofrichter Karl Lorenz Raich vermittelte in diesem Alimentationsstreit einen Vergleich, wobei er auf die Subsistenzlosigkeit beider „Parteien" hinwies und daß weder einem noch dem andern mit der verehelichung das mindeste geholfen ist}11 Zwei Jahre später, im Jahr 1772, heiratete Paul Tschermann die verwitwete Seifensiedermeisterin Theresia Pragerin in Scheibbs, bei der er auch schon 1770 in Diensten gestanden war. Doch auch dieser soziale Aufstieg ließ den Makel, der an ihm haftete, nicht vergessen. Einige Bürger erhoben daraufhin beim Scheibbser Marktherrn gegen Tschermann Einspruch, als er um Erteilung des Bürgerrechtes ansuchte. Seine schlechte conduite hing ihm nach. Der Gaminger Prälat Stephan II. (1758-1782)123 wartete mit der Erteilung des Bürgerrechtes noch zu, bis Tschermann seine aus dem Jahre 1770 noch ausständige, wohlverdiente straf per 12 lb. wax zur kirchen bezalt und abgeführt hätte.124 Diese in Wachs zu zahlende Kirchenstrafe dürfte vom neuen Seifensiedermeister erst nach einiger Zeit erlegt worden sein. Das Marktgerichtsprotokoll vermerkt seine Aufnahme zum Bürger erst ein Jahr später, im Jänner 1773.125 Tabelle 9:

Strafe vor dem Hofgericht Gaming 1710-1717, 1722-1728 Schwängerung

Unzucht

Diebstahl

Bettelei

Varia

Gesamt

11

18

16

10

2

57

Ehrenstrafen

4 (nur F)

3

-

-

1

8

Rekrutierung

2 (nur M)

3

5

1

-

1

Landgerichtsverweise

3 ( n u r F)

1

-

-

-

4

Geldstrafen

58 ( M + F )

20

-

-

-

78

45

21

11

3

Arrest

Gesamt

78 158

Quelle: N Ö L A , H A Scheibbs, HS 3 / 3 0 - Legende: Μ - Männer; F - Frauen.

Knapp die Hälfte der hundertachtundfünfzig ausgesprochenen Strafen war in Geld zu begleichen (49,37 % der Gesamtstrafen). Vorwiegend Unzuchtsdelikte und Schwangerschaften wurden mit Geldstrafen belegt. Die zweithäufigste Sanktionsform waren Arreststrafen (36,08 %), die sich fast gleichmäßig auf alle im Hofgericht vorkommenden Deliktarten aufteilen. Die Rekrutierungen, also die zwangsweise Stellung zum Soldaten, als eine männliche Sanktionsform stehen an der dritten Stelle (6,96 %). Vorwiegend Diebe, aber in geringerem Umfang auch unzüchtige Männer oder Urfehdebrecher wurden damit belegt. Die relativ selten verhängten Ehrenstrafen (5,06 %), mit denen bis auf eine Ausnahme nur Frauen belegt wurden, fanden vor allem bei Unzucht und Urfehdebruch Anwendung.126

N Ö L A , G A Gaming, Κ 6, Scheibbs 1770 September 15. ·' JELINEK: Scheibbs (1952) 69-70; TOPOGRAPHIE N Ö Π (1893) 289-291. 124 N Ö L A , G A Gaming, Κ 6, Scheibbs, 1772 Mai 7, Schreiben des Scheibbser Marktrichters und Rates; Bearbeitungsvermerk datiert mit Gaming, 1772 Juli 7. 125 StA Scheibbs, Ratssitzung 22. Jänner 1773, fol. 276 r _ v . 126 Dazu FRANK: Lippe (1995) 192-199; Als obrigkeitliche Strafe für leibeigene Hufner und de122

,2

ren Knechte GÖTTSCH: Alle für (1991) 268-277.

136

Kapitel V

Als eine letzte und selten angewandte Strafform taucht der Landgerichtsverweis auf (2,53 %), mit dem vor allem unzüchtige Frauen belegt wurden. In der Gaminger Strafpraxis folgte auf ein im Strafprotokoll festgehaltenes Delikt nicht immer eine bestimmte, klar definierte Strafe, sondern die Strafzumessung hing von mehreren, quellenmäßig teilweise nicht weiter greifbaren Faktoren (z.B. „second code") ab.127 Nicht immer wird die Begründung für unterschiedliche Verfahrensweisen vor Gericht so deutlich wie im folgenden Fall: Vermutlich im Juli 1712 kam der abgedankte Soldat und Händler Bernhard Stuschein mit einer schwangeren Frau namens Maria Hämin vor das Landgericht. Der ehemalige Soldat wurde aufgrund seiner von Kuruzzen verstümmelten Hand freigelassen.128 Das frühere, „gemeinnützige" Leben des Angeklagten als Soldat wog mehr als sein momentanes „kriminelles" Vagieren. Seine Frau belegte man dagegen mit Arrest und Eisenfesseln und hielt sie zur Arbeit an. Auch alle wochenmarkht den ganzen dag unter allen leithen in kam koth außfiern miesßen und solches hat gewerth 44 tag, worauf ihr daz landtgericht verwisßen.129 Mit dieser Strafe wurde, durchaus vom Hofgericht beabsichtigt, die Funktionsgemeinschaft dieses Bettlerpaares zerrissen. Der abgedankte Soldat mußte weiterziehen, während seine Lebens- und Weggefährtin mit Zwangsarbeit belegt wurde. Noch Ende des 17. Jahrhunderts bestand im Gaminger Landgericht die Alternative zwischen Prangerstrafe mit Ausstreichen durch Ruten und der Abbüßung der Strafe durch Wallfahrt, wie ein Sitzungsprotokoll belegt: In einer Gedingsitzung über einen Diebstahlsfall plädierten vier der insgesamt sechs urteilenden Beisitzer, allesamt Scheibbser Bürger, für eine Rutenstrafe von einem „halben Schilling" (15 Streiche), zwei andere dagegen für 3 khürchfarthen oder Landgerichtsverweis.130 Der Dieb wurde schließlich zu einer Auspeitschung beim Pranger und zu Landgerichtsverweis verurteilt. Ein Vergleich der Delikte mit den dafür vergebenen Strafen ergibt nur in den eindeutig zuordenbaren Fällen von Schwängerung bzw. mehrmaliger Unzucht ein klares Bild der Strafpraxis. Der Großteil der Fornikationsstrafen wurde in eine Geldbuße umgewandelt, wobei die Höhe des Wandels neben dem finanziellen Vermögen davon abhing, ob die Person bereits einmal oder schon öfters in dieser Sache vor Gericht gestanden hatte. In der Regel war erst beim dritten Vergehen eine Umwandlung in eine Geldstrafe nicht mehr möglich. Erschwerend wirkte bei Unzuchtsdelikten auch, wenn ein Angeklagter bzw. eine Angeklagte verheiratet war.131 Zwei wiederholt straffällig gewordene Männer wurden im untersuch-

SCHÖCH: Strafzumessung (1993) 523-528. NOLA, Hs. 3 / 3 0 , pag. 9: Der abgedankte Soldat Christoph Kamperger, der mit einem Pilgerbrief unterwegs war, derowegen er merist almosßen bekhumben, darumben er 2 tag in arrest angehalten wordten, weillen er aber vor 3 jähren durch die kurzen [Kurruzzen] [...] so erschrökhlich zerhaut wordten [...] so ist er in gnaden ohne brieff witterumb entlassen wordten [1710], 129 Ebenda, pag. 26 [1712], 130 NÖLA, GA Gaming, Κ 1, vermutlich 1699, Ende Februar [undatierter Zettel]: je ein Gedingsbeisitzer plädierte für: 3 khirchfarthen und landtgericht verwisen; einer für: 3 khürchfarthen und einer für: 'Λ schilling·, ein anderer: auf 3 khirchfarthen. 131 N O L A , HA Scheibbs, Hs. 3/30, pag. 7: aldieweillen er Simon Paur verheyrath undt doch diß begangen, ist er auf obrigkeitlichen pefehl in eissen undt pandt geschlagen wordten undt in Gäming ain Wochen lang zue harter arweith angehalten und nachgehents daß landtgericht verwisßen wordten [1710]. 127 128

Das Gaminger Hof- und Landgericht im 18. Jahrhundert

137

ten Zeitraum zu R e k r u t e n verpflichtet, drei mehrfach belangte Frauen des Landgerichtes verwiesen. Zusätzlich zu Körper- oder Ehrenstrafen wurde ein Landgerichtsverweis bei Unzuchtsdelikten mehrmals verhängt. 132 Häufig waren Kombinationen verschiedener Strafen vorgesehen, etwa eine Arreststrafe in Eisen und Band mit anschließender ehrmindernder Rutenstreichung. Die Prügelstrafe galt aufgrund ihrer vorwiegenden A n w e n d u n g bei der Unterschicht als ein „Privileg der kleinen Leute". 133 N e b e n den Ehrenstrafen spielte die Arreststrafe, auch als Nebenstrafe, eine größere Rolle. In einigen Fällen - leider fehlt die explizite Urteilsbegründung daf ü r in den Quellen - w u r d e bereits die zweite N o r m v e r l e t z u n g in Unzuchtsangelegenheiten mit Arreststrafen belegt. Gertraud Königshofferin, vermutlich eine Dienstmagd, wurde bereits einmal wegen illegitimer Schwangerschaft verurteilt; deshalb verhängte man über sie, weillen sie schon daz änderte mal in der straffi134 einen zwanzigtägigen Arrest zur Strafe. Das Gefängnis (der „kotter") sollte nach den normativen Texten der F r ü h e n Neuzeit keine Strafe, sondern lediglich Verwahrort der Gefangenen während der Gerichtsuntersuchung bis z u m Abschluß der Verhandlung sein. 135 Die Ferdinandea von 1656 vermerkt im 27. Artikel, daß der Gefangene dort n u r verwahrt werden solle, wobei er im Arrest ohne Gefahr deß Lebens und der Gesundheit verbleiben können,136 Die Arrestbedingungen müssen sehr schlecht gewesen sein, 137 sodaß ein K o m m e n t a r zur Landgerichtsordnung noch 1751 m a h n e n d darauf hinweist, daß „der locus Arresti vielmehr f ü r eine immerwehrende T o r t u r , als p r o loco custodiae anzusehen." 138 Z u r neuen Ö k o n o m i e der Strafe gehörte neben dem schon länger praktizierten Verkauf von Galeerensträflingen an die Mittelmeerstaaten auch die G r ü n d u n g v o n Arbeits- u n d Spinnhäusern sowie der ersten Zuchthäuser (in Wien ab 1671), die eine neue N u t z u n g dieses brachliegenden Arbeitspotentials versprachen u n d gleichzeitig die Erziehung der Insassen ü b e r n e h m e n sollten. 139 N u r f ü r die ertappten Diebe u n d Bettler lassen sich in der Praxis eindeutige Strafzuordnungen feststellen: Diebe w u r d e n entweder, w o dies aufgrund der körperlichen Voraussetzungen möglich war, z u m Militär eingezogen oder mit Arrest bestraft. Dies war auch f ü r die Klosterherrschaft Gaming o p p o r t u n , weil somit das Rekrutierungskontingent auf einfache Weise erfüllt werden k o n n t e u n d die lästige Rekrutierung, ein beständiges früh132

HOLZHAUER: Landesverweis (1978) 1444; SCHNABEL-SCHÜLE: Landesverweis (1995) 73-82. Z u d e n Prügelstrafen f ü r N o r d d e u t s c h l a n d SlEVERS: Prügelstrafe (1976) 195-206; KAUFMANN: Prügelstrafe (1990) Sp. 76-80; f ü r das Militär MALFER: D i e Prügelstrafe (1985) 206f. 134 N 0 L A , H A Scheibbs, Hs. 3 / 3 0 , pag. 113 [1727]; ebenda, pag. 89: Gertraudt Prunerin, umbwillen sie ein neugebohmes kind hingelegt, in arrest verbliben bis 16. Juni, weillen es schon das 3" mahl, in pranger zu stellen und das landgericht zu verweissen [1722], 133

135

HOCHENEGG: M a l e f i t z p e r s o n e n (1989) 145-153. A u s einem P a t e n t W i e n , 1644 F e b u r a r 22. C A I, 668, auch SCHEUTZ, TERSCH: Vogl (1995) 694-699; FRANK: Lippe (1995) 199-207. 137 Z u m G r e i n b u r g e r P r o z e ß 1694-1695 WENTKER: G r e i n b u r g (1995) 137: ü b e r einen i m Gefängnis t o t a u f g e f u n d e n e n M a n n wegen grosser khälte in dem windter gleichwohlen leidentlich hat besehechen müessen. Z u Z u c h t h ä u s e r n STEKL: Z u c h t h ä u s e r (1978); LEITMAIER: G e f ä n g n i s k u n d e (1890) 151204; SCHINDLER: V e r b r e c h e n (1937) 72-89; VALENTIN1TSCH: Z u c h t h a u s (1978) 495-514. Z u r Archit e k t u r RIEDL: G e f ä n g n i s b a u (1968). Allgemein LlEBERWIRTH; Gefängnis (1971) Sp. 1431-1433. 136

138

Z u r L G O 1656 BRATSCH: L a n d - G e r i c h t s - O r d n u n g (1751) 65. SCHMIDT: Strafrechtspflege (1965) Paragraph 184. Z u r Genese der „Gefängnisse" kritischer A u f r i ß bei FlNZSCH: Ö k o n o m i e (1990). F ü r Salzburg BENEDER: Arbeitshaus (1998) 383-442. 139

138

Kapitel V

neuzeitliches Übel und beträchtliches Unruheelement, vermieden werden konnte. 140 Meist mußten bei längerer Haftdauer Herrschaftsarbeiten verrichtet werden, wobei man die Häftlinge zur Sicherung in eisen und bandt schlug. Die Internierungen wurden oft durch Entzug von Essensrationen während dieser Zeit oder an bestimmten Tagen verschärft. Die Arrestlänge hing einerseits vom Wert des gestohlenen Guts ab, andererseits wurden Wiederholungstäter stärker bestraft. Am 26. Juli 1713 wurde der Bauernknecht Andre Schachner nach Scheibbs geliefert, umbwillen er bey herrn lebzelter eine almosßenpixen sambt den gelt gestollen, ingleichen seiner maimb zu Hochstrass offt gelt aus dem sakh, eben auf dem kirchdang [sie!] bistweillen riemb, griene kappen, hieth undt unterschiedliche angriff, derowegen er zur arweith in eisßen undt bandt angehalden wordten 35 tag undt undt [sie!] darauf entlasßen.w Die Arreststrafe endete entweder mit Rutenstreichen (öffentlich am Pranger oder heimlich in der Gerichtsstube) oder mit Prangerstehen, manchmal verschärft durch das „spiegelnde" Tragen der gestohlenen Gegenstände,142 danach erfolgte der befristete oder unbefristete Verweis aus dem Landgericht. Bei Unzuchtsverfahren wurden beim ersten wie beim zweiten Mal eine Geldzahlung als Strafe gefordert, erst danach erfolgte eine Strafverschärfung durch Arrest, Einziehung zum Heer oder Landgerichtsverweis. Eine Auflistung der vom Gaminger Hofgericht ausgesprochenen Ehrenstrafen ergibt - analog zu den normativen Erwähnungen in den Weistümern - ein geschlechtsspezifisches Bild. Das niederösterreichische Banntaiding von Hornstein 1670 ordnete an, daß zänkische Frauen den ganzen Tag vor dem Gerichtsgebäude sitzend in die Fiedel eingespannt verbringen mußten. 143 Besonders als Frauenstrafe 140 NÖLA, HA Scheibbs, Hs. 3/30, pag. 1: Philipp Illingberg, ein Bauernknecht, wegen Diebstahl und Schwängerung: so ist von imbe bey hoffgricht khein geltstraff meer angenohmben worden, sondern imbe zu ainem Soldaten gemacht undt vors closter Gäming außgesendet wordten, nach dissen uneracht nach 3 wochen kumbt von Wien geschriebm, daz er witterumb sey durchgangen undt außgerisßen [1710]. 141 NÖLA, HA Scheibbs, Hs. 3/30, pag. 34 [1713]. 142 Ebenda, pag. 30: Item war von Gäming heraußgelifferth Sophia Paumanin, lettiges mensch, aneß daglöner dochter von Lunz, umbwillen sy in Rottenlehner zway dienstmenschem gewandt gestollen, welches außgetragen bis 3ß., wallen aber solches noch verbanden, ist sy 19 tag zur arweith angehalten wordten, worauf mit einen binckhl gewandt in pranger gestelt undt auf ain jähr daz landtgericht vermissen [1712]. daneben auch Rutenstrafen als Strafe für Diebe: ebenda, pag. 8: mit 9 tägigen arest undt mit ainem geringen arsch schilling [1710 - Hans Paul Siraer]; ebenda, pag. 48: derowegen er 12 tag in eissen undt bandt verarrestierter angehalten wordten, darauf mit 15 krowätsch straich abgestrafft undt die Gämmingische herrschaften verpotten [1715 - Joseph Hausstainer], 143 „[...] daß den zänkischen Weibern / Mägden und andern dergleichen Personen / auch Jungen / die Geigen angeschlagen werden", DÖPLER: Schau-Platz, Bd. 1 (1693) 747-748. Siehe auch BLAHA: Ehrenstrafen (1994) 29; N Ö W I, 345, Ζ 32-35: Rohr und Schwarzau im Gebirge [Ende 17. Jh.] (Scheitworte): „So ain weib daß antere bößlich schildt, übel handelt und außricht, ist daß wandl 32 den. auch soll der richter oder ambtmann derselben die fidl anhenken und mit dem pachstain straffen, verschuldt sie aber ain mehrers, so solle sie auch höher gestrafft werden"; weitere Schandfiedelbelege (in Auswahl): N Ö W I, 424, Ζ 27-32: Velm und Gutenhof [1725]; N Ö W I, 633, Ζ 14-17: Liesing [2. Hälfte 17. Jh.] („Verbottene Scheltwort"); N Ö W I, 1010, Ζ 17-23: Lockenhaus [Ende 17. Jh. ]; N Ö W II, 55, Ζ 18-21: Weikendorf [1697]; N Ö W III, 567, Ζ 1-3: Ratzenberg [1641] (Machtsymbol des Amtmannes): „Erstlichen hat ain herr praelath zu Seisenstain macht ainen ambtmann zu setzen und derselbe ambtman hat stock und eisen, fidl und wie dergleichen gefengnussen nahmen haben mögen"; N Ö W IV, 87, Ζ 37-41: Traiskirchen [circa 1755]: „so es menscher seind die füdl oder den wagstein zu tragen"; O Ö W IV, 266, Ζ 16-18: Herrschaft Traun [Mitte 17. Jh.] (Zank und gewalttätige Handlungen): „Die weiber sollen ihrer verbrechen wegen so lang mit der gefenknus, fidl und eisen angehalten

Das Gaminger Hof- und Landgericht im 18. Jahrhundert

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für Unzucht scheint die Fiedel Verbreitung gefunden zu haben. Das Tragen der schweren Bagsteine, die ein Gewicht von 10 bis 35 Kilogramm haben konnten, scheint ebenfalls bevorzugt über streitende und raufende Frauen verhängt worden zu sein. Diese Steine mußten durch den Markt zum Pranger oder während der Abhaltung des Wochenmarktes getragen werden.144 Männer wurden dagegen in den Bock gespannt, wofür sich im obgenannten Gaminger Hofgerichtsregister aber kein Beleg fand. Die Schandfiedel oder „Geige"145 als eine niedergerichtliche Sanktionsform fand beim Gaminger Hofgericht nur bei Frauen für die Delikte der Ehrenbeleidigung, Unzucht und Diebstahl Anwendung. Einschränkend muß aber hinzugefügt werden, daß die Strafpraxis der Gerichte großen regionalen Schwankungen unterworfen sein dürfte.146 Der zu einer Schandstrafe Verurteilte wurde eine Zeitlang sitzend oder stehend beim Pranger öffentlich zu Schau gestellt und dabei in eine mit einem Scharnier ausgestattete Fiedel eingeklemmt, die Aussparungen für Kopf und Hände aufwies. Der Delinquent wurde während der Schaustellung vom Gerichtsdiener bewacht. Ehrenstrafen wurden gerade an Wochenmarkttagen auf dem Marktplatz oder vor den Kirchentüren ausgeführt, wo mit einer entsprechend großen „Öffentlichkeit" zu rechnen war. Obwohl von einem weltlichen Gericht verurteilt, war die Kriminalisierung der „Sünde" ein öffentliches Anliegen.147 Besonders beim Verweis aus dem Gerichtsbereich war dies üblich, „damit der Uebelthäter von der Volksmenge in genaue Erkänntniß gebracht und bey seiner verbotenen Ruckkehr desto geschwinder entdecket werde."148 Die Viehmagd Sophia Auerin, die bei einem Lunzer Schuster in Dienst stand, mußte beispielsweise 1715 aufgrund eines, mit einem sozial höhergestellten Bauern begangenen Fornikationsdeliktes vor und nach dem Gottesdienst under allen leithen auf einen schamb stehen [...], nebst

w e r d e n , biß sie die auferlegte straff richtig gemacht". Z u r soziologischen Seite allgemein ESSER: Ehrenstrafe (1956) 42-55. 144 DÖPLER: Schau-Platz, Teil 1 (1693) 829-840; z u m P r a n g e r S. 744-745: „Steine / daran eiserne K e t t e n u n d Hals-Bänder gemacht sind / welche m a n den D i e b e n / so d e n Staupen Schlag n o c h nicht verdienet / oder den gemeinen H u r e n / u n d andern v e r r u c h t e n gottlosen L e u t h e n an die Hälse / oder ü b e r die Achseln her henget / oder in die H ä n d e giebt / sie solcher gestalt öffentlich vorstellet / o d e r auch w o h l d a m i t etliche m a h l a u f n M a r c k t h e r u m gehen lässet / männiglichen z u m Spectacul u n d Abscheu." F ü r N Ö . WESTERHOFF: Prangersäulen (1994) 13 (ohne Zitatangabe). 145 Belege auch bei: ZEDLER: Universal-Lexikon 40 (1744/1962) Sp. 499-629; QUANTER: E h r e n strafen (1901) 80-113; SCHINDLER: V e r b r e c h e n (1937) 118-135, LlEBL: A l t e r t ü m e r (1951) 25-27; BALTL: Rechtsarchäologie (1957) 41f .; MAISEL: Rechtsarchäologie (1992) 152. Zahlreiche Z e i c h n u n g e n v o n N Ö . P r a n g e r n bei WESTERHOFF: Prangersäulen (1994); STEININGER: Rechtsarchäologie (1979) 5 27; DERS.: Schandfiedelstrafe (1973) 95; DERS.: Schandstrafgeräte (1993) 359-368; SCHILD: Gerichtsbarkeit (1980) 214, 226, 227. Z u r E h r e i m 19. J a h r h u n d e r t FREVERT: M a n n (1995) 166-222. 146 G e s t ü t z t auf Material des Stadtarchivs Eggenburg HAUER: Bagstein (1915) 250-252. DERS.: K r e u z (1912) 38-41. O b e r f l ä c h l i c h dargestellt bei N . N . : Ehrenstrafen, in: HlNCKELDEY: Strafjustiz (1980) 161-162. M i t a n d e r e n Ergebnissen ELLRICHSHAUSEN: M u t t e r s c h a f t (1988) 135f., der auf Basis v o n 500 O b e r ö s t e r r e i c h i s c h e n U n z u c h t s f ä l l e n keine „pauschal gehandhabte geschlechtsspezifische U n gleichbehandlung v o n M ä n n e r n u n d F r a u e n " feststellte. 147 A u f b a u e n d auf e i n e m Z i t a t v o n G e o f f r e y E l t o n z u r T r e n n u n g v o n Sünde u n d V e r b r e c h e n SCHILLING: Sünde (1986) 169-192. Z u Kirchenstrafen LUTZ: Sitte (1954) 173f. u n d BEHRINGER: M ö r der (1990) 121. 148 C C T h (1769/1993) 12. A r t i k e l 6, P a r a g r a p h 8, A b s a t z 2. Z u d e n E h r e n s t r a f e n SCHWERHOFF: K ö l n (1991) 138-145. Schwerhoff spricht v o n einer in K ö l n w e n i g g e n u t z t e n S t r a f f o r m .

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angehengter fitl undt darauf entlasßen.145 Der Besuch des Gottesdienstes war für alle Untertanen verpflichtend und wurde zudem kontrolliert. Dieser Umstand führte übrigens zu vielen Diebstählen, weil Diebe häufig darauf warteten, bis alle Bewohner das Bauernhaus zum sonntäglichen Meßbesuch verlassen hatten. Alle Besucher der Kirche, ob Dienstmagd, Knecht, Kinder oder Bauern, sahen damit die zu dieser Ehrenstrafe verurteilte Dienstmagd. Am selben Platz stand im Jahr 1714 auch die Dienstmagd Sophia Wierin, die auf diese Weise wegen Unzucht mit einem Dragoner gestraft wurde.150 Die Furcht vor Ehrenstrafen war groß, wie das Beispiel eines Abtenauer Bauern zeigt. Dieser bezahlte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wegen zweifachen Ehebruchs die außerordentlich große Summe von 160 Gulden, um eine drohende Ehrenstrafe abzuwenden.151 Das Gaminger Hofgericht verteilte aber nicht nur Strafen, sondern scheint auch fallweise am weiteren Wohl der Kinder interessiert gewesen zu sein. Ein Kindesvater wurde zur Unterhaltszahlung für die Kindesmutter während der Kindbettzeit verurteilt.152 Der Ehre - früher meist nur in ihrer negativen Ausformung, der Infamie,153 behandelt - kam im frühmodernen Europa eine besondere Funktion zu, die es jederzeit zu verteidigen oder zu vermehren galt.154 Schon das gemaine geschrey konnte die Ehre so belasten, daß es entweder durch Einschreiten der Obrigkeit oder durch Selbstanzeige prozeßauslösend wirkte. Meist wurde die aggressive Haltung der Zünfte in Fragen der (Handwerks-)Ehre überschätzt und auf die gesamte frühmoderne Gesellschaft überschlagen, was aber zumindest, soweit es die Scharfrichter betrifft,155 keine gesicherte Quellenbasis besitzen dürfte. Das „symbolische Kapital" bzw. „Vermögen" des Präsentierten wurde durch eine Ehrenstrafe geschmälert. Die Vorstellung, der einer jeden Person anhaftenden Ehre, ermöglichte als abstraktes Prinzip die Wahrnehmung der eigenen Person in Beziehung zur Umwelt. 156 Ehre als Begriff mußte inhaltlich aber ständig neu „geladen" bzw. verteidigt werden. Die „persönliche Ehre als Feld gleichrangiger Auseinandersetzungen"157 war vor allem bei seßhaften, im Umkreis bekannten Personen äußerst verletzlich. Ehrvorstellungen konnten auch durch die Obrigkeit als System sozialer Kontrolle instrumentalisiert werden und boten sich zur NÖLA, HA Scheibbs, Hs. 3/30, pag. 47 [1715], Ebenda, pag. 43 [1714]. 151 AMMERER: Sexualität (1994) 131. Zur Sanktionierung der Unzucht ZEHENTNER: Gasseigehen (1993). An Innviertier Material FRUHSTORFER: Konfliktreicher Alltag (1997) 57-66. 152 NÖLA, HA Scheibbs, Hs. 3/30, pag. 105: Vor sie Maria in der kindtbeth zallen 1 mezen kom, Vi mezen waiz, ain achtel schmalz, 1 fl. gelt, folgsam des pfarrers unkhosten; solle er hezallen nicht weniger, wan daz kindt jähr und tag erreicht, solle er solches leztlichen gehrauchen und auferziehen. Anstat dessen was er in die kindtbett geben soll, wolle er die 5 fl. straff bezahlen [1725]. Dazu auch BECKER: Leben (1990) 272-274 und zu Alimentationsklagen BREIT: Leichtfertigkeit (1991) 142-150. 153 Für Niederösterreich (mittlerweile veraltet) FRIESS: Rathhaus (1895) 91-129, und DANCKERT: Unehrliche (1979). Zur Kritik an der generalisierenden Methode Danckerts FUCHS: Unehrliche Berufe (1989). 154 SCHWERHOFF: Verordnete Schande (1993) 182. 155 NOWOSADTKO: Scharfrichter (1994) 292-330. 156 BURGHARTZ: Leib (1990) 15f. Die Autorin verweist auf das Oszillieren zwischen persönlichen Ehrcodes und dem Stadtfrieden. 157 GLEIXNER: Gesamtgericht (1995) 320. 149

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Sichtbarmachung abweichenden Verhaltens an.158 Die Ehre der Frauen war durch Ehren- und Schandstrafen viel verletzbarer und auch leichter belangbar als die der Männer.159 Während Männer, die zum wiederholten Mal Unzuchtsdelikte begingen, vom Gaminger Hofgericht entweder zum Militär eingezogen, in den Arrest geschickt wurden oder erhöhte Geldstrafen bezahlen mußten, waren Frauen häufiger von dieser sozialen Ehrenminderung betroffen. Im genannten GamingScheibbser Hofgerichtsprotokoll findet sich nur für einen einzigen Mann eine Ehrenstrafe;160 siebenmal wurde dagegen diese Strafe über Frauen verhängt. Nicht nur die Armut einer Betroffenen hatte in Gaming wie andernorts161 zur Folge, daß die Strafe nicht mehr - wie dies für das Landgericht in finanzieller Hinsicht wünschenswert gewesen sein mag - in eine Geldstrafe umgewandelt werden konnte, sondern auch Wiederholungstäter wurden mit einer Ehrenstrafe belegt. [...] undt weillen solche schon daß drite mall schwanger, also ist bey hoffgricht kheine geltstraff meer angenohmben worden, sondern zu ihrer wollverdienten straff und antern zum schröckhen und abscheuen in ainem garmb angeschmit wordten, darein einen grosßen stain gelegt und deß tags 4 mall den markht auf undt niter fahren miesßen und in der gleichen bueß sich 6 wochen aufhalten mießen (1710).162 Auch eine ungewöhnlich große Anzahl von Sexualpartnern hatte eine öffentliche Strafe zur Folge. Die schwangere Maria Foglin, die neben dem vorgeblichen Kindsvater, noch dazu einem verheirateten Mann, weitere 13 Männer als Geschlechtspartner

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DINGES: Maurermeister (1994) 139-172. Zum Begriff des symbolischen Vermögens im Gegensatz zu Bourdieus symbolischem Kapital 24ff. 159 MEUMANN: Findelkinder (1995) 79-80. „Nach den Gesetzen waren die Strafen für Männer durchwegs höher als für Frauen. ... In der Realität wurden Männer aber offenbar seltener bestraft, wie das Beispiel der Göttinger Soldaten lehrt. Die Frauen traf dagegen meist die ganze Härte der Strafen. Zum einen ließ sich ihr ,Vergehen' wegen der Schwangerschaft kaum verheimlichen, zum anderen waren sie häufig dem Verdacht der Sittenlosigkeit ausgesetzt und erhielten folglich einseitig die Schuld zugeschoben. Bedenkt man, daß auch die sozialen und wirtschaftlichen Folgen unehelichen Beischlafs für eine Frau ungleich schwerwiegender waren, kann man zusammenfassen, daß die Sittengesetzgebung insgesamt hauptsächlich zu Lasten der Frau ging." 160 Die einzige Ausnahme 1710: N Ö L A , HA Scheibbs, Hs. 3/30, pag. 6: Den 3,m May kumbt auf das lauffgelt mit ainem falschen prieff undt vor ainen soldathen sich außgebent Johaneß Spanring, ein schneidter von Aussehe, auß dem landt ob der Ensß gepiertig, mit ainem bey sich habenten weihbshilt nahmenß Eva Barbara Plögin auß Bömen gebiertig undt weillen solche schon bis 6 jähre in der wilten ehe beysamen undt auch 2 kindter erzeigt, welche aber gestorben, also war sye nach zway tägigen arrest ein stund lang in die prechl gestelt wordten und darauf mit ettlichen straich daz landgenchts verwisßen, er aber in eisßen zur harter arweith angehalten wordten, darauf in branger gestelt und daß landtgericht verwisßen, imbezueainer abscheulichen straff undt anteren zum exempt [ 1710]. 161 StiftsA Admont, Gallenstein Nr. 89 a, Gerichtsprotokoll der Herrschaft Gallenstein [unfoliiert]: Jacob Hagauer mit Regina Lintnerin; er daz 3" und sye daz 2" mall, sye hat nichts, dahero am leib zu bestraffen, er aber erlegt per 12 fl. (1732); Georg Hayder und Maria Ertlin beede daß erste mahl, sye hat nichts, dahero an leib gebüesset, er erlegt 3 fl., zu verrechnen 2 fl. (1746); Joseph Kössler und Maria Cruebmüllerin, beede daz erste mahl, sye hat nichts, dahero am leib gebüesset, er erlegt 3 fl. zu verrechnen 2 fl. (1751). S i e h e a u c h BREIT: L e i c h t f e r t i g k e i t (1991) 1 3 4 - 1 3 6 . 162 N Ö L A , HA Scheibbs, Hs. 3/30, pag. 2 [1710], Zu Schandstrafen im Überblick QUANTER: Ehrenstrafen (1901) 187ff., zur Strafe des Schubkarrenfahrens BLAHA: Ehrenstrafen (1994) 63; siehe auch Hs. 3/30 pag. 96: Gertraud Winterbacher wird mit der fiedl auf die schandtbühne gestellt und zur besßerung vermahnet, weil sie sich zum dritten Mal ungebührlich hat schwängern lassen [1722]; ebenda, pag. 89: Gertraud Prunerin, umbwillen sie ein neugebohrnes kind hingelegt, in arrest; verbliben bis 16. Junii, weillen es schon das 3" mahl, in pranger zu stellen und das landgericht zu verweissen [ 1722],

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nannte, wurde zur Strafe 1712 in Eisen und Band geschlagen und vor der Kirche 3 Suntag in der fittl gestandten undt daz landtgericht verwißen}a Schand- und Ehrenstrafen beschränkten sich aber nicht ausschließlich auf Sexualdelikte. Im Bereich der „petite deliquence", bei Kleindiebstählen, wurden diese Strafen zur Warnung angewandt. Zwei junge Bauernmägde strafte man 1715 öffentlich wegen Diebstahl: Die beiden jungen Bauernmenscher Maria Schöberl und Magdalena Haus, die in klainhaiten underschidliche sacken gestollen, alß ruemb, krauth, grieß, mell, spöckh, leinwath, gespunen undt ungespunnen woll, hemeter auch brodt undt dergleichen seindt also nach außgestandtenen arrest in die fitl gespandt und in ainen wochenmarckht auf undt nider gefiehrt wordten, in hoffnung sye sich zu pessern.m Die Anzeiger der Delikte und somit Auslöser der Verurteilungen scheinen im behandelten Hofgerichtsprotokoll nicht auf. Nur an einigen wenigen Stellen läßt sich ein Blick auf die Denunziationsebene bzw. die Inhaftierung des Angeklagten werfen. Die Gerichtsdiener waren beauftragt, das im Marktbereich oder im Landgerichtsbezirk angetroffene schlechte gesund und verdächtige persohnenlbi in sicheres Gewahrsam zu nehmen und aufmerksam „alles" zu beobachten bzw. den Vollzug der Strafen zu überwachen. Ein Gerichtsdiener ertappte einen vierzehnjährigen Sensenschmiedlehrling, wie er mit einem aus Eisen gemachten Fischstecher unerlaubt im Bach nach Fischen stach. Obwohl er den Fisch verfehlte, wurde er vom Gerichtsdiener gleich festgenommen und dem Hofrichter vorgeführt.166 Schwieriger ist die Frage nach den Anzeigern von Unzuchtsfällen und Schwangerschaften. Auslöser der Anzeige waren einerseits die nicht mehr zu übersehenden „Umstände", andererseits dürften hier Hausherr und -herrin - meist handelte es sich bei den Angeklagten um Dienstknechte und -mägde im Haus - eine wichtige Rolle gespielt haben.167 Aber auch gegenseitige Denunziation dürfte es gegeben haben. Eine Dienstmagd zeigte beispielsweise im Laufe eines Verhörs einen Knecht an, daß er mit ihr im hey sich vermischet.168 Vermutlich bildet hier eine Alimentationsklage den Hintergrund dieser Denunziation. Die Überwachung des Strafvollzuges dürfte, wie sich an einzelnen Beispielen zeigen läßt, gezielt erfolgt sein. Die Durchsetzung des schwer zu überwachenden Landgerichtsverweises übertrug man den Gerichtsdienern: Am 1. Juni 1711 wurde der Taglöhner Michael Walsperger in Gaming wegen Diebstahl verhaftet und zwei Tage später nach Scheibbs überstellt. Insgesamt 20 Tage hielt ihn das Gericht im Gefängnis fest, stellte ihn dann an den Pranger, ließ ihn mit einem halben Schilling ausstreichen und des Landgerichtes verweisen. Um diesen Landgerichts163 N Ö L A , H A Scheibbs, Hs. 3 / 3 0 , pag. 29 [1712]; ebenda, pag. 61: so habe er mit iehr wierckhlich gesindigt, derowegen sy mit herumbziegn in zigeinergarmb nebst einer angehengten glockhen abgestrafft wordten undt ihr ser scharff verwissen, weilten er ein ehemann war [1717]; zu Ehrenstrafen BRÜCKNER: Ehrenstrafen (1971) Sp. 851-853. 164 N Ö L A , H A Scheibbs, Hs. 3 / 3 0 , pag. 47 [1715]. Zu den Prangerstrafen ausschließlich für Frauen GLEKNER: Das Mensch (1994) 59.

StA Scheibbs, Ratssitzung 28. Juni 1731, fol. 289 v -291 r . N Ö L A , H A Scheibbs, Hs. 3 / 3 0 , pag. 8 [1710], 167 Vgl. dazu für das Osnabrücker Land SCHLUMBOHM: Wilde Ehen (1993) 63-80. 168 N Ö L A , H A Scheibbs, Hs. 3 / 3 0 , pag. 89 [1722], Zu Anzeigen bei Unzuchtsdelikten BREIT: Leichtfertigkeit (1991) 117-132. 165

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verweis zu kontrollieren, lagerten die beiden Landgerichtsdiener nächtens vor seinem Kleinhäusel, weil sie glaubten, daß er das Verbot umgehen und wieder heimkehren würde. Urfehdebruch ist als Deliktgruppe auch deshalb interessant, weil dieses „Verbrechen" die gesellschaftlichen oder obrigkeitlichen Reaktionen und damit die Wirkungsweise des Strafsystems verdeutlicht. Anders als erwartet trafen die beiden Gerichtsdiener die Schwägerin des Täters an, die mit einem Nagelschmiedgesellen zweimal - wie die Gerichtsdiener vermerkten - in dem Haus sündigte. Als die Schwägerin am Morgen aus dem Haus trat und jettes sein wog gehen wollte, haben wier sye bette erdabt undt in arrest gefierth, seindt also bette gestrafft wordten.169

3. Der Landgerichtsdiener. Person und Amt zwischen Markt-, Hof- und Landgericht Der zwischen dem Landgericht und dem Marktgericht „geteilte" Gerichtsdiener, der sowohl vom Land- wie vom Marktgericht bezahlt wurde, sorgte zusätzlich für eine Verschleierung der Gerichtskompetenzen zwischen Land- und Niedergericht. A m Abend des 5. Juni 1774 hielt der Scheibbser Diener einige Personen, alle Bekannte des Pfarrers von St. Leonhard am Forst, auf der Rückreise von Mariazell beim Kapuzinerkloster innerhalb des Scheibbser Burgfriedes auf und verlangte deren Pässe zu sehen. Dabei äußerte er sich äußerst abfällig über den genannten Pfarrer und behielt von den Aufgehaltenen Geld, ein Gebetbuch, ein Messer und einen Kamm ein.170 Der Landgerichtsdiener mußte dem Leonharder Pfarrer die derbe Insultation unter Anwesenheit zweier Scheibbser Ratsherren fueßßllig abbitten, außerdem sollte er wegen des Eingriffs in den Burgfried des Marktes eine zweiwöchige Strafe in Eisen und Banden antreten. Zudem drohte ihm der Markt als sein zweiter Dienstgeber wieder einmal die Abschaffung aus dem Dienst an. Der Scheibbser Landgerichtsdiener war gleichzeitig auch beim niedergerichtlichen Marktgericht angestellt. Gemeinsam mit seinem Gaminger Kollegen mußte er das gesamte Gebiet des Landgerichtes Gaming-Scheibbs überwachen und betreuen. Diese nur schwer zu bewerkstelligende Aufgabe ließ den Gerichtsdiener sehr mobil werden. 171 Seine Person dürfte den im Landgericht Wohnenden gut bekannt gewesen sein. Die Akten vermitteln irrig den Eindruck, daß der Landgerichtsdiener - obwohl nur Einzelperson - beinahe omnipräsent gewesen sei. In nahezu jedem der behandelten Kriminalfälle wird er genannt. Die vielen, meist sehr kurzen Nennungen in den Akten zeichnen sein Tätigkeitsfeld aber dennoch

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N Ö L A , HA Scheibbs, Hs. 3/30, pag. 19 [1711], StA Scheibbs, Extraratssitzung 15. Juni 1774, fol. 306r [falsche Foliierung]: das der hiesige diener seine von Zell reisende befreundte den Juny in hiesigen burgfridt gefänglich angehalten und ersteren nach producirten pass in einer viertelstund, die andere aber über nacht behalten und selbe examiniret und wider entlassen, über herm pfarrer aber ein sehr schlechtes maul, nemlich salva venia: Jch scheisß auf den pfarrer", ansonsten aber auch in geld, ein beth buch, messer, und eine kämpl zurukbehalten habe. 171 Der Forschungsstand über Gerichtsdiener ist unbefriedigend: Kurze Erwähnungen bei ElBACH: Staat vor Ort (1994) 123-124. Für Wien HARTL: Kriminalgericht (1973) 115-118. Zu den Hatschieren in Triberg HOHKAMP: Herrschaft (1998) 115-117. 170

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nur ungefähr nach. Der Gerichtsdiener spielte bei der Anzeige von Straftaten, bei der Verhaftung von „Verbrechern" und auch bei der Überwachung der ansässigen und vagierenden Bevölkerung ein äußerst wichtige Rolle. Das Sozialprestige seines Amtes war trotzdem ambivalent. Einerseits war er in seinem Amt gefürchtet, indem beispielsweise Dienstgeber ihrem Gesinde bei Fehlverhalten mit dem „Diener" drohten. 172 Zum anderen - und vermutlich damit zusammenhängend - wurde die Berufsgruppe der Gerichtsdiener, ähnlich den vergleichbaren Abdeckern, von der ansässigen Bevölkerung geringgeschätzt. Ein vor Gericht wegen Bettelei verhörter Gerichtsdiener gab als Grund seiner Arbeitslosigkeit an, daß er aufgrund des schlechten Rufs seines früheren Berufs nirgends als Dienstknecht habe unterkommen können. Allein bey denen baurn seyen sie [Gerichts-] diener verachtet, ansonsten hätte er auch keinen dienersdienst bekommen, mithin seye er gezwun-

gen gewest, dem bettlen nachzugehen.173 Immer wieder wurden Gerichtsdiener auch selbst straffällig oder zumindest - wie man heute sagen würde - aktenkundig. Ein betrunkener Scheibbser Gerichtsdiener begann zur Winterszeit 1777 in einem Purgstaller Wirtshaus unter Alkoholeinfluß zu randalieren. Er spielte in betrunkenem Zustand mit seiner relativ großen Amtsgewalt, indem er einen Gast demonstrativ „kontrollieren" wollte. Er fragte einen im Wirtshaus sitzenden Perükkenmacher insistierend mehrmals nach seinem Namen, worauf der Gefragte unwillig versetzte: „Lasset mich gehen". Der Gerichtsdiener fuhr mit seiner unangenehmen Kontrolle solange fort, bis der Perückenmacher - ironisch auf den schlechten Ruf der Diener anspielend - versetzte: „Mein, mein, man wirdet ja einen diener nicht per ihro gnaden schelten." D e r Gerichtsdiener reagierte auf diese Pro-

vokation „ad personam", indem er den Perückenmacher gleich kraft seines Amtes verhaften wollte: „Der würth leichet mir schon einen strick und meinen Schlitten habe ich ohnedem bey mir, alsdann führe ich ihme zum gricht hinab, bünde ihm händ

und füß zusam und henge ihm gleich auf.t