Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht: 50 Jahre Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz [1. Aufl. 2019] 978-3-658-27430-6, 978-3-658-27431-3

Eine umfassende Beitragssammlung namhafter Fachleute aus Praxis und Lehre zu aktuellen Themen der Bauwirtschaft und des

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Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht: 50 Jahre Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-27430-6, 978-3-658-27431-3

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXV
Front Matter ....Pages 1-1
Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz – Ausrichtung und Entwicklung (Christian Hofstadler)....Pages 3-13
Geschichte der TU Graz und des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft (Christian Hofstadler, Markus Kummer)....Pages 15-31
Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft – Prof. Hofstadler (Christian Hofstadler)....Pages 33-43
Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft – Prof. Heck (Detlef Heck)....Pages 45-48
Arbeitsbereich Baumanagement – Prof. Mauerhofer (Gottfried Mauerhofer)....Pages 49-52
Arbeitsbereich Gebäudetechnik – Prof. Monsberger (Michael Monsberger)....Pages 53-55
Front Matter ....Pages 57-57
Gemeinkosten in Sachnachträgen – Lösungswege im Streit um die angemessene Höhe (Frank Kumlehn, Patrick Schwerdtner)....Pages 59-77
Zur Relevanz der Baulogistikplanung (Christoph Motzko, Jörg Fenner, Jonas Kleiner, Pia Richter)....Pages 79-93
Arbeitsinspektion im Wandel der Zeit (Peter Neuhold)....Pages 95-106
Arbeitsbelastung und körperliche Leistungsfähigkeit von Bauarbeitern (Dieter Schlagbauer)....Pages 107-121
Baubetriebliche Gutachten – Mysterium zur Wahrheits- und Entscheidungsfindung (Antje Tiesler, Ralf Gnerlich, Felix Möhring, Volkhard Franz)....Pages 123-142
50 Jahre Sicherheit in der Schalung – Rückblick, Gegenwart und Zukunft (Helmut Weißengruber)....Pages 143-160
Front Matter ....Pages 161-161
Der Humanfaktor in der Bauwirtschaft (Ulrich Bauer)....Pages 163-177
Der Anspruch an den Abrechnungsprozess bei Infrastrukturprojekten (Martin Brigola-Pulverer, Markus Frühwirth)....Pages 179-192
Konfliktursachen bei der Abwicklung von Bauprojekten (Jörg Ehgartner, Peter Fischer)....Pages 193-208
Der holprige Weg zum Kostenvoranschlag – Sind die Steine eingebildet oder beseitigbar? (Heimo Ellmer)....Pages 209-218
Mehrkostenforderungen „richtig“ berechnen (Detlef Heck)....Pages 219-225
Eine baubetriebliche und bauwirtschaftliche Betrachtung der QuickWay-Infrastruktur (Christian Hofstadler, Roswitha Marius, Lutz Sparowitz, Markus Kummer)....Pages 227-259
Paradigmenwechsel im Hochbau (Jörg Koppelhuber, Marco Bok)....Pages 261-276
Wann gilt ein Terminplan als grob über den Haufen geworfen? (Andreas Kropik)....Pages 277-285
Unstimmigkeiten und Lösungsansätze eines Gemeinkostenausgleichs infolge von Leistungsmodifikationen und Behinderungen des Bauablaufs (Martin Lücke)....Pages 287-304
Bedeutung der Kalkulation für Nachtragsforderungen (Dirk Reister)....Pages 305-317
Probieren muss erlaubt sein (Kurt Rieder)....Pages 319-326
Die Entwicklung der Anforderungen an die Darlegung von Ansprüchen aus Behinderung (Eberhard Schubert)....Pages 327-337
Zur Vertragsgestaltung für Grund- und Tiefbauleistungen und zur Rolle des BBW Institutes der TU Graz (Gert Stadler)....Pages 339-342
Front Matter ....Pages 343-343
Kundenzufriedenheit in der Baubranche (Christof Gutsche, Gottfried Mauerhofer)....Pages 345-359
LEAN Baumanagement in der Lehre des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft (Gottfried Mauerhofer, Bernhard Ortbauer, Kurt Philipp Rockenbauer)....Pages 361-368
Front Matter ....Pages 369-369
Steigerung der Kooperation bei Bauprojekten auf Grundlage bestehender Kooperationspflichten (Georg Bernat, Arthur Weigl, Hans Christian Jünger)....Pages 371-384
Prozessorientierte und integrierte Schnittstellenplanung als Basis für eine konfliktreduzierte Gebäudetechnik-Integration im Baukörper (Petra Fortmüller, Michael Monsberger)....Pages 385-398
Die Störung ist der Regelfall! (Otto Greiner)....Pages 399-413
Der Projektmanager als Generalkümmerer – Auftraggeberanforderungen und Lösungskonzepte des Projektmanagements (Thomas Höcker)....Pages 415-439
Planungswirtschaft ≠ Bauwirtschaft (Hans Lechner)....Pages 441-457
Der Plan (Andreas Ledl)....Pages 459-473
Value Engineering – Ausbildung und Einsatzgebiete (Manfred Ninaus)....Pages 475-485
Prozessdenken – Aktuelle Entwicklungen im Bereich Gebäudezertifizierung und Lean Construction (Johannes Wall, Carina Schlabach, Ian Quirke)....Pages 487-500
Front Matter ....Pages 501-501
Berechnung der Höhe des dezidierten Schadensersatzanspruchs bei Bauzeitansprüchen für tatsächlich erforderliche Allgemeine Geschäftskosten (Ivan Čadež)....Pages 503-517
Integrated Project Delivery aus der Sicht des deutschen Projektmanagements (Klaus Eschenbruch)....Pages 519-526
Anspruchsverlust bei Überschreitung des Kostenvoranschlages (Wolfgang Hussian)....Pages 527-539
Der Bauprozess (Georg Karasek)....Pages 541-554
Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB (Rudolf Lessiak)....Pages 555-594
20 Jahre Bauarbeitenkoordinationsgesetz (Volker Mogel)....Pages 595-608
Die Abgeltung von Kosten der Dokumentation und Aufarbeitung von Mehrkostenforderung bei gestörten Bauabläufen (Katharina Müller, Christoph Gaar)....Pages 609-622
Insolvenzvorsorge im Bauvertrag (Gunter Nitsche)....Pages 623-633
Handlungsempfehlungen für ein alternatives Abwicklungsmodell für Infrastrukturbauprojekte in Österreich (Lena Paar)....Pages 635-646
Der „Regresszirkel“ zum Geschädigten – gewollte oder nicht gewollte Konsequenz der Privilegierung eines Schädigers nach Pkt 12.3 der ÖNORM B 2110? (Konstantin Pochmarski, Christina Kober)....Pages 647-665
Änderungen von öffentlichen Aufträgen während ihrer Laufzeit (Georg Seebacher, Lukas Andrieu, Jakub Bojkovsky)....Pages 667-684
Serienmängel – immer dasselbe Problem! (Ralf Steding)....Pages 685-694
Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben (Matthias Sundermeier, Philipp Beidersandwisch)....Pages 695-727
Rechtsprobleme bei Insolvenz eines ARGE-Partners (Christoph Wiesinger)....Pages 729-736
Front Matter ....Pages 737-737
Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung (Christian Hofstadler, Markus Kummer)....Pages 739-768
Technische Immobilienanalyse – TIA (Felix Meckmann, Yannis Hien)....Pages 769-787
Front Matter ....Pages 789-789
Digitalisierungspotenziale im Rahmen der Kostenermittlung von Bauleistungen (Mike Gralla, Lisa Theresa Lenz)....Pages 791-804
Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion (Christian Hofstadler, Amir Dini, Johannes Petschnig)....Pages 805-838
Bauprozess optimieren (Stefan Pruckmayr)....Pages 839-847
Gemeinsam mit der Crowd die Gebäude und Städte von morgen gestalten! (Conny Weber, Reinhard Willfort)....Pages 849-855
Die digitale Baustellendokumentation (Wolfgang Wiesner, Andrea Moore)....Pages 857-866
Front Matter ....Pages 867-867
Frühzeitiger Wissenstransfer zwischen Auftraggeber und Bieter anhand einer Online-Wissensplattform (Markus Hanschke, Ahmed Elbaz, Konrad Spang)....Pages 869-885
Wissen als grundlegender Produktionsfaktor in der Bauwirtschaft (Christian Hofstadler, Cornelia Ninaus)....Pages 887-907
Der Einsatz eines Unternehmensplanspiels in betriebswirtschaftlichen Seminaren für bautechnische Berufe (Herbert Krutina)....Pages 909-915
Beitrag zum Design von techno-ökonomisch geprägten wissenschaftlichen Abschlussarbeiten im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Praxis (Bernd Markus Zunk)....Pages 917-931
Back Matter ....Pages 933-935

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Christian Hofstadler Hrsg.

Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht 50 Jahre Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, ­Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht

Christian Hofstadler (Hrsg.)

Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht 50 Jahre Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Hrsg. Christian Hofstadler Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Graz, Österreich

ISBN 978-3-658-27431-3  (eBook) ISBN 978-3-658-27430-6 https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Vieweg © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Vieweg ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort zur Festschrift

Willkommen zur Lektüre der Festschrift des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft der Technischen Universität Graz (TU Graz) – aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums seiner Institutsgründung. Gestatten Sie mir, hier als Institutsvorstand zu dieser Gelegenheit und zu aktuellen Themen in der Bauwirtschaft einige persönliche Gedanken vorauszuschicken. Die Digitalisierung ist allgegenwärtig. Auch im Bauprozess erfahren soziale, soziotechnische und techno-ökonomische Systeme immer mehr Konkurrenz durch technische und cyber-physische Systeme. Trotz dieser neuen Methoden, Systeme und Modelle ist und bleibt die zentrale Rolle agierender Menschen unantastbar. Der Mensch steht im Mittelpunkt der Entwicklung von realitätsnahen, brauchbaren, genauen und damit nutzbringenden Modellen, besonders auch in Zusammenhang mit der Digitalisierung. Konzeptionelle Fähigkeiten von Menschen sind entscheidend für den Wert und die Aussagekraft von Simulationen sowie für fortschrittliche Ergebnisse, die sich im Rahmen der Digitalisierung ergeben. Ohne menschliches Zutun bleiben digitale Modelle immer unvollständig – nur Menschen können die Resultate erfolgswirksam interpretieren und handlungsleitende Schlüsse daraus ziehen. Die Digitalisierung bietet viele Potenziale, die in den dahingehenden Weiterentwicklungen von Bauprozessen sowie Bauteilen und Bauteilkomponenten liegen und in weiterer Folge auch vorteilhaft für die Betriebsphase genutzt werden können. Mit dem Aufbau digitaler Wissensspeicher eröffnen sich neue Möglichkeiten des Daten- und Informationsaustausches, die vor allem für zukünftige Projekte von großem Wert sind. Bauprozesse und Bauwerke werden damit intelligenter, sofern die zugrundeliegenden Daten systematisch und richtig abgegrenzt den jeweiligen Prozessen und Bauteilen zugeordnet werden. Tatsächlich ungeahnte Möglichkeiten bietet die Digitalisierung in Bezug auf Daten, die in der Bau- und Betriebsphase zukünftig semi-automatisch und automatisch generiert werden. Allerdings birgt dies die versteckte Gefahr, dass zu unkritisch angenommen wird, dass sich mit dieser „Datenflut“ die o.e. sozialen, sozio-technischen und techno-ökonomische Fragestellungen auch „automatischer“ und damit besser lösen lassen. Die derzeitige „Armut“ an Daten wird künftig in einen Überfluss münden – Stichwort „Big Data“. Darin liegt auch die große Herausforderung für die Zukunft: nämlich aus den enormen Datenmengen die davon relevanten mit Informationen zu versehen und einem

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Vorwort zur Festschrift

projektspezifischen sowie organisationalen Wissensspeicher zuzuführen. Trotz aller Entwicklungen im Bereich der Hard- und Software darf nicht auf die wesentliche Grundlage – nämlich den Planungs- und Bauprozess selbst – „vergessen“ werden. Basierend auf einem fundierten Systemverständnis ist logisches Prozessdenken nach wie vor unverzichtbar, um Bauprojekte integral sowie kooperativ mit einer ausreichenden Planungs- und Ausschreibungsreife so vorzubereiten, dass eindeutig formulierte und maßgeschneiderte Verträge – gemeinsam mit einem funktionierenden Projektmanagement – den geplanten Projekterfolg sichern. Damit ergibt sich sowohl in der Realisierungsphase als auch für den Betrieb und die Nachnutzung eine optimierte Zielerreichung – wenn diese nicht sogar übertroffen werden kann. Die vom AG festgelegten Umstände der Leistungserbringung sollten so vorgegeben sein, dass die AN nicht schon mit Baubeginn am Produktivitätslimit (= Grenze zu Produktivitätsverlusten) starten und dieses in weiterer Folge immer weiter überschreiten müssen. Wenn Projekte bereits am Produktivitätslimit liegend beginnen, ist die Resilienz – charakterisiert durch Elastizität, Stärkung durch Störungen, Selbstorganisation, Erholungsfähigkeit, Robustheit, Anti-Fragilität, Agilität, Flexibilität, Widerstandsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, Selbstregenerationsfähigkeit und Redundanzen – schon vorab geschwächt. Derartige Produktionssysteme sind hinsichtlich der Effizienz nicht mehr ausbaufähig. Werden hingegen „normale Produktionsbedingungen“ – in hohem Maße bestimmt durch eine „normale Bauzeit“ – vorgegeben, besteht die Möglichkeit, sich an Veränderungen bzw. Bauablaufstörungen leichter anzupassen. Resiliente Produktionssysteme zeichnen sich – wie bereits erwähnt – besonders durch Flexibilität, Vielfalt, Redundanzen und/oder freie bzw. mobilisierbare Kapazitäten aus. Dies sind genau jene Eigenschaften, die durch das Effizienzstreben der Auftraggeber (= sehr kurze Projektvorlaufzeiten und/oder Bauzeiten) reduziert werden. Zu den wichtigsten und verantwortungsvollsten Aufgaben im Baubetrieb und in der Bauwirtschaft zählt die Berechnung von Baukosten und Bauzeiten. Dabei ist zu beachten, dass Bauzeiten und Baukosten in reziproker Beziehung zueinander stehen. Hierfür wird ständig nach fundierten Daten und Informationen für Aufwandswerte, Leistungswerte, Produktivitätsansätze, Stoffverbräuche, Vorhaltemengen, die Anzahl an Transporten und letztendlich Kosten sowie Zeiten gesucht, um sie ex ante zu schätzen bzw. zu berechnen. Die angestrebten Folgen davon sind „leistbare“ (normale) Bauzeiten und einhaltbare (leistbare) Baukosten. Am Ende jeder Ermittlung sind dafür exakte Zahlen an- bzw. abzugeben. Ihr Zutreffen und ihre „Robustheit“ hängen allerdings sehr von der Komplexität des Bauobjekts und von den Umständen der Leistungserbringung bzw. von einer mehr oder weniger sicheren Datenbasis ab. Als Lösungsansatz in dieser Hinsicht bieten sich Bandbreitenbetrachtungen an, womit in weiterer Folge valide Aussagen zu den ermittelten Werten getroffen werden können. Zur systematischen Berücksichtigung solcher Bandbreiten von Eingangswerten sowie bestehender Korrelationen der zentralen Determinanten liefern probabilistische Methoden wertvolle Ergebnisse. Aus probabilistischen Berechnungen ergeben sich Histogramme als aussagekräftige Ergebnisse, auf deren Basis das Chancen-Risikoverhältnis in Bezug auf einen bestimmten (gewählten) Wert zuverlässig erfasst bzw. eingeschätzt werden kann. Ungenauigkeit von externen und internen Daten, unkontrollierbare/unvorhersehbare Einflüsse von „innen“ und „außen“ sowie mangelnder Informationsstand bringen es mit sich, dass viele Entscheidungen (etwa die Wahl von Aufwandswerten oder Ressourcen) unter unsicheren Randbedingungen getroffen werden müssen. Neben dieser Art von Unsicherheiten spielen – besonders bei komplexen Projekten wie im Tunnel- oder Kraft-

Vorwort zur Festschrift

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werksbau – aber auch Ungewissheit und Unwissen eine Rolle. Selbst eine hochentwickelte Systematik verhindert in solchen Fällen das eindeutige Erfassen und zutreffende Bewerten. All jene, die die Bauprojekte hinsichtlich Kosten und Bauzeiten kalkulatorisch vorbereiten, die Arbeitsvorbereitung durchführen und die Bauausführung organisieren, kontrollieren und steuern, können „ein Lied davon singen“. Ein systemisch strukturiertes Chancen- und Risikomanagement kann allerdings inzwischen auch hier wesentlich zur Resilienz und damit zum Projekterfolg beitragen. Für den Bauherrn ist klarerweise eine kurze oder sehr kurze Bauzeit besonders willkommen und erstrebenswert, da er daran interessiert ist, das Bauwerk so bald als möglich zu nutzen bzw. zu verwerten. Die optimale Bauzeit des Bauherrn ist aber in den seltensten Fällen deckungsgleich mit jener der Bieter/Auftragnehmer, da diese vorrangig das Ziel verfolgen, die Produktionsfaktoren so zu wählen und zu kombinieren, dass eine möglichst kontinuierliche Auslastung von Ressourcen bei „normaler Produktivität“ erreicht werden kann. Mit den für den AG vermeintlich vorteilhaften „kurzen“ oder „sehr kurzen“ Bauzeiten können die Auftragnehmer aber eben keine ‚Normal-Produktivität‘ erzielen, sondern müssen vielmehr mit Produktivitätsverlusten rechnen. Konsequenterweise sind für sämtliche Projektphasen und für alle Planungsüberlegungen sowie Kosten- und Bauzeitermittlungen verlässliche („genaue“) Daten nötig, die auch nach Vertragsabschluss als Vertragsbestandteil verbindlich sind (und bleiben), weil sie eine bedeutende Rolle für den Projekterfolg darstellen. In diesem Zusammenhang ist besonders hervorzuheben, dass Daten ohne Konnex zu deren Ermittlung oder Herkunft für eine weitere Nutzung durch Dritte von geringem Wert sind. Die Informationsqualität der Daten, soweit diese auch Angaben zur Systematik ihrer Erhebung/Ermittlung beinhaltet, ist ein wesentliches Kriterium für das tatsächliche Erreichen der gesteckten Ziele bzw. für die richtige und präzise Vermittlung von Sachverhalten. Zu den häufig verwendeten Qualitätskriterien für Informationen zählen Strukturiertheit, Korrektheit, Vollständigkeit, Relevanz, Konsistenz, Aktualität, Zuordenbarkeit, Klarheit, Zuverlässigkeit, Gültigkeit, Objektivität und Prägnanz. Je schlechter die Qualität der Daten und Informationen ist, desto höher ist das Risiko für Fehleinschätzungen. Chancen können bei einer höheren Qualität der Daten und Informationen besser eingeschätzt und genutzt sowie Risiken besser bewertet und vermieden werden. Wird das Ziel verfolgt, aussagekräftige und belastbare Ergebnisse als Entscheidungsgrundlage zu gewinnen, ist es von großem Vorteil, die erhobenen Daten und Informationen in BIM-Modellen zu verarbeiten bzw. damit zu verknüpfen. Jedes noch so gute BIM-Modell benötigt aber für die zutreffende Simulation von Bauzeiten und Baukosten Daten „hoher“ Qualität (zeitlich und betrieblich richtig abgegrenzt), ergänzt um dazugehörige Informationen wie z.B. Entstehung, Erfassung, Randbedingungen …. Erst dann ist mit BIM-Modellen der größtmögliche Nutzen für alle Projektphasen und -beteiligten sowie in weiterer Folge für den gesamten Lebenszyklus eines Bauobjekts zu erzielen. An dieser Stelle wird zum wiederholten Male an die Forderung der ÖNORM B 2061 erinnert, nach welcher der prognostizierte „Kostenverzehr“ (abgestellt auf eine plausible Kombination der Produktionsfaktoren) dem „sachlich und wirtschaftlich gerechtfertigten Werteinsatz“ zu entsprechen hat. Die Bauzeit übt als wesentlicher Umstand der Leistungserbringung jedenfalls einen bedeutenden Einfluss auf diesen Wertverzehr aus! Weiters sind nach ÖNORM A 2050 „alle Umstände anzuführen (z.B. örtliche oder zeitliche Umstände bzw. besondere Anforderungen hinsichtlich der Art und Weise der Leistungserbringung), die für die Ausführung der Leistung und damit für die Erstellung des Angebots von Bedeutung sind, sowie besondere Erleichterungen und Erschwernisse.“ Auch geht aus diesem Regelwerk hervor, dass die Bauzeit zu den wesentlichen

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Vorwort zur Festschrift

Umständen der Leistungserbringung zählt. Diese nun zum Anlass des 50-jährigen Jubiläums vorgestellte Festschrift mit individuell gestalteten Fachbeiträgen kann meines Erachtens nach eine besonders praxisnahe und wertvolle Grundlage dafür bilden, zukünftige Trends im Projektmanagement, im Baubetrieb und in der Bauwirtschaft insgesamt nachvollziehbar aufzuzeigen. Die Beiträge besitzen das Potenzial, ein fachliches Fundament zu bilden, um folgerichtige und erfolgswirksame Schlüsse zu ziehen. Auf Basis der verschiedenen Fachinhalte wird die Entscheidungsvorbereitung und -findung von höherer Systematik und Zielorientierung geprägt – zugleich verbessern sich die Entscheidungssicherheit und die Transparenz. Dieses hier aggregierte Wissen stellt eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Bauprojektvorbereitung sowie für die effiziente und effektive Realisierung von Bauprojekten dar. Die Digitalisierung nimmt immer mehr gestalterischen Einfluss auf den Baubetrieb und dessen Prozesse. Diese Entwicklungstendenzen machen es zunehmend erforderlich, noch „genauere“ Daten und Informationen für die Kalkulationen und Simulationen von zukünftigen Projekten bereitzustellen, wobei diese auf der Qualität der Dokumentation vergangener Projekte beruhen. Nur so wird es möglich, Chancen besser zu nutzen und Risiken besser zu erkennen bzw. zu bewerten. Für laufende Projekte sollen die Echtzeitdaten und informationen dazu beitragen, den Baubetrieb besser kontrollieren und steuern zu können. Zu guter Letzt kann als wertvoller – und durchwegs positiver – Aspekt der Digitalisierung die Steigerung der Arbeitssicherheit für die Menschen am Bau genannt werden. Dies zeigt sich etwa dahingehend, dass mittels Mixed Reality – z.B. anhand des Vergleichs zwischen dem 3D-Modell aus der BIM-Planung mit der 3D-Rekonstruktion eines errichteten Gerüsts – sofort Gefährdungspotenziale erkannt werden können. Dadurch werden Fehlanwendungen und -verhalten im laufenden Betrieb aufgezeigt und potenzielle Unfälle verhindert. Das vorliegende Buch spannt einen Bogen über alle Projektphasen und geht in den jeweiligen Beiträgen auf aktuelle und zukünftige Trends ein. Die Beiträge stehen zwar für sich alleine, haben aber das gemeinsame Ziel, die Prognose-, Planungs-, Ausschreibungs-, Vertrags-, Ausführungs-, Kosten- und Bauzeitsicherheit zu steigern. Insgesamt soll dadurch eine Brücke über alle Wissensbereiche geschlagen und der Erkenntnisgewinn vorangetrieben werden. Über alledem schwebt das ultimative Ziel, welches unbeirrbar im Auge behalten werden muss: „Der Projekterfolg für alle Projektbeteiligten“ Der Hauptanlass für diese fundierte und durchaus innovative Festschrift ist allerdings die Würdigung zum 50-jährigen Wirken des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz. Im Namen des Instituts danke ich allen Autorinnen und Autoren, die mit großem Einsatz einen wertvollen Beitrag zum vorliegenden Buch geleistet haben. Ein besonderer Dank gilt auch den Verfassern der Vorworte für deren treffende Einleitung in die Thematik und die Darstellungen der Erwartungen für die nähere Zukunft. Für die Mitwirkung an der Festschrift sowie für seinen unermüdlichen Einsatz, die Formatvorlage zu erstellen und das Setzen der Beiträge zu koordinieren, danke ich besonders Herrn Dipl.-Ing. Dr.techn. Markus Kummer. Nicht nur das Formatieren der Beiträge verlangte seinen intensiven Einsatz, auch die inhaltliche und redaktionelle Bearbeitung hat uns alle durchaus herausgefordert und gleichzeitig angespornt. Weiters danke ich Herrn Dipl.-Ing. Christian Johansson für seine hervorragende Mitwirkung am Setzen und Korrigieren der Beiträge. Weiters bedanke ich mich sehr herzlich bei Frau Dipl.-Ing. Roswitha Marius, Herrn Em.o.Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.mont. Bergrat h.c. Gert Stadler und Herrn Assoc.Prof. Priv.-Doz. DDipl.-Ing. Dr.techn. Bernd Markus Zunk für deren sehr wertvolle Unter-

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Vorwort zur Festschrift

stützung sowie die sehr hilfreichen Anregungen. Großen Dank auch an alle Kolleginnen und Kollegen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts für deren außergewöhnlichen Einsatz in Lehre, Forschung, Außenwirksamkeit sowie Administration – ganz besonders – für unsere wichtigsten „Kunden“: die Studierenden! Gleiches gilt uneingeschränkt für unsere Emeriti honorabili und ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Bedanken möchten wir uns zudem für die hervorragende Unterstützung durch das Rektorat der TU Graz sowie durch das Dekanat der Fakultät für Bauingenieurwissenschaften. Das Wichtigste zum Schluss: Für eine werteorientierte Ausbildung unserer Studierenden und Veranstaltungsteilnehmerinnen und -teilnehmer müssen wir uns ständig Folgendes vor Augen halten: Trotz Digitalisierung wird das geschulte Beobachten, das geführte Verstehen, das vernetzte Denken, das kritische Analysieren, das intelligente Modellieren, das glaubhafte Darstellen, das niveauvolle Kommunizieren, das zielgerichtete Handeln und die systematische Wissensarbeit nie an Bedeutung verlieren. Dies alles gilt es unter folgendem Motto zu betrachten: „Wirtschaftlichkeit ist zwar durchaus Grundlage unseres Handelns, aber sie ist nicht der einzige Sinn unseres Tuns!“. Dies zu vermitteln und vorzuleben, betrachten wir als unseren wichtigsten Auftrag! Graz, Juli 2019

Christian Hofstadler Vorstand des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft

Vorwort – Rektor der TU Graz

Bereits seit 50 Jahren etabliert sich das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz zu einer Erfolgsgeschichte fächerübergreifender Fähigkeiten in Forschung und Lehre. Die Verbindung von Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften schafft fachliches Know-how vom Baubetrieb bis hin zu Bauwirtschaft und Baurecht. Die Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz lässt uns einerseits auf eine spannende und dynamische Zeit zurückblicken – und ermöglicht andererseits einen Ausblick auf zukünftige Trends und aktuelle Entwicklungen. Das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft steht mit seinem Ausbildungsangebot im Zentrum der Studienrichtung Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesen. Mit Gründung des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft wurde an der TU Graz die Basis für die Wirtschaftsingenieurausbildung geschaffen. Die Vorarbeiten dafür lieferte Max Pietsch. Er war es, der die Betriebswirtschaftslehre an Technischen Hochschulen einführte und so zur wirtschaftlichen Ausbildung von Ingenieurinnen und Ingenieuren verhalf – eine Pionierarbeit, die als Erfolgsmodell weltweit übernommen wurde. Wie wichtig die Verbindung dieser beiden Wissenschaftszweige ist, kann ich aus persönlicher Erfahrung sagen. Auch ich habe neben dem BauingenieurStudium ein Wirtschaftsingenieur-Studium abgeschlossen, das für meinen Karriereweg wichtig war: von Erfolgen als Geschäftsführer in der Industrie bis zur wissenschaftlichen Leitung eines Instituts und meiner heutigen Funktion als Rektor der TU Graz. Während vor 40 Jahren mit der dritten industriellen Revolution die Personal Computer (PCs) Einzug in den Arbeitsalltag hielten, befinden wir uns nun mitten in der Industrie 4.0. – der breiten Umsetzung der Digitalisierung. Die Digitalisierung im Bauwesen ist eine große Chance, birgt aber auch starke Herausforderungen. Das Building Information Modeling (BIM), das die Integration von Daten in digitale Modelle ermöglicht und damit sämtliche Prozesse und Abläufe neu gestaltet, wird von uns an der TU Graz umfassend unterstützt. Digitalisierung optimiert den Baubetrieb. Gleichzeitig wird es in der Ausbildung von Ingenieurinnen und Ingenieuren immer wichtig bleiben, die Handlungen und Abläufe im gesamten Bauprozess praktisch zu erfahren. Die wesentlichen Entscheidungen in technischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Aspekten eines Bauprojekts im gesamten Lebenszyklus werden auch in Zukunft von Ingenieurinnen und Ingenieuren getroffen.

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Vorwort – Rektor der TU Graz

Ich gratuliere Herrn Prof. Christian Hofstadler und dem gesamten Team am Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft zu diesem Jubiläum, den großartigen Leistungen in der Forschung und Lehre und zu dieser Festschrift. Ich bedanke mich für das große Engagement und die Einbindung zahlreicher Fachautorinnen und -autoren, die dieses Buch zu einem gebündelten Werk an Expertise und wissenschaftlichen Errungenschaften machen – und einen Einblick in die Chancen und Risiken der zukünftigen Entwicklungen geben. Graz, Juli 2019

Harald Kainz Rektor der TU Graz

Vorwort – Dekan der Fakultät für Bauingenieurwissenschaften

Dem Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft – Herzliche Glückwünsche zum 50. Geburtstag. 50 Jahre sind zumindest auch mit 50 Studienjahrgänge ausgebildet für den Wandel in der Zeit! Die Absolventinnen und Absolventen tragen zu unserer Wirtschaft und Forschung bei, beeinflussen und prägen diese. Im Durchschnitt wählen etwa 20 % der Studierenden das Fach in der Master Ausbildung und auch sehr erfolgreich in Kombination mit anderen Vertiefungsrichtungen – eine exzellent gute Kombination und ein wesentlicher Garant für unser breites Lehr- und Forschungsangebot. So kann unsere Fakultät Forschung und Lehre auf internationalem Niveau – ausgehend von den Grundlagenwissenschaften über die klassisch konstruktiven Bereiche bis hin zur Infrastruktur – betreiben. Wir vermitteln die Faszination und fächerübergreifende Kompetenz für ressourcenschonendes, ganzheitliches Entwickeln sowie integrales Planen, Bauen und Betreiben am Puls der Bauwirtschaft. Mit international sichtbarer Forschung prägen wir die innovative Weiterentwicklung im Bauwesen. Mit höchster fachlicher Kompetenz nehmen wir die komplexen Herausforderungen für eine lebenswerte Zukunft und die damit verbundenen Aufgabenstellungen bei der Planung, dem Bauen und Betreiben im Dienste der Gemeinschaft an. Damit tragen wir mit nachhaltigen und interdisziplinären Lösungen wesentlich zur positiven gesellschaftlichen Entwicklung bei. Diese leitenden Grundsätze werden durch das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft In Lehre und Forschung wesentlich mitgetragen und ermöglichen so eine synergetische Lehre und Forschung in den Bauingenieurwissenschaften. Der vorausschauenden Planung und Gestaltung an unserer Universität ist es zu verdanken, dass derzeit 4 Professuren in den Bereichen Baubetrieb, Bauwirtschaft, Baumanagement und Gebäudetechnik am gemeinsamen Institut eingerichtet sind. Durch diese exzellenten Qualifikationsmöglichkeiten ist es unseren Absolventinnen und Absolventen möglich, für aktuelle und zukünftige Trends im globalen Baugeschehen die umfassenden Herausforderungen anzunehmen, ihnen mit innovativen Lösungen zu begegnen und somit positiv für die Gesellschaft zu wirken. Wir stehen vor großen zukünftigen Herausforderungen, vor Umbrüchen in Hinblick auf Umwelt- und Klimaschutz, der Reduktion von Treibhausgasen, der Bereitstellung von Energie aus erneuerbarer Quelle und der sukzessiven Implementierung einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft. Dabei soll unser Sozialstandard in Österreich erhalten und in Europa weiter ausgebaut werden, bei gleichzeitiger Ermöglichung und Wertschätzung von Leistung durch Partizipation. Das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft ist auf bestem

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Vorwort – Dekan der Fakultät für Bauingenieurwissenschaften

Wege, durch Digitalisierung und umfänglicher Implementierung von Informationssystemen Arbeitsabläufe sicher, planbar, rekonstruier- und vereinfachbar zu gestalten. Neben fachlicher Ausbildung spielt der Erwerb der sozialen Kompetenz eine, wenn nicht DIE wesentliche Rolle. Wie immer schon hat dazu die Bauwirtschaft viel beigetragen und ist auch im Besonderen in Zukunft für unsere „digital Natives“ dafür herausgefordert. Heißt es doch: „Mit dem Reden kommen die Leute zusammen“; so wird eine gute Vertrauensbasis für eine fruchtvolle Zusammenarbeit weiterhin geschaffen werden. Es gibt sehr viel zu bauen, Neues zu finden und zu versuchen – somit wollen wir den nächsten 50 Jahren mit Vertrauen auf Erfahrung und Wissen mit konsequentem Gestaltungswillen zuversichtlich entgegenblicken. Graz, Juli 2019

Gerald Zenz Dekan der Fakultät für Bauingenieurwissenschaften

Vorwort eines Auftraggebers (ÖBB-Infrastruktur AG)

Zu den Aufgaben der ÖBB-Infrastruktur AG zählt unter anderem die Planung, die Errichtung und der Betrieb der ÖBB-Infrastrukturanlagen. Wir fungieren als zentraler Ansprechpartner für alle Belange rund um die Bahninfrastruktur, mit 154 Mio. Zugkilometern pro Jahr, 6.600 Zügen täglich, einem österreichischen Streckennetz von rund 5.000 Kilometern Länge und ca. 1.100 Bahnhöfen. Der Ausbau der Bahn sichert Jahr für Jahr mehr als 40.000 heimische Arbeitsplätze und stärkt die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs. Aktuell investieren wir jährlich 2 Mrd. Euro in eine umwelt- und klimafreundliche Bahninfrastruktur: Ein Teil davon fließt in Erhalt und Verbesserung des Bestandsnetzes, Barrierefreiheit, Park-and-Ride-Anlagen sowie die Erhöhung der Sicherheit (z.B. bei Eisenbahnkreuzungen). Ein weiterer Teil ist für die Realisierung von komplexen Bauvorhaben, wie beispielhaft an der Südstrecke mit den beiden Infrastruktur-Großbauvorhaben Semmering-Basistunnel und Koralmbahn, vorgesehen. Derart komplexe Bauvorhaben, die aufgrund der vielschichtigen interdisziplinären Verflechtungen eine sehr hohe Zahl an Projektbeteiligten aufweisen, durchlaufen in Zeiträumen von mehreren Jahrzehnten viele Projektphasen, die durch stark unterschiedliche Anforderungen sowie technische und rechtliche Neuerungen geprägt sind. Professionelles Projektmanagement sorgt dabei für sehr hohe Kostenstabilität. Trotz steigender Anzahl an Projekten gelingt es uns seit Jahren, diese innerhalb des Budgets und Zeitplans umzusetzen. Um unter den zuvor angeführten Randbedingungen Projekte mit komplexen Abläufen erfolgreich bewältigen zu können, braucht es nicht nur auf Seiten des Auftraggebers, sondern auch bei Auftragnehmern, Örtlicher Bauaufsicht und Planern erfahrenes Fachpersonal, insbesondere bestausgebildete Bauingenieure der unterschiedlichsten Fachdisziplinen. Längst ist für die erfolgreiche Umsetzung komplexer Bauvorhaben nicht die technische, rechtliche, baubetrieblich und bauwirtschaftliche Qualifikation und Erfahrung der Projektbeteiligten alleine ausreichend, sondern es ist immer mehr Kommunikationsfähigkeit und Sozialkompetenz gefragt. Nicht zuletzt durch die Gründung des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft an der Technischen Universität Graz und die Etablierung der Studienrichtung Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesen wurde die Grundlage für die Lehre der zuvor skizzierten vielfältigen Anforderungen geschaffen.

XVI

Vorwort eines Auftraggebers (ÖBB-Infrastruktur AG)

Die Wirtschaftsingenieure der Technischen Universität Graz verfügen nach Abschluss Ihres Studiums über das nötige Rüstzeug, um die diversen Herausforderungen insbesondere im Zusammenhang mit der Umsetzung komplexer Projekte erfolgreich bewältigen zu können. Ich gratuliere daher dem Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft zu seinem 50-jährigen Gründungsjubiläum und der in diesem Zeitraum erbrachten außerordentlichen Leistungen in Forschung und Lehre bei der Zusammenschau von Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften. Es ist mir zudem eine Freude, darauf verweisen zu können, dass innerhalb der diversen Projektteams unserer Bauvorhaben Absolventen der Technischen Universität Graz respektive des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft einen bedeutenden Anteil ausmachen und diese somit einen wesentlichen Beitrag zur erfolgreichen Umsetzung unserer vielfältigen Aufgaben leisten. Ich gehe deshalb sehr zuversichtlich davon aus, dass dies auch die nächsten 50 Jahre der Fall sein wird! Wien, Juli 2019

Franz Bauer Mitglied des Vorstands der ÖBB-Infrastruktur AG

Vorwort eines Auftragnehmers (PORR AG)

PORR feiert heuer das 150jährige Bestehen. Seit 150 Jahren bringen wir Innovationskraft für Spitzenleistungen auf. Eine derartig herausragende Leistung kann über eine so lange Zeit nur dann kontinuierlich erbracht werden, wenn man auf starke und verlässliche Partner im Bereich der Forschung und universitären Ausbildung bauen kann. Die Technische Universität Graz insgesamt und das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft im Besonderen stehen dabei seit vielen Jahrzehnten in der ersten Reihe unserer universitären Partner. Es fanden und finden laufende Forschungskooperationen statt, die sowohl für die regionale Niederlassung von PORR, als auch für den gesamten Konzern relevante Themen betreffen. Im Folgenden sind einige der aktuellsten Beispiele für diese Zusammenarbeit kurz beschrieben: Der Institutsvorstand des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft, Prof. Dr. Christian Hofstadler, ist seit einigen Jahren ein maßgeblicher Partner für die laufende Weiterentwicklung des systematischen Chancen-Risikomanagements und der Digitalisierung bei PORR. Auch Prof.i.R. DI Hans Lechner hat uns diesbezüglich immer wieder wertvolle Impulse aus der Planungsperspektive geliefert. Führungskräfte von PORR tauschen sich mit den Forschern des Instituts regelmäßig über baubetriebliche und bauwirtschaftliche Fragen aus und stehen für zielgerichtete Expertenbefragungen zur Verfügung, so zuletzt zur Unterstützung von Qualifikationsarbeiten unter der Betreuung durch Prof. Dr.-Ing Detlef Heck. Im Herbst 2019 wird der postgraduale Lehrgang LEAN.BAU.MANAGEMENT starten, der von Prof. Dr. Gottfried Mauerhofer organisiert und geleitet wird. Bei diesem Lehrgang ist PORR durch zahlreiche Vortragende aus den Bereichen Lean Management, Design&Engineering und Bauwirtschaft vertreten. Der Lehrgang stellt ein besonders gelungenes Beispiel der Zusammenarbeit zwischen Theorie und Praxis auf höchster fachlicher und organisatorischer Ebene dar. Auch die rege gutachterliche Tätigkeit der Professoren des Instituts führt zu häufigen und fruchtbaren Berührungspunkten mit PORR. Aus PORR-Sicht ist es wichtig zu wissen, dass gerade für komplexe baubetrieblich-bauwirtschaftliche Problemstellungen Partner, aber auch „Schiedsrichter“ zur Verfügung stehen, die auf fundierter fachlicher Grundlage Lösungsvorschläge entwickeln und diese mit persönlicher Glaubwürdigkeit vermitteln können.

XVIII

Vorwort eines Auftragnehmers (PORR AG)

Darüber hinaus ist es hoch anerkennenswert, wenn sich Professoren wie Prof. Hofstadler neben all diesen reichhaltigen Aufgabenstellungen auch noch die Zeit für die sehr aufwändige und gleichermaßen wichtige Aufgabe nehmen, umfassende Fachbücher zu baubetrieblichen oder bauwirtschaftlichen Themen zu veröffentlichen. Das Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesensstudium an der Technischen Universität Graz steht für ein verlässlich hohes Ausbildungsniveau, sodass Absolventen bei PORR gerne aufgenommen werden. Eine große Zahl an Wirtschaftsingenieuren „Made in Styria“ haben bei PORR bereits als Fach- und Führungskräfte wichtige Aufgaben übernommen und hohe Managementpositionen in Projekten und Konzerngesellschaften im In- und Ausland sowie in der Unternehmensleitung erfolgreich ausgeübt. Abschließend kann festgestellt werden, dass wir von PORR von der stets inspirierenden Zusammenarbeit mit dem Institut begeistert sind. Im Interesse unseres Anspruchs, auch weiterhin Innovationskraft für Spitzenleistungen zu bieten, wollen wir auch zukünftig die Forschungstätigkeit des Instituts, wie z.B. zu Echtzeitinformationen der Bauabwicklung, mit außerordentlich großem Interesse verfolgen und bestmöglich begleiten. Wir freuen uns auch auf den anhaltenden Zustrom an bestausgebildeten Wirtschaftsingenieure/Bauingenieuren der TU Graz, die ihre akademische Topausbildung in den vielfältigen Aufgabenstellungen, die ein internationaler Baukonzern wie PORR bietet, praktisch umsetzen wollen. Wien, Juli 2019

Hans Wenkenbach Mitglied des Vorstands der PORR AG

Vorwort – Präsident der ÖGEBAU

Technik, Recht und das Baubetriebswesen sind jene Fachdisziplinen, die heute das Bauwesen ausmachen. Dass Bauen ohne Technik nicht möglich, ist bedarf keiner näheren Erklärung. Wie steht es aber mit der Rechtswissenschaft und dem Baubetriebswesen? Wäre Bauen ohne Rechtswissenschaft oder Baubetriebswesen möglich? Die Rechtswissenschaft wird heute als Wissenschaft vom geltenden Recht verstanden. Sie konzentriert sich auf die Interpretation von Gesetzen und der aus den Gesetzen abgeleiteten Rechtsprechung. Sie gewinnt auch im Bauwesen eine immer größere Bedeutung, weil in den Industriestaaten die Zahl der Rechtsnormen explodiert. Deren Menge ist kaum mehr überschaubar. Der manische Drang der Gesetzgeber, jedes kleinste Detail regeln zu wollen nimmt immer mehr zu. Er führt zu ein er immer stärkeren Verrechtlichung auch im Bauwesen. Es ist nicht zu leugnen, dass Bautechniker vielfach die Zunft der Juristen nicht liebt und als Spielverderber betrachten. Dies ist ungerecht, weil „der Sack geschlagen wird, obwohl der Esel gemeint ist“. Die Gesetze macht immer noch der Gesetzgeber. Der Baujurist ist lediglich der Pfadfinder im Gesetzesdschungel. Das Baubetriebswesen ist auf akademischem Boden eine junge Disziplin. Das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der Technischen Universität Graz wurde im Jahr 1969 gegründet, das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft an der Technischen Universität Wien im Jahr 1972 und das Institut für Baubetrieb, Bauwirtschaft und Baumanagement an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck im Jahr 1974. Das Baubetriebswesen hat sich in den letzten Jahren sehr rasch entwickelt. Es ist aus dem Baualltag nicht mehr wegzudenken. Die 1978 gegründete „Gesellschaft für Baurecht“ hat dieser Entwicklung durch die Änderung ihres Namens Rechnung getragen. Seit 2009 heißt sie „Österreichische Gesellschaft für Baurecht und Bauwirtschaft“. Mir ist bewusst, dass das Verhältnis zwischen Juristen und Bauwirtschaft nicht immer fiktionsfrei ist. Gerade deswegen ist es mir ein großes Anliegen den notwendigen wissenschaftlichen Diskurs zwischen den Fachdisziplinen zu vertiefen. Die ÖGEBAU bietet dafür eine geeignete Plattform. Dieses Ziel verfolgt im Übrigen auch die vor 10 Jahren gegründete Zeitschrift bau aktuell, an der laufend zahlreiche Mitglieder des Institutes für Baubetrieb, Bauwirtschaft und Baumanagement der TU Graz in verschiedener Weise mitwirken. Ich danke dem Institut, dass ich auf diesem Wege die besten Glückwünsche für die hervorragenden Leistungen in den letzten 50 Jahren namens der ÖGEBAU überbringen darf. Wien, Juli 2019

Georg Karasek Präsident der Österreichische Gesellschaft für Baurecht (ÖGEBAU)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Festschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Vorwort – Rektor der TU Graz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

Vorwort – Dekan der Fakultät für Bauingenieurwissenschaften . .

XIII

Vorwort eines Auftraggebers (ÖBB-Infrastruktur AG). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XV

Vorwort eines Auftragnehmers (PORR AG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XVII

Vorwort – Präsident der ÖGEBAU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIX

Inhaltsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXI

Teil A Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz . . . .

1

1

Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz – Ausrichtung und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

2

Geschichte der TU Graz und des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

3

Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft – Prof. Hofstadler. .

33

4

Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft – Prof. Heck . . . .

45

5

Arbeitsbereich Baumanagement – Prof. Mauerhofer . . . . . . . . .

49

XXII

6

Inhaltsverzeichnis

Arbeitsbereich Gebäudetechnik – Prof. Monsberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Teil B BAUBETRIEB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

7

Gemeinkosten in Sachnachträgen – Lösungswege im Streit um die angemessene Höhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

8

Zur Relevanz der Baulogistikplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

9

Arbeitsinspektion im Wandel der Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

10 Arbeitsbelastung und körperliche Leistungsfähigkeit von Bauarbeitern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107

11 Baubetriebliche Gutachten – Mysterium zur Wahrheits- und Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123

12 50 Jahre Sicherheit in der Schalung – Rückblick, Gegenwart und Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

Teil C BAUWIRTSCHAFT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

13 Der Humanfaktor in der Bauwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163

14 Der Anspruch an den Abrechnungsprozess bei Infrastrukturprojekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

15 Konfliktursachen bei der Abwicklung von Bauprojekten. . . . . . .

193

16 Der holprige Weg zum Kostenvoranschlag – Sind die Steine eingebildet oder beseitigbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

17 Mehrkostenforderungen „richtig“ berechnen . . . . . . . . . . . . . . .

219

18 Eine baubetriebliche und bauwirtschaftliche Betrachtung der QuickWay-Infrastruktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227

19 Paradigmenwechsel im Hochbau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

20 Wann gilt ein Terminplan als grob über den Haufen geworfen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

277

Inhaltsverzeichnis

XXIII

21 Unstimmigkeiten und Lösungsansätze eines Gemeinkostenausgleichs infolge von Leistungsmodifikationen und Behinderungen des Bauablaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

287

22 Bedeutung der Kalkulation für Nachtragsforderungen . . . . . . . .

305

23 Probieren muss erlaubt sein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

319

24 Die Entwicklung der Anforderungen an die Darlegung von Ansprüchen aus Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

327

25 Zur Vertragsgestaltung für Grund- und Tiefbauleistungen und zur Rolle des BBW Institutes der TU Graz . . . . . . . . . . . . . . . . .

339

Teil D BAUMANAGEMENT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

343

26 Kundenzufriedenheit in der Baubranche . . . . . . . . . . . . . . . . . .

345

27 LEAN Baumanagement in der Lehre des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

361

Teil E PROJEKTMANAGEMENT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

369

28 Steigerung der Kooperation bei Bauprojekten auf Grundlage bestehender Kooperationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

371

29 Prozessorientierte und integrierte Schnittstellenplanung als Basis für eine konfliktreduzierte Gebäudetechnik-Integration im Baukörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

385

30 Die Störung ist der Regelfall! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

399

31 Der Projektmanager als Generalkümmerer – Auftraggeberanforderungen und Lösungskonzepte des Projektmanagements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

415

32 Planungswirtschaft ≠ Bauwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

441

33 Der Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

459

34 Value Engineering – Ausbildung und Einsatzgebiete. . . . . . . . .

475

35 Prozessdenken – Aktuelle Entwicklungen im Bereich Gebäudezertifizierung und Lean Construction . . . . . . . . . . . . . .

487

XXIV

Inhaltsverzeichnis

Teil F VERGABERECHT/ BAUVERTRAGSRECHT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

501

36 Berechnung der Höhe des dezidierten Schadensersatzanspruchs bei Bauzeitansprüchen für tatsächlich erforderliche Allgemeine Geschäftskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

503

37 Integrated Project Delivery aus der Sicht des deutschen Projektmanagements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

519

38 Anspruchsverlust bei Überschreitung des Kostenvoranschlages . .

527

39 Der Bauprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

541

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB . . . . . . . . . . .

555

41 20 Jahre Bauarbeitenkoordinationsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . .

595

42 Die Abgeltung von Kosten der Dokumentation und Aufarbeitung von Mehrkostenforderung bei gestörten Bauabläufen. . . . . . . . . .

609

43 Insolvenzvorsorge im Bauvertrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

623

44 Handlungsempfehlungen für ein alternatives Abwicklungsmodell für Infrastrukturbauprojekte in Österreich . .

635

45 Der „Regresszirkel“ zum Geschädigten – gewollte oder nicht gewollte Konsequenz der Privilegierung eines Schädigers nach Pkt 12.3 der ÖNORM B 2110? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

647

46 Änderungen von öffentlichen Aufträgen während ihrer Laufzeit . .

667

47 Serienmängel – immer dasselbe Problem! . . . . . . . . . . . . . . . .

685

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

695

49 Rechtsprobleme bei Insolvenz eines ARGE-Partners . . . . . . . .

729

Teil G CHANCEN- UND RISIKOMANAGEMENT . . . . . . . . . . . . . . . .

737

50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

739

Inhaltsverzeichnis

51 Technische Immobilienanalyse – TIA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXV

769

Teil H DIGITALISIERUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

789

52 Digitalisierungspotenziale im Rahmen der Kostenermittlung von Bauleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

791

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

805

54 Bauprozess optimieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

839

55 Gemeinsam mit der Crowd die Gebäude und Städte von morgen gestalten!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

849

56 Die digitale Baustellendokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

857

Teil I WISSENSMANAGEMENT. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

867

57 Frühzeitiger Wissenstransfer zwischen Auftraggeber und Bieter anhand einer Online-Wissensplattform . . . . . . . . . . . . . .

869

58 Wissen als grundlegender Produktionsfaktor in der Bauwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

887

59 Der Einsatz eines Unternehmensplanspiels in betriebswirtschaftlichen Seminaren für bautechnische Berufe. .

909

60 Beitrag zum Design von techno-ökonomisch geprägten wissenschaftlichen Abschlussarbeiten im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

917

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . .

933

Teil A Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

1

Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz – Ausrichtung und Entwicklung

Assoc.Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Christian Hofstadler Institutsvorstand Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_1

4

1.1

Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Leitbild des Instituts

Das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft steht mit seinem Ausbildungsangebot im Zentrum der Studienrichtung Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesen. Auf die umfassende technische Ausbildung bauend, vermitteln wir ein weites, fächerübergreifendes vernetztes Spektrum an baubetrieblichen, organisatorischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und umweltbezogenen Kenntnissen (siehe Abb. 1-1).

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D

*HElXGHWHFKQLN

%DXPDQDJHPHQW Abb. 1-1

Vernetztes Lehren, Lernen, Denken und Handeln – Schwerpunktsbereiche des Instituts

Als Institut der Technischen Universität Graz sehen wir uns als Dienstleistungsunternehmen, welches bestrebt ist, sowohl unsere Studierenden als auch unsere Partner aus der Wirtschaft in einem hohen Maße zufriedenzustellen. Im Gegensatz zur allgemeingültigen betriebswirtschaftlichen Ausbildung, welche durch das Institut für Betriebswirtschaftslehre vermittelt wird, sehen wir unsere Aufgabe der Lehre in der Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen stationärer Industrie und Bauindustrie. Als progressive Einrichtung an der Universität zählen wir die Aufnahme aktueller Trends der Bauwirt-

1 Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz – Ausrichtung und Entwicklung

5

schaft in unser Lehrangebot zu einem unserer Kernbereiche. Aus diesem Grund wurde der Fachbereich für Gebäudetechnik am Institut eingerichtet. Überdies stehen wir durch angewandte Forschung und Überlegungen zu aktuellen Themen immer am letzten Stand der Wissenschaft in unserem Fachgebiet. Durch den Besuch unserer Vorlesungen entsteht eine Verknüpfung aller relevanten Themen, ausgehend von der Verfahrensauswahl über das Baumanagement bis hin zur rechtlichen Analyse des Bauvertrags. In einer sinnvollen zeitlichen Abfolge der Vorlesungen werden die einzelnen Komponenten gelehrt und verinnerlicht und in den abschließenden Vertiefungsgegenständen zu einer Gesamtheit des Wissens in unserem Fachgebiet vernetzt. Parallel zur Ausbildung sollen unsere Studierenden zu Persönlichkeiten heranwachsen, die sich in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft profilieren und den Status der Exzellenz erreichen können. Ende 2015 konnten wir für die neue Professur „Gebäudetechnik“ Herrn Dipl.-Ing. Dr.techn. Michael Monsberger für unser Institut gewinnen – zur selben Zeit übernahm Detlef Heck das Amt des Vizerektors für Lehre an der TU Graz. Die Erweiterung im Führungsteam des Instituts und die laufenden Forschungsprojekte ermöglichten in den letzten Jahren eine deutliche Personalerhöhung und damit eine größere fachliche Breite und Tiefe, die sowohl den Studierenden in der Lehre als auch unseren Forschungspartnern zu Gute kommt. Im Februar 2016 wurde außerdem das neue Curriculum für das Masterstudium „Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesen“ genehmigt. Der überwiegende Anteil der darin angebotenen Lehrveranstaltungen wird durch unser Institut abgehalten und erhöht damit die Zahl der angebotenen Lehrveranstaltungen auf insgesamt 64. Mit vielen Lehrveranstaltungen geht auch eine große Anzahl an Prüfungen einher. So wurden in den Jahren 2016 und 2017 insgesamt 5.031 Zeugnisse allein durch unser Institut ausgestellt – durchschnittlich ca. 10 pro Arbeitstag. Neben den spannenden Aufgaben in der Lehre sind wir in den letzten beiden Jahren unserem Ruf als sehr aktives und produktives Institut gefolgt und haben auch wieder einige wissenschaftliche und praxisorientierte Veranstaltungen organisiert. Diese stellen für uns wichtige Fixpunkte dar, die uns die Vernetzung und den stetigen Kontakt, sowie die Diskussion neuester Erkenntnisse mit PraxispartnerInnen ermöglichen. In aller Kürze finden Sie Eindrücke und Kurzberichte zu diesen Veranstaltungen sowie einen Überblick über aktuelle Neuerscheinungen und Abschlussarbeiten. Auszeichnungen und Preise, die VertreterInnen unseres Instituts erhalten haben, dürfen hierbei genauso wenig fehlen wie unsere internationalen Kooperationen. Der zweite Teil dieses Kapitels ist unseren vier Arbeitsbereichen gewidmet. Hier stehen jeweils die Lehre, Forschungsansätze und -felder sowie aktuelle Forschungsprojekte im Mittelpunkt. Wir sind auch zukünftig daran interessiert, als starker, kompetenter und zuverlässiger Partner Forschungsvorhaben voranzutreiben, die Qualität in der Lehre hoch zu halten und die Herausforderungen der Zukunft des Bauens mitzugestalten. Beim Lesen des kurzen Überblicks und der gestrafften Einblicke wünsche ich Ihnen viel Freude!

1.2

Die Entwicklung des Instituts in Kennzahlen

Die Entwicklung des Instituts über die letzten fünf Jahrzehnte lässt sich sehr anschaulich durch einige Kennzahlen verdeutlichen. Dargestellt sind relevante Entwicklungen, die sich auf die Anzahl der MitarbeiterInnen, die Anzahl an abgehaltenen Lehrveranstaltungen sowie die Anzahl der verfassten Abschlussarbeiten über die Studienjahre beziehen.

6

Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

1.2.1

MitarbeiterInnen

Die Anzahl der MitarbeiterInnen hat am Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft besonders in den letzten Jahren (ab dem Studienjahr 2006/07) deutlich zugenommen (siehe Abb. 1-2). $Q]DKO0LWDUEHLWHU,QQHQ   

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Abb. 1-2

Entwicklung der Anzahl an MitarbeiterInnen am Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft – 1969 bis 2019

Mit steigender Anzahl an Professoren (aktuell vier) erhöhte sich auch die Anzahl an UniversitätsassistentInnen (global finanziert) und ProjektassistentInnen (finanziert aus Drittmitteln). Die Anzahl der externen Lehrbeauftragten (für einzelne Lehrveranstaltungen) blieb trotz Anstieg der Lehrveranstaltungen, die durch das Institut abgewickelt werden, nahezu konstant. Durch kleinere Projekte konnte in den letzten Jahren auch vermehrt StudienassistentInnen die Möglichkeit geboten werden, bereits während des Studiums in geringem Stundenausmaß am Institutsleben teilzuhaben und sich in Projekte der Lehre und Forschung einzubringen. Die aktuellen MitarbeiterInnen sowie externen Lehrbeauftragten, ohne die die intersive Lehr- und Forschungstätigkeit sowie die Administration des Instituts nicht möglich wäre, sind in Abb. 1-3 abgebildet. Eine zentrale institutsinterne Anlaufstelle für alle MitarbeiterInnen bildet das Sekretariat, das die Verwaltungsaufgaben für mittlerweile zwei Bürobereiche (Lessingstraße 25 und Lessingstraße 27) sowie die große Anzahl an regelmäßig und unregelmäßig stattfindenden wissenschaftlichen Veranstaltungen übernimmt.

7

1 Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz – Ausrichtung und Entwicklung

Professoren CHRISTIAN HOFSTADLER

DETLEF HECK

GOTTFRIED MAUERHOFER

Assoc.Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Institutsvorstand

Univ.-Prof.Dr.-Ing. Vizerektor für Lehre Institutsvorstand Stv.

Univ.-Prof. Mag. rer.soc.oec. DDipl.Ing. Dr.techn.

Im Ruhestand

MICHAEL MONSBERGER Univ.-Prof. Dipl.Ing. Dr.techn.

Sekreteriat GERT STADLER

HANS LECHNER

Em. Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.mont. Bergrat h.c.

Univ.-Prof.i.R. Arch. Dipl.-Ing.

CLAUDIA HRASTNIK

SUSANNE STRAHLHOFER

Amtsrätin

Amtsrätin

Wissenschaftliches Personal

BERNHARD BAUER

DOMINIK EHMANN

PETRA FORTMÜLLER

CHRISTOF GUTSCHE

EDWIN HARRER

DDipl.-Ing.

Dipl.-Ing.

Dipl.-Ing.

Dipl.-Ing.

DDipl.-Ing.

VERENA KAISER

DANIELA KOPPELHUBER

MARKUS KUMMER

ANNAKATHARINA MAGG

ROSWITHA MARIUS

Dipl.-Ing.

DDipl.-Ing.

Dipl.-Ing. Dr.techn.

Dipl.-Ing.

Dipl.-Ing.

MARTA MIERZEJEK

FLORIAN MÜLLER

JULIAN MURSCHETZ

CORNELIA NINAUS

inz. mgr inz.

Dipl.-Ing.

Dipl.-Ing.

Dipl.-Ing.

M.Sc. (TUM) Bakk.rer.nat.

RAINER PARTL

KURT PHILIPP ROCKENBAUER

FABIAN SCHERER

AGELIKI VALAVANOGLOU

Dipl.-Ing.

Dipl.-Ing.

Dipl.-Ing.

BEng. M.Sc.

LENA PAAR Mag.iur. Dipl.-Ing. Dr.techn.

BERNHARD ORTBAUER

Lehrbeauftragte

MARKUS ENZI

ANDREAS GRUSSL

RUDOLF HOFER

JÖRG KOPPELHUBER

Dipl.-Ing. Dr.techn.

Mag.iur.

Hofrat Dipl.-Ing.

Dipl.-Ing. Dr.techn.

HERBERT KRUTINA

GUNTER NITSCHE

WILFRIED PISTECKY

MICHAEL PRATTES

Mag.

Univ.-Prof. Dr.iur.

Dipl.-Ing.

MONIKA SCHENTER-NAGEL Mag. MBA

DIETER SCHLAGBAUER

GERALD SCHÖPFER

Dipl.-Ing. Dr.techn. Bmstr.

Univ.-Prof. Dr.iur. Dr.rer.pol.

StudienassistentInnen

ProjektmitarbeiterInnen

CHRISTOPH AUER LAURENZ GERSTGRASER ANNA KARNER JÖRG KULTER

ANDREAS HAIGL CHRISTIAN JOHANSSON ANNA KARNER JÖRG KULTER

Abb. 1-3

GOTTFRIED REUMÜLLER LAURENZ SCHMATZER STEFAN TRUMMER

MARCUS WALLNER

MitarbeiterInnen Sek./ IT / Design AMIR DINI PIA FURMAN PIVEC MAIKE JESERNIK

FREDERICA MERLONI PATRICK WAGEMANN

Aktuelle MitarbeiterInnen des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft – Stand: Juli 2019

8

Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

1.2.2

Abschlussarbeiten

Die Anzahl der Abschlussarbeiten von WirtschaftsbauingenieurInnen, die am Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft pro Jahr bzw. seit Institutsgründung kumuliert abgeschlossen haben, sind in Abb. 1-4 abgebildet. Die Balken stellen die Anzahl der Abschlussarbeiten pro Kalenderjahr dar und beziehen sich auf die linke Ordinate. Die kumulierten Darstellungen in Form von durchgezogenen Kurven stehen mit den Werten der rechten Ordinate in Verbindung. Insgesamt beläuft sich die Bilanz des wissenschaftlichen Outputs auf 502 Diplom- bzw. Masterarbeiten und 35 Dissertationen (Stand: Mai 2019). Bezogen auf die Jahre 2000 bis 2019 liegt der Mittelwert bei ca. 18 Masterarbeiten pro Jahr.

































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Abb. 1-4

1.2.3

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Entwicklung der Abschlussarbeiten am Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft – 1969 bis 20191)

Lehrveranstaltungen

Durch die Erweiterung der Wirkungsbereiche des Instituts konnte die Anzahl der angebotenen Lehrveranstaltungen (siehe Abb. 1-5) gesteigert werden. Dadurch hat sich auch die Zahl an MitarbeiterInnen erhöht. Durch die Weiterentwicklung der Curricula für die unterschiedlichen Vertiefungsrichtungen des Bauingenieurwesens wurden Lehrveranstaltungen aus dem Bereich Baubetrieb und Bauwirtschaft auch in anderen Vertiefungsrichtungen – teilweise als Wahl-, teilweise als Pflichtfächer – integriert oder zumindest zusätzlich angeboten.

1)

Unvollständige bzw. nicht gesicherte Datenbasis für die Jahre 1969 bis 1972 in Bezug auf die Anzahl der Diplomarbeiten.

9

1 Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz – Ausrichtung und Entwicklung

Der bisher größte „Sprung“ in der Anzahl der abgehaltenen Lehrveranstaltungen durch das Institut brachte die Einführung des neuen Masterstudienplans „Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesen“ im Jahr 2016 mit sich. Das neue Curriculum mündete in einer Vielzahl neuer Lehrveranstaltungen, die eine noch breitere und tiefere Ausbildung der zukünftigen WirtschaftsbauingenieurInnen ermöglichen sollen. Viele der angebotenen Lehrveranstaltungen finden sich auch weiterhin in den Curricula der anderen Vertiefungsrichtungen oder können als freie Wahlfächer mitbelegt werden. Aktuell betreut das Institut 64 Lehrveranstaltungen pro Studienjahr.

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Abb. 1-5

1.3

Entwicklung der Anzahl an abgehaltenen Lehrveranstaltungen am Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft – 1969 bis 2019

Wiederkehrende Veranstaltungen

Die Anstrengungen des Instituts und seiner MitarbeiterInnen spiegelt sich u.a. auch in den erfolgreich wiederkehrenden Veranstaltungen wider. Diese ermöglichen einerseits den Transfer von neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis und andererseits fördern Sie die aktive Kommunikation und Diskussion mit und zwischen den TeilnehmerInnen aus den unterschiedlichen Bereichen des Baubetriebs, der Bauwirtschaft und des Baurechts. Neben den wissenschaftlichen Veranstaltungen hat sich seit 2008 auch der „Berufs- und Informationstag Bau“ als Austausch- und Vermittlungsplattform zwischen Studierenden, AbsolventInnen, SchülerInnen und VertreterInnen öffentlicher Auftraggeber sowie Bauunternehmen und Planer entwickelt.

10

1.3.1

Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Grazer Baubetriebs- und Bauwirtschaftssymposium

Im Jahr 2003 startete das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft die Reihe „Baubetriebs- und Bauwirtschaftssymposium“ (auf Initiative von Prof. Hofstadler). Die Symposiumsreihe stellt eine Plattform für Wirtschaft und Forschung dar, in der wechselweise Bereiche aus Baubetrieb, Bauwirtschaft, Projektmanagement und Projektentwicklung behandelt und eine Vernetzung zwischen den Disziplinen hergestellt wird. Die Themen der vergangenen Symposien sind nachfolgend angeführt: 2003

Sichtbeton – (K)eine Diskrepanz zwischen Wunsch und Realität

2004

Risikomanagement in der Bauwirtschaft

2005

Konfliktvermeidung und Methoden der Streitbeilegung

2006

Ausschreibung - funktional vs. Konstruktiv

2007

Vertragsbewirtschaftung: proaktiv – aktiv – reaktiv

2008

Planervergabe: beschreibbarkeit – kriterien – neue wege zur vergabe

2009

Örtliche Bauaufsicht – Objektüberwachung – Firmenbauleitung

2010

Arbeitsvorbereitung: Nutzen für Auftraggeber und Auftragnehmer

2011

Bauablaufstörungen

2012

Planen und Bauen im Bestand

2013

Bauablaufstörungen und Produktivitätsverluste

2014

Risiken im Bauvertrag

2015

Preisermittlung und Vergabe in der Bauwirtschaft

2016

Belastbare Dokumentation in der Bauausführung

2017

Bauzeitermittlung im SOLL, SOLLTE und IST

2018

Kostenschätzung, Kostenberechnung, Kostenanschlag

2019

Reduktion von Bauablaufstörungen und systematischer Umgang mit Mehrkostenforderungen

1.3.2

Grazer Baubetriebs- und Baurechtsseminar

Der zunehmende Forschungs- und Diskussionsbedarf sowie die intensive Zusammenarbeit des Instituts mit führenden Baujuristen gab die Anregung, das Seminarangebot um diese 2-tägige Reihe zu erweitern. Seit dem Jahr 2008 (auf Initiative von Prof. Heck) werden in einem begrenzten Teilnehmerkreis die relevanten baubetrieblich-baurechtlichen Themen in diesem speziellen Seminar diskutiert. Das Hotel Rogner in Bad Blumau bildet dafür den entsprechenden Rahmen. Die Themen der vergangenen Baubetriebs- und Baurechtsseminare sind nachfolgend angeführt: 2008

Behandlung und Nachweisführung von Mehrkostenforderungen

2009

Spezielle Probleme des Bauvertrages und die neue ÖNORM B 2110

2010

Bauzeit, Vergütung und der Werkerfolg im Bauvertrag

1 Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz – Ausrichtung und Entwicklung

2011

Die Schnittstelle zwischen Vergabe und Bauvertragswesen

2012

Die Bedeutung der Kalkulation in der Vertragsabwicklung

2013

Mehrkostenforderungen am Bau – Kraut und Rüben?!

2014

Insolvenz am Bau – eine rechtliche und bauwirtschaftliche Betrachtung

2015

Das Anordnungsrecht des Auftraggebers

2017

Die Geschäftsgemeinkosten – ein Buch mit sieben Siegeln

2018

Die Mehrkostenforderung – Nachweisführung, konkret oder global?

1.3.3

11

Grazer-Darmstädter Sichtbetonseminar

Gemeinsam mit der TU Darmstadt wird an der TU Graz seit 2008 jährlich ein SichtbetonIntensivseminar abgehalten. Prof. Motzko und Prof. Hofstadler sprechen mit dem Seminar alle am „Sichtbetonprozess“ Beteiligten an.

1.3.4

SV-Verband trifft TU Graz

Zur Diskussion ausgewählter Fragestellungen und Themen aus Recht und Praxis in der Bauwirtschaft laden der Hauptverband der allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen Österreichs (Landesverband Steiermark und Kärnten) gemeinsam mit dem Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz seit 2017 jährlich zur Veranstaltung ein. Dieser Einladung folgen rund 100 interessierte TeilnehmerInnen, die für anregende und interessierte Gespräche nach den Vorträgen sorgen.

1.3.5

Berufs- und Informationstag Bau (BIT-Bau)

Zielgruppe sind u.a. Schülerinnen und Schüler der AHS, HAK und HTL, um ihnen unser interessantes Studium mit den vielfältigen Betätigungsfeldern darzustellen. Wir sprechen mit unserem Berufs- und Informationstag BAU (auf Initiative von Prof. Heck) bewusst auch Studierende der Fachhochschulen und der anderen Technischen Universitäten an, um sich im Rahmen der Veranstaltung bei den Ausstellern als PraktikantIn oder gar JungingenieurIn vorzustellen.

1.4

Internationale Kooperationen

Neben zahlreichen Kooperationen zu nationalen Unternehmen und Institutionen pflegt das Institut auch aktiv internationale Kooperationen zu internationalen Hochschulen. Besonders hervorzuheben sind dabei die strategischen Partner der TU Graz, mit denen das Institut Kooperationen – z.B. in Form von ERASMUS-Aufenthalten, Studierendenaustauschprogrammen und die Abhaltung wissenschaftlicher Veranstaltungen – pflegt. Nachfolgend werden die Kooperationspartner des Instituts inkl. einer Auswahl der Kooperartionstätigkeiten angeführt.

12

1.4.1

Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Strategische Partner der TU Graz

Technische Universität Darmstadt Aktive Kooperationstätigkeit: Fachlicher Austausch Gegenseitige Einladung zu wissenschaftlichen Veranstaltungen ERASMUS-Lehraufenthalt (Prof. Christian Hofstadler und Prof. Detlef Heck) Mitbetreuung von Dissertationen (Prof. Christian Hofstadler und Prof. Detlef Heck) Erasmus+ Weiterbildung (Cornelia Ninaus und Johannes Wall) Politecnico di Milano Aktive Kooperationstätigkeit: Fachlicher Austausch Gegenseitige Einladung zu wissenschaftlichen Veranstaltungen 2-wöchiger Studierendenaustausch (ACME-Seminar) ERASMUS-Lehraufenthalt (Bernhard Bauer, Edwin Harrer, Prof. Detlef Heck, Verena Kaiser, Jörg Koppelhuber, Florian Müller, Lena Paar und Fabian Scherer) Forschung (Bernhard Bauer, Prof. Detlef Heck, Jörg Koppelhuber, Lena Paar und Johannes Wall) Technische Universität München Aktive Kooperationstätigkeit: Fachlicher Austausch Gegenseitige Einladung zu wissenschaftlichen Veranstaltungen Forschung (Jörg Koppelhuber) St. Petersburg State Polytechnical University Aktive Kooperationstätigkeit: Fachlicher Austausch Gegenseitige Einladung zu wissenschaftlichen Veranstaltungen Initiierung eines Studierendenaustausches im Jahr 2015 Initiierung eines Studierendenaustausches im Jahr 2018 Gemeinsame Lehrveranstaltung seit Mai 2018 CBCM Seminar Lehraufenthalt (Prof. Detlef Heck, Florian Müller und Ageliki Valavanoglou) Lehrtätigkeit im Rahmen der Sommerschule in St. Petersburg 2016 (Bernhard Bauer und Edwin Harrer) Gastprofessorin (Prof. Marina Romanovich)

1.4.2

Kooperation mit Hochschulen

Technische Universität Berlin Aktive Kooperationstätigkeit: Fachlicher Austausch Gegenseitige Einladung zu wissenschaftlichen Veranstaltungen Mitbetreuung von Dissertationen (Prof. Christian Hofstadler)

1 Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz – Ausrichtung und Entwicklung

13

Technische Universität Dortmund Aktive Kooperationstätigkeit: Fachlicher Austausch Gegenseitige Einladung zu wissenschaftlichen Veranstaltungen ERASMUS-Lehraufenthalt (Prof. Christian Hofstadler und Prof. Gottfried Mauerhofer) Mitbetreuung von Dissertationen (Prof. Christian Hofstadler und Prof. Gottfried Mauerhofer) Technische Universität Braunschweig Aktive Kooperationstätigkeit: Fachlicher Austausch Gegenseitige Einladung zu Lehrveranstaltungen Univerza v Mariboru Aktive Kooperationstätigkeit: Fachlicher Austausch Gegenseitige Einladung zu wissenschaftlichen Veranstaltungen ERASMUS-Lehraufenthalt (Prof. Danijel Rebolj) Durban University of Technology Aktive Kooperationstätigkeit: Lehraufenthalt (Bernhard Bauer und Prof. Christian Hofstadler) Hochschule Ruhr West, Mülheim an der Ruhr Aktive Kooperationstätigkeit: Fachlicher Austausch Gegenseitige Einladung zu wissenschaftlichen Veranstaltungen ERASMUS-Lehraufenthalt (Markus Kummer) Mitbetreuung von Dissertationen (Prof. Christian Hofstadler) EIABC Ethiopian Institute of Architecture Aktive Kooperationstätigkeit: Lehraufenthalt (Bernhard Bauer und Prof. Detlef Heck)

2

Geschichte der TU Graz und des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft

Assoc.Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Christian Hofstadler Institutsvorstand Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected] Dipl.-Ing. Dr.techn. Markus Kummer Universitäts-Projektassistent Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_2

16

2.1

Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Prägende Ereignisse in der Historie der TU Graz

Im Jahr 1811 schenkt Erzherzog Johann seine persönlichen naturwissenschaftlichen Sammlungen dem eigens gegründeten Joanneum als Hilfsmittel zur Förderung der Naturgeschichte, Ökonomie, Physik, Technologie und Chemie. Am 26. November 1811 überreicht Erzherzog Johann die Schenkungsurkunde dem steirischen Landtag. Dieser Tag gilt als Gründungstag des Joanneums und damit auch der heutigen Technischen Universität Graz. Ab 1812 erstreckt sich der Unterricht am Joanneum im „Lesliehof“ in der Raubergasse 10 über Physik, Chemie, Astronomie, Mineralogie, Botanik und Technologie, ergänzt 1818 durch Zoologie. Der Unterricht am Joanneum findet regen Zustrom. 1827 bestätigt die Studienhofkommission den eigenständigen Charakter der „ständischen Lehranstalt“, die mit Abt Ludwig Crophius den ersten „Studien-Director“ erhält. Der Lehrplan von 1841 regelt „sämtliche Studienfächer des ständischen Joanneums“ und bringt einschneidende Änderungen. Alle Fachbereiche beginnen im 1. Jahrgang mit den Fächern Mathematik, Geometrie, Geometrisches Linienzeichnen, Zoologie und Botanik. Darauf bauen die Studienpläne für Berg- und Hüttenkunde – mit einem 5. und 6. Jahrgang im obersteirischen Vordernberg – sowie für die Fachrichtungen Mechanik, Chemie und Landwirtschaft auf. Im Revolutionsjahr 1848 erhält die Grazer technische Lehranstalt die Lehr- und Lernfreiheit zuerkannt. Diese Freiheit besteht vorläufig in der Auswahl einiger freier Dozenten, zum Beispiel in Weltgeschichte oder Anthropologie. 1848/49 wird die Vordernberger Lehranstalt organisatorisch vom Joanneum getrennt und in Leoben angesiedelt. Dort beginnt deren Ausbau zur staatlichen Montanlehranstalt, der heutigen Montanuniversität Leoben. Die Lehranstalt wird zur „Landschaftlich Technischen Hochschule am Joanneum“ erhoben. Der neue Studienplan für die Hochschule stellt erstmals nicht mehr die regionalen Bedürfnisse in den Vordergrund, sondern entwickelt sich zu einer überregionalen Ausbildungsstätte für technische Berufe. Am Ende eines Studiengangs steht nun die Diplomprüfung. Der Schwerpunkt liegt auf der Fachausbildung: Es gibt keinen expliziten Forschungsauftrag, Lehr- und Lernfreiheit sind nicht vorgesehen. 1874 übernimmt der Staat die Hochschule als „Kaiserlich-königliche Technische Hochschule in Graz“ (k.k. Technische Hochschule). Sie fällt damit nicht mehr in den Verantwortungsbereich eines Kronlands. Gleichzeitig wird die Abteilung für Land- und Forstwirtschaft aufgelassen. Ihre Aufgaben übernimmt die 1872 errichtete Hochschule für Bodenkultur in Wien. 1890/91 kommt zu den bestehenden drei Fachschulen für Ingenieurwesen, Maschinenbau und chemisch-technische Berufe noch jene für Hochbau als vierte hinzu. In diesem Jahr beträgt die Hörerzahl 178, im Jahr 1900 gibt es 395 Hörer, 1913/14 sind es 820. 1920/21 sind 1.241 Hörer inskribiert. Am 13. April 1901 bekommt die Technischen Hochschule in Graz das Promotionsrecht zuerkannt. Am 14. November 1901 findet die Promotion des k.k. Statthalterei-Ingenieurs Hans Löschner zum Doctor rerum technicarum an der Technischen Hochschule in Graz statt. Die erste Promotion an der TH Graz ist zugleich die erste Vergabe des Technischen Doktorats in der ganzen Monarchie. Im Jahr 1917 wird die Berufsbezeichnung „Ingenieur“ eingeführt. Diese ist Absolventen

2 Geschichte der TU Graz und des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft

17

eines Hochschulstudiums vorbehalten. Seit dem Jahr 1938 gibt es die Berufsbezeichnung „Diplom-Ingenieur“. Ab 1919 sind weibliche Studierende zugelassen. Als erste Frau schließt Martha Spiera aus Wien am 13. Jänner 1923 ihre Ausbildung an der chemisch-technischen Schule der Technischen Hochschule in Graz erfolgreich ab. Hedwig Katschinka aus St. Pölten erhält als erste Frau das Doktorat der technischen Wissenschaften mit der Promotion am 26. Oktober 1926. Ihr Fachgebiet ist Chemie. In der Zeit des Ständestaats wird die Technische Hochschule in Graz aus Einsparungsgründen mit der Montanistischen Hochschule in Leoben zusammengelegt. Zu Kriegsbeginn, am 1. September 1939, wird die Technische Hochschule bis zum Jänner 1940 geschlossen. Der Lehrbetrieb bricht zusammen, im Sommer 1944 wird eine Zusammenlegung der drei steirischen Hochschulen erwogen, zahlreiche Institute werden aufs Land verlagert. Bomben bringen im November 1944 den Mitteltrakt der Neuen Technik vom Erdgeschoß bis zum vierten Stock zum Einsturz. Die Wiederaufbauarbeiten dauern bis zum Wintersemester 1951/52. Der Verlust an Studenten durch den Abzug zur Wehrmacht wird durch Studentinnen kompensiert: Von 1939 bis 1944 erhöht sich der Frauenanteil von 1,9 Prozent auf 23,5 Prozent. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1945 wird der Vorlesungsbetrieb wiederaufgenommen. Am 4. Juni beginnt die Einschreibung für das Sommersemester mit 144 Studierenden. Das Hochschul-Organisationsgesetz 1955 (HOG 1955) verleiht den Hochschulen und Fakultäten eine eingeschränkte Rechtspersönlichkeit. Die Technische Hochschule in Graz wird in die drei Fakultäten Bauingenieurwesen und Architektur, Maschinenwesen und Elektrotechnik sowie Naturwissenschaften gegliedert. Das Universitäts-Organisationsgesetz 1975 (UOG ‘75) bringt bedeutende Organisationsänderungen. Alle Entscheidungen im universitären Bereich sind Kollegialorganen übertragen. Rektoren und Dekane selbst haben so gut wie keine Entscheidungskompetenz. In der administrativen Verwaltung kommt ein Universitätsdirektor zum Einsatz, der teilweise dem für zwei Jahre gewählten Rektor und teilweise dem Minister für Wissenschaft und Forschung untersteht. Die Technische Hochschule heißt seit 1976 „Technische Universität Graz“, kurz „TU Graz“ oder „TUG“, mit dem Beinamen „Erzherzog-JohannUniversität“. Sie gliedert sich in die fünf Fakultäten Architektur, Bauingenieurwesen, Maschinenbau, Elektrotechnik sowie die Technisch-Naturwissenschaftliche Fakultät. Das Universitäts-Organisationsgesetz 1993 (UOG ‘93) bringt ein verstärktes Aufsichtsrecht des Bundesministeriums und gibt den Kollegialorganen mehr Richtlinienkompetenzen. Die Position des Rektors wird deutlich gestärkt: Er übt seine Tätigkeit hauptamtlich aus, entscheidet über alle Personalaufnahmen, verhandelt bei Berufungen mit dem Bundesministerium und bestellt die Leiterinnen und Leiter der Dienstleistungseinrichtungen. Er verteilt außerdem das Budget und ist für dessen Einhaltung verantwortlich. Die Vizerektoren und Leiterinnen und Leiter der Dienstleistungseinrichtungen sind weisungsgebunden und unterstehen direkt dem Rektor. Rektor und Dekane werden für vier Jahre gewählt, Studiendekane und Vorsitzende der Studienkommissionen für zwei Jahre. Das alte Siegel der TU Graz mit Symbolen für die fünf Fakultäten wird ersetzt. Das neue Logo beruht auf fünf roten ineinanderfließenden Quadraten, die ursprünglich die damaligen fünf Fakultäten symbolisieren, aber auch für Interdisziplinarität und Kooperationen im gesamten Spektrum von Forschung und Lehre stehen. Die Wortmarke „TU Graz“ löst 2005 das zuvor verwendete „TUG“ ab.

18

Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Abb. 2-1

Altes und neues Logo der TU Graz1)

1999 unterfertigen 29 europäische Bildungsminister in Bologna eine Erklärung zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulwesens bis 2010. Auch Österreich unterzeichnet. Die vereinbarten Maßnahmen betreffen unter anderem vergleichbare Studienabschlüsse – Bachelor-, Master- und Doktoratsstudien –, die Verwendung von ECTS und die Förderung der Mobilität. Im Wintersemester 2001/02 startet die Telematik als erste Studienrichtung an der TU Graz ein Bachelorstudium und leitet damit die Umstellung des Diplomstudien-Systems auf das Bachelor- und Masterstudien-System ein, die im Wintersemester 2009/10 mit der Einführung des Masterstudiums Architektur abgeschlossen ist. Mit 1. Jänner 2001 überträgt der Bund alle Grundstücke und Gebäude der TU Graz an die bundeseigene „Bundesimmobiliengesellschaft m.b.H. BIG“. Seit diesem Zeitpunkt ist die TU Graz Nutzerin der gemieteten BIG-Räumlichkeiten. Das Universitätsgesetz 2002 (UG ‘02) tritt an allen österreichischen Universitäten mit 1. Oktober 2002 in Kraft, wird aber erst mit 1. Jänner 2004 wirksam. Es enthält alle Gesetzesbestimmungen zu Organisationsrecht, Studienrecht, Budgetrecht und Personalrecht in einem Bundesgesetz. Mit dem neuen Gesetz werden alle Universitäten aus der Bundesverwaltung ausgegliedert und erhalten ein Globalbudget, das auch eine Leistungskomponente beinhaltet. Mit dem zuständigen Bundesministerium sind Leistungsvereinbarungen über wissenschaftlich und gesellschaftlich erwünschte Ziele abzuschließen. Die Universitäten sind fortan Arbeitgeber ihres Personals. Die TU Graz wird in sieben Fakultäten gegliedert, die gemeinsam rund 100 Institute beherbergen, und wird laut Gesetz eine eigenständige juristische Person öffentlichen Rechts. Die Universitätsleitung besteht aus dem Rektorat, dem Senat und dem Universitätsrat. Die Zusammenarbeit von TU Graz und Karl-Franzens-Universität Graz in Chemie, Geowissenschaften, Mathematik sowie den Molekularen und Technischen Biowissenschaften mündet 2005 in eine institutionelle Kooperation. Unter dem Titel „NAWI Graz“ setzen die beiden Universitäten gemeinsam Bachelor-, Master- und Doktoratsstudien um und verpflichten sich zur Organisation und Durchführung gemeinsamer Forschungsvorhaben. Gemeinsam mit der TU Wien und der Montanuniversität Leoben gründet die TU Graz 2010 den Verein „TU Austria“. Die TU Austria-Universitäten bündeln ihre Kräfte in den Bereichen Forschung, Lehre und Hochschulpolitik und präsentieren sich gemeinsam als Partner für Wirtschaft und Industrie.2) 1) 2)

https://www.tugraz.at/tu-graz/universitaet/geschichte/ Datum des Zugriffs: 12.06.2019 Die Zusammenfassung der Geschichte der TU Graz wurde folgender Quelle entnommen: https://www.tugraz.at/tugraz/universitaet/geschichte/ Datum des Zugriffs: 12.06.2019

2 Geschichte der TU Graz und des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft

2.2

19

1969 bis 2019 – 50 Jahre Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft

Obwohl im Bauwesen traditionell eine rein technische Perspektive vorherrschend ist – sie war und ist auch die treibende Kraft des technischen Fortschritts – gewann nach dem zweiten Weltkrieg der ökonomische Aspekt und die Humankomponente immer mehr an Gewichtung. Diese Veränderung erfolgte als Adaptierung an das sich ständig wandelnde Anforderungsprofil für die Ausbildung von Bauingenieuren. Relativ früh reagierte die Technische Hochschule Berlin auf diese berufsbildenden und wissenschaftlichen Erfordernisse und richtete bereits 1927 eine Lehrkanzel für Baubetrieb ein. Prof. Dr. Georg Garbotz wurde an dieses Institut berufen. Zusätzlich wurde 1928 an dieser Technischen Hochschule in Berlin auch ein Institut für „Betriebssoziologie und Betriebslehre“ eingerichtet. In Westdeutschland wurden nach und nach Institute dieser Fachgebiete an den Technischen Hochschulen in München (1930), Aachen (1959), Stuttgart (1963), Hannover (1966), Karlsruhe (1967) und Braunschweig (1970) eingerichtet. Auch in Österreich ließ sich diese Entwicklung beobachten: 1969 könnte sich ein solches Institut an der Technischen Hochschule Graz etablieren und 1971 war es auch an der Technischen Hochschule in Wien so weit. Die Anfänge für die Etablierung einer institutionalisierten Kombination von Technik mit ökonomischen Aspekten ließen sich jedoch schon früher beobachten. Bereits im Jahre 1945 konnte die damalige Technische Hochschule Graz Herrn Dipl.-Ing. Skreiner als Lehrbeauftragten für das Fach „Baubetriebslehre“ verpflichten. Diesen Lehrauftrag übernahm ab 1953/54 Herr Dipl.-Ing. Dr. Bratschko (Prokurist der Bauunternehmung Eduard Ast & Co.) und ab dem Jahr 1960/61 Herr Dipl.-Ing. Aita (Teiml & Spitzy), der ab dem Sommersemester 1970 zum Ordinarius des neugeschaffenen Instituts berufen wurde.3) Die Vorlesung „Bauwirtschaftslehre“ wird für die Bauingenieure erstmals – im Zuge der Einführung der Ausbildung von Wirtschaftsingenieuren im Bauwesen – ab dem Wintersemester 1963/64 von Herrn Baurat Dipl.-Ing. Slezak abgehalten. Von 1968/69 bis 1970 wurde Herr Dipl.-Ing. Dr. Walter Veit für diesen Gegenstand verpflichtet.4) An dieser Stelle ist die besondere Rolle von Prof. Walter Veit hervorzuheben (siehe Festrede in Abschnitt 2.2.1), der in der Gründungszeit des Instituts wertvolle Basis- und Verbindungsarbeit geleistet hat. Diese enge Beziehung mit Prof. Veit setzte sich weiter fort, als er Ordinarius des Instituts für Betriebswirtschaftslehre und Betriebssoziologie wurde. Sein Nachfolger, o.Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Ulrich Bauer, führte diese enge Kooperation fort und lehrt unseren Studierenden die wesentlichen betriebswirtschaftlichen sowie betriebssoziologischen Grundlagen. Dafür danken wir sehr herzlich! Die Historie des Instituts, verknüpft mit einigen seiner Meilensteine sowie gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ereignissen ist in „Meilensteine des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft – 1969 bis 2019“ (siehe Abb. 2-2) dargestellt. Es sind darin die Standorte des Instituts, die ersten Veranstaltungen nachfolgender etablierter Veranstaltungsreihen, die Einführung eines eigenen Wirtschaftsmasters („Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesen“) sowie die zeitliche Abfolge der Institutsvorstände und Professoren dargestellt. Weiters ist der stetige Anstieg der kumulierten Anzahl an Diplom- bzw. Masterarbeiten, die im Laufe der letzten 50 Jahre am Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft verfasst wurden, grafisch dargestellt. 3)

Vgl. Veit (1994), S. 11f.

4)

Vgl. Holzer (1984), S. 7

Abb. 2-2

Vorstände Professoren

Meilensteine des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft – 1969 bis 2019

1979 Raaber Raaber

1989

1998 TUGRAZonline geht in Betrieb

1999

2003 BBB-Assistententreffen an der TU Graz

2003 BBB-Professorentreffen an der TU Graz

2006 Einführung des Bachelor/MasterSystems

2016 Neuer Masterstudienplan WirtschaftsingenieurwesenBauwesen

2015 Erste Professur für Gebäudetechnik

100

200

300

400

500

2019 Hofstadler

2019 Schriftenreihe des Instituts Heft 41

0

50

35 Dissertationen

Mauerhofer Monsberger

Heck

2008 Erstes Grazer-Darmstädter Sichtbeton Intensivseminar Initiatoren: Hofstadler, Motzko

2014 BBB-Assistententreffen an der TU Graz

2008 Erstes Grazer Baubetriebs- und Baurechtsseminar – Blumau Initiator: Heck

2008 Erster Berufs- und Informationstag Bau (BIT-Bau) Initiator: Heck

2009 Lechner Hofstadler Lechner Heck

2003 Graz Kulturhauptstadt Europas

2002 Einführung des Euro in Österreich

Stadler Stadler

1992 Umzug des Instituts in die Lessingstraße 25/II

1990 Erstes BBBAssistententreffen

2003 Erstes Grazer Baubetriebs- und Bauwirtschaftssymposium Initiator: Hofstadler

1995 Österreich tritt der EU bei

1989 Fall der Berliner Mauer

1980 Umbenennung in Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft

1982 Erste Version der Leistungsbeschreibung Hochbau in Österreich

1978 Córdoba Deutschland - Österreich 2:3

1978 Offizielle Inbetriebnahme der Wiener U-Bahn

1969 Apollo 11 Mission Die ersten Menschen betreten den Mond

Aita Aita

1969

Kumulierte Abschlussarbeiten

1973 Schriftenreihe des Instituts für Bauwirtschafts- und Baubetriebslehre Heft 1

1969 Technikerstraße 4/4 Bibliotheksgebäude »Der Zahn«

1969 Gründung des Instituts für Bauwirtschafts- und Baubetriebslehre

1986 Erstes BBBProfessorentreffen

502 Diplom- und Masterarbeiten

20 Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

2 Geschichte der TU Graz und des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft

2.2.1

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Zeitdokument: 25 Jahre Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft – Festrede5) Prof. Walter Veit

Wenn man Resümee ziehen darf über einen Vierteljahrhundertsbestand des Institutes für Baubetrieb und Bauwirtschaft, so ist man nicht nur aufgerufen, sondern verpflichtet, die Entwicklungen dieser jungen Lehr- und Forschungspalette „Baubetrieb und Bauwirtschaft“ in wenigen Ansätzen zu hinterfragen. Wenn auch im gesamten Bauwesen die rein technische Komponente vorherrschend war – sie war und ist die treibende Kraft des technischen Fortschritts – gewann nach dem zweiten Weltkrieg der ökonomische Part immer mehr an Gewichtung. Seit 2 1/2 Jahrzehnten schiebt sich zusätzlich die Humankomponente unserer Denkstruktur in Parallelität. Dies ergab ein sich ständig änderndes Anforderungsprofil für die Ausbildung von Ingenieuren. Relativ früh reagierte die Technische Hochschule Berlin und richtete bereits 1927 eine Lehrkanzel für Baubetrieb ein. Prof. Dr. Georg Garbotz wurde an dieses Institut berufen. Erwähnen möchte ich noch, dass 1928 an dieser Technischen Hochschule Berlin auch ein Institut für „Betriebssoziologie und Betriebslehre“ eingerichtet wurde. Leider wurde das Verständnis für die Notwendigkeit einer Behandlung der wirtschaftlichen Tatbestände bei der Ausbildung der Bauingenieure reichlich spät geweckt; heute noch bedarf es oftmals handfester Argumente, um Zweifler umzustimmen. Nach dem 2. Weltkrieg trat, dem Bedarf der Bauwirtschaft entsprechend, das Interesse an der Implementierung baubetrieblicher und bauwirtschaftlicher Ausbildungsstätten weiter in den Vordergrund. In Westdeutschland wurden Institute dieser Fachgebiete an den Technischen Hochschulen in München (1930), Aachen (1959), Stuttgart (1963), Hannover (1966), Karlsruhe (1967) und Braunschweig (1970) eingerichtet. In Österreich war die Geburtsstunde derartiger Institute 1969 an der Technischen Hochschule in Graz und 1971 an der Technischen Hochschule in Wien. Man sieht also, dass die Schaffung einiger „Ordinariate“ für die gegenständlichen Wissensgebiete erst ab 1960 einigermaßen in Fluss kam. Zum Schwerpunkt „Baubetrieb“ konnten nun auch – der Wirklichkeit entsprechend – die bauwirtschaftlichen Aspekte den ihnen gebührenden Anteil in der Ausbildung einnehmen. An der TU Graz wurde die Vermittlung von Erfahrungswissen aus dem Baubetrieb über Lehraufträge an Personen der Bauwirtschaft ermöglicht. An unserer Hochschule übernahm bereits 1945 Herr Dipl.-Ing. Skreiner als Lehrbeauftragter diese Aufgabe, ab 1953/54 konnte Herr Dr. Bratschko, Prokurist der Bauunternehmung Eduard Ast & Co. mit dieser Lehraufgabe verpflichtet werden. Ab 1960 erledigte diesen Auftrag Herr Dipl.Ing. Aita von der Unternehmung Teiml & Spitzy. Wieder stand der Bereich „Baubetrieb" im Mittelpunkt. Da jede Ausbildungs- und Forschungsstrategie eine Dynamik aufzuweisen hat, wurde dem Bedarf der Bauwirtschaft entsprechend, den bauwirtschaftlichen Aspekten eine wesentliche Gewichtung eingeräumt. Hier möchte ich die Leistungen dreier Personen in Erinnerung rufen, welche maßgebend für die zukünftige Entwicklung zu sehen sind: Der große Bauingenieur und Lehrer Prof. Grengg, der Betonbauer Prof. Friedrich und der Maschinenbauer und Wirtschafter Prof. Pietsch. Im Zuge des Aufbaues der Studienrichtung „Wirtschaftsingenieurwesen, Wahlrichtung Bauwesen“, wurde ein beantragter Lehrauftrag „Bauwirtschaftslehre“ bewilligt; 1961 5)

Festrede anlässlich des 25 Jahr Jubiläums des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft von o. Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn. Walter Veit† zu „Idee und Verwirklichung“. Prof. Veit war von 1973 bis 1996 Vorstand des Instituts für Betriebswirtschaftslehre und Betriebssoziologie der TU Graz, emeritierte am 30.9.1996 und verstarb am 14.3.2016.

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Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

wurde Herr Konsul Dipl.-Ing. Kiesling (Fa. Eduard Ast & Co.) zum Lehrbeauftragten dieses Fachgebietes bestellt. Nach dessen Ableben übernahm Herr Baurat h. c. Dipl.-Ing. Slezak diese verantwortungsvolle Aufgabe. Dieser Lehrauftrag war dem Institut für Betriebswirtschaftslehre und Betriebssoziologie (Prof. Pietsch) der Fakultät für Maschinenwesen und Elektrotechnik zugeordnet und wurde somit auch von den Mitarbeitern dieses Institutes betreut. Gestatten Sie mir, einige Auszüge aus der Beschreibung der damaligen Lehrveranstaltung aus dem Lehrplan „692 Bauwirtschaftslehre“ – im Umfang „2 VO und 3 UE im Wintersemester / 2 VO und 3 UE im Sommersemester (Anmerkung: In den Übungen wird an Kalkulationsbeispielen und einem Programm die praktische Durchführung erläutert)“ – zu zitieren: • • • •

„Kostenelemente, ihre Gliederung und Aufbau der Kalkulationen im Bauwesen” „Zusammenarbeit von Techniker und Kaufmann, von Baustellen und Zentralstellen” „Berichts- und Rechnungswesen“ „Vertragswesen, Normen, Ausschreibungs- und Wettbewerbsunterlagen und - bedingungen, ihre Organisationsformen im In- und Ausland. Arbeitsgemeinschaften, Arbeitsverträge“ • „Wirtschaftlichkeit der verschiedenen Baustelleneinrichtungen unter Berücksichtigung der ununterbrochenen Weiterentwicklung“ Als Assistent am Institut des Prof. Pietsch hatte ich die Möglichkeit, von der Stunde „Null“ an am Auf- und Ausbau dieses Fachgebietes mitzuwirken. Nach dem Tod unseres hochgeschätzten Baurates h.c. Slezak durfte ich das von ihm und seinen Vorgängern begonnene Werk in seinem Sinne fortsetzen. Es war die Zeit des Wildwuchses und es bedurfte wildwachsender Pflanzen in der Form von Pionieren, die gegen Stürme und Klimaveränderungen standhalten mussten. Denn auch damals schon erklärten selbsternannte Experten, wie es zu machen sei. Kreativität mit viel schmückendem Beiwerk war vorhanden, doch die Wege der Umsetzung in die Wirklichkeit wurden kaum erklärt, oftmals nicht einmal erwähnt. Doch Innovation führt nur dann zum Erfolg, wenn Kreativität und Durchsetzung erfüllt werden. Und wiederum war es Prof. Pietsch und die Runde der Gleichgesinnten, die die Mitglieder der Fakultät für Bauingenieurwesen und Architektur, das Gesamtkollegium und die maßgebenden Stellen des Ministeriums mit den bisherigen Erfolgen argumentierend überzeugen konnten, dass ein Institut für „Baubetrieb und Bauwirtschaft“ als ein Kernbestand einer zeitgerechten Bauingenieurausbildung einzuordnen sei. Damit waren die Voraussetzungen geschaffen, um von einem Wildwuchs zu einem geordneten Faconschnitt des sich ausgezeichnet entwickelten Fachgebietes zu kommen. In dieser Pionierphase wurden auch enge Kontakte mit dem Bauwirtschafter der Technischen Hochschule Berlin, Prof. Dr. Karlheinz Pfarr, geknüpft und weiter ausgebaut. In vielen Gesprächen in Berlin und Graz konnten Erfahrungen gesammelt und an unsere Situation angepasst in den Aufbau eingebunden werden. Auf all den vielschichtigen Fundamenten wurde 1969 das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft an der Technischen Hochschule in Graz eingerichtet und Herr Dipl.-Ing. Rudolf Aita (Fa. Teiml & Spitzy) zum ordentlichen Hochschulprofessor berufen. Herr Latal und ich wurden diesem Institut zugeteilt und damit war auch schon die personelle Ausstattung erledigt. Räumlich wurde das Institut im 4. Stock des Bauwerkes „Zahn“ untergebracht. Die Ausstattung war bescheiden, doch es wurde nach dem ökonomischen Prinzip, „mit den gegebenen Mitteln das Beste zu schaffen“, gehandelt.

2 Geschichte der TU Graz und des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft

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Eine wesentliche Zielsetzung – so Prof. Aita – war, den lebendigen Baubetrieb mit seinen bauwirtschaftlichen Tatbeständen und Disziplinen in den Hörsaal zu verpflanzen. Dies bedurfte eines fachlichen und wissenschaftlichen Verbundes zur bauwirtschaftlichen Praxis. Es gelang Herrn Prof. Aita, seine bereits vorhandenen Verbindungen zu den Bauunternehmungen weiter zu festigen und auszubauen. Wenn in der Vorlaufzeit des Institutes unter Baurat Slezak die Übungen der Lehrveranstaltung durch die Behandlung konkreter Bauvorhaben (KW Landl, Murbrücke Unzmarkt usw.) eine Aufwertung erfuhren, so wurde dieser Weg verstärkt weiter verfolgt. An der Drau wanderten wir mit den Argen vom KW Rosegg St. Martin über das KW Ferlach zum KW Annabrücke und die Tauerntunnel der Autobahn waren im Bauzustand oft besuchte Stätten. Mit Begeisterung waren alle „BauWLer“ an dieser Richtung tätig. Das positive Feedback aus der Realität bestätigte den Institutserfolg. 1973 wurde ich als Nachfolger von Prof. Pietsch an das Institut für Betriebswirtschaftslehre berufen; die enge Verbindung zu meinem verehrten Lehrer und zum Institut bestand natürlich weiterhin und viele gemeinsame Gespräche konnten Entscheidungen für die weiteren Entwicklungen herbeiführen. Das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft wurde zu einem Zentrum der Ingenieurausbildung an der Fakultät für Bauingenieurwesen. Prof. Aita wurde für die Jahre 1973/74 und 1974/75 zum Dekan der Fakultät gewählt und übernahm interimistisch die Aufgaben eines Rektors. Am 4.8.1978 starb nach schwerer Krankheit Prof. Aita. Die Gefahr einer Unstetigkeit im Institutsbestand konnte durch Leistungen der Institutsmitarbeiter gebannt werden und die Kuratoragenten hatte Herr Prof. Bauer übernommen. Eine dringende Neubesetzung des Institutsvorstandes war notwendig. Eine schwierige Aufgabe für die Berufungskommission. Viele fühlten sich berufen, doch nur wenige kamen in die nähere Auswahl. Mit der Bewerbung des Herrn Dipl.-Ing. Norbert Raaber wurde die Entscheidungsfindung der Kommission wesentlich erleichtert, und das Ergebnis der damaligen Beratungen über die Neubesetzung eines o. Universitätsprofessors am Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft war einstimmig. Herr Dipl.-Ing. Norbert Raaber nahm die Berufung an und das Institut hatte ab 1.9.1980 wieder einen Institutsvorstand. Nach der Pionierphase folgt nun die Phase der Konsolidierung. Den grundsätzlichen Strukturüberlegungen folgte die Umgestaltung und Anpassung der Lehrpläne der Studienrichtungen Bauingenieurwesen und Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesen. Die Gewichtung dieses Fachgebietes kommt auch zum Ausdruck, dass alle Studierende der Studienrichtung Bauingenieurwesen und Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesen die Hauptlehrveranstaltung Bauwirtschaftslehre zu absolvieren haben. Für die Vertiefer dieses Fachgebietes wurde das AK-Seminar neu geordnet. Im Studienplan 1993 wurde trotz gesamtheitlicher Stundenkürzungen dem Fachbereich „Baubetrieb und Bauwirtschaft“ eine höhere Stundenzahl eingeräumt. Als besonderer Schwerpunkt wurde der Bereich „Bauvertragswesen“ herausgestellt und damit der Wirtschaft eine weitere Hilfestellung angeboten. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Entwicklung dieses Fachbereiches an unserer Universität auf ein organisches Wachsen zurückzuführen ist, das dem Bedarfsprofil der Bauwirtschaft entsprechend mit großer Vorsicht und Sensibilität angeglichen wurde und wird. Abschließen möchte ich meine Ausführungen mit einem Satz, den man dem handgeschriebenen Wasserwirtschafts-Skriptum eines Prof. Grengg entnehmen kann und der Idealismus und Aktualität ableiten lässt: “Der Dienst an der Wahrheit ist nicht nur in der Naturwissenschaft verpflichtend, sondern auch für die Aufklärung wirtschaftlicher Zusammenhänge.”

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Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

2.2.2

1969 bis 1978: Gründungsinstitutsvorstand – Rudolf Aita

Das Institut wurde am 18.12.1969 gegründet und Herr o.Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Rudolf Aita wurde zum Ordinarius berufen. Prof. Aita schenkte seine Aufmerksamkeit in verstärktem Maße den Wirtschaftsingenieuren, denn die Verflechtungen und Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft und Technik haben einen neuen Beruf entstehen lassen: den Wirtschaftsingenieur. Da dieses Spezialgebiet des Bauingenieurwesens neben technischen Fähigkeiten auch betriebswirtschaftliche Kenntnisse erfordert, zeigt sich eine zunehmende Annäherung an die Wirtschaftswissenschaften. Das Institut widmete sich nicht nur einem Teilgebiet im Komplex der technischen Fachrichtungen, sondern betreute und entwickelte darüber hinaus noch eine fachlich differenzierte, in Umfang und Bedeutung zunehmende Studienrichtung. Die Verknüpfung von baubetrieblichen und bauwirtschaftlichen Fragestellungen rückte immer mehr in das Zentrum der Betrachtung und musste mit Fähigkeiten und Kenntnissen aus den anderen Bauingenieurdisziplinen verknüpft werden.6) Prof. Aita war gebürtiger Grazer, besuchte in Graz die Landesoberrealschule und studierte an den Technischen Hochschulen Graz, München und Berlin Bauingenieurwesen. Nach erfolgreicher Ablegung der Diplomhauptprüfung an der Technischen Hochschule in Berlin trat er in das weltweit bekannte Bauunternehmen Dyckerhoff &Widmann ein, doch setzte der Beginn des zweiten Weltkriegs dieser Tätigkeit bald ein Ende. Dipl.-Ing. Aita wurde zur Dienstleistung in die Organisation Todt eingezogen und später zur Wehrmacht überstellt. Als Leutnant geriet er knapp vor Kriegsende in Gefangenschaft, aus welcher er 1946 entlassen wurde. Er fand danach eine Anstellung im österreichischen Unternehmen Hinteregger & Söhne. Nach einigen Jahren wechselte er zur Baufirma Teiml & Spitzy in Graz, wo er auf dem Gebiet der Baustelleneinrichtung, der Arbeitsvorbereitung und des Geräteeinsatzes ein Betätigungsfeld fand. 1953 wurde ihm die Prokura verliehen. In leitender Stellung war er maßgeblich am Gelingen vieler großer Bauvorhaben beteiligt, von welchen als Beispiele die Kraftwerksgruppen Reißeck-Kreuzeck, die Druck- und Beileitungsstollen im Kaunertal, auf der Gerlos und in Fragant, ferner das Dampfkraftwerk Voitsberg herausgegriffen seien. Die Befugnis eines Zivilingenieurs für Bauwesen erwarb Aita 1958 und als solcher hat er sich auf dem Gebiet des Industrie- und Brückenbaus einen Namen erworben. Schon während der Tätigkeit bei Bauunternehmen war es Aita ein großes Anliegen, durch Vorträge jungen Ingenieuren sein Wissen zu vermitteln. Es war deshalb naheliegend, dass ihm ab dem Wintersemester 1960/61 die Technische Hochschule Graz einen Lehrauftrag für das Fach Baubetriebslehre erteilte. Der Ausbau der Studienrichtung Wirtschaftsingenieur-Bauwesen an der Technischen Hochschule in Graz ließ es zweckmäßig erscheinen, ein eigenes Institut für Bauwirtschaft- und Baubetriebslehre einzurichten und es war nicht überraschend, dass als erster Vorstand des neuen Instituts im Dezember 1969 Dipl.-Ing. Rudolf Aita berufen wurde. Seither hat Prof. Aita den Auf- und Ausbau des Instituts vorangetrieben und sich darin besonders verdient gemacht. Eine große Aufgabe sah er auch in der Ent-wicklung und dem Ausbau der vertieften Wahlausbildung „Bauwirtschaft und Baubetrieb“ für das Studium des Bauingenieurs. Als Lehrer für einige der Hauptfächer zum Studium des „Wirtschaftsingenieurs – Wahlrichtung Bauwesen“, war er seit seiner Berufung Vorsitzender der 11. Staatsprüfungskommission und einige Jahre hindurch auch Vorsitzender der Studienkommission dieser Studienrichtung. 6)

Vgl. Holzer (1984), S. 7f.

2 Geschichte der TU Graz und des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft

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Einen Bruchteil seiner fachlichen Erfahrung hat er in dem im Springer Verlag erschienenen Buch „Planungs- und Bauablauf“ hinterlassen. In zwei aufeinanderfolgenden Studienjahren wurde Prof. Aita das ehren- aber auch verantwortungsvolle Amt des Dekans der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen übertragen, das er in vorbildlicher Art geführt hat.7) Prof. Aita verstarb am 04.08.1978. Während einer Vakanz von zwei Jahren wurde das Institut von den Assistenten Schröfl, Termmel und Liberda suppliert, unterstützt von den damaligen Dekanen Prof. Dr. Bauer und Prof. Dr. Klugar.8)

2.2.3

1980 bis 1996: Institutsvorstand – Norbert Raaber

Ab 01.09.1980 wurde das Institut durch Herrn o.Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Norbert Raaber wiederbesetzt. Über 40 Jahre hatte er als Ingenieur in der Bauwirtschaft an zahlreichen, anspruchsvollen Bauwerken mitgewirkt, und hat als Professor die berufliche und persönliche Entwicklung vieler junger Ingenieure maßgeblich geprägt. Norbert Raaber hat an der Fakultät für Bauingenieurwesen der Technischen Universität Graz studiert. Um sein Studium zu finanzieren, hat er studienbegleitend im Konstruktionsbüro der Bauunternehmung Ed. Ast & Co und von 1953 bis 1958 bereits als Bauleiter für Wasserkraft- und Brückenbaustellen bei Mayreder, Keil, List & Co gearbeitet. Im Jahre 1958 legte er schließlich sein Bauingenieur-Diplom ab und begann seine berufliche Laufbahn im Grazer Bauunternehmen Ed. Ast & Co in Graz. Hier konnte er als Prokurist und Leiter des technischen Büros in der damaligen Pionierphase der österreichischen Bauwirtschaft mit seinem Wissen und Können entscheidend beitragen. Bedeutende Ingenieurbauwerke in Österreich und darüber hinaus hat er maßgeblich mitbestimmt. Seine Handschrift in Form ingenieurmäßiger Intelligenz und kluger Lösungen ist heute noch bei vielen seiner Projekte unverkennbar. Hervorzuheben sind seine Brücken (etwa die Anhebung der Draubrücke, Völkermarkter Stausee), Brücken der Tauernautobahn, Kraftwerksprojekte in Österreich sowie Hafenprojekte in Saudi-Arabien. Er verfügte über eine ungewöhnliche Breite an technischem Wissen und Erfahrung. Neben diesem hervorragenden technischen Verständnis, seiner väterlichen Art Studenten gegenüber, waren für ihn zunehmend auch die vertragsrechtliche Gestaltung und Abwicklung von Bau-Projekten von wachsender Bedeutung. Im Jahre 1975 führte sein erfolgreicher beruflicher Weg von der Baufirma weg in die Selbständigkeit. Er gründete ein Zivilingenieurbüro und plante vorwiegend Straßen- und Brückenbauwerke. Zudem war er für eine Reihe von Flusskraftwerken an der Mur verantwortlich. Mit dem Ruf an die Technische Universität Graz am 01.09.1980 ist Raaber seiner großen Liebe gefolgt, sein enormes und generalistisches Wissen an den Ingenieurnachwuchs zu vermitteln. Der in Graz etablierte Studiengang des Wirtschaftsingenieur-Bauwesens trägt noch heute maßgeblich seine Handschrift. So hat Norbert Raaber frühzeitig die Interdisziplinarität erkannt und gefördert und neben Wirtschaftswissenschaften auch juristische 7)

8)

Vgl. Nachruf Aita http://diglib.tugraz.at/download.php?id=4eb903bb768fd&location=browsehttps://www.zamzar.com/uploadComplete. php?convertFile=pdf&to=mp3&session=f2e0dcea76871b8fcb8495ba2cdadc4&email=false&tcs=Z80. Datum des Zugriffs: 14.05.2019 Vgl. Holzer (1984), S. 8

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Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Inhalte in das Curriculum der Bauingenieure integriert. Diese fortschrittliche Geisteshaltung wurde sicherlich durch die Kombination seiner profunden humanistischen Bildung (er hat etwa bei Segeltörns, mit Ilias und Odyssee in der Hand, antike Stätten wiederzuerkennen versucht…) mit seinem mondänen Weltbild geprägt. Er blieb bis ins hohe Alter mit angeregten Diskussionen und Publikationen aktiv. Sein Wissen aus über 40 Jahren Baubetrieb und Bauwirtschaft vermittelte er auch in seiner Zeit als Emeritus, und zahlreiche Dissertanten profitierten von seinen persönlichen Ratschlägen und stets interessanten Veröffentlichungen.9)

2.2.4

1996 bis 2004: Institutsvorstand – Gert Stadler

Nach dem Studium der Montanwissenschaften (Petroleum Engineering) in Leoben hat sich o.Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.mont. Bergrat h.c. Gert Stadler mehrere Jahre als junger Bauleiter von Staudamm-, Tunnel- und Industrieprojekten den Bauingenieurwissenschaften, speziell dem Tiefbau, intensiv „genähert“. Internationalen Aufenthalten für Talsperren-, Atomkraft- und Hafen-Projekte in Indien, der Schweiz und Deutschland folgte ab 1974 die Tätigkeit als Geschäftsführer der Spezial-Tiefbauunternehmung RODIO SA Schweiz, in Südafrika. Dabei ging es vor allem um den „Kampf gegen Wasser“ im Goldbergbau auf bis zu 3.000 m Tiefe, und Vorspann-Injektionen der Triebwasserstollen am Tugela-Vaal Projekt, die Gründung des Atomkraftwerks Koeberg, Kapstadt, und um das Grenzkraftwerk zu Angola an den Kunene Falls . 1979 kehrte Stadler als Geschäftsführer von INSOND-Züblin nach Österreich zurück. Unter seiner Leitung entwickelte sich INSOND zu einem der marktführenden Unternehmen im Spezialtiefbau in Österreich – und zusammen mit Züblin – auch in Deutschland. Seine Doktorarbeit mit dem Titel „Anwendung der Lagerstättenphysik des Erdölwesens auf die Injektionstechnik im Bauwesen“ finalisierte Stadler 1993 (nach, und anhand, der „Reparatur“ der Kölnbreinsperre) an der Montan-Universität Leoben bei den Professoren Heinemann und Golser. Die eindrucksvollen technischen und wirtschaftlichen Leistungen Stadlers führten schließlich 1996 zur Berufung als Ordinarius für Baubetrieb und Bauwirtschaft an die Technische Universität Graz – zu einer Zeit, in der er gerade mit Kollegen Jodl der TU Wien begann, über eine mögliche Habilitation zu sprechen Sein Anliegen war (und ist) eine breite fachliche Ausbildung mit dem Anspruch einer gewissen Exzellenz. Großes Augenmerk widmete er deshalb der Persönlichkeitsentwicklung von Studierenden (Erasmus Programm), damit sie in geeigneter Weise auf verantwortungsvolle Tätigkeiten in der Wirtschaft vorbereitet wären. Prof. Stadler war von 2004 bis 2005 Studiendekan für den Fachbereich „Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesen“ sowie für „Erdwissenschaften“ und von 2004 bis 2006 stellvertretender Dekan der Fakultät für Bauingenieurwissenschaften.10) Lange Jahre Lehraufträge an der TU Wien, internationale Sachverständigen- und Expertentätigkeit, ob in der österr. Staubeckenkommission ATCOLD, als Mitglied des Bauschiedsgerichts am Österreichischen Normungsinstitut, der Gesellschaft für Geomechanik oder der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste zeugen von 9)

Vgl. Heck (2012), S. 35

10)

Vgl. Kainz (2004), Vorwort

2 Geschichte der TU Graz und des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft

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ungemeiner fachlicher Diversität. Gesellschaftliches und soziales Engagement runden bei Prof. Stadler eine Vita ab, die durch hohe ethische Grundsätze im Geschäfts- und Berufsleben geprägt ist.11) Und es scheint auch dieser ungewöhnliche Lebens- und Leistungsverlauf gewesen zu sein, der das Österreichische Wirtschaftsministerium bewog, ihm auch den (überaus seltenen) Berufstitel „Bergrat h.c.“ zu verleihen. Prof. Gert Stadler ist dem Institut nach wie vor eng verbunden und lässt es sich nicht nehmen, den fachlichen und persönlichen Austausch mit den aktuellen Institutsmitgliedern zu pflegen – immer mit dabei: Mozartkugeln.

2.2.5

2004 bis 2013: Institutsvorstand – Hans Lechner

Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Hans Lechner studierte Architektur an der TU Wien und gründete sechs Jahre nach seinem Abschluss die Hans Lechner ZT mit Sitz in Wien. Mit der Gründung eines weiteren Büros in München wurde er auch Mitglied in der Bayrischen Architektenkammer. Zwischen 1985 und 1990 hatte Lechner Lehraufträge an der Fachhochschule München, bis schließlich 2002 die Berufung an die TU Graz folgte. 2004 folgte Prof. Hans Lechner als vierter Institutsvorstand in der Historie des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft Prof. Gert Stadler nach. Mit den Themen Projektentwicklung und Projektmanagement als wesentliche Bereiche der Bauwirtschaft brachte Lechner zusätzliche Kompetenzen in das wachsende Institut mit ein und engagierte sich auch in der Außendarstellung und Strukturierung des Instituts, besonders auch im Hinblick auf grafische Einheitlichkeit, die wohl auch seinem Studienhintergrund als Architekt geschuldet ist. Er hat als Gutachter des deutschen Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) den Prozess zur Evaluierung der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) 2013 wissenschaftlich betreut und die Leistungsmodelle und Vergütungsmodelle für Planerleistungen LM.VM.2014 erarbeitet. Prof. Lechner ist Vortragender an der Universität für angewandte Kunst Wien zum Thema Bauprojektmanagement, der arch+ing Akademie, der ZT Kammer sowie der Lehrgänge von pmtools.eu und gerichtlich beeideter Sachverständiger. Prof. Lechner ist Autor zahlreicher Fachbeiträge und -bücher zum Thema Planung und Bauprojektmanagement (verlag.pmtools.eu) und ist Herausgeber der Online-Fachzeitschrift planungswirtschaft 4.0. Durch die Betreuung von Wettbewerben und die Abwicklung von Großprojekten schöpfte und schöpft Prof. Lechner aus einem breiten Erfahrungsschatz, den er in Vorträgen und Workshops wortgewaltig, bereitwillig und gespickt mit Beispielen und Anekdoten aus der Praxis seiner Zuhörerschaft vermittelt.

2.2.6

2013 bis 2016: Institutsvorstand – Detlef Heck

2006 folgte Univ.-Prof. Dr.-Ing. Detlef Heck dem emeritierten Prof. Gert Stadler als Professor für Baubetrieb und Bauwirtschaft nach und übernahm von 2013 bis 2016 auch 11) Vgl. Österreichischer Verband der Wirtschaftsingenieure (2009), S. 9

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Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

die Institutsleitung. Prof. Heck studierte Bauingenieurwesen an der TU Darmstadt, die seit 2017 auch strategischer Partner der TU Graz ist. 2004 schloss er seine Dissertation mit dem Titel „Entscheidungshilfe zur Anwendung von Managementsystemen in Bauunternehmen – unter besonderer Berücksichtigung des Qualitäts- und Prozessmanagements“ bei Prof. Schubert und Prof. Motzko ab. Nach dem Studium folgten Tätigkeiten in der Bauleitung, Projektleitung und Projektoberleitung bei der Fa. Züblin im Bereich des Spezialtiefbaus. Prof. Heck ist seit 2015 Vizerektor für Lehre an der TU Graz und pflegt seither auch verstärkten Kontakt zu Partneruniversitäten im Ausland (z.B. Politecnico di Milano, St. Petersburg State Polytechnical University).

2.2.7

Seit 2016: Institutsvorstand – Christian Hofstadler

Assoc.Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Christian Hofstadler studierte „Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesen“ an der TU Graz und verfasste dort seine Doktorarbeit mit dem Titel „Zur exakten Ermittlung der Vorhaltemenge von Schalung und Rüstung für die Herstellung von Stahlbetondecken und die Auswirkungen des Frühausschalens auf Bauzeit und Baukosten“. Seine Lehrbefugnis (venia docendi) wurde ihm im November 2005 vom Rektor der TU Graz für das wissenschaftliche Fach „Baubetrieb“ verliehen. Auf Basis der eingereichten Habilitationsschrift (Monographie zum Thema Baulogistik) und der sonstigen wissenschaftlichen Aktivitäten (wie Forschungsarbeiten und Lehrerfahrung) sowie der von der Kommission eingeholten Gutachten wurden sowohl die wissenschaftlichen als auch die didaktischen Qualifikationen positiv beurteilt. Die verständliche Aufbereitung und Vermittlung von forschungsgeleitetem und praxisrelevantem Wissen sieht er als wesentliche und umfassende Verpflichtung eines Lehrenden und Forschers an. Prof. Christian Hofstadler ist aktuell der Vorstand des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft an der TU Graz. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Professor für Baubetrieb strebt er ständig nach Optimierung der nachhaltigen Wissensvermittlung. Besonders auch der fachliche Austausch mit Kolleginnen und Kollegen nimmt einen hohen Stellenwert ein. Neben seiner Lehrtätigkeit an der TU Graz hält er bei internationalen Forschungsaufenthalten zahlreiche Gastvorträge. Dem Leitbild der Vernetzung von Wissenschaft und Praxis folgend agiert er als Experte in verschiedenen Fachgremien. In diesem Kontext sind von ihm verfasste und mitgestaltete Regelwerke entstanden. Zudem ist er gerichtlich beeideter Sachverständiger für baubetriebliche und bauwirtschaftliche Fragestellungen. Sein wissenschaftlicher Tätigkeitsbereich umfasst die eigenständige Publikation und Mitherausgeberschaft von Fachbüchern sowie zahlreiche nationale und internationale Fachbeiträge. Besonders hervorzuheben sind die Bücher, die im Springer Verlag veröffentlicht werden konnten: • Hofstadler, Christian (2007). Bauablaufplanung und Logistik im Baubetrieb • Hofstadler, Christian (2008). Schalarbeiten – Technologische Grundlagen, Sichtbeton, Systemauswahl, Ablaufplanung, Logistik und Kalkulation. • Hofstadler, Christian (2014). Produktivität im Baubetrieb – Bauablaufstörungen und Produktivitätsverluste. • Hofstadler, Christian/Kummer, Markus (2017). Chancen- und Risikomanagement in

2 Geschichte der TU Graz und des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft

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der Bauwirtschaft – Für Auftraggeber und Auftragnehmer in Projektmanagement, Baubetrieb und Bauwirtschaft. Das umfassende theoretische Wissen wird durch die in drei Baufirmen erworbene fachliche Baupraxis in den Bereichen Hoch- und Industriebau, Bauen im Bestand sowie Brückenbau ergänzt. Für die Förderung des Austauschs zwischen Wissenschaft und Praxis wurden aufgrund seiner Initiative an der TU Graz drei Veranstaltungsreihen entwickelt und eingeführt. Es handelt sich dabei um ein Symposium, ein zweitägiges Intensivseminar und Workshops: • Mit der im Jahre 2003 ins Leben gerufene Reihe „Grazer Baubetriebs- und Bauwirtschaftssymposium“ an der TU Graz konnten über 3.000 TeilnehmerInnen für baubetriebliche, bauwirtschaftliche und bauvertragsrechtliche Themen interessiert werden. 2019 fand das Symposium zum 17-ten Mal statt. Das dort behandelte Thema „Reduktion von Bauablaufstörungen und systematischer Umgang mit Mehrkostenforderungen“ wurde in 12 Vorträgen fundiert dargestellt und diskutiert. Diese Veranstaltungsreihe dient zudem als ausgezeichnete und öffentlichkeitswirksame Plattform, um die exzellenten Leistungen des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft zu präsentieren und damit zusätzliche Aufträge für Projekte und Forschungsvorhaben einzuwerben. • 2006 startete gemeinsam mit Prof. Motzko (TU Darmstadt) das Grazer-Darmstädter 2-Tages-Intensivseminar zum Thema Sichtbeton. Hauptziel der Veranstaltung ist die Darstellung von Sichtbeton als Gesamtprozess, von der Idee über die Planung bis hin zur Ausschreibung, Arbeitsvorbereitung und Ausführung. Im Zuge der Umsetzung des Bauvertrags wird auf die Interpretation der Ausschreibung, die Arbeitsvorbereitung und die Ausführung der Sichtbetonarbeiten eingegangen. Weiters wird die Übernahme des Sichtbetons und die Sicht des Sachverständigen diskutiert. • Seit 2018 werden am Tag vor dem „Grazer Baubetriebs- und Bauwirtschaftssymposium“ zusätzlich Workshops zum jeweiligen Hauptthema angeboten und von TeilnehmerInnen aus Praxis und Wissenschaft zahlreich besucht. Zusätzlich ist er auch Mitveranstalter einer Tagung gemeinsam mit dem Sachverständigenverband mit dem Titel „Sachverständigenverband trifft TU Graz“. Erfahrungen in der englischsprachigen Lehre konnte er bereits während seines Lehr- und Forschungsaufenthalts in Saudi Arabien (2009, Al-Qassim University, Buraydah) sowie in Südafrika (2017, Durban University of Technology) sammeln. Weiters hat er zahlreiche englischsprachige Vorträge im Zuge von Konferenzen, Symposien etc. gehalten.

2.3

Bildhafte Gedanken zum Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft

Im Zuge des 17. Grazer Baubetriebs- und Bauwirtschaftssymposiums am 12. April 2019, wurde vom Künstler Reinhard Gussmagg ein Bild für die 50-Jahr-Feier des Instituts angefertigt. Die TeilnehmerInnen des Symposiums hatten dabei die Möglichkeit, ihre Gedanken, Geschichten und Assoziationen zum Institut „live“ in das gemalte Bild einzubringen (siehe Abb. 2-3).

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Abb. 2-3

Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Visual Guestbook (Reinhard Gussmagg)

Das Bild zeigt die „bunte Welt“ des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft und die Vielfältigkeit der handelnden Akteure – sowohl im universitären Kontext als auch in der täglichen Praxis. Dargestellt sind ein Querschnitt der Geschichte des Instituts und die zahlreichen Verbindungen des Instituts zu anderen Forschungseinrichtungen sowie Auftraggebern und Auftragnehmern. Es wurden zukünftige Entwicklungen sowie die zahlreichen Veranstaltungen des Instituts und maßgebende Schlagwörter in das Bild aufgenommen.

2 Geschichte der TU Graz und des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft

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Besondere Herausforderungen und Trends der Zukunft wie etwa Building Information Modeling (BIM) oder generell die Digitalisierung in der Baubranche bewegen die BauingenieurInnen von heute und morgen. Das Bild zeigt aber auch, wofür das Institut steht. Sei es das familiäre Umfeld, der Teamgedanke oder auch die Offenheit, das Vertrauen und die fachliche Breite und auch Tiefe in den Bereichen der Innovation und Forschung.

2.4

Literaturverzeichnis

Heck, Detlef (2012). In memoriam em. Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Norbert Raaber. In: bau aktuell, 3. Jahrgang, Nr. 1, Seite 35. Wien. Linde-Verlag Ges.m.b.H. (ISSN 2077-4737) Holzer, Ingrid (1984). Die Geschichte des Institutes für Baubetrieb und Bauwirtschaft. Festschrift 15 Jahre Institutsbestand – Schriftenreihe des Institutes für Baubetrieb und Bauwirtschaft – Heft 7. Hrsg.: In: Raaber, Norbert. S. 7-11. Graz. Technische Universität Graz. Kainz, Harald (2004). Zum fünfundsechzigsten Geburtstag von o. Univ.Prof. Dipl.-Ing. Dr.mont. Gert Stadler. In: Baubetrieb und Bauwirtschaft – Festschrift Prof. Gert Stadler. Hrsg.: Lechner, Hans; Hofstadler, Christian; Nöstlthaller, Reinhild. Vorwort. Graz. Verlag der Technischen Universität Graz. (ISBN 3-902465-09-3) Nachruf o.Univ.Prof. Dipl.-Ing. Rudolf Aita. Online unter: http://diglib.tugraz.at/ download.php?id=4eb903bb768fd&location=browsehttps://www.zamzar.com/uploadC omplete.php?convertFile=pdf&to=mp3&session=f2e0dcea76871b8fcb849ba2cdadc4&email =false&tcs=Z80. Datum des Zugriffs: 14.05.2019 https://www.tugraz.at/tu-graz/universitaet/geschichte/ Datum des Zugriffs: 12.06.2019 Österreichischer Verband der Wirtschaftsingenieure (2009). Zum 70. Geburtstag von Em.Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.mont. Bergrat h.c. Gert Stadler, WINGbusiness 4/2009, Seite 9. (ISSN 0256-7830) Veit, Walter (1994). 25 Jahre Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft – Idee und Verwirklichung. In: Festschrift 25 Jahre Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft 1969-1994. Hrsg.: Raaber, Norbert. S. 11-15. Graz. Technische Universität Graz.

3

Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft – Prof. Hofstadler

Assoc.Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Christian Hofstadler Institutsvorstand Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_3

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Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

3.1

Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft – Prof. Hofstadler

Im Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft von Prof. Hofstadler begründet sich das wissenschaftliche Selbstverständnis fernab des sogenannten „Elfenbeinturms“. Vielmehr wird eine aktive trans- und interdisziplinäre Zusammenarbeit und Außenwirksamkeit forciert. Als zentrale Herausforderung stellen wir uns als Team beständig dem Anspruch, den Studierenden und den EntscheidungsträgerInnen in der Praxis Wissen und komplexe Zusammenhänge nachhaltig zu vermitteln. Dabei versuchen wir auch, aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen unter Berücksichtigung der „Third Mission“ zu begegnen. Die schwerpunktmäßige Ausrichtung des Fachbereichs orientiert sich an einer realitätsnahen Modellierung von baubetrieblichen und bauwirtschaftlichen Zusammenhängen mit dem Ziel, sinnhafte und nutzbringende Simulationen von Prozessen durchzuführen. Der induktive Denkprozess bei der Abbildung der Realität mit Hilfe eines (Berechnungs-)Modells ermöglicht es, sich perspektivisch mit einem Untersuchungsgegenstand auseinanderzusetzen und diesen zu analysieren. In zahlreichen (Forschungs-) Projekten mit der Bauwirtschaft ist es uns gelungen, Wesentliches zur Lösungs- bzw. Entscheidungsfindung beizutragen und entsprechende Berechnungsmodelle zu entwickeln. Die Verknüpfung des Chancen- und Risikomanagements mit der Modellierung von Bauprozessen erachten wir dabei als zentrales Werkzeug, um baubetriebliche und bauwirtschaftliche Entscheidungen systematisch zu treffen und zu implementieren. Anhand einer modellbasierten Abbildung der Realität ist es mit darauf basierenden numerischen Verfahren möglich, mehrfaktorielle Optimierungsprobleme (Operation Research) zu lösen und damit aktiv die Produktivität von Bauprozessen zu steigern. Aktuell sehen wir in den Bereichen des Baubetriebs großes Forschungspotenzial zum Thema Produktivität und Produktivitätsverluste. Auch besteht aus unserer Sicht ein hoher Bedarf, zuverlässige Basisdaten und Informationen für Building Information Modeling (BIM) im Rahmen von Infrastrukturprojekten sowie für den Hoch- und Industriebau zu generieren. Das gesellschaftlich allgegenwärtige und unumgängliche Thema der Digitalisierung wird auch im Baubetrieb und in der Bauwirtschaft sowie beim Betrieb von Bauwerken eine Schlüsselrolle für zukünftige Entwicklungen in der Forschung, aber auch in der Praxis einnehmen. Trotz Digitalisierung wird der Mensch stets im Mittelpunkt stehen und die entscheidende Drehscheibe in allen Planungs- und Bauprozessen bilden. Dazu braucht es ein fundiertes und systemisches baubetriebliches und bauwirtschaftliches Wissensfundament. Höhepunkte im Fachbereich waren in den letzten Jahren die Abschlüsse der Dissertationen von Markus Kummer mit dem Titel „Aggregierte Berücksichtigung von Produktivitätsverlusten bei der Ermittlung von Baukosten und Bauzeiten – Deterministische und probabilistische Betrachtungen“1)2) und Johannes Wall mit dem Titel „Lebenszyklusorientierte Modellierung von Planungs-, Ausschreibungs- und Vergabeprozessen“3). Beide Arbeiten wurden in Deutschland mit Preisen ausgezeichnet. Weitere Erfolge konnten beim Doka-Studierendenwettbewerb verzeichnet werden – hier wurde zwei Mal in Folge der erste Platz erreicht. Zusätzlich wurde mit der Publikation des Buchs „Chancen- und Risikomanagement in der Bauwirtschaft“ im Springer Verlag ein wertvoller Beitrag für den systematischen Umgang mit Unsicherheiten in der Baupraxis geliefert. 1) 2) 3)

Die Arbeit wurde mit dem gif Immobilien-Forschungspreis ausgezeichnet. Die Arbeit wurde mit dem DVP-Förderpreis 2016 ausgezeichnet (1. Platz). Die Arbeit wurde mit dem DVP-Förderpreis 2018 ausgezeichnet (1. Platz).

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3 Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft – Prof. Hofstadler

3.2

Lehre

Unser ständiges Bestreben liegt darin, die Studierenden sowie MitarbeiterInnen des Instituts zu motivieren, sich mit Freude und Hingabe den Lehr- und Lerninhalten zu widmen. Großer Wert wird darauf gelegt, den Studierenden bewusst zu machen, dass nicht nur für Prüfungen, sondern im Speziellen für eine erfolgreiche berufliche Laufbahn in der Privatwirtschaft und/oder Wissenschaft gelernt wird. Der Fachbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft steht für polychromes Lehren sowie Vermitteln von ,Know-how‘ und ‚Know-why‘, um die Studierenden in optimaler Form zu erreichen und ihnen das relevante Wissen in Vorbereitung auf die Berufspraxis zu vermitteln. Im Rahmen von interaktiven Vorlesungen mit anschaulichen Praxisbeispielen, Berechnungen, Simulationen und Videos werden die unterschiedlichen Aufnahme- und Wahrnehmungskanäle der Studierenden angeregt. Im Zuge der Lehrveranstaltungsteilnahme wird ihnen die Möglichkeit geboten, aktiv an der Wissensgenerierung und -anwendung zu partizipieren. Dabei gilt das Konzept „Sehen, Denken, Analysieren, Verstehen, Bewerten, Beschreiben und genaues Handeln“ als wichtige Komponente der Lehrauffassung. Gleichzeitig wird dazu angeregt, die Inhalte aus den Vorlesungen und Übungen ständig mit Beobachtungen aus der Praxis zu verknüpfen. Diese Beobachtungen werden durch zahlreiche Exkursionen sowie Bild- und Videoerläuterungen geschärft. Dies führt dazu, dass Ursache-WirkungsBeziehungen sichtbar und die Wechselwirkungen zwischen Theorie und Praxis zeitnah und nachhaltig erkennbar gemacht werden. Die verständliche Aufbereitung und Vermittlung von grundlegenden Lehrinhalten und weiterführendem Spezialwissen wird als verantwortungsvolle und umfassende Verpflichtung eines Lehrenden angesehen. ,QWHUDNWLYH /HKUYHUDQVWDOWXQJHQ

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Abb. 3-1

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Optimale Wissensaggregation durch vernetztes Lehren, Lernen, Denken und Handeln

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Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Die Bemühungen gehen dahin, vernetztes Wissen (siehe Abb. 3-1) zu schaffen und gemeinsam an der Erweiterung der Wissensbasis zu arbeiten. Die Studierenden werden dadurch – beginnend bei den Grundlagen – systematisch und strukturiert an komplizierte und in weiterer Folge komplexe Fragestellungen des Baubetriebs und der Bauwirtschaft herangeführt.

3.3

Forschung

Erfolgreiches wissenschaftliches Arbeiten ist durch Systematik, Eigenständigkeit, Originalität und die Berücksichtigung der Wissenschaftsethik geprägt. Diese Ansprüche werden bei sämtlichen Forschungsvorhaben und Projekten umgesetzt und auch den DissertantInnen, den Studierenden sowie den MitarbeiterInnen vermittelt. Als Fundament des Erfolgs wird dazu das 3D-Forschungssystem, das 7F-Modell und die Erfolgsformel vorgestellt.

3.3.1

Das 3D-Forschungssystem

Das 3D-Forschungssystem (siehe Abb. 3-2) ist durch die elementaren und dispositiven Wissenschaftsfaktoren bestimmt und bildet das Grundgerüst für die Wissenschaftsproduktivität. Produktivität ist bekanntlich der Quotient aus Output und Input. Wissenschaftlich produktiv ist man, wenn mit den zur Thematik passenden wissenschaftlichen Methoden und Werkzeugen der vorher definierte Output (= Beantwortung der Forschungsfragen) erreicht oder sogar übertroffen wurde. Die Wissenschaftsproduktivität (als idealtypisches Modell) wird aus der Division der beiden Parameter „Qualität und Genauigkeit der Lösung zu Forschungsfragen“ und „Einsatz an Wissenschaftsfaktoren“ ermittelt (siehe Glg. (3-1)).

Qualität und Genauigkeit der Lösung zu Forschungsfragen Wissenschaftsproduktivität = --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Einsatz an Wissenschaftsfaktoren

(3-1)

Es geht dabei nicht um die Eruierung eines monetären Werts der wissenschaftlichen Lösungsansätze und Forschungsergebnisse, sondern um den Erhalt eines aussagekräftigen Faktors. Ergibt die Berechnung den Wert 1, dann wurden alle Forschungsfragen mit der höchstmöglichen Effizienz beantwortet. Liegt der Wert darüber, sind die Erwartungen in die Forschungsarbeit übertroffen worden. Liegt er darunter, wurden die Ziele nicht erreicht. Nicht alle Erkenntnisse wissenschaftlicher Disziplinen können in dieser Hinsicht bewertet werden. Große Unterschiede liegen auch in der Anwendungs- und Grundlagenforschung. Der „Wert“ letzterer zeigt sich oftmals nicht gleich. Auch fließen dahingehende (Teil-)Ergebnisse auf subtile Art in aufbauende Forschungen mit ein, was eine adäquate Bewertung praktisch verunmöglicht. Unter „Qualität“ der Ergebnisse ist auch deren Verarbeitung in Diagrammen, Prozessen, Grafiken und besonders deren Beschreibung und Interpretation gemeint. Daraus sollen sich neue oder andere Ansätze und/oder Handlungsempfehlungen ergeben. Dabei spielt auch immer wieder die adäquate Formulierung von Hypothesen eine Rolle, die entweder bestätigt bzw. widerlegt oder auch im Forschungsprozess adaptiert werden können.

3 Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft – Prof. Hofstadler

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Erzielbare Produktivität und Systematik stehen in enger Wechselbeziehung zueinander. Die Systematik wird durch das Denken und Handeln in Zusammenschau mit dem Forschungssystem geprägt, das aus elementaren und dispositiven Faktoren besteht. Zu den elementaren Wissenschaftsfaktoren zählen Originalität, Eigenständigkeit und Resilienz, die interaktiv und vernetzt zu betrachten sind.

Abb. 3-2

3D-Forschungssystem nach Hofstadler

Das Engagement agiert als verbindendes Element und wirkt als treibende Kraft. Dies bedeutet zuvorderst, dass tatkräftig daran gearbeitet wird, neue Erkenntnisse zu erzielen. Die Originalität ist geprägt von neu entdeckten Lösungsansätzen für Forschungsfragen oder Problemstellungen sowie durch neu ergründete Zusammenhänge oder Anwendungsfälle. Auch das Auffinden innovativer Fragestellungen und noch unerforschter Themenbereiche sind zentrale Charakteristika der Originalität in der Wissenschaft. In diesem Kontext spielt auch die Kausalität eine wichtige Rolle. Im Rahmen einer induktiven

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Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Vorgehensweise können mit einer repräsentativen Anzahl an Ergebnissen systemische Ursache-Wirkungsbeziehungen ermittelt werden – ein wesentliches Verfahren zur Erkenntniserweiterung. An jenen Stellen, wo auf fremde oder auch eigene Quellen zurückgegriffen wird, soll das auch wissenschaftlich klar erkenntlich gemacht werden. Damit wird die notwendige Wissenschaftsethik berücksichtigt, die aber auch einen Rückgriff auf bereits bestehendes Wissen einfordert, um darauf aufzubauen. In diesem Rahmen sind die Eigenständigkeit und die Unabhängigkeit zentrale Charakteristika von qualitativ hochwertiger Forschung – nur dann können Ergebnisse als valide und für das weitere (Forschungs-)Umfeld als wertvoll angesehen werden. Um beständig an der Beantwortung der Forschungsfragen zu arbeiten, ist zudem ein hohes Maß an Resilienz erforderlich. Zu den wesentlichen Eigenschaften der Resilienz zählen: • • • • • • • • • • • •

Elastizität Stärkung durch Störungen Selbstorganisation Erholungsfähigkeit Robustheit Anti-Fragilität Agilität Flexibilität Widerstandsfähigkeit Anpassungsfähigkeit Selbstregenerationsfähigkeit Redundanzen

Die dispositiven Wissenschaftsfaktoren schaffen die Randbedingungen für die elementaren Wissenschaftsfaktoren. Jede Forschungsarbeit muss zeitlich und inhaltlich organisiert und geplant werden (Planung). Ebenso nimmt die Steuerung hinsichtlich der Abstimmung zwischen den Beteiligten einen hohen Stellenwert ein. Dabei sind auch die methodischen und methodologischen Rahmenbedingungen zu definieren – dazu zählen beispielsweise die Festlegung der notwendigen Versuche oder empirischen Erhebungen (z.B. Befragungen). Hierfür gilt es, Arbeitspakete zu definieren und die dafür erforderlichen Dauern zu ermitteln. Die zeitliche Einordnung der Bearbeitung und die Abhängigkeiten der einzelnen Arbeitspakete werden anhand von Anordnungsbeziehungen berücksichtigt. Daraus kann auf eine Gesamtdauer des Forschungsprozesses geschlossen werden, oder es wird von einem festgelegten Zeitpunkt rückgerechnet, wie viel Zeit für die einzelnen Arbeitspakete zur Verfügung steht. In beiden Fällen ist ein zeitlicher Puffer zu berücksichtigen. Beim gesamten Prozess ist zudem ständig zu kontrollieren, ob die gesteckten (Teil-) Ziele erreicht werden. Teilweise kann es notwendig sein, Ziele abzuändern oder auch – auf Basis der erlangten Zwischenergebnisse – neue Ziele zu definieren. Die Auswahl betrifft je nach Projektkontext beispielsweise die spezifischen Methoden, die Software, die ExpertInnen, die Lehrveranstaltungen, die Forschungsumgebung und besonders die Betreuerin/den Betreuer. Der gesamte Forschungsprozess bedarf einer wohlüberlegten Organisation. Neben der forschungsinternen Kommunikation sollte auch der regelmäßige Austausch mit den weiteren ProjektpartnerInnen sowie Ansprechpersonen, die an der Zieldefinition mitgewirkt haben, nicht vergessen werden. Auch die kritische Interaktion mit der ExpertenInnenschaft und den FachkollegInnen ist wichtig, um konstruktives Feedback zu erhalten, Argumente zu schärfen, Fehler aufzudecken, neue Impulse zu bekommen und insgesamt bessere Fortschritte zu erzielen. Alle Arbeitsschritte, Gespräche und Ideen sollten zeitnah dokumentiert werden. Dadurch behält man den Überblick, nichts geht verloren und Ideen können im Sinne des hermeneutischen Regelkreises immer weiterentwickelt werden. Besonders wichtig ist die Wissens-

3 Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft – Prof. Hofstadler

39

arbeit. Dabei sind Suchstrategien festzulegen und die auf dem Gebiet führenden Autorinnen und Autoren zu identifizieren. Ein reger fachlicher Austausch führt zum notwendigen Tiefgang. Zentral dabei ist auch immer eine Explikation der wesentlichsten Begriffe unter Integration relevanter theoretischer Konzepte, um ein gemeinsames Verständnis für deren Anwendung zu schaffen. Wesentlich beeinflusst wird das Forschungssystem durch die äußeren Forschungsbedingungen. Das äußere Forschungssystem wirkt auf das innere Forschungssystem – zugleich besteht eine reziproke Beziehung – und bestimmt maßgeblich die erzielbare Wissenschaftsproduktivität. Die äußeren Bedingungen sind nur teilweise wählbar und damit auch nur bedingt beeinflussbar (z.B. durch Wahl des Forschungsfelds, wenn es sich um keine Auftragsforschung handelt). Zur Erreichung aller Forschungsziele ist das innere Forschungssystem unter Berücksichtigung der äußeren Randbedingungen effizient zu gestalten. Das äußere Forschungssystem wird durch die Zeit, die Situationsanalyse, die Betreuung (Professor oder Professorin, Forschungsteam etc.), das Umfeld sowie die Art und Komplexität der Thematik dominiert. Zeit Forschung braucht ausreichend Zeit! Große Fortschritte können nicht erzwungen werden. Deshalb ist es wichtig, bei der Entwicklung des Forschungsdesigns auch realistische, zeitlich abgegrenzte Projektabschnitte zu kalkulieren. Bei der freien Forschung ist man relativ flexibel. Hingegen spielt die Zeit bei der Auftragsforschung eine große Rolle, da Zwischenziele und das Endergebnis meist mit fixen Vorgaben versehen sind. Situationsanalyse Im Zuge der Situationsanalyse ist es wichtig, die Forschungsthematik als Gesamtsystem zu erfassen und die Schnittstellen zu benachbarten Systemen darzustellen. Hierbei ist die Mind-Map Methode sehr hilfreich. Mind-Mapping ist eine kognitive Technik, welche sich sehr gut eignet, um Ideen zu sammeln und diese in Form einer Baumstruktur visuell darzustellen. Rund um den thematischen Kern werden zu den Hauptpunkten Äste gebildet, aus denen weitere Sub-Äste wachsen. Diese können weitere Unter-Äste aufweisen. Alle neuen Erkenntnisse, die aus dem Studium der Literatur, aus Gesprächen, Versuchen, Befragungen etc. resultieren, werden zeitnah in die Mind-Map übertragen. Dieser Wissensbaum wächst und wächst und bleibt trotzdem sehr übersichtlich. Es können auch Symbole und Zeichnungen integriert werden, um dadurch mehr Wahrnehmungskanäle anzusprechen. Es kommen laufend Aspekte hinzu oder werden wieder gestrichen. Zusammenhänge und auch Unterschiede sind transparent dargestellt. Damit kann ein fundierter Überblick über die Thematik ermöglicht werden. Ein großer Vorteil liegt auch darin, dass die Mind-Map für Besprechungen als anschauliches Hilfsmittel dient und dadurch ein gemeinsames Verständnisniveau effizienter und effektiver erarbeitet werden kann. Im Zuge von Besprechungen können interaktiv Aspekte und Themenbereiche entfernt oder hinzugefügt bzw. auch Äste verschoben sowie Prioritäten (z.B. ABCAnalyse, Pareto-Prinzip) verändert werden. Betreuung Die Betreuung hat eine sehr wichtige Funktion, um wissenschaftliches Arbeiten auf Basis von ausgereiften Expertisen anzuleiten. Dabei sind klare Vorgaben hinsichtlich der Anforderungen an die Wissenschaftlichkeit und generellen Qualitätsziele auszusprechen und diese möglichst schriftlich festzuhalten. Wichtig für das Forschungssystem ist auch das Forschungsverständnis, um zwischen der Betreuungs- und Bearbeitungsseite auf ein

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Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

gleiches Verständnisniveau zu kommen. Das Forschungsverständnis stützt sich dabei auf den hermeneutischen Regelkreis, bei dem ausgehend von einem Vorverständnis (Wissen, Erfahrung, Versuche, Befragungen etc.) durch analytische und empirische Untersuchungen eine Erkenntniserweiterung stattfindet, welche die Grundlage für ein adaptiertes Vorverständnis darstellt. Als effiziente und effektive Managementmethode wenden wir Systems Engineering an, um damit optimale Fortschritte bei der Anwendung des hermeneutischen Regelkreises zu erzielen. Das Systems Engineering steht für zielorientiertes Vorgehen von der Makro- zur Mikrobetrachtung, das Denken in Variantenvielfalten, die Phasengliederung der verschiedenen Studienschritte (von der Vorstudie über die Hauptstudie zur Detailstudie) und den ständig eingesetzten Problemlösungszyklus als Mikro-Logik. Umfeld Das Umfeld bezieht sich auf die Organisation, in der z.B. eine Doktorarbeit verfasst wird. Meist sind die VerfasserInnen der Qualifikationsarbeiten einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter an einem Institut und einer Betreuerin oder einem Betreuer zugeordnet. Hier ist es wichtig, dass man sich schon zu Beginn der Arbeit mit den Forschungszielen auseinandersetzt. Als Projektmitarbeiterin oder -mitarbeiter hat man es im baubetrieblichen bzw. bauwirtschaftlichen Umfeld meist mit Auftragsforschung zu tun. Das Forschungsfeld und die -ziele sind (hoffentlich) sehr klar definiert und eingegrenzt. Wenn es sich um keine Auftragsforschung handelt, besteht in der Auswahl des Forschungsfelds und der Forschungsfragen meist höhere Flexibilität. Dadurch kann persönlichen wissenschaftlichen Interessen vermehrt Rechnung getragen werden. Art und Komplexität der Thematik Der wichtigste Grundstein für den Abschlusserfolg einer Forschungsarbeit/wissenschaftlichen Arbeit (z.B. einer Dissertation) wird durch das Thema und die klaren Zielformulierungen gelegt. Es macht keinen Sinn, sich mit z.B. Künstlicher Intelligenz zu beschäftigen, wenn kein großes Interesse für Mathematik und Informatik besteht. Wissenschaft ist kein bloßer Beruf, sondern auch Berufung. Man muss einem Thema gewachsen sein, wenn möglich sollte man auch dafür „brennen“. Wenn man das vorab nicht weiß, helfen dazu Vorstudien, die einige Wochen dauern, um herauszufinden, ob das Thema von Interesse und in seiner Komplexität auch sinnvoll unter den gegebenen Ressourcen erforschbar ist.

3.3.2

Das 7F-Modell

Neben dem 3D-Würfel für das Forschungssystem (siehe Abb. 3-2) wurde auch das „7FModell“ entwickelt, um die wesentlichen Attribute einer erfolgreichen Forschung oder generell einer Projektabwicklung plakativ in Erinnerung zu rufen. Dieses 7F-Modell ist in Abb. 3-3 dargestellt und soll die effiziente Verzahnung zwischen Betreuungs- und Bearbeitungsseite darstellen. Das 7F-Modell hebt das integrale und kooperative Miteinander hervor. Beispielsweise ist es für die Forscherin und den Forscher sehr wichtig, das geeignete Thema und den richtigen (weil engagierten) fachlich kompetenten und inspirierenden Betreuer zu finden. Die Thematik steht dabei aber im Vordergrund – dieser muss man intellektuell gewachsen sein, um überhaupt Forschungslücken und -ansätze finden zu können und sie muss von so hohem Interesse und Forschungsdrang begleitet sein, dass sie ständig anspornt, sich damit theoretisch wie praktisch zu beschäftigen (experimentieren, analysieren, synthetisieren, systematisieren, schlussfolgern, schreiben etc.).

3 Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft – Prof. Hofstadler

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Forschen muss auch gelernt und gelebt werden. Das zielt vor allem auf das systematische und prozessorientierte Denken und Agieren ab. Forschen beinhaltet auch das akribische und systematische Suchen und Integrieren aller für die Thematik relevanten Primärliteraturquellen – und zwar im Rahmen einer wissenschaftlich fundierten Literaturrecherche (Datenbanken, Bibliotheken etc.).

'LHÄ)³]XUHIIL]LHQWHQXQGYRUDOOHPHIIHNWLYHQ )RUVFKXQJVDUEHLW 3URIHVVRULQ

'LVVHUWDQWLQ ± 'LSORPDQGLQ

Abb. 3-3

(52/*

7F-Modell nach Hofstadler

Das Fordern bezieht sich auf die Zielformulierung (Muss-, Soll-, Kann- und Nicht-Ziele) und die Einhaltung der Grundsätze des Forschungssystems (nach Abb. 3-2). Auch Ergebnisse und regelmäßige Besprechungen sowie die Beschäftigung mit anderen Disziplinen und Forschungsfeldern sind einzufordern. Der Austausch mit der wissenschaftlichen ExpertenInnenschaft ist dabei unabdingbar. Wichtig ist zudem, dass von der Betreuungsperson ein ständiger Schreibprozess von der Bearbeiterin/dem Bearbeiter gefordert wird. Schreibblockaden können leicht überwunden werden, indem man einfach zu schreiben beginnt. Die ForscherInnen sind zu fördern, aktiv an der scientific community zu partizipieren, indem andere Universitäten und Lehrveranstaltungen besucht, an Konferenzen teilgenommen, in relevanten Arbeitskreisen mitgearbeitet, Fachbeiträge geschrieben und Vorträge gehalten werden. Wird der Zustand des Flow4) erreicht, wurde das richtige Thema gefunden und man steigert damit auch die Resilienz. Flow bezeichnet das beglückend erlebte Gefühl eines mentalen Zustandes völliger Vertiefung (Konzentration) und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit. Die Forschungsarbeit wird nicht als Bürde wahrgenommen, die vor sich hergeschoben wird, sondern es besteht ein ständiges Bestreben, die Forschungsneugier zu befriedigen und Fortschritte zu erzielen. Natürlich gibt es auch Rückschläge und Irrwege, das gehört dazu. Dafür gibt es ja die Resilienz. Sie treibt voran und bietet in Krisen die Chance, durch adaptiertes Wissen neuen Erkenntnisgewinn zu erlangen. Das ständige Streben nach Feedback zu erzielten Ergebnissen, 4)

Von Mihály Csíkszentmihályi entwickelt: Wenn man im Flow ist, hat man das Glücksgefühl eines mentalen Zustandes völliger Vertiefung (Konzentration) und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit („Absorption“), die wie von selbst vor sich geht. Man fließt in einen Kreativitäts-, Schaffens- bzw. Tätigkeitsrausch.

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Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

erstellten Diagrammen und dazu verfassten Texten durch die Betreuerin/den Betreuer und die ExpertenInnenschaft zeigt auf, ob der eingeschlagene Forschungsweg zielführend ist und die Ergebnisse auch nachvollziehbar und wissenschaftlich eindeutig untersucht, analysiert, ausgewertet, dargestellt und beschrieben wurden. Unter Berücksichtigung der wesentlichen Aspekte und der Funktion des Forschungssystems sowie durch das Praktizieren des 7F-Modells sind zumindest die Grundvoraussetzungen geschaffen, um auf der Wissenstreppe die oberste Stufe zu erreichen. Dem Prinzip der Wissenstreppe nach North (siehe Beitrag 58, Abb. 58-1) folgend, werden die MitarbeiterInnen und Studierenden systematisch unterstützt und motiviert, die oberste Treppenstufe (Einzigartigkeit) zu erreichen. Mit einer Doktorarbeit die Einzigartigkeit zu erreichen, ist Motivation genug, um das Forschungsvorhaben erfolgreich umzusetzen. Möchte man den wissenschaftlichen Erfolg in eine Formel packen, könnte diese wie in Abb. 3-4 dargestellt aussehen.

(5)2/*

Abb. 3-4

3.4

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[

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[

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[

(QHUJLH

[

5HVLOLHQ]

Erfolgsformel nach Hofstadler

Forschungsfelder

Auf den Gebieten der Berechnung von Baukosten und Bauzeiten sowie der Ermittlung von Lebenszykluskosten unter Berücksichtigung von Unsicherheiten konnten wir auch international mit neuen Ansätzen und Beiträgen zur Weiterentwicklung und Verbesserung von Leistungs- und Kostenprognosen überzeugen. Für die umfassende Berücksichtigung von Unsicherheiten wird die Monte-Carlo-Simulation eingesetzt und dazu die Software @Risk5) verwendet. Die Anwendung von Simulationen, für Lebenszyklusbetrachtungen beispielsweise, erfolgt bereits vielversprechend bei laufenden Forschungsprojekten. Unserer Ansicht nach lässt sich hier ein hohes Forschungspotenzial im universitären Bereich aufzeigen. Zusätzlich sollten auch in der Baupraxis für Auftraggeber, Bieter und auch Auftragnehmer intensivierte Anstrengungen zur Wissensallokation unternommen werden. Aktuelle Forschungsschwerpunkte liegen besonders in der Anwendung und Entwicklung von Methoden und Modellen, basierend auf Foresight-Strategien wie Simulationen und Szenario-Methoden, kombiniert mit Technology-Roadmapping, um genauere Prognosen und eine bessere Basis für Entscheidungsfindungen im Bauprozessmanagement und im Baubetrieb zu ermöglichen. 5)

Palisade

3 Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft – Prof. Hofstadler

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Unter anderem werden im Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft von Prof. Hofstadler nachfolgende Themenbereiche in Form von Forschungsprojekten, Abschlussarbeiten oder interner Forschung bearbeitet: • Chancen- und Risikomanagement in Organisationen und für Projekte • Berücksichtigung von Unsicherheiten in Diagnosen und Prognosen mit Monte-CarloSimulationen • Produktivität im Baubetrieb • Integrale Digitalisierung im BIM-Prozess: Verbesserung der Daten- und Informationsgenerierung sowie der Kennzahlenentwicklung • Systematische Datenerfassung sowie Informationsgenerierung und Wissensmanagement für die Baustellen der Zukunft • Implementierung von Nichtlinearitäten bei der Berechnung von Bauzeiten und Baukosten • Lebenszyklusbetrachtungen und -berechnungen • Verbesserung von Produktions- und Logistikprozessen • Lean Design und Lean Construction • Untersuchungen zur Produktivität und zu Bauablaufstörungen • Technische Due Diligence • Prozessoptimierung und Qualitätssicherung in der Schalungs- und Rüsttechnik und bei Sichtbeton • Bauablaufplanung und Logistik • Optimierungsverfahren • Portfoliobetrachtungen • Trendanalysen • Modellierung, Simulation und Prozesse • Digitalisierung von Prozessen • Neuronale Netze und maschinelles Lernen • Mixed Reality • Prozessorientiere digitale und analoge SOLL-IST-Vergleiche

4

Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft – Prof. Heck

Univ.Prof. Dr.-Ing. Detlef Heck Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_4

46

4.1

Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft – Prof. Heck

Baubetrieb und Bauwirtschaft stellen innerhalb der Bauingenieurwissenschaften eine verhältnismäßig junge Fachrichtung dar. Dennoch besitzt sie zu den „klassischen“ Bereichen wie z.B. Betonbau, Geotechnik, Hochbau und Wasserbau immer eine Schnittstelle. Diese besteht in den Aspekten der Planung, Ausschreibung, Arbeitsvorbereitung, Kalkulation und Ausführung spezieller Bauverfahren. In den vergangenen Dekaden hat sich der Baubetrieb auch wissenschaftlich emanzipiert, zudem genießt diese Disziplin bei den Studierenden einen sehr großen Zuspruch. Die Arbeitgeber schätzen an unseren Studierenden den Weitblick, auch andere Disziplinen zu kennen, insbesondere in Bezug auf die Breite der Lehre des Wirtschaftsingenieurwesens. Zudem hat sich die Sicht des Baubetriebs auf die Prozesse, deren Sicherheit und Stabilität erweitert, denn die wirtschaftliche Komponente und die gestiegene Komplexität von Großbauvorhaben und terminkritischen Projekten rücken immer weiter in den Vordergrund. Das Thema der Planung – speziell auch mit neuen Werkzeugen wie BIM – spielt zukünftig eine bedeutendere Rolle; ist doch die Bauwirtschaft (Auftraggeber und Auftragnehmer) inzwischen zu der Erkenntnis gelangt, dass in dem vollkommenen Durchdenken der Prozesse und der Details der Projekterfolg maßgeblich erhöht werden kann. Das Spektrum des Baubetriebs und der Bauwirtschaft stellt die Klammer, aber auch die Brücke zwischen den interdisziplinär agierenden Baubeteiligten dar. Die ehemals belächelten Soft Skills rücken damit immer mehr in den Vordergrund und werden von Arbeitgebern als wesentliches Kriterium bei der Auswahl von AbsolventInnen herangezogen. Das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft bietet all diese Skills mittels Lehrveranstaltungen an; von Mediation, Fachenglisch, Auslandsbau bis hin zur Arbeitssicherheit. Der Baubetrieb stellt sich in erster Linie „baustoffunabhängig“ dar. Dennoch wurde im Arbeitsbereich in den vergangenen Jahren ein Schwerpunkt im Holzbau eingerichtet, da hier erheblicher Nachholbedarf aus bauwirtschaftlicher Sicht bestand. So konnte das Institut mit Hilfe von Projektaufträgen ein neues Standardleistungsbuch „Holzbau“ definieren, so dass einer fachgerechten Ausschreibung des Holzwerkstoffes nichts mehr im Wege steht. Die dahinter liegende Kalkulation ist selbstredend vom Institut erarbeitet worden. Der Werkstoff Holz bietet zudem die Möglichkeit, auch scheinbar antiquierte Themen wie Modularisierung und Standardisierung neu zu beleben.

4.2

Lehre

Die Lehre im Fachgebiet „Baubetrieb und Bauwirtschaft“ zu definieren, fällt mitunter auch Fachleuten schwer. Als spezielle Form der Betriebswirtschaftslehre werden insbesondere jene Teile der Bauwirtschaft verstanden, die unter der Markenbezeichnung „Wirtschaftsingenieur“ ausgebildet werden. Dennoch verlangen heute komplexe Planungsaufgaben und Ausführungsprozesse ein vertieftes Know-how in der Bautechnik, dem Vergabe- und Werkvertragsrecht und ein hohes Maß an sozialer Kompetenz. Die TU Graz steht mit ihrer grundlagenorientierten Bachelorausbildung für einen stark mathematisch fokussierten Ansatz. Hier erhalten die Studierenden einen Überblick über den Facettenreichtum der Bauingenieurwissenschaften. Im Master haben wir uns dazu entschieden, etwa ein Drittel der Lehrveranstaltungen ohne Wahlmöglichkeit anzubieten. Dies stellt ein

4 Arbeitsbereich Baubetrieb und Bauwirtschaft – Prof. Heck

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wesentliches Element der Qualitätssicherung dar. Danach können die Studierenden, ihren Neigungen folgend, entweder die Vertiefung Baubetrieb und Bauwirtschaft, oder Baumanagement einschlagen. Wesentlich ist, dass wir im Rahmen von Vorlesungs-Übungen eine direkte praktische Anwendung des Vorlesungsinhaltes ermöglichen. Die Lehre im Baubetrieb kann nur erfolgreich durch Beispiele, Case Studies und Übungen umgesetzt werden. Hierbei pflegen wir einen engen Kontakt zu Auftragnehmern und -gebern, um mit Hilfe von konkreten Praxisbeispielen und zielgerichteten Exkursionen das Erlernte zu erleben. Dieses Engagement in der Lehre spricht unsere Studierenden an, denn das Institut schließt jährlich ca. 20 Masterarbeiten ab, die zum Teil mit Partnern aus der Wirtschaft erstellt werden. Insgesamt bietet das Institut über 60 Lehrveranstaltungen an und wickelt jährlich ca. 2.500 Prüfungen, von Multiple Choice bis mündliche Prüfungen, ab. Die Internationalisierung stellt eine große Herausforderung für uns als Institut dar. Mit ersten Gastvorlesungen in overseas, aber auch regelmäßigen gemeinsamen Lehrveranstaltungen mit unseren strategischen Partneruniversitäten in Darmstadt, Mailand und St. Petersburg können unsere AbsolventInnen in gemischten Gruppen wertvolle Erfahrungen in internationaler Kollaboration sammeln. Internationalen Austauschstudierenden stehen die Türen zu unseren Lehrveranstaltungen offen. Um gerade zu Studienbeginn die Abbrecherquote an der TU Graz zu reduzieren, nimmt das Institut auch an einem StudierendenmentoringProgramm teil, welches den Studierenden den Übergang aus dem Ausland, oder von der Schule an die Universität erleichtern soll. Ziel ist es, weltoffene, kritische und fachlich fundierte WirtschaftsingenieurInnen auszubilden, die über Grundlagen im Bauingenieurwesen, mit einer Vertiefung im Bereich des Baubetriebs und der Bauwirtschaft, verfügen.

4.3

Forschung

Der Bereich Baubetrieb und Bauwirtschaft widmet sich in der Forschung einerseits den klassischen Themen der Bauverfahrenstechnik und Bauprozesse, aber auch neuen Fertigungsmethoden, wie sie im Holzbau eingesetzt werden. Verstärkt werden auch bauvertragliche Themen, die aus den Unschärfen der Bauvertragsnormen oder des Bauvertrags entstehen, sowie unverändert Fragen der Baukalkulation erforscht. Die Bauwirtschaft im Holzbau wurde in den vergangenen Jahrzehnten eher stiefmütterlich betrachtet. So wurde unter unserer Mitwirkung 2017 nicht nur eine standardisierte Leistungsbeschreibung Holzbau (LG 36) initiiert und fertiggestellt, sondern auch eine entsprechende Musterkalkulation für die einzelnen Positionen erarbeitet. Hierdurch werden nun auch im Holzbau jene Standards erreicht, wie sie im Stahlbeton- und Stahlbau selbstverständlich sind. Flankierende Schulungsmaßnahmen mit Holzbaubetrieben sichern die Qualität und die Praxistauglichkeit der entwickelten Werkzeuge. Ein weiteres Feld der bauwirtschaftlichen Forschung ist die Frage einer frühen Einbindung von Bietern im Planungsprozess, speziell bei öffentlichen Auftraggebern. Diese vergaberechtliche Fragestellung hat erhebliches Potential, Konflikte bereits in der Vertragsanbahnung zu reduzieren und geeignetes Knowhow der Auftragnehmer in die Planung einfließen lassen zu können. Stetige Forschungsprojekte widmen sich den Fragestellungen rund um die Kalkulation in der Bauwirtschaft. Hierzu wickelt das Institut regelmäßig Masterarbeiten mit Baustellenuntersuchungen ab, die in der Bestimmung von Aufwands- und Leistungswerten münden. Fragen zur Kalkulation und Angemessenheit von Preisen sind essentieller Bestandteil der baubetrieblichen Forschung. Eng verbunden sind in diesem Zusammenhang vergaberechtliche Fragestellungen, die aus bauwirtschaftlicher Sicht fächerübergreifend beantwortet werden. Neue Methoden, wie das Planen und Ausführen mit Hilfe von Building Information Modeling (BIM) haben bereits Eingang in die Bachelorstudien gefunden. So ist gewährleistet, dass

48

Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

unsere AbsolventInnen am Puls der Zeit durch forschungsgeleitete Lehre ausgebildet werden. Gleichzeitig werden in der Forschung Versuche unternommen, mit Hilfe von BIM Bauablaufstörungen besser fassen zu können. Hierunter ist einerseits die Erfassung selbst, aber auch die Beurteilung der Folgen zu verstehen. Mit BIM stehen flexible Werkzeuge zur Verfügung, die allerdings noch erprobt werden müssen.

4.4 • • • • • • • • • • • • • •

Forschungsfelder

Vergaberecht Bauvertragsrecht Innovative Vertrags- und Vergütungsmodelle Möglichkeiten der Entwicklung von Standards für Mehrkosten bei komplexen Bauvorhaben Ursachen und Auswirkungen von Bauablaufstörungen und deren Bewertung Bauen im Bestand Ausschreibung von Sanierungsarbeiten Revitalisierung von Gründerzeitbauten Bauprozessmanagement im Holzsystembau Baubetrieb und Bauwirtschaft im Holzbau Bauablauf- und Prozessoptimierung im Industriellen Bauen mit Holz Planungsprozesse, Ausschreibung, Kalkulation, Bauvertragswesen im Holzbau BIM-gestützte Nachweisführung gestörter Bauabläufe 5D BIM

5

Arbeitsbereich Baumanagement – Prof. Mauerhofer

Univ.-Prof. Mag.rer.soc.oec. DDipl.-Ing. Dr.techn. Gottfried Mauerhofer Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_5

50

5.1

Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Arbeitsbereich Baumanagement – Prof. Mauerhofer

Vor nunmehr sechs Jahren ist mir am 01. Oktober 2013 die Ehre zu Teil geworden, am Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft den Forschungs- und Lehrbereich Baumanagement übernehmen zu dürfen. Die bisherige Zeit war vor allem von Lehr- und Forschungstätigkeit geprägt. Im Bereich der Lehre konnte ich seit Beginn meiner Tätigkeit eine Reihe von verschiedenen Lehrveranstaltungen abhalten, wodurch ich „meinen“ Studierenden einen praxisnahen und zukunftsorientierten Einblick in „das Leben nach der Universität“ ermöglichen konnte. Mir ist vor allem wichtig, meine Forschungs- und Lehrtätigkeit vermehrt auf die Schnittstelle zwischen Bauingenieurwesen und Betriebswirtschaftslehre zu konzentrieren, zumal sich die Struktur von Bauvorhaben verändert hat, diese komplexer werden und dementsprechend sich auch die Kundenerwartungen gesteigert haben. Auch die Abläufe aufgrund der zeitlichen Vorgaben, Digitalisierung sowie der Globalisierung haben sich wesentlich geändert und das Informations-, Wissens- und Datenmanagement ist neben der Schaffung von Netzwerken nicht mehr wegzudenken. Ebenso muss man als angehende Bauingenieurin/angehender Bauingenieur flexibel und spontan auf anfallende Problemstellungen reagieren können, weshalb auch soziale Kompetenzen im heutigen Berufsleben einen wesentlichen Bestandteil darstellen. Um meine Studierenden auf diese Entwicklungen bestmöglich für den Einstieg in das Berufsleben vorzubereiten, ist es mir daher ein großes Anliegen, den bereits von mir eingeschlagenen Weg, praxisbezogene Lehrinhalte, welche auch immer an aktuelle Gegebenheiten angepasst werden, zu vermitteln. Dies spiegelt sich auch darin wieder, dass ich wie bisher auch zukünftig vor allem praxisbezogene Masterarbeiten betreuen möchte; dies unter starker Einbindung der Bau- und Immobilienwirtschaft. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass ich bereits im Jahr 2015 das Handbuch „Jahresabschluss und Steuern in der Bauwirtschaft“ im Manz Verlag veröffentlicht habe und plane, diese Buchserie „Bau-Betriebswirtschaftslehre“ fortzusetzen. Zusätzlich dazu habe ich unter Mitwirkung von meinem Assistenten Dipl.-Ing. Christof Gutsche auch eine Seminarreihe über Bauunternehmensführung publiziert, welche jährlich auf die neuesten Entwicklungen im Bereich des Baumanagements eingehen soll und im Jahr 2017 gestartet wurde. Die Erkenntnisse werden jedes Jahr in Buchform zusammengefasst, wobei im Herbst 2019 die dritte Ausgabe erscheint. Ich freue mich auf die nächsten Jahre meiner Forschungs- und Lehrtätigkeit sowie die von mir aufbereitete Forschungsarbeit an meine Studierenden weitergeben zu können.

5.2

Lehre

Die Ausbildung im Bereich des Baumanagements beginnt im Bachelorstudium mit den beiden Lehrveranstaltungen „Baumanagement Grundlagen“ und „Baubetriebliche Planungsmethoden“. Das zum Abschluss des Bachelorstudiums nötige Bachelor-Projekt kann ebenfalls durch eine Vielzahl von angebotenen Themen verfasst werden. Unser Arbeitsbereich ist im Masterstudium „Wirtschaftsingenieurwesen – Bauwesen“ mit neun Lehrveranstaltungen vertreten. Die beiden Lehrveranstaltungen – „Bauprojektma-

5 Arbeitsbereich Baumanagement – Prof. Mauerhofer

51

nagement 1“ auf Projektebene und „Bauunternehmensführung 1“ auf Unternehmensebene bilden u.a. die Grundlage des Masterstudiums. Beide Lehrveranstaltungen werden als Abschluss der Lehre im Bereich Baumanagement mit einem zweiten Teil fortgesetzt („Bauprojektmanagement 2“ und „Bauunternehmensführung 2“). Weiters werden auch die vier Lehrveranstaltungen „Ausgewählte Kapitel Baumanagement“, „Facility Management“, „Projektentwicklung“ und „Bau- und Immobilienfinanzierung“ angeboten. Hervorgehoben soll an dieser Stelle die Lehrveranstaltung „Bauunternehmensführung 2“ sein, die für High-Potentials an einem Ort außerhalb der TU Graz abgehalten wird. In der Lehrveranstaltung „Interdisziplinäre Bauprojektabwicklung“ sollen anhand eines Studierendenwettbewerbes mit der Fakultät für Architektur interdisziplinäre, praxisnahe Lösungen erarbeitet und eingereicht werden. Um die Qualität der Lehrveranstaltungen zusätzlich zu steigern, werden von uns Gastvortragende eingeladen. Die Themen reichen dabei von Projektvorstellungen, Praxisberichten, EDV – Anwendungsbeispielen bis hin zu Baumanagementthemen. Die für einen positiven Abschluss des Masterstudiums notwendigen Abschlussarbeiten können zu Projektmanagementthemen und zu Themen im Schnittstellenbereich zwischen BWL und Baumanagement bei uns verfasst werden. Um auch den neuesten Trends in der Bauwirtschaft gerecht zu werden, führt unser Fachbereich ab September 2019 den Universitätslehrgang „LEAN BAUMANAGEMENT“ ein. Hierbei handelt es sich um einen berufsgleitenden, zweijährigen Masterstudiengang, der besondere Schwerpunkte auf die Kombination des Ansatz der Managementphilosophie LEAN-Thinking und den Besonderheiten der Bauwirtschaft legt. Wichtige Bestandteile sind auch die Integration von BIM in Bauprojekten und die Einführung eines partnerschaftlichen Umgangs aller Beteiligten auf Projektbasis. Der im deutschsprachigen Raum einmalige Universitätslehrgang richtet sich an Berufstätige in Führungspositionen aus der gesamten Baubranche.

5.3

Forschung

Die Forschungstätigkeiten des Arbeitsbereichs Baumanagement konzentrieren sich vor allem auf die Schnittstelle zwischen Bauingenieurwesen und Betriebswirtschaftslehre, zumal aufgrund aktueller Entwicklungen – vor allem aufgrund der zunehmenden Komplexität von Bauvorhaben bzw. den gesteigerten Kundenerwartungen – neuer Regelungsbedarf besteht. Auch haben sich die Abläufe aufgrund der zeitlichen Vorgaben, Digitalisierung sowie der Globalisierung wesentlich geändert und das Informations-, Wissensund Datenmanagement ist neben der Schaffung von Netzwerken nicht mehr wegzudenken. In unserem Arbeitsbereich laufen derzeit mehrere Dissertationen, die sich über die Bereiche partnerschaftliche Projektabwicklung, Wettbewerbsfähigkeit und strategische Erfolgsfaktoren von mittelständischen Bauunternehmen, sowie der zukünftigen Herausforderungen der Unternehmensorganisation, erstrecken. Damit in Verbindung stehen auch die bereits abgeschlossenen Forschungsprojekte „Sozialer Wohnbau“ (Forschungsbericht am Institut erhältlich), „Erfolgsfaktor Kundenzufriedenheit“ sowie „Wettbewerbsfähigkeit Bauhauptgewerbe 2020“, dessen Ergebnisse in einem, im Verlag der Technischen Universität Graz erschienen, Forschungsbericht abgedruckt sind. Derzeit in Bearbeitung ist ein Forschungsprojekt mit dem eine benutzerfreundliche, einfach bedienbare und mit den gängigen AVA-Programmen kompatible

52

Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Software entwickelt werden. Es soll gewährleistet werden, dass anhand einer automatisierten Eingabe der Basisdaten eine Datenbank mit objektiv vergleichbaren Kennzahlen erstellt werden kann. Weitere Forschungsprojekte mit den Schwerpunkten Lean Management, Energiemanagementsysteme, Erforschung von strategischen Erfolgsfaktoren sowie Fehlermanagement und Fehlerkultur sind in Bearbeitung. Des Weiteren forcieren wir sehr stark Masterarbeiten von Studierenden, die an unsere Forschungsschwerpunkte geknüpft sind. Wir decken dabei die Bandbreite von Themen im Fachgebiet Projektmanagement und Themen im Schnittstellenbereich zwischen Betriebswirtschaftslehre und Baumanagement ab, die in Kooperation mit namhaften Bauunternehmen, ZT-Büros etc. durchgeführt werden. Seit Oktober 2013 konnten 34 Masterarbeiten abgeschlossen werden.

5.4 • • • • • • • • • • • • • • •

Forschungsfelder

Bau- Betriebswirtschaftslehre Fehlermanagement und Fehlerkultur Bauunternehmensorganisation Partnerschaftliche Projektabwicklung Lean Management im Bauwesen Wettbewerbsfähigkeit für KMU Kundenzufriedenheit am Baumarkt Sozialer Wohnbau Immobilienportfoliomanagement Integriertes Management im Bauwesen Marktstudien (BIM, volkswirtschaftliche Datenanalyse, etc.) Bauprojektmanagement und dessen Herausforderungen Top-Flop Analyse von Bauprojekten Strategische Erfolgsfaktoren im Bauwesen Energiemanagementsysteme (EN ISO 50001) auf Baustellen

6

Arbeitsbereich Gebäudetechnik – Prof. Monsberger

Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Michael Monsberger Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_6

54

6.1

Teil A – Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz

Arbeitsbereich Gebäudetechnik – Prof. Monsberger

Gebäudetechnische Anlagen determinieren maßgebend die Funktionalität und Nutzungsqualität moderner Gebäude. Sie sind ein wesentlicher Faktor zum Erreichen eines ökonomisch und ökologisch sinnvollen Betriebs von Gebäuden bzw. zur Realisierung des Wunsches nach Komfort, Behaglichkeit, Sicherheit, Konnektivität etc. Auch die Kosten von Hochbauprojekten werden heute wesentlich durch den technischen Ausbau geprägt, sowohl bei der Errichtung als auch in der Nutzungsphase. Die Gebäudetechnik ist daher zu einem sehr wichtigen Bereich des modernen Hochbaus geworden. Die reibungslose Integration von Gebäudetechnik stellt insbesondere bei komplexen Projekten hohe Anforderungen an alle Projektbeteiligten, sowohl in organisatorischer und planerischer als auch in technischer Hinsicht. Dies erfordert eine integrale Herangehensweise bei Entwurf und Planung und ein gemeinsames Verständnis aller an einem Hochbauprojekt beteiligten Akteure bezüglich der technologischen Anforderungen und Potentiale gebäudetechnischer Systeme. BauingenieurInnen bzw. WirtschaftsingenieurInnen kommt hierbei eine verantwortungsvolle Rolle zu. Es ist daher wichtig, dass sie über ein grundlegendes Verständnis des technischen Ausbaus verfügen. Der Arbeitsbereich Integrated Building Systems adressiert Forschungsthemen der Gebäudetechnik sowohl aus technischer als auch organisatorischer Sicht, wobei diese insbesondere aus der Perspektive der Bauingenieurwissenschaften bearbeitet werden. Er ist strategisch im FoE Sustainable Systems der TU Graz verankert, um Schnittstellen zu den Disziplinen Architektur, Maschinenbau, Elektrotechnik und Informatik zu belegen. Die Forschungsaktivitäten adressieren Fragestellungen zum technischen Ausbau vor dem Hintergrund steigender Komplexität in Bauprojekten, fortschreitender Digitalisierung des Planens, Bauens und Betreibens sowie der zusehends Einzug haltenden Automatisierung des Bauens. Rahmenbedingungen wie die Erfüllung von Nutzerbedürfnissen oder das Erreichen einer hohen energetischen Qualität von Gebäuden spielen dabei eine zentrale Rolle. Im Bereich der universitären Ausbildung werden Lehrveranstaltungen angeboten, die von der Vermittlung der technischen und planerischen Grundlagen der Gebäudetechnik bis hin zur Anwendung des Erlernten in praxisnahen Beispielen reichen.

6.2

Lehre

Im Rahmen der angebotenen Lehrveranstaltungen werden grundlegende Kenntnisse der wichtigsten gebäudetechnischen Systeme sowie für deren Betrachtung notwendige Grundlagen vermittelt. Zusätzlich erhalten die Studierenden einen Einblick in den Prozess der Planung gebäudetechnischer Anlagen. Ziel ist die Vermittlung eines fundamentalen Verständnisses bezüglich der Anforderungen und Notwendigkeiten des technischen Ausbaus in Bauprojekten. Abhängigkeiten zu anderen Fachbereichen des Hochbaus werden aufgezeigt und Schnittstellen erörtert. Zur besseren Veranschaulichung der Lehrinhalte werden Case Studies gezeigt und Exkursionen zu gebäudetechnisch anspruchsvollen Objekten durchgeführt. Neben den technischen und planerischen Grundlagen wird ebenso auf baubetriebliche und bauwirtschaftliche Aspekte im Bereich der Gebäudetechnik eingegangen, wie auch auf die fortschreitende Digitalisierung, die sich in der Baubranche in Form von Building Information Modeling (BIM) manifestiert. Letztere wird auch in der Gebäudetechnik zu substantiellen Veränderungen in den Bereichen Planung, Ausführung und Betrieb führen, für die es gilt, die Studierenden vorzubereiten.

6 Arbeitsbereich Gebäudetechnik – Prof. Monsberger

6.3

55

Forschung

Die aktuellen Forschungsschwerpunkte konzentrieren sich auf die Bereiche digitales Planen, Bauen und Betreiben im Kontext des technischen Ausbaus sowie die Entwicklung nachhaltiger Lösungen für gebäudetechnische Systeme. Das Projekt „metaTGA“ beschäftigt sich mit der Entwicklung von einheitlichen BIM-Datenmodellen bzw. einheitlichen Modellierungs- und Prozessstandards. Ziel des Projektes ist, diese Modelle in Bezug auf ihre Struktur, Komponenten und Merkmale gemäß den Anforderungen unterschiedlicher Stakeholder über den Lebenszyklus möglichst vollständig zu beschreiben und eine durchgängige Datenanwendung im Sinne von Open BIM zu ermöglichen. Im Projekt „FEELings“ wird ein neuartiges User-Feedbacksystem untersucht bei dem Nutzerinnen und Nutzer Feedback über Eingabegeräte geben. Auf Basis des Feedbacks werden Einstellungen an der Gebäudetechnik optimiert, wodurch eine Energieeffizienz- und Komfortsteigerung erreicht werden soll. Gebäude in Holz-Massivbauweise weisen hohe Anforderungen in Bezug auf den Schutz der Tragkonstruktion vor dauerhaften Feuchteeinwirkungen auf. Im Forschungsprojekt „SensGT“ werden daher konstruktive Lösungsansätze für eine holzbauadäquate Integration wasserführender Gebäudetechnik in modulare Raumzellen in Holz-Massivbauweise entwickelt. Für neuralgische feuchtegefährdete Zonen ist auch eine Absicherung durch Sensorik zielführend. Hierzu wird ein Low-CostSensorsystem zur Feuchteüberwachung entwickelt und untersucht. Die bauweisenkonforme Integration von TGA stellte auch beim Projekt „TGAtimber“ ein zentrales Thema dar. Weiters wurden entsprechende Schnittstellenkonzepte, Geschäftsmodelle und ein Planungsleitfaden erarbeitet. Im Zuge des Projektes „green.LAB“ wird ein innovatives Demogebäude (Holzmodulbau, Bauwerksbegrünung, Versorgung mit erneuerbaren Energien) gebaut und ein Anlagen- und Energiemonitoring sowie eine Simulation durchgeführt. Die Gebäudetechnik wird durch technologische Entwicklungen sowie durch steigende Anforderungen an Gebäude zu einem zunehmend erfolgskritischen Gewerk. Ursachen sowie die Rolle der Gebäudetechnik in komplexen Hochbauprojekten wurden in der 2018 veröffentlichten Studie „Die Gebäudetechnik im österreichischen Bauprozess“ erhoben. Die Ergebnisse zeigen einen Bedarf nach Veränderung der derzeitigen Praxis, insbesondere durch verbesserte Planung und Koordination, neue Rollen und höhere Kompetenzen in Verbindung mit der Gebäudetechnik. Auf diesen Ergebnissen aufbauende Forschung im Bereich der Schnittstellen zwischen Gebäudetechnik und Bau soll diesbezüglich einen wichtigen Beitrag zur positiven Veränderung leisten.

6.4 • • • • • •

Forschungsfelder

Digitales Planen, Bauen und Betreiben im Kontext des technischen Ausbaus Gebäudetechnik im Planungs- und Bauprozess Gebäudetechnik im Holzbau Integration von Nutzerinnen und Nutzern Entwurf und Betrieb energieeffizienter gebäudetechnischer Systeme Schnittstellen zwischen Gebäudetechnik und Bau

Teil B BAUBETRIEB

7

Gemeinkosten in Sachnachträgen – Lösungswege im Streit um die angemessene Höhe

Dr.-Ing. Dipl.-Wirtsch.-Ing. Frank Kumlehn Akad. Oberrat Institut für Bauwirtschaft und Baubetrieb Technische Universität Braunschweig Schleinitzstraße 23 A 38112 Braunschweig www.tu-braunschweig.de/ibb [email protected] Univ.-Prof. Dr.-Ing. Patrick Schwerdtner Leiter der Professur Bauwirtschaft und Baubetrieb Institut für Bauwirtschaft und Baubetrieb Technische Universität Braunschweig Schleinitzstraße 23 A 38112 Braunschweig www.tu-braunschweig.de/ibb [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_7

60

Teil B – Baubetrieb

7.1

Abstract

Gemeinkosten werden in der unternehmerischen Preisermittlung regelmäßig nur sehr überschlägig, zumeist in Abhängigkeit des erwarteten Umsatzes veranschlagt. Lediglich für Teilleistungen, die üblicherweise in Baustellengemeinkosten (BGK) verrechnet werden, erfolgt je nach angewendetem Kalkulationsverfahren eine genauere Kalkulation und Aufgliederung. Die in den Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen und deren tatsächliche Kosteneigenschaften sind in der hinterlegten Urkalkulation dadurch vielfach sehr intransparent. Im Fall von Sachnachträgen ist je nach geltend gemachter Anspruchsgrundlage die Preisermittlungsgrundlage des Hauptvertrags als Basis für die Ableitung einer „angemessenen Vergütung“ heranzuziehen. Dies gilt in Deutschland sowohl für Bauverträge auf Grundlage der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB), als auch für Bauverträge nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), bei denen gemäß § 650c BGB auf die „vereinbarungsgemäß hinterlegte Urkalkulation“ abgestellt wird. Bei der Ableitung der Nachtragspreise stellt sich dann regelmäßig die Frage, in welcher Höhe ergänzend zu den Einzelkosten der Teilleistungen (EKT) Beträge für Gemeinkosten aufzuschlagen sind. Auftraggeber1) vertreten insbesondere bei zusätzlichen Leistungen bevorzugt die Auffassung, dass Gemeinkosten mit den Hauptvertragsleistungen bereits vollständig abgegolten wären. Auftragnehmer versuchen dagegen, die in Abhängigkeit vom Umsatz in Urkalkulationen ausgewiesenen Gemeinkostenzuschlagssätze unverändert beizubehalten. Beide Positionen können regelmäßig nicht zutreffend sein, da sie die besonderen Umstände des Einzelfalls nicht hinreichend berücksichtigen. Darüber hinaus führt eine über den Projektverlauf sich kumulierende Über- oder Unterdeckung von Gemeinkosten dazu, dass der laufende Abrechnungsstand ein unzutreffendes Bild über die tatsächlichen Kosten eines Projekts widerspiegelt. Auch wenn die Problemstellung teilweise juristisch gelöst wurde, kann ein ausgewogener Lösungsweg nur in einer baubetrieblichen Analyse von Ursachen und Wirkungen bestehen. Hierfür sind insbesondere die Herstellung von Transparenz und eine Auseinandersetzung mit den in Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen notwendig. Der vorliegende Beitrag analysiert hier die aktuellen baubetrieblichen Lösungsansätze.

7.2

Gemeinkosten als Streitpunkt bei Nachtragsverhandlungen

Streitigkeiten über die Angemessenheit von Preisen zu Nachtragsleistungen gehören vielfach zum Baustellenalltag. Insbesondere bei der Geltendmachung von Mehraufwendungen bei in den Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen unterscheiden sich die Positionen der Vertragsparteien mitunter diametral. Die Ursache hierfür liegt regelmäßig in der zumeist für den Auftraggeber nur sehr intransparenten Zusammensetzung der in den Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen und in dem Verdacht gegen den Auftragnehmer, die hieraus resultierenden Gestaltungsspielräume missbräuchlich auszunutzen. Eine Voraussetzung für die Lösung dieses Problems besteht in fundierten Kenntnissen 1)

Im vorliegenden Beitrag werden die Vertragsparteien analog zur VOB einheitlich als „Auftraggeber“ und als „Auftragnehmer“ bezeichnet. Im Sinne des BGB wird die Bezeichnung „Auftraggeber“ als Synonym für den „Besteller“ und die Bezeichnung „Auftragnehmer“ als Synonym für den „Unternehmer“ verwendet.

7 Gemeinkosten in Sachnachträgen – Lösungswege im Streit um die angemessene Höhe

61

sowohl über die grundsätzliche Preisbildung beim Auftragnehmer als auch über die Preisbildungsvorschriften für Nachtragsleistungen. Zu diesem Zweck werden nachfolgend zunächst die Regularien für die Preisbildung bei Sachnachträgen und deren Umsetzungsprobleme bei Gemeinkosten betrachtet. Hierbei wird verdeutlicht, in welcher Form Gemeinkosten üblicherweise in Vertragspreise einfließen und was diese Art der Verrechnung für die hieraus erforderliche Ableitung von finanziellen Ansprüchen bei Nachträgen bedeutet. Nachdem die Problemlage im Einzelnen verdeutlicht wurde, sollen Wege im Umgang mit der Behandlung von Gemeinkosten dargestellt und die dabei bestehenden Erfahrungen in der Praxis aufgezeigt werden. Hierbei wird zunächst auf Versuche von Auftraggebern eingegangen, durch Formblätter oder durch Auspositionierungen die Zusammensetzung von Gemeinkosten transparenter zu gestalten. Zu dem seit einigen Jahren hoffnungsvoll diskutierten Ansatz der Auspositionierung sollen hier Praxiserfahrungen vorgestellt werden. Anschließend wird analysiert, inwieweit bestimmte pauschale Verfahrensweisen bei der Nachtragspreisbildung eine Ausgleichsberechnung im Rahmen der Schlussrechnung erfordern und welche strategischen Positionen hierbei durch die Vertragsparteien eingenommen werden. Weiterhin wird geprüft, welche Voraussetzungen vorliegen müssen, um Gemeinkosten im Rahmen der Nachtragspreisbildung prüfbar als Sondereinzelkosten behandeln zu können. Abschließend wird auf rechtliche Lösungswege eingegangen, bei denen nachtragsbedingte Gemeinkosten über Auslegungen der Urkalkulation bestimmt wurden, die baubetrieblich nicht zwingend sind.

7.3

Regularien für die Preisbildung bei Sachnachträgen und deren Umsetzungsprobleme

Aus der Notwendigkeit nachträglicher Änderungen sollen keiner Partei unangemessene wirtschaftliche Vor- oder Nachteile entstehen. Vor diesem Hintergrund wurde die Prämisse der Fortschreibung des hauptvertraglichen Preisniveaus aufgestellt, die in deutschen Gesetzen und Verordnungen allerdings unterschiedlich beschrieben wird. In dem seit dem 01.01.2018 geltenden neuen Bauvertragsrecht des BGB ist anstelle der Fortschreibung des Vertragspreisniveaus eine Abrechnung nach „tatsächlich erforderlichen“ Kosten vorgesehen, bei deren Nachweis allerdings auf die Angaben in der Urkalkulation zurückgegriffen werden kann. Nachfolgend werden speziell für üblicherweise in Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen zunächst die Art der Preisermittlung und anschließend die grundsätzlichen Vorgaben für die Preisbildung bei Nachtragsleistungen vorgestellt. Hierbei soll verdeutlicht werden, wie aufwendig eine transparente und prüfbare Preisfortschreibung ist. Anschließend wird darauf eingegangen, wie in der Praxis mit einer Vielzahl von Änderungen umgegangen wird, deren Auswirkungen während eines laufenden Projekts (noch) nicht abschließend ermittelbar sind.

7.3.1

Gemeinkosten in der Preisermittlung

Gemeinkosten sind nach der KLR Bau solche, die im Gegensatz zu den EKT einem Kostenträger, d.h. üblicherweise einer einzelnen Position des Leistungsverzeichnisses (LV), nicht direkt zuzuordnen sind und die zunächst auf einer anderen Kostenstelle anfallen.2) Sie werden von dort mittels innerbetrieblicher Leistungsverrechnung auf einen

62

Teil B – Baubetrieb

oder mehrere Kostenträger weiterverteilt. Ihre Ermittlung im Rahmen der Bauauftragsrechnung hängt dabei von der Art des angewendeten Kalkulationsverfahrens ab. Bei den Gewerken des Rohbaus werden die Gemeinkosten regelmäßig in BGK, die durch das Betreiben einer Baustelle als Ganzes entstehen und sich keiner Position des LV zuordnen lassen, und AGK unterteilt, die nicht unmittelbar durch einen bestimmten Bauauftrag, sondern durch das Unternehmen als Ganzes entstehen.3) Bei einzelnen Gewerken des erweiterten Roh- und Ausbaus, bei denen zum Teil auf der Baustelle lediglich eine Montage stattfindet und die eigentliche Fertigung in einem Werk erfolgt, werden die Gemeinkosten häufig weiter unterteilt. Beispielhaft ist die im Stahl- oder Fassadenbau übliche Einteilung in Gemeinkosten des technischen Büros, Materialgemeinkosten, Fertigungsgemeinkosten, Montagegemeinkosten sowie Verwaltungs- und Vertriebsgemeinkosten zu nennen.4) Grundsätzlich ist festzustellen, dass es zwar übliche Unterscheidungen von Gemeinkostenarten, jedoch aufgrund des Grundsatzes der Kalkulationsfreiheit keine zwingend zu beachtenden Vorgaben hierfür gibt. Nachfolgend wird auf die Gemeinkostenermittlung bei den im Rohbau häufig angewendeten Kalkulationsverfahren mit vorbestimmten Zuschlägen und über die Angebotsendsumme eingegangen. Bei der Kalkulation mit vorbestimmten Zuschlägen erfolgt eine ein- oder ggf. auch mehrstufige Gemeinkostenverteilung.5) Auf eine bauprojektspezifische Trennung von Gemeinkosten in BGK und AGK wird dabei teilweise verzichtet. Es werden durchschnittliche Zuschlagssätze für Gemeinkosten verwendet, die in regelmäßigen Zeitabständen auf Basis von Vorgabewerten der Baubetriebsrechnung abgeleitet werden. Zur Ableitung der Vorgabewerte werden die Gesamtkosten eines Unternehmens aus einer vorangegangenen Periode (i.d.R. 1 Jahr) gesammelt und anschließend nach Einzel- oder Gemeinkosten unterteilt. Aufgrund dieser Erfahrungswerte und der Prognose möglicher zukünftiger Änderungen werden dann die Vorgabewerte festgelegt. Diese Verfahrensweise bedingt, dass bei allen Bauaufträgen Gemeinkosten in identischer Art und Weise verrechnet werden. Damit werden ggf. auch Kosten für Teilleistungen über einen Bauauftrag verrechnet, welche mit diesem gar nicht – auch nicht indirekt – in Verbindung stehen. Bei einer mehrstufigen Gemeinkostenverteilung, bei der ggf. auch verschiedene Gemeinkostenarten wie BGK und AGK unterschieden werden und eine Vorabumlage auf bestimmte Kostenarten erfolgt, kann eine strategische Verrechnung vorgenommen werden. Die vorbestimmten Zuschlagssätze sind dann differenzierter ausgestaltet und es können Unterschiede in der Verursachung berücksichtigt werden (z.B. Leistungen von Nachunternehmen verursachen weniger Gemeinkosten als Eigenleistungen). Bei der Kalkulation über die Angebotsendsumme werden nach der Ermittlung der EKT für die in einem LV benannten Teilleistungen auch BGK in einem projektspezifischen internen BGK-LV veranschlagt.6) Hierbei werden alle Gemeinkosten zusammengetragen, die im Zuge der Projektrealisierung unmittelbar notwendig, jedoch im auftraggeberseitigen LV nicht enthalten sind. Für die hier erfassten Teilleistungen erfolgt somit eine differenzierte Kostenkalkulation. Ergänzend wird dann noch ein Zuschlag für AGK verrechnet, in dem alle Kosten erfasst werden, die nicht unmittelbar durch einen bestimmten Bauauftrag, sondern das Unternehmen als Ganzes zur Aufrechterhaltung der Betriebsbe2) 3) 4) 5) 6)

Vgl. KLR Bau (2016), S. 14 Vgl. KLR Bau (2016), S. 38 f. Vgl. DSTV (1983), S. 37 Vgl. KLR Bau (2016), S. 42 ff. Vgl. KLR Bau (2016), S. 52 ff.

7 Gemeinkosten in Sachnachträgen – Lösungswege im Streit um die angemessene Höhe

63

reitschaft entstehen. Dieser Zuschlagssatz für die AGK bestimmt sich genauso wie bei der Kalkulation mit vorbestimmten Zuschlägen, d.h. auf Basis von Vorgabewerten, die durch Auswertung der Baubetriebsrechnung vorangegangener Perioden veranschlagt wurden. Zur Ermittlung projektspezifischer BGK existieren häufig firmeninterne Checklisten mit einer Vielzahl an möglichen Teilleistungen. Zu diesen Checklisten ist darauf hinzuweisen, dass diese regelmäßig nicht nur Teilleistungen enthalten, die bezogen auf einen Bauauftrag Gemeinkosten darstellen und dass es keine zwingende Vorgabe für die Zusammensetzung der Teilleistungen gibt. So werden einerseits zumeist Kosten der Baustelleneinrichtung erfasst, die bei entsprechender Vorgabe im LV des Auftraggebers EKT darstellen. Andererseits müssen bestimmte Kosten wie die eines Oberbauleiters nicht zwingend als BGK erfasst werden, sondern können firmenindividuell auch als AGK verrechnet werden.

7.3.2

Preisbildung bei Nachträgen

Für die Preisbildung bei Nachträgen gelten in Deutschland seit dem 01.01.2018 die gesetzlichen Regelungen in § 650c BGB, die als Bestandteil eines bislang noch nicht vorhandenen Bauvertragsrechts neu in das Gesetz aufgenommen wurden. Ergänzend bzw. in Teilen ersetzend gelten durch entsprechende Vereinbarung vielfach auch die Regelungen der VOB, die als Allgemeine Geschäftsbedingungen von öffentlichen Auftraggebern in Deutschland nach den Verwaltungsvorschriften zwingend zu vereinbaren sind und auf die sich vielfach auch private Vertragsparteien beziehen.

7.3.2.1

„Tatsächlich erforderliche“ Gemeinkosten

Nach dem neuen gesetzlichen Leitbild in Deutschland hat der Auftragnehmer bei vom Auftraggeber angeordneten Änderungen einen Anspruch auf die „tatsächlich erforderlichen Kosten“. Diese sind gemäß § 650c BGB wie folgt zu bestimmen: „(1) Die Höhe des Vergütungsanspruchs für den infolge einer Anordnung des Bestellers nach § 650b Absatz 2 vermehrten oder verminderten Aufwand ist nach den tatsächlich erforderlichen Kosten mit angemessenen Zuschlägen für allgemeine Geschäftskosten, Wagnis und Gewinn zu ermitteln. [ … ] (2) Der Unternehmer kann zur Berechnung der Vergütung für den Nachtrag auf die Ansätze in einer vereinbarungsgemäß hinterlegten Urkalkulation zurückgreifen. Es wird vermutet, dass die auf Basis der Urkalkulation fortgeschriebene Vergütung der Vergütung nach Absatz 1 entspricht.“ Bevor hier auf die Preisermittlung zu in den Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen eingegangen wird, muss an dieser Stelle zunächst auf die in den beiden zitierten Absätzen enthaltenen unterschiedlichen Berechnungsgrundlagen eingegangen werden. So ist gemäß Absatz 1 zwar grundsätzlich auf „tatsächliche Kosten“ abzustellen, die anhand konkreter Abrechnungen zu belegen sind. Auf eine Kostenkalkulation kommt es hier somit nicht notwendigerweise an. Allerdings dürfen nicht beliebige Kosten anhand von Rechnungen belegt werden, sondern die Kosten müssen auch erforderlich sein. Wie Kattenbusch feststellt, hat der Unternehmer das Gebot der Wirtschaftlichkeit zu beachten,7) was unabhängig davon gelten dürfte, ob er dieses auch bei seinem Hauptvertrag getan hat. Insofern stellt sich hier die Frage, inwieweit hier überhaupt eine Differenz zu „üblichen Kosten“ besteht. 7)

Vgl. Kattenbusch (2018), S. 30, Althaus/Kattenbusch (2018), S. 110, § 650c BGB, Rdn. 28

64

Teil B – Baubetrieb

Insbesondere bei Eigenleistungen ist der Nachweis von tatsächlichen Kosten nicht unmitelbar zu führen, da diese nur kalkulatorisch anfallen und nicht anhand einer konkreten Abrechnung zu belegen sind. Der Auftragnehmer darf daher alternativ (aber dann für die gesamte Nachtragskalkulation) auf seine Urkalkulation zurückgreifen, weil die widerlegliche Vermutung besteht, dass diese die „tatsächlich erforderlichen Kosten“ abbildet. Die aus der Urkalkulation zu entnehmenden „angemessenen Kosten“ und die „tatsächlich erforderlichen Kosten“ sollen somit im Allgemeinen identisch sein. Die für ein Gesetz bemerkenswert konkreten Berechnungsvorschriften behandeln AGK, Wagnis und Gewinn gesondert und verweisen für diese auf eine vorzunehmende Verrechnung mittels Zuschlägen. Durch die Inbezugnahme von AGK wird im Gesetz unterstellt, dass Auftragnehmer grundsätzlich diese Art von Gemeinkosten differenzieren. Dies ist allerdings nicht zwingend, wie in Abschnitt 7.3.1 mit Verweis auf Unternehmen des Stahl- und Fassadenbaus erläutert wurde. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie mit BGK umzugehen ist, die im Rahmen einer Kalkulation mit vorbestimmten Zuschlägen gemeinsam mit den AGK veranschlagt wurden. Althaus/Kattenbusch vertreten hier die Meinung, dass bei einer Kalkulation über vorbestimmte Zuschläge der Zuschlagssatz einschließlich BGK im Rahmen der Preisfortschreibung in gleicher Weise in Ansatz zu bringen ist.8) Dies entspreche der widerleglichen Vermutung gemäß § 650c Abs. 2 BGB. Für den Anwendungsbereich der Kalkulation über die Angebotsendsumme wird davon ausgegangen, dass BGK ebenso wie EKT im Rahmen der Nachtragskalkulation verursachungsgerecht ermittelt werden. Hierbei stellt sich dann allerdings die Frage, wer den genauen Umfang der in den BGK verrechneten Teilleistungen bestimmt. Grundsätzlich sieht das Gesetz in § 650b Abs. 1 BGB den Auftraggeber in der Pflicht, eine entsprechende Planung für die begehrte Nachtragsleistung vorzugeben. Diese dürfte sich aber kaum im Einzelnen auf die in den BGK verrechneten Teilleistungen erstrecken, da der Auftraggeber nicht in die Disposition des Auftragnehmers eingreifen kann und er als Grundlage für eine angemessene Fortschreibung oftmals auch keinen Einblick in das interne BGK-LV (vgl. Abschnitt 7.3.1) besitzt. Bei der Preisfortschreibung für die in den AGK verrechneten Teilleistungen kommt es auf die Angemessenheit des bei der Nachtragspreisbildung verwendeten Zuschlagssatzes an. Es ist in der rechtlich/baubetrieblichen Literatur umstritten, ob eine Fortschreibung der unveränderten Zuschlagssätze für AGK aus dem Hauptvertrag gerechtfertigt ist.9) Mit Verweis auf die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/8486, 56) vertreten bspw. Althaus/ Kattenbusch die Meinung, dass ebenso wie bei den BGK, die im Rahmen einer Kalkulation mit vorbestimmten Zuschlägen ermittelt wurden, eine strenge Fortschreibung aller Kalkulationsansätze vorgegeben ist.10) Allerdings habe der Auftragnehmer auch die Möglichkeit, mit Verweis auf § 650c Abs. 2 BGB höhere AGK geltend zu machen, soweit von ihm der tatsächliche Anfall nachgewiesen wird. Inwieweit ein derartiger Nachweis praktikabel ist, erscheint fraglich.

7.3.2.2

Fiktion der Fortschreibung des Vertragspreisniveaus

Aufgrund der in der Vergangenheit für die Abwicklung von Bauaufträgen nur unzureichenden Regelungen im Werkvertragsrecht des BGB wurden in Deutschland bislang in 8) 9) 10)

Vgl. Althaus/Kattenbusch (2018), S. 128, § 650c BGB, Rdn. 120f. Vgl. Franz/Althaus/Oberhauser/Berner (2015), S. 1222, Althaus/Kattenbusch (2018), S. 125, § 650c BGB, Rdn. 102, 123, weiterführend Althaus/Heindl (2013), Teil 4, Rdn. 226 Vgl. Althaus/Kattenbusch (2018), S. 128, § 650c BGB, Rdn. 123, 128

7 Gemeinkosten in Sachnachträgen – Lösungswege im Streit um die angemessene Höhe

65

den meisten Verträgen die Regelungen der VOB vereinbart. Diese sehen in § 1 VOB/B ein beschränktes Recht zur Anordnung von Änderungen des Vertrags durch den Auftraggeber vor. Als Ausgleich für dieses Recht ist für den Auftragnehmer in § 2 VOB/B ein Anspruch auf Anpassung seiner Vergütung vorgesehen. Unterschieden werden dabei neben Ansprüchen aus Mengenänderungen insbesondere Ansprüche aus geänderten und zusätzlichen Leistungen. So gilt für den Vergütungsanspruch bei geänderten Leistungen gemäß § 2 Abs. 5 VOB/B: „Werden durch Änderung des Bauentwurfs oder andere Anordnungen des Auftraggebers die Grundlagen des Preises für eine im Vertrag vorgesehene Leistung geändert, so ist ein neuer Preis unter Berücksichtigung der Mehr- oder Minderkosten zu vereinbaren.“ Für den Vergütungsanspruch bei zusätzlichen Leistungen gilt gemäß § 2 Abs. 6 VOB/B: „Die Vergütung bestimmt sich nach den Grundlagen der Preisermittlung für die vertragliche Leistung und den besonderen Kosten der geforderten Leistung.“ Auch wenn der Wortlaut unterschiedlich ausfällt, so kann dennoch davon ausgegangen werden, dass in beiden Fällen identisch zu verfahren ist. Als Faustformel für die Ermittlung des Vergütungsanspruchs wurde von Korbion der Leitsatz „Guter Preis bleibt guter Preis und schlechter Preis bleibt schlechter Preis“ geprägt.11) Nach dieser Lesart der VOB gilt das Preisniveau des Hauptvertrags auch für den Nachtragsauftrag und ist entsprechend vorkalkulatorisch fortzuschreiben. Vorkalkulatorische Preisfortschreibung bedeutet dabei, dass soweit wie möglich an die Kostenelemente der Auftragskalkulation angeknüpft wird und die Kosten so kalkuliert werden, als wenn der Auftragnehmer bereits bei seinem Hauptangebot von den Nachtragsleistungen gewusst hätte. Dieser über Jahrzehnte weitgehend unbestrittene Leitsatz wird aktuell von der Rechtsprechung in Frage gestellt. So geht das Kammergericht Berlin in seinem noch nicht rechtskräftigen Urteil vom 10.07.2018 (Az. 21 U 30/17) davon aus, dass die Preiskalkulation nur ein Hilfsmittel bei der Nachtragspreisbildung ist. Im Streitfall komme es nicht auf die Kosten an, die der Unternehmer in seiner Kalkulation angesetzt hat, sondern auf diejenigen, die ihm bei Erfüllung des nicht geänderten Vertrags tatsächlich entstanden wären. Ein weiterer Streitpunkt bei der Nachtragspreisbildung ergibt sich aus der Frage, wie das hauptvertragliche Preisniveau handwerklich zu bestimmen ist. Einerseits wird die Meinung vertreten, dass die Preise für eine Nachtragsleistung aus einer einzelnen vergleichbaren Bezugsposition hergeleitet werden müssen.12) Andererseits wird diese Vorgehensweise zurückgewiesen und auf das Erfordernis der Ableitung eines Preisniveaus aus allen Positionen des Hauptvertrags gefordert.13) Zur Begründung wird auf mögliche spekulative Verschiebungen von Preiselementen verwiesen, durch die Auftragnehmer im Rahmen der Nachtragspreisbildung einen unangemessenen Vorteil erlangen würden. Dieser Einwand ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen, wenngleich eine Anknüpfung an sämtliche Positionen des Hauptvertrags ebenfalls zu Ungerechtigkeiten führen kann. Es ist daran zu erinnern, dass das Preisgefüge heutzutage insbesondere bereits deswegen sehr inhomogen ist, weil Teilleistungen an eine Vielzahl von Nachunternehmen weitervergeben werden und nicht nur Eigenleistungen vorliegen. Die Preiselemente zu den Teilleistungen der verschiedenen Positionen eines LV verhalten sich daher aufgrund der variierenden Vergabeergebnisse bereichsweise sehr unterschiedlich. 11)

12) 13)

Die Primärquelle des Leitsatzes konnte von den Verfassern zwar nicht ermittelt werden. Bereits in der 11. Auflage von Ingenstau (1988), § 2 Abs. 3 VOB/B findet sich allerdings der Hinweis, dass „schwache“ und „satte“ Preise zu berücksichtigen sind. Für die Anknüpfung an eine Bezugsposition vgl. beispielsweise Kapellmann/Schiffers (2017), Rdn. 1001. Gegen die Anknüpfung an eine Bezugsposition vgl. beispielsweise Rohrmüller (2008), S. 1367

66

Teil B – Baubetrieb

Soweit dem Hauptvertrag keine Kostenelemente für vergleichbare Leistungen zu entnehmen sind – dies ist regelmäßig bei zusätzlichen Leistungen der Fall – muss zur Ermittlung eines angemessenen Preises auf ein unabhängiges Kostenermittlungssystem (Kosten- bzw. Preisdatenbank) und auf den Vertragspreisniveaufaktor zurückgegriffen werden. Das Kostenermittlungssystem muss sowohl Teilleistungen bzw. Kostenelemente der Hauptvertrags- als auch der Nachtragsleistung beinhalten. Mit Hilfe des Kostenermittlungssystems werden zunächst die Hauptvertragsleistungen nachkalkuliert und anschließend der Vertragspreisniveaufaktor als Verhältniswert zwischen dem nachkalkulierten Preis und dem Vertragspreis ermittelt. Anschließend werden mit Hilfe des Kostenermittlungssystems auch die Nachtragsleistungen kalkuliert. Das Ergebnis wird dann mit dem Vertragspreisniveau multipliziert, so dass anschließend ein „angemessener Preis“ bzw. „angemessene Kosten“ vorliegen.

7.3.3

Unklare bauzeitliche Folgen, Gemeinkostenvorbehalt und unvollständige Nachtragsvereinbarung

Im Rahmen der Nachtragspreisbildung wird mit Gemeinkosten in der Praxis äußerst unterschiedlich verfahren. Da die in Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen teilweise vom Umsatz abhängen, sich teilweise proportional zur Bauzeit verhalten und sie teilweise auch fix sind, muss die nachtragsbedingte Veränderung dieser Teilleistungen sehr differenziert bewertet werden. Hierbei ist zu beachten, dass die genannten Kosteneigenschaften in der Urkalkulation nicht notwendigerweise zutreffend ausgewiesen sind. Bekanntermaßen werden AGK üblicherweise umsatzabhängig kalkuliert. Die Kosten der in den AGK verrechneten Teilleistungen sind jedoch zu erheblichen Teilen zeitabhängige Größen. Insofern ist zwischen der ursprünglichen Preisbildung und der nachtragsbedingten Veränderung der in Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen klar zu trennen. In Urkalkulationen ausgewiesene Kosteneigenschaften stellen im Rechtssinne keine zugesicherten Eigenschaften dar, an die sich Auftragnehmer binden lassen müssten. Insbesondere bei der Beurteilung bauzeitrelevanter Änderungen von Gemeinkosten ergibt sich im Zuge der Projektabwicklung regelmäßig ein Problem. Weil Nachtragsvereinbarungen regelmäßig vor Ausführungsbeginn geschlossen werden sollen, sind die tatsächlichen bauzeitlichen Auswirkungen von Nachtragsleistungen noch nicht bekannt. Auftraggeber können auch nicht einschätzen, inwieweit es überhaupt zu einer Auswirkung auf in den Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen kommt, da sie deren Zusammensetzung aufgrund der Dispositionsfreiheit des Auftragnehmers und einer zumeist fehlenden Einsichtnahmemöglichkeit in das BGK-LV nicht hinreichend kennen. Ein AGK-LV gibt es ohnehin gar nicht. Sie tun sich daher vielfach schwer, einen Vergütungsanspruch für Gemeinkosten bereits vorab anzuerkennen. Das Dilemma führt dazu, dass Auftraggeber bei der (vorläufigen) Nachtragspreisbildung sehr unterschiedlich verfahren. Die in der nachfolgenden Abbildung (siehe Abb. 7-1) dargestellten drei Varianten werden nachfolgend näher betrachtet.

7 Gemeinkosten in Sachnachträgen – Lösungswege im Streit um die angemessene Höhe

67

W+G AGK - prozentual -

BGK

- prozentual -

Abb. 7-1

W+G AGK

- prozentual -

BGK

W+G AGK

- auf Nachweis -

- auf Nachweis -

EKT

EKT

EKT

Variante 1

Variante 2

Variante 3

Varianten der Verrechnung von Gemeinkosten in Nachtragspreisen14)

Ein – eher als pragmatisch zu bezeichnender – Teil von Auftraggebern erkennt bei der Nachtragspreisbildung die aus der Hauptvertragskalkulation zu entnehmenden Zuschlagssätze für BGK, AGK sowie Wagnis und Gewinn unverändert an (Variante 1). Sie verkennen dabei teilweise, dass die BGK nicht in voller Höhe vom Umsatz abhängen, wie dies diese Verfahrensweise impliziert. Zutreffend kann dieser Ansatz daher grundsätzlich nur dann sein, wenn es zu einer erhöhten Inanspruchnahme der in den Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen und/oder zu einer Bauzeitverlängerung kommt. Beides ist zwar nicht unwahrscheinlich. Es fragt sich allerdings, inwieweit durch die pauschale prozentuale Bezuschlagung der Höhe nach angemessene Kosten ermittelt werden. Teilweise versuchen Auftraggeber bei dieser Variante der Verrechnung von Gemeinkosten durch eine zur Schlussrechnung eingeforderte Gemeinkostenausgleichsberechnung etwaig zu viel gezahlte Beträge zurückzuerhalten. Ein anderer Teil von Auftraggebern geht davon aus, dass bei unveränderter Bauzeit sämtliche BGK bereits mit dem Hauptvertrag verdient sind und daher im Zusammenhang mit Nachtragsleistungen keine zusätzlichen BGK mehr anfallen können, es sei denn, diese werden im Einzelnen konkret nachgewiesen (Variante 2). Hier besteht jedoch das Problem, dass das Erfordernis von in den Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen für eine Sachnachtragsleistung nicht im Detail kausal zwingend nachzuweisen ist. So ist es zwar grundsätzlich nachvollziehbar, dass bspw. die/der Bauleitende und die/der Sekretariatsmitarbeitende in der Unternehmenszentrale Mehrleistungen erbringen und dass das für die Nachtragsleistung eingesetzte Personal auch eine verlängerte oder verstärkte Inanspruchnahme der Baustelleneinrichtung zur Folge hat. Die exakte Ableitung einer „angemessenen“ Höhe des Aufwands – diese wäre konsequenterweise nach dem Leitbild der VOB zu ermitteln – ist jedoch kaum möglich. In der Praxis verständigen sich die Vertragsparteien daher vielfach darauf, dass nicht angemessene, sondern „tatsächliche“ Mehraufwendungen vom Auftragnehmer belegt werden. Wie auch in Abb. 7-1 dargestellt, wird in diesem Zusammenhang bei den in BGK und in AGK verrechneten Teilleistungen vielfach unterschiedlich verfahren. Während Mehraufwendungen bei den BGK als Sonder-EKT nachgewiesen werden müssen, verzichten Auftraggeber bezüglich der Mehraufwendungen bei den AGK auf einen entsprechenden Nachweis und akzeptieren stattdessen eine Mehrkostenberechnung über den für den Hauptvertrag geltenden Zuschlagssatz. 14)

Anmerkung: Die unterschiedlichen Größenordnungen der Gemeinkostenbestandteile dienen nur der Illustration. So können durch die Ermittlung der BGK auf Nachweis durchaus betragsmäßig höhere Ansprüche im Vergleich zu einer prozentualen Ermittlung der BGK begründbar sein.

68

Teil B – Baubetrieb

Ein – als extrem vorsichtig zu bezeichnender – Teil von Auftraggebern fordert vom Auftragnehmer einen adäquat-kausalen Nachweis zu sämtlichen Änderungen von in den Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen (Variante 3). Da diese häufig mit Verweis auf Darlegungserfordernisse bei Schadenersatzforderungen eingeforderten Anforderungen für Auftragnehmer faktisch nicht zu erfüllen sind, führt diese Haltung zu Unverständnis. In der Sache wurden daher bereits mehrere Rechtstreitigkeiten bei Gericht ausgetragen. So hat das OLG Nürnberg bereits in seinem Urteil vom 18.12.2002 (Az. 4 U 2049/02) festgestellt, dass dem Auftragnehmer AGK in Höhe des ursprünglich kalkulierten Zuschlags zustehen. Diese Rechtsmeinung ist allerdings umstritten, weshalb sich u.a. das Kammergericht in Berlin nochmals damit zu beschäftigen hatte. In seinem aus baubetriebswirtschaftlicher Sicht bemerkenswerten, noch nicht rechtskräftigen Urteil vom 10.07.2018 (Az. 21 U 30/17) kam das Kammergericht zum Ergebnis, dass einem Auftragnehmer selbst bei ansonsten nicht auskömmlichen Kosten ein angemessener Mindestzuschlag zusteht. Diesen leitet das Gericht über eine Analogie zur Kündigungsvergütung gemäß § 649 Satz 3 BGB zu 5,26 % her. Bei den drei beschriebenen Varianten der Verrechnung von Gemeinkosten in Nachtragspreisen ergeben sich in der Abwicklung unterschiedliche Probleme, die im Zusammenhang mit der Erstellung von Nachtragsangeboten und dem Abschluss von Nachtragsvereinbarungen stehen. Grundsätzlich müsste es das Ziel sein, sämtliche mit einer nachträglichen Änderung verbundenen Mehraufwendungen und Mehrkosten als Grundlage für eine Nachtragsbeauftragung zu kennen. Dieser Informationsstand liegt insbesondere bei den in Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen jedoch – wenn überhaupt – erst zum Ende eines Auftrags vor. Die Vertragsparteien müssen daher bedenken, was diese temporäre Unklarheit für die drei Varianten bedeutet. Bei Variante 1 mit der Anerkennung von unveränderten Zuschlagssätzen für Gemeinkosten laufen Auftraggeber Gefahr, dass sie den Auftragnehmer während der Laufzeit eines Projekts überzahlen. Darüber hinaus besteht das Risiko, dass sie abschließende Nachtragsvereinbarungen schließen und zur Schlussrechnung keine Rückforderungen im Rahmen von Gemeinkostenausgleichsberechnungen mehr durchsetzen können. Gleiches gilt allerdings auch für Auftragnehmer, da es bei der Verfahrensweise grundsätzlich auch eine Unterdeckung von Gemeinkosten kommen kann. Vor diesem Hintergrund legen Auftragnehmer zumeist Nachtragsangebote vor, die am Ende mit einem Gemeinkostenvorbehalt wie folgt schließen: „Nachtragsleistungen obliegen nicht den terminlich/organisatorischen Festlegungen des Hauptvertrags und verändern diesen. Die aus der Anpassung der Bauumstände und der Bauzeit resultierenden Kostenänderungen bleiben vorbehalten.“ Bei Nachtragsangeboten mit einem derartigen Vorbehalt kann prinzipiell keine abschließende Nachtragsvereinbarung abgeschlossen werden. Die Praxis zeigt allerdings oftmals das Gegenteil: Auftraggeber nehmen ein Nachtragsangebot an und schließen gleichzeitig eine spätere Anpassung von Gemeinkosten aus. Rechtlich ist diese ändernde Annahme des Nachtragsangebots als neues Angebot zu werten, welches seinerseits vom Auftragnehmer angenommen werden müsste. Dies erfolgt dann entweder nicht oder nur mit dem Einwand der Gültigkeit des Gemeinkostenvorbehalts. Im Ergebnis liegen dann wiederum keine übereinstimmenden Willenserklärungen vor, so dass eine abschließende Einigung nicht vorliegt. An diesem Zustand ändert sich bis zur Schlussrechnung dann auch häufig nichts. Bei den Varianten 2 und 3 ist ein Nachweis von tatsächlich angefallenen Gemeinkosten vor Ausführung faktisch nicht möglich. Da die Auswirkungen der Nachtragsleistung auf die in den Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen unklar sind, können Auftragnehmer diese letztlich erst am Ende einer Baumaßnahme abschließend belegen. Soweit Auftrag-

7 Gemeinkosten in Sachnachträgen – Lösungswege im Streit um die angemessene Höhe

69

geber auf dieser Verfahrensweise bestehen, können Nachtragsvereinbarungen letztlich nur über die unmittelbaren technischen Änderungen zustande kommen. Auftragnehmer müssen unter diesen Umständen zwingend auf den Gemeinkostenvorbehalt achten. Den Parteien muss dann im Rahmen von Nachtragsverhandlungen bewusst sein, dass zum Ende der Baumaßnahme noch ein „Nachtrag zum Nachtrag“ folgt. Dieser wird einerseits von Auftraggebern gefürchtet, weil sie deren Höhe nicht hinreichend einschätzen und in der Kostenverfolgung bewerten können. Andererseits ergibt sich bei dieser Verfahrensweise für den Auftragnehmer ein Liquiditätsproblem, weil er über die gesamte Bauzeit die in den Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen nur dann ersetzt bekommt, wenn diese über unveränderte Hauptvertragspositionen verrechnet sind.

7.4

Wege im Umgang mit Gemeinkosten

Der unklaren Zusammensetzung der in den Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen innerhalb der Preisermittlung für den Hauptvertrag und den ebenfalls unklaren Auswirkungen von nachträglichen Änderungen auf diese Leistungen wird sehr unterschiedlich entgegnet. Nachfolgend wird auf verschiedene Lösungswege eingegangen. Zunächst soll auf „prophylaktische“ Maßnahmen in Form der Aufklärung der Zusammensetzung von in den Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen mittels Formblatt oder Auspositionierung eingegangen werden. Anschließend werden die Bedeutung von Gemeinkostenausgleichsberechnungen und die Behandlung von Gemeinkosten als Sonder-EKT eines Nachtrags behandelt, die jeweils im Rahmen der laufenden Projektabwicklung als gebräuchliche Lösungswege zu betrachten sind. Abschließend wird auf juristische Lösungswege eingegangen, bei denen in Einzelfällen aus baubetriebswirtschaftlicher Sicht ein nicht zwingender Zusammenhang zwischen den kalkulatorischen Annahmen in der Preisermittlung und vermeintlichen Folgen für die in Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen hergestellt wird.

7.4.1

Ansätze zur Aufklärung von Gemeinkosten durch Formblattabfragen und Auspositionierung

Durch die Art und den Umfang der Gliederung seiner Leistungsbeschreibung kann der Auftraggeber im Rahmen der Vergabe die Aufschlüsselung der Kostenelemente in der Preisermittlung des Bieters bzw. späteren Auftragnehmers beeinflussen. Je differenzierter er das LV gliedert, desto mehr muss der Auftragnehmer seinen Angebotspreis in einzelne Preise aufteilen. Differenzierte LV nützen allerdings im Wesentlichen nur etwas bei Leistungen, für die dem Auftragnehmer keine Dispositionsfreiheit bei der Wahl seiner Mittel in qualitativer und quantitativer Hinsicht gelassen wird. Dies ist bei den meisten in Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen jedoch nicht der Fall, so dass hierfür – teilweise mit Ausnahme für die Baustelleneinrichtung – üblicherweise keine gesonderten Positionen im LV gebildet werden. In der unternehmerischen Preisermittlung führt die fehlende Vorgabe einer besonderen Abrechnungsposition dazu, dass die Kosten der nicht unmittelbar zuzuordnenden Teilleistungen – wie oben in Abschnitt 7.3.1 dargestellt – über ein- oder mehrstufige Umlageverfahren verteilt werden. Hieraus ergibt sich, dass die mengenmäßige und zeitliche Zusammensetzung der vom Auftragnehmer veranschlagten Teilleistungen sowie deren Kostenverrechnungsätze für den Auftraggeber vollkommen intransparent sind. Etwas anderes gilt für den Bereich der BGK nur dann, wenn der Auftragnehmer über die

70

Teil B – Baubetrieb

Angebotsendsumme kalkuliert und er das interne BGK-LV offenlegt. Da dies nur selten erfolgt und das anzuwendende Kalkulationsverfahren nicht vom Auftraggeber vorgegeben werden kann, versuchen Auftraggeber ihr Informationsdefizit über Abfragen mittels Formblättern zu reduzieren. Auch außerhalb des formalen Anwendungsbereichs des Vergabe- und Vertragshandbuchs für die Baumaßnahmen des Bundes (VHB) werden zur Preisaufgliederung im Vergabeverfahren vielfach die bekannten Formblätter 221, 222 und 223 eingesetzt. In diesen werden einerseits je nach Kalkulationsverfahren die Zusammensetzung des Mittellohns und die Zusammensetzung der Kostenarten des Angebotspreises sowie andererseits die Zusammensetzung der Kostenarten und der Aufwandswerte von Einzelpositionen abgefragt. Im Hinblick auf die in den Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen bieten die genannten Formblätter des VHB nur wenig Aufschluss. Vor diesem Hintergrund haben die Verfasser im Rahmen eines Forschungsvorhabens für einen institutionellen privaten Auftraggeber verschiedene Formblätter entwickelt, welche die Zusammensetzung insbesondere der üblicherweise in BGK verrechneten Teilleistungen im Verlauf von Baumaßnahmen abfragen. Beispielhaft ist der folgenden Abb. 7-2 ein Formblatt zur Abfrage des Personaleinsatzes zu entnehmen, in dem Bieter den von Ihnen geplanten Bauablauf und die dabei phasenweise eingeplanten Personalkapazitäten anzugeben haben. Ebenso sind die Verrechnungssätze einzutragen, damit letztlich die Summe der Gemeinkostenumlage aufgeklärt werden kann. Bauablauf- und Terminplan (Muster) Nr.

Monat 1

Zuschlag

2

Ausführungsplanung

3

Baubeginn

4

Erdbau

5

Gründung/Bodenplatte

6

2

3

4

5

6

2 7

8

9

10

11

12

1

2

3



Rohbau * (Geschoss 1 ... n) Dacharbeiten

8

Fassadenarbeiten

9

Dach/Fassade dicht

11

1

Vertragstermin 1

7

10

1

Jahr

Vorgang

Vertragstermin 2

Allgemeiner Ausbau* (Gewerk 1 … n) Technischer Ausbau* (Gewerk 1 … n)

12

Außenanlagen

13

Fertigstellung

Vertragstermin 3

Personaleinsatzplan (Muster) Nr.

1

Jahr

Vorgang

Monat

1

2

3

4

5

6

2 7

8

9

10

11

12

1

2

1

Oberbauleiter

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

2

Projektleiter

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

0,2

3

Bauleiter 1 (Rohbau)

0,5

1,0

1,0

1,0

4

Bauleiter 2 (Ausbau)

5

Lohnabrechnung

0,1

0,1

0,1

0,1

0,1

0,1

0,1

6

Konstruktive Bearbeitung

1,0

1,0

1,0

7

Arbeitsvorbereiter

1,0

1,0

1,0

8

Polier 1

0,5

1,0

1,0

1,0

0,5

0,5

0,5

0,5

0,5

1,0

1,0

1,0

0,5

0,1

0,1

0,1

0,1

0,1

0,1

0,1

1,0

1,0

3

0,5

1,0

Mannmonate

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

Verrechnungssatz [€/Monat]

Personalkosten [€]

2,6

8.000,00

20.800,00

2,8

8.000,00

22.400,00

5,0

9

7.000,00

35.000,00

5,0

7.000,00

35.000,00

1,4

4.500,00

6.300,00

3,0

6.500,00

19.500,00

3,0

5.500,00

16.500,00

12,5

6.000,00

75.000,00

17.500,00

0,0

10

Kranführer 1

11

Kranführer 2

12

Magaziner

13



1,0

Abb. 7-2

1,0

1,0

1,0

1,0

5,0

3.500,00

1,0

1,0

1,0

1,0

4,0

3.500,00

14.000,00

12,0

2.000,00

24.000,00

0,5

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

0,5

4,0

5,5

4,5

5,5

5,5

5,5

5,5

3,5

3,5

3,5

3,0

2,5

1,8

0,0 2,5

15)



0,0

286.000,00

Formblatt zur Abfrage des zeitlichen und mengenmäßigen Personaleinsatzes entsprechend dem vom Auftragnehmer geplanten Bauablauf15)

Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass man in Anbetracht der aktuellen Marktlage durchaus sensibel mit zusätzlichen Anforderungen an die Angebotslegung umgehen muss.

7 Gemeinkosten in Sachnachträgen – Lösungswege im Streit um die angemessene Höhe

71

Während die üblicherweise in den BGK verrechneten Teilleistungen noch sinnvoll weiter untergliedert werden können, stößt eine Abfrage zu den in AGK verrechneten Teilleistungen an Grenzen. Die Zusammensetzung ist meist sehr firmenindividuell und steht nur sehr eingeschränkt mit dem Bauablauf im Zusammenhang. Dennoch kann eine zusätzliche Abfrage der AGK sinnvoll sein, bei der fixe, umsatz- und zeitvariable Anteile unterteilt werden. Die Formblätter werden in der Regel nur im Vergabeverfahren verwendet. Ohne gesonderte Vereinbarung werden sie kein Vertragsbestandteil. Dies bereitet im Rahmen der Feststellung von monetären Ansprüchen aus Nachträgen teilweise Probleme. Allerdings muss hier mit Verweis auf das Urteil des OLG Köln vom 28.01.2014 (Az. 24 U 199/12) darauf hingewiesen werden, dass ein Bieter, der im Vergabeverfahren falsche Angaben zu seinen Kalkulationsgrundlagen macht, nach dem Grundsatz von Treu und Glauben daran gehindert sein kann, einen Mehrvergütungsanspruch auf seine tatsächliche Kalkulation zu stützen. Unabhängig davon wird seit einigen Jahren in der baubetriebswirtschaftlichen Literatur der Ansatz diskutiert, für die üblicherweise in Gemeinkostenumlagen verrechneten Teilleistungen besondere Abrechnungspositionen vorzusehen.16) Da diese Positionen ebenso wie die Positionen der eigentlichen Bauleistungen im engeren Sinn unmittelbarer Bestandteil der hauptvertraglichen Preisermittlungsgrundlage werden, sind die darin enthaltenen Kostenelemente für den Auftragnehmer für die Preisfortschreibung verbindlich. Allein ein undifferenziertes Verlagern der Gemeinkostenumlage in eine Abrechnungsposition würde wenig zur Aufklärung der Zusammensetzung von Teilleistungen beitragen. Vor diesem Hintergrund wurden im Sinne von Standardleistungstexten verschiedene Vorschläge erarbeitet, wie die Kosten der sonst in BGK und AGK-Umlagen verrechneten Teilleistungen auszupositionieren sind.17) Grundlegend wurden dabei je Bereich Unterteilungen in fixe, umsatzabhängige und zeitvariable Anteile vorgenommen. Zusätzlich wurde in unterschiedlichen Positionstexten auch vorgegeben, welche Teilleistungen in welchen Positionen einzurechnen sind. Insoweit werden verschiedene Bereiche untergliedert und es werden jeweils Positionen für die fixen, umsatzabhängigen und zeitabhängigen Bestandteile mit der entsprechenden Verrechnungseinheit „pauschal“, „€/€“ oder „€/Monat“ gebildet. Inzwischen wurde der Ansatz der Auspositionierung von Gemeinkosten auch in der Praxis umgesetzt, so dass hierzu erste Erfahrungen gewonnen werden konnten. Bei einem von den Verfassern erst nach Beginn der Bauausführung begleiteten Projekt zeigt sich hierbei derzeit, dass das erhoffte Vermeiden von Streitigkeiten hierüber leider nicht erreicht werden konnte. Dies liegt allerdings teilweise an handwerklichen Fehlern. So ist u.a. streitig, wie die Abrechnung der pauschal vergüteten Positionen mit Gemeinkosten erfolgt. Diese sollen nicht in einem Stück, sondern nach dem „Leistungsstand“ abgerechnet werden. Es ist unklar, ob sich das Wort „Leistungsstand“ nur auf die Gemeinkostenposition oder auf die gesamten Positionen des Auftrags beziehen. Eine Partei vertritt auch die Ansicht, mit Leistungsstand wäre die Bauzeit gemeint, so dass die Gemeinkostenposition monatsweise abzurechnen wäre. Ein weiterer Streitpunkt ergibt sich aus der Detaillierung zeitabhängiger Gemeinkostenpositionen. Insbesondere die Kosten der Baustelleneinrichtung fallen nicht notwendiger16) 17)

Vgl. u.a. Berner/Paul (2010), S. 1407 ff., Ruf (2011), S. 753 ff., Berner (2015), S. 97 ff. Die unterschiedlichen Ansätze für Leistungstexte zu den Gemeinkostenpositionen von Berner/Ruf, Oepen und Thieme-Hack wurden insbesondere in der 9. und 10. Sitzung des Arbeitskreises Baurecht und Baubetrieb der Deutschen Gesellschaft für Baurecht am 29.04.2014 bzw. 29.10.2014 in Bochum in Präsentationen vorgestellt und diskutiert. Veröffentlichungen hierzu liegen nach dem Kenntnisstand der Verfasser nur teilweise vor (vgl. Berner/Ruf (2014)).

72

Teil B – Baubetrieb

weise gleichverteilt über die gesamte Bauzeit an. Damit kommt es bei zeitproportionaler Abrechnung zu Über- oder Unterdeckungen. Diese hätten durch eine bauphasenweise Untergliederung des LV vermieden werden können. Als problematisch zeigt sich auch, dass die Art der Abrechnung zu Spekulationen beim Auftragnehmer führt. Dieser verschiebt die Kosten von Teilleistungen in „sichere“ pauschal vergütete Positionen, in die sie grundsätzlich nicht gehören.

7.4.2

Erforderlichkeit einer Gemeinkostenausgleichsberechnung zur Schlussrechnung

Soweit im laufenden Projekt bei der Abrechnung von Sachnachträgen vereinfacht vorgegangen wird und nicht die konkreten monetären Auswirkungen im Bereich der Gemeinkosten bewertet werden, haben Gemeinkostenausgleichsberechnungen die Aufgabe, dies zum Zeitpunkt der Schlussrechnung nachzuholen. Gemeinkostenausgleichsberechnungen sind dabei in der Praxis äußerst unbeliebt und werden nach den Erfahrungen der Verfasser häufig zu Unrecht erspart. Da der nicht ganz unwesentliche Aufwand der Aufstellung einer Ausgleichsberechnung gescheut wird und teilweise auch die erforderlichen Fachkenntnisse fehlen, bleiben Über- oder Unterdeckungen von Gemeinkosten dadurch unentdeckt. Die Aufstellung einer Gemeinkostenausgleichsberechnung zum Ende einer Baumaßnahme ist grundsätzlich kein Automatismus. Dies gilt insbesondere auch für VOBBauverträge, was teilweise verkannt wird. Gemeinkostenausgleichsberechnungen müssen erst „verlangt“ werden. Jede Vertragspartei kann daher taktieren, inwieweit aus einem unterlassenen Verlangen ein wirtschaftlicher Vorteil gezogen werden kann. Bemerkenswerterweise trifft dies in Deutschland teilweise auch für öffentliche Auftraggeber zu. So gilt gemäß den Verwaltungsvorschriften des HVA B-StB für den Bereich des Straßen und Brückenbaus folgendes:

Abb. 7-3

Auszug aus HVA B-StB zu § 2 VOB/B zur Gemeinkostenausgleichsberechnung

Der Verweis auf Nr. 13 führt dazu, dass lediglich für Positionen mit einer Mengenüberschreitung eine Herabsetzung der Preise verlangt werden soll. Gegebenenfalls vorhandene Positionen mit Mengenunterschreitungen, bei denen es für den Auftragnehmer regelmäßig zu einer Gemeinkostenunterdeckung kommt, sollen somit außer Acht gelassen werden. Auftragnehmer müssen daher selbst auf die Idee kommen, dass sie hierfür einen Ausgleich „verlangen“ können. Erst dann kommt es zu einer gesamthaften Ausgleichsberechnung, soweit dies durch Individualabreden in Nachtragsvereinbarungen nicht teilweise ausgeschlossen wurde. Ein besonderes Problem stellt im Rahmen von Gemeinkostenausgleichsberechnungen der Umgang mit Sachnachträgen dar. Nach den Vorgaben von § 2 Abs. 3 Nr. 3 VOB/B sind nicht nur für die Mengenänderungen bei Hauptvertragspositionen, sondern auch zusätzlich über Sachnachträge erwirtschaftete Gemeinkosten als „Ausgleich in anderer Weise“ zu berücksichtigen. Hierbei ist zu beachten, dass insbesondere bei Großprojekten mit unterschiedlichen Teilprojektleitern Gemeinkosten je Nachtrag sehr unterschiedlich verrechnet worden sein können (vgl. hierzu oben Abb. 7-3). Eine individuelle Betrachtung

7 Gemeinkosten in Sachnachträgen – Lösungswege im Streit um die angemessene Höhe

73

der Abrechnung jeden einzelnen Nachtrags ist damit nicht zu ersparen, weil nur so die Gemeinkosten insgesamt zutreffend zu bewerten sind. Dies erfordert allerdings nachtragsweise einen transparenten Ausweis der Gemeinkosten einschließlich der Betrachtung von Sondereinzelkosten.

7.4.3

Gemeinkosten als Sonder-EKT

Bei der Verrechnung von Gemeinkosten als Sondereinzelkosten eines Nachtrags werden die innerhalb des Hauptvertrags über Umlagen o.ä. verrechneten Teilleistungen separat betrachtet. Soweit Teilleistungen nachtragsbedingt zusätzlich anfallen werden sie als EKT des Nachtrags behandelt. Hierbei besteht eines der Kernprobleme darin, den kausalen Zusammenhang einer Nachtragsleistung mit einer in Gemeinkosten verrechneten Teilleistung herzustellen. Exemplarisch kann hier die Erforderlichkeit der Einbindung eines Bauleiters sowohl für die Ausarbeitung als auch für die Überwachung der Bauausführung eines Nachtrags genannt werden. Die Festlegung eines üblichen Verhältniswerts beispielweise in Abhängigkeit vom Umsatz ist hier nicht sinnvoll möglich, da der Aufwand u.a. in Abhängigkeit von der technischen Komplexität und der Betroffenheit unterschiedlicher Gewerke erheblich streuen kann. Für die in BGK üblicherweise verrechneten Teilleistungen kann es teilweise möglich sein, hilfsweise auf tatsächliche Einsatzzeiten zurückzugreifen. Es könnte beispielsweise die verlängerte Vorhaltung eines Bauleitungscontainers festgestellt werden. Hierbei ergibt sich dann allerdings das Problem der Abgrenzung von Vorhaltezeiten bzw. Tätigkeiten für Hauptvertrags- und Nachtragsleistungen. Grundsätzlich dürfen Fehlkalkulationen beim Hauptauftrag nicht durch Vergütungen für Nachtragsleistungen ausgeglichen werden, so dass nicht ohne weiteres tatsächliche Gesamtaufwendungen zu ersetzen sind. Ein Nachweis des Kausalzusammenhangs ist bei in Gemeinkosten verrechneten Teilleistungen von der Natur der Sache nur sehr begrenzt möglich. Es ist zu bedenken, dass insbesondere in AGK regelmäßig auch Teilleistungen verrechnet werden, die beim Unternehmen als Ganzes anfallen, jedoch gar nicht mit einem Auftrag in Verbindung stehen. Sie müssen jedoch dennoch von den Aufträgen „verdient“ werden. Zum Kausalzusammenhang ist darüber hinaus an die Preisbildung bei Gemeinkosten zu erinnern (vgl. Abschnitt 7.3.1). In den Zuschlagssatz für Gemeinkosten fließen regelmäßig die Erfahrungen aus der vorangehenden Abrechnungsperiode ein, d.h. dass bereits diese Leistungen nicht mit einem Hauptauftrag unmittelbar kausal in Verbindung zu bringen sind. Exemplarisch sind die Aufwendungen für einen in der Vergangenheit liegenden Rechtsstreit beispielsweise mit einem Arbeitnehmer zu nennen, dessen Kosten Eingang in den für das Geschäftsjahr bzw. den Auftrag gebildeten Gemeinkostenzuschlagssatz finden. Es wäre unbillig, zu verlangen, dass ein Mehrkostenanteil bei den AGK nur dann ersetzt wird, wenn der Auftragnehmer tatsächliche Kosten von Rechtstreitigkeiten einerseits konkret zeitlich einem Bauauftrag zuordnen kann oder gar die Tätigkeit des im Rechtsstreit befindlichen Mitarbeiters für den Bauauftrag belegt. Ein weiteres Problem bei der Verrechnung von Gemeinkosten als Sondereinzelkosten besteht im Nachweis der Angemessenheit des Preisniveaus. Insbesondere für einzelne, in den AGK verrechneten Teilleistungen lässt sich eine Ableitung des Hauptvertragspreisniveaus über Preisniveaufaktoren regelmäßig nicht nachweisen, da an Bezugspositionen nicht angeknüpft werden kann und ansonsten alle Teilleistungen vollständig nachträglich aufgegliedert werden müssten. Eine nachvollziehbare nachträgliche Aufgliederung ist praktisch jedoch nahezu unmöglich, da die Zusammensetzung firmenindividuell und nur begrenzt verallgemeinerbar ist.

74

Teil B – Baubetrieb

7.4.4

Gemeinkostenkalkulation und rechtlicher Anspruch

In der Rechtsprechung und baurechtlichen Literatur werden die Schwierigkeiten bei der Verrechnung von Gemeinkosten mit Verweis auf die Kalkulation des Auftragnehmers teilweise sehr pauschal gelöst, was im Einzelfall interessengerecht sein mag. Aus baubetrieblicher Sicht muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die Ansätze nicht zwingend sind. Vor einer Verallgemeinerung ist daher zu warnen: • „Nachtragsbearbeitungskosten“ sind regelmäßig nicht durch Gemeinkostenzuschläge abgegolten (LG Schwerin, Urteil vom 28.06.2017 – 3 O 162/16). • Sofern Nachtragsleistungen in der Hauptvertragszeit ausgeführt werden, können keine zusätzlichen BGK anfallen (OLG Jena, Urteil vom 22.06.2017 – 1 U 673/15). • Die Art des angewendeten Kalkulationsverfahrens bestimmt die Berechtigung von Erstattungsansprüchen für als Gemeinkosten verrechnete Teilleistungen. Das LG Schwerin hält es in seinem Urteil vom 28.06.2017 „ohne Weiteres für nachvollziehbar“, dass ein nachtragsbedingt zusätzlicher Bauleitungsaufwand „regelmäßig“ nicht durch den Gemeinkostenzuschlagssatz gedeckt ist, so dass dieser als Sondereinzelkosten gesondert zu beanspruchen ist. Es ist darauf hinzuweisen, dass Gemeinkostenzuschlagssätze firmen- und auftragsindividuell ausgestaltet sind. Sie enthalten zumeist auch den Bauleitungsaufwand, welcher für die Erbringung der Hauptvertragsleistungen anfällt. Insofern ergibt sich bei einer nachtragsbedingten Umsatzerhöhung, dass auch Bauleitungsaufwendungen über Zuschläge ersetzt werden. Insofern ist ein darüber hinausgehender Anspruch nur dann zu berücksichtigen, wenn übermäßig hohe Bauleitungsaufwendungen anfallen. Dies kann lediglich bei Nachtragsausarbeitungen der Fall sein, jedoch in der Regel nicht bei Nachtragsbearbeitungen, bei denen lediglich Preise kalkuliert werden. In seinem Urteil vom 22.06.2017 hat das OLG Jena das LG Erfurt aus baubetrieblicher Sicht zutreffend korrigiert und verdeutlicht, dass eine Einhaltung der geplanten Bauzeit nicht bedeutet, dass die Baustellengemeinkosten unabhängig vom Umfang der beauftragten Arbeit gleich geblieben sind. Eine Geltendmachung von Sondereinzelkosten ist bei Einhaltung der Bauzeit damit nicht per se abzulehnen. So ist für die zuvor angesprochenen Nachtragsausarbeitungen nachvollziehbar, dass diese vom Bauleitungspersonal – unabhängig von der Bauzeit – zusätzlich erbracht werden und dementsprechend auch gesondert zu vergüten sind. In der baurechtlichen Literatur wird teilweise die Meinung vertreten,18) dass nach dem Grundprinzip der vorkalkulatorischen Preisfortschreibung sowohl AGK als auch BGK bei der Nachtragskalkulation pauschal umsatzbezogen über einen vorbestimmten Zuschlagssatz zu ermitteln sind, wenn dies der Urkalkulation entspricht. Hier ist zu fragen, wie die Art des verwendeten Kalkulationsverfahrens maßgeblich für einen Anspruch sein kann, wenn die Kalkulation doch kein Vertragsbestandteil wird. Grundsätzlich muss es darauf ankommen, inwieweit Mehraufwendungen im Einzelnen für eine Nachtragsleistung tatsächlich erforderlich waren. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass selbst größere mittelständische Auftragnehmer u.a. in Kenntnis dieser Rechtsmeinung aus strategischen Gründen vereinzelt vortragen, sie hätten mit vorausbestimmten Zuschlägen und nicht über die Angebotsendsumme kalkuliert, obwohl gegenteiliges der Fall ist. Welches Kalkulationsverfahren im Einzelfall tatsächlich angewendet wurde, ist nicht überprüfbar und sollte daher keine Rolle spielen.

18)

Vgl. Althaus (2012), S. 1841 ff.

7 Gemeinkosten in Sachnachträgen – Lösungswege im Streit um die angemessene Höhe

7.5

75

Zusammenfassung und Empfehlung

Üblicherweise in Gemeinkosten verrechnete Teilleistungen werden im Rahmen der Preisermittlung nur grob ermittelt. Ihre Fortschreibung bzw. die Ableitung der nachtragsbedingten Änderungen dieser Teilleistungen ist daher nicht ohne Weiteres nachvollziehbar möglich, so dass hierüber im Rahmen von Nachtragsverhandlungen vielfach Streit zwischen den Vertragsparteien entbrennt. Überzogenen Darlegungsanforderungen des Auftraggebers stehen hier übermäßig vereinfachte pauschale Abrechnungen des Auftragnehmers gegenüber. Eine interessengerechte Lösung der Problematik ist nur auf Basis einer hinreichenden Transparenz der Zusammensetzung der verrechneten Teilleistungen sowohl in zeitlicher, als auch in mengenmäßiger und monetärer Hinsicht möglich. Dies gilt sowohl für die hauptvertraglich veranschlagten als auch für die nachtragsbedingt veränderten bzw. zusätzlichen Gemeinkosten. Auftraggeber sollten daher versuchen, bereits zum Vertragsschluss die Inhalte der vom Auftragnehmer veranschlagten Gemeinkosten näher aufzuklären, was letztlich sowohl durch Formblätter als auch durch Auspositionierung erfolgen kann. Wesentlich für den Erfolg ist das Ausmaß der im Einzelnen geschaffenen Transparenz. Diese sollte im Zweifelsfall im Rahmen von Aufklärungsgesprächen mit dem Bieter in der engeren Wahl erhöht werden. Da eine nachtragsweise Bewertung von Auswirkungen einen erheblichen Aufwand erzeugt und mit vertretbarem Aufwand kaum möglich ist, müssen projektbegleitend vorbehaltliche Einigungen getroffen werden. Beide Vertragsparteien müssen hier darauf achten, dass die Vorbehalte nicht durch ungewollte abschließende Vereinbarungen verloren gehen und zur Schlussrechnung eine Gemeinkostenausgleichsberechnung erfolgen kann. Im Rahmen dieser sind dann auch etwaige Teilleistungen zu betrachten und zu begründen, die als Sonder-EKT von Nachträgen zusätzlich zu erstatten sind. In jedem Fall sollten die Vertragsparteien eine eigene transparente baubetriebliche Lösung anstreben und nicht Juristen nötigen, über baubetriebliche Problemstellungen entscheiden zu müssen.

7.6

Abkürzungsverzeichnis

AGK

......................... Allgemeine Geschäftskosten

BGB

......................... Bürgerlichen Gesetzbuches

BGK

......................... Baustellengemeinkosten

EKT

......................... Einzelkosten der Teilleistungen

LV

......................... Leistungsverzeichnis

VHB

......................... Vergabe- und Vertragshandbuch für die Baumaßnahmen des Bundes

VOB

......................... Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen

76

7.7

Teil B – Baubetrieb

Judikaturverzeichnis

BGH, Urteil vom 24.03.2016, VII ZR 201/15 KG Berlin, Urteil vom 10.07.2018, 21 U 30/17 LG Bonn, Urteil vom 10.03.2014, 1 O 360/12 LG Schwerin, Urteil vom 28.06.2017, 3 O 162/16 OLG Jena, Urteil vom 22.06.2017, 1 U 73/15 OLG Köln, Urteil vom 28.01.2014, 24 U 199/12 OLG Nürnberg, Urteil vom 18.12.2002, 4 U 2049/02

7.8

Literaturverzeichnis

Althaus, Stefan (2012). Preisfortschreibung von Baustellengemeinkosten bei Kalkulation mit vorbestimmten Zuschlägen. In: BauR, Heft 12, Dezember 2012, Seite 1841-1846. Köln. Werner-Verlag, Wolters Kluwer Deutschland. (ISSN 0340-7489) Althaus, Stefan; Heindl, Christian (2013). Der öffentliche Bauauftrag. München. Verlag C. H. Beck (ISBN 978-3-406-65659-0) Althaus, Stefan; Kattenbusch, Markus (2018). § 650 c BGB. In: Leupertz, Stefan; Preussler, Armin; Sienz, Christian: Bauvertragsrecht. Neuregelungen des Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts. Seite 101-139. München : Beck. (ISBN 978-3-406-71072-8) Berner, Fritz (2015). Getrennte Ausweisung von Gemeinkosten – ein Lösungsvorschlag. In: Schriftenreihe IBB – Beiträge zum Braunschweiger Baubetriebsseminar vom 27. Februar 2015 – Preisbildung bei Nachträgen – tatsächliche Kosten oder widerlegbare Urkalkulation. Hrsg.: Wanninger, Rainer. Seite 97-114. Braunschweig. Verlag Institut für Bauwirtschaft und Baubetrieb der Technischen Universität Braunschweig. (ISBN 978-3-936214-25-3) Berner, Fritz; Paul, Wolfgang (2010). Gemeinkosten der Baustelle – ein Zuweisungsproblem? In: BauR – Zeitschrift für das gesamte öffentliche und private Baurecht, Heft 8a, August 2010, Seite 1407-1414. Köln, Düsseldorf. Wolters Kluwer Deutschland, Werner-Verlag, (ISSN 0340-7489) Berner, Fritz; Ruf, Lothar (2014). Getrennte Ausweisung der Gemeinkosten. Ansätze für mehr Transparenz. In: www.werner-baurecht.jurion.de/Baurecht, Foren – Forum Baubetrieb und Baurecht – Materialien, 05.03,2014. Werner-Verlag. BMVI – Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, Abteilung Straßenbau (2016). HVA B-StB – Handbuch für die Vergabe und Ausführung von Bauleistungen im Straßen- und Brückenbau, Ausgabe: April 2016. Köln. Bundesanzeiger Verlag. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (2017). VHB – Vergabe- und Vertragshandbuch für die Baumaßnahmen des Bundes. Köln. Bundesanzeiger Verlag, Franz, Birgit; Althaus, Stefan; Oberhauser, Iris; Berner, Fritz (2015). Zuschläge für Allgemeine Geschäftskosten bei der Berechnung der Vergütung für geänderte und zusätzliche Leistungen auf der Basis von tatsächlich erforderlichen Kosten. In: BauR – Zeitschrift für das gesamte öffentliche und private Baurecht, Heft 8, August 2015, Seite 1221-1230. Köln. Wolters Kluwer Deutschland, Werner-Verlag, (ISSN 0340-7489)

7 Gemeinkosten in Sachnachträgen – Lösungswege im Streit um die angemessene Höhe

77

Hauptverband der Deutschen Bauindustrie e.V., Zentralverband Deutsches Baugewerbe e.V. (2016). KLR Bau – Kosten-, Leistungs- und Ergebnisrechnung der Bauunternehmen, 8. Auflage. Köln. Rudolf Müller Verlag. (ISBN 978-3-481-03535-8) Hermann, Gerhard (1983). Kostenrechnung, Kalkulation, Kostenkontrolle : Ein Leitfaden zur Kostenrechnung im Stahlbau. Köln. Stahlbau-Verlagsgesellschaft. (ISBN 978-3923-72604-2) Ingenstau, Heinz; Korbion, Hermann (1989). VOB – Verdingungsordnung für Bauleistungen, Teile A und B. 11. Auflage. Düsseldorf. Werner-Verlag (ISBN 3-8041-2116-0) Kapellmann, Klaus D.; Schiffers, Karl-Heinz (2017). Vergütung, Nachträge und Behinderungsfolgen beim Bauvertrag, Band. 1, Einheitspreisvertrag, 7. Auflage. Düsseldorf. Werner-Verlag. (ISBN 978-3-8041-5139-0) Kattenbusch, Markus (2018). Methodisches Vorgehen bei der Ermittlung eines Vergütungsanspruchs anhand tatsächlich erforderlicher Kosten. In: Schriftenreihe IBB – Beiträge zum Braunschweiger Baubetriebsseminar vom 16. Februar 2018, Heft 62 – Vertragsänderungen und Vergütungsansprüche nach neuem Bauvertragsrecht. Hrsg.: Schwerdtner, Patrick. Seite 23-36. Verlag Institut für Bauwirtschaft und Baubetrieb der Technischen Universität Braunschweig. (ISBN 978-3-936214-30-7) Rohrmüller, Johann (2008). Preisfortschreibung nach § 2 Nr. 5 und 6 VOB/B mittels Bezugsleistungen? In: IBR-online, Seite 1367. Mannheim. Id-Verlag. (ISSN 09415750) Ruf, Lothar (2011). Gemeinkosten-Trennung. In: BauR – Zeitschrift für das gesamte öffentliche und private Baurecht, Heft 5, Mai 2015, Seite 753-760. Köln. WernerVerlag, Wolters Kluwer Deutschland. (ISSN 0340-7489)

8

Zur Relevanz der Baulogistikplanung

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Christoph Motzko Geschäftsführender Direktor Institut für Baubetrieb – Technische Universität Darmstadt El-Lissitzky-Straße 1 64287 Darmstadt www.baubetrieb.tu-darmstadt.de [email protected] Dr.-Ing. Jörg Fenner Mitglied der Institutsleitung Institut für Baubetrieb – Technische Universität Darmstadt El-Lissitzky-Straße 1 64287 Darmstadt [email protected] Dipl.-Ing. Jonas Kleiner Wissenschaftlicher Mitarbeiter Institut für Baubetrieb – Technische Universität Darmstadt El-Lissitzky-Straße 1 64287 Darmstadt [email protected] Dipl.-Ing. Pia Richter Wissenschaftliche Mitarbeiterin Institut für Baubetrieb – Technische Universität Darmstadt El-Lissitzky-Straße 1 64287 Darmstadt [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_8

80

Teil B – Baubetrieb

8.1

Abstract

Die Betrachtung der Umgebung von Baustellen im Bereich komplexer urbaner Strukturen oder im Bereich großer Infrastrukturprojekte offenbart die Relevanz der Baulogistik. Neben den für die Produktionsprozesse auf Baustellen üblichen Emissionen wie Staub, Lärm oder Erschütterungen, welche in den innerstädtischen Bereichen in der Regel einer strengen Überwachung unterzogen werden, sind zunehmend Verkehrsbeeinträchtigungen in der Projektraumumgebung in Form von Verkehrsbehinderungen zu registrieren. Es besteht erheblicher Handlungsbedarf, der unter anderem daraus abzuleiten ist, dass Baubehörden in Großstädten zunehmend die Vorlage von adäquaten Baulogistikkonzepten für die Erteilung von Baugenehmigungen verlangen. Neben diesen äußeren Phänomenen ist zu konstatieren, dass im Rahmen der Planung, der Realisierung und des Betriebs von Bauprojekten große Mengen an Daten, Informationen, Baustoffen, Betriebsmitteln, Finanzmitteln, Personen sowie weiteren projektindividuellen Größen transferiert werden. Diese Transfers sollen effektiv sowie effizient realisiert und gesteuert werden. Die Anwendung der Technologie und der Methoden der Baulogistik lässt diese Anforderungen erfüllen. Voraussetzung dafür ist die Initialisierung der Baulogistik bereits in den frühen Planungsphasen, was gegenwärtig in der Baupraxis kaum stattfindet.1) Im nachfolgenden Beitrag wird ein Prozessmodell der Baulogistikplanung vorgestellt, welches am Institut für Baubetrieb der TU Darmstadt entwickelt wurde, und welches auf Seiten von Auftraggebern und von Auftragnehmern eine zielführende Umsetzung der baulogistischen Belange mit fakultativem Einsatz einer Fachplanung Baulogistik in Bauprojektorganisationen ermöglicht. Neben dem Prozessmodell der Baulogistikplanung werden zwei besondere Aspekte der Anwendung baulogistischer Methoden mit Bezug zur Arbeitsplatzgestaltung sowie zur grundständigen Baustellenversorgung im Kontext der Anwendung der Methoden der Lean Construction, der Methode des Warenverteilzentrums sowie der damit verbundenen technologischen Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung diskutiert.

8.2

Situationsanalyse

Die Dichte und die Komplexität der Transferprozesse verschiedener Größen in Bauprojekten bewirken die Notwendigkeit der Anwendungen der Technologie und der Methoden der Baulogistik bereits in den frühen Planungsphasen. Damit sollen die Input-OutputRelationen in den Prozessen respektive in den Prozessketten sach- und fachgerecht organisiert werden. Die Baulogistik wird dabei als eine Adaption der grundständigen Logistik auf die Belange des Bauwesens verstanden, welche das Element der Bildung von Strukturen und Prozessen zum räumlichen und zeitlichen Transfer von Objekten jeder Art sowie die Elemente der Planung und der Realisierung von Logistiksystemen einschließlich der Kundenorientierung inne hat. Die hierfür notwendige Präzisierung der Relationen zwischen der Bauablaufplanung und der Logistik einschließlich der relevanten Kennzahlen für die unterschiedlichen Granularitätsstufen der Arbeitsvorbereitung wurde von Hofstadler2) publiziert. Freilich hat die Bauwirtschaft die Relevanz der Baulogistik erkannt, so dass gegenwärtig eine Vielzahl von spezialisierten Unternehmen unterschiedliche Spektren von Baulogistikleistungen im Markt für Bauleistungen anbieten, so zum Beispiel: 1) 2)

Vgl. Ruhl (2016), S. 1f. Vgl. Hofstadler (2007)

8 Zur Relevanz der Baulogistikplanung

81

• Baulogistikplanung: Analysen von Verkehrsflüssen einschließlich der Ermittlung der notwendigen Anzahl und Beschaffenheit von Warte- und Ladezonen, Erstellung von Baulogistikhandbüchern sowie Aufstellung von Leistungsbeschreibungen für die Baulogistik. • Baulogistikkoordination: Umsetzung der Baulogistikhandbücher. • Baustellensicherheit: Zutrittskontrolle, Wachschutz sowie Arbeits- und Gesundheitsschutz. • Versorgungslogistik: Einrichtung von Warte- und Ladezonen, Buchungssysteme für alle logistischen Ressourcen, Lieferverkehrssteuerung, Etagenlogistik. • Entsorgungslogistik: Aufstellung von Konzepten zur Abfallentsorgung einschließlich der Gestellung von Abfallbehältern, der Kontrolle und der Abrechnung der angefallenen Abfallmassen. • Baustelleneinrichtung: Gestellung der Elemente der Baustelleneinrichtung, Flächenmanagement auf der Baustelle. Auf Basis der Anforderungen wurde die folgende Definition der Baulogistik aufgestellt: „Baulogistik ist, ausgehend von der Flussanalyse und -prognose der erforderlichen Transfers für den Produktionsprozess, die Initiierung, Planung, Integration sowie Ausführung der erforderlichen Leistungen für die Ver- und Entsorgung der Baustelle und gleichzeitig der Rahmen der Produktionsbedingungen (Baustellenlogistik). Dabei berücksichtigt die Baulogistik unter der Prämisse der Wertschöpfung in der Regel neben den Hauptattributen Transfer, Transport und Flächen weitere Attribute wie Flächen- und Containermanagement, Abfallbewirtschaftung, Medienversorgung, Sicherheit und Schutzleistungen sowie Baugeräte. Die übergeordnete Informationslogistik durch die Baustelleninformation und zentralisierte Organisation vervollständigt diesen Rahmen. Ferner kann es zur Erfassung weiterer projektindividueller Produktionsbedingungen im Rahmen der Baulogistik als Supply Chain kommen.“3)

8.3

Basis-Prozessmodell der Baulogistik

Aus der oben angegebenen Definition ist abzuleiten, dass für die Anwendung der Baulogistik bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden sollten. Hierzu zählt zunächst das Merkmal des Prozessdenkens in der Organisationseinheit, welches seit geraumer Zeit in der Bauwirtschaft Einzug gehalten hat und welches sich in der Phase einer intensiven Fortentwicklung befindet.4) Ferner ist eine zeitvariante, den einzelnen Entwicklungsphasen eines Bauprojektes angepasste und auf die Wertschöpfung ausgerichtete Analyse der Transferprozesse, ausgewertet mithilfe individualisierter Baulogistikattribute, anzufertigen. Es versteht sich von selbst, dass die Ergebnisse der Analysestufen und die daraus abgeleiteten Maßnahmen adäquat zu dokumentieren sind. In Abb. 8-1 ist ein aus vier Entwicklungsstufen bestehendes Prozesskonzept der Baulogistik dargestellt, welches auf den Elementen der Beschaffungslogistik, der Produktionslogistik, der Entsorgungslogistik und der Informationslogistik aufbaut. Zur Umsetzung dieser Struktur ist es unter spezifischen Umständen erforderlich, eine adäquate Fachplanung Baulogistik einzurichten.

3) 4)

Ruhl/Motzko/Lutz (2018), S. 7f. Vgl. Motzko/Mehr/Klingenberger/Binder (2013), S. 4f.

82

Teil B – Baubetrieb

BAULOGISTIK BAULOGISTIKINITIIERUNG ƒ IndividuelleDefinition derBaulogistikattribute ƒ BewertungKomplexität ƒ Entscheidung Planungsinstanzfür Baulogistik

BAULOGISTIKPLANUNG ƒ Bestimmungder Baulogistikattribute ƒ Analyseder Einflussfaktoren ƒ Festlegungderfinalen Baulogistikvariante

BAULOGISTIKORGANISATION ƒ GrundlagenderVergabe Baulogistikleistungen ƒ Ausschreibungsunterlagen ƒ ZunahmeKomplexitätder Bauprojektorganisation ƒ Vertrag

BAULOGISTIKREALISIERUNG ƒ UmsetzungBaulogistikͲ handbuch ƒ Koordinationund SteuerungVersorgungsͲ undEntsorgungsströme ƒ Modifikation

Anfangsparameter BAULOGISTIKBERICHT

Übergabeparameter BAULOGISTIKKONZEPT

Übergabeparameter BAULOGISTIKHANDBUCH

Realparameter BAULOGISTIKCONTROLLING

Abb. 8-1

Prozesskonzept der Baulogistik5)

Bereits zu Beginn der Planungsprozesse ist die Entwicklungsstufe Baulogistikinitiierung einzurichten, welche mit der Leistungsphase 1 Grundlagenermittlung nach HOAI gekoppelt werden kann. Substanziell sind dabei die Identifikation, die Definition sowie die Bewertung der projektindividuellen Baulogistikattribute. Die Auswertung dieser Attribute bildet die Grundlage für die bauherrenseitige Entscheidung, ob zur Ergänzung der Objektplanung eine gesonderte Fachplanung Baulogistik einzurichten ist. Für den Fall der Notwendigkeit der Einrichtung dieser gesonderten Fachplanung erfolgt die Initiierung der Entwicklungsstufe Baulogistikplanung. In dieser Entwicklungsstufe wird in iterativen und phasenübergreifenden Vorgängen das dokumentierte und für alle Bauprojektbeteiligten verbindliche Baulogistikkonzept erarbeitet. Die Entwicklung dieser Planungsleistung kann sich bis zur Leistungsphase 4 Genehmigungsplanung nach HOAI erstrecken und Bestandteil der Genehmigungsunterlagen werden. Von besonderer Relevanz ist die Erarbeitung des Baulogistikhandbuchs, welches in der Entwicklungsstufe der Baulogistikorganisation generiert wird, den Organisationsrahmen der Baustelle bildet und die baulogistischen Regeln für alle Bauprojektbeteiligten definiert. Planerisch kann es die Leistungsphase 5 Ausführungsplanung sowie die Leistungsphase 6 Vorbereiten der Vergabe nach HOAI umfassen. Die Phase der Baulogistikrealisierung einschließlich des Baulogistikcontrollings umfasst die Prozesse der Umsetzung, der Kontrolle und der Steuerung der Regeln des Baulogistikhandbuchs.

8.4

Baulogistikattribute und ihre Bewertung

Wie zuvor ausgeführt wurde, sind für jedes Bauprojekt spezifische Baulogistikattribute zu identifizieren und deren Komplexität im Sinne der durchzuführenden baulogistischen Analysen zu bewerten. Folgende Baulogistikattribute wurden als Mindestmenge identifiziert:6) • Transport: Bewertung von Merkmalen mit Bezug zur Anbindung an das bestehende Straßennetz, die Verkehrssicherung und die Transportwege innerhalb des Baustellenraums selbst. • Flächenmanagement: Bewertung der Nutzungsmöglichkeiten des Baustellenraums, die raumzeitliche Disposition der Baustelleneinrichtungselemente einschließlich solcher Größen wie Flächenbedarfe für den Katastrophenschutz oder für die Mobilität der auf der Baustelle tätigen Arbeitskräfte. 5) 6)

Vgl. Ruhl/Motzko/Lutz (2018), S. 10 Vgl. Ruhl (2016), S. 115f.

8 Zur Relevanz der Baulogistikplanung

83

• Containermanagement: Bewertung der Bedarfe an Büro-, Sozial- und Magazincontainern sowie von weiteren notwendigen Räumlichkeiten für die Funktionstüchtigkeit der Baustelle. • Abfallbewirtschaftung: Bewertung der aus den Bau- und Rückbauprozessen entstehenden Baurestmassen- und Rückbauentsorgungsmassenströmen unter Würdigung der Vorgaben des Kreislaufwirtschaftsgesetzes und weiterer Rechtsnormen. • Organisation und Information: Bewertung der organisatorischen Regelungen wie Kompetenzzuordnung, Baustellenbetriebszeiten, Kontrollen, Sanktionen, Haftung sowie die Informationsdistribution. • Medienversorgung: Bewertung der für den Betrieb einer Baustelle erforderlichen Versorgung mit Größen wie elektrischer Strom, Wasser, Druckluft, Treibstoffe und Kommunikationsnetze. • Sicherheit und Schutzleistungen: Bewertung der Anforderungen einerseits bezüglich der Absicherung des Baustellenraums gegen unbefugtes Betreten und Handeln sowie anderseits der Einwirkungen der Baustellenprozesse auf die Umgebung. • Geräte: Bewertung der Leistungen, der Nutzungsbedingungen sowie der gegenseitigen Abhängigkeiten der Betriebsmittel auf der Baustelle. Unter Anwendung der Methodik des Entscheidungsnetzes kann die zu erwartende Komplexität der Baulogistikattribute mithilfe einer Skala von 1 bis 5 bewertet werden: • Zu erwartende Komplexität dieser Kategorie = keine, das entspricht 0 Punkten; Zu erwartende Komplexität dieser Kategorie = sehr gering, das entspricht 1 Punkt; • Zu erwartende Komplexität dieser Kategorie = gering, das entspricht 2 Punkten; • Zu erwartende Komplexität dieser Kategorie = durchschnittlich, das entspricht 3 Punkten; • Zu erwartende Komplexität dieser Kategorie = hoch, das entspricht 4 Punkten; • Zu erwartende Komplexität dieser Kategorie = sehr hoch, das entspricht 5 Punkten. In Abb. 8-2 ist das Beispiel der Bewertung von Baulogistikattributen für ein Bauprojekt dargestellt.

84

Teil B – Baubetrieb

ENTSCHEIDUNGSNETZDERBAULOGISTIK Beispiel:InnerstädtischerHochbau RheinͲMainͲMetropole(2013) TRANSPORT SONSTIGELEISTUNGEN

GERÄTE

SICHERHEITUNDSCHUTZLEISTUNG

MEDIENVERSORGUNG

Abb. 8-2

FLÄCHENMANAGEMENT

CONTAINERMANAGEMENT

ABFALLBEWIRTSCHAFTUNG

ORGANISATIONUNDINFORMATION

Visualisierung der Ergebnisse der Komplexität von Baulogistikattributen im Entscheidungsnetz7)

Aus der Analyse der Komplexität der einzelnen Baulogistikattribute dieser Abbildung (siehe Abb. 8-2) kann abgeleitet werden, dass das analysierte Bauprojekt insgesamt eine hohe baulogistische Komplexität aufweist und die Einrichtung einer Fachplanung Baulogistik neben der Objektplanung zu empfehlen ist.

8.5

Baulogistikrealisierung

Das Baulogistikhandbuch bildet das zentrale Dokument in der Phase der Baulogistikrealisierung. Hierin sind die Baulogistikprozesse präzise definiert und den jeweiligen Prozessverantwortlichen zugewiesen. Daraus resultieren Einflüsse auf die Kalkulation, die Preisbildung sowie die Terminplanung der beteiligten Unternehmen. Abb. 8-3 beinhaltet ein Muster für die verschiedenen Entscheidungspfade der Handhabung und Zuordnung von baulogistischen Leistungen innerhalb einer Bauprojektorganisation. Der Abbildung ist zu entnehmen, dass für den Fall einer geringen Baulogistikkomplexität die Erstellung eines Baulogistikkonzepts nicht erforderlich ist und damit die Anfertigung eines Baulogistikhandbuchs sowie die Vergabe von baulogistischen Leistungen an entsprechende Fachinstanzen entfallen. Bereits für den Fall einer durchschnittlichen oder vereinzelt hohen Komplexität werden ein Baulogistikkonzept sowie ein Baulogistikhandbuch erstellt. Auf dieser Basis wird die Entscheidung getroffen, ob die baulogistischen Leistungen durch den Objektplaner oder durch einen separaten Fachplaner Baulogistik zu erbringen sind. 7)

Vgl. Ruhl (2016), S. 124f.

8 Zur Relevanz der Baulogistikplanung

Abb. 8-3

85

Organisationsformen der baulogistischen Leistungen8)

Hinsichtlich der Baulogistikattribute Transport und Flächenmanagement sind während der Baulogistikrealisierung folgende Schwachstellen zu identifizieren:9) • • • •

Fehlende und verspätete Anlieferungen Wartezeiten der Lieferfahrzeuge bei der Entladung Mangelhaftes Lagerflächenmanagement Einbau und Verarbeitung mangelhafter, beschädigter oder falscher Baustoffe und Bauelemente

Die Ursachen sind vielfältig. Die Hauptgründe in Bezug auf den eigentlichen Transport und das Flächenmanagement sind:10) • • • •

Fehlende und falsche Informationen Mangelhafte und dezentrale Anlieferungsorganisation Vielzahl an Anlieferungen respektive daran Beteiligter Hohe Lagerbestände durch zu frühe Bestellungen sowie Bestellungen zu großer Mengen

Für die Dauer der Zwischenlagerung respektive der Lagerbestände auf der Baustelle publiziert Kaiser eine allgemeine, durchschnittliche Dauer von 20 Arbeitstagen.11) Um diese Einflüsse detaillierter zu quantifizieren, werden am Institut für Baubetrieb der TU 8) 9) 10) 11)

Vgl. Ruhl (2016), S. 187 Vgl. Krauß (2005), S. 3f. Vgl. ebd. Vgl. Kaiser (2013), S. 56

86

Teil B – Baubetrieb

Darmstadt derzeit auf mehreren Baustellen Liege- respektive Lagerzeiten von Baustoffen und Bauelementen ermittelt. Außerdem wird die Zuverlässigkeit und Nutzung von Avisierungsprogrammen im Zuge der Versorgungslogistik analysiert. Neben Folgen auf Kosten und Termine wirken sich die vorgenannten Punkte auch direkt auf die Ausführungsprozesse aus. Durch ein fehlendes Flächenmanagement auf Baustellen erhöhen sich Wegezeiten und Suchvorgänge.12) Kaiser stellte fest, dass innerhalb eines acht stündigen Arbeitstages durchschnittlich eineinhalb Stunden für Wege, die hauptsächlich mit Suchaufwendungen und zusätzlichem Abstimmungsbedarf in Zusammenhang stehen, aufgewendet werden.13) Untersuchungen von Blömecke14) zeigen, dass insbesondere im Bereich der Baulogistik erhebliches Verbesserungspotenzial für eine effizientere Gestaltung des Bauablaufs liegt. Es ist zu beobachten, dass im Schlüsselfertigbau nur 31 % der Arbeitszeit für Haupttätigkeiten aufgewendet werden. Die restlichen 69 % bestehen aus Neben- sowie Zusatztätigkeiten und weisen einen hohen Anteil an logistischen Prozessen auf. Diese Prozesse sind im Besonderen Wege- und Transportzeiten sowie Such- und Räumvorgänge. Guntermann15) bestätigt in ihrer Diplomarbeit, dass fast ein Drittel der Tätigkeiten durch logistische Maßnahmen beeinflussbar respektive von der Baulogistik abhängig sind. Die o.g. Darstellungen führen zu der Erkenntnis und der Forderung, dass die Baulogistik methodisch neu gedacht werden sollte. Es werden ganzheitliche und zentral gesteuerte Versorgungs- und Entsorgungskonzepte im Sinne einer Supply-Chain im Bauwesen postuliert. Des Weiteren wird hierdurch ein Intergral der Baulogistikplanung und Baulogistikausführung initiiert und unterstützt. Verstärkt wird dieses Potenzial durch Anforderungen aus der Lean Construction und den immer komplexeren Bauprojekten mit einer Vielzahl unterschiedlicher Gewerke und zu liefernder Güter.

8.6

Baulogistische Aspekte bei der Arbeitsplatzgestaltung im Kontext der Lean Construction

Die Lean Construction ist ein kundenorientierter Ansatz zur kontinuierlichen Verbesserung der betrieblichen Prozesse mit dem Ziel, die vertraglich vereinbarte Qualität bei mehr Kostensicherheit und Termintreue zu ermöglichen. Im Fokus steht die Wertschöpfung. Die Verschwendung16) ist zu reduzieren und der erreichte Zustand zu etablieren.17) Die Wertschöpfung eines Bauunternehmens erfolgt in den Leistungserstellungsprozessen.18) Diese werden durch die Definition von Arbeitssystemen ganzheitlich erfasst.19) Der Aufbau und die Verbesserung von Arbeitssystemen im Hinblick auf Funktionalität, Wirtschaftlichkeit, Zuverlässigkeit, Ökologie, Nutzerfreundlichkeit und Sicherheit werden durch die Arbeitssystemgestaltung beschrieben. Diese beinhaltet u.a. logistische 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18) 19)

Vgl. Kaiser (2013), S. 57 Vgl. Kaiser (2013), S. 58 Vgl. Blömecke (2001), S. 77 Vgl. Guntermann (1997), S. 86ff. Verschwendung ist aus Sicht des Kunden alles, was keinen Wert erzeugt (z.B. Wartezeiten, Nacharbeiten, unnötige Transporte oder überflüssige Personenbewegungen). Vgl. Gorecki/Pautsch (2014), S. 17f. Vgl. Gorecki/Pautsch (2014), S. 17f. Vgl. Girmscheid/Motzko (2013), S. 6 Vgl. Motzko/Mehr/Bergmann/Boska/Boska (2010), S. 88

8 Zur Relevanz der Baulogistikplanung

87

Aspekte.20) Bestandteil der Arbeitssystemgestaltung ist die Gestaltung des Arbeitsplatzes. Der Arbeitsplatz ist der räumliche Bereich, in dem ein Arbeitssystem angeordnet ist.21) Die Arbeitsplatzgestaltung umfasst den arbeitsunterstützenden Aufbau des Arbeitsplatzes und beinhaltet beispielsweise die Anordnung von Betriebsmitteln, Lagerflächen und der Beleuchtung.22) Sie soll die Arbeitsbelastung des arbeitenden Menschen in den vorgegebenen Grenzen halten bei gleichzeitiger Steigerung der Produktivität mit dem Ziel, die Leistungsfähigkeit des gesamten Arbeitssystems und die damit verbundene Wertschöpfung zu erhöhen.23) Die Arbeitsplatzgestaltung im Sinne der Lean Construction folgt bestimmten Prinzipien. Diese sind im Wesentlichen:24) • Transparenz in der Zusammenarbeit in Bauprojektorganisationen durch eindeutige Definition von Schnittstellen sowie Zuordnung von Arbeit und Verantwortung auf Grundlage entsprechender Verträge • Verschwendungsreduzierung durch die Förderung wertschöpfender Prozesse und die Regulierung von Materialbeständen • Erzeugung eines Fertigungsflusses mit zeitlich und räumlich eindeutig getakteten Arbeitspaketen • Verbrauchsgerechte Disposition adäquater Daten, Informationen und Materialien nach dem Holprinzip • Zeitnahe Plan-SOLL-IST-Vergleiche zur Steuerung der Prozesse und zur Ableitung von Maßnahmen zur Prozessverbesserung Eine strukturierte Logistik schafft die Voraussetzung für einen reibungslosen Ablauf bei der Leistungserstellung und trägt maßgeblich zur Verbesserung von Personal-, Materialund Informationsflüssen und damit zur Kostensenkung bei. Ziel ist die Ver- und Entsorgung der Baustellen mit dem richtigen Teil, in der richtigen Qualität, zum richtigen Zeitpunkt, in der richtigen Menge, am richtigen Ort.25) Aufbauend auf den Studien von Blömeke u.a. wurden weitere Schwachstellenanalysen im Schlüsselfertigbau am Institut für Baubetrieb der TU Darmstadt durchgeführt, welche die Ergebnisse bestätigen bzw. ergänzen. Beispielsweise wurde festgestellt, dass Ausbaugewerke mit einem hohen Materialbedarf maßgeblich für die Nichteinhaltung von Terminen während der Bauausführung verantwortlich sind. Dies führt zu Störungen und daraus resultierenden Verzögerungen im Bauablauf.26) Auf Grundlage der durchgeführten Untersuchungen lassen sich folgende baulogistische Ansätze für die Gestaltung von Arbeitsplätzen im Kontext der Lean Construction ableiten: • • • •

Just-in-time-Anlieferung Verbrauchsgerechte Materialdisposition pro Taktbereich Eindeutige Identifikation und Lokalisierung der Materialien Systematische Lagerung – kleine Bestände auf vorgegebenen, arbeitsnahen Lagerflächen • Materialtransport direkt an den Einbauort – keine mehrfache Zwischenlagerung auf der Baustelle 20) 21) 22) 23) 24) 25) 26)

Vgl. https://refa-consulting.de/arbeitssystemgestaltung-refa Datum des Zugriffs: 13.05.2019 Vgl. DIN EN ISO 6385 (2004), S. 5 Vgl. https://refa-consulting.de/arbeitsplatz Datum des Zugriffs: 13.05.2019 Vgl. http://www.refa.de/lexikon/arbeitsplatzgestaltung Datum des Zugriffs: 13.05.2019 Vgl. Motzko/Richter (2019), S. 102 Vgl. Schach/Schubert (2009), S. 59 Im Rahmen einer Untersuchung wurde die Implementierung der Lean Construction am Beispiel eines Wohnungs bauprojektes erforscht. Vgl. Steffens (2016), S. 98

88

• • • • • •

Teil B – Baubetrieb

Fachgerechter Transport und Lagerung der Materialien Materialtransport mit technischen Hilfsmitteln Ver- und Entsorgung der Lagerflächen nicht durch Facharbeiter Kurze Wege zwischen Arbeitsplatz, Lagerflächen und Bauleitung Ortsunabhängige Bereitstellung von Informationen (in Echtzeit) Bewegungsfreiheit, freie Transport- und Fluchtwege – Arbeitssicherheit, Ordnung und Sauberkeit

Die logistischen Prozesse unterstützen die wertschöpfenden Leistungserstellungsprozesse, sind aber selbst nicht wertschöpfend. Das Ziel ist es, den Anteil der wertschöpfenden Haupttätigkeiten zu erhöhen, die notwendige Verschwendung27) zu reduzieren und die offensichtliche Verschwendung28) zu eliminieren. Dies schließt die Regulierung der Materialbestände ein.29)

8.7

Ansätze zur Anwendung des Warenverteilzentrums

Um den zuvor beschriebenen Prinzipien der Lean Construction gerecht zu werden und die Baulogistikrealisierung ganzheitlich zu verbessern, wird am Institut für Baubetrieb der TU Darmstadt unter anderem das Konzept eines Warenverteilzentrums (WVZ) in der Bauwirtschaft verfolgt und untersucht. Im Fokus des Konzepts des WVZ stehen die Lokalisierung und die Bestände der Materialien im WVZ und auf der Baustelle sowie die einzelnen Transportvorgänge zum WVZ respektive zur Baustelle und auf der Baustelle selbst. Diese Informationen sollten in Echtzeit vorliegen. Durch die Integration eines Warenverteilzentrums innerhalb der Baulogistik entsteht ein weiterer Knoten innerhalb des baulogistischen Netzwerkes.30) Dieser Knoten ist der Versorgungslogistik der Baustelle vorgelagert. Ebenso ist ein nachgelagerter Knoten bei der Entsorgungslogistik möglich. Im weiteren Verlauf wird sich auf die Diskussion eines vorgelagerten Knoten konzentriert. Der vorgelagerte Knoten kann zu einer verbesserten Versorgungslogistik der Baustelle führen. Der Materialabruf erfolgt vom zuständigen Baustellenpersonal. Die Lieferung wird nicht direkt auf die Baustelle, sondern in das WVZ geliefert31). Der Lieferumfang kann, ohne Auswirkungen auf die Baustelle, individuell für jedes Gewerk nach der wirtschaftlichsten und ökologischsten Auslastung der LKW respektive der wirtschaftlichsten Bestellmenge ausgerichtet werden. Die Menge der eingelagerten Materialien im WVZ sollte nach Lundesjö32) den Materialbedarf von 14 Tagen nicht überschreiten und damit verhindern, dass durch das WVZ ein großes Vorratslager entsteht. Der Schwerpunkt des WVZ liegt auf der logistischen Konsolidierung der Materialien. Die Prozesse in einem WVZ sind, in zeitlicher Abfolge, die Warenannahme und der Wareneingang, die Lagerung und Kommissionierung sowie die Auftragszusammen27) 28) 29) 30) 31)

32)

Notwendige Verschwendung bezeichnet Tätigkeiten, die den Wert des Produktes nicht erhöhen, aber unter den vorhandenen Arbeitsbedingungen ausgeführt werden müssen. Vgl. Ohno (2009), S. 95f. Offensichtliche Verschwendung bezeichnet Tätigkeiten, die den Wert des Produktes nicht erhöhen und für die Arbeit überflüssig sind. Vgl. Ohno (2009), S. 95f. Vgl. Motzko/Richter (2019), S. 102 Vgl. Pfohl (1972), S. 18 Aktuell werden am Institut für Baubetrieb der TU Darmstadt Forschungsvorhaben initiiert, die untersuchen, welche Materialien für ein WVZ geeignet sind und welche Materialien eine Herausforderung darstellen oder ungeeignet für das Konzept des WVZ sind. Vgl. Lundesjö (2015), S. 228

8 Zur Relevanz der Baulogistikplanung

89

fassung, die Verpackung und der Warenausgang mit dem Versand der Materialien. Die Kommissionierung ist auf Grund ihrer hohen Bedeutung hervorzuheben. Die vorgelagerte Kommissionierung im WVZ ermöglicht eine verbrauchsgerechte Disposition der Materialien nach dem Holprinzip. Die Materialien können pro Taktbereich respektive auf den Tagesbedarf abgestimmt, just-in-time und direkt an den Einbauort geliefert werden. Die üblichen Just-in-time-Lieferungen im Bauwesen durch die Hersteller können zu unausgelasteten LKW oder einer nicht bedarfsgerechten Versorgung führen. Aus der nicht bedarfsgerechten Versorgung resultieren Lagerbestände, die das Prinzip der Just-in-timeLieferung konterkarieren. Außerdem sind externe Just-in-time-Lieferungen schwer steuerbar und dezentral organisiert. Im WVZ kann der Tagesbedarf verschiedener Gewerke auf einem LKW gebündelt werden und führt zu deren durchgängigen Auslastung. Die Ausprägung eines WVZ kann stark variieren. Es können prinzipiell drei Arten von WVZ unterschieden werden. Die erste Möglichkeit ist ein „verstecktes“ oder „verborgenes“ WVZ auf der Baustelle. Diese Möglichkeit ist in der Regel bei großflächigen Baustellen ohne kritische verkehrliche Umgebungssituation möglich. Als weitere Möglichkeit ist ein WVZ außerhalb des Projektraums realisierbar. Hier ist zu unterscheiden, ob das WVZ für eine oder mehrere Baustellen eingerichtet wird. Für die Transport-, Umlager- und Lagerprozesse in Verbindung mit der Kommissionierung sind projekt- und produktspezifisch verschiedene Ansätze und Lösungen zu diskutieren. Diese Entscheidungen haben unmittelbare Auswirkungen auf das Lagerlayout und die Lagerdimensionierung. Der Standort des WVZ muss innerhalb des Spannungsfeldes zwischen verkehrsgünstiger Lage für die Anlieferung und der trotzdem zentralen Baustellennähe diskutiert und abgewogen werden. Durch die Implementierung eines WVZ sind zusammenfassend folgende Potenziale erkennbar: • • • • • • • • • •

Reduzierung des Lieferverkehrs (Fahrzeuganzahl und gefahrene Kilometer) Reduzierung von verspäteten Lieferungen Höhere Fahrzeugauslastung Weniger Wartezeiten der Lieferfahrzeuge bei der Entladung Weniger Such- und Transportzeiten auf der Baustelle, prozentuale Erhöhung der Haupttätigkeiten Verbrauchs- und termingerechte Materialdisposition pro Taktbereich respektive Arbeitsplatz direkt an den Einbauort Systematische, arbeitsplatznahe Lagerung kleiner Bestände Keine Zwischenlagerungen auf der Baustelle Materialtransport mit technischen Hilfsmitteln durch Logistiker Eindeutige Identifikation und Lokalisierung der Materialien

Das WVZ ermöglicht: • • • •

Verbesserung des Monitorings des Materialflusses Verbesserung zeitnaher SOLL-IST-Vergleiche Zentrale Organisation der Baulogistik Digitalisierung des Materialflusses

90

8.8

Teil B – Baubetrieb

Aktuelle Trends

Die Vernetzung der Leistungserstellungsprozesse und deren Steuerung in Echtzeit fördern die Reduzierung von Verschwendung und die Umsetzung der Prinzipien der Lean Construction. In diesem Zusammenhang wird zurzeit am Institut für Baubetrieb der TU Darmstadt in Kooperation mit Partnern aus der Wirtschaft erforscht, inwieweit digitale Technologien die zuvor beschriebenen baulogistischen Ansätze unterstützen können. Hierzu wird der Einsatz von IoT-Funksystemen (Internet of Things) beprobt. Im Rahmen der Forschung wurden verschiedene Anwendungsfälle definiert. Diese beziehen sich u.a. auf die Entwicklung eines sensorgestützten Förderhilfsmittels in Form einer intelligenten Palette für den Materialtransport. In einem Laborversuch wurde die raumweise Positionsbestimmung der Palette in einem Gebäude sowie deren Gewichtsbelastung erfolgreich erprobt. Die Datenübertragung erfolgte mit verschiedenen IoT-Funksystemen. Diese sind anwendungsspezifisch auszuwählen. Für die Positionsbestimmung wurde die Funktechnologie LoRa (Long Range) in Kombination mit Bluetooth Low Energy (BLE) verwendet. Zudem wurde die Palette zur Gewichtserfassung mit einem Gewichtssensor (sog. Wägezelle) ausgestattet. Die Funktechnologie LoRa zeichnet sich durch die große Reichweite, den geringen Energieverbrauch, die sichere Datenübertragung, den offenen Standard und die Fähigkeit der Durchdringung von Gebäuden aus. Die gewonnenen Positions- und Gewichtsdaten wurden in Form eines Dashboards visualisiert. Die intelligente Palette wird stetig weiterentwickelt. Als nächster Entwickelungsschritt wird aktuell die örtliche Erfassung vom Produktionsort bis zum Einbauort vorangetrieben. Außerdem soll durch einen ereignisbasierten Sensor der Einbau des Produktes festgestellt werden. Für die Baufortschrittskontrolle wird zudem der Einsatz polysensoraler Systeme angestrebt. Ergänzend wird die Verknüpfung der IoT-Funksysteme mit der Arbeitsmethode Building Information Modeling (BIM) untersucht. Hierzu wird das Bauwerksmodell mit den ISTDaten von IoT-Funksystemen ergänzt. Dies lässt einen zeitnahen SOLL-IST-Vergleich zu. Bezogen auf den Anwendungsfall der intelligenten Palette soll diese im Bauwerksmodell angelegt und mit Informationen über beispielsweise zu transportierendes Material, Einbauort und Einbauzeitpunkt versehen werden. Diese Informationen sollen mit den übermittelten Positions- und Gewichtsdaten verglichen werden, um Rückschlüsse auf den Baufortschritt, den Materialfluss oder die Produktivität zu ermöglichen. Die Ortungsfunktion lässt sich zudem auf Betriebsmittel und Arbeitskräfte übertragen, um beispielsweise die Suche nach Geräten zu vereinfachen oder die Kapazitäten am Arbeitsplatz zu ermitteln. Hierbei sind die Bestimmungen des Datenschutzes zu beachten.

8.9

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag zeigt, dass die Baulogistik zu den Basisfaktoren für eine sachund fachgerechte Realisierung von Bauprojekten zählt. Damit die Beschaffungslogistik, Produktionslogistik, Entsorgungslogistik und Informationslogistik im Bauprojekt adäquat funktionieren, ist eine individualisierte Baulogistik zu betreiben. Sie sollte phasenorientiert aufgebaut werden. Die dabei entwickelten Konzepte und Maßnahmen sollen entsprechend dokumentiert werden. Das Basisdokument bildet das Baulogistikhandbuch, in dem die Rechte und Pflichten der Baubeteiligten definiert werden. Gleichzeitig wird auf dieser

8 Zur Relevanz der Baulogistikplanung

91

Grundlage die Steuerung der Baulogistikrealisierung vorgenommen. Es ist zu empfehlen, die Baulogistik um weitere Methoden und Konzepte zu ergänzen. Wertvolle Ansätze können dem Lean Management beispielsweise bei der Arbeitsplatzgestaltung entnommen werden. Ferner können ergänzende Konzepte wie das Konzept des Warenverteilzentrums die Komplexität baulogistischer Vorgänge beherrschbarer machen. Die Anwendung digitaler Technologien in Form des IoT sowie von polysensoralen Systemen, welche durch entsprechende Auswertungsalgorithmen operationalisiert werden, können maßgeblich zur Ergonomisierung der Baulogistik beitragen.

8.10

Abkürzungsverzeichnis

Abb.

......................... Abbildung

BIM

......................... Building Information Modeling

BLE

......................... Bluetooth Low Energy

bzw.

......................... beziehungsweise

f.

......................... folgende (Seite)

ff.

......................... folgende (Seiten)

HOAI

......................... Honorarordnung für Architekten und Ingenieure

Hrsg.

......................... Herausgeber

IoT

......................... Internet of Things

ISBN

......................... Internationale Standardbuchnummer

LKW

......................... Lastkraftwagen

LoRa

......................... Long Range

o.g.

......................... oben genannt

REFA

......................... Verband für Arbeitsstudien, Betriebsorganisation und Unternehmensentwickung

S.

......................... Seite

sog.

......................... sogenannt

TU

......................... Technische Universität

u.a.

......................... und anderen / unter anderem

vgl.

......................... vergleiche

WVZ

......................... Warenverteilzentrum

z.B.

......................... zum Beispiel

92

8.11

Teil B – Baubetrieb

Literaturverzeichnis

Blömeke, Michael (2001). Die Baustellenlogistik als neues Dienstleistungsfeld im Schlüsselfertigbau – Grundlegende Entwicklung eines systematisierten Logistikkonzeptes und dessen Umsetzung am Bauvorhaben Konzerthaus Dortmund. Diplomarbeit. Dortmund. Fakultät Bauwesen der Universität Dortmund. DIN EN ISO 6385 (Ausgabe: Mai 2004). Grundsätze der Ergonomie für die Gestaltung von Arbeitssystemen. Girmscheid, Gerhard; Motzko, Christoph (2013). Kalkulation, Preisbildung und Controlling in Bauunternehmen. Berlin, Heidelberg. Springer Vieweg. (ISBN 978-3642-36636-9) Gorecki, Pawel; Pautsch, Peter (2014). Praxisbuch Lean Management – Der Weg zur operativen Excellence – 2. Auflage. München. Carl Hanser Verlag. (ISBN 978-3-44644221-4) Guntermann, Beate (1997). Schlüsselfertiges Bauen – Logistik im Ausbau bei schlüsselfertiger Bauausführung. Diplomarbeit. Dortmund. Fakultät Bauwesen der Universität Dortmund. Hofstadler, Christian (2007). Bauablaufplanung und Logistik im Baubetrieb. Berlin, Heidelberg, New York. Springer Verlag. (ISBN-13 978-3-540-34320-2) Kaiser, Jörg (2013). Lean Process Management in der operativen Bauabwicklung. In: Schriftenreihe des Instituts für Baubetrieb, Band D 65. Hrsg.: Motzko, Christoph. Darmstadt. Eigenverlag. Zugleich: Dissertation. Darmstadt. Institut für Baubetrieb der Technischen Universität Darmstadt. (ISBN 978-3-941925-14-4) Krauß, Siri (2005). Die Baulogistik in der schlüsselfertigen Ausführung. Berlin. Bauwerk Verlag. (ISBN 3-89932-115-4) Lundesjö, Greger (2015). Supply chain management and logistics in construction – delivering tomorrow´s built environment. London, Philadelphia. Kogan Page Limited. (ISBN 978-0-7494-7242-9) Motzko, Christoph; Mehr, Oliver; Bergmann, Matthias; Boska, Eric; Boska, Penelope (2010). Eine Ontologie für die Baubetriebswissenschaft. In: Tagungsbeiträge – Tag des Baubetriebs 2010 – Modellierung von Prozessen zur Fertigung von Unikaten – Forschungsworkshop zur Simulation von Bauprozessen. Schriften der Professur Baubetrieb und Bauverfahren. Hrsg.: Bargstädt, Hans-Joachim. S. 85-90. Weimar. Eigenverlag. Motzko, Christoph; Mehr, Oliver; Klingenberger, Jörg; Binder, Florian (2013). Grundlagen des Prozessmanagements. In: Praxis des Bauprozessmanagements – Termine, Kosten und Qualität zuverlässig steuern. Hrsg.: Motzko, Christoph. S. 1-35. Berlin. Wilhelm Ernst & Sohn Verlag. (ISBN 978-3-433-03007-3) Motzko, Christoph; Richter, Pia (2019). Anwendung der Lean Construction in der Bauablaufsteuerung – Praxisbeispiele. In: Tagungsband – 17. Grazer Baubetriebs- und Bauwirtschaftssymposium – Reduktion von Bauablaufstörungen und systematischer Umgang mit Mehrkostenforderungen – Baubetriebliche, bauwirtschaftliche und rechtliche Aspekte. Hrsg.: Hofstadler, Christian; Heck, Detlef; Kummer, Markus. S. 101114. Graz. Verlag der Technischen Universität Graz. (ISBN 978-3-85125-658-1) Ohno, Taiichi (2009). Das Toyota-Produktionssystem – 2. Auflage. Frankfurt. Campus Verlag. (ISBN 978-3-593-38836-6)

8 Zur Relevanz der Baulogistikplanung

93

Pfohl, Hans-Christian (1972). Marketing-Logistik – Gestaltung, Steuerung und Kontrolle des Warenflusses im modernen Markt. Mainz. Distribution Verlag. REFA Bundesverband e.V.; REFA AG. Arbeitsplatzgestaltung. (Online unter: http://www.refa.de/lexikon/arbeitsplatzgestaltung. Datum des Zugriffs: 13.05.2019) REFA Consulting AG. Arbeitsplatz. (Online unter: https://refa-consulting.de/arbeitsplatz. Datum des Zugriffs: 13.05.2019) REFA Consulting AG. Arbeitssystemgestaltung. (Online unter: https://refaconsulting.de/arbeitssystemgestaltung-refa. Datum des Zugriffs: 13.05.2019) Ruhl, Fabian (2016). Entwicklung eines Baulogistikprozessmodells. In: Schriftenreihe des Instituts für Baubetrieb, Band D 74. Hrsg.: Motzko, Christoph. Darmstadt. Eigenverlag. Zugleich: Dissertation. Darmstadt. Institut für Baubetrieb der Technischen Universität Darmstadt. (ISBN 978-3-941925-24-3) Ruhl, Fabian; Motzko, Christoph; Lutz, Peter (2018). Baulogistikplanung – Schnelleinstieg für Bauherren, Architekten und Fachplaner. Wiesbaden. Springer Vieweg. (ISBN 978-3-658-23231-3) Schach, Rainer; Schubert, Nadine (2009). Logistik im Bauwesen. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden, Band 58, Heft 1-2. S. 59-63. Dresden. Eigenverlag. Steffens, Carsten (2016). Implementierung der Lean Construction am Beispiel eines Wohnungsbauprojektes. Masterthesis. Darmstadt. Institut für Baubetrieb der Technischen Universität Darmstadt.

9

Arbeitsinspektion im Wandel der Zeit Historie des Arbeitnehmerschutzes in Österreich

Dipl.-Ing. Peter Neuhold Abteilungsleiter im Zentral-Arbeitsinspektorat Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz (BMASGK) Stubenring 1 1010 Wien www.sozialministerium.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_9

96

Teil B – Baubetrieb

9.1

Abstract

Das 50 Jahre (1969 – 2019) Jubiläum des Institutes für Baubetrieb und Bauwirtschaft der technischen Universität Graz bedeutet auch 100 Jahre (1919 – 2019) Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und 135 Jahre (1884 – 2019) Arbeitsinspektion. Die Aufgaben und Weiterbildung auf dem Gebiet des sicheren und unfallfreien Bauens, ist eine Symbiose aus Ausbildung und Weiterbildung im universitären Bereich und die Umsetzung des Arbeitnehmerschutzes und der rechtlichen Vorgaben in der Praxis. Das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz hat schon früh erkannt, dass der Arbeitnehmerschutz ein wesentlicher Teil des Baubetriebs ist und auch einen bedeutenden Einfluss auf das Baugeschehen hat. Grundsätzlich gilt: Arbeitnehmerschutz ist Qualitätssicherung! Gut umgesetzter Arbeitsschutz bedeutet einen reibungsfreien Arbeitsablauf, gute Koordination, Kostenkontrolle und Termineinhaltung. Arbeitsunfälle stellen immer eine Abweichung dar. Damit diese positive Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der technischen Universität Graz weitergeht, ist es sinnvoll einen Blick zurückzuwerfen und sich die lange Geschichte und Tradition der Arbeitsinspektion, der Arbeitsschutzgesetze sowie der Sozial- und Unfallversicherungsträger ins Gedächtnis zu rufen. Und vielleicht macht es auch Sinn einen Blick in die Zukunft zu werfen, um zu sehen worin wir uns auf Grund von neuen Technologien und Bauverfahren verbessern müssen.

9.2

Situationsanalyse

In Österreich gibt es derzeit ungefähr 300 Arbeitsinspektorinnen und Arbeitsinspektoren. Im Jahr 2017 wurden 44.024 Arbeitsstätten, 12.720 Unternehmen auf Baustellen und 1.257 auswärtige Arbeitsstellen besucht. Dabei wurden 63.649 Kontrollen durchgeführt. Zusätzlich zu diesen Kontrollen überprüften die Arbeitsinspektorinnen und Arbeitsinspektoren 375.671 Arbeitstage von Lenkerinnen und Lenkern. Insgesamt mussten im Jahr 2017 1.282 Strafanzeigen erstattet werden. Dem gegenüber gibt es 2017 laut Allgemeiner Unfallversicherungsanstalt (AUVA) 3.584.595 Erwerbstätige. In der Wirtschaftsklasse F (Bau) gab es im Jahr 2017 16.518 anerkannte Arbeitsunfälle unselbständig Erwerbstätiger i.e.S. (ohne Wegunfälle) und 24 anerkannte tödliche Arbeitsunfälle unselbständig Erwerbstätiger i.e.S. (ohne Wegunfälle). Der Bau hat noch immer eine doppelt so hohe Unfallquote im Verhältnis zum Durchnitt aller Wirtschaftsklassen.1)

9.3

135 Jahre Arbeitsinspektion (1884 – 2019)

Im Jahr 1883, als man das Gesetz über die Bestellung von Gewerbeinspectoren beschloss, wurde in Prag am 3. Juli Franz Kafka geboren. Dieser sollte Jahre später in der ArbeiterUnfall-Versicherungsanstalt arbeiten, die als weitere sozialpolitische Großtat des Ministerpräsidenten Taaffe gilt. Seinem Freund Max Brod schrieb Kafka über seine Arbeit: 1)

Tätigkeitsbericht der Arbeitsinspektion 2017 und Statistik AUVA 2017

9 Arbeitsinspektion im Wandel der Zeit

97

„In meinen vier Bezirkshauptmannschaften fallen die Leute von den Gerüsten herunter, in Maschinen hinein, alle Balken kippen um, alle Böschungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus, was man hinauf gibt, das stürzt hinunter, was man herunter gibt, darüber stürzt man selbst. Und man bekommt Kopfschmerzen von diesen jungen Mädchen in der Porzellanfabrik, die unaufhörlich mit Türmen von Geschirr sich auf die Treppe werfen.“2) Tatsächlich stand es mit den Arbeitsbedingungen, trotz neuer und besserer Gesetze nicht zum Besten, noch zu jung war diese Problematik, um entsprechende Beachtung und Durchführung zu erreichen. Vielfach fanden die damaligen Gewerbeinspektoren in Betrieben Mängel vor, die heutzutage kaum vorstellbar sind.3)

9.4

Die Aufsichtsbezirke und Special-Gewerbeinspektoren

Der Handelsminister wurde mit dem Gesetz betreffend die Bestellung von Gewerbeinspectoren 1883 ermächtigt, die erforderliche Zahl von Gewerbeinspectoren und einen Central-Gewerbeinspector im Einvernehmen mit dem Minister des Inneren zu ernennen. Dem Handelsminister wurde außerdem in § 4 dieses Gesetzes die Bestellung von SpecialGewerbeinspectoren für die Aufsicht einzelner Industriezweige in übergeordneten Bezirken bzw. mehreren Ländern, eingeräumt. Anfangs war die Zahl der Gewerbeinspectoren äußerst gering. Durch die Ministerialverordnung des Handelsministers im Einvernehmen mit dem Minister des Inneren vom 30. Dezember 1883, RGBl. Nr. 5, wurden die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder in neun Aufsichtsbezirke eingeteilt (siehe Abb. 9-1).

Abb. 9-1 2) 3) 4)

Aufteilung der Aufsichtsbezirke 18844)

Vgl. Kuschel (2011), S. 28 Vgl. Kuschel (2011), S. 28 Vgl. Sozialministerium, Arbeitsinspektion

98

Teil B – Baubetrieb

Die Tätigkeit des österreichischen (k.k.) Gewerbeinspectors umfasste die Inspektion aller gewerblichen Unternehmungen eines oder mehrerer Bezirke. Er unterstand der politischen Landesbehörde, in deren Sprengel sein Amtsgebiet lag. Die ersten bestellten Gewerbeinspectoren erhielten 5.000 Gulden Gehalt im Jahr, was für die damalige Zeit ein sehr schönes Entgelt war, so dass diese Posten begehrt waren. Es konnten daher qualifizierte Fachleute der verschiedensten technischen Richtungen gewonnen werden.

9.5

108 Jahre Arbeitsinspektorat für Bauarbeiten in Wien (1911 – 2019)

9.5.1

Einsetzung des Gewerbeinspektorates für Bauarbeiten

Zu Beginn des Jahres 1909 wurden erstmals zwei dem Arbeiterstand angehörende Männer in die Gewerbeinspektion aufgenommen und zur Kontrolle des Baugewerbes eingesetzt. Schließlich wurde mittels Verordnung des Handelsministers vom 7. Mai 1911 im Einvernehmen mit dem Minister des Inneren ein eigenes „Gewerbeinspektorat für Bauarbeiten in Wien“ eingerichtet. Mit Wirkung vom 1. Juli 1911 wurde „die Ausführung von Bau-, Erdund Wasserbauarbeiten im gesamten Gemeindegebiete von Wien von der Aufsicht der Gewerbeinspektorate jener Bezirke, in welchen sich die einschlägigen Unternehmungen nach der jeweiligen Einteilung der Aufsichtsbezirke der Gewerbeinspektion befinden, ausgeschieden und für deren Überwachung ein eigenes Gewerbeinspektorat für Bauarbeiten mit dem Sitze in Wien errichtet“5). Mit Verordnung vom 7. Mai 1911 wurden die Gewerbeinspektorate auf 42 Aufsichtsgebiete aufgeteilt und bestimmt, dass neben den „Territorial-Gewerbeinspektoraten“ nunmehr insgesamt fünf „Spezial-Gewerbeinspektorate“ eingerichtet wurden. Für die Bau-, Erd- und Wasserbauarbeiten in Wien war – mit Ausnahme der baulichen Ausführung öffentlicher Verkehrsanlagen in Wien – das Gewerbeinspektorat für Bauarbeiten zuständig. Bis zum 31. Dezember 1917 war die Gewerbeinspektion dem Handelsministerium unterstellt und wurde mit 1. Jänner 1918 dem Ministerium für soziale Fürsorge eingegliedert. Die Führung der Gewerbeinspektion oblag dem k.k. Zentral-Gewerbe-Inspektor Hofrat Dipl-Ing. Viktor Würth (siehe Abb. 9-2). Dem Zentral-Gewerbe-Inspektorat gehörte neben den „zugeteilten“ Gewerbeinspektoren auch ein Sanitätskonsulent an, Dr. Oskar Ritter Wunschheim von Lilienthal. Die Aufgaben der Inspektion der für die Ausführung öffentlicher Verkehrsanlagen in Wien notwendigen Bauarbeiten erledigte der dem Zentral-Gewerbe-Inspektorat angehörende k.k. Gewerbe-Inspektor I. Klasse Walther Edmund Ehrenhofer. 1911 waren in der gesamten Gewerbeinspektion 126 und in den Kanzleien 48 Personen tätig.

5)

Vgl. Kuschel (2011), S. 28

9 Arbeitsinspektion im Wandel der Zeit

Abb. 9-2

99

Dipl.-Ing. Viktor Würth6)

Mit der Funktion des Gewerbeinspektors im Gewerbeinspektorat für Bauarbeiten wurde Ing. Richard Neudeck, damals k.k. Gewerbe-Inspektor II. Klasse, betraut. Ihm zur Seite standen der Kommissär Ing. Adolf Brenn und die beiden Bauinspizienten Franz Siegl sowie Reinhardt Heiny sowie eine Kanzleigehilfin. Der erste Amtssitz war im VIII. Wiener Gemeindebezirk in der Josefstädterstraße 7, wurde aber bereits im Jahre 1912 in die Luisengasse 21 – heute Mommsengasse – im IV. Wiener Gemeindebezirk verlegt. Im Allgemeinen Bericht des Jahres 1911 wurde ausgeführt, dass durch die Einrichtung des Gewerbe-Inspektorates für Bauarbeiten die Möglichkeit geschaffen wurde, den Betriebsstätten des gesamten Wiener Baugewerbes eine noch intensivere Inspektionstätigkeit zuwenden zu können.

9.6

1914 – 1918 Erster Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg beeinflusste auch die Gesetzgebung und den Vollzug im Bereich des Arbeitnehmer/innenschutzes. Zur Personalsituation und den Problemen aufgrund der Kriegshandlungen schreibt der damalige Zentral-Gewerbe-Inspektor in seinem Bericht aus dem Jahr 1914: „Nahezu der vierte Teil aller Aufsichtsbeamten wurde zu Kriegsdienstleistung einberufen. In den letzten Monaten des Berichtsjahres konnte die Amtstätigkeit der Gewerbe-Inspektorate Lemberg, Przemysl, Stanislau und Czernowitz infolge der Kriegslage nicht aufrecht erhalten werden [...] Andererseits sind den Gewerbe-Inspektoren zahlreiche, durch den Krieg bedingte neue Aufgaben zugewiesen worden.“7) Auch am Gewerbeinspektorat für Bauarbeiten ging der Krieg nicht spurlos vorüber. Waren in den Jahren 1911 bis 1914 neben dem Gewerbe-Inspektor Ing. Richard Neudeck, ab 1912 k.k. Gewerbeinspektor I. Klasse, noch weitere drei Assistenten beschäftigt, reduzierte sich der Beschäftigtenstand 1915 auf drei Beschäftigte und war in den Kriegsjahren 1917 bis 1918 das Gewerbeinspektorat für Bauarbeiten überhaupt nicht besetzt. 6) 7)

Vgl. Sozialministerium, Arbeitsinspektion Vgl. Kuschel (2011), S. 28

100

9.7

Teil B – Baubetrieb

Von der Gewerbe- zur Arbeitsinspektion

Mit Beschluss des österreichischen Nationalrates wurde am 3. Juli 1947 das neue Arbeitsinspektionsgesetz erlassen. In seinen Inhalten stellt sich dieses Gesetz als konsequent weitergeführtes Gewerbeinspektionsgesetz 1921 dar. Der Wirkungsbereich der Aufsichtsbehörde wurde erweitert und aus diesem Grund auch die umfassendere Bezeichnung „Arbeitsinspektion“ gewählt. Obwohl das neue Arbeitsinspektionsgesetz im September 1947 in Kraft trat und der Begriff des „Arbeitsinspektors“ im nächsten Jahr schon seinen 65. Geburtstag feiert, werden die Arbeitsinspektor/innen fallweise immer noch als „Gewerbeinspektor“ bzw. „Gewerbeinspektorin“ bezeichnet. Dieser Begriff gehörte immerhin von 1883 bis 1947 zum österreichischen Rechtsbestand, wenngleich sich die Schreibweise immer wieder geändert hatte (von Gewerbeinspector über Gewerbe-Inspector, sodann GewerbeInspektor und schließlich Gewerbeinspektor). Aufgrund § 30 des Arbeitsinspektionsgesetzes 1947 verloren die von den Berufsgenossenschaften erlassenen und seit 1939 in Österreich anzuwendenden Unfallverhütungsvorschriften ihre Gültigkeit. Fast genau 110 Jahre, nachdem 1883 das „Gesetz betreffend die Bestellung von Gewerbeinspectoren“ beschlossen wurde, trat am 1. April 1993 das derzeit gültige Arbeitsinspektionsgesetz 1993 in Kraft. Durch die Neufassung der Verordnung über die Aufsichtsbezirke im Jahr 1993 wurde das Bundesgebiet in 20 Aufsichtsbezirke unterteilt und die Rechte und Befugnisse des Arbeitsinspektorates für Bauarbeiten näher geregelt. Dies war auch notwendig, um seine Rechte und Befugnisse gegenüber den territorialen Arbeitsinspektoraten abzugrenzen, die gelegentlich bei Amtsleiterkonferenzen über divergierende Auffassungen zu den Zuständigkeiten Klage geführt hatten.

9.8

100 Jahre Internationale Arbeitsorganisation (ILO) 1919 – 2019)

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) wurde 1919 durch den Vertrag von Versailles, der den Ersten Weltkrieg beendete, gegründet und ist eine Sonderorganisation der UNO. Österreich war von 1919 bis 1938 und ist seit 1947 Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation. ILO ist die Abkürzung für International Labour Organization, also Internationale Arbeitsorganisation. In der ILO diskutieren Arbeitnehmerinnen, Arbeitgeber und Regierungen und erarbeiten Mindestarbeits- und Sozialstandards. Auch für die Überwachung dieser Standards ist die ILO zuständig. Damit wurde erstmals klargestellt, dass sozialpolitische Fragen nicht ausschließlich Sache der einzelnen Länder sind. Schon damals erkannte man, dass ein weltweiter und dauerhafter Frieden nur auf Grundlage sozialer Gerechtigkeit gesichert werden kann. Die Kernarbeitsnormen der ILO beinhalten unter anderem die Beseitigung von Sklaverei und Zwangsarbeit, die Abschaffung von Kinderarbeit und die Vereinigungsfreiheit. Darunter versteht man das Recht, Gewerkschaften zu gründen, Kollektivverträge zu verhandeln und zu streiken. Aber nicht alle Länder haben alle Kernarbeitsnormen umgesetzt, zum Beispiel die USA. 2019 feiert die ILO den hundertsten Geburtstag. Aber immer noch müssen viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für menschenwürdige Arbeit kämpfen. Dazu kommen neue Herausforderungen. Die ILO hat Vorschläge zu Megatrends erarbeitet: Digitali-

9 Arbeitsinspektion im Wandel der Zeit

101

sierung, Migration, Klimawandel, Einkommens- und Vermögensungleichheit, Prekarisierung und die Verhandlungsmacht innerhalb globaler Lieferketten.8)

9.9

24 Jahre ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) (1995 – 2019)

Die Anpassung österreichischer Gesetze an Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft brachte entscheidende Verbesserungen für die Beschäftigten mit sich. Eigentlich hätte das ArbeitnehmerInnenschutzgesetz genauso wie das Arbeitsinspektionsgesetz 1993 komplett geschlechtsneutral formuliert werden sollen. Doch im letzten Moment bemängelte Sozialminister Josef Hesoun die schlechte Lesbarkeit durch Wortkonstruktionen wie Arbeitnehmer/innen und Arbeitgeber/innen. So wurde der gesamte Text kurz vor der Übermittlung an den Ministerrat auf die männliche Form umgestellt. Einziges Zugeständnis war dann das Binnen-I im Kurztitel des im Juni 1994 verabschiedeten Bundesgesetzes über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit. Die Diskussion über geschlechtsneutrale Formulierungen ist nach wie vor aktuell, das ArbeitnehmerInnenschutzgesetz ebenso. Es wurde seit 1994 zwar mehrmals novelliert, gilt aber heute noch als Meilenstein: Entsprechend der Europäischen Rahmenrichtlinie sollte das Gesetz in allen privaten und öffentlichen Tätigkeitsbereichen Anwendung finden. Hier gab es in Österreich zwar einige Ausnahmen, aber letztendlich wurde der Geltungsbereich gegenüber dem Arbeitnehmerschutzgesetz (ANSchG) 1972 deutlich erweitert. Außerdem brachte das ASchG entscheidende Verbesserungen für Beschäftigte in Klein- und Mittelbetrieben. Denn davor war erst ab einer Betriebsgröße von über 250 Beschäftigten die arbeitsmedizinische Betreuung vorgeschrieben. Durch das neue Gesetz war die arbeitsmedizinische Betreuung in jedem Betrieb verpflichtend. Die wichtigsten ASchG-Neuerungen: • Jede/r ArbeitnehmerIn hat Anspruch auf sicherheitstechnische und arbeitsmedizinische Betreuung. • Evaluierung: Verpflichtung der ArbeitgeberInnen, in ihren Betrieben alle bestehenden Gefahren von sich aus zu ermitteln und entsprechende Schutzmaßnahmen festzulegen. • Information und Unterweisung der ArbeitnehmerInnen über die im Betrieb bestehenden Gefahren und anzuwendenden Schutzmaßnahmen. • Bestellung von Sicherheitsvertrauenspersonen als InteressenvertreterInnen der ArbeitnehmerInnen, wenn regelmäßig mehr als zehn ArbeitnehmerInnen beschäftigt werden. • Verpflichtende Aufzeichnung von Arbeitsunfällen. • Regelmäßige Messungen beim Einsatz von Arbeitsstoffen, für die Grenzwerte bestehen. • Verpflichtung zur ergonomischen Gestaltung von Bildschirmarbeitsplätzen. • Für Kleinbetriebe wurde die kostenlose sicherheitstechnische und arbeitsmedizinische Betreuung durch die AUVA für Arbeitsstätten mit bis zu 50 Beschäftigten eingeführt. Gleichzeitig mit dem neuen ASchG waren entsprechende Novellierungen mehrerer Gesetze und Verordnungen erforderlich: Allgemeines Sozialversicherungsgesetz, Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz (AVRAG), Arbeitsverfassungsgesetz (ArbVG) etc. Nach langen und zähen Verhandlungen wurde außerdem die Bauarbeiterschutzverordnung 8)

Vgl. www.oegb.at/100 Jahre ILO Datum des Zugriffs: 27.5.2019

102

Teil B – Baubetrieb

(BauV) fertiggestellt. Sie trat mit 1. Jänner 1995 in Kraft und löste die 40 Jahre alte Vorgängervorschrift ab. In Zusammenhang mit dem ASchG war außerdem eine Fülle von Verordnungen nötig, womit die verschiedenen Teilbereiche genau und praxisgerecht ausgearbeitet wurden.9)

9.10

Arbeitsinspektionsgesetz 1993 – ArbIG

Der Wirkungsbereich der Arbeitsinspektion erstreckt sich auf Betriebsstätten und Arbeitsstellen aller Art mit Ausnahme von Land- und Forstwirtschaft, öffentliche Unterrichtsund Erziehungsanstalten (ausgenommen Bund), Kultusanstalten der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie privaten Haushalte. Die Zuständigkeit bei Arbeitnehmerschutz für Bedienstete des Landes bzw. der Gemeinden, soweit sie in der Verwaltung tätig sind geht vom Landeshauptmann bzw. vom Bürgermeister aus. Laut Bundesverfassung ist die Vollziehung in der Land- und Forstwirtschaft Landessache und obliegt der Land- und Forstwirtschaftsinspektion. Für ÖBB und Flughäfen im gesamten Bundesgebiet ist die Verkehrsarbeitsinspektion zuständig. Die Arbeitsinspektion ist mit der Aufsicht über alle anderen Arbeitnehmer und die Bundesbediensteten in der Verwaltung betraut. Die Aufgaben der Arbeitsinspektion sind die Überwachung der zum Schutz der ArbeitnehmerInnen dienenden Rechtsvorschriften und behördlichen Verfügungen. Insbesondere der Schutz des Lebens, der Gesundheit und Sittlichkeit. Weiters der Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen, der Beschäftigung von Arbeitnehmerinnen (Mutterschutz), der Beschäftigung von besonders schutzbedürftigen Arbeitnehmerinnen. Kontrolle der Arbeitszeit, Ruhepausen und Ruhezeit, Arbeitsruhe und Heimarbeit, sowie Parteienstellung in Genehmigungsverfahren (z.B. gewerbebehördliche Genehmigungen) und Ausnahmeverfahren, Beratungen in Bauverfahren, unentgeltliche rechtsverbindliche Beratung in allen Belangen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit, Kontrolle bei der Mitteilung von Missständen und Ermittlung bei Arbeitsunfällen. Arbeitsinspektoren sind befugt Arbeitsstätten und Baustellen jederzeit zu betreten und zu überprüfen, in sämtlichen Unterlagen die den Arbeitnehmerschutz betreffen Einsicht zu nehmen, von Arbeitsstoffen Proben zu entnehmen und Untersuchungen zu veranlassen, Auskünfte von Erzeugern und Vertreibern von Arbeitsstoffen und Maschinen einzuholen, sowie Sofortmaßnahmen zu setzen und Strafantrag zu stellen. Arbeitsinspektionsorgane für besondere Aufgaben sind der Arbeitsinspektionsärztliche Dienst und für jedes Arbeitsinspektorat, HygienetechnikerIn, ArbeitsinspektorIn für Kinderarbeit und Jugendschutz und die Arbeitsinspektorin für Frauenarbeit und Mutterschutz. Die Arbeitsinspektorate unterstehen unmittelbar dem Zentral-Arbeitsinspektorat im Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz, wobei es im gesamten Bundesgebiet 17 Aufsichtsbezirke mit mindestens einem Arbeitsinspektorat pro Bundesland gibt (z.B. hat Wien fünf, Niederösterreich drei und Oberösterreich zwei Arbeitsinspektorate). Für Bauarbeiten in Wien gibt es ein besonderes Arbeitsinspektorat.10)

9) 10)

Vgl. www.gesundearbeit.at/20 Jahre ArbeitnehmerInnenschutzgesetz Datum des Zugriffs: 27.5.2019 Vgl. www.glb.at/ 125 Jahre Arbeitsinspektion in Österreich

9 Arbeitsinspektion im Wandel der Zeit

9.11

103

Unfallversicherungen – Arbeitsunfälle

In Österreich erleiden jährlich mehr als 120.000 Personen einen Arbeitsunfall. Um einen optimalen Schutz am Arbeitsplatz bzw. im Falle eines Arbeitsunfalles zu gewährleisten, ist die versicherungstechnische und rechtliche Situation genau geregelt. Zur Verringerung des Unfallrisikos wird in immer mehr Unternehmen ein betriebliches Gesundheitsmanagement eingeführt. Im Zeitraum 1995 bis 2017 ist die Anzahl der Arbeitsunfälle im engeren Sinn (d.h. ohne Wegunfälle) um ein Drittel zurückgegangen – von knapp 164.000 auf rund 107.000 pro Jahr. Die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle ist ebenfalls deutlich gesunken (von 311 auf 113). Diese Rückgänge dürften mit dem technologischen Wandel sowie der verbesserten Sicherheit am Arbeitsplatz zusammenhängen. Männer sind viel öfter Opfer von Arbeitsunfällen als Frauen. Mitverantwortlich ist dafür, dass Männer in den letzten Jahrzehnten in einem höheren Ausmaß als Frauen erwerbstätig und seltener teilzeitbeschäftigt waren. Wenn man diesen Grund „herausrechnet“ und die relativen Zahlen betrachtet, sprechen die Zahlen immer noch eine deutliche Sprache: Männer erleiden etwa dreimal so viele Arbeitsunfälle wie Frauen. Arbeitsunfälle sind bei jungen Männern zwischen 15 bis 24 Jahren am häufigsten. Mit zunehmendem Alter sinkt zwar die Zahl, hingegen steigt der Schweregrad. Die meisten tödlich endenden Arbeitsunfälle geschehen bei Männern zwischen 45 und 54 Jahren. Hier weisen die 15- bis 24-Jährigen den geringsten Wert auf. Das höhere Unfallrisiko von Männern ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sie in potenziell gefährlicheren Branchen tätig sind. Fast jeder zwanzigste Arbeitsunfall passiert in der Land- und Forstwirtschaft, jeder siebente im Baugewerbe. Es ist auch nicht verwunderlich, dass manuell Arbeitende häufiger von Arbeitsunfällen betroffen sind als Bürooder Führungskräfte.11) Definition Arbeitsunfälle Man unterscheidet verschiedene Formen von Arbeitsunfällen: • Arbeitsunfälle im engeren Sinne: Unter Unfall versteht man ein plötzliches bzw. zeitlich eng begrenztes Ereignis, eine Einwirkung von außen oder eine außergewöhnliche Belastung, die zu einer Gesundheitsschädigung führt. Der Unfall muss dabei in einem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen und der Unfall muss für die Gesundheitsschädigung ursächlich sein. • Wegunfälle: Darunter fallen Unfälle auf dem Weg von oder zu der Arbeitsstelle bzw. von oder zu der Tätigkeit. Wegunfälle werden versicherungstechnisch wie Arbeitsunfälle gewertet. Gesetzliche Grundlagen Die Österreichische Pflichtversicherung schließt meist eine Unfallversicherung ein. Für gewerblich selbstständig und unselbstständig Erwerbstätige ist die (Arbeits-) Unfallversicherung im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) geregelt. Die Unfallversicherung hat grundsätzlich die Aufgabe, die Unfallfolgen mit allen geeigneten Mitteln zu beseitigen. Die Unfallversicherung der Bauern ist im BSVG geregelt, die Unfallversicherung der Beamten im B-KUVG. Für bestimmte Personen, die nicht dem Kreis der Pflichtversicherten angehören, ist eine 11)

Vgl. www.gesundheit.gv.at/Arbeitsunfälle | Gesundheitsportal Datum des Zugriffs: 27.5.2019

104

Teil B – Baubetrieb

Unfallversicherung durch Selbstversicherung möglich. Die Beitragshöhe beträgt pro Jahr zwei Prozent einer satzungsmäßigen Beitragsgrundlage für die Selbstversicherten. Nähere Informationen zur freiwilligen Selbstversicherung erhalten Sie u.a. bei der AUVA. sowie bei den Landesgebietskrankenkassen. Das ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) stellt die Grundlage für die Arbeitssicherheit und den Gesundheitsschutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Österreich dar. Es gilt für alle Personen, die im Rahmen eines Beschäftigungs- oder Ausbildungsverhältnisses tätig sind. Auch überlassene Arbeitskräfte, sogenannte Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, fallen darunter. Nur für Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter von Bundes-, Landes- und Gemeindedienststellen, von land- und forstwirtschaftlichen Betrieben, in privaten Haushalten und für Heimarbeiter/innen gelten andere gesetzliche Bestimmungen. Bei den Maßnahmen zum Arbeitsschutz bestehen laut ASchG nicht nur Pflichten der Arbeitgeberinnen/Arbeitgeber, auch die Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer müssen an der Einhaltung der Arbeitsschutzbestimmungen mitwirken. Sie müssen die zur Verfügung gestellten Mittel nützen und die zu ihrem Schutz entwickelten Arbeitsprozesse einhalten. Meldung des Arbeitsunfalles und Leistungen bei einem Arbeitsunfall Jeder Arbeitsunfall, durch den eine unfallversicherte Person getötet oder mehr als drei Tage völlig oder teilweise arbeitsunfähig geworden ist, muss innerhalb von fünf Tagen von der Arbeitgeberin/dem Arbeitgeber an die zuständige Unfallversicherung gemeldet werden. Die Voraussetzung dafür ist, dass der Unfall der Arbeitgeberin/dem Arbeitgeber gemeldet wurde. Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer sind verpflichtet, ihrer Arbeitgeberin/ihrem Arbeitgeber nicht nur jeden Arbeitsunfall, sondern auch jeden „Beinahe-Unfall“ und jede bestehende Gefahr für Sicherheit und Gesundheit bekanntzugeben. Bei einem Arbeitsunfall übernimmt die jeweils zuständige Unfallversicherung sowohl Heilbehandlung und Rehabilitation als auch unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen die finanzielle Entschädigung des Unfallopfers bzw. der Hinterbliebenen. Je nach Arbeitsverhältnis ist entweder die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA), die Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau (VAEB), die Versicherungsanstalt öffentlicher Bediensteter (BVA) oder die Sozialversicherung der Bauern (SVB) zuständig.

9.12

Aktuelle Trends

„Beraten statt Strafen“ ist zurzeit ein gängiges Schlagwort, wobei jedoch die Arbeitsinspektion schon von Gesetzes wegen die Verpflichtung zur „Beratung“ hat. Diese Verpflichtung wird ja schon in § 9 Arbeitsinspektionsgesetz 1993 (ArbIG) festgelegt. Stellt die Arbeitsinspektion eine Übertretung einer Arbeitnehmerschutzvorschrift fest, so ist die Arbeitgeberin/der Arbeitgeber oder die gemäß § 4 Abs. 7 ArbIG beauftragte Person nach Möglichkeit im erforderlichen Umfang mit dem Ziel einer möglichst wirksamen Umsetzung der Arbeitnehmerschutzvorschriften zu beraten und hat das Arbeitsinspektorat die Arbeitgeberin/den Arbeitgeber formlos schriftlich aufzufordern, innerhalb einer angemessenen Frist den den Rechtsvorschriften und behördlichen Verfügungen entsprechenden Zustand herzustellen. Nur wenn es sich um eine schwerwiegende Übertretung handelt, hat das Arbeitsinspektorat auch ohne vorausgehende Aufforderung Strafanzeige wegen Übertretung einer Arbeitnehmerschutzvorschrift zu erstatten.

9 Arbeitsinspektion im Wandel der Zeit

105

Das heißt, dass nur sehr wenige Strafanzeigen gestellt werden und die Arbeitgeber überwiegend schriftlich beraten werden. Um den Sachverhalt jedoch professionell erheben zu können bzw. eine gute Beratung vornehmen zu können, ist für die Arbeitsinspektorinnen und Arbeitsinspektoren eine Weiterbildung unerlässlich. Viele neue Technologien und neue Arbeitsstoffe verlangen eine ständige Anpassung der Arbeitsschutzvorschriften, um den Stand der Technik Rechnung tragen zu können. Deshalb ist für die Arbeitsinspektion die Zusammenarbeit mit den Technischen Universitäten extrem wichtig, um über den Stand der Wissenschaften informiert zu sein bzw. um entsprechend auf neue Herausforderungen reagieren zu können. Die Digitalisierung kann für uns hier ein wichtiges Hilfsmittel sein, damit diese neuen Aufgaben bewältigt werden können. Es werden wahrscheinlich alte Arbeitsverfahren eingestellt werden müssen, aber dafür neue Arbeitsweisen zu entwickeln sein. Einige gefährliche Arbeitsstoffe werden durch ungefährliche substituiert und bei anderen Stoffen und Gemischen wird man durch neue Messmethoden und Verbesserung der technischen Möglichkeiten erst Gefahren entdecken. Dazu ist es natürlich erforderlich, dass es zu einer konsequenten Weiterentwicklung des Arbeitnehmerschutzes kommt, damit die Arbeitsinspektion den heutigen Anforderungen entsprechen kann und um auf neue Arbeitsformen und Technologien mit einer ständigen Weiterentwicklung reagieren kann.

9.13

Zusammenfassung

Das Leben ist gefährlich, Arbeit auch. Wer arbeitet, hat zwar grundsätzlich bessere Chancen gesund zu bleiben, aber neben diesem positiven Effekt kann ein Arbeitsplatz auch Gefahren für die Gesundheit bergen! In diesem Sinne wünsche ich den Kolleginnen und Kollegen des Institutes für Baubetrieb und Bauwirtschaft für die bisher geleistete, herausragend engagierte und vorbildliche Arbeit meine besten Wünsche für die nächsten fünfzig Jahre erfolgreicher Tätigkeit!

9.14

Abkürzungsverzeichnis

ASchG

......................... Bundesgesetz über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit (ArbeitnehmerInnenschutzgesetz – ASchG) StF: BGBl. Nr. 450/1994

BauV

......................... Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über Sicherheit und Gesundheitsschutz auf Baustellen und auf auswärtigen Arbeitsstellen (Bauarbeiterschutzverordnung – BauV) StF: BGBl. Nr. 340/1994

106

9.15

Teil B – Baubetrieb

Literaturverzeichnis

Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz, „Berichte der K. u. K. Gewerbe Inspectoren“ https://www.gesundheit.gv.at/ Datum des Zugriffs: 27.05.2019 http://www.glb.at/ Datum des Zugriffs 27.5.2019 http://www.glb.at/article.php/20091021083151703 Datum des Zugriffs 27.5.2019 https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/beruf/arbeitsunfaelle 27.5.2019

Datum

des

Zugriffs

https://www.gesundearbeit.at/ Datum des Zugriffs 27.5.2019 https://www.gesundearbeit.at/cms/V02/V02_7.12.3.a/1445496243146/service/aktuelle... 27.05.2019 Datum des Zugriffs 27.5.2019 Kuschel, Andreas (2011). Festschrift – 100 Jahre Arbeitsinspektorat für Bauarbeiten in Wien 1911-2011. Wien. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz. ÖGB – Österreichischer Gewerkschaftsbund – 100 Jahre ILO. (Online unter: https://www.oegb.at/cms/S06/S06_0.a/1342608253605/home/100-jahreilo?d=Touch[28.05.2019] Datum des Zugriffs: 28.05.2019)

10

Arbeitsbelastung und körperliche Leistungsfähigkeit von Bauarbeitern Sind ältere Bauarbeiter den körperlichen Aufgaben gewachsen?

Dipl.-Ing. Dr.techn. Dieter Schlagbauer Experte Bauwirtschaft iC consulenten Ziviltechniker GesmbH Schönbrunner Str. 297 1120 Wien www.ic-group.org [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_10

108

10.1

Teil B – Baubetrieb

Abstract

Die Situation, dass die Bevölkerung in West-Europa wie auch in Österreich altert, wirkt sich auch auf die Altersentwicklung im Österreichischen Bauwesen aus, hier stieg der Anteil der über 50-Jährigen innerhalb rd. 10 Jahren um fast 5 %. Die Auswirkung eines höheren Alters spiegelt sich unter anderem in der körperlichen Leistungsfähigkeit wieder, die über verschiedene Beanspruchungsgrenzwerte, wie bspw. die Herzfrequenz oder der Energieumsatz, definiert wird. Demgegenüber stehen die aus Bauprozessanalysen gewonnen Beanspruchungskenngrößen für verschiedene Bautätigkeiten die im Rahmen dieses Beitrags gegenübergestellt werden. Wird die Herzfrequenz als Beanspruchungsindikator herangezogen, so zeigt sich bei drei Gewerken (Zimmerer, Trockenbauer und Betonierarbeiten), dass bereits die Grenzwerte eines 18-jährigen Arbeiters überschritten werden. Beim Energieverbrauch zeigt sich ein abweichendes Ergebnis, hier liegen fünf Gewerke (Maurer, Maler, Trockenbauer, Elektriker, Glaser) unter den berechneten Grenzwerten für einen 65-jährigen gesunden Arbeiter, jedoch wird der absolute Grenzwert von 4 kcal/min lediglich bei Mauerwerksarbeiten nicht überschritten. Abschließend ist festzustellen, dass diese Erkenntnisse der Arbeitsbeanspruchung selten bis gar nicht in der Arbeitsgestaltung Einfluss finden und, dass es an weiterführenden Studien, die sich neben den Aufwandswerten mit den Rahmenbedingungen der Belastungund Beanspruchung befassen, mangelt.

10.2

Situationsanalyse

Betrachtet man die Verteilung des Alters der Bevölkerung von Westeuropa sowie der von Österreich so ist in den nachstehend angeführten Darstellungen klar ersichtlich, dass sich seit der Gründung des Instituts für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz im Jahr 1969 als „Lehrkanzel für Baubetriebs- und Bauwirtschaftslehre“ die Altersverteilung deutlich verändert hat und sich – entsprechend vorhandener Prognosen – auch noch weiter verschieben wird.

10 Arbeitsbelastung und körperliche Leistungsfähigkeit von Bauarbeitern

Abb. 10-1

Verteilung der Altersklassen in Westeuropa und Österreich im Jahr 19701)

Abb. 10-2

Prognose der Verteilung der Altersklassen in Westeuropa und Österreich im Jahr 20252)

1) 2)

http://policytools.avenirhealth.org/DD/. Datum des Zugriffs: 31.05.2019 http://policytools.avenirhealth.org/DD/. Datum des Zugriffs: 31.05.2019

109

110

Teil B – Baubetrieb

Aus der Verschiebung der Anteile der Alterklassen bis 30 Jahre aus dem Jahr 1970 auf die Alterklassen 50+ im Jahr 2025 ist ersichtlich, dass der Anteil der „Jungen“ deutlich zurück gegangen ist. Betrachtet man ergänzend die Altersentwicklung im Baubereich, auf Basis der Zeitreihen der BUAK ab dem Jahr 2006, so zeigt sich auch hier ein deutlicher Trend in der Altersverteilung (siehe Abb. 10-3).     



  

  



  

 

 























3)

Abb. 10-3

Anteil der Bauarbeiter je Altersgruppe

Abb. 10-4

Körperliche Leistungsfähigkeit und Alter4)

In unterschiedlichen Quellen finden sich Referenzen, die Grenzwerte auf Basis absoluter und individueller (relativer) Kenngrößen (siehe Abb. 10-4). Da nur die individuellen Kenngrößen auf die individuellen Eigenschaften der Person eingehen, werden diese für die weitere Betrachtung herangezogen. Ein dabei wesentlicher 3) 4)

Vgl. https://www.buak.at/cms/BUAK/BUAK_1.5/die-buak/statistiken, ArbeitnehmerInnen nach Alter ab 2006.pdf, Datum des Zugriffs: 30.04.2019 Ilmarinen et al. (1991), S. 135-141

10 Arbeitsbelastung und körperliche Leistungsfähigkeit von Bauarbeitern

111

Einflussfaktor stellt in den betrachteten Grenzwerten das Alter dar, wodurch die körperliche Belastung der durchschnittlich erwartbaren Leistungsfähigkeit gegenüber gestellt werden kann.

10.2.1

Maximale Herzfrequenz (HFmax)

Entsprechend den Untersuchungen von Niederkofler5) beschreibt die Berechnungsmethode nach Åstrand6) mit untenstehender Formel die Realität am besten für das untersuchte Kollektiv. Zusätzlich konnte dies im Rahmen einer Studie7) am HPRGraz8) bestätigt9) werden. HF max = 221, 30 – ( 0, 922 ⋅ Alter )

10.2.2

(10-1)

Herzfrequenz am LTP1 (HFLTP1)

Die exakte Bestimmung der Herzfrequenz am LTP1 kann nur mittels Spiroergometrie erfolgen, da diese sehr stark vom zu betrachtenden Individuum abhängig ist. Für eine näherungsweise Bestimmung wurden von Schlagbauer10) Studien aus verschiedenen Literaturquellen analysiert und daraus eine Formel für näherungsweise Bestimmung der HFLTP1 abgeleitet. HF LP1 = 2, 420 + HF max ⋅ 0, 635 + P max ⋅ 0, 018

(10-2)

P max = 6, 773 + 136, 141 ⋅ KO – 0, 916 ⋅ KO ⋅ A

(10-3)

KO = 0, 00714 ⋅ W

0, 425

⋅H

0, 725

(10-4)

hierbei sind: KO … Körperoberfläche [m²] W … Gewicht [kg] H … Größe [cm] A … Alter [Jahren]

5) 6) 7) 8) 9) 10)

Niederkofler (1997). Åstrand in Niederkofler, W.: Das Konzept der individuellen Physical Working Capacity, Dissertation KFU Graz, Graz 1997, S.100 mit Verweis auf Aigner, A.: Sportmedizin in der Praxis, Hollinek, Wien 1985, S. 514. Wultsch/Rinnerhofer/ Tschakert/ Hofmann (2011). HPRGraz – Human Performance Research Graz: Zentrum für Bewegungswissenschaften und Sportmedizinische Forschung Vgl. Pokan, et al (2004), S. 40; Vgl. Hofmann et al. (1997), S. 763ff.; Vgl. Hofmann et al. (1994), S. 232ff. Schlagbauer (2012), S. 26f.

112

Teil B – Baubetrieb

10.3

Verhältnis der Sauerstoffaufnahme zur maximalen Sauerstoffaufnahme (% VO2,max)

Die Grenzwertdarstellung als Prozentwert der maximalen Sauerstoffaufnahme wurde von Legg/Myles11) untersucht und mit einer Bandbreite von 21 % bis 50 % angegeben, wobei die Streuung auf unterschiedlichen Untersuchungsmethoden und teilnehmenden Probanden entstanden sein dürfte. Der zutreffendste Wert ist jener von Åstrand12), da dieser auf Basis von Probanden mit Arbeitsaufgaben aus dem Bauwesen ermittelt wurde. Der Grenzwert wird wie folgt festgelegt: VO 2, grenz = 40% VO 2, max

10.3.1

(10-5)

Maximale Sauerstoffaufnahme (VO2,max)

Die maximale Sauerstoffaufnahme wird üblicherweise ebenfalls über eine Laboruntersuchung bestimmt. Ist dies nicht möglich, kann auf rechnerische Ermittlungen zurückgegriffen werden. Für die maximale Sauerstoffaufnahme finden sich drei Gleichungen, welche auf Basis verschiedener Einflussfaktoren die maximale Sauerstoffaufnahme prognostizieren: • Jackson/Ross13) stellen den Zusammenhang zwischen Alter, Körpergröße, Gewicht, Geschlecht (Mann = 1, Frau = 0) und Trainingszustand (SRE 14)) mit der maximalen Sauerstoffaufnahme her. • Duque/Parra/Duvallet15) entwickelten eine Formel zu Darstellung des Zusammenhangs zwischen Gewicht, Körpergröße, Geschlecht (Mann = 1, Frau = 0) und Freizeitaktivitäten (PALT16)) • Bradshaw et al.17) stellen den Zusammenhang zwischen Geschlecht (Mann = 1, Frau = 0), Alter, BMI, erhobenem Leistungsvermögen (PFA18)) und den aktuellen körperlichen Aktivitäten (PA-R19)) dar. Alle Gleichungen bieten die Möglichkeit, ohne Laboruntersuchungen die maximale Sauerstoffaufnahme zu bestimmen jedoch sind die Eingangsparameter jeweils subjektiv zu bestimmen, weshalb in der weiteren Betrachtung diese Parameter nicht mehr angewendet werden.

11) 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18) 19)

Legg/Myles (1981), S. 907ff. Åstrand (1960), S. 30ff. Jackson/Ross (1996), S. 265ff. SRE = self-report level of aerobic exercise; der Wert kann zwischen 0 und 7 liegen. Vgl. Jackson/Ross (1996) S. 270 Duque/Parra/Duvallet (2009), S. 293ff. ALT = physical activity during leisure; Der Wert kann zwischen 1 und 4 liegen.. Siehe dazu Duque I.L., Parra J.H., Duvallet A.: a.a.O., S. 296. Bradshaw et al. (2005), S. 426ff. PFA = perceived functional ability to walk, jog, or run given distances; dieser Wert kann ziwschen 2 und 26 liegen. Vgl. Bradshaw et al. (2005), S. 428 PA-R = current physical activity level; dieser Wert kann zwischen 1 und 10 liegen. Vgl. Bradshaw et al. (2005), S. 428

10 Arbeitsbelastung und körperliche Leistungsfähigkeit von Bauarbeitern

10.3.2

113

Maximaler Arbeitsenergieumsatz in Abhängigkeit der Arbeitszeit

Der Arbeitsenergieumsatz (AEU) wurde von Bink20) auf Basis von Untersuchungen von Åstrand21) abgeleitet:

log 5700 – log t AEU Grenz = -----------------------------------3, 1 ⋅ a

(10-6)

dabei bedeuten: t… Arbeitszeit in min a…Aerobic capacity nach Åstrand

Abb. 10-5

Verlauf der Aerobic capacity nach Åstrand22)

Auf Grund der Abhängigkeit des Parameter a vom Alter zeigt sich auch hier der Einfluss, des Alters auf einen Grenzwert der Leistungsfähigkeit.

10.3.3

Grenzwerte der Beanspruchung infolge des Alters

Basierend auf den zuvor dargestellten Formeln werden die Grenzwerte der persönlichen Leistungsfähigkeit ermittelt. Für die Berechnung sind ergänzend zum Alter noch Inputparameter erforderlich, die für die Beispielhafte Berechnung mit folgenden Werten angenommen wurden: Größe: 185 cm; Gewicht: 85 kg; SRE: 3; PALT: 2; PFA: 15: PA-R: 5. 20) 21) 22)

Bink (1962), S. 25-28. Åstrand, I.: a.a.O., S. 60ff. gefunden in Bink, B.: The physical working capacity in relation to working time and age, in Ergonomics, 5 (1962), S. 27 Åstrand, I.: a.a.O., S. 60ff. gefunden in Bink, B.: The physical working capacity in relation to working time and age, in Ergonomics, 5 (1962) S. 27

114

Teil B – Baubetrieb

Unter Anwendung der Eingangsparameter zuvor ergeben sich in Abhängigkeit des Alters die folgenden Werte in Tab. 10-1 (Jackson/Ross23), Duque/Parra/Duvallet24), Bradshaw et al.25)).

Alter

Tab. 10-1

10.4

HRLTP1

40 % VO2,max

AEU

GL. (3-2)

Jackson und Ross23

Duque, Parra Bradshaw und Duvallet24 et al.25

1/min

l/min

l/min

l/min

kcal/min

18

130,65

1,62

1,09

1,63

7,22

20

129,41

1,59

1,09

1,61

7,13

25

126,31

1,53

1,09

1,57

6,78

30

123,22

1,46

1,09

1,53

6,63

35

120,12

1,40

1,09

1,48

6,19

40

117,02

1,33

1,09

1,44

5,89

45

113,92

1,27

1,09

1,40

5,60

GL. (3-6)

50

110,82

1,20

1,09

1,36

5,45

55

107,72

1,14

1,09

1,32

5,16

60

104,62

1,07

1,09

1,27

5,01

62

103,38

1,05

1,09

1,26

4,86

65

101,53

1,01

1,09

1,23

4,42

Grenzwerte in Abhängigkeit des Alters

Beanspruchung von Bauarbeitern bei unterschiedlichen Tätigkeiten

Zur Beurteilung der Auswirkungen von Arbeitstätigkeit kann das Belastungs- und Beanspruchungskonzept von Rohmert26) herangezogen werden. Es bildet die wesentliche Grundlage bei der Betrachtung von Arbeitstätigkeiten aus physiologischer Sicht, wobei der zu Grunde liegende Ansatz dieses Konzeptes die Ursache und Wirkung von körperlichen Reaktionen auf äußere Einflüsse trennt.

23) 24) 25) 26)

Jackson/Ross (1996), S. 265ff. Duque/Parra/Duvallet (2009), S. 293ff. Bradshaw et al. (2005), S. 426ff. Vgl. Rohmert (1983), S. 9f.

115

10 Arbeitsbelastung und körperliche Leistungsfähigkeit von Bauarbeitern

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Abb. 10-6

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Belastungs- und Beanspruchungskonzept27)

In den weiteren Überlegungen wird die Beanspruchung als Wirkung der Belastungseinflüsse auf die individuelle Person zur Beurteilung herangezogen.

10.4.1

Beanspruchung von Arbeitstätigkeiten

In der Literatur finden sich verschiedene Untersuchungen, bei denen die Beanspruchung von Bauarbeitstätigkeiten erhoben wurde und die für die Beurteilung der Ausführbarkeit auf Basis der zuvor beschriebenen Grenzwerte herangezogen werden können. Eine dieser Quellen stellen die Tafeln für den Energieumsatz bei körperlicher Arbeit von Hettinger28) dar. In diesen stellt Hettinger den Energieumsatz während der Ausführung verschiedener Arbeitstätigkeiten dar. Für den Baubereich sind die Kenngrößen der nachstehenden Tabelle von Interesse:

Tätigkeit

Mauerwerksarbeiten

Betonierarbeiten

Bewehrungsarbeiten

EU [kcal/min]

2,10-2,70

2,91-6,64

2,82-4,99

Tab. 10-2

Energieumsätze bei verschiedenen Bautätigkeiten nach Hettinger

Vorbereitungsarbeiten 2,80-5,97

29)

Weitere Angaben entstammen den Erhebungen von Abdelhamid/Everett30), die in mehreren Studien Leistungsumsätze erhoben haben. Dabei wurde der Energieumsatz in Abhängigkeit des Körpergewichtes angegeben und erhöht damit die Anpassung der Energieumsatzbewertung an das einzelne Individuum nochmals. Die Ergebnisse der Erhebungen sind in der nachfolgenden Tabelle dargestellt, ergänzend dazu werden die Energieumsätze für die exemplarische Anwendung mit einer Person mit 85 kg ausgewiesen.

27) 28) 29) 30)

Vgl. Rohmert (1983), S.9f. Hettinger et al.(1982). Eigne Darstellung auf Basis der Angaben von Hettinger et al.(1982). Abdelhamid/Everett (1999), S. 47ff. Abdelhamid/Everett (2002), S. 1365ff.

116

Teil B – Baubetrieb

Bandbreite des Arbeitsenergieumsatzes

EU für Beispielberechnung (85kg)

kcal/kg*min

[kcal/min]

Gewerk Mauerwerksarbeiten 0,028

Tab. 10-3

Herzfrequenz Mittelwert

Bandbreite

[1/min]

-

0,055

2,38

-

4,68

104

±

10

Zimmermann

0,031

-

0,081

2,64

-

6,89

109

±

23

Betonierarbeiten

0,027

-

0,073

2,30

-

6,21

107

±

29

Trockenbauer

0,035

-

0,062

2,98

-

5,27

114

±

21

Elektriker

0,027

-

0,055

2,30

-

4,68

98

±

11

Glaser

0,042

-

0,048

3,57

-

4,08

120

±

2

Stahlbauer

0,019

-

0,071

1,62

-

6,04

112

±

17

Arbeiter (allg.)

0,023

-

0,084

1,96

-

7,14

115

±

15

Installateur

0,022

-

0,064

1,87

-

5,44

105

±

12

Schlosserarbeiten

0,030

-

0,065

2,55

-

5,53

102

±

17

Energieumsätze und mittlere Herzfrequenz bei verschiedenen Bautätigkeiten nach Abdelhamid/Everett31)

Eigene Untersuchungen32) ergaben Kenngrößen der Arbeitsbeanspruchugn für Mauerwerks und Betonierarbeiten mit folgenden Beanspruchungskenngrößen: (i)

durchschnittliche Herzfrequenz HR: 93,62 – 110,24 min-1,

(ii)

durchschnittliche Sauerstoffaufnahme VO2: 0,69 – 1,22 l/min,

(iiI)

Energieumsatz während der Tätigkeitsausführung EE: 3,43 – 6,51 kcal/min.

10.5

Gegenüberstellung der Arbeitsbeanspruchung mit Beanspruchungsgrenzwerten

Führt man die Erkenntnisse der Beanspruchungsgrenzwerte mit der Arbeitsbeanspruchung zusammen so ergeben sich die folgenden Abbildungen:

31) 32)

Eigene Darstellung auf Basis von Abdelhamid/Everett (1999), S. 47ff. und Abdelhamid/Everett (2002), S. 1365ff. Schlagbauer (2012), S. 167ff.

10 Arbeitsbelastung und körperliche Leistungsfähigkeit von Bauarbeitern

117

Abb. 10-7

Herzfrequenzgrenzwerte in Abhängigkeit des Alters im Vergleich zu den Beanspruchungskenngrößen33)

Abb. 10-8

Energieumsatzgrenzwerte in Abhängigkeit des Alters im Vergleich zu den Beanspruchungskenngrößen34)

33) 34)

Schlagbauer/Heck (2013), S. 1957 Schlagbauer/Heck (2013), S. 1958

118

Teil B – Baubetrieb

Auf der Grundlage der Abb. 10-7 und Abb. 10-8 kann festgestellt werden, dass die Arbeitsbeanspruchung durch die Ausführung der verschiedenen Gewerke die zuvor vorgestellten individuellen Grenzwerte überschreitet. Zudem werden auch die absoluten Grenzwerte (Mittlere Herzfrequenzwert während des achtstündigen Arbeitstages mit 110 Schlägen pro Minute35) und mittlerer Arbeitsenergieumsatz während der achtstündigen Arbeitszeit mit 4 kcl/min36)) überschritten. Bei heranziehen der Herzfrequenz als Beanspruchungsindikator wird ersichtlich, dass für drei der vorgestellten Gewerke (Zimmerer, Trockenbauer und Betonierarbeiten) die Grenzwerte eines 18-jährigen Arbeiters überschritten werden und die maximale Herzfrequenz aller vorgefundenen Gewerke die Grenzwerte eines 55 Jahre alten Arbeiters überschreitet. Davon abweichend zeigt der Beanspruchungsindikator des Energieverbrauchs ein abweichendes Ergebnis. Fünf Gewerke (Maurer, Maler, Trockenbauer, Elektriker, Glaser) überschreiten nicht die berechneten Grenzwerte für einen 65-jährigen gesunden Arbeiter, jedoch wird auch beim Energieumsatz der absolute Grenzwert von 4 kcal/min von fast allen dargestellten Gewerken erreicht oder sogar überschritten, einzig bei den Mauerwerksarbeiten finden sich Beanspruchungswerte, die unter dem absoluten Grenzwert liegen.

10.6

Aktuelle Trends

Betrachtet man nun die aktuelle Situation auf Baustellen, so scheint sich im Hinblick auf die Arbeitstätigkeiten zwar eine Verbesserung in Form von maschineller Unterstützung in vielen Fällen eingestellt zu haben, es handelt sich hier jedoch nur um eine Erhöhung der Mechanisierung und verbessert die Situation vor allem bei Neubauten. Beim derzeit zentralen Thema im Hochbau, nämlich der Sanierung bzw. bei Arbeiten im Bestand ist der Maschineneinsatz nur in geringerem Ausmaß möglich, weshalb hier weiterhin ein Großteil der Leistungserbringung auf das gewerbliche Personal entfällt. Zudem fehlt es an weiterführenden Studien, die sich neben den Aufwandswerten auch mit den Rahmenbedingungen der Belastung und Beanspruchung befassen, selbst der wohl größte Einflussfaktor bei Arbeiten im freien, nämlich die Temperatur, ist nur rudimentär und für einzelne Teilaspekte erforscht; eine ganzheitliche Betrachtung der Temperaturauswirkungen fehlt jedoch. Der fortschreitende Einfluss von Prognosemodellen des Bauablaufes (Stichwort BIM) bietet hier sicherlich Chancen, dass für die Grundlagenerhebung von Aufwandswerten, die für die Modellbildung benötigt werden auch Belastungsdaten gesammelt werden könnten.

35) 36)

Grenzwert der WHO für 8 Stündige Arbeitszeit entsprechend World Health Organization (WHO): Health Factors involved in Working under Conditions of Heat Stress, Technical Report Series No. 412, Geneva 1969. Grenzwert auf Basis verschiedener Quellen: Müller (1953), S. 205ff. Lehmann (1953). Bink (1962), S. 25 Legg/Myles (1981), S. 907ff. Åstrand/Rodahl (1986).

10 Arbeitsbelastung und körperliche Leistungsfähigkeit von Bauarbeitern

10.7

119

Zusammenfassung

Der Alterungsprozess der Gesellschaft ist an vielen Indikatoren ersichtlich und zeigt sich auch im Mikrokosmos der österreichischen Bauindustrie. Zusätzlich zeigt sich, dass Nachfolgegenerationen nur in geringerem Anteil nachrücken und somit die längere Einsatzfähigkeit des gewerblichen Personals eine wesentliche Überlegung in Baufirmen sein sollte. Wie die Vergleiche zwischen Beanspruchungserhebungen und den physiologisch bestimmten Grenzwerten zeigen, bestehen deutliche Unterschiede in der Belastungssituation, die jedoch selten bis gar nicht in der Arbeitsgestaltung Einfluss finden. Mit diesem Beitrag wurde versuch eine Sensibilisierung für ein Thema zu schaffen, dass üblicherweise in den Schnittstellen der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen Bauingenieurwissenschaften, Arbeitsmedizin, Sport- und Trainingswissenschaften sowie Prozessmanagement untergeht.

10.8

Literaturverzeichnis

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120

Teil B – Baubetrieb

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10 Arbeitsbelastung und körperliche Leistungsfähigkeit von Bauarbeitern

121

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11

Baubetriebliche Gutachten – Mysterium zur Wahrheits- und Entscheidungsfindung oder ein Dinosaurier aus der analogen Welt?

Dr.-Ing. Antje Tiesler, LL.M. Projektleiterin – fairCM² Ingenieurgesellschaft für Baubetrieb GmbH Freie-Vogel-Straße 393 44269 Dortmund www.fcm2.de [email protected] Dr.-Ing. des. Ralf Gnerlich Mitarbeiter im Fachgebiet Bauorganisation und Bauverfahren – Universität Kassel Mönchebergstraße 7 34109 Kassel www.uni-kassel.de [email protected] Prof. Dr.-Ing. Felix Möhring Leiter des Fachgebiets Bauwirtschaft und Baumanagement im Landschaftsbau Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe, Standort Höxter Geschäftsführender Gesellschafter der fairCM² Ingenieurgesellschaft für Baubetrieb GmbH Am alten Born 3 37627 Deensen www.fcm2.de [email protected] Univ.-Prof. Dr.-Ing. Volkhard Franz Leiter des Fachgebiets Bauorganisation und Bauverfahren – Universität Kassel Mönchebergstraße 7 34109 Kassel www.uni-kassel.de [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_11

124

Teil B – Baubetrieb

11.1

Abstract

Der vorliegende Beitrag widmet sich der zunehmenden Kritik an baubetrieblichen Gutachten zur Durchsetzung von Bauzeitansprüchen in Bezug auf fehlende Qualitätsstandards. Die Verfasser zeigen anhand von drei ausgewählten Aspekten „Wertekodex für die Verfasser von baubetrieblichen Gutachten“, „Standardisierung im weiterem Sinne“ und „Qualität der Datengrundlagen“ Möglichkeiten zur Verbesserung der Qualität auf, die zu einer erhöhten Prüfbarkeit und Glaubhaftigkeit führen könnten. Damit wird der Beitrag von Eschenbruch/Gerstberger unter dem Titel „2018: Zeitenwende für baubetriebliche Gutachten“ im wissenschaftlichen Diskurs deduktiv weitergeführt und bereits erste praktikable Lösungsansätze zu den drei vorgenannten Aspekten entwickelt.

11.2

Einleitung

Baubetriebliche Gutachten als Nachweisgrundlage für sog. Bauzeitenclaims1) gelten oft als „überhöht und intransparent“2), als rechtlich fehlerhaft aufgestellt3) und in der Praxis durch eine hohe Qualitätsbandbreite gekennzeichnet4). So führt Drittler an: „Schelte für baubetriebliche Gutachter scheint mittlerweile schick zu sein.“5) Die Kritik und deren Diskurs erscheinen sowohl für die wissenschaftliche als auch für die praktische Auseinandersetzung von erhöhter Relevanz, zeigt sie doch zum einen in gewisser Weise die Antwortlosigkeit6) auf ein sich immerfort wiederholendes Wechselspiel: Ständig wechselnde Rechtsprechung in der Darlegung von Urteilen, die jedoch anschließend teilweise ohne Reflektion der besonderen Umstände des Einzelfalls herangezogen werden, führen zu immer neuen baubetrieblichen Modellen und Vorgehensweisen mit Rezeptcharakter, wodurch für die Anwender eine nicht mehr handhabbare Gemengelage unter größter Rechtsunsicherheit entsteht.7) Kritisch muss ferner angemerkt werden, dass sich der Eindruck einer bewussten Wahrung von „Zunftgeheimnissen“ aufdrängt und/oder von der absichtlichen Generierung von dienstleistungsbasierten Geschäftsmodellen auszugehen ist.8) Zum anderen lässt sich aus der vorgenannten Kritik aber auch die Vorgehensweise einiger Auftraggeber derartiger Gutachten interpretieren. Somit lässt sich baubetrieblichen Gutachten – im Gegensatz zu vielen anderen themenbezogenen Gutachten – immer ein gewisses Maß an Opportunismus unterstellen. 1)

2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

Eine plakative Beschreibung zum Begriff „baubetriebliches Gutachten“ liefert indirekt Heilfort: „Im Nachhinein wird die Leistung externer Gutachter dann hinzugezogen, wenn ein Nachweis von Anspruchsgrundlage und Anspruchshöhe mit eigenen Mitteln nicht gelingt, die intern aufbereiteten Unterlagen den Anforderungen der Rechtsbeistände nicht genügen oder wenn Wert gelegt wird auf eine unabhängige Beurteilung der Ursachen und Auswirkungen von Bauablaufstörungen. In diesem Fall werden im Rahmen eines Gutachtens zu Bauablaufstörungen Terminpläne, Bauprotokolle, Bautagebücher, Schriftstücke und sonstige Dokumente so ausgewertet und aufbereitet, dass beginnend vom vereinbarten Bau-Soll eine schlüssige und adäquat-kausale Darlegung der Ursachen tatsächlicher Verzögerungen und Mehrkosten möglich ist.“ Heilfort, (o.J.) http://heilfort.de/sachverstaendiger-bauablaufstoerungen-erstellung-gutachten-gestoerter-bauablauf-bauablaufanalyse/ Datum des Zugriffs: 22.05.2019 Roquette/Viering/Leupertz (2016), S. VII Vgl. Leinemann (2009), S. 567 Vgl. Eschenbruch/Gerstberger (2018), S. 45 Drittler (2009), Blog-Eintrag vom 10.09.2009 Diese gründet nach Auffassung der Verfasser mutmaßlich auf der erkennbaren Uneinigkeit zu Bauzeitthemen in der Rechtsprechung selbst sowie auf den teilweise eklatanten Widersprüchen in den Standardwerken. Vgl. Haderstorfer/Möhring (2019), S. 2 ebd. Fn. 6

11 Baubetriebliche Gutachten – Mysterium zur Wahrheits- und Entscheidungsfindung

125

Ein ordnender Diskurs scheint daher angezeigt – dies gerade vor dem Hintergrund der digitalen Umbrüche in der Bauwirtschaft. Unter der Fragestellung „Baubetriebliche Gutachten – Mysterium zur Wahrheits- und Entscheidungsfindung oder Dinosaurier aus der analogen Welt?“ wird der Umstand beleuchtet, inwiefern baubetrieblichen Gutachten die notwendige Glaubhaftigkeit und damit einhergehende Prüfbarkeit zugesprochen werden kann. Damit wird der Beitrag von Eschenbruch/Gerstberger unter dem Titel „2018: Zeitenwende für baubetriebliche Gutachten“ unter folgenden drei Aspekten gem. Abb. 11-1 weiter ausgeführt:

:HUWHNRGH[IUGLH9HUIDVVHU 6WDQGDUGLVLHUXQJLZ6

*ODXEKDIWLJNHLW hEHUSUIEDUNHLW

4XDOLWlWGHU'DWHQJUXQGODJHQ

Abb. 11-1

Anforderungsprofil an baubetriebliche Gutachten

Zuvor werden jedoch, die bisher nur grob skizzierten Problempunkte im nachfolgenden Abschnitt differenziert ausgeführt.

11.3

Problempunkte bei baubetrieblichen Gutachten trotz gerechtfertigter Ansprüche

Mehrkosten aus bauzeitlichen Störungen haben eine hohe wirtschaftliche Relevanz. Sie können durchaus 30-50 % der geplanten Kosten ausmachen.9) Doch die auftragnehmerseitige Durchsetzung gerechtfertigter Bauzeitnachträge ist ein schwieriges Unterfangen. Regelmäßig sind bauzeitbezogene Gegenüberstellungen der SOLL- und IST-Bauabläufe notwendig, um Gewissheit über das Vorliegen konkreter Bauzeitnachträge zu erlangen. Diese Aufgabe kann sehr arbeitsintensiv und fehleranfällig sein. Daher geben die Unternehmen für das Ausarbeiten geeigneter Darstellungen vermehrt baubegleitende Gutachten in Auftrag. Tatsächlich gibt es in Deutschland kaum noch Großbauprojekte, die ohne Gutachten abgewickelt werden.10) Dadurch lässt sich zwar eine gewisse Objektivität erreichen, aber auch hier sind bleibende Uneinigkeiten zwischen den Vertragsparteien möglich. Manche Fälle müssen letztendlich gerichtlich geklärt werden. Die Bauzeitennachträge der privaten Gutachter sind in der Praxis nicht immer darauf ausgelegt, die Ansprüche des Mandanten vor Gericht darzulegen, sondern dienen erfahrungsgemäß als Grundlage für Nachtragsverhandlungen mit dem Auftraggeber. Aus strategischen Gründen werden Eigenverzögerungen des Mandanten daher in Einzelfällen gezielt verdeckt und die Anforderungen der Rechtsprechung teilweise vernachlässigt, um die bauzeitlichen Forderungen in einem ersten Aufschlag möglichst hoch zu beziffern und den Aufwand der gutachterlichen Bearbeitung zunächst so gering wie möglich zu halten. Mitunter werden Information durch den Mandanten nicht objektiv weitergereicht oder gänzlich verschwiegen, um das Nichtbestehen eines Rechtsanspruchs gegenüber dem 9) 10)

Vgl. Roquette/Viering/Leupertz (2016), Vorwort zur ersten Auflage, S. VII Vgl. Eschenbruch/Gerstberger (2018), S. 45

126

Teil B – Baubetrieb

eigenen Privatgutachter zu verschleiern. In einigen Fällen wird aber auch Projektwissen zurückgehalten, da fälschlicherweise vom Mandanten angenommen wird, dass aus dem vorliegenden Störungssachverhalt keine Ansprüche abgeleitet werden können. Allerdings bieten derartige Vorgehensweisen große Angriffsflächen für Zurückweisungen seitens des Auftraggebers und können ein „Ping-Pong-Spiel“ der Privatgutachter auslösen, in dem fachliche Diskussionen über die gerichtlichen Anforderungen an die Darlegung von Ansprüchen wegen Bauablaufstörungen ausbrechen, aber eine konstruktive Lösungsfindung in den Hintergrund gerät.11) Dieses Vorgehen lässt sich dem Begriff „Opportunismus“ zuordnen. Neben den unterschiedlichen Verwendungszwecken prägt auch die fehlende methodische Standardisierung für die Erstellung der baubetrieblichen Gutachten den von Eschenbruch/Gerstberger bezeichneten „Wildwuchs“.12) Im Einzelnen lassen sich hierbei folgende Tatsachen bemängeln: Die aktuelle Rechtsprechung findet bei der Erstellung von baubetrieblichen Gutachten mal mehr, mal weniger Berücksichtigung; oft bleiben Mindestinhalte zum Sachvortrag unberücksichtigt oder die Ermittlung von Bauzeitansprüchen erfolgt ohne jeglichen Bezug zu einer Anspruchsgrundlage. Mitunter werden von der Gutachterin/vom Gutachter jahrelang praktizierte Methoden zur Darstellung der Bauzeitansprüche nicht angepasst, sondern ohne Blick auf aktuelle Urteile und zugehöriger Fachliteratur starr abgearbeitet. Teilweise werden abstrakte Methoden zur Ermittlung der Bauzeitverlängerungen verwendet, die längst veraltet sind und den IST-Bauablauf vernachlässigen. Die IST-orientierte Ermittlung der Bauzeitverlängerung scheitert u.a. auch, weil Eigenverzögerungen, Maßnahmen zur Schadensminderung und Nachtragsleistungen bei der Berechnung der Gesamtbauzeitverlängerung unzulässigerweise außer Acht bleiben.13) Speziell die von der aktuellen Rechtsprechung geforderten Prüfungen, ob die SOLL-Bauzeiten mit den von der Preiskalkulation umfassten Mitteln bei ungestörtem Bauablauf überhaupt hätten eingehalten werden können sowie Untersuchungen zur Leistungsfähigkeit des Mandanten, fehlen in den baubetrieblichen Gutachten.14) Ferner neigen gestörte Bauabläufe zu einer stark ausgeprägten Komplexität. Dadurch kann ein hoher Abstraktionsgrad in den baubetrieblichen Gutachten zustande kommen. Die Verständlichkeit bei der Durchsicht des Gutachtens ist daher häufig nicht gegeben; grundlegend fehlt es an den grundsätzlichen Merkmalen, die eine wissenschaftliche Arbeit in Bezug auf die Textproduktion kennzeichnet. Ein „schnelles Aussteigen“ des geneigten Lesers ist oftmals zu verzeichnen, so dass vielerlei Gutachten Gefahr laufen mit dem Begriff „unverständlich“ oder „nicht nachvollziehbar“ zurückgewiesen zu werden. Die fehlende Standardisierung lässt sich somit in eine nicht gegebene Standardisierung des Gutachtens selbst (Gliederung und Mindestvortrag) und in die Anwendung nicht standardisierter Nachweismethoden differenzieren. Problematisch bei der Erstellung baubetrieblicher Gutachten sind die Verbindlichkeit und die Qualität des geplanten Bauablaufs sowie die Projektdokumentation, die die Grundlage für SOLL-IST-Vergleiche und die Bewertung von störungsbedingten Auswirkungen abbildet (mangelhafte Qualität der Datengrundlage). Häufig existiert kein Vertragsterminplan, der den ungestörten Bauablauf zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses wiedergibt15) oder aber die Qualität des vertraglich vereinbarten SOLL-Terminplans entspricht nicht den baubetrieblichen Anforderungen zum Kausalitätsnachweis von Bauablaufstörungen. Durch eine geringe Detailtiefe, wenig Informationen über Abhängig11) 12) 13) 14) 15)

Vgl. Tiesler (2018), S. 140f. Vgl. Eschenbruch/Gerstberger (2018), S. 46 Vgl. OLG Köln 28.01.2014 - 24 U 199/12; BGH 21.03.2002 - VII ZR 224/00; KG Berlin 19.04.2011 - 21 U 55/07 Vgl. OLG Köln 28.01.2014 - 24 U 199/12; OLG Dresden 09.01.2013 - 1 U 1554/09 Vgl. Kumlehn (2003), S. 13; Wanninger (2012), S. 6; ähnlich Roquette/Viering/Leupertz (2016), Rdn. 535

11 Baubetriebliche Gutachten – Mysterium zur Wahrheits- und Entscheidungsfindung

127

keitsbeziehungen und Kapazitätseinsätze sowie durch eine intransparente Einarbeitung von Zeitreserven soll ein anstehender Termindruck vermieden und baubetriebliche Interpretationsmöglichkeiten bei der Bewertung von Bauablaufstörungen geschaffen werden. In den meisten Fällen sind die Terminpläne nicht auf das praktische Bauprojektmanagement ausgelegt, sondern treten als „Rüstung für Konflikte“ auf.16) Somit fehlt es an einem belastbaren Beweismittel, das den ungestörten Bauablauf des Auftragnehmers glaubhaft und prüfbar wiedergibt. Die nachträgliche Erstellung einer SOLL-Basis für die Terminplanfortschreibung macht daher oftmals Detaillierungen und Einfügungen von Abhängigkeitsbeziehungen in den Vertragsterminplan erforderlich, die beim Auftraggeber regelmäßig auf Ablehnung stoßen.17) Mit welcher Aussagekraft sich SOLL-ISTVergleiche des Bauablaufs in den baubetrieblichen Gutachten umsetzen lassen, ist des Weiteren von der Qualität der Projektdokumentation des IST-Bauablaufs abhängig. Dies trifft speziell hinsichtlich dessen Detaillierung und Strukturierung zu. Ein zentrales Problem bei der Berichterstattung ist, dass in der Regel nur wenig bis kein Bezug zum SOLL-Bauablauf hergestellt wird.18) Durch die fehlende Korrespondenz wird eine nachträgliche, manuelle und aufwendige Überführung der Dokumentation als bauablaufbezogene Darstellung erforderlich. Hierbei entstehen oftmals Interpretationsspielräume, die Ungenauigkeiten und Fehler bei SOLL-IST-Vergleichen verursachen.19) In Zeiten der Digitalisierung erscheint eine derartige Vorgehensweise wie aus dem Mesozoikum. Durch den fehlenden Einsatz softwaregestützter Dokumentation beschränkt sich die Erstellung der Projektdaten zudem auf allgemeine Berichtsthemen, die in Formblättern abgefragt werden, ohne die Produktionsfaktoren tätigkeitsbezogen zu strukturieren. Da in der Regel auch die Struktur der Urkalkulation nicht kompatibel zur Terminplanung ist, muss auch zur Berechnung der finanziellen Ansprüche eine nachträgliche und händische Zuordnung der Kosten zu den Vorgängen im SOLL- und im IST-Terminplan vorgenommen werden, was in Hinblick auf die heutigen Möglichkeiten der Digitalisierung kaum nachvollziehbar ist. Damit bleibt resümierend zu konstatieren: Die in der Praxis vorzufindende Beschaffenheitsbandbreite baubetrieblicher Gutachten resultiert zum einen aus der normativen, strategischen und organisatorischen Zusammenarbeit zwischen GutachterIn und Mandanten zum anderen aus der unterschiedlichen Qualität der vorhandenen Projektdokumentation. Hinzu kommt eine fehlende Standardisierung zur Gutachtenerstellung selbst, die sich in die nicht gegebene Vorlage einer Gliederung und eines Mindestvortrags und in die Anwendung nicht standardisierter Nachweismethoden differenzieren lässt. Aus gutem Grund hat daher der Arbeitskreis X des 7. Deutschen Baugerichtstags einen Leitfaden zur Festlegung von differenzierten Bewertungsmodellen für die Durchführung erforderlicher Kausalitätsnachweise vorgeschlagen.20) Ein Vorbild für diesen Vorschlag ist sicherlich das britische SCL-Protocol, in dem bereits mit „System-Dynamics“ eine Simulationsmethode sowie der Einsatz von BIM Erwähnung finden.21) Daher wird im Fortgang die Besprechung einer standardisierten Nachweismethode abgegrenzt. In diesem Kontext sei aus Sicht der Verfasser jedoch mit Blick in die Zukunft abschließend folgende kritische Frage erlaubt: Lassen sich hochkomplexe Zusammenhänge dargestellt in hohen Abstraktionsgraden unterlegt mit einer enormen Anzahl an Daten zukünftig analog darstellen – ergo sind Textausführungen nebst Anlagen das richtige Medium? 16) 17) 18) 19) 20) 21)

Vgl. Wanninger (2012), S. 9 Vgl. mit vielen Beispielen und Verweisen Vygen/Joussen/Lang/Rasch (2015), S. 528ff. Vgl. auch Kumlehn (2003), S. 15; Möhring (2012), S. 277 Vgl. Tiesler (2018), S. 152 Vgl. Arbeitskreis X (2018), S. 62; Einen Leitfaden könnte bereits Tiesler liefern: Vgl. Tiesler (2018) Vgl. SCL-Protocol (2017)

128

Teil B – Baubetrieb

11.4

Aspekte zur Glaubhaftigkeit baubetrieblicher Gutachten

Im Fortgang der Darstellung werden nun die drei Aspekte zur Glaubhaftigkeit baubetrieblicher Gutachten nach Abbildung 1-1 dezidiert in chronologischer Reihenfolge betrachtet. Sie liefern damit eine mögliche Antwort auf die in Kapitel 3 beschriebenen Problempunkte baubetrieblicher Gutachten, die mit den Begriffen „Opportunismus“, „fehlende methodische Standardisierung“ und „mangelhafte Qualität der Datengrundlage“ belegt wurden.

11.4.1

Wertekodex für die Verfasser von baubetrieblichen Gutachten

In diesem Kontext hat die private Gutachtertätigkeit (Sachverständige des Baubetriebs) in den meisten Fällen das Ziel, ein vorprozessuales baubetriebliches Privatgutachten zu erstellen, welches einem sog. „qualifizierten Parteivortrag“22) dient. Jedoch können auch während eines Gerichtsverfahrens private Gutachten zur „Erhellung“ angefertigt werden. Rechtlich unterliegen derartige Gutachten dem Werkvertragsrecht gem. §§ 631 BGB ff.23), wobei die Haftungsprivilegierung nach § 839a BGB wie bei gerichtlichen Sachverständigen nicht gegeben ist.24) Mit der Beauftragung von baubetrieblichen Gutachten stellen sich eine Reihe von Rahmenbedingung ein, die grundsätzlich bei jeder Dienstleistung in Bezug auf „das Produkt“ vorzufinden sind; diese lassen sich wie folgt kategorisieren:25) 1. Leistungsfähigkeit des Dienstleistungsanbieters im weiteren Sinne, 2. Integration des externen Faktors (Mandant), 3. Immaterialität der Leistung verbunden mit einer erhöhten Kaufunsicherheit. Die Mandatserteilung erfolgt daher sehr häufig aufgrund persönlicher Beziehungen, Glaube an eine Marke, personelle Schlagkräftigkeit eines Sachverständigenbüros (Personalstärke und -qualifikation) oder aufgrund der räumlichen Nähe. Die Vermittlung der Leistungspräsentation geschieht dabei über mannigfaltige Kommunikationswege (Homepage, Vorträge, persönliche Kommunikation etc.). Regelmäßig stehen sich hier Sachverständige im Wettbewerb gegenüber. Mit der Beauftragung eines baubetrieblichen Gutachtens wird grundsätzlich die Erwartungshaltung von dem Mandanten eingenommen, dass anschließend eine Mehrkostenforderung rechtlich abgesichert vorliegen würde – zumeist auch schon mit konkreten Höhenvorstellung verbunden, die oftmals aus den Ergebnissen der kaufmännischen Nachkalkulation resultieren. Diese grundsätzliche Erwartungshaltung ist in einigen Fällen nur vordergründig, da die Motivlage der Projektbeteiligten eher in einer Verschiebung der monetären Ergebnisverantwortlichkeit auf den baubetrieblichen Gutachter zu suchen ist. Es lässt sich somit resümierend konstatieren, dass die Beauftragung einerseits und die Erwartungshaltung und deren dahinterliegenden Motive anderseits in der Regel nicht objektiviert und zwangsläufig opportunistisch geprägt sind. In Kombination mit mangelnder Detail-Standardisierung im Baubetrieb selbst als auch mit häufig vorgefundenen mangelhaften oder nicht ausreichenden Daten22) 23) 24) 25)

Roquette/Viering/Leupertz (2016), Rdn. 1320 Vgl. Staudt (2015), S. 18 Vgl. Schilling (2018), S. 52 Vgl. Meffert/Bruhn (2012), S. 243

11 Baubetriebliche Gutachten – Mysterium zur Wahrheits- und Entscheidungsfindung

129

grundlagen bei den jeweiligen Mandanten, stellen sich zum Teil Arbeitssituationen ein, die an einer anschließenden Glaubhaftigkeit des Produkts „baubetriebliches Gutachten“ durchaus begründet zweifeln lassen. Auf Grund dieser Feststellungen erscheint es sinnhaft einen diskussionsoffenen Anstoß für einen Wertekodex für baubetriebliche PrivatgutachterInnen aufzusetzen, der die ökonomischen Zwänge zwischen Mandaten und privatem Gutachter zum einen transparent darlegt und zum anderen ein von außen zu beurteilendes Regulativ bietet, so dass die Glaubwürdigkeit in baubetriebliche Gutachten gesteigert werden kann. Grundsätzlich sind Werte „Strukturen normativer Erwartungen, die sich im Zuge reflektierter Erfahrung (Tradition, Sozialisation, Entwicklung einer Weltanschauung) herausbilden. Werte strukturieren das Erkennen, Erleben und Wollen, indem sie Orientierungsmaßstäbe für die Bevorzugung von Gegenständen oder Handlungen bilden […]. Gesellschaftliche Probleme werden häufig auf Verlust oder Verfall von (moralischen) Werten zurückgeführt, die Therapie entsprechend in Form moralischer Aufrüstung betrieben.“26) Die Überführung bestimmter Werte in einen Kodex lassen sich daher auch als Verhaltensregelplan bezeichnen. Hierin sollten die rechtlich bedeutsamsten und allgemein anerkannten Regeln wiederzufinden sein. In diesem Beitrag wird nachfolgend ein erster Vorschlag für einen derartigen Kodex unter der Überschrift „Wertekodex für die baubetriebliche Gutachtenerstellung“ gemacht, der sich in drei Gliederungspunkte unterteilt und maßgeblich die Inhalte des Beitrags von Gerstberger/Eschenbruch27) sowie Staudt28) aufgreift: • Aspekte zur privaten Gutachterin/zum privaten Gutachter • Aspekte zur Geschäftsbeziehung zwischen privater Gutachterin/privatem Gutachter und Mandanten • Aspekte zur Gutachtenerstellung Der erste Aspekt bezieht sich in seinen Grundzügen auf den Begriff des ehrbaren Kaufmanns.29) Mit dem zweiten Aspekt soll wesentlich die Stellung zwischen privater Gutachterin/privatem Gutachter und Mandanten sowie dessen Honorierung betrachtet werden. Mit dem dritten Aspekt zur Gutachtenerstellung werden schließlich die Verhaltensregeln zur baubetrieblichen Analysearbeit und der Textproduktion beschrieben. Nachfolgender diskussionsoffener Vorschlag für einen Verhaltenskodex wird gegeben: Aspekte zur privaten Gutachterin/zum privaten Gutachter • Die private Gutachterin/Der private Gutachter ist in der Darlegung und Beschreibung von Tatsachen ehrlich; in der Prüfung von Tatsachen fair und objektiv. • Die private Gutachterin/Der private Gutachter handelt in seiner baubetrieblichen Beratung weitsichtig und verantwortungsbewusst. • Die private Gutachterin/Der private Gutachter legt vollumfänglich seine beruflichen Qualifikationen und seine Weiterbildungsteilnahmen offen. 26) 27) 28) 29)

Suchanek/Lin-Hi/Maier (2018), https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/werte-49667/version-272895. Datum des Zugriffs: 08.05.2019 Eschenbruch/Gerstberger (2018) Staudt (2015) „Leitbild für verantwortliches Handeln in der Wirtschaft. Ein ehrbarer Kaufmann zeichnet sich dadurch aus, dass Werte und Tugenden wie ehrlichkeit, Verlässiglichkeit (sic!) und Integrität die Basis für das eigene Handeln darstellen. Das Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns hat in jüngster Zeit in der Praxis stark an Popularität gewonnen und steht in enger Beziehung zur gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen (Corporate Social Responsibility).“ Lin-Hi (2018), https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/ehrbarer-kaufmann-53804/version-276871 Datum des Zugriffs: 08.05.2019

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Teil B – Baubetrieb

• Die private Gutachterin/Der private Gutachter stellt vollumfänglich seine Referenzen nach Art, Umfang und Bearbeitungsdauer dar. • Die private Gutachterin/Der private Gutachter übernimmt nur gutachterliche Tätigkeiten, die er fachlich vollumfänglich beurteilen kann. • Die private Gutachterin/Der private Gutachter verpflichtet sich zur Neutralität (unabhängige Auftragsdurchführung ohne Vorgabe von Ergebnissen). • Die private Gutachterin/Der private Gutachter verpflichtet sich zur Integrität. Es wird der Mut aufgebracht unzumutbaren Kundenwünschen konstruktiv zu widersprechen oder bei der Projektbearbeitung unpopuläre Entscheidungen zu treffen. • Die private Gutachterin/Der private Gutachter weist transparent auf Schwachstellen und Unsicherheiten des Gutachtens hin, um beim Mandanten keine zu hohen Erwartungen auf den Erfolg der bauzeitlichen Forderungen zu wecken. • … Aspekte zur Geschäftsbeziehung zwischen privatem Gutachter und Mandanten • In dem Gutachten wird offengelegt, ob es sich um ein einmaliges Mandat handelt oder ob ggf. mehrere Mandate bearbeitet werden oder worden sind. • Mandant und private Gutachterin/privater Gutachter wirken gemeinsam an der Wahrheitsfindung mit – es dürfen keine Unterlagen oder Sachverhalte unterschlagen werden. • Die Honorierung wird nicht erfolgsabhängig vereinbart. • Die Honorierung kann frei vereinbart werden (begrenzt durch Sittenwidrigkeit). • Bei Aufwandsverträgen sind die Tätigkeiten tagegenau zu beschreiben und darzulegen. • … Aspekte zur Gutachtenerstellung • Die private Gutachterin/Der private Gutachter verwendet die aktuellen Erkenntnisse aus der Baubetriebswissenschaft – er legt die gewählte Analysemethode offen. • Es werden nur objektive Daten verwendet, deren Nachvollziehbarkeit gegeben sein muss. • Es werden keine Datengrundlagen unzulässiger Weise verändert. • Eigenstörungen des Mandanten sind zwingend zu berücksichtigen und zu thematisieren. • Es werden nur relevante Informationen verwendet. • Es wird bei notwendigen Zitierungen immer auf die aktuelle Literatur zurückgegriffen. • Die private Gutachterin/Der private Gutachter verwendet eine angemessene Wortwahl (fachlich, respektvoll). • Die Aufgabenstellung der privaten Gutachterin/des privaten Gutachters und die erforderliche Zusammenarbeit mit den Mandanten werden gemeinsam mit dazugehörigem Zeitplan definiert und protokoliert. • Umfang und Qualität der der Gutachterin/dem Gutachter zur Verfügung gestellten Projektdaten sind festzulegen. • ...

11.4.2

Standardisierung

Der Problempunkt einer fehlenden Standardisierung zur Gutachtenerstellung selbst, die sich im Abschnitt 11.3 in die nicht gegebene Vorlage einer Gliederung und eines Mindestvortrags und in die Anwendung nicht standardisierter Nachweismethoden differenzieren lässt, soll in diesem Beitrag einen ersten Ansatzpunkt zur Vorlage einer Gliederung und

11 Baubetriebliche Gutachten – Mysterium zur Wahrheits- und Entscheidungsfindung

131

eines Mindestvortrags finden. Anknüpfend an den Beitrag von Eschenbruch/Gerstberger wird nachfolgend ein Ansatz für den Aufbau eines baubetrieblichen Gutachtens mit entsprechenden inhaltlichen Qualitätsanforderungen vorgestellt. Diese Vorgehensweise soll ordnen und eine notwendige Unterstützung bei der Aufbereitung eines Gutachtens geben. Der Aufbau kann an die jeweilige die Aufgabenstellung des baubetrieblichen Gutachtens und an die Individualität des Bauprojekts angepasst werden. Nachfolgend wird ein diskussionsoffener Vorschlag für eine Gliederung und einen Mindestvortrag präsentiert: 1. Deckblatt: Überschrift der Stellungnahme mit Bezug zum wesentlichen Inhalt, Bezeichnung des Bauvorhabens, Auftraggeber des baubetrieblichen Gutachtens, Name und Adresse des Sachverständigenbüros, BearbeiterIn, Bearbeitungszeitraum, Ausfertigungsdatum, gerichtliches Aktenzeichen (soweit vorhanden). 2. Inhaltsverzeichnis: Überblick zum Inhalt des Gutachtens mit Seitenzahlen und anschließendem Abkürzungsverzeichnis. 3. Grundlagendarstellung: kurze Projekt- und Problembeschreibung. • Baubeteiligte: Name, Adresse vom Auftragnehmer und Auftraggeber sowie ggf. weitere wichtige Projektbeteiligte (Projektsteuerer, Objektplanung etc.), Nennung der namentlichen VertreterIn für den Bauzeitnachtrag. • Aufgabenstellung: Zweck und Datum der Beauftragung, mögliche Verwendung des Gutachtens als Grundlage für einen Bauzeitennachtrag mit entsprechender Nennung der Nachtragsnummer, zeitlichen Projektrahmen (z.B. Vertragsbeginn bis Bauende oder einem frei gewählten Stichtag). • Vorgehensweise zur gutachterlichen Stellungnahme: Beschreibung des Wegs zur Problemlösung, Anknüpfung an vorherige gutachterliche Stellungnahmen, vom Gericht vorgegebene Anknüpfungstatsachen.30) • Zur Verfügung gestellte Unterlagen: Auflistung der verwendeten Unterlagen sowie Bezugs- und Informationsquellen. 4. Darstellung der Vertragsgrundlagen aus baubetrieblicher Sicht: Datum der Auftragserteilung, Auftragssumme, Leistungsumfang des Auftragnehmers, Liste und Rangfolge der Vertragsbestandteile. • Ausführungsfristen und -termine: Baubeginn, (Ermittlung) Fertigstellung und Ausführungsdauer in Arbeits- und Werktagen, festgelegte Arbeitszeiten und Arbeitstage pro Woche. • Zwischentermine: verbindliche und unverbindliche Einzelfristen. • Allgemeine Regelungen zum Bauablauf und dessen terminliche Darstellung: vereinbarte Art der Darstellung (z.B. Wege-Zeit-Diagramm, Balkenplan, vernetzter Balkenplan etc.) Struktur, Detaillierung, Kommunikation zwischen den Baubeteiligten, Vertragsstrafen bei Fristüberschreitung, periodenbezogene oder ereignisbezogene Fortschreibung der Terminpläne. • Mitwirkung des Auftraggebers: Pflichten des Auftraggebers inkl. der maßgeblichen Zeitvorgaben, Fristen für Plananforderungen durch den Auftragnehmer, Planlieferfristen des Auftraggebers, Bereitstellungszeitpunkte von Genehmigungen, Koordination der verschiedenen Baubeteiligten, Bemusterungstermine usw. • Vertragsterminplan: Erläuterungen zur Verbindlichkeit eines Terminplans resp. mehrerer Terminpläne (Angebotsterminplan, nachträgliche Vereinbarung durch die Vorlage eines Bauzeitenplans innerhalb einer bestimmten Frist), kurze Beschreibung des Terminplaninhalts (Datum, Art der Darstellung, Anzahl der Vorgänge, Struktur, zugrunde gelegte Feiertage sowie Betriebsferien, Format, An30)

Vgl. Staudt (2015), S. 16

132

Teil B – Baubetrieb

zahl der Winterbauphasen etc.). Existiert kein Vertragsplan: Historie der vom Auftragnehmer an den Auftraggeber früh überreichten Terminpläne aufzeigen und begründen, warum welche Terminplanbasis als Ausgangspunkt für die Bewertung der Bauzeitansprüche verwendet wird; Verweis darauf, dass die herrschende Meinung des baurechtlichen und baubetrieblichen Schrifttums, in dem ein Vertragsterminplan keine Voraussetzung für bauzeitliche Ansprüche sieht.31) Benannte Terminpläne dem baubetrieblichen Gutachten in gut leserlicher Form als Anlagen beifügen. 5. Baubetriebliche Bewertung des SOLL-Bauablaufs • Untersuchung der baubetrieblichen Anforderungen an den SOLL-Bauablaufplan: Aussagekraft (Eignung von Darstellungsform und -tiefe für spätere SOLL-IST-Vergleiche, Darstellung der Abhängigkeiten), Vollständigkeit (Orientierung an Vertragsbestandteilen, Darstellung von auftraggeberseitigen Mitwirkungszeitpunkten, Wiedergabe von verbindlichen Fristen), Rechenbarkeit (vollständige Vernetzung, Darstellung von Produktivitätsfaktoren). • Entwicklung des SOLL-0-Bauablaufplans als Grundlage für den Kausalitätsnachweis: Detaillierung, Ergänzung von Abhängigkeitsbeziehungen mit Erläuterung zur Erstellung eines vollständig vernetzten SOLL-Ablaufplans auf Basis des Vertragsterminplans, Hervorhebung des kritischen Wegs, Ausweis von Produktionsfaktoren, Herstellung eines Bezugs zur Ur- oder Arbeitskalkulation, Machbarkeitsuntersuchung für wesentliche Schlüsselvorgänge des kritischen Wegs (anhand von SOLL- und IST-Vergleichen von Ausführungsdauern, Verifizierung einer Measured Mile, Prüfung von Zeitansätzen der Kalkulation). 6. Tatsächlicher Bauablauf • Grundlagen zur Analyse und Ermittlung des IST-Bauablaufs: Auflistung der ausgewerteten Dokumente, Erläuterung der Vorgehensweise und Darstellung (z.B. farbliche Unterscheidung von auftraggeber- und auftragnehmerseitigen, vertragskonformen und vertragswidrigen Störungen). • Eigenstörungen des Auftragnehmers: Definition, Benennung und Ursachenerläuterung der Eigenstörungen, Beginn, Ende, Dauer, Ausweis von direkt betroffenen Vorgängen, Beschreibung der weiteren Folgen (kritisch) und Gegenmaßnahmen. • Beschleunigungen des Auftragnehmers: Benennung und Erläuterung der Maßnahmen sowie der beschleunigten Vorgänge und (Gesamt-) Auswirkungen. 7. Feststellung der AG-Bauablaufstörungen dem Grunde nach (haftungsbegründende Kausalität gem. § 286 ZPO) • Inhalte einer ordnungsgemäßen Darlegung der jeweiligen Behinderungstatbestände: Aufführung der aktuellen Maßgaben der Rechtsprechung an den haftungsbegründenden Kausalitätsnachweis. • Vorgehensweise: Erläuterung der Nachweismethode mit Bezug auf Methoden der Literatur, differenzierter Umgang mit vertragskonformen und vertragswidrigen Störungen, Unterscheidung von verschiedenen Kausalitätsformen (u.a. Monokausalität, konkurrierende/addierende Kausalität). • Einzelfallbezogene Störungsdokumentation im Kontext der bauablaufbezogenen Darstellung: Voreinschätzung der Anspruchsgrundlage, „Darstellung 31)

Vgl. Tiesler (2018), S. 229 mit Verweis auf Würfele/Gralla/Sundermeier (2012), Rdn. 1929; Roquette/Viering/Leupertz (2016), Rdn. 535, 563, 573; Heilfort (2017), S. 178f. Genschow/Stelter betonen demgegenüber, dass der vertragliche Bauzeitenplan der einzig denkbare Maßstab für die Berechnung der Fristverlängerung ist. Vgl. Genschow/Stelter (2013), S. 57; OLG Brandenburg 02.12.2015 - 11 U 102/12

11 Baubetriebliche Gutachten – Mysterium zur Wahrheits- und Entscheidungsfindung

133

und Beschreibung jeder einzelnen Behinderung nach Art, Dauer und Umfang (regelmäßig durch eine Behinderungsanzeige und Behinderungsabmeldung belegt). Darlegung der konkreten Auswirkung jeder einzelnen Behinderung auf die jeweilige Tätigkeit [betroffene Einzelvorgänge] unter Berücksichtigung von Ausweichmöglichkeiten oder Gegenmaßnahmen. Führung des Nachweises zwischen behaupteter Pflichtverletzung und einer hieraus resultierenden Behinderung. Konkrete Darlegung des Behinderungstatbestands anhand einer bauablaufbezogenen Darstellung durch IST- und SOLL-Abläufe.“,32) inkl. Prüfung der auftragnehmerseitigen Leistungsbereitschaft, Nennung der vorliegenden Kausalitätsform sowie Beleg des Behinderungstatbestands sowie dessen Dauer und Umfang mit aussagekräftigen Dokumenten. • Zwischenfazit: Übersicht über die Einzelstörungen des Bauablaufs (Bezeichnung, Beginn, Dauer, Ende, voreingeschätzte Anspruchsgrundlage). 8. Feststellung der zeitlichen Folgen aus Bauablaufstörungen (haftungsausfüllende Kausalität gem. § 287 ZPO) • Anforderungen an eine ordnungsgemäße Darlegung der jeweiligen Behinderungsfolgen in Bezug auf die zeitliche Folge: Aufführung der aktuellen Maßgaben der Rechtsprechung an den haftungsausfüllende Kausalitätsnachweis (Schadenschätzungskriterien des § 287 ZPO). • Vorgehensweise zur Darstellung der haftungsausfüllenden Kausalität: Beschreibung der Berechnung der Bauzeitverlängerung mithilfe der Terminplanfortschreibung inkl. Anpassungen an den IST-Bauablauf. • Ermittlung der zeitlichen Folgen gem. § 6 Abs. 4 VOB/B: Einarbeitung der Störungssachverhalte (Behinderungen, Nachträge, Mengenänderungen, Eigenstörungen des Auftragnehmers sowie deren Sekundärverzögerungen) in den vernetzten SOLL-Ablaufplan zur störungsmodifizierten Fortschreibung mit IST-Abgleich, SOLL-IST-Vergleiche der Terminpläne / der Fertigstellungszeitpunkte (mit sämtlichen Störungen, ohne Eigenverzögerungen und ohne auftragnehmerseitige Beschleunigungsmaßnahmen). • Zwischenfazit: Übersicht über die (maßgeblichsten) kritischen Störungssachverhalte (Hauptstörungen), Bezifferung des tatsächlichen Bauzeitverlängerungsanspruchs, Bezifferung der nicht genutzten Zeitreserven resp. des Verzugsanteils des Auftragnehmers. 9. Ermittlung der monetären Folgen (haftungsausfüllende Kausalität gem. § 287 ZPO) • Anforderungen an eine ordnungsgemäße Darlegung der jeweiligen Behinderungsfolgen in Bezug auf die monetären Folgen: Differenzierung der Zeitanteile nach Anspruchsgrundlagen der bauzeitverlängerungsauslösenden Störungsursachen, Aufführung der aktuellen Maßgaben der Rechtsprechung für die unterschiedlichen Bewertungsmaßstäbe der jeweiligen Anspruchsgrundlagen. • Einteilung in Abrechnungszeiträume differenziert nach Anspruchsgrundlagen: Zusammenfassung von Zeiträumen ggf. unter Anwendung der Schwerpunkttheorie,33) Unterscheidung von Störungs- resp. Annahmeverzugszeiträumen innerhalb der vertraglichen Bauzeit und Zeiträumen, die über den vertraglichen Fertigstellungszeitpunkt gem. SOLL-0 hinaus gehen. • Grundlagen zur Berechnung der Mehrkosten: Erläuterungen zur Kalkulation (Kalkulationsverfahren mit vorausbestimmten Zuschlägen oder Kalkulations32) 33)

Möhring (2012), S. 130f. Vgl. hierzu Roquette/Viering/Leupertz (2016), Rdn. 883

134

Teil B – Baubetrieb

verfahren über die Angebotssumme, urkalkulatorischen Ansätze für AGK, BGK, WuG; Gesamtsumme BGK, AGK, WuG, zeitabhängige oder umsatzabhängige Kalkulation der Gemeinkosten). • Rechtsnormbezogene Ermittlung der Mehrkosten für den jeweiligen Abrechnungszeitraum: Einzelkosten der Teilleistungen (zusätzliche Lohn-, GeräteNachunternehmer- und Transportkosten, Materialpreiserhöhungen, zusätzliche Baustelleneinrichtung und -sicherung, Winterbaumaßnahmen), Umlagen (AGK, BGK, WuG), Sonderkosten (Rechtsberatungs-, Bürgschafts- und Sachverständigenkosten).34) • Ausgleich der Gemeinkosten: Ermittlung der erwirtschafteten Deckungsbeiträge durch Nachtragsleistungen, Abzug von den zuvor berechneten, fehlenden Umlagebeträgen. • Zusammenfassung der Mehrkosten (ggf. mit Vorbehaltung für Kosten, die zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung nicht beziffert werden können). 10. Zusammenfassung: Kurze Wiederholung des Themas und der Ergebnisse.

11.4.3

Qualität der Daten

Der Trend zu einer digitalisierten Baustelle wird sich langfristig auf die Erstellung von baubetrieblichen Gutachten auswirken;35) zukunftsweisend erscheint es daher wichtig sich weiterhin mit der Bewältigung redundanter und inkompatibler analoger Daten auseinanderzusetzen. Demzufolge wird im Fortgang der Betrachtung das BIM-Modell im Kontext baubetrieblicher Gutachten stehen. In der künftigen gutachterlichen Praxis kann es daher auf eine inhaltliche Prüfung der in den BIM-Modellen enthaltenen Daten durchaus ankommen. Genau wie in der „analogen Papierwelt“ müssen GutachterInnen dafür die Projektinformationen aus den Dateninhalten objektiv erfassen und verstehen,36) indem sie: • entweder die subjektiven Wahrnehmungen menschlicher DatenerstellerIn hinterfragen • oder auf die Ergebnisse automatisierter Verfahren eingehen, die ggf. für einen bestimmten Zweck37) voreingestellt sind.38)

11.4.3.1

Aspekte über digitale und analoge Arbeitsweisen

BIM ist nicht nur eine Software, sondern auch eine Methode für einen interoperablen Ansatz und bietet „[…] eine Möglichkeit, [um] die Informationsprozesse während des Lebenszyklus der Bauwerke aufzuzeichnen und zu beschreiben.“39) Hierfür ist eine gemeinsame Datenumgebung erforderlich, die ein „[…] zentrales System zur Organisation, Sammlung, Auswertung, Koordination, Archivierung und Bereitstellung von Daten für alle Projektbeteiligten [ist und als] zentrale, zuverlässige und maßgebende Informationsquelle“40) dient. In ihr sind auch vereinbarte Daten enthalten, die durch die Projektbe34) 35) 36) 37) 38) 39) 40)

Vgl. Haderstorfer/Thieme-Hack/Niesel (2010), S. 368 Vgl. Eschenbruch/Gerstberger (2018), S. 52f. Vgl. Valavanoglou/Heck (2016), S. 4 Vgl. VDI 2552, Blatt 5 (2018), S. 8. Ebenso: Franz/Möhring/Gnerlich/Tiesler (2018), S. 137 Vgl. Pipino/Lee/Wang (2002), S. 211 in Verbindung mit Gnerlich (2019), Kapitel 2 und Kapitel 3 DIN EN ISO 29481-1 (2018), S. 7 Vgl. VDI 2552, Blatt 2 (2018), S. 5

11 Baubetriebliche Gutachten – Mysterium zur Wahrheits- und Entscheidungsfindung

135

teiligten entnommen und weiterverarbeitet werden können. Das zentrale Arbeitsmittel ist das digitale Gebäudemodell, das objektorientierte Bauteilmodelle beinhaltet.41) Die Bauteilmodelle umfassen projektbezogene Informationen, die von möglichst allen Projektbeteiligten einzupflegen sind.42) Im Falle einer gutachterlichen Bewertung von gestörten Bauabläufen muss hierüber die Rückverfolgung der geplanten SOLL- und tatsächlich ausgeführten IST-Bauabläufe gelingen. „Klassische BIM-Informationen“ zeichnen sich durch Geometrie-, Zeit-, Kostendaten aus.43) Daneben lassen sich weitere erklärende Informationen (in Form von Nutzungsdaten oder Daten über Materialeigenschaften usw.) den im BIM-Modell enthaltenen Objektattributen zuweisen. An den Objekten können gesonderte Dokumente angehängt werden oder sie verweisen auf externe Datenbankinhalte. Im Gesamtkontext werden die Absichten der Projektbeteiligten durch die zentralisierte Datenhaltung und die Möglichkeit gezielt Daten zu filtern transparent. Das Gebäudemodell ist eine geometrisch navigierbare Datenbank, in der die Informationen im virtuellen Bauwerk topologisch angeordnet sind und dadurch leichter abgerufen und interpretiert werden können.44) Der interoperable Ansatz sieht es vor, Informationen in spezielle Teilmodelle aufzuteilen, damit nur autorisierte BenutzerInnen einen Zugriff auf bestimmte Daten erhalten.45) Zum Beispiel können mit solchen Teilmodellen die geplanten und baulichen Leistungen in unterschiedlichen Fertigstellungsgraden zusammen mit den dazugehörigen elektronischen Schriftsätzen über einen Zeitverlauf abgebildet werden. Entsprechend lassen sich Geometrie-, Zeit- und Kostendaten semantisch miteinander verknüpfen, damit sie eine zusammenhängende Gesamtinformation bilden. Die dafür notwendigen Datensätze lassen sich objektorientiert zusammenstellen und verwalten. Dadurch sind gute Voraussetzungen zur Ausarbeitung und Visualisierung einer konkreten bauablaufbezogenen Darstellung46) gegeben.47) BIM ermöglicht es, die Ausführungsarbeiten mit vernetzten Geräten und Softwarelösungen umfangreich zu dokumentieren. Die aufgezeichneten Daten lassen sich viel schneller, detailliert erfassen, bewerten, verarbeiten und an entsprechender Stelle zur Kenntnisnahme übersenden. Hierfür bieten Wissenschaft und Praxis eine Vielzahl verschiedener Ansätze.48) Zudem gibt es bereits Lösungen für modellbasierte SOLL-ISTVergleiche, die hauptsächlich der Baufortschrittskontrolle dienen.49) Die aus diesen Techniken resultierenden Daten werden in der gemeinsamen Datenumgebung gespeichert und sind durch verschiedene Modelle zugänglich. Analoge Papierdarstellungen haben vergleichsweise den Nachteil, dass sie oft in umfangreichen Aktenordnern zusammengefasst sind. Die darin enthaltenen Unterlagen lassen sich nur in eine themenbezogene Reihenfolge hintereinander sortieren und mit gegenseitigen Verweisen strukturieren. Je nach Sortierung ist ein zeitaufwendiges Suchen und Blättern erforderlich, sobald zusammengehörige Informationen aus mehreren Unterlagen zusammengeführt werden. Die daraus abgeleiteten Erkenntnisse werden in der Regel in einem weiteren Papierdokument verfasst und ebenfalls nach einer bestimmten Sortierung 41) 42) 43) 44) 45) 46) 47) 48) 49)

Vgl. ebd., S. 4 Vgl. ebd., S. 5, 7 Vgl. ebd., S. 7 Vgl. Gnerlich (2017), S. 78-79 Vgl. VDI 2552, Blatt 5 (2018), S. 11 Vgl. Franz/Möhring/Gnerlich/Tiesler (2018), S. 134-139 Vgl. Gnerlich (2019), Kapitel 4 und 5 Umfassende Beispiele liefert: Merkel (2019), https://bausoftware.blogspot.com Datum des Zugriffs: 10.05.2019 Diese werden teilweise durch automatisierte Simulationsanwendungen unterstützt. Vgl. Gnerlich (2019), Kapitel 2

136

Teil B – Baubetrieb

abgeheftet. Sobald die Dokumente nicht einheitlich aufbereitet sind, können Interpretationsschwierigkeiten aufgrund eines nicht nachvollziehbaren Zusammenhangs entstehen. Darum sollten einheitlich aufgebaute Formulare genutzt werden, damit sich die Unterlagen gezielt finden und einsehen lassen.

11.4.3.2

Kriterien der Datenqualität

Beim Arbeiten mit BIM muss zwischen den Projektbeteiligten klar sein, zu welchen definierten Zeitpunkten sie welche Daten wie und in welcher Form austauschen.50) Dies sind häufig gestellte Fragen, die durch baubetriebliche Gutachten zu klären sind, sobald die Ursachen und Folgen von Bauablaufstörungen sachgerecht bewertet werden müssen. Aufschluss über diese Zusammenhänge können nur die verfügbaren Informationen geben, die sich in den digitalen Daten befinden.51) Hier spielt die Datenqualität eine entscheidende Rolle, um präzise Aussagen zu verschiedenen Fragen zu treffen. Bei der Datenqualität geht es nicht zwangsläufig um perfekte und mit der Realität übereinstimmende Informationen, sondern auch darum, ob die Datenhaltung geeignet ist, Informationen zuverlässig abzurufen, zu verarbeiten und zu verstehen, so dass vernünftige Entscheidungen für eine Unternehmung getroffen werden können.52) Zur Bestimmung der Datenqualität ist eine subjektive und objektive Datenanalyse notwendig, die von mehreren Kriterien abhängig ist (siehe z.B. Abb. 11-2).53) Festzuhalten bleibt, dass die Datenqualität tendenziell mit zunehmendem Alter des Systems abnimmt.54) Eine gute Datenqualität lässt sich aber vorzugsweise dadurch erreichen, wenn alle Projektbeteiligten für eine korrekte Datenhaltung motiviert sind.55) Auch hier können private GutachterInnen beratend zur Seite stehen.

50) 51)

52) 53) 54) 55)

Vgl. VDI 2552, Blatt 7 (2018), S. 2; Valavanoglou/Rebolj/Heck (2017), S. 392 Daten und Informationen werden häufig synonym verwendet. In diesem Beitrag wird hingegen davon ausgegangen, dass sich Informationen aus Dateninhalten ableiten lassen und abhängig von der subjektiven Wahrnehmung einer Beobachterin/eines Beobachters sind. Vgl. Orr (1998), S. 67 Vgl. Pipino/Lee/Wang (2002), S. 211ff. Vgl. Orr (1998), S. 68 Vgl. Orr (1998), S. 71

11 Baubetriebliche Gutachten – Mysterium zur Wahrheits- und Entscheidungsfindung

Kriterium

Das Ausmaß, inwieweit die Daten …

Zugänglichkeit Angemessener Umfang

… leicht und schnell verfügbar sind. ... für die jeweiligen Anforderungen einer Aufgabe groß sind bzw. wie angemessen sich das Datenvolumen darstellt.

Glaubwürdigkeit

… als wahr und brauchbar angesehen werden. … überhaupt vorhanden und für den jeweiligen Zweck angemessen detailliert ausgearbeitet sind. … zusammenhängend, z. B. als Objekt oder in einem (Teil-)Modell, aufgebaut sind.

Vollständigkeit Präzession / Übersichtlichkeit Einheitliche Darstellung Bearbeitbarkeit

… in einem konsistenten Format gleichbleibend erfasst und dargestellt sind. … bzw. ihre Werte leicht bearbeitet und für verschiedene Aufgaben angepasst werden können.

Fehlerfreiheit Interpretierbarkeit

... nicht falsch bzw. korrekt und zuverlässig sind. ... mit geeigneten Sprachen, Symbolen und Einheiten wiedergegeben werden und mit welcher übereinstimmenden Klarheit sie sich auslegen lassen.

Objektivität

… unvoreingenommen, wertfrei und sachlich sind.

Relevanz

… für die jeweilige Aufgabe anwendbar und hilfreich sind. … aufgrund ihrer Herkunft und hinsichtlich ihres Informationsträgers und -mediums als zuverlässig angesehen werden. … einen uneingeschränkten Zugriff zulassen und inwieweit dieser angemessen ist, um eine unzulässige Nutzung auszuschließen. … für die jeweilige Aufgabe zeitnah erstellt wurden und inhaltlich ausreichend informativ sind.

Reputation Sicherheit Aktualität Nachvollziehbarkeit

11.5

… für ihre Zwecke leicht verständlich sind. … von Nutzen sind und inwieweit sich Vorteile durch ihre Verwendung ergeben.

Mehrwert

Abb. 11-2

137

Kriterien der Datenqualität56)

Aktuelle Trends

Tendenziell lässt sich die BIM-Thematik derzeit nicht mehr aus dem Kontext baubetrieblicher Gutachten wegdenken. Entgegen einzelner Auffassungen ist BIM jedoch grundsätzlich – kein Garant – für einen störungsfreien und unstrittigen Bauablauf (siehe bspw. den Praxisbericht aus den USA: „World’s First BIM Claim“57)).58) Generell ist davon auszugehen, dass die erzeugten Daten auf den Baustellen infolge smarter Anwendungen zeitlich schnell getaktet sind und erheblich zunehmen werden. Zwar lässt sich dadurch mehr Transparenz für alle am Bauprojekt beteiligten Partner schaffen, dennoch birgt diese Entwicklung eine große Herausforderung für baubetriebliche Gutachten. So muss die Mächtigkeit und Struktur der Daten sinnvoll bewältigt bzw. gehandhabt werden, damit die Gutachten auf die prozessrelevanten Themen der Gerichte ausgerichtet sind.59) Die 56) 57) 58) 59)

In Anlehnung an Pipino/Lee/Wang (2002), S. 212 Vgl. Fierstein (2011) unter: www.constructionlawnowblog.com/design-and-technology/worlds-first-bim-claim. Datum des Zugriffs: 11.03.2019 So auch: Dischke/Ritter (2018), S. 733f. Vgl. Gnerlich (2017), S. 86

138

Teil B – Baubetrieb

Schwierigkeit wird darin bestehen, vorhandene, aber interpretationswürdige Daten derartig abzubilden, dass die streitgegenständlichen Sachverhalte aufgezeigt werden. Hier bietet es sich an, vorhandene Daten mithilfe einer BIM-basierten Bauablaufsimulation zu nutzen, um dynamische Ausführungsprozesse virtuell nachzubilden und anschließend zu hinterfragen.60) Das vorrangige Ziel besteht darin, Dokumentationslücken oder baubetriebliche Falschannahmen bei den zugrundeliegenden Datenwerten aufzudecken und einen in sich schlüssigen Gesamtzusammenhang auszuarbeiten. Je nach juristischen Auslegungskriterien könnten solche Bewertungsmethoden zukünftig zur Bestimmung tatsächlich erforderlicher Kosten gem. § 650c BGB an Bedeutung gewinnen, indem z.B. erforderliche Produktivitätsintensitäten der geplanten und tatsächlich ausgeführten Bauabläufe ermittelt oder überprüft werden.61) Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass sich die Daten unterschiedlich präsentieren und unter Hinzunahme der Gebäudegeometrie anschaulich darstellen lassen. Im Hinblick auf BIM sind diese Techniken in der Gutachterpraxis weitestgehend neu. Aus baubetrieblicher sowie aus baurechtlicher Sicht besitzen sie ein evidentes Forschungspotential. Als weiteren Trend lassen sich wirtschaftsethische Tendenzen auch im Baubetrieb ausmachen. So findet die Systemnorm DIN ISO 26000-01 „Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen“62) bereits Eingang in zahlreiche Planungsbüros und Bauunternehmen. Aber auch vertraglich vereinbarte Leitlinien/Leitfäden mit ähnlichen Inhalten finden immer mehr Eingang in Bauverträge. Diese Ansätze – dem Willen verstärkten kooperativen Arbeitens entspringend – sind zwingend auch auf die Herstellung von baubetrieblichen Gutachten zu übertragen, um die vielfach zitierte negative Konnotation zu verringern.

11.6

Fazit

Der vorliegende Beitrag hat die zunehmende Kritik an baubetrieblichen Gutachten in Bezug auf die unterschiedliche Qualität aufgegriffen und einer problempunktbezogenen Aufbereitung zugeführt. Dabei konnten drei Problempunkte identifiziert werden, die mit den Begriffen „Opportunismus“, „fehlende methodische Standardisierung“ und „mangelhafte Qualität der Datengrundlage“ belegt wurden. Zur „Linderung“ dieser Problempunkte wurden drei Aspekte zur Verbesserung der Qualität in Bezug zu einer erhöhten Prüfbarkeit und Glaubhaftigkeit erhoben: „Wertekodex für die Verfasser von baubetrieblichen Gutachten“, „Standardisierung im weiteren Sinne“ und „Qualität der Datengrundlagen“. Diese wurden anschließend ausgeführt und mit objektiv messbaren Anleitungen und Begriffen versehen. Damit bietet der vorliegende Beitrag sowohl baubetrieblichen Sachverständigen, Mandanten als auch den zuständigen Arbeitskreisen eine Hilfestellung zur Umsetzung, Beurteilung und Weiterentwicklung an.

60) 61) 62)

Vgl. Gnerlich (2019), Kapitel 7 Vgl. ebd., Kapitel 4 und Kapitel 8 Vgl. DIN ISO 26000-01 (2011). Kernthemen sind hier „faire Betriebs- und Geschäftspraktiken“ und „Konsumentenanliegen“

11 Baubetriebliche Gutachten – Mysterium zur Wahrheits- und Entscheidungsfindung

11.7

139

Abkürzungsverzeichnis

AGK

......................... Allgemeine Geschäftskosten

BGK

......................... Baustellengemeinkosten

BIM

......................... Building Information Modeling

WuG

......................... Wagnis und Gewinn

11.8

Judikaturverzeichnis

BGH 21.03.2002 - VII ZR 224/00 KG Berlin 19.04.2011 - 21 U 55/07 OLG Brandenburg 02.12.2015 - 11 U 102/12 OLG Dresden 09.01.2013 - 1 U 1554/09 OLG Köln 28.01.2014 - 24 U 199/12

11.9

Literaturverzeichnis

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140

Teil B – Baubetrieb

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11 Baubetriebliche Gutachten – Mysterium zur Wahrheits- und Entscheidungsfindung

141

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142

Teil B – Baubetrieb

Vygen, Klaus; Joussen, Edgar; Lang, Andreas; Rasch, Dirk (2015). Bauverzögerung und Leistungsänderung. Rechtliche und baubetriebliche Probleme und ihre Lösungen. 7. Auflage. Köln. Werner Verlag. Wolters Kluwer Deutschland GmbH. (ISBN 978-38041-3885-8) Wanninger (2012). Der Bauzeitenplan – Arbeitswerkzeug oder nur Rüstung für Konflikte? In: Schriftenreihe IBB – Beiträge zum Braunschweiger Baubetriebsseminar vom 24. Februar 2012 – Die „bauablaufbezogene Untersuchung“ als Maß aller Dinge – Heft 52. Hrsg.: Wanninger, Rainer. Seite 1-18. Braunschweig. Verlag Institut für Bauwirtschaft und Baubetrieb der Technischen Universität Braunschweig. (ISBN 978-3-936214-20-8)

12

50 Jahre Sicherheit in der Schalung – Rückblick, Gegenwart und Zukunft

Ing. Helmut Weißengruber, MBA Sales Sicherheit Österreich Doka Österreich GmbH Josef Umdasch Platz 1 3300 Amstetten www.doka.com [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_12

144

Teil B – Baubetrieb

12.1

Abstract

Das Thema Sicherheit in der Schalung hat sich zuletzt in immer kürzeren Abständen neuen, erhöhten Anforderungen stellen müssen. Während bis vor kurzem in manchen Ländern das Arbeiten ohne Geländer bis zu einer gewissen Absturzhöhe – abhängig vom Projekt – noch toleriert wurde, sind heute sichere Arbeitsplätze auf Baustellen deutlich in den Fokus der Sicherheitsverantwortlichen gerückt. Dabei geht es nicht nur um sichere Produkte – auch der Ablauf von der Montage und dem Umsetzen bis hin zur Demontage sind wichtig und können eine Baustelle wesentlich behindern oder beschleunigen. Um den sich verschärfenden Rahmenbedingungen gerecht zu werden, ist es erforderlich diese zu erkennen und dementsprechend zu agieren. Obwohl Schalungslösungen nur einen Teil der Sicherheitsgegebenheiten auf der Baustelle beeinflussen, zeigt die Praxis, dass Lücken oder falsche Anwendungen gewaltige Auswirkungen haben können. Da die Hauptursache für Unfälle nach wie vor das Verhalten der Menschen ist, können moderne Produkte bessere Arbeitsbedingungen schaffen. Zusätzlich braucht es die Unterstützung der Organisation, in die MitarbeiterInnen eingebettet sind, damit die technischen Lösungen rechtzeitig geplant, verfügbar gemacht und eingesetzt werden können. Da sich das Geschäftsumfeld immer schneller ändert, besteht die Herausforderung darin, die Gestaltung einer Sicherheitskultur in einem Unternehmen zu betrachten. Die neuen Technologien und Erungenschaften bezüglich Vernetzung und Datenaustausch bringen zudem weitere Chancen und Potentiale, um Unfälle zu reduzieren.

12.2

Situationsanalyse

Die Baubranche ist mit drei Millionen Bauunternehmen (EU 28) in der Europäischen Union und 42,3 Millionen direkten und indirekt tätigen Arbeitskräften ein bedeutender Wirtschaftsbereich.1) Für die Ausführung von Bauvorhaben ist die Verbesserung der Sicherheitsbedingungen auf Baustellen nach wie vor dringend erforderlich. Jedes Jahr sterben in der Europäischen Union 152.000 ArbeiterInnen an berufsbedingten Krankheiten und 5.580 Menschen an ihren Arbeitsplätzen. Das Baugewerbe ist für 26,1 % und somit für mehr als das Doppelte vom Durchschnitt anderer Sektoren verantwortlich. 23 Millionen Menschen haben arbeitsbedingte Gesundheitsbeschwerden. Die häufigsten gesundheitlichen Probleme sind Skelett- und Muskelbeschwerden, Stress, Depressionen und Angstzustände.2) Im Bausektor sterben 1.300 ArbeiterInnen bei Arbeitsunfällen pro Jahr in der Europäischen Union.3) Die volkswirtschaftlichen Kosten von arbeitsbezogenen Unfällen oder Krankheiten liegen laut ILO (2003) bei 4 % des globalen GDP (Gross Domestic Product = Bruttoinlandsprodukt). Das sind 490 Milliarden in der EU. Weltweit sterben 2,3 Millionen Menschen aufgrund von arbeitsbezogenen Unfällen oder Krankheiten.4)

1) 2) 3) 4)

Vgl. FIEC (2015), S. 2 Vgl. Weerd et al. (2014), S. 9 Vgl. Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (2015), S. 1 Vgl. Weerd et al. (2014), S. 8

12 50 Jahre Sicherheit in der Schalung – Rückblick, Gegenwart und Zukunft

145

Aus Sicht der Bauherren sind Qualität, Termintreue und Einhaltung der Kosten die wichtigsten Themen, um die Minimierung der Baukosten, bei maximaler Leistung, zu erreichen. Bauunternehmen sind ständig mit steigendem Kostendruck, straffen Terminplänen und steigenden Qualitätsansprüchen konfrontiert und versuchen, den Gewinn durch Reduzierung des Aufwandes und durch Verbesserung der Abläufe zu erhöhen. Oft kann das nur durch Nachträge erreicht werden. Diese Konstellation birgt das Potential von Konflikten.5) Historisch betrachtet liegen die Wurzeln der Arbeitssicherheit nicht weit zurück. Im Jahr 1839 erließ König Friedrich Wilhelm III am 9. März das „Preußische Regulativ“, in dem technischer und sozialer Arbeitsschutz erstmals gesetzlich verankert wurden mit dem Hintergrund, die Kinderarbeit einzuschränken.6) Seit damals wurden die gesetzlichen Regelungen für ArbeitgeberInnen und die Normen zur sicheren Gestaltung von Produkten schrittweise erhöht und somit die ArbeiterInnen besser vor Gefahren geschützt. Die drei folgenden Beispiele zeigen, wie sich der Sicherheitsstandard bei der Schalung entwickelt hat: 1. Deckenschalung mit Schalhaut und Träger 2. Wandschalung 3. Seitenschutz In der Deckenschalung wurden zuerst lose Bretter und Kantholz verwendet. Durch moderne Schalhaut hat sich die Qualität und durch die Passgenauigkeit der Platten die Schalgeschwindigkeit erhöht.7) Mit den verwindungssteifen, maßgenauen und geprüften Holzschalungsträgern konnte nicht nur die Genauigkeit der Betondecken verbessert werden, die Standardisierung brachte auch Vorteile bei Produktivität und Sicherheit. Durch die Mietbarkeit und durch die Einführung von Qualitätsstandards im Mietgeschäft konnte die Sicherheit bei Gebrauchtmaterial erhöht werden. Ähnliches gelang mit dem Ersatz der vertikalen Kanthölzer durch Deckenstützen. Mit der Standardisierung der Deckenstützen, der Eigenschaft, mindestens 20 kN Tragkraft bei jeder Auszugslänge zu erreichen, Quetsch – Freiraum für die Hände und dem besonders leichten Öffnen der Mutter unter Last wurden wesentliche Verbesserungen für die AnwenderInnen erreicht. Mit dem neuesten Produkt konnte aufgrund neuer Materialien das Gewicht um 20 % reduziert werden. Mittlerweile gibt es Deckentische mit integrierbaren Bühnen, stabile Traggerüste mit integrierten Aufstiegen und Modulschalung, die nur von unten aufgebaut werden. Die Sicherheitsausstattung der Wandschalung hat sich von anfänglichen Lösungen aus Holz für Bühnen und Aufstiegen, die mühsam vor Ort zusammengebaut werden mussten, zu vorgefertigten, zusammenklappbaren Bühnenlösungen entwickelt, in die Systemleitern und Seitengeländer integriert werden. Die Absicherung des Deckenrandes entwickelte sich von „keine Lösung“ über Kantholz und Bretter zu Gittersystemen, die einfach und rasch installiert sind und den mittlerweile vorhandenen Normen und Vorschriften entsprechen. Bei Hochhausprojekten setzen sich zunehmend Einhausungen über mehrere Geschoße durch.8) 5) 6) 7) 8)

Vgl. Walther (2007), S. 320 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Preu%C3%9Fisches_Regulativ. Datum des Zugriffs: 31.5.2019 Vgl. https://www.doka.com/at/system-groups/doka-system-components/formwork-sheets/3-ply-sheets/dreischichtplatten. Datum des Zugriffs: 31.5.2019 Vgl. https://www.doka.com/at/system-groups/doka-safety-systems/protection-screens/xclimb-60/index. Datum des Zugriffs: 31.5.2019

146

Teil B – Baubetrieb

12.2.1

Das Geld liegt auf der Baustelle

Eine EU-weit durchgeführte Studie belegt, dass durch bessere Planung, Arbeitsvorbereitung und Sicherheit mehr Geld am Ende des Jahres übrigbleibt. Demnach sind 15 % des Bauumsatzes von Baufirmen pro Jahr Fehlerkosten, die durch Qualitätsmängel (80 % Planung, 20 % Ausführung) verursacht werden. Das bedeutet, dass in Summe bis zu 18 % des Umsatzes durch Verbesserungen im Bereich der Organisation und in der Planung lukriert werden (siehe Abb. 12-1).9) Die Unfallkosten betragen nach einer EU-Studie drei Prozent vom Jahresumsatz der Bauunternehmen.10)

Abb. 12-1

Kosten der Qualitätsmängel und Unfallkosten in Prozent vom Umsatz / Jahr

Selbst Versicherungen entdecken dieses Thema und bieten einen Berufshaftpflichtschutz an, um das Risiko für Planungsfehler durch steigende Komplexität in der Planung mit Building Information Modelling (BIM) für ArchitektInnen zu reduzieren.11) „63 % der Unfälle (Organisation: 28 %, Planung 35 %, Ausführung 37 %) und zwei von drei Toten am Bau haben ihre Ursache in (Nicht-) Entscheidungen vor Baubeginn.“, berichtete Herr Bata von der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt anlässlich eines Sicherheitsvortrages im Jahr 2014 im Hause Doka.

12.2.2

Wirtschaftlichkeit von Sicherheitsmaßnahmen

In Amerika wurde in einem Beitrag des „The Economist“ berichtet, dass bis zu 30 % der Baukosten durch Fehler, Mängel, Ineffizienzen und schlechte Kommunikation verloren gehen.12) Investitionen in Sicherheit bringen wirtschaftliche Vorteile, das bestätigt eine weitere Studie der OPPBTP (L‘Organisme professionnel de prévention du bâtiment et des travaux 9) 10) 11) 12)

Vgl. Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (2008), S. 2 Vgl. Steinmaurer/Meier (1999), S. 2 Vgl. http://www.baulinks.de Datum des Zugriffs: 29.3.2016 Vgl. http://www.economist.com Datum des Zugriffs: 24.04.2016

12 50 Jahre Sicherheit in der Schalung – Rückblick, Gegenwart und Zukunft

147

publics): Eine Investition von 1,00 € in Sicherheit bringt durchschnittlich 2,19 € an Return on Prävention (RoP).13)

12.3

Rahmenbedingungen mit Auswirkung auf die Sicherheitsausstattung bei Schalungen

Das ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) in Österreich verpflichtet ArbeitgeberInnen für Sicherheit am Arbeitsplatz in allen Aspekten zu sorgen. Die Kosten dafür dürfen nicht auf ArbeitnehmerInnen übertragen werden.14) ArbeitgeberInnen sind verpflichtet, die „Gefahren zu ermitteln und zu beurteilen“. Dabei wird besonders auf die Gestaltung der Arbeitsplätze, auf die Arbeitsvorgänge und die Ausbildung hingewiesen (§4, Bundesgesetz: 1994, 5). „Für die planenden bzw. ausführenden Unternehmen besteht gegenüber den AuftraggeberInnen eine Hinweispflicht auf die gesetzlichen Bestimmungen.“15) Die drei wichtigsten Aktivitäten sind „Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz“, „Verwendung sicherer Geräte und Produkte“ sowie „Risikoprävention und best practice“. Die Ausfallzeit je Arbeitsunfall beträgt bei 19,2 % 4 bis 6 Tage und bei 26,4 % 7 bis 14 Tage. Die Ausfallzeit bei Unfällen durch Sturz und Fall von Personen ist mit 46 Ausfalltagen am höchsten.16) Aufgrund der hohen Unfallzahlen, den schweren Verletzungen und den gesundheitlichen Beschwerden von BauarbeiterInnen17) unternimmt die Europäische Union seit 2002 intensive Aktivitäten, um die hohen Unfallzahlen zu senken. Das Baugewerbe zählt nach wie vor zu den Branchen, in denen die tödlichen Unfälle pro Jahr den höchsten Wert aufweisen.18) Der Trend Sicherheit verstärkt sich durch Normen, Aufsichts- und Kontrollorgane und Unfälle gegenseitig (siehe Abb. 12-2). Im Falle eines Unfalls wird dann der Stand der Technik durch das Gericht bzw. den gerichtlich beeideten Sachverständigen festgestellt. Das wirkt sich wiederum auf künftige Projekte und Regelwerke aus und erhöht so den Sicherheitsstandard weiter.

13) 14) 15) 16) 17) 18)

Vgl. OPPBTP (2014), S. 4; Vgl. Bräunig/Kohstall (2013), S. 34 Vgl. ASchG (1994), S. 4 Steinmaurer/Meier (1999), S. 3 Vgl. Causes and circumstances of accidents (2009), S. 106 Vgl. Norre (2009), S. 5 Vgl. European Union (2014b), S. 55

148

Teil B – Baubetrieb

NORMEN

E

Abb. 12-2

12.3.1

UNG

MS E TZ

L OL KONTR

Sicherheit U

!

UNFALL

Sicherheit verstärkt sich

Bauherr

Viele Bauherren sind sich ihrer Verantwortung und des Risikos nicht bewusst und meinen, dass sie durch die Vergabe an ein Bauunternehmen alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben. Nachfolgend sind Beispiele angeführt, die die steigende Verantwortung in diesem Bereich verdeutlichen. Das Bauarbeitenkoordinationsgesetz (BauKG, BGBl. I Nr. 37/1999) auf Basis der EUBaustellen-Richtlinie verpflichtet Bauherren von Baustellen mit mehreren ArbeitnehmerInnen, Sicherheits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen durch die Bestellung eines Planungskoordinators (erstellt den Sicherheits- und Gesundheitsschutzplan) für die Planungsphase und eines Baustellenkoordinators (koordiniert die Umsetzung auf der Baustelle) einzusetzen.19) Eine Schwerpunktaktion der Arbeitsinspektion im Jahr 2013 zeigte, dass der Verpflichtung zur Bestellung von Koordinatoren für die Planungsphase zu 90 % und für die Ausführungsphase zu 99 % nachgekommen wird. Sicherheits- und Gesundheitsschutzpläne werden zu 97 % erstellt.20) „Insgesamt sind der Anstieg der Vorschriften und die Komplexität des Normengefüges einerseits und die Reduzierung des Verwaltungsvollzugs und der präventiven Kontrolle andererseits Grund für eine deutliche Zunahme des Fehlerrisikos zulasten der Bauherren. […] Daneben haben die Bauherren zunehmend die Kosten der Kontrolle zur Einhaltung der Vorschriften und mittelbar die Kosten der Schadensabsicherung zu tragen.“21) Durch die gestiegenen Qualitätsansprüche und die regulativen Rahmenbedingungen steigen die Gestehungs- und Bauwerkskosten schneller als die Baupreise. Nach dem Bauarbeitenkoordinationsgesetz – (BauKG) muss der Bauherr dafür sorgen, dass „in der 19) 20) 21)

Vgl. BauKG (1999), S. 2f. Vgl. Neuhold (2014), S. 11 Walberg et al. (2015), S. 13

12 50 Jahre Sicherheit in der Schalung – Rückblick, Gegenwart und Zukunft

149

Vorbereitungsphase des Bauvorhabens der Arbeitsschutz ein gleichwertiges Thema ist, dass die Grundsätze des Arbeitsschutzes in die Planung aufgenommen werden und über den Bauvertrag zur Anwendung kommen.“22) Das Merkblatt „Arbeitssicherheit in Planung und Bau“ vom österreichischen Bautechnik Verein fasst diese Regeln pro Zielgruppe zusammen und richtet sich insbesondere an Bauherren und Planer. Damit ist ein Hilfsmittel verfügbar, das bereits in der Planungsphase eines Bauvorhabens wesentliche Verbesserungen ermöglicht.23)

12.3.2

Bauunternehmen

Im Vergleich zu den Bauherren sind die Bauunternehmen noch stärker betroffen, wie in den folgenden Beispielen ersichtlich ist. Neben den Auswirkungen der europäischen Strategie und der gestiegenen Verantwortung für Bauherren sind Bauunternehmen und deren Bauleitung durch eine steigende Anzahl von Dokumenten mit zunehmenden Vorschriften und Regelwerken konfrontiert.24) Bauunternehmen verankern Nachhaltigkeit in ihren Werten und nehmen sie in die Kundenzeitschrift auf: „Um verantwortungsvoll zu handeln, genügt es aber nicht, nur durch seine Produkte und Dienstleistungen innovativ zu sein. Als Unternehmen gilt es auch, umfassend zu nachhaltigem Wirtschaften, Umweltschutz und Arbeitssicherheit beizutragen.“25) Basierend auf der EU-Arbeitsschutzrahmenrichtlinie muss jede/r ArbeitgeberIn die Gefahren für seine Beschäftigten evaluieren und geeignete Maßnahmen bzw. Einrichtungen vorsehen, um die Sicherheit und Gesundheit der ArbeitnehmerInnen zu gewährleisten. Die sogenannte Gefährdungsbeurteilung oder Evaluierung ist verpflichtend am konkreten Arbeitsplatz durchzuführen und hat einem bestimmten Schema zu folgen. Die Maßnahmen zur Vermeidung von Gefahren müssen dokumentiert werden.26) Aufgrund der Überalterung der Gesellschaft und des Fachkräftemangels werden für die Baubranche größere Umbrüche in Bezug auf die Fachkräfte und auf Themen wie Ergonomie und altersgerechte Arbeitsbedingungen erwartet. Die Verschärfung der Gesetze ist spürbar und die Arbeitssicherheit hat bei der Geschäftsleitung der Bauunternehmen zunehmend oberste Priorität. Sie wissen aber, dass die Sicherheit auf Baustellen noch weiter verbessert werden muss. Aus Sicht der Gesetzgeber sind die Regelungen eindeutig zu erfüllen. In der Praxis werden sie jedoch, insbesondere bei hohem Termindruck, zurückgestellt.

12.3.3

Wohntrends

Der Arbeitsort verändert sich zunehmend von ländlichen Gebieten in Städte, wie aus einem Bericht der vereinten Nationen im Jahr 2014 hervorgeht. Im Jahr 2007 lebten weltweit erstmals mehr Menschen in Städten als in ländlichen Gebieten und bis 2050 werden doppelt so viele Menschen in Städten wohnen, als in ländlichen Gebieten. Die 22) 23) 24) 25) 26)

Arbeitsinspektion (2016), S. 5 Vgl. https://www.bautechnik.pro/DE/News/Artikel/192. Datum des Zugriffs 29.05.2019 Vgl. Motzko/Schmitz (2010), S. 5 Bögl (2015) S. 24 Vgl. http://www.arbeitsinspektion.gv.at/. Datum des Zugriffs: 12.03.2016

150

Teil B – Baubetrieb

Anzahl der Megastädte mit mehr als zehn Millionen EinwohnerInnen wird von 28 im Jahr 2014 auf 41 im Jahr 2050 ansteigen.27)

12.3.4

Lohnkosten und Schalungskentnisse

Durch arbeitsintensive Arbeitsvorgänge auf Baustellen haben die Lohnkosten einen entscheidenden Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg eines Bauvorhabens. Ca. 1/3 der gesamten Rohbaukosten betragen die Schalungs- und Gerüstkosten und ca. 2/3 der gesamten Rohbauleistungen sind Lohnkosten.28) Seit 2013 sind die Lohnkosten im Bereich Bau stärker gestiegen als der Baukostenindex und die Materialkosten.29) Im Zusammenhang mit dem Personal drängt sich die Frage auf, wie in Zukunft ein Mindeststandard in Bezug auf das Fachwissen der eingesetzten Personen sichergestellt werden kann. Hier können Schalungstrainings und projektspezifische Schulungen das Risiko für die ausführenden Unternehmen reduzieren. Häufig werden bei der Sicherheitsdiskussion nur Kosten vergleichen – eine Gesamtbetrachtung inkl. Qualität (Produkt, Dokumentation, Planung, Dienstleistung) und Zeit (Einschulung, Arbeitsbeschleunigung) fehlt (vgl. Abb. 12-3). Bei der Betrachtung aller drei Aspekte kann eine nachhaltig bessere Entscheidung getroffen werden.

Abb. 12-3

27) 28) 29) 30)

Sicherheit, die sich rechnet30)

Vgl. World urbanization prospects (2014), S. 7ff. Vgl. Hoffmann (1993), S. 221 Vgl. http://ec.europa.eu/eurostat. Datum des Zugriffs: 28.4.2016 Vgl. Doka GmbH

151

12 50 Jahre Sicherheit in der Schalung – Rückblick, Gegenwart und Zukunft

12.3.5

Organisation

Organisatorische Veränderungen haben einen großen Einfluss auf die Unfallzahlen. So gibt es je nach Organisations- bzw. Unternehmensgröße Merkmale, Kriterien und Krisen, die es zu erkennen gilt. Anhand dieser sollte die Organisation umgestaltet werden um weiterhin erfolgreich zu sein. In großen Unternehmen können sich die verschiedenen Abteilungen in unterschiedlichen Phasen befinden. Neugründungen, Firmenzusammenschlüsse und vergleichbare organisatorische Umbrüche können Krisen hervorrufen und damit das Risiko erhöhen, Unfälle auf der Baustelle zu verursachen (siehe Abb. 12-4). „Um den Weg für ein zukünftiges, erfolgreiches Handeln zu ebnen, ist es notwendig, nach vorne zu schauen und nicht an den erfolgreichen Strategien der Vergangenheit festzuhalten.“31)

Wachstum Pionierphase (personenorientiert)

Differenzierungsphase (strukturorientiert)

Integrationsphase (ressourcenorientiert)

Merkmale

Krisen

Merkmale

Krisen

Merkmale

• • • • • • • • •

• • • •

• • • • • •

• Komplexität • Kommunikation • Schwerfälligkeit in den Systemen • Geringe Motivation • Konflikte • Irrealer Zustand • Teilung

• Unternehmenskonzept • Verbesserter Übereinstiftet Sinn stimmung der Bedürfnisse • Bisher nicht genutzte des Einzelnen, des Unter• Ressourcen werden nehmens und der einbezogen Gesellschaft • Teamarbeit • Lernfähigem System • Führen durch (lernende Organisation) gemeinsame Ziele (Visionen) • Selbststeuerung • Innovativ • Flexibilität • Kritisches Betrachten von Aufgaben • Fehler = Lernchance • Kunde/In ist „Arbeitgeber/In“

Starke/r Führerin/Loyalität Führen aus Sachkompetenz Sinn und Ziele sind klar Hohe Motivation Improvisation Funktionen wachsen um MA Zusammengehörigkeit Fehler = Herausforderung Kunde/In wird direkt erlebt

Wachstum Übersicht geht verloren Abhängigkeit Technologische Veränderungen • Pioniere gehen • Emanzipation der MA

Produktivität Arbeitsteilung Standardisierung Führen aus Ordnungskompetenz Rationales Menschenund Organisationsbild • Externe Kontrollen • Fehler = Regelverstoß • Kunde/in ist weit weg

Partizipation geschieht über Regeln

Führt zu

Partizipation ist beziehungsorientiert

Ein geordnetes Unternehmen ist kein unternehmerisches

Partizipation über Rahmenbedingungen: Der /Die Einzelne handelt selbstständig und intelligent im Sinne des Ganzen

Es exponiert sich ein/e einzelne/r

Niemand braucht sich zu exponieren

Alle müssen sich exponieren

Zeit

Abb. 12-4

„Entwicklungsphasen der Organisation“32)

Die punktierte Linie stellt das Wachstum eines Unternehmens dar, welches vor jeder weiteren Wachstumsphase zunehmend die angeführten Symptome einer Krise zeige. Damit weiteres Wachstum möglich ist, muss sich dann die Organisation erneuern. Geschieht das nicht, verläuft das Wachstum entsprechend der rot gepunkteten Linie. Der Wandel geschieht nicht nur durch neue Produkte. Mit der Vermeidung von Verschwendung (Rabatte, hohe Lagerbestände, Verlust) und der Reduzierung der Kosten durch Modularisierung und Stabilität ist es möglich, den Bruttoerlös deutlich zu steigern und das mit höherer Flexibilität für die KundInnen.33)

31) 32) 33)

Simon (2009), S. 133 Vgl. Spilauer (2016), S. 13 Vgl. Reichwald/Piller (2009), S. 265ff.

152

Teil B – Baubetrieb

12.3.6

Welche Zukunftsfelder sind wichtig?

12.3.6.1

Größte Chance

Als Auftraggeber der Bauunternehmen haben die Bauherren als Ausschreibende den größten Einfluss auf ihr Bauvorhaben.34) Aufgrund der zuvor angeführten Rahmenbedingungen bietet der sinnvolle Einsatz von digitalen Tools eine große Chance, junge Fachkräfte wieder stärker für Baustellen zu begeistern. Hier sind bereits erste innovative Lösungen sichtbar, mit deren Hilfe beispielsweise eine Wandschalung auf Vollständigkeit überprüft wird und somit die Wahrscheinlichkeit eines sicheren Aufbaus erhöht. Gegebenenfalls werden die BenutzerInnen bei unsicheren Zuständen – wie zum Beispiel fehlenden Verbindungsteilen – darauf hingewiesen.35) Zusätzlich liegen große Chancen im Bereich der Standardisierung und Vorfertigung von Schalungselementen. Mit guter Planung und just in time – Lieferungen kann zum Beispiel Lagerfläche auf der Baustelle reduziert werden. Neben den normativen, gesetzlichen und technischen Herausforderungen sollten die Menschen und die organisatorischen Umbrüche nicht vergessen bzw. unterschätzt werden. Insbesondere durch multikulturelle Mannschaften und die Gleichzeitigkeit von vielen Bauaufgaben ist Unfallfreiheit eine besondere Herausforderung. Daher wird nachfolgend der Zusammenhang Mensch, Organisation und Technik genauer betrachtet.

12.3.6.2

Vom „TOP“ zum „POT“ Prinzip

Innovative Produkte können bessere Arbeitsbedingungen schaffen, allerdings bestimmt das Zusammenwirken von drei Faktoren die Sicherheit auf Baustellen wesentlich: das persönliche Verhalten, interne Prozesse – die Organisation – und die verfügbaren, technischen Lösungen (POT) – die Umkehrung des im Sicherheitsbereich bekannten „TOP“ – Prinzips (siehe Abb. 12-5).

34) 35)

Vgl. https://www.bautechnik.pro/DE/News/Artikel/192. Datum des Zugriffs 29.05.2019 Vgl. https://www.bauma.de/messe/branchentrends/baumaschinenbranche-digitalisierung/index.html. Datum des Zugriffs: 31.05.2019

153

12 50 Jahre Sicherheit in der Schalung – Rückblick, Gegenwart und Zukunft

1. PERSON

Abb. 12-5

1. ORGANISATION

• Kompetenz • Brennt für das Thema

• PjM, Budget und Verantwortung • Unterstützung durch Management, Prozesse

1. TECHNIK • Tools, Produkte, Services

LÖSUNG

BEDARF

• Kundenbedarf

Der Schlüssel zum Erfolg: Manage POT

Person Um die Unfallrate zu senken, reicht es nicht aus, gute und sichere Produkte zu verwenden. Die Person, die für die Sicherheit verantwortlich ist, sollte im Idealfall hoch motiviert sein, Sicherheitsaspekte anzusprechen. Sie benötigt zusätzlich eine sehr gute Unterstützung von ihrer Organisation und ihrem Management, um die Ressourcen und die Fähigkeit zu bewahren, eine Veränderung zu bewirken. Zusammen mit der professionellen Planung können optimale technische Lösungen (d.h. für Kantenschutz, Schutzgitter, FreeFalcon) herausragende Projekte von höchster Qualität unter den geplanten Zeit- und Kostenanforderungen realisieren. Für den Transformationsprozess werden sogenannte Tförmige Menschen gesucht, die Offenheit und Expertise einbringen können – sie stellen sicher, dass der Wandel gelingt.36) Organisation Die Unternehmenssicherheitskultur beginnt mit der Mission (warum), gefolgt von Werten (was ist wichtig), der Vision (was das Unternehmen sein möchte), der Strategie (der Weg), der Strategiekarte (Beschreibung des Weges) interne Prozesse, die Balanced Scorecard (Fokus, Maßnahme, Überwachung) und die Spezifikation – kombiniert mit Initiativen – bilden die technische oder Dienstleistungslösung.37) Haupttreiber für Change-Management sind nach einer Studie von Gapgemini im Jahr 2008 in ansteigender Reihenfolge: Neue Personalkonzepte, Technik-Innovationen, Internationalisierung, KVP, IT-Innovationen, Externe Veränderungen, Mergers & Akquisition, veränderte Kundenanforderungen, Kostensenkung, Unternehmensstrategie, Wachstumsinitiativen und Restrukturierung / Reorganisation.38) Technik Neben der Person und der unterstützenden Organisation sind die entsprechenden technischen Lösungen für die Sicherheit vor Ort wesentlich. Produkte wie FreeFalcon, Seitenschutzgeländer, Catch fans usw. können als Ergebnis einer Gefährdungsbeurteilung sichere Arbeitsplätze fördern, sowie Gefahren und Risiken minimieren. 36) 37) 38)

Vgl. Meyer/Harling (2012), S. 12 Vgl. Spilauer (2016) Vgl. https://www.capgemini.com/at-de/resources/change-management-studie-2015-0/. Datum des Zugriffs: 31.05.2019

154

Teil B – Baubetrieb

12.4

Aktuelle Trends – analog des „POT“-Prinzips

Treibende Faktoren sind die Gesetzeslage, das zunehmende Bewusstsein für Sicherheit der Bauherren, der Sicherheits- und Gesundheitsschutzkoordinatoren (SiGeKo) und des Themas Return on Prevention und immer stärker die Bauherren. Personen Das erwähnte Potential von bis zu 18 % an Einsparungen des Umsatzes der Bauunternehmen pro Jahr kann – zumindest teilweise – durch bessere Sicherheitsmaßnahmen und -lösungen lukriert werden. Durch die steigende Lebenserwartung, die niedrige Geburtenrate und wenig Zuwanderung rechnet das Statistische Bundesamt in Deutschland mit einem Bevölkerungsrückgang um 10 bis 15 Millionen Menschen. Der Wettbewerb um junge KundInnen wird zunehmen und die Anzahl der Personen über 50 Jahre wird weiter steigen.39) Der demografische Wandel wird unser Land und unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten tiefgreifend verändern. Die Bevölkerung wird deutlich altern und langfristig wird die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter zurückgehen.40) Eine Studie des GdW hat drei wesentliche Bereiche bis 2030 identifiziert: Demographie, Migration und erhöhtes Ökologiebewusstsein. Fertige Module und Baukastensysteme (z.B. für Nasszellen) nehmen zu und Vermieter entwickeln sich zu Unternehmen, die die Mieter mit individuellen und austauschbaren Modulen auf die jeweilige Lebenssituation abgestimmte Wohnbedingungen unterstützen.41) Durch die demografische Entwicklung werden Talente knapper, Berufe geraten unter Komplexitätsdruck und Soft Skills werden wichtiger. Die klassischen Wertschöpfungsketten zerbrechen: Einerseits überspringen KundInnen den Handel und bestellen direkt beim Produzenten. Andererseits werden Landesgrenzen und die damit verbundenen Transportkosten zunehmend bedeutsamer.42) Organisation Um die Kosten- und Terminüberschreitungen bei Großprojekten künftig zu vermeiden, hat das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) in Deutschland hat ein Programm aus zehn Punkten erarbeitet. Es geht darin um „Kooperatives Planen im Team“, „Erst planen, dann bauen“, „Risikomanagement und Erfassung von Risiken“, „Fokus auf die Vergabe an den Wirtschaftlichsten – nicht an den Billigsten“, „Partnerschaftliche Projektzusammenarbeit“, „Außergerichtliche Streitbeilegung“, Verbindliche Wirtschaftlichkeitsuntersuchung“, „Klare Prozesse und Zuständigkeiten/Kompetenzzentren für effiziente Abläufe“, „Stärkere Transparenz und Kontrolle“ und die „Nutzung digitaler Methoden“ – Building Information Modeling für eine Verbesserung der Effizienz von Großprojekten. „Ziel ist, das Prinzip „Erst virtuell, dann real bauen“ zur Regel werden zu lassen.“43) Das BMVI setzt diesen „Aktionsplan Großprojekte“ bereits um – der Preis ist nun nur mehr eines von zehn Kriterien.

39) 40) 41) 42) 43)

Vgl. Köhler (2012), S. 183 Vgl. https://www.bundesregierung.de. Datum des Zugriffs: 10.02.2016 Vgl. Wohntrends 2030 (2013), S. 6ff. Vgl. Horx (2009), S. 8f. Vgl. https://www.bmvi.de Datum des Zugriffs: 24.04.2016

12 50 Jahre Sicherheit in der Schalung – Rückblick, Gegenwart und Zukunft

155

Unterstützung und Hilfe ist möglich durch: • exakte Einsatzplanung der Schalungen • Nutzung von kostenlosen Schalungsplanungssoftwares bzw. Apps • Vor-Ort-Service Richtmeister • Vor-Ort-Service Projektbetreuung (auf der Baustelle schnell auf Änderungen mit der Schalung reagieren) • fertig montierte Sonderschalungen aus Fertigservice Standorten • Pauschalen für immer einsatzbereites Mietgerät lt. Qualitätsstandards • Training der sicheren und schnellen Handhabung des Schalungsmaterials Technik In diesem Bereich zeichnen sich einerseits inkrementelle, großartige Ergänzungen auf der Basis neuer Technologien ab. Die einfache Identifizierung von Artikel oder Systemtools, die den Anwender bei Gefahr oder Unvollständigkeit von Schalungsaufbauten informieren, sind bereits heute als Prototypen verfügbar. Andererseits steigt der Wunsch nach ergonomischen Schalungslösungen, die die Sicherheitsbestandteile (Geländer, Leitern) so integriert haben, dass sie nicht mehr vergessen werden können. Ebensolches gilt für Projektlösungen: Für Hochhäuser sind Schutzeinrichtungen wie protection screens mittlerweile Standard. Sie bieten einen guten Schutz vor Wind und Wetter und verbessern die Sicherheit, je nach Bedarf, gleich in mehreren Aspekten: Im Schalungsbereich, zusätzlich können sie einen Treppenturm oder ein Materialaufzug integrieren, Fangschirme beinhalten und die Sicherheit beim Einsetzen der Fassadenelemente sowie die Produktivität erhöhen. In Zukunft werden durch die neuen Technologien die einzelnen Produkte mehr Daten liefern und sich gegenseitig informieren. Unter Umständen entstehen dabei neue Risiken und Gefahren, die es noch zu identifizieren gilt. Sich ständig verändernde Rahmenbedingungen im wirtschaftlichem, gesellschaftlichem und technischem Umfeld machen es erforderlich, Innovationen strategisch zu planen und mit Marktorientierung und Flexibilität im Unternehmen vorausschauend zu agieren. Für den Erfolg der Innovationen am Markt ist es entscheidend, die Bedürfnisse der KundInnen zu kennen, denn der/die KundIn ist Träger der Bedürfnisinformation, während der Lieferant die Lösungsinformation anbietet. Die sich verändernden Kundenbedürfnisse zu identifizieren und daraus die Produktideen abzuleiten sind der Schlüssel für eine erfolgreiche Markteinführung.44) Gerade bei Sicherheitslösungen für den Schalungsbereich sind diese Veränderungen besonders spürbar: Waren früher losen Konsolen mit bauseitigen Bühnenbelägen aus Holz Standard, so werden heute Systeme verlangt, die Leitern im System lösen können, die Durchstiegsdeckel und Gegengeländer integriert haben und auch stirnseitige Geländer und Eckübergänge lösen können (siehe Abb. 12-6).

44)

Vgl. Reichwald/Piller (2009), S. 47ff.

156

Teil B – Baubetrieb

Abb. 12-6

Aufstieg auf das mittlere Bühnenniveau in zuvor liegend am Boden vormontierte Bühnen mit integriertem Durchstiegsdeckel45)

Um die Unfallhäufigkeit zu verringern ist es im Sinne der Wirksamkeit besonders wichtig, einen entsprechenden Sicherheitsprozess zu implementieren, damit die richtige Anwendung vom Aufbau bis zur Demontage sicher erfolgen kann. Durch Praxisübungen kann der Wissenstransfer zu den ArbeitnehmerInnen verbessert werden und das führt zu mehr Sicherheit, geringeren Kosten und mehr Produktivität. Es ist daher unerlässlich, gute Fachkräfte mit dem Thema Sicherheit zu beauftragen, ihnen die richtigen Werkzeuge und technischen Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen und die Organisation dahinter entsprechend aufzustellen. Auf diese Weise wird eine solide Grundlage geschaffen, um qualitativ hochwertige Gebäude sicher herstellen zu können und dabei einen finanziellen Erfolg zu erzielen.

12.5

Zusammenfassung nach „POT“-Prinzip

Person In 50 Jahren hat sich das Grundbedürfnis der ArbeiterInnen – den Arbeitstag gesund und unverletzt zu verbringen und nach der Arbeit sicher nach Hause zu kommen – nicht verändert. Der Mensch ist nach wie vor das Maß der Dinge und ein sicherer Arbeitsplatz sowie sichere Zugänge dorthin sind essentiell. Deutlich strenger hingegen sind die Normen, Gesetze und Vorschriften. Diese Entwicklung scheint sich auch weiterhin so fortzusetzen. Viele Schalungslösungen bieten bereits heute integrierbare Sicherheitseinrichtungen und sind nachweislich wirtschaftlicher als traditionelle Maßnahmen. Organisation Strukturelle Veränderungen in wachsenden oder schrumpfenden Organisationen sind zur Normalität geworden und bestimmen das Sicherheitsniveau entscheidend mit. Lösungs45)

Vgl. Doka GmbH

12 50 Jahre Sicherheit in der Schalung – Rückblick, Gegenwart und Zukunft

157

und Risikokompetenz lassen sich nicht per Rollenbeschreibung verordnen – hier beweisen Unternehmen mit Erfahrung und organischem, gesunden Wachstum, dass sichere Baustellen möglich sind.46) Technik Die neuen Technologien bieten die Chance, gefährliche, schwere, Staub verursachende und laute Tätigkeiten, die von Menschen durchgeführt werden müssen, durch Maschinen zu ersetzten. Diese lebensverlängernden Maßnahmen sind eine Chance gesund alt zu werden und sind ein Gewinn für jeden Einzelnen, der auf der Baustelle tätig ist, als auch für das Bauunternehmen und letztlich für die Gesellschaft. Digitale Tools, Sicherheitsposter und Anleitungen in Form von App’s oder durch virtuelle TrainerInnen unterstützen und fördern dabei nicht nur die Produktivität – sie ermöglichen es, dass AnwenderInnen genau dann, wenn er das Bedürfnis nach Information hat, dieses schnell und in der für ihn geeigneten Tiefe erhält. Nach Kundenwunsch gestaltete Schulungen ermöglichen zusätzlich eine Akzeptanz und Verständnis für die steigenden Sicherheitsstandards. Abschließend möchte ich persönlich diese Gelegenheit nutzen und mich bei der technischen Universität in Graz ganz herzlich bedanken! Mit großer Freude konnte ich die äußerst positive Entwicklung von den Anfängen des „Schalungszweiges“ bis zum heutigen Tag mitverfolgen. In Zusammenhang mit dem Baubetrieb wurden verschiedenste Schalungsthemen und zunehmend das Thema Sicherheit wissenschaftlich und ganzheitlich bearbeitet und hervorragende MitarbeiterInnen ausgebildet. Die mehrmalige, erfolgreiche Teilnahme am Doka Ausbildungswettbewerb zeigt zudem das Engagement und die Bereitschaft außergewöhnliches zu leisten. Ich wünsche dem Institut weiterhin den nötigen Weitblick neue Themen zu erforschen und Beharrlichkeit, diese erfolgreich so weit als möglich und sinnvoll bis zur Marktreife zu begleiten. Beste Glückwünsche zum Jubiläum und herzlichen Dank für die ausgezeichnete Zusammenarbeit!

12.6

Abkürzungsverzeichnis

BIM

......................... Building Information Modeling

GDP

......................... Gross Domestic Product

GdW

......................... Bundesverband deutscher Wohnungs- und ......................... Immobilienunternehmen e.V.

ILO

......................... International Labour Organization

kN

......................... Kilonewton

KVP

......................... Kontinuierlicher Verbesserungsprozess

TOP

......................... Technik – Organisation – Person

POT

......................... Person – Organisation – Technik

RoP

......................... Return on Prävention

46)

Vgl. https://www.mainka-bau.de/. Datum des Zugriffs: 31.05.2019

158

12.7

Teil B – Baubetrieb

Literaturverzeichnis

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12 50 Jahre Sicherheit in der Schalung – Rückblick, Gegenwart und Zukunft

159

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160

Teil B – Baubetrieb

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Teil C BAUWIRTSCHAFT

13

Der Humanfaktor in der Bauwirtschaft

o.Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Ulrich Bauer Institutsvorstand Institut für Betriebswirtschaftslehre und Betriebssoziologie Technische Universität Graz Kopernikusgasse 24 8010 Graz www.bwl.tugraz.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_13

164

Teil C – Bauwirtschaft

13.1

Abstract

Auf Basis einer kurzen Situationsanalyse der Bauwirtschaft werden Fragestellungen zu Auswirkungen und Herausforderungen für den Humanfaktor formuliert. In weiterer Folge werden der Status Quo und absehbare Entwicklungen in den relevanten Themenfeldern „Kosten und Wirtschaftlichkeit“, „Digitalisierung“ und verschiedenen Aspekten im Zusammenhang mit dem „Humanfaktor“ beschrieben. Dabei wird sowohl auf die Bedeutung, die Arbeit grundsätzlich in unserer Gesellschaft hat, als auch auf den Einfluss der in der Bauwirtschaft vorherrschenden Projektorientierung eingegangen. Die Bedeutung von physischer Leistungsfähigkeit und Motivation wird als Voraussetzung für die optimale Leistungserbringung der einzelnen Personen hervorgehoben. Auf Unternehmensebene wird der Einfluss der Unternehmenskultur und des Betriebsklimas auf das Betriebsgeschehen aufgezeigt und auf die Bedeutung, die die MitarbeiterInnenführung dabei hat, hingewiesen. Schließlich werden Auswirkungen auf die Personalarbeit kurz beschrieben. Abschließend werden Ansatzpunkte für die Gestaltung von Bau-Wirtschaftsingenieurstudien, wie beispielsweise an der TU Graz, aufgezeigt.

13.2

Situationsanalyse

Die Bauwirtschaft befindet sich heute, im Frühjahr 2019, in einer seit mehreren Jahren andauernden stabilen Baukonjunktur, die nach derzeitigen Prognosen auch in den nächsten Jahren auf hohem Niveau anhalten wird. Dementsprechend optimistisch präsentieren die beiden größten österreichischen Baukonzerne Strabag und Porr in ihren Jahresabschlüssen Rekordzahlen und Optimismus für die Zukunft.1) Als problematisch stellen sich allerdings der Mangel an Fachkräften und steigende Kosten, insbesonders bei den Baupreisen und Lohnkosten, dar. Der Mangel an qualifiziertem Fachpersonal und ein wirksames Kostenmanagement werden dementsprechend als die größten Herausforderungen für die Zukunft gesehen. Diese beiden Themenbereiche sind trotz veränderter Rahmenbedingungen seit Gründung des Instituts für Bauwirtschaft und Baubetriebslehre an der technischen Hochschule in Graz aktuell und von zentraler Bedeutung. Im 1976 erschienenen Buch „Planungs- und Bauablauf“ wurden vom damaligen Institutsvorstand Rudolf Aita und seinen Mitautoren Walter Veit und Walter Schilchegger sowohl der Mensch im Baubetrieb als auch die Kosten im Baubetrieb einer eingehenden Betrachtung unterzogen.2) Sehr deutlich wurde auch der Stellenwert der Planung und deren Zusammenhang mit der Beeinflussbarkeit der Kosten und der Wirtschaftlichkeit eines Bauvorhabens hervorgehoben.3) Aktuell sieht sich das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft in seinem Leitbild mit seinem Ausbildungsangebot im Zentrum der Studienrichtung Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesen und bietet ein fächerübergreifendes Spektrum an organisatorischen, wirtschaftlichen, rechtlichen u.a. Lehrinhalten an. Dabei setzt sich das Institut mit den wesentlichen Unterschieden zwischen stationärer Industrie und Bauindustrie auseinander und berücksichtigt aktuelle Trends der Bauwirtschaft im Lehrangebot. Das Thema der Planung spielt dabei auch in 1) 2) 3)

Vgl. Die Presse (30.04.2019), S. 20 und Kleine Zeitung (30.04.2019), S. 26f. Vgl. Aita et al. (1976), S. 107ff. und S. 145ff. Vgl. Aita et al. (1976), S. 14ff.

13 Der Humanfaktor in der Bauwirtschaft

165

Zukunft eine sehr wichtige Rolle, da sie einen maßgeblichen Beitrag zum Projekterfolg liefert. Insgesamt stellt das Spektrum des Baubetriebs und der Bauwirtschaft die Klammer und gleichzeitig Brücke zwischen den interdisziplinär agierenden Baubeteiligten dar. Dementsprechend erwarten sich die Arbeitgeber AbsolventInnen, die mit ihrem Fachwissen und ihrer Persönlichkeit in der Praxis fähig sind, die hohe Komplexität von Bauvorhaben mit den daran beteiligten Personen erfolgreich zu bewältigen und auch den wirtschaftlichen Erfolg langfristig abzusichern. Hier spielt sicherlich auch der technologische Fortschritt, speziell im Bereich der Digitalisierung, in Zukunft auch im Bauwesen eine wichtige Rolle. Aus den bisherigen Ausführungen ergeben sich folgende Fragestellungen: • Welche Ansatzpunkte im Bereich der Kostenoptimierung sind erfolgversprechend? • Welchen Einfluss hat die Digitalisierung im Bauwesen? • Welche Auswirkungen haben diese Themen und welche Herausforderungen für den Humanfaktor in der Bauwirtschaft zeichnen sich ab? • Und schließlich: Welche Aspekte sind in einer zukunftsfähigen Wirtschaftsingenieurausbildung von BauingenieurInnen zu berücksichtigen?

13.3

Aktuelle Trends und Entwicklungen in relevanten Themenfeldern

In den folgenden Ausführungen werden der Status Quo und absehbare Entwicklungen aus heutiger Sicht in den relevanten Themenfeldern aufgezeigt, um Antworten auf die angeführten Fragestellungen unter spezieller Berücksichtigung des Humanfaktors zu finden.

13.3.1

Kosten und Wirtschaftlichkeit

Grundsätzlich spiegeln Kosten den mengen- und wertmässigen Einsatz der Produktionsfaktoren im betrieblichen Leistungsprozess wider.4) Die Beeinflussbarkeit der Kosten betrifft einerseits den betrieblichen Wertschöpfungsprozess selbst und andererseits die Kosten der eingesetzten Produktionsfaktoren. Dabei gilt es, den Wertschöpfungsprozess möglichst effektiv und effizient zu gestalten und damit eine höchstmögliche Produktivität zu erreichen. Die Kosten der Produktionsfaktoren können erstens ebenfalls durch deren möglichst effektiven und effizienten Einsatz im betrieblichen Leistungsprozess gesteuert werden, zweitens können sie durch die laufende Steuerung der Kostenentwicklung, wie z.B. bei Lohn- und Gehaltsverhandlungen, Mitgestaltung bei Normen und Gesetzgebung u.v.a.m. mitgestaltet werden und drittens in der Beschaffung der Produktionsfaktoren, zum Beispiel mittels entsprechender Beschaffungsstrategien und wirkungsvoller Verhandlungen, wesentlich beeinflusst werden. In einer Forschungsarbeit am Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz wurde beispielsweise aufgezeigt, dass die Kosten und Preisentwicklung im Wohnbau wesentlich durch gesetzliche Rahmenbedingungen, die z.B. bei Brandschutz und Barrierefreiheit nach Meinung von ExpertInnen zu hohe Mindestanforderungen stellen, negativ beeinflusst wird und diese damit als wesentliche Kostentreiber identifiziert werden 4)

Vgl. Zunk, et al. (2017), S. 8f.

166

Teil C – Bauwirtschaft

können.5) Die Nutzung von Mitgestaltungsmöglichkeiten in Normungsausschüssen u.ä. scheint hier erfolgsversprechend. Trotz aller Bemühungen, die Kosten zu optimieren und gleichzeitig die Wertschöpfung zu erhöhen, darf der Einfluss der Mitarbeiter in diesem Zusammenhang nicht außer Acht gelassen werden. Die Performance des Personals, aber auch dessen Motivation sind dabei entscheidende Faktoren, die unbedingt mit zu berücksichtigen sind.6)

13.3.2

Digitalisierung und Künstliche Intelligenz

Der technologische Fortschritt im Bereich der Digitalisierung hat zu einer hohen Dynamik sowohl in der Gestaltung und Durchführung von Wertschöpfungsprozessen als auch in der Innovation bei Geschäftsmodellen von Unternehmen geführt. Bereits heute und erst recht in der Zukunft kommt wohl kein Unternehmen daran herum, sich mit Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz (KI) auseinanderzusetzen. Aber nicht nur Unternehmen sind davon betroffen, sondern auch der öffentliche Bereich, wie beispielsweise in der Verwaltung. Aus diesem Grund hat die österreichische Bundesregierung Anfang Mai eine von ihr in Auftrag gegebene Studie zum Thema IST-Zustand und Potenziale der künstlichen Intelligenz präsentiert.7) Darin wird aufgezeigt, dass sich nach den Berechnungen von ExpertInnen das österreichische Wirtschaftswachstum durch KI-Einsatz von 1,4 % auf 3 % erhöhen ließe. Im internationalen Vergleich liegt Österreich derzeit hinter den führenden Industriestaaten zurück. Den Unternehmen empfehlen die Studienexperten dringend, neue datengetriebene Geschäftsmodelle zu entwickeln sowie KI im Bereich der Produktion umzusetzen. Im Forschungsbereich wird empfohlen, eine KI-Vision zu entwickeln und die Förderungen bei der KI-Forschung zu fokkusieren. Im Bildungssektor sind grundsätzlich Maßnahmen auf allen Ebenen zu forcieren. Am Arbeitsmarkt werden höhere Qualifikationen benötigt und die Beschäftigung wird eher zunehmen, aber es wird Verschiebungen bei den Berufsfeldern geben. Doch haben diese, generell eher für die stationäre Industrie getätigten Aussagen, auch für die Bauwirtschaft Gültigkeit? Durchaus, wie die aktuellen Forschungsfelder am Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft, aber auch die Umsetzung in der Praxis, zeigen. Das Schlagwort dazu heißt: Building Information Modeling (BIM). Darunter versteht man die Integration sämtlicher Daten eines Bauvorhabens in ein Datenmodell, in dem bereits im Angebotsprozess ein Planungsmodell entwickelt und kalkuliert wird, das bei Auftragserteilung gleichzeitig die Basis für die Baudurchführung bildet. Dabei werden zusätzlich zu einem 3D-Modell des Bauwerks die Ebenen Kosten und Zeit hinzugefügt, sodass ein 5D-Modell entsteht. In Kombination mit Lean Management werden sowohl die Planung als auch die Bauprozesse in einem digitalen Zwilling des Projekts in der virtuellen Welt abgebildet und die realen Bauprozesse gesteuert. Die Experten in den führenden Unternehmen der Baubranche erwarten sich, dass der digitale Wandel auch in der Baubranche einen Paradigmenwechsel nach sich ziehen wird, wodurch es möglich wird, ressourcenschonender, mängelfreier, schneller und kostengünstiger zu bauen.8) 5) 6) 7) 8)

Vgl. Mauerhofer/Kogler (2018), S. 19f. Vgl. Herzog (2018), S. 34f. Vgl. Die Presse (03.05.2019), S. 17 Vgl. Wagner (2018), S. 21f.

13 Der Humanfaktor in der Bauwirtschaft

13.3.3

Der Stellenwert des Humanfaktors

13.3.3.1

Die Bedeutung von Arbeit in unserer Gesellschaft

167

Der Arbeitsbegriff ist eng mit der gesellschaftlichen, politischen und technologischen Entwicklung verbunden und hat sich dementsprechend weiterentwickelt. Wurde im Mittelalter Arbeit als zwar notwendige, aber minderwertige Tätigkeit betrachtet, so wird sie heute in unserer Industriegesellschaft durchwegs positiv gesehen. Dabei wird Arbeit als zielgerichtete, soziale, planmäßige und bewusste körperliche oder/und geistige Tätigkeit bezeichnet, die der Befriedigung materieller oder geistiger Bedürfnisse dient.9) Arbeit bietet die Möglichkeit, die für den Lebensunterhalt notwendigen, meist finanziellen Mittel, zu erwerben und ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben zu führen. Dabei hängt der Wert von Arbeit davon ab, wie viel eine Gesellschaft bereit ist dafür zu bezahlen bzw. welchen Wert sie ihr zumisst und welche Sicht sie von der Würde der Menschen, im Sinne eines unverhandelbaren Grundrechts, hat. Der offene Diskurs über Wert und Würde menschlicher Arbeit ist deshalb ein wichtiges gesellschaftliches Anliegen, das in einer Demokratie wohl am ehesten Beachtung und die Chance auf Berücksichtigung findet.10)

Abb. 13-1

Die drei Lebensbereiche als Parameter von sozialer Identität

Für die Menschen selbst ist Arbeit ein Prozess, in dem sie soziale Beziehungen eingehen, die in ihrem Lebenskontext eine wichtige Bedeutung haben. Arbeit stellt ein wesentliches Element der Strukturierung ihrer Zeit dar und spiegelt die soziale Anerkennung und den gesellschaftlichen Status der Person wider. Sie prägt das Selbstwertgefühl des Indivi9) 10)

Vgl. Mikl-Horke (2013), S. 28ff. Vgl. Bauer (2017), S. 110f.

168

Teil C – Bauwirtschaft

duums und ist ein sinnstiftendes Element in der Entwicklung des Menschen. Aus der Wechselwirkung des beruflichen, privaten und gesellschaftlichen Status konstruiert das Individuum seine soziale Identität mit der es im Leben steht und die ihm Orientierung und Halt gibt (vgl. Abb. 13-1).11) Gibt es in einem der drei Lebensbereiche drastische Veränderungen, wie es zum Beispiel im beruflichen Bereich der Pensionsantritt, Arbeitslosigkeit o.ä. ist, so verlieren die Betroffenen einen wesentlichen Parameter ihrer Identität und damit ihr psychisches Gleichgewicht. Man kann in diesem Zusammenhang durchaus von ernsten Lebenskrisen sprechen. Dies kann schwerwiegende gesundheitliche Auswirkungen wie beispielsweise Depression oder physische Erkrankungen nach sich ziehen, wenn es der Person nicht gelingt, das Gleichgewicht wieder zu finden und ihre soziale Identität neu zu konstruieren. Ein anderer Blickwinkel ergibt sich, wenn wir Arbeit als einen der drei Produktionsfaktoren betrachten, die in der Betriebswirtschaftslehre als Voraussetzung für die betriebliche Wertschöpfung im betrieblichen Leistungsprozess gesehen werden. Zu diesen drei Produktionsfaktoren zählen neben der menschlichen Arbeit, die sowohl in manueller als auch in geistiger Form benötigt wird, der Faktor Betriebsmittel wie beispielsweise Gebäude, Maschinen, Anlagen oder auch immaterielle Güter wie Lizenzen, Patente, Software u.ä. und der Faktor Werkstoffe/Materialien. Als mengenmäßiger Erfolgsmaßstab wird die Produktivität als Relation von mengenmäßigen Output zu mengenmäßigen Input herangezogen. Nach Produktionsfaktoren differenziert unterscheidet man zwischen Maschinenproduktivität, Materialergiebigkeit und Arbeitsproduktivität. Der Produktionsfaktor Arbeit weist aber gegenüber den beiden anderen Faktoren Besonderheiten auf, die den speziellen Charakter menschlicher Arbeit widerspiegeln. Die Leistung von MitarbeiterInnen hängt von der physischen Leistungsfähigkeit, die u.a. von der Gesundheit geprägt wird und der psychischen Leistungsfähigkeit wie z.B. Motivation, soziale und kulturelle Prägung etc., ab. Speziell in der Bauwirtschaft ist der letztgenannte Aspekt eine besondere Herausforderung, da die Leistungserstellung häufig länderübergreifend und mit MitarbeiterInnen erfolgt, die sehr unterschiedlich sozial, kulturell und sprachlich geprägt sind. Erfolgreichen Unternehmen gelingt es, die Chancen von Diversität zu nutzen. In der Bauwirtschaft spielen aber auch arbeitsbedingte Gesundheitsbelastungen, speziell im Bereich weniger qualifizierter Arbeit, eine wichtige Rolle. Untersuchungen in Deutschland zeigen, dass 30 % der in der Baubranche beschäftigten Männer unter gesundheitlichen Belastungen leiden. Dabei wird die Baubranche nur vom Bereich Verkehr mit 33 % übertroffen. Neben körperlichen Beschwerden werden aber auch psychische Gesundheitsstörungen wie Burnout und Depressionen vermehrt diagnostiziert.12) Insgesamt stellt die Erhaltung und Erhöhung der Leistungsfähigkeit von MitarbeiterInnen eine besondere Herausforderung dar, bietet den Unternehmen aber auch wichtige Ansatzpunkte, um dem eingangs erwähnten Personalmangel zu begegnen.

13.3.3.2

Einfluss von Projektorientierung

Ein Spezifikum der Bauwirtschaft ist, dass die Leistungserstellung überwiegend in Projektform erfolgt. Die Projektorganisation ist eine zeitlich begrenzt eingerichtete 11) 12)

Vgl. Bauer (2017), S. 3 Vgl. Bauer (2013), S. 70f.

13 Der Humanfaktor in der Bauwirtschaft

169

Organisation zur Abwicklung von Aufgaben, die folgende besondere Merkmale aufweisen: inhaltliche Komplexität, relative Neuartigkeit, hohe strategische Bedeutung für das Unternehmen, relativ hohes Risiko und Zieldeterminiertheit hinsichtlich Leistungsumfang, Terminen, Ressourcenbedarf und Kosten.13) Insgesamt sind in der Bauwirtschaft speziell bei großen Projekten sowohl die Anforderungen von Kunden und Projektbeteiligten als auch der Leistungs- und Kostendruck im Laufe der Jahre kontinuierlich gestiegen. Daraus ergeben sich vielfältige Konfliktpotenziale, die sich negativ auf den Projekterfolg auswirken können und nur unter ganzheitlicher Berücksichtigung der technologischen-, ökonomischen- und Humankomponenten zu lösen sind (vgl. Abb. 13-2). Als erfolgsversprechender Ansatz bietet sich eine partnerschaftliche Projektabwicklung an, bei der u.a. Konfliktlösungsmethoden eingesetzt werden, um Kooperation zu unterstützen.14)

Abb. 13-2

Die drei Erfolgskomponenten bei Projekten

In der Projektarbeit spielt Teamarbeit eine zentrale Rolle. Bei Projektteams kommen meist zeitlich begrenzt eingesetzte Teams zum Einsatz, die vorwiegend geistige Arbeit leisten und komplexe Aufgabenstellungen zu bewältigen haben. Durch die direkte Zusammenarbeit der Teammitglieder, die unterschiedliche Kompetenzen einbringen, erfolgt ein rascher und direkter Informationsaustausch der hilft, den Koordinationsaufwand zu minimieren.15) Gleichzeitig bieten Teams eine sehr gute Chance, dass sich eine hohe Arbeitszufriedenheit und Motivation bei den Teammitgliedern einstellt, die sich wiederum positiv auf die Leistungsfähigkeit von Teams auswirken. Gleichzeitig sind das wichtige Beiträge zu einem positiven Betriebsklima. 13) 14) 15)

Vgl. Gareis (2004), S. 39f. Vgl. Ehmann/Habenbacher (2018), S. 175ff. Vgl. Vorbach et al. (2015), S.336ff.

170

Teil C – Bauwirtschaft

Damit Teamarbeit gelingen kann, ist der Aspekt der Führung von Teams und MitarbeiterInnen genauso zu berücksichtigen, wie die Teamfähigkeit der einzelnen Teammitglieder.

13.3.3.3

Personenbezogene Aspekte

Immer wenn in Organisationen Menschen zusammenleben und -arbeiten wird deutlich, dass jede/jeder Einzelne als Individuum ganz spezielle Eigenschaften einbringt, die ihn als Persönlichkeit einzigartig machen und gleichzeitig Auswirkungen auf andere haben. Dahinter stehen ganz persönliche Bedürfnisse, Charaktereigenschaften, Fähigkeiten und Stärken, aber auch Schwächen und Ängste. Daraus ergeben sich Spannungsfelder zwischen individuellen Zielen, Autonomie und Selbstwirksamkeit und der Notwendigkeit einer zielorientierten Beeinflussung, um die jeweiligen Unternehmensziele zu erreichen. Dabei ist es erforderlich, die Einzelpersönlichkeit einzuschätzen, um zu wissen, wie Personen in bestimmten Situationen reagieren und was sie motiviert bzw. demotiviert. Aus der Motivationstheorie von Herzberg wissen wir beispielsweise, dass Erfolgserlebnisse, persönliche Anerkennung und Lob, eine interessante Arbeit selbst und die Übernahme von Verantwortung die wichtigsten Faktoren für eine hohe Arbeitszufriedenheit sind. Hier bieten sich wesentliche Ansatzpunkte für Führungskräfte in der MitarbeiterInnenführung. Auch aus der Berücksichtigung der Fähigkeiten der Einzelperson bei der Zuordnung von Tätigkeiten mit den damit verbundenen Anforderungen ist es möglich, für MitarbeiterInnen einen optimalen Leistungsbereich zu finden, der unter dem Begriff “Flow” bekannt ist. Damit sind die Voraussetzungen gut, dass MitarbeiterInnen weder überfordert noch unterfordert werden. Sowohl Unterforderung als auch Überforderung führen zu Stress mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen bis hin zum Burnout. Die Fähigkeit von Menschen, mit Stress positiv umzugehen, wird auch als Resilienz bezeichnet. Sie wird von Kind auf im persönlichen sozialen Umfeld entwickelt und durch die Erfahrungen im Arbeitsleben ständig weiterentwickelt. Damit ist diese Eigenschaft natürlich sehr eng mit der Persönlichkeitsstruktur verbunden und Teil von ihr. Je besser die/der Einzelne sich selber kennt, im Sinne der Eigenschaften seiner Persönlichkeitsstruktur, umso größer sind die Chancen, seine Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen und positiv gestalten zu können. Persönlichkeitsmodelle und Persönlichkeitstests sind dabei durchaus hilfreich, wenn sie richtig eingesetzt werden.16) Unternehmen können ihre MitarbeiterInnen dabei aktiv unterstützen.

13.3.3.4

Unternehmensbezogene Ansätze

Aus vielen Untersuchungen geht hervor, dass Arbeitszufriedenheit, Gesundheit und Betriebsklima eng zusammenhängen. Unter dem Begriff Betriebsklima versteht man, vereinfacht ausgedrückt, die Stimmung und Arbeitsfreude, mit der MitarbeiterInnen ihre Aufgaben verrichten. Dies spiegelt die vorherrschende Motivation und Leistungsbereitschaft im Team, in der Abteilung und im gesamten Unternehmen wider. Welchen Stellenwert das Betriebsklima einnimmt, zeigt beispielsweise eine Befragung des Berliner Robert Koch Instituts, in der auf die Frage „Welche Faktoren wirken sich am stärksten auf die Gesundheit aus?“, der Faktor “Beeinträchtigung im Arbeitsklima“ auf den ersten Platz gereiht wurde.17) Mobbing ist häufig ein Merkmal für ein schlechtes Betriebsklima, das in Folge zu gesundheitlichen Problemen wie zum Beispiel Burnout führt. Hier stehen Unter16) 17)

Vgl. Bauer (2017), S.42f. und S. 49f. Vgl. Bauer (2013), S. 56f.

13 Der Humanfaktor in der Bauwirtschaft

171

nehmen in der Verantwortung, darauf zu achten, welches Betriebsklima im Gesamtunternehmen, aber auch in einzelnen Abteilungen etc. vorherrscht und darauf aufbauend entsprechende Maßnahmen zu setzen. Je früher Aktivitäten, die ein gutes Betriebsklima fördern, gesetzt werden, desto einfacher wird es, in Krisenfällen erfolgreich zu intervenieren. Solche Aktivitäten reichen von der Vorbildwirkung von Führungskräften im Hinblick auf wertschätzenden Umgang, Kollegialität, Hilfsbereitschaft, offene und zeitgerechte Information bis hin zu Teambildungsmaßnahmen und Konfliktmanagement. Aber auch das Thema MitarbeiterInnenführung ist eines der wesentlichsten Instrumente, das von Unternehmen gezielt gestaltet werden muss. Dabei ist auf die Passung zwischen Anforderungen der Arbeit und den Fähigkeiten der jeweiligen Person, wie sie im FlowKonzept deutlich gemacht ist, besonders zu achten.18) An dieser Stelle wird nur auf die Vielzahl von diesbezüglichen Ansätzen und Führungsinstrumenten verwiesen, unter denen jedes Unternehmen die für sie passenden auswählen muss. Passend bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Instrumente zur jeweiligen Unternehmenskultur passen müssen, um in der daraus resultierenden Führungskultur wirksam werden zu können.

Abb. 13-3

Die drei Wirkungsebenen in einem Unternehmen

Die Unternehmenskultur hat in jeder Organisation einen entscheidenden Einfluss, da sie die Verhaltensweisen der MitarbeiterInnen, ob bewusst oder unbewusst, maßgeblich prägt. Unter dem Begriff Unternehmenskultur ist ein System von Wertvorstellungen, ethischen und Verhaltensnormen sowie Denkhaltungen zu verstehen, die von den MitarbeiterInnen eines Unternehmens mehrheitlich erlernt und geteilt werden. Diese Kultur beeinflusst direkt und indirekt das Verhalten der einzelnen Personen. Wie die betrieblichen Prozesse tatsächlich gelebt werden und ablaufen, ist auf diese Verhaltensweisen der MitarbeiterInnen zurückzuführen. Dies bedeutet, dass bei Prozessänderungen, die formal häufig von Dritten festgelegt werden, sich die MitarbeiterInnen nicht immer automatisch an diese Änderungen halten, sondern aufgrund von Eigeninteressen und kulturellen Normen anders reagieren als gewünscht bzw. erwartet wird. Abb. 13-3 soll deutlich machen, dass es hier drei unterschiedliche Wirkungsebenen gibt, die sich gegenseitig beeinflussen und untrennbar miteinander verbunden sind.19) 18)

Vgl. Kailer (2019), S. 6f.

172

Teil C – Bauwirtschaft

In Veränderungsprozessen bzw. im Changemanagement sind diese Wechselwirkungen zu berücksichtigen, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Dabei sind auf der normativen Ebene der Unternehmenskultur, der Verhaltensebene und der Prozessebene die jeweils passenden Instrumente, die unterschiedlich sind und sich ergänzen müssen, auszuwählen und einzusetzen.

13.3.3.5

Auswirkungen auf die Personalarbeit

Unternehmen sind als Organisation immer unternehmenszweckbezogene soziale Netzwerke, in denen Menschen in Interaktion mit den betriebsbedingten Faktoren treten und in denen sie einen wesentlichen Teil ihrer Lebenszeit verbringen. Die Betriebssoziologie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Auswirkungen dieses Zusammenlebens und Zusammenwirkens auf die sozialen Netzwerke und die einzelnen Personen. Die drei Gestaltungsfelder der Betriebssoziologie sind: erstens die Anpassung der Arbeit an die Menschen, zweitens die Anpassung der Menschen an die Arbeit und drittens die Anpassung der Menschen an die Menschen (vgl. Abb. 13-4).20)

Abb. 13-4

Gestaltungsfelder der Betriebssoziologie

Das Personalmanagement ist in diesen drei Gestaltungsfeldern sowohl strategisch als auch operativ tätig. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass Personalmanagement nicht nur als Organisationseinheit gesehen werden darf, sondern vor allem als Funktion, die in alle Bereiche des Unternehmens hinein wirksam ist. Dementsprechend sind die Verant19) 20)

Vgl. Bauer (2017), S. 115f. Vgl. Bauer (2017), S. 10ff.

13 Der Humanfaktor in der Bauwirtschaft

173

wortlichkeiten für verschiedene Themenbereiche unterschiedlich verteilt. Auf der strategischen Ebene ist Personalpolitik und Personalstrategie von der obersten Führungsebene, der Unternehmensleitung, verantwortlich wahrzunehmen. Hier wird auch die Unternehmenskultur und damit das Betriebsklima maßgeblich geprägt. Die Mitarbeiterführung wird von den einzelnen Führungskräften, die entsprechend der betrieblichen Organisation über das gesamte Unternehmen verteilt tätig sind, persönlich wahrgenommen. Die Führungskräfte sind es auch, die an der Umsetzung der Personalarbeit aktiv beteiligt sind und einen entscheidenden Einfluss darauf haben, wie sie tatsächlich gelebt wird. Das Personalmanagement unterstützt die Personalarbeit auf allen Ebenen durch verschiedenste Aktivitäten und Personalsysteme im Sinne einer Servicedienstleistung. Gleichzeitig übernimmt das Personalmanagement eine Steuerungsfunktion auf Basis eines Controllingverständnisses. Es sollte also das Ziel sein, ein entsprechendes Selbstverständnis in dieser Funktion zu entwickeln, damit die in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen Aspekte Berücksichtigung finden können.

13.3.4

Ausbildungsbezogene Aspekte

13.3.4.1

Eckpunkte des Wirtschaftsingenieurstudiums

Aus der Notwendigkeit, in der Ingenieursausbildung neben technischem auch ökonomisches und soziologisches Wissen zu vermitteln, entstanden nach deutschem Vorbild 1947 auch an der Technischen Hochschule in Graz die beiden Studienrichtungen Wirtschaftsingenieur-Bauwesen und Wirtschaftsingenieur-Machinenbau. Beide haben sich sehr positiv entwickelt und den guten Ruf der Grazer Wirtschaftsingenieure in der Praxis bis zum heutigen Tag gefestigt. Basis ist ein integriertes, interdisziplinäres Studienkonzept, das den AbsolventInnen neben ihrer technisch-naturwissenschaftlichen Basiskompetenz zusätzlich ökonomische Kompetenz vermittelt um sie dazu zu befähigen, integrativ ganzheitlich zu denken und zu handeln. Um die Qualität dieses Studienkonzepts und die Marke Wirtschaftsingenieur im deutschsprachigen Raum abzusichern, haben die Berufs-Interessensverbände der Wirtschaftsingenieure in Deutschland, der Schweiz und Österreich (DACH-Region) folgende gemeinsame Dreiländer-Erklärung verabschiedet: „Wir wollen die hohe Qualität und das unverwechselbare Profil des Wirtschaftsingenieurs sicherstellen und seinen hohen Arbeitsmarktwert durch die Schaffung einer gemeinsamen Ausbildungsmarke fördern.“ Darauf aufbauend wurden Kriterien, Standards und Empfehlungen zu Mindestanteilen von in Studien zu vermittelnden Fächergruppen folgendermassen formuliert: „Die Ausbildung von WirtschaftsingenieurInnen soll mehr als 50 % technische Lehrfächer, mindestens 20 % wirtschaftliche Lehrfächer und mindestens 10 % integrative Lehrfächer beinhalten.“21) Eine weitere wichtige Aktivität ist die regelmäßige Erstellung von Berufsbild-Studien, die der österreichische Verband der Wirtschaftsingenieure regelmäßig durchführt, um die Anforderungen des Arbeitsmarktes und das Studienangebot in Österreich sichtbar und transparent zu machen. Dazu gehört auch die Analyse der einzelnen Studienangebote nach diesen drei Fächergruppen. 21)

Vgl. Österreichischer Verband der Wirtschaftsingenieure (2019)

174

Teil C – Bauwirtschaft

Das Bachelorstudium „Bauingenieurwissenschaften und Wirtschaftsingenieurwesen“ und das Masterstudium „Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesen“ haben zusammen einen Anteil von 61,25 % an Technikfächern und einen Anteil von 38,75 % an Wirtschafts- und Integrationsfächern.22) Damit liegt die Grazer Bau-Wirtschaftsingenieur-Ausbildung gut im geforderten Profil. In der Berufsbildstudie wurde auch das in der Praxis benötigte Kompetenzprofil von WirtschaftsingenieurInnen abgefragt. Sowohl PersonalmanagerInnen als auch AbsolventInnen mit Berufserfahrung sehen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz als ideal an.23) Auch die Karriereentwicklung von WirtschaftsingenieurInnen wird als sehr positiv beurteilt. Dabei zeigt sich, dass die Wirtschaftsingenieurausbildung in hohem Ausmaß mit der Übernahme von Führungsverantwortung korreliert. Immerhin bekleiden rund 80 % der AbsolventInnen in ihrer beruflichen Laufbahn Führungspositionen. Auch die hierarchischen Aufstiegschancen werden, sowohl von PersonalmanagerInnen als auch von den AbsolventInnen selber, sehr positiv beurteilt.24) Dies gilt auch für den künftigen Bedarf an WirtschaftsingenieurInnen. Leider haben sich sowohl die Zulassungszahlen für das Masterstudium als auch die AbsolventInnenzahlen von BauwirtschaftsingenieurInnen in den letzten 10 Jahren verringert. Gab es im Studienjahr 2007/08 noch 366 Zulassungen, d.h. im Diplom-/Masterstudium gemeldete Studierende, und 38 AbsolventInnen, so waren es im Studienjahr 2017/18 nur noch 181 Zulassungen und 19 AbsolventInnen.25) Langsam ist wieder eine Trendumkehr zu verzeichnen. Jedenfalls kann StudienanfängerInnen ein Studium des Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesens mit gutem Gewissen empfohlen werden.

13.3.4.2

Anforderungen aus den Themenfeldern

Im Themenfeld „Kosten und Wirtschaftlichkeit“ wurde aufgezeigt, dass die Erreichung einer hohen Produktivität im betrieblichen Leistungsprozess und die Einflussnahme auf externe Kostentreiber, wie zum Beispiel gesetzliche Rahmenbedingungen etc., erfolgversprechende Ansatzpunkte darstellen. Dazu ist es notwendig, dass Studierende fundierte Kenntnisse des betrieblichen Rechnungswesens, der Kostenrechnung und der betrieblichen Wertschöpfungssprozesse erwerben. Weiters ist das Verständnis, welche Faktoren die Performance des Personals beeinflussen, erforderlich, um MitarbeiterInnen wirkungsvoll einsetzen und gesetzte Ziele erreichen zu können. Das Themenfeld „Digitalisierung“ benötigt einerseits ein solides Basiswissen in den Bereichen IT und Wirtschaft, braucht aber andererseits auch Systemverständnis und eine interdisziplinäre Denkweise, um Innovation bei der Prozessgestaltung oder der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle zu ermöglichen.26) Das Themenfeld „Humanfaktor“ umfasst das Basiswissen über die drei Gestaltungsfelder der Betriebssoziologie: das sind die „Anpassung der Arbeit an den Menschen“, die „Anpassung der Menschen an die Arbeit“ und die „Anpassung der Menschen an die Menschen“ mit ihren vielfältigen Massnahmen.27) Zielsetzung ist es, die physische 22) 23) 24) 25) 26) 27)

Vgl. Bauer et al. (2018), S. 25ff. und S. 39ff. Vgl. Bauer et al. (2018), S. 48f. Vgl. Bauer et al. (2018), S. 57ff. Vgl. www.tugraz.at. Datum des Zugriffs: 21.04.2019 Vgl. Bauer et al. (2018), S. 42f. Vgl. Bauer (2017), S. 10ff.

13 Der Humanfaktor in der Bauwirtschaft

175

(Gesundheit) und die psychische Leistungsfähigkeit (Motivation) der Menschen im Unternehmen zu unterstützen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich beide gegenseitig bedingen. Das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft bietet daher bereits verschiedene Lehrveranstaltungen zu Softskills an, da diese immer mehr in den Vordergrund rücken. Eine Ausweitung und inhaltliche Fokussierung scheint durchaus sinnvoll. Gerade in der Bauwirtschaft findet die Leistungserstellung meist in Projektform statt, weshalb die Themen Projektmanagement, Teamarbeit und Konfliktmanagement zu den Standardinhalten solcher Lehrveranstaltungen zählen. Einen zentralen Platz nimmt das Thema MitarbeiterInnenführung ein. Nachdem Wirtschaftsingenieure im Berufsleben sehr häufig Führungsverantwortung übernehmen, sollte dieses Thema bereits bei den Studierenden erhöhte Aufmerksamkeit erhalten. Die MitarbeiterInnenführung hat in der betrieblichen Praxis aber auch erheblichen Einfluss auf das Betriebsklima und die Unternehmungskultur. Gerade in Veränderungsprozessen, wie sie in Unternehmen laufend stattfinden, spielen die beiden letztgenannten Faktoren eine entscheidende Rolle.

13.4

Zusammenfassung

Die Bauwirtschaft klagt derzeit, trotz sehr guter Unternehmensergebnisse und optimistischer Wirtschaftsprognosen, über steigende Kosten und Fachkräftemangel, vor allem im höher qualifizierten Bereich. Die technologische Entwicklung, speziell im Bereich der Digitalisierung, wird durchaus als Chance gesehen und die Nutzung hat bereits begonnen, verstärkt aber den Bedarf an höher qualifiziertem Personal. Hier zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab, der die Bauwirtschaft vor erhebliche Herausforderungen im Technologieund Personalbereich stellt. Die Bedeutung des Humanfaktors nimmt dabei zu und stellt zunehmend einen kritischen Erfolgsfaktor dar. Die Herausforderungen für die MitarbeiterInnen sind vielfältig. Einerseits hängt es wesentlich von ihrer Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft ab, ob die Chancen und Herausforderungen positiv bewältigt werden. Andererseits nimmt der Leistungsdruck auf die MitarbeiterInnen weiter zu, die Bereitschaft an die persönlichen Grenzen zu gehen, hingegen ab. Gleichzeitig leiden immer mehr Menschen an den physischen und psychischen Belastungen, die das Arbeitsleben, speziell in der Baubranche, mit sich bringt und als Folge nehmen gesundheitliche Störungen zu. Für den einzelnen Menschen stellt sich die Herausforderung zu lernen, positiv mit Stress umzugehen und Resilienz zu entwickeln. Projektarbeit hat in der Bauwirtschaft besonders hohe Bedeutung, da die Leistungserstellung überwiegend in Projektform erfolgt. Für den Projekterfolg ist es daher unerlässlich, sowohl die technologischen, ökonomischen und Humankomponenten ganzheitlich zu berücksichtigen. Weiters sind die Aspekte der Führung von Teams und MitarbeiterInnen sowie der konstruktive Umgang mit Konflikten für den Erfolg sehr wichtig. Anhand der drei Gestaltungsfelder der Betriebssoziologie können Maßnahmen und Handlungsmöglichkeiten für Unternehmen aufgezeigt werden, um den beschriebenen Herausforderungen positiv zu begegnen. Dazu gehört auch das Comittment der Unternehmensleitung, die die wesentliche Verantwortung für die Unternehmenskultur und daas daraus resultierende Betriebsklima trägt. Beides ist für das Gelingen von Veränderungsprozessen und Innovation entscheidend.

176

Teil C – Bauwirtschaft

Für den Bereich der Bauingenieurausbildung zeigt sich, dass das Studium Wirtschaftsingenieurwesen-Bauwesen an der TU Graz gut dem von den Wirtschaftsingenieurverbänden im deutschsprachigen Raum (DACH-Region) empfohlenen Fächergruppenprofil entspricht. Von der Praxis wird ein Verhältnis von ca. zwei Drittel technisch/naturwissenschaftlichen Fächern und einem Drittel Wirtschafts- und Integrationsfächern als ideal gesehen. Eine gewisse Erweiterung und inhaltliche Fokussierung auf Fächer im Softskillsbereich kann empfohlen werden. Die in der Wirtschaftsingenieurwesen-Berufsbildstudie 2018 aufgezeigten Karrierewege von AbsolventInnen und die von den PersonalmanagerInnen beschriebene Arbeitsmarktsituation bieten den AbsolventInnen auch für die Zukunft attraktive Karrieremöglichkeiten und Berufschancen. Das Studium Wirtschaftsingenieurwesen-Bauingenieurwesen an der TU Graz kann deshalb allen Studieninteressierten mit gutem Gewissen empfohlen werden.

13.5

Literaturverzeichnis

Aita, Rudolf; Veit, Walter; Schilchegger, Walter (1976). Planungs- und Bauablauf – Die Steuerung bauwirtschaftlicher und baubetrieblicher Prozesse. Wien, New York. Springer Verlag. (ISBN 3-211-81419-1) Bauer, Joachim (2013). Arbeit – Warum unser Glück von ihr abhängt und wie sie uns krank macht. München. Karl Blessing Verlag. (ISBN 978-3-89667-474-6) Bauer, Ulrich (2017). Betriebssoziologie – Der Humanfaktor im Unternehmen. Wien. Linde Verlag. (ISBN 978-3-7073-3703-7) Bauer, Ulrich; Priebernig, Karina; Swobodnik, Sigrid; Zunk, Bernd Markus (2018). Wirtschaftsingenieurwesen – Berufsbildstudie 2018 – BWL Schriftenreihe Nr. 23. Graz. Verlag der Technischen Universität Graz. (ISBN 978-3-85125-598-0) Die Presse (Ausgabe 30.04.2019). Seite 20. Gutes Jahr für Baufirmen. Wien. Die Presse (Ausgabe 03.05.2019). Seite 17. Es ist fünf vor zwölf, aber noch nicht zu spät. Wien. Ehmann, Dominik; Habenbacher, Michael (2018). Partnerschaftliche Abwicklung von Bauprojekten. In: Seminarreihe Bauunternehmensführung – Theorie – Perspektiven – Standpunkte. Hrsg.: Mauerhofer, Gottfried; Gutsche, Christof. Seite 173-183. Graz. Verlag der Technischen Universität Graz. (ISBN 978-3-85125-644-4) Gareis, Roland (2004). Happy Projects! – Projekt- und Programmmanagement. Projektportfolio-Management. Management der projektorientierten Organisation. Wien. Manz-Verlag. (ISBN 3-214-08262-0) Herzog, Bernhard (2018). Kosten optimieren oder Wertschöpfung erhöhen? In: WINGbusiness, 51. Jahrgang, Heft Nr. 3, Oktober 2018. Seite 34-37. Graz. Österreichischer Verband der Wirtschaftsingenieure (ISSN 0256-7830). https://www.tugraz.at/fileadmin/user_upload/tugrazInternal/TU_Graz/Universitaet/TU_Graz_kompakt/Infokarte_TU_Graz_2017-2018.pdf. Datum des Zugriffs: 21.04.2019 Kailer, Norbert (2019). Sich selbst und andere sinnvoll führen und entwickeln. In: WINGbusiness, 52. Jahrgang, Heft Nr. 2, Juni 2019. Seite 6-8. Graz. Österreichischer Verband der Wirtschaftsingenieure (ISSN 0256-7830).

13 Der Humanfaktor in der Bauwirtschaft

177

Kleine Zeitung (Ausgabe 30.04.2019). Seite 26-27. Die Profiteure einer stabilen Baukonjunktur. Graz. Mauerhofer, Gottfried; Kogler, Johann (2018). Sozialer Wohnbau in Österreich – Gibt es noch Luft nach oben? In: WINGbusiness, 51. Jahrgang, Heft Nr. 3, Oktober 2018. Seite 18-23. Graz. Österreichischer Verband der Wirtschaftsingenieure (ISSN 0256-7830). Mikl-Horke, Gertraude (2013). Arbeit. In: Lexikon der Arbeits- und Industriesoziologie. Hrsg.: Hirsch-Kreinsen, Hartmut; Minsen, Heiner. Seite 28-35. Berlin. Edition Sigma. (ISBN 978-3-8360-3592-7) Österreichischer Verband der Wirtschaftsingenieure. (Online unter: https://www.wingonline.at. Datum des Zugriffs: 22.05.2019) Vorbach, Stefan; Marko, Wolfgang; Müller, Christiana; Rauter, Romana (2015). Unternehmensführung und Organisation. Wien. Facultas Verlag. (ISBN 978-3-8252-8633-0) Wagner, Gernot (2018). Digitalisierung im Bauwesen. In: WINGbusiness, 51. Jahrgang, Heft Nr. 2, Juni 2018. Seite 21-23. Graz. Österreichischer Verband der Wirtschaftsingenieure (ISSN 0256-7830). Zunk, Bernd Markus; Grbenic, Stefan Otto; Baumüller, Josef; Bauer, Ulrich (2017). Kostenverrechung, Einführung – Methoden – Anwendungsfälle. Wien. Lexis Nexis Verlag. (ISBN 978-3-7007-6855-5)

14

Der Anspruch an den Abrechnungsprozess bei Infrastrukturprojekten Aktuelle Entwicklungen und zukünftige Herausforderungen

Dipl.-Ing. (FH) Martin Brigola-Pulverer Abrechnungsexperte ASFINAG Bau Management GmbH Modecenterstraße 16 1030 Wien www.asfinag.at [email protected] Dipl.-Ing. Markus Frühwirth Teamleiter Fachbereich Bauwirtschaft und Vergabe ASFINAG Bau Management GmbH Modecenterstraße 16 1030 Wien www.asfinag.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_14

180

Teil C – Bauwirtschaft

14.1

Abstract

Die österreichische Normen- und Richtlinienlandschaft regelt bezogen auf die Abrechnung von Bauleistungen konkrete Formen der Aufmaßermittlung bzw. gibt bezogen auf einzelne Leistungen und Gewerke Abrechnungsregeln vor. Weitgehend ungeregelt ist jedoch der generelle Prozess und die Systematik hinter einer Bauabrechnung, wodurch sich dieser in den einzelnen Projekten als vergleichsweise individuell darstellt. Gerade der Umstand, dass der weit überwiegende Teil einer Bauleistung über die „normale“ Bauabrechnung in einem Projekt abgewickelt wird (und nicht z.B. über Mehr/Minderkosten basierend auf einer Leistungsabweichung1)), würde eigentlich vermuten lassen und auch nahe legen, dass es genau für diesen Prozess ein hohes Maß an Vereinheitlichung und Standardisierung braucht, um die Abrechnung effizient, transparent, nachvollziehbar und reproduzierbar zu gestalten. Die folgenden Ausführungen sollen die diesbezüglichen Ansätze und Ideen eines öffentlichen Auftraggebers im Infrastrukturbereich aufzeigen und konkret darlegen, wie ein solcher standardisierter Prozess aussehen kann. Ergänzend wird noch eine Einschätzung bzw. Prognose gewagt, welche Einflüsse die aktuellen Entwicklungen im Bereich von „Building Information Modelling“ (BIM) bzw. die Digitalisierung generell auf den Abrechnungsprozess und den Bauprozess als Gesamtes haben (werden).

14.2

Situationsanalyse

Wenn man Bauprojekte im Infrastrukturbereich näher betrachtet, so ist festzustellen, dass ein beträchtliches Maß an Ressourcen des unproduktiven Personals auf AuftragnehmerSeite aber auch Personalressourcen auf der Seite des Bauherrn damit beschäftigt sind, Leistungsabweichungen und deren vertragliche Folgen (z.B. Mehr- oder Minderkostenforderungen und/oder bauzeitliche Folgen) zu bearbeiten und den Bauvertrag dementsprechend fortzuschreiben. Die Praxis zeigt, dass gerade bei der vertraglichen Fortschreibung des Bauvertrages basierend auf Leistungsabweichungen, eine Vielzahl an Personen mitwirken und folgendessen auch eine beträchtliche Anzahl an Kontroll- und Prüfinstanzen beteiligt sind. Die Abrechnung der Mehrkostenforderungen wie auch die Abrechnung des Hauptauftrages wird hingegen aus der Sicht der Autoren regelmäßig mit weitaus weniger Personalressourcen ausgestattet und – und das ist ein besonders wesentlicher Punkt – in der Regel bezogen auf die Struktur und die Systematik, häufig indivuduell vom Projektteam, basierend auf bisherigen Erfahrungen, zwischen Auftragnehmer und Auftraggebervertreter (ÖBA) abgewickelt. Dieser Umstand kann dazu führen, dass ein öffentlicher Auftraggeber, der eine Vielzahl an Bauprojekten (zeitgleich) umsetzt und somit auch eine Vielzahl an Abrechnungen zu verantworten hat, unterschiedlichste Strukturen und Systematiken der Abrechnung (geprägt von den jeweils handelnden Personen vor Ort) vorfindet, was widerrum die obersten Prämissen einer erfolgreichen Bauabrechnung 1)

„Leistungsabweichung – Veränderung des Leistungsumfangs entweder durch eine Leistungsänderung oder durch eine Störung der Leistungserbringung“ ÖNORM B 2118:2013, Pkt. 3.7

14 Der Anspruch an den Abrechnungsprozess bei Infrastrukturprojekten

181

• Transparenz • Nachvollziehbarkeit • Reproduzierbarkeit stören kann. Interessant war bzw. ist ebenfalls die Erkenntnis, dass es bei den in Österreich anzuwendenen Richtlinien und Normen für die einzelnen Gewerke Abrechnungsregeln (z.B. bezogen auf die Ausmaßermittlung) gibt, jedoch keinen generellen Standard darüber gibt, wie eine Bauabrechnung, egal ob nun im Hoch- und Industriebau oder im Infrastrukturbereich bezogen auf Struktur und Systematik auszusehen hat. Dies erscheint insbesondere deshalb als bemerkenswert, da eine einheitliche Vorgehensweise auf diesem Gebiet beiden Vertragspartnern zahlreiche Vorteile und Potentiale bietet, die bei individuell bzw. projektspezifisch gestalteter Abrechnung verloren gehen (können). Drei dieser Vorteile, neben der Erfüllung der obig angeführten Prämissen Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Reproduzierbarkeit sollen hier kurz angesprochen werden: • Effizienter Abstimmungsprozess zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber und deren Erfüllungsgehilfen: • Wird ein klarer Abstimmungsprozess zwischen den Projektpartnern eingehalten, so führt dies zu einer Effizienzsteigerung bezogen auf den Prozess selbst, aber auch dazu, dass Zahlungen frühzeitig(er) erfolgen können und unübersichtliche Korrekturbuchungen weitgehend vermieden werden. Diese wegfallenden (bzw. stark reduzierten) Korrekturbuchungen untersützen widerrum dabei, die Prämissen der „Tranparenz und Nachvollziehbarkeit“ zu erfüllen. • Vereinheitlichung der Systeme: • Wird ein einheitlicher Abrechungsprozess (zumindest unternehmensspezifisch) gelebt, führt dies dazu, dass sich alle Projektbeteiligten (somit auch der Auftragnehmer) auf dieses System dauerhaft einstellen können, was widerrum zu einer Effizienzsteigerung bei allen Projektpartnern führt. • Möglichkeit der Kennzahlengenerierung für ein erfolgreiches Projektcontrolling: • Durch eine strukturierte Abrechnung haben die Vertragspartner die Möglichkeit bereits während der Projektabwicklung Kennzahlen (z.B. Verhältnis des abgestimmten Forderungsteils zum Gesamtforderungsvolumen) zu generieren und diese auch für ein zielgerichtetes Projektcontrolling zu verwenden. • Auch die laufend vorhandene und effizient ermittelte fortgeschriebene Auftragssumme unterstützt beide Vertragspartner im Rahmen ihrer Projektsteuerung. Seitens ASFiNAG, einer der größten öffentlichen Auftraggeber im Infrastrukturbereich in Österreich, wurden die Grundregeln einer erfolgsversprechenden Bauabrechnung in der Form eines Abrechnungsleitfadens ausgearbeitet und über die rechtlichen Vertragsbestimmungen sowohl für den Auftragnehmer-Bau als auch für die von der ASFiNAG eingesetzten Erfüllungsgehilfen (ÖBA) als verbindlich erklärt. In den kommenden Zeilen sollen die Grundzüge dieses Abrechnungsleitfadens und somit die Grundregeln einer strukturierten und systematischen Abrechnungsgestaltung dargelegt werden.

182

14.3

Teil C – Bauwirtschaft

Der Abrechnungsleitfaden der ASFINAG

Der ASFiNAG-Abrechnungsleitfaden LF_038 wurde in der Version 3.0 im Jahr 2017 völlig neu überarbeitet und basiert einerseits auf der Anforderung, dass eine Abrechnung vollständig und auch für projektfremde Personen zu jedem Zeitpunkt nachvollziehbar sein muss, andererseits muss auch sichergestellt sein, dass die Anwender den Leitfaden, unter Berücksichtigung der technischen und personellen Ressourcen, effizient nutzen können. Dazu wurden im Vorfeld bestehende Projekte evaluiert, die Interessen verschiedener Abteilungen und Gruppen innerhalb (und teilweise außerhalb) der ASFiNAG gesammelt und soweit möglich im Sinne des best-practise Prinzips in den Leitfaden aufgenommen. In den vergangenen zwei Jahren wurde die Anwendung bei allen neuen von der ASFiNAG veröffentlichten Ausschreibungen österreichweit flächendeckend (ausgenommen sind Projekte die mittels Direktvergaben beschafft werden) zum bindenden Vertragsbestandteil erklärt und deren Umsetzung kontinuierlich überprüft und wiederum evaluiert. Um die Einführung und Umsetzung bestmöglich zu unterstützen wurden zusätzlich zum „Leitfaden als Vertragsbestandteil“ ASFiNAG-interne Schulungen für ProjektleiterInnen und TechnikerInnen, deren VertreterInnen (Örtliche Bauaufsicht) sowie für bauausführende Unternehmen als Rechnungsersteller österreichweit angeboten, welche mittlerweile von über 500 TeilnehmerInnen mit regem Interesse besucht wurden. Anregungen und Rückmeldungen aus diesem direkten Kontakt, sowie Ansätze aus dem Erfahrungsaustausch mit Vertretern weiterer Auftraggeber, wurden gesammelt, woraus weitere Optimierungen und Ergänzungen in die derzeitig gültige Version 4.00 eingearbeitet werden konnten. Da sich vor Allem die personellen Ressourcen bei unterschiedlichen Projektgrößen gravierend unterscheiden, ist der Leitfaden sowohl in Hinblick auf die Mindestanforderung an Dokumentation als auch im Bezug auf die Systematik des Abrechnungsprozesses in drei Kapitel unterteilt: • Bauabrechnungen nach ÖNORM B 2118, • Bauabrechnungen nach ÖNORM B 2110 und • baunahe Dienstleistungsabrechnungen Je nachdem, welcher Vertragstypus dem Projekt zugrundeliegt, ist nach dem zugehörigen Kapitel des Leitfadens vorzugehen. Der Leitfaden als Vertragsbestandteil definiert einerseits klare und somit kalkulierbare Leistungsanforderungen an die Abrechnung und regelt andererseits Aufgaben, Zuständigkeiten und Verantwortungen im Rahmen des Abrechnungsprozesses (Flussdiagramme). Die Umsetzung der Inhalte des Leitfadens wird in den jeweiligen Projekten durch Abrechnungsstartgespräche zu Baubeginn in die Wege geleitet und über formale Evaluierungen stichprobenhaft überprüft, um gegebenenfalls zeitnah etwaigen Abweichungen entgegen wirken zu können. Exemplarisch wird in den folgenden Abschnitten auf die Regelungen für Verträge nach ÖNORM B 2118 eingegangen.

183

14 Der Anspruch an den Abrechnungsprozess bei Infrastrukturprojekten

14.3.1

Abgestimmte Rechnungslegung

Umfangreiche Projekte und komplexe Vertragsstrukturen generieren mitunter Abrechnungen mit mehreren tausend Aufmaßblättern, von denen wiederum jedes aus mehreren Seiten mit Einzelberechnungen bestehen kann. Um diese Menge an Berechnungen auch als Gesamtes im Überblick zu behalten sowie zusammengehörige logische Massen und Leistungen als solche erkennbar zu machen, ist zum einen eine klare Struktur unverzichtbar, zum anderen sollten die Berechnungen von Beginn an korrekt und richtig sein, um nachträgliche Korrekturen zu vermeiden. Die Vergangenheit zeigt, dass gerade jene Projekte, in denen zum Teil bis zu einem Drittel der verrechneten Werte nachträglich korrigiert und somit nochmals ausgebucht und neu verrechnet werden mussten, ein großes Fehlerpotential beinhalten und die notwendige Transparenz und Nachvollziehbarkeit leidet. Rechnungskorrekturen binden zusätzlich Personal, da nicht nur die neue Verrechnung geprüft werden muss, sondern auch, ob die Ausbuchung als negative Berechnung zu selbigem Ergebnis als die ursprüngliche Verrechnung führt. Um diesen Mehraufwand entgegenzutreten, wird mit dem Prinzip der abgestimmten Rechnungslegung der Zeitpunkt der Prüfung der geforderten Leistungen (Aufmaßblätter) verändert. Abgestimmte Rechnungslegung bedeutet, dass die Rechnungsprüfung durch die örtliche Bauaufsicht vor Rechnungslegung erfolgt. Innerhalb eines Abrechnungszeitraumes (z.B. einem Monat) werden „Abrechnungspakete“ erstellt, die in regelmäßigen zeitlichen Intervallen (üblicherweise wöchentlich) der ÖBA vorgelegt und von dieser geprüft und mit dem Auftragnehmer abgestimmt werden. Die Rückmeldung der Prüfergebnisse bzw. etwaig erforderlicher Ergänzungen oder Korrekturen an den Auftragnehmer erfolgt in der Regel im Zuge der Übergabe des nächsten Abrechnungspaketes.

ÖBA

Rechnungs erstellung

SCHLUSSRECHNUNG

Abb. 14-1

Re. Erstellung

Re. Prüfung Re. Prüfung

AZ 003

Rechnungs prüfung

Re. Prüfung

Re. Erstellung

Korrekturen Rechnungs erstellung

Re. Prüfung

Re. Erstellung

Re. Erstellung

Korrekturen Rechnungs prüfung

ÖBA Re. Prüfung

AZ 001

Rechnungs erstellung

AN Re. Erstellung

AZ 002

AN

Re. Erstellung

Re. Prüfung

Re. Erstellung

Re. Prüfung

Re. Erstellung

Re. Prüfung

Re. Erstellung

Re. Prüfung

Re. Erstellung

Re. Prüfung

Re. Erstellung

Re. Prüfung

SCHLUSSRECHNUNG

Vergleich abgestimmte Rechnungslegung (rechts) – nicht abgestimmte Rechnungslegung (links)

184

Teil C – Bauwirtschaft

Mit der abgestimmten Rechnungslegung werden nicht nur Korrekturaufmaßblätter vermieden, vielmehr stützt und fördert bzw. fordert diese Vorgehensweise auch die gemeinsame, einvernehmliche zeitnahe Leistungsfeststellung und Dokumentation vor Ort (auf der Baustelle). Zu diesem Zweck wurde auch auf den Feldaufnahmeblättern standardisiert ein Feld für einen Querverweis der gemäß Leistungsbild ÖBA zu erbringenden Fotodokumentation vorgesehen. Auch wenn der Inhalt sämtlicher Abschlagsrechnungen bis zur Schlussrechnung (bzw. Schlussrechnungsprüfung/Schlussrechnungsgespräch) beidseitig korrigierbar bleiben, können so eine Vielzahl von Korrekturen vermieden, sowie etwaige Ergänzungen der Dokumentation zeitnah zur Leistungserbringung erstellt und der Abrechnung beigelegt werden.

14.3.2

Rechnungsteile A, B, C

Das Prinzip der abgestimmten Rechnungslegung schränkt den Auftragnehmer nicht ein, sämtliche Forderungen in einer Abschlagsrechnung abzubilden. Lediglich die Rechnung selbst ist in bis zu drei Teilen aufzugliedern.

Abschlagsrechnung

Abb. 14-2

14.3.2.1

Teil A

Teil B

Teil C

Abgestimmte Leistungen

Abgestimmte Akontierungen

Sonstige Forderungen

Rechnungsstruktur einer abgestimmten Rechnungslegung für Verträge nach ÖNORM B 21182)

Rechnungsteil A

Im Rechnungsteil A werden jene Leistungen abgebildet und auch in weiterer Folge vergütet, die seitens ÖBA geprüft und als korrekt angesehen werden. Der Rechnungsteil A kann quasi als „vorbereitete Schlussrechnung“ betrachtet werden. 2)

Brigola/Höfer/Krempl (2018)

14 Der Anspruch an den Abrechnungsprozess bei Infrastrukturprojekten

14.3.2.2

185

Rechnungsteil B

Um bereits erbrachte und anerkannte Leistungen, die jedoch zum Zeitpunkt der Rechnungslegung noch nicht schlussrechnungsmäßig erfasst werden können zeitnah und möglichst leistungsgerecht zu vergüten, ist der Rechnungsteil B (Akontierungen) vorgesehen. Unter mögliche Akontierungen fallen einerseits Mehrkostenforderungen im Prüfstatus andererseits aber auch erbrachte Leistungen, welche noch nicht „spitz“ abgerechnet werden können. Wesentlich ist, dass seitens des Auftragnehmers in einer Partnerschaftssitzung um eine Akontierung angesucht werden muss, der Inhalt von der ÖBA geprüft wurde und die Höhe der Akontierung im Wissen und basierend auf dem Einverständnis des Auftraggebers (Projektleitung) beschlossen wird. Nachdem die betroffene Leistung wiederrum „schlussrechnungsmäßig“ erfasst werden kann, werden Akontierungen aus dem Rechnungsteil B ausgebucht und auf Positionsebene in den Rechnungsteil A übernommen.

14.3.2.3

Rechnungsteil C

Kann zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber bzw. dessen Vertreter (ÖBA) kein Einvernehmen bezogen auf einzelne Aufmaßblätter hinsichtlich Positionszugehörigkeit, Menge oder Leistungszeitraum hergestellt werden, oder besteht generell ein Dissens über die Vergütungsfähigkeit von Leistungen, so kann der Auftragnehmer diesen strittigen Leistungsteil in den Rechnungsteil C aufnehmen und seine Ansprüche gegenüber dem Auftraggeber auf diesem Wege geltend machen. Um dem Auftragnehmer die Möglichkeit zur Stellungnahme und gegebenenfalls Nachbesserung zu erleichtern, muss seitens Rechnungsprüfer zu jedem Rechnungsabstrich eine schriftliche Begründung übergeben werden. Da offene Forderungen als Summe transparent aufscheinen, bleiben diese stets im Fokus der Projektpartner. Sowohl der Auftragnehmer kann in seiner Leistungsmeldung als auch der Auftraggeber in seiner Kostenprognose eine Bewertung strittiger Leistungen strukturiert vornehmen. Über strittige Leistungen ist bei gesonderten Abrechnungsbesprechungen zeitnah und gegebenenfalls unter Zuhilfenahme von ExpertInnen das Einvernehmen bestmöglich herzustellen. Entfallen nach erfolgten Abstimmungen Forderungen, werden diese seitens des Rechnungserstellers in der Folgerechnung aus dem Teil C ausgebucht. Sind die Forderungen gerechtfertigt und mit dem Auftraggeber abgestimmt, werden diese in den Rechnungsteil A oder B übertragen und dort vergütet. Der strittige Rechnungsteil wird in den jeweiligen Abschlagsrechnungen nicht vergütet.

14.3.2.4

Schlussrechnung

Durch diese Systematik reduziert sich im Regelfall die Schlussrechnung auf den Rechnungsteil A, welcher als eigenes digitales Projekt geführt werden muss. Dieses Projekt enthält somit ein Leistungsverzeichnis mit ausschließlich beauftragten Positionen und Aufmaßblättern (Rechnungsteil B und C sind gesonderte digitale Projekte) und keine oder zumindest eine deutlich geringere Anzahl an Korrekturen als Projekte ohne abgestimmter Rechnungslegung.

186

Teil C – Bauwirtschaft

Schlussrechnung

Teil A

Teil B

Teil C

Abgestimmte Leistungen

Abb. 14-3

Rechnungsstruktur einer abgestimmten Schlussrechnung nach Auflösung der Rechnungsteile B und C

Ein weiterer Vorteil dieses Systems zeigt sich in jenen Fällen, in denen bis zum Schlussrechnungsgespräch kein Einvernehmen über einzelne Leistungen hergestellt werden kann: In diesem Fall könnte ein „einvernehmlicher Abschluss ausgenommen allfällig ausgeklammerter Probleme“ gem. ÖNORM B 2118 Pkt. 8.3.4.3 aus dem Rechnungsteil B oder C klar abgegrenzt werden. Da der Rechnungsteil A schlussrechnungsmäßig erfasst und geprüft wurde, kann als wesentliche Effizienzsteigerung auf ein nochmaliges Vorlegen sämtlicher sortierter Abrechnungsunterlagen in prüfbarer Form verzichtet werden. Diese liegen ja bereits der ÖBA im Original vor.

14.3.3

Flussdiagramme

Ein wesentlicher Punkt des Leitfadens liegt in der klaren und eindeutigen Zuordnung sämtlicher Aufgaben beginnend mit den Abrechnungsgrundlagen, der Rechnungsprüfung, Auswertung und Verarbeitung von Mengenvergleichen bis hin zu Prognosen, dem Berichtswesen und der Ablage von rechnungsrelevanten Unterlagen. In Ablaufdiagrammen wird die Abfolge der einzelnen Schritte der Rechnungserstellung und Prüfung festgelegt, sowie eine Sphärenzuordnung betreffend der Zuständigkeiten und den Schnittstellen getroffen. Eine vollständige und österreichweit standardisiert geordnete Ablage der Abrechnungsunterlagen wird bereits zum Zeitpunkt der Abschlagsrechnungen eingefordert. Die Anforderung ist, eine externe Prüfung zu jedem Zeitpunkt des Projektes vollumfänglich und ohne spezifischer Projektkenntnis möglich zu machen. Auch der Rechnungshof empfielt, die Rechnungskontrolle und den Rechnungslauf mittels Flussdiagrammen, Abläufen, Zuständigkeiten und Prüfinhalten schriftlich festzulegen.3) Untenstehend ist beispielhaft das Flussdiagramm für den Abrechnunglegungs- bzw. Prüfprozess bei Verträgen nach ÖNORM B 2118 abgebildet. 3)

Vgl. Rechnungshof Österreich (2018), S. 60

187

14 Der Anspruch an den Abrechnungsprozess bei Infrastrukturprojekten

Ablaufschema für Bauabrechnung ÖN B 2118: ÖBA

AN

BK

AG

Abrechnungsstartgespräch (einmalig)

siehe Pkt. 4.3.2

siehe Pkt. 4.3.3

Prüfung und Korrektur Aufmaßblätter

Korrekturanmerkungen

siehe Pkt. 4.3.5 abgestimmt

Rechnungsteil A

Rechnungsteil C

Rechnungsteil B

siehe Pkt. 4.2.1

nicht abgestimmt

Ausdruck und Übergabe siehe Pkt. 4.3.4

Erstellung der EDVAufmaßblätter

siehe Pkt. 4.2.2

siehe Pkt. 4.2.3

laufend während des Abrechnungszeitraumes bzw. -monat

Rechnungserstellung / Rechnungsabstimmung / Rechnungsprüfung (AN + Prüfer)

siehe Pkt. 4.3.1 Erstellung der Abrechnungsgrundlagen

Korrekturanmerkungen

Zusammenstellung der Gesamtrechnung

Übermittlung Datenträger und Gesamtrechnung siehe Pkt. 4.3.7

Einlesen Datenträger, Endkontrolle, Freigabe siehe Pkt. 4.3.8

Rechnungslegung an ASFiNAG

In den Tagen nach dem Abrechnungszeitraum (etwa 5-10)

Rechnungslegung Freigabe Prüfer

siehe Pkt. 4.3.6

Freigabe zur Rechnungslegung

Buchung SAP siehe Pkt. 4.3.10

Prüfung / Freigabe / Korrektur

bei SR / TSR

bei SR / TSR

siehe Pkt. 4.3.11 Dokumentation und Berichtswesen siehe Pkt. 4.3.12 Prüfung / Freigabe ASFiNAG siehe Pkt. 4.3.13 Anweisung siehe Pkt. 4.3.15

siehe Pkt. 4.3.14

Formale Evaluierung einer AR/TR Rechnungsprüfung Begleitende Kontrolle siehe Pkt. 4.3.16

Abb. 14-4

4)

Ablaufschema der standardisierten Bauabrechnung für Verträge basierend auf der ÖNORM B 21184)

Brigola/Krempl (2019), S. 10

Prüffrist bzw. –zeitraum und Zahlungsziel gemäß Vertrag

per E-Mail an [email protected]

Dokumentation / Rechnungsfreigabe AG / Anweisung

siehe Pkt. 4.3.9

188

Teil C – Bauwirtschaft

14.3.4

Mengenvergleiche und Prognosen

SOLL-IST-Vergleiche von Mengen und Kosten dienen vor allem als Unterstützung bei der Abrechnungskontrolle und als Steuerungsinstrument bei der Projekt- und Vertragsabwicklung. So ist es mit Hilfe der Mengenvergleiche möglich bei der Prüfung von Teilrechnungen während der Ausführungsphase Mengen(fehl)-Entwicklungen frühzeitig festzustellen oder aber auch im Zuge der Schlussrechnungsprüfung eine letztmalige Analyse und Korrektur von möglichen Fehlverrechnungen vorzunehmen. SOLL-IST-Vergleiche geben damit auch eine Information über Planungs- sowie Ausschreibungsmängel und darüber, ob etwaige strategisch kalkulierte Preisansätze des Auftragnehmers zum Nachteil des Bauherrn schlagend werden könnten.5) Im Abrechnungsleitfaden ist geregelt, dass seitens ÖBA ein Mengenvergleich über alle Positionen beizulegen ist. Um etwaige Abrechnungsfehler einfacher erkennen zu können, ist hierbei das „SOLL“ aus dem fortgeschriebenen Bauvertrag zu entnehmen (siehe Abschnitt 14.3.5). Um die IST-Mengen der Abrechnung nicht zu verfälschen (was jeglichen Mengenvergleich unbrauchbar machen würde), sind sowohl Abrechnungsvereinbarungen (speziell Verrechnungen über Faktoren für Teilleistungen aus Positionen) als auch die Verrechnung von Leistungen mit Positionen aus anderen Ober- oder Hauptgruppen unzulässig. Mengenüberschreitungen um mehr als 20 % bzw. über einer definierten Höhe sind der Projektleitung zur Kenntnis zu bringen. Die Projektleitung kann so gezielt, gegebenenfalls unter Einbeziehung interner Abrechnungs- und BauwirtschaftsexpertInnen prüfen lassen ob • die Abrechnung dieser Teilleistung den vertraglichen Abrechnungsregelungen bzw. jener der LB-VI, LB-TI, LB-HB entspricht. • es sich tatsächlich um eine reine Mengenänderung und nicht um eine geänderte Leistung handelt. • sich bei einer reinen Mengenänderung ohne Leistungsabweichung in Hinblick auf den Punkt 7.4.5 der ÖNORM B 2118 (Mengenänderungen ohne Leistungsabweichung) ein neuer Einheitspreis kalkulationsmäßig begründen lässt. Ein vertieftes Monitoring von auffälligen Positionen der Angebotsprüfung ist über den Leitfaden grundsätzlich geregelt. Um innerhalb der Projekte eine systematische und wirtschaftliche Projektsteuerung zu ermöglichen, muss die Prognose der Mengen und Kosten mit einer besonderen Sorgfalt durchgeführt werden. Die Projektleitung ist über Abweichungen zu informieren, sodass geeignete Maßnahmen zur Gegensteuerung zeitnah analysiert und seitens der Entscheidungsträger eingeleitet werden können. Aus Sicht der Autoren müssten hierbei neben den wirtschaftlichen Aspekten auch die Zweckmäßigkeit, die Qualität und Lebenserhaltungskosten berücksichtigt werden. SOLL-IST-Vergleiche einer abgestimmten Rechnungslegung inklusive Prognose (Rechnungsteil A), eine Bewertung der akontierten Mehrkostenforderungen (Rechnungsteil B) sowie der strittigen Leistungen (Rechnungsteil C) bilden ein solides Kontroll- und Steuerungsfundament für das Projektcontrolling.

5)

Vgl. Rechnungshof Österreich (2018), S. 60

189

14 Der Anspruch an den Abrechnungsprozess bei Infrastrukturprojekten

14.3.5

Vertragsfortschreibung durch Mehr- oder Minderkostenforderungen (MKF)

Mehr- oder Minderkostenforderungen und deren zugehörige Leistungspositionen sind im Rahmen der Vertragsfortschreibung eines ASFiNAG-Bauvertrages im Zuge der Beauftragung in drei Gruppen zu untergliedern: • Leistungspositionen für reine Mengenmehrungen/Minderungen • Beauftragte Leistungspositionen, die entfallen (aus Hauptvertrag oder bereits beauftragten Änderungsaufträgen) • Neue Leistungspositionen, die noch nicht oder nicht in der richtigen Haupt-, Obergruppe beauftragt sind

Mehr- oder Minderkostenforderung (MKF) Mengenmehrungen Mengenminderungen

Entfallpositionen

Mengenfortschreibung im Hauptvertrag

Mengenfortschreibung im Hauptvertrag

(Positionsnummer des LV)

(Positionsnummer des LV)

Abb. 14-5

Neue Positionen

Mengenfortschreibung in gesonderter HG /OG

Vertragsfortschreibung durch Mehr- oder Minderkostenforderungen (MKF)

Grundsätzlich bestehen für die Einarbeitung von Mehrkostenforderungen in die Abrechnung zwei Philosophien: A. Sämtliche Positionen einer Mehrkostenforderung in einer zugehörigen Obergruppe (OG) / Hauptgruppe (HG) zu erfassen. B. Mengenmehrungen und Minderungen sowie Entfallpositionen über die „erweiterte Nachtragsverwaltung“ in die bereits beauftragte Position zu integrieren. • Auch wenn es auf den ersten Blick meist die Möglichkeit (A) als die bessere erscheinen mag, so birgt sie entscheidende Nachteile: • In der Abrechnung kann meist im IST (z.B. Mengenmehrung) nicht unterschieden werden, ob bzw. wie weit die zu verrechnende Menge der Hauptauftragsposition oder der Zusatzauftragsposition zuzuordnen ist. • In Bezug auf den Punkt 7.4.5 der ÖNORM B 2118 und einer etwaigen Neupreisbildung macht es einen Unterschied, ob die Mengen als Gesamtes oder über zwei getrennte Positionen zu betrachten sind. (Wird bei einer Überschreitung die Gesamtmenge, oder jede Position für sich betrachtet?). • Wenn Mengenminderungen oder Entfallpositionen nicht in die Hauptvertragspositionen integriert werden, können die automatisierten Mengenvergleiche der ursprünglichen Positionen keine repräsentativen und verwertbaren Ergebnisse liefern. • Sollten entfallene Positionen dennoch verrechnet werden, würde diese Falschverrechnung nicht automatisiert erkannt werden. Auf Grund dieser Punkte sind bei ASFiNAG Projekten die Mengenmehrungen und -minderungen sowie Entfallpositionen in das Projekt zu integrieren.

190

14.4

Teil C – Bauwirtschaft

Aktuelle Trends

Die Erfahrungen der letzten Jahre in Zusammenhang mit diesem Thema und auch die Erkenntnisse aus zahlreichen diesbezüglichen Abstimmungen mit anderen Auftraggebervertretern zeigen deutlich, dass hier generell Bestrebungen vorhanden sind, in die Abrechnungssystematik und deren Struktur weiter zu investieren. Auch der Rechnungshof macht deutlich, dass Weiterentwicklungen auf dem Gebiet des Prozessmanagements und der Abrechnungskontrolle wünschenswert sind. Nicht zuletzt auch deshalb wird derzeit neben den ASFiNAG-unternehmesspezifischen Bestrebungen auch ein Forschungsprojekt gemeinsam mit der Technischen Universität Graz abgewickelt, in welchem die bestehenden diesbezüglichen Regelungen unterschiedlicher Auftraggeber miteinander verglichen und die Vorteile bzw. der Nutzen eines standardisierten Abrechnungsprozesses für alle Projektbeteiligten herausgearbeitet werden. Begleitet werden all diese Entwicklungen und Bestrebungen von den Schlagwörtern „Building Information Modeling” (kurz BIM) und der Digitalisierung generell. Wobei aus der Sicht der Autoren die Thematik der Digitalisierung bereits in vielen Aspekten der Abrechnung(skontrolle) Eingang gefunden hat. Dies beginnt bei der digitalen Aufnahme des Bestandes (z.B. mittels Drohnenbeflug) und führt über eine digitale Projektplattform bis hin zur digitalen Baudokumentation mit GPS-Verortung inkl. Mangelmanagement. All diese Entwicklungen und Systeme unterstützen die derzeit in der Baupraxis üblichen Abrechnungsprozesse bereits, auch den von der ASFiNAG mittels Abrechnungsleitfaden weiterentwickelten Prozess. Dies wird wohl auch weiterhin so sein, da sie dazu beitragen, den Prozess exakter und effizienter zu gestalten. Etwas unpräziser sind hier die Prognosen bezogen auf die Entwicklungen in Zusammenschau mit BIM. Während die obig angeführten Entwicklungen der Digitalisierung die bestehenden Prozesse unterstützen, stellt BIM eine grundlegend andere Form der Projektabwicklung und somit auch der Abrechnung dar. Die ASFINAG beobachtet die derzeitigen nationalen als auch internationalen Entwicklungen genau und führt ebenfalls erste diesbezügliche Pilotprojekte mit BIM aus. Aus Sicht der Autoren ist der Begriff „BIM“ als sehr weitumfassend zu verstehen und die Grenzen (nach oben) sind wohl noch nicht abzusehen. Bezogen auf die Abrechnung birgt BIM neue Chancen und Möglichkeiten. Man kann wohl noch einen „Schritt weiter gehen“: BIM wird in der Einschätzung der Autoren nicht nur einzelne Prozesse bei der Planung und Abwicklung von Bauprojekten beeinflussen bzw. verändern, sondern möglicherweise grundlegend neue Vergabe/Vertragsmodelle einfordern, die mehr Kooperation und ein neues Projektverständnis („best for the project“) aller Beteiligten voraussetzt.

14.5

Zusammenfassung

Während die Berechnung von Mengen und Massen für die Verrechnung von Leistungspositionen in den österreichischen Leistungsbüchern sowie teilweise in den Verträgen selbst

14 Der Anspruch an den Abrechnungsprozess bei Infrastrukturprojekten

191

geregelt ist, bleiben der generelle Prozess der Bauabrechnung und die einheitliche Systematik der kumulierten Rechnungslegung/-prüfung weitgehend ungeregelt und wird wenn überhaupt, von Auftraggeber zu Auftraggeber individuell definiert. Unklar definierte Abrechnungsprozesse und Systeme können die obersten Prämissen einer erfolgreichen Bauabrechnung • Transparenz • Nachvollziehbarkeit und • Reproduzierbarkeit nachhaltig stören und negativ beeinflussen. Um dem entgegenzuwirken, hat die ASFiNAG, als einer der größten österreichischen öffentlichen Auftraggeber im Infrastrukturbereich, im Jahr 2017 mit Hilfe eines Abrechnungsleitfadens begonnen, eine Standardisierung und Systematisierung einzuführen. Der Anspruch an den Abrechnungsprozess bei Infrastrukturprojekten innerhalb der ASFiNAG liegt in der: • Festlegung von zeitlichen Abläufen einzelner Arbeitsschritte zur Steuerung der Rechnungslegung und Prüfung • Sicherstellung einer ordnungsgemäßen, vertragskonformen und dokumentierten Rechnungslegung bzw. Rechnungsprüfung • Festlegung eines Maßstabs für die erforderliche Prüftiefe bei der Abrechnungsprüfung sowie in der • Auswertungsmöglichkeit von verrechneten Mengen und Kosten sowie deren Prognose zur Ermittlung von Kennzahlen als Baustein einer effizienten Projektsteuerung. Unterstützt wird der Abrechnungsprozess und die damit verbundenen Bestrebungen der ASFiNAG von der fortschreitenden Digitalisierung. Bestandsaufnahmen mittels Drohnenbeflug, oder aber auch die Baudokumentation mittels GPS-Verortung bzw. digitale Projektplattformen als Gesamtes sind bereits als Standard in der Bauprojektabwicklung anzusehen und tragen dazu bei, den Abrechnungsprozess exakter und effizienter zu gestalten. Blickt man in die Zukunft, so stößt man unweigerlich auf das Schlagwort „BIM“. Während die bisherigen digitalen Systeme als „Hilfsinstrument“ zur Unterstützung existierender Prozesse bezeichnet werden können, so wird aus der Sicht der Autoren BIM generell neue Zugänge und Betrachtungsweisen bis hin zu neuen Rollen und Funktionen in der Umsetzung der jeweiligen Bauprojekte einfordern. Man kann wohl noch einen Schritt weiter gehen, BIM wird möglicherweise auch neue Vergabe/Vertragsmodelle injizieren, die mehr Kooperation zwischen den Beteiligten und ein neues Projektverständnis („best for the project“) voraussetzen. Die ASFINAG beobachtet diese Entwicklungen genau und setzt bereits erste BIM-Pilotprojekte um.

14.6

Abkürzungsverzeichnis

AZ

......................... Abschlagszahlung

BIM

......................... Building Information Modelling

ÖBA

......................... Örtliche Bauaufsicht

192

14.7

Teil C – Bauwirtschaft

Literaturverzeichnis

Brigola Martin; Krempl Simone (2019): LF_038 Abrechnungsleitfaden für Bauleistungen und Dienstleistungen V 4.00. ASFiNAG BMG/BV 2019. Brigola Martin; Höfer, Gernot; Krempl Simone (2018): PP-Präsentation „Der Abrechnungsprozess bei ASFiNAG Infrastrukturprojekten“. Was gilt es zu beachten…, ASFiNAG BMG/BV 2018 – unveröffentlichte Schulungsunterlage. ÖNORM B 2118 (Ausgabe: 2013-03-15) Allgemeine Vertragsbestimmungen für Bauleistungen unter Anwendung des Partnerschaftsmodells, insbesondere bei Großprojekten – Werkvertragsnorm. Rechnungshof Österreich (2018); Management von öffentlichen Bauprojekten. (Online unter: https://www.rechnungshof.gv.at/rh/home/home_1/home_6/Bauleitfaden_2018_BF.pdf Datum des Zugriffs: 10.06.2019)

15

Konfliktursachen bei der Abwicklung von Bauprojekten Konflikte am Bau sind allgegenwärtig und sind da, um von den Projektbeteiligten gelöst zu werden

Dipl.-Ing. Jörg Ehgartner, MBA Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger Lektor an der TU Wien und FH St. Pölten Esterhazygasse 4-4A/I/20 1060 Wien [email protected] Dipl.-Ing. Peter Fischer Bauwirtschafter und Vertragsmanager Petergasse 7 2381 Laab im Walde Graz [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_15

194

Teil C – Bauwirtschaft

15.1

Abstract

Konflikte prägen z.T. den Projektablauf von Baustellen und stehen dabei in einem kausalen Zusammenhang mit einer Konfliktursache, die ein Ereignis oder Versäumnis ist. Der folgende Artikel stellt die im Rahmen des Forschungsprojekts „Effizienzsteigerung bei der Abwicklung von Bauprojekten durch Konfliktvermeidung“ bisher ermittelten Ergebnisse bzgl. Konfliktursachen dar. Auf Grundlage von ExpertInneninterviews und einer Auswertung von relevanten Literaturquellen wurden Konfliktursachen gesammelt, geclustert und eine Reihung vorgenommen. Weiters werden Studien zu Konfliktkosten – diese sind die Folge von Konfliktursachen – in allgemeinen Unternehmensbereichen vorgestellt und die Kostenbereiche eines Bauprojekts dargestellt, auf die Konflikte Einfluss nehmen können.

15.2

Situationsanalyse

Wurden allgemein für stationäre Industrieunternehmen Studien und Untersuchungen zum Thema Konfliktkosten durchgeführt, so sind im Bauwesen mit den dort vorhandenen Baustellenprototypen keine Untersuchungen, Studien, Verfahren oder Dienstleistungen zum Thema Konfliktmanagement und -kosten bekannt. Konflikt und Kooperation sind keine voneinander trennbaren Ereignisse, sondern Phasen eines einzigen Entwicklungsprozesses. Im Bauwesen in Österreich beschäftigen sich seit einigen Jahren Studien und Arbeitskreise mit dem Thema Kooperation. Das Merkblatt „Kooperative Projektabwicklung“1) ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts. Durch eine holistische Sichtweise wurde ein Systemmodell entwickelt, das die wichtigsten Aspekte der kooperativen Bauausführung berücksichtigte und die wesentlichsten Einflüsse auf die Kooperation darstellt. Das entwickelte Systemmodell diente als Grundlage für die Entwicklung von Maßnahmen zur Förderung der Kooperation in der Bauausführung. Ziel war es, für die maßgebenden Zusammenhänge der Kooperation zu sensibilisieren und zu einem bewussten und rationalen Umgang im Miteinander beizutragen. Mit dem Forschungsprojekt „Effizienzsteigerung bei der Abwicklung von Bauprojekten durch Konfliktvermeidung“ sollen zum einen Konfliktursachen und zum anderen Bandbreiten bzw. Größenordnungen von Konfliktkosten erforscht werden. Konfliktkosten können bei Transaktionsaktionskosten, Kosten der Projektorganisation und bzw. oder produktiven Stunden anfallen. Zudem sollen den handelnden Personen mit dieser Darstellung die Bedeutung der Kooperation verdeutlicht und somit der Konflikt und die Kooperation im Zusammenhang dargestellt werden. Mit dem gegenständlichen Beitrag werden vorerst die Konfliktursachen dargestellt.

15.3

Einleitung

In den letzten Jahren ist vielfach zu beobachten, dass die Bauwirtschaft von wachsender Streit- und Konfliktbereitschaft geprägt ist, Bauabläufe gestört werden, Gerichtsverfahren zunehmen und Verfahrenskosten steigen. Die Risiken eines Prozesses sind schwer abzuschätzen und belasten Unternehmen bzw. deren Verantwortliche. Eine „kooperative 1)

Merkblatt „Kooperative Projektabwicklung“, Empfehlungen zur erfolgreichen Umsetzung komplexer Bauvorhaben, Mai 2013, ÖBV Österreichische Bautechnik Vereinigung

15 Konfliktursachen bei der Abwicklung von Bauprojekten

195

Projektabwicklung“ ist in aller Munde, Konflikte auf einer Baustelle sind jedoch an der Tagesordnung und aufgrund der unterschiedlichen Projektbeteiligten mit unterschiedlichen Interessen auch nachvollziehbar. Wenn Menschen zusammenarbeiten, treffen unterschiedliche Persönlichkeiten, Arbeitsweisen, Meinungen und Interessen aufeinander. Reibungsverluste in Form von Konflikten sind die Folge und durchaus natürlich. Konflikte verursachen aber Arbeitszeit und Geld. Was kosten Konflikte und ist es den Unternehmen bewusst, wie sich ein unproduktiv ausgetragener Konflikt betriebswirtschaftlich auswirkt? Davon abgesehen, dass Konflikte auch innovationsfördernd sein können, da die Projektbeteiligten mit einer Konflikt- und Diskussionsbereitschaft auch Verbesserungen herbeiführen können, sollte die Erkennung und die Konfliktbearbeitung mit Lösungsorientierung im Vordergrund stehen. Je länger Konflikte nicht erkannt bzw. nicht gelöst werden und umso mehr Konflikte ungelöst den Projektfortschritt hemmen, desto mehr können Konflikt- und erhöhte Transaktionskosten durch Konflikte das Ergebnis der Baustelle verschlechtern. Konfliktursachen spielen bei der Ermittlung von Konfliktkosten eine wesentliche Rolle. „Praktiker des Baugeschehens wissen, dass Konflikte den wirtschaftlichen Erfolg eines Projektes gefährden oder im Extremfall sogar zunichtemachen können.“2) Im Rahmen des Forschungsprojekts der Österreichischen Bautechnikvereinigung (ÖBV) und des Instituts Interdisziplinäres Bauprozessmanagement der Technischen Universität Wien „Effizienzsteigerung bei der Abwicklung von Bauprojekten durch Konfliktvermeidung“ sollen Konfliktursachen und Konfliktkosten sowie deren Vermeidung untersucht werden.

15.4

Gibt es eine Verpflichtung zur Kooperation?

15.4.1

Leitsatz eines BGH Urteils zur Vertragsanpassung

Laut einem Urteil des Bundesgerichtshofs in Deutschland sind die Vertragsparteien eines VOB/B-Vertrags3) während der Vertragsdurchführung zur Kooperation verpflichtet. Wenn während der Vertragsdurchführung Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertragsparteien über die Notwendigkeit oder die Art und Weise einer Anpassung des Vertrags oder seiner Durchführung an geänderte Umstände entstehen, sind die Parteien grundsätzlich verpflichtet, durch Verhandlungen eine einvernehmliche Beilegung der Meinungsverschiedenheiten zu versuchen.4)

15.4.2

Tatbestand

Das klagende Land verlangte Mehrkosten vom Beklagten, da dieser den Vertrag kündigte und für den Kläger nach seiner Ansicht nach durch eine Beauftragung eines Dritten Mehrkosten entstanden sind. Streitgegenstand war grundsätzlich, ob die Kündigung des Beklagten gerechtfertigt war. Der Baubeginn wurde verschoben, wobei über die 2) 3) 4)

Koenen Bauanwälte (2016). Online unter: https://www.bauanwaelte.de/blog/serie-der-bauvertrag-als-kooperationsvertrag/ Datum des Zugriffs: 04.06.2019 VOB/B – (deutsche) Verdingungsordnung für Bauleistungen; vollständiger Titel: Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen – Teil B: Allgemeine Vertragsbedingungen für die Ausführung von Bauleistungen BGH, 28.10.1999 - VII ZR 393/98

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Teil C – Bauwirtschaft

Mitteilung und Einigung Uneinigkeit herrschte. Der Beklagte verlangte infolge der Verschiebung Mehrkosten und kündigte aufgrund der Zurückweisung der Nachtragsforderung den Rücktritt vom Vertrag an. Der Kläger erklärte nunmehr ebenfalls den Rücktritt vom Vertrag, nachdem der Beklagte die Aufnahme der Arbeiten verweigerte und beauftragte eine andere Firma mit der Leistungsdurchführung.

15.4.3

Entscheidungsgründe

Nach den Zurückweisungen der Klage durch das Landes- und der Berufung durch das Oberlandesgericht, führte die Revision zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Vertragsparteien eines VOB/B-Vertrags sind gemäß Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH 23.05.1996 – VII ZR 245/94) während der Vertragsdurchführung zur Kooperation verpflichtet. Aus dem Kooperationsverhältnis ergeben sich Obliegenheiten und Pflichten zur Mitwirkung und gegenseitigen Information. „Die Kooperationspflichten sollen unter anderem gewährleisten, dass in Fällen, in denen nach der Vorstellung einer oder beider Parteien die vertraglich vorgesehene Vertragsdurchführung oder der Inhalt des Vertrages an die geänderten tatsächlichen Umstände angepasst werden muss, entstandene Meinungsverschiedenheiten oder Konflikte nach Möglichkeit einvernehmlich beigelegt werden.“5) Weiters heißt es im Urteil, dass im Wege der Verhandlung eine Klärung und eine einvernehmliche Lösung zu versuchen ist. Der Beklagte hatte seine Verpflichtung dahingehend verletzt, dass er den Vertrag gekündigt hat, ohne sich zuvor um eine einvernehmliche Beilegung des Konflikts bemüht zu haben. Die beiden Vertragsparteien hätten sich mit der Nachforderung aufgrund ihrer Pflicht zur Kooperation in der Weise auseinandersetzen müssen. Erst wenn dieser Versuch einer einvernehmlichen Lösung daran gescheitert wäre, dass der Kläger sich endgültig geweigert hätte, seine Kooperationspflicht zu erfüllen, wäre die Beklagte berechtigt gewesen, den Vertrag aus wichtigem Grund zu kündigen.

15.4.4

Vergleich VOB/B und ÖNORM B 2110

Der Bundesgerichtshof verweist in seinem Urteil auf § 2 Nr. 5 und 6 VOB/B. Die Intentionen der beiden Regelwerke sind vergleichbar – die VOB/B regelt, dass Vereinbarungen zu neuen Preisen vor der Ausführung getroffen und vom Vertrag abweichende Leistungen vor Leistungserbringung angekündigt werden sollen, die ÖNORM besagt bzgl. der Fortschreibung des Vertrags und Anmeldung jeweils eine eheste Durchführung und Anmeldung. Die Vergütung hat sich an den Grundlagen des Vertrags zu orientieren – das wird in beiden Regelwerken so festgelegt. Nach Ansicht der Autoren lässt sich das Urteil des BGH Deutschland durchaus auf Österreich umlegen. Daraus folgt, dass bei einem in Folge von Leistungsabweichungen anzupassenden Vertrags beide Parteien Kooperationspflichten haben und Meinungsverschiedenheiten und Konflikte bzgl. Mehr- bzw. Minderkostenforderungen einvernehmlich beizulegen sind. Ein nachzuweisender Versuch einer einvernehmlichen Einigung durch eine verpflichtende Kooperation bei sonstiger Abweisung bei Gericht, wäre jedoch zu weit gedacht. 5)

Nicklisch/Weick, VOB, 2. Aufl., § 2 Rdn. 6: Danach soll über eine Vergütung für geänderte oder zusätzliche Leistungen eine Einigung vor der Ausführung getroffen werden. Diese Regelungen sollen die Parteien anhalten, die kritischen Vergütungsfragen frühzeitig und einvernehmlich zu lösen und dadurch spätere Konflikte zu vermeiden.

15 Konfliktursachen bei der Abwicklung von Bauprojekten

15.5

Grundlagen zum Forschungsprojekt

15.5.1

Forschungsstand

197

Im Mai 2013 veröffentlichte die ÖBV GmbH das Merkblatt „Kooperative Projektabwicklung“.6) Nach mehr als fünf Jahren durchdringt das Gedankengut der „Kooperativen Projektabwicklung“ immer mehr Bereiche der österreichischen Bauwirtschaft, vor allem im Infrastrukturbereich und im Verkehrswegebau. Das Merkblatt hat die optimale Zusammenarbeit sämtlicher Projektbeteiligten für den allseitigen Projekterfolg zum Ziel. Die Bedeutung der Kooperation unter den Projektbeteiligten, die der optimalen Zusammenarbeit und dadurch dem Projekterfolg dienen soll und die Empfehlungen – aufgeteilt in Projektphasen, Themenbereiche und Schwerpunkte – sind jedoch nur verbal beschrieben. Kosten, die durch Kooperation eingespart werden können, waren nicht Teil des Forschungsprojekts bzw. Merkblatts. Bis zur flächendeckenden „Kooperativen Projektabwicklung“ in Österreich ist es grundsätzlich noch ein weiter Weg, häufig gibt es vor allem aus scheinbar wirtschaftlichen Überlegungen Vorbehalte gegen die Anwendung des Merkblatts. Vor allem bei privaten Hochbauprojekten ist die „Kooperative Projektabwicklung“ noch nicht verbreitet. Die Erfahrung zeigt, dass vor allem private Bauherrn (im Gegensatz zu öffentlichen Bauherrn, die das Merkblatt vielfach verpflichtend auf ihren Baustellen anwenden) eine harte Gangart im Vergleich zu einer „Kooperativen Projektabwicklung“ als wirtschaftlichen Vorteil sehen (Stichwort Claimmanagement). Eine Befassung mit Konfliktmanagement und Konfliktvermeidung sowie eine umfassende Betrachtung dieser Konfliktkosten über sämtliche Projektphasen eines Bauprojekts (Planen, Bauen und Betreiben) liegen in der erforderlichen inhaltlichen Tiefe nicht vor. Die Forschungsprojekte, Studien und Publikationen im Baubereich hatten bisher v.a. das Thema „Kooperation“ zum Inhalt. Studien zu Konfliktkosten befassten sich nicht mit dem Baubereich, sondern beziehen sich auf allgemeine Unternehmensbereiche.

15.5.2

Forschungsprojekt

Mit dem Forschungsprojekt „Effizienzsteigerung bei der Abwicklung von Bauprojekten durch Konfliktvermeidung“ sollen die Auswirkungen einer nicht kooperativen Projektabwicklung – d.h. einer Projektabwicklung mit Konflikten – dargelegt und alle Projektbeteiligten sensibilisiert und zu einer konfliktfreieren Bauausführung angeleitet werden. Es soll gezeigt werden, dass sich Kooperation in vielerlei Hinsicht – z.B. positive Arbeitsumgebung, höhere Kosten- und Terminsicherheit, geringere Mehrkosten durch Störungen – positiv auf ein Bauprojekt auswirken kann. Zum einen soll der Nutzen der kooperativen Projektabwicklung auch im privaten Hochbau verbreitet werden7) und zum anderen soll Überzeugungsarbeit nicht nur mit Softfacts, sondern mit Hardfacts – d.h. möglichen Kosten – geleistet werden und umgekehrt dargelegt werden, dass Kooperation Einsparungen einbringt. Das Ergebnis soll die Empfehlungen und Maßnahmen des Merkblatts „Kooperative Projektabwicklung“ stärken und den Projektbeteiligten aufzeigen, welche Kosten aus 6) 7)

Merkblatt „Kooperative Projektabwicklung“, Empfehlungen zur erfolgreichen Umsetzung komplexer Bauvorhaben, Mai 2013, ÖBV Österreichische Bautechnik Vereinigung Bisherige Studien und Untersuchungen zielten vor allem auf Infrastrukturprojekte und damit auf öffentliche Bauherrn ab.

198

Teil C – Bauwirtschaft

einer konfliktreichen Bauausführung resultieren können. Damit sollen zusätzliche Anstöße für die Umsetzung und Verbreitung des vorliegenden Merkblatts „Kooperative Projektabwicklung“ geleistet und gleichzeitig Lösungsansätze zur Vermeidung dieser Konfliktkosten aufgezeigt werden.

15.6

Konfliktursachen

15.6.1

Definitionen

Kooperation8) ist die zielgerichtete Zusammenarbeit, ohne formalisierten und strukturierten Prozess zur Verbesserung der Unternehmensziele und des eigenen Nutzens in unterschiedlicher Intensität, Dauer und Zielrichtung. Voraussetzungen sind eine faire, kooperative und ergebnisorientierte Zusammenarbeit auf Augenhöhe und die Bereitschaft für direkte Gespräche. Hierfür sind Know-how und Entscheidungsverantwortung der Projektbeteiligten erforderlich. Konflikte, die durch unterschiedliche Interessen und Ziele unweigerlich zustande kommen und auch zu innovativen Lösungen führen können, sind zuzulassen und einer raschen und zielgerichteten Konfliktlösung zuzuführen. Konflikte9) entstehen durch Interaktion, wenn Auffassungen aufeinanderprallen und widerstreitend sind, sich Ziele gegenseitig ausschließen und sich Verhaltensweisen widersprechen. Zumindest eine Partei erlebt in ihrem Denken, in ihrer Vorstellungen oder Wahrnehmung eine Unvereinbarkeit bzw. erlebt zumindest eine Partei die Interaktion so, dass sie das Nicht-Verwirklichen der eigenen Gedanken und Ziele der anderen Partei zuschreibt, wobei dieser Umstand durch Kommunikation zum Ausdruck kommt. Konflikte können als Planabweichungen oder Plangefährdungen bei der Umsetzung der wirtschaftlichen Ziele eines Unternehmens bezeichnet werden und können auf persönlicher psychologischer Ebene oder durch organisatorische Strukturen und unklare Regelvorgaben entstehen. Ressourcen (Arbeitszeit der Mitarbeiter) werden nicht optimal eingesetzt und signifikante, messbare Mehrkosten entstehen. Durch eine Vielzahl von Projektbeteiligten, gruppendynamische Prozesse im Team auf der Baustelle, fehlender erforderliche Kreativität, Lösungskapazitäten und unterschiedliche Konfliktlösungen treten Konflikte auf Baustellen auf. Diese sind jedoch nicht nur negativ zu bewerten und können auch eine Chance für Innovationen sein. Grundsätzlich ist zwischen funktionalen – dem Unternehmen zuträglichen und unvermeidbaren – und dysfunktionalen – dem Unternehmen abträgliche und vermeidbaren – Konflikten zu unterscheiden. Für den Konfliktvorgang verwendet man die Begriffe Konfliktparteien, Konfliktursache (auch Interessengegensatz), Konfliktverhalten, Konfliktgegenstand, Konfliktmanagement, Konfliktkosten und Auswirkungen eines Konflikts. Als Konfliktparteien10) können sowohl einzelne Personen, organisierte Gruppierungen in Form von Teams, Abteilungen, Kollektiven etc. oder formlose unorganisierte Gruppierungen, wie z.B. spontane Personenansammlungen bei Streiks, auftreten. Eine Konfliktursache11) ist ein Ereignis oder Versäumnis, das in einem kausalen Zusam8) 9) 10) 11)

Vgl. Bogner (2014), S. 9; Goger/Müller (2013), S. 159; Zentes/Swoboda/Morschett (2005), S. 1284 Vgl. Audi (2014), S. 48; Duden (2018), Stichwort: Konflikt; Glasl (2002), S. 14; Balling (1998), S. 143, Insam/Achterholt/Reimann (2009), S. 11; Goger/Müller (2013), S. 146 Vgl. Audi (2014), S. 112ff.; Glasl (2004), S. 116 Vgl. Glasl (2002), S. 88; Haghsheno/ Kaben (2005), Balling (1998), S. 132

15 Konfliktursachen bei der Abwicklung von Bauprojekten

199

menhang zum Entstehen des Konflikts steht. Das Streitobjekt hingegen beschreibt die von den Vertragspartnern vordergründig behandelte und zu verhandelnde Streitfrage. Hier kann auch vom Gegenstand eines Konflikts gesprochen werden. Konfliktursache und -gegenstand vermischen sich i.d.R. in der Praxis. Durch Ursachen bzw. Konfliktursachen (z.B. Mängel in der Vorbereitung, fehlende Entscheidungen) kann in Folge eine Verzögerung des Baubeginns entstehen, die Auswirkungen auf die Bauzeit hat (Bauzeitverlängerung und möglicherweise Pönale). Konfliktursachen und deren Folgen haben grundsätzlich ihre Hauptauswirkungen auf Kosten und Termine (Ursache-Folge-Auswirkung-Prinzip). Konsequenzen aus Streitigkeiten sind vor allem Bauzeitverzögerungen, keine zukünftige Zusammenarbeit, gerichtliche Auseinandersetzungen, Baustillstand und Kündigung durch einen Vertragspartner. Konfliktverhalten12) wirkt sich durch äußeres Verhalten oder verbale oder nonverbale Handlungen oder Unterlassungen auf verschiedenen Ebenen aus. Daraus resultieren erneut Aktionen oder Verweigerungen bei anderen. Mit den Instrumenten des Konfliktmanagements13) wird eine Verbesserung der Vorstellungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Konfliktparteien versucht bzw. mit der Beeinflussung der Interessensgegensätze zwischen den organisatorischen Einheiten soll das Organisationsziel erreicht werden (Koordinierung der Beziehungen und Motivation des Verhaltens). Das Erkennen, die Diagnose und die Behandlung von Konflikten sind mit den Methoden Mediation, Moderation, Schlichtung, Supervision, Coaching, Teamentwicklung und Training die Instrumente des Konfliktmanagements. Konflikte nutzbar machen heißt, die Konfliktursache beseitigen und Erkenntnisse für einen Lerneffekt für zukünftige Bauprojekte zu nutzen.

15.6.2

Kostenstruktur eines Bauprojekts

Folgende Kosten fallen in einem Bauprojekt an: • Transaktionskosten • Kosten der Projektorganisation14) (Gesamtheit der Organisationseinheiten und der aufbau- und ablauforganisatorischen Regelungen zur Abwicklung eines bestimmten Projekts; Aufgabe ist es, die optimale Erfüllung von Planung, Ausführung und Projektmanagement (inkl. Koordinierung) zu gewährleisten): • Entwurfsorganisation: Entwurf eines Bauprojekts (Auftraggeber) • Bauausführungsorganisation: Projektorganisation, die sich mit der Errichtung des Bauvorhabens befasst; Oberleitung der Bauausführungsphase und Örtliche Bauaufsicht (Auftraggeber), Bauausführung Auftragnehmer (Projektleitung, Bauleitung, Techniker, Baukaufmann) • Organisation des Projektmanagements (Projektleitung) • Produktive Stunden:15) das sind jene Leistungsstunden und Bauregiestunden, die zur Erbringung einer Bauleistung notwendig sind und in den Leistungspositionen des LV kalkuliert und verrechnet werden.

12) 13) 14) 15)

Vgl. Müller/Stempkowski (2014), S. 294; Werkl (2013), S. 15 Vgl. Glasl (2002), S. 20; Audi (2014), S. 44, PricewaterhouseCoopers AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und Europa-Universität Viadrina Frankfurt (2011), S. 17; Team businessmediaton, 2006, S. 34 Vgl. Jodl/Oberndorfer (2010), S. 195 Vgl. Jodl/Oberndorfer (2010), S. 222

200

Teil C – Bauwirtschaft

Nach Coase sind reale Ressourcen notwendig, um Institutionen zu schaffen, zu erhalten, zu benützen oder zu verändern. Werkl unterscheidet dabei Markt- und Unternehmenstransaktionskosten:16) • Markttransaktionskosten: • Such- und Informationskosten (repräsentieren Kosten für die Ausschreibung und der Angebotsprüfung), • Verhandlungs- und Entscheidungskosten (Abfassung des Bauvertrags und die Vertragsverhandlungen) und • Überwachungs- und Durchsetzungskosten (umfassen sämtliche Kontrollprozesse). • Unternehmenstransaktionskosten: • Einrichtung/Erhaltung/Änderung der Organisationsstruktur • Betriebskosten der Organisation Umgelegt auf ein Bauprojekt zählen folgende Kosten zu Transaktionskosten: • Anbahnungskosten (z.B. Auswahl der möglichen Bieter), • Erstellung der Ausschreibung und Angebotsprüfung (u.a. Planungskosten für die Ausschreibungsunterlagen), • Abfassung des Bauvertrags (Vertragsformulierung und Einigung), • Vertragsverhandlungen, • Vertragsanpassungen aufgrund von Leistungsabweichungen bzw. MKFs (Erstellung und Prüfung und Verhandlung von MKFs), • Kontrollprozesse (z.B. Kontrolle von Kosten, Terminen und Qualität) und • Kontrolle bzgl. Anpassung und Ergänzung der Verträge (Claim- bzw. Anti-Claimmanagement). Demnach sind grundsätzlich nur Teile von Markttransaktionskosten einem Bauprojekt zuzuordnen. So werden Such- und Informationskosten bzw. Anbahnungskosten oder Erstellung der Ausschreibung, Ausschreibung und Angebotsprüfung bei Auftraggebern dem Bauprojekt zugeordnet, Auftragnehmer erfassen diese Kosten jedoch im Regelfall in den Geschäftsgemeinkosten und diese werden nicht direkt einem Bauprojekt zugeordnet, sondern werden im Gesamtzuschlag auf die Kosten aufgeschlagen. Auch wenn in dieser Phase durch Konflikte Kosten entstehen können, werden diese in dem Forschungsprojekt nicht behandelt. Anders verhält es sich bei den Verhandlungs- und Entscheidungskosten bzw. der Vertragsanpassungen aufgrund von Leistungsabweichungen (MKFs), die jeweils dem Bauprojekt zugeordnet werden. Diese Kosten sind grundsätzlich in den Baustellengemeinkosten einzukalkulieren. Ob Bieter Aufwendungen für GutachterInnen oder ClaimmanagerInnen einkalkulieren, sei jedoch dahingestellt.

16)

Werkl (2013), S. 50ff: Werkl zitiert dabei COASE, R. H (1937): The Nature of the Firm. p. 386–405 und ARROW, K.J. (1969): The Organization of Economic Activity: Issues Pertinent to the Choice of Market versus Non-Market Allocation. In: JOINT CONOMIC COMITEE (Hrsg.): The Analysis and evaluation of Public Expenditures: The PPPSystem. p. 48 zitiert in: RICH TER, R.; FURUBOTN, E. G. (2010): Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung. S. 55

201

15 Konfliktursachen bei der Abwicklung von Bauprojekten

Markttransaktionskosten

Such- und Informationskosten

Anbahnungskosten (z.B. Auswahl Bieter) Kosten für Ausschreibung (z.B. Planung) Erstellung Angebot und Kalkulation Angebotsprüfung

Auftraggeber Kosten Zuordnung ᪵

Auftragnehmer Kosten Zuordnung

᪵ keine ᪵

Projekt Projekt Projekt

keine keine keine

GZ -



Verhandlungs- und Entscheidungskosten

Abfassung Bauvertrag Vertragsverhandlungen

᪵ ᪵

Projekt Projekt

keine ᪵

GZ

Überwachungs- und Durchsetzungskosten

Kontrolle von Kosten, Terminen und Qualität Kontrolle bzgl. Anpassung / Ergänzung der Verträge Vertragsanpassungen aufgrund Leistungsabw. MKFs

᪵ ᪵

Projekt Projekt Projekt

᪵ ᪵ ᪵

Projekt Projekt Projekt

Tab. 15-1

15.6.3



Transaktionskosten

Konfliktkosten

Als Konfliktkosten17) (jede Störung der planmäßigen Ressourcenverwendung im Unternehmen) werden alle Kosten bezeichnet, die einem Unternehmen durch Konflikte entstehen. Dabei ist nicht entscheidend, ob der Konflikt allein ursächlich für die Kosten ist. Die Mitverursachung genügt für die Kausalität, da ohne den Konflikt geringere Kosten entstehen würden. Darüber hinaus muss es kein aktuell schwelender Konflikt sein. Konfliktkosten sind demnach ein bewerteter, den planmäßigen Ablauf störender Ressourcenverzehr mit der Folge von Kostensteigerungen. Dies bedeutet: Bei gleichbleibendem Output sinkt durch die Konfliktkosten die Wirtschaftlichkeit. Darüber hinaus können Konflikte auch zu einem geringeren Output führen. Zu den Konfliktkosten zählen grundsätzlich z.B. Auflösung eines Arbeitsverhältnisses oder die Rekrutierung einer neuen Mitarbeiterin/eines neuen Mitarbeiters. Auf die Abwicklung eines Bauprojekts umgelegte Konfliktkosten sind bspw. zusätzliche Kosten für Baustellenorganisation oder unproduktive Lohnkosten des gewerblichen Personals aufgrund von Bauablaufstörungen. Durch Konflikte können Konfliktkosten in allen Bereichen – Transaktionskosten, Kosten der Projektorganisation und produktive Stunden – entstehen.

15.6.4

Studien zu Konfliktursachen und -kosten

Wurden allgemein für stationäre Industrieunternehmen Studien und Untersuchungen zum Thema Konfliktkosten durchgeführt, so sind im Bauwesen mit den dort vorhandenen Baustellenprototypen keine Untersuchungen, Studien, Verfahren oder Dienstleistungen zum Thema Konfliktmanagement und -kosten bekannt. Spezifische Ergebnisse zu Konfliktkosten im Bauprozess liegen im deutschsprachigen Raum nicht vor. Das mit einer Umfrage der WKO18) angegebene Einsparungspotenzial beträgt 634 € pro Mitarbeiter und pro Jahr. Befragte Unternehmen schätzten das Verbesserungspotenzial auf 19,1 % der Kostenbasis – 52 % Krankenstände, 30 % Aufwand Neupersonal, 9 % Rechtskosten Streitfälle, 8 % Aufwand Neukunden, 1 % Aufwand Neulieferanten. KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft19) untersuchte mit einer sogenannten 17) 18)

Vgl. Insam/Achterholt/Reimann (2009), S. 4, 11 und 65; Zülsdorf (2008), S. 17, Audi (2014), S. 171ff. und 51 Exenberger/Grabler/Hauska/Peltz (2006), S. 5

202

Teil C – Bauwirtschaft

Konfliktkostenstudie die Kosten von Reibungsverlusten in Industrieunternehmen. Am teuersten wurden gescheitere bzw. verschleppte Projekte bewertet – 50.000 bis 500.000 € pro Jahr und abhängig von der Mitarbeiteranzahl. Positive (funktionale) Konfliktkosten waren z.B. steigende Kreativität oder zunehmende Innovationskraft, negative Effekte (dysfunktionale Konflikte) geringe Motivation, sinkende Arbeitsleistung, geringes Commitment, hohe Mitarbeiterfluktuation, Machtkämpfe nach innen und nach außen, steigende Opportunitäts- und Transaktionskosten, Mehrausgaben für externe BeraterInnen und Rechtsstreits, Folgeschäden durch Eskalation, Imageverlust. KPMG nahm eine Einteilung in neun Konfliktkostenkategorien – drei Dimensionen – vor: • Person: MitarbeiterInnenfluktuation, Krankheit, kontraproduktives Verhalten • Team: Kundenfluktuation, Mängel in der Projektarbeit, entgangene Aufträge • Organisation: Über- und Unterregulierung, verbesserungsbedürftige Anreizsysteme, arbeitsrechtliche Sanktionen Weitere Aussagen der Studie: • 10 bis 15 Prozent der Arbeitszeit in jedem Unternehmen werden für Konfliktbewältigung verbraucht. • 30 bis 50 Prozent der wöchentlichen Arbeitszeit von Führungskräften werden direkt oder indirekt mit Reibungsverlusten, Konflikten oder Konfliktfolgen verbracht. Die Grundaussage der Studie ist, dass 25 % Reduktionspotenzial bei Konfliktkosten eingeschätzt wird. Pricewaterhouse „Konfliktmanagement als Instrument werteorientierter Unternehmensführung“ 20) teilte die Kosten in • Sichtbare Kosten, wie Gerichts-, Rechtsanwaltskosten, Beendigung Arbeitsverhältnis, Aufwand Rechtsabteilung, geringere Arbeitgeberattraktivität, Krankenstand, Imageverlust bei Kunden und in • verdeckte Kosten, wie reduzierte Ergebnisqualität, Prozesssabotage, MitarbeiterInnenfluktuation, gedankliche Ablenkung der Beschäftigten, „innere Kündigung“, Verlust des Vertrauens in Regelungskompetenz Vorgesetzter, geringere Produktivität, „Dienst nach Vorschrift“ ein.

15.6.5

Auswertung von ExpertInnengesprächen im Rahmen des Forschungsprojekts

In einem ersten Schritt der Erhebung im Rahmen des Forschungsprojekts wurden in Summe 19 ExpertInneninterviews mit dem Fokus auf Konfliktursachen durchgeführt. Die Auswahl der Experten erfolgte dabei so, dass alle Projektbeteiligten eines Bauvorhabens, die in Konflikte auf einer Baustelle verwickelt sein können, repräsentiert sind, um eine gesamtheitliche Betrachtungsweise zu gewährleisten. Dabei wählte man folgende VertreterInnen aus: • sechs Auftragnehmer bzw. Bauunternehmer • vier Auftraggeber • ZT-Büros: zwei Vertreter der Örtlichen Bauaufsicht, einer der Begleitenden Kontrolle und zwei der Planung 19) 20)

Insam/Achterholt/Reimann (2009), S. 7 Coopers AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und Europa-Universität Viadrina Frankfurt (2013)

203

15 Konfliktursachen bei der Abwicklung von Bauprojekten

• ein Rechtsanwalt, zwei Sachverständige, ein Mitarbeiter einer Kontrolleinrichtung Nach Angaben zu Dienstgeber und Person, mussten die ExpertInnen ein Projekt auswählen, das sie bzgl. der Projektkultur einstufen und u.a. Angaben bzgl. der Hinzuziehung von BeraterInnen und Termindruck machen mussten. Dabei gaben von 19 Personen • zwölf an, dass jeweils ein Claimmanager und Rechtsanwalt und zehn gaben an, dass ein Consulter bzw. Sachverständiger in das Projekt eingebunden waren und • zehn gaben an, dass ein hoher, vier ein sehr hoher und zwei ein extrem hoher Termindruck vorherrschte. Auffällig war weiters, dass je sechs Personen die Themenbereiche: • „Ablauf Entscheidungen / Entscheidungsfindung“ • „Umgang mit Fehlern / Fehlerkultur“ und • „Planung“ als sehr schlecht bewerteten, wobei die Planung mit einem Durchschnittswert von 2,78 (Noten 1 bis 4) am schlechtesten abschnitt und, dass Auftraggeber Projekte generell positiver bewerteten als Konsulenten oder VertreterInnen von Auftragnehmern. Folgende Risiken (Chancen und Gefahren) schätzten die ExpertInnen mit den angegebenen %-Angaben ein: AN Ges AN o CM Lfd. Risiken: Chancen und Gefahren (nicht projektbezogen) Nr. 0 1 2 3 4

A Fehler in der Ausschreibung (Plan, LV), fehlende LVPositionen, mangelnde Voruntersuchungen Entscheidungen fehlen und mangelnde Entscheidungsbefugnisse Planverzug und Planungsfehler in der Ausführungsphase Leistungsänderungen bzw. MKFs - kurzfristig, hohe Anzahl, Mengenänderungen

5

unzureichende Preise bzw. Unterpreise werden durch Qualitätseinsparungen und MKFs wett gemacht

6

verspäteter Baubeginn (Einspruch, fehlender Bescheid, Finanzierungsschwierigkeiten des AG, Verschiebung bzw. verspätete Beauftragung durch AG)

7 8

value engineering Vorleistungen fehlen (z.B. durch Vergabesplitting auf verschiedene Gewerke und mangelhafte Koordination)

B

C

80,0%

70,0%

57,5%

66,3%

56,7%

CM D 100,0%

BK [%] E

SV

70,0%

87,5%

G

RA H

50,0%

80,0%

85,0%

60,0%

67,5%

85,0%

50,0%

80,0%

51,3%

60,0%

90,0%

70,0%

70,0%

100,0%

60,0%

55,0% 54,2%

F

Kontrolle

75,0%

60,0% 50,0%

80,0%

60,0%

AN……………….Auftragnehmervertreter AN o CM………...Auftragnehmervertreter ohne Clammanager CM………………Claimmanager BK……………….Begleitende Kontrolle SV………………..Sachverständiger Kontrolle………...Öffentliche Kontrolleinrichtung RA………………..Rechtsanwalt

Tab. 15-2

Auszug von Risiken, die von den ExpertInnen mit einer Eintrittswahrscheinlich von über 50 % angegeben wurden

Auffallend war (in Tab. 15-2 nicht dargestellt), dass das Risiko „Fehler in der Ausschreibung ...“ von den Auftraggebern mit 20,0 % und von den Planern mit 5,0 %, das Risiko „Entscheidungen fehlen ...“ von den Planern mit 15,0 %, das Risiko „Planverzug und Planungsfehler ...“ von den Planern mit 2,5 % und das Risiko „Leistungsänderungen bzw. MKFs ...“ von den Auftraggebern mit 11,3 % und von den Planern mit 6,5 % eingeschätzt wurden.

204

Teil C – Bauwirtschaft

Lfd. Nr. 0 1

2

3

4

Risiken: Chancen und Gefahren (projektbezogen) A Entscheidungen fehlen und mangelnde Entscheidungsbefugnisse Einfluss auf die Bauzeit Einfluss auf die Baukosten Einfluss auf die Qualität Einfluss auf die Projektkultur Planverzug und Planungsfehler in der Ausführungsphase Einfluss auf die Bauzeit Einfluss auf die Baukosten Einfluss auf die Qualität Einfluss auf die Projektkultur Leistungsänderungen bzw. MKFs - kurzfristig, hohe Anzahl, Mengenänderungen Einfluss auf die Bauzeit Einfluss auf die Baukosten Einfluss auf die Qualität Einfluss auf die Projektkultur positive Überraschung Einfluss auf die Bauzeit Einfluss auf die Baukosten Einfluss auf die Qualität Einfluss auf die Projektkultur

Tab. 15-3

Trat das Risiko ein? Bew. ‫׎‬ Ja Nein 1-4 B C D

14

5

2,8 3,2 0,9 2,0

11

8

2,9 3,2 1,7 3,1

4

2,0 3,3 0,9 2,1

9

1,0 1,2 1,3 1,7

15

10

Auszug von Risiken, die lt. den ExpertInnen bei den ausgewählten Projekten mehrheitlich eintraten inkl. einer Bewertung, welchen Einfluss diese Risiken auf das Projekt haben (1 sehr gut, 4 sehr schlecht)

Abschließend wurden die ExpertInnen gebeten Kommentare zum Thema Konfliktursachen mit Fokus Projektkultur abzugeben, die in Hinblick auf Konfliktursachen ausgewertet und zu Themenbereichen bzw. Konfliktursachen zugeordnet wurden und folgende Reihung ergaben: Lfd. Nr. 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Tab. 15-4

Konfliktursachen A Projektkultur: Umgangston, Fehlerkultur Treffen von Entscheidungen: rechtzeitig, wer? Personelle Ressourcen: ausreichende Anzahl, Qualifikation fachlich und sozial Planung: Qualität, Flexibilität bei Änderungen, termintreue Planlieferung Kommunikation: Probleme mit digitalen Plattformen, E-Mail-Flut Termine: Zeitdruck, unzureichende Bauzeit, Arbeitsvorbereitung Ausschreibung, Angebot, Vertrag Leistungsabweichungen Schnittstellen Besprechungskultur: Vorbereitung, Disziplin, Anzahl der Teilnehmer, Protokollierung

Nennungen Interviews B 86 20 19 17 13 12 8 8 4 3

Punkte C 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1

Auswertung der ExpertInneninterviews in Hinblick auf Konfliktursachen mit Aufsummierung und Punktevergabe gemäß der Reihung von 10 bis 1

Für die Zusammenführung der Wertung der Konfliktursachen mit einer Auswertung von Literaturquellen wurden den Konfliktursachen gemäß der Reihung die Punkte 10 bis 1 vergeben. Jene Konfliktursache mit den meisten Nennungen bekam zehn Punkte.

15 Konfliktursachen bei der Abwicklung von Bauprojekten

15.6.6

205

Konfliktursachen einer Auswertung von Literaturquellen

Um eine Auswertung aus der in der Literatur genannten Konfliktursachen zu erhalten, wurden zahlreiche im deutschsprachigen Raum relevante Veröffentlichungen mit Schwerpunkt Österreich in Bezug auf Konfliktursachen ausgewertet. In allen Fällen verwendeten die Autoren Aufzählungen, aus denen eine Liste der Konfliktursachen erstellt wurde und die Nennungen der einzelnen Konfliktursachen summiert wurden. Folgende Literaturquellen wurden für die Auswertung herangezogen: • Berner F., Schmalz S., Happold J. (2018), Die Verbesserung der Kooperation in Bauprojekten mit Hilfe integrierter Projektabwicklungsmodelle und Building Information Modeling • Bogner B. (2014), Systemmodell zur Förderung der Kooperation in der Bauausführung • Enzenhofer C., Gucher J., Hartl C. (2017), Befragung Kooperation messen • Goger G., Müller K., (2016): Der gestörte Bauablauf • Goger G., Müller W., (2013), Bauen – (k)ein lösbarer Konflikt • Gralla M., Sundermeier M. (2007), Bedarf außergerichtlicher Streitlösungsverfahren für den deutschen Baumarkt – Ergebnisse der Umfrage des Deutschen Baugerichtstages • Jodl H.G. (2014), Kooperationsumfrage 2014 (für die Bewertung wurden drei Ergebnisse – AN, AG und ÖBA – herangezogen) • Kurbos R. (2003), Baurecht in der Praxis • Leicht P. (2008), In: Partnering in der Bau- und Immobilienwirtschaft – Projektmanagement- und Vertragsstandards • Maffini C. (2009), Konfliktbehandlung in Bauprojektorganisationen • Müller K., Stempkowski R. (2014): Handbuch Claim-Management • Tupi A. (2018), Ursachen von Leistungsabweichungen und deren Probleme & Konflikte • Werkl M. (2013), Risiko- und Nutzenverhalten in der Bauwirtschaft (für die Bewertung wurden zum einen die Streitursachen und die Projektrisiken herangezogen) • Wiesner W. (2014), Management in österreichischen Bauunternehmen im Infrastrukturbau Aufgrund der großen Anzahl der Arten von Konfliktursachen mussten diese geclustert werden, d.h. es wurden einige Konfliktursachen zu einem Themenbereich zusammengefasst. So wurden bspw. die Themenbereiche „Überhöhte und unangemessene Mehrkostenforderungen“, „zusätzliche Leistungen“, „Mengenänderungen, Entfall von Leistungen“, „Änderung der Qualität“, „Änderung der Preisgrundlagen“ und „Änderungswünsche, die den Arbeitsfluss des AN stören oder ändern“ zur Konfliktursache „Leistungsänderungen (ua kurzfristig, Vielzahl, Vorgehensweise, Auftrag)“ zusammengefasst.

15.6.7

Zusammenführung der Konfliktursachen

Um eine Gesamtauswertung zu erhalten wurden die beiden Einzelauswertungen – Auswertung aus ExpertInneninterviews und Auswertung aus Literaturquellen – zusammengeführt, das zu folgendem Ergebnis führte:

206

Teil C – Bauwirtschaft

Lfd. Nr. 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Konfliktursachen A Kommunikation, Misstrauen, Fehlerkultur Fehlende Entscheidungen und fehlendes Know-how Planung Leistungsänderungen, Mehrkostenforderungen LV und Vertrag unklar Schnittstellen, Vorleistungen Termine, Fristen zu billige Preise Mängel Zahlungen, Abrechnung Personelle Ressourcen Unausgewogene Risikoverteilung Claiming, Konsulenten, Rechtsanwälte, keine Konfliktlösungsmechanismen

Tab. 15-5

15.7

Nennungen Literatur B 21 20 19 22 19 19 12 15 11 11 7 6

Bewertung Interviews C 10 9 7 3 4 2 5 8 -

Summe D 31 29 26 25 23 21 17 15 11 11 8 7 6

Zusammenführung der Auswertungen aus ExpertInneninterviews und aus Literaturquellen

Aktuelle Trends

Durch eine „unkooperative“ Projektabwicklung bzw. Konflikte entstehen allen Beteiligten Konfliktkosten. Beim Projekt „S 10 Mühlviertler Schnellstraße“ brachte bspw. ein Auftragnehmer eine Klage über eine Summe von 65,11 Mio. EUR inkl. USt. ein, wobei die ASFINAG Bau Management GmbH im November 2017 (die Klage wurde im Juli 2017 eingebracht) den im Zusammenhang mit den Mehrkostenforderungen sowie der Bearbeitung der gegenständlichen Klage bis damals entstandenen externen Aufwand (u.a. Gutachten, Verstärkung der Örtlichen Bauaufsicht, Bearbeitung der Mehrkostenforderungen) mit rd. 1,50 Mio. EUR bezifferte.21) Zum einen werden von Auftragnehmern – auch zusehends bei öffentlichen Bauprojekten – Klagen eingebracht und zum anderen wird vermehrt mit Streitschlichtungsverfahren, Mediation oder Clearingstellen versucht, Konflikte zu lösen und Konfliktkosten niedrig zu halten. Abhängig von den Projektbeteiligten wird es immer Konflikte geben. Die Frage ist, inwiefern die Entscheidungsträger versuchen werden, den zunehmenden Konfliktkosten entgegenzutreten.

15.8

Zusammenfassung

Mit dem Forschungsprojekt „Effizienzsteigerung bei der Abwicklung von Bauprojekten durch Konfliktvermeidung“ der Österreichischen Bautechnikvereinigung (ÖBV) und des Instituts Interdisziplinäres Bauprozessmanagement der Technischen Universität Wien sollen Konfliktursachen und Konfliktkosten sowie deren Vermeidung untersucht werden. Eine Konfliktursache ist ein Ereignis oder Versäumnis, das in einem kausalen Zusammenhang zum Entstehen eines Konflikts steht. Ein Konflikt wiederum entsteht durch eine Interaktion, wenn Auffassungen oder Interessen aufeinanderprallen und widerstreitend sind, wodurch eine Situation entsteht, die zu einem Zerwürfnis führen kann. Durch 21)

Rechnungshof, Bund, 2019/27, S. 101ff.

15 Konfliktursachen bei der Abwicklung von Bauprojekten

207

Konflikte können Konfliktkosten entstehen, die ein bewertbarer, den planmäßigen Ablauf störender Ressourcenverzehr mit der Folge von Kostensteigerungen sind. Diese können bei Transaktions-, Projektorganisation- oder produktiven Kosten auftreten. Mit ersten ExpertInneninterviews und einer Auswertung von relevanten Literaturquellen wurden folgende wesentlichen Konfliktursachen ermittelt: • • • • • •

Kommunikation, Misstrauen, Fehlerkultur Fehlende Entscheidungen und fehlendes Know-how Planung Leistungsänderungen, Mehrkostenforderungen LV und Vertrag unklar Schnittstellen, Vorleistungen

In einem nächsten Schritt sollen mit weiteren ExpertInneninterviews Bandbreiten von Konfliktkosten ermittelt werden.

15.9

Judikaturverzeichnis

BGH, 28.10.1999 – VII ZR 393/98

15.10

Literaturverzeichnis

Audi, Manuel (2014). Konfliktkostenmanagement – Wirtschaftlichkeitskontrolle im Konflikt- und Kommunikationsmanagement. Dissertation. Hohenheim. Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Hohenheim. Balling, Richard (1998). Kooperation – strategische Allianzen, Netzwerke, Joint-ventures udn andere Organisationsformen zwischenbetrieblicher Zusammenarbeit in Theorie und Praxis – 2. Auflage. Frankfurt am Main. Peter Lang GmbH. (ISBN 978-3-63133-438-6) Bogner, Bettina (2014). Systemmodell zur Förderung der Kooperation in der Bauausführung, Dissertation. Wien. Institut für Interdisziplinäres Bauprozessmanagement der Technischen Universität Wien. Duden online – Stichwort Kooperation (Online unter: https://www.duden.de/node/682565/revisions/1980792/view. Datum des Zugriffs: 06.01.2019) Exenberger, Berndt; Grabler, Erwin; Hauska, Elvira; Peltz, Helmut (2006). „Neue Wege der Ergebnisverbesserung“ Qualitative Studie zur betriebswirtschaftlichen Erfassung von Konfliktkosten, Experts Group Wirtschaftsmediatoren der Wirtschaftskammer Österreich. Glasl, Friedrich (2002). Konfliktmanagement – Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater, 7. Auflage, Verlag Freies Geistesleben. (ISBN 978-3-77251-089-2) Goger, Gerald; Müller, Wolfgang (2013). Bauen – (k)ein lösbarer Konflikt, In: Tagungsband – ICC 2013 Symposium – International Consulting and Construction – Bauen in einer Allianz – Vermeidung von Interessenkonflikten durch gemeinsame Ziele. Hrsg.: Tautschnig, Purrer. Seite 145-160. Innsbruck. innsbruck university press. (ISBN 978-3-902936-13-4)

208

Teil C – Bauwirtschaft

Haghsheno, Shervin; Kaben, Torben (2005). Konfliktursachen und Streitgegenstände bei der Abwicklung von Bauprojekten – eine empirische Untersuchung. In: Jahrbuch Baurecht – Aktuelles, Grundsätzliches, Zukünftiges, Band 8, 2005. Seite 261-278. Köln, Düsseldorf. Wolters Kluwer Deutschland, Werner. (ISBN 978-3804151642) Insam, Alexander; Achterholt, Uwe; Reimann, Andreas (2009). KPMG – Konfliktkostenstudie – Die Kosten von Reibungsverlusten in Industrieunternehmen. (Online unter: https://kpmg-law.de/content/uploads/2018/07/2009_Konfliktkosten_Reibungsverluste_in_Unternehmen.pdf. Datum des Zugriffs: 21.06.2019) Jodl, Hans G.; Oberndorfer Wolfgang (2010). Handwörterbuch der Bauwirtschaft – Interdisziplinäre Begriffswelt des Bauens – 3. vollständig bearbeitete und erweiterte Auflage. Wien. Austrian Standard plus. (ISBN 978-3-85402-219-0) Koenen Bauanwälte (2016). Serie – Der Bauvertrag als Kooperationsvertrag. (Online unter: https://www.bauanwaelte.de/blog/serie-der-bauvertrag-als-kooperationsvertrag/ Datum des Zugriffs: 04.06.2019) Müller, Katharina; Stempkowski, Rainer (2014). Handbuch Claim-Management – Rechtliche und bauwirtschaftliche Lösungsansätze zur Abwicklung von Bauprojekten für Auftraggeber und Auftragnehmer. Wien. Linde Verlag. (ISBN 978-3-70732-355-9) ÖNORM B 2110 (Ausgabe: 2013-03-15). Allgemeine Vertragsbestimmungen für Bauleistungen – Werkvertragsnorm. Österreichische Bautechnik Vereinigung – öbv (2013). Merkblatt Kooperative Projektabwicklung – Ausgabe 2013. PricewaterhouseCoopers AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und Europa-Universität Viadrina Frankfurt an der Oder (2011). Konfliktmanagement – von den Elementen zum System. (Online unter: https://www.ikm.europa-uni.de/de/publikationen/EUV_PwC_Studie_Konfliktmanagement-Systeme_2011_DRUCK-V15.pdf. Datum des Zugriffs: 21.06.2019) Rechnungshof: Errichtung der S 10 – Mühlviertler Schnellstraße, Reihe Bund 2019/27 Werkl Michael (2013). Risiko- und Nutzenverhalten in der Bauwirtschaft, Dissertation. Graz. Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der Technische Universität Graz. Wirtschaftskammer Österreich – WKO (2017). Wirtschaftspolitische Blätter, WKO Analyse – Kooperation und Konflikt. (Online unter: https://www.wko.at/site/WirtschaftspolitischeBlaetter/wko-analyse-kooperation-und-konflikt.html. Datum des Zugriffs: 21.06.25019) Zentes, Joachim; Swoboda Bernhard; Morschett, Dirk (2005). Kooperationen, Allianzen und Netzwerke – Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Wiesbaden. Gabler Verlag. (ISBN 978-3-322-99865-1) Zülsdorf, Ralf-Gerd (2008). Strukturelle Konflikte im Unternehmen – Strategien für das Erkennen, Lösen, Vorbeugen. Wiesbaden. Springer Gabler. (ISBN 978-3-8349-9565-0)

16

Der holprige Weg zum Kostenvoranschlag – Sind die Steine eingebildet oder beseitigbar? Tradition behindert Vereinfachung

Dipl.-Ing. Dr. Heimo Ellmer Deputy Director Standards Development Austrian Standards International Heinestraße 38 1020 Wien www.austrian-standards.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_16

210

16.1

Teil C – Bauwirtschaft

Abstract

Falsche Kostenermittlungen sorgen in jeder Projektphase für Diskussionen. Für den empfohlenen Weg stehen die ÖNORM B 1801-1 und die ÖNORM B 2061 zur Verfügung. Ist das Angebot Hosenträger mit Gürtel oder ein Zielkonflikt? Der Beitrag zeigt Anwendungsprobleme auf, blickt auch über deutschsprachige Grenzen und bietet Verbesserungsvorschläge an.

16.2

Situationsanalyse

Eine große Herausforderung bei vielen Bauvorhaben ist ein klarer Kosten- und Zeitrahmen, damit die „richtige“ Kostenermittlung sowohl auf Auftraggeber (AG) als auch auf Auftragnehmer (AN) Seite. Dafür werden die ÖNORM B 1801-1 – die Kostenbereiche stimmen großteils mit DIN 276 und SN 506 511 überein – und ÖNORM B 2061 verwendet. Kostensicherheit, d.h. verantwortlicher Umgang mit den finanziellen Mitteln eines AG, ist im Zusammenhang mit Bauprojekten immer eine große Aufgabe und ein Ziel, das bei sämtlichen Prozessen eines Bauprojekts für alle Handelnden höchste Priorität besitzen sollte. Eine Grundvoraussetzung für Kostensicherheit in allen Projektphasen liegt dabei grundsätzlich darin, ständig sämtliche aktuellen Planungserkenntnisse mit maximaler Sorgfalt und Genauigkeit kostenmäßig zu erfassen und zu bewerten; d.h., zu jedem Zeitpunkt eines Projekts sind sämtliche bekannten Qualitäten und Quantitäten in Kostenbetrachtungen einzubeziehen. Überschnelle, pauschale Kostenaussagen ohne vollständige Kostenerfassung mit der immer wiederkehrenden Erinnerung an die „erste Zahl“ im Projekt sollte in jedem Bauprojekt dazu führen, die ersten und frühen Kostenermittlungen, z. B. zum Zeitpunkt der Grundlagenermittlung oder der Vorplanung, sorgfältig, detailliert und belastungsfähig zu ermitteln und nachvollziehbar und vollständig zu dokumentieren. In der Vergabephase von AVVA sind „angemessene“ Baupreise gemäß ÖNORM B 2061 zu bewerten bzw. zu erklären. Ausgeschiedene Angebote suchen den Verursacher nicht nur beim Bieter, sondern auch andere. Der Kostenvoranschlag (KV) im Sinne des § 1170a ABGB wird in diesem Beitrag nicht behandelt.

16.3

Kostenermittlung

Die Ermittlung der entstehenden oder der entstandenen Kosten erfolgt entsprechend dem Planungsfortschritt in verschiedenen Stufen oder Projektphasen in ähnlicher und vergleichbarer Form (siehe Tab. 16-1) nach ÖNORM B 1801-1:2015, Bild 1 bzw. Bild 3 oder DIN 276:

16 Der holprige Weg zum Kostenvoranschlag – Sind die Steine eingebildet oder beseitigbar?

Vorentwurfsphase

Entwurfsphase

B 1801-1 | KostenKostenDIN 276 ziel | rahmen Kostenvorgabe

Kostenschätzung

Kostenberechnung

Ermittlungsgrundlage DIN 276

Vorplanung

Entwurfsplanung

PPh ÖNORM B 1801-1

Entwicklungsphase

Vorbereitungsphase

Zielgröße Bedarfsfür Pla- planung nung

Maßstab

Rahmen

Gliederung

frei wählbar

Baugliederung

1. Ebene

1 : 200

Kostenvoranschlag Ausführungsplanung + Vorbereitung der Vergabe

1 : 100

Grobelement

3. Ebene

16.3.1

Kostenfeststellung

Grundlage entder standene Vergabe + Kosten Ausführung

Leistungsgruppe Element

Unterleistungsgruppe Elementtyp

Leistungsgliederung

Tab. 16-1

Kostenanschlag

Leistungsgliederung 1. Ebene

Elementtyp

Kostensteuerung

Abschlussphase

1 : 50

Kostengruppe

2. Ebene

Ausführungsphase

Vergabe- Leistungseinheiten position ± 15 %

211

± 10 %

±5%

±3%

Elementtyp Leistungsposition ±0%

Kostenplanung nach ÖNORM B 1801-1

Gliederungssystem

Die zwei Gliederungssysteme gemäß ÖNORM B 1801-1:2015, Bild 6 mit einer „planungsorientierten“ Baugliederung und einer ausführungsorientierten Leistungsgliederung sind über die 1. Ebene sowie die Elementtypen und Leistungspositionen zugeordnet und vergleichbar. Bild B.1 gemäß ÖNORM B 1801-1 stellt die Bildung eines Elementtyps für eine Betondecke mit 30 cm Dicke und 120 kg/m³ Bewehrung und deren Verknüpfung mit den Leistungspositionen auf der ausführenden Ebene dar. Die Schritte der Kostenplanung hat u.a. Lechner1) beschrieben. Der Kostenvoranschlag (nur in) der DIN 276 setzt für die Gesamtkostenermittlung nach Kostengruppen in der dritten Ebene schon eine abgeschlossene, detaillierte Planung voraus, was zugrunde gelegte Informationen zeigen: • • • •

Planungsunterlagen, z.B. Ausführungs-, Detail- und Konstruktionszeichnungen Leistungsbeschreibungen der Leistungsbereiche Berechnungen, z.B. für Standsicherheit, Wärmeschutz, technische Anlagen Berechnungen der Mengen von Bezugseinheiten der Kostengruppen nach dieser Norm und nach der Normenreihe DIN 277 • Mengenermittlungen von Teilleistungen • Erläuterungen zur organisatorischen und terminlichen Abwicklung des Bauprojekts 1)

Vgl. Lechner (2018), S. 5-32

212

Teil C – Bauwirtschaft

• Zusammenstellungen der Kosten von bereits vorliegenden Angeboten und Aufträgen sowie der bereits entstandenen Kosten. Für die Leistungsgliederung stehen zur Erstellung von Leistungsverzeichnissen oder konstruktiven Leistungsbeschreibungen gut eingeführte und bewährte Standardisierte Leistungsbeschreibungen (LB Hochbau, LB Haustechnik und LB Verkehr und Infrastruktur) mit Vorbemerkungen und (Leistungs-)Positionen zur Verfügung. Die Ergebnistiefe der Gesamtkosten ist bei der Leistungsgliederung mit Kostengruppe, Leistungsgruppe, Unterleistungsgruppe und Leistungsposition auch wegen vorhandener Standardkalkulationen gemäß ÖNORM B 2061 von Standardpositionen leicht(er) nachvollziehbar. Kostenkennwerte in Form von Hauptpositionen unterstützen Plausibilitätskontrollen. Für die Baugliederung fehlen zur Erstellung von Projektelementkatalogen oder funktionalen Leistungsbeschreibungen (noch) allgemeine Elementkataloge. Daher werden als Kostendaten vergleichende Kennwerte mit entsprechenden Bezugseinheiten für Kostengruppen, Grobelemente, Elemente, Feinelemente oder Elementtypen herangezogen. Durch vorhandene Leistungspositionen und deren Kosten wird derzeit „das Pferd für Elementtypen wie in Bild B.1 auch von hinten aufgezäumt.“ Gängige Bausoftware kann viel unterstützen und Daten weiterverarbeiten und austauschen – intelligente Daten entstehen nicht von alleine oder durch Gedankenübertragung, sondern sind von allen je nach Vergabe- und Vertragsmodell Betroffenen gemeinsam zu erarbeiten. Unter dem Schlagwort BIM glauben viele an die künftig heile Welt, ausgewählte Pilotprojekte laufen auch erfolgreich. Es entsteht aber der Eindruck, dass durch divergierende Ziele unterschiedlichste Interessen verfolgt werden und immer knappe Ressourcen mehr vergeudet als gebündelt werden. Angesichts der kleinbetrieblichen Struktur bedarf es vermutlich wirtschaftspolitischer Entscheidungen, was zurzeit bei einem Bundesministerin für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort günstig sein sollte. Die geforderte Verbesserung der Planungsprozesse hat ein Baupraktiker trocken kommentiert: „Etwas mehr planen hätten wir immer schon können.“ Den Austausch von Leistungsbeschreibungs-, Elementkatalogs-, Ausschreibungs-, Angebots-, Auftrags- und Abrechnungsdaten in elektronischer Form regelt ÖNORM A 2063, deren Teil 2 in Zukunft die Planungsmethode Building Information Modeling (BIM) Level 3 – siehe ÖNORM A 6241-2 – berücksichtigt (derzeit Normvorhaben).

16.3.2

Kostengliederungen (Kostengruppierungen)

Die Baugliederung 1. Ebene weist grundsätzlich eine große Übereinstimmung zwischen ÖNORM B 1801-1, DIN 276 und SN 506 511 auf, wie die Gegenüberstellung in Anhang C.1 der ÖNORM B 1801-1:2015 zeigt. Nachfolgend hat Lochs die Übereinstimmungen der Kostenbereiche aktualisiert gegenübergestellt (siehe Abb. 16-1).

16 Der holprige Weg zum Kostenvoranschlag – Sind die Steine eingebildet oder beseitigbar?

Abb. 16-1

16.3.2.1

213

Gegenüberstellung der ÖNORM B 1801-1, der DIN 276 und der SN 506 511 in ihren Kostengliederungen (Kostengruppierungen) der Baugliederung 1. Ebene2)

Kostengenauigkeit

Die Gesamtkosten eines Bauprojekts in Kostenermittlungen sind unabhängig von der Projektphase vollständig und gemäß den jeweiligen Umständen eines Projekts zu erfassen und zu dokumentieren. Eine Kostenermittlung ist in jedem Fall, vor allem bei Bauprojekten in bestehender Bausubstanz mit größtmöglicher Genauigkeit und Sorgfalt durchzuführen. Kostenermittlungsgrundlagen sind vollständig und durchgängig anzugeben sowie alle zugrunde liegenden Informationen und Unterlagen transparent und nachvollziehbar zu dokumentieren. Beispiele sind Planungsunterlagen, BIM-Modelle, Qualitätsbeschreibungen, Quellen von Kostenkennwerten mit Währungseinheiten, Informationen zu projektspezifischen Produkten, Situationen o.Ä. Die flächen- und raumbezogenen Bezugseinheiten werden gemäß ÖNORM EN 15221-6, ÖNORM B 1800 oder DIN 277-1 ermittelt. Hilfe bieten die Anwendungsbeispiele in ÖNORM B 1800 Bbl 1.

16.3.2.2

Kostentoleranz

Weder ÖNORM B 1801-1, DIN 276 oder SN 506 511 noch LM 2014 oder HOAI publizieren Toleranzwerte in Prozentabweichung – „Kostentrichter“ – vom ermittelten Ergebnis einer Kostenermittlung, wie oftmals irrtümlich angenommen oder nachgefragt wird. Eine Kostenermittlung ist detailliert und vollständig aufzustellen und weist keinen Toleranzbereich in Prozentwerten aus, mit dem auch Ungenauigkeiten einer Kostenermittlung abgedeckt wären. Diese „Kostentrichter“ sind daher oft verlangte oder versprochene Genauigkeiten der professionellen Kostensteuerung während aller Phasen der Projektabwicklung. Dabei handelt es sich aber um Rückkopplungen in jeder Phase durch einen SOLL-IST-Vergleich mit der vorangegangenen Phase. Entscheidend ist die Erfassung von Änderungen der Quantität und Qualität während der Planungsphase sowie der Marktpreise während der Ausführungsphase. 2)

Lochs, (2019), F. 8

214

Teil C – Bauwirtschaft

Da die Kosten in den Projektphasen umso weniger beeinflussbar sind, je höher das Projektwissen ist (siehe Abb. 16-2), bedarf es frühzeitiger, d.h. vor dem Baubeginn, Steuerunginformationen zur Ergebnisbeeinflussung.

Abb. 16-2

16.3.2.3

Kostenbeeinflussbarkeit in den Projektphasen3)

Gesonderte Darstellung in DIN 276

An den betreffenden Stellen der Kostengliederung gesondert auszuweisen sind prognostizierte und risikobedingte Kosten. Die Kosten einer Kostenermittlung sind im Regelfall bezogen auf den Zeitpunkt der Erstellung der Kostenermittlung und auch mit dem entsprechenden Kostenstand zu dokumentieren; Kosten, die davon abweichend – bei längerfristigen Projekten auch aus budgetären Gründen – auf den Zeitpunkt der Kostenfeststellung (auf das Projektende) bezogen prognostiziert werden sollten, sind gesondert an den betreffenden Stellen darzustellen; die Grundlagen der Prognosen (z.B. Prognosefaktoren, Berechnungsindizes, Kostenkennwerte) und die gewählten Ermittlungsmethoden richten sich nach projektspezifischen Anforderungen und sind zu dokumentieren. Kosten projektspezifischer Risiken, die aufgrund von Unwägbarkeiten (z.B. Baugrundrisiko) oder Unsicherheiten (z.B. offene Planungsentscheidungen) entstehen können, sind in den zutreffenden Kostengruppen bzw. den Gesamtkosten jeweils separat zu ermitteln und darzustellen; die gewählten Ermittlungsmethoden sowie die Grundlagen der Ermittlung (z.B. Kostenkennwerte, Faktoren für Eintrittswahrscheinlichkeiten) richten sich nach projektspezifischen Anforderungen. Vertragliche Risikoverschiebungen sind zusätzlich „extra“ zu bewerten und darzustellen, was aber die unterstellte Vertragspartnerschaft konterkariert. In ÖNORM B 1801-1 ist dafür die Kostengruppe 9 Reserven vorgesehen. 3)

Plettenbacher/Stopfer/Nowotny (2014), S. 3

16 Der holprige Weg zum Kostenvoranschlag – Sind die Steine eingebildet oder beseitigbar?

16.4

215

Preisermittlung

Die Preisermittlung für Bauleistungen bzw. der Leistungspositionen erfolgt gemäß ÖNORM B 2061 und wird durch Kalkulationsformblätter unterstützt. Den Zweck und die Verwendung der ÖNORM B 2061 und der K-Blätter habe ich im Vorjahr dargelegt.4) Eine genormte Baukalkulation gibt es in Deutschland nicht. Beschreibung von Bauleistungen, Kostenberechnung und Baukalkulation fallen in einen Schulungs-, Vorgehens- und unterstützenden Software-„Topf“. Obwohl sich auch dort entsprechende Vorgehensmodelle durchgesetzt haben, hat ein freierer Zugang auch für Österreich seinen Charme, da Kostenrechnungen für den Unternehmer grundsätzlich frei wählbar sind.

16.4.1

Standardisierte Leistungsbeschreibung

Basis der Baukalkulation sind Leistungsverzeichnisse nach LB. Österreich hat schon vor ca 40 Jahren von LB mit Textbausteinen mit „unendlichen“ Auswahlmöglichkeiten auf ein geschlossenes Leistungsbuch mit fertigen Texten gewechselt. Gegen den Wildwuchs an frei formulierten Beschreibungen für das Gleiche müssen LB einen Mittelweg zwischen Detaillierung in viele Positionen und Pauschalierungen finden. Die Forderung klarer Leistungsbeschreibungen übersteuert teilweise das Angebot an Positionen, was in der Praxis in Kalkulation und Abrechnung zu de facto-Leit- oder Hauptpositionen mit geringpreisigen „Neben“-Positionen führt. Verstärkt wird die Problematik von Preisumlagen bei mengenmäßig unrichtigen Ausschreibungen, wozu auch überhöhte „Budget“-Mengen zählen. Der Forderung einer praktikablen und übersichtlichen Anwendbarkeit sollte daher eine Reduktion der Standardpositionen nach einer ABC-Analyse der tatsächlichen Verwendung folgen. Ich behaupte, dass nur ein Viertel der gut gemeinten Leistungsmöglichkeiten tatsächlich und statistisch signifikant genutzt wird – frei nach Popper lade ich zur Falsifizierung dieser These ein. „Größere“ A-Positionen beinhalten bei dieser Konsolidierung auch obige „Kleinleistungen“ als Nebenleistungen.

16.4.2

Tradition oder Verbesserung

Die ÖNORM B 2061 wird zurzeit überarbeitet. Bereits mit dem Beginn im Wiederaufbau der Nachkriegszeit waren neben einer einheitlichen Baupreisermittlung auch Kontrollaspekte beim Einsatz öffentlicher Mittel ein Ziel. Was damals vermutlich ein Segen war, ist heute oft ein Vergabekontrollfluch. Die Empfehlung eines Kalkulationsverfahrens wird durch die Vorschreibung einer normgemäßen Baupreisermittlung in den Ausschreibungsunterlagen zur Selbstbindung und in der Folge oft zum Interpretations-, Bewertungs- und Erklärungsproblem. Da in der ÖNORM B 2061 „traditionell“ nicht klar zwischen normativen Anforderungen und informativem „Lehrbuch“ getrennt wurde, wird der Gesamttext Grundlage von Abweichungsdiskussionen. „Weniger ist mehr“ ist auch hier eine lockere Empfehlung, was die notwendigen Kostengrundlagen für eine Angebotsprüfung und für die Ermittlung von Mehr- oder Minderkosten bei Leistungsabweichungen sind, ein schwieriger Konsens. Versteckte defacto-Verbindlichkeiten erschweren erfahrungsgemäß zusätzlich Überarbeitungsprozesse.

4)

Ellmer, (2018), S. 33-48

216

16.5

Teil C – Bauwirtschaft

Aktuelle Trends

Wie die Gegenüberstellung der ÖNORM B 1801-1 mit DIN 276 und SN 506 511 zeigt, stimmen die Kostenbereiche großteils überein, was wegen des gegenseitigen Blicks über die Landesgrenzen und (zyklischer) Übernahme guter Ideen nicht verwundert. Warum iniziert man dann nicht gleich eine gemeinsame D-A-CH-Norm als Basis für oder überhaupt eine EN? In Österreich fehlt eine anerkannte, neutrale Basis für Kostenkennwerte. Als bessere Datengrundlage von Kostenplanungsprogrammen sind professionelle Sammlungen von Kostenkennwerten oder Kostendaten der AG ([Sondergesellschaften des] Bundes, Länder) und der Planer (ZT:, INGbüros, GS Bau) vorstellbar. Kritische Evaluierungen der Markteinflüsse auf die (deutsche) Kennwert-Literatur machen Übernahmen transparenter und vergleichbarer. Neben der angesprochenen Durchforstung von LB durch ABC-Analysen ist auch eine zusätzliche Konsolidierung gleichnamiger Leistungsgruppen in LB-HB und LB-VI vorstellbar. Bei weniger „Ausreißer“-Positionen sind auch Vorteile von valideren Preisdatenbanken nutzbar. Normen sollten klar und einfach sein, daher dürfen sie auch (Vor)Wissen voraussetzen. Lehrbücher, Kommentare, Seminare u.dgl. sind ein anderes Geschäftsfeld.

16.6

Zusammenfassung

Die ÖNORM B 1801-1 und die ÖNORM B 2061 sind in der Praxis gut eingeführt und durch Software mit großen Datenmengen unterstützt. Holprige oder falsche Anwendungen sind oft ein Schulungsproblem. Gewohntes erträgt dank des Erfahrungsträgheitmoments auch einiges an Kritik, ist gerade deshalb immer zu hinterfragen. Durchgängigkeit, Transparenz und Nachvollziehbarkeit bei größtmöglicher Kostensicherheit unter vertretbarem Zeitaufwand bleiben immer ein Ziel.

16.7

Abkürzungsverzeichnis

AG

......................... Auftraggeber (Besteller | Bauherr)

AN

......................... Auftragnehmer

AVVA

......................... Ausschreibung, Vergabe, Vertrag, Abrechnung

BIM

......................... Building Information Modelling

EN

......................... Europäische Norm, European Standard, Norme Européenne

KV

......................... Kostenvoranschlag

LB

......................... Standardisierte Leistungsbeschreibung

LB-HB

......................... Leistungsbeschreibung Hochbau

LB-HT

......................... Leistungsbeschreibung Haustechnik

LB-VI

......................... Leistungsbeschreibung Verkehrsinfrastruktur

PPh

......................... Projektphase

16 Der holprige Weg zum Kostenvoranschlag – Sind die Steine eingebildet oder beseitigbar?

16.8

217

Literaturverzeichnis

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Datum

des

Zugriffs:

Lechner, Hans (2018). Systematische Kostenschätzungen und -berechnungen – Wo sind die Lücken im Kostentrichter? In: Tagungsband – 16. Grazer Baubetriebs- und Bauwirtschaftssymposium – Kostenermittlung, Kostenberechnung, Kostenanschlag – Baubetriebliche, bauwirtschaftliche und rechtliche Aspekte. Hrsg.: Hofstadler, Christian; Heck, Detlef; Kummer, Markus. S. 5-32. Graz. Verlag der Technischen Universität Graz. (ISBN 978-3-85125-583-6) Lochs, Wolfram (2019). Präsentation vom 2019-01-04 – Vergleich DIN-ÖNORM-SN Baukosten. Wien, Komitee 240. Mahlknecht, Josef (1995). Die neue ÖNORM B 1801-1 – Kosten im Hoch- und Tiefbau. In: Connex, Mai 1995. Seite 20-23. Wien.

218

Teil C – Bauwirtschaft

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17

Mehrkostenforderungen „richtig“ berechnen

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Detlef Heck Vizerektor für Lehre Professor am Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_17

220

Teil C – Bauwirtschaft

17.1

Ausgangslage

Der Beitrag Bertuch1) zum 17. Grazer Baubetriebs- und Bauwirtschaftssymposium legt die rechtlichen Grundlagen für die Abwicklung von Mehrkostenforderungen in Bauverträgen. In der Praxis verwischen nämlich häufig die unterschiedlichen rechtlichen Anspruchsgrundlagen, so dass die bauwirtschaftliche Ableitung umso weniger „sortenrein“ durchgeführt wird. Aus diesem Grund möchte der Verfasser diese Aufarbeitung von Bertuch zum Anlass nehmen, die bauwirtschaftlichen Implikationen dazu auszuführen. Auch wenn es vielen Auftraggebern in der Anbahnung eines Bauvorhabens kaum bewusst wird, so gehören doch Änderungen im Projekt zu den üblichen Vorgängen. Die ÖNORM B 2110 ist darauf grundsätzlich sehr gut gewappnet, denn sie räumt dem Auftraggeber weitreichende Anordnungsbefugnisse ein. Die Norm geht hierbei streng von einer Fortschreibung der Kalkulation aus, die sich im wesentlich nach dem Grundsatz „Ein guter Preis bleibt ein guter, ein schlechter Preis bleibt ein schlechter Preis.“ orientiert. In der Praxis werden bei der Nachtragserstellung in dem Glauben, man müsse Nachweise führen, häufig Rechnungen von Lieferanten oder Nachunternehmern den Mehrkostenforderungen beigefügt. Das ist nur zum Teil sinnvoll, nämlich dann, wenn es sich um gänzlich neue Leistungen handelt, für die es im Ur-Angebot eben keine Preise oder Preiskomponenten gibt. Die nachfolgenden Ausführungen sollen in Anhängigkeit von den Anspruchsgrundlagen die entsprechenden Vergütungsmechanismen beschreiben.

17.2

Mehrkostenforderungen nach der ÖNORM B 2110

Die ÖNORM B 2110 regelt die Geltendmachung von Mehrkostenforderungen im Kapitel 7. Bei der vertraglichen Vereinbarung der ÖNORM werden damit konkrete Anzeige-, Mitteilungs- und Anmeldepflichten notwendig. Diese werden häufig als überschießend erachtet, jedoch sollen sie den Auftraggeber aber auch davor schützen, seine Budgets entsprechend anzupassen.

17.2.1

Die Angebotskalkulation als Grundlage der Mehrkostenforderung

In Österreich hat sich die ÖNORM B 2061 „Preisermittlung für Bauleistungen“ als Verfahrensnorm weitgehend etabliert. Der öffentliche Auftraggeber hat sich an das Bundesvergabegesetz zu halten, welches explizit eine Preisprüfung verlangt. Dies originär vor dem Hintergrund, den öffentlichen Auftraggeber vor unterpreisigen Angeboten zu schützen. Die Abgabe zumindest von K3- und K7-Blättern ist in der überwiegenden Anzahl von Ausschreibungen festgelegt. Im Rahmen der Angebotsprüfung nach Bundesvergabegesetz hat sich der Auftraggeber daher in einem ersten Schritt auffällige Angebote vertieft anzuschauen.2) Auch wenn sich manche Auftraggeber scheuen, die abgegebenen Kalkula1)

Bertuch (2019), S. 223-244

17 Mehrkostenforderungen „richtig“ berechnen

221

tionsformblätter zur Vertragsgrundlage zu erheben, so werden sie faktisch bei einem ÖNORMEN-Vertrag die Grundlage für Mehrkostenforderungen. Nach der Norm hat die „Ermittlung der neuen Preise auf Preisbasis des Vertrages und – soweit möglich – unter sachgerechter Herleitung von Preiskomponenten (Preisgrundlagen des Angebotes) sowie Mengen- und Leistungsansätzen vergleichbarer Positionen des Vertrages“ zu erfolgen. Lang3) sieht die verbindliche Einhaltung der ÖNORM B 2061 – abseits der Vorgabe in den Ausschreibungsbedingungen – bereits dadurch gegeben, dass die Anwendung dieser Norm in einem Vergabeverfahren vom vergaberechtlichen Grundsatz der Anwendung geeigneter Leitlinien (§ 110 Abs. 2 BVergG 2006) eingeschlossen ist. Im Zusammenhang mit der Ausschreibung, dem Angebot und der Prüfung von Bauleistungen stellt die ÖNORM B 2061 den Normalfall dar. Den Ausschluss dieser Norm muss der AG im Einzelfall dezidiert festlegen. Die ÖNORM B 2061 enthält Regelungen für die Preisermittlung von Bauleistungen und entsprechende Kalkulationsformblätter, welche in der Praxis die Grundlage für die Preisangemessenheitsprüfung darstellen. Als Grundsatz der ÖNORM B 2061 ist der Ermittlung der Preise „der sachlich und wirtschaftlich gerechtfertigte Werteeinsatz“ zugrunde zu legen. Der Bieter ist demnach angehalten, seine Kosten verursachungsgerecht den ausgeschriebenen Positionen zuzuordnen. Dennoch obliegt die entsprechende Annahme der Preisgrundlagen, sowie der Preiskomponenten wie auch der Leistungs- und Aufwandswerte dem Bieter. Der Bieter allein bestimmt somit die aus seiner Sicht für die Erstellung der Leistung erforderlichen Preise. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in dem, dem Auftragnehmer zuzurechnenden Kalkulationsrisiko wider. Die ÖNORM B 2061 enthält lediglich Regelungen hinsichtlich der Art der Kalkulation (nämlich die Zuschlagskalkulation) und hinsichtlich der Darstellung der einzelnen Kosten- bzw. Preiskomponenten. So ist z.B. betreffend der Darstellung des Mittellohnpreises die Einhaltung der detaillierten Gliederung des K3-Blattes erforderlich. Aus dem K3-Blatt ist darüber hinaus auch noch die Zusammensetzung des Gesamtzuschlages ersichtlich, der in Abhängigkeit von der einzelnen Kostenart unterschiedlich hoch angegeben werden kann. Der Aufbau der Kostenermittlung von Materialien, vom Einkaufspreis bis zum Verkaufspreis an den AG ist im K4- bzw. K5-Blatt formalisiert. Das K6-Blatt spiegelt die Kalkulation der Gerätestundensätze sowohl für Vorhalte-, als auch Leistungsgeräte wider. Neben dem K3-Blatt ist das K7-Blatt das im Zuge der Angebotsprüfung wesentlichste Kalkulationsformblatt. Dieses enthält bis auf die Aufgliederung in Lohn und Sonstiges keine weiteren Formvorgaben. Durch die Vorgabe der Einhaltung der ÖNORM B 2061 wird die Kalkulationsfreiheit des Bieters nach Ansicht des Verfassers nicht wesentlich eingeschränkt. Die Verbindlicherklärung der Norm kann nur eine Verbindung zwischen Kosten und Preis schaffen, niemals aber endgültig die Frage der Preisangemessenheit klären.4) Beispielsweise sei an dieser Stelle die Möglichkeiten der Kalkulation von Gerätekosten5) erwähnt. Entsprechend den Vorgaben der ÖNORM B 2061 ist der Bieter frei, ob er ein 2) 3) 4)

Siehe daher vertiefend Kropik, A. zum § 125 BVergG „Prüfung der Angemessenheit der Preise – vertiefte Angebotsprüfung“ in Schramm/Öhler, Kommentar zum BVergG, RZ 28 zu § 125 BVergG. Lang, C.: Preisangemessenheit – eine Prüfung der betriebswirtschaftlichen Erklärbarkeit der angebotenen Preise. ZVB 2008/53. Wohlgemuth (2008), S. 503

222

Teil C – Bauwirtschaft

Gerät als Leistungsgerät oder Gemeinkostengerät kalkuliert. Die Norm legt nicht fest, ab welcher Anzahl von Positionen für die dieses Gerät eingesetzt wird, dieses auch als Gemeinkostengerät zu kalkulieren ist. Ein wesentlicher Unterschied ergibt sich aber jedenfalls in der Vergütung, da in einer Leistungsposition kalkulierte Geräte (Leistungsgeräte) zumeist mengenabhängig vergütet werden, Gemeinkostengeräte hingegen überwiegend zeitabhängig. Die Kalkulation der Mittellohnkosten sollte entsprechend der ÖNORM B 2061 mit Hilfe des Kalkulationsformblattes K3 erfolgen. Da das K3-Blatt nahezu bei jeder öffentlichen Auftragsvergabe vom Bieter zu übergeben sein wird und idR Teil jeder vertieften Angebotsprüfung ist, wird in weiterer Folge aufgezeigt, in welchen Kalkulationsschritten dieses Formblattes unternehmensindividuelle Kalkulationsfreiräume gegeben sind, bzw. wo der Bieter beim Ausfüllen des K3-Blattes auf gesetzliche bzw. kollektivvertragliche Vorschriften achten muss bzw. gewisse Formalismen einhalten muss. Der grundsätzliche Aufbau des K3-Blattes folgt einer progressiven Kalkulation, in dem ausgehend vom kollektivvertraglichen Mittellohn über Zuschläge für Mehrarbeit, Erschwernisse, überkollektivvertragliche Entlohnungen, Dienstreisevergütungen bis hin zu gesetzlichen Abgaben bzw. Pflichtversicherungen die Mittellohnkosten ermittelt werden. Unter Berücksichtigung des im K3-Blattes auszuweisenden Gesamtzuschlages ergibt sich der Mittellohnpreis. Der Korbion’sche Grundsatz, ob und inwieweit die sog. Urkalkulation fortzuschreiben ist, hängt in der Praxis häufig von der Angemessenheit der jeweiligen Kalkulationsansätze ab. So wird bei einer geprüften, ggfs sogar vertieft geprüften Kalkulation, von einer Richtigkeit der Preise ausgegangen. Was nun „richtig“ kalkuliert ist, ist eher eine philosophische, denn bauwirtschaftliche Frage. Setzt man die Forderung der ÖNORM B 2061, Pkt 5.1 nach der Berücksichtigung für Einzelkosten an, so lautet dieser Grundsatz: „Der Ermittlung der Einzelkosten ist der für eine Leistung sachlich und wirtschaftlich gerechtfertigte Werteinsatz zu Grunde zu legen.“ Eine „falsche“ Kalkulation kann es daher nicht geben. Dennoch werden in der Praxis insbesondere bei der Verhandlung über die Nachtragspreise immer wieder die real angefallenen Aufwendungen betrachtet. Aus Sicht des Verfassers sind diese jedoch in der klassischen, aber damit auch stringenten Preisfortschreibung unerheblich. So sind sicherlich einzelne Komponenten überhöht oder auch sehr günstig anzutreffen, an der Preisfortschreibung ändert sich hingegen nichts. Haring6) schränkt dennoch die Fortschreibung nach der ÖNORM B 2110 in der Art ein, dass er den „hypothetischen Parteiwillen“ als Maßstab ansetzt. Auch hier steht aber die Sachgerechtheit der Preiskomponenten und der Preise im Vordergrund. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Korbion’sche Grundsatz „ein guter Preis bleibt guter Preis, schlechter Preis bleibt schlechter Preis“ bei einer seriösen Prüfung der Angebote unterstrichen wird. So stellt das Angebot, die dahinterliegende Ur-Kalkulation den Maßstab der Richtigkeit dar. Allerdings ist zu betonen, dass die Ur-Kalkulation lediglich die Einschätzung des Kalkulanten ist, dass sich beispielsweise angenommene Lieferantenpreise, die Zusammensetzungen der Partien und Umstände auch verwirklichen. Diese kurze und jedenfalls unvollständige Auflistung an Unwägbarkeiten7) 5) 6) 7)

Ausführlicher zur Auswirkung der Gestaltung der Ausschreibung auf Geräte- bzw. Baustellengemeinkosten in Duve/Nöstlthaller (2012) Haring (2018), S. 251-264 Siehe auch ÖNORM B 2061, Pkt 5.6: Das in der ÖNORM B 2061 definierte Wagnis beinhaltet auch das Kalkulationswagnis.

17 Mehrkostenforderungen „richtig“ berechnen

223

in der Kalkulation lässt vermuten, dass die Kalkulation trotz aller Bemühungen immer unscharf bleiben werden muss.

17.2.2

Entgeltanspruch nach § 1168 ABGB

Der Entgeltanspruch des § 1168 ABGB lässt sich aus beiden Absätzen durch folgende Voraussetzungen erwirken. • Unterbleiben der Ausführung des Werkes • Leistungsbereitschaft • Umstände auf Seiten des Bestellers Dem leistungsbereiten Unternehmer steht dabei nach Abs 1 jenes vertragliche Entgelt zu, was er bei ordnungsgemäßer Ausführung erhalten hätte, also die vertraglich fixierten Einheitspreise mit den zu erwartenden Mengen oder der Pauschalpreis, abzüglich jener Aufwendungen, die er sich dadurch erspart hat, dass die Ausführung des Werkers unterbleiben ist. Die Schwierigkeit besteht allerdings hierbei, dass der Auftragnehmer nicht von sich aus diese Anrechnung jener ersparten Aufwendungen vornehmen muss, sondern dass der Auftraggeber diese behaupten und beweisen muss. Speziell bei der Frage von Kompensationsaufträgen, – ggfs zu ungünstigeren Margen –, wird der Nachweis schwierig zu führen sein. Die Bestimmung der „angemessenen Entschädigung“ fällt bisweilen schwer. „Angemessen“ in den Überlegungen von Rummel8) sind solche Entgelte, die „sich unter Berücksichtigung aller Umstände und unter Bedacht auf das, was unter ähnlichen Umständen geschieht oder geschehen ist, ergibt.“ Die Ausführungen im Kommentar von Rummel betreffen eher die Frage des Kollektivvertrages, aber aus bauwirtschaftlicher Sicht lässt sich schließen, dass man sich an dem werkvertraglichen Preisgefüge „orientieren“ sollte. Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei derartigen Ansprüchen meist um gestörte Bauabläufe handelt, ist aus Sicht des Verfassers auf den konkreten Einzelfall, also den „gestörten“ Ablauf abzustellen. Eine „klassische“ Preisfortschreibung würde daher jene Umstände nicht enthalten, die dann „unter ähnlichen Umständen“ eingetreten wären. Dementsprechend sind Aufwands- und Leistungswerte, aber ggfs auch Lieferpreise anzupassen. So weit als möglich, ist allerdings auf den ursprünglichen Werkvertrag Bedacht zu nehmen. In diesem Fall eignet sich jedenfalls eine entsprechende Dokumentation der Aufwendungen, um etwaige Anpassungen gegenüber der „Ur-Kalkulation“ zu belegen. Das angemessene Entgelt orientiert sich folglich auf einer Basis der Angebotskalkulation sowie einer bauwirtschaftlichen Ableitung von Mehr- oder ggfs auch Minderkosten, die zu belegen sind.

8)

Rummel (1990), S. 1152, Rz 24 ff.

224

17.2.3

Teil C – Bauwirtschaft

Schadenersatz

Schadenersatzansprüche können nach § 1293 ff dann geltend gemacht werden, wenn der Schädiger selber oder zumindest ein Umstand, der aus seiner Sphäre kommt, eintritt und diesen kausal verursacht hat. In der Bauwirtschaft werden Berechnungen auf Grundlage des Schadenersatzes häufig mit dem Nachweis von Rechnungen von Lieferanten, Mieten oder dem Nachweis des Personals geführt. Die Tiefe der Nachweisführung wurde bislang noch nicht diskutiert, jedoch reicht im Allgemeinen die Vorlage von Rechnungen aus. Eine Öffnung der betrieblichen Buchhaltung beispielsweise zum Nachweis der Personalkosten wird meistens als überschießend beurteilt. Werden bei der Fortschreibung der Kalkulation auch niedrige Preiskomponenten fortgeschrieben, so kann bei einer Berechnung auf Basis des Schadenersatzes ein Unterpreis wieder mit den tatsächlichen Kosten „repariert“ werden. Dennoch sollte insbesondere beim Nachweis der Aufwendungen eine ausführliche Dokumentation betrieben werden.

17.3

Zusammenfassung

Störungen im Bauablauf sind fester Bestandteil des Baugeschehens, die zu Anpassungen der monetären und terminlichen Vereinbarungen führen. Die rechtlichen Anspruchsgrundlagen wurden in einem Beitrag von Bertuch erörtert; der vorliegende Beitrag soll dazu helfen, etwaige Ungereimtheiten in der Bemessung der Höhe des Anspruchs zu ermitteln. Während die kalkulatorische Fortschreibung der Ur-Kalkulation von einer „Richtigkeit“ der Kalkulation ausgeht, gibt es hier immer wieder Positionen mit guter oder eben negativer Deckung. Daher findet man in der Praxis häufig ein Weggehen von einer stringenten kalkulatorischen Fortschreibung. Die angemessene Entschädigung gem. § 1168 orientiert sich zunächst an dem werkvertraglichen Preisgefüge, wobei die Kalkulationsansätze den jeweiligen neuen, also den geänderten Umständen anzupassen sind.

17.4

Literaturverzeichnis

Bertuch, Stephan (2019). Unterschiede in der Behandlung von Mehrkostenforderungen zwischen dem ABGB- und ÖNORMEN-Verträgen. In: Tagungsband – 17. Grazer Baubetriebs- und Bauwirtschaftssymposium – Reduktion von Bauablaufstörungen und systematischer Umgang mit Mehrkostenforderungen – Baubetriebliche, bauwirtschaftliche und rechtliche Aspekte. Hrsg.: Heck, Detlef; Hofstadler, Christian; Kummer, Markus. Seite 223-244. Graz. Technische Universität Graz. (ISBN 978-3-85125-658-1) Duve, Helmuth; Nöstlthaller, Reinhild (2012). Bauwirtschaftliche Grundlagen der Preisgestaltung. In: Tagungsband – 5. Grazer Baubetriebs- und Baurechtsseminar – Die Bedeutung der Kalkulation in der Vertragsabwicklung. Hrsg.: Heck, Detlef; Lechner, Hans. Seite 9-46. Graz. Verlag der Technischen Universität Graz. (ISBN: 978-3-85125-193-7)

17 Mehrkostenforderungen „richtig“ berechnen

225

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18

Eine baubetriebliche und bauwirtschaftliche Betrachtung der QuickWay-Infrastruktur Ein Betrag zur Lösung des Verkehrsproblems in der Stadt der Zukunft

Assoc.Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Christian Hofstadler Institutsvorstand Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft – Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II; 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected] Dipl.-Ing. Roswitha Marius Universitätsassistentin Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft – Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II; 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected] em.Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Lutz Sparowitz Emeritus Institut für Betonbau – Technische Universität Graz Lessingstraße 25/I; 8010 Graz www.ibb.tugraz.at [email protected] Dipl.-Ing. Dr.techn. Markus Kummer Universitäts-Projektassistent Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft – Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II; 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_18

228

18.1

Teil C – Bauwirtschaft

Abstract

Dieser Beitrag behandelt die QuickWay-Infrastruktur. Wir haben dafür eine Tragkonstruktion aus Ultrahochleistungsbeton und ein Bauverfahren entwickelt, welches den bislang unerreicht schnellen Baufortschritt von etwa 1.000 Laufmeter Fahrweg pro Tag ermöglicht, und eine erste Kostenprognose für die Errichtung der QuickWays vorgenommen. Der vorliegende Aufsatz bringt die wichtigsten Ergebnisse dieser Forschungsarbeit aus baubetrieblicher und bauwirtschaftlicher Sicht. Er richtet seinen Fokus auf die Produktion und die Bauausführung der Hochfahrwege und inkludiert auch eine erste Betrachtung der Lebenszykluskosten.

18.2

Situationsanalyse

Weltweit ersticken die meisten Großstädte im Verkehr. Die Hauptursache besteht darin, dass die Straßen in historisch gewachsenen Städten aus einer Zeit stammen, in der es die heute üblichen Verkehrsmittel noch gar nicht gab. Daher entsprechen die vorgegebenen Verkehrswege nicht mehr den heutigen Anforderungen. Das ist ein nahezu unlösbares und zugleich volkswirtschaftlich äußerst relevantes Problem. Nach einer UN-Prognose ist damit zu rechnen, dass weltweit in den kommenden 30 Jahren noch etwa 2,5 Milliarden neue StadtbewohnerInnen hinzukommen. Das entspricht etwa der fünffachen Einwohnerzahl der Europäischen Union. Infolge dessen entstehen vor allem im asiatischen Raum, aber voraussichtlich auch in Afrika, viele neue Städte – sogenannte „Smart Cities“. Für diese neuen Städte haben wir das innovative Verkehrssystem QuickMotion entwickelt. Es besteht aus einer Reihe von Maßnahmen, die gemeinsam in der Lage sind, das Verkehrsproblem von Großstädten ganzheitlich zu lösen. Die wichtigste Komponente des QuickMotion Verkehrssystems ist das QuickNet – ein feinmaschiges Ultra HochleistungsAutobahnnetz, welches über die gesamte Stadt gelegt wird. Es besteht aus Hochfahrwegen, die wir QuickWay nennen. Wir haben diese Infrastruktur im Rahmen eines FFGProjekts mit dem Titel „QuickWay – Hochfahrwege aus UHPC (Ultra High Performance Concrete)“ zum Call „Stadt der Zukunft“ bis zur Ausführungsreife entwickelt. An diesem Projekt waren zwei Industriepartner und drei Institute der TU Graz in den Jahren 2013 bis 2016 beteiligt und zwar das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft, das Institut für Betonbau und das Labor für konstruktiven Ingenieurbau.

18.3

QuickMotion

QuickMotion ist das einzige Konzept, mit dem man das Verkehrsproblem in den künftigen Städten wirklich lösen kann. Leider ist diese Tatsache den politischen Entscheidungsträgern noch nicht bekannt. QuickMotion ist extrem leistungsfähig, verhindert Verkehrsstaus und lässt sich schnell und wirtschaftlich realisieren. Es setzt u.a. auf „öffentlichen Individualverkehr“ und ermöglicht dadurch allen Stadtbewohnern eine optimale Mobilität – auch behinderten Menschen.

18 Eine baubetriebliche und bauwirtschaftliche Betrachtung der QuickWay-Infrastruktur

229

QuickMotion umfasst eine Reihe von Einzelmaßnahmen, die alle zusammenwirken müssen, um das Problem gänzlich in den Griff zu bekommen. Auf die wesentlichsten Punkte reduziert, lässt sich das Konzept wie folgt zusammenfassen: 1. Schaffung eines extrem leistungsfähigen, feinmaschigen, kreuzungsfreien Stadtautobahnnetzes mit verkehrstechnisch optimaler Anbindung der Netzmaschen. Über dieses Autobahnnetz kommt man an jeden Punkt der Stadt bis auf weniger als 500 Meter heran (siehe Abb. 18-1).

Abb. 18-1

Bau eines Ultra-Hochleistungs-Verkehrsnetzes mit der Hochfahrwege-Infrastruktur QuickWay

2. Großräumige Steuerung der Fahrzeugrouten und Optimierung der Verkehrsflüsse innerhalb der gesamten Stadt mit Hilfe eines intelligenten Navigations- und LogistikSystems (siehe Abb. 18-2). YE^ ;YƵŝĐŬEĂǀŝŐĂƚŝŽŶ^LJƐƚĞŵͿ

Abb. 18-2

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Anwendung eines intelligenten Verkehrssteuerungssystems, welches den Verkehrsfluss in der gesamten Stadt optimiert

230

Teil C – Bauwirtschaft

3. Ausschließliche Verwendung von umweltfreundlichen (elektrisch angetrieben) Fahrzeugen (siehe Abb. 18-3). Öffentlicher Verkehr mit fahrerlosen Kleinbussen (QuickBus). Individualverkehr mit selbstfahrenden Robotaxis (QuickTaxi) und mit privaten (teil)autonomen Autos (QuickCar).

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Abb. 18-3

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Verwendung von umweltfreundlichen autonomen Fahrzeugen

4. Mit Photovoltaik bestückte Überdachung der Hauptverkehrswege. Sie schützt vor der Witterung und liefert erneuerbare Energie für den Betrieb der Elektrofahrzeuge (siehe Abb. 18-4).

Abb. 18-4

Gewinnung von erneuerbarer Energie für den Betrieb der Elektrofahrzeuge

Weitere wichtige Maßnahmen sind beispielsweise: • Verkehrsberuhigte Zonen innerhalb aller Netzmaschen. Sie enthalten lediglich Zubringerstraßen. Der gesamte Transitverkehr fließt über das QuickNet. • Breite Haltespuren an den Straßenrändern, jedoch keine Parkspuren. Entsprechende Parkflächen finden sich in Tiefgaragen unter den Fußgängerzonen. • Umfangreiche Fußgängerzonen für soziale Begegnung, Kommunikation und Shopping. Die Fußgängerwege werden vom rollenden Verkehr bestmöglich getrennt. Aber leider sind Straßenquerungen über Zebrastreifen nicht zu vermeiden. • Witterungsgeschütztes Radwegenetz, welches die gesamte Stadt umfasst und vom restlichen Verkehr bestmöglich getrennt verläuft. • Eine vielfältige städtebauliche Gestaltung der Netzmaschen in Form von „geselligen städtischen Dörfern“ in einer „GreenLifestyleCity“ (siehe Abb. 18-5).

18 Eine baubetriebliche und bauwirtschaftliche Betrachtung der QuickWay-Infrastruktur

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Abb. 18-8

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Das QuickNet besteht aus drei Verkehrsflächen in den Höhen L0, L1 und L2. Am Level L-1 sind unterirdische Querungen möglich. Als Beispiel ist hier eine Fußgängerpassage dargestellt.

Die Abb. 18-9 zeigt schematisch die Fahrspuren entlang der Ränder einer StandardNetzmasche. Die roten Spuren in x-Richtung verlaufen am L1 und die grünen Spuren in yRichtung liegen am L2.

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Abb. 18-9

Das „kreuzungsfreie“ Hochfahrwegenetz erhöht den Verkehrsdurchsatz um ein Vielfaches

In Abb. 18-10 sind jeweils zwei Spuren dargestellt. Die Anzahl dieser Fahrspuren ist beliebig. In y-Richtung kommt jeweils eine weitere Spur (pinkfarben) hinzu. Sie verbindet die Levels L1 und L2 über Rampen. Mit gelber Farbe sind jene Zonen gekennzeichnet, wo Fahrzeuge ihre Spur wechseln können. Die blaue Spur wird als „Loop“ bezeichnet. Sie umringt die Netzmasche und ermöglicht dadurch Abbiegevorgänge. Außerdem verbindet sie die Levels L0 und L1 über Rampen. Zu ebener Erde etwa in der Mitte der vier Maschenseiten befinden sich Bushaltestellen (hellblau). Leichte (Gewicht < 5 t) und kleine (Länge < 7 m) Fahrzeuge können hier über die gelben Flächen auf die Autobahn auffahren oder umgekehrt von der Autobahn zur Netzmasche hin abfahren.

234

Teil C – Bauwirtschaft

Abb. 18-10 Standard-Verkehrsführung auf den Hochfahrwegen an den Rändern einer Netzmasche

Der Verkehrsführung in Abb. 18-10 entsprechend, zeigt die Abb. 18-11 Querschnitte normal zur x- und y-Richtung.

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Abb. 18-11 Vier durchgehende Spuren in x-Richtung und sechs durchlaufende Spuren in y-Richtung

Die Abb. 18-12 gibt nochmals einen Überblick über die Spurführung auf den Hochfahrwegen des Autobahnnetzes.

18 Eine baubetriebliche und bauwirtschaftliche Betrachtung der QuickWay-Infrastruktur

235

Abb. 18-12 Detail der Spurführung im QuickNet

18.5

UHPC-Fertigteil-Segmentbauweise

Wir haben uns für eine Segmentbauweise aus UHPC-Fertigteilen entschieden, bei der ebene Trockenfugen zwischen den Segmenten durch eine externe Längsvorspannung überdrückt werden. Die Abb. 18-13 zeigt die Querschnitte der Fahrwegträger für 1 und 2 Fahrspuren.

Abb. 18-13 Standardquerschnitte

236

18.5.1

Teil C – Bauwirtschaft

UHPC

Das gesamte Tragwerk (Abb. 18-14), mit Ausnahme der Gründung, besteht aus faserbewehrtem Ultra Hochleistungsbeton (Ultra High Performance Fibre Reinforced Composite, kurz: UHPC). Mit diesem faszinierenden Material lassen sich dünnwandige, leichte und architektonisch anspruchsvolle Tragkonstruktionen herstellen. UHPC ist leicht zu verarbeiten (fließfähig und selbstverdichtend).

Abb. 18-14 Nachhaltiges Autobahntragwerk aus UHPC

Wenn man Weißzement und Pigmentfarben anwendet, steht eine große Farbpalette zur Verfügung. Die Druckfestigkeit von UHPC ist fünf- bis 10-mal höher als die von Normalbeton. Außerdem stellt sich bei dem üblichen Fasergehalt (1 bis 3 % Stahlfasern) ein erfreulich duktiles Materialverhalten ein – und zwar sowohl unter Zugbeanspruchung (geringe Rissbreiten), als auch unter Druckbeanspruchung (kein Sprödbruch). Hervorzuheben sind auch seine außerordentliche Verbundfestigkeit und sein hoher Abriebswiderstand. UHPC ist praktisch dicht gegen eindringende Flüssigkeiten und Gase. Dadurch kommt es zu keiner Karbonatisierung. Das Material ist auch widerstandsfähig gegen Frost-Tausalz- und MeerwasserEinwirkung. UHPC ist nachhaltig. Die wichtigste Eigenschaft von UHPC ist aber seine bislang unerreichte Dauerhaftigkeit. Die Nutzungsdauer von richtig konstruierten Tragwerken aus UHPC ist mindestens 2-mal so lang, wie die von Normalbeton (bei geringerem Erhaltungsaufwand). Infolge dessen liegen die Lebenszykluskosten im Vergleich zu Normalbeton- oder Stahltragwerken bei etwa 50%. Wegen seiner besonderen Eigenschaften wird UHPC häufig als der Baustoff des 21. Jahrhunderts im konstruktiven Ingenieurbau bezeichnet.

18 Eine baubetriebliche und bauwirtschaftliche Betrachtung der QuickWay-Infrastruktur

18.5.2

237

Modulares Baukastensystem

Das gesamte Verkehrsnetz des QuickWay-Systems, bestehend aus freier Strecke sowie Kreuzungen, lässt sich durch 5 verschiedene Trassierungstypen realisieren. • • • • •

Geraden Kurven Verziehungselemente Verflechtungselemente Rampen

Jeder Trassierungstyp setzt sich wiederum aus einer unterschiedlichen Art und Anzahl von Bauelementen zusammen. Die gesamte Infrastruktur (Fahrwege und Tragstruktur) lässt sich aus etwa 60 unterschiedlichen Fertigteiltypen (Bauelementen) herstellen (Abb. 1815).

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Abb. 18-26 Ablaufschema zur probabilistischen Berechnung der Materialkosten für UHPC

Das Ergebnis dieser Berechnung ist als Histogramm in Abb. 18-27 dargestellt. Der Mittelwert liegt bei ca. 797 €/m³ und die Standardabweichung beträgt ca. 55 €/m³. Aus dem Histogramm ist ersichtlich, dass die Kosten für den UHPC in ca. 5 % der Fälle 710 €/m³ unterschreiten und in 95 % der Fälle ca. 890 €/m³ nicht überschritten werden (siehe Gleitbegrenzer am oberen Bildrand). Anhand dieses Diagramms kann bei Bedarf ein deterministischer Wert für die weiteren Berechnungen ausgewählt werden. Ein besonderer Mehrwert besteht darin, dass für jeden gewählten Wert das damit eingegangene Chancen-Risikoverhältnis bzw. die Über- und Unterschreitungswahrscheinlichkeit angegeben werden kann.

18 Eine baubetriebliche und bauwirtschaftliche Betrachtung der QuickWay-Infrastruktur

251

Abb. 18-27 Histogramm für die Einheits-Materialkosten von UHPC

Im Zuge der Entscheidungsfindung kann als praxisgerechter Ansatz auch die Standardabweichung σ der Verteilung herangezogen werden. Diese wird je nach Risikoneigung (risikoaffin oder risikoavers) vom Mittelwert µ der annähernd symmetrischen Verteilung abgezogen oder hinzugezählt. Damit ergibt sich ein Chancen-Risikoverhältnis von ca. 15,90 % zu 84,10 % (siehe Abb. 18-28). Die gewählte Abgrenzung stellt dabei eine praxisorientierte Vorgehensweise und kein wahrscheinlichkeitstheoretisches Muss dar. ļ“ı ļ“ı ļ“ı

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Abb. 18-28 Normalverteilung – Standardabweichung

Fließen mehrere Eingangsgrößen in die Berechnung eines Outputs ein, kann es von Interesse sein, herauszufinden, welche der Inputparameter die größten Auswirkungen auf das Ergebnis haben. Eine Möglichkeit für solche Sensitivitätsanalysen bei probabilistischen Berechnungen sind ‚Tornadodiagramme‘ (siehe Abb. 18-29). Die Balken

252

Teil C – Bauwirtschaft

beschreiben dabei die absolute Änderung der Ausgabe (hier: Materialkosten UHPC) bezogen auf einen Inputwert in erhöhender und verringernder Richtung zum Mittelwert des Outputs. Auf der Abszisse sind die minimalen und maximalen Ergebnisse der Materialkosten aus der Empfindlichkeitsanalyse als Bandbreite in Form von Balken dargestellt und ergeben sich aus der Variation der Inputparameter, welche auf der Ordinate angeführt sind. Es zeigt sich, dass sowohl die Menge an Stahlfasern als auch die Einheitskosten dieser, den größten Einfluss auf die Materialkosten haben und auch eine große absolute Streuung der Ergebnisse verursachen. Im Gegensatz dazu reagieren die Materialkosten nur wenig empfindlich auf die Unsicherheiten, die für die Kosten des Fließmittels oder des Quarzmehls angenommen wurden.

Abb. 18-29 Tornadodiagramm für die Materialkosten von UHPC

:HUWH[A

Das Resultat der Simulation für die Errichtungskosten ist in Abb. 18-30 als Histogramm dargestellt. In 90 % der Fälle liegen die Errichtungskosten etwa zwischen 4,130 Mrd. € und 4,759 Mrd. €.

Abb. 18-30 Histogramm der Errichtungskosten (links: Gesamt; rechts: Kosten/m² Fahrbahnfläche)

253

18 Eine baubetriebliche und bauwirtschaftliche Betrachtung der QuickWay-Infrastruktur

Der Mittelwert von 4,437 Mrd. € für das gesamte Bauwerk (Bauwerk-Rohbau ohne Photovoltaikanlage) entspricht einem Mittelwert von ca. 1.194 €/m² Fahrbahnfläche, wobei sich die Spannweite der Simulationsergebnisse nach 50.000 Iterationen etwa zwischen 875 und 1.670 €/m² erstreckt. Alle angegebenen Werte beziehen sich auf eine Berechnung der Kosten ohne Umsatzsteuer. In weiterer Folge werden die Instandhaltungskosten in die Berechnung implementiert. Die Instandhaltungskosten umfassen folgende Kostenparameter der Inspektion, Wartung sowie der großen Instandsetzung: • • • • •

Inspektion der Fahrbahnträger Reinigung der Fahrbahn Reinigung der Entwässerung Austausch der Spannglieder Erneuerung der Entwässerung

Die Kosten werden, dem Schema in Abb. 18-31 folgend, durch Multiplikation der Mengen mit den Einheitskosten berechnet. ,QVWDQGKDOWXQJVNRVWHQ

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Abb. 18-31 Ablaufschema zur Berechnung der Instandhaltungskosten

Anschließend folgt eine Zuteilung der Kosten zu jedem Jahr der gesamten Nutzungsdauer (der Betrachtungshorizont beträgt 200 Jahre) des Systems. Jede Position wiederholt sich im Lebenszyklus nach Ablauf des dafür festgelegten Intervalls. Die Erneuerungsintervalle sind dabei ebenfalls mit Unsicherheiten behaftet und wurden dementsprechend mit Dreiecksverteilungen belegt. Die Instandhaltungsintervalle ändern sich demnach in jedem Iterationsschritt entsprechend der definierten Bandbreiten. Die Unsicherheiten des zeitlichen Eintritts der Instandhaltungsmaßnahmen werden dadurch im Berechnungsmodell realitätsnah abgebildet. Die Berechnung der Lebenszykluskosten (mittels Investitionsrechnung: Kaptialwert- bzw. Endwertmethode) erfolgt nach dem Schema in Abb. 18-32. Die Ausgaben in Form von Kosten werden für jedes Jahr aufgelistet. Der Wert des Jahres 0 entspricht dabei den

254

Teil C – Bauwirtschaft

Errichtungskosten und die Werte der Folgejahre entstammen den Instandhaltungskosten. Durch Aufzinsung der mit Unsicherheiten behafteten Kosten mit einer Teuerungsrate und Abzinsung durch den Kalkulationszinssatz wird für jedes der Jahre ein Barwert berechnet. Aus der Summe aller Barwerte über den Lebenszyklus folgt der Kapitalwert, der durch Aufzinsung mit dem Kalkulationszinssatz wiederum in den Endwert übergeführt wird. /HEHQV]\NOXVNRVWHQ

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Abb. 18-32 Ablaufschema zur Berechnung der Lebenszykluskosten

Abb. 18-33 zeigt den Verlauf des Endwerts über den gesamten Betrachtungshorizont von 200 Jahren. Die mittlere Kurve gibt dabei die Mittelwerte der Endwerte wieder. Die beiden anderen Kurven definieren die 5 %- und 95 %-Quantile der probabilistisch ermittelten Endwerte. Auf der Abszisse sind die Jahre und auf der Ordinate die Endwerte (in Mrd. €) aufgetragen. Aus dem Diagramm ist deutlich ablesbar, dass es ab ca. 150 Jahre einen deutlichen Anstieg in der Mittelwert-Kurve gibt. Am ausgeprägtesten ist die Krümmung bei der Kurve für das X95-Quantil. Dies ist durch den mit den Jahren zunehmenden Übergang von einer annähernd symmetrischen Verteilung in eine ausgeprägt rechtsschiefe Verteilung begründet. Die Schiefe einer Verteilung bestimmt dabei maßgebend das Chancen-Risikoverhältnis, welches mit einzelnen deterministischen Werten verbunden ist. Bei langen Ästen hin zu großen Werten ist zwar die Eintrittswahrscheinlichkeit der einzelnen Werte gering, im Falle einer Überschreitung der gewählten Basis ist der mögliche Wertebereich aber weit größer als bei einer Unterschreitung.

18 Eine baubetriebliche und bauwirtschaftliche Betrachtung der QuickWay-Infrastruktur

255

                            

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Abb. 18-33 Verlauf der Endwerte über die Nutzungsdauer

Die folgende Abbildung (Abb. 18-34) erweitert die zuvor dargestellte Endwertverteilung über die Nutzungsdauer um ein Histogramm, das die probabilistische Verteilung des Endwerts im zweihundertsten Jahr wiedergibt. Demnach beträgt der Mittelwert des probabilistisch ermittelten Endwerts rund 387 Mrd. €, das 5 %-Quantil rund 92 Mrd. € und das 95 %-Quantil rund 1.015 Mrd. €.

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Abb. 18-34 Endwerte über die Nutzungsdauer und Histogramm des Endwerts im Jahr 200

256

Teil C – Bauwirtschaft

Bei einer risikoneutralen Interpretation dieses Ergebnisses erfolgt die Auslegung des Projektbudgets auf den Median, der die Verteilung in zwei gleich große Flächen mit einer Über- bzw. Unterschreitungswahrscheinlichkeit von jeweils 50 % teilt. Nicht außer Acht darf bei einer solchen Interpretation die Streuung und Form des Histogramms bleiben. Auch wenn die Über- und Unterschreitungswahrscheinlichkeit des Medians prozentuell gleich groß ist, ist das Risiko einer massiven Kostenüberschreitung bei einer Überschreitung des Medians deutlich größer (aufgrund der deutlich rechtsschiefen Verteilung mit einem langen Ast hin zu hohen Werten). Durch die Wahl eines höheren Budgetwerts (über dem Median) ergibt sich ein günstigeres Chancen-Risikoverhältnis. In der Abb. 18-35 wurde für eine risikoaverse Entscheidung ein Chancen-Risikoverhältnis von 80 % (Chance) zu 20 % (Risiko) gewählt. Von einer risikoaffinen Entscheidung ist dann zu sprechen, wenn das Budget unter dem Median gewählt wird. In der Abb. 18-35 ist dies durch ein Chancen-Risikoverhältnis von 20 % (Chance) zu 80 % (Risiko) beispielhaft dargestellt.

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Abb. 18-35 Histogramm des Endwerts im Jahr 200

Folgende Punkte waren kein Bestandteil der Lebenszyklusbetrachtung, können aber bei Weiterentwicklung des Projekts sehr einfach und systematisch implementiert werden. Dazu zählen einerseits wesentliche Komponenten des QuickWay-Systems, die zum derzeitigen Stand noch nicht zu betrachten waren, andererseits der Ausbau sowie die Technik des bestehenden Systems: • Errichtung und Instandhaltung des Dachs • Erweiterung des Netzes • Haltestellen

18 Eine baubetriebliche und bauwirtschaftliche Betrachtung der QuickWay-Infrastruktur

257

Zusätzlich zu den bereits genannten Punkten wurden die Errichtungs- und Instandhaltungskosten der Photovoltaik-Anlage untersucht. Um entscheidungsrelevante Aussagen über den wirtschaftlichen Mehrwert einer solchen Anlage treffen zu können, bedarf es einer Ergänzung des Berechnungsschemas um die Einnahmen z.B. aus der Stromerzeugung. Das erarbeitete System der Lebenszyklusberechnung dient in weiterer Folge als Grundlage für Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen, Varianten bzw. Sensitivitätsanalysen des gesamten QuickWay-Systems und zur finalen Entscheidungsfindung für die Komponenten des Rohbaus, des Ausbaus und der Technik. Im Zuge weiterer Detaillierungen können die kontextbezogenen Erkenntniserweiterungen einfach in den weiteren Berechnungen berücksichtigt werden. Beispielsweise können Komponenten unterschiedlicher Qualitätsstufen mit verschiedenen Instandhaltungsintervallen und -strategien anhand der Simulationen berechnet und miteinander verglichen werden.

18.9

Aktuelle Trends

Das QuickWay-System ist die Lösung für das Verkehrsproblem in der „Stadt der Zukunft“. Es besteht aus einer großen Anzahl von Einzelmaßnahmen, die alle zusammenwirken müssen, um das Problem gänzlich in den Griff zu bekommen. Durch den Einsatz von autonomen Fahrzeugen und die räumliche Trennung zu personengesteuerten Fahrzeugen wird einerseits der Durchsatz des Verkehrssystems stark erhöht, andererseits eine hohe Sicherheit für alle VerkehrsteilnehmerInnen erreicht. Durch den Einsatz von UHPC wird das System QuickWay den aktuellen Trends der Nachhaltigkeit gerecht. Die hohe Dichtigkeit des Materials ermöglicht Nutzungsdauern von mindestens 200 Jahren und die hohe Festigkeit bringt geringe Bauteilmassen. In den letzten Jahren war ein verstärktes Interesse an Lebenszykluskostenbetrachtungen im Bauwesen bemerkbar. Dies resultiert einerseits aus dem Bestreben nach Nachhaltigkeit sowie gesteigerten Qualitätsanforderungen. Andererseits bedeutet dies eine Sensibilisierung im Sinne eines Chancen-Risikomanagements, um die Auswirkungen von Investitionen abschätzbar zu machen. Gleichzeitig stellen Lebenszykluskostenbetrachtungen ein Werkzeug dar, um Änderungen während der Planung mit weiterführenden Ansätzen aus dem Bereich des Lean-Managements zu verbinden. Diesem Ansatz liegt eine integrale Vorgehensweise zu Grunde, mit der durch die Orientierung an einer Wertsteigerung im Sinne eines optimierten Qualitätsmanagements die „Verschwendung“ durch nachträgliche Änderungen und damit verbundene Mehraufwendungen vermieden werden soll.

18.10

Zusammenfassung

Zu Beginn wird in einer Situationsanalyse auf die aktuelle Verkehrsproblematik von Großstädten hingewiesen und somit der Bedarf an einem innovativen, ganzheitlichen Verkehrskonzept aufgezeigt. Es folgt eine Vorstellung der Besonderheiten des entwickelten Systems zur Lösung des Verkehrsproblems. Dieses umfasst alle Maßnahmen zur Verbesserung der Mobilität in der Stadt der Zukunft, die wir mit dem Namen QuickMotion zusammenfassen, sowie das Verkehrsnetz mit dem Namen QuickNet.

258

Teil C – Bauwirtschaft

Auf die Tragwerke der Hochfahrwege – mit dem Namen QuickWay – wird genauer eingegangen. Im Kapitel zur UHPC-Fertigteil-Segmentbauweise werden der Leserin/dem Leser materialtechnische Grundlagen zu Ultrahochleistungsbeton, das modulare Baukastensystem, aus dem sich das QuickWay-System für jede beliebige Stadt zusammensetzten lässt und das Schalungskonzept, das für die zeitgerechte Produktion der Fertigteile notwendig ist, nähergebracht. Zudem ist eine Erläuterung des Herstellungsprozesses eines Elements sowie logistische Überlegungen zur Segmentbauweise integriert. In Bezug auf das Bauverfahren wird separat auf das Gründungskonzept und auf das Montagekonzept eingegangen. Beide Konzepte sind für die Realisierung des rasanten Baufortschritts essentiell. Das Kapitel zur wirtschaftlichen Analyse beschäftigt sich mit der Lebenszykluskostenbetrachtung von QuickWay. Trotz hoher Unsicherheiten konnten mit Hilfe von MonteCarlo-Simulationen realistische Kostenprognosen für die Errichtung, den Betrieb, die Instandhaltung und den Rückbau der QuickWays erstellt werden – und zwar für den gesamten Lebenszyklus des Systems. Zur Ermittlung der Fertigungskosten und -zeiten wurde zunächst eine Referenzprozesskette entwickelt, die den Ablauf der Produktion eines Fertigteils beschreibt. Im Anschluss erfolgte eine kosten- und zeitmäßige Bewertung des entwickelten Prozesses, um Aussagen über die Fertigungskosten und die Fertigungszeiten der Fertigteile treffen zu können. Für die Berechnungen wurden die vorhandenen Unsicherheiten durch Dreiecksverteilungen abgebildet und unter Anwendung von Monte-Carlo-Simulationen in der Berechnung berücksichtigt. Es wurden die Kosten und Zeiten für die Herstellung der Betonschalungen, für die Stützen und die wesentlichen Fahrbahnelemente sowie die Kosten der Produktionshalle detaillierter untersucht. Dadurch konnten Rückschlüsse auf die Fertigungskosten und -zeiten des gesamten Systems gezogen werden. Für die Ermittlung der Montagekosten wurde das zuvor beschriebene Gründungs- und Montagekonzept herangezogen und zeitlich sowie monetär bewertet. Die Nutzungskosten gem. ÖNORM B 1801-2:2011 umfassen die Kosten für Verwaltung, technischen Gebäudebetrieb, Ver- und Entsorgung, Reinigung und Pflege, Sicherheit, Gebäudedienste, Instandsetzung, Umbau und Sonstiges. Die ÖNORM B 1801-2 befasst sich speziell mit der Kostenstruktur für Gebäude des Hochbaus – bei diesem Forschungsprojekt handelt es sich jedoch um ein Infrastrukturprojekt im Bereich des Brückenbaus. Bei der Ermittlung der für die Lebenszyklusbetrachtung notwendigen Nutzungskosten wurde der Fokus auf die Instandhaltung des Bauwerks gelegt. Zur Berechnung wurden daher Kosten für Inspektion, Wartung sowie große Instandsetzung berücksichtigt. Den wesentlichen Anteil an Instandhaltungskosten macht die Reinigung des QuickWaySystems aus. Für die Berechnung der Lebenszykluskosten nach der Kapitalwertmethode wurde eine Nutzungsdauer aller Komponenten durch das Projektteam ermittelt und durch Literatursowie Herstellerangaben gestützt. Für die UHPC-Tragstruktur und somit für das ganze System wurde eine Gesamt-Nutzungsdauer von 200 Jahren angesetzt. Die probabilisitische Berechnung ergab im Mittelwert rund 1.200 €/m² Fahrbahnfläche für die Errichtung des Rohbaus (ohne Überdachung und Photovoltaikanlage). Der Endwert für ein solches System beträgt nach Ablauf der Nutzungsdauer (200 Jahre) im Mittel rund 387 Mrd. €. Für die betrachtete Beispielstadt ergaben die Berechnungen, dass sich das QuickWaySystem nach nur 50 Jahren amortisiert, wenn 2 der 5,5 Millionen EinwohnerInnen bereit sind, eine monatliche Beförderungspauschale (ähnlich der Mobilfunkgrundgebühr) von

18 Eine baubetriebliche und bauwirtschaftliche Betrachtung der QuickWay-Infrastruktur

259

nur 7,40/€ je Monat zu bezahlen. Hier ist jedoch anzumerken, dass in die Berechnungen weder Investitions-, Betriebs- sowie Instandhaltungskosten für die Fahrzeuge und die Dachkonstruktion noch die Einnahmen durch die Stromerzeugung sowie Wassersammlung durch die Dachkonstruktion miteinfließen.

18.11

Abkürzungsverzeichnis

B

......................... Betriebskosten

E

......................... Errichtungskosten

FE

......................... Finite-Elemente

FFG

......................... Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft

I

......................... Instandhaltungskosten

KW

......................... Kapitalwert

L0

......................... Verkehrsfläche zu ebener Erde, Level 0

L1

......................... Verkehrsfläche im ersten Stock, Level 1

L2

......................... Verkehrsfläche im zweiten Stock, Level 2

LZK

......................... Lebenszykluskosten

R

......................... Rückbaukosten

Std.Abw. ......................... Standardabweichung UHPC

......................... Ultra High Perfomance Fibre Reinforced Composite

UN

......................... United Nations

VOFI

......................... Vollständiger Finanzplan

18.12

Literaturverzeichnis

Hofstadler, Christian (2014). Methoden zur Ermittlung von Lebenszykluskosten. In: Nachhaltig Bauen mit Beton: Werkstoff und Konstruktion, Beton Graz‘14 – 2. Grazer Betonkolloquium; 25. / 26. September 2014. Hrsg.: Nguyen, Viet Tue; Maydl, Peter; Freytag, Bernhard; Santner, Gerhard. Seite 139-152. Graz. Verlag der Technischen Universität Graz. (ISBN 978-3-85125-360-3) Hofstadler, Christian; Kummer, Markus (2017). Chancen- und Risikomanagement in der Bauwirtschaft. Berlin, Heidelberg. Springer-Verlag. (ISBN 978-3-662-54318-4)

19

Paradigmenwechsel im Hochbau (Holz-)Systembau und Industrialisierung als ökologische Chance und strategische Herausforderung – Perspektivenmodell und Opportunitätenportfolio zur technologischen, ökologischen und wirtschaftlichen Effizienzsteigerung im Hochbau

Dipl.-Ing. Dr.techn. Jörg Koppelhuber senior consultant pm holzbau Sporgasse 11/511a 8010 Graz www.pmholzbau.at [email protected] Dipl.-Ing. Marco Bok junior consultant pm holzbau Sporgasse 11/511a 8010 Graz www.pmholzbau.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_19

262

Teil C – Bauwirtschaft

19.1

Abstract

Das Baugewerbe in seiner Gesamtheit bildet einen Wirtschaftszweig mit langer gewichtiger Tradition ab, welcher seit Jahrhunderten durch starke handwerkliche Projektumsetzungen und heteronome Prozessabläufe geprägt ist. Diese Konstellation steht in einem auffallenden Widerspruch zu den technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Industrialisierung, Digitalisierung und Autonomisierung. Globale Megatrends stellen sämtliche Akteure im Baugewerbe selbst und darüber hinaus vor außerordentliche technologische, ökologische und strategische Herausforderungen. Die daraus resultierenden Anforderungen an die Beteiligten können mit den klassischen fast ausschließlich investitionskostenorientierten Projektabwicklungsformen im Hochbau, den zur Verfügung stehenden Materialitäten, Baustoffen sowie herkömmlichen Bausystemen und -verfahren und der notorisch fragmentierten Wertschöpfungskette Bau lediglich – wenn überhaupt – unzureichend bewältigt werden. Hinzu kommt zu allem Überfluss eine negativ geprägte gesellschaftliche Wahrnehmung des Bauens in seiner Gesamtheit, welche hauptsächlich auf jahrzehntelangen Zielabweichungen sowohl auf monetärer als auch auf terminlicher sowie letzten Endes vor allem qualitativer Ebene fußt, was durch mediale Aufbereitungen und Anstiftungen weiter amplifiziert wird. In diesem Kontext ist es dringend erforderlich, unter Bezugnahme auf dieses gesellschaftliche Stimmungsbild, eine entschlossene Kehrtwendung einzuleiten und die technischen Opportunitäten zu nutzen, welche in anderen Wirtschafts- und Industriezweigen bereits längst die Norm darstellen und sich dabei kontinuierlich weiterentwickeln. Dies führt zur unmittelbaren Notwendigkeit der Entwicklung einer gesamtheitlichen Branchendynamik, aber vor allem von sozial vertretbaren und ökologisch verträglichen Visionen und Strategien auf Unternehmensebene, um einer gesamten Branche eine gänzliche Neuausrichtung aufzuerlegen. Hierbei dürfen neben den systemimmanenten technischen Aspekten vor allem die sozio-kulturellen, umweltpolitischen und letzten Endes die ökosozialen Auswirkungen der gesamten unternehmerischen Tätigkeiten nicht weiter vernachlässigt, sondern in den Mittelpunkt des Wirkens im Sinne einer gesellschaftspolitischen Verantwortung positioniert werden.1) Im Rahmen dieser Betrachtung wird daher auf drei grundsätzliche Problematiken im Hochbau eingegangen – die nach wie vor erkennbare geringe Produktivität, die prekäre Situation der Ökologie und Ressourcenknappheit sowie dem vorherrschenden ruinösen Preiskampf. Unter Berücksichtigung dieser großen Verantwortung werden demnach in dieser Überlegung einerseits mögliche Ansätze in diesen Feldern diskutiert, zukünftige Herausforderungen identifiziert und jeweils konkrete Maßnahmen zur Implementierung erläutert, welche bereits heute in den Bauunternehmen wesentlicher Bestandteil sein könnten. Doch letztlich ist alles eine Frage der aktuellen Trends sowie einer umfassenden Zukunftsvision für das Bauen von morgen – sowohl die Chance und Perspektive als auch die Herausforderung und das Risiko.

19.2

Situationsanalyse

Unsere Welt ist einer kontinuierlichen Umwälzung sowie einer ständigen Evolution und Revolution unterworfen. Globale Megatrends stehen dabei im Mittelpunkt als die größten Treiber dieses epochalen Wandels, welcher Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen 1)

Vgl. Koppelhuber (2018), S. 564

263

19 Paradigmenwechsel im Hochbau

beeinflusst und verändert. Durch eine inkrementelle Umformung der Gesellschaft in seiner Gesamtheit bzw. auch der zugehörigen unternehmerischen Randbedingungen, werden nicht selten ganze Branchen dazu gezwungen, sowohl ihre Organisationsstrukturen als auch ihre Geschäftsmodelle und Strategien neu auszurichten.2) Beispiele für derartige Tiefenströmungen einer globalen Veränderung sind unter anderem der demografische Wandel, die Globalisierung, die Ressourcenknappheit, der Klimawandel und die Digitalisierung.3)

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Abb. 28-1

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 Abb. 31-6

Aufbauorganisation EPCM

Zur Sicherstellung einer reibungsarmen Projektabwicklung wurden in der Ablauforganisation eindeutige Zuordnungen von Aufgaben und Verantwortlichkeiten mittels Zuordnungsmatrix für Leistungs- bzw. Aufgabenpakete für die Beteiligten entwickelt. Der Abgleich und die Synchronisation mit Auftraggebern bzw. konzerninternen Standardprozessen erfolgt durch entsprechende Vorgaben im Rahmen der Ausschreibung sowie während der Projektabwicklung durch regelmäßige Abstimmungen und permanenten Austausch im zu etablierenden „Kernteam“.

426

Teil E – Projektmanagement

Als Schnittstellen zum Auftraggeber sind im Wesentlichen definiert: I. Leitung

– Vertragliche Schnittstelle, Entscheidungsmanagement, übergreifende Koordination, Gremien-Information

II. Projektsteuerung – Austausch von Vorgaben, Formaten, Systemen, Grundsätzen – Statusdaten, Analysen, Berichte III. Planung

– Vorgaben „Planung“, Zustimmungen – Planungsergebnisse, Statusmeldungen

IV. Bau

– Vorgaben „Bau“, Bauablaufstrategie – Statusmeldungen, Fertigstellungsmeldung

Die abschließende Festlegung der wesentlichen Aufgaben ist in den Leistungsbeschreibungen enthalten und wird in einer ständig zu aktualisierenden Prozess- und Verantwortungslandkarte (RASCI) sowie dem Projektstrukturplan auf Aufgabenpaketebene festgeschrieben und nachverfolgt. Die Vertragsform für die kumulierten Leistungen des EPCM-Vertrages sind hier als Werkvertrag wie ein „Projektmanagementvertrag mit Realisierungsverantwortung“ angelegt. Die Herausforderung bei einem solch breitgefächerten Leistungsspektrum ist, dass neben umfangreichen Erfahrungen im Projektmanagement und in der Abwicklung eines solchen Vertrages auch ausgewiesene Kompetenzen in Planung, Plangenehmigung und Ausführung derartiger Projekte erforderlich sind. Nicht zuletzt erfordern Umfang und Aufwand der Projekte gründliche Überlegungen auch in finanzieller Hinsicht. Alle Kompetenzen und ausreichende Liquidität bereitzustellen, macht eine auch wirtschaftlich sinnvolle Vertragsabwicklung meist nur in Kooperationen, Konsortien oder Ingenieurgemeinschaften möglich. Eine belastbare Kalkulation über alle Leistungspakete birgt gerade bei den Unwägbarkeiten umfangreicher Planfeststellungsverfahren einige Risiken aber auch Chancen. Auf Basis der vorliegenden Eckdaten für die Trassenführung und die notwendigen Sonderbauwerke wird eine Basiskalkulation erstellt. Zusätzlich werden bereits zum Vertragsabschluss auch Anpassungssätze für Risikopositionen, Aufwandspositionen und mögliche antizipierte Änderungen kalkuliert und fest vereinbart. Ziel ist hierbei möglichst hohe Kostensicherheit schon zum Vertragsabschluss für das Projektmanagementunternehmen und den Auftraggeber. Das Vergütungsmodell verlässt den üblichen Weg der einfachen pauschalen Vergütung von Werkvertragsleistungen. Ziel ist eine faire, motivierende und transparente Vergütung zu realisieren. In drei Stufen wird so zunächst ein erster Anteil der kalkulierten Gesamtvergütung (40-60 %) über die gesamte Projektdauer als Leistungspauschale nach Zahlungsplan ausgezahlt. Ein zweiter Anteil (30-40 %) wird klassisch an die Erreichung der vereinbarten Projektmeilensteine (Termin, Kosten, Qualität) gebunden. Der dritte Anteil der Gesamtvergütung (~10 %) wird als eine Art „Bonus“ bei Erreichen der Gesamtprojektziele ausgezahlt. Durch dieses Vergütungsmodell werden drei Vergütungsgrundlagen „performance“, „result“ und „success“ genutzt. Dadurch werden die Interessen von AN und AG gleichermaßen angesprochen.

31 Der Projektmanager als Generalkümmerer

31.5.2.3

427

Fazit

Die Herausforderungen für das Projektmanagementunternehmen bei diesem Projektabwicklungsmodell bestehen insbesondere darin, alleine oder in Ingenieurgemeinschaft weitreichende Planungs- und Realisierungsverantwortung zu übernehmen und gleichzeitig leitende/überwachende Aufgaben der Projektleitung für den Auftraggeber auszuführen. Parallel dazu sind die meist strengen Regeln, Vorgaben, Hierarchien und auch Gepflogenheiten im Großkonzern des Auftraggebers – mit teils unvollständig ausgeprägten Linienund/oder starken Matrixorganisationen – zu beachten, zu hinterfragen und ggf. zu verändern. Ein zusätzlicher Aufwand für die intensive Beratung des Auftraggebers zu seiner eigenen Bauherrenrolle ist zu beachten. Chancen für den Projektmanager: • Übernahme von Projektleitungsaufgaben in Linienfunktion mit Entscheidungs- und Durchsetzungskompetenz • Große Einflussmöglichkeiten auf Gestaltung der Projektmanagementmethodik durch vollumfängliche Übertragung der Projektmanagementleistungen • Große Projektvolumen und Margen durch Übernahme durchgängiger Planungs-, Koordinierungs-, Realisierungs- und Projektmanagementleistungen • Erweiterter Kompetenzrahmen und selbständiges Arbeiten durch Realisierung des ganzheitlichen Ansatzes von Planung, Beratung und Steuerung – Konzeption bis Fertigstellung • Motivierende, faire Vergütung mit früher Kostensicherheit auch bei Änderungen und Anpassungen

Risiken für den Projektmanager: • Risikoverteilung: Als verantwortlicher Planer volle Übernahme von Funktions- und Vollständigkeitsrisiko • Hoher Anspruch an fachkompetente Ressourcen für qualifizierte Leistungen in sehr unterschiedlichen Bereichen (Planung, Projektsteuerung, Baukoordination) • Steuerung und Planung aus einer Hand erfordert zusätzlichen Aufwand an der Schnittstelle zum Bauherrencontrolling. • Ggf. langfristige Bindung und hohes Risiko durch großes Vertragsvolumen über lange Projektlaufzeit – erhebliche Sicherheitsleistungen bei großen Projekten • Ggf. hoher organisatorischer Aufwand und zusätzliche Risiken durch erforderliche Zusammenarbeit (Kooperation/Ingenieurgemeinschaft) mit kompetenten Partnern

31.5.3

Beispiel: Städtebau

31.5.3.1

Projektbeschreibung

Der Auftraggeber ist eine Wohnungsbaugesellschaft, die Grundstücke erwirbt und einzelne Wohnungsbauvorhaben bis hin zu ganzen Quartieren konzipiert und realisiert. Vor dem Hintergrund der Wachstumsstrategie und der damit einhergehenden Neubauoffensive plant und realisiert die Gesellschaft großflächige Wohnquartiere zur Entwicklung kompletter neuer Großstadtareale. Der Projektauftrag besteht in der Gesamtkonzeption und Realisierung der Wohnungsbau-

428

Teil E – Projektmanagement

und Infrastrukturmaßnahmen für eine komplette Quartiersentwicklung in einer Großstadt in Deutschland. Hierzu gehören insbesondere die gesamten Projektentwicklungsleistungen bis zur betriebs- und schlüsselfertigen Übergabe der Objekte einschließlich Infrastrukturmaßnahmen und Folgeeinrichtungen. Insgesamt sollen auf einer aus zahlreichen Einzelgrundstücken zusammengesetzten Gesamtgrundstücksfläche von ca. 160.000 m² mindestens 2.140 Wohnungen neu errichtet werden. Das Entwicklungsgebiet ist in zwei Teilflächen und aufgrund unterschiedlicher Entwicklungstiefen einzelner Baufelder in drei Entwicklungsbereiche mit insgesamt vier Teilprojekten unterteilt. Diese vorläufige Aufteilung ist grundsätzlich, zunächst in Form einer Machbarkeitsstudie, auf ihre Umsetzbarkeit und eventuelle Optimierungspotentiale hin zu untersuchen. Die Anforderungen des Auftraggebers an den Projektentwickler bestehen in der integrierten Leistung von der Konzeption bis zur Realisierung aus einer Hand. Synergien, Effizienz und durchgängige eindeutige Verantwortlichkeiten bei der Bearbeitung der komplexen Aufgabe, durch reduzierte Schnittstellen über die unterschiedlichen Leistungsbereiche, Leistungsstufen und Leistungsphasen hinweg, sollen die Auftraggeber-Organisation entlasten und hohe Konzeptions-, Planungs- und Ausführungsqualität sicherstellen. Nach Vorstellung des Auftraggebers soll der Auftragnehmer zunächst wie ein Generalplaner und danach bezüglich der Auswahl, der vertraglichen Bindung des Generalübernehmers und dessen Überwachung bis zum Abschluss des Teilprojekts 1 die Aufgaben eines Projektmanagers übernehmen. Zum Leistungsumfang des Projektmanagements gehören über alle Projektstufen sämtliche Handlungsbereiche des Projektmanagements. U.a. sind unter der Zielsetzung niedriger Betriebs- und Unterhaltungskosten die Leistungen aller Projektbeteiligten zu steuern.

31.5.3.2

Projektabwicklungsmodell

Ziel ist ein Projektabwicklungsmodell, das sich über einen Kumulativleistungsvertrag vollständig abbilden lässt und flexibel an die jeweiligen (auch optionalen) Leistungsstufen und -phasen anpassbar bleibt. Die Leistungsbeschreibung umfasst insgesamt 5 Leistungsbereiche: A) Gesamtkonzeption des Quartiers in Form einer Machbarkeitsstudie B) Stadtplanung C) Generalplanung (Gebäude, Innenräume, Freianlagen, Ingenieurbauwerke, Verkehrsanlagen, Tragwerksplanung, Technische Ausrüstung) D) Projektmanagement nach Beauftragung der Generalübernehmer jeweils ab Leistungsphase 5 - Projektsteuerung, §2 AHO-Heft Nr. 9 - Projektleitung, §3 AHO-Heft Nr. 9 - Projektcontrolling jeweils für alle fünf Projektstufen und alle fünf Handlungsbereiche E) Marketing

31 Der Projektmanager als Generalkümmerer

429

Eine Beauftragung erfolgt abschnittsweise in Leistungsstufen, die einzelne Abschnitte darstellen, welche die Leistungen des Projektentwicklers und Zeitabläufe definieren. Sie bauen jeweils aufeinander auf und stellen später Zahlungsziele dar. Leistungsstufe I

+ Gesamtkonzeption (A) + Marketing (E) für das gesamte Entwicklungsgebiet beauftragt. + Stadtplanung, Generalplanung, Projektmanagement (B, C, D) für das Teilprojekt 1

optional: + städtebaulicher Wettbewerb (Leistungsbereich B) für das Teilprojekt 3 Leistungsstufe II

+ Stadtplanung, Generalplanung, Projektmanagement (B, C, D) für das Teilprojekt 2 + Stadtplanung komplett (Leistungsbereich B) für das Teilprojekt 3

Leistungsstufe III

+ Generalplanung, Projektmanagement (C, D) für das Teilprojekt 3

Leistungsstufe IV

+ Stadtplanung, Generalplanung, Projektmanagement (B, C, D) für das Teilprojekt 4

Einzelne Leistungsstufen können auch vor Abschluss der jeweils vorherigen Leistungsstufe beauftragt werden. Ein Rechtsanspruch des Projektentwicklers auf die Übertragung der Gesamtleistung, also auch mit weiteren Leistungsstufen II bis IV, besteht nicht. Der Auftraggeber ist insbesondere in der Konzeptionsphase intensiv in das Projekt einbezogen. Mit fortschreitenden Leistungsphasen in Planung und Ausführung zieht sich der Auftraggeber immer weiter auf ausgewählte Bauherrenaufgaben zurück. Die verantwortliche Projektleitung übernimmt der Auftragnehmer. Die Aufbauorganisation für die gesamten Projektentwicklungsleistungen einschließlich Gesamtkonzeption und Realisierung der Quartiersentwicklung (Wohnungsbau- und Infrastrukturmaßnahmen) besteht im Wesentlichen aus vier Leistungspaketen und ist Abb. 31-7 zu entnehmen. Die verantwortliche Projektleitungsfunktion beim Auftragnehmer teilt sich in die Bereiche Gesamtleitung, Projektmanagement, Generalplanung und Stadtplanung auf. Operative Schnittstellen zur Organisation des Auftraggebers spielen insbesondere in der Konzeptionsphase eine maßgebende Rolle. Projektsteuerung und Koordination der komplexen Planungs- und Genehmigungsverfahren ist wesentlicher Bestandteil der Leitung des Projektentwicklervertrages.

430

Teil E – Projektmanagement

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Abb. 34-1

Arbeitsplan ÖNORM EN 129733)

34.3.4

Value Management für Innovation und Optimierung

34.3.4.1

Unterstützungsleistung von VM

VM lässt sich gut in bestehende Strukturen für Innovations- und Optimierungsvorhaben integrieren bzw. bildet dafür den übergeordneten Bezugsrahmen. Dabei greift VM in den frühen Phasen der Projektdefinition ein und hilft Organisationen, ihre wirklichen Bedürfnisse zu erkennen, d.h. „Must haves“ für ihr Geschäft und trennt diese von den Bedürfnissen, d.h. „Nice to haves“. Weiters wird die Qualität von Business Case, Projektdefinition und Briefing üblicherweise eklatant gesteigert. Die Ausgabe eines klaren Auftrags zu Beginn eines Projekts, wird sichergestellt und ein gemeinsames 3)

Vgl. http://www.valuemanager.at/die-methodik/ Datum des Zugriffs: 31.05.2019

34 Value Engineering – Ausbildung und Einsatzgebiete

479

Verständnis der Stakeholder erzielt. Durch den Team-basierten Ansatz wird kooperatives Arbeiten über Abteilungen (von Vertrieb, Entwicklung, Fertigung bis Einkauf) gestärkt. Ein permanentes Cost Engineering und Value Engineering in der Fertigung führt dazu, dass auch LEAN und Rationalisierungsaspekte integrativ berücksichtigt werden. Durch das agile Verfolgen von Designoptionen (analog zur SCRUM bzw. Sprint Ansätzen) bis zum Rapid Prototyping werden Wertverbesserungen und deren Realisierung transparent verfolgt.

34.3.4.2

Das VMN Agile Value Creation Modell©

Valuemanager Ninaus GmbH hat sich aus der industriellen Praxis das VMN Value Creation Model entwickelt, um den systematischen Ablauf von Optimierungs- und Erstinnovationsprojekte zu definieren (siehe Abb. 34-2). Das Model ist hier als Referenz gedacht um eine Einordnung von Optimierungs- und Innovationsprojekte durchführen zu können. Ausgangspunkt ist ein Value Gap, der von nicht erfüllten Kundenwünschen und neuen Markterfordernissen sowie von neuen technologischen Möglichkeiten, und internen strategischen Vorgaben geprägt ist. Die Value Gap Analyse fasst diese Schwachstellen zusammen und bildet damit die Entscheidungsgrundlage für den zu wählenden Projektpfad. Pfad 1 ist das Agile Value Improvement Projekt. Dieses ist vom Charakter einem inkrementellen Verbesserungsprozess meist im Arbeitsalltag angesiedelt, im Sinne eines KVP (kontinuierlichen Verbesserungsprozesses) zu sehen. Pfad 2 ist das Agile Value Analysis Projekt. Dieser Projektpfad fokussiert die Funktionenverbesserung und Kostenreduktion von bestehen Produkten, Prozessen, Anlagen und Gebäuden. Pfad 3 wird als Agile Value Engineering Projekt verstanden. Hier fallen Neuentwicklungen sowohl in der Serie als auch Bauprojekte mit Einmalcharakter hinein. Die Freiheitsgrade in einem Agile Value Engineering Projekt sind höher als bei den Pfaden 1 und 2. Wesentlich ist hier der Einbezug der Stakeholder und einer agilen Vorgehensweise in der Projektentwicklung. Pfad 4 ist ein Agile Disruptive Value Creation Model. Hier geht es um eine komplette Neugestaltung und in weiterer Konsequenz Ersatz bestehender Geschäftsbereiche.

480

Abb. 34-2

Teil E – Projektmanagement

VMN Agile Value Creation Model©

34 Value Engineering – Ausbildung und Einsatzgebiete

481

34.4

Das Europäische Trainings- und Zertifizierungssystem für VE / VM

34.4.1

Value for Europe Board für Value Management

Der Vale for Europe (V4E) (siehe Abb. 34-3) bildet die europäische Organisation für das Trainings- und Zertifizierungssystem in Europa und ist unter www.valueforeurope.com erreichbar. Derzeit hält Dr. Manfred Ninaus die Funktion des Präsidenten des EGB inne.

Abb. 34-3

Value for Europe Board4)

Der Ursprung des V4E entstand aus einem SPRINT Programm der Europäischen Union 1989-93 (Strategisches Programm für Innovation und Technologietransfer) zur Verbesserung der europäischen Infrastruktur für Innovation durch transnationale Netzwerke. 1995 wurde das VM Handbuch und in 1999 wurde die EN 12973 veröffentlicht. Im Juni 2000 erfolgte die Gründung des V4E und 2004 wurde der EGB formal in Paris registriert. Der aktuelle Value Management Standard in Europa ist die EN 12973:2000. Dies wird derzeit von einer paneuropäischen Gruppe von Value-Management-Spezialisten überprüft und aktualisiert, die die verschiedenen Standardinstitutionen in ganz Europa vertreten.

34.5

Zertifizierung für Value Management in Österreich

Die österreichische Zertifizierungsstelle für Value Management (NCO National Certification Organisation) ist beim Institut für Innovations- und Trendforschung www.iitf.at im Arbeitsbereich Wertanalyse/VM angesiedelt. Das Ausbildungssystem ist wie folgt gestaltet (siehe Abb. 34-4).

4)

https://valueforeurope.com/ Datum des Zugriffs: 12.06.2019

482

Teil E – Projektmanagement

Abb. 34-4

Ausbildungssystem Value Management / Value Engineering5)

Es sieht eine kontinuierliche Weiterbildung mit drei VM-Modulen in Seminarform mit der Zertifizierung zur/m ValuemanagerIn vor. Zur Vertiefung und Weiterqualifizierung in der Praxiserfahrung ist der PVM vorgesehen. Personen dieser Zertifizierung, haben bereits umfassende Erfahrung in der Leitung von VM-Projekten. TVMs sind zertifizierte Trainer, die selbst berechtigt sind, zertifizierte VM-Seminare abzuhalten. Für Trainings zu VM ist die NVA (National Value Assoziation) Valuemanager Ninaus www.valuemanager.at zuständig.

34.6

Value Engineering im Bauwesen

34.6.1

Nutzen von Value Engineering im Bauwesen

Value Engineering ermöglicht es, Bauprojekte systematischer und transparenter abzuwickeln und garantiert dadurch eine höhere Wertschöpfung für die Stakeholder des Bauprojektvorhabens. Vorteile können wie folgt zusammengefasst werden: • Value Engineering (VE) bezieht alle Stakeholder in den Bauprozess ein, wodurch in den frühen Projektphasen viele Anforderungen unterschiedlichster Interessensgruppen erhoben werden. • Durch die Durchführung einer Funktionenanalyse wird eine Grundlage geschaffen, um Komplexität im Bauvorhaben zu reduzieren, eine gemeinsame Sprache im Projekt zu entwickeln und dann die bestmögliche Variante in der Lösungsumsetzung zu generieren. • Mittels VE werden Planungsprozesse ganzheitlicher und die Bewertung der Funktionserfüllungsgrade ermöglicht transparente Entscheidungstableaus auf Basis derer Entscheidungsträger besser Kosten, Qualität und Risiko einschätzen können. 5)

http://www.iitf.at/de/arbeitsbereich-wertanalyse/, Datum des Zugriffs: 31.05.2019

483

34 Value Engineering – Ausbildung und Einsatzgebiete

• VE bedeutet das Aufstellen von Kostenbudgets für Funktionen und deren Umsetzungen. Dadurch werden die Abgrenzung und Kalkulation von einzelnen Gewerken einfacher und besser durchführbar. • Durch die Anwendung des VE Ansatzes werden alle Leistungsbringer im Bauvorhaben früher involviert wodurch es zur signifikanten Zeit- und Kostenersparnissen bei der Planung und Ausführung kommt. • Bei der korrekten Anwendung der VE Logik profitieren alle Akteure. Für die Nutzer des Bauergebnisses werden besser abgestimmte Lösungen umgesetzt. Bauträger und Lieferanten arbeiten an kostengünstigeren Lösungen und im Falle von Kostenreduktionen werden die Einsparungen sowohl an Bauträger und Lieferanten weitergegeben. • VE verbessert die Kommunikation sowohl in der funktionalen Abklärung der Baugewerke als auch im Aktivitätenplan der Bauphasen.

34.6.2

Fokus VE im Bauprozess

In Abb. 34-5 ist die Integration der VE Methodik in den Bauprozess dargestellt. Der Fokus von VE liegt zum einen in den frühen Phasen zur Bestimmung der Anforderungen und des Einbezugs der Stakeholder. s'ƌƵŶĚƐĐŚƌŝƚƚĞ

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Realisation

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Operation Trend analysis

Kombination VE Vorgehensweise mit Bauprozess6)

Durch funktionale Leistungsbeschreibungen werden Teilprojektvergaben einfacher und offener definiert und der Lieferant ist angehalten, selbst die optimale Lösung zu finden. Dabei hilft die Funktionensprache für eine verständliche Kommunikation. Der 6)

Vgl. Hofstadler/Kummer (2017), S. 164

484

Teil E – Projektmanagement

Projektablauf ist dann geprägt von gegenseitigem Austausch und Iterationsstufen (agiles Vorgehen), um zu optimalen Ergebnissen zu kommen.

34.7

Aktuelle Trends

Value Engineering und Value Management erfreuen sich wachsendem Zuspruch. Nicht erst seit der Finanzkrise 2008 und des Einsetzens der Globalisierung ist eine Kostenverschärfung im Markt eingetreten. Value Engineering hilft, die Projektkosten zu optimieren und die Qualität des Ergebnisses nachhaltig zu steigern über den gesamten Life Cycle. Derzeit ist vor allem die Verknüpfung agiler Vorgehensweisen mit dem Value Engineering Basis von Forschungsaktivitäten. Das Ziel lautet hierbei weiter effizienter und besser abgestimmt zu kollaborieren und Zeit und Kosten zu sparen.

34.8

Zusammenfassung

Value Engineering ist ein systematischer Ansatz zur Optimierung und Innovation. Er ist universell einsatzbar und lässt sich bewiesenermaßen in der Industrie, im Anlagenbau, in der Serienfertigung sehr erfolgreich anwenden. In weiten Teilen der Welt ist VE für Infrastrukturprojekte und Bauvorhaben ab gewissen Rahmenbedingungen gesetzlich vorgeschrieben. In Europa ist der ValueforEurope (www.valueforeurope.com) erste Anlaufstelle für das europäische Trainings und Zertifizierungssystem. In Österreich wird die nationale Zertifizierungsstelle für das Training für Value Management am IITF-Institut für innovationsund Trendforschung (www.iitf.at) betrieben. Die Baubranche profitiert bereits von der Anwendung von VE. Es konnten weltweit schon zigfach erfolgreiche VE Projekte realisiert werden.

34.9

Abkürzungsverzeichnis

CFTs

......................... Cross Functional Teams

EGB

......................... European Governing Board for value management training and certification for value management)

IITF

......................... Institut für Innovations- und Trendforschung

KVP

......................... kontinuierlicher Verbesserungsprozess

NCO

......................... National Certification Organisation

NVA

......................... National Value Assoziation

PVM

......................... Professional in Value Management

SPRINT

..........................Strategisches Programm für Innovation und Technologietransfer

TVM

......................... Trainer in Value Management

VE

......................... Value Engineering

34 Value Engineering – Ausbildung und Einsatzgebiete

VM

......................... Value Management

VMN

......................... Value Management Ninaus

V4E

......................... Value For Europe

WA

......................... Wertanalyse

34.10

485

Literaturverzeichnis

ASTM E2013 – 12 (Ausgabe: 2013). Constructing FAST Diagrams and Performing Function Analysis During Value Analysis Study. ASTM E1699 – 13 (Ausgabe: Jannuary 2014) Standard Practice for Performing Value Engineering (VE)/Value Analysis (VA) of Projects, Products and Processes Hofstadler, Christian; Kummer, Markus (2017). Chancen- und Risikomanagement in der Bauwirtschaft. Berlin, Heidelberg. Springer-Verlag. (ISBN 978-3-662-54318-4) http://www.iitf.at/de/arbeitsbereich-wertanalyse/ Datum des Zugriffs: 31.05.2019 http://www.valuemanager.at/die-methodik/ Datum des Zugriffs: 31.05.2019 Kasi, Muthiah; Chapman, Robert E. (2012): Benefits of Using ASTM Building Economics Standards for the Design, Construction, and Operation of Constructed Facilities, NIST Special Publication 1098. (Online unter: https://ws680.nist.gov/publication/get_pdf.cfm?pub_id=910461 Datum des Zugriffs: 31.05.2019) ÖNORM EN 12973 (Ausgabe: 2017-09-15). Value Management.

35

Prozessdenken – Aktuelle Entwicklungen im Bereich Gebäudezertifizierung und Lean Construction

DDipl.-Ing. Dr.techn. Johannes Wall DGNB-Auditor Ed. Züblin AG Europa-Allee 50 60327 Frankfurt am Main www.mitte.zueblin.de [email protected] Dr.-Ing. Carina Schlabach Leiterin Prozessoptimierung Ed. Züblin AG Europa-Allee 50 60327 Frankfurt am Main www.mitte.zueblin.de [email protected] Dr.-Ing. Ian Quirke Stabsbereichsleiter Technische Innendienste Ed. Züblin AG Europa-Allee 50 60327 Frankfurt am Main www.mitte.zueblin.de [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_35

488

Teil E – Projektmanagement

Die folgenden Ausführungen basieren auf dem Tagungsbeitrag im Rahmen des 17. Grazer Baubetriebs- und Bauwirtschaftssymposiums 2019 zum Thema „Lebenszyklusorientierung als möglicher Beitrag zur Reduktion von Bauablaufstörungen“1).

35.1

Abstract

Die in den letzten Jahren verstärkte Bedeutungszunahme der Interdisziplinarität im Zuge der Abwicklung von Bauprojekten lässt vermehrt dynamisch-iterative Strukturen erkennen. Besonders für die Umsetzung lebenszyklusorientierten/nachhaltigen Planens und Bauens bedarf es einer systematischen Vorgehensweise anhand strukturierter Prozesslandschaften, um den Kundennutzen stärker zu betonen und diesen auch in der Realisierung besser fokussieren zu können. Dahingehend gilt es, die Prozesse in der Bauwirtschaft zu überdenken und die zur Verfügung stehenden Technologien, Methoden und Verfahren entsprechend zu nutzen. Einen wesentlichen Beitrag dazu leisten diesbezüglich die Methoden des Lean Construction Managements. Der Ansatz des Prozessdenkens wird im Beitrag anhand der Prozessqualitäten der Gebäudezertifizierung veranschaulicht und die Gemeinsamkeiten mit den Methoden von Lean Construction hervorgehoben. Diese ermöglichen eine Verbesserung der Transparenz hinsichtlich der komplexen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Abläufen des jeweiligen Bauprojekts, wodurch das gegenseitige Verständnis der Projektbeteiligten erhöht wird.

35.2

Situationsanalyse

35.2.1

Ausgangssituation

35.2.1.1

Unzureichender Betrachtungshorizont

Verkürzte Projektvorlaufzeiten und forcierte Realisierungszeiträume verlangen resiliente Abläufe im Bauprojektmanagement, um trotz knapper Budgets die gewünschten Qualitätsanforderungen ermöglichen zu können. Zahlreiche Parameter sind in der gegenwärtigen Baupraxis nach Abschluss der Planungs-/ Entwicklungsphase noch nicht für die Realisierung geeignet. Besonders die Anforderungen der Nutzer werden erst mit fortschreitender Projektbearbeitung greifbarer bzw. können nach erfolgter Vermietung festgelegt und geplant werden. Das enge terminliche Korsett erschwert den Umgang mit diesen Planungsänderungen. Mit diesen oft verspätet in Erscheinung tretenden Anforderungen der Nutzer geht ein unzureichender Betrachtungshorizont der ursprünglichen Planung einher.

1)

Vgl. Wall/Schlabach (2019), 115ff.

35 Prozessdenken – Aktuelle Entwicklungen im Bereich Gebäudezertifizierung u. Lean Construction

35.2.1.2

489

Bedeutung von Fachplanung und Bauablaufplanung

Zusätzlich zu fehlender Struktur des Bauprozessmanagements ist oft auch eine unvollständige und unzureichende Planung anzutreffen mit ausstehenden finalen Entscheidungen des Bauherrn bzw. Nutzers, welche erst baubegleitend getroffen werden.2) Dies unterstreicht und verdeutlicht die Bedeutung einer umfassenden sowie anforderungsspezifischen Arbeitsvorbereitung, um trotz verkürzter Vorlaufzeiten dennoch eine qualitativ hochwertige als auch mangelfreie Errichtung zu ermöglichen. Die Baupraxis der vergangenen Jahre ist zudem von einer starken Personenbezogenheit geprägt. Dies bedeutet, dass der Ablauf und die Inhalte von Handlungen sowohl in den Planungs- als auch den baubetrieblichen Abwicklungsprozessen individuell gemäß dem Dafürhalten der jeweiligen Akteure gestaltet waren.3) Dies bedeutet des Weiteren, dass auch Erfolg oder Misserfolg der Projekte von den einzelnen Akteuren abhängig waren. Standards des Projektmanagements als auch in der Bauausführung sowie eine kontinuierliche Verbesserung von Projekt zu Projekt wurden lange als für im Bauwesen unmöglich abgewehrt. Nicht selten wird durch die Schwierigkeiten unterschiedlichsten Ursprungs die Kultur der Projektabwicklung negativ beeinflusst, wenn nicht sogar rechtliche Auseinandersetzungen entstehen. Diese eher von Konfrontation geprägten Konstellationen geraten immer stärker in die Kritik mit entsprechenden Initiativen für eine partnerschaftliche und systematische Projektabwicklung. Das Denken und Arbeiten in Prozessen als eine systematische Vorgehensweise anhand strukturierter Prozesslandschaften würden die bestehenden Defizite hinsichtlich Termineinhaltung, Qualitätssicherung und Transparenz reduzieren. Die komplexen Zusammenhänge des jeweiligen Bauprojektes können für die Projektbeteiligten deutlicher dargestellt und verständlicher kommuniziert werden.

35.2.1.3

Bedeutungszuwachs nachhaltiges Bauen

In Deutschland ist eine steigende Nachfrage nach einer objektivierten Kennzeichnung für die Nachhaltigkeit von Bauwerken zu verzeichnen.4) Dies ist u.a. den steigenden Klimaschutzbestreben sowie dem Mehrwert der Lebenszyklusorientierung nachhaltiger Gebäude geschuldet. Diesbezüglich wird das Thema „Nachhaltigkeit“ zunehmend relevanter für die Vergabe von Krediten, da die Erweiterung des Betrachtungshorizonts auf den Lebenszyklus als Ansatz des Risikomanagements verstanden wird.5) Damit einher geht die Berücksichtigung der Immobilienperformance in den Nachhaltigkeitsberichten als Teil der Global Reporting Initiative (GRI). In der aktuellsten DGNB Systemversion 2018 werden diese Aspekte in den einzelnen Kriterien aufgegriffen und Querverbindungen hergestellt, sodass die Bewertungsaspekte der Kriterien auch für die Nachhaltigkeitsberichterstattung herangezogen werden können. Dieser Marktentwicklung können sich die Akteure der Bauwirtschaft nur bedingt entziehen und es bedarf als Reaktion auf diese Tendenz die Entwicklung entsprechender Strukturen, um den gesteigerten Anforderungen gerecht zu werden. Die Erfüllung dieser Anforderungen kann nur durch eine fachkundige und qualitativ hochwertige Ausführung geleistet werden. Dies unterstreicht den Bedeutungszuwachs von Präqualifikationsverfahren (z.B. Q VOB/PQ-Liste) und leistet einen Beitrag zur Förderung eines Leistungs2) 3) 4) 5)

Vgl. bspw. Heilfort (2003), S. 75 sowie Monsberger/Fruhwirth (2018), S. 118f. Vgl. Goger (2018), S.14 JLL: Certification and Sustainability Radar Deutschland 1. Halbjahr 2018, S. 3 FAZ: https://bit.ly/2U0TNYE Datum des Zugriffs: 25.05.2019

490

Teil E – Projektmanagement

wettbewerbs.6) Dahingehend bedarf es einer kundenorientierten Aufbauorganisation von Bauunternehmen, die zur Erbringung qualifizierter Dienstleistungen in der Lage ist.7)

35.2.2

Ziel

Ziel dieses Beitrags ist es, den Ansatz: „Nutzen des Denkens in Prozessen“ anhand der aktuellen Verfahren im Bereich der Gebäudezertifizierung sowie der Anwendung von Lean Construction in der Umsetzung zu veranschaulichen. Einerseits werden dazu Prozessqualitäten vorgestellt, wie sie beispielsweise im DGNB-System erfassten werden. Andererseits werden auch die dazu dienlichen und unterstützenden Methoden des Lean Construction erläutert, welche im Projektverlauf für eine umfassende und strukturierte Erstellung der Fachplanung als auch der Bauablaufplanung herangezogen werden können.

35.3

Gebäudezertifizierung

Den Betrachtungsrahmen der weiteren Ausführungen stellt das DGNB-System dar, welches in Deutschland zu den am häufigsten angewendeten Systemen zählt.8) In seinen Adaptierungen in Form der ÖGNI9) (Österreichische Gesellschaft für nachhaltige Immobilienwirtschaft) sowie der SGNI10) (Schweizer Gesellschaft für nachhaltiges Bauen) kann dieses System als das am weitesten verbreitet und häufigsten zur Anwendung kommende System im deutschsprachigem Raum angesehen werden. Ziel des Bewertungssystems ist es, entsprechende Überlegungen für die Steigerung der Gebäudequalität und der Objektqualität quantifizierbar, qualifizierbar und damit nachweisbar bzw. steuerbar zu machen. Das Nachhaltigkeitskonzept reicht dabei über das bekannte Dreisäulenmodell hinaus und bezieht die sechs Themenfelder der Ökologie, Ökonomie, soziokulturelle und funktionale Aspekte als auch Technik, Prozesse und den Standort in die Bewertung mit ein. Siehe dazu Abb. 35-1. Ein besonderer Bewertungsfokus liegt dabei auf der Hauptkriteriengruppe der Prozessqualitäten, welche im folgenden Abschnitt ausführlicher vorgestellt werden.

35.4

Prozessqualitäten

Der Begriff der Prozessqualität bezieht sich auf die Qualität der Herstellungsprozesse für ein Produkt, d.h. ein Objekt. Im Gegensatz dazu umfasst der Begriff der Objektqualität die Beschaffenheit und die Qualität des Objektes. Die Bewertung eines Gebäudes durch das DGNB-System erfolgt in Kombination von der Prozessqualität und Objektqualität. Durch Vorgabe von Prozessschritten, und damit einer so definierten Prozessqualität, werden Rahmenbedingungen geschaffen, die Qualität der Planung sowie die Qualität der Bauausführung zu erhöhen – auch im Hinblick, auf einen effizienten Betrieb. Abb. 35-1 6) 7) 8) 9) 10)

Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Natur, Bau und Reaktorsicherheit – BMUB (2014), S. 84 Vgl. Giesa (2010), S. 343 Vgl. https://bit.ly/2TLlHJ5 Datum des Zugriffs: 26.05.2019 Vgl. https://www.ogni.at/ Datum des Zugriffs: 26.05.2019 Vgl. https://www.sgni.ch/ Datum des Zugriffs: 206.05.2019

35 Prozessdenken – Aktuelle Entwicklungen im Bereich Gebäudezertifizierung u. Lean Construction

491

zeigt die einzelnen Kriterien der Themengruppe Prozessqualität. Im Folgenden wird auf ausgewählte Kriterien davon eingegangen.

Ökologische Qualität 22,5 %

Ökonomische Qualität 22,5 %

Soziokulturelle und funktionale Qualität 22,5 % Technische Qualität 15 %

PRO1.1 Qualität der Projektvorbereitung

PRO1.4 Sicherung der Nachhaltigkeitsaspekte in Ausschreibung und Vergabe

PRO1.5 Dokumentation für eine nachhaltige Bewirtschaftung

PRO1.6 Verfahren zur städtebaulichen und gestalterischen Konzeption

PRO2.1 Baustelle/Bauprozess

PRO2.2 Qualitätssicherung in der Bauausführung

PRO2.3 Geordnete Inbetriebnahme

PRO2.4 Nutzerkommunikation Prozessqualität 12,5 % PRO2.5 FM-gerechte Planung Standort 5 %

Abb. 35-1

Überblick Prozessqualitäten11)

Beginnend mit PRO1.1 „Qualität der Projektvorbereitung“ wird die Bedeutung der frühen Projektphasen unterstrichen und die Wichtigkeit der „Leistungsphase Null (LPH 0)“ betont. Im Mittelpunkt steht dabei die Formulierung der Anforderungen des Bauherrn an ein Gebäude in Form einer Bedarfsplanung. Diese bildet den Grundstein für den weiteren Zertifizierungsprozess und wird in Form eines planungsbegleitenden Pflichtenhefts klar formuliert. PRO1.4 „Sicherung der Nachhaltigkeitsaspekte in Ausschreibung und Vergabe“ berücksichtigt die frühzeitige Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in die Ausschreibung und Vergabe. Dadurch können den Bietern (Nachunternehmern) die gewünschten Produktanforderungen frühzeitig kommuniziert werden und die Auswahl der einzusetzenden Baustoffe anhand einer ganzheitlichen Betrachtung erfolgen, wodurch eine erhöhte Ausschreibungsqualität erreicht wird. Ein häufiges Ziel von Bauherren besteht darin, die Aufenthaltsqualität von Gebäuden zu erhöhen. Dazu bedarf es, die Aspekte des nachhaltigen Bauens sowie jene der Baukultur detaillierter zu betrachten und die inhaltlichen Verschränkungen dieser Thematik für das jeweilige Bauvorhaben zu beachten. Anhand von Planungswettbewerben wird es dem Auftraggeber möglich, geeignete Auftragnehmer für die jeweilige Entwurfsaufgabe zu identifizieren. Dieser Ideenwettbewerb der Architekten bzw. Planer zielt darauf ab, die Qualität der Entwürfe zu erhöhen und ermöglicht es dem Bauherrn, aus einer Vielzahl an Entwürfen den für sein Vorhaben geeignetsten auszuwählen. Diese Prozesse werden in PRO1.6 „Verfahren zur städtebaulichen und gestalterischen Konzeption“ erfasst. Ziel von PRO2.1 „Baustelle/Bauprozess“ ist es, negative Auswirkungen auf die lokale Umwelt während der Bauphase zu minimieren. Die Indikatoren dieses Kriteriums umfassen Maßnahmen des Lärmschutzes, sowie die Reduktion von Staub-Emissionen und den Schutz von Boden und Gewässer. Dies bildet die Grundlage für ein produktives Arbeitsumfeld. 11)

Eigene Darstellung der DGNB Kriterien zur Prozessqualität

492

Teil E – Projektmanagement

Die Kontrolle der Zielerreichung nach Vorgabe eines Qualitätssicherungsplans wird in PRO2.2 „Qualitätssicherung in der Bauausführung“ bewertet. Der Fokus liegt dabei auf relevanten Messungen (z.B. Schallschutz, Blower-Door-Test), um die in der Planung avisierten Zielwerte überprüfen zu können. PRO2.3 „Geordnete Inbetriebnahme“ bewertet den Übergang vom Ende der Bauarbeiten bis zum Beginn der Nutzung bzw. Betriebes des fertiggestellten Gebäudes. Erfahrungsgemäß stellt dies eine Unstetigkeitsschnittstelle in Bezug auf Daten und Informationen aus der Bauausführung sowie den Anforderungen des nachfolgenden Betriebs und der Nutzung des Gebäudes dar. PRO2.5 „FM-gerechte Planung“ versucht den Fokus verstärkt auf die Nutzung und den damit verbundenen Betrieb des Gebäudes zu legen und damit diese Aspekte frühzeitig in die Planung einfließen zu lassen.

35.5

Prozessorientierung

35.5.1

Abläufe strukturieren und organisieren

35.5.1.1

Bedarf der Strukturierung

Die im vorangegangenen Abschnitt kurz beschriebenen Kriterien verdeutlichen die zunehmende Bedeutung von Prozessen. Die Planung der einzelnen Abläufe rückt dadurch verstärkt in den Mittelpunkt. Insbesondere wichtig sind hierbei sowohl die Inhalte der Fachplanung, wie Architektur, Haustechnik etc. als auch der Ablauf zu ihrer Erstellung – häufig als „Planung der Planung“ bezeichnet.12) Eine umfassende Bestellgrundlage ist die Voraussetzung einer erfolgreichen Planungsphase. Die umfassende und erschöpfende Analyse der Projektanforderungen dient dabei der Reduktion von Bauablaufstörungen durch Vermeidung unvollständiger bzw. fehlender Planungsinformationen.

35.5.1.2

Informationsfluss ermöglichen

Wesentlich ist somit das Erzielen einer hohen Planungsqualität, welche kooperativ im Team erfolgen soll. Dazu ist es notwendig, dass die verschiedenen, für die Bearbeitung der Planungsaufgabe notwendigen Akteure frühzeitig miteinander in Austausch treten und erste Zielkonflikte identifiziert werden.13) Dieser Prozess der Planung, als Vorwegnahme zielorientierten Handelns, bedarf aufgrund der komplexen Anforderungen und zeitlichen Einschränkung zunehmend einer verstärkten Strukturierung. Dadurch kann ein durchgängiger Informationsfluss ermöglicht und erreicht werden.

12) 13)

Vgl. Volkmann (2014), S. 1 Vgl. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2015), S. 18, 26

35 Prozessdenken – Aktuelle Entwicklungen im Bereich Gebäudezertifizierung u. Lean Construction

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9

C

B

A Bedarfsplanung

Projektentwicklung

F

E

D Planung

Genehmigungsplanung

Ausführungsplanung

PPH 4 Ausführung

PPH 5 Projektabschluss

Realisierung

Daten- und Informationsmenge

Planungswissen

Betrieb

Betriebsübergabe

Höchste Daten und Informationsmenge zum Zeitpunkt der Übergabe

Notwendigkeit der Daten- und Informationsanreicherung

J

I

H

G

Auftragsvergabe

sehr hoch

Bedarfsanmeldung

PPH 3 Ausführungsvorbereitung

PPH 2 Planung

PPH 1 Projektvorbereitung

493

Angestrebte Fortführung des Informationsstandes

Betriebswissen

sehr gering

Daten aus Nutzung und Betrieb

Daten und Informationen zu: ƒ Material- und Fertigungsinformationen ƒ Baubetriebliche Informationen (Transport, Lieferung, Baustellensituation etc.) ƒ Informationen zu Wartungszyklen, Energiemanagement ƒ Dauerhaftigkeit, Nutzungsdauern, Lebenszyklus

Rückkoppelung

Fertigung, Transport, Ausführung, Nutzung und Betrieb, End-of-Life, Rückbau, Recycling

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Abb. 35-2

Wissensmanagement zur Steigerung der Informationsdichte in frühen Projektphasen14)

Wie in Abb. 35-2 ersichtlich ist die höchste Daten- und Informationsdichte zum Zeitpunkt der Übergabe vorhanden. Die derzeitige baupraktische Umsetzung offenbart für diesen kritischen Zeitraum noch erhebliche Defizite im Planungsreifegrad, welche den Ansatz der Notwendigkeit einer stärkeren Prozessorientierung unterstreichen.

35.5.1.3

Startgespräche

Hilfreich für die organisatorische Abwicklung sind strukturierte Startgespräche der beteiligten Akteure.15) Diese leisten einen bedeutsamen Beitrag zur Findung des Projektteams und ermöglichen einen Einstieg in die weiteren maßgeblichen Punkte. Besonders für die Abstimmungs- und Freigabeprozesse im Zuge der materialökologischen Baustoffberatung ist ein strukturierter Prozess unabdingbar. Das Abhalten von gemeinsamen Besprechungen zu Beginn eines Bearbeitungsabschnittes ist zwar ein häufig anzutreffendes Element des Projektmanagements. An dieser Stelle wird es jedoch aufgrund seiner Bedeutung nochmals hervorgehoben. Die durch die Zertifizierung geforderten Besonderheiten sollten in diese Gespräche einfließen und sind entsprechend spezifisch vorzubereiten.

35.5.2

Fokus Lebenszyklusorientierung

Durch die verstärkt bewusste Aufweitung des Betrachtungshorizonts auf die Ziele der Nutzung und des Betriebs können daraus resultierende Besonderheiten frühzeitig abgeleitet werden und in die Projektbearbeitung einfließen. Dies ermöglicht eine Verbesserung des Planungsqualität und erhöht damit auch die Qualität der späteren Nutzung, wenn auch Grundsätze des professionellen Projektmanagements berücksichtigt werden. 14) 15)

Wall (2017), S. 176 Vgl. Wall (2017), S. 176

494

Teil E – Projektmanagement

Die Koordination und Kommunikation von Lebenszykluszielen in der Planung leistet so einen Beitrag zur Verbesserung der Nutzungs- und Betriebsperformance einer Immobilie. Ein entscheidendes Werkzeug für die Umsetzung ist das Pflichtenheft, welches die vom Auditor gemeinsam mit dem Bauherrn festgesetzten Qualitätsziele enthält. Das Pflichtenheft und die Auflistung der zu erbringenden Nachweise bilden die Kernelemente einer Gebäudezertifizierung. Die checklistenartige Bearbeitung der Prozess- und Objektqualitäten kann als Instrument für die performance-orientierte Zielfindungsdiskussion zwischen Bauherrn/AG und AN sowie der Darstellung detaillierter Objekt- und Standortmerkmale verstanden werden. Diese Vorgehensweise ermöglicht zum einen die Bewertung der Planung an objektiven Qualitätsvorgaben, sodass ein entsprechendes Feedback gegeben werden kann. Zum anderen kann anhand dieser standardmäßigen Vorgaben und steigender Erfahrungen der Planer mit diesen eine kontinuierliche Optimierung erfolgen. Im Zentrum dieser Entwicklung steht der Kundennutzen (also die Lebensqualität und Zufriedenheit der Nutzer). Je nach gewünschtem Kundennutzen kann die Zielsetzung variieren. Daraus resultieren der performance-orientierte Ansatz sowie die Notwendigkeit einer Betrachtung der funktionalen und technischen Qualität im Sinne der Zukunftsfähigkeit des Gebäudes (z.B. Möglichkeit der Nutzungsänderung).16)

35.5.3

Koordination des Informationsflusses

35.5.3.1

Bedarf der Koordination

Die anfangs begrenzte Informationsbasis wird mit steigendem Projektverständnis verfeinert und auf den Lebenszyklus ausgerichtet. Die Zahl der Beteiligten steigt durch die Bearbeitung von Aspekten aus verschiedenen Fachbereichen. Die dadurch bedingten Unstetigkeitsstellen des Informationsflusses (sog. Schnittstellen) müssen aktiv gestaltet und organisiert werden.

35.5.3.2

Schnittstellengestaltung

Eine Schnittstelle kann als Berührungspunkt zwischen verschiedenen Sachverhalten, Objekten oder Personengruppen verstanden werden.17) Die bewusste Definition von Schnittstellen erleichtert die Organisation und Koordination von Informationsflüssen erheblich. Klar ausformulierte Schnittstellen bieten eine Orientierungshilfe z.B. im Zusammenhang mit der Abgrenzung der Verantwortlichkeiten für die Dokumentation von gebäudezertifizierten Projekten. Diese regeln, welche Nachweise von den Beteiligten in den einzelnen Leistungsphasen zu erbringen sind. Die Unterteilung folgt primär der Vertragskonstellation und trennt zwischen den Sphären des Auftraggebers/Bauherrn mit seinen Erfüllungsgehilfen sowie des Hauptausführenden mit den weiteren Nachunternehmern (Subunternehmern). Die Produktivität von Arbeitsgruppen wird verbessert, indem eine systematische Kommunikation über Schnittstellen zwischen den ausführenden Personen herbeigeführt und die Präzision in der Planung erhöht wird. Für die einfachere Abwicklung empfiehlt es sich, diese Schnittstellen auch grafisch darzustellen. 16) 17)

Vgl. Lützkendorf (2009), S. 65 Vgl. Lützkendorf (2009), S. 65

35 Prozessdenken – Aktuelle Entwicklungen im Bereich Gebäudezertifizierung u. Lean Construction

35.5.3.3

495

Organisatorische Zuständigkeiten

Damit die technischen und wirtschaftlichen Zielsetzungen eines Projekts erreicht werden können, ist es hilfreich, eine Koordination aller planungsrelevanten Tätigkeiten eines schlüsselfertigen Bauvorhabens über die gesamten Projektlaufzeit vorzunehmen. Der Koordinator unterstützt damit das Projekt durch seine integrative Rolle zwischen Bauherrn, Architekten, Bauleitungen vor Ort sowie die jeweils notwendigen fachlichen Experten und Sachverständigen. Bei größeren Bauvorhaben kann diese Rolle von einem Planungskoordinator wahrgenommen werden.18) Die organisatorische Datenstruktur und Zusammenarbeit hinsichtlich der BIM-Ziele im Projekt wird durch den BIM-Manager vorgegeben. Er ist verantwortlich für operative Koordination sowie die Umsetzung der BIM bezogenen Anforderungen aus dem Projektabwicklungsplan und dem Organisationshandbuch. Der BIM-Koordinator wirkt unterstützend durch den Fokus auf die Integration der Gewerke. Vor dem Hintergrund eines Bauvorhabens mit einer Gebäudezertifizierung tritt für den GU ein Zertifizierungskoordinator in Erscheinung, welcher die einzelnen Aspekte und Dokumentationsanforderungen im Zuge der Herstellung koordiniert.

35.5.4

Zusammenhang Gebäudezertifizierung mit Lean Management Ansätzen

Die Ausführungen in den vorangegangenen Abschnitten zeigen die Ziele der Bewertungssysteme für Nachhaltigkeit auf. Hierbei bestehen folgende Gemeinsamkeiten mit den Zielen des Lean Managements: • kundenorientierte (nutzerorientierte) Wertschöpfung über den gesamten Lebenszyklus des Produkts, hier des Bauobjekts • klare und kommunizierte Prozesse • Verschwendungen in der Planung, wie Überarbeitungsschleifen durch unklare/nicht kommunizierte Anforderungen, als auch in der Herstellung eliminieren • Förderung systematischer Kommunikation zur gemeinsamen Lösungsfindung • Visualisierung von Informationen über die Gesamtperformance der Zielerreichung bzw. des Zertifizierungsziels • kontinuierliche Verbesserung • kontinuierlicher und inhaltlich hochwertiger Planungsfortschritt als Vorleistung für die Bauausführung • qualitativ hochwertige Bauausführung Aufgrund der gemeinsamen Ziele können daher Methoden von Lean Management und Lean Construction herangezogen werden, um die Anforderungen aus dem Zertifizierungssystem umzusetzen bzw. ihnen gerecht zu werden. In den folgenden Abschnitten werden die relevanten Methoden kurz angesprochen, um den Zusammenhang aufzuzeigen.

18)

Funktionsbeschreibung „Planungskoordinator“ der Ed. Züblin AG Direktion Mitte

496

Teil E – Projektmanagement

35.5.4.1

Lean Methoden für die Organisation und Strukturierung abstrakter Prozesse wie Planung

Für die Organisation und Strukturierung eines abstrakten Prozesses wie den Planungsprozess hat sich das Last Planner® System nach Ballard bewährt. Hierbei wird der gesamte Planungsprozess mit seinen Übergaben zwischen den einzelnen Beteiligten und den gegenseitigen Anforderungen zunächst gemeinsam visuell geplant. Wesentlich ist das Pull-Prinzip mit der Ausrichtung auf die Kundenwünsche. Als Kunden werden hierbei der Bauherr, die ausführende Baustelle als auch die Planer untereinander angesehen. Der „Ein-Stück“-Gedanke aus dem Lean Management wird derart in die Planung eingebracht, dass einzelne Leistungs- und Planpakete identifiziert, detailliert und in einem Fluss angeordnet werden. Dies ermöglicht die zeitlich genaue Platzierung der Pakete an den Zeitpunkt, zu dem sie von einem der Kunden benötigt werden. Besonders in Fällen, in denen einzelne Pakete, wie Details für Fertigteile, Großgeräte, Schachtdetails oder Türlisten, sehr früh im Produktionsablauf, z.B. für Vergaben und Bestellungen, benötigt werden, erweist sich dies als sehr nützlich. Dies gilt ebenso für Fälle, in denen Zeitknappheit für die Erstellung der Planung insgesamt besteht. Der Planungsprozess kann hiermit sehr strukturiert und kompakt gestaltet werden. Die gemeinsame Planung als auch das wöchentliche Nachhalten, Steuern und Verbessern führen zu einem systematischen und auf die Zielerreichung fokussierten Kommunikations- und Informationsfluss.19) Der zeitliche Ablauf der Planungserstellung verläuft verlässlicher, da im Zuge der Erstellung des Planungsterminplans notwendige Dauern der Tätigkeiten als auch die gegenseitigen Anforderungen an die zu übergebenden Inhalte abgestimmt werden. Eine zweite Methode aus dem Lean Werkzeugkasten zur Organisation und Strukturierung eines Prozesses ist die Wertstromanalyse bzw. das Wertstromdesign. Bei der Analyse eines bereits bestehenden Prozesses wird dieser in die einzelnen Prozessschritte zerlegt und jeder auf seinen wertschöpfenden, nicht wertschöpfenden, aber notwendigen sowie den verschwenderischen Anteil im Hinblick auf die Realisierung des Kundenwunsches beurteilt.20) Im Anschluss daran wird ein verschwendungsarmer (mit Ziel verschwendungsfreier) SOLL-Prozess definiert. Auch dies erfolgt auf visueller Basis im Team und unterstützt ein gemeinsames und übergreifendes Verständnis des abzuwickelnden Prozesses und des Wertstroms. Nicht wertschöpfende, aber notwendige Tätigkeiten und Verschwendung können erkannt, reduziert oder gänzlich vermieden werden.21) Des Weiteren können Prozessabläufe, Kommunikationswege und Übergaben effizient im Team vereinbart werden. Durch die Visualisierung werden die Anzahl und Dauer von Tätigkeiten sowie die damit verbundenen Kapazitäten transparenter. Dies liefert die Grundlage, um diese in einem zweiten Schritt terminlich zu planen und ggf. in einen Takt zu bringen.

35.5.4.2

Lean Methoden für die baupraktische Umsetzung

Für die baupraktische Umsetzung können insbesondere folgende zwei Methoden aus dem Lean Werkzeugkasten als hilfreich zur Berücksichtigung von Lebenszyklusaspekten eingesetzt werden: • 5S-Methode • Bauproduktionsplanung mittels Last Planner® System und/oder Taktplanung und -steuerung 19) 20) 21)

Vgl. z.B. Schlabach, (2015), S. 11 Vgl. weiterführend Rother/Shook (1999), S. 3ff. German Lean Construction Institute – GLCI e.V. (2018), S. 7

35 Prozessdenken – Aktuelle Entwicklungen im Bereich Gebäudezertifizierung u. Lean Construction

35.5.4.3

497

5S-Methode

Die Organisation des Arbeitsplatzes leistet einen wesentlichen Beitrag für die Vermeidung von Verschwendung und die Förderung wertschöpfender Tätigkeiten in einem ununterbrochenen Fluss. Die Methode 5S bietet dazu ein System, bestehend aus den folgenden fünf Schritten: 1. 2. 3. 4. 5.

Sortieren Systematisieren Säubern Standardisieren Selbstdisziplin

Diese Grundlagen für einen störungsfreien Baubetrieb unterstützen auch die Ziele des nachhaltigen Bauens beispielsweise dahingehend, dass Entsorgungsplätze klar geordnet und beschildert sind, um die Abfalltrennung zu gewährleisten. Wichtige Werkzeuge der Umsetzung sind Visualisierungen des Systems durch Markierungen und Beschilderungen. Damit die Anwendung flächendeckend zum Einsatz kommt, ist es zunächst hilfreich, die 5S-Methode vertraglich mit den Nachunternehmern zu vereinbaren. Im Weiteren ist dies jedoch vor allem eine Führungsaufgabe von der Projektleitung über die Bauleitung bis zu den Polieren und Vorarbeitern der ausführenden Firmen. Die Herausforderungen bestehen u.a. darin, ein Zurückfallen in alte Verhaltensweisen aufgrund von Termindruck, ständigem Wechsel der NU-Mitarbeiter und oftmals auch sprachlichen Barrieren zu verhindern.

35.5.4.4

Bauproduktionsplanung nach Lean Prinzipien

Zur Umsetzung eines störungsfreien und verschwendungsarmen Bauproduktionsablaufes nach Lean Prinzipien haben sich in den letzten Jahren die Methoden Last Planner® System nach Ballard sowie die Taktplanung und -steuerung bewährt. Die jüngeren Entwicklungen gehen dahin, diese beiden Methoden und ihre jeweiligen Vorzüge projektgerecht zu verschmelzen und zu kombinieren. Bei beiden wird zunächst eine gemeinschaftliche und profunde Planung des Bauprozesses vorgenommen, um unter Berücksichtigung aller Randbedingungen des Projekts eine optimale Bauablaufplanung nach Lean Prinzipien (Kundenwunsch, Fluss, Pull und ggf. Takt) zu erstellen. Die gemeinsame Erarbeitung im Team der Bauleitung unter situativer und bedarfsgerechter Hinzunahme der ausführenden Fachfirmen trägt zu einem kollektiven Verständnis der Prioritäten und notwendigen Handlungen bei. Diese Vorgehensweise bewirkt ebenso, dass noch nicht vorhandene oder unvollständige Informationen sowie mögliche daraus resultierende Probleme frühzeitiger identifiziert und so auch früher behandelt und behoben werden können. Bauprozessstörungen durch fehlende Vorleistungen im Allgemeinen oder der Gewerke untereinander werden hierdurch vorgebeugt. In der Ausführung werden durch kurzzyklische Qualitätskontrollen im Zuge der Planungs- und Steuerungsbesprechungen Qualitätsdefizite frühzeitig erkannt, bestenfalls behoben und im nachfolgenden Arbeits-/Taktbereich richtig umgesetzt. Hilfreich ist dabei der Einsatz von Kennzahlen zur Steuerung sowie der nachweislichen Verbesserung der Abläufe und Qualitäten.22) 22)

Vgl. Schlabach (2018), S. 363ff.

498

Teil E – Projektmanagement

Dies führt zu einer deutlich erhöhten Ausführungsqualität sowie einem berechenbaren Terminablauf und nicht zuletzt zu einem geordneten Baustellenablauf frei von Hektik, Chaos oder Aktionismus. Durch den geordneten Bauablauf und die damit einhergehende Planbarkeit von Ressourcen wird die Verschwendung von Zeit und Material minimiert. Dies ist ein Gewinn für die Umwelt, die Baustellensicherheit, den Gesundheitsschutz und die Zufriedenheit des Bauherrn. Diese Aspekte werden im Zuge einer Gebäudezertifizierung z.B. nach dem DGNB System positiv bewertet.

35.6

Aktuelle Trends

Die Entwicklung der Zertifizierungssysteme ist ein laufender Prozess, durch den zum einen wissenschaftliche Erkenntnisse in die Baupraxis eingebracht werden. Zum anderen leistet diese einen Beitrag dazu, Antworten auf die wichtigsten Zukunftsfragen zu finden, indem Themen wie Responsible Sourcing, Circular Economy, Innovation, Baukultur oder aber die Sustainable Development Goals aufgegriffen und von Bauherrn sowie Investoren auch verstärkt nachgefragt werden. Die Herausforderung besteht zum einen darin, Indikatoren für die Bauwerksbeurteilung innerhalb aller relevanten Kriterien zu definieren und zum anderen, praxisgerechte Bewertungsmethoden zu entwickeln. Wesentlich ist die Rolle der Zertifizierung als Qualitätssicherungsmaßnahme, welche auch die dazu notwendigen Umsetzungspraktiken erfassen soll. Dahingehend sind Prozesse von zunehmender Bedeutung. Ähnliche Trends sind auch für den Bereich Lean Construction erkennbar. Ausgehend von der Anwendung in der baulichen Umsetzung wirken diese zunehmend verstärkt auch in die Sphäre der Planung hinein, wodurch es zu einer umfassenderen Projektbetrachtung und -optimierung über die einzelnen Projektphasen hinweg kommt.

35.7

Zusammenfassung

Die gesteigerten interdisziplinären Anforderungen an Gebäude, besonders durch den Bedeutungszuwachs zertifizierter Gebäude führen zu einer verstärkten Zusammenarbeit der Projektbeteiligten. Unzureichende Projektvorlaufzeiten und forcierte Realisierungszeiten erfordern ein strukturiertes Planungs- und Bauprojektmanagement. Für die baupraktische Umsetzung eines lebenszyklusorientierten Gebäudes sind die Prozessqualitäten wesentlich. Des Weiteren ist auch eine verstärkte Prozess-Fokussierung im Zuge der laufenden Entwicklungen und Umsetzungspraktiken zum Thema Lean Construction Management und Building Information Modeling festzustellen. Zentraler Gegenstand in diesem Kontext ist eine umfassende und nach Lean Prinzipien strukturierte Projektablaufplanung. Diesbezüglich werden im Beitrag Ansätze wie beispielsweise die Wertstromanalyse, die 5S-Methode und die Bauproduktionsplanung nach Lean Prinzipien vorgestellt. Die in der gegenwärtigen Baupraxis anzutreffende noch stark zergliederte Wertschöpfungskette mit teilweise unterbrochenen Informationsflüssen verlangt es umso mehr, dass diese umfassender fokussiert wird. Eine detailliertere Planung der einzelnen Prozesse ist daher unumgänglich für die Reduktion von Störungen des Bauablaufs. Mithilfe eines

35 Prozessdenken – Aktuelle Entwicklungen im Bereich Gebäudezertifizierung u. Lean Construction

499

bewussten und intensiven Abgleichs zwischen SOLL und IST-Zuständen wird es erst möglich, rechtzeitig zu reagieren und aktiv gegensteuern zu können. Durch die Aufweitung des Betrachtungshorizonts auf den Lebenszyklus kann ein in diesem Sinne höheres Qualitätsniveau und besseres Risikoverständnis erreicht werden. Dies geschieht anhand der bewussten Wahrnehmung von Verantwortung gegenüber dem späteren Nutzer als auch der Umwelt und der Gesellschaft. Die sich derzeit ändernden Bearbeitungsweisen einer immer integraleren Projektabwicklung bedürfen der weiterführenden Auseinandersetzung mit zeitgemäßen Organisationsstrukturen in der Abwicklung. Prozessdenken ermöglicht Transparenz über die Aktivitäten sowie Anforderungen der einzelnen Projektpartner. Des Weiteren wird das Verständnis der Projektbeteiligten über die Bedürfnisse der anderen im Projekt sowie deren Randbedingungen gefördert. Je höher und ausgeprägter dieses Verständnis, als auch der Wille darauf einzugehen, ist, desto gesicherter und wahrscheinlicher ist die erwartete Zielerreichung.

35.8

Abkürzungsverzeichnis

AG

......................... Auftraggeber

AN

......................... Auftragnehmer

BIM

......................... Building Information Modeling

DGNB

......................... Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen

FM

......................... Facility-Management

NU

......................... Nachunternehmer

LPH

......................... Leistungsphase

35.9

Literaturverzeichnis

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500

Teil E – Projektmanagement

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Teil F VERGABERECHT/ BAUVERTRAGSRECHT

36

Berechnung der Höhe des dezidierten Schadensersatzanspruchs bei Bauzeitansprüchen für tatsächlich erforderliche Allgemeine Geschäftskosten

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wirt. Ing. Ivan Čadež Lehrstuhl für Immobilienwirtschaft und Bauorganisation Fakultät Architektur und Bauingenieurwesen Technische Universität Dortmund August-Schmidt-Straße 8 44227 Dortmund www.bauwesen.tu-dortmund.de/iw/ [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_36

504

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

36.1

Abstract

Obwohl mittlerweile in Deutschland sowohl durch die neuen §§ 650b und 650c BGB sowie die Rechtsprechung klargestellt ist, dass Allgemeine Geschäftskosten (AGK) sowohl bei Mehrvergütungsansprüchen nach § 2 VOB/B als auch bei Schadensersatzansprüchen nach § 280 ff. BGB und im Entschädigungsanspruch nach § 642 BGB zu berücksichtigen sind, gibt es bezüglich der Berechnung der Höhe des AGK-Anspruchs noch Handlungs- und Erläuterungsbedarf. Basierend auf dem Äquivalenzverfahren ist in diesem Beitrag die bisher baubetriebswirtschaftlich und rechtlich nicht für möglich gehaltene dezidierte Berechnung der Höhe der tatsächlich erforderlichen AGK bei Schadensersatzansprüchen des Auftragnehmers dargestellt. Nach der Erläuterung von wesentlichen baubetriebswirtschaftlichen und baurechtlichen Grundlagen wird die Vorgehensweise bei der Ermittlung der Höhe des Schadensersatzanspruchs für AGK dargelegt und an einem Beispiel beschrieben.

36.2

Situationsanalyse

Aus baubetriebswirtschaftlicher Sicht ist zu befürworten, dass mittlerweile durch die Rechtsprechung bestätigt ist, dass die AGK Bestandteil eines Mehrvergütungsanspruchs nach § 2 VOB/B und auch eines Schadensersatz- oder Entschädigungsanspruchs sind. Auffallend ist in den letzten Jahren die Anzahl an Urteilen zu diesem Thema, wobei aus baubetriebswirtschaftlicher Sicht anzumerken ist, dass die baubetriebswirtschaftlichen Grundlagen in der Rechtsprechung häufig nicht richtig wiedergegeben werden und daher auch die darauf aufbauende Rechtsprechung in vielen Fällen zumindest kritisch zu betrachten ist. Die Bestimmung der Höhe der AGK aus Bauzeitansprüchen wird dabei besonders kontrovers diskutiert. Eine einheitliche und nachvollziehbare Betrachtung wäre aus baubetriebswirtschaftlicher Sicht wünschenswert. Das vor einigen Jahren in Dortmund entwickelte Äquivalenzverfahren1), das auf kostentheoretischen Grundlagen basiert, kann dabei bei der Berechnung der Höhe der AGK unabhängig von der Anspruchsgrundlage behilflich sein. Das Hauptaugenmerk in diesem Beitrag liegt auf einem darauf fußenden Vorschlag für die Ermittlung der Höhe der AGK bei Schadensersatzansprüchen, da diese bisher in der Praxis nicht bzw. kaum ermittelt werden konnten. Die Schwierigkeiten bei der Ermittlung können auch ein Grund dafür gewesen sein, dass der Schadensersatzanspruch in der Praxis kaum noch angewendet wird und meistens auf den Entschädigungsanspruch verwiesen wird. Im neuen BGB hat man sich folglich in § 650c BGB entschieden, alle Kosten außer den AGK nach den tatsächlich erforderlichen Kosten im Sinne eines Schadensersatzanspruchs zu ermitteln und die AGK über einen angemessenen Zuschlag zu berücksichtigen. Ziel in diesem Beitrag ist daher, die im Jahr 20182) vorgestellte Berechnung von tatsächlich erforderlichen AGK im Sinne eines Schadensersatzanspruchs nach dem Äquivalenzverfahren zu erläutern und den Fachleuten für eine Diskussion zur Verfügung zu stellen. 1) 2)

Vgl. Čadež (2014a, 2014b, 2015a, 2015b, 2017 und 2019) Vgl. Čadež (2018a), Folien 8-11

36 Berechnung der Höhe des dezidierten Schadensersatzanspruchs bei Bauzeitansprüchen

36.3

Grundlagen

36.3.1

Baurechtliche Grundlagen

505

Mehrvergütungsansprüche aus Bauzeitansprüchen können entweder nach § 6 Abs. 6 VOB/B als Schadensersatzansprüche nach § 280 BGB und als Entschädigungsansprüche nach § 642 BGB oder unabhängig davon als Ansprüche aus sonstigen Anordnungen nach § 2 Abs. 5 VOB/B3) gefordert werden. Da die Berechnung der Höhe des Mehrvergütungsanspruchs zu drei unterschiedlichen Beträgen führt, ist dies aus baubetriebswirtschaftlicher Sicht kritisch zu sehen, da die finanziellen Konsequenzen für den Auftragnehmer immer die gleichen sind. • Beim Schadensersatzanspruch werden nach der Differenztheorie die hypothetischen erforderlichen Kosten der ursprünglichen Leistung (u.U. schwierig nachzuweisen) von den tatsächlich erforderlichen Kosten der modifizierten Leistung (als Aufwand in der Buchhaltung ermittelt) subtrahiert. • Beim Entschädigungsanspruch wird die Anspruchshöhe auf Basis der Auftragskalkulation bestimmt, jedoch werden nicht alle Mehrkosten betrachtet, wie beispielsweise die Mehrkosten nach Verzugsende.4) Des Weiteren ist aus baurechtlicher Sicht5) noch nicht final geklärt, wie bei Teilleistungen mit Einheitspreisen die Höhe der Beträge für Baustellengemeinkosten (BGK), AGK und Gewinn6)zu berücksichtigen sind. • Nach § 2 Abs. 5 VOB/B werden alle Mehrkosten auf Basis der Auftragskalkulation ermittelt. Um die Höhe der Mehrvergütungsansprüche aus Bauzeitansprüchen für BGK, AGK und Gewinn bestimmen zu können, muss die Dauer der Behinderung bzw. des Verzugs und die daraus resultierende Fristverlängerung einvernehmlich bestimmt sein. Die Dauer der Behinderung bzw. die Fristverlängerung sollte daher im Sinne des § 6 Abs. 4 VOB/B in allen drei Fällen auf die gleiche Weise7) berechnet werden. Dies ist aufgrund der aktuellen Rechtsprechung8) jedoch nicht mehr möglich, da beim Entschädigungsanspruch nach § 642 Abs. 2 BGB die Dauer des Verzugs zu berücksichtigen ist, die die Zeit vom ursprünglich vereinbarten Beginn bis zum Verzugsende umfasst und somit zu einer anderen Dauer der Behinderung bzw. Fristenverlängerung als in den beiden anderen Fällen führt. Aus baubetriebswirtschaftlicher Sicht ist dies nicht schlüssig und wirft zumindest die Frage auf, warum die Dauer des Verzugs nach § 642 Abs. 2 BGB und die Dauer der Behinderung nach § 6 Abs. 4 VOB/B nun unterschiedlich ermittelt werden?9) Ein weiterer Aspekt sind die in der Praxis zur Verfügung stehenden Optionen als Anspruchsgrundlage. In § 6 Abs. 2 Nr. 1 a) VOB/B steht, dass Ausführungsfristen verlängert werden, die „durch einen Umstand aus dem Risikobereich des Auftraggebers“ verursacht sind und in § 6 Abs. 4 VOB/B bestimmt ist, dass die(se) Fristverlängerung 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)

Dies gilt unter der Voraussetzung, dass die VOB/B vertraglich vereinbart wurde. Dies wird im Weiteren vorausgesetzt. BGH, VII ZR 16/17, Rdn. 21 BGH, VII ZR 16/17; KG 21 U 122/18, S. 14. In diesem Beitrag wird Gewinn gleichbedeutend mit Wagnis und Gewinn aus § 650c BGB Abs. 1 verwendet. Beispielsweise nach dem Adaptionsverfahren. Mechnig (2014), S. 85-92 BGH VII ZR 16/17, Rdn. 28 Čadež (2019), Im Beitrag ist dargelegt, dass der Berechnung der Höhe des Entschädigungsanspruchs nach aktueller Rechtsprechung nur für Verschiebungen der Bauleistung als Ganzes oder für eine Unterbrechung der Baustelle als Ganzes geeignet erscheint.

506

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

nach der „Dauer der Behinderung“ berechnet wird. In § 6 Abs. 6 VOB/B werden dafür Schadensersatzansprüche, wenn der Auftraggeber diese verschuldet oder die Pflichtverletzung zu vertreten hat, oder für die anderen Fälle Entschädigungsansprüche angeboten. Die Anwendung des § 2 Abs. 5 VOB/B wird dagegen (leider) nicht explizit erwähnt und kommt daher meistens nur bei sogenannten Sachnachträgen zur Geltung, die ihren Ursprung in Mehrvergütungsansprüchen aus § 2 Abs. 3, 5 und 6 VOB/B haben. In der Praxis findet der Schadensersatzanspruch aufgrund der Rechtsprechung10) kaum noch Anwendung, da quasi kaum noch Pflichten des Auftraggebers existieren.11) Im Regelfall liegen Verletzungen von Obliegenheiten vor, für die der Entschädigungsanspruch nach § 642 BGB vorgesehen ist. Folgerichtig wird der Schadensersatz in seiner Höhe nach der Differenztheorie aus der Buchhaltung und nicht in Abhängigkeit der Vergütungsvereinbarung ermittelt, weil die Vergütungsvereinbarung als Grundlage für die Bestimmung der Höhe des Schadens des Auftraggebers keine maßgebenden Informationen enthält und somit nicht anwendbar wäre. Darüber hinaus ist in den §§ 241 ff. BGB geregelt, dass der Gläubiger vom Schuldner Schadensersatz bei einer Verzögerung der Leistung des Schuldners (§ 280 Abs. 2 BGB) verlangen kann. Dies ist auch bei einem Werkvertrag für Bauleistungen anzuwenden, wobei Auftraggeber und Auftragnehmer sowohl Gläubiger als auch Schuldner sein können.12) Aus baubetriebswirtschaftlicher Sicht ist kritisch zu beurteilen, warum nach der Rechtsprechung fast alle Mitwirkungspflichten oder Obliegenheiten des Auftraggebers, die zu Behinderungen führen, nicht verschuldet sind und somit auch einen Schadensersatzanspruch hervorrufen können, da nach Rechtsprechung kein Verschulden vorliegt. Das ist nicht schlüssig und kann an einem einfachen Beispiel verdeutlicht werden. Wenn beispielsweise verspätete Leistungen von Vorunternehmern und verspätete Planlieferungen der Architekten keine Pflichtverletzungen des Auftraggebers (Anmerkung: vereinfacht, weil Dritte) sind, bedeutet es konsequenterweise auch, dass der Verzug eines Nachunternehmers des Auftragnehmers ebenfalls nicht vom Auftragnehmer zu verschulden ist und der Auftraggeber folglich keinen Schadensersatzanspruch hätte. Das kann jedoch alleine deswegen nicht gewollt sein, weil der Auftraggeber in diesem Fall nach dem BGB nur noch indirekte Anspruchsgrundlagen wählen könnte. Zur Problematik der Ermittlung der Höhe des Entschädigungsanspruchs und der nicht in allen Fällen möglichen Anwendung des § 2 Abs. 5 VOB/B wird in diesem Beitrag nur stichwortartig Stellung genommen.

36.3.2

Baubetriebswirtschaftliche Grundlagen

Angebots-, Auftrags- und Nachtragskalkulation sind Bestandteil der Kostenrechnung und gehören zum internen Rechnungswesen. Daher sind Grundsätze der Kostenrechnung13) auch bei der Anwendung der Nachtragskalkulation zu beachten. Zu diesen Grundsätzen gehören die 10)

11)

12) 13)

BGH, VII ZR 16/17; KG 21 U 122/18, S. 27ff. In diesem KG Urteil wird insbesondere unter Berücksichtigung von BGH, VII ZR 18 5/98 geschlossen, dass es letztlich keine terminliche Pflichten sondern ausschließlich Obliegenheiten des Auftraggebers gibt. Vgl. Kapellmann (2017), Rdn. 1250 und 1274ff., Die Autoren vertreten dazu eine andere Auffassung, da sie neben Pflichten und Obliegenheiten auch Nebenpflichten unterscheiden, die letztlich den Pflichten zugeordnet werden und somit zu Schadensersatzansprüchen führen können. In § 5 Abs. 4 VOB/B ist der Schadensersatzanspruch explizit nur für den Auftraggeber erwähnt. Vgl. Čadež (2017), S. 89ff.; Čadež (2014b), S. 274-279; Čadež (2018b), S. 584f.

36 Berechnung der Höhe des dezidierten Schadensersatzanspruchs bei Bauzeitansprüchen

507

• Vollständigkeit (z.B. Berücksichtigung aller Kosten und keine Berücksichtigung von Kosten, die nicht angefallen sind), • Einheitlichkeit (z.B. kein Wechsel von Kosteneinflussfaktoren bei der Berechnung von Mehrvergütungsansprüchen in Abhängigkeit von der Anspruchsgrundlage, beispielsweise bei Sach- und Bauzeitnachträgen), • Eindeutigkeit (z.B. Unabhängigkeit vom Vertragstyp sowie Wahl von baubetriebswirtschaftlich richtigen Kosteneinflussfaktoren in der Nachtragskalkulation) und • Disjunktheit (z.B. keine Doppelung der Kosten). Das vertragliche Gleichgewicht ist unter Beachtung dieser Grundsätze auch nach Änderungen der zu erbringenden Leistung beizubehalten. Dies ist insbesondere dann sichergestellt, wenn der Angebotspreis von Anfang an so ermittelt worden wäre, so dass alle erst nach Vertragsabschluss angefallenen Änderungen bereits vor Ermittlung des Angebotspreises bekannt gewesen wären. Dies ist allerdings nur dann richtig – und hier liegt der Kern des Missverständnisses –, wenn die Auftragskalkulation entweder von Anfang an baubetriebswirtschaftlich „richtig“ für die Fortführung der Kalkulation erstellt wurde oder die nach den individuellen Vorgaben der Geschäftsleitung erstellte Auftragskalkulation mit den „richtigen“ Kosteneinflussfaktoren14) fortgeführt wird. Ist die Auftragskalkulation nicht „richtig“ kalkuliert worden, muss dies im Nachhinein für die Berechnung der Mehrvergütungsansprüche geändert werden. Dabei sind weiterhin die kalkulierten Kosten (EKT, BGK, AGK) sowie der Prozentsatz für Gewinn soweit möglich zu berücksichtigen. AGK werden in der Auftragskalkulation auf dem Schlussblatt kalkuliert und können projektspezifisch von der Unternehmensleitung beispielsweise in Abhängigkeit der Bauleistung, der Bauzeit, der Lohnkosten, der Dauer des Einsatzes der kritischen Produktionsfaktoren oder auch als Fixkosten festgelegt werden. Um das Gleichgewicht zwischen Leistung und Vergütung auch bei Mehrvergütungsansprüchen zu wahren, müssen die AGK daher mit den richtigen Kosteneinflussfaktoren (die die Grundsätze der Kostenrechnung erfüllen) fortgeführt werden. Geschieht dies nicht, so ist das Gleichgewicht gefährdet und es entstehen ungewollt für eine der beiden Vertragsparteien finanzielle Nachteile und für die andere Vertragspartei finanzielle Vorteile. Aufwand (externes Rechnungswesen) und Kosten (internes Rechnungswesen) werden in diesem Beitrag vereinfachend gleichgesetzt, obwohl sie sich durch Zusatzkosten und neutralen Aufwand15) unterscheiden (z.B. bezüglich der Höhe der Abschreibung, kalkulatorische Verzinsung und kalkulatorische Risiken sowie des betriebsfremden und außerordentlichen Aufwands). Von Bedeutung ist dies bei der Berechnung der Höhe des Schadensersatzanspruches, da für die Berechnung die aufwandsgleichen Kosten von Bedeutung sind. In der Rechtsprechung16) wurde aus baubetriebswirtschaftlicher Sicht zurecht festgestellt, dass die Höhe des Schadensersatzes nicht der Höhe des Entschädigungsanspruchs entspricht und dass dies auch nicht erforderlich ist. Auch müssen mit beiden Anspruchsgrundlagen nicht alle entstandenen Kosten gedeckt werden: beim Schadensersatz werden beispielsweise die Zusatzkosten nicht berücksichtigt und beim Entschädigungsanspruch, der auf der Auftragskalkulation beruht, werden die Kosten fortgeführt, die entweder höher oder geringer als die tatsächlich angefallenen Kosten in der Gewinn- und Verlustrechnung 14) 15) 16)

Vgl. Čadež (2014b), S. 276f., Čadež (2017), S. 79ff.; Čadež (2018b), S. 585 Vgl. Wöhe (2010), S. 700-702 BGH VII ZR 16/17, Rdn. 27, 28, 30f.; KG 21 U 122/18, S. 8, 13

508

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

sind. Beim Entschädigungsanspruch werden auch Mehrkosten, die nach Verzugsende anfallen, nicht berücksichtigt. Aus baubetriebswirtschaftlicher Sicht ist die Berechnung der Höhe der Mehrvergütungsansprüche für AGK über die Dauer des Einsatzes der kritischen Produktionsfaktoren17) als Kosteneinflussfaktor am besten geeignet, da die kritischen Produktionsfaktoren nicht kurzfristig oder beliebig erweiterbar sind und die maximal mögliche Anzahl von Baustellen eines Bauunternehmens definieren. Es können nur so viele Baustellen bzw. Werkverträge abgewickelt werden, wie viele Bauleiter/-innen bzw. Projektleiter/-innen vorhanden sind. Für jede Bauleistung und jeden Auftragnehmer sind die kritischen Produktionsfaktoren spezifisch festzulegen. Insgesamt bedeutet dies, dass AGK, die beispielsweise in der Auftragskalkulation in Abhängigkeit von der Bauleistung oder der Bauzeit ermittelt wurden, bei Mehrvergütungsansprüchen so nicht fortgeführt werden dürfen, da das vertragliche Gleichgewicht zwischen Leistung und Vergütung nicht beibehalten werden würde. Dies liegt unter anderem daran, dass die Grundsätze der Kostenrechnung (beispielsweise Disjunktheit und Vollständigkeit) bei der Berechnung der Höhe der Mehrvergütungsansprüche nicht eingehalten werden. Oder konkreter: der Auftraggeber zahlt entweder zu viel (doppelt) oder zu wenig AGK bzw. der Auftragnehmer erhält entweder zu viel oder zu wenig AGK im Vergleich zu den „kalkuliert oder tatsächlich“ entstandenen AGK.18)

36.3.3

Äquivalenzverfahren

Das Äquivalenzverfahren19) beruht auf dem Prinzip, dass sich die vereinbarte Vertragsleistung und die im Vertrag vereinbarte Vergütung in einem Gleichgewicht befinden und dieses Gleichgewicht auch nach einer Leistungsänderung Bestand haben soll.20) Eine Anwendung ist daher beispielsweise sowohl in der Angebots- und Nachtragskalkulation als auch in der Baustellenergebnisrechnung sinnvoll. Der wesentliche Vorteil des Äquivalenzverfahrens liegt insbesondere in der Berechnung der Höhe der Mehrvergütungsansprüche bei AGK und ist sowohl beim Schadenersatzanspruch – der in diesem Beitrag im Vordergrund steht –, beim Entschädigungsanspruch als auch bei Mehrvergütungsansprüchen nach § 2 Abs. 5 VOB/B anwendbar. Hervorzuheben ist bei der Ermittlung der Höhe der AGK beim Entschädigungsanspruch und beim Mehrvergütungsanspruch nach § 2 Abs. 5 VOB/B, dass zum einen in beiden Fällen die in der Auftragskalkulation ermittelte Höhe der AGK berücksichtigt wird. Zum anderen soll beim Äquivalenzverfahren die Berechnung der Höhe des Mehrvergütungsanspruchs für AGK21) mit kostentheoretisch geeigneten Kosteneinflussfaktoren fortgeführt werden. Dies sind die kritischen Produktionsfaktoren, deren Bedeutung nachfolgend kurz erläutert wird. In diesem Fall werden sowohl doppelte Zahlungen bzw. zu hohe Zahlungen von AGK als auch zu niedrige AGK-Zahlungen vermieden und das vertragliche Gleichgewicht wird gewahrt. 17) 18) 19) 20) 21)

Vgl. Čadež (2014a), S. 142f.; Čadež (2014b), S. 277f.; Čadež (2015a), S. 199; Čadež (2017), S. 79ff.; Čadež (2018b), S. 584f. Vgl. Čadež (2015a), S. 197f.; Čadež (2015b), S. 203ff. Vgl. Čadež (2016b), S. 3-8; Čadež (2018b), S. 584f. Vgl. Kapellmann (2017), Rdn. 601. An dieser Stelle werden vier Ausnahmen genannt, bei denen das Prinzip überprüft werden muss. Die Berechnung der Höhe der AGK bei Mehrvergütungsansprüchen nach dem Äquivalenzverfahren ist sowohl bei Ansprüchen nach der VOB/B als auch nach dem BGB anwendbar.

36 Berechnung der Höhe des dezidierten Schadensersatzanspruchs bei Bauzeitansprüchen

509

Die Bedeutung der Produktionsfaktoren wird sowohl von Opitz22) im Jahr 1940 als einer der Väter der heute bekannten Angebotskalkulation als auch in der Rechtsprechung23) und in zahlreicher baubetrieblicher und baurechtlicher Literatur hervorgehoben. Der wesentliche Unterschied beim Äquivalenzverfahren ist, dass nur die „kritischen Produktionsfaktoren“ als Kosteneinflussfaktoren bei Mehrvergütungsansprüchen für AGK und nicht alle Produktionsfaktoren berücksichtigt werden. An einem Beispiel kann dies nachvollziehbar erläutert werden. Bei einem Schreiner ist nicht die Menge des Holzes oder der Arbeitsmittel für seine maximale Produktionskapazität entscheidend, sondern es werden entweder die Kapazitäten eines besonderen Holzverarbeitungsgerätes oder viel wahrscheinlicher die Anzahl der Fachkräfte bzw. die Anzahl der Arbeitsstunden des Meisters sein. Die Kapazität des kritischen Produktionsfaktors ist letztlich dafür maßgebend, wie viel maximal produziert bzw. verkauft werden kann.24) Aus baubetriebswirtschaftlicher Sicht müssen diese kritischen Produktionsfaktoren daher über ihre Auslastung alle indirekten Kosten tragen, die im Preis der verkauften Produkte enthalten sind. Werden die kritischen Produktionsfaktoren bei Bauzeitansprüchen länger als vertraglich vereinbart in Anspruch genommen – und das ist das Besondere in der Bauproduktion und existiert so in der stationären Industrie und auch in der klassischen Betriebswirtschaftslehre nicht –, müssen konsequenterweise zusätzliche indirekte Kosten vergütet werden, da diese nicht von einem anderen Projekt (aufgrund der verlängerten Bindung im bisherigen Projekt) erwirtschaftet werden können. Hier ist die limitierte Verfügbarkeit des kritischen Produktionsfaktors von entscheidender Bedeutung. Dies ermöglicht es dem Schreiner, trotz der nicht vorhersehbaren Änderungen nach Vertragsabschluss, ein Ergebnis bezüglich der indirekten Kosten entsprechend der vereinbarten vertraglichen Vergütung zu erzielen und nicht eine Vermögensminderung hinnehmen zu müssen. Auch für den Auftraggeber fallen nur SowiesoKosten an, da er diese Kosten auch hätte vergüten müssen, wenn er die Änderungen von Anfang an benannt hätte. Und so ist es auch bei Bauleistungen. Entscheidend ist im Normalfall nicht die Menge des Betons, der Baugeräte oder die Höhe der Nachunternehmerleistungen, die in den meisten Fällen in ausreichendem Maße auf dem Markt zu beschaffen sind. Kritische Produktionsfaktoren können beispielsweise die maximale Einsatzdauer der Bau- oder Projektleiter/-innen (z.B. Baustellentage, -wochen oder -monate), der Spezialgeräte (beispielsweise bei Tunneln) oder auch der Facharbeiter (z.B. bei Ausbaugewerken) sein. Was jeweils der kritische Produktionsfaktor ist oder ob es sogar mehrere sein können hängt unter anderem von der Art der Bauleistung, der Größe des Unternehmens und von den angebotenen Fachleistungen ab. Dies sollte im Vertrag einvernehmlich definiert werden.

36.4

Tatsächlich erforderliche AGK bzw. angemessene Zuschläge für AGK

Unter Beachtung des Äquivalenzverfahrens werden nachfolgend drei Fragen stichwortartig beantwortet, wobei der Schwerpunkt in diesem Beitrag auf der ersten Frage liegt:

22) 23) 24)

Vgl. Opitz (1940), S. 41 und S. 104f. Beispielhaft BGH VII ZR 16/17, Rdn. 33; KG 21 U 122/18, S. 2 und 11 (Produktionsfaktoren), 3 und 16 (Produktionsmittel). Vgl. Schlink (2019), S. 134

510

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

• Wie könnte die Höhe der AGK bei Schadensersatzansprüchen bzw. wie könnten „tatsächlich erforderliche AGK“ in Anlehnung an § 650c BGB unter Berücksichtigung des Äquivalenzverfahrens berechnet werden? Bezüglich der ersten Frage ist die Antwort theoretisch einfach. Die AGK werden nach der Differenztheorie bestimmt bzw. werden genauso wie die tatsächlich erforderlichen Einzelkosten der Teilleistung (EKT) nach § 650c BGB bestimmt. Die hypothetisch tatsächlich angefallenen AGK der vertraglich vorgesehenen Leistung (Bauzeit und Bauleitungs-Wochen) werden von den tatsächlich angefallenen AGK der modifizierten Leistung (Bauzeit plus zusätzlicher Bauzeitanspruch und tatsächliche BauleitungsWochen) subtrahiert. Die tatsächlich angefallenen AGK stammen aus der Buchhaltung und sind als Aufwand in der Gewinn- und Verlustrechnung verbucht. Da die AGK für das gesamte Jahr betrachtet werden, kann die Berechnung mathematisch vereinfacht werden. Die Betrachtung braucht nur für die Dauer des zusätzlichen Bauzeitanspruchs bzw. die Dauer der Behinderung (falls es die gleiche Dauer ist) durchgeführt werden. Ein Berechnungsbeispiel ist im nachfolgenden Abschnitt 36.5 gegeben. Durch das Äquivalenzverfahren und die Berücksichtigung der kritischen Produktionsfaktoren kann der Schaden des Bauunternehmens in Abhängigkeit vom tatsächlichen Bauzeitanspruch und der Dauer des Einsatzes der kritischen Produktionsfaktoren bestimmt werden. Dadurch wird die Problematik der Höhe der AGK-Beträge der anderen Bauaufträge umgangen und eine aus baubetriebswirtschaftlicher Sicht geeignete Zuordnung der AGK erreicht. Die bisher nicht oder kaum für möglich gehaltene Bestimmung des Schadensersatzanspruchs wird dadurch ermöglicht. Exkurs: Da es aus Zeitgründen meistens nicht sinnvoll ist bis Ende des Jahres bzw. bis Anfang des nachfolgenden Jahres zu warten (bis die erforderlichen Informationen vorliegen), könnte als Berechnungsgrundlage auch der Abnahmezeitpunkt gewählt werden. In diesem Fall müssten die AGK und die Baustellenwochen der Bauleiter/-innen bis zu diesem Zeitpunkt ermittelt und auf das Jahr qualifiziert hochgerechnet bzw. bis Jahresende geschätzt werden. Würde dies nicht gemacht, würden beispielsweise Einmalzahlungen für die AGK nach diesem Zeitpunkt nicht in die Berechnung einfließen obwohl sich der Aufwand für AGK auf ein ganzes Jahr (Abrechnungsperiode) bezieht. • Wie sind angemessene Zuschläge für AGK bei Mehrvergütungsansprüchen nach dem Äquivalenzverfahren zu bestimmen? Die zweite Frage ist auch relativ einfach zu beantworten. Da explizit Zuschläge für AGK nach § 650c BGB gefordert werden, fallen nach dem Äquivalenzverfahren bei Mehrvergütungsansprüchen ohne zusätzlichem Bauzeitanspruch keine AGK an, da sich weder Bauzeit noch die Dauer des Einsatzes der kritischen Produktionsfaktoren geändert haben. Beim Auftragnehmer fallen keine zusätzlichen Mehrkosten an. Sind zusätzliche Bauzeitansprüche vorhanden, so hängt die Höhe des Zuschlags für AGK von der Dauer des zusätzlichen Bauzeitanspruchs und von der Dauer des Einsatzes der kritischen Produktionsfaktoren ab. Des Weiteren wird angenommen, dass der Betrag der AGK in der Auftragskalkulation für die weitere Berechnung berücksichtigt wird. Die alternative Berechnung der Höhe der AGK in Anlehnung an den Schadensersatzanspruch wird aufgrund der expliziten Nennung des Zuschlags für AGK bei dieser Fragestellung nicht weiter verfolgt. Die Höhe der AGK bei Mehrvergütungsansprüchen wird aus der Multiplikation des Betrages der AGK in der Auftragskalkulation mit der Dauer des Einsatzes der kritischen Produktionsfaktoren für den gesamten Bauzeitanspruch (vertragliche Bauzeit plus zusätzlicher Bauzeitanspruch) ermittelt und durch die Dauer des Einsatzes der kritischen Produktionsfaktoren die vertragliche Bauzeit dividiert.

36 Berechnung der Höhe des dezidierten Schadensersatzanspruchs bei Bauzeitansprüchen

511

• Was bedeutet das Äquivalenzverfahren für die Berechnung der Höhe des Entschädigungsanspruchs? Das Äquivalenzverfahren kann wie bei der Ermittlung der Höhe der AGK nach § 2 Abs. 5 VOB/B angewendet werden (siehe dazu das Berechnungsbeispiel in Abschnitt 36.5.2).25) Nach neuer Rechtsprechung26) wird die Anwendung des § 2 Abs. 5 VOB/B bei Mehrvergütungsansprüchen aus Bauzeitansprüchen bestätigt, allerdings unter der Voraussetzung, dass der Auftraggeber dem Auftragnehmer die Umstände anzeigt. Entscheidend ist auch, dass die Berechnung der Höhe des Mehrvergütungsanspruchs für AGK nicht nach dem prozentualen Zuschlag einer Teilleistung vorgenommen, sondern der Angebotspreis aus dem Schlussblatt der Auftragskalkulation betrachtet wird. Die wenigen Erläuterungen der aktuellen Rechtsprechung27) zu diesem Thema sind aus baubetriebswirtschaftlicher Sicht kritisch zu sehen.

36.5

Beispielrechnung

36.5.1

Annahmen

Im nachfolgenden Beispiel ist die Berechnung der Höhe der tatsächlichen AGK bei einem Schadensersatzanspruch dargestellt und erläutert. Folgende Rahmenbedingungen sind dem Beispiel zugrunde gelegt: • Für das Jahr X plant das Bauunternehmen Herstellkosten in Höhe von 20 Mio. Euro. • Die AGK des Bauunternehmens sind für das Jahr X in Höhe von 2 Mio. Euro angesetzt. • Daraus ergibt sich nach der Berechnung von Opitz ein prozentualer Zuschlag für AGK in der Auftragskalkulation ein Wert in Höhe von 10 % der Herstellkosten. • Das Bauunternehmen verfügt über konstant 8 Bauleiter/-innen im Jahr X. • Für den nachfolgend betrachteten Bauvertrag im Jahr X wurde auf dem Schlussblatt ein AGK-Betrag in der Auftragskalkulation in Höhe von 160.000 Euro kalkuliert. • Die vertragliche Bauzeit im Jahr X beträgt 32 Wochen. In dieser Zeit ist aus Vereinfachungsgründen konstant 1 Bauleiter/-in erforderlich. • Während der Bauausführung kommt es zu einer Behinderung, die zu einem von beiden Vertragsparteien anerkanntem Bauzeitanspruch des Auftragnehmers von 4,4 Wochen führt. • Andere Bausolländerungen liegen nicht vor. • Die zeitabhängige BGK sind in der Auftragskalkulation mit 10.000 Euro/Woche angesetzt. • Ein Zuschlag für Gewinn wurde in der Auftragskalkulation nicht berücksichtigt. Für die Anwendung des Äquivalenzverfahrens ist vorab nachfolgende Nebenrechnung durchzuführen, um die wöchentliche Deckung der AGK durch die kritischen Produktionsfaktoren – hier die Bauleitung (vertraglich vereinbart) – zu berechnen:

25) 26) 27)

Vgl. Čadež (2018b), S. 586ff.; Čadež (2016b), S. 5ff. KG, 21 U 122/18, S. 22 BGH VII ZR 16/17, KG, 21 U 122/18

512

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

• Unter Berücksichtigung der Bauleitung als kritischen Produktionsfaktor kann das Bauunternehmen im Jahr X maximal so viele Baustellen oder Herstellkosten abwickeln, wie viel die 8 Bauleitern/-innen (BL) in beispielsweise jeweils 50 Wochen/Jahr (Auslastung nach Vorgabe der Geschäftsleitung) schaffen; insgesamt stehen dem Bauunternehmen daher 400 Bauleitungs-Wochen/Jahr zur Verfügung. Dabei sind die 400 Wochen/Jahr von der Höhe der beauftragten oder tatsächlich erbrachten Bauleistung unabhängig. • Dies bedeutet, dass in diesem Bauunternehmen ein Bauleiter/-in pro Woche 5000 Euro für AGK erwirtschaften muss. Erläuterung: Die AGK im Bauunternehmen in Höhe von 2 Mio. Euro im Jahr X werden durch die maximal zur Verfügung stehenden 400 Bauleitungs-Wochen/Jahr dividiert. • Für das Beispielprojekt bedeutet das, dass in den 32 Wochen Bauzeit (* 5.000 Euro/Woche =) 160.000 Euro (siehe oben bei Rahmenbedingungen) erwirtschaftet werden müssen, was so auch in der Auftragskalkulation angesetzt war.28) • Exkurs a) Wären die kalkulierten Herstellkosten in der Auftragskalkulation mit 1,7 Mio. Euro anstatt 1,6 Mio. Euro ermittelt worden, würden bei der Ansetzung von 10 % der Herstellkosten für AGK 170.000 Euro für AGK kalkuliert werden. Nach dem Äquivalenzverfahren wäre es allerdings bei den 160.000 Euro geblieben, da die Höhe der Herstellkosten nicht von Bedeutung ist. • Exkurs b) Wären die kalkulierten Herstellkosten in der Auftragskalkulation mit 1,5 Mio. Euro anstatt 1,6 Mio. Euro ermittelt worden, würden bei der Ansetzung von 10 % der Herstellkosten für AGK 150.000 Euro für AGK berechnet werden. Nach dem Äquivalenzverfahren wäre es weiterhin bei 160.000 Euro geblieben.

36.5.2

Ermittlung der Höhe der AGK nach § 2 Abs. 5 VOB/B

In diesem Abschnitt wird kurz auf den Exkurs a) und b) aus Abschnitt 36.5.1 eingegangen. Wenn Mehrvergütungsansprüche aus Bauzeitansprüchen nach § 2 Abs. 5 VOB/B ermittelt würden, würde bei der Fortführung des 10 %igen Zuschlags für AGK nach dem Bauleistungsverfahren29) oder alternativ nach dem Äquivalenzverfahren die Höhe des Mehrvergütungsanspruchs für AGK wie folgt bestimmt werden: • Für den betrachteten Fall oder auch für Exkurs a) und b): Fortführung der Auftragskalkulation nach dem Bauleistungsverfahren mit 44.000 Euro für BGK (4,4 Wochen * 10.000 Euro/Woche), so dass für AGK jeweils 4.400 Euro (10 % von 44.000 Euro) anfallen. • Fortführung der Kalkulation nach dem Äquivalenzverfahren für AGK, wobei zu differenzieren ist, wie viel AGK auf dem Schlussblatt ermittelt wurden: • Betrachteter Fall: 160.000 Euro / 32 Wochen (= 5.000 Euro) * 4,4 Wochen = 22.000 Euro • Exkurs a): 170.000 Euro / 32 Wochen (= 5.312,50 Euro) * 4,4 Wochen = 23.375 Euro • Exkurs b): 150.000 Euro / 32 Wochen (= 4.687,50 Euro) * 4,4 Wochen = 20.625 Euro Es ist darauf hinzuweisen, dass bei der Anwendung des Äquivalenzverfahrens der kalkulierte Betrag für AGK Grundlage für die weitere Berechnung ist und daher drei unterschiedliche Ergebnisse herauskommen, während beim Bauleistungsverfahren nur der 28) 29)

Vgl. Čadež (2014a), S. 139-144; Čadež (2016a), S. 3-9 Vgl. Čadež (2015a), S. 197; Čadež (2015b), S. 203ff.

36 Berechnung der Höhe des dezidierten Schadensersatzanspruchs bei Bauzeitansprüchen

513

Prozentsatz bezogen auf die Herstellkosten von Bedeutung ist und daher in allen drei Fällen dasselbe Ergebnis berechnet wird. Anzumerken ist auch, dass der ermittelte Betrag für AGK nach dem Bauleistungsverfahren nicht die AGK im Unternehmen decken würde.

36.5.3

Ermittlung der Höhe des Schadenersatzanspruchs nach BGB

Um die Höhe des Schadensersatzanspruchs berechnen zu können sind zwei Informationen erforderlich. Dies ist zum einen die in der Gewinn- und Verlustrechnung im Jahr X als Aufwand tatsächlich angefallenen und somit nachweisbaren AGK. Zum anderen sind die tatsächlich angefallenen Baustellenwochen der 8 Bauleiter/-innen im Jahr X anzugeben.30) Des Weiteren ist die Dauer der Behinderung mit 4,4 Wochen einvernehmlich festgelegt. Im Folgenden werden jeweils drei Szenarien für die Höhe der tatsächlich angefallenen AGK im Bauunternehmen und die tatsächlich angefallenen Baustellenwochen der 8 Bauleiter/-innen im Jahr X aufgezeigt (siehe Abb. 36-1): • Die tatsächlich angefallenen AGK des Jahres X betragen im Szenario 1: 1.700.000 Euro (300.000 Euro weniger als geplant), im Szenario 2: 2.000.000 Euro (wie geplant) und im Szenario 3: 2.300.000 Euro (300.000 Euro mehr als geplant). • Die tatsächlich angefallenen Baustellenwochen für die 8 Bauleiter/-innen im Jahr X betragen im Szenario 1: 384 Wochen (16 Wochen weniger als geplant), im Szenario 2: 400 Wochen (wie geplant) und im Szenario 3: 416 Wochen (16 Wochen mehr als geplant). • Die Bauzeit einschließlich Fristverlängerung beträgt insgesamt 36,4 Wochen (30 Tage oder 4,4 Wochen mehr als die vertragliche Bauzeit von 32 Wochen). In einem ersten Schritt sind nun die tatsächlich angefallenen AGK des Jahres X (beispielsweise 1.700.000 Euro) auf die tatsächlich angefallenen Bauleitungs-Wochen (beispielsweise in Höhe von 384 Wochen) für die 8 Bauleiter/-innen umzulegen; daraus ergibt sich für eine Bauleitungs-Woche ein Betrag in Höhe von 4.427,08 Euro (siehe Abb. 36-1). In einem zweiten Schritt ist die Dauer der Behinderung bzw. die Fristverlängerung in Höhe von 4,4 Wochen mit dem ermittelten Betrag für eine Bauleitungs-Woche in Höhe von 4.427,08 Euro zu multiplizieren. Daraus ergibt sich für die Dauer der Behinderung ein Gesamtbetrag in Höhe von 19.479,15 Euro als Schadensersatzanspruch für AGK. In Abb. 36-1 ist die Ergebnismatrix für die Höhe des Schadensersatzanspruchs für AGK für die drei Szenarien bezüglich der tatsächlich angefallenen AGK und BauleistungsWochen im Jahr X dargestellt. Der Gesamtbetrag für die Höhe des Schadensersatzanspruchs für AGK variiert dabei für die neun gewählten Varianten zwischen minimal 17.980,78 Euro und 26.354,15 Euro.

30)

Die Höhe der kalkulierten AGK in der Auftragskalkulation ist für die Berechnung der Höhe des Schadensersatzanspruchs nicht mehr von Bedeutung, anders als nach § 2 Abs. 5 VOB/B, wo die Auftragskalkulation die Grundlage für die Berechnung von Mehrvergütungsansprüchen ist.

514

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

dĂƚƐćĐŚůŝĐŚĂŶŐĞĨĂůůĞŶĞ ' 0,1 m³ als Findlinge definiert, die unerwartet aufgetreten sind. Der besagte Sachverständige hat in Kenntnis der Erdbaunorm und entgegen den unstrittigen Fakten aus eigener Machtvollkommenheit festgelegt, dass Findlinge erst bei Gesteinsmassen > 1 m³ vorliegen. Man glaubt es nicht: Das OLG Innsbruck hat das erstinstanzliche Urteil, das die Ansicht des Gerichtssachverständigen übernommen hat gehalten. Da fällt einem nur mehr der Zauberlehrling ein: „Die ich rief die Geister, die werd ich nun nicht los.“

39.7.2

Der Gerichtsauftrag an den Sachverständigen

Die oftmals geübte Praxis der Gerichte einem Sachverständigen den Auftrag zu erteilen er möge feststellen, ob „das Bauwerk mangelfrei“ sei oder „das beidseitige Vorbringen zu überprüfen“ ist, trägt nicht zur Verfahrensbeschleunigung bei.15) Schiller weist zutreffend darauf hin, dass der Sachverständige in solchen Fällen auf eine Klarstellung durch den Richter hinwirken muss.16) Ein solcher unbestimmter Auftrag sei von Sachverständigen zu befolgen, weil der Richter berechtigt ist, von Amts wegen alle Beweise aufzunehmen, von denen er überzeugt ist, dass sie mit den strittigen Tatfragen in Zusammenhang stehen. Er empfiehlt allerdings, einen derartigen Auftrag beim Richter zu hinterfragen, um unnötige Weiterungen und Verzögerungen des Verfahrens zu vermeiden.17) Abhilfe Würden die Gerichte dem Sachverständigen präzise Aufträge erteilen und die Überprüfung unschlüssig vorgebrachter Sachverhalte vom Gutachtensauftrag ausnehmen, hätte diese Vorgangsweise erzieherische Wirkung. Dazu müssten die Gerichte die Zivilprozessordnung nur richtig handhaben, weil dem Sachverständigen ein Ausforschungsoder Erkundungsbeweis untersagt ist.18)

39.7.3

Qualitätssicherung bei der Zertifizierung von Sachverständigen

In den allermeisten Verfahren ist die Beiziehung von Sachverständigen erforderlich. Leider ist die Qualität der Sachverständigen sehr unterschiedlich. Der Verfasser möchte sich nicht anmaßen, die technischen Kenntnisse von Sachverständigen zu beurteilen. Sehr 14) 15) 16) 17) 18)

Karasek (2012), S. 113; Heck (2013), S. 6ff. Vgl. Heck (2013), S. 6f. Vgl. Schiller (2013), S. 163ff. Vgl. Schiller (2013), S. 163ff. Vgl. Schiller (2013), S. 163ff.

550

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

wohl kann der Jurist aber die Effizienz der Bearbeitung, die Strukturierung und Nachvollziehbarkeit, die Schlüssigkeit der Begründung sowie die sprachliche Klarheit der Gutachten beurteilen. Leider fehlen diese Grundvoraussetzungen viel zu oft. Dann stößt das Gerichtsverfahren an seine Grenzen. Trotz mehrfacher Ergänzungsfragen an den Gerichtssachverständigen, die das Verfahren in die Länge ziehen, kommt es immer wieder vor, dass Urteile auf nicht nachvollziehbaren Faktengrundlagen beruhen.19) Um Missverständnisse zu vermeiden: diese Aussagen sollen nicht als pauschale Schelte aller Sachverständigen verstanden werden. Es ist nur der Apell die Spreu vom Weizen zu sondern. Auch Saria hat sich in einem Aufsatz eingehend mit der Qualität von Gutachten befasst. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Gutachten der Aufgabe, Laien auf dem betreffenden Fachgebiet (Entscheidungsorganen, Verfahrensbeteiligten und deren Vertretern) komplexe Sachverhalte und deren auf besonderer Sachkunde beruhende Beurteilung darzustellen, nur dann gerecht werden, wenn sie systematisch aufgebaut, schlüssig und nachvollziehbar sind.20) Dazu gehöre auch die Fähigkeit und Bereitschaft, sich sprachlich exakt und verständlich auszudrücken. Von Verfahrensbeteiligten könne nur dann die Akzeptanz eines Gutachtens und das Vertrauen in die Sachverständigentätigkeit erwartet werden, wenn sie in die Lage versetzt werden, die Ausführungen zu verstehen und sich mit ihnen näher auseinandersetzen zu können, auch wenn diese Forderung in gleichem Maße für das Verfahren und die Entscheidungen der Rechtsprechungsorgane gültig ist, so gebiete schon der Grundsatz des fairen Verfahrens bereits in diesem meist früheren Verfahrensabschnitt die Einhaltung dieses Qualitätskriteriums.21) Abhilfe Positiv hervorzuheben ist, dass in Österreich das System der Zertifizierung und Rezertifizierung der Sachverständigen eingeführt wurde.22) Grundvoraussetzung jeder Sachverständigentätigkeit ist das Vorliegen ganz besondere Kenntnisse auf einem bestimmten Fachgebiet. Mitunter gewinnt man aber den Eindruck, dass dem von Saria genannten Qualitätskriterium im Zuge der Zertifizierung und Rezertifizierung nicht immer genügend Aufmerksamkeit gewidmet wird. Zutreffend weist Saria auch darauf hin, dass es zu kurz gegriffen wäre, die Eignung von Sachverständigen nur aus dem Umstand ableiten zu wollen, ob, wie oft und auf welche Weise Gutachtensaufträge von Gerichten und staatsanwaltschaftlichen Behörden erfolgreich entsprochen wurde. Treffend formuliert er: „Selbst ein Nobelpreisträger muss nicht immer zugleich die Eignung zum Gerichtssachverständigen aufweisen.“23) Auch die Fähigkeit und Bereitschaft, sich sprachlich exakt und verständlich auszudrücken, sollte stärker als bisher in das Bewusstsein der für die Zertifizierung zuständigen Präsidentinnen und Präsidenten der zuständigen OLG treten.

39.8

Keine Fachsenate für Bausachen

Leider können Richter, die naturgemäß selbst baufachliche Laien sind, nur selten die Überzeugungskraft sachverständiger Ausführungen zu bautechnischen Zusammenhängen eigenständig beurteilen, weil sie hierzu gar nicht in der Lage sind.24) Dies soll nicht als 19) 20) 21) 22) 23) 24)

Vgl. Karasek (2018), S. 951ff. Vgl. Schiller (2013), S. 163ff. Vgl. Saria (2012), S. 169ff. Vgl. Schiller (2013), S. 163ff. Vgl. Saria (2012), S. 169ff. Vgl. Sundermeier (2016), S. 165; Vgl. Oberndorfer (2010), S. 118

39 Der Bauprozess

551

pauschale Kritik an der Richterschaft missverstanden werden. Um technische Sachverständigengutachten und die umfangreiche Fachsprache der Bauwirtschaft zu verstehen, sind zumindest Grundkenntnisse der Technik und der – mitunter komplizierten – Preiskalkulation erforderlich. Es ist den Richtern daher nicht zu verdenken, dass sie das gerichtliche Sachverständigengutachten in vielen Fällen ohne eigene Beurteilung im Urteil übernehmen. Die Aussage, dass Richter nur selten in der Lage sind bautechnische Zusammenhänge eigenständig zu beurteilen, ist vielmehr als Kritik am System zu verstehen. Abhilfe Es ist unverständlich, dass die Gerichte in Zeiten immer stärker werdender Spezialisierung in allen Rechtsbereichen nicht bereits bei den erstinstanzlichen Gerichten Bauabteilungen einrichten. Es wäre auch an der Zeit darüber nachzudenken, ob nicht beim OGH ein eigener Fachsenat für Bauwerkvertragsrecht nach dem Vorbild der Bundesrepublik Deutschland geschaffen werden soll. Es ist nicht einzusehen, warum Arbeitsrechtssenate, Mietrechtssenate, Familienrechtssenate, Urheberrechts- und Theatersenate, Senate für Fragen des Wasserrechtsgesetzes, des Fischereirechts, des Domainrechts u.v.a. in Spezialmaterien tätig werden,25) im Bauwerkvertragsrecht aber zehn Zivilsenate des OGH hochkomplexe bauwirtschaftliche und technische Fragen lösen müssen.26) Immer wieder hört man das Gegenargument, dass das Werkvertragsrecht nicht so kompliziert sei, um Fachsenate installieren zu müssen. Das ist richtig, darum geht es aber nicht. Das gleiche Argument könnte man bei Fachsenaten für Fischereirecht ins Treffen führen. Es geht vielmehr darum, ein fachübergreifendes Know-how aufzubauen.

39.9

Mehrparteienverfahren

Da sich Auftraggeber und Auftragnehmer zahlreicher Erfüllungsgehilfen bedienen, sind Gerichtsverfahren selten geworden, in denen sich die beiden Kontrahenten alleine gegenüberstehen. In der Regel erfolgten Streitverkündigungen an die Erfüllungsgehilfen. Solche Mehrparteienverfahren tragen nicht zur Beschleunigung der Verfahren vor staatlichen Gerichten bei. Besonders problematisch ist jedoch die Pflicht der unterliegenden Partei, alle Kosten der auf der Gegenseite beteiligten Nebenintervenienten zu ersetzen. Diese gesetzliche Regelung ist nicht sachgerecht, weil nicht einzusehen ist, warum die unterlegene Partei für Kosten aufkommen soll, die ausschließlich in der Sphäre der Gegenpartei entstanden sind. Die Beteiligung der Nebenintervenienten dient ausschließlich der Klärung von Regressansprüchen zwischen der Gegenpartei und ihren Subunternehmern. In der Regel hat die im Verfahren unterlegene Partei auch keinen Einfluss auf ihren (im Verfahren obsiegenden) Vertragspartner in Bezug auf die Bestellung und die Anzahl seiner Subunternehmer. Abhilfe Zur Änderung der Rechtslage ist der Gesetzgeber aufgerufen.

25) 26)

Vgl. www.ogh.gv.at/der-oberste-gerichtshof/geschaeftsverteilung/ Datum des Zugriffs: 13.9.2017 Vgl. Karasek (2018), S. 951ff.

552

39.10

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Überlastung der Gerichte

Die lange Verfahrensdauer ist nicht zuletzt durch die allgemeine Überlastung vieler Gerichte erklärbar. Dies ist aber kein Spezifikum von Bauverfahren. Hier ist die Justizverwaltung und die Politik aufgerufen. In Anbetracht der hohen Gerichtsgebühren ist eine ausreichende Personalausstattung der Gerichte keine vermessene Forderung.

39.11

Zusammenfassung

Auftraggeber sollten ihre Regelungswut zügeln. Gute Verträge zeichnen sich nicht durch ihren Umfang aus, sondern durch Klarheit und Widerspruchsfreiheit ihrer Regelungen. Auch ein gutes Leistungsverzeichnis kann zur Reduktion des Konfliktpotenzials beitragen. Alle kalkulationsrelevanten Umstände sollten im Leistungsverzeichnis beschrieben werden. Professionelle Auftraggeber sollten Planerleistungen nicht in Einzelvergaben vergeben, wenn sie im eigenen Unternehmen nicht über ausreichende personelle Ressourcen mit Erfahrung in der Integration der Bau- und Haustechnikplanung verfügen. Gefragt sind klare Entscheidungsstrukturen und der Mut zur Entscheidung durch den Projektverantwortlichen. Mit der fehlenden Auskömmlichkeit der Honorare kommt es zu einem Qualitätsverlust durch eine reduzierte Planungstiefe und Planungsgenauigkeit und die tendenzielle Steigerung von Fehlern und Mängeln. Auftraggeber, die den Kopf der ausführenden Unternehmen unter Wasser drücken, dürfen sich nicht wundern, wenn der erste Nachtrag bereits am Tag der Vertragsunterfertigung in der Schublade liegt. Leben und leben lassen wäre als Motto der Vertragsgestaltung wirtschaftlich vernünftiger. Auch Auftragnehmer, die absurde Forderungen stellen, könnten einen Beitrag zur Senkung der Streitbereitschaft leisten, wenn sie sich bei der Höhe von bauwirtschaftlichen Nachträgen mäßigen würden. Es ist nicht so, dass Werkunternehmer gar nichts dokumentieren. Es ist vielmehr so, dass sie zum Teil die falschen und zum Teil nicht die rechtlich notwendigen Dinge dokumentieren. Es wäre wünschenswert, wenn sich öffentliche Auftraggeber zunehmend mit außergerichtlichen Streitbeilegungsmechanismen anfreunden könnten. Der Gesetzgeber könnte einen Beitrag zur Entlastung der ordentlichen Gerichte leisten, wenn er sich nicht durch Lobbys beeinflussen ließe, sondern die Normenbindung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge wieder einführe. In Gerichtsverfahren in Punktesachen empfiehlt sich eine vorläufige Beschränkung des Verfahrens auf einzelne tatsächliche Streitpunkte bei der Festlegung des Prozessprogrammes im Rahmen der vorbereitenden Tagsatzung. Auch wenn das Prozessprogramm vom Gericht festgelegt wird, haben die Parteienvertreter die Möglichkeit, eine solche Vorgangsweise anzuregen. Schon bei der Klage und der Klagebeantwortung und den Vorbereitenden Schriftsätzen liegt es in der Hand der Parteien, dem Gericht die Streitpunkte klar und deutlich darzulegen. Hier sind in erster Linie die Rechtsanwälte aufgerufen, sich am Riemen zu reißen.

39 Der Bauprozess

553

Die Gerichte müssten mehr Mut im Umgang mit unschlüssigen Vorbringen haben. Es ist nicht notwendig, dass die Gerichte einer Partei, die ein unschlüssiges Vorbringen erstattet, mehrfache Chancen zur Schlüsselstellung gewähren. Immer häufiger wollen Gerichte am liebsten die Ergebnisse der Sachverständigen als Urteile übernehmen. Die Gerichte sollten jedoch die „Expertokratie“ wieder auf das notwendige Maß reduzieren. Ein „Richter ohne Robe“ ist keine erstrebenswerte Erscheinung in einer rechtstaatlichen Urteilsfindung. Würden die Gerichte dem Sachverständigen präzise Aufträge erteilen und die Überprüfung unschlüssig vorgebrachter Sachverhalte vom Gutachtensauftrag ausnehmen, hätte diese Vorgangsweise erzieherische Wirkung. Die Fähigkeit und Bereitschaft, sich sprachlich exakt und verständlich auszudrücken, sollte stärker als bisher in das Bewusstsein der für die Zertifizierung zuständigen Präsidentinnen und Präsidenten der zuständigen OLG treten. Es wäre auch an der Zeit darüber nachzudenken, ob nicht beim OGH ein eigener Fachsenat für Bauwerkvertragsrecht nach dem Vorbild der Bundesrepublik Deutschland geschaffen werden soll. Mehrparteienverfahren tragen nicht zur Beschleunigung der Verfahren vor staatlichen Gerichten bei. Problematisch ist auch die Pflicht der unterliegenden Partei, alle Kosten der auf der Gegenseite beteiligten Nebenintervenienten zu ersetzen. Der Gesetzgeber ist aufgerufen, diese Rechtslage zu ändern.

39.12

Abkürzungsverzeichnis

OGH

......................... Oberster Gerichtshof

OLG

......................... Oberlandesgericht

39.13

Literaturverzeichnis

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554

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

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40

Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

Dr. Rudolf Lessiak Rechtsanwalt Lessiak & Partner Börseplatz – Börsegasse 10 1010 Wien www.lessiak.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_40

556

40.1

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Abstract

§ 879 Abs 3 ABGB erklärt Vertragsklauseln in AGB dann für nichtig, wenn sie nicht die Hauptleistungen betreffen, aber gröblich benachteiligend sind. Wenige Normen des Vertragsrechts haben eine so umfangreiche und vielfältige Judikatur ausgelöst, wie dieser Tatbestand. Die dennoch kleine Menge dieser Entscheidungen zum Bauvertragsrecht erlaubt es, die wichtigsten dieser Entscheidungen im Rahmen dieser Arbeit darzustellen. In der Folge unternehme ich den Versuch, mithilfe der (von Wilburg in Graz entwickelten) Methode des „beweglichen Systems“ eine Basiswertung herauszuarbeiten, nach der alle drei Tatbestandselemente des § 879 Abs 3 ABGB einheitlich ausgelegt werden können. Entsprechend werden nach dieser Basiswertung die Tatbestandselemente AGB, Nebenleistung und gröbliche Benachteiligung abgehandelt. Wegen der im Bauvertragsrecht dominanten Bedeutung des Vertragsabschlusses im Wege eines wettbewerblichen Verfahrens wird auf diese Besonderheiten vertieft eingegangen.

40.2

Situationsanalyse

Kaum eine Norm des Vertragsrechts prägt die Vertragsgestaltung so nachhaltig wie § 879 Abs 3 ABGB. Das gilt in besonders hohem Maße für das Bauvertragsrecht. Hier ist es der Normalfall, dass der Vertragsabschluss nicht durch mit einem einzigen Bieter ausverhandelten Vertrag, sondern im Wege einer wettbewerblichen Vergabe erfolgt. Damit werden in der Regel die Vertragsbedingungen als AGB im Sinne des § 879 Abs 3 ABGB qualifiziert. Angesichts der restriktiven Judikatur zur Auslegung des weiteren Tatbestandselements der Hauptleistung ist es daher wiederum der Normalfall, dass Vertragsbestimmungen in Bauverträgen nicht erst bei Sittenwidrigkeit iSd § 879 Abs 1 ABGB, sondern bereits bei „gröblicher Benachteiligung“ iSd § 879 Abs 3 ABGB nichtig sind. Das ist nicht nur in der nachprüfenden Kontrolle von hoher Bedeutung. Auch die Vertragsgestaltung wird von der Anforderung geprägt, die Vertragsklauseln so auszuarbeiten, dass sie diesem Nichtigkeitsverdikt nicht zum Opfer fallen. Daher besteht hoher praktischer Bedarf an einer allen drei Tatbestandselementen gemeinsamen Basiswertung, um eine einheitliche und damit möglichst rechtssichere Beurteilung unterschiedlichster Vertragsklauseln unter den Gesichtspunkten des § 879 Abs 3 ABGB zu ermöglichen. Um die Ausarbeitung einer solchen Basiswertung und ihre Anwendung auf die genannte Norm in allen drei Tatbestandselementen (AGB, Hauptleistung und gröbliche Benachteiligung) bemüht sich diese Arbeit mit Schwerpunkt in den Anforderungen des Bauvertragsrechts.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

40.3

557

Ausgangslage und Problemstellung

Auf einen fünfzigjährigen Bestand, wie das Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der TU Graz, den diese Festschrift feiert, kann § 879 Abs 3 ABGB noch nicht zurückblicken. Er wurde gemeinsam mit dem KSchG in Österreich eingeführt und ist auf Verträge anzuwenden, die seit dem 01.10.1979 geschlossen wurden. In diesen immerhin 40 Jahren, in denen diese Norm gröblich benachteiligende Klauseln in AGB mit Nichtigkeit sanktioniert, ist sie zu einer der reichhaltigsten Quellen für eine Judikatur des OGH geworden, die nicht nur in ihrer Menge, sondern auch in ihrer Vielfalt ihresgleichen sucht. Bereits ein Blick in gängige Großkommentare1) belegt diesen Befund, den man in den dort dargebotenen Übersichten2) mit rund dreihundert Entscheidungen in Kürzestfassung bestätigt findet. Da fällt auf, dass aus diesen mehr als 300 Entscheidungen des OGH zu § 879 Abs 3 ABGB nur ein geringer Anteil zum Bauvertragsrecht ergangen ist. Daher ist es im Rahmen dieser Arbeit möglich, auf die mE wichtigsten dieser Entscheidungen gesondert, unter Darstellung der wesentlichen Inhalte in Kürzestform, einzugehen. Darüber hinaus versuche ich, aus dieser reichhaltigen Judikatur Leitlinien für die Gestaltung von Bauvertragsbedingungen im Sinne einer Grenzziehung, was innerhalb des Rahmens des § 879 Abs 3 ABGB zulässig ist und was nicht, zu erarbeiten. Das führt zur Grundsatzfrage, wie das bewegliche System zur Vereinheitlichung der Auslegung dieser Norm beitragen kann. Denn der Gesetzgeber hat ausweislich der Gesetzesmaterialien3) das bewegliche System gezielt in der Ausarbeitung des § 879 Abs 3 ABGB eingesetzt, um die Anwendung dieser (schon in ihrer Entstehung als recht komplex kritisierten Norm) in der Rechtsanwendung zu erleichtern. Ausgangspunkt sind drei Tatbestandselemente der Norm. Zunächst die Anwendungsvoraussetzung, dass die zu prüfende (bzw. auszuarbeitende) Vertragsbestimmung in Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder Vertragsformblättern steht, dann die zweite Anwendungsvoraussetzung, dass diese Vertragsbestimmung nicht eine der beiderseitigen Hauptleistungen festlegt. Sind diese beiden Anwendungsvoraussetzungen erfüllt, dann ist zu untersuchen, ob die (geprüfte oder auszuarbeitende) Vertragsklausel das dritte Tatbestandselement der Norm erfüllt, nämlich dass sie „einen Teil“, nämlich den Adressaten und nicht den Verwender der AGB, gröblich benachteiligt, sodass sie „jedenfalls nichtig“ ist. 1)

2)

3)

Hier werden als Beispiele nur genannt Graf in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.04 § 879 und Krejci in Rummel/Lukas, ABGB4 § 879. Rechtsprechungsüberblick ab Rz 302 bei Graf, ABGB-ON1.04 § 879 sowie ab Rz 386 bei Krejci in Rummel/Lukas, ABGB4. Auch tendenziell zusammengefasste Darstellungen des § 879 Abs 3 ABGB wie etwa Welser/Kletečka, Bürgerliches Recht I15 (2018) Rz 435 f belegen diese Vielfalt eindrucksvoll mit mehr als zwei Dutzend in Kürzestform wiedergegebenen Entscheidungen. Vgl. auch regelmäßig erscheinende Judikaturübersichten, die höchst verdienstvoll die aktuellen Entscheidungen zu § 879 Abs 3 ABGB referieren, wie etwa Sonnberger, Neues zur AGB-Kontrolle: Interessante Klauseln aus der jüngeren Rechtsprechung, ecolex 2018, 620; ecolex 2019, 116. EBRV 744 BlgNR 16. GP, 47.

558

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Diese drei Tatbestandselemente stehen scheinbar autonom nebeneinander. Trotz des in Lehre und Judikatur ganz einhellig vertretenen Standpunktes, dass diese Tatbestandselemente ein „eine objektive Äquivalenzstörung“ und „verdünnte Willensfreiheit“ berücksichtigendes „bewegliches System“ geschaffen hätten4), werden diese drei Tatbestandselemente zumeist recht unabhängig voneinander abgearbeitet. Die im „beweglichen System“ geforderte Berücksichtigung des im konkreten Sachverhalt allenfalls unterschiedlich hohen Gewichts der einzelnen Tatbestandselemente spielt zwar innerhalb der Beurteilung eines einzelnen Tatbestandselements (insbesondere bei der „gröblichen Benachteiligung“), jedoch kaum in einer wertenden Gesamtbetrachtung aller drei Tatbestandselemente eine Rolle. Tatsächlich scheint die Frage, ob eine konkrete Vertragsklausel Teil von AGB ist (oder nicht) durchaus getrennt beurteilbar von der Frage, ob diese Vertragsklausel eine Hauptleistung betrifft oder eine Nebenleistung und ob sie schließlich gröblich benachteiligend ist (oder nicht). Doch dieser erste Blick trügt. Verlässt man den Kernbereich dieser Tatbestandselemente, dann zeigt sich in den Zweifelsfällen sehr rasch, dass eine allen drei Tatbestandselementen gemeinsame Basiswertung der Norm geeignet wäre, viele (wiederum zumindest auf den ersten Blick) in ihrem Ergebnis eher befremdlich wirkende Einzelentscheidungen tragfähig zu begründen – oder eben zu verhindern. Als Beispiele nenne ich etwa aus der Judikatur, dass in einem Vergabeverfahren ausgeschriebene Vertragsbedingungen geradezu „automatisch“ als AGB beurteilt werden5). Ob sie eigens für diese Ausschreibung (und nicht für eine Vielzahl gleichartiger Fälle) verfasst wurden, scheint in der Judikatur ebenso wenig eine Rolle zu spielen, wie der Umstand, dass das bei Verwendung von AGB typisch unterstellte Ungleichgewicht zwischen Anwender und Adressat der AGB wohl dann nicht begründet werden kann, wenn sich der Adressat der AGB zwar nicht auf eine „Verhandlungsbereitschaft“ seines Gegenübers stützt, jedoch die im Vergabeverfahren öffentlicher Auftraggeber vorgesehene Rechtsschutzbehörde gegen die Verwendung bestimmter Vertragsklauseln anrufen kann. Diesfalls wird die Übermacht nicht durch „Verhandlungsbereitschaft“ beseitigt, sondern durch die Möglichkeit dieser Rechtsschutzbehörde, den Anwender schlicht zu zwingen (bei sonstiger Vernichtung seines Vergabeverfahrens), die betreffende Vertragsklausel fallen zu lassen oder zumindest gravierend zu ändern. Aus diesem Standpunkt, dass ausgeschriebene Vertragsbedingungen gleichsam automatisch als AGB qualifiziert werden, folgt, dass es nur in höchst seltenen, praktisch nicht relevanten Ausnahmefällen Bauvertragsbedingungen geben wird, die nicht als AGB qualifiziert werden. Denn es ist der Normalfall der Vergabe eines Bauauftrags, dass nicht mit einem (einzigen) Bauunternehmer verhandelt, sondern eine Mehrheit von Bauunternehmern im Wege einer Ausschreibung zur Angebotslegung eingeladen wird.

4) 5)

Hier wörtlich aus OGH 28.11.2012, 7 Ob 93/12w unter Verweis auf RIS-Justiz RS0014676. Vgl. aus der jüngeren Judikatur OGH 26.06.2018, 10 Ob 17/18z; und obiter in der OGHE vom 25.10.2017, 1 Ob 177/17m unter Verweis auf die Vorjudikatur in RIS-Justiz RS0119323.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

559

Auch wird zu hinterfragen sein, ob in diesen Fällen der Umstand eine Rolle spielt, dass die Vorgabe der Vertragsbedingungen durch den ausschreibenden Auftraggeber nicht Ausdruck seiner „Übermacht“ gegenüber den Adressaten dieser Vertragsbedingungen ist, sondern dem sachlichen Zwang folgt, vergleichbare Angebote zu erhalten und nicht die Vergleichbarkeit der Angebote schon daran scheitern zu lassen, dass ganz unterschiedliche Vertragsbedingungen angeboten werden, insbesondere wenn es sich um die unmittelbar in Geld wirksamen Themen der Haftungsübernahmen, der Vertragsstrafen etc handelt. Weiters ist nicht unmittelbar einsichtig, dass AGB vorliegen, nur weil derjenige, der den Vertragstext vorschlägt, der dann in einer Reihe von Punkten in intensiven Verhandlungen abgeändert wird, in einem Vertragspunkt „hart bleibt“ und nicht bereit ist, dem von seinem Gegenüber in den Verhandlungen mit Nachdruck betriebenen Wunsch auf Änderung dieser Vertragsklausel nachzukommen. Darf gegenüber demjenigen, der (ohne jede Übermacht) in den Verhandlungen nicht nachgegeben hat (bzw. gar nicht nachgeben konnte), wenn man sich doch noch insgesamt einigt, diese eine Vertragsklausel als „AGB“ beurteilt werden?6) Daher geht es in dieser Arbeit um die Frage, ob sich einheitliche Grundwertungen aller drei Tatbestandselemente des § 879 Abs 3 ABGB begründen lassen, die solche Zweifelsfälle lösen bzw. zu ihrer Lösung beitragen. Daher beginne ich mit der Darstellung der wesentlichen Judikatur, in der die Anwendung des § 879 Abs 3 ABGB auf Bauvertragsklauseln zu prüfen war.

40.4

Die Judikatur zu Bauvertragsklauseln

Im Folgenden werden die mE wesentlichen Entscheidungen des OGH, in denen Bauvertragsklauseln7) nach § 879 Abs 3 ABGB geprüft worden waren, in chronologischer Reihenfolge dargestellt. Dabei wird grundsätzlich erörtert, wie der OGH zu jedem der drei Tatbestandselemente der Norm (AGB, Nebenleistung und gröbliche Benachteiligung) Stellung genommen hat. Dies entfällt, wenn das Tatbestandselement AGB völlig unstreitig erfüllt war. Etwa weil aus dem festgestellten Sachverhalt klar hervorgeht, dass die gegenständliche Klausel in 6)

7)

So aber der OGH in seiner Entscheidung vom 18.12.2014, 2 Ob 20/14a. Dort hatte das Erstgericht, das (anders als dann die Instanzgerichte) 879 Abs 3 ABGB in diesem Fall verneint hatte, in seinen (im Instanzenzug unveränderten) Feststellungen festgehalten, dass nach Übersendung des Vertragsentwurfs durch die Vermieterin und Retournierung mit Anmerkungen der Mieterin „… Vertragsverhandlungen (begannen), welche ca. ein halbes Jahr später zum Abschluss“ dieses Vertrages führten. Dabei hatte die Mieterin „diverse Verhandlungserfolge gegenüber dem ursprünglichen Entwurf erwirken können“, die das Erstgericht beispielhaft aufzählte und die nicht nur ein Nachgeben in „geldneutralen“ Klauseln, sondern auch eine Reduktion von Zahlungspflichten enthielten. Die Mieterin „versuchte auch, die in … enthaltenen Regelungen zur Betriebskostenabrechnung zu Gunsten“ der Mieterin zu verändern. Das wurde von der Vermieterin jedoch abgelehnt, die klarstellte, dass das in einem Einkaufszentrum mit weit mehr als hundert Mietern vereinbarte System der Betriebskostenabrechnung für einen einzelnen Mieter nicht verändert werden könne, womit sich die Mieterin schließlich zufrieden gab (BGHS 25.04.2012, 11 C 625/07b – der Autor war am Verfahren beteiligt). Den effizientesten Zugang zur Judikatur des OGH betreffend einzelne Bauvertragsklauseln bietet mE unverändert (seit Erscheinen der Erstauflage im Jahr 2003) durch den großen Vorteil der thematischen Ordnung nach dem System der ÖNORM B 2110 und die umfassende, weit über die hier erörterte Thematik des § 879 Abs 3 ABGB hinausgehende Darstellung Karasek, ÖNORM3 B 2110 (2016).

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Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

den „Allgemeinen Vertragsbedingungen für Bauleistungen“ geregelt wurde, im Verfahren die Qualifikation als AGB nicht streitig war, etc. Gleiches gilt sinngemäß für die Qualifikation als Haupt- oder Nebenleistung. Weiters ist der OGH auf die Prüfung dieser beiden Tatbestandselemente nicht eingegangen, wenn er von vornherein das Vorliegen einer gröblichen Benachteiligung verneinte. In 6 Ob 320/98x8) wurde in den dem Bauauftrag zugrunde liegenden Allgemeinen Vertragsbedingungen für Bauleistungen Punkt 2.229) der ÖNORM B 2110 („Besondere Haftung mehrerer Auftragnehmer“) dahingehend abgeändert, dass für Schäden jedweder Arbeitsleistungen und Lieferungen, deren Urheber nicht feststellbar sind, die Kosten der Wiederherstellung auf alle auf der Baustelle beschäftigten Firmen im Verhältnis der Schlussrechnungssumme zu den Gesamtherstellungskosten aufgeteilt werden. Das Tatbestandselement der gröblichen Benachteiligung hat der OGH bejaht. Denn die von der ÖNORM abweichende Klausel überwälzt nicht nur die den Auftraggeber nach Übernahme der Leistung treffende Gefahr und den gesamten, bestimmten Schädigern nicht zuordenbaren, Schaden auf die Auftragnehmer. Sie verwehrt ihnen überdies, den nach der ÖNORM B 2110 zulässigen Gegenbeweis mangelnder Kausalität. Es sei evident, dass der klagende Auftragnehmer im Verhältnis zur beklagten Stadtgemeinde der schwächere Vertragspartner ist. Der OGH führt weiters aus, dass das hier auftretende auffallende Missverhältnis zwischen der Rechtsposition der Vertragspartner auch dadurch deutlich werde, dass die Auftraggeberin auch die sie nach der gesetzlichen Schadenstragungsregelung treffenden Schäden zur Gänze ersetzt erhalte. Der Auftragnehmer laufe hingegen mangels einer Beschränkung der Haftungshöchstsummen Gefahr, erhebliche Teile seines Entgelts oder sogar seinen gesamten Entgeltanspruch zu verlieren. Dass mit dieser Klausel einem möglichen Schädiger (der hier der Adressat der AGB war) der Schaden zugeordnet wird, ohne dass der Geschädigte den Kausalitätsnachweis führen müsse, sei eine Benachteiligung gegenüber der Dispositivregelung, die nicht gröblich benachteiligend sei, solange die – für eben diesen Fall in der durch die gegenständliche Klausel abgeänderten ÖNORM B 2110 vorgesehene – Möglichkeit des Freibeweises des potentiellen Schädigers bestünde. Da im vorliegenden Fall diese Möglichkeit des Freibeweises ausgeschlossen war, beurteilte der OGH die Klausel als gröblich benachteiligend10).

8) 9)

10)

OGH vom 25.02.1999. In ihrer Fassung vom 01.03.1983. Vgl. in der aktuellen Fassung der ÖNORM B 2110 vom 15.03.2013 dazu Pkt 12.4 und meine diesbezüglichen Änderungsvorschläge in „Bauvertragsbedingungen und Einsatz digitaler Werkzeuge“ Teil II, der in ZVB 2019, Heft 09 publiziert wird. Insofern ist es missverständlich, wenn Herrmann, Risikoüberwälzung beim Bauwerkvertrag (Diss 2018) 109 ausführt: „Obwohl die unmodifizierte Bestimmung der ÖNORM B 2110 nicht Vertragsbestandteil war, hat der OGH in seiner Entscheidung die modifizierte Form der Regelung der ÖNORM B 2110 an der unmodifizierten Regelung gemessen. Gegenstand der Entscheidung war die Abweichung der modifizierten Regelung von der unmodifizierten Regelung.“ Tatsächlich hat der OGH die Vertragsklausel am dispositiven Recht gemessen. Die auch in diesem Sachverhalt vereinbarte, allerdings in dieser Klausel modifizierte ÖNORM B 2110 kam nur insoweit ins Spiel, als der OGH klarstellte, dass die in der konkreten Klausel vorgenommene Abweichung von der Dispositivnorm deshalb gröblich benachteiligend war, weil sie deutlich über die (als zulässig beurteilte) Abweichung der ÖNORM B 2110 hinausging, indem sie den Freibeweis ausschloss. Maßstab der Prüfung blieb jedoch stets das dispositive Recht.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

561

Nach dem Sachverhalt in der Entscheidung 3 Ob 146/99p11) wurde in die Allgemeinen Rechtlichen Vertragsbestimmungen zum Projekt Inntaltunnel, welches im Wege einer Ausschreibung vergeben wurde, folgende Klausel aufgenommen: „Die Gruppen gleicher Art und Preisbildung sind in den „Projektbezogenen Rechtlichen Vertragsbestimmungen“ angegeben. Bei der Ermittlung des Grenzwertes (20 %) sind die Massenänderungen aller Leistungen (Positionen der Leistungsgruppen) zu berücksichtigen. Ein Anspruch auf Änderung der Einheitspreise besteht nur für jene Positionen der Leistungsgruppe, die für sich eine Änderung um mehr als 20 % erfahren haben. Die Preisänderung muss durch die Ansätze in der dem Angebot zugrundeliegenden Preisermittlung belegbar sein.“

Der OGH führte aus, dass es sich nicht um eine Bestimmung über die Hauptleistungspflicht handle, sondern um eine Nebenbestimmung. Denn nach Lehre und Rechtsprechung sei die Abgrenzung so zu ziehen, dass die Ausnahmen dieser Gesetzesbestimmung möglichst eng verstanden werden, dass also Hauptpunkte nur diejenigen Vertragsbestandteile sind, die die individuelle, zahlenmäßige Umschreibung der beiderseitigen Leistungen festlegen12). Demnach würden Bestimmungen über die Preisberechnung in allgemeiner Form unter § 879 Abs 3 ABGB fallen. Der OGH erörterte schließlich zum Tatbestandselement der gröblichen Benachteiligung, dass selbst wenn man davon ausginge, dass nach dispositivem Recht der Auftraggeber das Baugrundrisiko zu tragen habe, nach den vorliegenden Feststellungen keinesfalls gesagt werden könne, dass eine gröbliche Benachteiligung vorliege. Eine sachliche Rechtfertigung der zu prüfenden Bestimmung fand der OGH darin, dass es für einen Werkbesteller legitim sei, die Folgen nicht vorausgesehener (allenfalls auch durch das Abweichen des tatsächlichen vom erwarteten Baugrundes verursachter) Kostenerhöhungen zu beschränken und teilweise auf den Auftragnehmer zu überwälzen. Schließlich könne die gegenständliche Bestimmung zugunsten beider Parteien ausschlagen. In der Entscheidung 6 Ob 98/00f13) ging es um folgende in den „Allgemeinen Vorbemerkungen zum Leistungsverzeichnis“ verankerte Klausel: „Haftung: Der AN (= Auftragnehmer) wird den AG (= Auftraggeber) für Schäden aller Art, insbesondere auch für mittelbare und Folgeschäden schad - und klaglos halten, sofern deren Verursachung durch Dritte nicht einwandfrei nachgewiesen wird. Für Schäden, die von seinen Subunternehmern oder Lieferanten verursacht werden, haftet der Arbeitnehmer (gemeint: Auftragnehmer). Für Schäden, deren Verursacher nicht nachgewiesen wird, haften alle AN dem AG intern zur ungeteilten Hand, anteilig im Verhältnis ihrer Auftragssumme.“

Der OGH beurteilte die hier zu prüfende Bestimmung als nichtig. Die Allgemeinen Vertragsbedingungen des Auftraggebers weichen in wesentlichen Punkten von der in Punkt 2.22 der ÖNORM B 211014) vorgesehenen Haftungsregelung mehrerer Auftragnehmer für Schäden ab. Nach der abgeänderten Bestimmung hafte auch jener 11) 12) 13) 14)

OGH vom 24.05.2000. Eben diesen Ansatz konkretisiert Aicher im Sinne eines dem Äquivalenzprinzip entsprechenden Abstellens auf den wirtschaftlichen Kern des Leistungsaustausches. Dazu ausführlich unten bei FN 69. OGH vom 17.01.2001. Damals noch in der Fassung vom 01.03.1983.

562

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Auftragnehmer, der den Schaden gar nicht verursachen konnte, weil er seine Arbeiten schon abgeschlossen und die Baustelle geräumt oder die Leistung übergeben hatte. Der OGH erörtert dazu, dass die Klausel nicht nur die den Auftraggeber nach Übernahme der Leistung treffende Gefahr und den gesamten Schaden, der einem bestimmten Schädiger nicht zugeordnet werden kann, auf die Auftragnehmer überwälze. Sie verwehre den Auftragnehmern darüber hinaus auch den Gegenbeweis mangelnder Kausalität. Die für den Auftragnehmer damit verbundene Benachteiligung stehe somit in einem auffallenden Missverhältnis zur Rechtsposition des Auftraggebers. Dem Auftraggeber sei zwar zweifellos ein Interesse an der Erleichterung des Ersatzes von nicht zuordenbaren Schäden zuzugestehen. Diesem Interesse werde aber voll und ganz durch die in der ÖNORM B 2110 geregelte Schadenstragung mehrerer Auftragnehmer Rechnung getragen. Dass bei der gegenständlichen Klausel ein auffallendes Missverhältnis zwischen den Rechtspositionen der Vertragspartner auftritt, werde dadurch deutlich, dass die Auftraggeberin auch die sie nach der gesetzlichen Schadenstragungsregelung treffenden Schäden zur Gänze ersetzt erhält, während der Auftragnehmer mangels seiner Beschränkung der Haftungshöchstsumme Gefahr läuft, erhebliche Teile seines Entgelts oder sogar seinen gesamten Entgeltanspruch zu verlieren. Die in der Entscheidung 1 Ob 144/04i15) gegenständliche Klausel regelt, dass die Schlussrechnung endgültig und ohne Vorbehalt gelegt werden muss und dass Nachforderungen jeglicher Art ausgeschlossen sind. Die hier zu beurteilende Bestimmung gehörte (als Bestandteil von „Vorbemerkungen“ als üblicher Klauselkatalog in Ausschreibungen) zu den von der vergebenden Stelle vorformulierten Ausschreibungsunterlagen, mit welchen sich die Bewerber (die künftigen Bieter) idR abfinden müssen, um nicht aus dem Bieterverfahren auszuscheiden. Der OGH führte aus, dass bei der Vergabe von Aufträgen mit vorformuliertem Klauselkatalog jene typische Ungleichgewichtslage vorliege, wie sie der Verwendung von AGB zu eigen sei, sodass es geboten erscheine, § 879 Abs 3 ABGB auch in solchen Fällen zur Beurteilung der Unwirksamkeit von Klauseln wegen gröblicher Benachteiligung analog heranzuziehen16). Dass die Vertragspartner Kaufleute sind, steht der Beurteilung als sittenwidrige Bestimmung nicht entgegen. Je weniger die Bevorzugung eines Vertragspartners sachlich gerechtfertigt erscheine, desto eher werde auch im Handelsverkehr die Sittenwidrigkeit zu bejahen sein. Das Berufungsgericht hatte den Zweck des Nachforderungsausschlusses darin gesehen, die Rechtslage bei Bauvorhaben mit hoher Auftragssumme möglichst innerhalb kurzer Frist zu klären und zu diesem Zweck die gesetzlichen Verjährungsfristen abzukürzen. Denn so solle der Auftraggeber zu einem möglichst frühen Zeitpunkt das gesamte Ausmaß seiner Verpflichtungen überblicken können. Dieses Interesse des Werkbestellers sei grundsätzlich anerkennenswert. Diesem Interesse stünde jedoch das Interesse des Auftragnehmers gegenüber, das ihm vertragsgemäß gebührende Äquivalent für die erbrachten Leistungen zur Gänze zu erhalten. 15) 16)

OGH vom 12.08.2004. Siehe auch RIS-Justiz RS0119323; OGH vom 12.08.2004, 1 Ob 144/04i.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

563

Für Fälle, in denen vergessen wurde, eine Position, welche in einer Teilrechnung aufscheint, in die Schlussrechnung aufzunehmen, sei die Vertragsklausel über den Nachforderungsausschluss überschießend. Die Klausel sei jedenfalls unwirksam. Die Tatbestandselemente „AGB“ und „Nebenleistung“ sah der OGH offensichtlich als gegeben an. In der Entscheidung 8 Ob 164/08p17) lauteten die im Werkvertrag vereinbarten AVB in einer Bestimmung wie folgt: „Nach Korrektur der Schluss- und Regierechnungen wird ein Schlussabrechnungsblatt durch den Rechnungsprüfer ausgefüllt und zur Anerkennung an den Auftragnehmer geschickt. Sollte (gemeint: es) binnen 14 Tagen nach Ausgang des Schlussabrechnungsblatts durch den Auftragnehmer nicht retourniert werden, dann werden die Rechnungen mit Beträgen gemäß der Aufstellung im Schlussabrechnungsblatt beglichen; es werden keinerlei Einwendungen nachträglich akzeptiert.“

Der OGH bestätigte die dem Erstgericht widersprechende Entscheidung des Berufungsgerichtes. Auch in diesem Fall stand die gegenständliche Bestimmung in einem bei der Vergabe von Aufträgen vorformuliertem Klauselkatalog, weshalb nach der Rechtsprechung des OGH § 879 Abs 3 ABGB anzuwenden war18). Der OGH verweist bezüglich des Tatbestandelementes der gröblichen Benachteiligung auf die Rechtsausführungen des Berufungsgerichts. Dieses ging zusammengefasst davon aus, dass die Klausel in den AVB nichtig sei. Die in einem beweglichen System vorzunehmende Beurteilung orientiere sich auch bei der Frage nach der gröblichen Benachteiligung am dispositiven Recht als dem Leitbild eines ausgewogenen Interessenausgleichs. Im konkreten Fall sei zu prüfen, ob sich die Position des Werkunternehmers nach der konkreten Vereinbarung noch erheblich weiter vom dispositiven Recht entferne als nach den Regelungen der einschlägigen ÖNORM. Diese ÖNORM schließe nachträgliche Forderungen für die vertragsgemäß erbrachten Leistungen aus, wenn nicht ein Vorbehalt in der Rechnung enthalten sei oder binnen drei Monaten nach Erhalt der Zahlung schriftlich erhoben werde. Davon weiche die hier zu beurteilende Klausel massiv ab. Denn der Auftragnehmer werde gezwungen, bereits binnen 14 Tagen nach Absendung eines Schlussrechnungsprüfblatts zu reagieren. Hinzu komme, dass die 14-Tage-Frist nicht erst ab Erhalt des Prüfungsblatts, sondern bereits ab dessen Absendung durch die Gegenseite zu laufen beginne. So habe es der Auftraggeber in der Hand, diese Frist geradezu willkürlich noch deutlich zu verkürzen, wenn er zB die Postaufgabe am Ende der Woche vornehme. Für den Auftragnehmer bestehe weiters die Gefahr, dass sein Vertragspartner ein Anerkenntnis ableiten wolle, wenn er das Blatt an diesen retourniere. Der Auftragnehmer sei geradezu genötigt, das Schlussabrechnungsblatt kurzfristig zu retournieren, um sich inhaltliche Einwendungen gegen Kürzungen zu sichern. Die Regelung verführe geradezu dazu, dass ein Werkunternehmer automatisch bzw. reflexartig das Schlussabrechnungsblatt mit „leeren Einwendungen“ zurücksende, um die Präklusion zu verhindern. Es sei nicht 17) 18)

OGH vom 23.04.2009. Siehe auch RIS- Justiz RS0119323; OGH vom 12.08.2004, 1 Ob 144/04i.

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Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

gerechtfertigt, den Auftragnehmer nur wegen eines geringfügigen Versäumnisses berechtigter Ansprüche verlustig gehen zu lassen. Der OGH beurteilte die gegenständliche Klausel daher als nichtig. 10 Ob 93/11s19) ist ein Paradebeispiel für die Schwierigkeit der Konkretisierung, wann eine Abweichung von der Regelung der Dispositivnorm, welche durch die inkriminierte Klausel verdrängt wird, sachlich gerechtfertigt ist. Der Kläger war mit der Lieferung, Montage und Endreinigung der Fensterkonstruktionen eines Hauses beauftragt und hatte für die Endreinigung den Beklagten eingesetzt. Der Beklagte hatte in seinen AGB eine Klausel, wonach durch seine Reinigungsleistungen entstandene Schäden binnen drei Tagen bei sonstigem Anspruchsverlust zu melden seien. Als der Beklagte diese Klausel gegen den Anspruch wegen tatsächlich zerkratzter Fenster einwendete, verneinte das ErstG die gröbliche Benachteiligung. Diese Abweichung vom Dispositivrecht sei sachlich gerechtfertigt. Liege es doch im verständlichen Interesse des Fensterreinigers, dass gerade bei Baustellenreinigungen (wo im Objekt auch nach der Reinigung häufig noch andere Professionisten Arbeiten versehen) der Auftraggeber durch diese Klausel angehalten sei, eine umgehende Besichtigung des Gewerks der Beklagten vorzunehmen und auch umgehend Ansprüche schriftlich zu deponieren, um im Fall der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen schwierige Kausalitätsfragen hintanzuhalten. Die Instanzgerichte sahen dies anders. Selbst wenn man die Klausel nur auf die ohne weiteres erkennbaren Mängel bezöge, würde auch das anerkennenswerte rasche Klarstellungsinteresse der Beklagten eine gegenüber der gesetzlichen Verjährungsregelung des § 1486 ABGB von drei Jahren so weitgehende Einschränkung der Frist nicht rechtfertigen. Diese Klausel war daher in AGB unwirksam. Offen blieb, weshalb der OGH diese kurze Rügefrist an der dreijährigen Verjährungsfrist gemessen hatte. Denn dem vom OGH grundsätzlich anerkannten Interesse an rascher Klärung hätte selbst eine Rügefrist von einem Drittel der vom OGH als Maßstab herangezogenen Frist nicht genügt. Eine sachlich gerechtfertigte Frist hätte sich mit diesem Vergleichsmaßstab sohin nie finden lassen. Vielmehr wäre es nahe gelegen, die Zulässigkeit einer Rügefrist in diesem Fall an einer angemessenen Frist für eine Mängelrüge iSd § 377 UGB in einem vergleichbaren Fall des Verkaufs einer Sache mit ohne weiteres erkennbarem Mangel zu messen. Denn dass die Mängelrügeobliegenheit auch für andere Vertragsarten vereinbart werden könne, bejahte der OGH. Zentral ist in 3 Ob 109/14x20) die Klärung des Inhalts jener Klausel, wonach der Auftragnehmer die Verpflichtung übernimmt, von der Auftraggeberin beigestellte (Hilfs-) Materialien und Anlagenteile bei Übernahme sorgfältig zu prüfen und eventuelle Beanstandungen der Auftraggeberin zu melden. Als Rechtsfolge ist vorgesehen, dass im 19) 20)

OGH vom 14.02.2012. OGH vom 18.03.2015.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

565

Fall einer Unterlassung seitens des Auftragnehmers aus diesem Titel kein wie immer gearteter Einwand geltend gemacht werden kann und dass der Auftragnehmer auch für die vom Bauherrn beigestellten Materialien, Hilfsmaterialien und Anlagenteile voll haftet. Zur Frage, ob in diesem Fall „AGB“ vorliegen, führt der OGH aus, dass auch einseitig vorformulierte, individuelle Vertragstexte wie Ausschreibungsunterlagen der Inhaltskontrolle nach § 879 Abs 3 ABGB unterliegen21). Zum Tatbestandselement „Nebenleistung“ erörtert der OGH, dass mit dieser Klausel keine der beiderseitigen vertraglichen Hauptleistungen festgelegt werde. Zwar habe der OGH im Zusammenhang mit der Abgrenzung zwischen Hauptleistungspflicht und Schutzpflichten ausgesprochen, dass die Warnpflicht des Werkunternehmers in bestimmten Fällen eine Hauptleistungspflicht sei, wenn durch die Warnung erst die Herstellung des Werks ermöglicht werde. Daraus könne aber nicht abgeleitet werden, dass eine die Warnpflicht regelnde Vertragsklausel eine der „beiderseitigen Hauptleistungen“ des Vertrags iSd § 879 Abs 3 ABGB festlegt, die nach hM möglichst eng zu verstehen sind22). Der OGH bestätigte vor dem Hintergrund der Rechtsprechung zur Warnpflicht nach § 1168a ABGB die Ansicht des Berufungsgerichts, die beanstandete Klausel, mit der die Prüfpflicht hinsichtlich der bereitgestellten Materialien auf die Werkbestellerin überwälzt wird, sei nicht nichtig. In 2 Ob 206/16g23) geht es erneut um die Frage der Gültigkeit der Haftungsbeschränkung der ÖNORM B 2110 (nunmehr in Punkt 12.3.1). Der OGH führt aus, dass die ÖNORM B 2110 ihrer Rechtsnatur nach zu den Allgemeinen Geschäftsbedingungen zähle24). Obwohl sie in weiten Teilen einen ausgewogenen Kompromiss zwischen den Interessen der an Werkverträgen Beteiligten darstelle, der die Rechtsposition des Auftraggebers weder vernachlässigt noch unberücksichtigt lässt, sei sie nicht nur selbst Maßstab25) für die „gröbliche Benachteiligung“ iSd § 879 Abs 3 ABGB, sondern ihre Bestimmungen unterliegen selbst der Inhaltskontrolle nach dieser Norm. Vereinbarungen über den Ausschluss oder die Beschränkung der Haftung seien insofern wirksam, als ihr Abschluss oder doch ihre Anwendung im Einzelfall nicht gegen die guten Sitten verstößt26). Vor diesem Hintergrund hatte der OGH27) die Sittenwidrigkeit der in der ÖNORM B 2110 enthaltenen Haftungsbeschränkung bei leichter Fahrlässigkeit auch in einem Rechtsstreit 21) 22) 23) 24) 25) 26) 27)

OGH vom 12.08.2004, 1 Ob 144/04i. RIS-Justiz RS0016908, RS0016931 (T1); RS0128209, vgl. auch RIS-Justiz RS0039027. OGH vom 14.12.2017. OGH 6 Ob 566/95; vgl. zu diesem Thema insbesondere Aicher in Straube/Aicher/Ratka/Rauter, Handbuch Bauvertrags- und Bauhaftungsrecht I Kap. 2, dort 2.2.2.2. Zu dieser Maßstabsfunktion der ÖNORM B 2110 vgl. ausführlich Aicher bei FN 101. OGH 8 Ob 46/17y; RIS-Justiz RS0038178. OGH 8 Ob 46/17y; im Ergebnis auch 1 Ob 127/17h; diese Rechtsfrage noch offen lassend 7 Ob 211/09v; aA R. Welser in Straube/Aicher, Bauvertrags- und Bauhaftungsrecht II 6.11.3.2.

566

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

aus einem Individualvertrag ausdrücklich verneint. Eine gröbliche Benachteiligung bei einem (gänzlichen) Haftungsausschluss sei in der Rechtsprechung schon dann verneint worden, wenn er (wie hier) wechselseitig für beide Vertragsparteien gilt und daher nicht nur einer Partei zum Nachteil gereichen kann28). Die in 10 Ob 17/18z29) zu prüfende Klausel betreffend Regierechnungen lautete wie folgt: „Regierechnungen können nur aufgrund bestätigter Regiescheine gestellt werden. Für jede Leistung ist ein eigener Regieschein auszufüllen. Die Regiescheine müssen spätestens sieben Tage nach der Ausführung der örtlichen Bauaufsicht zur Prüfung vorgelegt werden. Wird diese Frist nicht eingehalten, gilt die Leistung als nicht erbracht. Regiearbeiten müssen spätestens vier Wochen nach der Prüfung durch die örtliche Bauaufsicht in Rechnung gestellt werden. Wird diese Frist nicht eingehalten, verfällt die Rechnung, es sei denn, dass seitens der ÖBA ein schriftliches Einverständnis zur späteren Rechnungsvorlage gegeben wurde. Unterschriften auf Regiescheinen bestätigen nur die Ausführung der Leistung. Die Prüfung, ob eine daraus abgeleitete Forderung berechtigt ist, bzw. eine Regieleistung darstellt, erfolgt erst im Zuge der Rechnungsprüfung. …“

In dieser Entscheidung beantwortete der OGH die Frage nach dem Vorliegen des Tatbestandelements „AGB“ erneut dahingehend, dass bei der Vergabe von Aufträgen mit vorformuliertem Klauselkatalog, mit dem den Bietern der Vertragsinhalt – zumindest weitgehend – vorgegeben wird, aufgrund des Vorliegens der typischen Ungleichgewichtslage (wie bei AGB) § 879 Abs 3 ABGB analog heranzuziehen sei30). Der OGH folgte der Entscheidung des Berufungsgerichtes, dass die zur Geltendmachung der Regiekosten im Leistungsverzeichnis vorgesehene vierwöchige Rechnungslegungsfrist nicht gegen § 879 Abs 3 ABGB verstoße. Insbesondere im Baugewerbe müsse (insbesondere im Zusammenhang mit Regieleistungen) mit einer kurzen Rechnungslegungsfrist gerechnet werden, um Problemen entgegenzuwirken, vor denen Bauherren durch unerwartete Überschreitungen der Baukosten stünden. Die Regelung über die Geltendmachung von Regiekosten sei nicht versteckt, weil das grundsätzliche Thema sogar in der Überschrift genannt werde. In der vierwöchigen Rechnungslegungsfrist liege keine gröbliche Benachteiligung für Auftragnehmer, die als Bauunternehmer die allgemeinen Probleme von Regieleistungen kennen. Die Frist von vier Wochen genüge auch zur Rechnungslegung, weil der Auftragnehmer die den unterschriebenen und einigermaßen sorgfältig angelegten Regiescheinen zugrunde liegenden Leistungen nur mehr mit der Kostengrundlage verknüpfen müsse.

28) 29) 30)

RIS-Justiz RS0124503. OGH vom 26.06.2018. Vgl. RIS-Justiz RS0119323.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

567

40.5

Auslegung des § 879 Abs 3 ABGB unter Anwendung des „beweglichen Systems“

40.5.1

Vom Nutzen des beweglichen Systems für die vorliegenden Auslegungsfragen

Dass durch § 879 Abs 3 ABGB ein „eine objektive Äquivalenzstörung und verdünnte Willensfreiheit“ berücksichtigendes bewegliches System geschaffen wurde, ist nicht nur ständige Judikatur31), sondern war ausweislich der Gesetzesmaterialien32) auch die Absicht des Gesetzgebers. Nach den genannten Erläuternden Bemerkungen werde dem Vorschlag von F. Bydlinski nach den „Gedankengängen Wilburgs über ein bewegliches System im Zivilrecht … an die objektive Angemessenheit von Vertragsbestandteilen einen umso strengeren Maßstab zu legen, je „verdünnter“ der Wille des hierdurch beeinträchtigten Vertragspartners ist“ gefolgt. Das solle durch § 879 Abs 3 ABGB „im Gesetz ausgedrückt werden, um der Rechtsanwendung eine bessere Stütze bei der Prüfung des Vertragsinhalts zu geben“. Dass diese Methode des beweglichen Systems33) in der Anwendung des § 879 Abs 3 ABGB eine wertvolle Stütze wäre, ist sicher zutreffend. Daher bemühe ich mich in dieser Arbeit um eine – angesichts der Vielfalt und der Bandbreite der Judikatur in der Auslegung dieser Norm wohl gerechtfertigte – vertiefte Auseinandersetzung mit den Leistungen dieser Methode zu einer einheitlichen Auslegung der drei gegenständlichen Tatbestandselemente. Denn § 879 Abs 3 ABGB ist mE das Paradebeispiel einer Norm, in der – wie dies F. Bydlinski als zentrales Beispiel für die Stärken der Anwendung des beweglichen Systems nennt – in derselben Norm „starre Tatbestände bloß scheinbare Sicherheit gewährleisten, wenn neben ihnen vage Generalklauseln stehen“34).

31) 32) 33)

34)

RIS-Justiz RS0016914, OGH 28.11.2012, 7 Ob 93/12w wörtlich und wohl auch die diesbezügliche Lehre. EBRV 744 BlgNR 16. GP, 47. Neben der grundlegenden Arbeit, dieWilburg mit „Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht“ als Rede bei Antritt seines Rektorats am 22.11.1950 gehalten und in der Folge publiziert hat und seinen weiterführenden Überlegungen in „Zusammenspiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechts“ AcP 163, 346 wird hier für das methodische Verständnis dieses Systems vor allem auf F. Bydlinski, Methodenlehre² 529 ff verwiesen. Aus der weiteren, inzwischen sehr reichhaltigen Literatur zu dieser Methode nenne ich hier F. Bydlinski, Bewegliches System und juristische Methodenlehre, in F. Bydlinski/Krejci/Schilcher/V. Steininger (Hrsg) das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht (1986) 103; Canaris, Systemdenken und Systembegriffe in der Jurisprudenz (1983) 74ff; Canaris, Bewegliches System und Vertrauensschutz im rechtsgeschäftlichen Verkehr, in F. Bydlinski/Krejci/Schilcher/V. Steininger (Hrsg) das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht (1986) 103ff; Schilcher, Theorie der sozialen Schadensverteilung (1977); Schilcher, Das bewegliche System wird Gesetz, in Heldrich/Prölss/Koller (Hrsg) FS Canaris zum 70. Geburtstag (2007) 1299 und verweise im Übrigen auf die in ihrer Kürze sehr prägnante Beschreibung dieser Methode in Welser/Kletečka, Bürgerliches Recht I15 (2018) Rz 79 und die dort in FN 66 angeführten weiteren Nachweise. Um den Umfang dieser Arbeit nicht zu sprengen, beziehe ich mich in meinen folgenden Ausführungen nur auf Wilburg, Entwicklung sowie auf F. Bydlinski, Methodenlehre². Methodenlehre² 534.

568

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

40.5.2

Die Basiswertung des § 879 Abs 3 ABGB

40.5.2.1

Ausgangsfrage

Wie Wilburg35) die Rechtsfolge eines Tatbestandes als „Ergebnis einer Kräftewirkung sieht“36), erörtert er am Beispiel des Wuchers. Das sei „einerseits ein auffallendes Missverhältnis der Leistungen, also eine übermäßige Bereicherung, andererseits eine Zwangslage oder Verstandesschwäche, Unerfahrenheit, Leichtsinn auf Seite des Übervorteilten und schließlich ein grobes Verschulden seines Gegners“. Dieses Zusammenwirken, das dazu führt, dass ein „Mehr“ eines graduell abstufbaren Kriteriums ein „Weniger“ eines anderen Kriteriums desselben Tatbestands kompensiert, erläutert Wilburg an dem von ihm gebildeten Beispiel des Wuchers dahingehend, dass „ein nur geringes Verschulden des Gewinners genügen kann, wenn die Zwangslage des Benachteiligten besonders schwer und das Missverhältnis der Leistungen von außergewöhnlichem Grade ist“37). Die feste Regel, an der sich dieses „Mehr“ oder „Weniger“ messen lassen muss, ist die der betreffenden Norm zugrunde liegende und unmittelbar aus ihr abgeleitete Basiswertung38). Deutlich komplexer wird die Anwendung des beweglichen Systems, wenn in einer Norm Tatbestandselemente vereint sind, die – anders als im Beispiel des Wuchers – einem „Mehr“ oder „Weniger“ zumindest auf den ersten Blick nicht zugänglich sind. Den Fall, dass starre Tatbestände mit (offensichtlich) „hochgradig vagen Generalklauseln (gute Sitten, Treue und Glauben, wichtiger Grund, Billigkeit etc)“39) zusammentreffen, beschreibt F. Bydlinski zutreffend als „besonders unglücklich, weil man nie voraussehen kann, wann nach den starren Tatbeständen, wann nach der Generalklausel beurteilt wird“40). Das ist genau der Fall des § 879 Abs 3. Denn zumindest auf den ersten Blick erscheinen sowohl die Tatbestandselemente „AGB“ als auch „Nebenleistung“ (gegenüber dem Gegenbegriff der Hauptleistung) als relativ starr, weil sie eben verwirklicht sind oder nicht verwirklicht sind. Sie lösen die Rechtsfolge der Nichtigkeit aber nur in Kombination mit der eindeutig von Wertungen abhängigen und einem „Mehr“ oder „Weniger“ zugänglichen Generalklausel der „gröblichen Benachteiligung“aus.

35) 36) 37) 38) 39) 40)

Entwicklung eines beweglichen Systems im Bürgerlichen Recht (1950) 19f. F. Bydlinski, Methodenlehre² 529. Entwicklung 19f. So F. Bydlinski, Methodenlehre² 531 im Anschluss an Schilcher, Theorie der sozialen Schadensverteilung (1977) 204. F. Bydlinski, Methodenlehre² 534. Methodenlehre² 533.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

569

Dass F. Bydlinski gerade für diesen Fall die Stärke der Anwendung des beweglichen Systems betont41), hat der Gesetzgeber des § 879 Abs 3 ABGB – wie oben ausgeführt – offenbar ebenso gesehen42). Denn auch in diesem Fall der Kombination starrer Tatbestandselemente mit „vagen Generalklauseln“ lässt sich in allen Tatbestandselementen eine gemeinsame Basiswertung dieser Norm erkennen. Entsprechend dem Ergebnis, wie ausgeprägt diese Basiswertung im konkreten Sachverhalt im jeweils geprüften Tatbestandselement verwirklicht ist, ist dieses Tatbestandselement dann wiederum mehr oder weniger stark ausgeprägt oder gar nicht verwirklicht. In der Beurteilung, ob die Rechtsfolge dann insgesamt eintreten soll, hält F. Bydlinski43) fest: „Die zum Auslegungszweifel führende Schwäche des einen Kriteriums kann bei solcher Sicht im Rahmen der Gesamtwertung durch die besonders starke Ausprägung eines anderen ausgeglichen werden. Sind umgekehrt auch die anderen Merkmale eher schwach entwickelt, wird das die Verneinung der Rechtsfolge nahelegen“.

Im Ergebnis bekommen daher auch Tatbestandselemente, die – wie im vorliegenden Fall hinsichtlich „AGB“ und „Nebenleistung“ – nur bejaht oder verneint werden können, durch ihre Beurteilung der der gesamten Norm, sohin dem § 879 Abs 3 insgesamt, hinterlegten Basiswertung eine Gewichtung, die letztlich in der Gesamtbetrachtung zur Bejahung oder Verneinung der Rechtsfolge führt. Klarzustellen ist, dass in diesem Zusammenhang stets nur darauf abgestellt wird, ob ein Tatbestandselement im Lichte dieser Basiswertung stärker oder schwächer ausgeprägt ist. Liegt das Tatbestandselement nach dieser Basiswertung gar nicht vor – ist also im konkreten Sachverhalt die hinterlegte Basiswertung der Norm in einem Tatbestandselement überhaupt nicht verwirklicht – dann bleibt es dabei, dass die Rechtsfolge nicht eintritt, auch wenn andere Tatbestandselemente noch so ausgeprägt vorliegen. Denn jedes Tatbestandselement muss verwirklicht sein, um die Rechtsfolge auszulösen. Andernfalls verließe der Rechtsanwender die ihm durch die Norm vorgegebenen Grenzen der Auslegung, sodass es bei der Verneinung der Rechtsfolge bleibt. Denkbar ist zwar mE in diesem Fall, dass das nicht verwirklichte Tatbestandselement durch teleologische Reduktion beseitigt wird. Sohin bei festgestelltem, planwidrigem Fehlen einer Ausnahmeregelung durch Lückenfüllung mit einer Ausnahmeregelung, welche von diesem Tatbestandselement absieht. Ein derartiges Beispiel ist mir jedoch im Zusammenhang mit § 879 Abs 3 ABGB weder aus Lehre noch Judikatur geläufig. Die weiter zu bearbeitende Ausgangsfrage ist sohin, was als Basiswertung des § 879 Abs 3 ABGB anzusehen ist. Hier helfen die bereits von den Gesetzesmaterialien zitierten Positionen Bydlinskis weiter, auf die daher im Folgenden näher eingegangen wird. 41) 42) 43)

Methodenlehre² 535. Allerdings gestützt auf frühere (nicht die hier aus der Methodenlehre zitierten) Ausführungen Bydlinskis, auf die ich im Folgenden noch eingehe, da die Methodenlehre in ihrer Erstauflage erst 1982 erschienen ist. Methodenlehre 536.

570

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

40.5.2.2

Ermittlung der Basiswertung

Den zu dieser Basiswertung führenden Grundsatz formuliert F. Bydlinski wie folgt44): „Je freier die Entscheidung beim Vertrag ist, umso weniger kommt es auf inhaltliche Äquivalenz der vertraglich begründeten Rechtspositionen an, wofür die Schenkung ein besonders drastisches Beispiel ist. Je weniger frei die Entscheidung hingegen ist, umso mehr bedarf die inhaltliche Äquivalenz der Rechtspositionen der Prüfung und Kontrolle, wofür gerade die Allgemeinen Geschäftsbedingungen in ihrer Behandlung in Lehre und Praxis ein schlagender Beweis sind“.

Das entspricht der hM, für die hier zitiert wird: „Je gravierender die Äquivalenz gestört ist, desto einwandfreier muss die Selbstbestimmung sein und desto geringer sind die sonstigen Voraussetzungen für die Aufhebung des Vertrages. Dieses Zusammenspiel von abstufbaren Kriterien kann als bewegliches System beschrieben werden“45).

Damit ist noch nicht gesagt, welche Basiswertung diese Verknüpfung zwischen der Freiheit der Willensbildung einerseits und den Anforderungen an die Äquivalenz andererseits herstellt. Auch diesbezüglich schaffen die Ausführungen von F. Bydlinski Klarheit46). Dazu verweise ich darauf, dass es in unserem Problemkreis um den von F. Bydlinski als „tragbare“ Äquivalenz bezeichneten Bereich geht. Das sei der „weite Spielraum“ bis zur Grenze des „auffallenden Missverhältnisses“, auf welches etwa die Wuchervorschrift des § 879 Abs 2 Z 4 ABGB, aber wohl auch die Regelung der laesio enormis des § 934 ABGB abstellt. Dieser Bereich der tragbaren Äquivalenz lässt – wie F. Bydlinski betont – einen vertretbaren Gewinn zugunsten eines Vertragspartners zu, den man wiederum abzugrenzen hat vom nicht vertretbaren Gewinn, der etwa aus Wucher oder laesio enormis für den „Gewinner“ resultiert. In diesem Bereich der tragbaren Äquivalenz stellt sich die Frage nach der subjektiven Äquivalenz, die nach F. Bydlinski47) „nur eine andere Formulierung für die Herrschaft des Parteiwillens (ist); eine Formulierung, die es gestattet, auf die Grundlagen dieses Willens und das Verfahren der Willensbildung zurückzugreifen, indem man fragt, auf welchen Vorstellungen die subjektive Bewertung der beiderseitigen Leistungen als gleichwertig aufbaut“.

Diese Gleichsetzung der subjektiven Äquivalenz mit der im Sinne der Privatautonomie die Bindungswirkung des Rechtsgeschäftes konstituierenden freien Willensentscheidung führt zur Thematik der Richtigkeitsgewähr. Denn da die Richtigkeitsgewähr privatautonomer Entscheidungen gerade dadurch gewährleistet ist, dass jede Partei für sich 44) 45) 46) 47)

Zur Einordnung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Vertragsrecht in FS Kastner (1972), 60. Welser/Kletečka, Bürgerliches Recht I15 (2018) Rz 321. Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäftes (1967), insbesondere (in der Reihenfolge der oben im Text erfolgenden Bezugnahmen) 155, 107, 106. Privatautonomie 153.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

571

entscheidet, für welche Gegenleistung sie zu welcher eigenen Leistung bereit ist, folgt daraus, dass diese Richtigkeitsgewähr nur dann einwandfrei funktionieren kann, wenn die Voraussetzung dieser Richtigkeitsgewähr, die freie Willensentscheidung des Einzelnen, in unverdünnter Willensfreiheit verwirklicht wird. Ausgehend von dieser zentralen Funktion der freien Willensbildung für das Funktionieren des Vertragsmechanismus, der letztlich der Richtigkeitsgewähr dient, hält F. Bydlinski48) fest: „Was an automatisch durch den funktionierenden Vertragsmechanismus gelieferter Richtigkeitsgewähr entfällt, das muss durch bewusste und gezielte Inhaltskontrolle ersetzt werden“.

Daraus leitet F. Bydlinski die bereits oben zitierte Forderung ab, dass gerade in einem Verfahren, das einem Vertragspartner nur „verdünnte Freiheit“ belässt, wenn er in ein Verpflichtungsverhältnis gerät, eben dieses Rechtsverhältnis „besonders auf seine inhaltliche Richtigkeit zu prüfen“ ist49). Dieser Zusammenhang zwischen unverdünnter Willensfreiheit und Anforderung an die Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung zeigt sich auch im Extrembeispiel des Wuchers. Dort, wo die Willensfreiheit durch Zwangslage, Furcht, Not etc als so gering angesehen werden muss, dass sie gerade noch ausreicht, einen verbindlichen Vertragsabschluss zu bewirken, aber von einer Richtigkeitsgewähr dieser Entscheidung keine Rede mehr sein kann, ist der Vertrag im Sinne des § 879 Abs 2 Z 4 ABGB nichtig, wenn diese verdünnte Willensfreiheit dann auch tatsächlich im Äquivalenzverhältnis schlagend wurde, indem Leistung und Gegenleistung in „auffallendem Missverhältnis“ zueinander stehen. Dann ist die Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Entscheidungen des Bewucherten so (gegen Null) reduziert, dass die Rechtsordnung ohne Gefährdung der Privatautonomie sogar in den Kernbereich des Synallagmas, in das Austauschverhältnis der Hauptleistungen, eingreifen kann. Eben dieser Mechanismus des Zusammenspiels des Ausmaßes der Verdünnung der Willensfreiheit mit einer daraus folgenden Störung der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung wirkt auch in allen drei Tatbestandselementen des § 879 Abs 3 ABGB. Hinter diesen Tatbestandselementen steht in allen drei Fällen die Basiswertung, dass ohne Berücksichtigung dieses Zusammenhangs zwischen Freiheit der Willensbildung oder Verdünnung der Willensfreiheit einerseits und Bemessung von Leistung und Gegenleistung andererseits die Richtigkeitsgewähr privatautonomer Entscheidungen, die letztlich als tragende Säule der Privatautonomie angesehen wird, in ihrer Funktion gestört ist. Dementsprechend wird bei den einzelnen Tatbestandselementen des § 879 Abs 3 ABGB jeweils zu prüfen sein, in welchem Ausmaß durch den konkreten Sachverhalt diese Störung der Richtigkeitsgewähr gegenüber einer Entscheidung mit unverdünnter Willensfreiheit beeinträchtigt ist. Aus dem Ausmaß dieser Beeinträchtigung ergibt sich dann das Gewicht des betreffenden Tatbestandselements im konkret zu beurteilenden Sachverhalt – bis hin zum Entfall dieses Tatbestandselements, wenn sichergestellt ist, dass nur der Anschein einer solchen Beeinträchtigung der Richtigkeitsgewähr besteht, sie aber im konkreten Fall nicht eingetreten ist. 48) 49)

Privatautonomie 106. Privatautonomie 106f.

572

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

40.5.2.3

Beweglich bewertet wird nur das dritte Tatbestandselement?

Bleibt noch zu prüfen, ob der Gesetzgeber in § 879 Abs 3 ABGB ganz gezielt zwei formale Tatbestandselemente (AGB und Nebenleistung) gewählt hat, die ohne mit ausgeprägter Rechtsunsicherheit behafteter Wertungsentscheidung als erfüllt oder nicht erfüllt zu beurteilen sind und nur im dritten Tatbestandselement, der gröblichen Benachteiligung, die naturgemäß mit Unsicherheiten behaftete Wertungsentscheidung, was jeweils gröblich benachteiligend sei, zu treffen ist. Dieser These steht mE wohl nicht entgegen, dass gerade die Auslegung dieser Tatbestandselemente AGB einerseits sowie Nebenleistung (im Wege der Abgrenzung zwischen Hauptleistung und Nebenleistung) andererseits in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt50). Denn Auslegungsschwierigkeiten, insbesondere Abgrenzungsprobleme von nebeneinander stehenden Tatbestandselementen gibt es auch im Bereich der starren Rechtssätze. Dennoch meine ich, dass diese Auslegungsprobleme ganz zentral darauf zurückzuführen sind, dass ihre Prüfung ohne gemeinsame Basiswertung erfolgt. Klar widerspricht jedoch der These, dass die drei Tatbestandselemente getrennt voneinander geprüft werden sollten und die Frage nach einer den Tatbestand in seiner Auslegung bestimmenden Basiswertung auf das dritte Tatbestandselement beschränkt sei, der in den Gesetzesmaterialien51) eindeutig geäußerte Wille des Gesetzgebers. Im unmittelbar vor dem oben zitierten Textblock, in dem der Gesetzgeber mitteilt, dass er sich ganz bewusst der Gedankengänge des beweglichen Systems bedient hätte, bezieht er die Notwendigkeit dieser Wertung gerade auf das Tatbestandselement der AGB, wenn er unter Berufung auf F. Bydlinski52) ausführt, dieser habe „... nämlich mit Recht darauf hingewiesen, dass bei unlauteren Vertragsbestimmungen, vor allem wenn sie in allgemeinen Geschäftsbedingungen und Vertragsformblättern enthalten sind, zwei Momente zusammenkommen: a) die objektive Unbilligkeit der Bestimmung durch eine einseitige Verschiebung des vom Gesetz vorgesehenen Interessenausgleichs durch den Vertragsverfasser zum Nachteil seines Partners und b) eine „verdünnte Willensfreiheit“ bei diesem Vertragspartner, durch die er Vertragsbestandteile zum Inhalt seiner Erklärung macht, die er nicht wirklich will“.

Unmittelbar an diese Ausführungen zur Verknüpfung des Ansatzes verdünnter Willensfreiheit mit der Unbilligkeit der so entstandenen Regelungen begründet dann der Gesetzgeber seine Lösung dieser Problematik durch Übernahme der Grundsätze des beweglichen Systems im Zivilrecht mit dem Ziel, die praktische Anwendung dieses Tatbestands zu erleichtern.

50) 51) 52)

Vgl. Lessiak, § 879 Abs 3 ABGB und Erhaltungskosten in Einkaufszentren, wbl 2012, 121. EBRV 744 BlgNR 16. GP, 47. Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäfts, bes 122 ff und Einordnung der allgemeinen Geschäftsbedingungen im Vertragsrecht, FS Kastner, 45 (60).

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

573

Das spricht mE eindeutig dagegen, die Methode des beweglichen Systems nur auf das dritte Tatbestandselement (gröbliche Benachteiligung) zu beschränken. Liest man an der in den Gesetzesmaterialien zitierten Stelle nach, dann zeigt sich, dass es F. Bydlinski ebendort53) gerade bei der Beurteilung von AGB um die hier ausgeführte „Basiswertung“, dass die Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Willensentscheidung gewahrt sein muss, geht. Denn er führt aus: „Die „Richtigkeitsgewähr“ des Vertragsmechanismus, die im wechselseitigen Abschleifen der Interessen durch die Notwendigkeit der Einigung liegt, ist daher hier nur noch in sehr geringem Maße wirksam … Kurz: Eine sehr „verdünnte Freiheit, um mit Raiser zu sprechen, ist es gewiss, in der der Kunde kontrahiert. … Mir scheint die gekennzeichnete Behandlung allgemeiner Geschäftsbedingungen und Standardverträge ein außerordentlich wichtiges Beispiel für das Zusammenspielen verschiedener rechtlicher Gesichtspunkte zu sein, das ich in Verfolgung der dogmatischen Methode von Walter Wilburg im Bereich des Vertragsrechtes aufzuzeigen mich bemühte: je freier die Entscheidung in einem Vertrag ist, umso weniger kommt es auf inhaltliche Äquivalenz der vertraglich begründeten Rechtspositionen an, wofür die Schenkung ein besonders drastisches Beispiel ist. Je weniger frei die Entscheidung hingegen ist, umso mehr bedarf die inhaltliche Äquivalenz der Rechtspositionen der Prüfung und Kontrolle, wofür gerade die allgemeinen Geschäftsbedingungen in ihrer Behandlung in Lehre und Praxis ein schlagender Beweis sind“.

Bedenkt man überdies, dass dieser Beitrag Bydlinskis im Jahr 1972, also sieben Jahre vor Einführung des § 879 Abs 3 ABGB erschien, sohin die jetzt in § 879 Abs 3 ABGB vorgesehene Prüfung der „gröblichen Benachteiligung“ unter dem Maßstab der Sittenwidrigkeit nach § 879 Abs 1 ABGB noch nicht zur Verfügung stand und sich der Gesetzgeber auf eben diese Ausführungen beruft, wenn er die neu eingeführte Norm durch Anwendung des beweglichen Systems für die Praxis besser anwendbar gestalten will, dann liegt der Schluss nahe, dass eben diese Überlegung, dass die „verdünnte Willensfreiheit“ unter dem Gesichtspunkt der Basiswertung, ob die Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Entscheidung beeinträchtigt sei oder nicht, auch für die Frage, ob eine Vertragsklausel als AGB (bzw. eine Leistung als Haupt- oder Nebenleistung) zu beurteilen ist oder nicht, heranzuziehen ist. Im Folgenden unternehme ich daher den Versuch, die drei Tatbestandselemente des § 879 Abs 3 ABGB unter Berücksichtigung der ihnen gemeinsamen Basiswertung, dass diese Norm die Richtigkeitsgewähr privatautonomer Entscheidungen schützt, auszulegen, mit dem Ziel, in sich stimmige, konfliktfreie Ergebnisse zu erzielen.

53)

FS Kastner, 60.

574

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

40.6

Die einzelnen Tatbestandselemente

40.6.1

Allgemeine Geschäftsbedingungen

40.6.1.1

Ungleichgewicht und Vielzahlkriterium

Dass „Allgemeine Geschäftsbedingungen“ und „Vertragsformblätter“ Synonyma sind, ist hM54). Daher differenziere ich auch in dieser Arbeit nicht, sondern spreche generell von AGB. Ist – im Sinne der obigen Ausführungen – die Basiswertung des § 879 Abs 3 ABGB das Ziel, die Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Entscheidung zu wahren (zu schützen), dann ist auch das Vorliegen des Tatbestandselements AGB unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob die Vorgabe der zu prüfenden Vertragsklausel durch einen der beiden (künftigen) Vertragspartner tatsächlich zu einer verdünnten Willensfreiheit des anderen Vertragspartners führen konnte, welche die Richtigkeitsgewähr seiner privatautonomen Entscheidung beeinträchtigte. Unter diesem Gesichtspunkt ist zu prüfen, ob das für die Beurteilung der verwendeten Vertragsklausel als AGB typischerweise unterstellte Ungleichgewicht zwischen den Vertragspartnern vorlag. Nun ist es zwar unstreitig zutreffend, dass ein Ungleichgewicht zwischen demjenigen, der die Vertragsklausel formuliert und dem Adressaten dieser Formulierung geeignet ist, die Willensfreiheit des Adressaten zu verdünnen. Dies wird besonders dann deutlich, wenn der Erstgenannte in der Lage ist, Druck auf den Adressaten auszuüben. In der Beurteilung dieses Drucks auf die Willensfreiheit darf jedoch nicht übersehen werden, dass der „Druck“, nicht zu einem Vertragsabschluss zu kommen, wenn man sich mit dem Gegenüber nicht einigt, die Grundsituation privatautonomer Willensentscheidung ist. Denn erst durch übereinstimmenden Konsens beider Parteien entsteht bekanntlich der Vertrag. Zur Begründung, dass ganz besonders hoher, die Willensfreiheit verdünnender Druck von jemandem ausgeübt wird, der auf einer bestimmten Vertragsklausel besteht und dann, wenn sein Gegenüber diese Klausel nicht akzeptiert, seinerseits nicht bereit wäre, den Vertrag abzuschließen, wird gerne der dramatische Vergleich „friss Vogel oder stirb“55) eingesetzt. Dabei wird verkannt, dass in dieser Situation, in der ein potentieller Vertragspartner bestimmte „Deal Breaker“ vorgibt, weder zum Fressen noch zum Sterben gezwungen wird. Es ist dies die Normalsituation der Privatautonomie, in der es eben zu keinem Abschluss kommt, wenn sich die potentiellen Vertragspartner nicht einigen können.

54) 55)

Vgl. Welser/Kletečka, Bürgerliches Recht I15 (2018) Rz 427 mit ausführlichen Nachweisen in FN 61. So etwa ausdrücklich Pletzer, Erhaltung im Einkaufszentrum, wobl 2014, 2.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

575

Wenn ein Vertragspartner von einer bestimmten Forderung – sei es die Höhe der Hauptleistung oder die Übernahme einer bestimmten Vertragsverpflichtung – nicht abgeht und der andere Vertragspartner nicht bereit ist, diese Forderung zu akzeptieren, dann gibt es keinen Konsens und damit keinen Vertrag. Im Ergebnis läuft dieses „friss oder stirb“Argument auf eine Art „Kontrahierungszwang zu abgeänderten Bedingungen“ hinaus, der mit unserer Privatrechtsordnung ganz offensichtlich nicht vereinbar ist. Im Gegenteil. Die Position, dass eine Vertragsklausel schon deshalb das erste Tatbestandselement des § 879 Abs 3 erfüllt, weil der andere Vertragspartner auf der Einhaltung dieser Klausel beharrt, ist geradezu eine Einladung zu arglistigem Claim – Management. Denn mit dieser Gewissheit kann jeder Adressat von Vertragsklauseln jede beliebige Klausel im vollen Bewusstsein des damit verbundenen Risikos akzeptieren, weil er ohnehin darauf vertrauen darf, dass er diese Klausel im Wege des § 879 Abs 3 ABGB wieder beseitigen kann. Das bloße Bestehen auf einer bestimmten vertraglichen Zusage bei sonstigem Scheitern des Vertragsabschlusses entspricht so sehr dem Wesen der privatautonomen Bindung durch freie Willensentscheidung, dass auch die Dramatik des „friss oder stirb“-Arguments nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass – wie oben ausgeführt – die Willensfreiheit in einer Weise verdünnt sein muss, welche die Richtigkeitsgewähr der Entscheidung des Adressaten beeinträchtigt. Dazu genügt eben nicht die Gefahr, dass sich zwei Vertragsparteien nicht einigen können. Vielmehr wird zu prüfen sein, ob die konkrete Drucksituation die Richtigkeitsgewähr der Entscheidung, diese Vertragsklausel zu akzeptieren, beeinträchtigt. Das wird vor allem dann der Fall sein, wenn die Drucksituation die vollständige Einbindung dieser Vertragsklausel in die eigene Willensentscheidung behindert oder gar verhindert. Sei es, dass zu wenig Zeit vorhanden ist, um sich mit dieser (und allen anderen) Vertragsklauseln hinreichend zu befassen, sei es, dass der Vertragsabschluss unter Umständen erfolgt, die eine detaillierte Prüfung der Vertragsklauseln, geschweige denn eine Verhandlung über Vertragsklauseln von vornherein ausschließen – wie in der typischen Situation des Massengeschäfts (Vielzahl gleichartiger Verträge) mit vorformulierten AGB, sei es, dass die Marktsituation (monopolähnliche Stellung, Käufer- oder Verkäufermarkt, hoher Nachfragedruck aus Gründen, wie zB bei dringendem Bedarf oder Versorgungsknappheit für diese spezifische Ware oder Dienstleistung etc) es dem Verwender erlaubt, seine Vertragsbedingungen schlicht vorzugeben, sei es, dass der Aufwand der vollständigen Erfassung der Auswirkungen dieser Klausel auf die Bildung der eigenen Äquivalenz nicht zumutbar ist (Situation des Bieters in einem Vergabeverfahren) oder was immer dafür verantwortlich ist, dass die Bildung jenes Willens, der für die Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Entscheidung erforderlich ist, beeinträchtigt und damit die Willensfreiheit verdünnt ist. Gleiches gilt für das zur Beurteilung der Vertragsklausel verwendete Vielzahlkriterium56), das daher mE nicht als „zusätzliches“ Kriterium neben dem Kriterium des Ungleichge56)

Zum diesbezüglichen Meinungsstand, insbesondere zur Frage, ob allein das Ungleichgewicht ausreiche oder zusätzlich das Vielzahlkriterium, wonach der Verwender die Klausel für eine Vielzahl von Geschäften vorformuliert, verwirklicht sein müsse, vgl. Welser/Kletečka, Bürgerliches Recht I15 (2018) Rz 427 mwN.

576

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

wichts erfüllt sein muss, sondern bei hohem Gewicht das mangelnde Gewicht des Kriteriums des Ungleichgewichts kompensieren kann. Prüft man mit der Gewichtung des beweglichen Systems, ob ein Mehr oder Weniger an Ungleichgewicht kompensiert wird durch ein Mehr oder Weniger des Vielzahlkriteriums, dann kommt man bei Anwendung der Basiswertung (Verhinderung der Beeinträchtigung der Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Entscheidung) zu schlüssigen Ergebnissen, welche auch die in Diskussion stehenden Grenzfälle lösen. Denn ob die Richtigkeitsgewähr dadurch beeinträchtigt wird, dass der Adressat der Vertragsklausel wegen der Übermacht seines potentiellen Vertragspartners keine „unverdünnte Willensfreiheit“ hatte oder ob die Richtigkeitsgewähr dadurch beeinträchtigt wird, dass der Verwender der AGB durch die Vielzahl von Anwendungsfällen dieser Klausel einen Aufwand in die für ihn günstige Formulierung investieren konnte, der dem Adressaten für seinen Einzelfall nie zugesonnen werden kann (weshalb er etwa die wirtschaftliche Tragweite oder sonstige mit dieser Klausel verbundene Risiken nicht erkennt), führt stets zum selben, weil nach derselben Basiswertung vorgenommenen Ergebnis, das abhängt von der Auswirkung der Gefährdung der Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Entscheidung.

40.6.1.2

Besonderheiten in Vergabeverfahren

Zu den Spezifika der Vorgabe von Vertragsbestimmungen in Vergabeverfahren (außerhalb und innerhalb des Anwendungsbereichs des BVergG) kann auf die ausführliche Darlegung Aichers57) verwiesen werden, sodass ich mich im Folgenden auf Einzelaspekte beschränke. Daher können auch Vertragsklauseln, die ein Auftraggeber für durchaus „gleichgewichtige“ Auftragnehmer formuliert, selbst dann, wenn dies nur für dieses einzige Vergabeverfahren geschieht, zur Beeinträchtigung der Richtigkeitsgewähr der Bieter, zu diesen ausgeschriebenen Klauseln anzubieten, führen. Dazu weist Aicher58) zutreffend darauf hin, dass auch in diesem Fall „Ungleichgewicht“ verwirklicht sein kann, welches das Tatbestandselement „AGB“ erfüllt. Denn man wird auch in solchen Fällen der für eine einzige Ausschreibung formulierten Vertragsbedingungen davon ausgehen können, dass der Ausschreibende zur Formulierung für ihn günstiger Klauseln einen ungleich höheren Aufwand in Kauf nehmen kann als der einzelne Bieter zur Prüfung dieser Klausel. Geht doch der Auftraggeber von vornherein 57)

58)

Vgl. zu all dem ausführlich Aicher in Handbuch I 2.5.1, wo Aicher völlig zutreffend differenziert zwischen Verfahren, in denen nach ihrer Art (offenes oder nicht offenes Verfahren) oder durch Festlegung des Auftraggebers die ausgeschriebenen Vertragsbedingungen nicht verhandelt werden können und Verfahren, in denen diese Vertragsbedingungen verhandelt werden, weil dies die Wahl des Verfahrens (Verhandlungsverfahren, ebenso aber auch wettbewerblicher Dialog und alle anderen Formen zulässiger Verhandlungen) erlaubt und der Auftraggeber die Vertragsbedingungen nicht für „verhandlungsfest“ erklärt hat. Vgl. auch Lessiak, Inhaltskontrolle ausgeschriebener Vertragsbestimmungen, in Schuhmacher/Stockenhuber/Straube/Torggler/Zib (Hrsg) Festschrift für Josef Aicher (2012) 425 – 439; Oppel, Geltung der ÖNORM B 2110, ZVB 2015, 79 (81f). Handbuch I 2.5.1.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

577

davon aus, dass die von ihm ausgeschriebenen Klauseln letztlich vertraglich vereinbart werden, während der Bieter den Aufwand der Prüfung dieser Klauseln (auch) an seiner Chance messen muss, das Vergabeverfahren zu gewinnen. Wird allerdings die Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Entscheidung des Adressaten der Klausel nicht beeinträchtigt, dann führt dieses Fehlen verdünnter Willensfreiheit dazu, dass die Klausel nicht als AGB qualifiziert wird. Der Verstoß gegen die Bestimmungen des BVergG 2018, die unmittelbare Vorgaben für die Vertragsgestaltung enthalten, kann zugleich den Rechtsschutz nach dem BVergG 2018 auslösen. Diesfalls hat der Bieter die Möglichkeit, gegen die Verwendung der von ihm inkriminierten Vertragsklausel in Ausschreibungsbedingungen die Rechtsschutzbehörde anzurufen, die dann ihrerseits in einem Nachprüfungsverfahren diese Klausel für zulässig oder für unwirksam erklärt. In der Praxis enden solche Verfahren häufig damit, dass sich der Auftraggeber bereit erklärt, die Klausel anzupassen – wenn ihm dies noch möglich ist, ohne dass er das gesamte Vergabeverfahren widerrufen muss. Grundsätzlich schafft diese Rechtsschutzmöglichkeit daher ein Gegengewicht, das ein allenfalls zwischen Verwender der Vertragsklausel (ausschreibendem Auftraggeber) und interessiertem Bewerber bestehendes Ungleichgewicht beseitigt. Denn wenn die ernsthafte Verhandlung von Vertragsklauseln mit der Chance, diese auch tatsächlich zu ändern, genügt, um den Charakter als AGB zu beseitigen, dann muss dies erst recht gelten, wenn die Möglichkeit besteht, den Verwender der Klausel zu ihrer Anpassung im Rechtsweg zu zwingen. Allerdings ist die vergaberechtlich vorgegebene Beschränkung dieser Anfechtungsmöglichkeit zu beachten. So wird nach der Judikatur die Klausel nur dann für nichtig erachtet, wenn es sich um Rechtsmissbrauch oder Sittenwidrigkeit handelt59). Anders ist dies aus der Sicht des Vergaberechts bei einer Gruppe von Vertragsklauseln, die auch unter dem Aspekt der gröblichen Benachteiligung besonders anfechtungsanfällig sind. Das sind Vertragsklauseln, mit denen dem Adressaten ein nicht kalkulierbares Risiko übertragen wird. Eine solche Klausel, die verhindert, dass die Preise ohne Übernahme nicht kalkulierbarer Risiken ermittelt werden können, verstößt gegen § 88 Abs 2 BVergG 2018. Sie wird von der Judikatur durchgängig auch aus vergaberechtlicher Sicht als anfechtbar und – wenn sich der Vorwurf der Unkalkulierbarkeit als berechtigt herausstellt – als nichtig beurteilt60).

59)

60)

So die bisherige Judikatur zu § 99 Abs 2 BVergG 2006. Durch die Neufassung dieser Bestimmung in § 105 Abs 3 BVergG 2018 wurde die Bindung des Auftraggebers an die dort genannten Leitlinien weiter verringert, sodass zumindest keine Verschärfung der Judikatur gegen solche Klauseln zu erwarten ist. Vgl. zu all dem ausführlich Aicher mit ausführlichen Nachweisen der Judikatur zu diesem gesamten Problemkreis des Umgangs mit benachteiligenden Vertragsklauseln inklusive der Überwälzung nicht kalkulierbarer Risiken in Vergabeverfahren in Handbuch I 2.5.1.2.1.6ff. Dies bis hin zu Fragen des präventiven Vergaberechtsschutzes vor unbilligen Vertragsbestimmungen, Handbuch I 2.5.2.3.

578

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Für diesen Fall der Verwendung einer Vertragsklausel, die vor den Rechtsschutzbehörden des Vergaberechts mit Aussicht auf Erfolg hätte angefochten werden können und diese Anfechtungsmöglichkeit dem Bieter auch bewusst war, ist diese Vertragsklausel auch dann nicht als AGB zu beurteilen, wenn sie vom Auftraggeber einseitig vorgegeben und nicht verhandelbar war. Auch hier wird in der Praxis der Nachweis, dass dem Bieter die Möglichkeit der (erfolgreichen) Anfechtung dieser Klausel vor den Rechtsschutzbehörden bewusst war, durchaus möglich sein. Denn es entspricht gängiger Praxis, dass Bieter ihrem Wunsch nach Änderung von Vertragsklauseln auch mit der Androhung Gewicht verleihen, andernfalls die Rechtsschutzbehörde anzurufen und damit das Vergabeverfahren (zumindest) vorübergehend zu stoppen. In diesem Fall der bewussten Inkaufnahme dieser Klausel durch ihren Adressaten ist die Basiswertung, dass durch die zu prüfende Vorgangsweise (Ausschreibung der Vertragsbedingungen) die Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Entscheidung des Bieters beeinträchtigt wird, nicht erfüllt. Das wird vor allem auch dann der Fall sein, wenn der Bieter die mit der gegenständlichen Klausel verbundenen Risiken erkennt und die Richtigkeitsgewähr seiner Entscheidung dadurch vorliegt, dass er dieses erhöhte Risiko in sein Angebot einpreist. Ein Beispiel aus der Vergabe von Bauverträgen ist der durchaus geläufige Fall, dass Bieter als Alternative zur ausgeschriebenen Vertragsklausel eine andere, für sie günstigere Vertragsklausel vorschlagen und gleichzeitig ausführen, dass sie bei Annahme dieses Vorschlags durch den Auftraggeber einen – im Regelfall auch bezifferten – Preisabschlag in ihrem Angebot vornehmen können. Verkürzt gesagt: Sie würden den wegen dieser Klausel in ihr Angebot einkalkulierten Risikozuschlag dann, wenn er durch Veränderung der Klausel nicht mehr benötigt wird, wiederum streichen. Weitere Beispiele solcher Fälle sind Haftungsklauseln, bei denen von den Bietern gegenüber der Ausschreibung abweichende Deckelungen gefordert werden oder die Reduktion von Pönalen und vieles mehr, was sich für einen Bieter in Bauprojekten durchaus kalkulieren lässt. Lehnt der Auftraggeber diese Vertragsänderung ab, dann kann es nicht darauf ankommen, ob er die Vertragsänderung von vornherein ablehnt, weil er diesen Punkt für nicht verhandelbar erklärt oder in Verhandlungen unverändert auf dem Standpunkt beharrt, dass diese Vertragsklausel nicht verändert werde. Auch wenn in dieser Konstellation der Auftraggeber tatsächlich Verhandlungen führt, in denen zwar die realistische Chance bestand, dass diese Klausel verändert wird, diese Klausel dann aber doch nicht (etwa weil dem Auftraggeber der Preisabschlag für die verhandelte Rücknahme dieses Risikos zu gering erschien) an den Vorschlag des Bieters angepasst wird, ändert das nichts an dem in allen drei genannten Fällen gleichen Ergebnis: In dieser Konstellation war die Gewährleistung der subjektiven Richtigkeit der Entscheidung des Bieters, diese Klausel letztlich zu akzeptieren, nicht beeinträchtigt. Hat er sie doch (nachweislich) in der Bildung seines Preises

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

579

berücksichtigt. In keinem dieser drei Fälle ist daher die betreffende Vertragsklausel als AGB iSd § 879 Abs 3 ABGB zu beurteilen. Auch die dem Vielzahlkriterium nachgebildete Situation, dass die ausschreibende Stelle hinsichtlich der von ihr verwendeten Vertragsklauseln dem Bieter dadurch überlegen ist, dass sie (wie oben ausgeführt) einen wesentlich höheren Aufwand in die Formulierung der von ihr verwendeten Klauseln investieren kann, als dies vom Bieter hinsichtlich der Prüfung dieser Klauseln erwartet werden kann, spielt in diesem Fall, in dem der Bieter die Tragweite der Klausel und damit die Möglichkeit ihrer Anfechtung und/oder ihre Auswirkungen auf die Bildung seines Preises im vorstehend beschriebenen Sinn erkennt, keine Rolle. Ob der Adressat der Klausel eine „echte Chance“ hatte, die Klausel zu verhandeln oder die Möglichkeit hatte „die inhaltliche Ausgestaltung der Vertragsbedingungen zu beeinflussen“ ist daher nicht relevant – solange gesichert ist, dass die Richtigkeitsgewähr seiner privatautonomen Entscheidung dadurch, dass ihm diese Klausel „aufgezwungen“ wird, nicht beeinträchtigt wird. Das ist gerade dann der Fall, wenn er diese Klausel in die Bildung seiner subjektiven Äquivalenz nachweislich einfließen ließ. Also nicht nur dann, wenn er schon ausweislich eines kalkulierten Preiszuschlags für diese Klausel diese Klausel bei Bemessung seiner eigenen Leistung hinreichend berücksichtigt hat, sondern auch dann, wenn er vergeblich versucht hat, diese Klausel weg zu verhandeln und in voller Kenntnis der Tragweite dieser Klausel dennoch den Vertrag abschließt61). Zusammenfassend ist daher zu diesem Tatbestandselement AGB festzuhalten: Ist im konkreten Fall nachweislich, dass die Vorgabe der Verwendung einer bestimmten Vertragsklausel beim Adressaten dieser Vorgabe keine Beeinträchtigung der Richtigkeitsgewähr seiner privatautonomen Entscheidung zum Vertragsabschluss bewirkt hatte, insbesondere weil er die für ihn mit dieser Klausel verbundenen Nachteile richtig in die Bewertung seiner eigenen Vertragsleistung (in die Bildung des von ihm geforderten Preises62)) einkalkuliert hat oder – bei Übertragung nicht kalkulierbarer Risiken und entsprechendem Rechtsschutz in einem Vergabeverfahren – die Möglichkeit dieses Rechtsschutzes zwar erkannt, aber nicht genutzt hat, so scheitert die Anwendung des § 879 Abs 3 ABGB bereits am Fehlen dieses Tatbestandselements.

61)

62)

Gegenteilig jedoch die Judikatur, etwa in OGH 18.12.2014, 2 Ob 20/14a. Ebenso im Ergebnis OGH 16.10.2013, 7 Ob 154/13t, in der der OGH nicht darauf abstellt, ob Adressat der Klausel die vom OGH vermisste „Gestaltungsfreiheit hinsichtlich des Vertragsinhalts“ dadurch nützen konnte, dass er seine eigene Leistung unter Berücksichtigung der Klausel veränderte, sondern (unter Berufung auf Vorjudikatur) nur darauf abstellt, ob der Verwender der Klausel „zu einer Abänderung des von ihm verwendeten Textes erkennbar bereit gewesen“ sei. Vgl. zu dieser OGHE Kellner, Zur Abgrenzung zwischen Allgemeinen Geschäftsbedingungen und ausgehandelten Verträgen, ÖBA 2015, 475. Diesem Ergebnis widersprechen auch nicht die Überlegungen zum sogenannten „Preisargument“, bei dem es im Kern darum geht, dass die vom Verwender der AGB behauptete „Günstigkeit“ des angebotenen Preises in Wahrheit nicht vorliegt bzw. nicht in Relation steht zum Nachteil der vorgegebenen Klausel und der Adressat der Klausel im Ergebnis in seiner Willensbildung getäuscht wird. In den hier genannten Fällen bildet der Adressat den Preis, um den er bereit wäre, diese Klausel zu akzeptieren, sodass von einer vergleichbaren Verdünnung seiner Willensfreiheit keine Rede sein kann. Vgl. zu all dem ausführlich Krejci im Handbuch 161ff.

580

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Da jedoch bereits die Vorgabe einer Vertragsklausel, ohne dass der Vertragsinhalt nachweislich auf allfällige Verhandlungsversuche des Adressaten reagiert hat, den Anschein erweckt, dass diese Vorgabe zu einer verdünnten Willensfreiheit und damit einer Beeinträchtigung der Richtigkeitsgewähr beim Adressaten geführt habe, liegt die Beweislast dafür, dass dies im konkreten Sachverhalt entgegen dem Anschein nicht der Fall war, beim Verwender der Vertragsklausel63).

40.6.2

Nebenleistung

Außer dem meist nicht näher begründeten Stehsatz, dass der Begriff der Hauptleistung in § 879 Abs 3 ABGB „restriktiv“ auszulegen sei, werden kaum Abgrenzungskriterien genannt. Auch diese Anforderung der „restriktiven“ Auslegung klärt wenig, wenn offen bleibt, mit welchem Ziel und nach welcher Wertung diese Restriktion erfolgen soll. Ist es das Ziel, den Anwendungsbereich der Norm groß zu halten, etwa weil man entgegen der Absicht des Gesetzgebers meint, die Anwendung sollte möglichst weit in den Bereich des vereinbarten Leistungsaustausches hineinreichen oder weil man die Leitfunktion der Dispositivordnung höher stellt als die privatautonome Entscheidungsfreiheit. Ebenso wäre der Ansatz denkbar, dass demjenigen, der eine Klausel formuliert hat, von vornherein eine Übermacht unterstellt wird, sodass das Schutzinteresse des Adressaten der Klausel höher zu bewerten sei. Ein weiterer Ansatz wäre es, die Grenze nach inhaltlichen Kriterien zu ziehen, die der Vertrag vorgibt. Letzteres ist der Ansatz dieser Arbeit. Entsprechend vielfältig ist die Judikatur. Mit eben jener Selbstverständlichkeit, mit welcher der OGH die Verpflichtung des Mieters zur Bezahlung von Erhaltungskosten im Bestandvertrag als im unmittelbaren Austauschverhältnis stehende Hauptleistung beurteilt hatte64), ging er in der Folge zur gegenteiligen Position über und beurteilte diese Verpflichtung als Nebenleistung65). Hinsichtlich der Vielfalt der Argumentation zur Beurteilung von vertraglich vereinbarten Leistungen als Hauptleistung oder als Nebenleistung wird im Rahmen dieser Arbeit auf die in den beiden vorgenannten Entscheidungen referierten Literaturstellen verwiesen, sodass ich mich im Rahmen dieser Arbeit auf die Anwendung der oben dargestellten Basiswertung zur Auslegung dieses Tatbestandselements beschränken kann. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber in Kenntnis der von ihm auch in den Materialien zitierten Forderung, den Tatbestand des § 879 Abs 3 ABGB nicht auf 63)

64) 65)

So entspricht es hA, dass zur Frage des Vorliegens der Ungleichgewichtslage bei Verwendung von AGB eine Beweislastumkehr in dem Sinn eintritt, dass der Verwender der AGB das „Nichtvorliegen“ der Ungleichgewichtslage beweisen muss. Vgl. dazu Welser/Kletečka, Bürgerliches Recht I15 (2018) Rz 436 mwN in FN 93. Das trifft mE nicht nur auf einzelne Kriterien, die für das Vorliegen von AGB sprechen, wie eben hier die Ungleichgewichtslage, zu, sondern auch für alle anderen Fälle, in denen entgegen dem äußeren Anschein, der bereits durch die Vorgabe einer Vertragsklausel entsteht, die inhaltlich nicht so verhandelt wird, dass sich die Verhandlung im Vertragstext niederschlägt, der Anschein einer Gefährdung der Richtigkeitsgewähr des Adressaten dieser Klausel entsteht. 19.05.2009, 3 Ob 20/09a. OGH 18.12.2014, 2 Ob 20/14a, entgegen der Ansicht des Erstgerichtes, das ebenso selbstverständlich die Verpflichtung des Mieters zur Bezahlung der Erhaltungskosten als Hauptleistung beurteilt hatte. Der OGH folgte (ohne nähere Begründung) seiner Vorentscheidung 28.11.2012, 7 Ob 93/12w, die sich wiederum im Wesentlichen auf die vorangegangene „mietrechtliche Klauseljudikatur“ (vgl. FN 85) und die dazu vorliegende Literatur stützte – und damit genau jene Wertungswidersprüche auslöste, auf die in dieser Arbeit eingegangen wird.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

581

Nebenleistungen einzuschränken, sondern diese Prüfung der durch AGB behaupteten gröblichen Benachteiligung auch auf Hauptleistungen auszudehnen, dieser Forderung nicht nachgekommen ist. Daraus folgt, dass der Gesetzgeber mit § 879 Abs 3 ABGB in den Kern der Bildung der subjektiven Äquivalenz, das ist die wechselseitige Festlegung der Hauptleistungen, nicht eingreifen wollte. Dieser Eingriff sollte den eine höhere Intensität der Beeinträchtigung der Willensfreiheit und des Auseinanderklaffens der Äquivalenz der Leistungen voraussetzenden Bestimmungen des § 879 Abs 1 sowie des Wuchertatbestands nach § 879 Abs 2 Z 4 ABGB vorbehalten bleiben. Daher begründen die Gesetzesmaterialien diese Einschränkung auf Nebenleistungen abschließend wie folgt66): „Durch eine Einbeziehung dieser Äquivalenzprüfung in die so allgemeine Regelung des § 879 Abs. 3 würde den Gerichten die Aufgabe gestellt, in jedem Einzelfall exakt den angemessenen Preis der Leistung festzustellen; für eine solche ganz allgemeine Prüfung fehlen die Maßstäbe, die Gerichte wären durch diese Aufgabe überfordert“.

Klarer kann wohl kaum gesagt werden, dass die Norm nicht in die von den Parteien gebildete, subjektive Äquivalenz der im synallagmatischen Austausch stehenden Leistungen und Gegenleistungen eingreifen sollte. Ergänzend ist nur hinzuzufügen, dass im System privatautonomer Gestaltung des Leistungsaustausches die Bildung der subjektiven Äquivalenz zwar durch die Judikatur ergänzt bzw. korrigiert, aber gerade nicht im Kernbereich der Äquivalenzbildung des Austausches von Leistung und Gegenleistung, sohin der im unmittelbaren Austauschverhältnis stehenden Leistungen, der Vertragskonsens durch Gerichtsentscheid ersetzt werden sollte. In diesem Tatbestandselement der Nebenleistung spielt eine „verdünnte Willensfreiheit“, die ihrerseits die Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Entscheidung beeinträchtigt, insoweit eine Rolle, als zu prüfen ist, ob die betreffende Leistung vom Adressaten der Vertragsklausel bei Bildung seiner subjektiven Äquivalenz einkalkuliert wurde oder nicht. Hier besteht weniger die Gefahr, dass die Richtigkeitsgewähr durch eine „Drucksituation“ oder ähnlich gestört wird, sondern steht die Gefahr im Vordergrund, dass eine Leistung, die tatsächlich gegenüber der Hauptleistung als Nebenleistung in ihrer Bedeutung für den Adressaten der Klausel so weit zurücktritt, dass sie von ihm nicht hinreichend (entsprechend ihrer tatsächlichen Bedeutung) berücksichtigt und daher bei Bildung seiner subjektiven Äquivalenz nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt wird. Die Richtigkeitsgewähr der Willensbildung wird daher bei Nebenleistungen tendenziell dadurch stärker beeinträchtigt als bei Hauptleistungen, dass neben der Hauptleistung in ihrer Bedeutung zurücktretende Leistungen – eben Nebenleistungen – nicht bewertet, sohin nicht in die Bildung des subjektiven Parteiwillens eingeflossen sind.

66)

EBRV 744 BlgNR 16. GP, 47.

582

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Dazu verweise ich darauf, dass ein ähnliches Argument – die mangelnde Kalkulierbarkeit der Leistungen – ganz zutreffend als Störung der Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Entscheidungsfindung beurteilt und daher – unter dem Aspekt der gröblichen Benachteiligung – als tatbestandsmäßig beurteilt wird. Daher sollte die Abgrenzung von Hauptleistungen gegenüber Nebenleistungen wie folgt vorgenommen werden: Es ist darauf abzustellen, welche Kerninhalte der wechselseitigen Leistungspflichten zugleich die wesentlichen Elemente zur Bildung der subjektiven Äquivalenz und damit zur Herstellung des (von beiden Seiten subjektiv betrachteten) Leistungsgleichgewichts waren, das beide Vertragspartner dazu bewogen hat, den Vertrag abzuschließen. Dies sind die Hauptleistungen. Die Bildung der subjektiven Äquivalenz hinsichtlich der Hauptleistungen ist in erster Linie verantwortlich für die subjektive Richtigkeit der privatautonomen Entscheidung zum Vertragsabschluss. Deshalb greift der Gesetzgeber in diesen Bereich auch nur bei krasser Störung der Freiheit der Willensbildung ein, da er sonst diese Funktion der Privatautonomie gefährden würde. Anders bei den Nebenleistungen. Sie mögen zwar durchaus auch zur Bildung der subjektiven Äquivalenz beitragen, erreichen dabei aber nie das Gewicht der Hauptleistungen. Auch sie tragen zur subjektiven Richtigkeit der privatautonomen Entscheidung bei. Da sich die Vertragsparteien in ihrer Willensbildung zum Vertragskonsens stärker auf die Hauptleistungen als auf die Nebenleistungen stützen, wird die subjektive Richtigkeitsgewähr ihrer diesbezüglichen Entscheidungen im Wesentlichen durch jene Äquivalenz hergestellt, die der Gesetzgeber im Dispositivrecht als gerechten Interessenausgleich vorsieht. Wirkt hingegen eine Verdünnung der Willensfreiheit, wie sie typisch mit dem Einsatz von AGB verbunden ist, zusammen mit einer Störung der im Dispositivrecht unterstellten Äquivalenz, dann entsteht die Gefahr, dass – wie dies die Judikatur aus den Gesetzesmaterialien übernommen hat und seit Jahrzehnten zu § 879 Abs 3 ABGB formuliert67) – der Adressat der AGB einen „Vertragsbestandteil zum Inhalt seiner Erklärung macht, den er nicht wirklich will.“ Aus den vorgenannten Überlegungen folgt, dass nach dem wirtschaftlichen Kern des vereinbarten Leistungsaustausches in jedem Einzelfall zu fragen ist, um Hauptleistungen von Nebenleistungen abzugrenzen68) – oder wie dies Aicher69) für diese Abgrenzungsfrage präzise formuliert: „Der Ausschluss der Inhaltskontrolle gem. § 879 Abs 3 ABGB beschränkt sich auf den engsten Kern der Leistungszusage, sohin nur auf jene Vertragsbestandteile, die die individuelle, zahlenmäßige Umschreibung der beiderseitigen Leistungen festlegen. Bestimmungen, welche die 67)

Vgl. etwa von einer der Leitentscheidungen zu dieser Norm, OGH 18.01.1983 5 Ob 732/81 bis herauf zu OGH 10.12.2014, 7 Ob 168/14b uva.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

583

Hauptleistung nur ausgestalten, modifizieren oder einschränken, unterliegen als Nebenbestimmungen der Inhaltskontrolle gem. § 879 Abs 3 ABGB.“

40.6.3

Gröbliche Benachteiligung

40.6.3.1

Anknüpfungspunkt

Dass die Wahrung der „subjektiven Richtigkeitsgewähr“ privatautonomer Abschlussfreiheit (ob und mit welchem Inhalt ein Rechtsgeschäft abgeschlossen wird) das zentrale Anliegen des § 879 Abs 3 ABGB sei, sohin nicht nur auf die Auslegung des Tatbestandselements der „gröblichen Benachteiligung“ beschränkt ist, wurde bereits oben ausgeführt. Soweit zu sehen, entspricht dies auch der hL70). Ebenso unstreitig ist, dass die gröbliche Benachteiligung am dispositiven Recht zu messen sei. Das steht schon so in den Gesetzesmaterialien71). Dort wird erläutert, dass der in der RV noch enthaltene „besondere Hinweis darauf, dass die Benachteiligung am dispositiven Recht zu messen ist, … dem Ausschuss überflüssig (erschien), da dies selbstverständlich ist, wobei natürlich nicht jede Abweichung vom dispositiven Recht eine „gröbliche Benachteiligung“ darstellt.“

Klärungsbedürftig ist m.E., welcher Maßstab für die Beurteilung der Abweichung bei Fehlen eines dispositiven Beurteilungsmaßstabes heranzuziehen ist. Da geht es mE zunächst darum zu unterscheiden, ob bei Heranziehung eines nicht aus dem dispositiven Recht folgenden Maßstabes, sohin bei Heranziehung der beiderseitigen Rechtspositionen72) oder eines außervertraglich ermittelten Maßstabs73), wie etwa der ÖNORM B 2110 oder der B 2118 dieselben Regeln gelten, insbesondere der selbe Grad der Abweichung durch die konkrete Vertragsregelung für die Beurteilung der „gröblichen Benachteiligung“ heranzuziehen ist, wie bei Heranziehung des dispositiven Rechts. Denn dass das dispositive Recht anderen, außervertraglichen „Maßstäben“, also im konkreten Fall den Bauvertragsbedingungen der ÖNORMEN B 2110 bzw. B 2118 68)

69) 70) 71) 72) 73)

Das verkennt Pletzer (Erhaltung in Einkaufszentren, wobl 2014, 2 (3)), wenn sie meiner in wbl 2012, 121 vertretenen Position, die als Teil der Miete in Einkaufszentren auf die Mieter überwälzten Erhaltungskosten seien im Synallagma stehende Gegenleistung und damit keine Nebenleistung, entgegenhält: „Warum den Bestandnehmer treffende Erhaltungspflichten bei Wohnungsmietverträgen Nebenleistungen, bei EKZBestandverträgen hingegen Hauptleistungen sein sollen, ist nicht erfindlich“. Das wird rasch erfindlich, wenn man aus wirtschaftlicher Sicht danach fragt, welche Leistungen im Kern des Leistungsaustausches des konkreten Sachverhalts liegen. Bei dem in OGH 18.09.2009, 6 Ob 104/09a entschiedenen Fall hatte der OGH eine Erhaltungspflicht im Wohnungsmietvertrag (Ausmalverpflichtung bei Rückgabe der Wohnung) völlig zutreffend als Nebenleistung dem § 879 Abs 3 ABGB unterstellt. Denn es lag nahe, dass jener Mieter, dessen Vertrag auf fünf Jahre (zuzüglich Verlängerungsoption) befristet war, bei Kalkulation seiner Zahllast, sohin bei Bildung seiner subjektiven Äquivalenz, nicht jene Kosten einkalkulierte, die entstehen werden, wenn er irgendwann in ferner Zukunft bei Beendigung des Mietverhältnisses verpflichtet sein wird, die Wohnung auszumale. Ganz anders der Mieter eines Einkaufszentrums, der beginnend mit der ersten Vorschreibung seines Mietzinses die ihm nach dem Mietvertrag überwälzten, anteiligen Erhaltungskosten zu tragen hat, die bei Einkaufszentren durchaus ein Viertel oder mehr der monatlichen Bruttobelastung des Mieters ausmachen. Dass dieser Mieter diese Kosten ebenso selbstverständlich in die Bildung seiner subjektiven Äquivalenz einfließen lässt, wie dies der vorgenannte Wohnungsmieter nicht tut, sollte klar sein. Handbuch I 2.5.2.2.1.1. Vgl. Welser/Kletečka, Bürgerliches Recht I15 (2018) Rz 435. BJA1223 BlgNR 14. GP, 5. So etwa Welser/Kletečka, Bürgerliches Recht I15 (2018) Rz 436 mit mwN in FN 92. Zu dieser Maßstabsfunktion vgl. Aicher bei FN 101 und FN 103.

584

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

vorgeht74), ist zwar zutreffend. Doch wenn es – wie die Judikatur dies auch mehrfach tut – darum geht, zu beurteilen, ob die beurteilte Vertragsklausel zu einem groben Missverhältnis führt, dann bezieht sich dies zunächst einmal auf ein solches Missverhältnis zwischen den Vertragsparteien nach den Grundpositionen des abgeschlossenen Vertrages. bezieht sich dies zunächst einmal auf ein solches Missverhältnis zwischen den Vertragsparteien nach den Grundpositionen des abgeschlossenen Vertrages. Das spielt in unserem Fall der Bauvertragsbedingungen dann eine zentrale Rolle, wenn der Bauvertrag nicht nach den Risikoverteilungsregeln der §§ 1168, 1168a ABGB, sondern nach den Regelungen der ÖNORM B 2110, also insbesondere nach der Risikoverteilungsregel ihres Punktes 7.2 abgeschlossen wurde. Denn die Regelungen der B 2110 verschieben die Risikoverteilung zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber gegenüber dem Konzept des ABGB grundlegend. So wird das Risiko der „dritten Sphäre“ nach dem ABGB, entsprechend dem Konzept der Erfolgsabhängigkeit des Werkvertrags, dem Werkunternehmer, nach Pkt. 7.2 der B 2110 dem Auftraggeber zugeordnet75). In diesem Fall meine ich, dass die durch die einzelne, in Prüfung gezogene Vertragsklausel bewirkte Risikoverteilung dann zu einem gröblichen Missverhältnis führen kann, wenn sie zwar dem Grundkonzept der Risikoverteilung nach §§ 1168, 1168a ABGB nicht widerspricht, dieses Konzept jedoch im konkreten Vertrag durch Vereinbarung der ÖNORM B 2110 ersetzt wurde. Dann ist die konkret zu prüfende Vertragsklausel am Grundkonzept des Punktes 7.2 der ÖNORM B 2110 zu messen – sohin nach einem Konzept der Risikoverteilung, das wesentlich stärker an das Konzept des (freien) Dienstvertrages als des Werkvertrags angelehnt ist.

40.6.3.2

Systematik der Benachteiligungsfälle – Vorbemerkungen

Vor systematischer Erörterung der im Kernbereich der gröblichen Benachteiligung iSd § 879 Abs 3 liegenden Fällen ist klarzustellen, dass es selbstverständlich auch bei Verwendung von AGB betreffend Nebenklauseln Nichtigkeitsfälle nach § 879 Abs 1 ABGB geben wird. Zutreffend verweist Aicher76) darauf, dass „... unter Bedachtnahme auf die geforderte „Berücksichtigung aller Umstände des Falles“ auch eine strengere Beurteilung als bisher nach § 879 Abs 1 ABGB Platz greifen kann“.

Das ist der Fall, wenn überdies (über das Tatbestandselement des Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot oder die guten Sitten hinaus) die beiden ersten Tatbestandselemente 74) 75)

76)

Wenn sohin keine dieser ÖNORMEN als Vertragsbestandteil vereinbart wurde. Vgl. dazu bereits Lessiak, Die ÖNORM B 2110 und Bauablaufstörungen, im Tagungsband zum 9. Grazer Baubetriebsund Bauwirtschaftssymposion 2011, 238 (insbesondere 245 ff) und jüngst Lessiak, Bauvertragsbedingungen und Einsatz digitaler Werkzeuge, ZVB 2019, Heft 07/08. Vgl. ausführlich zur Risikoverteilung, insbesondere in Gegenüberstellung der Regelungen des ABGB mit jenen der ÖNORM Herrmann, Risikoüberwälzung beim Bauwerkvertrag (Diss 2018), der ebenfalls betont, dass abweichend von den Regelungen des ABGB nach der ÖNORM B 2110 das „Risiko unvorhersehbarer, unabwendbarer Ereignisse und von Ereignissen, die die Leistung objektiv unmöglich machen, vom Auftraggeber getragen“ werde. Handbuch I 2.5.2.2.1.3.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

585

des § 879 Abs 3 ABGB verwirklicht sind. Dann ist bereits durch Erfüllung dieser beiden Tatbestandselemente eine Verdünnung der Willensfreiheit eingetreten, die auch dann, wenn die in § 879 Abs 1 ABGB geforderte Intensität der Äquivalenzstörung unterschritten wird, zur Nichtigkeit führt. Dies im Sinne des oben erörterten Prinzips, dass das „Mehr“ eines Elements ein „Weniger“ eines anderen Elements ermöglicht und dennoch der Tatbestand verwirklicht wird, sohin die Rechtsfolge der Nichtigkeit zu bejahen ist. Stets ausgehend von derselben Basiswertung, dass die Gefährdung der objektiven Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Entscheidung zu verhindern ist. Das führt hier dazu, dass bereits eine geringere Intensität der Sittenwidrigkeit als sie ohne Verwirklichung der beiden ersten Tatbestandselemente des § 879 Abs 3 ABGB zu fordern wäre, zur Erfüllung der Nichtigkeit nach § 879 Abs 1 ABGB ausreicht. Schließlich weist Aicher77) darauf hin, dass auch „Wertungsgesichtspunkte des § 6 KSchG für die Unwirksamkeit einer Vertragsklausel in AGB auch beim Unternehmergeschäft sprechen“ können. Auch dies ist zutreffend. Dabei ist mE zu berücksichtigen, dass sich Wertungsgesichtspunkte unter dem Aspekt des Verbraucherschutzes häufig mit der hier gegenständlichen Basiswertung des Schutzes der Richtigkeitsgewähr überschneiden werden, diese beiden Wertungsgesichtspunkte aber dennoch systematisch getrennt beurteilt werden sollten. Kehrt man zurück zum Kern des Tatbestandselements der gröblichen Benachteiligung, dann ist wiederum der Ausgangspunkt, dass die Basiswertung des § 879 Abs 3 ABGB Beeinträchtigungen der objektiven Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Entscheidung durch ein Zusammenwirken der Kräfte „verdünnte Willensfreiheit“ und „Äquivalenzstörungen“ verhindern soll. Damit lassen sich die vom Tatbestandselement der „gröblichen Benachteiligung“ erfassten Fälle wie folgt systematisieren78).

40.6.3.3

Vergleich der Äquivalenz innerhalb des Vertrages

Das ist zunächst jene Gruppe von Fällen, in denen die Rechtspositionen beurteilt werden, welche die zu prüfende Vertragsklausel den beiden Vertragsparteien zuweist. Stehen diese Rechtspositionen in einem „auffälligen Missverhältnis“, dann (und nur dann – sohin nicht bereits bei jeder Differenz ohne sachliche Rechtfertigung) liegt gröbliche Benachteiligung vor. Dies folgt bereits aus dem Vergleich mit § 879 Abs 2 Z 4 ABGB. Die im Wuchertatbestand sanktionierte Äquivalenzstörung des auffälligen Missverhältnisses der wechselseitigen Leistungen, die im Zusammenspiel mit der dort beschriebenen (massiven) Verdünnung der Willensentscheidung (Leichtsinn, Zwangslage etc) zur Nichtigkeit führt, muss auch als auffälliges Missverhältnis in den Fällen des § 879 Abs 3, in denen neben der Äquivalenzstörung als zweite Kraft der Einsatz von AGB und die Beschränkung auf Nebenleistungen zur Gefährdung der Richtigkeitsgewähr der Vertragsentscheidung führt, vorliegen. 77) 78)

Handbuch I 2.5.2.2.1.3. Das entspricht im Wesentlichen auch der hA und Judikatur, zu deren Nachweis auf Welser/Kletečka, Bürgerliches Recht I15 (2018) Rz 436, insbesondere in FN 90 ff verwiesen wird. Weiters auf Graf, in Kletečka/Schauer, ABGBON1.04 § 879 Rz 279, insbesondere mit der dort in FN 582 genannten Judikatur; Krejci in Rummel/Lukas, ABGB4 § 879 Rz 376 ff mit den dortigen, sehr umfangreichen Judikaturnachweisen und schließlich Krejci, Handbuch zum Konsumentenschutzgesetz, 166 f. Auf Divergenzen in den hier zitierten Positionen, die sich mE jedoch unter Anwendung der genannten Basiswertung glätten lassen, wird im Text eingegangen.

586

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Wenn dies die Judikatur dahingehend beschreibt, dass die gröbliche Benachteiligung dann anzunehmen sei, wenn es für die Abweichung der Klausel vom Dispositivrecht keine sachliche Rechtfertigung gäbe und dies „jedenfalls dann anzunehmen“79) sei, wenn ein „auffälliges Missverhältnis“ vorliegt, dann ist dies zwar im Ergebnis richtig. Doch darf durch dieses „jedenfalls dann anzunehmen“ nicht verdeckt werden, dass das Kriterium des auffälligen Missverhältnisses nur abstellt auf den Leistungsaustausch inter partes. Die Beurteilung einer Abweichung von den Dispositivnormen als sachlich nicht gerechtfertigt, sohin der Vergleich der durch diese Vertragsklausel bewirkten „Äquivalenz“ mit der durch das Dispositivrecht unterstellten Äquivalenz, ist daher strikt zu trennen von der Beurteilung der Äquivalenzstörung inter partes unter Heranziehung dieses Kriteriums aus dem Wuchertatbestand.

40.6.3.4

Vergleich der Äquivalenz gegenüber dem Dispositivrecht

In der zweiten Gruppe der Fälle gröblicher Benachteiligung gibt es für die nach der zu prüfenden Vertragsklausel vorgenommene Regelung eine Dispositivregelung, welche das Gleichgewicht der Äquivalenz zwischen den Vertragsparteien anders bildet als die zu prüfende Vertragsklausel. In diesen Fällen ist unstreitig80), dass die Dispositivregelungen als Vergleichsmaßstab für die Beurteilung der konkreten Vertragsklausel als gröblich benachteiligend heranzuziehen sind. Hier geht die oben zitierte Lehre und Judikatur zutreffend davon aus, dass sachlich nicht gerechtfertigte Abweichungen von den Dispositivnormen als gröblich benachteiligend zu beurteilen sind. In diesem Bereich der im Sinne F. Bydlinskis81) „tragbaren Äquivalenz“ spielt die Frage nach der „sachlichen Rechtfertigung“ der Abweichung – die sich beim „auffälligen Missverhältnis“ nicht stellt – eine so zentrale Rolle, dass auf diese Thematik (was ist eine sachliche Rechtfertigung und welcher Maßstab ist für die Sachlichkeitsprüfung anzulegen) in den folgenden zwei Unterpunkten gesondert eingegangen wird.

40.6.3.5

Die sachliche Rechtfertigung der Abweichung

In der Vielzahl der Judikate, welche die Formel von der sachlichen Rechtfertigung der Abweichung bemühen82), liefert auch eine detaillierte Durcharbeitung des runden Dutzends jüngerer Entscheidungen höchstens Anhaltspunkte für eine einheitliche Argumentationslinie. Auch wenn sich zB feststellen lässt, dass in bestimmten Branchen, die mehrfach mit Verbandsklagen konfrontiert werden, der Anteil der erfolgreich angegriffenen 79) 80)

81) 82)

OGH 09.04.2015, 7 Ob 62/15s unter Verweis auf die stRsp in RIS-Justiz RS0016914; RS0014676. Dass hier das dispositive Recht heranzuziehen ist, betont bereits der Ausschussbericht – siehe oben. Das ist an sich ohne großen Begründungsaufwand nachvollziehbar. Schwieriger ist dann schon die Begründung, welche Abweichung vom Dispositivrecht als gröblich benachteiligend zu beurteilen ist. Denn ganz zutreffend betonen hier die Gesetzesmaterialen, dass dies nicht für jede Abweichung vom Dispositivrecht gelten kann. Siehe oben bei FN 47. Allein im Rechtsatz RIS-Justiz RS0016914 sind dies rund 50 Entscheidungen.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

587

Vertragsklauseln sinkt83), andere Branchen nach einem Angriff in der Judikatur weitestgehend nicht mehr vorkommen84), und andere Bereiche Dauerbrenner der (mietrechtlichen) Klauseljudikatur85) sind, lässt sich (trotz des zumindest in einzelnen Branchen eintretenden Lerneffekts) dennoch kaum eine einheitliche Leitlinie erkennen, nach welcher die Judikatur aus dieser Vielzahl von Vertragsklauseln pro Einzelfall die gröblich benachteiligenden Klauseln aussondert und andere Klauseln weiterbestehen lässt. In jenen Entscheidungen, welche die sachliche Rechtfertigung verneinten, reicht die Bandbreite der Begründungen vom Vergleich der als unangemessen kurz beurteilten Rügefrist von drei Tagen mit der vollen Verjährungsfrist von drei Jahren86) zu einem Übermaß an Gestaltungsmacht, indem der Versicherer seine Leistungen letztlich von nicht näher determinierbaren Zusagen abhängig machte, sodass der Versicherte in diesem Punkt letztlich der Willkür des Versicherers ausgeliefert war87), über eine Vielzahl von Einzelbegründungen, mit denen jede der zahlreichen angegriffenen Versicherungsklauseln als sachlich nicht gerechtfertigte Verschlechterung der Position des Versicherten beurteilt wurden88), bis hin zur Beurteilung der Haftungseinschränkung für leichte Fahrlässigkeit als gröblich benachteiligend, weil dies die Hauptleistungspflicht des Verwenders der AGB beeinträchtige89). Als sachlich gerechtfertigt beurteilte der OGH90) die Haftungseinschränkung eines Fahrzeugvermieters, weil sie der vom Kunden zu erbringenden Gegenleistung entspräche und daher ein gewisses Äquivalenzverhältnis im Leistungsaustausch herstelle. Auch die zweite in diesem Verfahren angegriffene Klausel, in der es um die Verfolgung von Ansprüchen gegen Dritte ging, hielt der Prüfung stand, weil sie dem Adressaten der AGB zugleich Rechte einräumte, die ihm ohne diese Klausel – sohin nach dem dispositiven Recht – nicht zugestanden wären. Auch hält es der OGH91) für sachlich gerechtfertigt, die Gemeinschaftswerbung dem Bestandgeber als Betreiber des Einkaufszentrums zu übertragen und dennoch, obgleich kein Mitspracherecht besteht, eine Kostenbeteiligung der einzelnen Ladenbesitzer als Bestandnehmer vorzusehen.

83)

84) 85) 86) 87) 88) 89) 90) 91)

So wurden zunächst im Banken- und Kreditwesen in der OGHE vom 24.08.2017, 4 Ob 110/17f von 13 geprüften Klauseln in AGB elf als gröblich benachteiligend beurteilt, sodass nur zwei Klauseln (Veränderung einer Kündigungsfrist und Rücktrittsrecht im Konkurs) Bestand hatten. Auch in der Entscheidung vom 20.02.2018, 10 Ob 60/17x wurde von zwölf angegriffenen Klauseln nur die Vereinbarung eines Haftungshöchstbetrag für im Safe hinterlegte Wertgegenstände als sachlich gerechtfertigt beurteilt. Hingegen hat der OGH in 1 Ob 124/18v vom 03.04.2019 nur mehr rund die Hälfte der angegriffenen Klauseln dieser ebenfalls im Bank- und Kreditwesen angesiedelten AGB als gröblich benachteiligend für nichtig erklärt. Das Fitnessstudio in der OGHE vom 22.03.2016, 5 Ob 87/15b durfte immerhin fünf der insgesamt 15 angegriffenen Klauseln weiterverwenden und blieb als Branche in der Folge ein Einzelfall. Vgl. die Nachweise bei Pletzer in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.04 § 869 Rz 21 FN 66. 10 Ob 93/11s vom 14.02.2012. 7 Ob 168/14b vom 10.12.2014. 7 Ob 53/14s vom 18.02.2015. 1 Ob 243/16s vom 10.02.2017. 10 Ob 74/15b vom 07.06.2016. 8 Ob 27/19g vom 25.03.2019.

588

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Auch die Leistungsbegrenzung für bestimmte Schäden (Bandscheibenvorfall) im Versicherungsvertrag war sachlich gerechtfertigt92). Weiters bejahte der OGH93), gestützt auf eine in dieser Entscheidung sehr ausführlich wiedergegebene Vorjudikatur, in der die Vereinbarung von Entgelten für Zusatz- und Nebenleistungen regelmäßig als nicht gröblich benachteiligend beurteilt worden war, auch die Vereinbarung eines wertabhängigen Kreditbearbeitungsentgelts als sachlich gerechtfertigt. Schließlich sei auch die Überwälzung der Prüfpflicht hinsichtlich der bereitgestellten Materialien auf die Werkbestellerin vor dem Hintergrund der Rechtsprechung zur Warnpflicht nach § 1168a ABGB durchaus vertretbar, weshalb der OGH94) die Revision in dieser Sache nicht zuließ. So unterschiedlich die Begründungen des OGH in diesen Fällen auch sein mögen, meine ich doch, dass es als einigermaßen stabile Leitlinie gelten kann, die sachliche Berechtigung der Abweichung von der Dispositivnorm zumindest primär unter dem Aspekt zu überprüfen, welche Auswirkungen diese Klausel auf das Äquivalenzverhältnis, sohin auf den unmittelbaren Austausch der Leistungen im Vertragsverhältnis hat. Hier wiederum durchaus mit Schwerpunkt auf dem Austausch der Hauptleistungen. Dies ist gerade bei Anwendung der Basiswertung zutreffend, da dieser Bereich des unmittelbaren Leistungsaustausches, insbesondere hinsichtlich der Hauptleistungen, von wesentlich höherer Bedeutung für die Richtigkeitsgewähr der Vertragsentscheidung ist als jeder andere Bereich. Dieser Bereich ist daher primär relevant, wenn es um die Auswirkungen von „Nebenabreden“95) geht. Auf diesen Ansatz, primär aus den Auswirkungen der in Prüfung stehenden Klausel auf den Leistungsaustausch auf die sachliche Rechtfertigung der Abweichung zu schließen, gehe ich daher in diesem Schlussteil meiner Arbeit näher ein.

40.6.3.6

Maßstab vereinbarter Leistungsaustausch

Ansätze wie etwa bei Krejci96) dass sich eine sachliche Rechtfertigung aus der „Natur des Rechtsgeschäftes“ ergäbe, werden zwar wiederholt ausgeführt, haben aber geringe praktische Auswirkungen in der Judikatur. Doch der ebenfalls von Krejci97) stammende Hinweis, dass sich die sachliche Rechtfertigung auch aus einem „Nachteilsausgleich in den anderen Nebenbestimmungen des Vertrages“ ergäbe könne, und die Fortführung durch Aicher98) zur „Möglichkeit des 92) 93) 94) 95) 96) 97)

7 Ob 86/17y vom 05.07.2017. 6 Ob 13/16d vom 30.03.2016. 3 Ob 109/14x vom 18.03.2015 Im Sinne von Krejci, Handbuch 147. Handbuch 166. Handbuch 166.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

589

Nachteilsausgleichs durch zweckkongruente begünstigende Nebenbestimmungen“ führen mE zu einem Ansatz, den man aus der jüngeren Judikatur ablesen kann und ausbauen sollte. So hat der OGH99) in dieser Entscheidung zunächst nur die Vorjudikatur in dem Sinne zitiert, dass bei auffallendem Missverhältnis der Rechtsposition der Vertragsparteien die sachliche Berechtigung jedenfalls zu verneinen sei und die sachliche Rechtfertigung fortgesetzt verneint „wenn also keine sachlich berechtigte Abweichung von der für den Durchschnittsfall vorgesehenen Norm des nachgiebigen Rechts vorliegt (RIS-Justiz RS0016914)“. Mit der Schlussfolgerung, dass die sachliche Rechtfertigung aus der sachlich berechtigten Abweichung folge, ist natürlich noch nicht gesagt, wann eine solche sachlich berechtigte Abweichung von der Dispositivnorm vorliegt. Diese Konkretisierung lässt sich mE dennoch aus den nachfolgenden Ausführungen des OGH in dieser Entscheidung ableiten. Denn der OGH stellt einerseits darauf ab, ob dem Vertragspartner für die Abweichung von der im Dispositivrecht unterstellten Äquivalenz eine „angemessene Gegenleistung gewährt wird“. Andererseits führt er aus, dass die sachlich nicht gerechtfertigte Abweichung gerade darin liege, dass der Adressat der Klausel für die gegenüber dem dispositiven Recht erhöhte Belastung kein „entsprechendes Äquivalent“ erhält. Daraus leite ich ab, dass ein Vergleich der inkriminierten Vertragsklausel mit dem dispositiven Recht primär auf der Ebene der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung zu erfolgen hat. Dies folgt dem Ansatz, dass das Dispositivrecht als „Leitbild eines abgewogenen und gerechten Interessensausgleiches“100) anzusehen ist. Zwar entspricht es dem Wesen privatautonomer Vertragsfreiheit, dass die Vertragsparteien von diesem Leitbild abweichen können. Dagegen ist aus der Sicht der Rechtsordnung auch kein Einwand zu erheben, wenn diese Abweichung vom unbeeinträchtigten Willensentschluss jener Vertragspartei, die diese Abweichung in Kauf nimmt, getragen ist. Denn die Funktion der Richtigkeitsgewähr der Privatautonomie wird nicht dadurch beeinträchtigt, dass sich jemand für ein „schlechtes Geschäft“ entscheidet. Steht es ihm doch frei, eine Leistung ganz ohne Gegenleistung, nämlich im Wege der Schenkung, zu erbringen oder selbst einen Vertrag mit der krassen Äquivalenzstörung, mehr als das Doppelte dessen zu leisten, als er selbst bekommt, verbindlich abzuschließen, wenn er dies in voller (unverdünnter) Willensfreiheit aus „besonderer Vorliebe“ tut. Entscheidend ist daher, dass die von der Dispositivregel als ausgewogen unterstellte Äquivalenz nur dann „störungsfrei“ verändert werden kann, wenn diese Äquivalenzre98)

Handbuch I 2.5.2.2.1.5. 28.11.2012, 7 Ob 93/12w. 100) Krejci in Rummel/Lukas, ABGB4 § 879 ABGB Rz 377 mwN. 99)

590

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

gelung durch eine anderslautende Annahme wechselseitiger Äquivalenz, welche die Parteien privatautonom mit unverdünnter Willensfreiheit getroffen haben, verdrängt wird. Die Korrektur der inter partes vereinbarten Äquivalenz durch die von den Dispositivnormen unterstellte Äquivalenz ist daher beschränkt auf die Umsetzung der Basiswertung des § 879 Abs 3 ABGB, die objektive Richtigkeitsgewähr privatautonomer Entscheidungen zu schützen. Unter diesem Aspekt ist daher auch die sachliche Rechtfertigung der Abweichung zu beurteilen. Sachlich gerechtfertigt ist daher die Abweichung von der Dispositivregelung nur, wenn das im Vergleich zur in der Dispositivnorm unterstellten Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung bestehende Delta zwischen Leistung und Gegenleistung (soweit dies aus der gegenständlichen Vertragsklausel folgt) durch entsprechende, äquivalenzwirksame Leistungen des Verwenders der AGB ausgeglichen wird.

40.6.3.7

Vergleich der Äquivalenz mit außerhalb des Vertrages und des dispositiven Rechts liegenden Maßstäben

Bleibt noch die dritte Gruppe der Fälle gröblicher Benachteiligung, in denen keine dem Regelungsgehalt der inkriminierten Klausel vergleichbare Dispositivregelung vorhanden ist, die als Maßstab für die Zulässigkeit der Äquivalenzabweichung, ja überhaupt zur Beurteilung der Frage, ob eine Äquivalenzabweichung vorliegt, herangezogen werden könnte. In diesen Fällen, in denen es keinen dispositiv-rechtlichen Maßstab gibt, erscheint es zulässig, allgemein anerkannte Leitlinien für die Bildung ausgeglichenen, äquivalenten Leistungsaustausches als Maßstab heranzuziehen. Dafür bieten sich im Bauvertragsrecht die ÖNORMEN B 2110 und B 2118 an. Aicher101) hat diese „Maßstabsfunktion der ÖNORM B 2110 als Modell einer im Großen und Ganzen ausgewogenen Bauvertragsordnung“ bezeichnet. Zu beachten ist, dass in diesen Fällen entweder eine im dispositiven Recht vorgeschlagene Lösung bereits durch die ÖNORM B 2110 (in zulässiger Weise) verändert wird und die konkrete Vertragsklausel ihrerseits wiederum von der Regelung der Norm abweicht. Dann ist zu prüfen, ob die durch die konkrete Klausel bewirkte, in der Regel noch weiter vom Dispositivrecht entfernte Lösung zulässig ist. Das wird zutreffend an der Abweichung dieser weitergehenden Änderung gegenüber der ÖNORM B 2110 geprüft102). Ebenso wird die Maßstabsfunktion der ÖNORM B 2110 anzuwenden sein, wenn das dispositiven Recht zu diesem Thema gar nichts sagt. Dann wird in jenen Vertragssituationen, welche dem in der ÖNORM B 2110 unterstellten Leistungsaustausch grundsätzlich entsprechen, die ÖNORM B 2110 als Maßstab heranzuziehen sein. 101) Handbuch 102)

I 2.5.2.2.1.4 mit ausführlichen Beispielen aus der Judikatur für die Umsetzung dieser Maßstabsfunktion. Vgl. dazu die oben geschilderte OGHE 25.02.1999 6 Ob 320/98x.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

591

Nie kann diese Maßstabsfunktion dazu führen, dass statt der Regelung des dispositiven Rechts die ÖNORM B 2110 als Maßstab herangezogen wird. Denn auch die Regelungen der ÖNORM B 2110 sind – wie Aicher103) in diesem Zusammenhang zutreffend klarstellt – AGB, sodass ihre Bestimmungen selbst der Inhaltskontrolle nach § 879 Abs 3 ABGB unterliegen. Sie gelten nur kraft vereinbarter Anwendung, können daher nie ohne privatautonome Einigung das dispositive Recht verdrängen – auch nicht als Maßstab für die Beurteilung, ob die Vertragsklausel gröblich benachteiligend sei. Weiters ist es mE zulässig, im Wege ergänzender Vertragsauslegung, die stets erst eingreift, wenn das Dispositivrecht keine Regelung vorschlägt104) analog der Vorgangsweise bei Füllung einer Vertragslücke zu prüfen, was redliche Vertragsparteien vereinbart hätten, wenn sie diese Vertragsklausel nicht vereinbart hätten. Praktische Relevanz kann dieser – zugegeben wahrscheinlich äußerst seltene – Fall dort erhalten, wo die Alternativregelung, die dann als Maßstab heranzuziehen ist, nach dem Gesamtgefüge des Vertrages zu beurteilen ist. Ist in diesem Fall die ÖNORM B 2110 vereinbart (selbstverständlich unterstellt, dass die ÖNORM B 2110 ebenfalls keine Regelung für diesen Fall enthält, denn dann gäbe es eine vertragliche Vereinbarung), dann wird die Vergleichsklausel nach der Risikoverteilung der ÖNORM B 2110 und nicht nach dem Konzept der §§ 1168, 1168a ABGB zu bilden sein. In all diesen Fällen, in denen der Maßstab nicht aus dem dispositiven Recht gewonnen wird, ist die Äquivalenzstörung gegenüber dem so gefundenen Maßstab, also gerade auch gegenüber dem Maßstab der ÖNORM B 2110 oder B 2118, nur dann so ausgeprägt, dass eine gröbliche Benachteiligung zu bejahen ist, wenn das Leistungsmissverhältnis der im Wuchertatbestand unterstellten Äquivalenzstörung, sohin einem „auffälligen Missverhältnis“ entspricht. Das haben Aicher105) und Krejci106) überzeugend begründet. Dies unter Verweis darauf, dass die Parteien in der Rechtsgestaltung der Nebenleistungen „ebenso frei sind wie bei der Konzipierung der Hauptleistungen“, sohin nach dem Tatbestand des § 879 Abs 2 Z 4 ABGB. Das belegt auch ein einfacher Größenschluss. Wenn die Vertragsparteien bei einer so ausgeprägten Verdünnung der Willensfreiheit, wie sie § 879 Abs 2 Z 4 ABGB unterstellt, die Äquivalenz bis zur Grenze des „auffallenden Missverhältnisses“ verschieben dürfen, dann ist – in Ermangelung einer Vorgabe der von der Dispositivordnung als ideal ausgeglichen unterstellten Äquivalenz – kein Grund zu sehen, warum diese Grenze der Äquivalenzverschiebung im Falle des § 879 Abs 3 ABGB, in dem die Willensfreiheit zwar auch verdünnt, aber doch deutlich stärker ausgeprägt ist als beim Wuchertatbestand, anders sein sollte. 103) Handbuch

I 2.5.2.2.1.4 mit ausführlichen Beispielen aus der Judikatur für die Umsetzung dieser Maßstabsfunktion. Vgl. dazu ausführlich Lessiak, Der verdeckte Mangel, in Berlakovits/Hussian/Kletečka (Hrsg) Festschrift Georg Karasek (2018) 541 (581 ff). 105) Handbuch I 2.5.2.2.1.2 106) Handbuch, 167 sowie in Rummel/Lukas, ABGB4 § 879 Rz 381. 104)

592

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Dies entspricht auch der Anwendung der Basiswertung auf diese Auslegungsfrage. Denn wenn das Dispositivrecht keinen Maßstab für die im konkreten Fall als äquivalent anzusehende Lösung beistellt, dann ist davon auszugehen, dass die Rechtsordnung die Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Entscheidung auch dann für gewährleistet hält, wenn sich die Parteien innerhalb der durch andere, auf dieselben „Kräfte“ abstellende Normen gezogenen Grenzen, hier konkret auf den Wuchertatbestand abstellend, bewegen. Die gegenteilige Ansicht107) vermag daher nicht zu überzeugen.

40.7

Zusammenfassung

Die Menge und Vielfalt der zu § 879 Abs 3 ABGB ergangenen Judikatur verstärkt die Notwendigkeit der Ausarbeitung einheitlicher Grundsätze zur Auslegung der drei Tatbestandselemente dieser Norm (AGB, Nebenleistung und gröbliche Benachteiligung). Sollen diese Grundsätze nicht nur für die Nachprüfung von Vertragsklauseln, sondern auch für ihre Gestaltung, aber auch für ihren Einsatz (Wahl des Weges der Vergabe) Hilfestellung leisten, dann bietet sich der durch die Methode des beweglichen Systems vorgeschlagene Weg an, eine Basiswertung zu ermitteln, die allen drei Tatbestandselementen dieser Norm gemeinsam ist. Diese Basiswertung wird aus den in § 879 Abs 3 ABGB abgebildeten Elementen einer verdünnten Willensfreiheit im Zusammenspiel mit einer durch die Vertragsklausel ausgelösten Äquivalenzstörung ermittelt. Denn das Zusammenspiel dieser beiden Kräfte, die im Sachverhalt unterschiedlich stark ausgeprägt sein können, gefährdet im Ergebnis die Richtigkeitsgewähr privatautonomer Entscheidungen. Diese Beeinträchtigung der Richtigkeitsgewähr der privatautonomen Entscheidung des Adressaten der AGB zu vermeiden, ist jene Basiswertung, die allen drei Tatbestandselementen des § 878 Abs 3 ABGB gemeinsam ist. Daher sind in Umsetzung dieser Basiswertung diese drei Tatbestandselemente einheitlich, sohin ohne inneren Widerspruch bei den Ergebnissen ihrer Prüfung, auszulegen. Dazu wird bei Prüfung jedes der drei Tatbestandselemente, insbesondere in den „Grenzbereichen“ ihrer Anwendbarkeit, danach gefragt, welches Auslegungsergebnis der vorgenannten Basiswertung entspricht und entsprechend dieser Antwort das zutreffende Auslegungsergebnis ermittelt. Die damit erreichte Harmonisierung der Auslegung aller drei Tatbestandselemente sollte dem Rechtsanwender verlässliche Hilfestellung bieten. Dies ebenso in der nachträglichen Prüfung von Vertragsklauseln als auch bei der Frage nach der Gestaltung künftiger Vertragsklauseln, damit diese das Nichtigkeitsverdikt der Norm vermeiden.

107)

Graf in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.04 § 879 Rz 279 mwN.

40 Bauvertragsbedingungen und § 879 Abs 3 ABGB

40.8

593

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41

20 Jahre Bauarbeitenkoordinationsgesetz Eine haftungsrechtliche Bestandsaufnahme zur höchstgerichtlichen Judikatur

Dr. Volker Mogel, LL.M. Eur. Rechtsanwalt, geschäftsführender Gesellschafter der Kaan Cronenberg & Partner Rechtsanwälte GmbH & Co KG Kalchberggasse 1 8010 Graz www.kcp.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_41

596

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

41.1

Abstract

Am 01.07.2019 jährt sich das Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Koordination bei Bauarbeiten, kurz Bauarbeitenkoordinationsgesetz (BauKG), zum 20. Mal. Das BauKG (BGBl I. Nr 37/1999) setzt die EU-Baustellenrichtlinie (RL 89/391/EWG) um und verfolgt das Ziel, Arbeitsunfälle auf Baustellen, die neben dem menschlichen Leid auch das Anfallen enormer Folgekosten nach sich ziehen, zu mindern. Während Verletzungen des BauKG anfangs kaum als Grundlage für Haftungsansprüche herangezogen wurden, bildet dieses zwischenzeitig eine wesentliche Anspruchsgrundlage für Ersatzansprüche bei Arbeitsunfällen. Der OGH hatte sich in den letzten zwanzig Jahren in mehreren Entscheidungen mit zivilrechtlichen Haftungsfragen im Zusammenhang mit dem BauKG zu beschäftigen. Im vorliegenden Beitrag werden die wesentlichen Grundsätze zur aktuellen haftungsrechtlichen Judikatur zum BauKG aufgezeigt.

41.2

Situationsanalyse

Untersuchungen auf europäischer Ebene ergaben, dass in mehr als der Hälfte der Arbeitsunfälle auf Baustellen nicht geeignete bauliche und/oder organisatorische Entscheidungen oder eine schlechte Planung der Arbeiten bei der Vorbereitung des Bauprojektes eine Rolle spielten.1) Der Bau ist damit die unfallträchtigste Branche in der Wirtschaft. Fast jeder fünfte Arbeitsunfall ereignet sich bei Bauarbeiten. Das heißt, dass nahezu jede zehnte im Bauwesen beschäftigte Person im Schnitt pro Jahr einen Arbeitsunfall erleidet.2) Zielrichtung der EU-Baustellenrichtlinie und des diese Richtlinie in Österreich umsetzenden BauKG ist es, die Zahl von Arbeitsunfällen zu senken sowie Ausfallszeiten, Zeitverzögerungen und die damit zusammenhängenden Folgekosten zu reduzieren. Um dieses Ziel zu erreichen, sieht das BauKG vor, dass neben den Arbeitgebern auch die Bauherren in die Verantwortung für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer eingebunden werden. Dabei geht es um eine verbesserte Koordination von zu treffenden Arbeitnehmerschutzmaßnahmen nicht nur während der Bau-, sondern auch – und auch dies war in dieser Form damals neu – bereits während der Vorbereitungsphase. Bei Verstößen gegen die Bestimmungen des BauKG sind in § 10 Verwaltungsstrafen von – im Wiederholungsfall – bis zu € 14.530,00 vorgesehen. Noch mehr ins Gewicht fällt jedoch die zivilrechtliche Haftung für den Fall, dass durch eine Verletzung von Bestimmungen des BauKG Personen zu Schaden kommen. Wenngleich sich die zivilrechtliche Haftung naturgemäß im Rahmen der allgemeinen Verschuldenshaftung des ABGB bewegt, zeigen die in den letzten Jahren ergangenen höchstgerichtlichen Entscheidungen der letzten zwanzig Jahre, dass für Haftungsfälle nach dem BauKG so manche Besonderheit gilt.

1) 2)

Vgl. Präambel der EU-Baustellenrichtlinie 89/391/EWG. Hohenecker/Neuhod/Stühlinger (2015), S. 12

41 20 Jahre Bauarbeitenkoordinationsgesetz

41.3

597

Zur Fürsorgepflicht des Werkbestellers nach ABGB

Auch vor Inkrafttreten des BauKG gab es bereits gewisse Fürsorgepflichten des Bauherren gegenüber seinen Auftragnehmern und deren Dienstnehmern. Denn nach allgemeinem Werkvertragsrecht treffen den Auftraggeber im Rahmen eines Werkvertragsverhältnisses Fürsorgepflichten gegenüber seinen Auftragnehmern. § 1169 ABGB ordnet in diesem Zusammenhang die sinngemäße Anwendung des § 1157 ABGB, der die Fürsorgepflicht des Dienstgebers gegenüber seinem Dienstnehmer regelt, auf den Werkvertrag an. Diese Fürsorgepflicht des Bestellers besteht gegenüber dem Unternehmer selbst und auch zu Gunsten aller anderen Personen, welche die Arbeit ausführen.3) (Auch) Der Werkbesteller hat also im Sinne des § 1157 ABGB „bezüglich der von ihm beizustellenden oder beigestellten Räume und Gerätschaften [...] dafür zu sorgen, dass Leben und Gesundheit [...], soweit es nach der Natur der Dienstleistung möglich ist, geschützt werden“. Die Fürsorgepflicht kann vertraglich nicht ausgeschlossen werden.4) Unter „Räumen“ im Sinne des § 1157 Abs 1 ABGB sind alle Bereiche zu verstehen, in denen sich der Unternehmer im Zusammenhang mit seiner Arbeitsleistung aufhält.5) Die Schutz- und Sorgfaltspflichten umfassen auch die Warn- und Informationspflicht des Bestellers über gefährliche Umstände. Für den Unternehmer unschwer erkennbare Gefahren bilden allerdings die Grenze der Fürsorgepflicht des Bestellers.6) Die Bestellung einer örtlichen Bauaufsicht, die ausschließlich im Interesse des Auftraggebers und nicht in jenem der Werkunternehmer erfolgt,7) führt zu keiner Ausweitung der Fürsorgepflicht des Werkbestellers nach § 1169 ABGB.8) Soweit die Durchführung der aus dieser Fürsorgepflicht resultierenden Maßnahmen einem Dritten übertragen wird, hat dennoch der Werkbesteller als Vertragspartner des Werkunternehmers für dessen Fehlverhalten nach § 1313a ABGB einzustehen.9) Der Besteller haftet schließlich gegenüber seinen Vertragspartnern für seine Erfüllungsgehilfen. Weiter gilt die Beweislastumkehr beim Verschulden (§ 1298 ABGB), d.h. der Besteller muss sich vom Verschuldensvorwurf durch den Beweis mangelnden Verschuldens entlasten. Der Umfang der Fürsorgepflicht richtet sich danach, wie weit sich der Unternehmer in einen der Sphäre des Bestellers zuzuordnenden Bereich begibt, in dem er gefährdet ist.10) Der Werkunternehmer, der aufgrund seiner Sachkenntnis und Erfahrung wissen muss, dass seine Arbeitsstätte gefährlich ist, darf um deren Sicherheit nicht vollkommen sorglos sein. Er muss sich vor Beginn der Arbeiten von den Sicherungsvorkehrungen überzeugen und nötigenfalls den Besteller zu den nötigen Maßnahmen veranlassen.11) Die Fürsorgepflicht des Bestellers findet daher jedenfalls dort ihre Grenze, wo sich der fachkundige Unternehmer und seine Erfüllungsgehilfen in eine offensichtliche oder nach ihren Fachkenntnissen erkennbare Gefahr begeben, statt deren Beseitigung zu veranlassen oder ihr sonst aus dem Weg zu gehen.12) Auch der Unternehmer muss sich in einem solchen 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12)

RIS-Justiz RS0021827. RIS-Justiz RS0021602. RIS-Justiz RS0021480 [T4]; vgl RS0021602 [T11]; RS0021827 [T11]; RS0021674. OGH 28.06.2016, 2 Ob 129/15g, OGH 15.03.2001, 6 Ob 30/01g. RIS-Justiz RS0108535, RS0107245. OGH 26.04.2011, 8 Ob 40/10f. OGH 10.02.2017, 1 Ob 174/16v. OGH 24.3.2010, 3 Ob 267/09z; M. Bydlinski in Koziol/Bydlinski/Bollenberger (Hrsg), Kurzkommentar ABGB (2017) § 1169 Rz 1. RIS-Justiz RS0021812; SZ 49/15; OGH 24.3.2010, 8 Ob 144/06v; OGH 4.9.2007, 4 Ob 139/07f. RIS-Justiz RS0021808; RS0021812; RS0021799; OGH 26.4.2011, 8 Ob 40/10f; Krejci in Rummel, ABGB3 § 1169 Rz 6 (Stand 1.1.2000); OGH 28.9.1965, 8 Ob 209/65.

598

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Falle vor Beginn der Arbeiten von den Sicherungsvorkehrungen überzeugen und nötigenfalls den Besteller zu den nötigen Maßnahmen veranlassen.13)

41.4

Zum Inhalt des Bauarbeitenkoordinationsgesetzes

Die früher auf die Fürsorgepflicht des Werkbestellers gemäß § 1169 ABGB gestützte Koordinationspflicht des Bauherrn wird nunmehr im Regelungsbereich des BauKG konkretisiert.14) Das BauKG als lex specialis verdrängt insoweit den bisherigen Ansatz des § 1169 ABGB.15) Die den Koordinatoren auferlegten Pflichten reichen allerdings laut OGH weit über die gemäß § 1169 ABGB bestehende (bereits dargelegte) Fürsorgepflicht hinaus.16) Für den Bauherrn ist es daher ganz wesentlich, zu wissen, wann er Koordinatoren bestellen muss.17) Diesbezüglich besteht auch eine Hinweispflicht des Werkunternehmers gegenüber dem Bauherrn. Sollte ein entsprechender Hinweis unterbleiben, stellt dies einen Verstoß gegen die den Werkunternehmer gegenüber dem Bauherrn einzuhaltenden Aufklärungs- und Schutzpflichten dar.18) Ziel des BauKG ist es, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer auf Baustellen durch die Koordinierung bei der Vorbereitung und Durchführung von Bauarbeiten zu gewährleisten (§ 1 Abs 1 BauKG). Über die gemäß § 1 Abs 5 BauKG unberührt bleibenden Verpflichtungen der Arbeitgeber hinaus,19) sollen die Pflichten des BauKG primär dem Bauherrn sowie der von ihm mit der Erfüllung von (ursprünglich) Bauherrnpflichten betrauten Koordinatoren auferlegt werden.20) Das BauKG richtet sich damit in erster Linie an den Bauherrn, also an denjenigen, der das wirtschaftliche Risiko aus der Errichtung des Bauwerks trägt und an der Spitze der „Haftungspyramide“ steht.21) Gemäß § 3 Abs 1 BauKG trifft den Bauherrn die Verpflichtung, für die Vorbereitungsphase einen Planungs- und für die Ausführungsphase einen Baustellenkoordinator zu bestellen, wenn auf einer Baustelle gleichzeitig oder aufeinanderfolgend Arbeitnehmer mehrerer Arbeitgeber tätig werden. Die Vorbereitungsphase (Planungsphase) ist der Zeitraum vom Beginn der Planungsarbeiten bis zur ersten Auftragsvergabe. Die Ausführungsphase ist der Zeitraum von der ersten Auftragsvergabe bis zum Abschluss der Bauarbeiten. Den Planungs- und Baustellenkoordinator treffen im Interesse des Arbeitnehmerschutzes umfangreiche, in § 5 BauKG ausführlich beschriebene Koordinations-, Organisations-, Überwachungs- und Informationspflichten.22) Das BauKG gilt auf allen Baustellen, an denen Hoch- oder Tiefbauarbeiten ausgeführt und auf denen Arbeitnehmer beschäftigt werden. Ausgenommen sind Arbeitnehmer des Bundes, der Länder und der Gemeinden sowie Land- und Bergarbeiter. 13) 14) 15) 16) 17) 18) 19) 20) 21) 22)

RIS-Justiz RS0021812; OGH 26.08.2014 9 Ob 54/14b; OGH 29.11.2013 8 Ob 26/13a. Vgl. Lukas/Resch (2001), S. 16, 26; OGH 10.02.2017, 1 Ob 174/16v. RIS-Justiz RS0123294; OGH 11.12.2003, 2 Ob 272/03v mwH. Vgl. OGH 03.03.2010, 7 Ob 17/09i; OGH 12.8.2004, 1 Ob 233/03a. Vgl. Egglmeier-Schmolke (2007), S. 82f. OGH 03.03.2010, 7 Ob 17/09i. Das ASchG wird durch das BauKG lediglich ergänzt und bleibt nach wie vor unverändert wirksam: RIS-Justiz RS0122190; OGH 25.04.2007, 3 Ob 44/07b; OGH 30.06.2009, 1 Ob 210/08a; OGH 30.08.2018, 9 ObA 49/18y. OGH 11.12.2003, 2 Ob 272/03v; OGH 22.12.2005, 10 Ob 112/05a; OGH 14.08.2008, 2 Ob 162/08z; Vgl. Gartner (2015), S. 37 RIS-Justiz RS0124219; vgl. Petri/Steinmaurer (2007), S. 36 Vgl. Egglmeier-Schmolke (2007), S. 53f. mwN; dieselbe, S. 90; Weselik (2002), 31f.; OGH 11.12.2003, 2 Ob 272/03v.

41 20 Jahre Bauarbeitenkoordinationsgesetz

41.5

599

Haftung nach allgemeinen Grundsätzen

Bereits in seiner ersten zum BauKG ergangenen Entscheidung vom 11.12.2003, 2 Ob 272/03v, (sohin knapp fünf Jahre nach Inkrafttreten des BauKG) sprach der OGH aus, dass die Haftung für eine allfällige Pflichtverletzung des Baustellenkoordinators mangels besonderer Regelung nach allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen ist.23) Es gelten sohin grundsätzlich die Regelungen der Verschuldenshaftung nach den §§ 1293 ff ABGB. Gemäß § 1295 ABGB ist jedermann berechtigt, vom Schädiger den Ersatz des Schadens, welchen dieser ihm aus Verschulden zugefügt hat, zu verlangen. Gemäß § 1311 ABGB haftet derjenige, der ein Schutzgesetz, das der zufälligen Beschädigung vorzubeugen hat, übertreten hat, für alle Nachteile, welche sonst nicht erfolgt wären. Als Schutzgesetze werden jene Bestimmungen in Gesetzen, Verordnungen oder Bescheiden angesehen, die ein abstrakt gefährliches Verhalten verbieten, um Einzelpersonen vor Verletzung ihrer Güter zu bewahren.24) Das BauKG stellt zivilrechtlich ein Schutzgesetz zugunsten der Arbeitnehmer im Sinn des § 1311 ABGB dar. Dies ergibt sich nach Ansicht des OGH schon völlig unzweifelhaft aus dem im § 1 Abs 1 BauKG beschriebenen Gesetzeszweck.25) Der Baustellenkoordinator ist Sachverständiger im Sinne des § 1299 ABGB, sodass ihn ein erhöhter Haftungsmaßstab trifft: Er haftet daher für die inhaltliche Fachgerechtigkeit seiner Leistungen.26)

41.6

Übertragung der Pflichten des BauKG

Wie bereits oben ausgeführt wurde, richtet sich das BauKG in erster Linie an den Bauherrn, der verpflichtet ist, die erforderlichen Sicherheits- und Koordinationsmaßnahmen durchzuführen, beziehungsweise zu veranlassen. Bestellt der Bauherr entgegen seinen Verpflichtungen keinen Baustellenkoordinator, trifft den Bauherrn selbst die Verantwortung für die dem Baustellenkoordinator vom Gesetz zugewiesenen Aufgaben.27) Hat er aber einen Baustellenkoordinator bestellt, so trifft ihn laut OGH keine Gehilfenhaftung, weil der Baustellenkoordinator – nach zulässiger Übertragung der schutzgesetzlichen Pflichten – eigenverantwortlich eigene gesetzliche Pflichten erfüllt.28) Beim Bauherrn kann diesfalls lediglich eine Haftung für Auswahlverschulden, allenfalls auch Überwachungsverschulden bestehen.29) Der Baustellenkoordinator haftet gegenüber den auf der Baustelle eingesetzten Arbeitnehmern unmittelbar.30) In seiner jüngst ergangenen Entscheidung vom 29.04.2019, 2 Ob 35/19i, hält der OGH fest, dass dies aber nicht bedeute, dass sich der Bauherr (als Werkbesteller) mit der Bestellung eines Baustellenkoordinators aller seiner vertraglich übernommenen Schutz- und Sorgfaltspflichten entledigen kann. Denn die Vorschriften des BauKG sollen – so der OGH – den Gefahren begegnen, die aufgrund der gleichzeitigen 23) 24) 25) 26) 27) 28) 29) 30)

OGH 11.12.2003, 2 Ob 272/03v. Vgl. nur Schacherreiter in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.05 § 1311 Rz 7 ff (Stand 1.1.2018). OGH 11.12.2003, 2 Ob 272/03v. OGH 03.03.2010, 7 Ob 17/09i. OGH 03.03.2010, 7 Ob 17/09i; RIS-Justiz RS0015253. OGH 11.12.2003, 2 Ob 272/03; vgl § 93 Abs 5 StVO. OGH 25.04.2007, 3 Ob 44/07b. RIS-Justiz RS0015253.

600

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

oder aufeinanderfolgenden Tätigkeit von Arbeitnehmern verschiedener Arbeitgeber entstehen. Der Baustellenkoordinator würde deshalb seinerseits nur bei Verwirklichung eines Risikos haften, das sich aus dem Zusammenwirken mehrerer Unternehmer auf einer Baustelle ergibt.31) Für die Einhaltung der vom Pflichtenkreis des Baustellenkoordinators nicht umfassten Pflichten hat der Bauherr (Werkbesteller) hingegen weiterhin selbst einzustehen. Im konkreten Fall32) hatte der Bauherr zum Schutz der auf der Eisenbahnbaustelle tätigen Arbeitnehmer vertraglich die Pflicht zur Beistellung von Sicherheitsposten oder automatischen Warnanlagen übernommen. Dies diente zwar dem Schutz der Arbeitnehmer, hatte aber völlig unabhängig davon zu erfolgen, ob auch die Arbeitnehmer anderer Unternehmer (gleichzeitig oder aufeinanderfolgend) auf der Baustelle tätig sind. Ein Koordinierungsproblem lag dabei nicht vor.33) Die Pflicht zur Einhaltung dieser Schutzmaßnahmen traf daher ausschließlich den hier beklagten Bauherrn. Ungeachtet der Bestellung eines Baustellenkoordinators hat der Werkbesteller den Unternehmer vor aus seiner Sphäre stammenden Gefahrenquellen, die dieser nicht leicht erkennen kann, stets zu warnen.34) Der Bauherr kann sich nach § 9 Abs 1 BauKG durch eine Übertragung sämtlicher oder einzelner Pflichten auf den Projektleiter von seiner Haftung gegenüber Dritten auch ganz oder teilweise befreien.35) Anstelle des Bauherrn haftet dann der Projektleiter für die Einhaltung der ihm übertragenen Pflichten.36) Das hat genauso zu gelten, wenn der Projektleiter anstatt des Bauherrn den Baustellenkoordinationsvertrag abschließt, weil er damit inhaltlich den Bauherrn treffende Pflichten an den Baustellenkoordinator überträgt. Diese Pflichten werden bei Bestellung eines Dienstnehmers nicht mit haftungsbefreiender Wirkung für den Projektleiter übertragen (§ 9 Abs 4 BauKG), weil der zum Baustellenkoordinator bestellte Dienstnehmer grundsätzlich den Weisungen seines Dienstgebers unterworfen ist.37)

41.7

Keine Haftung gegenüber dem Arbeitgeber

Bereits in seiner ersten zum BauKG ergangenen Entscheidung vom 11.12.2003, 2 Ob 272/03, hat sich der OGH mit der Frage befasst, inwieweit ein Unternehmer Ersatz für an seinen Dienstnehmer geleistete Lohnfortzahlungen verlangen kann, die er diesem im Krankenstand auf Grund eines vom beklagten Bauherrn verschuldeten Arbeitsunfalls bezahlt hat. Nach allgemeinem Schadenersatzrecht steht nur dem unmittelbar Geschädigten ein Schadenersatzanspruch zu, während der Schädiger für einen Drittschaden nicht haftet.38) Nur in Fällen bloßer Schadensverlagerung ist der Schädiger auch insoweit zum Ersatz verpflichtet. Dies ist dann der Fall, wenn der Schaden eine typische Folge ist, die die übertretene Norm verhindern wollte, aber aufgrund gesetzlicher Bestimmung oder rechtsgeschäftlicher Regelung ausnahmsweise wirtschaftlich von einem Dritten zu tragen ist.39) 31) 32) 33) 34) 35) 36) 37) 38)

Vgl. § 3 Abs 1 BauKG; OGH 25.08.2014, 8 ObA 54/14w; OGH 27.05.2015, 8 Ob 56/15s; OGH 28.06.2017, 1 Ob 98/17v. OGH 29.04.2019, 2 Ob 35/19i. Vgl. OGH 03.03.2010, 7 Ob 211/09v. OGH 28.06.2016, 2 Ob 129/15g; OGH 10.02.2017, 1 Ob 174/16v; RS0021799. Gartner (2005), S. 41 und 129; Egglmeier-Schmolke (2007), S. 87 Vgl. Egglmeier/Schmolke (2007), S. 88; Vgl Weselik (2002), S. 39; Vgl. Gartner (2005), S. 41f. Vgl. Egglmeier Schmolke (2000), S. 49, 51; Vgl. Gartner (2005), S. 130; Vgl. Lukas/Resch (2001), S. 38 und 47; OGH 14.08.2008 2 Ob 162/08z. RIS-Justiz RS0022638; Vgl. nur Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 1295 Rz 39 ff (Stand 1.1.2018).

41 20 Jahre Bauarbeitenkoordinationsgesetz

601

Es wird damit kein Schaden in die Betrachtung einbezogen, der nicht ohnehin normalerweise beim unmittelbar Geschädigten eintritt und daher zu ersetzen wäre.40) Wie sich laut OGH unzweifelhaft aus seinem § 1 Abs 1 ergibt, besteht der Zweck des BauKG darin, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer auf Baustellen durch die Koordinierung bei der Vorbereitung und Durchführung von Bauarbeiten zu gewährleisten.41) Dass es auch den Zweck hätte, Arbeitgeber vor Vermögensnachteilen zu schützen, ist dem Gesetz dagegen nicht zu entnehmen,42) weshalb der Unternehmer keinen Anspruch auf Ersatz der Lohnfortzahlung hat.

41.8

Keine Haftung gegenüber Selbständigen

Mit der Frage, ob die Bestimmungen des BauKG und die daran anknüpfenden Rechtsfolgen auch dann (sinngemäß) anzuwenden sind, wenn ein auf der Baustelle tätiger Selbständiger aufgrund unzureichender Sicherungsmaßnahmen zu Schaden kommt, hat sich der OGH erstmals in seiner Entscheidung vom 10.02.2017, 1 Ob 174/16v, explizit beschäftigt. Nach § 1 Abs 1 BauKG ist ausdrücklich normiertes Ziel die Sicherheit und der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer auf Baustellen. Das BauKG gilt für alle Baustellen, auf denen Arbeitnehmer beschäftigt werden.43) Das benannte Schutzgut (Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer) wird auch in anderen Normen des BauKG wiederholt.44) Dass auf Baustellen nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Selbständige tätig sind, hat der Gesetzgeber laut OGH keineswegs übersehen. Vielmehr definiert er nicht nur den Selbständigen in § 2 Abs 8 BauKG als eine Person, die nicht Arbeitgeber oder Arbeitnehmer ist und die ihre berufliche Tätigkeit zur Ausführung des Bauwerks ausübt, sondern erwähnt auch den Selbständigen in verschiedenen Zusammenhängen. Dies geschieht vor allem in Bestimmungen, in denen – mit der Zielrichtung des Arbeitnehmerschutzes – zugleich Arbeitgeber von auf der Baustelle tätigen Arbeitnehmern genannt werden.45) Nur im Zusammenhang mit dem Zugang zum Sicherheits- und Gesundheitsschutzplan werden in § 7 Abs 7 BauKG die betroffenen Arbeitgeber, deren Präventivfachkräfte und Arbeitnehmer sowie die auf der Baustelle tätigen Selbständigen gleich behandelt. Aus all dem folgt laut OGH, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Gesetzgeber auch Selbständige unter den besonderen Schutz des BauKG als lex specialis stellen wollte.46) Auch eine richtlinienkonforme Auslegung führt zu keinem anderen Ergebnis, wie der OGH fest hielt.47)

39) 40) 41) 42) 43) 44) 45) 46)

47)

Seit der Grundsatzentscheidung des OGH 24.03.1994, 2 Ob 21/94; RIS-Justiz RS0043287; RS0020106. RIS-Justiz RS0022608. RIS-Justiz RS0119450; OGH 14.08.2008, 2 Ob 162/08z; OGH 03.03.2010, 7 Ob 17/09i; OGH 31.08.2018, 6 Ob 147/18p. OGH 30.06.2009, 1 Ob 210/08a. § 1 Abs 2 BauKG. § 7 BauKG (mehrfach), § 8 Abs 2 BauKG. § 5 Abs 2 Z 3, Abs 3 Z 1 und 2, Abs 4 BauKG. So auch schon Steinmaurer/Wenusch (2015), S. 21f.; idS auch OGH 21.12.2015, 9 Ob 35/15k; vgl auch RIS-Justiz RS0124219, wonach das BauKG (über die allgemeinen Verkehrssicherungspflichten hinausgehende) Sondervorschriften zur Vermeidung der Gefährdung von Arbeitnehmern enthalte. Vgl. auch Art 6 lit b und Art 10 Abs 1 RL.

602

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

41.9

Gesetzliche Formvorschriften der Bestellung

Nach § 3 Abs 6 BauKG hat die Bestellung eines Baustellen- und/oder Planungskoordinators schriftlich zu erfolgen. Im Lichte dieser Regelung stellt sich die Frage, ob ein Baustellenkoordinator auch dann haftet, wenn er der Bestellung nicht schriftlich zugestimmt hat. Das Schriftlichkeitserfordernis dient Beweiszwecken48) und zielt darauf ab, dass es eine schriftliche Mitteilung an jene Behörde, die als Ansprechpartner des Baustellenkoordinators49) dient, gibt und diese unter anderem die Einhaltung von Arbeitnehmerschutzvorschriften zu überwachen hat. Im Gegensatz zu der im § 3 Abs 6 Satz 1 BauKG enthaltenen Forderung nach einer schriftlichen Urkunde über die Bestellung, genügt nach Satz 2 die nachweisliche Zustimmung. In der Praxis wird dieser Nachweis durch Gegenzeichnung eines schriftlichen Auftrags durch den bestellten Koordinator erfolgen; das Kriterium der nachweislichen Zustimmung wird aber auch durch andere Beweismittel erbracht werden können.50) Vor diesem Hintergrund ist laut OGH selbst die im Sinn des § 863 ABGB konkludente Zustimmung des Koordinators zu seiner schriftlichen Bestellung ausreichend.51)

41.10

Beweislast

Wie bereits oben unter Punkt sechs ausgeführt, haftet der Baustellenkoordinator gegenüber den auf der Baustelle eingesetzten Arbeitnehmern unmittelbar.52) Die Haftung für Pflichtwidrigkeiten ergibt sich nicht nur deliktisch aus der Schutzgesetzverletzung, sondern auch vertraglich aus dem Koordinationsvertrag.53) Der OGH begründet dies damit, dass der Koordinationsvertrag nach seinem eindeutigen Zweck als Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten der Arbeitnehmer zu qualifizieren ist.54) Bedient sich der Baustellenkoordinator für die Erfüllung seiner (vertraglichen) Pflichten selbst eines Gehilfen, haftet er für diesen gemäß § 1313a ABGB. Der Geschädigte hat grundsätzlich alle Voraussetzungen seines Anspruches zu beweisen, so insbesondere den Eintritt und die Höhe des Schadens, die Kausalität und die Adäquanz einer rechtswidrigen Handlung oder Unterlassung des Schädigers für den Schadenseintritt.55) Für die Kausalität von Unterlassungen ist ein wahrscheinlicher hypothetischer Ablauf der Ereignisse zu beweisen. Gelingt dies dem Geschädigten, kann der Schädiger einen noch wahrscheinlicheren anderen Verlauf beweisen, bei dem der Schaden unterblieben wäre.56) Nach ständiger Rechtsprechung57) ist die Kausalität einer Unterlassung für einen Schaden nämlich dann nicht gegeben, wenn derselbe Nachteil auch bei pflicht48) 49) 50) 51) 52) 53) 54) 55) 56) 57)

OGH 11.12.2003, 2 Ob 272/03v. Vgl. § 5 BauKG; regelmäßig das Arbeitsinspektorat. Gartner (2005), S. 63 OGH 14.08.2008, 2 Ob 162/08z. RIS-Justiz RS0015253. RS0015253; OGH 27.04.2016, 3Ob24/16z; OGH 10.02.2017, 1 Ob 174/16v; OGH 28.06.2017,1 Ob 98/17v; OGH 31.08.2018, 6 Ob 147/18p. OGH 11.12.2003, 2 Ob 272/03v; Gartner (2004), S. 143. Vgl. nur Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 Vor § 1293 Rz 15. OGH 25.09.2012, 7 Ob 17/09i; OGH 30.3.2009, 7 Ob 57/09x mwN. OGH 02.09.2009, 7 Ob 136/09i mwN.

41 20 Jahre Bauarbeitenkoordinationsgesetz

603

gemäßem Tun entstanden wäre. Auch die Beweislast, dass bei pflichtgemäßem Verhalten der Schaden nicht eingetreten wäre, trifft grundsätzlich den Geschädigten.58) Von der Beweislast hinsichtlich des Verschuldens ist der Geschädigte befreit, wenn die Schadenszufügung auf einer Vertragsverletzung (§ 1298 ABGB) oder auf der Verletzung eines Schutzgesetzes59) beruht. Hier hat der Schädiger zu beweisen, dass ihn an der Vertragsverletzung oder der Verletzung des Schutzgesetzes kein Verschulden trifft. Sonst hat der Geschädigte auch das Verschulden des Täters nachzuweisen. Welche konkreten Maßnahmen ein Baustellenkoordinator nach dem BauKG im Rahmen seines Pflichtenkreises hätte treffen müssen, deren Unterlassung für den Unfall kausal war, hat der Ersatzansprüche geltend machende Arbeitnehmer zu behaupten und auch zu beweisen.60)

41.11

Haftungsprivileg nach § 333 ASVG?

Für Schäden des Dienstnehmers infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit haftet der Dienstgeber nur bei Vorsatz.61) Hat der Dienstgeber den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verursacht, so hat er den Trägern der Sozialversicherung die zu gewährenden Leistungen zu ersetzen.62) Dies gilt für alle Dienstverhältnisse, die der Pflichtversicherung in der Unfallversicherung nach ASVG unterliegen. Ausgenommen sind Unfälle durch Verkehrsmittel bis zur Höhe einer bestehenden Haftpflichtversicherung. Begünstigte sind auch gesetzliche oder bevollmächtigte Vertreter des Unternehmers und Aufseher im Betrieb.63) Aufseher im Betrieb im Sinne des § 333 Abs 4 ASVG ist ein Dienstnehmer oder ein sonst Beauftragter, der zur Zeit des Unfalls eine mit einem gewissen Pflichtenkreis und mit Selbständigkeit verbundene Stellung (Funktion) innehat und der für das Zusammenspiel der persönlichen und technischen Kräfte verantwortlich ist. Aufseher im Betrieb kann nur der sein, der andere Betriebsangehörige oder wenigstens einen Teil des Betriebs zu überwachen hat.64) Das ist nur eine Person, die über die Durchführung von Betriebsvorgängen bestimmen kann.65) Es kommt nicht auf die Stellung im Unternehmen im Allgemeinen oder die Ausübung der Aufseherfunktion auf Dauer an, sondern darauf, ob jemand bezüglich einer bestimmten, ihm aufgetragenen Arbeit entscheidungsbefugt ist, also die Verantwortung für das Zusammenspiel persönlicher und technischer Kräfte trägt.66) Es muss sich um eine ernstliche, dem in Frage stehenden Unternehmen dienende Tätigkeit handeln.67) Die Ansichten darüber, ob das Haftungsprivileg nach § 333 ASVG auch dem Baustellenkoordinator zukommen soll, sind nicht einhellig:68) Der Baustellenkoordinator hat 58) 59) 60) 61) 62) 63) 64) 65) 66) 67)

68)

Vgl. nur Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 1295 Rz 7 (Stand 1.1.2018). OGH 22.01.2015, 2 Ob 242/14y. Vgl. zur Behauptungs- und Beweislast des Geschädigten etwa OGH 03.03.2010, 7 Ob 17/09i. § 333 Abs 1 ASVG. § 334 Abs 1 ASVG. Vgl. nur Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil (Hrsg), § 333 ASVG Rz 42 ff (Stand 15.11.2017). RIS Justiz RS0085510. RIS Justiz RS0085418 [T1]. RIS Justiz RS0085329 [T3]; RS0088337 [T15]. RIS Justiz RS0083555; z.B. Bauleiter einer ARGE für alle auf der Baustelle eingesetzten Dienstnehmer der ARGEPartner; der Bauleiter gegenüber dem bei Bauarbeiten am eigenen Haus mitarbeitenden Hauseigentümer, der sich dem Unternehmer unterstellt hat. Vgl. nur OGH 11.12.2003, 2 Ob 272/03v.

604

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Überwachungsaufgaben auf der Baustelle und hat den SiGe-Plan umzusetzen. Er erfüllt damit als Bevollmächtigter des Bauherrn eine eigene Fürsorgepflicht, die nicht ident ist mit der des Bauunternehmers als Arbeitgeber, aber auch die Verkehrssicherungspflicht des Bauherrn selbst iSd § 1319a ABGB. § 5 BauKG überträgt ihm die Überwachung der ordnungsgemäßen Anwendung der Arbeitsverfahren, die Umsetzung der Bestimmungen über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit und die Veranlassung der Beachtung des SiGe-Planes durch die Arbeitgeber. Ihm werden daher Aufsichtsfunktionen sowohl gegenüber den Arbeitgebern, als auch gegenüber deren Arbeitnehmern übertragen, die im betrieblichen Ablauf wahrzunehmen sind. Andererseits sind Baustellenkoordinatoren regelmäßig nicht Bevollmächtigte des Arbeitgebers, da er zwar Funktionen des Bauherrn wahrnimmt, ihm aber regelmäßig kein Weisungsrecht gegenüber den auf der Baustelle tätigen Mitarbeitern zukommt.69) Der OGH legte sich zur Frage, ob der Baustellenkoordinator dem privilegierten Personenkreis des § 333 ASVG angehört noch nicht fest. In seiner Entscheidung vom 11.12.2003, 2 Ob 272/03v wurde einem nach dem BauKG bestellten Baustellenkoordinator die Aufseherstellung unter anderem mit der Begründung abgesprochen, dass dieser grundsätzlich kein Weisungsrecht gegenüber Arbeitnehmern habe. In einer Folgeentscheidung70) blieb diese Frage ausdrücklich offen. In der Lehre wird überwiegend die Auffassung vertreten, dass Sicherheitsvertrauenspersonen, wie auch andere neugeschaffene Funktionen mit gehobenem Niveau – darunter wird wohl auch der Baustellenkoordinator zu verstehen sein – im Arbeitssicherheitsbereich die Stellung eines Aufsehers im Betrieb im Sinne des § 333 Abs 4 ASVG auch dann zukommen müsse, wenn diese Personen kein direktes Weisungsrecht gegenüber Mitarbeitern haben.71) Letztlich wird es im Sinne des OGH72) wohl darauf ankommen, ob dem Baustellenkoordinator vertraglich eine Weisungsbefugnis bzw. eine Anordnungs- und Aufsichtsfunktion eingeräumt wurde. Ist dies der Fall, muss das Arbeitgeberhaftungsprivileg wohl auch dem Baustellenkoordinator zukommen.

41.12

Aktuelle Trends

Die letzten 20 Jahre zeigen, dass das BauKG – nach einer ersten Anlaufphase – mittlerweile eine häufig in Anspruch genommene Rechtsgrundlage für die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen bei Arbeitsunfällen darstellt. Auch wenn der Bauherr sein Haftungsrisiko durch Bestellung eines Baustellenkoordinators nach wie vor erheblich einschränken kann, zog der OGH die Grenzen dieser Haftungsprivilegierung in einer im Frühjahr 2019 ergangenen Entscheidung deutlich enger: Demnach hat der Bauherr ungeachtet der Bestellung eines Baustellenkoordinators weiterhin für die Einhaltung der vom Pflichtenkreis des Baustellenkoordinators nicht umfassten Pflichten einzustehen. Aus dem Blickwinkel des Baustellenkoordinators bedeutet dies aber dennoch auch in Zukunft, nicht nur sämtliche ihm übertragene Koordinationspflichten aus dem BauKG zu erfüllen, sondern die Einhaltung dieser Pflichten auch zu dokumentieren. Nur so ist es möglich, auch nachzuweisen, dass sämtliche Pflichten nach dem BauKG eingehalten 69) 70) 71) 72)

Vgl. Egglmeier-Schmolke (2000), S. 49; idS auch OGH 11.12.2003, 2 Ob 272/03v RdA 2004/45 mit Anm Albert mwN. OGH 14.08.2008, 2 Ob 162/08z; vgl auch OGH 29.06.2009, 9 ObA 141/08p. Vgl. Lukas/Resch (2001), S. 22f, 63f; Vgl. Langer (1999), S. 91; Vgl. Weselik (2002), S. 20; Vgl. Langer (2005), S. 244, Vgl. Egglmeier-Schmolke (2007), S. 37, 44; Vgl. Resch (2009), S. 43 OGH 11.12.2003, 2 Ob 272/03v.

41 20 Jahre Bauarbeitenkoordinationsgesetz

605

wurden; dies insbesondere über regelmäßige Prüfungen und Unterziehung von Stichproben aber auch den Einsatz automatisierter Überwachungsinstrumente. Auch aus rechtswissenschaftlicher Perspektive bleiben – trotz der häufigen Befassung des OGH mit Fragen des BauGK – zahlreiche spannenden (Haftungs-)Fragen rund um das BauKG offen. So wird das BauKG auch weiterhin Anlass geben, interessante rechtliche Fragestellungen – wie etwa, ob das Haftungsprivileg nach § 333 ASVG auch dem Baustellenkoordinator zukommen soll – an den OGH heranzutragen.

41.13

Zusammenfassung

Ziel des BauKG ist es, den Arbeitnehmerschutz zu steigern, indem auch die Bauherren in die Verantwortung für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer eingebunden werden. Eingemahnt wird dies durch eine strenge zivilrechtliche Haftung bei Verstößen gegen das BauKG, die in zahlreichen höchstgerichtlichen Entscheidungen Beachtung fand. Nach 20-jährigem Bestehen kann nun folgendes Resümee gezogen werden: Bemerkenswert sind nicht nur, die Häufigkeit, in der mittlerweile das BauKG als haftungsrechtliche Anspruchsgrundlage herangezogen wird, sondern auch die rechtlichen Besonderheiten, die das BauKG im Detail verbirgt. So trifft etwa den Bauherrn keine Gehilfenhaftung nach § 1313a ABGB, wenn er einen Baustellenkoordinator bestellt. Letzterer haftet wiederum auch nach dem BauKG, wenn er der Übernahme der Funktion des Baustellen- und/oder Planungskoordinators nur konkludent und nicht – wie gesetzlich vorgesehen – schriftlich zugestimmt hat. Zu beachten ist auch, dass das BauKG nur Arbeitnehmer erfasst und gerade nicht weitere Personen, wie insbesondere Selbständige, die auf der Baustelle beschäftigt sind.

41.14

Abkürzungsverzeichnis

AA

......................... Andere Ansicht

ABGB

......................... Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch

Art

......................... Artikel

ASVG

......................... Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

BauKG

......................... Bauarbeitenkoordinationsgesetz

BGBl

......................... Bundesgesetzblatt

dh

......................... das heißt

f

......................... folgend(e)

ff

......................... fortfolgend(e)

Hrsg

......................... Herausgeber

iSd

......................... im Sinne des/der

mwH

......................... mit weiteren Hinweisen

mwN

......................... mit weiteren Nachweisen

Nr

......................... Nummer

606

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

OGH

......................... Oberster Gerichtshof

RL

......................... Richtlinie

RS

......................... Rechtssatz

Rz

......................... Randzahl

S.

......................... Seite

Vgl.

......................... vergleiche

VO

......................... Verordnung

z.B.

......................... zum Beispiel

41.15

Judikaturverzeichnis

OGH 28.9.1965, 8 Ob 209/65 OGH 24.3.1994, 2 Ob 21/94 OGH 15.03.2001, 6 Ob 30/01g OGH 11.12.2003, 2 Ob 272/03v OGH 12.8.2004, 1 Ob 233/03a OGH 22.12.2005, 10 Ob 112/05a OGH 25.04.2007, 3 Ob 44/07b OGH 4.9.2007, 4 Ob 139/07f OGH 14.08.2008, 2 Ob 162/08z OGH 30.3.2009, 7 Ob 57/09x OGH 30.06.2009, 1 Ob 210/08a OGH 02.09.2009, 7 Ob 136/09i OGH 03.03.2010, 7 Ob 211/09v OGH 24.3.2010, 3 Ob 267/09z OGH 24.3.2010, 8 Ob 144/06v OGH 03.03.2010, 7 Ob 17/09i OGH 26.04.2011, 8 Ob 40/10f OGH 25.09.2012, 7 Ob 17/09i OGH 29.11.2013 8 Ob 26/13a OGH 25.08.2014, 8 ObA 54/14w OGH 26.08.2014, 9 Ob 54/14b OGH 22.01.2015, 2 Ob 242/14y OGH 27.05.2015, 8 Ob 56/15s OGH 27.04.2016, 3Ob24/16z OGH 28.06.2016, 2 Ob 129/15g

41 20 Jahre Bauarbeitenkoordinationsgesetz

607

OGH 10.02.2017, 1 Ob 174/16v OGH 28.06.2017, 1 Ob 98/17v OGH 28.06.2016, 2 Ob 129/15g OGH 10.02.2017, 1 Ob 174/16v OGH 31.08.2018, 6 Ob 147/18p OGH 14.08.2008, 2 Ob 162/08z OGH 27.04.2016, 3Ob24/16z OGH 10.02.2017, 1 Ob 174/16v OGH 28.06.2017, 1 Ob 98/17v OGH 30.08.2018, 9 Ob A49/18y OGH 31.08.2018, 6 Ob 147/18p

41.16

Literaturverzeichnis

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608

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

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42

Die Abgeltung von Kosten der Dokumentation und Aufarbeitung von Mehrkostenforderung bei gestörten Bauabläufen

DDr. Katharina Müller Partner Müller Partner Rechtsanwälte GmbH Rockhgasse 6 1010 Wien www.mplaw.at [email protected] Mag. Christoph Gaar Rechtsanwalt Müller Partner Rechtsanwälte GmbH Rockhgasse 6 1010 Wien www.mplaw.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_42

610

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

42.1

Abstract

Die Autoren gehen auf die Anforderungen an die Dokumentation bei gestörten Bauabläufen zum Nachweis und der fundierten Aufarbeitung von Mehrkostenforderungen ein und zeigen auf, dass die damit verbundenen Kosten die Kosten einer Routinedokumentation bei weitem übersteigen. In der Folge wird auf die möglichen Anspruchsgrundlagen für die Geltendmachung der Kosten der Dokumentation und der Aufarbeitung von Mehrkostenforderungen bei gestörten Bauabläufen eingegangen, wobei im Ergebnis davon auszugehen ist, dass der Anspruch immer dann gegeben ist, wenn die Mehrkostenforderung aus dem gestörten Bauablauf selbst dem Grunde nach gerechtfertigt ist. Am Ende steht die Empfehlung, dass auch die Dokumentation des gestörten Bauablaufs im Einvernehmen zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber erfolgen sollte und auf Basis von Leistungspositionen aus dem Hauptauftrag oder aber auf Grundlage einvernehmlich festgelegter Nachtragspositionen abgegolten werden sollte. Dokumentation erfolgt letztlich im Interesse beider Vertragspartner und sollte daher auch dem Auftraggeber etwas wert sein.

42.2

Situationsanalyse

Dokumentation soll Tatsachen nachweisbar und beweisbar machen. Primäres Ziel ist Tatsachen und Umstände als unstrittig zwischen den Parteien festzuhalten. Die Dokumentation dient als wesentliche Grundlage zur Beurteilung und Prüfung von Ansprüchen des Auftragnehmers – wie etwa Mehrkostenforderungen im Fall eines gestörten Bauablaufs. Dabei gilt, dass im Zweifel besser zu viel als zu wenig dokumentiert werden sollte. Die Dokumentation und deren Auswertung ist für die Durchsetzung von Ansprüchen, insbesondere den Anspruch auf Entgeltanpassung und Bauzeitverlängerung infolge von Störungen der Leistungserbringung, zentral. Bei der Dokumentation sollte der Fokus darauf liegen, die anspruchsbegründenden Umstände umfassend und in einer leicht auswertbaren Weise festzuhalten. Eine detaillierte und qualitative Dokumentation ermöglicht den Beweis eines anspruchsbegründenden Sachverhalts im Prozess, ist in der Praxis aber auch ein wichtiges Instrument zur Vermeidung von Gerichtsverfahren und langwierigen Konflikten. Die zuletzt von allen Beteiligten mit Vehemenz geführte Diskussion über die Nachweisführung bei Mehrkostenforderungen als Folge von gestörten Bauabläufen hat die Bedeutung einer aussagekräftigen Dokumentation für die Geltendmachung von Mehrkosten erneut bestätigt. Bei einem gestörten Bauablauf treten laufend Abweichungen auf, dh es kommt zu einer Vielzahl größerer und kleinerer Störungen, die die Leistungserbringung massiv erschweren.1) Es kommt zu Unterbrechungen, Partien müssen laufend umgesetzt werden, die Partiestärke wird wiederholt angepasst und es treten in der Regel erhebliche Erschwernisse auf. Ein gestörter Bauablauf liegt auch vor, wenn der Auftragnehmer mit Zusatzleistungen, Überschneidungen in der Bauabwicklung, Mehraufwand oder Mehrfachbearbeitungen konfrontiert ist.2) Die Auswirkungen eines gestörten Bauablaufs sind erheblich und werden nachstehend nur beispielhaft angeführt: 1) 2)

Vgl. Müller/Stempkowski (2015), S. 453 Vgl. Müller/Stempkowski (2015), S. 493

42 Abgeltung von Kosten der Dokumentation und Aufarbeitung von Mehrkostenforderung

611

• Produktivitätsverluste, beispielsweise infolge von Einarbeitungseffekten, zu kurzer Dispositionszeiten, nicht optimaler Partiestärke oder gegenseitiger Behinderung • Dispositionsverluste (Umstellungen der Arbeitsabläufe sind laufend erforderlich) • Zusätzliche Wegzeiten, Warte- und Leerlaufzeiten • Mehrkosten wegen Verschiebung der Ausführung in ungünstigerer Witterungsperioden • Mehrkosten wegen genereller Erschwernis in der Abwicklung, gestörtem Planungsoder Produktionsablauf3) Die Vertreter des sogenannten Einzelnachweises verlangen eine Vielzahl von einzelnen Nachweisen zur Durchsetzung einer Mehrkostenforderung für den gestörten Bauablauf. Dabei orientieren sie sich überwiegend an den Grundsätzen des Schadenersatzrechts.4) In unterschiedlicher Intensität verlangen die Befürworter des Einzelnachweises letztlich, dass eine Störung im Ergebnis zu einem konkret zuordenbaren und kausal verursachten Mehraufwand führt, der detailliert zu dokumentieren ist. Erst wenn dieser konkrete Mehraufwand (beispielsweise in Stunden) und die Kausalität einer bestimmten Störung für diesen Mehraufwand feststeht, soll er in einem letzten Schritt monetär und zeitlich bewertet werden. Kodek geht noch einen Schritt weiter und verlangt einen SOLL-IST-Vergleich gemessen an der Kalkulation. Der Auftragnehmer sollte dem Grunde nach nur dann Anspruch auf Mehrkosten haben, wenn er im Vergleich zur Kalkulation eine nicht von ihm verursachten Nachteil erleidet.5) Das würde bedeuten, dass der Anspruch auf Entgeltanpassung nach Ansicht der Befürworter des Einzelnachweises dem Grunde nach nur dann besteht, wenn die konkrete Erschwernis in einer konkreten Höhe lückenlos dokumentiert und auf einen bestimmten Umstand in der Sphäre des Auftraggebers (Einzelbehinderung) zurückzuführen ist und überdies zu einem unvermeidbaren Nachteil im oben beschriebenen Sinn führt. Sie fordern eine Dokumentation auf Einzelstörungsebene, um jede einzelne Störung und ihre Auswirkungen gesondert beurteilen zu können. Damit werden die Anforderungen an eine Dokumentation von Störungen und Störungsfolgen im gestörten Bauablauf erheblich hinaufgeschraubt. Damit verbunden stellen Dokumentationskosten in der Regel eine erhebliche wirtschaftliche Größe dar, sodass die Frage, wer diese Kosten letztlich zu tragen hat, an Bedeutung gewonnen hat. Festzuhalten ist, dass die Literatur6) über die konkreten Anforderungen zur Durchsetzung von Mehrkostenforderungen infolge von Störungen der Leistungserbringung uneinig ist und sich die Rechtsprechung noch nicht abschließend geäußert hat.

42.3

Dokumentation im gestörten Bauablauf

Die Dokumentation der Abläufe und des Fortschritts auf einer Baustelle ist für Bauvorhaben jeder Größe notwendig und gehört zum gewöhnlichen Ablauf. Darauf geht auch die ÖNORM B 2110 ein. Gemäß Pkt 6.2.7 sind Vorkommnisse (Tatsachen, Anordnungen und 3) 4) 5) 6)

Vgl. Müller/Stempkowski (2015), S. 453 Siehe dazu die Zusammenfassende Darstellung Müller/Ilg (2018), S. 617 ff.. Vgl. Kodek (2017a), S. 135 Vgl. Hussian (2009), S. 251ff.; Hock jun (2018), S. 539; Kletečka (2017a), S. 4ff.; Goger/Gallistel (2017), S. 10ff.; Kletečka (2017b), S. 44; Berlakovits/Karasek (2017), S. 89; Kodek (2017a), S. 135; Kropik (2017a), S. 489; Kropik (2017b), S. 538; Kodek (2017b), S. 187; Müller/Goger (2016); Kodek (2017a); Heck (2018), S. 7; Hussian (2018), S. 49; Kodek (2018), S. 67; Kletečka (2018), S. 95; Müller (2018), S. 97; Müller/Ilg (2018), S. 617ff.

612

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

getroffene Maßnahmen), welche die Ausführung der Leistung oder deren Abrechnung wesentlich beeinflussen sowie Feststellungen, die zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr getroffen werden können, nachweislich festzuhalten. Dabei sind die Vertragspartner verpflichtet, an einer gemeinsamen Dokumentation mitzuwirken. Konkret beschreibt die Norm an dieser Stelle das Baubuch und die Bautagesberichte des Auftragnehmers als Dokumentationsmittel. Im Zusammenhang mit den Kosten der Dokumentation sieht die Norm vor, dass jeder Vertragspartner grundsätzlich seine Kosten der vertragsgemäßen Dokumentation selbst trägt. Soweit handelt es sich um eine allgemein anerkannte Grundlage. Bei nahezu jedem Bauvorhaben kommt es zu Leistungsabweichungen in Form von Leistungsänderungen und Störungen der Leistungserbringung, die einem der Vertragspartner zuzurechnen sind. Störungen aus der Sphäre des Auftragnehmers sind hier nicht relevant, berechtigen sie diesen doch nicht zur Geltendmachung von Mehrkostenforderungen. Bei einer Störung der Leistungserbringung im Sinn der ÖNORM B 2110 muss der ursprünglich geplante Ablauf der Leistungserbringung wie im Vertrag und der Kalkulation vorgesehen geändert bzw. umgestellt werden. Der Ressourceneinsatz an Personal, Geräten und Material kann dadurch nicht mehr kontinuierlich und optimiert eingesetzt werden.7) Bei Störungen der Leistungserbringung führen wechselseitige Überlagerungen einzelner Leistungsabweichungen zu massiven baubetrieblichen Folgewirkungen auf die Leistungserbringung, deren bauwirtschaftliche und baubetriebliche Auswirkungen (Bauzeit und Kosten) im Einzelfall schwierig und nur mit großem Aufwand bewertet werden können.8) Mit einem gestörten Bauablauf geht zwangsläufig auch ein erhöhter Dokumentationsaufwand für den Auftragnehmer einher. Schon die relevanten ÖNORMEN B 2110 und B 2118 enthalten eine Verpflichtung, dass der Auftragnehmer für die Anmeldung der Mehrkostenforderung der Höhe nach die Leistungsabweichung zu beschreiben und darzulegen hat, dass die Abweichung aus der Sphäre des Auftraggebers stammt. Die erforderliche Dokumentation ist beizulegen. Eine Chronologie ist anzustreben. Gerade bei gestörten Bauabläufen kommt der Dokumentation erhebliche Bedeutung zu. Zu dokumentieren sind die Umstände, die zu einer Störung führen, weiters die Einhaltung der Hinweis- und Mitteilungspflichten nach Vertrag oder ÖNORM B 2110/2118. Auch müssen die Folgen der Störung, etwa eine Leistungsverdünnung, Stehzeiten oder auch ein veränderter Ressourceneinsatz (etwa wegen Umsetzvorgängen) dokumentiert werden. Die sorgfältige Dokumentation liegt im Interesse des Projektverantwortlichen, nur ein aktueller und detaillierter SOLL-IST-Vergleich ermöglicht es, Störungen der Leistungserbringung zeitnah zu erkennen und die entsprechenden Schritte, sei es eine Umverteilung des Resourceneinsatzes oder eine notwendige Warnung an den AG, vorzunehmen. Auch bei der Dokumentation im gestörten Bauablauf gilt, dass die Vertragspartner verpflichtet sind, an einer gemeinsamen Dokumentation mitzuwirken. Daher empfiehlt es sich, gemeinsam die Art und Intensität der Dokumentation festzulegen und einvernehmlich Fakten zu dokumentieren. Gerade die von einem Teil der Literatur im Moment geforderten Nachweisführung von Mehrkostenforderungen auf Basis eines Einzelnachweises (siehe dazu schon oben) führt zu erheblichem Dokumentationsaufwand. Ungeachtet der Frage, ob man diese Anforderungen für richtig hält9), gilt: die Durchsetzbarkeit vieler Forderungen steht und fällt mit 7) 8)

Vgl. Müller/Stempkowski (2015), S. 452 Vgl. Müller/Goger (2016), S. 18

42 Abgeltung von Kosten der Dokumentation und Aufarbeitung von Mehrkostenforderung

613

der Qualität der Dokumentation. Die Grundlage für eine spätere Durchsetzbarkeit muss jedenfalls schon während der Leistungserbringung geschaffen werden.10) Später wirkende Gutachter können einen Störungs- und Verzögerungsnachweis nur dann aufbauen und Mehrkostenforderungen monetär bewerten, wenn sich der Ablauf zeitlich rekonstruieren lässt, oder wenn bei Produktivitätsverlusten nachvollziehbar ist, wer bei seinem Arbeitseinsatz behindert war.11) Beim Umfang der Dokumentation des gestörten Bauablaufs für die Erstellung einer Mehrkostenforderung handelt es sich um den gesamten Bearbeitungsvorgang des Auftragnehmers. Es reicht vom Erkennen des das Entgelt betreffenden Vorgangs auf der Baustelle, der Führung der vertraglich vorgesehenen Korrespondenz wie Anmeldungen dem Grunde und der Höhe nach, der Dokumentation des Sachverhalts, der Gegenüberstellung des Bau-IST zum Bau-SOLL, die Terminplanfortschreibung, die Erstellung von Mehrkostenforderungen samt Leistungsverzeichnissen, die Erstellung neuer oder das Nachziehen von bestehenden Plänen, die Erstellung einer neuen Statik, einer neuen Massenberechnung, die Kalkulation neuer Preise auf Grundlage des Vertrages und die darauffolgende Aufmaßerstellung, die Koordination der zusätzlichen oder geänderten Leistung bis zur Erstellung der Abrechnung und der Bestandsunterlagen. Auch für die Beauftragung externer Berater zur Erfassung und Dokumentation des nachtragsrelevanten Sachverhalts sowie zur bauwirtschaftlichen Darstellung der Auswirkungen einer Leistungsabweichung oder auch eines Rechtsbeistandes fällt im Zuge der Erstellung einer Mehrkostenforderung Aufwand an. Aber auch im Unternehmen selbst fällt zusätzlicher Aufwand an, etwa wenn der für das Projekt eingesetzte Bau- oder Projektleiter die Mehrkostenbearbeitung neben seiner vertraglichen Leistungspflicht erbringen muss. Oft muss für die erhebliche zusätzliche Dokumentation eine zusätzliche Ressource auf der Baustelle eingesetzt werden. Aber auch ein Kalkulant wird zusätzlich zur Ermittlung der Höhe der geforderten Mehrkosten erforderlich sein. Im Gegensatz zu den externen Kosten sind diese internen Kosten des Unternehmens schwieriger darstellbar und ist umso wichtiger sie zu dokumentieren. Insbesondere für interne Bearbeitungskosten einer Mehrkostenforderung besteht die dringende Empfehlung für den Auftragnehmer, beweiskräftig zu dokumentieren, welche Tätigkeiten im Zuge der Bearbeitung des jeweiligen Nachtrags angefallen sind. Dies betrifft unter anderem Umstände, wenn der für das Projekt kalkulierte Projekt- oder Bauleiter zusätzlich zeitlich länger oder zeitlich mehr für die Erstellung von Mehrkostenforderungen einsetzt oder in unveränderter Zeit mehr Personal mit nachtragsbestimmten Arbeiten, insbesondere auch der Dokumentation vor Ort beschäftigt ist. Wie oben erörtert, sind die Kosten einer Routinedokumentation in der Kalkulation der Preise zu berücksichtigen. Muss jedoch aufgrund eines gestörten Bauablaufs ein erhöhter Dokumentationsstandard oder ein mehr an Dokumentation eingehalten werden, so können diese erhöhten Aufwendungen als Mehrkosten geltend gemacht werden.12) In der ÖNORM B 2118 ist dies schon in der Norm vorgesehen. Gemäß Pkt 6.2.7.2 sind die Kosten einer über die Routinedokumentation hinausgehenden Dokumentation zur Nachweisführung bei einer Mehrkostenforderung Bestandteil der Mehrkostenforderung, wenn die Dokumentation erforderlich, zweckmäßig und angemessen ist und der Vertragspartner vor Beginn dieser über die Routinedokumentation hinausgehenden Dokumen9) 10) 11) 12)

Die Autoren sind nicht dieser Ansicht; siehe dazu Müller (2018), S. 97; Müller/Goger (2016), S. 89; Müller/Ilg (2018), S. 617ff. Vgl. Kodek/Plettenbacher/Draskovits/Kolm (2017) S. 116 Vgl. Schubert (2009), S. 191 Vgl. Müller (2016), S. 249

614

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

tation unter Bekanntgabe des Dokumentationsziels und der voraussichtlichen Dokumentationskosten informiert wurde. Es wurde also vorgesehen, dass auch diese Kosten für den Mehraufwand ersatzfähig sind, wenn der Auftragnehmer diese vorab angemeldet hat, ähnlich der tatsächlichen Kosten als Folge der Leistungsabweichung. Auch Kropik bejaht diese Abrechenbarkeit für erhöhte Dokumentationskosten, wenn etwa die fehlende Arbeits- und Montageplätze oder die fehlende Leistungsbereitschaft des Unternehmens dokumentiert werden muss. Da nur die grundsätzlichen Kosten einer Dokumentation vorab zu kalkulieren sind, können die Kosten einer Dokumentation abgerechnet werden, die aufgrund eines verpönten Verhaltens der Vertragspartner notwendig werden.13)

42.4

Kosten der Erstellung einer bauwirtschaftlichen Mehrkostenforderung

Gestörte Bauabläufe führen in der Regel aus den oben bereits angeführten Gründen zu erheblichen Dokumentations- und Aufarbeitungskosten. Dazu kommt, dass Mehrkostenforderungen wegen gestörter Bauabläufe sogenannte bauwirtschaftliche Mehrkostenforderungen sind, weil sie sich als Folge einer Veränderung von Leistungsansätzen sowie einer diskontinuierlichen Leistungserbringung, die zu schwer erfassbaren Produktivitätsverlusten führt, ergeben. Sie müssen also mit der Unterstützung bauwirtschaftlicher Sachverständiger ausgehend von der Urkalkulation und den dort zugrunde gelegten Kalkulationsansätzen ermittelt werden. Damit geht in der Regel auch eine rechtliche Unterstützung durch Juristen Hand in Hand. Die Ausarbeitung von bauwirtschaftlichen Mehrkostenforderungen, insbesondere von Störungsnachträgen, bedarf einerseits fundierter bauwirtschaftlicher Expertise, andererseits einer akribischen Aufbereitung der vorliegenden Dokumentation. Nicht selten müssen Gutachter IST-Stundenlisten, umfangreiche Fotodokumentation, Pläne, Planindizes, Planabweichungen, Bautagesberichte, Schriftverkehr etc durchforsten, um die Höhe der zustehenden Entgeltsanpassung ermitteln zu können. Auch damit sind erhebliche Kosten verbunden; ohne Beiziehung von Experten wäre es in der Regel dem Auftragnehmer aber nicht möglich, die Mehrkostenforderung dem Stand der Technik entsprechend aufzubereiten. Die Folgewirkungen eines geänderten oder gestörten Bauablauf können Verschiebungen, Verlängerungen und Verkürzungen einzelner Vorgänge sowie Leistungsverdichtungen bzw. Forcierungen oder Leistungsverdünnung sein. Die Auswirkungen des geänderten bzw. gestörten Bauablaufs sind am besten anhand eines Termin SOLL-IST-Vergleiches darzustellen. Daraus kann abgeleitet werden, welcher Vorgang vom geänderten Ablauf in welcher Intensität betroffen ist. Die Auswertung der Auslastung bzw. Leistungsintensität zeigt dann die Abweichung zwischen dem ursprünglich geplanten Ressourceneinsatz und dem tatsächlichen aufgrund der Leistungsabweichung geänderten Ressourceneinsatz.14) Im Unterschied zu einem nur geänderten Bauablauf treten bei einem gestörten Bauablauf laufend Änderungen ein, es kommt zu vielen kleinen Störungen, die die Leistungserbringung erschweren und unterbrechen können. Die monetäre Ermittlung der Mehrkostenforderung erfolgt im Allgemeinen auf Basis von 13) 14)

Vgl. Kropik (2014), S. 280 Vgl. Müller/Stempkowski (2015), S. 452

42 Abgeltung von Kosten der Dokumentation und Aufarbeitung von Mehrkostenforderung

615

Mehrstundenberechnungen. Dabei ist vor allem auf die Abgrenzung der von den Erschwernissen betroffenen Leistungen und der von der Erschwernis betroffenen Zeiträume zu achten.15) In der einschlägigen Literatur wird begründet die Ansicht vertreten, dass bei Leistungsänderungen der Auftragnehmer auch Anspruch auf Abgeltung seines (Mehrkosten-) Angebots hat. Dies wird auf das einseitige Leistungsänderungsrecht des Auftraggebers zurückgeführt. Anders als vor der Beauftragung, kann der Auftragnehmer nicht mehr frei entscheiden, ob er eine Leistungsänderung anbieten (und ausführen) will. Dabei wird auch auf den Unterschied hingewiesen, ob das Angebot samt dafür allenfalls notwendiger Planungsleistungen ein selbstständiges Werk darstellt. Sind im Rahmen der Mehrkostenforderung eine aufwendige Neuplanung oder Redimensionierung einzelner Teilbereiche des Projekts erforderlich und haben diese Ausarbeitungen für den Auftraggeber einen eigenen Wert, so ist diese Leistung ebenfalls entgeltlich.16) Im Zusammenhang mit der deutschen VOB besteht die zutreffende Ansicht, dass Kosten, die für die Dokumentation und die Erstellung einer Mehrkostenforderung entstehen, vom Auftraggeber zu vergüten sind.17) Die für die Aufbereitung der der anspruchsbegründenden Voraussetzungen entstehenden Mehrkosten in Form von Nachtragsbearbeitungskosten sind in die jeweiligen Nachtragspositionen einzurechnen oder in einer gesonderten Nachtragsposition zu begründen.18)

42.5

Anspruchsgrundlagen zur Geltendmachung von Kosten der Dokumentation und Aufarbeitung von Mehrkostenforderungen bei gestörten Bauabläufen

Als Anspruchsgrundlage zur Geltendmachung der Kosten der Dokumentation sowie der Erstellung von Mehrkostenforderungen kommen grundsätzlich § 1168 Abs 1 S 2 ABGB (Entgeltanpassung) oder auch ein Schadenersatzanspruch gemäß § 1293 ff in Frage. Zur ÖNORM B 2118 siehe bereits oben. Als alternative Anspruchsgrundlage können Kosten, die für die Erstellung einer Mehrkostenforderung entstehen und der Vorbereitung eines Prozesses dienen, als vorprozessuale Kosten gemäß § 41 ZPO in dem darauffolgenden Prozess geltend gemacht werden. Im Einzelfall ist zu prüfen, ob die Kosten, die zur Prozessvorbereitung aufgewendet wurden, über jene der pflichtgemäßen Dokumentation hinausgehen.

42.5.1

Anspruch auf Entgeltanpassung

§ 1168 Abs 1 S 2 ABGB räumt dem Auftragnehmer einen Anspruch auf Entgeltanpassung ein, wenn er bei der Ausführung des Gewerkes durch Umstände aus der Sphäre des Werkbestellers erschwert wird. Der Entgeltanspruch gemäß § 1168 Abs 1 S 2 ABGB ist ein Anspruch auf Werklohnergänzung und damit vom Schadenersatz strikt zu unterscheiden. Auf dieser Anspruchsgrundlage können einerseits Kosten der zeitlichen 15) 16) 17) 18)

Vgl. Müller/Stempkowski (2015), S. 494 Vgl. Kropik/Gallistel/Raab (2016), S. 518 Vgl. Marbach (2002), S. 547 Vgl. Marbach (2002), S. 549

616

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Verkürzung, aber – nach der Rechtsprechung – auch die Vergütung aller Erschwernisse und zwar unabhängig davon, ob sie reine Verzögerungsfolgen sind (also etwa Umstände aus der Sphäre des AG, die zur erhöhten Anstrengungen, erhöhtem Arbeitseinsatz, erhöhten Aufwendungen oder einer Änderung des Arbeitskonzepts führen, ohne dass es zu einer Bauzeitverlängerung kommt), geltend gemacht werden. Im Ergebnis können Erschwernisse jeder Art auf dieser Grundlage abgerechnet und daraus resultierende Kosten eingefordert werden.19) Es liegt daher nahe, auch erhöhte Aufwendungen infolge von Dokumentationserfordernisse oder der Erarbeitung von Mehrkostenforderungen auf dieser Anspruchsgrundlage geltend zu machen. Auch bei Ermittlung der Dokumentationsmehrkosten ist auf die Preisgrundlagen des Vertrages zurückzugreifen. Daher ist zu prüfen, ob es vergleichbare Positionen gibt, die herangezogen werden können. Sofern die Kosten der Routinedokumentation über Umlagen berücksichtigt wurden, sind diese entsprechend anzupassen. Finden sich im Vertrag keine Grundlagen zur Herleitung des Nachtragspreises, so ist auf einen angemessenen Preis im Sinne des § 1152 ABGB zurückzugreifen. Die Frage der Angemessenheit eines Preises, etwa für ein geändertes Produkt, ist in der Praxis oft schwierig. Auch die Nachweisführung gestaltet sich regelmäßig schwierig. Die Nachweisführung für die Kosten der Dokumentation kann über die detaillierte Erfassung der Leistungen der Personen, die diese Dokumentation erstellen, erfolgen. Dasselbe gilt für die Ressourcen, die externe Berater zur Aufarbeitung eines Nachtrags einsetzen. Nach Lehre und Rechtsprechung ist jenes Entgelt als angemessen anzusehen, dass sich unter Berücksichtigung aller Umstände und unter Bedachtnahme auf das, was unter ähnlichen Umständen geleistet wird, ergibt.20) Der OGH hat sich in verschiedenen Fällen an Gebührenordnungen und Tarifen sowie an der Verkehrssitte orientiert. Dies wird insbesondere für die Frage der Angemessenheit verrechneter Stundensätze eine Rolle spielen.21) Zum Nachweis der Berechtigung der Mehrkostenforderungen dem Grunde nach ist auf die Nachweisführung zum Hauptanspruch (zu dessen Geltendmachung dokumentiert bzw. der Sachverhalt aufgearbeitet wird) zu verweisen. Ist dieser Anspruch im Sinne der § 1168 Abs 1 S 2 ABGB gerechtfertigt und nachgewiesen22), so ist dem Grunde nach der Nachweis für die Mehrkosten für Dokumentation und Aufarbeitung der Nachtragsforderung als gegeben anzusehen, da die Störung auch für diese Kosten kausal ist. Der Auftragnehmer ist zur ordentlichen Dokumentation der Störung und ihrer Folgen zumeist schon aufgrund der Vereinbarung der ÖNORM B 2110 verpflichtet und kann sich dieser Verpflichtung auch nicht entziehen. Die Anforderungen an die Nachweisführung machen zudem in der Regel der Aufarbeitung des gestörten Bauablaufs, seiner Folgen sowie der Herleitung der Mehrkosten der Höhe nach aus den Preisgrundlagen des Hauptauftrags erforderlich. Zur Höhe der geforderten Dokumentations- und Aufarbeitungskosten bedarf es einer gesonderten Nachweisführung.

19) 20) 21) 22)

OGH, 5 Ob 519/85 = RDW 1985, 305 = 58/41 = EVBL 1986/27; OGH 1 Ob 42/86 = WBL 1987, 2019; OGH 5 Ob 558/93; OGH 2 OB 258/05 = WBL 2006, 200. RIS-Justiz RS 0021636; OGH 26.05.2011, 5 Ob 219/10g. OGH 12.08.1996, 4 Ob 2161/96i; OGH 21.02.201985, 7 Ob 652/84. Beitrag IFB Symposium zitieren

42 Abgeltung von Kosten der Dokumentation und Aufarbeitung von Mehrkostenforderung

42.5.2

617

Schadenersatz

Eine alternative Anspruchsgrundlage zur Geltendmachung von Mehrkostenforderungen bei Störungen der Leistungserbringung bietet das Schadenersatzrecht. Die Anspruchsvoraussetzungen sind • das Vorliegen eines Schadens, • eine rechtswidrige und schuldhafte Handlung oder Unterlassung des AG sowie • die Kausalität dieses Verhaltens für den beim AN eingetretenen Schaden. Die ÖNORM B 2110 begrenzt den Schadenersatzanspruch in Punkt 12.3 dahingehend, dass Ersatz des positiven Schadens und des entgangenen Gewinns nur bei Vorliegen von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit gefordert werden kann; bei leichter Fahrlässigkeit steht nur der Ersatz des positiven Schadens zu, wobei dieser bei einer Auftragssumme bis EUR 250.000 mit höchstens EUR 12.500 begrenzt ist, bei einer darüber liegenden Auftragssumme mit maximal 5 % der Auftragssumme, jedoch höchstens EUR 750.000.23) Bei Verbrauchergeschäften muss diese Einschränkung gesondert einzeln ausgehandelt werden. Die bauwirtschaftliche Quantifizierung des Schadens erfolgt als Ermittlung einer Differenz zweier Vermögenslagen, nämlich der durch das schädigende Ereignis geschaffenen und der unter Ausschluss dieses Ereignisses gedachten. Es ist also ein Vergleich der Vermögenslage des AN ohne Störung und nach Störung vorzunehmen. Die Berechnung des Schadens erfolgt nicht zu Vertragspreisen, sondern dem Geschädigten ist der konkrete Nachteil – nach Nachweis – zu ersetzen. Schadenersatzansprüche verjähren in der Regel binnen drei Jahren ab Kenntnis von Schaden und Schädiger. Der AN muss den nachteiligen Einfluss des schädigenden Ereignisses auf den Projekterfolg beweisen und dokumentieren. Der AN hat daher die Kausalität zu beweisen, seine hypothetische Vermögenslage vor schädigendem Ereignis und die Verschlechterung der Vermögenslage. Auch in diesem Zusammenhang ist es wesentlich, Auslöser und Folgen der Störung detailliert in den Bautagesberichten, aber auch internen Stundenerfassungssystemen zu dokumentieren. Auch eine Fotodokumentation ist hilfreich und liefert anschauliches Beweismaterial. Für die Kausalitätsfrage wird unter Umständen ein Anscheinsbeweis ausreichen, die hypothetische Vermögenslage ist mit Hilfe baubetrieblicher Berechnungsmethoden nachzuweisen. Bei der Schadensberechnung kommt es nur auf den tatsächlichen Vermögensnachteil an, daher nicht auf die kalkulierten Zuschläge, sondern den tatsächlichen Nachteil für das Unternehmen. Für das Verschulden gilt die Beweislastumkehr des § 1298 ABGB, wonach der AG beweisen muss, dass ihn an der Verletzung einer vertraglichen Verpflichtung kein Verschulden trifft; allerdings ist das Vorliegen grober Fahrlässigkeit vom AN, der sich darauf beruft, zu beweisen. Ist die Haftung für leichte Fahrlässigkeit vertraglich ausgeschlossen, muss sich der AG hingegen auch vom Vorwurf der groben Fahrlässigkeit freibeweisen.24) Daher sind das schädigende Ereignis und die Auswirkungen auf die Vermögensverhältnisse des Auftragnehmers zu dokumentieren. Die tatsächlichen Vermögensverhältnisse werden anhand der tatsächlichen Lohn- und Materialpreise dargestellt. Die Kosten der Dokumentation und Aufarbeitung einer Mehrkostenforderung infolge eines gestörten Bauablaufs können daher auch auf Schadenersatz gestützt geltend gemacht 23) 24)

Vgl. Müller/Stempkowski (2015), S. 375 Vgl. Müller/Stempkowski (2015), S. 385

618

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

werden, wenn den AG ein Verschulden an den eingetretenen Störungen und den daraus resultierenden Folgen trifft. Die entstandenen Kosten (streng ermittelt auf Basis der ISTKosten) führen zu einem Vermögensnachteil für den geschädigten Auftragnehmer und können daher nach schadenersatzrechtlichen Prinzipien gefordert werden. In diesem Zusammenhang ist auf die Schadensminderungspflicht des geschädigten Auftragnehmers gemäß § 1304 ABGB zu verweisen. Dem entsprechend gebührt dem Geschädigten, wenn auch er sorglos für den Schaden verantwortlich ist nicht der Ersatz des gesamten Schadens.25) Aus diesem Grundsatz ergibt sich auch eine allgemeine Schadenminderungspflicht für den Geschädigten. Er wird dadurch angehalten, den Schaden möglichst gering zu halten. Diese Obliegenheit wird dann verletzt, wenn der Geschädigte schuldhaft Handlungen unterlassen hat, die geeignet gewesen wären, den Schaden abzuwehren oder zu verringern und die – objektiv beurteilt – von einem verständigen Durchschnittsmenschen gesetzt worden wären, um eine nachteilige Veränderung des eigenen Vermögens hintanzuhalten.26) Folge der Verletzung der Schadenminderungspflicht ist, dass der Geschädigte insoweit, als er den Schaden zu mindern versäumte, seinen Ersatzanspruch zur Gänze verliert. Wenn er den Schaden zur Gänze verhindern hätte können, verliert er den gesamten Schadenersatzanspruch gegenüber dem Schädiger.27)

42.5.3

Vorprozessuale Kosten

Gemäß Rechtsprechung und Lehre sind als Prozesskosten nicht nur die Kosten des Zivilprozesses selbst, sondern auch jene, die durch die Vorbereitung des Prozesses entstanden sind, zu verstehen. Hinsichtlich dieser vorprozessualen Kosten enthält die Zivilprozessordnung keine ausdrückliche Regelung; § 41 Abs 1 ZPO spricht lediglich von „durch die Prozessführung“ verursachten Kosten. Allgemein wird davon ausgegangen, dass auch die mit der Rechtsverfolgung verbundenen Aufwendungen außerhalb des Prozesses ebenso behandelt werden sollen wie die eigentlichen Prozesskosten. Festzuhalten ist, dass die außergerichtliche und spätere gerichtliche Rechtsverfolgung gewissermaßen als Einheit angesehen werden; dadurch wird auch deren Gleichbehandlung gerechtfertigt. Unstrittig ist jedoch, dass jene Kosten die auch ohne Rücksicht auf eine (prozessuale oder außerprozessuale) Rechtsverfolgung angefallen wären, keinesfalls wie Prozesskosten behandelt werden können.28) Gemäß der Rechtsprechung und Lehre wird das Kriterium der Prozessbezogenheit als Voraussetzung für die Anwendung der §§ 41f ZPO bei den vorprozessualen Kosten herangezogen. So unterliegen grundsätzlich auch vorprozessuale Kosten einer Partei die diese „zum Zweck einer Prozessführung“ schon vor der Prozesseinleitung getätigt hat bzw. die „im Rahmen der Vorbereitung eines Prozesses“ anfallen, den gesetzlichen Bestimmungen §§ 41 f ZPO. Die Prozessbezogenheit liegt daher vor, wenn die jeweilige Maßnahme in Zielrichtung auf einen beabsichtigten Prozess mit dem Entschluss gesetzt wurde, die nachfolgende Prozesshandlung zu fördern.29) Gemäß OGH-Rechtsprechung können daher grundsätzlich auch die Kosten für die Einholung von Privatgutachten zur Vorbereitung eines Prozesses nach § 41 ZPO geltend 25) 26) 27) 28) 29)

Schacherreiter in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.05 § 1304 (Stand 1.1.2018, rdb.at), Rz 1. Schacherreiter in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.05 § 1304 Rz 97 (Stand 1.1.2018, rdb.at). Schacherreiter in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.05 § 1304 Rz 105 (Stand 1.1.2018, rdb.at). M. Bydlinski in Fasching/Konecny3 II/1 § 41 ZPO Rz 36 (Stand 1.9.2014, rdb.at) M. Bydlinski in Fasching/Konecny3 II/1 § 41 ZPO Rz 39 (Stand 1.9.2014, rdb.at).

42 Abgeltung von Kosten der Dokumentation und Aufarbeitung von Mehrkostenforderung

619

gemacht werden.30) So können die Gutachtenskosten geltend gemacht werden, wenn die Hinzuziehung eines Privatgutachters für die zweckentsprechende Rechtsverfolgung (Akzessorietät zu Hauptanspruch muss bestehen) notwendig ist. So behandelte der OGH die für die Einholung eines Gutachtens, das dem Kläger die Grundlage für die Erhebung einer Schadenersatzklage verschaffen sollte, aufgewendeten Kosten nach den §§ 41 ff ZPO, da diese Kosten der Beweissammlung und Prozessvorbereitung dienten.31) In diesem Sinn sind daher wohl auch die Kosten eines bauwirtschaftlichen Sachverständigen für die Erstellung einer Mehrkostenforderung ersatzfähig, die der Kläger zur Vorbereitung seiner Klage eingeholt hat.

42.6

Zusammenfassung

Die Kosten der Dokumentation und Aufbereitung von Mehrkostenforderungen infolge von gestörten Bauabläufen sind Teil der Mehrkostenforderung und können auf derselben Grundlage gefordert werden wie die Mehrkosten selbst. Ein gesonderter Nachweis zur Begründung der Forderung dem Grunde nach ist bei Berechtigung der Mehrkostenforderung nicht erforderlich. Bei Ermittlung der Höhe der Forderung sind je nach Anspruchsgrundlage die Preisgrundlegen des Hauptauftrages zu berücksichtigen oder aber schadenersatzrechtliche Grundsätze, insbesondere die Pflicht zur Schadensminimierung, zu beachten. Im Ergebnis wird in jedem Fall dem Postulat der Angemessenheit und Zweckmäßigkeit der geltend gemachten Kosten zu entsprechen sein. Im Idealfall legen Auftragnehmer und Auftraggeber gemeinsam die Vorgaben für die Dokumentation im gestörten Bauablauf fest und einigen sich auf Abrechnungsgrundlagen für die Kosten der Dokumentation und Aufarbeitung von Mehrkostenforderungen. Eine solche Vorgangsweise erscheint angesichts der Vorgab der ÖNORM B 2110, wonach beide Vertragspartner an der Dokumentation mitzuwirken haben sachgerecht.

42.7

Judikaturverzeichnis

OGH 27.04.1987,

1 Ob 42/86

OGH 30.08.1994,

5 Ob 558/93

RIS-Justiz

RS 0021636

OGH 26.05.2011,

5 Ob 219/10g

OGH 12.08.1996,

4Ob 2161/96i

OGH 21.02.1985,

7 Ob 652/84

OGH 19.03.1985,

5 Ob 519/85

30) 31)

Klauser/Kodek, JN – ZPO18 § 41 ZPO Rz E 31 und E 31/2 (Stand 1.9.2018, rdb.at). M. Bydlinski in Fasching/Konecny3 II/1 § 41 ZPO; RZ 40 (Stand 1.9.2014, rdb.at).

620

42.8

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Literaturverzeichnis

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42 Abgeltung von Kosten der Dokumentation und Aufarbeitung von Mehrkostenforderung

621

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622

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

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43

Insolvenzvorsorge im Bauvertrag

Univ.-Prof.i.R. Dr.iur. Gunter Nitsche Graf & Pitkowitz Rechtsanwälte GmbH | Of Counsel Marburger Kai 47 8010 Graz www.gpp.at/ [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_43

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Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

43.1

Abstract

Die Bauwirtschaft nimmt unter den Branchen, die besonders häufig von Insolvenzen betroffen sind, seit Jahren einen Spitzenplatz ein. Wie einer aktuellen Statistik des Kreditschutzverbandes von 1870 zu entnehmen ist, liegt die Bauwirtschaft in Österreich im Jahr 2018 hinsichtlich der Zahl der eröffneten Insolvenzen (582 Insolvenzverfahren) auf dem ersten Platz, hinsichtlich der Höhe der Passiven (EUR 303 Mio.) auf dem zweiten Platz. Nur die unternehmensbezogenen Dienstleistungen rangieren bei den Passiven (EUR 431 Mio.) noch vor der Bauwirtschaft. Viele Jahre lang lag die Bauwirtschaft sogar in beiden Reihungen als „doppelter Spitzenreiter“ an erster Stelle.1) Die Gründe dafür sind einsichtig. Die Bauwirtschaft in Österreich ist kleinteilig. Es gibt sehr viele Bauunternehmen. Dazu kommt, dass wegen des typischen Geschäftsmodells der Vorleistung auf der Baustelle hohe Verbindlichkeiten bei Lieferanten und bei den finanzierenden Banken bestehen. Hohe Aufträge führen zu hohen Bilanzsummen und niedrigen Eigenkapitalquoten, was wiederum zu einer Verteuerung der Bankkredite führt. Reklamationen von Seiten der Bauherren belasten die Zahlungspläne, weil die Bauherren fällige Zahlungen oft in ungerechtfertigter Höhe zurückhalten. Dr. Hans-Georg Kantner, Leiter der Insolvenzabteilung des KSV 1870, hat für das hohe Insolvenzrisiko in der Bauwirtschaft folgende Erklärung: „Oft sind es Großaufträge, die zu nur marginalen Preisen hereingenommen werden, wobei auch nicht immer eine positive Marge einkalkuliert worden sein mag. Die Langfristigkeit der Projekte und die Höhe der dabei bewegten Geldsummen erzeugt nicht selten eine fatale Dynamik. Viele der insolventen Unternehmen sind auch Subunternehmer, die schon von vornherein nicht über die Bonität verfügen, eventuell aus dem Projekt resultierende Verluste aufzufangen. Und wie bei einem Maßanzug gibt es keine Garantie, dass das Werk auf Anhieb fehlerlos sitzt. Die Preise sind aber so kalkuliert, dass Änderungen oder Reparaturen kaum mehr Platz finden. Die bei handwerklichen Baumeistern seit Generationen gepflogene Usance eines z.B. 10 %igen Zuschlages für „Unvorhergesehenes“ ist bei Großprojekten weder üblich noch möglich. Nur zeigt die Erfahrung, dass diese 10 % nicht selten wirklich gebraucht würden.“2)

43.2

Situationsanalyse

In Österreich wurde im Jahr 2018 über das Vermögen von insgesamt 4.980 Unternehmen ein gerichtliches Insolvenzverfahren eröffnet. Das waren zwar – was die Zahl betrifft – weniger Insolvenzen als 2017 (5.079 eröffnete Insolvenzen), aber die Zahl der betroffenen Dienstnehmer ist von 16.300 im Jahr 2017 auf rund 19.000 gestiegen. Das ist ein Anstieg um 16,6 %. Die Passiva betrugen im Jahr 2018 rund EUR 2.071 Millionen, das entspricht einer Steigerung gegenüber 2017 von rund 11,2 %.3) Zu den angegebenen Zahlen eröffneter Insolvenzen kamen im Jahr 2018 noch 1.995 Fälle, bei denen das gerichtliche Verfahren mangels Vermögens überhaupt nicht eröffnet wurde. 1) 2) 3)

Pressemitteilung des Kreditschutzverbandes von 1870 (KSV 1870) vom 04.01.2019, 2. Pressemitteilung des KSV 1870 vom 05.01.2018, 2. Die Insolvenzstatistik des KSV 1870 liefert Informationen über alle Insolvenzverfahren Österreichs auf der Grundlage der von den zuständigen Landesgerichten (bei Unternehmerinsolvenzen) und Bezirksgerichten (bei Privatinsolvenzen) übermittelten Daten.

43 Insolvenzvorsorge im Bauvertrag

625

Die bis zum Insolvenzrechts-Änderungsgesetz (IRÄG) 2010 übliche Bezeichnung war die „Konkursabweisung mangels Masse“. Diese Bezeichnung war jedoch, wie in den Erläuternden Bemerkungen zu Art 1 Z 30 IRÄG 2010 ausgeführt wurde, nicht aussagekräftig genug. Insbesondere machte diese Bezeichnung nicht ausreichend deutlich, dass der Schuldner zwar zahlungsunfähig war, der Konkurs aber nur deshalb nicht eröffnet wurde, weil nicht einmal mehr genug Vermögen vorhanden war, um die Kosten des Verfahrens zu decken. In der öffentlichen Wahrnehmung, und auch nicht selten vom Schuldner selbst, wurden Fälle der Konkursabweisung mangels Masse mit jenen Fällen vermengt, bei denen die Konkursabweisung mangels Zahlungsunfähigkeit erfolgte, was den Eindruck erweckte, der Konkursantrag sei vom Gläubiger überhaupt zu Unrecht gestellt worden. Nunmehr wird im Eröffnungsbeschluss nicht nur darauf hingewiesen, dass das Insolvenzverfahren mangels kostendeckenden Vermögens nicht eröffnet wird, sondern auch darauf, dass der Schuldner sehr wohl zahlungsunfähig ist. Abweisungen mangels kostendeckenden Vermögens sind, wie Sandra Kienesberger vom KSV 1870 schreibt, „letztlich Fälle ohne ordentliches Ende, Fälle ohne Aufarbeitung der Vorkommnisse oder gar Rechenschaft der Verantwortlichen. Es sind in der Überzahl Einzelunternehmer, die ihre Schulden nicht loswerden können, sondern nur den Gewerbeschein.“4)

43.3

Insolvenzen der jüngeren Vergangenheit

An spektakulären Insolvenzen in der Bauwirtschaft hat es in Österreich nicht gefehlt. Exemplarisch ist auf Maculan (1996), Angerlehner (2013), Fuchs Bau (2013), Wilfling (2014) und GLS Bau (2016) zu verweisen. Die größte Insolvenz des Jahres 2018 betraf die Firmengruppe Waagner Biro Wien mit den Firmen Waagner Biro AG, SBE Alpha AG (vormals Waagner Biro Stahlbau AG), Waagner Biro Bridge Systems AG und WBB Stahlund Maschinenbau GmbH. Die Verbindlichkeiten betragen insgesamt EUR 194,1 Mio. Herausragend ist die Insolvenz der ALPINE Bau GmbH, deren Zusammenbruch zum größten Insolvenzverfahren seit Bestehen der Zweiten Republik geführt hat. Sitz der Gesellschaft war Wals-Siezenheim bei Salzburg. Unter dem Dach der ALPINE Holding waren in der ALPINE Bau die wichtigsten Konzerntöchter (die ALPINE BeMo Tunnelling, die Universale Bau, die GPS Grund-, Pfahl- und Sonderbau und die ALPINE Energie) vereinigt. Ab dem Gründungsjahr 1965 entwickelte sich die ALPINE zu einem der größten Bauunternehmen Österreichs. Anfangs war die ALPINE auf den Tiefbau und den Straßenbau spezialisiert. Später erweiterte sie ihr Tätigkeitsfeld auf alle Bereiche der Bauwirtschaft. Dazu trugen auch vielfache Erwerbsvorgänge (die „Kapsreiter-Gruppe“, die Straka-Bau, die Klöcher Bau, die Konrad Beyer & Co Spezialbau und schließlich die Erfurth Spezialbau) bei. Das erste Großprojekt im Ausland war die Errichtung des Kraftwerks „Potamos Nestor“ in Griechenland. Mitte der Neunzigerjahre wurde die Mehrheitsbeteiligung an der „Mayreder-Bau“ erworben. 2002 folgte der Erwerb der „Universale Bau“, 2005 der Erwerb der „Stumpf Spezialtiefbau“, wodurch sich die Umsätze im Tiefbau verdoppelten. Auch im Energiebereich war die ALPINE-Gruppe durch Zukäufe und Unternehmenszusammenschlüsse vertreten. Dafür wurden eigene Ländergesellschaften in Österreich, Deutschland, der Schweiz und Luxemburg gegründet. Im Jahr 2008 war die ALPINE mit Umsätzen von EUR 3,5 Milliarden in der Bauwirtschaft und mit mehr als 15.500 MitarbeiterInnen nach der STRABAG die zweitgrößte Baugruppe Österreichs. In diesem Jahr übernahm die ALPINE Bau das Wasser- und Tiefbauunter4)

Pressemitteilung des KSV 1870 vom 04.01.2019, 1. Sandra Kienesberger ist Leiterin der KSV 1870 Unternehmenskommunikation.

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Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

nehmen „WaTi“ aus Stuttgart. Im darauffolgenden Jahr folgte der Erwerb des Tiroler Tunnelbauspezialisten Beton- und Monierbau „BeMo“. Ebenfalls in diesem Jahr schloss sich die ALPINE mit einer Tochterfirma der russischen Eisenbahngesellschaft RẐD zu einem Joint-Venture („ALPINE-RẐDstroy“) zusammen, um in Russland Infrastrukturprojekte zu errichten. Im Jahr 2006 hatte die spanische Unternehmensgruppe Formento de Construcciones y Contratas (FCC) von den Gründungsgesellschaftern Georg und Dimitri Pappas die Mehrheitsanteile an der ALPINE Holding erworben. 2012 übernahm die FCC auch die restlichen Anteile und wurde damit zu 100 % Eigentümerin der ALPINE Holding. Im Oktober 2012 wurde erstmals bekannt, dass die ALPINE-Gruppe sich in Liquiditätsschwierigkeiten befand. Obwohl der spanische Mutterkonzern FCC einen Zuschuss von EUR 264 Mio. leistete und die Banken einem Schuldenschnitt („haircut“) von EUR 150 Mio. zustimmten, wurde nach verschiedenen Meldungen im ORF („Zukunft der ALPINE vorerst gesichert“, „Schuldenschnitt bei ALPINE geglückt“) am 19.06.2013 von der Geschäftsführung der ALPINE der Antrag auf Eröffnung eines Sanierungsverfahrens ohne Eigenverwaltung gestellt. Die Geschäftsführung bezifferte das Vermögen der ALPINE mit EUR 661 Mio., den Schuldenstand mit EUR 2.562 Mio. Angeboten wurde im Sanierungsplanvorschlag eine Quote von 20 %, zahlbar innerhalb von zwei Jahren. Zum Masseverwalter wurde RA Dr. Stephan Riel bestellt. Tatsächlich wurden von 14.900 Gläubigern Forderungen im Betrag von rund EUR 4.000 Mio angemeldet. Daraufhin wurde am 04.07.2013 das Sanierungsverfahren in ein Konkursverfahren umgewandelt. Am 16.06.2016 wurde eine erste 5 %ige Zwischenverteilungsquote ausgeschüttet. Am 22.05.2018 folgte eine zweite Zwischenverteilungsquote von neuerlich 5 %. Die Insolvenzgläubiger der ALPINE Bau können noch mit einer weiteren Quote von rund 3 % rechnen. Bei der Verteilung der Quote werden letztlich Forderungen in der Größenordnung von rund EUR 1.800 Mio zu berücksichtigen sein. Die Vermögenswerte der ALPINE Bau sind zwar weitgehend verkauft, es sind jedoch noch gerichtliche Verfahren – insbesondere gegen die FCC – anhängig, weshalb mit einer Konkursaufhebung noch längere Zeit nicht zu rechnen ist. Die Muttergesellschaft des Baukonzerns, die ALPINE Holding, hat Verbindlichkeiten in der Höhe von rund EUR 700 Mio. Davon resultieren EUR 290 Mio. aus Anleihen, die in den Jahren 2010-2012 aufgelegt worden waren. Über österreichische Banken wurden die Bonds vor allem an Kleinanleger verkauft. Der Konkurs der ALPINE Bau hatte auch den Konkurs der ALPINE Holding zur Folge. Denn deren Vermögen bestand im Wesentlichen – neben diversen Darlehen an Tochtergesellschaften – aus der Beteiligung an der ALPINE Bau. Dem Vorstand der Muttergesellschaft wurde von den Anlegern vorgeworfen, er hätte bei einem negativen Eigenkapital von EUR 20 Mio. im Jahr 2010 keine Anleihen mehr begeben dürfen. Er hätte die finanziellen Mittel durch überhöhte Bewertungen in den Jahresabschlüssen zu einer Zeit beschafft, in der er von den Banken keine Finanzierung mehr erhalten hätte. Ob die vielen Kleinanleger im gesonderten Konkursverfahren der ALPINE Holding überhaupt eine Quote erhalten werden, hängt davon ab, ob der Masseverwalter (bei Verfahrenseröffnung Dr. Karl Engelhart, seit 28.06.2018 sein Kanzleikollege Mag. Clemens Richter) mit seiner anhängigen Klage gegen die Konzernmutter FCC Erfolg haben wird. Zum Zeitpunkt der Emission hätte sich der Baukonzern nach dem Gutachten des Sachverständigen Josef Schima für das HG Wien als Konkursgericht bereits in finanziellen Turbulenzen befunden. Dies geht aus einer APA-Meldung vom 15.06.2016 hervor. Die FCC hat bisher sämtliche Vorwürfe zurückgewiesen. Das Gutachten Schima sei mangelhaft, tendenziös und nicht objektiv. Während die Gläubiger der ALPINE Bau GmbH bereits eine Quote von 10 % erhalten haben und der KSV 1870 eine Gesamtquote von 13 % für nicht mehr unrealistisch hält, haben die Inhaber der Bonds

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im Konkurs der ALPINE Holding bisher nichts erhalten. Sollte die Klage des Masseverwalters gegen die Konzernmutter FCC erfolglos bleiben oder auch die FCC insolvent werden, so werden die Inhaber der Bonds vollkommen leer ausgehen. Aus diesem Beispielsfall ist abzuleiten, dass für den Bauherrn (Auftraggeber, AG) die Vorsorge für den Fall der Insolvenz der Baufirma (Auftragnehmer, AN) größte Bedeutung hat. Selbst wenn der AG nicht mehr gezahlt hat, als dem Baufortschritt entspricht, bleibt immer noch die hohe Wahrscheinlichkeit der Verzögerung bei der Fertigstellung des Werks. Dieses Risiko nicht termingerechter Fertigstellung kann durch sorgfältige Auswahl des AN vermindert werden. Qualität und Bonität vor Preis sollte die Maxime sein. Doch kann es im Hinblick auf die Komplexität der Kriterien bei der Bewertung und der Bonitätsbeurteilung doch vorkommen, dass letztlich nach dem Billigstbieterprinzip entschieden wird. Dies führt zur Frage, ob eine entsprechende Gestaltung des Bauvertrages zu einer Verminderung des Risikos verspäteter Fertigstellung auf Grund der Insolvenz des AN führen kann. Wenn es nämlich rechtlich zulässig ist, die Insolvenzeröffnung über das Vermögen des ersten AN zu einem sofortigen Auflösungsgrund für den Bauvertrag zu machen, könnte der AG unverzüglich einen zweiten AN mit der Weiterführung der Bauarbeiten beauftragen. Freilich wird es immer gewisse Nachteile geben, die vom AG bei einem insolvenzbedingten Wechsel des AN in Kauf genommen werden müssen: Für Bauleistungen des Vorgängers wird der Nachfolger jede Verantwortung ablehnen. Aber die Arbeit auf der Baustelle könnte vom zweiten AN zügig wieder aufgenommen werden.

43.4

Rücktritt vom Bauvertrag

Die ÖNORM B 2110 in der Fassung vom 01.01.2009 enthielt das Recht jedes Vertragsteiles, bei einem Bauvertrag den Rücktritt vom Vertrag zu erklären, wenn über das Vermögen des anderen Vertragsteiles ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde oder ein diesbezüglicher Antrag mangels Masse abgewiesen wurde. Eine solche Bestimmung hatte es schon in der ÖNORM B 2110, Fassung 01.03.2002, Pkt. 5.38.1. und in der ÖNORM A 2060, Fassung 01.06.2002, Pkt. 5.25.1., gegeben. Auch wenn die Bestimmung formal für beide Seiten gleichermaßen galt, war sie doch in erster Linie für den Fall der ANInsolvenz gedacht. Das im Bauvertrag eingeräumte Rücktrittsrecht war schon in den Zeiten vor dem IRÄG 2010 umstritten. Denn gemäß § 21 KO in der bis 30.06.2010 geltenden Fassung kam dem Masseverwalter das Wahlrecht zu, bei einem beiderseits noch nicht vollständig erfüllten Vertrag entweder an Stelle des Schuldners den Vertrag zu erfüllen und vom anderen Teil Erfüllung zu verlangen, oder vom Vertrag zurückzutreten. Der Masseverwalter musste sich darüber spätestens binnen einer vom Konkursgericht zu bestimmenden Frist erklären, widrigenfalls angenommen wurde, dass er vom Geschäft zurücktritt. Dem anderen Vertragsteil stand das Recht zu, beim Gericht den Antrag auf Bestimmung der Frist zu stellen. Gemäß § 25a KO konnten sich die Vertragsteile auf Vereinbarungen, wodurch das Wahlrecht des Masseverwalters im Voraus ausgeschlossen oder eingeschränkt wurde, nicht berufen. Im auffallenden Gegensatz zu dieser zwingenden gesetzlichen Bestimmung bejahte der OGH die Gültigkeit der in der ÖNORM B 2110 enthaltenen Regelung: „Die Vereinbarung eines Rücktrittsrechts für den Fall des Konkurses des Gegners ist zulässig.“ (OGH 31.08.1992 ecolex 1992, 846) „Gültig ist auch die Vereinbarung, dass die Auflösung des Vertrages ipso iure mit Konkurseröffnung eintreten soll.“ (OGH 8 Ob 222/01g ZIK 2002/81, 61)

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Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Diese Judikatur wurde vom früheren Präsidenten des IV Senats des OGH, Helmut Gamerith, kritisiert, weil das Recht des AG zur Vertragsaufhebung dem Wahlrecht des Masseverwalters im Konkurs des AN von vornherein den Boden entzog. RA Georg Karasek hingegen sah vor allem die Sachgerechtigkeit des Rücktrittsrechts, weil dadurch für den AG das Entstehen eines unzumutbaren Schwebezustands verhindert wurde, bis der Masseverwalter die Entscheidung über die Erfüllung des Bauauftrages oder den Rücktritt von diesem Auftrag getroffen hatte. Außerdem sollte der AG an einen AN, zu dem er das Vertrauen verloren hatte, nicht mehr gebunden sein. Vielfach nehmen gerade die besten MitarbeiterInnen den Konkurs des Dienstgebers zum Anlass, um sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen, sodass auch die personelle Kontinuität auf der Baustelle gefährdet ist. Weiters sah die bis zum 30.06.2010 geltende Ausgleichsordnung (AO) für den Fall, dass nicht ein Konkursverfahren, sondern ein Ausgleichsverfahren über das Vermögen des AN eröffnet wurde, in dem durch das IRÄG 1997 neu eingeführten § 20e Abs 2 vor, dass die Ausgleichseröffnung nicht als Grund für eine automatische Vertragsauflösung oder für ein Rücktrittsrecht von einem Vertrag vereinbart werden konnte. Dafür gab es ein einleuchtendes Argument: Durch das Ausgleichsverfahren sollte der Schuldner saniert werden. Die Sanierung setzte aber voraus, dass die bestehenden Verträge aufrecht blieben. Das zwingende Verbot der Vertragsbeendigung aus dem Grund der Ausgleichseröffnung war die notwendige Konsequenz der Tatsache, dass derartige Klauseln in vielen Verträgen enthalten waren. Dies galt insbesondere für Verträge, die sich über längere Zeit erstrecken, wie dies gerade für Bauverträge typisch ist. Ohne ein solches Verbot der Vertragsbeendigung wäre in derartigen Fällen der Sanierungszweck von vorneherein vereitelt worden. Anders als in der AO gab es in der KO ein derartiges Verbot nicht. Aus dem Fehlen einer solchen Bestimmung in der KO konnte das argumentum e contrario gewonnen werden: Es sei zulässig, die Konkurseröffnung als Grund für den Vertragsrücktritt zu vereinbaren. Es sei sogar möglich, die Vertragsbeendigung automatisch mit der Konkurseröffnung eintreten zu lassen. Das zwingende Wahlrecht des Masseverwalters gemäß § 21 KO sei auf jene Fälle beschränkt, bei denen im Vertrag keine Auflösungsklausel enthalten sei. Solche Argumente und die dargestellten Gegenargumente standen sich zur Zeit der alten KO und AO ohne Aussicht auf eine vermittelnde Lösung gegenüber. Sicher war nur eins: Die Rechtsfrage, ob die Auflösungsklausel im Konkursfall „halten“ würde, konnte nicht sicher beantwortet werden. Durch das IRÄG 2010 wurden die Zweifel über die Rechtslage, ob die Insolvenzeröffnung einen vertraglich vereinbarten Auflösungsgrund für den Bauvertrag darstellen kann, beseitigt. Nunmehr steht aufgrund des neu eingeführten § 25a IO fest, dass Vertragsverhältnisse nicht mehr wegen der Insolvenzeröffnung über das Vermögen eines Vertragspartners von dem anderen Vertragspartner beendet werden können. Auflösung von Verträgen durch Vertragspartner des Schuldners § 25a. IO (1) Wenn die Vertragsauflösung die Fortführung des Unternehmens gefährden könnte, können Vertragspartner des Schuldners mit dem Schuldner geschlossene Verträge bis zum Ablauf von sechs Monaten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nur aus wichtigem Grund auflösen. Nicht als wichtiger Grund gilt 1.eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation des Schuldners und 2.Verzug des Schuldners mit der Erfüllung von vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens fällig gewordenen Forderungen.

43 Insolvenzvorsorge im Bauvertrag

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(2) Die Beschränkungen des Abs.1 gelten nicht, 1.wenn die Auflösung des Vertrags zur Abwendung schwerer persönlicher oder wirtschaftlicher Nachteile des Vertragspartners unerlässlich ist, 2.bei Ansprüchen auf Auszahlung von Krediten und 3.bei Arbeitsverträgen. Unwirksame Vereinbarungen § 25b. IO (1) Auf Vereinbarungen, wodurch die Anwendung der §§ 21 bis 25a im Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner im voraus ausgeschlossen oder beschränkt wird, können sich die Vertragsteile nicht berufen. (2) Die Vereinbarung eines Rücktrittsrechts oder der Vertragsauflösung für den Fall der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ist unzulässig, außer bei Verträgen nach § 20 Abs. 4. Die Ausnahme nach § 20 Abs 4 IO betrifft Wertpapiere und Finanzgeschäfte und ist für Bauverträge ohne Relevanz. Aus den Erläuternden Bemerkungen zum IRÄG 2010 ergibt sich, dass eben jene Bestimmungen der AO, die den Fortbetrieb des Unternehmens sichern sollten, in die neue IO übernommen wurden: Verträge bei Insolvenzeröffnung: Die Fortführung und damit die Sanierung des Unternehmens kann derzeit auch am Verhalten von Vertragspartnern des Unternehmers scheitern, insbesondere wenn die Vertragspartner Verträge über wiederkehrende Leistungen kündigen, was derzeit aus Anlass der Konkurseröffnung zulässig ist. Daher schlägt der UNCITRAL Legislative Guide on Insolvency Law (2005) einen Ausschluss des Kündigungsrechts vor. Es werden somit nicht nur die derzeit in der Ausgleichsordnung bestehenden Regelungen über den Aufschub einer Räumungsexekution über das Unternehmenslokal wegen Nichtzahlung des Bestandzinses (§ 12a AO) und die Ungültigkeit einer Vereinbarung eines Rücktrittsrechts oder der Vertragsauflösung für den Fall der Eröffnung eines Ausgleichsverfahrens (§ 20e AO) in die IO übernommen, sondern auch das ordentliche Kündigungsrecht und das Rücktrittsrecht des Vertragspartners wegen Verzugs des Schuldners vor Verfahrenseröffnung ausgeschlossen. Sonstige Vertragsbeendigungen bleiben unberührt. Durch diese Maßnahmen wird die Fortführung des Unternehmens in Insolvenzverfahren erleichtert. In diesem Zusammenhang sind für Arbeitsverträge Sonderregelungen vorgesehen. Als Konsequenz ergibt sich nunmehr zweifelsfrei, dass der AG gemäß § 25a IO bis zum Ablauf von sechs Monaten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht vom Bauvertrag zurücktreten kann. Dem gemäß wurde auch die ÖNORM B 2110 in der Fassung von 15.03.2013 in Pkt. 5.8.1. geändert: Jeder Vertragspartner ist berechtigt, den sofortigen Rücktritt vom Vertrag zu erklären: 1. ... 2. ... 3. wenn über das Vermögen des anderen Vertragspartners ein Insolvenzverfahren eröffnet worden ist und die gesetzlichen Vorschriften den Rücktritt vom Vertrag nicht untersagen; 4. ...

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Punkt 5.8.1. der ÖNORM B 2110 in der Fassung vom 15.03.2013 erweckt den Eindruck, als sei es möglich, im Fall der Insolvenz des AN den sofortigen Rücktritt vom Vertrag zu erklären, ausgenommen jene Fälle, bei denen es gesetzliche Vorschriften gibt, nach welchen der Vertragsrücktritt untersagt wird. Das Gegenteil trifft zu. Die Vereinbarung des Rücktritts im Bauvertrag ist unzulässig und unwirksam. Der AG kann sich dem Insolvenzverwalter gegenüber nicht auf diese Vertragsbestimmung berufen. Ob er trotzdem – auch ohne die Vertragsklausel – zurücktreten kann, hängt davon ab, ob die Vertragsauflösung für ihn unerlässlich ist, wobei die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation des Schuldners nicht der Grund für die Unerlässlichkeit der Vertragsauflösung sein kann. Was, wenn nicht die Insolvenz, sollte aber der Grund sein? Es liegt folglich am Insolvenzverwalter, gemäß § 21 IO sein Wahlrecht auszuüben: Vertragseintritt und Weiterführung des Bauprojekts oder Rücktritt vom Vertrag, womit der AG auf Schadenersatzansprüche als Insolvenzgläubiger in Höhe der Insolvenzquote verwiesen wird. Der Schwebezustand ist für den AG unvermeidbar. Nur dann, wenn der Insolvenzverwalter mit gerichtlicher Genehmigung das Unternehmen schließt, steht fest, dass eine Eintrittsrecht des Insolvenzverwalters nicht mehr in Frage kommt. Umso größere Bedeutung gewinnt die Frage, innerhalb welcher Frist der Insolvenzverwalter sein Wahlrecht ausüben muss. Dazu bestimmt § 21 Abs 2 IO: Der Insolvenzverwalter muß sich darüber spätestens binnen einer vom Insolvenzgericht auf Antrag des anderen Teiles zu bestimmenden Frist erklären, widrigens angenommen wird, daß der Insolvenzverwalter vom Geschäfte zurücktritt. Die vom Insolvenzgericht zu bestimmende Frist darf frühestens drei Tage nach der Berichtstagsatzung enden. Im Falle des Rücktrittes kann der andere Teil den Ersatz des ihm verursachten Schadens als Insolvenzgläubiger verlangen. Ist der Schuldner zu einer nicht in Geld bestehenden Leistung verpflichtet, mit deren Erfüllung er in Verzug ist, so muss sich der Insolvenzverwalter unverzüglich nach Einlangen des Ersuchens des Vertragspartners, längstens aber innerhalb von fünf Arbeitstagen erklären. Erklärt er sich nicht binnen dieser Frist, so wird angenommen, dass er vom Geschäft zurücktritt. Die zwei zeitlichen Eckpunkte für die Ausübung des Wahlrechts erscheinen befremdlich: Ist der AN mit seinen Leistungen bisher nicht im Verzug, endet die über Antrag des AG vom Insolvenzgericht zu bestimmende Frist nicht früher als drei Tage nach der Berichtstagsatzung. Gemäß § 91a IO hat die Berichtstagsatzung spätestens 90 Tage nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens stattzufinden. Das ist die Höchstfrist. Drei Tage danach ist die Mindestfrist. Schöpft der Insolvenzverwalter die Höchstfrist aus und hält er sich dann an die Mindestfrist, beträgt der Schwebezustand 93 Tage. Das ist dem AG nicht zumutbar. Wenn andererseits der AN mit seiner Leistung vor Insolvenzeröffnung bereits im Verzug war, hat der Insolvenzverwalter nur fünf Arbeitstage ab Einlangen des Ersuchens um Bekanntgabe der Entscheidung Zeit, um die Erklärung des Eintritts oder des Rücktritts abzugeben. Es wird vom Einzelfall abhängen, ob die Fünftagesfrist für den Insolvenzverwalter zumutbar ist. Jedenfalls besteht für den AG die Möglichkeit, durch den Einbau von Zwischenterminen in den Bauvertrag die Chance auf einen kurzen Schwebezustand wesentlich zu erhöhen. Zwischentermine sind auch in der ÖNORM B 2110, Pkt. 6.1.1. vorgesehen. Sie sind nur dann verbindlich, wenn sie ausdrücklich vereinbart wurden. Ist dies der Fall, und kommt

43 Insolvenzvorsorge im Bauvertrag

631

es als „Vorwirkung“ der sich abzeichnenden Insolvenz des AN zu Verzögerungen in der Bauausführung, muss der Insolvenzverwalter nach Aufforderung durch den AG sein Wahlrecht innerhalb der gesetzlichen Frist des § 21 Abs 2 IO, somit innerhalb von fünf Werktagen ab Aufforderung, ausüben. Typischerweise wird er die Frist verstreichen lassen, ohne sich zu äußern, was als Vertragsrücktritt gilt. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Insolvenzverwalter sich nur dann für den Eintritt in den Bauvertrag entscheiden wird, wenn er sich mit den Mitarbeitern des insolvent gewordenen Bauunternehmens zur Vertragserfüllung tatsächlich in der Lage sieht. Er wird schon wegen seiner persönlichen Haftung für eine schuldhafte Fehlentscheidung diese Voraussetzungen gewissenhaft prüfen. Denn er ist allen Beteiligten, somit auch dem AG, für Vermögensnachteile, die er diesen durch pflichtwidrige Führung seines Amtes verursacht, verantwortlich (§ 81 Abs 3 IO). Vielfach wird ihm also die Entscheidung zum Rücktritt leichter fallen. Jedenfalls weiß der AG diesfalls innerhalb kurzer Frist, ob er einen neuen AN beauftragen muss oder nicht. Äußert sich der Insolvenzverwalter nicht, erreicht der AG durch die kurze Frist des § 21 Abs 2 IO im Ergebnis das Gleiche, was er durch die nicht mehr zulässige Vereinbarung des Rücktrittsrechts erreicht hätte: die Vertragsbeendigung. Der Schadenersatzanspruch als Insolvenzforderung kann noch als kleiner Bonus dazu kommen.

43.5

Sicherstellungen

Für den AG kann sich auch aus der Bestimmung des § 1170b ABGB ein Risiko ergeben, wenn der AN insolvent wird. Gemäß der zwingenden Norm des § 1170b ABGB kann der AN vom AG eine Sicherstellung bis zur Höhe eines Fünftels des noch aushaftenden Entgelts, bei Verträgen, die innerhalb von drei Monaten zu erfüllen sind, aber bis zur Höhe von zwei Fünftel des vereinbarten Entgelts verlangen. Im Gesetz sind u.a. Bargeld, Sparbücher oder Bankgarantien als mögliche Sicherstellungen genannt, weil sie eine rasche und günstige Verwertung ermöglichen. Der Grund dafür ist einleuchtend. Die traditionellen Mittel der Absicherung des Entgeltsanspruchs des Werkunternehmers, wie z.B. das Zurückbehaltungsrecht des KFZ-Mechanikers gemäß § 471 ABGB am Fahrzeug, auf das er Aufwendungen getätigt hat, oder die Vereinbarung eines Pfandrechts an den Sachen, die der Werkunternehmer zur Weiterverarbeitung oder Veredelung in seine Gewahrsame übernommen hat, oder der Eigentumsvorbehalt an dem vom Werkunternehmer selbst beigestellten und von ihm be- oder verarbeiteten Rohmaterial, scheiden beim Bauvertrag aus. Daher soll zumindest ein Teil des Entgeltanspruchs des AN vor Beginn der Bauarbeiten sichergestellt sein, um das Insolvenzrisiko im Baugewerbe und im Baunebengewerbe zu vermindern. Es entspricht dem Wesen der Sicherheitsleistung, dass der AN erst bei Eintritt der Fälligkeit seiner Werklohnforderung darauf greifen darf, wenn der AG die Zahlungen nicht leistet. Gerät der AN allerdings in wirtschaftliche Schwierigkeiten, ist nicht auszuschließen, dass er noch vor Erbringung seiner Bauleistung auf die Sicherheit zugreift. Er könnte die Bankgarantie abrufen, um sonstige Zahlungspflichten zu erfüllen. Wird in der Folge über das Vermögen des AN das Insolvenzverfahren eröffnet, ist der AG hinsichtlich seiner Rückforderung als Insolvenzgläubiger auf die Quote reduziert. Weigert sich andererseits der AG, die Sicherstellung ausreichend und rechtzeitig zu leisten, steht dem AN hinsichtlich dieser Obliegenheit des AG zwar kein Klagerecht auf

632

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

die Sicherheitsleistung, wohl aber das Recht zu, gemäß § 1052 ABGB die eigene Leistung zu verweigern. Verletzt nämlich der AG seine Obliegenheit zur Sicherstellung, hat der AN letztlich das Recht, nach Setzung einer angemessenen Nachfrist und Androhung des Rücktritts vom Vertrag zurückzutreten. Ist es nach dem Wortlaut und nach dem Zweck des § 1170b ABGB zulässig, den vorzeitigen Zugriff des AN auf die Sicherheit auszuschließen? Oder bedingt das Sicherungsinteresse des vorleistungspflichtigen AN, dass der AG damit – unvermeidlich – dem Insolvenzrisiko des AN ausgesetzt ist? Diese Frage wird vom Wortlaut des § 1170b ABGB nicht beantwortet. In der Literatur (Bollenberger, Hartlieb-Lamprechter, Högl/Wiesinger, Schmiedinger, M. Bydlinski, Milchrahm, Panholzer) wird auf das Erfordernis des raschen Zugriffs auf die Sicherheit verwiesen. Damit scheidet eine Variante, bei welcher die Sicherheit gerichtlich hinterlegt wird, die Ausfolgung an den AN aber an das Vorliegen eines rechtskräftigen Titels gegen den AG gebunden ist, aus. Wenn der Zweck der Norm darin liegt, dass der AN jedenfalls zu seinem Entgelt kommen soll, so gilt dies wohl nur mit der Einschränkung, dass der Entgeltanspruch auch durch die erbrachte Bauleistung des AN gerechtfertigt sein muss. Folglich erscheint es sachgerecht, den Sicherstellungsanspruch des AN auch in der Form zu befriedigen, dass beispielsweise vom AG ein Treuhänder (Rechtsanwalt oder Notar) bestellt wird, der den unwiderruflichen Auftrag erhält, den ihm übergebenen Geldbetrag oder die abstrakte Bankgarantie dem AN auszufolgen, sobald der damit abzugeltende Fertigstellungsgrad erreicht ist. Es bietet sich an, dafür auf das Bauträgervertragsgesetz (BTVG), insbesondere auf dessen § 12, zurückzugreifen. Sobald der Fertigstellungsgrad von einem allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen für das Bauwesen bestätigt ist, folgt der Treuhänder dem AN die Sicherheit aus. Das Telos des § 1170b ABGB erfordert die Sicherstellung der Entgeltzahlung für den AN, der seine Bauleistung vertragskonform als Vorleistungspflicht erbracht hat. Eine darüber hinausgehende Verlagerung des Insolvenzrisikos auf den AG ist überschießend und weder durch den Zweck noch durch die Formulierung des § 1170b ABGB gedeckt.

43.6

Aktuelle Trends

Die Insolvenzentwicklung in der Bauwirtschaft ist sehr stark von zwei Faktoren bestimmt: von der Baukonjunktur und vom Zinsniveau. Für das Jahr 2019 ist hinsichtlich der Nachfrage in der Baubranche nicht mit einer „Delle“ zu rechnen. Die Banken sind bereit, für Darlehen auf mehrere Jahre hinaus niedrige Fixzinssätze anzubieten. Daraus kann abgeleitet werden, dass mit einer spürbaren Zinsanhebung auch in den Jahren 2019 und 2020 nicht zu rechnen ist. Die Rechtsentwicklung im Insolvenzrecht ist wesentlich durch das Europarecht bestimmt. Ob ein vorinsolvenzlicher Restrukturierungsrahmen nach dem Vorbild des „Chapter 11“-Verfahrens aus den U.S.A. kommen wird, hängt von der Einigung zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten ab. Eines ist sicher: das Ziel, die Fortführung von Bauunternehmen in einem Sanierungsverfahren dadurch zu begünstigen, dass für Bauverträge die Auflösungssperre des § 25a IO gilt, wird weiterhin im Vordergrund stehen.

43 Insolvenzvorsorge im Bauvertrag

43.7

633

Zusammenfassung

Die vorstehenden Überlegungen haben eines gezeigt: Vertragliche Vorsorgen für den Fall der Insolvenz des AN während der Ausführung des Bauwerks sind gut. Die richtige Auswahl des AN nach dessen Bonität und gutem Ruf ist besser.

43.8

Literaturverzeichnis

Bollenberger, Raimund (2006). Zum Inhalt des Sicherstellungsanspruchs des Bauunternehmers nach § 1170b neu ABGB: Muss der Besteller faktisch ein Vorleistungsrisiko tragen? RdW 2006, 199;. Bydlinski, Michael (2017). Kurzkommentar zum ABGB, 5. Auflage (2017), § 1170b (1479 ff). Fichtinger, Wolfgang; Foglar-Deinhardstein, Stephan (2010). Die Zulässigkeit von Lösungsklauseln für den Insolvenzfall nach dem IRÄG 2010, ÖBA 2010, 818. Gamerith, Helmut (2000). Kommentierung zu § 21 KO, in Bartsch, Pollak, Buchegger, Österreichisches Insolvenzrecht, Band 1, (2000). Hartlieb-Lamprechter, Julia (2010). Sicherstellung gem. § 1170b ABGB, ecolex 2010, 223. Högl, Simone; Wiesinger, Harald (2009). Offene Fragen zu § 1170b ABGB, JBL 2009, 155. Karasek, Georg (2016). ÖNORM B 2110, 3. Auflage. KSV 1870: Der Kreditschutzverband von 1870 gehört zu den wichtigsten Wirtschaftsplattformen, die in Österreich Leistungen im Bereich der Business Analytics anbieten und ihre Kunden bei einem professionellen risk-management unterstützen. Der KSV 1870 erwirtschaftete im Jahr 2017 mit 370 MitarbeiterInnen einen Umsatz von EUR 41 Mio. Der KSV 1870 erbringt Leistungen für mehr als 24.000 Mitglieder im In- und Ausland. Milchrahm, Wilhelm Peter (2007). Die gesetzliche Sicherstellung bei Bauverträgen (§ 1170b ABGB) und die Sicherungsabrede im Werkvertrag, bbl 2007, 172. Nunner-Krautgasser, Bettina (2010). IRÄG 2010: Insolvenzverfahren und Auflösungssperre, in Konecny (Hrsg.), Insolvenzforum 2009 (2010), 81 ff. Panholzer, Patrick (2009). Die Anwendbarkeit des § 1170b ABGB, Erfahrungen seit der Einführung 2007 und die damit verbundenen Problemstellungen in der Praxis, bbl 2009, 84. Reckenzaun, Axel (2010). Neues bei Aus- und Absonderungsrechten, in Konecny (Hrsg.) IRÄG 2010, ZIK Spezial, 95 ff. Riedler, Andreas (2011). Der Eigentumsvorbehalt in der Insolvenz des Käufers nach dem IRÄG 2010, ÖJZ 2011, 904. Schmidinger, Paul (2012). Die Sicherstellung des Bauunternehmers nach § 1170b ABGB, bauaktuell 2012, 42. Trettnak, Thomas; Höfer, Franz A. (2010). Vertragsauflösung reloaded - Gedanken zur Vertragsgestaltung im Lichte der neuen Insolvenzordnung, ZIK 2010, 204.

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Handlungsempfehlungen für ein alternatives Abwicklungsmodell für Infrastrukturbauprojekte in Österreich Unter Berücksichtigung einer frühen Implementierung des unternehmensseitigen Know-hows

Mag.iur. Dipl.-Ing. Dr.techn. Lena Paar Universitätsassistentin Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_44

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44.1

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Abstract

Infrastrukturbauleistungen werden in Österreich vorrangig anhand eines „traditionellen“ Abwicklungsmodells realisiert, bei dem der öffentliche Auftraggeber zuerst die Planungsleistung in Auftrag gibt und daraufhin die Bauleistung auf Basis der fertigen Planung vergibt. Dieses Modell hat allerdings den Nachteil, dass die beteiligten Bauunternehmen erst sehr spät in den Planungs- und Bauprozess miteingebunden werden und so ihr spezielles Ausführungs-Know-how nicht vollumfänglich einbringen können. Die Abkehr von diesem „traditionellen“ Abwicklungsmodell stellt sich als schwierig dar, da die öffentlichen Auftraggeber „innovativen“ Formen der Vergabe- und Vertragsabwicklung meist skeptisch gegenüberstehen, was vorrangig an der (vermeintlichen) Unvereinbarkeit innovativer Modelle mit den vergaberechtlichen Vorschriften festgemacht wird. Dieser Beitrag beschäftigt sich daher mit der Frage, wie die Abwicklungsprozesse in vergabeund bauvertraglicher Hinsicht optimal gestaltet werden können, um den Infrastrukturbau in Österreich zu verbessern.

44.2

Situationsanalyse

Die Bauwirtschaft als Gesamtes und der Infrastrukturbau im Besonderen befinden sich in einer systemischen Krise. Das vorherrschende „traditionelle“ Abwicklungsmodell, bei der der Bauherr zwei voneinander getrennte Auftragsverhältnisse abschließt – einerseits mit dem Planer und andererseits mit den ausführenden Unternehmen – bietet nicht immer den größtmöglichen Nutzen für die beteiligten Parteien. Die beauftragten Planer und Ingenieurbüros, welche mit der vollständigen Planung und Berechnung des Bauvorhabens beauftragt sind, werden sehr früh in die Projektabwicklung eingebunden. Im Gegensatz dazu werden die bauausführenden Unternehmen, auf Basis der bereits vom Planer erarbeiteten Pläne und Ausschreibung, erst in einer vergleichsweise späten Projektphase in das Bauvorhaben involviert. Verbesserungspotentiale und innovative Abwicklungsideen seitens der bauausführenden Seite, können in diesem Stadium der Projektabwicklung nicht mehr berücksichtigt werden. Die Abkehr von diesem „traditionellen“ Abwicklungsmodell stellt sich als schwierig dar, da die öffentlichen Auftraggeber „innovativen“ Formen der Projektabwicklung mit früher AN-Beteiligung teilweise sehr skeptisch gegenüberstehen. Diese Skepsis ist einfach erklärt: Einerseits müssen öffentliche Auftraggeber die Vorgaben des Vergaberechts einhalten, andererseits besteht in der Baubranche ein gewisser Interessenskonflikt zwischen Auftraggeber und ausführenden Unternehmen, was auf Ebene der handelnden Personen teilweise sogar in gegenseitigem Misstrauen seinen Niederschlag findet. Die vorherrschende (Konflikt-)Kultur am Bau ist nicht nur für die beteiligten Institutionen und Personen, sondern für die Volks- und Betriebswirtschaft als Ganzes nachteilig. Ein weiteres, der (österreichischen) Baubranche innewohnendes, Problem, liegt in der Vergabe von Leistungen auf Basis des Billigstbieterprinzips. In der österreichischen Baupraxis ist nach wie vor der Preis das praktisch alleine bestimmende Kriterium bei der Vergabe von Leistungen, insbesondere bei Vergaben durch öffentliche Auftraggeber und Sektorenauftraggeber. Das seit 2016 im öffentlichen Vergaberecht verbindliche Bestbieterprinzip hat hierzu nur wenig Veränderung gebracht. Von den Bietern ist in den meisten Fällen ein konkreter Preis für eine definierte Bauleistung anzugeben, die Auftraggeber gehen dabei von genau vorhersehbaren und daher exakt planbaren und beschreibbaren Leistungen aus. Diese Idealvorstellung widerspricht jedoch häufig der komplexen Realität

44 Handlungsempfehlungen f. ein alternatives Abwicklungsmodell f. Infrastrukturbauprojekte in Ö.

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der Bauausführung, sowohl im Infrastrukturbau, dem Hochbau und noch mehr bei technisch schwierigen Projekten wie Krankenhäusern oder Flughäfen. Im Vordergrund der Überlegungen, welche in diesem Beitrag untersucht werden, stehen daher zwei zentrale Themenbereiche, welche geeignet sein können, die gegenwärtige Situation zu verbessern: • Realisierung der frühzeitigen Einbindung des bieterseitigen Know-hows, • Realisierung eines Leistungswettbewerbs zur Auswahl des „richtigen“ Vertragspartners. In diesem Beitrag werden daher Handlungsempfehlungen zur optimalen Gestaltung der Abwicklungsprozesse für Infrastrukturbauvorhaben vorgestellt.

44.3

Methodik

Dieser Beitrag ist Teil einer im Dezember 2018 an der Technischen Universität Graz eingereichten Dissertation1). Um das aktuell vorherrschende Abwicklungsmodell im Infrastrukturbau sowie Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen, wurden insgesamt 11 ExpertInneninterviews geführt. Parallel dazu wurden anhand einer eingehenden Literaturanalyse englischsprachiger und deutschsprachiger Quellen im Ausland bereits etablierte Abwicklungsmodelle im Infrastrukturbau untersucht. Basierend darauf wurden in weiterer Folge Handlungsempfehlungen für einen alternativen Abwicklungsprozess für Infrastrukturbauprojekte in Österreich formuliert.

44.4

Projektklassifizierung und Handlungsempfehlungen

44.4.1

(Verkehrs-)Infrastrukturbauprojekte

Der Begriff (Verkehrs-)Infrastruktur bezeichnet das „Anlagevermögen im Bereich der Verkehrswege, Verkehrsstationen und Verkehrsanlagen.“2) Darunter fallen Straßen, Schienen und andere Versorgungsnetze wie Wasser, Abwasser, Fernwärme, Strom etc, Wasserstraßen, (Flug-)Häfen und Kraftwerke. Verkehrsinfrastrukturbauprojekte sind demnach solche Bauprojekte, die zur Errichtung und Erhaltung dieser Verkehrsinfrastruktur notwendig sind. Für diesen Beitrag relevant sind jedoch nur jene Infrastrukturbauprojekte, welche eine bestimmte Größe sowie Komplexität aufweisen. Da bislang in der Literatur keine allgemeingültige Projektklassifizierung vorhanden ist, wurde als erster Schritt eine Klassifizierungsmethode für Infrastrukturbauprojekte in Form einer Projektklassifizierungsmatrix erarbeitet.

1) 2)

Paar (2019) Gabler Wirtschaftslexikon online: „Verkehrsinfrastruktur“. Datum des Zugriffs: 21.06.2019

638

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

44.4.2

Projektklassifizierung

Zur Bestimmung der Komplexität von Infrastrukturbauvorhaben wurden insgesamt neun Kriterien herangezogen (K1 definiert die Projektart, K2 die Projektgröße, K3 den Projektzeitrahmen, K4 die Projektdauer, K5 die Rahmenbedingungen der Bau-SOLL-Definition, K6 die Struktur des Bietermarktes, K7 das generelle Umfeld insbesondere die Genehmigungssituation, K8 den Budgetrahmen und K9 die strategische Bedeutung des Bauprojekts) und diese einer Bewertungsskala von 0, 1, 3 oder 6 Punkten unterzogen (vgl. Abb. 44-1). Die Summe aller Bewertungspunkte werden abschließend addiert und durch die Zahl 6 dividiert, sodass ein Wert zwischen 0,0 und 9,0 entsteht. Bewertung [Pkt.]

0

Neubau (freies Gelände)

1

Umbau (mit Einschränkung)

3

Umbau (im Vollbetrieb)

6

K2: Projektgröße < 5,548 Mio. €

0

> 5,548 Mio € bis 50 Mio. €

1

> 50 Mio € bis 150 Mio €

3

> 150 Mio €

6

K3: Projektzeitrahmen

0

mittlerer Zeitrahmen

1

pönalisiert + 3 enger Zeitrahmen

Fixtermin / FTProjekt

6

0

> 1 Jahr bis 3 Jahre

1

> 3 Jahre bis 5 Jahre

3

> 5 Jahre

6

1

Bauweise großteils neu

3

Know-how von 6 Bieter notwendig

1

< 3 potentielle Bieter

3

unbekannt

6

3

sehr hohes Risiko

6

K1: Projektart

Sanierung (kleinflächig)

keine besondere Priorität

K4: Projektdauer < 1 Jahr (Bauzeit) K5: Bau-SollDefinition

klar definierte Leistung

0

Bauweise tw. neuartig

K6: Struktur Bietermarkt

viele (>10) potentielle Bieter

0

mehrere (>3) pot. Bieter

K7: Umfeld (Genehmigung)

geringes Risiko

0

mittleres Risiko 1

hohes Risiko

K8: Budgetrahmen

Kostenobergrenze 0 nicht definiert

Aufstockung 1 Budget möglich

Aufstockung 3 Budget schwierig

Kostenobergrenze fix

6

mittel

hoch

sehr hoch

6

K9: Strategische niedrig Bedeutung SUMME / 6

Abb. 44-1

44.4.3

0

1

3

Wert zwischen 0,0 und 9,0

Bewertungsmatrix Projektklassifizierung3)

(Projekt-)Abwicklungsmodelle

Die Abwicklung von Bauprojekten erfolgt anhand eines bestimmten Prozesses. Je nach Ausgestaltung der vertraglichen Beziehungen unterscheiden sich die einzelnen Prozessschritte oder ihre Reihenfolge von Projekt zu Projekt. Das (Projekt-)Abwicklungsmodell beschreibt die Phasen eines Bauvorhabens sowohl in Bezug auf die Planung, Ausschreibung und Vergabe der Bauleistung (Vergabemodell) als auch in Bezug auf die Ausführung und der damit zusammenhängenden bauvertraglichen Beziehung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer (Vertragsmodell).



Abb. 44-2 3) 4)

Projektphasen bei Infastrukturbauprojekten nach ÖGG-Richlinie 2005

Paar (2019), S. 170 ÖGG-Richtlinie (2005, S. 4f.

4)

44 Handlungsempfehlungen f. ein alternatives Abwicklungsmodell f. Infrastrukturbauprojekte in Ö.

44.4.4

639

Handlungsempfehlungen für besonders komplexe Infrastrukturbauprojekte

Infrastrukturbauprojekte, die einen Wert von 6,0 Punkten und höher nach Projektklassifizierung aufweisen (siehe dazu Abb. 44-1) sind als besonders komplex einzustufen und sollten daher anhand eines dem „traditionellen“ Abwicklungsmodells überarbeiteten Projektabwicklungsmodells abgewickelt werden. Als Vergabemodell wird hierfür die Durchführung eines wettbewerblichen Dialogs empfohlen, um das bauausführende Know-how umfassend in den Planungs- und Genehmigungsprozess einbinden zu können. Hinsichtlich der bauvertraglichen Ausgestaltung wird ein dem australischen Project Alliancing angelehntes Projektteam vorgeschlagen, um die Ziele aller Projektbeteiligter zu harmonisieren und damit eine kooperative Arbeitsweise zu unterstützen.

44.4.4.1

Überlegungen zum wettbewerblichen Dialog

Der wettbewerbliche Dialog, der im Zuge der Vergaberichtlinie 2004/18/EG5) als neues, viertes Vergabeverfahren neben offenem, nicht offenem und Verhandlungsverfahren EUweit eingeführt wurde, fristet seither ein Nischendasein: Mit Ausnahme von England und Frankreich wird der wettbewerbliche Dialog in den Mitgliedsstaaten der EU nur sehr selten als Vergabeverfahren verwendet. Durch die Vergaberechtsnovelle BVergG 2018 (auf Basis der Vergabe-RL 2014/24/EG) wurde dem wettbewerblichen Dialog eine erhebliche Ausweitung seines Anwendungsbereichs zugesprochen. Sämtliche Verfahrensarten des „klassischen“ Vergaberechtes für öffentliche Auftraggeber (somit auch der wettbewerbliche Dialog) stehen nunmehr auch für Sektorenauftraggeber zur Verfügung. Dies kann in Zukunft dazu führen, dass sich die praktische Bedeutung erhöht und vereinzelt auch Bauleistungen mit Hilfe eines wettbewerblichen Dialogs vergeben werden.6) Der wettbewerbliche Dialog ist ein mehrstufiges Vergabeverfahren. In einer ersten Phase werden potentielle Bieter in einer öffentlichen Ausschreibung auf die beabsichtigte Durchführung des wettbewerblichen Dialogs hingewiesen. Gemäß § 115 BVergG hat der öffentliche Auftraggeber in der Bekanntmachung des wettbewerblichen Dialogs seine Bedürfnisse und Anforderungen an das Bauwerk zu formulieren. Die Bieter erstellen daraufhin ihre Teilnehmeranträge, in denen sie ihre Eignung sowie ggf. die Erfüllung der Präqualifikationskriterien nachweisen. In der darauffolgenden Dialogphase führt der Auftraggeber mit den Teilnehmern einen Dialog „mit dem Ziel, […] die Lösungen zu ermitteln, mit der oder mit denen seine Bedürfnisse und Anforderungen am besten erfüllt werden können.“7) Die Dialogphase stellt das wesentliche Element des wettbewerblichen Dialogs dar. In dieser werden Verhandlungsgespräche (z.B. in Form von Interviews und Workshops) mit allen DialogteilnehmerInnen über die technischen, vertraglichen und wirtschaftlichen Lösungen bezüglich der Bauaufgabe geführt. Es werden auch die anfangs erläuterten Bedürfnisse und Anforderungen mit den Teilnehmern erörtert und gegebenenfalls angepasst, wobei diese Adaptierungen immer allen Teilnehmern bekannt zu machen sind. Nach § 116 Abs 3 BVergG kann der Bauherr während der Dialohphase die Zahl der zu erörternden Lösungen anhand der Zuschlagskriterien dezimieren, indem er die betref5)

6) 7)

Siehe dazu das Leitkonzept für eine innovationsfördernde öffentliche Beschaffung (IÖB) in Österreich (Online unter: https://www.bmvit.gv.at/innovation/publikationen/forschungspolitik/downloads/ioeb_leitkonzept.pdf. Datum des Zugriffs: 21.06.2019). Oppel (2017) § 116 Abs 1 BVergG.

640

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

fenden Bieter von der Nichtberücksichtigung ihrer Lösung informiert und diese damit vom weiteren Verfahren ausgeschlossen werden. Am Ende der Dialogphase sind von den verbliebenen Teilnehmern Angebote im Sinne der Ergebnisse aus dieser Dialogphase zu erstellen (sogenannte Aufforderung zur Angebotsabgabe gemäß § 117 BVergG). Der öffentliche Auftraggeber hat daraufhin den Auftrag an das technisch und wirtschaftlich günstigste Angebot gemäß Zuschlagskriterien zu vergeben (§ 117 Abs 4 BVergG). Um schlussendlich den „besten“ Vertragspartner zur Errichtung der Infrastruktur auswählen zu können, bedarf es im Vorfeld der Durchführung eines wettbewerblichen Dialogs die Auswahl „intelligenter“ Zuschlagskriterien. Diese müssen gemäß § 2 Z 22 lit. d BVergG auftragsbezogen sein und sich einer Bewertung samt objektiver Gewichtung unterwerfen können. Nach australischem Vorbild sind die sogenannten key results areas (KRA) die im Vertrag festgelegten „Bereiche“, welche dem Bauherren besonders wichtig erscheinen (z.B. Baukosten, Bauzeit, Arbeitssicherheit, „Community/Stakeholder“Management, Qualität, Umweltmanagement, Verkehrsmanagement). Jedes KRA wird in weiterer Folge durch sogenannten key performance indicators (KPI) definiert, anhand derer man eine Beurteilung des Erfüllungsgrades des jeweiligen KRA ablesen kann. Für das KRA „Qualität“ können z.B. folgende KPI definiert werden: Betonprüfungen wie Ausbreitmaß, Verdichtung, Anzahl an Poren, Ausprägung der Kanten etc.8); Setzungsprüfungen bei Erdarbeiten sowie für das KRA „Planung“ z.B. die Anzahl an wesentlichen Korrekturen durch externe Prüfer oder die Anzahl an Fehlern in den freigegebenen Plänen.

44.4.4.2

Überlegungen zum Projektteam

Das „Projektteam“ ist dem australischen Vorbild des Project Alliancing angeleht, sollte jedoch eher einer Hybrid-Allianz entsprechen, bei der zwar die wesentlichen Merkmale einer Projektallianz vorliegen (Partnerning-Agreement, Bildung von Projektteams, leistungsorientierte Vergütung, vertraglich abgesichertes Treueverhältnis), allerdings nicht alle Merkmale einer Projektallianz erfüllt sind (z.B. Fragen der Haftung und des Klageverzichts). Die bauvertragliche Ausgestaltung des Projektteams sollte dabei folgende Punkte berücksichtigen, wobei die konkrete Ausformulierung des Allianzvertrages von den Rahmenbedingungen jedes Bauprojekts abhängig ist und damit nicht pauschal angegeben werden kann: • Klare Projektbeschreibung und Bau-SOLL-Definition: Als Startpunkt des Infrastrukturbauvorhabens hat der Bauherr (mit dem von ihm beauftragten Planer für die frühen Leistungsphasen) eine klare Projektbeschreibung zu formulieren, die als Ausschreibungsunterlage im wettbewerblichen Dialog dient. Im Zuge des wettbewerblichen Dialogs werden Lösungen erarbeitet, wobei die Lösung des „besten“ Bieters schlussendlich auch beauftragt werden sollte. Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Bauwerkvertrags und damit auch zum Zeitpunkt der Einrichtung des Projektteams sollte ein Referenz-Bau-SOLL inkl. Leistungsbeschreibung vorliegen, aus der sich auch die Referenz-Herstellkosten ableiten.9) • Strategie der Projektabwicklung in Form eines Projektteams: Die bauvertragliche Abwicklung sollte im weiteren Projektablauf in Form eines, dem Project Alliancing angelehnten, Projektteams abgewickelt werden. Dafür sind die Interessen der Beteiligten sowie die Ziele der Projektallianz gleichzuschalten. 8) 9)

Vgl. Schlabach (2013a), S. 49 Vgl. Schlabach (2013b), S. 192f.

44 Handlungsempfehlungen f. ein alternatives Abwicklungsmodell f. Infrastrukturbauprojekte in Ö.

641

• Gemeinsames Leitungs- und Managementteam: Das Projektteam sollte mit einem dem australischen Vorbild angenäherten ALT (Alliance Leadership Team) Leitungs- sowie AMT (Alliance Management Team) Management-Team ausgestattet werden. Personell sollten hier alle Allianzmitglieder zumindest mit einer Person vertreten sein. Das „Tagesgeschäft“ sollte durch einen, dem „Allianzmanager“ nachgebildete hauptverantwortliche Projektleiterin/nachgebildeten hauptverantwortlichen Projektleiter gesteuert werden, die/der nach den Grundsätzen „best person for the job“ ausgewählt wird und im Interesse der Allianz nach dem Prinzip „best for project“ handelt. • Kooperative Arbeitsatmosphäre: Alle Allianzmitglieder sollten an einer kooperativen Arbeitsatmosphäre mitwirken, die am Beginn und auch während der Bautätigkeit durch Workshops und Meetings gefördert wird. Eine offene, direkte Kommunikation zwischen den ProjektmitarbeiterInnen sollte diese kooperative Arbeitsweise unterstützen. • Transparenz und faire Risikoverteilung: Alle Allianzmitglieder tragen zusammen das Risiko der Projekterstellung und teilen sich die Verantwortung hierfür. Eine Buchhaltung unter „open book“-Prinzipien sollte die Transparenz hinsichtlich der eingesetzten Materialien und Kosten gewährleisten. Für alle Abweichungen von den ReferenzHerstellkosten, die sich im Zuge der Bauausführung ergeben, sollte ein Risikobudget eingerichtet werden, welches gemeinsam in Form von Workshops erarbeitet wird und die Eintrittswahrscheinlichkeiten sowie die Konsequenzen bei Eintritt des Risikos beschreiben. • Vergütungssystem auf Basis einer KPI-Bewertung: Am Ergebnis der Bautätigkeiten sollten alle Mitglieder des Projektteams zu gleichen Teilen partizipieren. Dies macht ein dreistufiges Vergütungssystem notwendig, in dem zuerst alle Einzelkosten der Teilleistungen nach „open-book“-Prinzip vergütet werden. Je nach Über- oder Unterschreitung der Zielkosten werden in Stufe 2 (limb 2) die Allgemeinen Geschäftsgemeinkosten vergütet sowie ein etwaiger Gewinn nach vereinbarten Prozentsätzen aufgeteilt. Sollten bestimmte KPIs (nicht) erfüllt werden, erfolgt in Stufe 3 (limb 3) die Vergütung in Form eines Bonus-Malussystems. Um die Abrechnungen zu kontrollieren, sollte eine unabhängige Wirtschaftsprüferin/ein unabhängiger Wirtschaftsprüfer installiert werden. • Ansätze zur Streitschlichtung: Um Streitigkeiten zu verhindern sollte eine Gleichrangigkeit der Mitglieder des Projektteams sowie ihrer Stimmanteile gewährleistet werden sowie ein Einstimmigkeitsgebot bei (wichtigen) Entscheidungen im Leistungsteam eingerichtet werden. Konflikte sollten nach dem Grundsatz „no blame, no dispute“ nicht über persönliche Beschuldigungen angesprochen werden, sondern auf einem sachlichen Lösungsansatz basieren. Dafür notwendig ist auch, dass Konflikte in erster Linie vor Ort durch die unmittelbar beteiligten Personen entschieden werden. Nach Vorbild der australischen Projektallianz soll es einen standardisierten Konfliktlösungsprozess geben, der in einem ersten Schritt vorschreibt, das Problem vor Ort (im WPT) zu lösen.10) Erst wenn keine Lösung erzielt werden kann, wird die Entscheidung an das nächsthöhere Gremium (das AMT) weitergeleitet, bis am Ende das ALT endgültig Entscheidungskompetenz darüber hat. Die Entscheidung sollte immer einstimmig getroffen werden und von allen Allianzmitgliedern mitgetragen werden. Gesellschaftsrechtlich sollte das Projektteam in Form einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GesbR) ausgestaltet sein. Bei Gründung des Projektteams in Form einer GesbR sollten einerseits die gemeinsamen Zielvorstellungen aller Beteiligten im Vordergrund stehen. Im Gesellschaftsvertrag sollte weiters klar geregelt werden, wer die Allianz nach außen gegenüber Dritten vertreten darf und damit gültige Rechtshandlungen (Verträge 10)

Vgl. Burtscher (2011), S. 150

642

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

abschließen etc.) setzen kann. Da die gesetzliche Regelung im ABGB keine klare Vertretung der GesbR festlegt (vgl. § 1201 ABGB), sollte die vertragliche Regelung festlegen, dass eine Einzelvertretunsgbefugnis durch die Mitglieder des Leitungsteams (ähnlich ALT nach australischem Vorbild) bzw. des Managementteams eingerichtet wird. Eine Gesamtvertretungsbefugnis (also die Einstimmigkeit aller Mitglieder im Leitungsteam) sollte auf außergewöhnliche Geschäfte eingeschränkt werden (z.B. Auflösen der Allianz bzw. der GesBR, Austritt eines Allianzmitglieds aus der GesbR).

44.5

Herausforderungen in der Umsetzung der Handlungsempfehlungen

Die im vorangegangen Kapitel erörterten Handlungsempfehlungen für besonders komplexe Bauprojekte im Verkehrsinfrastrukturbereich bedürfen einer Bewertung hinsichtlich der Umsetzbarkeit in die bauwirtschaftliche Praxis. Dabei spielen einerseits zwingende gesetzliche Regularien sowie Herausforderungen aufgrund bauvertraglicher und praktischer Erwägungen eine Rolle.

44.5.1

Herausforderungen aufgrund zwingender Rechtsvorschriften

Das Bundesvergabegesetz 2018 (BVergG) regelt in Österreich die öffentliche Vergabe. Leistungen, die im Zuge von Baumaßnahmen an Verkehrsinfrastruktur vergeben werden, unterliegen im Regelfall den Bestimmungen des BVergG. Deutschmann11) kommt in seiner 2017 abgeschlossenen Dissertation zu dem Ergebnis, dass die Durchführung eines dem australischen Project Alliancing angelehnten Allianzvertrags – unter bestimmten Bedingungen – konform mit den österreichischen Vergaberichtlinien für öffentliche Auftraggeber ist. Die Auswahl des ausführenden Partners innerhalb des „Projektteams“ sollte deshalb anhand eines wettbewerblichen Dialogs stattfinden, da dieses Verfahren die größtmögliche Flexibilität für den öffentlichen Auftraggeber bietet, besonders komplexe Projekte an geeignete Unternehmen zu vergeben.12) Das BVergG sieht für die Abwicklung eines wettbewerblichen Dialogs detaillierte Grundsätze und Verfahrensbestimmungen vor (vgl. §§ 115 ff BVergG), die in jedem Fall zu beachten sind. Hinzuweisen ist weiters auf die sogenannte Vorarbeiterproblematik, nach der ein Unternehmen, welches sowohl bei der Erarbeitung der Ausschreibungsunterlagen tätig wird und später auch am Vergabeverfahren selbst teilnimmt (als Bieter oder Nachunternehmer), voraussichtlich eine unzulässige „Doppelrolle“ nach § 25 Abs 1 BVergG einnimmt, soweit davon der faire und lautere Wettbewerb beeinträchtigt wird. Eine gesetzliche Einschränkung im Zusammenhang mit der Ausgestaltung der Projektallianz ergibt sich durch die geltenden Gewerbevorschriften in Österreich. Das Ziviltechnikergesetz (ZTG) sieht nämlich vor, dass ZiviltechnikerInnen nicht für ausführende Tätigkeiten berechtigt sind (vgl. § 4 Abs 4 ZTG) und auch keine GesbR mit ausführenden Bauunternehmen bilden können (vgl. § 21 Abs 3 ZTG). Einerseits ist damit die Mitwirkung der ZiviltechnikerInnen im Zuge des wettbewerblichen Dialogs stark eingeschränkt, da sie mit bauausführenden Unternehmen keine Bietergemeinschaften bilden 11) 12)

Vgl. Deutschmann (2017), S. 115ff. Vgl. dazu auch die Erläuterungen zum Bundesvergabegesetz 2018, nachdem der wettbewerbliche Dialog unter anderem bei der „Realisierung großer, integrierter Verkehrsinfrastrukturprojekte“ Anwendung finden sollte.

44 Handlungsempfehlungen f. ein alternatives Abwicklungsmodell f. Infrastrukturbauprojekte in Ö.

643

dürfen, andererseits kann auch keine direkte Beteiligung der ArchitektInnen, PlanerInnen und IngenieurkonsulentInnen am „Projektteam“ erfolgen. ZiviltechnikerInnen können somit nur als Subunternehmer Teil des „Projektteams“ werden, selbst aber kein Mitglied des als GesbR ausgestalteten „Projektteams“ sein. Um die Ziele des „Projektteams“ damit nicht zu gefährden, sollten die vertraglichen Beziehungen zu den diversen (Fach-)PlanerInnen eine entsprechende Anreizvergütung berücksichtigen.

44.5.2

Herausforderungen aufgrund bauvertraglicher Regelungen

Die Gleichschaltung der Ziele innerhalb (und auch außerhalb) des „Projektteams“ (mit den als Nachunternehmer beauftragten PlanerInnen) stellt mit Sicherheit den erfolgversprechendsten und gleichzeitig auch diffizilsten Dreh- und Angelpunkt der hier vorgestellten Handlungsempfehlungen für besonders komplexe Infrastrukturbauprojekte dar. Wie schon in Kap. 44.4 erörtert, erfordert die Gleichschaltung der Interessen ein anreizbasiertes Vergütungssystem, um opportunistisches Verhalten soweit als möglich zu verhindern. Dieses Vergütungssystem erfordert einerseits einen erhöhten Aufwand im Controlling (open-book-Prinzip) und andererseits das Risiko, durch nicht geeignete Auswahl der Anreize (Incentives) die falschen monetären Ziele zu verfolgen, was zu suboptimalen Ergebnissen der Projektabwicklung bei allen Projektbeteiligten führt. Weiters ist durch die hier vorgestellte Abwicklungsart eine Änderung des klassischen Rollenverständnisses verbunden, nämlich, dass dem Bauherrn die Verantwortlichkeit für die Planung zukommt. Durch die gemeinsame Entwicklung und Fortschreibung der fertigen Ausführungsplanung im Zuge des wettbewerblichen Dialogs bzw. in der „Projektallianz“, fallen Planungsfehler nicht mehr automatisch in die Bauherrnsphäre (unter Beachtung einer etwaigen Prüf- und Warnpflicht des Bauunternehmers), sondern unterliegen ebenfalls der Win-win- bzw. Lose-lose-Philosophie. Da für besonders komplexe Bauaufgaben in der Regel eine Umweltverträglichkeitsprüfung notwendig ist, muss auch vorab geklärt werden, von welchem Projektpartner zu welcher Zeit die Unterlagen für eine erfolgreiche UVP-Genehmigung beizubringen sind. Empfohlen wird, dass die Antragstellung zur UVP zeitlich vor der Ausschreibung zum wettbewerblichen Dialog vom Bauherrn auf Basis der Entwurfsplanung erfolgen sollte. Auf Änderungen, die sich durch die Bescheidlage ergeben, kann damit während der Dialogphase reagiert werden.

44.5.3

Herausforderungen aufgrund praktischer Überlegungen

Mögliche Akzeptanzprobleme, die sich bei Anwendung der Handlungsempfehlungen für besonders komplexe Infrastrukturbauvorhaben beim Auftraggeber ergeben können, werden sich unter anderem an der Wahl des wettbewerblichen Dialogs als Vergabeverfahren konzentrieren, da die Bauherrn keine Erfahrungswerte bei Durchführung eines solchen Vergabeverfahrens haben und damit auch den Umgang mit Einsprüchen unterlegener Bieter schwer abschätzen können. Andererseits gewähren auch die Bieter in einem wettbewerblichen Dialog bereits umfassend Einblick in ihr spezielles Know-how, ohne unter Umständen später auch den Auftrag zu erhalten. Zu empfehlen ist deshalb eine finanzielle Vergütung für alle Ideen unterlegener Bieter, die im weiteren Planungsprozess Berücksichtigung finden sollen. Mit der relativ engen vertraglichen Bindung des Bauherrn an das bauausführende Unternehmen in Form der „Projektallianz“ geht eine gewisse Abhängigkeit der Vertragspartner

644

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

einher. Der Bauherr bindet sich relativ früh im Projektzeitraum an einen Projektpartner, mit dem er das gesamte Projekt kooperativ abwickelt. Um eine Übervorteilung zu vermeiden, ist hierzu unbedingt das schon weiter vorne erwähnte open-book-Prinzip unerlässlich. Weiters sollte es auch die Möglichkeit einer Aufkündigung der „Projektallianz“ geben, insofern grobe Verfehlungen eines Teammitgliedes festgestellt werden.

44.5.4

Kriterienkatalog zur erfolgreichen Umsetzung

Um den hier angesprochenen Herausforderungen sowie Akzeptanzproblemen erfolgreich begegnen zu können, wird abschließend ein Kriterienkatalog zur erfolgreichen Umsetzung der Handlungsempfehlungen vorgestellt: • Für das „Projektteam“ sollte es eine transparente und für jeden Projektpartner zugängliche Aufgaben- und Kompetenzregelung geben, die nach dem Prinzip „best person for the job“ (und damit unabhängig einer AG- bzw. AN-Zugehörigkeit) organisiert ist. • Das „Projektteam“ muss die erforderlichen Kompetenzen zur raschen, rechtzeitigen Entscheidungsfindung besitzen. Die Entscheidungskompetenz sollte auf der Baustelle bei den unmittelbar beteiligten ProjektmitarbeiterInnen liegen. • Die (Fach-)Planer sollte sinnvoll in die Projektabwicklung eingegliedert und ebenfalls „kooperativ“ an das „Projektteam“ vertraglich gebunden werden. • Notwendige Genehmigungsbescheide für das Bauprojekt sollten bei Antragstellung einen „Rahmencharakter“ aufweisen, um nachträgliche Änderungen des Bauablaufs (sogen. „worst-case“-Szenario) zuzulassen. • Die Vergütung der Bauleistung sollte durch ein durchdachtes Anreizsystem (Incentivierung mittels KPI) auch für die Nachunternehmerebene gestaltet werden. • Die Führungsebene der Bauherrn- und Bauunternehmensorganisationen sollten durch ein aktives „Vorleben“ der geforderten kooperativen Arbeitsweise sowohl durch die Geschäftsführung als auch durch die Projektleitung, auf ihre MitarbeiterInnen in Form einer Vorbildwirkung einwirken. • Die erfolgreiche Umsetzung des „Projektteams“ setzt auch eine dementsprechende Vorarbeit in den organisatorischen Abläufen der Projektmitglieder voraus, was innerbetriebliche aufbau- und ablauforganisatorische Rahmenbedingungen notwendig macht. • Die Umsetzung der hier vorgestellten Handlungsempfehlungen setzt technisches, rechtliches, wirtschaftliches und soziales Know-how voraus, welches teilweise erst erarbeitet werden muss. Als Positivbeispiel hat sich hier insbesondere Finnland gezeigt, die sich vor Einführung eines dem Project Alliancing angelehnten Abwicklungsmodells, VertreterInnen australischer Behörden als ExpertInnenen dieses Abwicklungsmodells als Unterstützung ins Land geholt haben.

44.6

Aktuelle Trends

Die Thematik alternativer Abwicklungsmodelle mit vermehrt kooperativem Charakter für den Infrastrukturbau, wird in Zukunft durch die Digitalisierungswelle und der sich daraus ergebenden neuen Aufgabenfelder der BIM-Methode vorangetrieben werden. Auch die aktuellen Entwicklungen aus dem Forschungsfeld des Lean Managements werden Ansätze für adaptierte Abwicklungsmodelle liefern, die zukünftig auch für den Infrastrukturbau eine Rolle spielen werden.

44 Handlungsempfehlungen f. ein alternatives Abwicklungsmodell f. Infrastrukturbauprojekte in Ö.

44.7

645

Zusammenfassung

Der Infrastrukturbau in Österreich befindet sich in einer Krise. Die Vergabe auf Basis des billigsten Angebotspreises sowie die strukturellen Defizite in der Ausschreibung von Bauleistungen, die durch die zeitlich parallel stattfindende Planung und Bauausführung auftreten, führen zu ineffizienten Abläufen mit Kosten- und Terminüberschreitungen. Für besonders komplexe Projekte des Infrastrukturbaus schlagen die in diesem Beitrag vorgestellten Handlungsempfehlungen eine Lösung der transaktionalen AuftraggeberAuftragnehmer-Beziehung in Form einer Etablierung eines „Projektteams“ vor, das stark an die Abwicklungsform des australischen Project Alliancing angelehnt ist. Mit diesem Abwicklungsmodell können die Ziele aller Teammitglieder gleichgeschaltet werden und so eine kooperative Arbeitsweise sichergestellt werden.

44.8

Abkürzungsverzeichnis

ALT

......................... Alliance Leadership Team

AMT

......................... Alliance Management Team

GesbR

......................... Gesellschaft bürgerlichen Rechts

KRA

......................... key results areas

KPI

......................... key performance indicators

UVP

......................... Umweltverträglichkeitsprüfung

WPT

......................... wider project team

44.9

Literaturverzeichnis

Burtscher, Daniel; Deutschmann, Daniel; Hagen, Christian (2011). Der Alliance Contract – Bauen ohne Rechtsstreit. bau aktuell, Heft Nr. 4, S. 146-151. Wien. Linde-Verlag. Deutschmann, Daniel (2017). Ein Allianzvertrag für österreichische Bauprojekte - Vergaberechtliche Umsetzbarkeit des australischen Alliance Contracts im österreichischen Rechtssystem. Dissertation. Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Innsbruck. Oppel, Albert (2017). Einblicke in die Verfahrensarten für klassische AG im OSB nach dem geplanten BVergG. In: ZVB 62 (6), S. 265-274. Österreichische Gesellschaft für Geomechanik (2005). ÖGG-Richtlinie: Kostenermittlung für Projekte der Verkehrsinfrastruktur. Paar, Lena (2019). Handlungsempfehlungen für ein alternatives Abwicklungsmodell für Infrastrukturbauprojekte in Österreich – Unter Berücksichtigung einer frühen Implementierung des unternehmensseitigen Know-hows. Dissertation. Technische Universität Graz. Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft. Schlabach, Carina (2013a). Untersuchungen zum Transfer der australischen Projektabwicklungsform Project Alliancing auf den deutschen Hochbaumarkt. Dissertation. Universität Kassel. Kassel University Press, Schriftenreihe Bauwirtschaft | Forschung, 20.

646

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Schlabach, Carina (2013b) Randbedingungen für die Anwendung einer Projektallianz nach australischem Vorbild bei Hochbauprojekten auf dem deutschen Baumarkt. Vortrag beim BBB-Kongress 2013. Online unter: https://www.bbbkongress.de /fileadmin/files/rueckblick/darmstadt2013/pdf/Schlabach.pdf. Datum des Zugriffs: 21.06.2019

45

Der „Regresszirkel“ zum Geschädigten – gewollte oder nicht gewollte Konsequenz der Privilegierung eines Schädigers nach Pkt 12.3 der ÖNORM B 2110?

Dr. Konstantin Pochmarski Rechtsanwalt HOHENBERG STRAUSS BUCHBAUER Rechtsanwälte GmbH Hartenaugasse 6 8010 Graz www.hohenberg.at [email protected] Mag. Christina Kober, Bakk. Rechtsanwältin HOHENBERG STRAUSS BUCHBAUER Rechtsanwälte GmbH Hartenaugasse 6 8010 Graz www.hohenberg.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_45

648

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

45.1

Abstract

Die Haftungsbeschränkung nach Pkt 12.3. der ÖNORM B 21101) privilegiert bei ihrer Vereinbarung den Schädiger dahingehend, als dessen Haftung bei leichter Fahrlässigkeit beschränkt ist. Haften zwei Schädiger gegenüber dem Geschädigten solidarisch, von denen bloß einer privilegiert ist, stellt sich die Frage nach der Reichweite und der Wirkung der vertraglichen Privilegierung. Führt die Privilegierung eines Schädigers dazu, dass der Geschädigte auch vom anderen nicht privilegierten Schädiger nur begrenzten Ersatz fordern kann? Führt die Privilegierung eines Schädigers dazu, dass dieser Schädiger vor dem Regress eines anderen nicht privilegierten Schädigers geschützt ist? Oder führt die Privilegierung eines Schädigers dazu, dass dieser nach erfolgtem Regress des nicht privilegierten Schädigers zu seinen Lasten im Wege eines “Regresszirkels” seinerseits Regress am Geschädigten führen kann?

45.2

Situationsanalyse – OGH 20.2.2018, 10 Ob 68/17y als Ausgangspunkt

Die jüngst zur Haftungsbeschränkung gemäß Pkt 12.3 der ÖNORM B 2110 ergangene Entscheidung OGH 20.02.2018, 10 Ob 68/17y hat das Potential, die Vertragsverhältnisse auf Baustellen unter Verwendung der ÖNORM B 2110 grundlegend zu beeinflussen. Freilich liegt dieser Entscheidung ein komplizierter Sachverhalt zu Grunde, woraus vielleicht resultiert, dass die Entscheidung bislang (zu) wenig Beachtung gefunden hat. Zudem spricht die Entscheidung nicht explizit von einer Haftungsbeschränkung nach Pkt 12.3 der ÖNORM B 2110, sondern bloß von „eine[r] mit dem Bauherrn im Werkvertrag (mit der Beklagten) vereinbarte Beschränkung der Haftung des Werkunternehmers auf einen Höchstbetrag (10.094,62 EUR)“.2) Der vorliegende Beitrag versucht daher die Prämissen, welche jener Entscheidung zu Grunde liegen, Schritt für Schritt nachzuvollziehen, um daraus abgeleitet eine Bewertung dieser Entscheidung vorzunehmen.

45.3

Mehrheit von Schädigern – auf Baustellen ein häufiger Fall

Die zitierte Entscheidung bezieht sich auf das Verhältnis mehrerer solidarisch haftender Schädiger gegenüber einem Geschädigten. Es stehen einem Geschädigten zwei (oder mehr3)) Schädiger gegenüber, welche diesem solidarisch auf den Schadenersatz haften.

1)

2)

Gegenständlich ist hier die derzeit in Geltung stehende ÖNORM B 2110 Allgemeine Vertragsbestimmungen für Bauleistungen – Werkvertragsnorm (Ausgabe: 2013-03-15). Die Haftungsbeschränkung nach Pkt 12.3. findet sich – mit anderen Beträgen – freilich schon in den vorangegangenen Ausgaben, sodass die Ausführungen auch hierfür gelten. Den Autoren ist allerdings der dahinterstehende Sachverhalt, insbesondere der Werkvertrag mit der Haftungsbeschränkung gemäß Pkt 12.3 der ÖNORM B 2110 bekannt, sie waren allerdings nicht am Verfahren selbst beteiligt.

45 Der „Regresszirkel“ zum Geschädigten

649

Eine Solidarhaftung mehrerer Schädiger aufgrund verschiedener vertraglicher Verhältnisse kommt auf Baustellen häufig vor.4) Man denke etwa an den Fall, dass im Vermögen des Bauherren deswegen ein Schaden eintritt, weil der Architektin/dem Architekten ein Planungsfehler unterläuft und dieser Planungsfehler vom ausführenden Werkunternehmer unter Verstoß gegen die Prüf- und Warnpflicht5) nicht erkannt wird.6) Diese beiden unabhängig voneinander als Nebentäter7) handelnden Schädiger haften mangels Bestimmbarkeit ihrer jeweiligen Schadensanteile solidarisch zu Folge einerseits Verstoß gegen den Planungsvertrag und zu Folge anderseits Verletzung der nebenvertraglichen Prüf- und Warnpflicht nach § 1168a ABGB.8) Als anderes „Schulbeispiel“ der solidarischen Haftung gilt der Fall, in dem ein Werkunternehmer durch mangelhafte Bauleistung einen Mangelschaden oder Mangelfolgeschaden verursacht und die örtliche Bauaufsicht (ÖBA) dieses Fehlverhalten pflichtwidrig nicht erkennt und nicht sofort abstellt.9) Andere häufige Fälle bestehen in der Solidarhaftung zweier AN, weil diese ihre Kooperationspflicht zum „technischen Schulterschluss“ an einer technischen Schnittstelle verletzen, wodurch es zum Schaden kommt10) oder bei Schadenseintritt durch mangelhafte Vorleistungen eines AN, die der nachfolgende AN in Verstoß gegen seine Prüf- und Warnpflicht nicht erkennt. Als erstes Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass eine Solidarhaftung zweier Schädiger gegenüber einem Geschädigten11) auf der Baustelle häufig anzutreffen ist, wobei diese Solidarhaftung dadurch gekennzeichnet ist, dass ihr häufig verschiedene Verträge12) zu Grunde liegen.13)

3)

4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13)

In der Folge wird nur mehr die Konstellation von zwei solidarisch haftenden Schädigern behandelt; das Vorhandensein von drei oder mehr Schädigern verkompliziert die Angelegenheit, ohne aber neue Grundsätze zu schaffen. Sehr wohl besondere Grundsätze gelten allerdings für den Fall eines Mitverschuldens des Geschädigten im Verhältnis zu mehreren schädigenden Nebentätern; vgl. zur diesbezüglichen Einzel- und Gesamtabwägung OGH RS0017470; Vgl. Schacherreiter in Kletečka/Schauer, ABGB-ON, § 1304 Rz 96/2ff.; Wimmer (2000), S. 182 Die Gesamtschuld aufgrund verschiedener Rechtsgründe – verschiedene Verträge oder Delikts- und Vertragshaftung – nennt man „unechte Solidarität“; vgl. Gamerith/Wendehorst in Rummel/Lukas, ABGB4, § 896 Rz 2 mwN. Es kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben, ob es sich um die gesetzliche Prüf- und Warnpflicht nach § 1168a ABGB handelt oder um eine vertraglich besonders ausgestaltete Prüf- und Warnpflicht. Vgl. diesen Fall bei Karasek (2016), S. 1049; Rz 2322; weitere Fälle der Solidarhaftung mehrerer AN oder der ÖBA a.a.O., S. 1046ff., Rz 2319ff. Vgl. zum Begriff und den Voraussetzungen der Nebentäterschaft OGH 13.7.1995, 6 Ob 658/94 (zwei Werkunternehmer) oder Schacherreiter in Kletečka/Schauer, ABGB-ON, § 1302 Rz 13f. Vgl. OGH 15.11.2012, 1 Ob 204/12z (Planungsfehler und Verstoß gegen die Prüf- und Warnpflicht). Vgl. Karasek (2016), S. 1047; Rz 2321. Vgl. z.B. OGH 17.9.2015, 1 Ob 52/15a. Exempli causa gehen die Autoren immer vom gedanklich leicht fassbaren Fall des „geschädigten Bauherren“ aus. Freilich kann der Geschädigte auch der Generalunternehmer sein, den zwei Subunternehmer als Nebentäter schädigen. Z.B. Planervertrag, Bauaufsichtsvertrag, Bau-Werkverträge. Vorgreifend darf bereits an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass diese Verträge oft unterschiedliche Haftungsbestimmungen und Haftungsbegrenzungen enthalten.

650

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

45.4

Haftung mehrerer Nebentäter

45.4.1

Solidarhaftung im Außenverhältnis

Wenn sich bei schädigenden Nebentätern die Schadensanteile am Gesamtschaden14) nicht bestimmen lassen, haften gem § 1302 ABGB die beiden Schädiger gegenüber dem Geschädigten solidarisch.15) Das Risiko der (Un-)Aufklärbarkeit, welcher der beiden Nebentäter nun welchen Schadensanteil kausal verursacht hat, soll nicht zu Lasten des Geschädigten gehen. Diese Anordnung der Solidarschuld bei Unbestimmbarkeit der Schadensanteile betrifft das Außenverhältnis zwischen dem Geschädigten und den Schädigern.16) Charakteristisch für die Solidarschuld ist, dass der Geschädigte seinen Schaden beliebig z.B. nur von einem der beiden Schädiger oder von beiden nur aliquot oder eben von beiden solidarisch begehren kann, bis er eben vollständig befriedigt ist.17)

45.4.2

Regress im Innenverhältnis

Sodann gilt es, nach dieser ersten Stufe des Ersatzes des gesamten Schadens an den Geschädigten, das Innenverhältnis der Schädiger untereinander im Regressfall zu prüfen: Für dieses Innenverhältnis und die Regressanteile können natürlich nicht weiterhin die (unbestimmbaren) Schadensanteile relevant sein, da die Unaufklärbarkeit der Schadensanteile ja gerade die Begründung für die im Außenverhältnis angeordnete Solidarhaftung ist.18) Im Innenverhältnis ist für den Regress die Gewichtung des jeweiligen Verschuldens der beiden Schädiger maßgeblich; im Zweifel erfolgt die Teilung zu gleichen Teilen.19) Bekanntes Beispiel hiezu ist die heftige Diskussion, unter welchen Umständen es im Verhältnis zwischen dem schädigenden Werkunternehmer einerseits und der ihre Aufsichtspflicht vernachlässigenden ÖBA andererseits zu Regress kommen soll und welche Bestimmungsfaktoren für die Zuweisung von Verschuldensanteilen relevant sein sollen.20) Als weiteres Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass nach dem ersten Schritt der Feststellung der Solidarhaftung der schädigenden Nebentäter im Außenverhältnis gegenüber dem Geschädigten, es im Innenverhältnis zum internen Ausgleich (Regress) unter den Schädigern gemäß §§ 896, 1302 ABGB kommen kann und soll.

14) 15) 16) 17) 18) 19) 20)

Auf den Grad des Verschuldens kommt es in diesem ersten Schritt im Verhältnis zum Geschädigten (noch) nicht an; vgl. OGH 16.7.2009, 2 Ob 111/09a. Schacherreiter in Kletečka/Schauer, ABGB-ON, § 1302 Rz 15f. Schacherreiter in Kletečka/Schauer, ABGB-ON, § 1302 Rz 15; die Verschuldensgewichtung wird erst für den Regress der Schädiger untereinander schlagend. Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON, § 891 Rz 17. Vgl. P. Bydlinski (2013), S. 58, RZ 2013, 57, Pkt III.3. Vgl. Schacherreiter in Kletečka/Schauer, ABGB-ON, § 1032 Rz 68. Vgl. P. Bydlinski (2013), S. 58, RZ 2013, 57; Hussian (2016), S. 11; Seebacher/Andrieu (2011), S. 109; Mogel/Cronenberg (2014), S. 192; Painsi/Andrieu/Seebacher (2016), S. 173; Wenusch (2012), S. 146

45 Der „Regresszirkel“ zum Geschädigten

45.5

651

Individuelle Verhältnisse mehrerer Solidarschuldner

Die nächste Bestimmung, welche es zum Verständnis der zitierten OGH, Entscheidung hervorzuheben gilt, ist § 894 ABGB. Es gilt demnach der Grundsatz, dass gegenüber dem Gläubiger das Verhältnis der jeweiligen Solidarschuldner individuell zu beurteilen ist. Anerkennt beispielsweise ein Solidarschuldner seine Schadenersatzpflicht, hat dies grundsätzlich keine Wirkung auf andere (mutmaßliche) Solidarschuldner. Diese können weiterhin ihre Schadenersatzpflicht bestreiten und ein Gerichtsverfahren hätte dann zu klären, ob tatsächlich auch eine Schadenersatzpflicht und Solidarhaftung besteht oder nicht.21) Freilich kann ein nach Schadenseintritt abgeschlossener Vergleich, den der Gläubiger mit einem Solidarschuldner schließt, auch auf einen zweiten Solidarschuldner „durchschlagen“.22) Beispiel: Ein Gläubiger G erleidet einen Schaden von EUR 100,00. Diesem Gläubiger haften solidarisch für diese EUR 100,00 die beiden Schädiger S1 und S2. Der Gläubiger fordert nun auch von beiden Schädigern S1 und S2 zur ungeteilten Hand die EUR 100,00. Mit dem Schädiger S1 schließt der Gläubiger einen Vergleich auf Zahlung von EUR 20,00 (z.B. weil der Gläubiger die Bonität von S1 recht gering einschätzt und dessen Insolvenz fürchtet). Damit bleibt noch ein offener Schaden von (EUR 100,00 – EUR 20,00 =) EUR 80,00, den der Gläubiger G vom solidarisch haftenden Schädiger S2 ersetzt begehren kann und wird. Wenn nun auch die Schadenersatzpflicht und Solidarhaftung von S2 (gerichtlich) festgestellt wird, so wird S2 zur Zahlung von EUR 80,00 verurteilt.23) Nach Zahlung der EUR 80,00 kann S2 den internen Regress von S1 suchen. Das Ausmaß dieses internen Regresses wird vom Innenverhältnis bestimmt, welches zwischen S1 und S2 besteht. Vorerst haben nach außen S1 EUR 20,00 und S2 EUR 80,00 des Gesamtschadens von EUR 100,00 getragen. Dieses Verhältnis 20:80 kann durchaus auch dem Innenverhältnis zwischen S1 und S2 entsprechen. Im Zweifel24) ist jedoch von einer gleichmäßigen Aufteilung im Innenverhältnis 50:50 auszugehen. Es könnte also S2 den Regress im Umfang von EUR 30,00 von S1 suchen, sodass im Endergebnis das Innenverhältnis mit einer Tragung von 50:50 erreicht wird. S1 hat in diesem Beispiel also an den G EUR 20,00 bezahlt und im Regresswege an S2 weitere EUR 30,00, sodass er im Endeffekt EUR 50,00 getragen hat. Dieses Endergebnis einer Belastung von EUR 50,00 für S1 steht aber in einem gewissen Widerspruch zu dem von S1 zu G erreichten Vergleich mit EUR 20,00. Der Schuldner S1 wird im Regresswege quasi um die „Früchte“ seines geschickt verhandelten Vergleiches von EUR 20,00 mit G gebracht. Dieses Ergebnis kann nun durchaus gewünscht sein, oder aber auch nicht. Ob dieses Ergebnis gewünscht ist oder nicht, ergibt die Auslegung des Vergleiches G mit S1. Die Auslegung des Vergleiches kann (und wird regelmäßig) ergeben, dass der Vergleich zwischen S1 und G den S1 durchaus gegenüber Regressansprüchen des anderen Schuldners S2 weiter belastet lassen soll. Es ist eben das Risiko von S1, ob S2 gegenüber G auch Schadenersatz leistet und sodann ob S2 gegenüber S1 den Regress (erfolgreich) sucht. Im Zweifel ist eine solche beschränkte Wirkung des Vergleiches G – S1 anzunehmen.25) 21)

22) 23) 24)

Natürlich führt die gänzliche Befriedigung des Geschädigten durch Zahlung eines Gläubigers (oder ein sonstiges Erfüllungssurrogat) nach § 893 ABGB dazu, dass der Gläubiger nichts mehr von den anderen Solidarschuldnern fordern kann; vgl. Gamerith/Wendehorst in Rummel/Lukas, ABGB4, § 893 Rz 1. Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON, § 893 Rz 4; OGH RS0017310. Zinsen und Kosten bleiben aus Gründen der Vereinfachung außer Ansatz. Z.B. OGH 30.6.1999, 9 Ob 137/99h mwN.

652

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Die Auslegung des Vergleiches zwischen G und S1 könnte aber auch ergeben, dass der Vergleich zwischen G und S1 den Schädiger S1 endgültig befreien soll und auch S1 im Wege von (drohenden) Regressansprüchen nicht mit mehr als den von ihm bereits bezahlten EUR 20,00 belastet werden soll. Eine solche Verhinderung von Regressansprüchen gegen S1 kann auf zwei Arten erfolgen: Wenn der Vergleich zwischen G und S1 auch haftungsbefreiend zugunsten des Mitschuldners S2 wirkt, wird ein Regress von S2 an S1 „unmittelbar“ verhindert. Die Vergleichsauslegung kann also ergeben, dass der Vergleich zwischen G und S1 „unmittelbar“ zugunsten von S2 wirkt und dessen Haftung reduziert, sodass ein Regress S2 an S1 schon deswegen nicht mehr droht, da G eben auch von S2 nur mehr einen beschränkten Betrag fordern kann. Die andere Lösung, S1 „mittelbar“ vor den Regressansprüchen von S2 zu schützen, ist eine Freistellungpflicht des G: Wird S1 von S2 erfolgreich im Regresswege in Anspruch genommen, so kann er seinerseits an G Regress nehmen. Es kommt zum „Regresszirkel“26) des Schädigers S1 gegen den Geschädigten G, der einen Teil des von S2 erhaltenen Schadenersatzes wieder an S1 heraus zu geben hat.

45.6

Definition des Regresszirkels

Für die weitere Untersuchung wollen wir unseren Untersuchungsgegenstand „Regresszirkel“27) somit wie folgt definieren: Ein „Regresszirkel“ entsteht, wenn aufgrund vorab vereinbarter28) vertraglicher29) Privilegierung eines späteren Solidarschuldners30) nach dem an ihm von einem zweiten31) solidarisch Haftenden erfolgreich genommenen Regress dieser Regresspflichtige seinerseits wieder am Gläubiger selbst „im Zirkel“ Regress nehmen kann, wodurch die endgültige (Schadens-)Tragung unter den Beteiligten erreicht wird. Der Regressprozess ist der Prozess zwischen zwei solidarisch haftenden Schädigern über die interne Aufteilung des an den Geschädigten entrichteten Schadenersatzes nach den Verschuldensanteilen der beiden Schädiger. Der Regresszirkelprozess ist der Prozess, in dem ein privilegierter Schädiger nach dem Regressprozess vom Geschädigten denjenigen Schaden rückfordert, den er über die Grenze seiner Privilegierung hinaus aufgrund des Regressprozesses gegen den anderen Solidarschuldner zu tragen hat.

25) 26) 27) 28) 29) 30)

31)

OGH RS0017344 [T3]; Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON, § 893 Rz; vgl. aber ders a.a.O., § 896 Rz 16 („im Regelfall“) Zur Definition des „Regresszirkels“ im Sinne der vorliegenden Untersuchung siehe sogleich. Der Regresszirkel wird auch als „Regresskreisel“ oder „Anspruchskarussell“ bezeichnet, vgl. z.B. in OGH 23.11.1995, 6 Ob 655/95. m Unterschied zum Vergleich mit einem Solidarschuldner, welcher nach Entstehen der Solidarschuld abgeschlossen wird, erfolgt eben die Privilegierung im Vertrag, z.B. durch Pkt 12.3. der B 2110. Fälle gesetzlicher Privilegierung, wie z.B. nach dem DHG, sollen hier nicht weiter untersucht werden. In den meisten und typischen Fällen kann man mehrere als Nebentäter gem § 1302 ABGB solidarisch haftende Schädiger als gutes Beispiel vor Augen haben. Dies ist auch der Fall des Pkt 12.3. der ÖNORM B 2110. Freilich würde eine gedankliche Beschränkung des Phänomens „Regresszirkel“ auf das Schadenersatzrecht zu kurz greifen, da auch in anderen Fällen der „einseitig privilegierten“ Solidarschuld diese Figur entstehen kann; man denke etwa an nachbarrechtliche Ausgleichsansprüche nach § 364a oder § 364b ABGB. Die Einführung eines „dritten“ oder „vierten“ usw. Solidarschuldners führt zu diffizileren Rechenaufgaben, aber zu keinen strukturell anderen Rechtsproblemen.

45 Der „Regresszirkel“ zum Geschädigten

45.7

Privilegierung eines Schädigers

45.7.1

Haftungsbeschränkungen im Allgemeinen

653

Oft wird nicht erst nach Entstehen einer Solidarschuld ein Solidarschuldner durch einen Vergleich privilegiert, sondern die Privilegierung32) eines potentiellen Schädigers (Solidarschuldners) erfolgt vorab durch eine gesetzliche33) oder vertragliche Haftungsbeschränkung zugunsten eines späteren Schädigers. Der OGH hat sich mit einer solchen Konstellation bei der gesetzlichen Privilegierung von Dienstnehmern nach dem DHG bereits beschäftigt und führte in diesem Zusammenhang aus:34) „Zur Lösung dieses Haftungsproblems stehen im Wesentlichen drei Lösungsansätze zur Verfügung. Nach der ersten Variante kann der Geschädigte den Dritten auf den Ersatz des gesamten Schadens klagen, ohne dass dieser beim Privilegierten Regress nehmen kann. Der zweite Ansatz wird als „relative Außenwirkung“ bezeichnet. Der Verletzte behält den ungekürzten Anspruch; dem Dritten soll aber eine Regressforderung gegen den Privilegierten zustehen. In den Verhältnissen „Geschädigter zu Dritter“ und „Dritter zu Privilegierter“ wird die Privilegierung nicht beachtet. Der Privilegierte, der an den Dritten Ersatz geleistet hat, kann Rückgriff gegen den Geschädigten nehmen (Regresszirkel). Nach einer Modifikation dieser Variante kommt dem Privilegierten die Begünstigung im Regressweg abhanden. Beim dritten Lösungsansatz, nämlich jenem der „absoluten Außenwirkung“, wird der Anspruch des Geschädigten gegen den Dritten um jenen Teil gekürzt, den der Privilegierte im Innenverhältnis zwischen den Schädigern zu tragen hat (ungekürzter Dienstnehmeranteil). Der Dritte haftet von vornherein nur für das, was er auch letztlich tragen soll.“ Bei Anwendung der Privilegierung durch das DHG löst der OGH dieses Problem so, dass er die Solidarhaftung teilweise durchbricht. Die Solidarhaftung der beiden Schädiger wird mit der Höhe der Ersatzpflicht des privilegierten Dienstnehmers bei (fingierter) alleiniger Schadensverursachung begrenzt. Der nicht privilegierte Dritte haftet darüber hinaus allein für den restlichen Schaden mit seinem eigenen Haftungsanteil.35) Mit dieser Lösung verhindert der OGH, dass der durch das DHG privilegierte Dienstnehmer bei Vorliegen von mehreren Solidarschuldnern jemals höher in Anspruch genommen werden könnte, als hätte er den Schaden allein zugefügt.36)

32)

33) 34)

35) 36)

In der Folge wird der terminus „Privilegierung“ immer zugunsten jenes Schädigers verwendet, für den eine Haftungsbegrenzung vereinbart wurde; man spricht für die Fälle auch von einem „gestörten Gesamtschuldverhältnis“; vgl. Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON, § 896 Rz 15; Rolfs/Marcelli, Gestörte Gesamtschuld in FS Danzl, 472. Z.B. nach dem DHG; denkbar sind aber auch sonstige Fälle gesetzlicher Haftungsbeschränkungen, wie z.B. nach dem EKHG, Reichshaftpflichtgesetz usw. Die instruktiven Ausführungen des OGH dürfen in voller Länge zitiert werden, da sie die Problematik und möglichen Lösungen eindringlich vor Augen führen; OGH 26.7.2012, 8 ObA 24/12f; ebenso Rolfs/Marcelli (2017), S. 473; vgl. ausführlich Kletečka (1993a), S. 785 OGH 26.7.2012, 8 ObA 24/12f; vgl. zu dieser E auch Rolfs/Marcelli (2017), S. 475 Vorgreifend ist hier schon festzuhalten, dass die in 8 ObA 24/12f gewählte Lösung strukturell nicht der zu 10 Ob 68/17y gewählten Lösung entspricht.

654

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

45.7.2

Privilegierung durch Pkt 12.3 der ÖNORM B 2110

In der hier behandelten Entscheidung37) hatte der OGH den Fall der vorab vereinbarten vertraglichen Privilegierung eines38) Schädigers durch die Schadenersatz-Haftungsbegrenzung gem Pkt 12.3.39) der ÖNORM B 2110 bei bloß leicht fahrlässiger Schadenszufügung zu beurteilen. Wenn wir zu den eingangs zitierten Fallkonstellationen von Solidarschuldnerschaft auf Baustellen zurückkehren, zeigt sich, dass hier in vielen Fällen ein Solidarschuldner gem Pkt 12.3. privilegiert sein wird und der andere nicht: Nachdem die ÖNORM B 2110 inhaltlich bei Planungs- oder Bauaufsichtsleistungen systemwidrig ist, wird kein40) Planungsvertrag oder Bauaufsichtsvertrag die ÖNORM B 2110 samt Haftungsbegrenzung nach Pkt 12.3. enthalten.41) Aber auch bei zwei solidarisch haftenden AN42) kann es vorkommen, dass vertraglich nur einem von beiden AN die Haftungsbeschränkung nach Pkt 12.3.43) zugute kommt.44) Liegt eine solche vorweg vereinbarte vertragliche Privilegierung eines Schädigers durch eine Haftungsbeschränkung vor, ist im Wege der Vertragsauslegung45) zu klären, ob mit dieser Haftungsbeschränkung der (zukünftige) Gläubiger einen (zukünftigen) Solidarschuldner nur von der eigenen Klage und nicht von der Regressbelastung durch die Forderung freistellen will, ob Vertragsinhalt die im Wege eines Regresszirkels erzielte endgültige Freistellung des (zukünftigen) Solidarschuldners von einer höheren Belastung sein soll („relative Außenwirkung“), oder ob die Freistellung dadurch erreicht werden soll, dass auch der nicht privilegierte Dritte gegenüber dem Geschädigten nur beschränkt haften soll („absolute Außenwirkung“). Der OGH hat (nur, aber immerhin) in einem obiter dictum46) in der behandelten Entscheidung 10 Ob 68/17y dem regressbelasteten solidarisch haftenden Schädiger, der zum Regress gegenüber dem ersten Schädiger verurteilt wurde, den weiteren Weg des „Regresszirkels“ gegen den geschädigten AG vorgezeichnet.

37) 38) 39) 40)

41) 42) 43) 44)

45)

OGH 20.2.2018, 10 Ob 68/17y. Im vom OGH zu lösenden Fall waren insgesamt 4 Schädiger vorhanden, was im vorliegenden Beitrag aus Gründen der Einfachheit vernachlässigt wird, da die höhere Anzahl der Schädiger keine anderen Grundsätze bewirkt. I.d.F. wird aus Gründen der Kürze die Hinzufügung „ÖNORM B 2110“ weggelassen, so es nur um Pkt 12.3. der ÖNORM B 2110 geht. Hier ist „vernünftiger Planungsvertrag“ zu ergänzen, da es auf Baustellen nichts gibt, was es nicht gibt. Die Autoren haben in ihrer Berufspraxis auch tatsächlich schon Architektenverträge mit Vereinbarung der ÖNORM B 2110 gesehen! Wenusch (2011), S. 609, nennt dieses Beispiel. Z.B. weil diese durch Verletzung ihrer Pflicht zum „technischen Schulterschluss“ eine Schaden verursacht haben und für diesen solidarisch haften; vgl. z.B. OGH 17.9.2015, 1 Ob 52/15a. Klar ist, dass ein rechtlich versierter AG diese „Haftungsfalle“ des Pkt 12.3. zu seinen Lasten natürlich abbedingen wird; grundlegend Seebacher (2013), S. 64 und 150 Ein „verhandlungsstarker“ AN setzt die vollständige Vereinbarung der B 2110 inklusive Pkt 12.3 beim AG durch, während der AG gegenüber einem „schwächeren“ AN Pkt 12.3 aus der vereinbarten B 2110 ausnimmt. Oder mit einem AN wird ein förmlicher Werkvertrag auf Basis der B 2110 geschlossen und mit einem anderen AN erfolgt die Beauftragung auf Basis dessen Angebots ohne Vereinbarung der B 2110. Oder ein AN hat keine Bau- sondern einen bloßen Liefervertrag, sodass auch hier die B 2110 als systemwidrig nicht vereinbart wird. Es sind schlicht viele Fälle denkbar, in denen ein Solidarschuldner „privilegiert“ ist und der andere nicht. Vgl. OGH 23.11.1995, 6 Ob 655/95; vgl. Rolfs/Marcelli (2017), S. 478; m.w.N. Koziol (1997), Rz 14/35.

45 Der „Regresszirkel“ zum Geschädigten

45.8

655

Führt die Auslegung der ÖNORM B 2110 zum Regresszirkel?

Es gilt also zu prüfen, ob Pkt 12.3. der ÖNORM B 2110 so auszulegen ist, dass damit wirklich eine volle Freistellung des privilegierten AN durch den AG von der Schadenstragung auch im Regresswege gemeint und vereinbart wird47)oder ob es nur eine betragsmäßige Freistellung von der eigenen Schadenersatzforderung des AG ist, ohne dem AN das Risiko eines Regresses von dritter Seite abnehmen zu wollen. Wenusch, B 21102, 609f., erörtert die verschiedenen Möglichkeiten des Umgangs mit der Privilegierung. Er argumentiert u.E. zutreffend, dass die Solidarhaftung im Außenverhältnis dem Schutz des Geschädigten diene. Daraus leitet Wenusch ab, dass der Geschädigte vom nicht privilegierten Schädiger vollen Ersatz fordern könne, während dieser keinen Regress am privilegierten Schädiger nehmen kann.48) Diese Konstruktion hat der OGH in der behandelten Entscheidung abgelehnt und den vollen Regress am privilegierten Schädiger zugelassen, ohne freilich auf die Überlegungen von Wenusch einzugehen.49)

45.8.1

Auslegung der ÖNORM B 2110

Nach der Judikatur50) ist die ÖNORM B 2110 objektiv auszulegen.51) Die Auslegung hat also unter Beschränkung auf den Wortlaut und unter Verzicht auf außerhalb des Textes liegende Umstände nach § 914 ABGB zu erfolgen. Die ÖNORM B 2110 ist zu verstehen, wie sie sich einem durchschnittlichen Angehörigen des angesprochenen Adressatenkreises erschließt, wobei die Übung des redlichen Verkehrs einen wichtigen Auslegungsbehelf darstellt.52) Sonstige Auslegungshilfen zu Pkt 12.3. stehen auch praktisch nicht zur Verfügung: Die Autoren gehen davon aus, dass bei Abschluss von Bauwerkverträgen konkrete Vertragsverhandlungen darüber, ob im Einzelfall Pkt 12.3. einen Regresszirkel gegen den AG zulassen soll, nicht stattfinden,53) sodass sich durch Einzelverhandlungen zur (Un-)Zulässigkeit des Regresszirkels kein „wahrer Parteiwille“ der konkreten Parteien bilden kann. Die Parteien verweisen bei Zugrundelegung der ÖNORM B 2110 entweder gesamthaft auf diese als „AGB“ oder ändern diese in einzelnen Punkten ab.54) 46)

47) 48)

49) 50) 51) 52) 53) 54)

Der Geschädigte war an dem zu 10 Ob 68/17y entschiedenen Verfahren nicht (auch nicht als Nebenintervenient) beteiligt und konnte daher seine Argumente zur Auslegung des Pkt 12.3. der ÖNORM B 2110 noch nicht vortragen, sodass die Ausführungen des OGH eben bloß ein obiter dictum darstellen können. Es handelt sich daher (nur, aber immerhin) um ein „Vorzeichnen“ des weiteren Ganges. So zumindest obiter der OGH zu 10 Ob 68/17y. Diese Überlegung schafft freilich problematisch i.S.d. § 894 ABGB einen Vertrag zu Lasten Dritter: Die vertragliche Privilegierung des einen Schädigers durch den geschädigten AG nimmt dem zweiten Schädiger dessen Regressrecht am anderen (privilegierten) Schädiger. Überhaupt ist die Entscheidung des OGH nicht näher auf Pkt 12.3. der ÖNORM B 2110 eingegangen, dessen Auslegung aber zentral zur Beurteilung der Wirkungen dieser Haftungsbeschränkung wäre. Z.B. OGH 28.5.2015, 9 Ob 19/15g. Sofern sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren; vgl. zu AVB OGH 31.8.2016, 7 Ob 120/16x. Vgl. Heiss in Kletecka/Schauer, ABGB-ON, § 914 Rz 40 mwN. Im Bereich öffentlicher Auftraggeber wird dies durch das Verhandlungsverbot des Vergaberechts nach § 112 Abs 3 BVergG 2018 verstärkt. Ein Entfall oder Änderung des Pkt 12.3. der B 2110, dessen Haftungsbegrenzung für den AG bei Anwendung des § 933a ABGB für Geldersatz bei „Mangelschäden“ besonders nachteilig ist, kommt in vielen „Allgemeinen Vorbemerkungen“ vor; zur Geltung der Haftungsbeschränkung des früheren Pkt 5.47.1.2. bei Mangelschäden und Mangelfolgeschäden, vgl. Rebhahn/Kietaibl (2004), S. 27

656

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Die Autoren unterstellen weiter, dass die Verfasser der ÖNORM B 2110 der Frage, ob durch Pkt 12.3. nun bei subjektiv teilweise privilegierter Solidarhaftung in weiterer Folge ein Regresszirkel zurück zum Geschädigten zulässig sein solle oder nicht, keine besondere Beachtung geschenkt haben.55)

45.8.2

Wortlaut des Pkt 12.3 der ÖNORM B 2110

Der Wortlaut der Haftungsbegrenzung nach Pkt 12.3. lautet wie folgt: 12.3.1 Hat ein Vertragspartner in Verletzung seiner vertraglichen Pflichten dem anderen schuldhaft einen Schaden zugefügt, hat der Geschädigte Anspruch auf Schadenersatz wie folgt: 1) bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit auf Ersatz des Schadens samt des entgangenen Gewinns (volle Genugtuung); 2) wenn im Einzelfall nicht anders geregelt, bei leichter Fahrlässigkeit auf Ersatz des Schadens: a) bei Rücktritt und bei Personenschäden ohne Begrenzung, b) in allen anderen Fällen mit folgenden Begrenzungen: – bei einer Auftragssumme bis 250.000,00 Euro: höchstens 12.500,00 Euro; – bei einer Auftragssumme über 250.000,00 Euro: 5 % der Auftragssumme, jedoch höchstens 750.000,00 Euro. Der Wortlaut des Pkt 12.3 führt zu keiner eindeutigen Auslegung. Andere Formulierungen, welche eindeutig(er) wären, wurden nicht gewählt. Hieße es z.B. „[…] hat der Schädiger Ersatz zu leisten […] von höchstens 12.500,00 Euro […]“ wäre daraus wohl eine Freistellung des Schädigers von einer darüber hinausgehenden Schadenstragung durch den Geschädigten abzuleiten. Hieße es anders z.B. „[…] kann der Geschädigte vom Schädiger Schadenersatz wie folgt fordern […] höchstens 12.500,00 Euro […]“ wäre daraus eine bloße Begrenzung der eigenen Klagsbefugnis des Geschädigten zu argumentieren, ohne den Schädiger aber vom Regress Dritter freizustellen. Da die einzelne Bestimmung des Pkt 12.3 keine eindeutige Auslegung zulässt, ist auf die Systematik der ÖNORM B 2110 zurückzugreifen.

45.8.3

Systematik der ÖNORM B 2110

Das österreichische Schadenersatzrecht geht mit Ausnahmen56) vom Grundsatz der Totalrestitution aus.57) Eine summenmäßige Begrenzung des Schadenersatzes, den der Geschädigte von einem Schädiger fordern kann, ist eine Ausnahme von diesem 55)

56) 57)

Dieser Befund wird dadurch erhärtet, dass auch in vielen Standard-Kommentaren zur B 2110 die Frage, ob 12.3. einen Regresszirkel statuieren soll oder nicht, nicht behandelt wird; vgl. Karasek (2016), S. 1115f., Rz 2467; Kurz (2012), S. 490ff.; Kropik (2014), S. 540ff. Lediglich Wenusch (2011), S. 609f. erörtert die Problematik der teilweisen Privilegierung. Z.B. in Fällen der in Gesetzen vorgesehenen Beschränkungen nach dem EKHG oder dem PHG, oder auch – siehe oben – dem DHG. Reischauer in Rummel/Meinhard (2015), § 1332 Rz 12.

45 Der „Regresszirkel“ zum Geschädigten

657

Grundsatz. Noch weiter ginge eine Freistellungszusage zugunsten des Schädigers, nach der ein Geschädigter im Wege eines Regresszirkels dafür gerade stehen muss, dass der Schädiger nicht mehr Schadenersatz als eine bestimmte Summe zu tragen hat. Dies spricht für die Auslegung, wonach Pkt 12.3 keinen Regresszirkel statuieren will: Es entspricht dem Grundsatz der Totalrestitution nach dem ABGB weit mehr, da der ÖNORM B 2110 keine „Total-Reform“ des Schadenersatzrechtes zuzusinnen ist, sondern eher ein geringfügig korrigierender Eingriff zu den Bestimmungen des ABGB. Dieses Ergebnis wird auch von dem Grundsatz gestützt, dass unentgeltliche Verzichtserklärungen in Gestalt von vereinbarten Freizeichnungen einschränkend auszulegen sind.58) Pkt 12.3. ist aber von der Wirkung als solche Freizeichnung der Haftung des Schädigers zu verstehen.59) Im Zweifel will aber der Geschädigte, der als AG die ÖNORM B 2110 vereinbaren will, die umfänglich geringere Haftungsbeschränkung des AN. Jede Möglichkeit zum Regress und zum Regresszirkel stellt ein zukünftiges Risiko für eine finanzielle Belastung dar: Der Schädiger, der sich z.B. nach privilegierter Schadenersatzleistung an den Geschädigten schon sicher wähnt, hat den betreffenden Schadensfall ad acta gelegt. Überraschend wird er lange Zeit später60) mit Regressforderungen eines anderen Solidarschuldners konfrontiert und muss sich für den Streit mit diesem mit den Tatbestandsmerkmalen der §§ 896, 1302 ABGB für den seinerzeitigen Schaden auseinandersetzen. Um noch einiges überraschender trifft der Regresszirkel nach noch längerer Zeit den Geschädigten, der von zwei solidarisch haftenden Schädigern zunächst nach außergerichtlichen oder gerichtlichen Verhandlungen seinen Schaden ersetzt erhalten hat. Zwischenzeitig haben die beiden Solidarschuldner ihren internen Regress ausverhandelt oder ausprozessiert und sodann tritt der privilegierte Schädiger mit der Forderung des Regresszirkels an den Geschädigten heran. Der Geschädigte muss nach längerer Zeit den von den beiden Schädigern erhaltenen Schadenersatz teilweise wieder herausgeben, um den privilegierten Schädiger wirtschaftlich vom Regress des anderen Schädigers zu entlasten. Eine Auslegung, die zu einem solchen Risiko führt, müsste jeden AG praktisch zwingen,61) die mag sein sachlich berechtigte62) Haftungsbegrenzung nach 12.3 der ÖNORM B 2110 entweder einzelvertraglich zu eliminieren oder die ÖNORM B 2110 als Ganzes nicht zu verwenden. Eine solche ihre Anwendung verhindernde Auslegung der Bestimmung des Pkt 12.3 ist nicht sachgerecht. Dieser Gedanke – Risiko eines zeitlich spät nach Ende der Baustelle zum AG „zurückkehrender“ Regresszirkels – spricht ebenfalls gegen eine solche Auslegung der ÖNORM B 2110: Diese ist getragen von der Idee, eine „Baustelle“ in zumutbarer zeitlicher Nähe zu den Baumaßnahmen auch wirtschaftlich und rechtlich abzuwickeln. Dieses Ziel verbürgen bspw die Pkte 8.4.2.63) oder 8.4.3.64) Ganz klar hier der OGH: „Der 58) 59) 60) 61)

62)

63)

OGH 19.12.2013, 3 Ob 196/13i m.w.N. Auch wenn regelmäßig der umgekehrte Fall vorliegt, dass ein Verwender von AGB mit diesen seine eigene Haftung beschränken will. Die Länge der Verjährungsfrist beim Regress nach §§ 896 1302 ABGB ist str; vgl. Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB-ON, § 896 Rz 19f; vgl. auch ausführlich Danner (2019), S. 26. U.U. gilt die dreißigjährige Regelverjährung! Klar ist wie ohnehin erwähnt, dass viele erfahrene und verhandlungsstarke AG die Haftungsbegrenzung des Pkt 12.3 ohnehin abändern oder eliminieren. Wäre dies freilich der absolute Regelfall würde sich eine Revision der ÖNORM B 2110 empfehlen, da eine Regelung nicht sinnvoll erscheint, die immer abgeändert wird. Es ist hier nicht Platz, über sachliche Berechtigung der Haftungsbegrenzung des Pkt 12.3.zu erörtern. Faktum ist, dass regelmäßig AG zu ihrem Vorteil diese Bestimmung abändern oder entfallen lassen. Dies sagt aber nichts über deren sachliche Berechtigung. Faktum ist nämlich auch, dass diese Haftungsbegrenzung seit Jahrzehnten in den laufenden Fassungen der ÖNORM B 2110 enthalten ist. Notwendigkeit eines Vorbehaltes in der Schlussrechnung, um später noch Nachforderungen erheben zu können bzw. Notwendigkeit eines Vorbehaltes gegenüber der Rechnungskorrektur des AG.

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Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Auftraggeber soll zu einem möglichst frühen Zeitpunkt das gesamte Ausmaß seiner Verpflichtungen überschauen und erfahren können.“65) Ein möglicher Regresszirkel macht eine solche Überschaubarkeit zu einem frühen Zeitpunkt unmöglich: Entsteht aus der Baustelle ein durchschnittlicher66) Schadenersatzprozess, verschiebt sich dieser „möglichst frühe Zeitpunkt“ zeitlich um die Prozessdauer nach hinten. Ist es aber nötig, zunächst den Schadenersatzprozess zwischen Geschädigtem und Schädiger 1 zu führen, dann den Regressprozess zwischen Schädiger 1 und Schädiger 2 und dann den Regresszirkelprozess zwischen Schädiger 2 und Geschädigtem, so führt dies zu jahrelanger juristischer Aufarbeitung des Schadensfalles vor Gericht. Eine solche Regelung ist den Autoren der ÖNORM B 2110 nicht zu unterstellen67) bzw. ist eine solche Auslegung der ÖNORM B 2110 nicht sachgerecht. Durch die Annahme, dass Pkt 12.3. einen Regresszirkel auslösen wollte, ergäbe sich noch folgende zusätzliche Risikoverschiebung vom AN zum AG: § 1302 ABGB ordnet die Solidarhaftung von Schädigern, deren Schadensanteile sich nicht bestimmen lassen, insbesondere deswegen an, um den Geschädigten zu schützen: Das Aufteilungsrisiko68) und das Insolvenzrisiko69) sollen eher von den (rechtswidrig und schuldhaft handelnden) Schädigern getragen werden, als vom (schuldlosen70)) Geschädigten.71) Im Regressprozess trägt sodann ein Schädiger das Risiko, dass sich der andere solidarisch haftende Schädiger zu einem vom beiderseitigen Verschulden bestimmten Anteil regressiert. Es ist aber damit Aufwand und Risiko der beiden Schädiger, den internen Regressprozess um die beiderseitige Verschuldensgewichtung zu führen. Je höher das Verschuldensgewicht eines Schädigers ist, desto höher kann an ihm von seinem Nebentäter Regress genommen werden. Im Zweifel erfolgt die Gewichtung zu gleichen Teilen. Ist das Verschuldensgewicht des einen Schädigers aber höher, ist sogar im Extremfall ein Regress zu 100 % denkbar, wenn der eine Schädiger zwar noch ein extrem geringes Verschulden hat,72) welches aber gegenüber dem extrem hohen Verschulden des anderen Solidarschuldners völlig in den Hintergrund tritt.73) Kommt es nun zu einem solchen Vollregress, kann der mit diesem Regress belastete, aber gegenüber dem Geschädigten gem Pkt 12.3. privilegierte Schädiger sämtlichen Schadenersatz über seiner Haftungsgrenze74) wieder vom Geschädigten im Regresszirkel zurückfordern. Beispiel: Der Mangelfolgeschade aus einem Mangel des AN, den die ÖBA fährlässig nicht erkannt und verhindert hat, beträgt EUR 200.000,00. Der AN als S1 ist bei einer Auftragssumme von EUR 400.000,00 gem Pkt 12.3. der ÖNORM B 2110 mit EUR 20.000,00 privilegiert. Der ÖBA als S2 kommt keine solche Privilegierung zugute.

64) 65) 66) 67) 68) 69) 70)

71) 72) 73) 74)

Verkürzung der bereicherungsrechtlichen Rückforderung von dreißig Jahren nach dem ABGB auf 3 Jahre. Z.B. OGH 29.1.2013, 10 Ob 65/12z. Damit ist gemeint, dass selbst ein Schadensfall, der keinen „Jahrhundert-Schaden“ darstellt, leicht einige Jahre Prozessdauer nach sich zieht. Im Gegenteil ist anzunehmen, dass diese Autoren vor dem vom OGH erarbeiteten „Regresszirkel“ erschaudern. D.h. das Risiko, ob sich Schadensanteile bestimmen lassen und in welcher Höhe. D.h. dass ein Schädiger in Insolvenz verfällt und daher zur Schadensregulierung nicht mehr zur Verfügung steht. Die Fälle in denen ein Mitverschulden des Geschädigten anzunehmen ist und die daraus entstehende Notwendigkeit zur Einzel- und Gesamtabwägung wurden bereits angesprochen; diese führen dann zu besonderer Komplexität der Rechtsbeziehungen; vgl. nur die Rechenbeispiele bei Wimmer (2000), S. 182 Koziol (1997), Rz 14/11; dieses Argument führt auch Wenusch (2011), S. 610 bei der Auslegung von 12.3. Ein (mag sein sehr geringes)Verschulden ist notwendig, da ohne jegliches Verschulden ja überhaupt keine Schadenersatzhaftung eintreten würde. Solche Konstellationen des Regresses 1:0 sind nicht bloße theoretische Konstrukte, sondern kommen im Verhältnis Bauunternehmen – ÖBA regelmäßig vor; vgl. P. Bydlinski (2013), S. 59, Pkt III.6 m.w.N. EUR 12.500,00 bzw 5 % der Auftragssumme bis max EUR 750.000,00.

45 Der „Regresszirkel“ zum Geschädigten

659

Schritt 1 – Schadenersatz an G: Der AG erhält nun EUR 20.000,00 von S1 und EUR 180.000,00 von S2. Ergebnis: G: EUR 200.000,00 – S1: -EUR 20.000,00 – S2: -EUR 180.000,00. Schritt 2 – interner Regressprozess der Schädiger S1 und S2: Im internen Regress nach §§ 896, 1302 ABGB kommt es zu keiner Teilhaftung75) der bloß aufsichtspflichtigen ÖBA, sodass diese die von ihr getragenen76) EUR 180.000,00 zur Gänze von S1 regressieren kann. Ergebnis: G: EUR 200.000,00 – S1: -EUR 200.000,00 – S2: 0,00 Schritt 3 – Regresszirkelprozess S1 an G: Der privilegierte Schädiger S1 kann nun den von ihm nach dem Regress in Schritt 2 getragenen Schaden von EUR 180.000,00, der die Privilegierung von EUR 20.000,00 übersteigt, im Regresszirkel von G zurückverlangen. Ergebnis: G: EUR 20.000,00 – S1: -EUR 20.000,00 – S2: EUR 0,00 Dies führt zu folgendem kurios anmutenden Ergebnissen: Hat der Geschädigte nur einen Schädiger ohne Haftungsbegrenzung, bekommt er seinen Schaden voll mit EUR 200.000,00 ersetzt. Hat der Geschädigte nur einen Schädiger mit Haftungsbegrenzung bekommt er seinen Schaden nur bis zur Höhe der Haftungsgrenze mit EUR 20.000,00 ersetzt. Hat der Geschädigte zwei solidarisch haftende Schädiger, von denen einer ohne Haftungsbegrenzung und der andere mit Haftungsbegrenzung privilegiert haftet, kann das Ergebnis eintreten,77) dass der Geschädigte zwar zunächst vollen Ersatz, im Ergebnis aber seinen Schaden ebenfalls nur bis zur Höhe der Haftungsgrenze mit EUR 20.000,00 ersetzt erhält und den darüber hinausgehenden Ersatz im Wege des Regresszirkel wieder an den privilegierten Schädiger herausgeben muss. In diesem Fall entwertet somit die solidarische Haftung des privilegierten Schädigers die Haftung des nicht privilegierten Schädigers völlig bis zur Haftungsgrenze. Der Geschädigte G, der neben einem nicht privilegierten Schädiger S2 zusätzlich noch einen privilegierten Schädiger S1 als Haftenden hat, ist somit schlechter gestellt, als wenn er nur den nicht privilegierten S2 als einzig Haftenden hätte. Umgekehrt hilft G die Solidarhaftung des nicht privilegierten S2 nicht, wenn er nach dem Regress S1-S2 im nachfolgenden Regresszirkel gegenüber dem S1 den die Haftungsgrenze nach Pkt 12.3. übersteigenden Betrag wieder herausgeben muss. Ein weiterer Aspekt der Zulassung des Regresszirkels ist die notwendige Einbeziehung des Geschädigten (als Nebenintervenient) in den Regressprozess zwischen den Schädigern: Der Regressprozess zwischen S1 und S2, dessen Inhalt im Wesentlichen die beiderseitigen Verschuldensanteile78) sind, legt das „Regresszirkel-Potential“ des privilegierten Schädigers gegenüber dem Geschädigten fest. Es könnte fraglich sein, warum der regressbeklagte privilegierte Schädiger viel Anstrengung in seine Rechtsverteidigung im Regressprozess legen sollte. Immerhin kann er sich im Umfang der Schadenstragung in der Höhe über der Privilegierung im Wege des Regresszirkels beim Geschädigten „schadlos“ halten. Auf den ersten Blick also kein besonderer Anreiz für besondere Anstrengungen des Schädigers.79) Vor dem Ergebnis eines solchen „Prozesses zu Lasten 75)

76) 77) 78)

Vgl. für viele P. Bydlinski (2013), S. 58; diese Annahme, dass es zu keiner Teilhaftung der ÖBA kommt, soll das vorliegende Beispiel erleichtern, wolle aber nicht als generelle Postulierung eines solchen Grundsatzes durch die Autoren verstanden werden. Bzw. von deren Haftpflichtversicherung getragen; diesfalls ist auch die Bestimmung des § 67 VersVG zu berücksichtigen. Dies eben in den Fällen eines Regresses 1:0 zu Lasten des privilegierten Schädigers. Der Einfachheit halber werden andere Bestimmungsgründe des Regressverhältnisses nach §§ 896, 1302 ABGB hier nicht gesondert behandelt, wie z.B. eine abstufbare „Gefährlichkeit“ oder Betriebsgefahr“; vgl. P. Bydlinski (2013), S. 58, Pkt 5 m.w.N.

660

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Dritter“ 80) wird G im Regresszirkelprozess geschützt, dass das Ergebnis des Regressprozesses S1-S2 im Regresszirkelprozess nicht bindend81) ist. Der sodann im Regresszirkelprozess beklagte Geschädigte könnte dem klagenden Schädiger die „Schlechtführung des Regressprozesses“ entgegenhalten. Diese Einwendung wird dem Geschädigten aber dann abgeschnitten, wenn ihm vom regressbeklagten Schädiger im Regressprozess der Streit verkündet wird.82) Der Geschädigte ist daher zur Vorbereitung des Regresszirkelprozesses gegen ihn gezwungen, dem Regressprozess zwischen den beiden Schädigern als Nebenintervenient beizutreten.83) Das durch den Streitbeitritt gewährte „rechtliche Gehör“84) wirkt sicherlich formal, es ist aber fraglich, ob der Geschädigte als Nebenintervenient im Regressprozess wirklich an der Seite eines wenig ehrgeizig prozessierenden Schädigers inhaltlich gute Argumente führen kann,85) dass das Verschulden des Schädigers gering sein solle. Immerhin wird es dabei regelmäßig um Tatsachen gehen, die sich tief in der Sphäre des beklagten Schädigers S1 (und allenfalls des klagenden Schädigers S2) abgespielt haben, zu deren Behauptung und Beweis die aktive Prozessführung des beklagten Schädigers notwendig ist. Im Ergebnis bedeutet dies für den Geschädigten, dem von zwei rechtswidrig und schuldhaft handelnden Schädigern ein Schade zugefügt wurde, dessen Ersatz er recht und billig begehrt, dass er drei Prozesse hintereinander zu führen hat: Zum ersten als Kläger den Schadenersatzprozess gegen einen Schädiger. Zum zweiten als Nebenintervenient auf Seiten des beklagten privilegierten Schädigers den Regressprozess zwischen den beiden Schädigern. Zum dritten als Beklagter den Regresszirkelprozess gegen den im Regressprozess zum Regress verurteilten Schädiger. Der Wille eine Konstellation zu schaffen, die eine solche Belastung mit drei Prozessen als Standard hat, ist keine sachgerechte Auslegung der ÖNORM B 2110. Aus Vereinfachungsgründen wurde vorstehend eine bloße Dreierkonstellation aus Geschädigtem – privilegiertem Schädiger 1 – Schädiger 2 behandelt. Zu berücksichtigen ist, dass mit der „Pflicht zum Schulterschluss der Werkunternehmer“ oder der Prüf- und Warnpflicht (gegenüber z.B. Vorleistungen) oft mehrere potentielle Schädiger belastet sind. Damit wird es für den Geschädigten ex ante fast unmöglich zu beurteilen, welche der mehreren potentiellen Schädiger ihm gegenüber nun wirklich haften. Oft wird die Entscheidung, einen bestimmten potentiellen Schädiger nicht zu belangen, gar nicht mit dessen Privilegierung zusammenhängen, sondern vielmehr mit einem leichterem Haftungsnachweis im Prozess gegen einen anderen Schädiger, einem geringerem Insol79)

80) 81)

82) 83)

84)

85)

Das Argument, dass keine Partei leichtfertig einen Prozessverlust in Kauf nimmt, ist sicher richtig. Bedenkt man aber die vom OGH mit dem Regresszirkel vorgezeichnete Rückgriffsmöglichkeit aufgrund der Ergebnisse des Regressprozesses gegenüber einem (oft insolvenzfesten öffentlichen) Auftraggeber, ist die Figur eines nur halbherzig den Regressprozess führenden beklagten Schädigers keineswegs abwegig. Besondere Verabredungen von S1 und S2 im Regressprozess, einen „Prozess zu Lasten Dritter“ (= G) zu führen, wären natürlich rechtswidrig und unzulässig. Die Bindungswirkung ist neben der Einmaligkeitswirkung ein Aspekt der materiellen Rechtskraft eines Urteiles und soll divergente Entscheidungen in zwei Folgeprozesses vermeiden; vgl. nur Klicka in Fasching/Konecny (2016), S. 195 und 197, § 411 Rz 11 und 16. Vgl. OGH vS 8.4.1997, 1 Ob 2123/96d = SZ 70/60 zur Bindungswirkung bei Streitverkündigung und Nebenintervention. Ein Ratschlag, die Streitverkündigung zu ignorieren, kann fatale Folgen haben, da der Adressat der Streitverkündigung dann im Folgeprozess an ein Urteil gebunden ist, zu dessen Zustandekommen im Prozess er keinerlei Mitwissen und wirkung hatte. Das „rechtliche Gehör“ des Adressaten der Streitverkündung durch Möglichkeit zur Nebenintervention ist notwendige Bedingung für die Annahme einer Bindungswirkung im nachfolgenden Prozess gegen den Adressaten der Streitverkündigung. Es stellt sich auch die Frage, welche Argumente der Geschädigte als Nebenintervenient führen darf, da sich ein Nebenintervenient mit seinem Vorbringen nicht in Widerspruch zum Vorbringen der Hauptpartei setzen darf; vgl. § 19 ZPO, OGH 14.02.1991, 8 Ob 522/91; 30.08.2016, 1 Ob 148/16w.

45 Der „Regresszirkel“ zum Geschädigten

661

venzrisiko oder ausreichendem Versicherungsschutz86) eines Schädigers oder sonstigen Gründen. Anders als in den vorstehend „am Reißbrett“ durchexerzierten Regress- und Regresszirkelkonstellationen, ist die Wirklichkeit auf der Baustelle und im Gerichtssaal viel unübersichtlicher. Dem geschädigten AN, der Pkt 12.3 der B 2110 vereinbart hat, kann nicht leicht unterstellt werden, er wollte zu seinen Lasten und Risiko solche unübersichtlichen zukünftigen Prozesskonstellationen im Vertragswege eröffnen. Ein weiteres Argument spricht gegen eine vollständige Privilegierung des Schädigers durch Freistellung auch vor Regressansprüchen: Im Bereich z.B. des DHG sind subjektive Gründe ausschlaggebend, aus einem Bündel von Gerechtigkeitsüberlegungen den Dienstnehmer87) vor Schadenersatzansprüchen zu schützen. Diese subjektiven Argumente zugunsten des Dienstnehmers sind sowohl für Schadenersatzansprüche wie für Regressansprüche gleich anwendbar: Ein Dienstnehmer ist immer wirtschaftlich schwach, egal ob er unmittelbar Schadenersatzansprüchen oder mittelbar Regressansprüchen ausgesetzt ist. Damit ist es sachgerecht, diese auf subjektiven Eigenschaften begründete Privilegierung konsequent auch gegen Regressbegehren durchzuziehen. Für den schädigenden Werkunternehmer im Anwendungsbereich der ÖNORM B 2110, Pkt 12.3. gelten solche subjektiven Gründe, ihn vor Schadenersatz in voller Höhe zu schützen, keineswegs. Immerhin ist das Prinzip der Totalrestitution im ABGB der Grundsatz und Beschränkungen dieser Verpflichtung sind nur begrenzt zulässig.88) Es gibt daher keinen subjektiven, in der Person des schädigenden AN gelegenen sachlichen Grund, diesen zu Lasten des Geschädigten von der Regressverpflichtung freizustellen. Es ist angemessener, den rechtwidrig und schuldhaft handelnden Schädiger mit dem Risiko eines schwer vorhersehbaren und überschaubaren Regresses zu belasten, als den Geschädigten mit dem noch schwerer vorhersehbaren und überschaubaren Risiko eines Regresszirkels zu belasten. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass der zu OGH 10 Ob 68/17y vorgezeichnete Weg des Regresszirkels gegen den Geschädigten bei einem nach Pkt 12.3 der ÖNORM B 2110 privilegierten solidarisch haftenden Schädiger nicht sachgerecht zu argumentieren ist.

45.8.4

Verhältnis Geschädigter – Schädiger

Vorstehend wurden Argumente geführt, warum ein Regresszirkel aus Pkt 12.3. nicht abzuleiten sei. Folgt man diesen Argumenten und lehnt man einen aus der ÖNORM B 2110 abzuleitenden Regresszirkel zu Lasten des Geschädigten mangels “Freistellungszusage” in Pkt 12.3 ab, so stellt sich die Frage nach der Lösung der durch Pkt 12.3 “gestörten Gesamtschuld”: Eine betraglich bloß beschränkte Haftung des nicht privilegierten Schädigers schon gegenüber dem Geschädigten anzunehmen um den Regresszirkel zu vermeiden, verbietet sich: Dem Geschädigten, der (unterstellter Maßen “bewusst”) mit einem Vertragspartner eine vertragliche Haftungsbegrenzung vereinbart und mit dem anderen Vertragspartner keine solche, ist nicht eine solche Privilegierung auch des anderen, vertraglich nicht 86)

87) 88)

Die weitgehend vorhandene Haftpflichtversicherung von Planern und Ziviltechnikern in Zusammenhalt mit der Tatsache, dass Mängel am Bauwerk aufgrund von Planungsfehlern keine von der Herstellungs- und Lieferklausel ausgeschlossene „Schäden am eigenen Werk“ sind, macht diese Personengruppe natürlich zum beliebten Ziel für Schadenersatzansprüche; i.d.S. auch Rolfs/Marcelli (2017), S. 472 Oberhofer/Trenker in Schwimann/Kodek (2011), § 2 DHG Rz 1. Haftungsfreizeichnungen für Schadenersatz in AGB eines Unternehmers sind sowohl im Anwendungsbereich des KSchG als auch außerhalb dieses Gesetzes nur beschränkt möglich.

662

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

begrenzt haftenden Vertragspartners ex post aufzuzwingen, nur weil eine vom Geschädigten nicht beherrschbare Solidarschuld entsteht. Hätte der AG eine solche Privilegierung auch des anderen Schädigers gewollt, hätte er mit diesem auch Pkt 12.3 vereinbart. Eine Lösung, dass dem Geschädigten gegenüber dem nicht privilegiert Haftenden der volle Anspruch zusteht, aber diesem der Regress gegenüber dem privilegiert Haftenden versagt wird, scheitert an § 894 ABGB und würde einen unzulässigen Vertrag zu Lasten Dritter darstellen.89) Dies ist auch sachgerecht, da der nicht privilegiert Haftende keinen Überblick über allfällige Haftungsbegrenzungen in den Verträgen der “Nebenunternehmer”90) hat und einen (uU zeitlich späteren) Vertragsschluss des AG mit einem weiteren AN mit einer Haftungsprivilegierung nicht verhindern kann. Die einzig sachgerechte Lösung ist es, den nicht privilegiert haftenden Schädiger zu vollem Schadenersatz an den Geschädigten bei voller Regressmöglichkeit am privilegiert haftenden Schädiger zu verpflichten. Haftete der privilegierte Schädiger allein, so könnte er sich erfolgreich auf die vertraglich vereinbarte Haftungsbegrenzung berufen. Die Tatsache, dass nun ein zweiter Schädiger solidarisch mit ihm haftet, soll nicht zu Lasten des Geschädigten gehen., da dies gerade dem Wesen der Gesamtschuld entspricht, dass jeder der Schädiger für die gesamte Schuld einzustehen hat. Trifft den privilegiert haftenden Schädiger nur ein geringes Verschulden, muss er ohnedies wenig Angst vor dem Regress des anderen Schädigers haben. Wenn aber den privilegierten Schädiger in der Abwägung zum nicht privilegierten Schädiger ein hoher Grad an Verschulden trifft, wodurch der Regress für ihn erst wirklich umfänglich belastend wird, so ist dieser Regress trotz Privilegierung sachgerecht: Diese Fälle hoher Regressquote zufolge starken Verschuldensmomentes des privilegierten Schädigers nähern sich oder erreichen die Schwelle des Entfalls der Haftungsbegrenzung des Pkt 12.3, der bei grober Fahrlässigkeit der Handlung auch des privilegierten Schädigers eintritt. Insofern ist der privilegierte Schädiger auch nicht schutzwürdig, da das entscheidende Moment der Privilegierung ja die bloß leichte Fahrlässigkeit seiner Handlung ist. Letztlich ist jedoch die Zuweisung des “Risikos einer gestörten Solidarschuld” eine Wertungsfrage, welche die Autoren eben eher zu Lasten des rechtswidrig und schuldhaft handelnden Schädigers lösen, als zu Lasten des rechtmäßig und schuldlos Geschädigten.

45.9

Aktuelle Trends

Die vorliegend besprochene Entscheidung ist ein Meilenstein. Sie kann bei Fortsetzung dieser Judikatur durch den OGH den Anfang einer Rechtsprechungslinie bilden, die in Zukunft zahlreiche Verhältnisse zwischen vielen Beteiligten auf einer Vielzahl von Baustellen beeinflusst und regelt. Sie kann aber auch genauso Endpunkt sein, wenn der OGH in Folgeentscheidungen diese unseres Erachtens nicht gebotene Auslegung der ÖNORM B 2110 nicht mehr weiterführt, sondern beendet. Es wird sich zeigen, wann die nächsten Konstellationen dieser Art an das Höchstgericht zur Entscheidung herangetragen werden und ob der OGH den eingeschlagenen Weg beendet oder weiter beschreitet. 89) 90)

Vgl. auch Kletečka (1993b), S. 833 „Nebenunternehmer“ soll hier als bloßes Synonym für die verschiedenen am Bau Beteiligten stehen, egal ob diese nun Planer, Bauaufsicht oder Werkunternehmer sind.

45 Der „Regresszirkel“ zum Geschädigten

45.10

663

Zusammenfassung

Im Zuge der Schadenszufügung im Zuge von Bauabläufen entstehen häufig Solidarhaftungen der Schädiger gegenüber dem Geschädigten. Zufolge der Haftungsbegrenzung nach Pkt 12.3 der ÖNORM B 2110 sind Fälle einer sogenannten „gestörten Gesamtschuld” möglich, bei denen ein Schädiger durch diese Haftungsbegrenzung privilegiert ist und der andere Schädiger nicht. Entgegen dem obiter dictum des OGH zu 10 Ob 68/17y ist aus der vertraglichen Bestimmung des Pkt 12.3. der ÖNORM B kein Regresszirkel gegen den Geschädigten abzuleiten, da die ÖNORM B 2110, Pkt 12.3. nicht den Zweck hat, den Schädiger zu Lasten des Geschädigten endgültig freizustellen. Richtigerweise kann der Geschädigte vom nicht privilegierten Schädiger vollen Ersatz im Umfang der Solidarhaftung verlangen. Der zahlende Schädiger kann vom privilegierten Schädiger ohne Beschränkung Regress nehmen. Den privilegierten Schädiger trifft das Risiko des Regresses eines Solidarschuldners ohne Möglichkeit des Regresszirkels am Geschädigten.

45.11

Judikaturverzeichnis

OGH 20.2.2018,

10 Ob 68/17y

OGH 31.8.2016,

7 Ob 120/16x

OGH 30.08.2016,

1 Ob 148/16w

OGH 17.9.2015,

1 Ob 52/15a

OGH 28.5.2015,

9 Ob 19/15g

OGH 19.12.2013,

3 Ob 196/13i

OGH 29.1.2013,

10 Ob 65/12z

OGH 15.11.2012,

1 Ob 204/12z

OGH 26.7.2012,

8 ObA 24/12f

OGH 16.7.2009,

2 Ob 111/09a

OGH 30.6.1999,

9 Ob 137/99h

OGH 8.4.1997,

1 Ob 2123/96d

OGH 23.11.1995,

6 Ob 655/95

OGH 13.7.1995,

6 Ob 658/94

OGH 14.02.1991,

8 Ob 522/91

OGH RS0017470 OGH RS0017310 OGH RS0017344 [T3]

664

45.12

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Literaturverzeichnis

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45 Der „Regresszirkel“ zum Geschädigten

665

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46

Änderungen von öffentlichen Aufträgen während ihrer Laufzeit Die vergaberechtliche Behandlung von nachträglichen Leistungsänderungen

Dr. Georg Seebacher Partner SCHERBAUMSEEBACHER Rechtsanwälte GmbH Schmiedgasse 2, 8010 Graz Graben 14-15, 1010 Wien www.scherbaum-seebacher.at [email protected] Mag. Lukas Andrieu, LL.M., BSc. Rechtsanwalt SCHERBAUMSEEBACHER Rechtsanwälte GmbH Schmiedgasse 2, 8010 Graz Graben 14-15, 1010 Wien www.scherbaum-seebacher.at [email protected] Mag. Jakub Bojkovsky Juristischer Mitarbeiter SCHERBAUMSEEBACHER Rechtsanwälte GmbH Schmiedgasse 2, 8010 Graz Graben 14-15, 1010 Wien www.scherbaum-seebacher.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_46

668

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

46.1

Abstract

Nach dem Grundsatz der Privatautonomie haben es Parteien in der Hand, die von ihnen abgeschlossenen Verträge einvernehmlich während der Vertragslaufzeit zu ändern (Änderungsfreiheit).1) Die Vergabegrundsätze setzen der Privatautonomie im Bereich des öffentlichen Auftragswesens jedoch Grenzen und schränken die Möglichkeit einer nachträglichen Vertragsänderung (aus guten Gründen) erheblich ein.2) Der folgende Beitrag untersucht – auch anhand von Beispielen aus der Bauwirtschaft – die vergaberechtliche Zulässigkeit von Änderungen öffentlicher Aufträge während ihrer Laufzeit. Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen bei einer Abweichung von der ausgeschriebenen Leistung eine Neuausschreibung zu erfolgen hat bzw. wie dies im Vorhinein bestmöglich vermieden werden kann, ist von großer praktischer Bedeutung. Anhand der diesbezüglichen Neuregelung des BVergG 2018 erforscht dieser Aufsatz die dafür wesentlichen Kriterien.

46.2

Situationsanalyse

In Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben3) trat am 21.08.2018 das neue BVergG 20184) in Kraft.5) Das Vergaberecht hat die Vorgehensweise bei der Beschaffung von Waren, Bau- und Dienstleistungen durch den „Staat“ zum Gegenstand (vgl. § 1 BVergG 20186)). Ziel der gesetzlichen Regelungen ist v.a. die Sicherstellung eines chancengleichen Wettbewerbs für die Bieter (vgl. § 20 Abs 1).7) Der Zuschlag gilt grds. als Zäsur zwischen dem öffentlich- und privatrechtlichen Regime des Vergaberechts.8) Eine wesentliche Neuerung betrifft den – bis dato gesetzlich ungeregelten – Umgang mit nachträglichen Vertragsänderungen9) (siehe Art 72 VergabeRL10), § 365). Damit wird der Anwendungsbereich der Bestimmungen der VergabeRL bzw. des BVergG 2018 auf die Zeit nach der Zuschlagserteilung, d.h., auf die Phase der Vertragsabwicklung erstreckt.11) Aus dem System der VergabeRL folgt, dass das Verfahren zur Änderung eines Vertrages ein formloses Vergabeverfahren12) – mit einer 1) 2) 3)

4)

5) 6) 7) 8) 9)

10) 11)

Siehe statt vieler P. Bydlinski (2018), Rz 5/20ff. Vgl. Ganske in Reidt/Stickler/Glahs (2018), § 132 GWB Rz 9 mwN. RL 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öff. Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG, ABl L 2014/94, 65 (im Folgenden „VergabeRL“) und RL 2014/25/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/17/EG, ABl L 2014/94, 243. Bundesgesetz über die Vergabe von Aufträgen (Bundesvergabegesetz 2018), BGBl I 2018/65. Aufgrund der Vielzahl der erforderlichen Adaptionen wurde einer Totalrevision der Vorzug vor einer Einzelnovellierung des BVergG 2006 gegeben (ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 1). Siehe dazu im Allgemeinen Dillinger/Oppel (2018), Rz 1.1ff.; Müller (2018), S. 54; Oppel (2018), S. 294. Nachstehende Paragraphenverweise ohne Gesetzesangabe beziehen sich auf das BVergG 2018. Siehe zu den Zielen des Vergaberechts Holoubek/Fuchs/Holzinger (2018), S. 2ff. Holoubek/Fuchs/Holzinger (2018), S. 12; siehe ferner Trettnak-Hahnl in B. Raschauer (2010), Rz 702. In den Anwendungsbereich der Norm fallen expressis verbis auch nachträgliche Änderungen einer Rahmenvereinbarung. Im Nachfolgenden ist ausschließlich die Rede von Änderungen in Bezug auf Verträge, doch gilt dies sinngemäß auch betreffend Rahmenvereinbarungen. Zudem wird nur auf den klassischen Bereich (2. Teil des BVergG 2018) eingegangen, doch gilt § 365 (i.V.m. § 166) auch für den Sektorenbereich (siehe ferner Art 89 RL 2014/25/EU, § 178 Abs 1 Z 30). Nachstehende Artikelverweise (und ErwGr) ohne Gesetzesangabe beziehen sich auf die VergabeRL. Schröder/Trettnak-Hahnl (2019), S. 22.

46 Änderungen von öffentlichen Aufträgen während ihrer Laufzeit

669

Direktvergabe vergleichbar13) – darstellt.14) In § 9 Abs 1 Z 26 wurde aber eine Ausnahmebestimmung vom Geltungsbereich des BVergG 2018 für unwesentliche Vertragsänderungen i.S.d. § 365 vorgesehen, um Zuordnungsprobleme zu einem Verfahrenstypus zu vermeiden.15) Trotz bisherigen gänzlichen Schweigens des europäischen bzw. österreichischen Gesetzgebers betreffend nachträgliche Vertragsänderungen wurde einer pauschalen Zulässigkeit einer solchen Vorgehensweise seitens des EuGH bereits vor mehr als einem Jahrzehnt16) eine Absage erteilt.17) Im Wesentlichen wurde diese – an die Tatbestände betreffend die Wahl eines Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Bekanntmachung angelehnte18) – Rsp. des EuGH nunmehr durch das seit August 2018 in Kraft stehende BVergG 2018 kodifiziert und v.a. im Hinblick auf die Rechtssicherheit19) konkretisiert,20) zum Teil aber auch erweitert.21) Dieser Rsp. des EuGH kommt folglich maßgebliche Bedeutung bei der Auslegung der Bestimmungen des Art 72 bzw. § 365 zu.22) Bei der Regelung betreffend die Zulässigkeit von nachträglichen Vertragsänderungen handelt es sich um eine Konkretisierung des Umgehungsverbotes,23) welches als ein wesentlicher Grundsatz des Vergaberechts gilt.24) Folglich wird dieser Grundsatz neben den Grundsätzen des Wettbewerbsrechts, der Transparenz und der Gleichbehandlung sowie der Verhältnismäßigkeit (vgl. Art 18 Abs 1, § 20 Abs 9), welche allesamt einen Niederschlag in der Neuregelung finden, auch als Auslegungshilfe bzw. Beurteilungsmaßstab in Grenzfällen herangezogen werden müssen,25) um die Zulässigkeit einer „ausschreibungsfreien“ Vertragsänderung in concreto zu beurteilen.26) Die Umsetzung des Art 72 betreffend die Zulässigkeit von nachträglichen Vertragsänderungen erfolgte nahezu wortgleich in § 365, wobei der österreichische Gesetzgeber zur besseren Lesbarkeit und Verständlichkeit – ohne inhaltliche Abweichung – einen anderen systematischen Aufbau als die VergabeRL gewählt hat.27) Durch die gewählte Systematik28) kommt das Regel-Ausnahme-Verhältnis besser zum Ausdruck.29) Nachfolgend wird (der neue) § 365 näher beleuchtet und eine Systematik betreffend die vergaberechtliche Prüfung der Zulässigkeit von Vertragsänderungen herausgearbeitet. Dabei wird der Schwerpunkt auf Bauaufträge gelegt. 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18) 19) 20) 21) 22)

23) 24) 25)

In Art 72 Abs 1 heißt es explizit, dass Verträge „ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens im Einklang mit dieser Richtlinie geändert werden“ können. (Hervorhebung nicht im Original). Eine Direktvergabe ist jedoch nur im USB zulässig (siehe § 46). So auch die deutsche Rechtslage, Vgl. Hausmann/Queisner (2016), S. 620 aE. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 40. Zur Kritik betreffend diese Systematik siehe die Ausführungen bei Fn 144. Doch kommt auch der künftigen Rechtsprechung des EuGH betreffend die Auslegung der Bestimmungen über nachträgliche Vertragsänderungen maßgebliche Bedeutung zu (ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 218). Grundlegend EuGH 19.06.2008, C-454/08, Pressetext. Reisner, (2018), S. 263. So ErwGr 107 2. UAbs; kritisch Knauff/Badenhausen (2014), S. 400, wonach es fraglich sei, ob diese nicht näher definierten Vorgaben zur Rechtssicherheit beitragen können. Siehe ErwGr 2 letzter Satz und ErwGr 107 1. UAbs; Vgl. ferner ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 40, 218. Dillinger/Oppel (2018), Rz 8.3; Vgl. Heid/Steindl in Heid Schiefer Rechtsanwälte/Preslmayr Rechtsanwälte (2015), Rz 747. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 218; i.d.S. wohl auch ErwGr 2 letzter Satz und ErwGr 107; zustimmend ferner Hausmann/Queisner (2016), S. 620; Linke (2017), S. 511; Pfannkuch (2016), S. 452; AA Ritzenhoff in Pünder/Schellenberg (2019), § 132 GWB Rz 1 und 12. Wie in § 365 Abs 3 Z 3 lit b in Bezug auf den Wechsel des Auftragnehmers und in Abs 3 letzter Satz par cit bezüglich Zusatzleistungen bzw. unvorhersehbare Umstände auch ausdrücklich angeordnet wird. Holoubek/Fuchs/Holzinger (2018), S. 111. Holoubek/Fuchs/Holzinger (2018), S. 95; ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 52.

670

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

46.3

Wesentliche und unwesentliche Änderungen

Eine einfache Umgehungsmöglichkeit des Vergaberechts bestünde, wenn bestimmte Bieter – u.U. im Zusammenwirken mit dem Auftraggeber – höchst attraktive/kompetitive Angebote legen könnten, mit dem Wissen, dass diese in der (nicht mehr in diesem Maß öffentlichkeitswirksamen) Vertragsabwicklung zu ihren Gunsten abgeändert werden.30) Bspw. weil sich der Auftraggeber mit einer schlechteren als der vereinbarten Qualität zufrieden gibt31) oder weil der Auftrag ohne Preisanpassung ausgeweitet wird, um die Kosten des Auftragnehmers pro Leistungseinheit zu senken.32) Die tatsächliche Leistungsbeschaffung wäre dem Wettbewerb, der durch ein transparentes und faires Vergabeverfahren sichergestellt werden soll, somit entzogen.33) Auf der anderen Seite besteht, v.a. in der baurechtlichen Praxis, aber vielfach ein Bedürfnis danach,34) dass im Zuge der Vertragsabwicklung auf faktische Begebenheiten, die Änderungen des Vertrages erfordern, reagiert werden kann, ohne eine aufwendige und zeitintensive Neuausschreibung durchführen zu müssen. Art 72 bzw. § 365 versuchen zwischen diesen beiden Interessenssphären eine sachgerechte Mittellösung zu finden und eine Grenze für die Zulässigkeit von Vertragsänderungen zu ziehen.35) Die Abgrenzung zwischen zulässigen und unzulässigen Änderungen betrifft den Anwendungsbereich des BVergG 2018 (§ 9 Abs 1 Z 26 i.V.m. § 365) und stellt folglich zwingendes Recht dar, das der Disposition des Auftraggebers entzogen ist.36) Essentiell ist die Unterscheidung zwischen „wesentlichen“ Vertragsänderungen einerseits und „unwesentlichen“ Vertragsänderungen andererseits.37) Wesentliche Änderungen sind als Neuvergabe zu qualifizieren und folglich nur nach einer Durchführung eines weiteren Vergabeverfahrens zulässig. Unwesentliche Änderungen hingegen können direkt vorgenommen und vereinbart werden.38) Es obliegt dem Auftraggeber, von sich aus sorgfältig zu prüfen, ob die geplante Änderung die Wesentlichkeitsschwelle überschreitet.39) Unter einer Vertragsänderung wird grds. eine Änderungen des Leistungsgegenstands, des Vergabevolumens oder der inhaltlichen Ausgestaltung der gegenseitigen Rechte und Pflichten der Vertragsparteien oder auch dieser selbst verstanden.40) Zutreffend weist Oppel darauf hin, dass zunächst die Frage, ob eine Vertragsänderung überhaupt vorliegt, 26) 27) 28)

29) 30) 31) 32) 33) 34) 35) 36) 37)

I.d.S. auch Dillinger/Oppel (2018), Rz 8.1; Gölles (2018), S. 509; Oppel (2019a), S. 129; Reisner (2018b), S. 265; Schröder/Trettnak-Hahnl (2019), S. 22. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 218. Ähnlich der Aufbau der deutschen Parallelregelung in § 132 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), BGBl I 2013/32, 1750 und 3245. Zu beachten ist betreffend die deutsche Rechtslage, dass das Vergaberecht dort – anders als in Österreich – zweigeteilt ist und das sog. Kartellvergaberecht des GWB, welches das Unionsrecht umsetzt und vergabespezifischen individuellen Rechtsschutz gewährt, nur im OSB zur Anwendung kommt. Unterhalb der Schwellenwerte gibt es keine spezifischen Regelungen zum Rechtsschutz (vgl. Pünder/Buchholtz [2016a], S. 1247; dieselben [2016b] S. 1367 aE, 1372) So auch Hüttinger in Burgi/Dreher (2017), § 132 GWB Rz 5 zur deutschen Umsetzungsnorm. Vgl. Dillinger/Oppel (2018), Rz 8.1; siehe ferner die Beispiele von Gölles (2018), S. 508. Oppel (2019b), S. 174f. Oppel (2019a), S. 129. Reisner (2018a), S. 1. Dies gilt trotz der Einhaltung des erforderlichen Sorgfaltsmaßstabs bei der Ausschreibung, Gölles (2018), S. 509. Ähnlich Reisner (2018a), S. 1, derselbe (2018b), S. 265; Oppel (2019a), S. 127. Gröning (2015), S. 691, meint, dass durch die gegenständliche Regelung die Interessen der Auftraggeberseite ganz erheblich aufgewertet wird. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 218. StRsp siehe etwa VwGH 17.04.2012, 2008/04/0112; VwGH 14.10.2015, 2013/04/0097. Nachfolgend werden die Begriffe wesentliche und unzulässige bzw unwesentliche und zulässige Vertragsänderungen synonym verwendet.

46 Änderungen von öffentlichen Aufträgen während ihrer Laufzeit

671

zu beantworten ist, ehe es die Wesentlichkeit derselben zu prüfen gilt. Die Nichteinhaltung dieser Prüfungsreihenfolge kann zu sachwidrigen Ergebnissen führen.41)

46.4

Wesentliche Änderungen (§ 365 Abs 1 und 2)

Abs 1 des § 365 enthält die Grundsatzregelung, wonach wesentliche Änderungen von abgeschlossenen Verträgen unzulässig bzw. nur nach neuerlicher Durchführung eines Vergabeverfahrens zulässig sind. Bei wertender Betrachtung sind diese nämlich einer Neuvergabe gleichgestellt.42) Eine Änderung des Vertrages ist wesentlich, wenn sie dazu führt, dass sich der Vertrag erheblich vom ursprünglichen Vertrag unterscheidet. Vor diesem Hintergrund werden in Abs 2 zur Konkretisierung demonstrativ Fälle angeführt, die jedenfalls als wesentliche Änderungen gelten.43) Abs 1 ist demnach eine Generalklausel, d.h. selbst, wenn keiner der in Abs 244) genannten Tatbestände vorliegt, ist dennoch nach Abs 1 zu prüfen, ob es zu einer erheblichen Änderung im Vergleich zum ursprünglichen Vertrag kommen würde.45) Als Grundsatz gilt, dass eine Vertragsänderung wesentlich und daher ohne neuerliche Ausschreibung unzulässig ist, wenn die Gefahr einer Wettbewerbsverfälschung zum Nachteil anderer Unternehmer (potenzieller neuer Bieter) besteht.46) Anknüpfungspunkt ist also die Wettbewerbsrelevanz als Ausdruck des Grundsatzes der Gleichbehandlung.47) Hierbei kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an.48) Die Gründe für die Änderung des Vertrages sind grds. irrelevant. Es ist – unabhängig vom Willen der Vertragsparteien – ein objektiver Maßstab anzulegen.49) In den Erläuterungen werden als Beispiele für eine wesentliche Vertragsänderung die nachträgliche Beseitigung des Ausschlusses einer Subvergabe und substantielle Änderungen hinsichtlich der Beschränkung des Rückgriffes auf Subunternehmer genannt, da dadurch eine essentielle Bedingung der ursprünglichen Wettbewerbsbedingungen verändert wird.50) Nach Oppel könnte etwa die bewusste Unterlassung der Geltendmachung von Ansprüchen aus Verzug, Gewährleistung oder Schadenersatz sowie Minderkosten als unzulässige nachträgliche Vertragsänderung zu qualifizieren sein, sofern es dadurch zu einer potenziellen Beeinträchtigung des Vergabewettbewerbs käme.51) 38) 39) 40)

41) 42) 43) 44) 45) 46) 47) 48)

Wobei auch hierbei u.U. einige vergaberechtliche Verpflichtungen zu beachten sind, v.a. die Bekanntgabe gem. § 365 Abs 4. Gölles (2018), S. 509; Hausmann/Queisner, (2016) S. 626 a.E. Vgl. ErwGr 107 UAbs 1; ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 218. Siehe ferner Heid/Steindl in Heid Schiefer Rechtsanwälte/Preslmayr Rechtsanwälte (2015), Rz 737 und Linke (2017), S. 510. Was den Zeitpunkt des Eintritts des Umstands, der zur Vertragsänderung berechtigt, anbelangt, nehmen Dillinger/Oppel (2018), Rz 8.30 ff. an, dass dieser auch vor Zuschlag nach Ablauf der Angebotsfrist liegen kann und der Vertrag ggf. (analog) nach § 365 angepasst werden könnte. Oppel (2019a), S. 130; siehe ferner Scharen in Willenbruch/Wieddekind (2017) § 132 GWB Rz 6ff. Zutreffend Linke (2017), S. 510 mit Verweis auf die deutsche Rsp. Mit § 365 Abs 1 und 2 wird Art 72 Abs 4 und 5 umgesetzt; siehe ferner ErwGr 107 UAbs 1. Abs 3 hingegen geht sowohl dem Abs 1 als auch Abs 2 vor (siehe unten). ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 218, wo auch betont wird, dass der zukünftigen Rechtsprechung des EuGH für die Auslegung dieses Grundsatzes maßgebliche Bedeutung zukommt. Dillinger/Oppel (2018), Rz 8.6; Schröder/Trettnak-Hahnl (2019), S. 22. Reisner (2018b), S. 265 mwN. Dillinger/Oppel (2018), Rz 8.6; Schröder/Trettnak-Hahnl (2019), S. 23.

672

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Nach der Judikatur des EuGH in der Rs Finn Frogne52) kann auch ein Gerichtsvergleich oder -urteil eine Grundlage für eine wesentliche Vertragsänderung i.S.d. § 365 begründen und könne auch eine bedeutende Verringerung des Auftragsgegenstands eine unzulässige Vertragsänderung sein, da diese geeignet ist, den Auftrag auch für kleinere Wirtschaftsteilnehmer interessant zu machen. Bei einer Reduzierung des Auftragsgegenstands wäre auch eine Verringerung der an die Bieter gestellten Anforderungen zu beachten. Nachfolgend sollen die in § 365 Abs 2 demonstrativ genannten Fälle, welche jedenfalls als wesentliche Änderung zu qualifizieren sind und daher ein neuerliches Vergabeverfahren erforderlich machen, näher betrachtet werden.

46.4.1

Veränderung des potenziellen Bewerber- bzw. Bieterkreises

§ 365 Abs 2 Z 153) erklärt nachträgliche Vertragsänderungen, welche sich auf den potenziellen Bewerber- bzw Bieterkreis auswirken, für unzulässig. Die in lit. a-c genannten Fälle gelten alternativ (Argument: „oder“).54) Die Bestimmung betrifft Konstellationen, in denen nachträglich Bedingungen vereinbart werden, welche Anlass zu Zweifeln dahingehend geben, dass, wenn diese Bedingungen in den Unterlagen des ursprünglichen Vergabeverfahrens enthalten gewesen wären, entweder ein anderes Angebot den Zuschlag erhalten hätte („Bietersturz“) oder andere Bewerber zuzulassen gewesen wären. Es gilt ferner zu untersuchen, ob durch die beabsichtigte Änderung ein anderer potenzieller Interessentenkreis ursprünglich angesprochen gewesen wäre.55) Hierbei ist auf tatsächliche Anhaltspunkte für eine wesentliche Wettbewerbsbeeinflussung abzustellen, d.h. nicht auf eine bloß rein hypothetische Möglichkeit.56) Nach Ritzenhoff ist Abs 2 Z 1 nur auf Fälle anwendbar, in denen ursprünglich ein Vergabeverfahren erforderlich war.57) Typischer Anwendungsfall sind Änderungen im Bereich der Befugnis. Konnten ursprünglich Bewerber die erforderliche Befugnis nicht nachweisen und wird der Vertrag nachträglich derart verändert, dass diese nunmehr ausreichend befugt wären, so liegt jedenfalls eine wesentliche Vertragsänderung vor.58)

46.4.2

Veränderung des wirtschaftlichen Gleichgewichts

§ 365 Abs 2 Z 259) erklärt nachträgliche Vertragsänderungen, welche das wirtschaftliche Gleichgewicht des Vertrages zu Gunsten des Auftragnehmers verschieben, für unzulässig. 49)

50) 51) 52) 53) 54) 55) 56) 57) 58) 59)

ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 218 mit Verweis auf die Rsp des EuGH in der Rs Finn Frogne A/S. Der gezielte subjektive Wille der Parteien zur Neuverhandlung der Auftragsbestimmungen ist demnach unerheblich. Doch weist Ritzenhoff zutreffend darauf hin, dass der ErwGr 107 festhält, dass eine wesentliche Änderung Ausdruck der Absicht der Parteien sei, wesentliche Bedingungen des betreffenden Auftrags neu zu verhandeln (in Pünder/Schellenberg [2019], § 132 GWB Rz 11). ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 218. Oppel (2019b), S. 175; idS. auch Scharen in Willenbruch/Wieddekind (2017), § 132 GWB Rz 8. EuGH 07.09.2016, C-549/14. Mit § 365 Abs 2 Z 1 wird Art 72 Abs 4 lit a umgesetzt. So auch Scharen in Willenbruch/Wieddekind (2017), § 132 GWB Rz 15. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 219. Vgl. Scharen in Willenbruch/Wieddekind (2017), Vergaberecht § 132 GWB Rz 15; Ganske in Reidt/Stickler/Glahs (2018), § 132 GWB Rz 18ff; auf die lit a beschränkend wohl Ritzenhoff in Pünder/Schellenberg (2019), § 132 GWB Rz 20. In Pünder/Schellenberg (2019), § 132 GWB Rz 19. Vgl. Lehner (2019), S. 160f. Mit § 365 Abs 2 Z 2 wird Art 72 Abs 4 lit b umgesetzt.

46 Änderungen von öffentlichen Aufträgen während ihrer Laufzeit

673

Das wirtschaftliche Gleichgewicht des Vertrages wird nur berührt, wenn sich das Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung verändert, hierbei ist eine wirtschaftliche Gesamtbetrachtung anzustellen.60) Dazu zählen Fälle wie die Gewährung von längeren Leistungsfristen, höherer Entlohnung oder sonstiger vergünstigender Konditionen ohne eine äquivalente Gegenleistung seitens des Auftragnehmers. Vertragsänderungen zu Lasten des Auftragnehmers sind von dieser Bestimmung nicht umfasst (etwa Verringerung der Auftragssumme, Rabattierungen, Verkürzung der Vertragslaufzeit).61) Die Tatsache etwa, dass der öffentliche Auftraggeber einen größeren Rabatt auf einen Teil der Dienstleistungen erhält, führt etwa nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung zum Nachteil potenzieller Bieter (diese hätten zu diesen Bedingungen ohnehin nicht anbieten können). Als Beispiel einer nachträglichen wesentlichen Änderung des Vertrages nennt Scharen den Fall, dass statt Pauschalvergütung eine Abrechnung nach Stunden erfolgt.62)

46.4.3

Veränderung des Leistungsumfangs

§ 365 Abs 2 Z 363) erklärt nachträgliche Vertragsänderungen, mit welchen der Umfang des Vertrages erheblich ausgeweitet oder verringert64) wird, für unzulässig. Wann die Erheblichkeitsschwelle überschritten wird, kann nur im Kontext des Einzelfalles beurteilt werden.65) Umfasst von dieser Bestimmung sind sowohl Änderung des Umfangs in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht.66) Dies gilt nicht nur für eine Ausweitung auf ursprünglich nicht vorgesehene Leistungen, sondern auch auf solche, die bereits Teil des öffentlichen Auftrags waren.67) Nach Ritzenhoff wird von dieser Bestimmung neben einer erheblichen Ausweitung des Vertragsumfangs – bezogen auf die Leistungsinhalte – auch die erhebliche Ausweitung der Vertragslaufzeit erfasst.68) Dies kann u.a. der Fall sein, wenn ein zeitlich befristetes Dauerschuldverhältnis nachträglich verlängert oder in ein unbefristetes umgewandelt wird, weil damit automatisch auch eine Ausweitung des Umfangs einhergeht.69) Nach der Rsp. des BGH70) zur Rechtslage vor dem Erlass der VergabeRL ist eine wesentliche Vertragsänderung bei Bauzeitenverschiebungen, die auf durch Nachprüfungsverfahren verzögerte Vergabeverfahren zurückzuführen sind, zu verneinen. Diese Rechtsansicht wird in der deutschen Lehre auch weiterhin als maßgeblich betrachtet.71) 60) 61) 62) 63) 64)

65)

66) 67) 68)

Ritzenhoff in Pünder/Schellenberg (2019), § 132 GWB Rz 23; Ganske in Reidt/Stickler/Glahs (2018), § 132 GWB Rz 21. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 219; Scharen in Willenbruch/Wieddekind (2017), § 132 GWB Rz 16. In Willenbruch/Wieddekind (2017), § 132 GWB Rz 17; im Ergebnis gleich Ganske in Reidt/Stickler/Glahs (2018), § 132 GWB Rz 15, der diesen Fall als eine „unbenannte“ wesentliche Vertragsänderung qualifiziert. Mit § 365 Abs 2 Z 3 wird Art 72 Abs 4 lit c umgesetzt. Von § 365 Abs 2 Z 3 werden über den Wortlaut des Art 72 Abs 4 lit c hinaus auch Auftragsreduktionen als wesentliche Änderungen erfasst. Dazu wird in den Erläuterungen angeführt, dass dies im Hinblick auf die Rsp des EuGH in der Rs Finn Frogne A/S erforderlich sei (ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 219). Diese Entscheidung erging – zum alten Vergaberecht – am 07.09.2016, folglich erst nach dem Erlass der VergabeRL im Jahr 2014 und ebenso erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 18.04.2016 gem Art 90 Abs 1. Die Berücksichtigung dieser Rsp im BVergG 2018 war nur aufgrund der verspäteten Umsetzung der VergabeRL in Österreich möglich. In Deutschland – wo die Berücksichtigung dieses Judikats aufgrund rechtzeitiger Umsetzung nicht möglich war – werden Auftragsreduktionen hingegen unter § 132 Abs 1 Z 1 lit c GWB, eine dem § 365 Abs 2 Z 1 lit c entsprechende Bestimmung, subsumiert (vgl. Ritzenhoff in Pünder/Schellenberg (2019), § 132 GWB Rz 22; Scharen in Willenbruch/Wieddekind [2017], § 132 GWB Rz 8, 14), folglich kann keine Rede von „Gold-Plating“ des österreichischen Gesetzgebers sein. Vgl. EuGH 29.04.2010, C-160/08, Kommission gegen Deutschland. Hüttinger hingegen möchte die Erheblichkeit in Umkehrschluss zu § 365 Abs 3 Z 1 bestimmen (in Burgi/Dreher [2017], § 132 GWB Rz 42); a.A. Ganske in Reidt/Stickler/Glahs (2018), § 132 GWB Rz 23 a.E. und wohl auch Ritzenhoff in Pünder/Schellenberg (2019), § 132 GWB Rz 13; so auch ErwGr 107 UAbs 2 letzter Satz. Vgl. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 219 mit Verweis auf EuGH 07.09.2016, C-549/14, Finn Frogne A/S. Restriktiver noch der EuGH in der Rs Pressetext; vgl. Ganske in Reidt/Stickler/Glahs (2018), § 132 GWB Rz 23 mwN. In Pünder/Schellenberg (2019), § 132 GWB Rz 28; a.A. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 222.

674

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

46.4.4

Veränderung des Vertragspartners

§ 365 Abs 2 Z 472) erklärt nachträgliche Vertragsänderungen, bei welchen es zu einem Wechsel des Auftragnehmers kommt, für unzulässig. Ausgenommen von dieser Bestimmung sind lediglich die in Abs 3 Z 373) genannten Fälle, welche v.a. Bedacht auf die Verbandsautonomie nehmen (siehe unten). Die Grundregel lautet also, dass ein Auftragnehmerwechsel nicht zulässig ist. Telos der Norm ist es (u.a.) zu verhindern, dass öff. Aufträge zum Gegenstand des Handels werden.74) Einem Auftraggeber ist es grds. nicht möglich, während der Abwicklung eines Bauauftrags diesen etwa aufgrund von Mängeln bei der Ausführung zu „kündigen“ und ohne neuerliche Ausschreibung den Aufragnehmer durch einen anderen Wirtschaftsteilnehmer zu ersetzen.75) In den Erläuterungen wird klargestellt, dass Subunternehmer- oder Auftraggeberwechsel von dieser Bestimmung nicht erfasst sind. Diese Fälle seien vielmehr anhand des Gesamtsystems des § 365 zu beurteilen. Zum Subunternehmerwechsel wird zudem festgehalten, dass dieser i.d.R. keine wesentliche Änderung darstelle. Anderes müsse jedoch beim Ausfall eines „notwendigen“ oder „auswahl- oder zuschlagsrelevanten“ Subunternehmers gelten; selbiges betreffe Änderungen von angebotenem Schlüsselpersonal.76) Ein unzulässiger Auftraggeberwechsel wäre – im Hinblick auf das Umgehungsverbot – bei einer Vertragsübernahme durch einen öff. Auftraggeber an Stelle eines Sektorenauftraggebers anzunehmen, da letzterer einem weniger strengen Vergaberegime77) unterliegt.78)

46.5

Unwesentliche Änderungen (§ 365 Abs 3)

In Abs 3 sind Fälle vorgesehen, welche jedenfalls79) als unwesentliche Vertragsänderungen zu qualifizieren sind und demnach zulässigerweise ohne ein neuerliches Vergabeverfahren vorgenommen werden können. Diese Ausnahmen sind v.a. dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geschuldet, wonach in gewissen Konstellationen eine Neuausschreibung (wirtschaftlich) unvertretbar ist.80) Die Aufzählung ist eine taxative, da die genannten Fälle eine Ausnahme von der Regel, wonach eine Auftragsvergabe grds. nur nach Durchführung eines Vergabeverfahrens zulässig ist, darstellen.81) Ausnahmetatbestände sind nach der stRsp. des EuGH82) eng auszulegen, die Beweislast für deren Vorliegen trifft den Auftraggeber.83) 69) 70) 71) 72) 73) 74) 75) 76) 77) 78) 79)

80) 81)

Scharen in Willenbruch/Wieddekind (2017), § 132 GWB Rz 22; im Ergebnis zustimmend ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 222. BGH 22.07.2010, VII ZR 213/08. Ganske in Reidt/Stickler/Glahs (2018), § 132 GWB Rz 14 mwN. Mit § 365 Abs 2 Z 4 wird Art 72 Abs 4 lit d umgesetzt. Mit § 365 Abs 3 Z 3 wird Art 72 Abs 1 lit d umgesetzt; vgl. ferner ErwGr 110. Dillinger/Oppel (2018), Rz 8.15. Vgl. ErwGr 110. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 219 mit Verweis auf EuGH 13.04.2010, C-91/08, Vgl. Linke, (2017), S. 515, wonach ein Auftraggeberwechsel außer in Fällen einer internen Neuorganisation unzulässig ist. Siehe dazu Holoubek/Fuchs/Holzinger (2018), 177ff. Ganske in Reidt/Stickler/Glahs (2018), § 132 GWB Rz 26 mwN. D.h. unabhängig von Abs 1 und 2 par cit; vgl. ferner Art 72 Abs 4 zweiter Satz. I.d.S. auch Holoubek/Fuchs/Holzinger (2018), S. 169; Hüttinger in Burgi/Dreher (2017), § 132 GWB Rz 7. Ungenau in diesem Punkt der Wortlaut der deutschen Umsetzungsbestimmung § 132 Abs 2 GWB, kritisch dazu Linke (2017), S. 511. Zutreffend Oppel (2019a), 130f. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 218 und 219; Reisner (2018b), 264. A.A. Holoubek/Fuchs/Holzinger (2018), S. 170, die eine demonstrative Aufzählung annehmen; was im Hinblick auf § 365 Abs 3 Z 4 legitim erscheint (siehe dazu unten).

46 Änderungen von öffentlichen Aufträgen während ihrer Laufzeit

675

Nachfolgend sollen die in § 365 Abs 3 genannten Fälle, welche ausnahmsweise kein neuerliches Vergabeverfahren erforderlich machen, näher betrachtet werden.

46.5.1

Änderungen der Auftragssumme

§ 365 Abs 3 Z 184) enthält eine Ausnahmebestimmung, wonach geringfügige Änderung des Auftragswertes bis zu einer bestimmten Höhe jederzeit möglich sind, ohne dass ein neues Vergabeverfahren durchgeführt werden muss (sog „safe haven“ bzw. „de minimis“). Das Überschreiten der de minimis-Grenze macht die Vertragsänderung nicht in jedem Fall zu einer wesentlichen Änderung.85) Die Regelung ist besonders anwenderfreundlich, denn sie entbindet von zweifelhaften Subsumtionen unter die vielfach unbestimmten Rechtsbegriffe der anderen Ausnahmetatbestände und lässt die Wesentlichkeit einer Vertragsänderung grds. bloß anhand einer Rechenoperation bestimmen.86) Die absolute Wertgrenze dieser Ausnahmebestimmung setzt sich aus zwei kumulativen Einzelgrenzen zusammen – doppelte Beschränkung.87) Demnach darf die wertmäßige Änderung bei Bauaufträgen im klassischen Bereich einerseits 15 % der ursprünglichen Auftragssumme nicht übersteigen (Abs 3 Z 1 lit b) andererseits bildet der (derzeitige) Schwellenwert von 5.548.000 € gem. § 12 Abs 1 Z 4 die äußerste Grenze für die Unwesentlichkeit (Abs 3 Z 1 lit a). Bei einem Bauauftrag mit der ursprünglichen Auftragssumme von 50 Mio. € ist eine wertmäßige Änderung von 15 % i.d.H. von 7,5 Mio. € unzulässig, da hierbei der Schwellenwert überschritten wird – 5.548.000 € sind in diesem Fall somit die äußerste Wertgrenze. Bei einer ursprünglichen Auftragssumme von 10 Mio. € ist hingegen die 15 % Marke von 1,5 Mio. € maßgeblich, dem Schwellenwert kommt diesfalls keine Bedeutung zu. Bei mehreren sukzessiven Änderungen ist der kumulierte Nettowert aller Änderungen maßgeblich; diese Berechnungsweise dient dazu, missbräuchliches Vorgehen zu verhindern.88) Vor diesem Hintergrund kann den Auftraggebern empfohlen werden, zunächst die restlichen Ausnahmetatbestände des § 365 Abs 3, die mehrmals in Anspruch genommen werden können, zu prüfen, bevor sie sich auf Abs 3 Z 1 stützen – sich also diesen Ausnahmetatbestand gleichsam einem „Joker“ für den Fall der Fälle aufzusparen.89) Als Voraussetzung gilt ferner, dass sich der Gesamtcharakter nicht ändern darf. Die Erläuterungen führen dazu beispielhaft an, dass bei einer Gesamtbetrachtung des ursprünglichen Vertrages zusammen mit der Änderung der ursprüngliche Auftragstypus erhalten bleiben muss, dass die zu beschaffende Leistung nicht durch eine andersartige Leistung ersetzt werden darf oder dass sich die Art der Beschaffung nicht grundlegend ändern darf.90)

82) 83) 84) 85) 86) 87) 88) 89) 90)

ZB EuGH 27.10.2011, C-601/10, Kommission/Griechenland, Rz 32; EuGH 13.01.2005, C-84/03, Kommission/Spanien, Rz 58; EuGH 16.09.1999, C-414/97, Kommission/Spanien Rz 21 f. Reisner (2018b), S. 270. Mit § 365 Abs 3 Z 1 wird Art 72 Abs 2 umgesetzt; siehe ferner ErwGr 107 UAbs 2. ErwGr 107 UAbs 2 letzter Satz; zustimmend Ritzenhoff in Pünder/Schellenberg (2019), § 132 GWB Rz 72; Scharen in Willenbruch/Wieddekind (2017), § 132 GWB Rz 49. Pfannkuch (2016), S. 452. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 219; Scharen in Willenbruch/Wieddekind (2017), § 132 GWB Rz 49. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 219; Dillinger/Oppel (2018) Rz 8.10. Vgl. Hausmann/Queisner (2016), S. 624. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 219; vgl. ferner ErwGr 109 letzter Satz.

676

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

46.5.2

Vertragsänderungsklauseln

§ 365 Abs 3 Z 291) enthält eine Ausnahmebestimmung, wonach Änderungen – unabhängig von ihrem Wert – aufgrund klar, präzise und eindeutig formulierter „Vertragsänderungsklauseln“92) zulässig sind. Dieser Ausnahmetatbestand ist nur ein scheinbarer, aufgrund der exakten Festlegung der Voraussetzungen in den Ausschreibungsunterlagen93) waren die „Vertragsänderungen“ gleichsam schon Bestandteil des ursprünglichen Vergabeverfahrens, weshalb auch kein neuerliches Vergabeverfahren erforderlich ist.94) Ein chancengleicher und transparenter Vergabewettbewerb bleibt auf diese Weise gewahrt. Der öff. Auftraggeber gewährleistet bei solchen Vertragsklauseln, dass sämtliche an dem Auftrag interessierten Wirtschaftsteilnehmer hiervon von Anfang95) an Kenntnis haben und daher bei der Abfassung ihres Angebots gleichgestellt sind. Das setzt aber auch voraus, dass der ursprünglich geschlossene Vertrag samt der Vertragsklausel, die seine nachträgliche Änderung ermöglicht, den interessierten Wirtschaftsteilnehmern vorab zur Kenntnis gebracht wurde. Vor diesem Hintergrund erscheinen Vertragsänderungen gestützt auf eine Änderungsklausel bei aufgrund von Direktvergabe abgeschlossen Aufträgen besonders problematisch. Doch es wird missbräuchlicher Vorgehensweise durch die Berechnung des geschätzten Auftragswertes96) (vgl. § 1397)) – wonach diese „einschließlich aller Optionen und etwaiger Vertragsverlängerungen“ zu erfolgen hat – vorgebeugt.98) Demnach müssen u.E. – im Hinblick auf den Zweck der Regelung99) – etwaige Vertragsänderungsklauseln bei der Berechnung des geschätzten Auftragswertes jedenfalls berücksichtigt werden,100) dies gilt v.a. im Hinblick auf das in Abs 5 normierte Umgehungsverbot. Unter diesen Ausnahmetatbestand fallen folglich alle Klauseln, die eine spätere – ggf. auch einvernehmliche – Änderung des Leistungsgegenstandes, der Vergütung, der Vertragslaufzeit oder der vertraglichen Bedingungen zulassen; sie können auch wesentliche Punkte des ursprünglichen Vertrages betreffen.101) Die Vertragsänderungsklausel muss – wie erwähnt – klar, präzise und eindeutig formuliert sein und Angaben zu Umfang und Art der möglichen Änderungen sowie zu den Bedingungen enthalten, unter denen sie zur Anwendung gelangen können.102) Aufgrund dieser strengen Voraussetzungen ist es nicht ausreichend, einen „Blankettvorbehalt“ in den Vertrag aufzunehmen, wonach der 91) 92)

93)

94) 95) 96) 97) 98)

Mit § 365 Abs 3 Z 2 wird Art 72 Abs 1 lit a umgesetzt; siehe ferner ErwGr 111. Hierbei hat sich der österreichische Gesetzgeber bei der Umsetzung einer eigenen Terminologie bedient, die VergabeRL verwendet diesbezüglich die Begriffe „Überprüfungsklauseln oder Optionen“ (vgl. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 220). Kritisch zur Terminologie, Oppel (2019c), 216 m.w.N., der von „Leistungsänderungsklauseln“ spricht. Art 72 Abs 1 verwendet den Terminus „Auftragsunterlagen“, zur (weiten) Definition siehe Art 2 Abs 1 Z 13. Nach den ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 221 – allerdings zum begriffsgleichen § 365 Abs 3 Z 5; betreffend Abs 3 Z 2 par cit wird in den Erläuterungen (a.a.O. 220) hingegen nur auf den „ursprünglichen Vertrag“ Bezug genommen – ist darunter bei offenen oder nicht offenen Verfahren jene Ausschreibungsunterlage (inklusive deren allfällige Berichtigungen), die den Unternehmen gem § 89 zur Verfügung gestellt wurde und die die Grundlage für die Erstellung der Angebote bildete, zu verstehen (siehe ferner die Definition in § 2 Z 7, wo die Ausschreibungsunterlage von der Bekanntmachung deutlich abgegrenzt wird [vgl. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 18]). Eine Nennung der Vertragsänderungsklausel bereits in der Bekanntmachung dürfte demnach – bei unionskonformer Auslegung – nicht erforderlich sein. I.d.S. auch deutsche Literatur, vgl. Ganske in Reidt/Stickler/Glahs (2018), § 132 GWB Rz 30 mwN. Gröning, (2015), S. 691; zustimmend Hüttinger in Burgi/Dreher (2017), § 132 GWB Rz 7; i.d.S. auch ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 220. Zum Zeitpunkt der Einführung einer solchen Klausel in mehrstufigen Verfahren vgl. VwGH Ra 2015/04/0013, vgl. Mensdorff-Pouilly (2019), S. 14. Siehe dazu im Allgemeinen Dillinger/Oppel (2018), Rz 3.65ff. Mit § 13 wird Art 5 umgesetzt. Die terminologische Angleichung an § 365 Abs 3 Z 2 wäre empfehlenswert.

46 Änderungen von öffentlichen Aufträgen während ihrer Laufzeit

677

Auftraggeber nach Belieben – ggf. in Einvernehmen mit dem Auftragnehmer – den Leistungsumfang in unbegrenzter Höhe erweitern oder anderweitig anpassen kann.103) Dadurch, dass es zugleich zu keiner Änderung des Gesamtcharakters des Vertrages kommen darf, wird einer möglichen Uferlosigkeit entgegengewirkt.104) Umstritten ist, ob die Bestimmungen der ÖNORM B 2110 (oder in Deutschland Leistungsänderungsrechte der VOB/B), welche vielfach und im weiten Umfang Vertragsänderungen ermöglichen, den hohen Anforderungen des Abs 3 Z 2 genügen.105) Sollte dies der Fall sein, so müssten diese Änderungsmöglichkeiten konsequenterweise auch in der Höhe des geschätzten Auftragswertes berücksichtigt werden (siehe oben). U.E. scheint die generelle Determinierung dieser Vertragsschablonen vielfach nicht hinreichend zu sein. Die entsprechenden Konstellationen sind i.d.R. vielmehr anhand § 365 Abs 3 Z 5 und 6 zu beurteilen. Dabei ist nämlich auch zu beachten, dass diese Regelungen meist nicht nur ein Änderungsrecht, sondern auch ein damit einhergehendes Recht auf Preisanpassung mit sich bringen. Im Unterschied zu konkreten vertraglich vorgesehenen Optionen sind die Voraussetzungen, Inhalt und Umfang der Leistungsänderung von vornherein bei Weitem nicht so genau determiniert, dass der Auftraggeber die geänderte Leistung nur noch abzurufen braucht.106) Für die Praxis kann dieser Ausnahmetatbestand von erheblicher Bedeutung sein, daher gilt es bei jeder Vertragserstellung zu überlegen, welche möglichen nachträglichen Änderungen eintreten könnten und sodann entsprechende Änderungsklauseln so konkret wie möglich festzuhalten.107)

46.5.3

Auftragnehmerwechsel

§ 365 Abs 3 Z 3108) enthält Ausnahmetatbestände von der Grundregel, wonach ein Auftragnehmerwechsel ohne neuerliche Ausschreibung grds. nicht zulässig ist (Abs 2 Z 4, siehe oben). Dadurch soll (u.a.) dem erfolgreichen Bieter, der den Auftrag ausführt, die Möglichkeit eröffnet werden, während des Zeitraums der Auftragsausführung gewisse strukturelle Veränderungen durchlaufen zu können.109) Abs 3 Z 3 lit b nennt (u.E. aus gesellschaftsrechtlicher Sicht bei Übernahme in den österreichischen Rechtsbestand wenig gelungen) hierzu Fälle wie etwa eine rein interne Umstrukturierung110), eine 99)

100)

101) 102) 103) 104) 105)

106) 107) 108) 109)

Dieser ist es sicherzustellen, dass das tatsächliche Volumen von Aufträgen, deren Fortdauer von Bietern oder Auftraggebern zum Teil einseitig herbeigeführt werden kann oder die bereits die Vergabe zukünftiger Aufträge verbindlich vorsehen, bei der Schätzung des gesamten Auftragswerts berücksichtigt werden (vgl. Kau in Burgi/Dreher [2019], § 3 VgV Rz 26). I.d.S. auch Heid/Steindl in Heid Schiefer Rechtsanwälte/Preslmayr Rechtsanwälte (2015), Rz 751. So ausdrücklich auch die deutsche Literatur zur Parallelvorschrift § 3 Verordnung über die Vergabe öff Aufträge (Vergabeverordnung – VgV), BGBl I 2016/16, 624, siehe Wieddekind in Willenbruch/Wieddekind (2017), § 3 VgV Rz 2. Vgl. ferner Reisner (2018b), S. 272, der sich allerdings auf Optionen beschränkt. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 220; Hausmann/Queisner (2016), S. 621; Ritzenhoff in Pünder/Schellenberg (2019), § 132 GWB Rz 33, i.d.S. wohl auch EuGH in der Rs Finn Frogne A/S Rz 40 aE. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 220, das betonend auch EuGH in der Rs Finn Frogne A/S Rz 40 aE. Hausmann/Queisner (2016), S. 621. Hüttinger in Burgi/Dreher (2017), § 132 GWB Rz 7. Siehe hierzu Heid/Steindl in Heid Schiefer Rechtsanwälte/Preslmayr Rechtsanwälte (2015), Rz 751 m.w.N. und neulich Oppel (2019c), S. 221ff. sowie Gölles (2019), S. 6. Vgl. aus der deutschen Literatur zur selben Problematik Ganske in Reidt/Stickler/Glahs (2018), § 132 GWB Rz 33f mwN. Vgl. dazu auch Steindl (2010) passim m.w.N. Vgl. Mensdorff-Pouilly (2019), S. 17; Pfannkuch (2016), S. 450. Mit § 365 Abs 3 Z 3 wird Art 72 Abs 1 lit d umgesetzt; vgl. ferner ErwGr 110. Vgl. ErwGr 110.

678

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Übernahme, einen Zusammenschluss bzw. Unternehmenskauf oder eine Insolvenz. Der neue in das Vertragsverhältnis eintretende Auftragnehmer muss eine entsprechende Eignung aufweisen. Von dieser Bestimmung sind auch Singularsukzessionen umfasst.111) Im Hinblick auf das Telos der Norm, wonach verhindert werden soll, dass öff. Aufträge zum Gegenstand des Handels werden, wird hierbei aber entscheidend sein, dass der neue Vertragspartner auch die Unternehmensstruktur und nicht bloß den einzelnen Vertrag übernimmt.112) Unzulässig sind ferner freilich auch sonstige Umgehungskonstruktionen.113) Des Weiteren kann gem. Abs 3 Z 3 lit. a ein Auftragnehmerwechsel aufgrund einer Vertragsänderungsklausel i.S.d. Abs 3 Z 2 (siehe oben) erfolgen. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass der neue in das Vertragsverhältnis eintretende Auftragnehmer – trotz der Nichterwähnung im Gesetz114) – dieselbe Eignung und ebenso sonstige „zuschlagsrelevante Charakteristika“ wie der ursprüngliche Auftragnehmer aufweisen muss, demnach einen gleichwertigen Ersatz zu bieten hat.115) Als Beispiel kommt hier etwa für den Fall des Ausfalls des Zuschlagempfängers ein Nachrücken des zweitbesten Bieters in Betracht.116) Abs 3 Z 3 lit c regelt den Sonderfall, dass der Auftraggeber selbst (ganz oder teilweise) die Position seines ursprünglichen Auftragnehmers übernimmt und in dessen Vertragsverhältnis mit dem Subunternehmer eintritt.117) Aus welchen Gründen dies geschieht ist nach den Erläuterungen unerheblich.118) Bei Bauaufträgen ist diese Norm insofern von Relevanz, als dadurch die Möglichkeit besteht, dass der Auftraggeber – etwa im praktisch nicht unbekannten Fall der Insolvenz des Generalunternehmers, aufgrund dessen Verzugs oder mangelhafter Erfüllung119) – das Bauvorhaben mit den Subunternehmern zu Ende führen kann.120)

46.5.4

Auffangtatbestand

§ 365 Abs 3 Z 4121) enthält eine Ausnahmebestimmung, wonach Änderungen, die keine wesentliche Änderungen i.S.d. Abs 1 und 2 sind, – ungeachtet ihres Wertes – ebenfalls als „unwesentliche Änderungen“ ohne Neuausschreibung zulässig sind (Auffangregelung).122) 110)

111) 112) 113) 114) 115) 116) 117) 118)

119) 120) 121)

Zum Wechsel im Gesellschafterbestand wird in den Erläuterungen festgehalten, dass dieser „nicht zwangsweise zu einer unzulässigen Änderung des Vertrages“ führt (ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 221). Siehe aber Pfannkuch (2016), S. 450f., der erklärt, dass darin eine „getarnte“ Vertragsübernahme liegen kann und ferner darauf hinweist, dass nach der EuGH Judikatur bei Inhouse-Vergaben nachträgliche Beteiligung Privater eine ausschreibungspflichtige Änderung darstellt. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 220. Dillinger/Oppel, (2018) Rz 8.15f. Vgl. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 221. Zustimmend Scharen in Willenbruch/Wieddekind (2017), § 132 GWB Rz 45. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 220. Dillinger/Oppel (2018), Rz 8.16. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 221. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 221. A.A. offensichtlich Dillinger/Oppel (2018) Rz 8.16, die hierfür eine Vertragsänderungsklausel verlangen. Art 72 Abs 1 lit d sublit iii, in dem auf die „Tatsache“ abgestellt wird, sieht eine derartige Beschränkung nicht vor. Reisner (2018b), S. 275. Dillinger/Oppel (2018), Rz 8.16. Mit § 365 Abs 3 Z 4 wird Art 72 Abs 1 lit e umgesetzt. Interessant erscheint, dass die Z 4 des Abs 3 par cit keine Entsprechung in der deutschen Parallelbestimmung des § 132 Abs 2 GWB findet.

46 Änderungen von öffentlichen Aufträgen während ihrer Laufzeit

679

Vor diesem Hintergrund relativiert sich die Qualifikation des Abs 3 als eine taxative Aufzählung von Ausnahmetatbeständen (siehe oben). Gölles meint, dass es sehr zweifelhaft sei, ob diese Auffangregelung praktische Bedeutung haben werde.123)

46.5.5

Zusatzleistungen

§ 365 Abs 3 Z 5124) enthält eine Ausnahmebestimmung, wonach bestimmte erforderliche Zusatzleistungen zu einem bereits erteilten Auftrag als „unwesentliche Änderungen“ ohne Durchführung eines neuerlichen Vergabeverfahrens bezogen werden können. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass ein Wechsel des Auftragnehmers aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen nicht erfolgen kann.125) Erfasst von diesem Ausnahmetatbestand sind nach den Erläuterungen zur Erbringung der Leistung sowohl unbedingt notwendige als auch zweckmäßige Zusatzleistungen, die in der Ausschreibungsunterlage126) nicht vorgesehen waren.127) Weiters zu beachten ist, dass im klassischen Bereich jeder von mehreren zulässigen Zusatzaufträgen für sich genommen nicht über 50 % des Wertes des ursprünglichen Vertrages aufweisen darf. Allerdings gilt hier – anders als bei Abs 3 Z 1 – einerseits das Kumulationsprinzip nicht andererseits ist auch eine Veränderung des „Gesamtcharakters des Vertrages“ zulässig.128) Aufgrund dieser weitläufigen Möglichkeiten wird in Abs 3 letzter Satz besonders auf das Umgehungsverbot hingewiesen. Zu beachten ist ferner, dass Abs 4 im OSB129) eine (ex post) Bekanntgabepflicht anordnet.130) Aus baurechtlicher Sicht könnte dieser Ausnahmetatbestand u.E. vielfacht als Grundlage für (auch bauwirtschaftliche) Mehrkosten in Betracht kommen. Als wirtschaftliche bzw. technische Rechtfertigung seien hierfür v.a. technische Schnittstellen, Gewährleistungsschnittstellen und ein mit der Beauftragung mehrerer Unternehmen verbundener erhöhter Koordinierungs- und Abwicklungsaufwand genannt.131)

122) 123)

124) 125) 126) 127) 128) 129)

130) 131)

Vgl. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 221. Dillinger/Oppel (2018), Rz 8.26 sehen hierbei die Kriterien der EuGH Judikatur in der Rs Pressetext als maßgeblich. Gölles (2019), S. 7. Siehe dazu ferner Oppel (2019a), S. 131f., wonach dies davon abhänge, was überhaupt unter einer nachträglichen Vertragsänderung zu verstehen sei. Im Falle eines weiten Begriffsverständnisses komme diesem Auffangtatbestand seiner Ansicht nach eine wesentliche Korrekturfunktion zu; eine allfällige Anwendung dieser Norm, habe unter Abwägung der Vergabegrundsätze im Einzelfall zu erfolgen. Mit § 365 Abs 3 Z 5 wird Art 72 Abs 1 lit b umgesetzt, siehe ferner ErwGr 108. Vgl. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 221, welche auch auf das Spannungsverhältnis zwischen Abs 3 Z 5 lit a und b hinweisen. Zum Begriff siehe oben Fn 93. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 221; restriktiver Scharen in Willenbruch/Wieddekind (2017), § 132 GWB Rz 32. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 221. Telos der Transparenzvorschrift ist es, die Markteilnehmer von einer erfolgten Vertragsänderung zu informieren, damit diese gegen eine allenfalls unzulässige Inanspruchnahme der Ausnahmebestimmung vorgehen können (Dillinger/Oppel [2018], Rz 8.7; Hausmann/Queisner [2016], S. 624; Reisner [2018b], S. 277; siehe auch ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 40). In der Regierungsvorlage wird explizit hervorgehoben, dass im USB keine Pflicht zur Bekanntgabe besteht (ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 222). Ob die Einschränkung der Bekanntgabepflicht – aus verfassungsrechtlicher Sicht aufgrund der doppelten Bindung des österreichischen Gesetzgebers (grundlegend VfSlg 16.027/2000; vgl. ferner Holoubek/Fuchs/Holzinger [2018], S. 22f.) – auf den OSB gleichheitskonform ist, erscheint uE fraglich. Der Rechtsschutz wird dadurch erheblich erschwert, da es den nicht zum Zug kommenden Bietern kaum möglich sein wird, Kenntnis von einer allenfalls rechtswidrigen de facto Direktvergabe zu erlangen. Vgl. ferner § 375 Abs 1, der den Verstoß gegen die Bekanntgabepflicht als Verwaltungsübertretung sanktioniert. So auch Hüttinger in Burgi/Dreher (2019), § 22 EU VOB/A Rz 26 mwN.

680

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

46.5.6

Unvorhersehbare Umstände

§ 365 Abs 3 Z 6132) enthält den letzten Ausnahmetatbestand, wonach Vertragsänderungen, die aufgrund von unvorhersehbaren Umständen erforderlich werden, auch ohne Neudurchführung eines Vergabeverfahrens zulässig sind. Damit soll v.a. bei langfristigen Vertragsverhältnissen ein gewisses Maß an Flexibilität gewährleistet werden.133) Der unbestimmte Begriff „unvorhersehbare Umstände“ lässt sich anhand der in ErwGr 109 festgelegten (strengen) Kriterien konkretisieren, welche gleichsam auch als Prüfungsschema für den Auftraggeber dienen, um die Wesentlichkeit der Vertragsänderung zu beurteilen.134) Demnach liegt ein unvorhersehbarer Umstand nur vor, wenn er (ex ante135)) auch bei einer sorgfältigen Vorbereitung der Zuschlagserteilung unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Mittel, der Art und Merkmale des spezifischen Projekts, der bewährten Praxis im betreffenden Bereich und der Notwendigkeit, ein angemessenes Verhältnis zwischen den bei der Vorbereitung der Zuschlagserteilung eingesetzten Ressourcen und dem absehbaren Nutzen zu gewährleisten, nicht hätten vorausgesagt werden können.136) Bei einem Bauauftrag könnten unter diesen Ausnahmetatbestand etwa unvorhergesehene Probleme mit dem Baugrund fallen, die trotz einer Untersuchung nach dem Stand der Technik nicht erkennbar waren.137) Als Voraussetzung gilt aber, dass sich Gesamtcharakter des Auftrages nicht ändern darf, im klassischen Bereich ferner wie bei § 365 Abs 3 Z 5, dass gewisse Wertgrenzen nicht überschritten werden (siehe oben). Zudem besteht auch hier eine Bekanntgabepflicht (siehe oben).

46.6

Prüfungsschema und Dokumentationspflicht

Aus dem System des § 365 (nämlich der Absätze 1 bis 3) empfiehlt sich für Auftraggeber folgendes Prüfschema für die Beurteilung, ob eine wesentliche oder unwesentliche Änderung vorliegt:138) In einem ersten Schritt ist die Zulässigkeit der Änderung eines Vertrages anhand einer klar, präzise und eindeutig formulierten Änderungsklausel zu prüfen. Ist eine solche nicht vorhanden oder auf die konkrete Änderung nicht anwendbar, ist zu untersuchen, ob einer der in Z 3 (neuer Vertragspartner), Z 5 (erforderlich gewordene Zusatzleistungen), Z 6 (Unvorhersehbares ohne Gesamtcharakterveränderung des Auftrages) oder Z 1 (10 % bis 15 % Schwellenwerte) des Abs 3 genannten Ausnahmetatbestände vorliegt. Ist dies nicht der Fall, so ist in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob einer der Tatbestände des Abs 2 zur Anwendung kommt. Trifft auch dies nicht zu, so ist gem. der Generalklausel des Abs 1 zu untersuchen, ob die Änderung trotzdem als eine „erhebliche Änderung“ des ursprüng132) 133) 134) 135) 136)

137) 138)

Mit § 365 Abs 3 Z 6 wird Art 72 Abs 1 lit c umgesetzt, siehe ferner ErwGr 109. Vgl. ErwGr 109; ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 221. Zutreffend Pfannkuch (2016), S. 450. Ritzenhoff in Pünder/Schellenberg (2019), § 132 GWB Rz 48. Kritisch zur Einschränkung auf unvorhersehbare Umstände Gölles (2019), S. 8. Aus praktischer Sicht ist die Ansicht des Autors zwar nicht unberechtigt, doch gebieten die Vergabegrundsätze solche Vorgehensweise. Ist auch kein anderer Ausnahmetatbestand erfüllt, so führt kein Weg an einer Neuausschreibung vorbei. Reisner (2018b), S. 277. ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 222.

46 Änderungen von öffentlichen Aufträgen während ihrer Laufzeit

681

lichen Auftrages zu qualifizieren ist. Erst im letzten Schritt wäre verneinendenfalls, von einer zulässigen, weil unwesentlichen Änderung gem. Abs 3 Z 4 auszugehen. Dies führt sogleich zum Thema Dokumentation von (auch unwesentlichen) Leistungsänderungen. Schröder/Trettnak-Hahnl erklären appellierend an die Auftraggeber, dass insbesondere vor dem Hintergrund einer verwaltungsgerichtlichen Kontrolle betreffend die Zulässigkeit „sämtliche Änderungen, deren Inhalt und Wert (auch im Vergleich zur ursprünglichen Auftragssumme) sowie auch die Prüfung und Begründung der jeweils erforderlichen Voraussetzungen (beispielsweise die Unmöglichkeit eines Auftragnehmerwechsels)“ genau zu dokumentieren sind.139) Oppel ergänzt, dass sich aus dem Transparenzgrundsatz zwar die Erforderlichkeit einer Dokumentation der nachträglichen Leistungsänderungen ergebe, diese jedoch bloß aufgrund des ebenso zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in einem zumutbaren Ausmaß zu erfolgen habe.140) Auch u.E. ist eine Dokumentationspflicht dem Grunde nach zu bejahen und Auftraggebern schon aus praktischen Erwägungen als unumgänglich zu empfehlen. Zu bedenken ist hierbei v.a. die EuGH Judikatur141), wonach die Beweislast für das Vorliegen von Ausnahmetatbeständen beim Auftraggeber liegt, sodass es ohnehin in seinem Interesse liegen muss, über genaueste Aufzeichnungen zu verfügen.142) Nur so kann eine Rechtfertigung gegenüber einem sich durch eine Änderung übergangen fühlenden Mitbewerber des Auftragnehmers bzw. der Vergabe- und nachträglichen Gebarungskontrolle erfolgreich und überzeugend sein. In juristischer Hinsicht könnte die Pflicht zur Dokumentation ganz allgemein auf den Transparenzgrundsatz (vgl. § 20 Abs 1) gestützt werden. Auch § 49 Abs 1 käme als Rechtsgrundlage für eine Dokumentationspflicht prima facie in Betracht.143) Fraglich ist allerdings, ob diese Bestimmungen überhaupt zur Anwendung gelangen können, weil der österreichische Gesetzgeber – anders als die VergabeRL – zulässige Vertragsänderungen von Verträgen während ihrer Laufzeit gem. § 9 Abs 1 Z 26 vom Geltungsbereich des BVergG 2018 ausgenommen hat (siehe oben).144) Konsequenterweise müsste dieser Ausschluss auch die Pflicht zur Dokumentation umfassen. U.E. müsste daher § 9 Abs 1 Z 26 – richtlinienkonform – teleologisch reduziert werden.

46.7

Aktuelle Trends

Wie die Anzahl der Fußnoten des vorliegenden Beitrags zeigt, wird die Thematik der nachträglichen Leistungsänderungen in der Literatur im Moment intensiv diskutiert. Eine aktuelle Entscheidung zur neuen Rechtslage und der Auslegung der vielfach unbestimmten Begriffe der Neuregelung liegt seitens des EuGH – dem diesbezüglich eine Monopolstellung zukommt145) – noch nicht vor. Auch die Österreichischen Höchstgerichte hatten bislang noch keine Möglichkeit, zu den neuen Bestimmungen Stellung zu 139) 140) 141) 142) 143) 144) 145)

Schröder/Trettnak-Hahnl (2019), S. 26. So auch Pfannkuch (2016), S. 450. Oppel (2019a), S. 132. ZB EuGH 27.10.2011, C-601/10, Kommission/Griechenland, Rz 32; EuGH 13.01.2005, C-84/03, Kommission/Spanien, Rz 58; EuGH 16.09.1999, C-414/97, Kommission/Spanien Rz 21 f. Reisner (2018b), S. 270. Dieser gilt als die Umsetzungsnorm des Art 84 Abs 2. Siehe ferner auch ErwGr 126 sowie ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 83. Siehe dazu ErläutRV 69 BlgNR 26. GP 40. Vgl. Art 19 Abs 1 Vertrag über die Europäische Union (EUV) i.V.m. Art 267 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

682

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

beziehen. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die Judikatur (wieder) mit entsprechenden Fragestellungen aus der Praxis beschäftigen wird. Angesichts der Neuregelung im BVergG 2018 ist davon auszugehen, dass öffentliche Auftraggeber (oder auch nicht zum Zug gekommene Konkurrenten des ursprünglichen Bestbieters, welche auf etwaige Verstöße vermehrt mit Nachprüfungsanträgen reagieren werden) diesem Themenkreis hinkünftig mehr Aufmerksamkeit und Beachtung schenken werden. Dies ist auch notwendig, schließlich stellen die vom Auftraggeber nicht vorhergesehene Pflicht zur Neuausschreibung bzw. auch die nachträgliche Nichtigerklärung des Leistungsvertrages bei Vergabeverstößen sehr schwerwiegende Folgen dar. In Zukunft gilt es umso mehr, nachträgliche Leistungsänderungen (v.a. durch eine gute Projektvorbereitung) weitestgehend zu vermieden oder zumindest rechtzeitig zu antizipieren. Gut beratene Auftraggeber werden bereits im Vergabeverfahren mit (konkret projektbezogenen) Änderungsvorbehalten operieren.

46.8

Zusammenfassung

Nachträgliche Änderungen des Auftragsgegenstands und -inhalts (aber auch des Auftragsumfangs oder der technischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Auftragsbedingungen) während der Vertragslaufzeit von öffentlichen Aufträgen sind wegen der Gefahr einer Wettbewerbsbeeinträchtigung und als Einfallstor für Umgehungen vergaberechtlich höchst sensibel. Auf der anderen Seite besteht (v.a. auch bei Bauaufträgen) ein Bedürfnis, auf faktische Begebenheiten flexibel reagieren zu können, ohne eine aufwendige und zeitintensive Neuausschreibung durchführen „zu müssen“. Das Europarecht und der neu geschaffene § 365 BVergG 2018 versuchen zwischen diesen beiden Interessenssphären eine Mittellösung zu finden und eine Grenze für die Zulässigkeit von Vertragsänderungen zu ziehen, indem zwischen „wesentlichen“ und „unwesentlichen“ Vertragsänderungen unterschieden wird. Die Abgrenzungskriterien wurden in diesem Beitrag im Detail (kritisch) beleuchtet und ein konkretes Prüfschema für Auftraggeber vorgestellt. Als Faustregel kann gesagt werden, dass eine nachträgliche Änderung, die einen anderen Bieterkreis angesprochen hätte oder die einen Einfluss auf die Angebotsbewertung gehabt haben könnte, eine wesentliche Änderung darstellt, die zur Neuausschreibungspflicht führt. Ganz besondere praktische Bedeutung wird auch weiterhin von Beginn an vom Auftraggeber vorgesehenen „Änderungsklauseln“ zukommen. Da diese bereits bei der Erstellung der Angebote und Berechnung der Angebotspreise von den Bietern berücksichtigt werden können, kommt es, wenn die darin vorgesehenen Änderungen während der Vertragslaufzeit tatsächlich schlagend werden, zu keiner nachträglichen Wettbewerbsverzerrung und damit keiner Neuausschreibungspflicht. Die Änderungsmöglichkeit und die Modalitäten ihrer Durchführung müssen aber klar, präzise und eindeutig formuliert sein sowie Angaben zu Umfang / Art der möglichen Änderungen enthalten und bei der Berechnung des Auftragswerts berücksichtigt worden sein. Auftraggeber sollten daher (bereits vor Beginn des Vergabeverfahrens) bei der Gestaltung der Ausschreibungsunterlagen besonders darauf Bedacht nehmen, mögliche Änderungen des konkreten Auftrags so gut wie möglich zu antizipieren und im Vertragsentwurf entsprechende Mechanismen verankern. Ganz generell ist öffentlichen Auftraggebern unbedingt zu empfehlen, sämtliche Änderungen (deren Inhalt und Wert samt Prüfung und Begründung der jeweils erforderlichen Voraussetzungen) möglichst genau und nachvollziehbar zu dokumentieren. Das Vergaberecht endet nämlich (aus guten Gründen) nicht im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses mit dem Zuschlagsempfänger.

46 Änderungen von öffentlichen Aufträgen während ihrer Laufzeit

46.9

683

Literaturverzeichnis

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684

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Oppel, Albert (2019a). Die ÖNORM B 2110 und das neue BVergG 2018 – „Nachträgliche Vertragsänderungen“– Ausgewählte Themen zur ÖNORM B 2110 – Teil 1. In: ZVB – Zeitschrift für Vergaberecht und Bauvertragsrecht, Heft 3, März 2019. Seite 127-132. Wien. Manz Verlag. (ISSN 2077-849X) Oppel, Albert (2019b). Die ÖNORM B 2110 und das neue BVergG 2018 – „Nachträgliche Vertragsänderungen“ – Ausgewählte Themen zur ÖNORM B 2110 – Teil 2. In: ZVB – Zeitschrift für Vergaberecht und Bauvertragsrecht, Heft 4, April 2019. Seite 172-176. Wien. Manz Verlag. (ISSN 2077-849X) Oppel, Albert (2019c). Die ÖNORM B 2110 und das neue BVergG 2018 – „Nachträgliche Vertragsänderungen“ – Ausgewählte Themen zur ÖNORM B 2110 – Teil 3. In: ZVB – Zeitschrift für Vergaberecht und Bauvertragsrecht, Heft 5, Mai 2019. Seite 215-228. Wien. Manz Verlag. (ISSN 2077-849X) Pfannkuch, Benjamin (2016). Vertragsänderungen während der Vertragslaufzeit nach § 132 GWB n. F. In: Zeitschrift Kommunaljurist – KommJur, Heft 12, Dezember 2016. Seite 448-452. Baden-Baden. Nomos Verlag. (ISSN 1613-0235) Pünder, Hermann; Buchholtz, Gabriele (2016a). Einführung in das Vergaberecht (Teil 1) – Rechtsgrundlagen und Anwendungsbereich. In: JURA – Juristische Ausbildung, Band 38, Heft 11, Novmeber 2016. Seiten 1246-1256. Berlin. De Gruyter-Verlag. (ISSN 0170-1452) Pünder, Hermann; Buchholtz, Gabriele (2016b). Einführung in das Vergaberecht (Teil 2) – Auswahlkriterien, Verfahrensarten und Rechtsschutzmöglichkeiten. In: JURA – Juristische Ausbildung, Band 38, Heft 12, Dezember 2016. Seiten 1358-1373. Berlin. De Gruyter-Verlag. (ISSN 0170-1452) Pünder, Hermann; Schellenberg, Martin (2019). Vergaberecht – Handkommentar 3. Auflage. Baden-Baden. Nomos Verlag. (ISBN 978-3-8487-3043-8) Raschauer, Bernhard (2010). Grundriss des österreichischen Wirtschaftsrechts 3. Auflage. Wien. Manz Verlag. (ISBN 978-3-214-04769-6) Reidt, Olaf; Stickler, Thomas; Glahs, Heike (2018). Vergaberecht – Kommentar 4. Auflage. Köln. Verlag Dr. Otto Schmidt. (ISBN 978-3-504-40074-3) Reisner, Hubert (2018a). Was lässt sich am Vertrag noch ändern? In: RPA – Zeitschrift für Vergaberecht, Band 18, Heft 1, Februar 2018. Seite 1-3 Wien. Verlag Österreich. (ISSN 2218-2977) Reisner, Hubert (2018b). Vertragsänderung während der Laufzeit – Die vergaberechtliche Zulässigkeit von Vertragsänderungen nach dem Richtlinienpaket 2014 und seiner Umsetzung durch das BVergG 2018. In: RPA – Zeitschrift für Vergaberecht, Band 18, Heft 5, Oktober 2018. Wien. Seite 263-278. Verlag Österreich. (ISSN 2218-2977) Schröder, Mats; Trettnak-Hahnl, Katharina (2019). Zulässigkeit von nachträglichen Vertragsänderungen gemäß § 365 BVergG 2018. In: bau aktuell, 10. Jahrgang, Heft Nr. 1, Jänner 2019. Seite 22-26. Wien. Linde-Verlag Ges.m.b.H. (ISSN 2077-4737) Steindl, Andreas (2010). Leistungsänderungen nach Zuschlagserteilung. Dissertation. Wien. Universität Wien – Rechtswissenschaftliche Fakultät. Willenbruch, Klaus; Wieddekind, Kristina (2017). Vergaberecht – Kompaktkommentar, 4. Auflage. Köln. Wolters Kluwer Deutschland GmbH. (ISBN 978-3-8041-4291-6)

47

Serienmängel – immer dasselbe Problem!

RA Dr. jur. Ralf Steding Honorarprofessor an der Technischen Universität Darmstadt Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbB Stadttor 1 40219 Düsseldorf www.kapellmann.de [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_47

686

47.1

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Abstract

Serienmängel sind eine besondere Form von Mängeln im Werkvertragsrecht. Es sind solche Mängel, die an einer Anzahl von wiederholt verbauten Bauteilen oder Komponenten gleicher Art auftreten. Das Gesetz kennt sie nicht, die Vertragspartner eines Werkvertrages sind aufgerufen, sinnvolle Regelungen zu treffen. Zur geeigneten vertraglichen Gestaltung einer Regelung bedarf es einer Definition dessen, was ein Serienmangel ist und einer Beschreibung der verschiedenen denkbaren Möglichkeiten der Mängelbeseitigung. Für die Auslösung der Rechtsfolgen, die auch in einem Austausch aller gleichen Bauteile, Komponenten etc. liegen kann, ist ein Schwellenwert von entscheidender Bedeutung. Das ist der Wert, ab dem wiederholt auftretende Mängel an gleichen Bauteilen, Komponenten etc. als Serienmangel zu qualifizieren sind und dann eben die Rechtsfolgen auslösen. Die Parteien haben es in der Hand, geeignete und der wirtschaftlichen Bedeutung angemessene Rechtsfolgen zu vereinbaren, diese reichen in der Regel von einer Beobachtung und Prüfung, über eine Ursachenanalyse bis hin zum Austausch von Teilen oder auch einer verlängerten Verjährungsfrist für Mängel.

47.2

Situationsanalyse

Serienmängel stellen für die Gestaltung von Werkverträgen, insbesondere Anlagenbauverträgen nach deutschem Recht, ein häufig anzutreffendes Problem dar. In Anlagenbauverträgen sind Regelungen unterschiedlichster Ausprägung zwar Standard, eine einheitliche Bewertung von dem, was Serienmängel sind und welche Folgen sie haben, gibt es allerdings nicht. Dieser Beitrag greift also ein Thema auf, das in der Praxis von Bedeutung ist aber nur punktuell in Literatur und Rechtsprechung betrachtet wird. Im Vordergrund wird die Frage stehen, was Serienmängel sind, wie man diese vertraglich definiert und wie man Regelungen zur Kontrolle und Beseitigung solcher Mängel rechtlich gestalten kann.

47.3

Serienmängel als Mängel im Werkvertragsrecht

Wer Werkverträge schließt, muss an Mängel und Mängelhaftung denken. Praktisch jede Rechtsordnung stellt die Frage, ob ein erstelltes Werk mangelfrei oder wenigstens im Wesentlichen mangelfrei ist. In praktisch jeder Rechtsordnung gibt es Verjährungsfristen und Mängel. Sie sind in der Baupraxis – neben dem Verzug und der Behinderung – das häufigste tatsächliche und rechtliche Problem.

47.3.1

Mängel

Im deutschen Werkvertragsrecht ist jede Abweichung des Leistungsist vom Leistungssoll ein Mangel.1) Maßgeblich ist der sogenannte subjektive Mangelbegriff, einfach gesprochen ist die Messlatte die Vereinbarung der Parteien. Die Parteien bestimmen das

47 Serienmängel – immer dasselbe Problem!

687

Leistungssoll und das Leistungssoll bestimmt die Vergütung. Wird nicht geleistet, was vereinbart ist, liegt ein Mangel vor. Es spielt im deutschen Werkvertragsrecht keine Rolle, ob zu viel, zu wenig, anders oder sonst nicht den Vorschriften entsprechend geleistet wird. Entscheidend ist die Abweichung vom vereinbarten Leistungssoll.2) Dabei sind die Vertragsparteien nicht etwa verpflichtet, alle Details im Leistungssoll festzulegen. Sind nicht alle Einzelheiten geplant, hat der Auftragnehmer nach den allgemein anerkannten Regeln der Technik zu bauen. Weicht er davon ab, ist dies wiederum ein Mangel, die allgemein anerkannten Regeln der Technik sind also im Werkvertragsrecht eine Art Standard, der gilt, wenn die Parteien nichts anderes vereinbaren.3) Ob ein Mangel vorliegt oder nicht, ist unabhängig von der Frage des Verschuldens. Es spielt mit anderen Worten überhaupt keine Rolle, ob das Leistungssoll fahrlässig oder gar vorsätzlich nicht erreicht wurde. Allein die objektive Abweichung vom Leistungssoll entscheidet darüber, ob ein Mangel vorliegt oder nicht. Das hört sich einfach an, dennoch ist ein Mangel nicht immer gleich ein Mangel. Dies gilt im Hinblick auf die Definition dessen, was nach dem Willen der Vertragsparteien ein Mangel sein soll, dies gilt im Hinblick auf die Feststellung von Mängeln und dies gilt (erst recht) im Hinblick auf die Beseitigung von Mängeln. Ist der Mangel eigentlich ein Problem der Tatsächlichkeiten (nämlich der Symptome, physikalischen Gegebenheiten, vielleicht der optischen Eindrücke) ist auch die rechtliche Würdigung von Mängeln sehr unterschiedlich und teilweise umstritten. In der Praxis entscheiden sich übrigens Rechtstreitigkeiten, die Mängel zum Gegenstand haben, zum ganz überwiegenden Teil an der Frage, ob überhaupt ein Mangel vorliegt. Ist diese Frage geklärt, liegt also ein Mangel vor, sind Fragen der Mängelrechte oft in Gesetz und Vertrag so genau geklärt, dass eine Rechtstreitigkeit schnell befriedet oder entschieden werden kann. Freilich gibt es formale Hürden, z.B. Fristsetzungen oder Mängelrügen, die gesetzeskonform zu nehmen sind. Die Kernfrage ist aber immer, liegt ein Mangel vor oder nicht.

47.3.2

Serienmängel

Die hier beschriebenen Probleme der Vielgestalt möglicher Mängel stellen sich erst recht beim sogenannten Serienmangel. Als Serienmängel werden solche Mängel bezeichnet, die wiederholt bei Bauteilen oder Komponenten gleicher Art auftreten. Werden gleiche Komponenten, gleiche Teile, gleiche Materialien in einem Bauvorhaben mehrfach verwendet und zeigt sich eine systematische Schwäche eines Bauteils, einer Komponente etc., geht man von Serienmängeln aus und es gilt gleichzeitig der Anschein, dass auch alle anderen Bauteile, Komponenten etc. einen gleichen Mangel tragen.4) Davon zu unterscheiden sind wiederkehrende Mängel, also solche, die an ein und demselben Bauteil, Komponente etc., mehrfach auftreten. Das ist auch eine „Serie“ und das ist auch besonders unangenehm, muss aber von den Serienmängeln differenziert werden, weil nicht in jedem Falle die Vermutung zu Grunde liegt, dass auch andere Bauteile, Komponenten etc. die gleichen Mangelsymptome tragen. Auch hier können freilich die Parteien definieren, dass ein (mehrfach) wiederkehrender Mangel als Serienmangel gilt. 1) 2) 3) 4)

Vgl. Raab (2016), § 633 passim. Vgl. Moufang/Koos (2018), § 633 BGB, Rn. 11. Vgl. Moufang/Koos (2018), a.a.O., Rn. 23. OLG Düsseldorf (2014).

688

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Betrachten wir die Definition von Serienmängeln etwas genauer: Serienmängel werden sprachlich als Mängel betrachtet. Tatsächlich ist es aber so, dass Mängel, also Abweichungen vom Leistungssoll, nur bei einem Teil von Bauteilen, Komponenten etc. auftreten und nur hinsichtlich dieser eine Abweichung des Leistungsist festzustellen ist. Im Übrigen sind alle anderen Bauteile, Komponenten etc. ohne jedes Mangelsymptom. Sind sie deshalb mangelfrei? Das deutsche Werkvertragsrecht kennt den Begriff des Serienmangels nicht. Alle Mängel werden gleich behandelt. Tritt ein Mangelsymptom auf und ist dieser Mangel gerügt worden, muss ein Mangel beseitigt werden, wenn eine Abweichung vom Leistungssoll vorliegt und die Verjährungsfrist für Mängel noch nicht abgelaufen ist. Man könnte bei Serienmängeln problemlos dieses Konzept immer wieder anwenden und fragen, liegt eine Abweichung vom Leistungssoll vor, ist diese Abweichung gerügt worden und ist die Verjährungsfrist für Mängel noch nicht abgelaufen? Dieses Wiederholungsproblem findet sich im Werkvertragsrecht, immer dann, wenn eben eine größere Anzahl gleicher Bauteile, Komponenten etc. verwendet wird. Dies ist im klassischen Hochbau ohne weiteres möglich, beispielsweise bei immer wieder gleichen Fensterteilen oder Beton-Fertigteilen. Insbesondere ist dieses Problem aber im Anlagenbau relevant. Dort werden oft Bauteile, Komponenten etc. in großer Zahl an gleicher Stelle verbaut. Man kann sich vorstellen, dass bei einem Offshore-Windpark eben in 80 Anlagen auch 80 Getriebe mit jeweils gleichen beweglichen Teilen verbaut werden, von denen viele zum Versagen der jeweiligen Anlage – und dann aller 80 Anlagen – führen können.5) Die Figur der Serienmängel entstammt eigentlich dem Kaufrecht. Serienmängel sind dort Mängel (oder Fehler) die alle Güter einer Produktionscharge betreffen oder betreffen können.6) Für Auftraggeber ist daher von vitalem Interesse zu regeln, was ein Serienmangel ist und was passiert, wenn ein Serienmangel festgestellt wird. In der Praxis lassen sich zahlreiche unterschiedliche Vertragsgestaltungen ausmachen. Prüfen wir diese unterschiedlichen Regelungsmöglichkeiten etwas genauer.

47.4

Serienmangel als vertragliche Gestaltungsaufgabe

Es ist Aufgabe der Vertragsparteien, Chancen und Risiken in einem Vertrag angemessen zu verteilen. Im Hinblick auf das Phänomen der Serienmängel führt das zu einer Reihe von Fragen, die in einem Vertrag geeignet beantwortet werden müssen. Was ist überhaupt ein Serienmangel und wie wird dieser festgestellt? Daraus ergeben sich schon Unterfragen: Was ist eine Serie, wann sind also Teile „gleicher Bauart“ oder „gleiche Komponenten“ betroffen. Ferner ist zu klären, wann ein einzelner Mangel oder mehrere Mängel als ein „Serienmangel“ zu werten sind, also welche Auslösungsgröße es gibt. Als weitere Frage ergibt sich bei Vorliegen eines Serienmangels, welche Maßnahmen erforderlich sind, um den Mangel festzustellen oder zu beobachten. Als letzte Frage ergibt sich, wie Serienmängel zu beseitigen sind und ob es für die Beseitigung von Serienmängel möglicherweise Grenzen gibt.

5) 6)

Vgl. Knütel (2015), Rn. 101-110. Vgl. Leidig (2016), § 651, Rn. 101.

47 Serienmängel – immer dasselbe Problem!

689

Bei der Beantwortung der Fragen ist für die Vertragsgestaltung die gesetzliche Regelung der Ausgangspunkt. Da bekanntlich im deutschen Werkvertragsrecht der Serienmangel nicht definiert ist, müssen wir also mit der Mangel-Definition arbeiten und daraus Lösungsstrategien entwickeln.

47.4.1

Serie

Jede Abweichung von den im Vertrag vereinbarten Leistungen stellt einen Mangel dar. Dies können Beschaffenheiten sein, dies können aber auch Abweichungen von den allgemein anerkannten Regeln der Technik sein, die hier nicht jeweils detailliert aufgelistet werden müssen. Ein Serienmangel kann dann vorliegen, wenn ein Mangel an einem Bauteil oder einer Komponente etc. festgestellt wurde und diese Bauteile oder Komponenten etc. mehrfach verbaut wurden. Für den „Serien“-Mangel ist dann relevant, wie eine „Serie“ definiert wird. Wann liegen also gleiche Bauteile oder gleiche Komponenten etc. vor, für die über die Mängelhaftung hinausgehende Folgen definiert werden sollen? Die Aufgabe der Vertragsgestalter ist es, möglichst genau im Vertrag zu definieren, was Teile gleicher Bauart oder gleiche Komponenten sind. Auch dazu gibt es im Gesetz keine Definition und auch die Rechtsprechung kann sich dazu nicht verbindlich festlegen oder gar Vorgaben machen, weil die Vielgestaltigkeit der Lebenssachverhalte eine solche Vorgabe schlicht nicht erlaubt.7) Die Parteien eines Vertrages haben es also in der Hand zu definieren, was „Teile gleicher Bauart“ oder „gleiche Komponenten“ sind, und so zu definieren, was eine Serie sein soll. In der Praxis findet man oft nur ungenügend ausgebildete Definitionen. Idealerweise wird man in einem Vertrag festlegen, wie Bauteile oder Komponenten etc. abgegrenzt werden, also beispielsweise alle Komponenten eines bestimmten Produkts oder einer bestimmten Produktfamilie, gegebenenfalls auch eines Herstellers. Möglich ist auch, die jeweiligen Funktionen der Bauteile oder Komponenten zu beschreiben also beispielsweise alle Balkon-Geländer, alle Kabelmuffen oder alle Getriebeaufhängungen. Die für eine rechtliche Umsetzbarkeit der Klausel entscheidende Qualität bekommt sie erst dann, wenn „gleiche Bauart“ oder „gleiche Komponenten“ möglichst genau, insbesondere für einen Dritten nachvollziehbar, definiert ist. Idealerweise geht man auf Herstellerbezeichnungen, Produktbezeichnungen/Identifikationsnummern oder Vergleichbares zurück, um diese „gleichen Bauteile/gleichen Komponenten“ jeweils identifizieren zu können. Die Identifikation ist nämlich notwendig, um später die Rechtsfolgen von Serienmängeln auf diese gleichen Bauteile und gleichen Komponenten zu beziehen. Wenn wir wissen, was gleiche Bauteile oder gleiche Komponenten etc. sind, ist die Frage der Auslösungsgröße zu beantworten. Wann gilt also ein einzelner Mangel oder wann gelten mehrere Mängel als ein „Serienmangel“? In Verträgen ist festzulegen, ab welcher Anzahl von Mängeln innerhalb der soeben definierten Serie („Teile gleicher Bauart/gleiche Komponenten“) – über die Rechtsfolgen des Mangels hinaus – die Rechtsfolgen eines Serienmangels gelten sollen. Hier gilt es in Verträgen typischerweise, bestimmte Prozentsätze festzulegen, also von einer Auslösungsgröße von „X % Mängeln an Teilen gleicher Bauart oder gleichen Komponenten“ zu sprechen. Auch hierfür gibt weder das Gesetz eine Vorgabe, noch diktieren bestimmte Erfahrungen, was die richtige Auslösungsgröße ist.8) 7) 8)

Vgl. OLG München (2009), schon bei einem Mangel Auslösung eines Serienfehlerverdachts. Vgl. Knütel (2015), der Vorschläge dazu macht.

690

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Die Vertragsparteien müssen gemessen an der Mangelwahrscheinlichkeit, des Umfanges der Teile gleicher Bauart/gleicher Komponenten aber auch gemessen an den Folgen des Mangels, also beispielsweise des erforderlichen Austausches aller Teile, eine sinnvolle und vertragsindividuelle Größe festlegen, die Chancen und Risiken angemessen verteilt.9) Ein Serienmangel liegt vor, wenn aus einer definierten Gruppe von gleichen Bauteilen oder gleichen Komponenten etc. eine Anzahl dieser Einzelkomponenten mangelhaft sind. Als einschränkende Definition des Serienmangels wäre denkbar, dass an den jeweiligen gleichen Bauteilen, Komponenten etc. auch der gleiche Mangel (die gleichen Mangelsymptome) festgestellt werden muss. Ohne weiteres ist möglich, dass bei gleichen Komponenten, beispielsweise einem Ventil, der Schließmechanismus nicht mehr funktioniert, bei einem anderen die Verdrahtung der Steuerung fehlerhaft ist. Die Vertragsparteien sollten also vereinbaren, ob jeder wie auch immer geartete Mangel als Mangel im Rahmen der Auslösungsgröße zählt oder ob (nur) Mängel gleicher technischer Art oder gleicher Symptome gezählt werden. Mangel ist also nicht gleich Mangel, was bei der Definition der Auslösungsgröße relevant sein kann. Die Vertragsparteien können auch vereinbaren, dass eine erweiternde Definition gilt. Möglich ist eine Vereinbarung, die Mängel an gleichen Bauteilen, Komponenten etc. auch bei einer Anzahl von vergleichbaren (zu benennenden) Projekten auftreten. So ist es möglich, dass Standardkomponenten wie beispielsweise Turbinengetriebe in einer Windenergieanlage nicht nur in einem Windpark verbaut werden, sondern zuvor auch in anderen verbaut sind. Ist bei diesen ein Serienmangel festgestellt worden, können die Parteien vereinbaren, dass ein solcher Serienmangel auch für ihre vertraglichen Vereinbarungen als Serienmangel gelten soll. Der Mangel muss also gar nicht festgestellt werden, er wird fingiert.10)

47.4.2

Konsequenzen

Die Konsequenz des Vorliegens eines Serienmangels ist, dass Beseitigungsmaßnahmen nicht nur für die Bauteile, Komponente etc. gelten, an denen ein Mangelsymptom festgestellt wurde, sondern die Mängelbeseitigungsmaßnahmen an allen Bauteilen, Komponenten etc., die als Teil der Serie definiert wurden, auszuführen sind. Von den Mängelbeseitigungsmaßnahmen sind also auch solche Teile betroffen, die nicht mangelhaft oder noch nicht mangelhaft sind. Wie ist das rechtlich zu begründen? Nach deutschem Recht sind Mängel nicht nur die nachgewiesene Abweichung der ISTvon der SOLL-Beschaffenheit, ein Mangel kann auch in einem Mangelverdacht liegen.11) Anknüpfend an die Definition des Serienmangels im Vertrag gilt also die gesamte „Serie“ als mangelhaft. Der Mangel erstreckt sich durch die Definition des Serienmangels im Vertrag selbst auch auf alle anderen Teile, für diese gilt eine – widerlegliche – Vermutung, dass diese ebenfalls mangelhaft sind. Ihnen haftet bei Überschreiten der Auslösungsgröße (also des jeweiligen vertraglich vereinbarten Prozentwertes) qua Vereinbarung ein Mangelverdacht an. Die Abweichung vom Leistungssoll muss also nicht vorliegen, sie ist nur anscheinlich bewiesen. Die Widerlegung des Anscheins ist Sache der Folgen dieser Feststellung, also 9)

10) 11)

Es macht offensichtlich keinen Sinn, bei 0,1 % der Beschädigungen von gleichen Komponenten den Austausch aller Komponenten zu verlangen, weil solche Einzelfehler ohne weiteres möglich sind und auch nur einen „Ausreißer“ darstellen können. Die Vertragsparteien müssen also die mit dem Verbau bestimmter Bauteile oder Komponenten bewerten, welche technischen Risiken damit einhergehen können. Vgl. Knütel (2015), Teil C, Rn. 110. BGH (1988).

47 Serienmängel – immer dasselbe Problem!

691

der Frage, ob der Auftraggeber Mängelrechte geltend machen kann oder ob der Auftragnehmer darlegen und beweisen kann, dass ein Mangel trotz des Anscheins eben nicht vorliegt.

47.4.3

Rechtsfolgen

Liegt ein Serienmangel vor, sind in der Vertragspraxis ganz unterschiedliche Regelungen anzutreffen. Die Konsequenzen können sich nicht allein nach dem Gesetzesrecht richten, weil eben nicht nur ein Mangel, sondern weil mehrere, zahlreiche Mängel (oder Verdachtsfälle) vorliegen. Grundsätzlich ist der Auftragnehmer bei Vorliegen eines Mangels nach dem (gesetzlichen) Werkvertragsrecht berechtigt und verpflichtet, zunächst Nacherfüllungsleistungen im Hinblick auf den Mangel zu erbringen. Dies funktioniert aber nicht für den Serienmangel: Hinsichtlich eines Teils haben wir bekanntlich festgestellt, dass tatsächlich Mängel entstanden sind und diese müssen natürlich auch beseitigt werden. Das Problem bildet dabei die (ungleich größere) Gruppe der Bauteile, Komponenten etc., hinsichtlich derer nur ein Mangelverdacht besteht. Daran können keine Nacherfüllungsleistungen erbracht werden, ggf. ist dies auch nicht im Interesse des Auftraggebers, weil dieser einen Stillstand der Anlage vermeiden will. Die erste und im Hinblick auf die Konsequenzen schwächste Maßnahme wäre eine genauere Beobachtung der Mangelsymptome an den jeweiligen Komponenten und Bauteilen etc. Diese Beobachtungspflicht wird in der Regel für einen beschränkten Zeitraum vereinbart, in dem der Auftragnehmer verpflichtet wird, Bauteile bzw. Komponenten etc. einem Monitoring zu unterziehen und dort evtl. festgestellte Mangelsymptome in einem Bericht zusammenzufassen. Aus der Beobachtungsphase können sich weitere Folgen ergeben. Die Beobachtung eines errichteten Werks ist grundsätzlich vom Auftragnehmer nach der Abnahme nicht mehr geschuldet. Ausnahmsweise kann bei Vorliegen bestimmter Informationen oder Mangelaspekte (veröffentliche Mangelbilder bei gleichen Bauteilen in anderen Projekten) die Beobachtung eines Werks als Nebenpflicht noch geschuldet sein. Man kann zusätzlich Wartungs- oder Inspektionsverträge vereinbaren, die Entsprechendes vorsehen. Eine Verpflichtung zur Produktbeobachtung, wie sich dies aus dem Kaufrecht ergibt, ist allerdings nicht in der Dichte geschuldet. Mit der Abnahme gehen u.a. Gefahrund Beweislast über und es ist Sache des Auftraggebers, bei eventuellen Mängeln die Mangelsymptome festzustellen, und diese in Form einer Mangelrüge gegenüber dem Auftragnehmer geltend zu machen. Als zweite typische Maßnahme ist eine Prüfung von einer zu vereinbarenden Anzahl von Bauteilen oder Komponenten etc. zu nennen. Entweder der Auftragnehmer oder nach Vereinbarung der Parteien auch eine dritte Person, beispielsweise ein technischer Sachverständiger, überprüfen die Funktionsweise von Bauteilen und Komponenten etc. und versuchen festzustellen, ob auch diese bereits Mangelsymptome zeigen oder solche Mangelsymptome zu erwarten sind. Die Maßnahme der Prüfung soll insbesondere erlauben, auszutauschende Bauteile bzw. Komponenten etc. zu identifizieren und zu vermeiden, dass alle Bauteile ausgetauscht werden müssen. Als dritte Maßnahme ist die detaillierte Ursachenanalyse oder Root-Cause-Analysis als typischer Rechtsbehelf bei Vorliegen eines Serienmangels zu vereinbaren.12) Eine Ursachenanalyse wird typischerweise vom Auftragnehmer nicht geschuldet. Tritt ein 12)

Vgl. Steding/Wittemeier/Liauw (2017), S. 214.

692

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Mangel auf, ist er verpflichtet, den Mangel zu beseitigen oder die Kosten der Beseitigung durch Dritte zu zahlen oder sonst, je nach Wahl des Auftraggebers, etwa eine Minderung des Kaufpreises zu erdulden. Der Auftraggeber kann auch Schadenersatz wegen Mängeln, Aufwendungsersatz oder sogar einen Rücktritt geltend machen.13) Die detaillierte Ursachenanalyse soll im Hinblick auf das typische Serienmangel-Problem Abhilfe schaffen: Wird die Auslösegröße erreicht, soll der Auftragnehmer zunächst die Ursache des Mangels feststellen. Die Ursachenanalyse kennt das Werkvertragsrecht nicht, für den Auftraggeber wie für den Auftragnehmer ist aber eine Ursachenforschung deshalb von besonderem Interesse, weil beide Parteien weitergehende Rechtsfolgen, insbesondere Nacherfüllung aller von der Serie betroffenen Bauteile und/oder Komponenten freilich vermeiden wollen. Die Ursachenanalyse geht auch über die Prüfung einer Anzahl von Bauteilen oder nur die Beobachtung hinaus, weil sie eben die Ursache ermittelt und eine wesentlich genauere Prognose über einen möglichen weiteren Mangelverlauf ermöglicht. Die Ursachenanalyse wird dergestalt vereinbart, dass bei Vorliegen der Auslösegröße der Auftragnehmer binnen einer zu vereinbarenden Frist verpflichtet ist, die jeweils betroffenen Bauteile zu überprüfen und eine gutachterliche (sachverständige) Ursachenanalyse vorzulegen und – ggf. gemeinsam mit dem Auftragnehmer – zu überprüfen, ob weitergehende Maßnahmen, wie beispielsweise Tests etc. notwendig sind.14) Werden Ursachen des Mangels festgestellt, die auch ein Entstehen des Mangels an anderen Bauteilen oder Komponenten etc. derselben Serie erlauben würden, sind weitergehende Maßnahmen zu vereinbaren. Die Ursachenanalyse kann wiederum von den Parteien selbst oder von einem dritten Sachverständigen durchgeführt werden. Ist nach der Ursachenanalyse sicher ausgeschlossen, dass bei dem Vorliegen des jeweiligen Mangelbildes und der Ursache des Mangels weitere Mängel im Rahmen der jeweiligen Serie entstehen können, sind keine weiteren Maßnahmen notwendig. Die mangelhaften Bauteile bzw. Komponenten müssen freilich ausgetauscht werden, der Serienmangel ist eben immer noch ein Mangel. Ein mit Beobachtung, Prüfung oder Ursachenanalyse oft vereinbartes Mittel ist die Verlängerung der Verjährungsfrist für Mängel (Gewährleistungsfrist). Die Parteien vereinbaren häufig bei Vorliegen eines Serienmangels, dass sich die Gewährleistungsfrist um einen zu vereinbarenden Zeitraum, in der Regel zwischen 20 und 50 % der ursprünglichen Gewährleistungsfrist, verlängert, um sicher auszuschließen, dass nicht über die Zeit eine Mangelvertiefung erfolgt und unmittelbar nach Ablauf der Verjährungsfrist weitere Mängel entstehen, die den Auslösungswert erreichen. Eine solche verlängerte Gewährleistungsfrist ist ein typisches Mittel, um schwerwiegendere Maßnahmen, insbesondere den Austausch von weiteren Teilen zu verhindern. Auch dies ist, wie erwähnt, im Interesse des Auftraggebers, der hinderliche Mängelbeseitigungsmaßnahmen an seiner Anlage vermeiden will. Die in der Regel letzte zu vereinbarende Maßnahme bei Vorliegen eines Serienmangels wäre dann der Austausch aller Teile der Serie. Im Rahmen dieser Maßnahme werden eben nicht nur die von den jeweiligen Mängeln betroffenen Bauteile, sondern auch die nicht mangelbelasteten Teile der Serie ausgetauscht, weil an diesen ein Mangelverdacht anhaftet und ein konkreter Mangel (jederzeit) entstehen kann. Diese letzte Maßnahme, das zeigen die vorgehenden Maßnahmen von der Beobachtung bis zur Ursachenanalyse, soll nach Möglichkeit vermieden werden. Das ist auch im Interesse beider Vertragsparteien, denn zum einen ist der 13) 14)

Der Rücktritt ist freilich in der in Deutschland häufig vereinbarten VOB/B ausgeschlossen, das Bestandsinteresse geht dem Rückabwicklungsinteresse vor. Vgl. Steding/Wittemeier/Liauw (2017), S. 214f.

47 Serienmängel – immer dasselbe Problem!

693

Austausch aller Teile der Serie sehr teuer für den Auftragnehmer und auf der anderen Seite führt das in der Regel zu einer Betriebseinschränkung, insbesondere bei anlagenbaulichen Projekten, die der Auftraggeber in aller Regel vermeiden will. Ist diese Form der Nacherfüllung nicht erfolgreich, stehen dem Auftraggeber dann die weiteren Rechte der Minderung, der Ersatzvornahme, des Schadensersatzes oder des Aufwendungsersatzes bzw. des Rücktritts zu. Es versteht sich von selbst, dass bei Vorliegen eines nachgewiesenen Serienmangels diese Rechte alle Mängel betreffen, also die gesamte Serie. Eine Ersatzvornahme, der Tausch der Teile durch einen Dritten, würde dann auch die gesamte Serie erfassen. Die Kosten der unterschiedlichen Maßnahmen werden in Verträgen in der Regel nach dem Verursacher-Prinzip geteilt. Denkbar ist auch, dass der Auftragnehmer entsprechend den Regelungen der Mängelhaftung zunächst die Kosten auch der Analyse von Serienmängeln trägt und dann, sollte sich herausstellen, dass Maßnahmen nicht notwendig waren oder ein Mangel nicht vorliegt, der Auftraggeber diese Kosten seinerseits übernimmt. Die Vertragsparteien sind gut beraten, Kostenregelungen zu treffen. So ist auch bei Vorliegen erster Anzeichen von Mängeln nur schwierig eine Kostenvereinbarung zu treffen und es macht durchaus Sinn, zunächst eine Prüfung oder eine Ursachenanalyse durchzuführen, um größere Maßnahmen, wie den Austausch aller Teile zu vermeiden. Der Auftraggeber kann nämlich nach deutschem Recht den Austausch verlangen, der Mangelverdacht ist ein Mangel.15)

47.5

Aktuelle Trends

Der Serienmangel rückt zunehmend in den Fokus der Vertragsbearbeitung im Anlagenbau. Dies gilt auch deshalb, weil im Bereich des Anlagenbaus Banken und Versicherungen diese Fragen kennen und im Rahmen ihrer Bewertungen entsprechende Serienschäden-Klauseln erwarten. Für den Financier eines Windparks beispielsweise ist ein Serienmangel an allen 80 Getrieben ein ganz erhebliches Problem, welches durch geeignete Maßnahmen eingeschränkt werden muss. Dies gilt entsprechend für Betriebsunterbrechungsversicherungen, die nach Möglichkeit nur dann in Anspruch genommen werden sollen, wenn zuvor die Maßnahmen der Mängelbeseitigung ausgeschöpft sind. Es wird also in der Zukunft mehr Verträge geben, in denen der Begriff „Serienmangel“ zu finden ist. Eine detaillierte vertragliche Regelung mit abgestuften Konsequenzen ist für die Vertragsparteien in jeder Hinsicht sachgerecht.

47.6

Zusammenfassung

Der Serienmangel ist ein bekanntes aber in der vertraglichen Realität nicht immer gut abgebildetes Phänomen. Serienmängel sind solche Mängel, die wiederholt an Bauteilen oder Komponenten gleicher Art auftreten. In Verträgen wird typischerweise ein Schwellenwert (Auslösegröße) vereinbart, ab welchem nicht nur für die nachweislichen mangelhaften Bauteile, sondern auch für die nicht mangelhaften Bauteile bestimmte Rechtsfolgen vorgesehen sind. 15)

Vgl. BGH (1988).

694

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Diese Rechtsfolgen werden je nach Belastung der Parteien abgestuft. Sie beginnen in der Regel bei einer Beobachtung der Bauteile bzw. Komponenten, dann folgt eine Prüfpflicht, danach eine Root-Cause-Analysis (auch durch Dritte) bis hin zum Austausch der gesamten Serie aller Bauteile und Komponenten. Die Parteien sind gehalten, eine Kostenregelung zu den unterschiedlichen Rechtsfolgen zu treffen, die sich in der Regel am Verursacherprinzip orientieren wird.

47.7 Aufl.

Abkürzungsverzeichnis ......................... Auflage

evtl.

......................... eventuell

BGH

......................... Bundesgerichtshof

OLG

......................... Oberlandesgericht

Rn.

......................... Randnummer

47.8

Judikaturverzeichnis

OLG Düsseldorf, Urteil vom 14.03.2014, I 22 U 100/13, BeckRS 2014, 22422 OLG München, Beschluss vom 25.09.2008, 32 WX 79/08, NZBau 2009, 317 ff. BGH, Urteil vom 23.11.1988, VII ZR 247/87, NJW 1989, 218

47.9

Literaturverzeichnis

Knütel, Christian (2015). Projektverträge für Offshore Windkparks. In: Rechtshandbuch Anlagenbau – Praxisfragen internationaler und nationaler Anlagenbauprojekte – Teil C: Besondere Vertragstypen und Projektstrukturen im Anlagenbau. Seite 465-494. Hrsg.: Bock, Yves; Zons, Jörn. München. Verlag C. H. Beck. (ISBN 978-3-40664-465-8) Leidig, Alexander (2018). § 651 BGB, (heute § 650 BGB) „Anwendung des Kaufrechts“. In: Beck‘sche Kurzkommentare – Band 60 – Privates Baurecht – II. Teil – Kommentar §§ 631ff. BGB – 3. Auflage. Seite 1405-1444. Hrsg.: Messerschmidt, Burkhard; Voit,Wolfgang. München. Verlag C. H. Beck. (ISBN 978-3-40671-075-9) Moufang, Oliver; Koos, Oliver (2018). § 633 – Sach- und Rechtsmangel. In: Beck‘sche Kurzkommentare – Band 60 – Privates Baurecht – II. Teil – Kommentar §§ 631ff. BGB – 3. Auflage. Seite 916-935. Hrsg.: Messerschmidt, Burkhard; Voit,Wolfgang. München. Verlag C. H. Beck. (ISBN 978-3-40671-075-9) Raab, Thomas (2016). § 633. In: Bürgerliches Gesetzbuch – BGB Band 1/2 und 2/2 – Bürgerliches Gesetzbuch Schuldrecht – 3. Auflage. Hrsg.: Dauner-Lieb, Barbara; Langen, Werner. Baden-Baden. Nomos Verlagsgesellschaft. (ISBN 978-3-84871-102-4) Steding, Ralf; Wittemeier, Martin; Liauw, Simona (2017). Einführung in das Recht des Anlagenbaus. Köln. Werner-Verlag (ISBN 978-3-8041-5146-8)

48

Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Matthias Sundermeier Leiter des Fachgebiets Bauwirtschaft und Baubetrieb Technische Universität Berlin Gustav-Meyer-Allee 25, TIB1-B6 13355 Berlin www.bau.tu-berlin.de/bauwirtschaft [email protected] Philipp Beidersandwisch, M.Eng. Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Fachgebiets Bauwirtschaft und Baubetrieb Technische Universität Berlin Gustav-Meyer-Allee 25, TIB1-B6 13355 Berlin www.bau.tu-berlin.de/bauwirtschaft [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_48

696

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

48.1

Abstract

Die Realisierung von – insbesondere öffentlichen – Bauvorhaben steht regelmäßig wegen erheblicher Kostenüberschreitungen in der Kritik. Seit einiger Zeit werden deshalb Maßnahmen diskutiert, die zu einer höheren Kostenstabilität der Bauprojektabwicklung beitragen sollen. Überraschend wird der Ansatz des Zielkostenmanagements in diesem Kontext jedoch nicht näher in Betracht gezogen, obgleich er unter dem Begriff des ,Target Costings‘ bzw. des ‚Target Value Designs‘ inzwischen auch in der Bauwirtschaft bekannt und in einigen europäischen und außereuropäischen Ländern verbreitet ist. Der Beitrag beleuchtet vor diesem Hintergrund die grundlegende Organisation wie auch die Vertragsformen des Zielkostenmanagements und beleuchtet beispielhaft die Praxis in Ländern, in denen Zielkostenverträge bereits etabliert sind. Anschließend erfolgt eine Analyse der Strukturelemente bauvertraglicher ZielkostenVergütungsmodelle mit dem Ziel einer normativen Systematisierung der marktgängigen Erscheinungsformen. Hieran anknüpfend wird das Potenzial des Zielkostenmanagements zur Verbesserung der Kostenstabilität und Kosteneffizienz bei der Realisierung komplexer Großbauvorhaben anhand von empirischen Erkenntnissen untersucht. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Abriss über Entwicklungen, die für die Einführung bzw. Verbreitung des Zielkostenmanagements von Bauprojekten aktuell in Europa und in Deutschland zu beobachten sind.

48.2

Situationsanalyse

Die deutsche Bauwirtschaft erfreut sich aktuell eines lange nicht gekannten Aufschwungs, der nun schon über ein Jahrzehnt anhält und inzwischen Züge der Hochkonjunktur angenommen hat. Private und staatliche Investitionsmittel fließen reichlich, die Auftragsbestände der ausführenden Unternehmen erreichen aktuell historische Höchstwerte und die Baupreise klettern in die Höhe. Viele Bauherren klagen angesichts dieser Entwicklung über gravierende Kostensteigerungen ihrer Projekte.

48.2.1

Mangelnde Kostensicherheit öffentlicher Bauvorhaben

Besonders betroffen von diesem Phänomen sind Bauprojekte der öffentlichen Hand: Für den deutschen Bundeshochbau kam das zuständige Ministerium bei einer internen Untersuchung von 300 Projekten aus den Jahren 2000 bis 2015 zu der Erkenntnis, dass der vorgegebene Kostenrahmen bei über 40 % der Bauvorhaben deutlich überschritten wurde. Die gesteckten Terminziele konnten lediglich bei knapp 65 % der Projekte ‘annähernd erreicht’ werden.1) In einem Bericht an den Bauausschuss des Bundestags wies das Ministerium zum Stichtag 31.12.2013 für 26 von 40 laufenden zivilen Großen Bundesbaumaßnahmen mit Baukostenvolumina von jeweils > 10 Mio. € z.T. beträchtliche Kostensteigerungen aus, die sich zum damaligen Zeitpunkt auf insgesamt rund 1 Mrd. € summierten.2) Eine Momentaufnahme, denn seither sind die Kosten bei so manchem Projekt noch weiter gestiegen: Der Erweiterungsbau des Pergamonmuseums etwa verteuerte sich von damals geschätzten 273 Mio. € auf inzwischen prognostizierte 1) 2)

Vgl. BMUB (2016), S. 4 So BMUB (2014), S. 1 ff.

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

697

477 Mio. €. Auch die Kosten für den Anbau des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses für den Deutschen Bundestag stiegen seither von 195 Mio. € auf nunmehr veranschlagte 249 Mio. €. Bereits für das Jahr 2001 hatte der Bundesrechnungshof (BRH) in einer groß angelegten Untersuchung von rund 5.840 Bauaufträgen im Bundesfernstraßenbereich mit einem Gesamtauftragsvolumen von rund 3 Mrd. € festgestellt, dass lediglich ein Viertel der Aufträge innerhalb der Auftragssumme abgerechnet wurde – bei 29 % der Aufträge kam es während der Bauausführung zu Kostensteigerungen von 15 % und mehr; bei jedem achten Bauauftrag (13 %) fielen sogar Mehrkosten von über 30 % der Auftragssumme an.3) Auch in der Folgezeit haben der BRH und die Rechnungshöfe der deutschen Bundesländer vielfach Kostensteigerungen bei öffentlichen Verkehrsinfrastrukturprojekten gerügt: Über den Berichtszeitraum der Jahre 2000 bis 2016 wurden bei insgesamt 117 Projektprüfungen z.T. erhebliche Überschreitungen der geplanten Investitionskosten festgestellt. Für 78 dieser Bauvorhaben ließen sich die Mehrkosten quantifizieren – sie lagen zwischen 0,2 und 156 %, die mittlere Kostensteigerung der Projekte betrug 38,5 %.4) Betroffen waren sowohl Bauvorhaben im Fern-, Landes- und Kommunalstraßenbau als auch Schienenverkehrs- und Wasserstraßenprojekte verschiedenster Investitionsvolumina. Gravierende Kostenüberschreitungen erscheinen mithin nicht nur als Problem der jüngeren Marktpreisentwicklungen oder der besonderen Risiken komplexester Megaprojekte. Sie treten vielmehr konjunkturunabhängig und in sämtlichen Sparten des öffentlichen Bauens, bei einem signifikanten Anteil aller Vorhaben und somit häufig bereits bei Projekten mittlerer Größe und Komplexität auf. Es wäre deshalb deutlich zu kurz gesprungen, als Ursache für diese Misere stets und allein die durchaus landauf, landab zu beklagende Unsitte politisch ‚geschönter‘ bzw. schlichtweg irreführender Kostenermittlungen auszumachen.5) Ganz offenbar krankt die Realisierung öffentlicher Bauvorhaben bereits im Kern an strukturellen Defiziten der Kostenplanung und des Kostenmanagements.

48.2.2

Vorschläge zur Verbesserung der Kostenstabilität

Auch bei den für das Bauen zuständigen Bundesministerien wird das Problem unzureichender Kostensicherheit seit einiger Zeit verstärkt diskutiert – sowohl die vom BMVI initiierte ‚Reformkommission Bau von Großprojekten‘ als auch die Initiative ‚Reform Bundesbau‘ haben sich mit der Frage befasst, wie die Kostenstabilität der Bauprojektrealisierung zu verbessern sei. Die insoweit entwickelten Vorschläge richten sich zunächst auf Verbesserungen im System der praxisüblichen Kostenplanung, wie z.B. den Aufbau hinreichend differenzierter Kostendatenbanken, eine transparente Kostendarstellung in der Planung, eine zielgerichtete Kostenerfassung in der Bauausführungsphase6) und schließlich die haushaltsmäßige Veranschlagung von Investitionskosten auf Basis einer bis zur Entwurfsreife vertieften Projektplanung7). Weiterhin sollen die mit der Realisierung eines Bauvorhabens verbundenen Kostenrisiken zukünftig systematisch und transparent erfasst, in den Kostenermittlungen ausgewiesen und auch in den Haushalten veranschlagt werden.8) 3) 4) 5) 6) 7)

Vgl. BWV (2003), S. 7 und 22 Der entsprechende Median lag bei 29,7 %. Vgl. zu diesem Phänomen etwa Flyvbjerg et al. (2003), S. 15ff., und Freytag (2012), o.A.d.S. Vgl. BMVI (2015), S. 28f. Vgl. BMVI (2015), S. 30, und BMUB (2016), S. 14

698

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Zu der Frage, wie die Vorschläge zum Risiko- und Kostenmanagement in die tägliche Projektpraxis umgesetzt werden sollen, bleibt insbesondere das Papier ‚Reform Bundesbau‘ bemerkenswert vage. An den althergebrachten Prinzipien des Projektmanagements und an der traditionell strikten Trennung von Planung und Bauausführung soll – so liest sich das BMUB-Papier – nicht gerüttelt werden.9) Die Kommission Großprojekte hingegen postuliert einen integralen Planungsansatz, bei dem der Projektträger frühzeitig ein interdisziplinäres Projektteam installiert, „[…] das Informationen zum Stand der Planung sowie zu Kosten, Risiken und Zeitplanung regelmäßig austauscht und alle Planungsbestandteile detailliert ermittelt und kontinuierlich untereinander abstimmt.“10) Die Kommission vermerkt dazu explizit: „Es kann sinnvoll sein, bauausführende Unternehmen in den Planungsprozess einzubeziehen.“ 11) Nicht angesprochen wird allerdings ein in diesem Kontext durchaus naheliegender Ansatz für das Kostenmanagement, nämlich die ‚Zielkostenplanung‘ bzw. das ‚Zielkostenmanagement‘, das inzwischen bereits seit gut 20 Jahren in der Bauwirtschaft als Instrument für eine verbesserte Kosteneffizienz der Projektabwicklung diskutiert wird. Das Konzept basiert auf dem ursprünglich für die stationäre Serienfertigung entwickelten ‚Target Costing‘12); sein Leitmotiv ist die Entwicklung von Produkten nach Maßgabe aus ihrem möglichen Vermarktungspreis abgeleiteter Zielkosten. Anders als bei konventioneller Produktentwicklung werden die Kosten des Produkts also nicht als Resultat, sondern als Benchmark und Steuergröße des Entwicklungsprozesses ermittelt. Es geht beim Target Costing also nicht darum, zu welchen Kosten ein Produkt herzustellen ist, sondern darum, welche Kosten im Hinblick auf eine erfolgreiche Vermarktung maximal für die einzelnen Komponenten des Produkts und dessen Gesamtherstellung zulässig sind. Das Zielkostenmanagement für Bauvorhaben orientiert sich eng an diesen Prinzipien: Zwar lässt sich ein ‚Marktpreis‘ angesichts des Unikatcharakters vieler Bauvorhaben und insbesondere aufgrund der fehlenden erwerbswirtschaftlichen Zielstellung öffentlicher Bauvorhaben häufig nicht ermitteln; eine Zielkostenvorgabe lässt sich dennoch aus dem Ergebnis der Wirtschaftlichkeitsuntersuchung herleiten, welche bei Investitionsvorhaben des Staates nach dem Haushaltsrecht stets gefordert ist. Die weitere Kostenplanung und steuerung erfolgt dann nach dem ‚Top-Down-Prinzip‘ durch Zielkostenspaltung auf die einzelnen Kostengruppen eines Bauvorhabens und die Umsetzung dieser Kostenvorgaben durch konstruktions-, technologie- und prozessorientierte Maßnahmen über den weiteren Planungs- und Ausführungsablauf.13) Dass in diesem Kontext explizit auch sämtliche Risiken transparent erfasst und systematisch verfolgt werden müssen, bedarf wohl keiner näheren Erörterung. Ein erfolgreiches Zielkostenmanagement verlangt zudem ganz zwangsläufig nach einer disziplinübergreifenden und integralen Planungs- bzw. Projektorganisation unter Einbezug aller maßgeblich an der Wertschöpfung eines Bauvorhabens beteiligten Akteure. Das von der Kommission Großprojekte geforderte ‚kooperative Planen im Team‘ würde insoweit einen geeigneten Rahmen hierfür schaffen, und auch die Vorschläge der Kommission zur Verbesserung des Risikomanagements ließen sich mit dem Konzept des Zielkostenmanagements ohne Weiteres sinnvoll verknüpfen. All dies könnte schließlich sogar einen Meilenstein für die Implementierung eines ‚echten‘ Building Information 8) 9) 10) 11) 12) 13)

So BMVI (2015), S. 38, und BMUB (2016), S. 12f. Vgl. dazu BMUB (2016), S. 8f. und S. 20 BMVI (2015), S. 8 BMVI (2015), S. 8 Vgl. dazu etwa Horvath (1993), S. 3 Vgl. dazu auch Gralla (2001), S. 40ff.

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

699

Management (BIM) bedeuten, das dann weit mehr wäre als lediglich eine 3D-Planung von Bauwerken, ebenfalls von der Kommission postuliert wird und über den Stufenplan Digitales Planen und Bauen bereits auf die ersten Schritte der Umsetzung gebracht wurde.

48.3

Zielkostenmanagement in der Bauwirtschaft

Angesichts der engen Verknüpfung mit den von der Reformkommission Großprojekte vorgeschlagenen Maßnahmen und auch angesichts der allfälligen Probleme mit der Kostensicherheit größerer Bauvorhaben überrascht es, dass der Ansatz des Zielkostenmanagements in den aktuellen Forderungs- und Maßnahmenkatalogen zur Verbesserung der Projekteffizienz bislang keinen Widerhall gefunden hat. Auch aus einem anderen Grund muss diese Tatsache verwundern: In vielen Ländern hat sich das Zielkostenmanagement nämlich bereits ganz selbstverständlicher Bestandteil der Bauprojektrealisierung etabliert – sowohl hinsichtlich der dafür erforderlichen Instrumente als auch im Hinblick auf eine geeignete vertragliche Gestaltung der projektspezifischen Leistungsbeziehungen:

48.3.1

Organisation des Zielkostenmanagements

Das Konzept des Zielkostenmanagements basiert – wie sämtliche Methoden des Kostencontrollings – nicht allein auf einer belastbaren Kostenermittlung und -kontrolle, sondern insbesondere auf der zielgerichteten Steuerung sämtlicher Planungsprozesse im Hinblick auf die Kostenauswirkungen der im Einzelnen getroffenen Planungsentscheidungen. Die Kostenermittlung dient insoweit einzig der monetären Bewertung dieser Entscheidungen, liefert originär aber keine Impulse für die Zielkosteneinhaltung. Der Mehrwert des Zielkostenmanagements resultiert vielmehr aus dem Einbezug der maßgeblichen Wertschöpfungspartner in eine disziplinübergreifende, integrale Planungsorganisation, die in aller Regel als Mehrphasenorganisation angelegt ist.

48.3.1.1

Integrale Planungsprozesse

Das Grundprinzip der Zielkostenplanung bzw. des Target Costing – in der Bauwirtschaft auch als Target Value Design bezeichnet14) – beruht auf einer fortlaufenden Bewertung möglicher Planungsalternativen im Hinblick auf den aus ihnen resultierenden Projektnutzen und dafür aufzuwendenden Kosten. Dies wiederum erfordert es ganz zwangsläufig, dass sämtliche an der Planung – und damit auch an der Nutzenstiftung und der damit einhergehenden Kostenentstehung – beteiligten Akteure in den Prozess des Kostenmanagements einbezogen werden müssen. Geboten ist deshalb eine disziplinübergreifende, ganzheitliche Planung des projektierten Bauvorhabens als Gesamtsystem. Erreicht werden soll nichts weniger als die bestmögliche Lösung der gestellten Planungs- und Bauaufgabe, und der Maßstab dafür ergibt sich aus der Erfüllung der vom Bauherrn bzw. von den Nutzern als Grundlage für die Planung festgelegten Anforderungen aus der Projektvorbereitung – konkret: aus der Bedarfsplanung, der Grundlagenermittlung und des ggf. damit verbundenen finanziellen Rahmens für das Bauvorhaben. Der Vorhabenträger muss insoweit folgende Eckdaten definieren:

14)

Vgl. dazu Zimina et al. (2012), S. 383

700

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

• Projektzielkatalog bzw. Projektzielmatrix mit Einzelgewichtung für Kosten-, Qualitätsund Terminziele; • Budgetvorgabe (z.B. Kostenrahmen); • (Vor-)Analyse des projektspezifischen Risikoprofils. Diese Eckdaten markieren das Aufgaben- und Handlungsfeld für alle weiteren Planungsschritte der Projektrealisierung. Sie geben nicht allein Aufschluss über die Projektanforderungen des Vorhabenträgers, sie skizzieren insbesondere auch das projektspezifische, kundenorientierte Wertschöpfungsprofil im Sinne des ‚Target-Value‘-Gedankens. Für das Zielkostenmanagement geht es deshalb darum, die für eine optimierte Lösungsfindung erforderlichen Akteure als ‚Wertschöpfungspartner‘ zeitgerecht in ein disziplinübergreifendes Planungsteam einzubinden. In aller Regel bedeutet dies eine weit frühere und insbesondere auch operativ engere Einbindung als bei konventionellen Projekten: Sequentielle Planungsprozesse mit punktueller Zusammenführung ‚fertiger‘ Teilergebnisse werden abgelöst durch eine integrale Planungsorganisation bereits auf der Prozessebene. Es findet damit eine weitaus häufigere Abstimmung aller Beteiligten statt, die ganz unvermeidlich neue Organisationsformen der Zusammenarbeit mit sich bringt: Das modellbasierte Planen mit der BIM-Methode und die Planungsbearbeitung in gemeinsamen Projektbüros – sog. ‚big rooms‘ – sind hier nur beispielhaft zu nennen und bilden zugleich die Basis für das Zielkostenmanagement: Eine möglichst frühzeitige, transparente, disziplinübergreifende Ermittlung und Fortschreibung sämtlicher Kosten eines Bauvorhabens wird – das liegt auf der Hand – über Vertrags- und Unternehmensgrenzen hinweg und im Rahmen konventioneller, punktueller ‚Meetings‘ regelmäßig scheitern. Es braucht deshalb ganz zwingend einen engen, regelmäßigen und möglichst ‚niederschwelligen‘ persönlichen Austausch, wie er erst in einem integrierten Projektteam entstehen kann. Das darin angelegte Potenzial für das Kosten- und Risikomanagement ist beträchtlich: Ein interdisziplinäres Value-Engineering erhöht nicht allein die Chancen für technischwirtschaftlich optimierte Planungslösungen im Sinne der Projektziele; die Erfahrungen aus dem Planungsprozess und aus den erzielten Ergebnissen geben allen Beteiligten einen deutlich besseren Aufschluss über das Leistungsvermögen und die Wertschöpfungsbeiträge der jeweils anderen Partner, als dies jemals im Rahmen einer konventionellen Projektrealisierung möglich wäre. Ein solches ‚Screening’ mindert die Risiken für den weiteren Projektablauf signifikant und erlaubt es zudem, ggf. ungeeignete Partner frühzeitig auszutauschen. All dies ist mit Blick auf das Zielkostenmanagement von ganz besonderer Bedeutung, denn die Zielkostenermittlung erfolgt – anders als bei konventioneller Projektabwicklung – in gemeinschaftlicher Bearbeitung durch alle Planungspartner. Erfasst werden die Basiskosten der Projektrealisierung – bestehend aus den Einzelkosten der zu erbringenden Leistungen sowie den projektspezifischen Gemeinkosten –; hinzu kommt ein Teuerungsbudget sowie Budgets für identifizierte und für unerwartete Risiken. Bestandteil der Zielkosten sind schließlich auch die Geschäftsgemeinkosten- sowie Wagnis- und Gewinnansätze aller Projektpartner (vgl. Abb. 48-1).

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

Abb. 48-1

701

Bestandteile und Ermittlungssystematik der Zielkostensumme

Sämtliche Kostenansätze und Risikobudgets werden durch dieses Verfahren transparent; sie unterliegen einer gesamtheitlichen Einschätzung, Kontrolle und Steuerung. Die Erfahrungen zeigen, dass die Prognosequalität der Kosten- und Risikoeinschätzung auf diese Weise gegenüber konventionellen Methoden beträchtlich verbessert werden kann.

48.3.1.2

Phasengestaltung der Projektdurchführung

Die Entwicklung, Kontrolle und Steuerung der Zielkosten im Sinne des Target Value Designs für Bauvorhaben basiert im Gegensatz zu vielen konventionell praktizierten Ansätzen der Kostenplanung nicht auf punktuell aufeinanderfolgender Kostenermittlungsstufen; das Zielkostenmanagement setzt vielmehr auf ein projektbegleitendes, fortlaufendes Kostencontrolling. Gleichwohl wird die Projektdurchführung in Phasen organisiert, in denen einzelne Kostenaussagen bzw. Kostenfestlegungen mit besonderer Bedeutung zu treffen sind: Voraussetzung für eine zielkostenorientierte Projektabwicklung ist zunächst eine sorgfältige Bedarfsplanung, Grundlagenermittlung und Vorplanung. In dieser Phase werden nicht allein die konkreten Bedarfsanforderungen für das Projekt festgelegt, sondern auch die technischen und wirtschaftlichen Eckdaten. Das Ergebnis sind konzeptionelle Festlegungen wie z.B. Trassenführungen für Verkehrsanlagen und ein Vorplanungsstand für die zu errichtenden Bauwerke. Damit wiederum ist die sog. ‚Etatreife‘ des Vorhabens erreicht, die die Vorgabe eines Zielkostenrahmens ermöglicht. Dieser wird durch den Vorhabenträger ermittelt und dient in der weiteren Projektrealisierung als Referenzmaßstab – als Benchmark – für die Wirtschaftlichkeit der nachfolgenden Planung. Anschließend erfolgt die Auswahl geeigneter und leistungsfähiger Partner für den Aufbau des interdisziplinären Projektteams für die weitere Planung und Ausführung der Baumaßnahme. Üblich ist hierbei die Durchführung eines Teilnahme- bzw. Kompetenzwettbewerbs, bei dem die Bewerber ihre Eignung nach vorab definierten, projektspezifischen Auswahlkriterien nachzuweisen haben. Abgefragt werden z.B. die technische Kompetenz, finanzielle Leistungsfähigkeit, Referenzprojekte oder Angaben der Bewerber zum Qualitäts- und Risikomanagement. Die Organisation erfolgt i.d.R. durch einen öffentlichen Teilnahmewettbewerb und ein daran anschließendes Verhandlungsverfahren mit der konkreten Auswahl der Partner, die entweder disziplinspezifisch für jeden Partner in

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einem gesonderten Verfahren oder durch Vergabe an ein Projektteam bzw. ‚Projektkonsortium‘ in einem Gesamtverfahren erfolgen kann.

Abb. 48-2

Zielkostenentwicklung und -management über den Projektverlauf

Der Vorhabenträger schließt sodann mit den ausgewählten Partnern einen Vertrag für die weitere Projektplanung. Aufgabe der Partner ist hier die baldmöglichste Prüfung und Validierung des vorab benannten Zielkostenrahmens im Wege einer Zielkostenschätzung. Ggf. problematische Abweichungen zwischen den Zielkostenermittlungen treten auf diese Weise frühzeitig zutage und bieten Gelegenheit für eine Fehlerkorrektur. Ein ggf. substanziell zu eng gesteckter Zielkostenrahmen lässt sich ggf. ebenso korrigieren wie übermäßig großzügige Kosten- und Risikoansätze des planenden Projektteams. Generell gilt insoweit für sämtliche Kostenüberprüfungen die Maßgabe, dass ein Projekt nur dann zur Bauausführung gelangen kann, wenn der vom Vorhabenträger gesetzte – und ggf. angepasste – Zielkostenrahmen eingehalten wird (vgl. Abb. 48-2). Abgeschlossen wird diese Phase der integrierten Projektbearbeitung, sobald die erreichte Planungstiefe eine hinreichend belastbare Zielkostenprognose zulässt, die als vertragliche Zielkostenvorgabe für die Bauausführung übernommen werden kann. Bei den meisten Projekten wird dies auf Basis einer teilweise erbrachten Ausführungsplanung und damit in HOAI-Lph. 5 der Fall sein. Wird der gesetzte Zielkostenrahmen überschritten, kann die Planungsphase fortgesetzt, das Vorhaben abgebrochen oder ggf. auch in anderer Organisationsform weitergeführt werden. Fügen sich die Zielkosten jedoch in den vorgegebenen Zielkostenrahmen, erfolgt in aller Regel – ggf. nach gesondertem Beschluss durch den Vorhabenträger – die Freigabe zur Bauausführung auf Basis eines Zielkosten-Vertragsmodells.

48.3.2

Zielkosten-Vertragsmodelle

Zielkosten-Vertragsmodelle werden unter dem Schlagwort sog. ‚Partnering‘-Konzepte bereits seit gut 20 Jahren in der deutschen Bauwirtschaft diskutiert. In letzter Zeit konzentriert der Diskurs verstärkt auf die Modelle ‚Alliancing‘15) und ‚Integrated Project 15)

Vgl. Sakal (2005), S. 69; Sundermeier/Schlenke (2012), S. 167-214; Schlabach (2013), S. 13ff.

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

703

Delivery (IPD)‘.16) Eine Gemeinsamkeit aller genannten Ansätze ist die Tatsache, dass die Projektrealisierung und damit auch die vertraglichen Vereinbarungen der Partner ganz wesentlich auf die Einhaltung vorab festgelegter Projektziele – sog. ‚Targets‘ – ausgerichtet sind und zu diesem Zweck mit monetären Anreizregelungen für die (Über-) Erfüllung der Zielvorgaben versehen werden. Im Schrifttum wird insoweit gelegentlich auch von ‚Anreizverträgen‘ bzw. ‚Incentive Contracts‘17) gesprochen. Als Projektzielgröße sind in der Vertragspraxis abseits von Qualitäten (‚Performance Targets‘) und Terminen (‚Time Targets‘) in ganz überwiegendem Maße die (Bau-) Kosten als sog. ‚Cost Targets‘ von Bedeutung.

48.3.2.1

Target-Contracts

Die hinter der Verfolgung konkreter Projektziele stehenden Vertragsmodelle werden folglich als ‚Target Contracts‘18) bezeichnet; Verträge mit Kostenziel- oder Zielkostenfokus werden insoweit als ‚Cost Target Contracts‘19), meist aber als ‚Target Cost Contracts‘20) geführt. Der konzeptionelle Grundansatz des Zielkostenvertrags liegt darin, die Vergütung des Auftragnehmers an die Einhaltung einer vertraglich vereinbarten Kostensumme zu knüpfen: Kann das Projekt zu geringeren Kosten realisiert werden, werden die ersparten Kosten anteilig an die Partner ausgeschüttet und verbessern insoweit ihr Projektergebnis. Werden die Zielkosten jedoch bei der Projektdurchführung überschritten, so haben die Partner in analoger Weise für die Kostenüberschreitung einzustehen. Sie tragen damit die Chancen und Risiken der Kostenentwicklung anteilig gemeinsam. Als Spielart des Zielkostenvertrags wohl die größte Verbreitung erfahren hat – nicht zuletzt auch in der deutschen Bauwirtschaft – der sog. ‚Guaranteed Maximum Price Vertrag‘ (kurz: GMP-Vertrag)21). Er zeichnet sich insbesondere durch die Tatsache aus, dass der Vergütungsanspruch des Auftragnehmers – unabhängig von den tatsächlich für die Erstellung der geschuldeten Leistung entstehenden Kosten – auf einen ‚Garantierten Maximalpreis‘ limitiert und insoweit ‚gedeckelt‘ ist.22) Bis zu dieser Grenze erhält der Auftragnehmer gleichwohl einen Ausgleich seiner für die Leistungserstellung anfallenden Kosten; auch das Vergütungsmodell des GMP-Vertrags basiert insoweit auf dem Prinzip der Selbstkostenerstattung. Hinsichtlich des Pflichten- und Risikoprofils handelt es sich bei Target Cost Contracts und auch bei GMP-Verträgen um konventionelle Austauschverträge nach dem ‚do-ut-des‘Prinzip: Die Vertragsparteien übernehmen konkret und differenziert beschriebene Vertragspflichten und die damit einhergehenden Risiken. Sie unterscheiden sich insoweit nicht von üblichen Bauverträgen. Kommt es – z.B. infolge von Leistungsmodifikationen oder unzureichender Mitwirkung einer Partei – zu Störungen des vereinbarten Leistungsaustausches, so hat die davon betroffene Vertragsseite Anspruch auf Kompensation. Das individuelle Projektergebnis der Parteien ergibt sich deshalb nicht allein aus der Erstellung 16) 17) 18) 19) 20) 21) 22)

So etwa Ashcraft (2010) S. 1; Goldberg (2010), S. 1, und Ballobin (2008), S. 1 Vgl. dazu etwa Cohen/Loeb (1989), S. 165ff., und Broome/Perry (2002), S. 59 So etwa die NEC-Verträge Option C und D Mit dieser eher seltenen Bezeichnung Haghsheno (2004), S. 37, und Gralla (2001), S. 102 So etwa Perry/Barnes (2000), S. 202ff.; Broome/Perry (2002), S. 59ff.; Chan et al. (2010), S. 495ff., und Chan et al. (2009), S. 751ff. Grundlegend zum GMP-Vertrag Gralla (2001) Die Begriffe des GMP-Vertrags und des Zielkostenvertrags sind deshalb – anders als von Gralla nahegelegt – nicht synonym zu verstehen. Vgl. Gralla (2001), S. 98

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Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

der geschuldeten Leistung, sondern nicht zuletzt auch aus der Anspruchsverfolgung im Zusammenhang mit Leistungsänderungen oder Leistungsstörungen.

48.3.2.2

Allianz- und IPD-Verträge

Neuerdings verstärkt im Blickfeld der Branche stehen die Modelle des ‚Alliancing‘ bzw. der ‚Integrated Project Delivery‘ (IPD), die in ihrem Vergütungsansatz ebenfalls an die Einhaltung einer bei Vertragsschluss als ‚Target Outturn Costs‘ (TOC) vereinbarten Zielkostensumme anknüpfen. Anders als beim GMP-Vertrag haften die Auftragnehmer bei diesen Modellen für etwaige Kostenüberschreitungen nur anteilig und auch nur bis zu einer vereinbarten Kappungsgrenze. Zudem ist das Vergütungsmodell mehrdimensional und damit breiter angelegt als bei einem reinen Kostenfokus: Über eine Zielkostenvereinbarung hinaus enthält der Vertrag zumeist auch Termin- und Qualitätsvorgaben in Form sog. ‚Key Performance Indicators‘ (KPI), deren Übertreffen mit Vergütungsboni honoriert bzw. deren Verfehlen mit einem Vergütungsmalus sanktioniert wird. Die Vergütung ergibt sich mithin aus einem mehrdimensionalen Zielsystem, wobei die Zielkosteneinhaltung in der Praxis die mit Abstand höchste Gewichtung besitzt und insoweit stets als primäre Vergütungsbasis fungiert. Beide o.g. Modelle sind in ihrer Vergütungsgestaltung deshalb als Target Contracts bzw. – wenn man so will – als weitere Spielarten des Zielkostenvertrags anzusprechen. Als sog. relationaler Vertrag unterscheidet sich der Allianz-23) bzw. IPD-Vertrag zur Durchführung eines Bauvorhabens von Austauschverträgen insbesondere durch den Umstand, dass der Vergütungsanspruch der Auftragnehmer nicht primär aus der Erbringung spezifischer Teilleistungen erwächst, sondern aus der erfolgreichen Herstellung des Gesamtbauwerks und den dafür aufgewandten Kosten. Zusätzlich werden die ausführenden Unternehmer wirtschaftlich am Projektrisiko und am Projekterfolg beteiligt, der u.a. durch eine Zielkostenvorgabe als Referenzgröße markiert wird. Die Parteien verzichten dabei auf eine konkrete Einzelzuweisung von Kostenrisiken, sondern sie tragen Mehr- und Minderkosten unabhängig von ihrer akteurspezifischen Verursachung stets gemeinschaftlich. Es handelt sich beim Allianzvertrag in seiner Grundkonzeption also nicht um einen konventionellen Austauschvertrag nach dem do-ut-desPrinzip des BGB-Werkvertragsrechts. Der Typus des Allianz- bzw. IPD-Vertrags ist im deutschen Rechtssystem nicht angelegt. Nach herrschender Auffassung bedarf es zur Vertragsgestaltung regelmäßig sowohl werkvertragsrechtlicher als auch gesellschaftsrechtlicher Regelungen.24) Die einzelnen Elemente werden im Schrifttum deshalb in Abhängigkeit des jeweiligen Betrachtungsansatzes unterschiedlich betont: Weinberger spricht das Modell der Allianz als Innengesellschaft bürgerlichen Rechts an, betont jedoch den Umstand, dass die Gesellschaft in ihrer Tätigkeit werkvertragsrechtlich geprägt sei.25) Gleichwohl unterscheidet sich der Allianzvertrag im Pflichten- und Risikoprofil der Parteien ganz fundamental von konventionellen Werkverträgen am Bau:

23)

24) 25)

Dieser Vertragstyp wird häufig auch als ‚Projektallianz‘ bezeichnet. Eine Projektallianz ist von solchen Allianzen zu differenzieren, die unter wettbewerbsstrategischen Überlegungen für einen längeren Zeitraum geschlossen werden und in aller Regel eine Reihe von Projekten oder den Aufbau ganzer Geschäftsfelder einschließen. Man spricht insoweit von strategischen Allianzen. So etwa McLennan/Troutbeck (2002), S. 3, und Todeva/Knoke, (2005), S. 2 So etwa Weinberger (2010), S. 107; Rosenbauer (2009), S. 188 Vgl. Weinberger a.a.O., S. 107

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

705

Die geschuldete Leistung wird nämlich beim Allianzvertrag nicht in eine Vielzahl von Einzelleistungspflichten bzw. -obliegenheiten zerlegt und den Parteien individuell zugewiesen. Beim Allianzvertrag liegt die Erledigung sämtlicher zur Herstellung des Bauwerks erforderlichen Einzelaufgaben in der gemeinsamen Verantwortung aller Parteien. Sie tragen deshalb sämtliche damit verbundenen Risiken grundsätzlich gemeinsam. Kommt es zu Störungen der Projektabwicklung, sind deshalb alle Vertragspartner zur Lösung angehalten. Kompensationsansprüche gegen eine einzelne Partei sind ausgeschlossen – selbst dann, wenn diese Partei objektiv die Ursache für die Störung gesetzt hat.26)

48.3.3

Marktetablierung von Zielkostenverträgen

Die aktuelle Verbreitung des Zielkostenmanagements und seine Etablierung als Standard für die Realisierung komplexer Bauvorhaben ist geografisch eng mit der Entstehung der bereits diskutierten Zielkosten-Vertragsmodelle in ihren jeweiligen Ausgangsländern verbunden.27) Interessant erscheint deshalb besonders ein Blick auf die Marktsituation in Großbritannien und Australien, zumal für diese Länder einige empirische Daten vorliegen.28) Seit einigen Jahren hat sich zudem Finnland durch eine verstärkte Anwendung von Allianzverträgen in der Bauwirtschaft hervorgetan – hier erscheint eine Betrachtung vor allem unter dem Gesichtspunkt aufschlussreich, dass für den finnischen Baumarkt genauso wie für Deutschland das EU-Vergaberecht zur Anwendung gelangt. Auch insoweit wurden verfügbare Projektdaten zusammengetragen und ausgewertet:

48.3.3.1

Aktuelle Situation in Großbritannien

Daten über die Verbreitung von Zielkostenverträgen in der britischen Bauwirtschaft werden amtsstatistisch nicht erhoben. Es existieren jedoch Untersuchungen und Erhebungen der RICS29) und des RIBA30) zurückgegriffen. Die entsprechenden Publikationen sind aus ihrer Orientierung heraus nicht repräsentativ – sie vermitteln gleichwohl einen recht guten Überblick über die Verhältnisse in den adressierten Verkehrskreisen: Die RICS führt seit geraumer Zeit und in loser Folge empirische Erhebungen zum Einsatz von Beschaffungsmodellen und Bauvertragstypen in der britischen Bauwirtschaft durch. Seit dem Jahr 2004 werden im Rahmen dieser sog. ‚Contracts in Use Survey‘31) auch NEC-Zielkostenverträge erfasst, die – entsprechend dem wesentlichen Anwendungsgebiet der NEC-Vertragsfamilie – zu einem Gutteil aus dem Infrastrukturbereich stammen dürften. Weiterhin enthalten die RICS-Erhebungen auch Daten zum Einsatz von GMPVerträgen. Zur Auswertung standen die Daten der Jahre 2004, 2007 und 2010 mit einer Grundgesamtheit von insgesamt 4.531 Projekten mit einem Gesamtvolumen von rund 12,5 Mrd. £. Hiervon wurden wiederum 224 Bauvorhaben mit einem Volumen von 1,22 Mrd. £ auf der Basis von NEC-Target-Contracts durchgeführt, was einem gemittelten Anteil von rund 5 % aller erfassten Projekte bzw. einer Quote von rund 9,8 % des betrachteten Marktvo26) 27) 28) 29) 30) 31)

Ausnahmen bestehen i.d.R. nur bei vorsätzlichem Verhalten. Vgl. Eschenburch/Racky (2008), S. 3ff., und Sakal, (2005), S. 69 Für die USA lagen den Verfassern keine belastbaren Informationen vor. Royal Institution of Chartered Surveyors (RICS) Royal Institute of British Architects (RIBA) Vgl. RICS (2004), RICS (2007) und RICS (2010)

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Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

lumens entspricht. Dies legt nahe, dass Zielkostenverträge in Großbritannien tendenziell für Projekte mit überdurchschnittlichen Investitionsvolumina zur Anwendung gelangen. Bei näherer Betrachtung bestätigt sich dies: Über den Erhebungszeitraum wurde rund ein Viertel aller Projekte > 50 Mio. £ über Target Contracts realisiert. Mit abnehmendem Projektvolumen sinkt der ‚Marktanteil‘ der Zielkostenverträge deutlich. In der Projektklasse zwischen 5 und 50 Mio. £ liegt die Quote der Target Contracts noch bei rund 15 % aller Verträge, für kleinere Projektgrößen reduziert sich der Zielkostenanteil von rund 8 bis auf 0 % der Projektzahl. Deutlich erkennbar ist über den Betrachtungszeitraum zudem ein Anwendungstrend der NEC-Target-Verträge hin zu mittleren und großen und damit tendenziell komplexen Projekten (> 20 Mio. £) mit stark steigenden Projektanteilszahlen in diesen Klassen. Anders zeigt sich das Bild für die Gruppe der ‚reinen‘32) GMP-Verträge: Hier steht für den Zeitraum 2004 bis 2010 ein mittlerer Marktanteil von rund 2,4 % der Projekte zu Buche. Eine Größenordnung, die sich in der sog. ‚National Construction Contracts and Law Survey‘ der RIBA für die Jahre 2013, 2015 und 2018 bestätigt,33) im Rahmen derer insgesamt 3.341 Bauherren, Baufirmen und Beratende Ingenieure befragt wurden. Die GMP-Anwendungsquote lag dabei sowohl bei Bauherren als auch bei Baufirmen im Mittel bei 3 bis 4 %. Nach den RICS-Zahlen lag der Hauptanwendungsbereich der GMPVerträge bei kleinen und mittleren Projektvolumina, wenngleich für die Jahre 2007 und 2010 ebenfalls ein wachsender Marktanteil für größere Projekte (hier zwischen 10 und 20 Mio. £) zu verzeichnen war. Stellvertretend für diese Entwicklung zu nennen sind die ProCure-Investitionsprogramme34) des National Health Service (NHS) für den Krankenhausbereich, die unter Einsatz eines auf die Projektzwecke angepassten NEC-TargetContracts realisiert werden.35) Der Hauptanwendungsbereich von Zielkostenverträgen in Großbritannien richtet sich folglich auf Projekte mittlerer bis großer Investitionsvolumina im Hochbau- und Infrastrukturbereich; aus den verfügbaren Daten lässt sich insoweit ein Marktanteil von ca. 3 bis 5 % aller Projekte und ein Projektvolumenanteil von bis ca. 10 % als plausibel vermuten.

48.3.3.2

Aktuelle Situation in Australien

Für den australischen Baumarkt findet sich eine empirische Umfrage des Department of Treasury and Finance, Victoria, zur Anwendung von Zielkostenmodellen im Kontext von Allianzverträgen für Infrastrukturprojekte über den Zeitraum 2004 bis 2009. Der Marktanteil der Allianzverträge erreichte seinerzeit bis zu 29 % der Gesamtinvestitionen im Infrastrukturbau. Hauptanwendungsbereiche waren die Wasserversorgung, der Straßenund Schienenverkehrswegebau sowie der Energiesektor. Im genannten Zeitraum wurden auf diese Weise Allianzprojekte mit einem Gesamtinvestitionsvolumen von rund 32 Mrd. AU$ realisiert.36) Gegenüber den britischen NEC-Target-Verträgen und den britischen GMP-Vertragsmodellen wurden in den Einzelprojekten weit höhere Volumina bewegt. Die typischen Investitionsvolumina erreichten in den Jahren 2003 bis 2006 zunächst zwischen 100 und 32) 33) 34) 35) 36)

Die NEC-Vertragsfamilie erlaubt für die Target Contracts Option C zwar eine GMP-Vereinbarung, eine solche ist allerdings nicht obligatorisch. Vgl. NBS (2013), NBS (2015) und NBS (2018) Konkret die Programme ProCure21 (2004 bis 2010), ProCure21+ (2010 bis 2016) und ProCure22 (ab 2016) Vgl. dazu etwa The Department of Health Estates & Facilities Division, The ProCure21+ Guide, Version 2.2, 2011 Vgl. Department of Treasury and Finance (2009), S. 7

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

707

250 Mio. AU$ je Projekt und stiegen in den Jahren 2006 bis 2008 auf eine Größenordnung zwischen 200 und 500 Mio. AU$.37) Der Anwendungsbereich für Allianzverträge lag damit ganz zentral im Bereich von komplexer Groß- bzw. Größtprojekte, im Rahmen derer jedoch augenscheinlich ein ganz beträchtlicher Bauvolumenanteil realisiert wurde. Rückschlüsse auf einen in Deutschland denkbaren Marktanteil lassen sich hieraus angesichts fundamental unterschiedlicher Gegebenheiten jedoch nicht ziehen.

48.3.3.3

Aktuelle Situation in Finnland

Nach dem Vorbild Australiens kommen in der finnischen Bauwirtschaft Allianzverträge etwa seit dem Jahr 2011 zum Einsatz. Bis zum Jahr 2017 wurden insgesamt 48 Allianzprojekte mit einer kumulierten Investitionssumme von ca. 2,98 Mrd. € auf den Weg gebracht. Bemerkenswert ist in diesem Kontext das in jeder Hinsicht breite Projektspektrum: Zwei Drittel der Projekte und ca. 44 % der Investitionssumme entfallen auf den Hochbau – die Spanne der Einzelvolumina erstreckt sich von 6 Mio. € bis 140 Mio. € je Projekt. Realisiert wurden bzw. werden dabei im wesentlichen öffentliche bzw. quasi-öffentliche Bauvorhaben in den Bereichen • Bildung/Forschung: • Gesundheit/Medizin: • Kultur/Freizeit:

11 Projekte, Investitionssumme ca. 283 Mio. €; 8 Projekte, Investitionssumme ca. 644 Mio. €; 6 Projekte, Investitionssumme ca. 162 Mio. €;

aber auch einige Projekte im Wohnungsbau mit insgesamt rund 168 Mio. Investitionsvolumen. Als besondere Schwerpunkte für den Einsatz von Projektallianzen im Hochbau haben sich mit der Zeit die Bereiche der Schulinfrastruktur und des Gesundheitswesens herauskristallisiert, und zwar sowohl im Neubau als auch für Bestandsmaßnahmen. Auf den Verkehrsinfrastrukturbereich entfallen weiterhin insgesamt 13 Projekte mit einem Gesamtvolumen von 1,595 Mrd. €. Den größten Anteil der Investitionen verbucht der Schienenverkehr mit insgesamt ca. 729 Mio. € in drei Eisenbahnvorhaben und einem Straßenbahn-Großprojekt. Für den Straßenverkehr stehen sechs Projekte mit einer Gesamtsumme von rund 546 Mio. € zu Buche, für den Ausbau von Flughäfen kommen in drei Allianzprojekten weitere 320 Mio. € hinzu. Für den Verkehrsbereich liegen die Investitionsvolumina der Allianz-Einzelprojekte zwischen ca. 8 Mio. € und 275 Mio. €. Die darüber hinaus verbleibenden drei Projekte betreffen v.a. die Sektoren Energie und Telekommunikation. Zur Anwendung sonstiger Zielkostenmodelle in der finnischen Bauwirtschaft konnten keine Daten gewonnen werden. Gleichwohl lässt sich mit Blick auf den inzwischen umfangreichen ‚Track Record‘ von Projektallianzen konstatieren, dass Zielkostenmodelle sich dort inzwischen auf breiter Front am Markt etabliert haben: Sie kommen in nahezu sämtlichen Bausparten und für verschiedenste Projektgrößen zum Einsatz und decken damit auch Anwendungsfälle ab, die – z.B. in Großbritannien – bislang meist eine Domäne der GMP-Verträgen schienen. Ein besonderes Augenmerk verdient auch die Tatsache, dass es sich bei den Projekten zum allergrößten Teil um öffentliche Bauvorhaben handelt – ganz offenbar gibt es offenbar Mittel und Wege, auch innerhalb des EUVergaberechts innovative Projektabwicklungs- und Vertragsmodelle umzusetzen.

37)

Vgl. Alliancing Association of Australasia (2008), S. 15f.

708

48.4

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Elemente von Zielkosten-Vergütungsmodellen

In der Diskussion um Zielkosten-Vertragsmodelle finden sich nur selten eigenständige oder gar normative Erkenntnis- und Gestaltungsansätze zu den vertragsspezifischen Vergütungssystemen. Die bestehenden Lösungen werden hierzulande meist weitgehend unreflektiert von den ausländischen Vorbildern der Allianz-, IPD- oder GMP-Verträge übernommen. Eine Ursache für dieses Phänomen mag in dem Umstand zu suchen sein, dass die Meinungen bereits in der Frage der typologischen Einordnung der Zielkostenverträge weit auseinandergehen. Das Meinungsspektrum reicht hier von einer Einordnung als Selbstkostenerstattungsvertrag bis zu der Auffassung, es handele sich z.B. beim GMPVertrag um eine Typenvariante des Pauschalvertrags. Es wird dabei verkannt, dass die Vertragsmodelle ganz weitreichende Gemeinsamkeiten in der Gestaltung ihrer Vergütungsregelungen aufweisen: Sie verfolgen denselben konzeptionellen Ansatz einer Vergütung nach dem Prinzip der Selbstkostenerstattung, ergänzt um eine mit der Einhaltung vertraglich vereinbarter Zielkosten verknüpfte wirtschaftliche Beteiligung am Erfolg bzw. Misserfolg der Projektdurchführung. Die Vergütungsregelungen der Vertragsmodelle basieren folglich auf denselben Gestaltungsmaximen und daraus abgeleiteten gemeinsamen Regelungselementen: • • • •

Zielkostenvorgabe Korridor für Zielkostenabweichungen Aufteilungsregelung für Mehr-/Minderkosten Kostenregelung außerhalb des Korridors

Die Verträge unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Vergütungskonzeption deshalb lediglich in der konkreten inhaltlichen Regelungswirkung dieser einzelnen Elemente, auf die insoweit ein besonderes Augenmerk bei der Vertragsgestaltung zu legen ist:

48.4.1

Zielkostenvorgabe

Wie bereits beschrieben, liegt ein wesentlicher Ansatz für das Zielkostenmanagement in einer möglichst frühzeitigen Vorgabe von Zielkosten. Auf diese Weise sollen die Investitionswirtschaftlichkeit und die Budgettreue über den Verlauf der Bauprojektrealisierung verbessert werden. Es erschließt sich deshalb leicht, dass eine solche Zielkostenvorgabe insbesondere auch durch geeignete bauvertragliche Regelungen abgesichert werden muss.

48.4.1.1

Sinn und Zweck

Die Zielkostenvorgabe im Bauvertrag leitet sich insoweit aus den für das Gesamtprojekt festgelegten Zielkosten ab – die vertraglich vorgegebene Zielkostensumme entspricht dabei den Kosten, die der Bauherr bzw. Auftraggeber im Ergebnis seiner wirtschaftlichen Nutzen- bzw. Renditeerwartungen – oder schlicht aus Gründen begrenzter Mittel – für die Errichtung des projektierten Bauwerks zu zahlen bereit ist. Die bauvertragliche Zielkostenvorgabe bildet damit den Maßstab für den finanziellen Projekterfolg und muss insoweit zwei Funktionen erfüllen: Zunächst muss die vorgegebene Zielkostensumme realistisch sein, d.h. die Kostenvorgabe muss im weiteren Verlauf der Projektrealisierung bei ordnungsgemäßer Leistungser-

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

709

bringung tatsächlich eingehalten werden können. Man kann – in Anknüpfung an den international gebräuchlichen Maßstab des ‚business as usual‘38) – insoweit auch von ‚üblichen‘ bzw. ‚marktüblichen‘ Kosten sprechen. Es ist unter diesem Aspekt unabdingbar, über die erzielbaren Mindestkosten hinaus auch projekt- und marktangemessene Risikobudgets in die Zielkostenvorgabe mit einzubeziehen. Dies gilt im Zielkostenvertrag umso mehr, weil die Zielkostenvorgabe dort als Ausgangswert für die Feststellung der erzielten Kostenunterschreitungen bzw. der angefallenen Kostenüberschreitungen fungiert, aus der sich wiederum die wirtschaftliche Beteiligung der Auftragnehmerseite am Projekterfolg bzw. -misserfolg errechnet. Dem Soll-Wert der Zielkostenvorgabe werden über den Projektverlauf zu diesem Zweck die bei der Herstellung des geschuldeten Bauwerks angefallenen Ist-Kosten in Form von unternehmerseitigen Selbstkosten gegenübergestellt. Kosten, die den Unternehmern darüber hinaus als fester Deckungsbetrag (DB) für AGK sowie WuG gezahlt werden, sind im Sinne der Transparenz von den Herstellkosten abzugrenzen und innerhalb der Zielkosten als fixe Beträge gesondert auszuweisen. Analoges gilt für Kosten der Bauherren- bzw. Auftraggeberseite, die nicht unmittelbar mit der Bauwerkserstellung zusammenhängen.

48.4.1.2

Regelungsgestaltung im Bauvertrag

Die Forderung einer realistischen, auskömmlichen und insoweit belastbaren Zielkostensumme setzt zwangsläufig voraus, dass die Projektparteien bereits in den Planungsphasen vor der Zielkostenfestlegung intensiv zusammenarbeiten und insbesondere das vertraglich geschuldete Bausoll gemeinschaftlich bestimmen. Eine frühzeitige Einbindung der bauausführenden Partner – international als ‚Early Contractor Involvement‘ (ECI)39) bezeichnet – wird deshalb gemeinhin als Grundvoraussetzung für den Abschluss von Zielkostenverträgen erachtet, bringt jedoch auch kritische Stimmen auf den Plan. Es wird angemerkt, die Parteien verfolgten mit Blick auf die Zielkostenfestlegung latent gegenläufige Interessen: Während Auftraggeber aus der Natur der Sache auf die Vereinbarung niedriger Zielkosten bedacht seien, hätten die Unternehmer ihrerseits das Interesse an einer möglichst üppigen Zielkostensumme, um das Risiko späterer Mehrkostenhaftungen zu minimieren und die Chance auf Einsparungsgewinne zu maximieren40). Angesichts der notwendigen Unternehmereinbindung in die vorgeschaltete Planung scheide der Markt – anders als bei konventionellen Verträgen – als Instrument der Preisbzw. Zielkostenbildung faktisch aus, denn eine parallele Projektbearbeitung mit mehreren Bietern sei zum einen mit prohibitiv hohen Bauherren- und Planungskosten verbunden und überdies für öffentliche Auftraggeber auch vergaberechtlich kaum lösbar.41) In der Konsequenz befinde sich der Auftraggeber in der schwächeren Verhandlungsposition und müsse zwangsläufig überhöhte Zielkostensummen akzeptieren, um den Fortgang des Projekts nicht zu gefährden. Diese Kritik ist in ihrem Ansatz nicht unberechtigt, sie ignoriert jedoch das Potenzial eines indirekten Preiswettbewerbs bei der Zielkostenfestlegung:

38) 39) 40) 41)

Vgl. Davies (2008), S. 212 Hierzu ausführlich etwa Mosey (2009) Zu diesem Risiko – neben anderen – des Target-Cost-Contracts siehe Chan et al. (2010), 501f. Das etwa in Australien gängige ‚Competitive-TOC‘-Modell lässt sich deshalb in Deutschland nur schwerlich realisieren. Vgl. zu diesem Modell Davies (2008), S. 237ff.

710

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Eine Gestaltungsoption für einen solchen Preiswettbewerb besteht darin, die von der Unternehmerseite vorgeschlagenen Zielkosten einer sorgfältigen Prüfung, einer technischen Due Dilligence, zu unterziehen bzw. durch neutrale Dritte – sog. ‚Independent Auditors‘42) – auf Auskömmlichkeit und Angemessenheit hin bewerten zu lassen. Diese Lösung wird etwa in Australien, aber auch in Finnland praktiziert. Um den dafür erforderlichen Zeitaufwand zu reduzieren, kann eine solche Prüfung ggf. teilweise parallel zur Zielkostenermittlung erfolgen. Gleichwohl wird im Projektablauf ein hinreichender Prüfzeitrahmen vorzusehen sein. Bereits in einer frühen Projektphase wird der Bauherr zudem in aller Regel ein Rahmenbudget43) für das Bauvorhaben formulieren, an dem sich die Beteiligten zu orientieren haben und das über den Projektverlauf fortlaufend an ggf. veränderte Rahmenbedingungen bzw. Planungsanforderungen angepasst wird.44) Dieses Rahmenbudget kann als Referenzkosten45) für die Bewertung des Zielkostenvorschlags z.B. auch im Zuge einer Wirtschaftlichkeitsuntersuchung entwickelt werden. Vertraglich ist dann für die Planungsund Zielkostenermittlungsphase der Akteure zu vereinbaren, dass eine gemeinsame Projektfortführung nur dann in Betracht kommt, wenn der Zielkostenvorschlag das Rahmenbudget bzw. die Referenzkosten unterschreitet. Diese Ausstiegsoption ist zwingend, fördert sie doch nach aller Erfahrung ganz maßgeblich das Zielkostenbewusstsein aller Akteure. Der Bauherr kann den Nachteil einer fehlenden Preisermittlung im direkten Wettbewerb somit auf mehreren Wegen ausgleichen: Einerseits durch Formulierung eines sorgfältig ermittelten Rahmenbudgets mit Ausstiegsoption bei Nichteinhaltung, andererseits durch eine vertiefte Prüfung des Zielkostenvorschlags.

48.4.2

Korridor für Zielkostenabweichungen

Auch die sorgfältigste Zielkostenermittlung wird aus der Natur der Sache heraus prognosebedingte Unsicherheiten aufweisen. Überdies ist die Durchführung von Bauvorhaben – zumal mit steigendem Grad der Projektkomplexität – regelmäßig von unwägbaren Gegebenheiten geprägt, die sich als sog. ‚Imponderabilien‘ einer projektspezifischen Risikoquantifizierung entziehen. Die tatsächlichen Kosten der Bauwerkserstellung werden deshalb stets in einem Streuungsbereich um die Zielkostensumme zu liegen kommen. Der Zielkostenvertrag setzt vor diesem Hintergrund auf eine Beteiligung der Parteien am finanziellen Erfolg oder Misserfolg der Bauwerkserstellung – konkret: auf die Beteiligung an einer Unter- oder Überschreitung der Zielkosten. Auf diese Weise soll ein Anreiz bzw. ‚Incentive‘ für eine dergestalt kostenoptimierte Leistungserstellung geschaffen werden, dass das Bauvorhaben mindestens zu den vorgegebenen Zielkosten realisiert werden kann.

42) 43) 44) 45)

Vgl. Davies (2008), S. 237ff. Dieser wird im internationalen Kontext als ‚Business Case Cost Estimate‘ oder ‚Owners Estimate‘ bezeichnet. Department of Treasury and Finance (2009), S. XI In der Praxis kommt es insoweit nicht selten zu – teilweise gravierenden – Steigerungen des Budgetrahmens. Vgl. dazu mit einer empirischen Auswertung Department of Treasury and Finance (2009), S. XII Für öffentliche Bauvorhaben entspräche das Rahmenbudget dann dem sog. ‚Public Sector Comparator‘ (PSC).

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

48.4.2.1

711

Sinn und Zweck

Neben der vertraglichen Vorgabe einer Zielkostensumme ist es mithin zunächst erforderlich, den Korridor abzustecken, innerhalb dessen die Parteien anteilig für Zielkostenüberschreitungen haften bzw. anteilig an Zielkostenunterschreitungen partizipieren sollen. Der Begriff des Korridors bezeichnet insoweit eine Kostenspanne oberhalb und unterhalb der Zielkostenvorgabe, innerhalb derer Chancen und Risiken der Kostenentwicklungen im Projektverlauf geteilt und nicht – durch sog. ‚Deckelung‘46) – vollständig einer Vertragsseite zugewiesen werden. Grundsätzlich ist es denkbar, diese Erfolgs- bzw. Misserfolgsbeteiligung schrankenlos auszugestalten – das Ergebnis wäre eine dem Grunde nach vollständige ‚Vergemeinschaftung‘ des Projekterfolgs. Sachlich gibt es dafür gleichwohl keinen Anlass, denn bereits die Zielkostenfestlegung erfolgt (wie oben dargelegt) mit dem Anspruch einer realistischen, d.h. für die Erstellung des Bauwerks auskömmlichen Summe. Der Korridor muss folglich nur so breit bemessen werden, wie es die Parteien für das Auffangen prognosebedingter Kostenstreuungen für geboten erachten. Denklogisch ist es also keineswegs zwingend, die Korridorbereiche oberhalb und unterhalb der Zielkostenvorgabe symmetrisch anzulegen. Die Praxis zeigt dementsprechend eine große Gestaltungsvielfalt vertraglicher Kostenkorridore, die auch vor dem GMP-Vertrag nicht haltmacht: Die Besonderheit des Kostenkorridors liegt dort einzig darin, dass die Zielkostenvorgabe – sprich: der GMP – zugleich die obere Grenze des Korridors markiert. Die Korridorbreite oberhalb der Zielkosten ist folglich null (vgl. Abb. 48-3).

Abb. 48-3

48.4.2.2

Gestaltung der Korridorbereiche für die Zielkostenunter- und -überschreitung

Regelungsgestaltung im Bauvertrag

Die wohl bekannteste Korridorgestaltung ist die für Allianzverträge typische: Hierbei wird die Obergrenze aus der sog. ‚Fee‘47) der Auftragnehmer, d.h. aus ihrem DB für AGK sowie WuG ermittelt. Es soll damit erreicht werden, dass die Auftragnehmerseite bei Zielkostenüberschreitungen maximal ihren vollen DB einbüßen kann, die Herstellkosten der Bauleistung jedoch in jedem Fall erstattet erhält.48) In der deutschen Fachwelt wird 46) 47) 48)

Man bezeichnet diese international auch als ‚Cap‘. Vgl. etwa Broome/Perry ( 2002), S. 61 Vgl. Perry/Barnes (2000), S. 202 Vgl. hierzu etwa Love et al. (2011), S. 130 oder Department of Treasury and Finance (2010), S. 55 und S. 60

712

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

diese Konstruktion bislang nahezu ohne weitere Reflexion übernommen; zwingend ist sie – das zeigt bereits das Beispiel des GMP-Vertrags – jedoch keineswegs. Es stellt sich mithin die Frage, welche Kriterien die Festlegung des Korridors in Betracht kommen: Bei der o.g. ‚Allianzlösung‘ steht zunächst eine marktgetriebene Festlegung zu vermuten, denn die maximale Misserfolgsbeteiligung der Auftragnehmer wird anhand ihres DB und damit an einer rein unternehmensbezogenen Größe festgelegt, die in keiner Beziehung zum Risikoprofil des konkreten Projekts steht. Die Korridorbreite kann folglich zunächst durchaus als Ergebnis der Markt- bzw. Verhandlungsmacht der Parteien vereinbart werden. Sie könnte mithin auch in weit höheren Risikobeträgen münden als AGK plus WuG oder auch eine deutlich geringere Risikobeteiligung bedeuten. Analoges gilt selbstverständlich für die Festlegung der Korridorbreite für die Aufteilung von Kosteneinsparungen. Kaum eine Überlegung geht derzeit dahin, den Kostenkorridor anhand des projektspezifischen Zielkostenrisikos zu entwickeln, d.h. unter konkreter Berücksichtigung der Streuungsbreite denkbarer Kostenszenarien. Für einen solchen Ansatz bräuchte es eine näherungsweise Einschätzung möglicher Kostenentwicklungen und ihrer Wahrscheinlichkeit, wie sie z.B. mittels einer Monte-Carlo-Simulation zu gewinnen wäre. Das Ergebnis wäre die Normalverteilung der Kosten für die Bauwerkserstellung. Die obere und untere Grenze des Korridors könnte dann in Abhängigkeit von der Normalverteilung so gewählt werden, dass alle realistischen Szenarien innerhalb des Korridors liegen. Dies würde eine primär risiko- und insoweit projektorientierte Gestaltungsvariante bedeuten. Mit Blick auf die gewünschte Anreizwirkung ist zu bedenken, dass die gemeinsame Erfolgs- bzw. Misserfolgsbeteiligung der Parteien grundsätzlich nur im Bereich des Korridors zum Tragen kommt. Ein für beide Parteien spürbarer Anreizeffekt für Kosteneinsparungen wird folglich nur innerhalb des Korridors generiert. In Verbindung mit den Regelungen zur Kostenhaftung außerhalb des Korridors kann dies ungewollte Konsequenzen nach sich ziehen, sobald sich die Gesamtkostenentwicklung des Projekts aus dem vereinbarten Korridor heraus bewegt.49) Es empfiehlt sich deshalb, die Breite des Korridors in Abhängigkeit des als realistisch vermuteten Optimierungs- bzw. Einsparpotenzials zu wählen.

48.4.3

Aufteilungsregelung für Mehr- bzw. Minderkosten

Angesichts der prognosebedingten Unsicherheiten der Zielkostenplanung und projektspezifischer Imponderabilien ist es in praxi nahezu unvermeidbar, dass die tatsächlichen Kosten eines Bauvorhabens von der Zielkostenvorgabe abweichen werden. Die Ursachen für dieses Phänomen liegen sowohl exogenen Einflussfaktoren (z.B. Markt- bzw. Marktpreisentwicklungen, Witterung), bei den Vertragsparteien selbst und nicht zuletzt auch in ihrer Zusammenarbeit bei der Projektdurchführung. Die Realisierung von Bauvorhaben ist insoweit – weit mehr als die Leistungserstellung in anderen Wirtschaftszweigen – durch den Aspekt der Teamproduktion gekennzeichnet: Bauherr und Auftragnehmer arbeiten gleichsam als Co-Produzenten zusammen, deren Leistungsbeiträge nicht selten bis auf die Prozessebene miteinander verflochten sind.50) Der Ansatz einer gemeinsamen Beteiligung der Parteien am Projektergebnis ist deshalb nur folgerichtig, führt aber unmittelbar zur Frage nach der konkreten Regelung dieser Erfolgs- und Misserfolgsbeteiligung.

49) 50)

Dieser Aspekt wird nachfolgend noch beleuchtet. Vgl. dazu Sundermeier (2009), S. 140ff.

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

48.4.3.1

713

Sinn und Zweck

Konventionelle Bauverträge sehen als sog. ‚Leistungsverträge‘ im Regelfall die Vereinbarung von Einzel- oder Pauschalpreisen für die geschuldete Bauleistung vor. Der ausführende Unternehmer trägt dann für jede einzelne vertragliche Teilleistung das Kalkulationsrisiko des erforderlichen Kapazitätseinsatzes und der dafür anfallenden Kosten – Kosteneinsparungen bei der Leistungserstellung kann er voll für sich verbuchen, muss im Umkehrschluss aber voll für etwaige Überschreitungen der von ihm kalkulierten Kosten einstehen. Mit diesem Konzept bricht der Zielkostenvertrag:

Abb. 48-4

Gestaltungsprinzip des Aufteilungsschlüssels

Hier wird der Auftraggeber sich innerhalb eines vertraglich festgelegten Abweichungskorridors an Kostenüberschreitungen beteiligen. Im Gegenzug für diese Mithaftung wird ein nicht ausgeschöpftes Zielkostenbudget zwischen den Parteien aufgeteilt. Anders als bei konventionellen Leistungsverträgen erfolgt also keine Risikozuweisung auf eine Partei, sondern die Chancen und Risiken der Kostenentwicklung erfahren eine ‚Vergemeinschaftung‘, sie kommen den Partnern dem Grunde nach gemeinsam – d.h. unabhängig von der Verursachung – und der Höhe nach anteilig zu (vgl. Abb. 48-4). Diese Chancen- und Risikoteilung trägt nicht nur der gerade bei komplexen Projekten engen Leistungsverflechtung der Partner Rechnung, sie bewirkt für den Unternehmer zudem grundsätzlich eine Dämpfung der finanziellen Risiken und schafft einen monetären Anreiz für Optimierungsvorschläge. Die konkrete Wirkung ergibt sich jedoch erst aus dem Aufteilungsverhältnis der gegenüber der Zielkostenvorgabe angefallenen Mehr- oder Minderkostensumme. In der Vertragspraxis hat sich insoweit die Vereinbarung einer prozentualen Aufteilung etabliert. Als marktübliche Aufteilungsverhältnisse werden im Schrifttum Größenordnungen zwischen 90:10 (AG/AN) bis 50:50 genannt.51)

51)

So etwa Gralla (2001), S. 141, während Rosenbauer betont, es gebe insoweit keinen Königsweg für die Bemessung des Aufteilungsverhältnisses. Vgl. Rosenbauer (2009), S. 253

714

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

48.4.3.2

Regelungsgestaltung im Bauvertrag

Die Diskussion zur Ausgestaltung der Aufteilungsregelungen konzentriert sich im Schrifttum bislang auf meist deskriptive Darstellungen zu einer – mit der Kostenentwicklung – fixen, progressiv oder degressiv verlaufenden Aufteilung von Zielkostenunteroder -überschreitungen.52) Erstaunlich wenig Beachtung finden jedoch die naheliegenden Fragen, worin die Motive für die Wahl der Aufteilungsregelungen bestehen und in welchen Grenzen diese tatsächlich die vertraglich gewünschte Anreizwirkung entfalten. Für die Festlegung der Aufteilungsquote lassen sich bei näherer Überlegung zunächst folgende Optionen herleiten: • Festlegung nach Beeinflussbarkeit des Risikos • Festlegung nach Marktmacht • Festlegung unter anreizorientierten Gesichtspunkten Die erste Option orientiert sich an den Gegebenheiten des konkreten Projekts und stellt darauf ab, dass die Mehr- bzw. Minderkostenbeteiligung der Partner entsprechend ihrer jeweiligen Möglichkeiten vorzusehen ist, die Kostenentwicklung durch ihr Handeln zu beeinflussen. In aller Regel dürfte diese Überlegung zu einem deutlich über 50 % liegenden Anteil der Auftragnehmerseite führen, und zwar sowohl für Mehrkosten als auch für den Fall von Minderkosten – in der Vertragswirklichkeit spielen also ganz offensichtlich andere Erwägungen eine zentrale Rolle bei der Aufteilungsgestaltung. Denkbar wäre insoweit eine Festlegung der Aufteilungsregelungen qua Marktmacht: Hier wäre es an der verhandlungsstärkeren Partei, das Aufteilungsverhältnis wirtschaftlich zu ihren Gunsten zu optimieren. Dies wiederum würde bedeuten, dass für die Mehr- und für die Minderkostenbeteiligung deutlich unterschiedliche Aufteilungsverhältnisse zu vereinbaren wären – aus Sicht der stärkeren Seite mit einem hohen Ausschüttungsanteil für Kosteneinsparungen und einem niedrigen Haftungsanteil für Zielkostenüberschreitungen. In der Tat lässt sich für die Rezessionsphase um die Jahrtausendwende beobachten, dass Bauherren z.T. sogar Aufteilungsverhältnisse von jeweils 100:0 zu ihren Gunsten durchzusetzen vermochten.53) Eine marktmachtmotivierte Festlegung führt folglich stets zu einer asymmetrischen Gestaltung der Aufteilungsschlüssel für den Korridor ober- und unterhalb der Zielkostenvorgabe – vgl. dazu beispielhaft Abb. 48-5.

52) 53)

Siehe hierzu vor allem Broome/Perry (2002), S. 59-66; und weiter Rosenbauer (2009), S. 253; Gralla (2001), S. 141148; Schwerdtner (2007), S. 95 Den Verfassern ist insoweit das Beispiel eines entsprechend handelnden Automobilkonzerns bekannt.

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

Abb. 48-5

715

Asymmetrische Gestaltung des Aufteilungsschlüssels

Eine dritte Option besteht darin, die Aufteilungsregelung so zu gestalten, dass mit ihr möglichst eine optimale Anreizwirkung erzielt wird. Dahinter steht die Überlegung, dass ein hoher Anreizeffekt sich zwangsläufig in hohen Kosteneinsparungen manifestiert. Der Aufteilungsschlüssel müsste demnach vom Auftraggeber so gewählt werden, dass ein erhöhter Unternehmeranteil durch überproportional erhöhte Einsparungseffekte überkompensiert wird. Hier spielt die subjektiv wahrgenommene Verteilungsgerechtigkeit als Einflussfaktor auf das Anstrengungsniveau des Unternehmers eine ganz entscheidende Rolle54): Rein ökonomisch betrachtet müsste ein Unternehmer jedwede Einsparungsanstrengung unternehmen, die ihm einen (noch so geringen) Ergebniszuwachs beschert. Die empirische Forschung zeigt allerdings, dass Akteure ihr Handeln stets nicht zuletzt auch am Aspekt der subjektiven ‚Fairness‘ einer ggf. oktroyierten Regelung ausrichten – ein als ‚unfair‘ empfundenes Aufteilungsverhältnis verfehlt nicht nur eine positive Anreizwirkung, latent wird es die Kooperation der Parteien sogar belasten und sich letztlich kontraproduktiv auf das gesamte Bauvorhaben auswirken. Empirische Erhebungen von Mielke lassen für Zielkostenverträge vermuten, dass ein wirksamer Anreizeffekt ab einem Aufteilungsverhältnis zwischen 65:35 (AG/AN) und 50:50 zu erzielen sein wird.55) Insoweit ist bei der Festlegung des Aufteilungsschlüssels zu beachten, dass der Unternehmer das Vorschlagsrisiko für Planungs- bzw. Projektoptimierungen trägt – dem Auftraggeber steht es frei, z.B. kostenmindernde Planungsalternativen bei ‚Nichtgefallen‘ abzulehnen. Sofern der Unternehmer seine Aufwendungen für die Erstellung eines abgelehnten Optimierungsvorschlags nicht im Projekt geltend machen kann, muss er diese aus den tatsächlich erzielten Einsparungsgewinnen querfinanzieren. Dies müsste in den Aufteilungsregelungen durch einen entsprechend erhöhten Auftragnehmeranteil kompensiert werden.

54) 55)

Siehe dazu etwa Piazolo (2007), S. 45ff. Vgl. Mielke (2018), S. 53f.

716

48.4.4

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Kostenregelung außerhalb des Korridors

Neben der Festlegung einer Zielkostenvorgabe als Maßstab für den Projekterfolg basiert Konzept des Zielkostenvertrags – wie bereits skizziert – auf der Vereinbarung einer Erfolgs- und Misserfolgsbeteiligung der Parteien in den Grenzen eines hierfür geltenden Kostenkorridors nach einem ebenfalls vertraglich zu vereinbarenden Aufteilungsschlüssel. Abschließend notwendig ist vor diesem Hintergrund eine Regelung zur Behandlung der Fälle, in denen die bei der Projektdurchführung angefallene Kostensumme außerhalb des vereinbarten Kostenkorridors zu liegen kommt.

48.4.4.1

Sinn und Zweck

Eine Regelung zur Haftung für Zielkostenüberschreitungen oberhalb des vereinbarten Kostenkorridors bzw. zum Ausschüttungsanspruch für Kosteneinsparungen, die die Untergrenze des Korridors unterschreiten, scheint dem Sinn des Zielkostenvertrags auf den ersten Blick zuwider zu laufen. Schließlich ist es doch ein wesentliches Ansinnen der Vertragsgestaltung, die Zielkosteneinhaltung über das Anreizsystem einer Erfolgs- bzw. Misserfolgsbeteiligung der Parteien abzusichern und – soweit möglich – weitere Kosteneinsparungen zu fördern. Da ein für beide Parteien wirksamer Anreizeffekt jedoch nur innerhalb des Korridors erreicht werden kann, würde dies für die Festlegung eines möglichst breiten Korridors sprechen. Dem aber steht ggf. das Interesse der Parteien entgegen, insbesondere die eigene Mehrkostenhaftung für den Fall von Zielkostenüberschreitungen zu beschränken und zu diesem Zweck eine Obergrenze des Aufteilungskorridors festzuschreiben. In der Praxis finden sich vor diesem Hintergrund zwei grundverschiedene Gestaltungsansätze: Einerseits marktgängig sind Regelungen, nach denen der Auftragnehmer für die oberhalb des Korridors liegenden Zielkostenüberschreitungen alleine einstandspflichtig wird – zu denken ist hier etwa an den GMP-Vertrag oder andere Zielkostenmodelle, bei denen der Auftraggeberanteil für Mehrkosten durch einen ‚Cap‘ gedeckelt wird. Der Auftraggeber kann sein Kostenrisiko damit also wirksam auf ein bestimmtes Limit beschränken. Ebenfalls anzutreffen sind jedoch auch Vertragsgestaltungen, bei denen die Einstandspflicht der Auftragnehmerseite für Zielkostenüberschreitungen auf einen maximalen ‚Painshare‘-Betrag begrenzt wird. Über diesen Maximalbetrag hinausgehende Mehrkosten trägt dann in Gänze der Auftraggeber. Diese Lösung kommt z.B. bei Allianzverträgen ganz regelmäßig zum Tragen.

48.4.4.2

Regelungsgestaltung im Bauvertrag

Der Umstand, der dennoch eine sorgfältige Vertragsgestaltung erforderlich macht, zeigt sich an ganz anderer und ggf. unerwarteter Stelle – nämlich in der Anreizwirkung zur Unterbreitung von Optimierungs- bzw. Einsparvorschlägen und dem damit verbundenen Effekt auf die Gesamtkostenentwicklung des Projekts. Es sei deshalb nochmals folgender Aspekt beleuchtet: Sobald die Summe der im Projektverlauf entstehenden Gesamtkosten – unter Einrechnung von Optimierungsgewinnen – die Obergrenze des Aufteilungskorridors übersteigen, fallen diese Optimierungsgewinne an diejenige Vertragsseite, die für die über die Obergrenze hinausgehenden Kosten in der Haftung steht. Sie dämpfen damit zum vollen Betrag den Verlust der einstandspflichtigen Partei; die andere Vertragsseite kann folglich – und ggf.

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

717

entgegen Ihrer wirtschaftlichen Erwartung – an diesen Optimierungen nicht mehr partizipieren. Dies könnte man als ‚konzeptimmanentes Risiko‘ akzeptieren, die Tücke aber liegt im Detail. Sobald nämlich klar wird, dass die Projektkosten den Aufteilungskorridor letzten Endes mit hoher Wahrscheinlichkeit überschreiten werden und damit eine Partei voll einstandspflichtig für den Überschreitungsbetrag wird, erlischt für die Gegenseite jede Motivation, weitere Einspar- bzw. Optimierungsvorschläge zu entwickeln oder zu akzeptieren. Der gewollte Anreizeffekt und der darin liegende Kooperationsgedanke sind damit perdu. Mehr noch: Ab diesem Zeitpunkt droht sogar ein Rückfall in ‚klassische‘ Konfliktfelder, konkret in eine Extremauslegung des geschuldeten Bausolls durch den Auftraggeber (bei Kostentragung durch den Unternehmer) oder umgekehrt in eine Minimierung aller Kosteneinsparanstrengungen seitens des Unternehmers (bei Kostentragung durch den Auftraggeber). Es ist leicht nachvollziehbar, dass das frühzeitige Zutagetreten solcher Entwicklungen kaum im Interesse der jeweils benachteiligten Partei liegen wird. Dies wiederum birgt die Gefahr, dass problematische Kostenentwicklungen verschleiert oder ggf. deutlich zu spät im Projektverlauf zur Kenntnis gebracht werden. Die Parteien werden angesichts dieses Risikos nicht ein vitales Interesse an einer transparenten und stets aktuellen Erfassung der angefallenen Kosten haben, sondern sie müssen darüber hinaus auch Sorge für eine fortlaufend belastbare Kostenprognose zum Projektende tragen, die insbesondere auch sämtliche Optimierungs- und Einsparmaßnahmen beinhaltet. Dem gemeinsamen Kostenmanagement und der Wahrung des insoweit grundlegenden ‚Open-Book‘-Prinzips im Rechnungswesen kommt damit eine Schlüsselrolle für die Projektdurchführung zu.

48.5

Potenzial des Zielkostenmanagements

Auch wenn das Konzept des Zielkostenmanagements für Bauprojekte bereits seit geraumer Zeit diskutiert wird, herrscht – nicht allein wegen der damit verbundenen substanziellen Änderungen in der Projekt- und Prozessorganisation von Bauvorhaben – hinsichtlich seines wirtschaftlichen Potenzials noch vielfach Skepsis. Es liegt deshalb nahe, die möglichen bzw. realisierbaren Effizienzvorteile anhand empirischer Datensätze zu beleuchten. Von Interesse sind insoweit einerseits die Effekte des Zielkostenmanagements im Hinblick auf die Kostensicherheit bzw. Prognosestabilität von Kostenaussagen und andererseits die ökonomische Wirkung vertraglicher Zielkostenvereinbarungen.

48.5.1

Effekte des Zielkostenmanagements

Das Konzept des Zielkostenmanagements begründet sich allgemein aus dem Anspruch, Produkte zu marktfähigen bzw. wirtschaftlich akzeptablen Kosten zu entwickeln und hierbei eine ex ante getroffene Zielkostenvorgabe einzuhalten. Im Ergebnis soll die Methode folglich zweierlei bewirken: Es soll Kostenwirtschaftlichkeit und Prognosestabilität von Kostenaussagen sichergestellt sein, und zwar frühzeitig und über den gesamten Verlauf der Produktentwicklung – bzw. mit Blick auf die Bauwirtschaft – über den gesamten Realisierungsverlauf eines Bauvorhabens. Vergleichsweise einfach zu klären scheint die Frage, ob und inwieweit durch das Zielkostenmanagement tatsächlich eine frühzeitige und langfristig stabile Kostenaussage erreicht werden kann: Zu diesem Zweck müssen ‚lediglich‘ die Kostenentwicklungen über den

718

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Projektverlauf analysiert werden. Daten hierfür liefert eine Projektauswertung des Department of Treasury and Finance, Victoria (Australien), im Rahmen derer insgesamt 46 Allianz-Infrastrukturprojekte näher untersucht wurden. Das Ergebnis erstaunt jedoch: Die Projekte verteuerten sich gegenüber dem bei Projektstart vom Vorhabenträger gesetzten Kostenrahmen um rund 45 bis 55 %; die Prognosestabilität der Allianzprojekte lag damit sowohl deutlich hinter PPP-Vorhaben (+ 5 bis 10 %) als auch hinter konventionell realisierten Maßnahmen (+ 20 %).56) Auffällig ist weiter, dass die Allianzprojekte bereits bei der ersten Zielkostenermittlung – einer Zielkostenschätzung – und damit in der Vorplanung einen Kostensprung von 35 bis 45 % gegenüber dem gesetzten Kostenrahmen zu verzeichnen hatten. Im weiteren Planungsverlauf bis zur Fertigstellung kamen dann ‚nur noch‘ 5 bis 10 % an weiteren Kostenerhöhungen hinzu (vgl. Abb. 48-6). Der Schwachpunkt in der Stabilität der Kostenaussage lag insoweit weniger in der Zielkostenentwicklung als offenbar ganz besonders in einer deutlich zu optimistischen Kostenvorgabe des Projektträgers begründet – die Bearbeiter der Studie fordern deshalb nur zurecht eine signifikante Verbesserung der Kostenvorgabequalität auf der Bauherrenseite.57) Ein Problem, das auch bei öffentlichen Bauprojekten in Deutschland regelmäßig den Ausgangspunkt aller Kostensteigerungen markiert. Im Gegensatz zu einer konventionellen Projektrealisierung trägt das im Modell der Projektallianz angelegte Zielkostenmanagement jedoch offenbar dazu bei, dass gravierende Fehleinschätzungen in der Budgetierung bereits frühzeitig und nicht erst dann zutrage treten, wenn mit der Bauausführung längst begonnen wurde.

Abb. 48-6

Empirische Zielkostenentwicklung australischer Allianzen über den Projektverlauf

Eine insoweit tatsächliche Kostensteigerung von 5 bis 10 % zwischen der Vorplanung und der Projektfertigstellung wäre mit Blick auf die Prognosegenauigkeit herkömmlicher Kostenermittlungen zunächst als akzeptabel einzustufen; das Zielkostenmanagement verfolgt jedoch den Anspruch, auch solche Kostensteigerungen durch planerische Anpassungen aufzufangen. Es stellt sich damit die Frage, aus welchen Gründen dies offenbar nicht gelungen ist. Neben ‚tatsächlichen‘ Prognoseungenauigkeiten kommt als Ursache auch in Betracht, dass der Leistungsumfang der Projekte im Zuge der Planung aufgrund geänderter Vorgaben ggf. ausgeweitet wurde. Die damit verbundenen Mehrkosten müssten dann selbstverständlich in der Zielkostenermittlung, aber auch in der Kostenvorgabe fortgeschrieben werden.

56) 57)

Vgl Department of Treasury and Finance (2009), S. XV Vgl. Department of Treasury and Finance (2009), S. XV

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

719

Diese Praxis ist z.B. in den Value-for-Money-Reports finnischer Allianzvorhaben recht aufschlussreich dokumentiert. Bei den Projekten Rantatunneli-Alliance58) und ÄänekoskiAlliance59) etwa wurden die Budgets aufgrund von Änderungen des Leistungsumfangs bzw. erweiterten Anforderungen im Zuge der Planungsphase angepasst und damit systematisch kongruent zur Zielkostenermittlung fortgeschrieben. Für ein wirksames Zielkostenmanagement ist diese Transparenz unverzichtbar.

48.5.2

Wirkung vertraglicher Zielkostenvereinbarungen

Im Schrifttum zu Zielkostenverträgen klingt bisweilen die Auffassung an, das ökonomische Motiv einer Zielkostenvereinbarung liege für die Parteien in der Ausschöpfung und Aufteilung möglicher Kosteneinsparpotenziale nach Vertragsschluss.60) Der konzeptionelle Ansatz der Vertrags- und Vergütungsgestaltung würde folglich weit über den Aspekt der Kosteneinhaltung hinausreichen; die ökonomische Legitimation der Zielkostenverträge läge damit ggf. sogar mehr in der Erzielung von Optimierungsgewinnen als in einer Verbesserung der Projektstabilität.61) Insoweit drängt sich die Frage auf, welche Stabilisierungs- bzw. Optimierungseffekte nach den bisherigen Erfahrungen tatsächlich durch den Einsatz von Zielkostenmodellen erreichbar sind: Ein erster Aufschluss konnte hierzu aus den – jedoch nur für Einzelfälle verfügbaren – Daten von Allianzvorhaben in Finnland und Australien gewonnen werden. Danach erreichten die realisierten Kostenoptimierungen der australischen Projekte im Mittel rund 2,9 % der vertraglich vereinbarten Zielkosten; der Streuungsbereich lag hierbei zwischen 2,0 % und 4,6 %. Bei drei von den Verfassern untersuchten Allianzprojekten in Finnland wurden nach Vertragsschluss Kosteneinsparungen zwischen 1,9 % und 10,9 % erzielt. Diese Größenordnung deckt sich im Wesentlichen mit den Erkenntnissen anderer Studien. So kommen Walker, Harley und Mills bei einer Auswertung australischer Allianzprojekte zu einer durchschnittlichen Zielkostenunterschreitung von 4,1 %62) – ein Resultat, das sich auch mit einer im Jahr 2008 veröffentlichten Studie von Blismas und Harley63) für die Alliancing Association of Australasia (AAA) deckt: Für 25 von 30 Projekten mit Kosteneinsparungen rangierte die mittlere Einsparung bei 8,3 %, die Einzelprojektergebnisse streuten zwischen 1 % bis 29 %. Eliminiert man die Ausreißer der Studie (Extremwerte größer 10 %), so ergibt sich daraus ein durchschnittlich realisiertes Einsparpotenzial von ca. 5 % der Zielkosten. Bei fünf (16,6 %) der 30 Bauvorhaben wurden die Zielkosten hingegen um 3 % bis maximal 6 % (i.M. 4,4 %) überschritten. Fallstudien von Heidemann an fünf australischen Infrastruktur-Allianzprojekten bestätigen diese Resultate mit Einspareffekten zwischen 3 und 10 % der Zielkostensumme, die im Mittelwert bei 6,4 % lagen.64) Deutlich geringere Effekte stellt hingegen Sweeney fest – nach seinen Untersuchungen waren die tatsächlichen Kosten der von ihm betrachteten Allianzprojekte im Vergleich zu den zum Vergabezeitpunkt vereinbarten Kosten nur um durchschnittlich 0,8 % unterschritten.65)

58) 59) 60) 61) 62) 63) 64) 65)

Vgl. FTA (2018b), S. 5 Vgl. FTA (2018a), S. 20 Für den GMP-Vertrag etwa Gralla (2001) S. 134 So z.B. BMVI (2015), S. 60f.; BMUB (2016), S. 21; HDB (2018), S. 16ff. Vgl. Walker et al. (2015), S. 7 Vgl. Blismas/Harley (2008), S. 23 Vgl. Heidemann (2010), S. 139 Vgl. Sweeney (2009), S. 224

720

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Mit dem Fokus auf GMP-Modelle untersuchte ferner Haghsheno im Jahr 2004 acht ausgewählte US-amerikanische Projekte. Die erzielten Einsparungen variierten nach dieser Studie zwischen 0 und 4,8 %. Durchschnittlich seien Kostenreduktionen in Höhe von 1,5 % der GMP-Summe zu verbuchen gewesen66) (vgl. Abb. 48-7).

Abb. 48-7

Empirische Größenordnung der Einspareffekte bei Zielkostenverträgen

In Großbritannien weisen die ProCure-Investitionsprogramme für den Zeitraum 2004 bis 2015 Zielkosteneinhaltungsquoten zwischen 93 % und 100 % aus – im arithmetischen Zwölfjahresmittel konnten 97,2 % der ProCure-Projekte zum ursprünglich vereinbarten GMP oder mit Kostenunterschreitungen fertiggestellt werden.67) Zu den erzielten Einsparungen waren keine Angaben verfügbar. Letzteres ggf. nicht ohne Grund: Aus der Gesamtschau der empirischen Erkenntnisse lässt sich die Schlussfolgerung ableiten, dass die im Rahmen von Zielkostenverträgen erreichbaren Kostensenkungseffekte realistisch im niedrigen bis mittleren einstelligen Prozentbereich der Zielkostenvorgabe zu veranschlagen sind. Die Projektbeteiligten sind deshalb gut beraten, keine zu hohen Einsparerwartungen an die Vereinbarung von Zielkostenmodellen zu knüpfen. Woher sollten die Kostenminderungen auch kommen, wenn die Zielkostenvereinbarung erst mit hinreichender Planungstiefe etwa zu Beginn der Leistungsphase 5 HOAI (Ausführungsplanung) erfolgen kann? Hier sind die verbleibenden Einsparpotenziale aus der Natur der Sache heraus bereits weitgehend eingeschränkt. Doch anders bisweilen signalisiert wird, geht es auch erst in zweiter Linie um eine Baukostensenkung. Viel wesentlicher ist die Einhaltung der Zielkosten – das Anreizsystems der Mehr/Minderkostenbeteiligung dient ganz offenbar primär dazu, die Chancen für diese Zielkosteneinhaltung zu maximieren und insoweit die Kostenstabilität der Projekte gegenüber der konventionellen Abwicklung ganz beträchtlich zu verbessern. Dass dies gelingt, dafür geben die empirischen Untersuchungen ein recht eindrucksvolles Zeugnis.

66) 67)

Vgl. Haghsheno (2004) S. 123 Vgl. dazu www.procure21plus.nhs.uk/performance. Datum des Zugriffs: 21.05.2019

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

48.6

721

Aktuelle Trends

Diese empirischen Befunde zur Implementierung des Zielkostenmanagements werden inzwischen auch über die Länder hinweg registriert, in denen bereits eine Vielzahl von Projekten nach dieser Methode abgewickelt wurde. Es verwundert deshalb nicht, dass aktuell in Europa, aber auch in Deutschland, einige neue Impulse und Entwicklungen zu beobachten sind:

48.6.1

Entwicklungen in Europa

Das Modell des Zielkostenmanagements findet aktuell in der europäischen Bauwirtschaft mehr und mehr Verbreitung. Ein ganz wesentlicher Treiber dieser Entwicklung sind ganz ohne Zweifel die auf breiter Front gewonnenen und im Ergebnis positiven Praxiserfahrungen in der finnischen Bauwirtschaft. Nach dem Vorbild der FTIA hat inzwischen auch das Trafikverket als schwedische Bauherreninstitution für die staatliche Verkehrsinfrastruktur Beschaffungsmodelle eingeführt, die ganz wesentlich auf einer frühzeitigen Einbindung von Bauausführungskompetenz, einem Zielkostenmanagement für die Projektabwicklung und auf einer gemeinschaftlichen Chancen- und Risikoteilung basieren und eine auf das projektspezifische Risikoprofil abgestimmte Projekt- und Vertragsorganisation zulassen.68) Auch im Nachbarland Norwegen werden im Rahmen des Ausbaus der Europastraße E39 aktuell ähnliche Projektabwicklungsmodelle erwogen. Die finnische FTIA bereitet aktuell gleichsam eine neue Entwicklungsstufe für das Zielkostenmanagement bei Verkehrsinfrastrukturprojekten vor: Neben der Fortführung des Allianzkonzepts für komplexe Großprojekte strebt die FTIA für die Zukunft eine Ausweitung integraler Planungs- und Zielkostenansätze auch für konventionelle Projekte an, die bis dato als sog. Design-Build-Vorhaben mit konventionellen Generalunternehmerverträgen abgewickelt werden. In Großbritannien hat sich das Zielkostenmanagement und der Einsatz entsprechender Target Cost Contracts bereits seit geraumer Zeit fest in der Bauwirtschaft etabliert und sich neben Design-Build- und den PPP-Beschaffungsmodellen besonders auch im Infrastrukturbereich ein breites Anwendungsfeld gesichert. Auch in den Niederlanden verfolgt die Rijkswaterstaat als staatlliche Baubehörde für Straßen und Wasserwege für ihre Infrastrukturprojekte einen mit dem Zielkostenmanagement verwandten Beschaffungsansatz. Das dort etwa seit dem Jahr 2010 praktizierte ‚Best Value Procurement‘ (BVP) setzt – neben dem Leistungspreis – insbesondere auf eine kompetenzorientierte Vergabe von Planungs- und Bauleistungen mit dem Fokus auf einer frühzeitigen Klärung bzw. Bestimmung des ‚Best Value‘ im Sinne der bestmöglichen Projektlösung und einer anschließenden Umsetzung unter Minimierung der damit verbundenen Projektrisiken.69) Nach positiven Erfahrungen ist das BVP-Konzept fester Bestandteil des strategischen Beschaffungskonzepts für den Infrastrukturbau.70)

68) 69) 70)

Vgl. Trafikverket (2018), S. 1ff. Vgl. dazu Snippert (2014), S. 18ff. Vgl. Brandsen (2012) http://vlaamsewaterbouwers.be/_library/_files/02_Cees_Brandsen.pdf. Datum des Zugriffs: 30.05.2019

722

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

48.6.2

Entwicklungen in Deutschland

In Deutschland wird der Einsatz von Zielkostenmodellen bereits seit gut 20 Jahren erwogen. Befeuert wurde die Diskussion seinerzeit vor allem durch die ‚Partnering‘Initiativen der britischen und der US-amerikanischen Bauwirtschaft; begierig aufgegriffen wurde sie von deutschen Bauunternehmen in dem Bestreben, auf diese Weise Ihr Margenund Risikoprofil bei anspruchsvollen Projekten in einem schwierigen Konjunktur- und Marktumfeld zu verbessern. Bei den Bauherren fand man damals nur wenig Gehör. In einer Zeit der Rezession hatten sie um die Jahrtausendwende hinreichende Nachfragemacht, um zu geringen Baupreisen einen umfassenden Risikotransfer auf die Unternehmer durchzusetzen, und konventionelle Vertragsmodelle – wie etwa der kautelarjuristisch immer weiter perfektionierte Globalpauschalvertrag – erfüllten diesen Zweck meist zur Genüge. Folgerichtig kamen innovative, partnerschaftliche Modelle nur zögerlich und auch nur in Einzelfällen zur Anwendung; prägenden Einfluss auf Marktsegmente bzw. Projektklassen konnten sie unter den herrschenden Rahmenbedingungen nicht gewinnen. Inzwischen allerdings haben sich die Zeiten geändert: Die Baubranche erlebt eine neue Hochkonjunktur, die Nachfrage ist immens, allerorten fehlt es an Planungs- und Bauausführungskapazitäten zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben, und die Bauunternehmenslandschaft hat einen tiefgreifenden Strukturwandel erfahren –einige Großkonzerne sind durch Insolvenz aus dem Markt ausgeschieden, andere wurden übernommen, und viele Firmen haben Geschäftsfelder aufgegeben. Die daraus hervorgegangene Anbieterschaft agiert heute deutlich vorsichtiger. Für eine Risikoübertragung in der früher gängigen Manier findet sich unter diesen Gegebenheiten kein Markt; derartige Aufträge könnten – wenn überhaupt – nur zu Preisen mit beträchtlichen Risikoaufschlägen vergeben werden. Bauherren müssen deshalb gezwungener Maßen nach neuen Wegen suchen, um die Risiken komplexer Großbauvorhaben beherrschen und die Projekte trotz drastisch gesunkener Wettbewerbsintensität auf der Anbieterseite kosteneffizient umsetzen zu können. Sie sind es deshalb heute, die eine partnerschaftliche Projektabwicklung propagieren und sich aktiv um die Entwicklung und Etablierung entsprechender Vertragsmodelle bemühen und entsprechende Brancheninitiativen gestartet haben. Zu nennen sind in diesem Kontext etwa die vom Investor ECE ins Leben gerufene Initiative ‚TeamBuilding‘71), der sich inzwischen einige weitere große Bauherren aus dem Hoch-, Industrie- und Infrastrukturbau72) angeschlossen haben, oder die von der Politik auf den Weg gebrachten Impulse zur Reform der Großprojektdurchführung im Verkehrs- und Infrastrukturbereich. Die Diskussion um innovative Vertragsmodelle ist damit seit einiger Zeit wiederaufgelebt; sie hat zusehends an Dynamik gewonnen und trägt inzwischen erste Früchte: Mit dem Projekt ‚Kongresshotel Hamburg‘ entsteht aktuell das erste Allianz-Pilotprojekt; ein weiteres Pilotprojekt ist im Infrastrukturbereich konkret in Vorbereitung, weitere Pilotprojekte stehen in intensiver Prüfung.

71) 72)

Siehe hierzu www.initiative-teambuilding.de Dies sind die BMW AG und die Bayer AG, die DB Netz AG sowie die Flughäfen München und Frankfurt a.M., Union Investment und Sonae Sierra (Stand: 31.05.2019).

48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

48.7

723

Zusammenfassung

Die Diskussion um die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Verbesserung der Kostenstabilität und Kosteneffizienz bei der Realisierung von – insbesondere komplexen – Bauvorhaben ist in Deutschland weiterhin und unvermindert aktuell. Die aktuell für öffentliche Großprojekte vorgeschlagenen Maßnahmen orientieren sich zwar an einigen auch international bekannten Ansätzen, klammern allerdings das Konzept des Zielkostenmanagements dabei weitestgehend aus, obschon dieses in anderen Ländern bereits mit z.T. großem Erfolg praktiziert wird und auch in Europa mehr und mehr zur Anwendung gelangt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Infrastrukturbau. Ein möglicher Grund für die eher abwartende, skeptische Haltung in der deutschen Bauwirtschaft mag ggf. in einem noch wenig ausgeprägten Verständnis des Managementansatzes an sich und auch der daran anknüpfenden Zielkosten-Vergütungsmodelle zu suchen sein, die je nach Erfordernis des Einzelfalls unterschiedlich ausgestaltet werden können. Diese Gestaltungsoptionen betreffen die strukturbildenden Elemente des Vergütungssystems – namentlich die vertragliche Zielkostenvorgabe, den Korridor für Zielkostenabweichungen, die Aufteilungsregelung für Mehr- bzw. Minderkosten sowie die Kostenregelungen außerhalb des Korridors. Für einen effizienten Einsatz von Zielkostenmodellen ist es deshalb erforderlich, neben einer genaueren Betrachtung von Sinn und Zweck der einzelnen Elemente insbesondere auch die Möglichkeiten und Effekte der konkreten vertraglichen Ausgestaltung in den Blick zu nehmen. Die empirischen Erfahrungen zu den Effekten des Zielkostenmanagements geben Anlass zu der Vermutung, dass sich diese Mühe lohnt – neben einer stark verbesserten Transparenz der projektbezogenen Kostenentwicklung und einer deutlich erhöhten Prognosestabilität der Kostenaussagen über den Planungsverlauf zeigt sich insbesondere auch eine ganz beträchtlich gestiegene Verlässlichkeit der Kosteneinhaltung in der Bauphase. Anders als hierzulande gelegentlich suggeriert, liegt der Haupteffekt von ZielkostenVertragsmodellen jedoch keineswegs in der Ausschöpfung enormer Kosteneinsparpotenziale und einer damit verbundenen Ergebnissteigerung der Beteiligten: Als realistisch erscheinen nach länderübergreifenden Studien Einsparungen von ‚lediglich‘ 1 % bis 5 % der Zielkostensumme, während sich die Optimierungseffekte in der vorausgehenden integralen Projektplanung bislang mangels valider Untersuchungen kaum beziffern lassen. Sie dürften die Einsparungsgewinne aus der Bauausführung allerdings deutlich übertreffen. Der gleichwohl ungemein bedeutsame Effekt von Zielkostenverträgen liegt vielmehr in einem ganz banalen, für die Projektträger aber umso wesentlicheren Resultat – in der Einhaltung der vereinbarten Zielkostensumme, während die Kosten bei konventionellen Projekten in der Bauphase ganz regelmäßig aus dem Ruder laufen.

48.8

Abkürzungsverzeichnis

AAA

......................... Alliancing Association of Australasia

AG

......................... Auftraggeber

AGK

......................... Allgemeine Geschäftskosten

AN

......................... Auftragnehmer

BIM

......................... Building Information Management

BMUB

......................... Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und

724

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Reaktorsicherheit BMVI

......................... Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur

BRH

......................... Bundesrechnungshof

BVP

......................... Best Value Procurement

DB

......................... Deckungsbeitrag

ECI

......................... Early Contractor Involvement

EKT

......................... Einzelkosten der Teilleistung

FTA

......................... Finnish Transport Agency (ab 01.01.2019: FTIA)

FTIA

......................... Finnish Transport Infrastructure Agency, vormals FTA

GMP

......................... Guaranteed Maximum Price

IPD

......................... Integrated Project Delivery

KPI

......................... Key Performance Indicators

Lph.

......................... Leistungsphase

Mio.

......................... Millionen

Mrd.

......................... Milliarden

NEC

......................... New Engineering Contract

NHS

......................... National Health Service

PPP

......................... Public Private Partnership

ÖPP

......................... Öffentlich-Private Partnerschaft

RIBA

......................... Royal Institute of British Architects

RICS

......................... Royal Institution of Chartered Surveyors

TOC

......................... Target Outturn Costs

WuG

......................... Wagnis und Gewinn

48.9

Literaturverzeichnis

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48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

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48 Zielkostenmanagement und Zielkostenverträge für komplexe Bauvorhaben

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49

Rechtsprobleme bei Insolvenz eines ARGE-Partners Zivil- und vergaberechtliche Folgen

MMag. Dr. Christoph Wiesinger, LL.M. Referent Wirtschaftskammer Österreich, Geschäftsstelle Bau der Bundesinnung Bau und des Fachverbands der Bauindustrie Schaumburgergasse 20/8 1040 Wien www.bau.or.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_49

730

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

49.1

Abstract

Bauunternehmern schließen sich in der Praxis oftmals zu einer Projektgesellschaft zusammen, um ein konkretes Bauvorhaben auszuführen. Da es um keinen dauerhaften Zusammenschluss geht, wird für diese Arbeitsgemeinschaften (kurz: ARGEN) – so deren Bezeichnung in der Praxis – eine möglichst einfache Gesellschaftsform gewählt – nämlich die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GesbR). Diese hat allerdings keine Rechtspersönlichkeit1), womit Forderungen gegen die Gesellschaft Forderungen gegen die Gesellschafter sind und Forderungen der Gesellschaft Forderungen aller Gesellschafter gemeinsam. Die Insolvenz eines Vertragspartners und die Befürchtung aller übrigen, dadurch einen Vermögensnachteil zu erleiden, führen gerade in einem solchen Fall dazu, dass jeder genau auf seine Rechte achtet. In rechtlicher Hinsicht sind freilich zwei Fälle zu unterscheiden – der Konkurs und das Sanierungsverfahren (früher Ausgleich). Während es beim Konkurs nur mehr um die Abwicklung der Konkursmasse geht, steht beim Sanierungsverfahren – wie der Name schon vermuten lässt – die Sanierung eines wirtschaftlich angeschlagenen Unternehmens im Vordergrund. Daher versucht der Gesetzgeber im zweiten Fall möglichst zu verhindern, dass laufende Verträge geändert werden, weil dies im Regelfall dem angeschlagenen Unternehmen den wirtschaftlichen Todesstoß versetzen würde. Das trifft auch für den Ausschluss aus einer Bau-ARGE zu.

49.2

Situationsanalyse

Praktisch alle Gesellschaftsformen, die das österreichische Recht kennt, haben Rechtspersönlichkeit, womit sie Träger von Rechten und Pflichten sein können. Bei der Insolvenz eines Gesellschafters ist daher lediglich zu klären, wie der Gesellschaftsanteil des insolventen Gesellschafters zu behandeln ist. Im Verhältnis zwischen der Gesellschaft und Dritten stellen sich keine besonderen Fragen, denn die rechtlichen Beziehungen bestehen zwischen der Gesellschaft selbst und dem Dritten. Anderes gilt – wie bereits erwähnt – für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Sie hat keine Rechtspersönlichkeit und die Vertragsbeziehungen bestehen daher zwischen dem Dritten auf der einen Seite und den Gesellschaftern auf der anderen Seite, die eine entsprechende Schuldner- bzw Gläubigermehrheit bilden. Die Insolvenz eines Gesellschafters berührt daher all diese Vertragsverhältnisse, was zahlreiche Rechtsprobleme aufwirft. In der Literatur gibt es daher seit langem Stimmen, die ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, warum die Bauwirtschaft trotz all dieser Nachteile bei ARGEN an der Rechtsform der GesbR festhält und nicht eine andere Gesellschaftsform wählt.2) Aus rein gesellschaftsrechtlicher und insolvenzrechtlicher Sicht ist diesen kritischen Stimmen durchaus Recht zu geben, doch bietet die GesbR auf zahlreichen anderen Rechtsgebieten Vorteile, die auch außerhalb der Insolvenz von Bedeutung sind (v.a. im Kartell-, Gewerbe-, Vergabe- und Arbeitsrecht).3) Insolvenzen von ARGE-Partnern kommen in der Praxis zwar gelegentlich vor, sind aber die Ausnahme. Daher sprechen weiterhin gute Gründe für die Gründung von Bau-ARGEN in dieser Rechtsform. 1) 2) 3)

Vgl. Krejci (2012), S. 11; Harrer (2015), S. 123; Fritz, Potyka (2015) S. 72; Spitzer (2015), S. 415; Told (2016), Rz 2/33; Artmann (2017), § 1175 Rz 15 Vgl. Krejci (2012), S. 7; Trenker (2014), S. 122; Harrer (2015), S. 122 Vgl. Wiesinger (2015) S. 57; Haberer (2018), S. 233

49 Rechtsprobleme bei Insolvenz eines ARGE-Partners

49.3

Zivilrechtliche Fragen

49.3.1

Vertragsverhältnisse bei einer Arge

731

Dass die ARGE-Gesellschafter bei einer ARGE durch einen Gesellschaftsvertrag miteinander verbunden sind, bedarf wohl keiner gesonderten Erwähnung. Verträge zwischen „der ARGE“ und „Dritten“ bestehen aber – wie bereits erwähnt – in rechtlicher Hinsicht zwischen den einzelnen ARGE-Gesellschaftern auf der einen Seite und dem Dritten auf der anderen Seite. Dies gilt nicht nur für den wohl wichtigsten Vertrag – den Vertrag zwischen Werkbesteller (Auftraggeber) und den ARGE-Gesellschaftern als Werkunternehmer (Auftragnehmer) – sondern auch für alle anderen Vertragsverhältnisse, etwa zwischen den ARGE-Gesellschaftern als Werkbesteller und einem Subunternehmer, zwischen den ARGE-Gesellschaftern und dem Verkäufer (Lieferanten) von Baumaterial oder zwischen ARGE-Gesellschaftern als Kontomitinhaber und der Bank. Hier ist in rechtlicher Hinsicht allerdings zu unterscheiden, ob ein Vertrag zwischen bloß einem Gesellschafter und dem Dritten oder tatsächlich zwischen allen Gesellschaftern und dem Dritten zustande gekommen ist. Bei der Insolvenz eines ARGE-Gesellschafters sind nämlich bloß die gesellschaftsbezogenen Vertragsverhältnisse von Bedeutung. Dritte können aus einem Rechtsverhältnis, das nicht gesellschaftsbezogen ist, nur dann Rechte ableiten, wenn sie sich auf einen besonderen Haftungstatbestand stützen können. Ein solches Beispiel wären etwa die Entgeltansprüche abgestellter Arbeitnehmer, weil hier aufgrund der Entgeltzahlung im Namen der ARGE eine kumulative Schuldübernahme der anderen Gesellschafter vorliegt.4) Die Frage, wann ein Vertrag zwischen nur einem Gesellschafter oder allen Gesellschaftern zustande gekommen ist, ist mit den Methoden der Rechtsgeschäftslehre zu lösen. Da Gesellschafter einer ARGE i.a.R. Kapitalgesellschaften sind, ist erstens zu prüfen, ob der jeweils handelnde Vertreter in Namen der ARGE oder bloß im Namen eines Gesellschafters gehandelt hat, sowie zweitens, ob der handelnde Vertreter auch eine entsprechende Vertretungsmacht besessen hat. Eine rechtliche Verpflichtung aller ARGE-Gesellschafter besteht nämlich nur dann, wenn der Vertreter „im Namen der ARGE“ (recte im Namen aller ARGE-Gesellschafter) gehandelt hat und auch eine entsprechende Geschäftsführungsbefugnis und damit Vertretungsmacht hatte (z.B. in der Funktion als technische Geschäftsführung). Vorsicht ist allerdings vor der Annahme geboten, dass ein Tätigwerden auf einer ARGEBaustelle jedenfalls Ansprüche gegenüber allen ARGE-Gesellschaftern begründet. Dazu folgendes Beispiel: Eine ARGE besteht aus den Bauunternehmen X, Y und Z. „Diese“ vergibt an Z die Errichtung des Dachstuhls samt Eindeckung als Subunternehmerleistung. Z errichtet zwar den Dachstuhl selbst, betraut aber mit den Dachdecker- und Spenglerarbeiten den Subunternehmer A. Zwischen X und Y einerseits und A anderseits besteht damit kein Vertragsverhältnis, sodass A nur Ansprüche gegen Z, nicht aber gegen X oder Y hat. Das gilt auch in der Insolvenz und A kann auch keine bereicherungsrechtlichen Ansprüche geltend machen, da X und Y nicht titellos bereichert wurden, da A seine Leistungen aufgrund eines Vertrags erbracht hat.5) Damit gilt es als letztes zu klären, wie Forderungen der ARGE sowie solche gegenüber der ARGE in rechtlicher Hinsicht zu qualifizieren sind, denn immerhin handelt es sich dabei um eine Schuldner- bzw Gläubigermehrheit. Hier gilt: 4) 5)

Vgl. Krejci (1979), S. 146-148 Im Wesentlichen ebenso Trenker (2014), S. 121

732

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

• Die ARGE-Gesellschafter haften für Gesellschaftsschulden als Solidarschuldner (§ 1199 ABGB). Das bedeutet, dass jeder von ihnen im Außenverhältnis für die volle Schuld haftet, sich aber im Innenverhältnis anteilig regressieren kann. • Gesellschaftsforderungen sind Gesamthandforderungen (§ 1180 Abs 1 ABGB). Als solche können sie nur von allen Gesellschaftern gemeinsam geltend gemacht werden (wobei auch hier Stellvertretung zulässig ist6)). Allerdings wird der Schuldner bei einer Gesamthandforderung auch nur dann von der Schuld befreit, wenn er an alle Gesellschafter gemeinsam leistet – und nicht bloß an einen von ihnen. Daher wirkt die Zahlung auf ein gemeinsames Girokonto der ARGE-Gesellschafter schuldbefreiend, eine auf ein Girokonto bloß eines Gesellschafters nicht.7)

49.4

Konkurs

49.4.1

Außenverhältnis

Die rechtskräftige Eröffnung des Konkursverfahrens über einen Gesellschafter führt nach § 1208 Z 3 ABGB zur Auflösung der GesbR. Das gilt jedenfalls für eine ARGE, die aus nur zwei Gesellschaftern besteht. Besteht sie hingegen aus zumindest drei Gesellschaftern, kommt Pkt 18.3 ARGE-Vertrag (Pkt 18.3 GO) zur Anwendung, der eine Fortsetzung der Gesellschaft vorsieht, und zwar auch dann, wenn die Gesellschafter dies – entgegen § 1214 ABGB – dem Masseverwalter nicht bekanntgeben.8) Der Konkurs hat auch für das Außenverhältnis eine Bedeutung, denn nach § 1201 Abs 1 ABGB scheidet der insolvente Gesellschafter aus allen gesellschaftsbezogenen Vertragsverhältnissen aus. Nach § 1201 Abs 3 ABGB kann der Dritte binnen drei Monaten widersprechen. In diesem Fall bleiben die ursprünglichen Vertragsverhältnisse bestehen. Der ausscheidende Gesellschafter haftet trotz Ausscheidens aus dem Vertragsverhältnis allerdings nach § 1202 Abs 2 ABGB für gesellschaftsbezogene Verbindlichkeiten, die vor seinem Ausscheiden begründet worden sind. Diese mit der GesbR-Reform neu geschaffene Bestimmung stellt für die verbleibenden Gesellschafter eine entscheidende Erleichterung dar. Widerspricht der Dritte nämlich dem Ausscheiden nicht, sind die Gesellschaftsforderungen Gesamthandforderungen der verbleibenden Gesellschafter und diese können daher auch ohne Zustimmung des Masseverwalters über jene verfügen. Das führt u.a. dazu, dass eine Kontosperre für Konten der ARGE (Gemeinschaftskonten der ARGE-Gesellschafter) nicht mehr in Betracht kommt, weil die Kontoforderung auf die verbleibenden Gesellschafter übergeht.9)

49.4.2

Innenverhältnis

Mit dem Ausscheiden aus der Gesellschaft endet auch die Verpflichtung des ausgeschiedenen Gesellschafters, für die Erreichung des Gesellschaftszwecks zu sorgen. Das bedeutet, dass er künftig keine Leistungen für die ARGE erbringen muss, was insbesondere für die Verpflichtung zur Personalgestellung gilt. Bei der Gerätebeistellung sieht 6) 7) 8) 9)

Vgl. ErlRV 270 BlgNR 25. GP, 11. Vgl. OGH 17.11.1977, 7 Ob 701/77, HS 10.702 = SZ 50/151. So offenbar auch Weselik (2016), S. 162-163 Vgl. Spitzer (2015), S. 451; diesem folgend: Told (2016), Rz 2/258.

49 Rechtsprobleme bei Insolvenz eines ARGE-Partners

733

Pkt 18.5 GO vor, dass der ausgeschiedene Gesellschafter – hier also die Masse – Geräte nicht vorzeitig von der Baustelle abziehen darf, dafür allerdings einen laufenden Vergütungsanspruch erhält. Allerdings hat der Masseverwalter die Möglichkeit, den Vertrag vorzeitig zu beenden (§ 21 IO), was ihm durch die GO nicht genommen werden kann. Lediglich bei Geräten, die im Miteigentum der Gesellschafter stehen, ist die Rechtsposition der verbleibenden Gesellschafter eine bessere, da mit dem Konkurs das Eigentum am Gerät auf sie übergeht (§ 1201 Abs 2 ABGB), und zwar ohne weiteren Verfügungsakt.10) Der ausgeschiedene Gesellschafter hat aber einen Abfindungsanspruch für seinen Gesellschaftsanteil. Dazu ist eine Auseinandersetzungsbilanz zu erstellen, wofür Pkt 18.6 ARGE-Vertrag (wortgleich Pkt 18.6 GO) entsprechende Bestimmungen enthält. Beim Abfindungsanspruch sind Gewinne und Verluste bis zum Schluss des Monats des Ausscheidens zu berücksichtigen. Spätere Gewinne spielen keine Rolle mehr, spätere Verluste schon, sofern ihre Ursache zum Zeitpunkt des Ausscheidens bereits gesetzt war.

49.4.3

Sanierungsverfahren

Im Unterschied zum Konkurs führt die Einleitung eines Sanierungsverfahrens nicht zur Auflösung der ARGE – und zwar weder kraft Gesetzes noch nach der GO.11) Damit bestehen allenfalls entsprechende Zustimmungsrechte bei Rechtshandlungen jenes Gesellschafters, über den das Sanierungsverfahren eröffnet wurde. Die Vertragsverhältnisse werden ansonsten aber nicht berührt.

49.5

Vergaberechtliche Folgen

Im Vergaberecht spielt die Insolvenz eines Mitglieds einer Bietergemeinschaft (BIEGE) oder eine ARGE insofern eine Rolle, weil die BIEGE selbst als Bieter gesehen wird und der Wegfall eines Gesellschafters daher zu einem Wechsel der Identität des Bieters führt. In Österreich wurde hier lange Zeit eine sehr formalistische Ansicht vertreten, wonach das Ausscheiden eines Bieters aus der BIEGE jedenfalls zum Ausscheiden des Angebots überhaupt führen muss.12) Der EuGH stellt hingegen darauf ab, ob der verbleibende Bieter (oder die verbleibende BIEGE) trotz Ausscheidens eines insolventen Gesellschafters geeignet ist. Im Anlassfall hatte nämlich ein Mitglied der BIEGE Geräte und Personal des insolventen Gesellschafters übernommen und war daher in der Lage, den Auftrag auch allein zu erbringen. Der EuGH trug dem nationalen Gericht eine entsprechende Prüfung auf.13) Das BVwG hat zuletzt aber wieder die traditionelle österreichische Rechtsansicht favorsiert und festgehalten, dass die Entscheidung des EuGH im Zusammenhang mit einem Verhandlungsverfahren ergangen sei und daher auch nur für ein solches Bedeutung habe.14) Eine Begründung, die m.E. allerdings nicht wirklich überzeugt, da nicht 10) 11)

12) 13)

Vgl. Artmann (2017), § 1201 Rz 22. Ob eine solche Vereinbarung im Gesellschaftsvertrag möglich wäre, ist umstritten; dazu näher: Spitzer (2015), 416, (va FN 18). Die Frage kann an dieser Stelle unerörtert bleiben, weil sie sich in der Praxis mangels entsprechender Bestimmung in der GO gar nicht stellt. Vgl. Öhler; Schramm; Zellhofer (2009), § 20 Rz 55; Oppel (2014), S. 357 Vgl. EuGH 24.5.2016, C-396/14 MT Hojgaard und Züblin, RPA 2016, 310 (Vrbovszky) = ZVB 2016/109, 450 (Gölles).

734

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

erkennbar ist, wieso ein Bieter durch die Insolvenz eines anderen Mitglieds seiner BIEGE einen Wettbewerbsvorteil erlangt hat. Die vergaberechtlichen Bestimmungen gelten aber nicht nur im eigentlichen Vergabeverfahren, sondern wirken über dieses hinaus und sind auch während der Auftragserfüllung zu berücksichtigen. Die entsprechende Regelung hat mit § 363 BVergG 2018 Eingang ins österreichische Vergaberecht gefunden und geht auf entsprechende Rechtsprechung des EuGH zurück.15)

49.6

Aktuelle Trends

Das Recht der Gesellschaft bürgerlichen Rechts blieb seit dem In-Kraft-Treten des ABGB im Jahr 1812 mehr als 200 Jahre fast unverändert, wies zuletzt aber erhebliche Mängel auf, sodass der Gesetzgeber das ABGB-Gesellschaftsrecht im Jahr 2015 völlig neu geregelt hat. Aus diesem Grund ist mit gesetzgeberischen Aktivitäten in nächster Zeit nicht zu rechnen. Auch in der Literatur halten sich kontroverse Fragen in Grenzen, sodass grundsätzliche neue Leitentscheidungen in naher Zukunft eher nicht zu erwarten sind. Ein ähnlicher Befund würde auch auf das Vergaberecht zutreffen, denn hier hat der Gesetzgeber im Jahr 2018 die Materie grundlegend überarbeitet. Hier wird es allerdings – wie die zitierte Entscheidung des BVwG zeigt – spannend sein, wo sich die Rechtsprechung zwischen der bisherigen strengen österreichischen Judikaturlinie zum Ausscheiden einer BIEGE bei Insolvenz eines Mitglieds der BIEGE und der deutlich weniger strengen Ansicht des EuGH einpendeln wird. Da Insolvenzen von ARGE-Gesellschaftern in der Praxis aber eher die Ausnahme sind, wird es möglicherweise etwas dauern, ehe eine gefestigte Judikaturlinie erkennbar werden wird.

49.7

Zusammenfassung

Bei Insolvenz eines ARGE-Gesellschafters ist zu unterscheiden, welche Verfahrensart eingeleitet wurde. Beim Konkurs scheidet der insolvente Gesellschafter ohne weitere Rechtshandlung sowohl aus der ARGE als auch aus anderen gesellschaftsbezogenen Vertragsverhältnissen mit Dritten aus, sofern der Dritte dem Ausscheiden nicht widerspricht. Die Konkursmasse hat dafür einen Abfindungsanspruch. Anders gilt beim Sanierungsverfahren. In diesem Fall bleiben die Vertragsverhältnisse unberührt, für bestimmte Rechtshandlungen ist allerdings die Zustimmung des Sanierungsverwalters erforderlich. Das insolvenzbedingte Ausscheiden aus einer BIEGE oder einer ARGE kann auch vergaberechtliche Folgen haben, wobei die Bestimmungen des BVergG über das eigentliche Vergabeverfahren hinaus in das Auftragsverhältnis ausstrahlen. Während die österreichische Judikatur streng ist und eine Neuausschreibung des Auftrags verlangt, stellt der EuGH auf die verbleibende Eignung ab.

14) 15)

Vgl. BVwG 10.7.2018, W134 2191486-1/30E, W134 2193715-1/25E (außerordentliche Revision anhängig), RPA 2018, 350 (Heid/Kurz). Vgl. ErlRV 69 BlgNR 26. GP, 218.

49 Rechtsprobleme bei Insolvenz eines ARGE-Partners

49.8

735

Abkürzungsverzeichnis

ABGB

......................... Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch

ARGE

......................... Arbeitsgemeinschaft

BIEGE

......................... Bietergemeinschaft

BlgNR

..........................Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrats

BVergG

......................... Bundesvergabegesetz

ErlRV

......................... Erläuternde Bemerkungen zur Regierungsvorlage

EuGH

......................... Europäischer Gerichtshof

GesbR

......................... Gesellschaft bürgerlichen Rechts

GO

......................... Geschäftsordnung (für Arbeitsgemeinschaften)

GP

......................... Gesetzgebungsperiode

i.a.R.

......................... in aller Regel

IO

......................... Insolvenzordnung

OGH

......................... Oberster Gerichtshof

49.9

Judikaturverzeichnis

BVwG 10.07.2018, W134 2191486-1/30E, W134 2193715-1/25E, RPA 2018, 350 (Heid/Kurz). EuGH 24.05.2016, C-396/14 MT Hojgaard und Züblin, RPA 2016, 310 (Vrbovszky) = ZVB 2016/109, 450 (Gölles). OGH 17.11.1977, 7 Ob 701/77, HS 10.702 = SZ 50/151.

49.10

Literaturverzeichnis

Artmann Eveline (2017). §§ 1175-1216e ABGB, In: Großkommentar zum ABGB – Klang Kommentar, 3. Auflage. Wien. Verlag Österreich. (ISBN 978-3-7046-7387-9) Fritz, Romana; Potyka, Matthias (2015). GesbR-Reform – Auswirkungen auf bestehende Gesellschaften, In: Recht der Wirtschaft, Heft 2, Februar 2015. Seite 71-77. Wien. Lexis-Nexis. (ISSN 1013-9486) Haberer, Thomas (2018). Die Bau-ARGE nach der GesbR-Reform. In: Festschrift Georg Karasek. Hrsg.: Berlakovits, Clemens; Hussian, Wolfgang; Kletečka, Andreas. Seite 231-250. Wien. Manz‘sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung. (ISBN 978-3-21417101-9) Harrer, Friedrich (2015). Die Reform der Gesellschaft bürgerlichen Rechts. In: Wirtschaftsrechtliche Blätter, Heft 3, März 2015. Seite 121-128. Wien. Verlag Österreich. (ISSN 0930-3855)

736

Teil F – Vergaberecht/Bauvertragsrecht

Krejci, Heinz (1979). Arbeitsrechtliche Probleme der Bau-ARGE. In: Das Recht der Arbeitsgemeinschaften in der Bauwirtschaft. Hrsg.: Krejci, Heinz. Seite 107-168. Wien. Orac Verlag. (ISBN 3-85368-329-0) Krejci, Heinz (2012). Die Bau-ARGE und die Reform der Gesellschaft bürgerlichen Rechts. In: Zeitschrift für Recht des Bauwesens, Heft 1, Mai 2012. Seite 7-16. Wien.Verlag Österreich. (ISSN 2227-7862) Öhler, Matthias; Schramm, Johannes; Zellhofer, Georg (2009). § 20 BVergG. In: Bundesvergabegesetz 2006 – Kommentar. Hrsg.: Schramm, Johannes; Aicher, Josef; Fruhmann, Michael. BVergG 2006, 2. Auflage.Wien. Verlag Österreich. (ISBN 978-37046-5902-6) Oppel, Albert (2014). Bieter- und Arbeitsgemeinschaften. In: Zeitschrift für Vergabe- und Bauvertragsrecht, Heft 9, September 2014. Seite 35-358. Wien. Verlag Manz. (ISSN 2077-849X) Spitzer, Martin (2015). Gesellschaft bürgerlichen Rechts: Vermögensordnung und Insolvenz. Ein vertikaler Rechtsvergleich vor und nach der GesBR-Reform 2015. In: Fest-schrift Christian Nowotny. Hrsg.: Blocher, Walter; Gelter, Martin; Pucher, Michael. Seite 413-454. Wien. Manz‘sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung. (ISBN 978-3-214-0-3497-9) Told, Julia (2016). Gesellschaft bürgerlichen Rechts. In: Handbuch Personengesellschaften, 2. Auflage. Hrsg.: Bergmann, Sebastian; Ratka, Thomas. Seite 17-150. Wien. Linde-Verlag Ges.m.b.H. (ISBN 978-3-7073-3010-6) Trenker, Martin (2014). Vermögensstruktur einer Bau-ARGE und ihre insolvenzrechtlichen Probleme. In: Zeitschrift für Recht des Bauwesens, Heft 3, September 2014. Seite 111-122. Wien. Verlag Österreich. (ISSN 2227-7862) Wiesinger, Christoph (2015). Auswirkungen der GesbR-Reform auf die Bau-Arge. In: Zeitschrift für Recht des Bauwesens, Heft 2, März 2015. Seite 57-63. Wien. Verlag Österreich. (ISSN 2227-7862) Weselik, Nikolaus (2016). Zu den Auswirkungen der Insolvenz eines ARGE-Gesellschafters auf nicht vollendete Bauvorhaben. In: bau aktuell, 7. Jahrgang, Heft 5, September 2016. Seite 161-165. Wien. Linde-Verlag Ges.m.b.H. (ISSN 2077-4737)

Teil G CHANCEN- UND RISIKOMANAGEMENT

50

Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung Einsatz der Monte-Carlo-Simulation

Assoc.Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Christian Hofstadler Institutsvorstand Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected] Dipl.-Ing. Dr.techn. Markus Kummer Universitäts-Projektassistent Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_50

740

50.1

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

Abstract

Jede Kalkulation stellt eine Prognose über die mögliche Ausgestaltung der Kosten für ein Bauobjekt dar. Die Herausforderung bei Aussagen über die Zukunft ist der Umstand, dass sehr viele Eingangsparameter mit Unsicherheiten behaftet sind und nur geschätzt bzw. auf Basis von Erfahrungswerten angegeben werden können. Sowohl eine kontextbezogene Auswahl der Produktionsfaktoren als auch die optimierte Kombination ebendieser stellt ein zentrales Element im Baubetrieb dar. Die Art und Weise, wie Produktionsfaktoren kombiniert werden, sowie die zeitliche Abstimmung dahingehend nimmt maßgeblichen Einfluss auf die Baukosten und die Bauzeit und wirkt sich zudem auf die Logistik und den Bauablauf aus. Aufbauend auf die baubetrieblichen Überlegungen und Berechnungen erfolgt in der Bauwirtschaft die Kostenermittlung für die gewählte Art und Kombination der Produktionsfaktoren. Der monetär bewertete Bedarf an Produktionsfaktoren führt zu den Kosten. In weiterer Folge bilden operative und strategische Analysen die Basis für die Überführung der kalkulierten Kosten in Preise. Im Beitrag wird anhand eines bereits fertiggestellten Bauwerks gezeigt, wie auf Basis einer Standardkalkulation die Monte-Carlo-Simulation angewendet wird. Damit besteht die Möglichkeit, für alle oder ausgewählte (wesentliche) Bestandteile der Einheitspreise definierte Bandbreiten einzubeziehen. Neben der direkten Berücksichtigung von Unsicherheiten in den Einheitspreisen wird dargestellt, wie abschließend eine globale Chancen-Risikobetrachtung durchgeführt werden kann. Als Endergebnis erhält man für jede Position bzw. für zusammengefasste Leistungsgruppen sowie auch für die Angebotssumme ein Histogramm. Für jeden daraus gewählten Wert kann das spezifische ChancenRisikoverhältnis ermittelt werden. Darin liegt auch der große Vorteil der Simulation und der Nutzen des systematischen Umgangs mit Unsicherheiten.

50.2

Situationsanalyse

Die Kostenermittlung bildet die Basis für die Preisbildung. Kosten können geschätzt oder berechnet werden. Unabhängig davon, welche Methode eingesetzt wird, lebt die Qualität der Ergebnisse von der Passgenauigkeit der Eingangsparameter. Wesentliche Eingangsgrößen sind Aufwands- und Leistungswerte, Stoffverbräuche, Mengen, Einkaufspreise, Mietsätze, Geräteverfügbarkeit etc., die großteils mit Unsicherheiten behaftet sind. Das Erreichen einer hohen Projektmanagement-, Planungs- und Ausschreibungsreife erfordert für Bauprojekte dem Aufwand entsprechend Zeit und Geld. Besonders Projekte, die gleichzeitig von hoher Komplexität und kurzer Bauzeit sowie von anspruchsvollen Umfeldbedingungen unter Beteiligung zahlreicher Akteure mit Einfluss auf die Bauwerksspezifika geprägt sind und die von umfassenden Auflagen hinsichtlich Umweltverträglichkeit begleitet werden, benötigen adäquat dazu noch mehr Ressourcen für eine systemische und strukturierte Vorbereitung. Tritt bei diesen Projekten auch noch der Aspekt der (gesellschafts-)politischen Einflussnahme auf, aggregiert sich der Bedarf an umfassenden, den Anforderungen entsprechenden Vorbereitungsmaßnahmen. Im Zuge der Projektierung soll – basierend auf der Bedarfsermittlung – einerseits das erforderliche Budget für bestimmte Nutzungsanforderungen ermittelt werden, andererseits wäre auch die Vorgangsweise denkbar, dass aufgrund eines zur Verfügung stehenden Budgets (Kostendeckel) die dazu möglichen Quantitäten und Qualitäten ermittelt werden. Als Basis für eine erfolgreiche Planung und Umsetzung von Bauprojekten ist es immer

50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung

741

zwingend notwendig, im Voraus die dafür erforderlichen finanziellen und zeitlichen Ressourcen festzulegen. Dadurch kann schon sehr früh eine realistische Balance zwischen Projektzielen und verfügbarem Budget gefunden werden. Des Öfteren wird begonnen, die Leistungen ohne ausreichende Planungstiefe zu beschreiben bzw. die Qualitätsziele nur vordergründig hinsichtlich der Leistungsbeschreibung zu reduzieren, um in frühen Projektphasen niedrigere Kostenwerte zu erhalten, damit das Projekt die Genehmigungsfähigkeit erreicht. Diese Kostendeckel ergeben sich beispielsweise aufgrund von Vorgaben der öffentlichen Hand und möglichen Förderungen. Insbesondere bei Bauten der öffentlichen Hand, bei denen der Einfluss der Politik immanent ist, werden die Kosten in den jeweiligen Schätzungen aus Angst vor einem möglichen Widerstand der Bevölkerung vorerst niedrig gehalten, um das Projekt nicht zu gefährden, bevor es überhaupt begonnen hat: Die Angst vor dem Verlust der Wählergunst! Auch wird die Tragstruktur in manchen Fällen in der Vergabephase einfacher dargestellt, als diese später im Zuge der Ausführungsplanung oder während der Bauausführung tatsächlich konkretisiert wird. Erst nach der Vergabe stellt sich heraus, dass die Tragstruktur und die damit verbundenen Leistungen wesentlich komplexer sind, als es in der Angebotsphase vom Auftraggeber (AG) bekannt gemacht wurde. Ist die Vergabe zum vermeintlich ‚billigsten‘ Angebot (= niedrigste Auftragssumme) erfolgt, werden die Qualitäts- und Quantitätsziele durch die notwendigen zusätzlichen Leistungen, die erst nach der Auftragserteilung erkannt werden, sowie aufgrund der unterschiedlichen (spitzfindigen) vertraglichen Auslegung des ‚Bau-SOLL‘ oft nach oben geschraubt. Unterschiedliche Methoden für Schätzungen (z.B. anhand von BKI-Kostenkennwerten) stehen in frühen Projektphasen im Vordergrund, um erste Zahlen und Beziehungszahlen zu ermitteln, die im weiteren Projektverlauf durch fundiertere Berechnungen abgelöst werden. Die ersten erzielten Berechnungsergebnisse führen überwiegend zu deterministischen Werten. Quantitative Interpretationsmöglichkeiten über das dabei eingegangene Risiko oder über ein mögliches Chancenpotenzial gibt es in diesen Projektphasen (noch) keine. Um Chancen und Risiken überhaupt erkennen zu können, ist es unbedingt erforderlich, die Planungs- und auch die Bauprozesse exakt zu kennen, zu definieren und zu verstehen. Erst dann können genaue und plausible Ermittlungen zu Dauern und Kosten erfolgen. Die Ermittlung von Baukosten und Bauzeiten zählt zu den wichtigsten und verantwortungsvollsten Aufgaben im Baubetrieb und in der Bauwirtschaft. Für jedes Projekt werden individuell Aufwandswerte, Leistungswerte, Produktivitätsansätze, Stoffverbräuche, Vorhaltemengen, Anzahl an Transporten etc. an die Anforderungen des Bauwerks angepasst und letztendlich die Kosten und Zeiten ermittelt. Dazu dienen Kennzahlen aus vergangenen oder laufenden Projekten, die ex ante für Schätzungen und Berechnungen herangezogen werden. ‚Best-Case-‘ und ‚Worst-Case-Szenarien‘ sind hier jedenfalls zu empfehlen, um praktikable Bandbreiten für die benötigten Eingangsparameter zur Ermittlung von Ergebnissen zu finden. Aufbauend auf diesen Kalkulationen werden in einem finalen Schritt die Werte für Kosten und Zeiten (Termine) sowie letztendlich Angebotspreise festgelegt. Dabei steht die Ermittlung der jeweiligen Chancen-Risikoverhältnisse für die maßgeblichen Projektdeterminanten im Fokus. Im Rahmen von ex post bzw. inter actio Betrachtungen wird überprüft, inwieweit die in der Bauausführung erzielten IST-Werte tatsächlich mit den Vorgabewerten (aus der Arbeitskalkulation) übereinstimmen. Der Idealfall tritt dann ein, wenn beispielsweise die Produktivität höher und/oder der Stoffverbrauch bzw. der Geräteeinsatz geringer ausfällt als geplant. Neben den Chancen, dass die Berechnungsannahmen im positiven Sinne geringer ausfallen, bestehen jedoch gleichzeitig auch Risiken, dass sie

742

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

im negativen Sinne nicht eingehalten werden können. Während der Bauausführung treten zumeist schwer vorhersehbare Adaptierungserfordernisse und Störungen im Ablauf sowie in der Logistik auf. Diese sind einerseits durch die Nichtlinearitäten sowie die Komplexität in der Kombination der Produktionsfaktoren und andererseits durch exogene Einwirkungen auf das Produktionssystem bedingt. Ähnlich einem Trichter, der sich von einer breiten Einfüllöffnung sukzessive bis zum Trichterhals verjüngt, sind die Unsicherheiten in frühen Projektphasen vergleichsweise breiter gestreut als nach der Auftragsvergabe, in der das Bauobjekt anhand von Ausführungsplänen konkretisiert wird. Mit zunehmender Planungstiefe werden die Angaben zum Bauwerk immer präziser. Was auf jeden Fall bleibt, sind Unsicherheiten über die Art und Weise, wie die Produktionsfaktoren optimal miteinander zu kombinieren sind, sowie über die in der Zukunft liegenden Umwelt- und Systembedingungen der Baustelle während der Leistungserbringung. Für den Bauherrn gestaltet sich eine kurze oder sehr kurze Projektvorlaufzeit und/oder Bauzeit als optimal, da er daran interessiert ist, das Bauwerk sobald als möglich nutzen oder verwerten zu können. Das notwendige Ausmaß für eine ausreichende Projektvorlaufzeit hängt wesentlich von der Art des Bauwerks (Bürogebäude, Krankenhaus, Brücke etc.), der Art des Bauvorhabens (Neubau, Bauen im Bestand oder einer Kombination daraus), dem Umfeld, dem öffentlichen Interesse, der Komplexität des Bauwerks, der Anzahl der Projektbeteiligten, der Vergabeart sowie von der Form des Vertrags (Einheitspreisvertrag, GU-Vertrag, TU-Vertrag etc.) ab. Die aus Sicht des Bauherrn optimale, also sehr kurze Bauzeit ist daher in den seltensten Fällen deckungsgleich mit jener der Bieter/Auftragnehmer (AN), da diese vorrangig das Ziel verfolgen, deren Produktionsfaktoren (Arbeit, Betriebsmittel und Stoffe) derart auszuwählen und miteinander zu kombinieren, dass die normale Produktivität erreicht und die Produktionsfaktoren wirtschaftlich miteinander kombiniert werden können – ohne „aufgezwungene“ Produktivitätsverluste aufgrund eines baubetrieblich nachteilig hohen Ressourcenbedarfs. Im Fokus der AN liegt besonders das Bestreben, das Leistungsziel des Bauherrn mit den geringsten Mitteln zu erreichen (‚Minimalprinzip‘). Mit den kurzen oder sehr kurzen Bauzeiten, die im Interesse des Bauherrn liegen, können die Auftragnehmer i.d.R. keine ‚Normal-Produktivität‘ erzielen und müssen mit Produktivitätsverlusten rechnen. Arbeit braucht Zeit für deren Ausführung – speziell qualitätsvolle Arbeit braucht noch mehr Zeit! Für die Ermittlung der Bauzeit ist es wesentlich zu wissen, wie viele Lohn- und Gerätestunden je Zeitstunde, je Arbeitstag, je Woche bzw. je Monat anfallen werden. Die Prognosetiefe erstreckt sich über die Makro- bis hin zur Mikrobetrachtung. Aber nicht nur die Ausführung der Arbeit braucht Zeit, sondern auch die dafür notwendige Vorbereitung und Planung. Eine dem jeweiligen Produktionssystem und den äußeren Produktionsbedingungen angepasste Projektvorlaufzeit und Bauzeit sind die wesentlichen Erfolgsfaktoren zur Erreichung der vereinbarten Projektziele. In allen Projektphasen werden für die Überlegungen, Schätzungen und abschließenden Berechnungen verlässliche Daten und Informationen benötigt, die nach Vertragsabschluss als Vertragsbestandteil verbindlich sind und eine bedeutende Rolle für den Projekterfolg einnehmen. Besonders in diesem Zusammenhang ist verstärkt hervorzuheben, dass Daten ohne kontextbezogene Informationen zu deren Entstehung für die weitere Nutzung durch Dritte von geringem Wert sind. Die Informationsqualität der Daten, die auch auf der systematischen Art der Erhebung basiert, ist ein wesentliches Kriterium zur Erreichung der gesteckten Ziele bzw. für die richtige und präzise Vermittlung von Sachverhalten. Zu den häufig verwendeten Qualitätskriterien für Daten und Informationen zählen Aktualität,

50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung

743

Gültigkeit, Objektivität, Klarheit, Konsistenz, Korrektheit, Prägnanz, Relevanz, Strukturiertheit, Vollständigkeit, Zuordenbarkeit und Zuverlässigkeit. Je unzureichender die Qualität der Daten und Informationen ist, desto höher ist das Risiko für Fehleinschätzungen und -interpretationen. Chancen können bei einer höheren Qualität der Daten und Informationen besser eingeschätzt und genutzt sowie Risiken besser bewertet und vermieden werden. Entscheidend für Bieter und in weiterer Folge AN ist es, mit den aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewonnenen Daten und Informationen anwendungsbezogenes Wissen zu generieren und damit durch intendiertes und richtiges Handeln dem einzigartigen Status (Stufe der Einzigartigkeit) eines Bauprojektes gerecht zu werden und dieses somit effizient und effektiv zu realisieren. Dann sind die optimalen Voraussetzungen geschaffen, um erstens einen Auftrag zu erhalten und zweitens den Auftrag dem Minimalprinzip folgend abwickeln zu können. Zur Verbesserung der Planungs-, Prognose-, Realisierungs- und Betriebsprozesse wurden BIM-Modelle entwickelt. Das (ganzheitlich funktionierende) digitale, dreidimensionale Bauwerksmodell (objektorientiertes 3D-Modell mit Attributen) beinhaltet (idealerweise) sämtliche aktuelle Daten und Informationen für alle Projektbeteiligte. Jedoch benötigt jedes noch so gute BIM-Modell für die Simulation von Bauzeiten und Baukosten hochqualitative Daten (zeitlich und betrieblich richtig abgegrenzt) mit den dazugehörigen Informationen (z.B. Art und Kombination der Produktionsfaktoren, Entstehung, Randbedingungen, Fehleinschätzungen). Unbedingt anzustreben ist eine automatisierte EchtzeitDatenerhebung, -verarbeitung und -pflege. Wird das Ziel verfolgt, aussagekräftige und belastbare Ergebnisse als Entscheidungsgrundlagen zu gewinnen, ist es von großer Bedeutung, die erhobenen Daten und Informationen mit BIM-Modellen zu verknüpfen. Erst durch deren kontextbezogene Anpassungen und die Anwendung auf ein Bauwerk ist mit BIM-Modellen der größtmögliche Nutzen für alle Projektphasen und -beteiligten sowie in weiterer Folge für den gesamten Lebenszyklus eines Bauobjekts zu erzielen. Für aussagekräftige und für das Projekt nützliche Simulationen ist es zwingend erforderlich, die Nichtlinearitäten in der Kombination der Produktionsfaktoren zu berücksichtigen sowie Chancen- und Risikobetrachtungen in die Kalkulationen einfließen zu lassen.1) Das Hauptproblem der in der Praxis vorherrschenden, deterministischen Berechnungen sowie von Simulationen liegt darin, dass unabhängig von der vorgegebenen Bauzeit mit linearen, baubetrieblichen Zusammenhängen kalkuliert wird, obwohl dies nicht der Realität entspricht. Im Falle von Unter- bzw. Überschreitungen von Grenzgrößen treten bei Verringerung oder bei Vergrößerung der Kapazitäten Produktivitätsverluste auf, welche die Berechnungsergebnisse erheblich beeinflussen. Für eine zutreffende Bauzeitermittlung sind jedenfalls die Einflüsse der Produktivität (z.B. beengte Platzverhältnisse für Menschen und Baugeräte, Gruppengrößen, Abstimmung zwischen Menschen und Geräten) auf die Produktionsfaktoren zu berücksichtigen.

50.3

Unsicherheiten in Systemen

Systeme setzen sich aus Einzelkomponenten, die miteinander in Beziehung, Wechselwirkung oder in Abhängigkeit zueinander stehen, zusammen. Je nach Anzahl und Verknüpfungen der Systemkomponenten kann von komplizierten bzw. – bei zusätzlicher Berücksichtigung des Faktors Zeit und sich ändernden Umständen und Randbedingungen – von komplexen Systemen gesprochen werden. Mit allen Systemen und Modellen ist 1)

Vgl. Hofstadler/Kummer (2017). Chancen- und Risikomanagement in der Bauwirtschaft. S. 103.

744

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

aber auch ein bestimmter Grad an Unsicherheit verbunden, der eine große Bedeutung bei der Durchführung von Berechnungen bzw. bei der Erstellung von Prognosen oder generell bei Aussagen über die Zukunft aufweist. Beispielhaft für das äußerst komplexe Produktionssystem im Baubetrieb und der Bauwirtschaft werden diverse Unsicherheiten und deren Auswirkungen auf die zu ermittelnden Outputs anhand eines ‚Trichterexperiments‘ veranschaulicht. Diese Analogie basiert darauf, dass in beiden Fällen eine Zieldefinition, eine Eingabe (Input) und eine Ausgabe (Output) definiert sind (siehe Abb. 50-1). Der Aufbau des Trichterexperiments besteht aus einer Galgenkonstruktion, auf der ein Trichter montiert ist. Die Konstruktion steht auf einem Tisch, auf dem auch ein Zielpapier unter dem Trichterhals situiert wurde. Der Trichterhals wurde dermaßen platziert, dass er möglichst genau auf das Zentrum des Zielpapiers ausgerichtet ist. Durch das Einwerfen von Kugeln in den Trichter soll der Mittelpunkt (gekennzeichnet durch einen Kreuzungspunkt) am Zielpapier getroffen werden.

=LHO

6\VWHP

$XVJDEH

Abb. 50-1

(LQJDEH

=LHO

6\VWHP

(LQJDEH

$XVJDEH

Vergleich – Trichterexperiment mit dem Produktionssystem2)

Das beschriebene Trichtersystem weist sowohl bei der Eingabe bzw. beim Einwurf der Kugel als auch bei der Beschaffenheit und Standsicherheit der Galgenkonstruktion Unsicherheiten auf. Zudem gibt es Einflüsse aus der Umwelt bzw. dem unmittelbaren Umfeld. Auch die Ausrichtung des Zielpapiers und die Zentrierung des Kreuzes sind mit Unsicherheiten behaftet (Zieldefinition). Sowohl Unsicherheiten der Konstruktion selbst (Produktionssystem) als auch äußere Einflüsse (Witterung, Umfeld etc.) können sich damit direkt oder indirekt auf die Zielgenauigkeit des Systems auswirken (siehe Abb. 50-2).3) 2)

Vgl. Hofstadler/Kummer (2017), S. 9

50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung

745

8QVLFKHUKHLWHQGHU (LQJDEH

8QVLFKHUKHLWHQGHV 0RGHOOV

8QVLFKHUKHLWHQDXV 8PZHOW8PIHOG HWF

8QVLFKHUKHLWHQGHU =LHOGHILQLWLRQ

Abb. 50-2

Unsicherheiten des Systems – Trichterexperiment4)

Wird nun mehrmals versucht, Kugeln in den Trichter einzuwerfen, erhält man unterschiedliche Treffer auf dem Zielpapier. Diese Treffer werden in einem gewissen Bereich auftreten und sind direkt vom Einwurf der Kugeln in den Trichter, der Beschaffenheit der Oberflächen, der Schwingungsanfälligkeit der Galgenkonstruktion, der Zieldefinition und äußeren Einwirkungen (z.B. Wind oder zufällige Erschütterungen des gesamten Systems) abhängig. Wird jeder Treffer auf dem Zielpapier markiert, ergibt sich eine Punktwolke, die Streuungen in alle Richtungen rund um das definierte Ziel aufweisen wird. Die Größe des Streubereichs hängt dabei allgemein von den Eingabeparametern, der Zieldefinition und dem System selbst ab. Um die Unsicherheiten des gezeigten Systems (Trichterexperiment) zu verringern, wäre es beispielsweise möglich, die Galgenkonstruktion auf der Tischplatte zu fixieren und/oder den Trichterhals zu verlängern, damit die geführte Strecke der herabfallenden Kugel verlängert wird (siehe Abb. 50-3 – rechts).5) Wird der Versuch auch bei diesem „verbesserten“ System (verbessert im Sinne von weniger Unsicherheiten bzw. Einschränkung der möglichen Streuungen der Inputparameter) mit mehreren Kugeln wiederholt und die Treffer aufgetragen, wird sich ebenfalls eine Punktwolke um das Zielkreuz ergeben. Allerdings wird die Streuung dieser Punktwolke gegenüber dem ersten Versuch abnehmen, womit insgesamt ein präziseres Ergebnis erzielbar ist. Für einen Vergleich der Unsicherheiten der beiden Trichtersysteme in Abb. 50-3 ist es notwendig, mehrere Versuche durchzuführen, um ein Bild der möglichen Ereignisräume zu erhalten. 3) 4) 5)

Vgl. Hofstadler/Kummer (2017), S. 10 Hofstadler/Kummer (2017), S. 10 Vgl. Hofstadler/Kummer (2017), S. 10f.

746

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

Würde man jeweils nur einen Versuch (einen Berechnungsdurchgang = eine Iteration) durchführen und im linken System der Abb. 50-3 zufällig die Mitte treffen und im rechten System der Abb. 50-3 eine Abweichung von der Mitte beobachten, könnte der falsche Schluss gezogen werden, dass das linke System weniger Unsicherheiten enthält, als das rechte.

Abb. 50-3

Vergleich der Versuchsergebnisse bei Systemen mit unterschiedlichen Unsicherheiten6)

Dies demonstriert bildhaft, dass einzelne deterministische Ergebnisse nur wenig Aussagekraft über die Unsicherheiten eines Systems bzw. eines Modells und seine Inputparameter haben. Erst durch Bandbreitenbetrachtungen bzw. durch die Beurteilung möglicher Streuungen der Ergebnisse ist ein Rückschluss über die entsprechenden Unsicherheiten des Systems und damit über den möglichen Ereignisraum zulässig. In Abb. 50-3 sind im oberen Bereich die Abweichungen der Treffer aus den Versuchen symbolisch in Form von Histogrammen dargestellt. Es zeigt sich, dass die Unsicherheiten beim linken System in alle Richtungen größer sind, da auch die Punktwolke eine größere Streuung aufweist. Der Vergleich der beiden Systeme macht deutlich, dass mit Hilfe eines einzelnen Versuchs bzw. eines einzelnen Ergebnisses keine Aussage über Unsicherheiten (d.h. die Treffsicherheit des Systems) oder über die möglichen Chancen und Risiken gemacht werden kann. Nur wenn die möglichen Bandbreiten der bestimmenden Parameter in einem Berechnungsmodell systematisch berücksichtigt werden, können die Über- oder Unterschreitungswahrscheinlichkeiten spezifischer Werte ermittelt und Entscheidungen auf einer soliden Basis getroffen werden.7) 6) 7)

Hofstadler/Kummer (2017), S. 11 Vgl. Hofstadler/Kummer (2017), S. 11f.

747

50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung

50.4

Kostenermittlung in unterschiedlichen Projektphasen

%DXSUDNWLVFKH ,GHDODEODXI 5HDOLWlW

Für das (Bau-)Projektmanagement wird der Ablauf eines Bauprojekts in fünf Projektphasen (PPH) gegliedert (siehe Abb. 50-4). Die Projektphasen beginnen mit der Anforderungsfreigabe und enden mit der Projektbewertung.

33+ %

$ %HGDUIV DQPHOGXQJ

%HGDUIV SODQXQJ

33+

3URMHNW HQWZLFNOXQJ

33+

3ODQXQJ

)

(

'

&

*HQHKPLJXQJV SODQXQJ

$XVIKUXQJV SODQXQJ

33+

33+

$XIWUDJVYHUJDEH

5HDOLVLHUXQJ

-

,

+

*

%HWULHEV EHUJDEH

%HWULHE

$XVIKUXQJVSODQXQJ /9(UVWHOOXQJ $XIWUDJVYHUJDEHDXV6LFKWGHV$*

33+3URMHNWYRUEHUHLWXQJ_33+ 3ODQXQJ_33+ $XVIKUXQJVYRUEHUHLWXQJ_33+ $XVIKUXQJ_33+ 3URMHNWDEVFKOXVV

:HVHQWOLFKH%HVFKOVVHIUDOOH3URMHNWH

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%HVFKOVVHIU*UR‰SURMHNWH

Abb. 50-4

Projektphasen8)

Die fünf Projektphasen Projektvorbereitung, Planung, Ausführungsvorbereitung, Ausführung und Projektabschluss können in weitere Ebenen untergliedert werden. Bei den Übergängen von einer Projektphase zur nächsten finden sich ‚Quality Gates‘ (QG). Diese stellen sicher, dass erst dann mit der nächsten Projektphase begonnen wird, wenn die maßgeblichen Beschlüsse für die aktuelle Projektphase gefasst wurden. In einem idealen Projektablauf erfolgt die Abwicklung der einzelnen Projektphasen chronologisch. Die Ausführungsplanung und Vergabe aller Leistungen wäre damit abgeschlossen, bevor mit der Realisierung begonnen wird. In der Realität ist die Ausführungsplanung mit dem Beginn der Realisierungsphase jedoch meist noch nicht abgeschlossen, sondern wird ‚baubegleitend‘ fortgeführt. Auch der AG hat i.d.R. die Auftragsvergabe aller Gewerke mit dem Baubeginn noch nicht vollständig abgewickelt. Dies hängt allerdings maßgeblich von der Art der Vergabe ab (GU-Vergabe, Einzelvergabe usw.). Durch diese Überlappung der PPH 3 und PPH 4 kann die Gesamtdauer des Projekts zwar reduziert werden, was grundsätzlich als vorteilhaft für den AG zu beurteilen ist, da er sein Objekt (im Idealfall) früher nutzen kann. Diese Vorgehensweise bringt allerdings auch Probleme mit sich, da mit einer baubegleitenden Planung ein hoher Zeitdruck für alle Beteiligten einhergeht. Einerseits kann durch die nicht abgeschlossene Planung flexibler auf geänderte Anforderungen an das Bauobjekt reagiert werden, andererseits verursachen Planungsänderungen in weiterer Folge meist Mehrkosten und/oder Bauzeitüberschreitungen, die bei einer im Vorhinein abgeschlossenen Planung vermieden hätten werden können. Mit dem Studium der Ausschreibungsunterlagen und der Entscheidung für eine Angebotsbearbeitung steigt der Bieter bzw. spätere Auftragnehmer in das Projekt ein. Der Informationsvorsprung über das Projekt ist für den Auftraggeber gegenüber dem Auftragnehmer in dieser Phase besonders groß. Dieser Informations- und Wissensvorsprung kehrt sich in der Regel im Laufe der Bauausführung um. Der eindeutigen, vollständigen und neutralen Beschreibung der Leistungen durch den AG kommt daher eine zentrale Bedeutung für die Kalkulation, die Angebotserstellung und in weiterer Folge für die Arbeitsvorbereitung der 8)

In Anlehnung an: Lechner (2007), Folie 4

748

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

AN zu. Die Bieter müssen sich auf die Angaben in den Ausschreibungsunterlagen verlassen können und auf Basis ihrer Erfahrungen (idealerweise dokumentiert in einem Wissensspeicher) sowie durch den systematischen Umgang mit Unsicherheiten ihre Kalkulation durchführen. Während der Realisierung ist der AN ständig mit der Optimierung seines Produktionssystems beschäftigt und versucht die erforderlichen Leistungen in der vereinbarten Qualität mit den geringstmöglichen Kosten zu erbringen. Im Zuge des Projektabschlusses (Ende der PPH 5) ist es unerlässlich, eine Projektbewertung durchzuführen. Im Zuge dieser Bewertung werden zentrale Daten und Kennwerte erhoben und dokumentiert, womit diese Erfahrungswerte systematisch in neue Projekte bzw. interne Vorgaben des AG einfließen können (QG J).9)

50.5

Kostenschärfe und Toleranzbereiche

Aussagen über die Zukunft sind immer mit Unschärfe bzw. Unsicherheiten behaftet. Dies gilt insbesondere auch für die Ermittlung von Baukosten bzw. Bauzeiten, die bis zur Fertigstellung und finalen Abrechnung eines Bauvorhabens immer eine Prognose für zukünftige Ereignisse darstellen. Die in Abb. 50-5 dargestellte Grafik zeigt sehr deutlich, dass in frühen Projektphasen mit größeren Bandbreiten in der Kostenermittlung und Terminierung zu rechnen ist.

        WDWVlFKO .RVWHQ

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Abb. 50-5

Kosten- und Terminschärfe – Toleranzbereiche10)

Für eine verlässliche Information, welches Chancen-Risikoverhältnis mit spezifischen (deterministisch) ermittelten Werten eingegangen wird, ist ein systematisches Chancen9) 10)

Vgl. Hofstadler/Kummer (2018), S. 81ff. In Anlehnung an: Lechner (2007), Folie 44

50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung

749

Risikomanagement erforderlich. Damit kann auch in frühen Projektphasen sehr effektiv mit Unsicherheiten umgegangen werden bzw. erleichtert es die dahingehende Kommunikation über die vorhandenen Unsicherheiten.11) Kostenprognosen können mit einer Zielscheibe verglichen werden, bei der es immer wahrscheinlicher wird, den angestrebten Mittelpunkt zu treffen – und damit die endgültigen Herstellkosten vorherzusagen – je mehr man sich der Scheibe nähert. In Abb. 50-5 sind jene Toleranzbereiche für die Kostenplanung dargestellt, die bei professionellem Vorgehen erreicht werden sollten und jene, bei denen eine Planerin und Planer im Falle einer Überschreitung mit Haftungskonsequenzen zufolge deutscher Judikatur zu rechnen hat (‚konventionelle Vorgehensweise‘).12) Das Gleiche gilt für die Prognosen über die Bauzeiten. Als Grundlage dafür dient bei geräteintensiven Tätigkeiten die tatsächlich nutzbare Leistung der Gerätekette – dabei besonders des Engpassgeräts. Bei arbeitsintensiven Tätigkeiten werden die Dauern auf Basis des Zusammenhangs aus Aufwandswerten, der Anzahl an eingesetzten Arbeitskräften und der täglichen Arbeitszeit ermittelt. Zusätzlich hängen die Leistungswerte auch von Randbedingungen wie Wetter, Bodenbeschaffenheit etc. sowie der Qualifikation und Motivation der Arbeitskräfte bzw. Geräteführer ab. Allen Inputparametern ist in diesem Zusammenhang gemein, dass sie besonders in frühen Projektphasen mit größeren Unsicherheiten behaftet sind.13) Insgesamt verdeutlicht die Situationsanalyse hinsichtlich der Prognose der Kosten und der Bauzeiten, dass Unsicherheiten in den verschiedenen Projektphasen systematisch zu berücksichtigen sind, um fehlende Vorstellungen über das jeweilige Chancen- und Risikoverhältnis zu vermeiden.

50.6

Risiko versus Wagnis

Unter Wagnis wird ganz allgemein die Gefahr eines Verlustes oder einer Fehlentscheidung verstanden. Das allgemeine Unternehmerwagnis ist bei jeder gewerblichen Tätigkeit vorhanden und wird bei der Kostenermittlung durch einen prozentuellen Aufschlag (Wagniszuschlag) auf die Kosten der Leistungserbringung aufgeschlagen. Es soll jene Kosten abdecken, die für den Bauunternehmer – auf Grund von Unwissen und Ungewissheit – nicht vorhersehbar waren (siehe Abb. 50-6). Dieser globale Zuschlag kann jedoch bei genauerer Betrachtung nur einen Teil dieser zusätzlichen, mit Unsicherheiten behafteten Kosten abdecken (strichlierte Darstellung in Abb. 50-6). Je mehr Informationen über die Umstände der Leistungserbringung, das Umfeld, die geologischen Gegebenheiten, den Auftraggeber, die Stakeholder, die Subunternehmer, die eingesetzten Bauverfahren und Baustoffe vorhanden sind, desto zutreffender wird der Wagniszuschlag ausfallen.14)

11) 12) 13) 14)

Vgl. Hofstadler/Kummer (2018), S. 83f. Vgl. Lechner (2007), Folie 44; Vgl. Kummer (2012), S. 16 Vgl. Hofstadler/Kummer (2019), S. 66ff. Vgl. Hofstadler/Kummer (2017), S. 40ff.

750

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

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Abb. 50-6

Differenzierung zwischen globalem Wagniszuschlag und Wahl des Chancen-Risikoverhältnisses15)

Dieser globale Wagniszuschlag ist von den kalkulatorischen Annahmen, die im Rahmen des systematischen Umgangs mit Unsicherheiten auf unterschiedlichen Detaillierungsebenen (Projektebene, Teilprojekte, Leistungsbereiche, Positionen etc.) zu treffen sind, abzugrenzen. Bei diesen handelt es sich um identifizierte Chancen und/oder Risiken bzw. systemimmanente Unsicherheiten. Je genauer das Projekt bzw. die Leistungen beschrieben sind, desto präziser gestalten sich die Annahmen der Bieter. Trotzdem enthalten diese kalkulatorischen Ansätze Unsicherheiten, die mittels Bandbreitenbetrachtungen in den Berechnungen berücksichtigt werden (sollten). Erfolgt die systematische Berücksichtigung dieser Unsicherheiten, kann durch Angabe des (präferierten) ChancenRisikoverhältnisses ein spezifischer Wert innerhalb der ermittelten Bandbreite (Entscheidungsbereich bzw. Ereignishorizont) gewählt werden. Die spezifischen Einflüsse aus dem Produktionssystem werden damit direkt und verursachungsgerecht berücksichtigt. Die Wahl des Chancen-Risikoverhältnisses beeinflusst indirekt auch die Höhe des Wagniszuschlags. Wird ein günstiges Chancen-Risikoverhältnis (hohe Chancen und geringe Risiken) gewählt, können nicht eingetretene Risiken wiederum zur Abdeckung von zusätzlichen Kosten aufgrund von Ungewissheit und Unwissen herangezogen werden. Überwiegt beim gewählten Chancen-Risikoverhältnis allerdings das Risiko, sinkt das Potenzial, zusätzliche Kosten im Bereich des Wagnisses aufgrund von nicht eingetretenen Risiken abdecken zu können. Der Wagniszuschlag ist als Element der Preisbildung aufzufassen, während das Verhältnis von Chancen und Risiken der Kostenermittlung zuzuordnen ist.16)

15) 16)

Hofstadler/Kummer (2017), S. 41 Vgl. Hofstadler/Kummer (2017), S. 40ff.

751

50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung

50.7

Ablauf von der Nullkalkulation zum Preis

Der effiziente Weg von den Kosten zum Preis führt effizient über die Nullkalkulation17). Für diese werden die erwarteten Werte für die Kalkulationsgrundlagen (Aufwandswerte, Leistungswerte, Mengen, Materialpreise, Gerätepreise etc.) unter dem Aspekt der Vollkostendeckung ermittelt und keine spekulativen Elemente eingesetzt. Mit diesen Ansätzen kann schließlich eine Zahl für die Einheitspreise, in weiterer Folge für die Positionspreise, für Preise der Leistungsgruppen und letztendlich für die Angebotssumme ermittelt werden. Zu berücksichtigende Elemente von der deterministischen Nullkalkulation bis hin zum Angebotspreis können durch ein Stufenmodell abgebildet werden. Die möglichen Stufen sind in Abb. 50-7 im oberen Bildbereich dargestellt. Werden alle Stufen „erklommen“, ist der größtmögliche Nutzen im Zusammenhang mit der Berücksichtigung von Unsicherheiten bei der Preisbildung gegeben. Der linke Bereich des Stufenmodells bezieht sich dabei auf den Fall, dass kein vorgelagerter Chancen-Risikomanagementprozess (ChancenRisikoidentifikation, -analyse, -synthese und -bewertung) durchgeführt wurde und damit keine Einzelchancen bzw. Einzelrisiken identifiziert und bewertet wurden.

*UDGGHUV\VWHPDWLVFKHQ %HUFNVLFKWLJXQJYRQ8QVLFKHUKHLWHQ .HLQYRUJHODJHUWHU&KDQFHQ5LVLNRPDQDJHPHQWSUR]HVV

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3URMHNW VSH]LILVFKH *OREDOEH WUDFKWXQJ ± %HZHUWXQJGHV *HVDPWSURMHNWV %HUFNVLFKWLJXQJ DXI%DVLVYRQ )DNWRUHQ QLFKWOLQHDUHU =XVDPPHQKlQJH

6\VWHP DWLVFKH %HUFN VLFKWLJXQJ YRQ8QVLFKHU KHLWHQ

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3RMHNWVSH]LILVFKH *OREDOEH WUDFKWXQJ ± %HZHUWXQJGHV *HVDPWSURMHNWV DXI%DVLVYRQ VSH]LILVFKHQ &KDQFHQXQG 5LVLNHQGLHLP =XJHGHV &KDQFHQ 5LVLNRPDQDJH PHQWSUR]HVVHV %HUFNVLFKWLJXQJ LGHQWLIL]LHUW QLFKWOLQHDUHU ZXUGHQ =XVDPPHQKlQJH =XHUZDUWHQGH 3URGXNWLYLWlWV YHUOXVWH]%DXI *UXQG]XNXU]HU %DX]HLW 6\VWHP DWLVFKH %HUFN VLFKWLJXQJ YRQ8QVLFKHU KHLWHQ



3UREDELOLVWLVFKH1XOONDONXODWLRQXQWHU%HUFNVLFKWLJXQJYRQ 1LFKWOLQHDULWlWHQXQG3URGXNWLYLWlWVYHUOXVWHQ

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'HWHUPLQLVWLVFKH1XOONDONXODWLRQ

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Abb. 50-7

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9RUJHODJHUWHU&KDQFHQ5LVLNRPDQDJHPHQWSUR]HVV

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% $ 9DULDQWH

Stufenmodell von der Nullkalkulation zum Angebotspreis

Im rechten Bildteil ist der Fall dargestellt, dass es einen vorgelagerten Chancen-Risikomanagementprozess gibt und somit Einzelrisiken und Einzelchancen identifiziert und mit der 17)

Vgl. Oberndorfer/Jodl et al. (2001), S. 36

752

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

Praktikermethode (Eintrittswahrscheinlichkeit * Schaden bzw. Nutzen) entsprechend bewertet wurden. In der Praxis wird es je nach Erfordernis, Projektgröße, Projektvolumen etc. zu unterschiedlichen Zusammensetzungen der einzelnen Stufen kommen. Einige Varianten der Stufenzusammensetzung sind im unteren Bildrand dargestellt. Die Minimalvariante stellt hierbei eine reine Nullkalkulation dar, die auch gleichzeitig dem Angebotspreis entspricht. Wird auf die reine Nullkalkulation noch ein Wagniszuschlag aufgerechnet, wäre die Variante 3 und damit noch immer eine sehr niedrige „Evolutionsstufe“ bei der systematischen Berücksichtigung von Unsicherheiten gegeben. In Abb. 50-7 nicht dargestellt sind strategische Überlegungen im Zuge der Preisbildung, mit denen am Ende nochmals massiv in das Preisgefüge der Angebote eingegriffen werden kann. Diese Überlegungen sind grundlegend unter spieltheoretischen Aspekten zu betrachten und sind nicht Gegenstand dieses Beitrags. Nachfolgend werden die möglichen Stufen von der Nullkalkulation bis zum Angebotspreis näher beschrieben. In Abb. 50-8 ist der Ablauf zum Erreichen der höchsten „Evolutionsstufe“ nochmals dargestellt. A – Deterministische Nullkalkulation Die deterministische Nullkalkulation erfolgt mit einer Kalkulationssoftware. Dazu wird mit erwarteten Werten (Expertenangaben) gerechnet. B – Probabilistische Nullkalkulation Eine Aussage für die Unter- und Überschreitungswahrscheinlichkeit ist mit dieser deterministischen Vorgangsweise nicht möglich. Bekanntlich hängt die Höhe der gewählten Erwartungswerte von den Erfahrungen, dem Kenntnisstand, der Risikoeinstellung (risikoavers, risikoneutral oder risikoaffin), der Analysetiefe, der Auftraggeberangaben und schließlich von der Bewertung der Komplexität des Bauvorhabens sowie des angedachten Produktionssystems ab. Sinnvollerweise sind für die wesentlichen Berechnungsparameter neben den erwarteten Werten auch Bandbreiten in Kombination mit Verteilungsfunktionen zu definieren. Damit werden je nach Bedarf für jeden Einheitspreis, für jede Position und letztendlich für die Angebotssumme nach erfolgter probabilistischer Berechnung (mit Hilfe von Monte-Carlo-Simulationen) Histogramme erzeugt. Anhand dieser Histogramme können die Chancen-Risikoverhältnisse auf Basis einzelner gewählter Zahlenwerte ermittelt werden.18) Dazu erfolgt ein Export des gesamten Leistungsverzeichnisses oder Teilen davon nach EXCEL. In einem weiteren Schritt wird zur Spalte mit den erwarteten Werten (Expertenangaben) eine Spalte links und rechts davon hinzugefügt. Dadurch ist es im Falle von z.B. Dreiecks- oder Rechteckfunktionen möglich, Bandbreiten durch die Angabe von minimalen und maximalen Werten zu berücksichtigen. Natürlich können Werte auch nur deterministisch in die Berechnung einfließen. Eine ABC-Analyse der Positionen ist zu empfehlen, um nicht jede Position mit Bandbreiten belegen zu müssen. C – Probabilistische Nullkalkulation inkl. Nichtlinearitäten und zu erwartende PV (global aufgrund zu kurzer Bauzeit) Die probabilistische Nullkalkulation deckt nur die Bandbreite produktionsbedingter üblicher Schwankungen innerhalb der (wesentlichen) Positionen ab. Werden zusätzlich auch noch nichtlineare Zusammenhänge z.B. aus erwarteten Produktivitätsverlusten 18)

Vgl. Hofstadler/Kummer (2018), S. 80

50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung

753

infolge einer zu kurz vorgegebenen Bauzeit im Rahmen der Nullkalkulation berücksichtigt, ist bereits eine weitere Detaillierungsstufe erreicht. Zur Berücksichtigung von Nichtlinearitäten können Straffunktionen (z.B. Erhöhung von Aufwandswerten bei Überschreitung bestimmter Grenzwerte) in die Simulation integriert werden. Dadurch wird es möglich, realistische Szenarien einzubeziehen, wenn beispielsweise eine zu kurze Bauzeit vorgeben wurde. D – Erhöhung um Faktoren – deterministisch Wurde kein vorgelagerter Chancen-Risikomanagementprozess durchlaufen und damit auch keine Chancen-Risikoidentifikation und -bewertung durchgeführt, ist es sinnvoll, projektspezifische Globalfaktoren in die Berechnungen zu integrieren. Im ersten Schritt werden die Faktoren definiert und dann je nachdem, ob der entsprechende Faktor für das Projekt ein Risiko oder eine Chance darstellt, mit Werten größer oder kleiner 1 angesetzt. Faktoren kleiner als 1 stehen dabei für Chancen, dass die Kosten und in weiterer Folge der Angebotspreis geringer ausfallen. Faktoren größer als 1 erhöhen die Kosten und somit in weiterer Folge auch den Angebotspreis und berücksichtigen damit Risiken, die in einem bestimmten, dem jeweiligen Faktor zugeordneten Bereich auftreten können. E – Erhöhung um Faktoren – probabilistisch Die probabilistische Berücksichtigung von globalen, projektspezifischen Faktoren baut auf dem deterministischen Ansatz auf. Während auf Stufe „D“ lediglich erwartete Werte für die einzelnen Faktoren einbezogen werden, können bei der probabilistischen Betrachtung auch Bandbreiten und in weiterer Folge Verteilungsfunktionen angesetzt und in die Simulation integriert werden. D‘ – Risikozuschlag – Praktikermethode – deterministisch Wurde ein vorgelagerter Chancen-Risikomanagementprozess und damit eine ChancenRisikoidentifikation sowie -bewertung durchgeführt, kann mit Hilfe der Praktikermethode eine Berücksichtigung konkreter Einzelchancen und -risiken erfolgen. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt in dem vorgelagerten Prozess, der bereits eine intensive Auseinandersetzung mit dem Projekt und den möglichen Chancen und Risiken voraussetzt. Die Probleme und die Kritik an der Praktikermethode sind auch bei diesem Anwendungsfall systemimmanent.19) 19)

Yoe schlägt vor, diese Gleichung als Gedankenmodell zur Ergründung des Risikobegriffs zu behandeln und nicht als Formel, die Risiken tatsächlich kalkulierbar macht. Es ist primär von Belang, dass beide Komponenten der oben angeführten Gleichung vorhanden sein müssen, damit überhaupt ein Risiko vorherrscht. Jede Konsequenz, egal wie gravierend sie auch sein mag, stellt kein Risiko dar, wenn ihr keine Eintrittswahrscheinlichkeit zugewiesen wurde. Vgl. Yoe (2012), S. 1 Auch Kaplan/Garrick beurteilen die Charakterisierung von Risiko als Gleichung als irreführend. Dies begründen sie damit, dass ein Szenario mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit und hohem Schaden das gleiche Risiko aufweist wie ein Szenario mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit und vergleichsweise geringen schadhaften Konsequenzen. Zwei solche Szenarien können aber in keinem Fall als gleich risikobehaftet angesehen werden. Vgl. Kaplan/Garrick (1981), S. 13 Das „Zero-Infinity-Dilemma“ beschreibt den Fall, dass ein Risiko, obwohl es einen hohen Schaden (im Eintrittsfall) aufweist, bei korrespondierender geringer Eintrittswahrscheinlichkeit und Anwendung der Gleichung einen geringen Risikowert liefert. Weiters können sich Interpretationsprobleme ergeben, wenn Risiken mit gleichem Risikowert aber gegenläufigen Eintrittswahrscheinlichkeiten und Schadenswerten im Zuge der Risikobewältigung berücksichtigt werden. Vgl. Kummer (2015), S. 19 Bsp.: Die Fälle A bis C weisen alle den gleichen Risikowert lt. der Gleichung der Praktikermethode auf. Die Frage ist, ob zur Bewältigung dieser Risiken trotz gleicher Risikowerte die gleichen Strategien angewendet werden oder nicht? Fall A: 10,0 % * 10.000 € = 1.000 € Fall B: 1,0 % * 100.000 € = 1.000 € Fall C: 0,1 % * 1.000.000 € = 1.000 €

754

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

Es wird daher dringend empfohlen, die Praktikermethode mit probabilistischer Erweiterung durchzuführen. E‘ – Risikozuschlag – Praktikermethode – probabilistisch Die Erweiterung der Praktikermethode um probabilistische Elemente hat den Vorteil, dass das Zusammenwirken unterschiedlicher Einzelchancen und -risiken untersucht und ein entsprechender Risikopuffer konform der Chancen-Risikopolitik für die Preisbildung festgelegt werden kann. Zusätzlich kann auch die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer bestimmten Anzahl an Chancen und/oder Risiken ermittelt werden. F – Wagniszuschlag Der final zu berücksichtigende Wagniszuschlag deckt neben den Chancen und Risiken, deren Eintrittswahrscheinlichkeit und Schaden bzw. Nutzen zumindest abgeschätzt werden kann, Unsicherheiten und Ungewissheiten ab. Der Wagniszuschlag wird üblicherweise als Prozentsatz aufgeschlagen.

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'HWHUPLQLVWLVFK

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$QJHERWVSUHLV

Abb. 50-8

Ablauf zur systematischen Berücksichtigung von Unsicherheiten von der Nullkalkulation zum Angebotspreis

Der Ablauf mit den entsprechenden Arbeitsschritten zur systematischen Berücksichtigung

755

50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung

von Unsicherheiten auf dem Weg von der Nullkalkulation zum Angebotspreis, basierend auf dem zuvor beschriebenen Stufenmodell ist in Abb. 50-9 dargestellt. In diesem Ablaufmodell sind die „Wege“ so zu verstehen, dass jede Spalte unterschiedliche „Stufen“ bei der systematischen Berücksichtigung von Unsicherheiten darstellt. Je nachdem, wie viele Stufen innerhalb eines Projekts „erklommen“ werden sollen, können die Wege auch entsprechend abgekürzt und damit einzelne Stufen ausgelassen werden. Hinsichtlich der Stufen D und E bzw. D‘ und E‘ ist zu differenzieren, ob ein vorgelagerter Chancen-Risikomanagementprozess vorhanden und entsprechend eingesetzt wurde oder nicht. Wurden einzelne Chancen und Risiken in Form eines vorgelagerten Prozesses erfasst und bewertet, kann die Praktikermethode in Kombination mit probabilistischen Berechnungsverfahren einen zusätzlichen Nutzen bei der Berücksichtigung von Unsicherheiten stiften.

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'HWHUPLQLVWLVFKH1XOONDONXODWLRQ LQJlQJLJHQ .DONXODWLRQVSURJUDPPHQ

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([SRUWGHU3RVLWLRQVQXPPHUQ 3RVLWLRQVWH[WH0HQJHQYRUGHUVlW]H HUZDUWHWH:HUWHIU$QWHLOH/RKQXQG 6RQVWLJHVVRZLH(LQKHLWVSUHLVHXQG 3RVLWLRQVSUHLVH ,PSRUWGHU'DWHQLQ06([FHO $GDSWLRQDQGLH1RWZHQGLJNHLWHQGHU 0RQWH&DUOR6LPXODWLRQ± (LQIJHQ ]XVlW]OLFKHU6SDOWHQIU0LQLPXPXQG 0D[LPXPIUGLH$QWHLOH/RKQXQG 6RQVWLJHVJHWUHQQWRGHUIUGLH (LQKHLWVSUHLVH =XVlW]OLFKHLQHE]Z]ZHL6SDOWHQLQ GHQHQGLH9HUWHLOXQJVIXQNWLRQHQ KLQWHUOHJWZHUGHQ

'HILQLWLRQGHU9HUWHLOXQJVIXQNWLRQHQ IUXQVLFKHUH,QSXWSDUDPHWHU

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%HUFN VLFKWLJXQJ YRQ 1LFKWOLQHDU LWlWHQ XQG 3URGXNWLY LWlWVYHU OXVWHQ ± 6WUDI IXQNWLRQHQ PVVHQ ]XVlW]OLFK LQ([FHO SURJUDP PLHUW ZHUGHQ

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9RUJHODJHUWHU &KDQFHQ5LVLNR PDQDJHPHQWSUR]HVV

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'HILQLWLRQYRQ (LQWULWWVZDKUVFKHLQ OLFKNHLW XQG6FKDGHQ E]Z1XW]HQMH (LQ]HOFKDQFHE]Z ULVLNR

)HVWOHJXQJ GHWHUPLQLVWLVFKHU :HUWHIUGLH)DNWRUHQ  &KDQFH ! 5LVLNR 0XOWLSOLNDWLRQGHU )DNWRUHQXQG 0XOWLSOLNDWLRQPLWGHP (UJHEQLVGHU ELVKHULJHQÄ6WXIHQ³

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Abb. 50-9

50.8

:DJQLV ]XVFKODJ ± LQ3UR]HQW

%HLSUREDELOLVWLVFKHU 9RUJHKHQVZHLVH $GDSWLRQGHU %HUHFKQXQJVWDEHOOH %HUQRXOOL9HUWHLOXQJ XQG0,1(5:0$; %DQGEUHLWHQXQG 9HUWHLOXQJVIRUPHQ IHVWOHJHQ

( (UJHEQLV± 3UREDELOLVWLVFKH 1XOONDONXODWLRQ

)



3UREDELOLVWLVFKHU 5LVLNR]XVFKODJ

Arbeitsschritte zur systematischen Berücksichtigung von Unsicherheiten auf dem Weg von der deterministischen Nullkalkulation zum Angebotspreis

Risikozuschlag – Praktikermethode

Für die Berücksichtigung von Unsicherheiten bzw. Einzelchancen und -risiken innerhalb der Kalkulation stehen verschiedene Verfahren und Methoden zur Verfügung – nachfolgend wird auf die ‚Praktikermethode‘ eingegangen, da diese breite Anwendung findet und in den Grundzügen leicht verständlich ist. Das als ‚Praktikermethode‘ (bzw. ‚Risikoregister‘) bezeichnete Verfahren stützt sich im

756

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

Wesentlichen auf den weit bekannten und verbreiteten Zusammenhang in Glg. (50-1). (50-1)

Risiko = Eintrittswahrscheinlichkeit ⋅ Schaden

Umgelegt auf eine positive Betrachtung von Auswirkungen könnten auch die Chancen über einen ähnlichen Zusammenhang bewertet werden (siehe Glg. (50-2)). (50-2)

Chance = Eintrittswahrscheinlichkeit ⋅ Nutzen

Besonders in einem frühen Projektstadium bzw. bei der ersten Analyse eines neuen Projekts zeigt sich eine Schwierigkeit, die mit der Festlegung einzelner (deterministischer) Zahlenwerte – sowohl für die Eintrittswahrscheinlichkeiten als auch für die Höhe der Schäden bzw. des Nutzen – verbunden ist. Problematisch bei der rein deterministischen Chancen-Risikobetrachtung mit der ‚Praktikermethode‘ ist, dass es rechnerisch dazu kommen kann, dass Risiken mit geringer Wahrscheinlichkeit und hoher Konsequenz (Schaden) den gleichen Risikowert aufweisen wie Risiken mit geringer Konsequenz und hoher Eintrittswahrscheinlichkeit.

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Abb. 50-10 Möglichkeiten zur Ermittlung des Risikozuschlags unter Anwendung der ‚Praktikermethode‘20)

Es werden also z.B. zwei von ihrer Struktur und von ihren Eigenschaften her völlig unter20)

Vgl. Hofstadler/Kummer (2018), S. 104

757

50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung

schiedliche Risiken letztendlich identisch bewertet. Risiken mit hoher Konsequenz erfordern aber evtl. andere Gegensteuerungs- bzw. Bewältigungsmaßnahmen als Risiken, die zwar eine hohe Eintrittswahrscheinlichkeit, aber nur eine geringe Konsequenz aufweisen.21) In Abb. 50-10 wird die Möglichkeit, einen Risikozuschlag mittels der Praktikermethode zu ermitteln, in unterschiedliche Ausprägungsformen unterschieden. Grundsätzlich wird in die deterministische und probabilistische Herangehensweise differenziert. Beim deterministischen Zweig wird in die ungewichtete und die gewichtete Methode unterschieden. Der probabilistische Zweig beschreibt die Anwendung der Praktikermethode durch den Einsatz von Monte-Carlo-Simulationen, wobei sowohl für die Eintrittswahrscheinlichkeit als auch für den Schaden (bzw. auch für einen Nutzen, sofern auch Chancen betrachtet werden) Verteilungsfunktionen an Stelle von einzelnen Zahlenwerten angesetzt werden.

50.9

Probabilistische Nullkalkulation erhöht um Faktoren

Gibt es keinen vorgelagerten Chancen-Risikomanagementprozess, besteht die Möglichkeit Unsicherheiten aus unterschiedlichen Bereichen durch Erhöhungs- (Risiko) bzw. Abminderungsfaktoren (Chance) in die Kalkulation und Preisbildung systematisch zu integrieren. Die Berücksichtigung und Bewertung der einzelnen Faktoren erfolgt dabei subjektiv bzw. intersubjektiv, wenn innerhalb einer Gruppe von Personen (Projektteam) durch Abstimmung entschieden wird. In Tab. 50-1 ist beispielhaft die Berücksichtigung unterschiedlicher definierter Faktoren dargestellt. In der Spalte A werden konkrete projektspezifische Faktoren definiert, die Unsicherheiten darstellen. Diese Faktoren können mit Hilfe einer entsprechenden Beschreibung für die Entscheidungsträger näher definiert und analysiert werden (hier nicht dargestellt). /IG 1U

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Tab. 50-1

(5:

            

            

             





  

Modellbildung – Berücksichtigung von projektspezifischen Unsicherheiten mittels Faktoren – probabilistisch22)

Vgl. Hofstadler/Kummer (2018), S. 102ff.

758

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

In den Spalten B bis D werden in weiterer Folge Werte für diese definierten Faktoren angegeben. Bei der probabilistischen Betrachtung ist es erforderlich, Bandbreiten (MIN und MAX) sowie einen erwarteten Wert (Expertenangabe, die auch in der deterministischen Betrachtung Anwendung gefunden hätte) anzugeben. In weiterer Folge kann dann in der Spalte E eine Verteilungsfunktion (im konkreten Fall Dreiecksverteilungen) definiert werden.23) Werden in den Spalten Werte kleiner als 1 angegeben, ist damit eine Chance verbunden – nämlich eine Verringerung der Kosten. Werden Werte größer als 1 angegeben, handelt es sich um ein Risiko, das eine Kostenerhöhung impliziert. Bei einem Wert von genau 1 bleiben die Kosten innerhalb der Berechnung unverändert. In der Spalte F der Tab. 50-1 wird die Wahrscheinlichkeit angegeben, mit der es zu einem entsprechenden positiven oder negativen Ereignis im Bereich der jeweiligen Faktoren kommen kann. Auch diese Angabe ist subjektiv (bzw. intersubjektiv) und stellt eine Schätzung in Bezug auf ein konkretes Projekt dar. Als Verteilungsfunktion gelangt die Bernoulli-Verteilung (bzw. Null-Eins-Verteilung als Spezialfall der Binomialverteilung) zur Anwendung. Bei der Bernoulli-Verteilung handelt es sich um eine diskrete Verteilung, bei der nur zwei Ausprägungen – 0 oder 1 – möglich sind. Sie eignet sich daher besonders gut, um den Eintritt bzw. die Berücksichtigung eines bestimmten Faktors anhand einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu modellieren. Mit der Angabe eines Prozentsatzes wird die Wahrscheinlichkeit für die Berücksichtigung (= 1) bzw. die ‚Gegenwahrscheinlichkeit‘ für die Nichtberücksichtigung (= 0) eines Faktors innerhalb der Iterationen einer Simulation definiert. Die Verteilungen sind in der Spalte G der Tab. 50-1 hinterlegt. In Tab. 50-1 ist ein zufälliger Fall innerhalb einer Simulation dargestellt. Es ist erkennbar, dass grundsätzlich fünf Faktoren innerhalb der Simulation schlagend werden könnten, also eine Eintrittswahrscheinlichkeit größer als null aufweisen (Zeilen 3, 4, 5, 8 und 12). In der konkret dargestellten Iteration werden aber nur die beiden Faktoren „Planungs- und Ausschreibungsreife“ mit einem Faktor von 1,01 (Risiko) und „Dringlichkeit/Umsatzbedarf“ mit einem Faktor von 0,98 (Chance) berücksichtigt. Insgesamt würde es in dieser Iteration zu einer Abminderung der Nullkalkulation mit dem Faktor 0,99 (= 1,01 * 0,98) kommen. In den folgenden Iterationsschritten (für dieses Beispiel insgesamt 50.000 Iterationen mit dem Latin Hypercube Probenerhebungsverfahren) kommen andere Kombinationen der zu berücksichtigenden Faktoren zustande, die dann wieder mit zufälligen Faktorwerten innerhalb den definierten Bandbreiten in der Simulation berücksichtigt werden. Somit können mit relativ geringem Aufwand eine Vielzahl an möglichen Kombinationen bedacht und damit die entsprechenden Bandbreiten in Form von Histogrammen abgebildet werden. Die auf diese Weise je Iteration ermittelten Faktoren werden miteinander multipliziert und ergeben einen Gesamt-Faktor, mit dem die Ergebnisse der vorangegangenen Kalkulationsstufen multipliziert werden. Im konkreten Fall wurde lediglich eine deterministische Nullkalkulation mit dem probabilistisch ermittelten Erhöhungsfaktor multipliziert. Das Ergebnis ist ein Histogramm, das dem gegenständlichen Beispiel entsprechend in Abb. 50-11 darstellt ist.

22)

23)

Geringfügige Abweichungen gegenüber einer Berechnung ‚von Hand‘ können sich durch die Tatsache ergeben, dass die in den Tabellen eingetragenen Werte mit MS Excel – und damit mit mehr Nachkommastellen als angeschrieben – berechnet wurden. Hier sind auch andere Verteilungsfunktionen denkbar und können mit der verwendeten Software @Risk auch entsprechend definiert werden.

759

50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung

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Abb. 50-11 Histogramm – Nullkalkulation mit probabilistischer Berücksichtigung von Erhöhungs- bzw. Abminderungsfaktoren

Es zeigt sich im gegenständlichen Fall ein bimodaler Verlauf des Histogramms, der durch die Unstetigkeiten, die durch den Einsatz der Bernoulli-Verteilung hervorgerufen werden, erklärt werden kann. Aus dem Histogramm können Über- und Unterschreitungswahrscheinlichkeiten spezifischer Werte abgelesen und damit zu jedem gewählten Angebotspreis innerhalb der ermittelten Bandbreite auch ein Chancen-Risikoverhältnis angegeben werden. Die zentral situierten 90 % der Werte liegen für diesen Fall etwa zwischen 2,764 und 2,924 Mio. €. Der Mittelwert liegt bei ca. 2.848.000 € und damit unter dem Wert der Nullkalkulation. Es können demnach in einer ersten Einschätzung eher mehr Chancenpotenziale als Risiken für dieses Projekt vermutet werden. Zu beachten ist allerdings, dass die angegebene Bandbreite auch ein Maximum von ca. 3.068.000 € aufweist und damit ca. 190.000 € über dem deterministischen Wert der Nullkalkulation liegt.

50.10

Probabilistische Nullkalkulation erhöht um Risikozuschlag (Praktikermethode)

Bei der probabilistischen Betrachtung besteht die Möglichkeit, die Konsequenzen (Schäden) einzelner Risiken durch Verteilungsfunktionen innerhalb einer definierten Bandbreite abzubilden und somit das gesamte mögliche Spektrum der Gesamtkonsequenzen zu berücksichtigen. Um die Eintrittswahrscheinlichkeit von einzelnen Risiken modellieren zu können, bietet sich im Zuge einer Monte-Carlo-Simulation wiederum eine Bernoulli-Verteilung an. Im Zuge eines Simulationsdurchlaufs können mehrere tausend mögliche Kombinationen eintretender Risiken betrachtet und in Form von Histogrammen gemeinsam dargestellt werden. Damit werden die unvermeidbaren und vorhandenen Unsicherheiten der Input-

760

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

parameter systematisch in die Berechnung integriert. Die Grundlagen für fundierte Entscheidungen auf Basis eines spezifischen Chancen-Risikoverhältnisses werden damit geschaffen. Mit Hilfe der Monte-Carlo-Simulation ist ein deutlicher Informationszugewinn im Hinblick auf den möglichen ‚Ereignisraum‘ gegeben. Wird die ‚Praktikermethode‘ um probabilistische Eingabeparameter erweitert, bildet sie die Bewertungssituation in frühen Projektphasen bzw. bei der ersten Analyse eines neuen Projekts deutlich realistischer ab, als dies mit rein deterministischen Berechnungen der Fall ist. Im Ergebnis liefert die Simulation eine (diskrete oder stetige) Verteilung für die Summe der Risikowerte. Mit Hilfe eines solchen Histogramms kann auf Basis der ChancenRisikopolitik bzw. Risikoeinstellung (risikoavers, risikoneutral, risikoaffin) eine Entscheidung darüber getroffen werden, wie hoch der Risikozuschlag zur Nullkalkulation ausfallen soll bzw. welches Chancen-Risikoverhältnis präferiert wird. Für das gegenständliche Beispiel werden nur Risiken bezogen auf einzelne Leistungsgruppen berücksichtigt, natürlich ist es aber auch möglich, nach der gleichen Systematik Chancen zu berücksichtigen und evtl. auch die Chancen und Risiken gegeneinander aufzurechnen. Dies würde dann bedeuten, dass positive Effekte aus realisierten Chancen negative Effekte aus schlagend gewordenen Risiken (teilweise oder auch völlig) kompensieren. Der Ereignisraum wird dadurch insgesamt größer, bei der Realisierung von Chancen kann der Risikozuschlag aber unter Umständen niedriger ausfallen bzw. (bei vielen Chancen) sogar ein Nachlass gewährt werden.24) In Abb. 50-12 ist das Berechnungsmodell für die probabilistische Praktikermethode zur Berücksichtigung von Einzelrisiken je Leistungsgruppe dargestellt. Es handelt sich dabei um eine schematische Darstellung, die auch um mehrere Risiken je Leistungsgruppe erweitert oder auch um entsprechende Zeilen reduziert werden kann.

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Abb. 50-12 Modellierung – Praktikermethode auf Leistungsgruppenebene – Probabilistisch (reine Betrachtung von Risiken) 24)

Vgl. Hofstadler/Kummer (2018), S. 107f.

761

50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung

Die Eingabe erfolgt für die Eintrittswahrscheinlichkeit durch Bernoulli-Verteilungen und für die zu erwartenden Schäden in Form von Dreiecksverteilungen (natürlich sind auch andere Verteilungstypen und -formen denkbar). Als Ergebnis der Simulation kann eine Aussage darüber getroffen werden, wie viele Risiken mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gleichzeitig auftreten werden bzw. wie wahrscheinlich es ist, dass etwa mehr als drei Risiken innerhalb des Projekts auftreten werden. Es kann auch abgelesen werden, wie wahrscheinlich es beispielsweise aufgrund der Inputparameter ist, dass sich keines der Risiken realisiert. Der zweite und wesentlichere Output ist die Summe der Risikowerte, die mit der Nullkalkulation addiert werden kann. Als Ergebnis des konkreten Beispiels (bei dem nur Risiken betrachtet wurden) ergibt sich eine diskrete Verteilung, wie sie in Abb. 50-13 dargestellt ist. Es zeigt sich, dass im Bereich von 2,88 und ca. 3,0 Mio. € die größte Anzahl an Risikofällen auftritt. Wird also beispielsweise der Angebotspreis im konkreten Fall von 2,88 Mio. € (Nullkalkulation) auf 2,96 Mio. € erhöht, würden mit diesem Risikoaufschlag etwa 80 % der identifizierten und bewerteten Risiken abgedeckt werden. Auffällig in der Darstellung ist zudem der zweite Bereich der Verteilung, der sich zwischen 3,20 und 3,45 Mio. € befindet. Es handelt sich dabei um Schäden, die durch relativ unwahrscheinliche, aber dafür sehr schadensträchtige Risiken hervorgerufen werden. Möchte man nun im Zuge der Angebotserstellung auf „Nummer sicher“ gehen, müsste ein Angebotspreis von über 3,45 Mio. € angegeben werden (auf Basis dieser Betrachtung) – ob damit bei entsprechendem Konkurrenzkampf und vorhandenem Preiswettbewerb ein Auftrag lukriert wird, ist eine andere Frage. 1XOONDONXODWLRQLQNO5LVLNRDXIVFKODJ>¼@  



 





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Abb. 50-13 Histogramm – Praktikermethode – Nullkalkulation inkl. Risikoaufschlag

Die spezielle Form der Verteilung zeigt auch, dass innerhalb bestimmter Grenzen eine Erhöhung des Risikozuschlags keine Erhöhung bei der prozentuellen Abdeckung der Anzahl an Risikofällen mit sich bringt. In Abb. 50-14 sind zwei Fälle dargestellt, bei denen einmal ein Risikoaufschlag in der Höhe von 180.000 € und einmal in der Höhe von

762

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

335.000 € berücksichtigt wurde. Der mögliche Schaden, der sich bei Eintreten eines hohen Risikos ergibt, wird zwar durch einen initial höheren Risikoaufschlag geringer, die Prozentverhältnisse zwischen abgedeckten und nicht abgedeckten Risiken bleibt jedoch bei 90 % zu 10 % unverändert.

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5LVLNR

Abb. 50-14 Histogramm – Praktikermethode – Nullkalkulation inkl. Risikoaufschlag – Anteil des gedeckten Risikos bei unterschiedlichen Risikozuschlägen

50.11

Nutzen für den Bieter/AN

Der Einsatz der Monte-Carlo-Simulation bei der Berechnung von Kosten und Preisen ermöglicht unter der Voraussetzung der Integration von kontextbezogenen Daten und

50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung

763

Informationen sowie Verteilungsfunktionen einen hohen Mehrwert. Dieser ergibt sich aus der Berücksichtigung unterschiedlicher Kombinationen möglicher Ereignisse und der Darstellung dieser Ereignisräume in Form von Histogrammen. Daraus folgt ein markant gesteigertes Informations- und Interpretationspotenzial. Exemplarisch wird der Nutzen wie folgt dargestellt:25) • Durch die Offenlegung des Berechnungsmodells und der Ergebnisse der Simulation werden Black-Box Betrachtungen und in weiterer Folge unzutreffende Entscheidungen vermieden bzw. reduziert. • Es entsteht kein wesentlicher Mehraufwand, da aus der verwendeten Kalkulationssoftware i.d.R. die Positionen mit den Mengen und Anteilen für Lohn und Sonstiges nach MS Excel exportiert werden können. • Die Ergebnisse in Form von Histogrammen können für das Endergebnis und je nach Bedarf auch für Zwischenergebnisse ausgegeben werden. • Anhand der Histogramme kann für jeden Wert innerhalb der Bandbreite das damit eingegangene Chancen-Risikoverhältnis bestimmt werden. • Es können mit der gleichen Berechnungstabelle anhand unterschiedlicher Szenarien verschiedene Sachverhalte simuliert werden (z.B. auch Berücksichtigung möglicher Korrelationen). • Neben den vorrangig verwendeten linearen Zusammenhängen, die in der Baupraxis nur in engen Grenzen vorherrschen, können auch Nichtlinearitäten in die Simulationen integriert werden (z.B. durch ‚Straffunktionen‘). • Sind die aus der Realität abgeleiteten Verteilungsfunktionen für Inputparameter bekannt, können mit den Expertenangaben noch genauere Simulationsergebnisse erzielt werden. • Sind die aus der Realität abgeleiteten Korrelationen zwischen Inputparametern bekannt, können mit den Expertenangaben noch genauere Simulationsergebnisse erzielt werden. • Abgesehen von Optimierungsproblemen ist der Aufwand für die Modellierung und die Simulation gering. • Neben Histogrammen können als Informations- und Interpretationsbasis noch Summenkurven sowie für Sensitivitätsanalysen Spiderdiagramme, Tornadodiagramme und Punktdiagramme ausgegeben werden, um zu eruieren, welche Parameter den größten Einfluss auf das Ergebnis haben (Steuerungspotenzial). • Insgesamt werden durch die Art der erzeugten Modelle und Ergebnisse wertvolle Grundlagen geschaffen, um die Kommunikationsbasis aller involvierten Projektbeteiligten zu verbessern und damit die Entscheidungszeit zu verkürzen, die Entscheidungssicherheit zu erhöhen und das Konfliktpotenzial zu reduzieren.

50.12

Nutzen für den Auftraggeber

Nicht nur der Bieter bzw. AN ist angehalten, sich Gedanken über mögliche Unsicherheiten bei der Kalkulation und Preisbildung zu machen. Auch der AG kann die erläuterten Methoden und Ansätze in seinen Untersuchungen integrieren. Durch die konsequente Berücksichtigung von Unsicherheiten bei der Berechnung des Kostenanschlags und mit dem Einsatz von Monte-Carlo-Simulationen hat der AG bereits vor der Veröffentlichung der Ausschreibungsunterlagen einen Überblick über die 25)

Vgl. Hofstadler/Kummer (2018), S. 111f.

764

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

möglichen Bandbreiten der Angebotspreise. Die intensive Beschäftigung mit den möglichen Bandbreiten der Positionspreise bietet die Chance, noch Korrekturen im Leistungsverzeichnis vorzunehmen (z.B. Aufgliederung von Mischpreispositionen in separate Positionen) bzw. bei drohender Budgetüberschreitung noch korrigierend in die Planung einzugreifen. Zusätzlich können die Histogramme der Preise (sowohl auf der Ebene von einzelnen Positionen als auch auf den Ebenen von Leistungsgruppen, Oberleistungsgruppen etc.) in weiterer Folge für die Angebotsprüfung herangezogen werden, um zu beurteilen, ob die Angebote der Bieter plausibel sind bzw. welche Chancen-Risikoverhältnisse mit ihren Preisen eingegangen wurden.26) Auftraggeber profitieren weiters davon, wenn sich Bieter bzw. AN systematisch mit dem Chancen-Risikomanagementprozess auseinandersetzen und Chancen sowie Risiken identifizieren, analysieren und bewerten, da sie damit zuverlässige und im Hinblick auf das Chancen-Risikoverhältnis bewusst agierende Auftragnehmer erhalten.

50.13

Aktuelle und zukünftige Trends

Ein Blick in die Vergangenheit und Gegenwart der Planung und Realisierung von Bauprojekten zeigt besonders bei der Analyse von ‚Chaosprojekten‘ die Bedeutung und die Notwendigkeit dafür, dass die Aspekte der Projektvorlaufzeit und Bauzeit intensiver und systematischer in Organisations-, Management-, Planungs- und Bauprozesse integriert werden müssen. Um Projekte erfolgreich vorbereiten, planen und realisieren zu können, braucht es einen ausreichenden Zeit- und Budgetrahmen und besonders kompetente Personen, die dies systematisch steuern. Für das Umsetzungsdenken und -handeln werden Modelle mit unterschiedlichen Ausprägungen und Detaillierungsgraden („Evolutionsstufen“) eingesetzt. Die Qualität des Outputs von Modellen (Methoden, Bauzeit-Software, Kalkulations-Software, Simulations-Software, Morphologische Kästen, Checklisten etc.) hängt entscheidend von der Kompetenz und vom Know-how sowie besonders vom Knowwhy der AnwenderInnen ab. Für die effektive Nutzung von Modellen wird zudem ausreichend Zeit benötigt, welche die Rückkopplungen und die Interaktion mit anderen Projektbeteiligten ermöglicht, um die Datenbasis gegebenenfalls zu validieren und zu erweitern. Die Entscheidungsvorbereitung und -findung ist durch die Berücksichtigung von wahrscheinlichkeitstheoretischen Simulationen von höherer Systematik und Zielorientierung geprägt – zugleich verbessern sich die Entscheidungssicherheit und die Transparenz. Das Voranschreiten der Digitalisierung und der Einsatz neuer Technologien in Hinblick auf die systematische Daten- und Informationsgenerierung (Sensoren, maschinelles Sehen, Photogrammetrie, Tracking etc.) sowie -verwendung werden das Chancen- und Risikomanagement auf eine neue Stufe stellen und erfordern zukünftig eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Thematik, sowohl im Umfeld von Hochschulen als auch in der Kooperation mit Partnern aus der Wirtschaft. Mit dem Einsatz neuer Technologien zur Daten- und Informationsgenerierung sowie dem vermehrten Einsatz von Building Information Modeling (BIM) wird der systematische Umgang mit unsicheren bzw. streuenden Inputparametern und großen Datenmengen immer wichtiger und erfordert die Vernetzung unterschiedlicher Fachdisziplinen. 26)

Vgl. Hofstadler/Kummer (2018), S. 112

27)

Hofstadler/Kummer (2017), S. 99

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50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung

765

Abb. 50-15 BIM aus der Sicht eines Bauunternehmens und der Austausch mit den verschiedenen Projektphasen – Gegenwart und Zukunft27)

766

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

Effizientes und effektives Planen, Bauen und Betreiben erfordert Werkzeuge und eine optimierte Auswahl und Kombination der Produktionsfaktoren (Arbeitskräfte, Geräte, Materialien und Wissen) in der Planungs-, Realisierungs- und Betriebsphase. Ganzheitliches, funktionierendes BIM bedeutet modellbasiertes, integratives Arbeiten aller Projektbeteiligten (dispositive Produktionsfaktoren) über alle Projektphasen und Gewerke hinweg, auf einer gemeinsamen Basis und mit definierten Schnittstellen, Regeln und Rollen. Durchgängiges und projektumfassendes Planen, Bauen und Betreiben wird hierdurch erst möglich (sofern die Schnittstellen sowie der Daten- und Informationsfluss einheitlich definiert und geregelt sind). Besonders die Generierung und der (verlustfreie) Austausch realitätsnaher Daten und verwertbarer Informationen sind wichtig für den Mehrwert und Erfolg der Anwendung von BIM-Modellen. Zukünftig werden neben den bekannten 3D-, 4D- und 5D-Modellen auch weitere Dimensionen in BIM-Modelle integriert werden können. Diese umfassen neben den Aspekten des Lebenszyklusmanagements (6D) und des Facilitymanagements (7D) auch den systematischen Umgang mit Unsicherheiten im Chancenund Risikomanagement (8D) und nicht zuletzt auch die Implementierung von nichtlinearen Zusammenhängen (9D) durch die Berücksichtigung von „Straffunktionen“ zur Abbildung von Produktivitätsverlusten, sofern Grenzgrößen der Produktivität über- bzw. unterschritten werden. Die Erkenntnisse der Forschung im Bereich des Chancen- und Risikomanagements konnten 2017 erfolgreich in Form eines umfangreichen Werks – veröffentlicht im Springer Verlag28) – für die Praxis, Lehre und Forschung zur Verfügung gestellt werden.

50.14

Zusammenfassung

Auf der Suche nach der exakten Zahl sind wir alle! Es gibt zwar exakte Ergebnisse, die aus einer Gleichung folgen, ob diese aber genau zu dem betrachteten Bauteil bzw. Bauwerk passen, ist mit Unsicherheit behaftet. Am Ende jedes Vergabeprozesses ist es eine Zahl, die den Ausschlag für die Auftragsvergabe gibt. Diese letztgültige Zahl hat also eine große Bedeutung für den Zuschlagserfolg. Ist sie zu hoch, wird der Bieter den Auftrag nicht erhalten, ist sie zu niedrig – im Vergleich zu einem Preis, der sich aus einer dem sachlich und wirtschaftlich gerechtfertigten Werteinsatz folgender Kalkulation ergibt – wird er zwar den Auftrag erhalten, aber einen Verlust erleiden (falls es nicht zu Leistungsabweichungen kommt, die zu Mehrkosten führen, und damit das Defizit aufgeholt werden kann). Hinsichtlich der für den Bieter/AN leistbaren Risiken sind zwei maßgebliche Fälle zu unterscheiden: Fall A Es gibt Angebotspreise, die abzugeben sich ein Bauunternehmen auf Dauer nicht leisten kann! Fall B Es gibt Angebotspreise, die nicht abzugeben sich ein Bauunternehmen auf Dauer nicht leisten kann! 28)

Hofstadler/Kummer (2017)

50 Systematische Berücksichtigung von Unsicherheiten in der Preisermittlung

767

Für beide Seiten, also für jene des Bieters (besonders für diesen) und die des AG, ist es oft „überlebensnotwendig“ zu wissen, welches Chancen-Risikoverhältnis mit dieser als Kalkulationsergebnis anzugebenden Zahl eingegangen wird. Dies lässt sich anhand von Histogrammen eruieren, die aus Monte-Carlo-Simulationen folgen. Das Entscheidende dabei ist aber das Simulationsmodell, das mit zutreffenden Verteilungsfunktionen und Eingangswerten angesetzt wird. Zur Optimierung der Qualität der Kalkulationsergebnisse ist die Kombination von Standardkalkulationsprogrammen mit der Monte-Carlo-Simulation sehr gut geeignet. Als Schnittstelle zwischen dem Kalkulationsprogramm und der Simulationssoftware @RISK dient MS EXCEL. Anhand der Ergebnisse der Monte-Carlo-Simulation ist die Form der Verteilung, der Ereignisraum und das für den gewählten Wert einhergehende Chancen-Risikoverhältnis sicht- und bewertbar. Darauf basierende Entscheidungsfindungen werden jedenfalls mit Weitblick getroffen und sind mit geringeren Unsicherheiten behaftet. Für die Baubranche stellt der systematischere Umgang mit dem Thema Chancen-Risikomanagement in allen Projektphasen und für alle Projektbeteiligten jedenfalls einen großen Mehrwert dar!

50.15

Abkürzungsverzeichnis

AG

......................... Auftraggeber

AN

......................... Auftragnehmer

BIM

......................... Building Information Modeling

BKI

......................... Baukosteninformationszentrum kammern GmbH

ERW

......................... erwarteter Wert

f.

......................... folgende Seite

ff.

......................... folgende Seiten

Glg.

......................... Gleichung(en)

GU

......................... Generalunternehmer

LG

......................... Leistungsgruppe(n)

MAX

......................... Maximum

MIN

......................... Minimum

Deutscher

MS Excel ......................... Microsoft Excel PERT

......................... Program Evaluation and Review Technique

PPH

......................... Projektphase(n)

QG

......................... Quality Gate(s)

Std.Abw. ......................... Standardabweichung TU

......................... Totalunternehmer

Architekten-

768

50.16

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

Literaturverzeichnis

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51

Technische Immobilienanalyse – TIA Instrument zur Chancen- und Risikoabschätzung bei Immobilientransaktionen

Prof. Dr.techn. Dipl.-Ing.(FH) Dipl.-Wirt.-Ing.(FH) Felix Meckmann, M.Sc. Professur Bauökonomie Institut Bauingenieurwesen Hochschule Ruhr West Duisburger Straße 100 45479 Mülheim an der Ruhr www.hochschule-ruhr-west.de/forschung/forschung-in-den-fachbereichen/institut-bauingenieurwesen/ [email protected] Yannis Hien, M.Eng. Doktorand Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_51

770

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

51.1

Abstract

Die technische Analyse von Immobilien ist ein komplexer, interdisziplinärer Prozess, der umfassende Erfahrungen im Umgang mit Immobilien sowie spezifisches Fachwissen erfordert. Zur Einschätzung des Chancen- und Risikoniveaus einer Immobilie ist die Auseinandersetzung mit technischen Aspekten von hoher Relevanz, da diese die Performance der Immobilie unmittelbar beeinflussen. Dabei werden die direkten Objektrisiken beurteilt und die qualitative Ausstattung der Immobilien, Instandhaltungsstaus sowie Investitionsbedarfe festgestellt und beurteilt. Für die technische Immobilienanalyse, als Bestandteil einer umfassenden Immobilien Due Diligence, liegen keine Regularien oder marktanerkannten Leitfäden vor, die eine umfassende Chancen- und Risikobeurteilung ermöglichen. Die vorliegende Studie setzt sich als erste Marktstudie mit der Auffassung der Qualität und der Inhaltsbestandteile der technischen Immobilienanalyse unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Perspektiven der Immobilienwirtschaft und der unmittelbar an einer Immobilientransaktion Beteiligten auseinander. Die Studie zeigt, dass teilweise unterschiedliche Auffassungen zur technischen Immobilienanalyse bestehen, es jedoch auch Themenbereiche gibt, zu denen ein einheitliches Verständnis in der Branche vorliegt. Grundsätzlich begrüßen die StudienteilnehmerInnen die Entwicklung eines einheitlichen Anforderungskataloges an die technische Immobilienanalyse, unabhängig davon ob diese für Transaktionen, Projektentwicklungen oder Bestandsanalysen durchgeführt werden.

51.2

Situationsanalyse

Immobilienprojekte, unabhängig ob es sich um Transaktionen, Projektentwicklung oder Bestandsanalysen handelt, unterliegen aufgrund sich ändernder Anforderungen und einer Diversifikation des Immobilienmarktes unterschiedlichen Perspektiven der Marktakteure. Durch eine steigende Institutionalisierung des Immobilienmarktes sowie eine Professionalisierung der beteiligten Akteure ist ein essentieller Bestandteil eines fundierten, transparenten und aussagekräftigen Entscheidungsprozesses eine systematische und methodisch korrekte Immobilienanalyse.1) Dieser zentralen Bedeutung der Immobilienanalyse verleiht die Definition als „objektive, systematisch aufgebaute, fachlich und methodisch fundierte Untersuchung der räumlichen und marktseitigen Rahmenbedingungen einer Immobilieninvestition“2) besonderen Ausdruck. Diese systematische Immobilienanalyse wird aus dem angelsächsischen Anwendungsraum stammend als „Real Estate Due Diligence“ bezeichnet.3) 4) Die Real Estate Due Diligence setzt sich dabei mit der umfassenden Risikoeinschätzung der Immobilie auseinander, wobei, wie in Abb. 51-1 dargestellt, die Technische Due Diligence als Unterdisziplin die technischen und die Umwelttechnische Due Diligence die umwelttechnischen Aspekte aufgreift. Je nach Größe der Transaktion und Umfang der Prüfung werden die umwelttechnischen Aspekte im Rahmen der Technischen Due Diligence subsummiert.5)Aufgrund der Begriffsbehaftung Technische Due Diligence wird 1) 2) 3) 4) 5)

Vgl. Feldmann et al. (2015), S. 365 Muncke et al. (2008), S. 136 Vgl. Just et al. (2018), S. 14 Vgl. Arndt (2006), S. 14 Vgl. Helbl/Schindler (2015), S. 85f

771

51 Technische Immobilienanalyse – TIA

in der vorliegenden Arbeit der Begriff technische Immobilienanalyse für alle im Rahmen der Transaktion durchgeführten technischen Prüfungen verwendet.

Standort und Markt Due Diligence

Rechtliche Due Diligence

Steuerliche Due Diligence

Technische Due Diligence

Umwelt Due Diligence

Finanzielle Due Diligence Fundierte Investitionsentscheidung Abb. 51-1

Bestandteile der Real Estate Due Diligence6)

Auch bei der veränderten Struktur von Immobilieninvestitionen7) ist die technische Immobilienanalyse als Prozess ein unabdingbares Instrument, um die Chancen und Risiken eines Projektes zu erkennen, eine Beweissicherung durchzuführen, das Risiko zu begrenzen, zur Preisfindung beizutragen und Nutzungspotentiale aufzuzeigen.8),9) Um dieser zentralen Rolle im Transaktionsprozess aber auch der Bestandsanalyse gerecht zu werden, ist ein einheitliches Verständnis aller Marktakteure unabdingbar und die Relevanz für die wissenschaftliche Untersuchung der technischen Immobilienanalyse gegeben.

51.2.1

Wissensstand in Forschung und Praxis

Besonderer Fokus bei der Analyse des Wissensstandes der Forschung und der Praxis kommt den Bezeichnungen der technischen Immobilienanalyse zu. Im angelsächsischen Raum häufig als Property Assessment bezeichnet, hat sich seit der Jahrtausendwende der Begriff der Technischen Due Diligence etabliert. Dieser wird seit circa 2006 aus unterschiedlichen Blickwinkeln wissenschaftlich aufgearbeitet. Herr und Blaschkowski untersuchten die Technische Due Diligence erstmals im deutschsprachigen Raum auch wissenschaftlich. Herr hat in seiner Arbeit die allgemeinen Grundsätze „Begriffsbestimmung, Inhalte, Durchführung und Anbieter, Kosten, Zeitbedarf, Haftung“ fundiert aufgearbeitet.10) Blaschkowski analysiert in seiner Arbeit die Relevanz der Technischen Due Diligence im Zusammenhang mit Portfoliotransaktionen von Wohnimmobilien.11) Beide Arbeiten fokussieren auf die Technische Due Diligence sowie deren Bestandteile und Ausprägungen. Hintergrund der Arbeiten sind jedoch keine empirischen Analysen, sondern die Erkenntnisse der Arbeiten beruhen in erster Linie auf der berufspraktischen Erfahrung der Autoren. Hahr hat sich in seiner Dissertation unabhängig vom Prozess der Technischen Due Diligence mit der nutzerorientierten Beurteilung der Gebäudefunktionen und der damit zusammenhängenden technischen Analyse von Büroimmobilien im 6) 7) 8) 9) 10) 11)

Vgl. Helbl/Schindler (2015), S. 85f. Vgl. Trübestein (2012), S. 45f. Vgl. Petersen (2014), S. 107 Vgl. https://www.immobilien-zeitung.de/65882/grosstransaktionen-brauchen-angepasste-immobilienanalysen Datum des Zugriffs: 23.05.2018 Vgl. Herr (2006), S. 292 Vgl. Blaschkowski (2008), S. 85ff.

772

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

Bestand auseinandergesetzt.12) Dabei analysiert er auf Grundlage einer Literaturauswertung und Versuchen den Zusammenhang zwischen den Nutzeranforderungen und einer technischen Analyse. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der technischen Immobilienanalyse weist insbesondere unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Perspektiven der Marktakteure noch deutliche Lücken auf. In jüngerer Vergangenheit setzen sich wenige Forschungsvorhaben mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieser techno-ökonomischen Schnittstelle auseinander. Dies ist damit zu begründen, dass zum einen eine komplexe Thematik mit starken technischen und ökonomischen Einflussfaktoren vorliegt und sich nur wenige forschende Institute im deutschsprachigen Raum mit dieser Schnittstelle auseinandersetzen. Zum anderen sind die praxisnahen Forschungsfelder marktgetrieben und in dem aktuell vorliegenden Verkäufermarkt besteht nur ein geringes Interesse an der Entwicklung und Einführung von Instrumenten die die Transaktionsdauer verändern und mutmaßlich verlängern. International, insbesondere im angelsächsischen Raum beschäftigt sich die Verbands- und Richtlinienarbeit mit dem Versuch, Standards für die technische Immobilienanalyse respektive die Technische Due Diligence zu schaffen. In diesem Zusammenhang sind die Werke von RICS13) „Building Survey and Technical Due Diligence of Commercial Property“ (2010), CREFC14) „Guidelines for Due Diligence on Real Estate“ (2013) und ASTM15) „E2018-15 – Standard Guide for Propert Condition Assessment“ (2016), zu nennen. Durch eine im Rahmen des Forschungsvorhabens durchgeführte Marktanalyse wurde jedoch festgestellt, dass diese Leitfäden und Verbandswerke im deutschsprachigen Raum eine nur geringe Verbreitung und Anwendung finden. Im angelsächsischen Markt ist insbesondere die ASTM Richtlinie zum Property Assessment anzutreffen, erreicht jedoch auch keine signifikante Marktberücksichtigung. In der Konsequenz der durchgeführten Marktstudie ist festzustellen, dass die am Markt verfügbaren Richtlinien und Leitfäden kaum eine oder keine Anwendung finden und es kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die vorhandenen Werke nicht dem Bedarf des Marktes entsprechen bzw. diesen nicht widerspiegeln. Eine Analyse der Leitfäden und Richtlinien zeigt, dass diese keine Vorgaben machen, welche technischen Informationen konkret über eine Immobilie im Rahmen der technischen Analyse zu erheben sind und somit als fundierte Entscheidungsgrundlage vorzuliegen haben. Dies bedeutet, dass erstelle Berichte häufig sehr differente Informationen und Informationsdetaillierungen enthalten und die daraus generierbaren Daten nicht vergleichbar sind. Auch werden keine Mindeststandards definiert, welche Informationen der Verkäufer einer Immobilie dem potentiellen Käufer vorzulegen hat.16) Weder in der aktuellen Forschung noch in der Praxis existiert ein einheitliches Verständnis über die technische Immobilienanalyse, respektive die Technische Due Diligence. Es liegt keine Definition eines Leistungsinhaltes vor, der die unterschiedlichen Perspektiven der Marktteilnehmer berücksichtigt und dementsprechend von den unterschiedlichen Akteuren akzeptiert und angewendet wird.

12) 13) 14) 15) 16)

Vgl. Hahr (2006), S. 23f. RICS – Royal Institut of Charteres Surveyors (britischer Berufsverband von Immobilienfachleuten und Immobiliensachverständigen) CREFC – Commercial Real Estate Finance (Handelsverband der Immobilienfinanzierer in Europa) ASTM – American Society for Testing and Materials (internationale Standardisierungsorganisation) Vgl. Reich (2018), S.148

51 Technische Immobilienanalyse – TIA

51.2.2

773

Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

Aufgrund der hohen Detaillierung der Arbeit und der angestrebten Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven wird für die empirischen Untersuchungen eine Einschränkung in typologischer sowie in räumlicher Sicht vorgenommen. Trotz der Einschränkungen wird nach aktuellem Stand davon ausgegangen, dass die Ergebnisse der Arbeit sowohl bezogen auf die Immobilientypologie als auch auf die räumlichen Besonderheiten in hohem Maße skalierbar sind und somit auch in anderen Bereichen Anwendung finden können. Eine grundsätzliche Einteilung des Immobilienmarktes erfolgt, basierend auf dem „Haus der Immobilienökonomie“, nach den typologischen Aspekten Wohn-, Gewerbe-, Industrie- und Sonderimmobilie.17) Aufgrund des gewerblichen orientierten Transaktionsund Bewirtschaftungsmarktes wird die Untersuchung auf Gewerbeimmobilien und dort im Speziellen auf Büroimmobilien beschränkt.18) Die Auswahl Büroimmobilien wird getroffen, da die Assetklasse der Büroimmobilien einen wesentlichen Anteil des BGF Bestandes in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) umfasst (geschätzt 426 Mio. m²)19) und circa 44 % (2017) das Transaktionsvolumens in der BRD abbildet (entspricht 24,99 Mrd. €).20) Eine konstant steigende Nachfrage und eine geringe Leerstandsquote kombiniert mit einem steigenden Projektflächenvolumen verdeutlichen die besondere Bedeutung der Assetklasse Büro.21) Gemäß der Systematik der Bauwerke des Statistischen Bundesamtes der BRD sind die im Rahmen der Untersuchung betrachteten Büro- und Verwaltungsgebäude der Kategorie 7153 zuzuordnen.22) Die Untersuchung beschränkt sich aufgrund der besseren Durchführbarkeit und Erreichbarkeit der ExpertInnen auf die BRD. Hier werden sowohl nationale als auch internationale Akteure befragt, jedoch bezogen auf den deutschen Markt. Der Einbezug von internationalen Akteuren ist relevant, da diese einen Anteil von circa 40 % des Investitionsvolumens in der BRD verzeichnen. In Bezug auf die regionale Einschränkung ist davon auszugehen, dass eine Übertragung auf ähnliche Transaktions- und Bewirtschaftungsräume unter Berücksichtigung der jeweils geltenden normativen Einschränkungen möglich ist.

51.3

Marktbefragung Technische Immobilienanalyse

Die im Rahmen des Forschungsprojektes durchgeführte Voruntersuchung setzt sich mit der Auffassung zur Qualität und den Inhaltsbestandteilen einer technischen Immobilienanalyse auseinander. Diese als Marktstudie aufgesetzte Voruntersuchung erfolgte unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Perspektiven der Immobilienwirtschaft.

17) 18) 19) 20) 21) 22)

Bone-Winkel et al. (2015), S. 49 Walzel (2008), S. 117f. Bulwiengesa (2017), S. 37 Vgl. http://www.jll.de/germany/de-de/Research/Investmentmarktueberblick-Germany-JLL.pdf Datum des Zugriffs: 23.05.2019 ZIA (2019), S.111ff. Statistisches Bundesamt (2014), S. 2ff.

774

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

51.3.1

Rahmendaten Umfrage

Die durchgeführten Marktanalysen und die Auswertung einer umfangreichen Anzahl (n > 30) an Berichten zur Technischen Immobilienanalyse (TIA) die im Rahmen realer Immobilientransaktionen (respektive Technische Due Diligence (TDD) Berichte) die von verschiedenen Dienstleistern erstellt wurden, haben gezeigt, dass am Markt eine unterschiedliche Auffassung zur Definition, zum Leistungsumfang und insbesondere zur Detailtiefe der TIA herrschen.23) Dieser Umstand bildet die Grundlage zur Durchführung der Marktstudie „Technische Analyse im Rahmen von Immobilientransaktionen (Assetklasse Büroimmobilien)“. Die Marktbefragung wurde im Zeitraum vom 01.02.2019 bis zum 25.02.2019 als Onlinebefragung über das Onlinebefragungsportal der Technischen Universität Graz (basierend auf der Befragungsplattform Limesurvey) durchgeführt. Für die Befragung wurden über die Immobiliennetzwerke der IMMOEBS e.V., der Gesellschaft für Immobilienwirtschaftliche Forschung gif e.V. sowie über persönliche Kontakte der beteiligten Akteure eine ExpertInnenvorauswahl von 396 Marktteilnehmern extrahiert, die aufgrund ihrer immobilienspezifischen Expertise für die Befragung als ExpertInnen angesehen werden können. Die ExpertInnenvorauswahl beschränkte sich dabei auf Marktakteure aus den Bereichen Investmentmanagement, Transaktionsmanagement, Asset Management sowie Finanzierung. Die Perspektive der technischen Dienstleister wird in einer auf die Marktstudie aufbauenden Forschungsphase Einfluss in das Gesamtergebnis halten. Die Befragung wurde von 99 MarktteilnehmerInnen (25,0 % des angeschriebenen Personenkreises) gestartet und von 69 MarktteilnehmerInnen (17,4 % des angeschriebenen Personenkreises, 69,7 % der startenden Personen) vollständig bzw. nahezu vollständig (> 90 %) auswertbar ausgefüllt. Die Rücklaufquote von > 17 % kann als positiv bewertet werden und zeigt das grundsätzliche Interesse der MarktteilnehmerInnen. Zur Berücksichtigung der besonderen Expertise im Marktsegment der Büroimmobilien wurden bei der Auswertung der Kapitel zwei und drei lediglich die MarktteilnehmerInnen berücksichtigt, die sich in ihrer monatlichen Arbeitszeit mit Büroimmobilien auseinandersetzen und im Bereich dieser Assetklasse über mindestens fünf Jahre Berufserfahrung verfügen. Somit ergibt sich für die Gesamtauswertung ein Personenkreis von 65 Teilnehmern. Um der Onlinebefragung ein möglichst einheitliches Verständnis der TIA zugrunde zu legen, wurde diese wie folgt allgemein definiert: Technische Immobilienanalyse (TIA), aus dem Angelsächsischen auch als Technische Due Diligence bezeichnet, befasst sich mit der Analyse und Bewertung der technischen Parameter einer Büroimmobilie im Rahmen der Zustandsprüfung.

51.3.1.1

Branchen

Zielsetzung der Studie ist es, die Perspektiven der unterschiedlichen MarktteilnehmerInnen, die an Immobilientransaktionen beteiligt sind, auf die TIA zu ermitteln. In einem ersten Schritt haben sich die BefragungsteilnehmerInnen den verschiedenen Branchen: Asset Management, Finanzdienstleistung, Investmentmanagement, Projektentwicklung, Property Management, Technisches Asset Management, Transaktionsmanagement und Versicherungsdienstleistung zugeordnet und somit die persönliche Perspektive definiert. 23)

Vgl. Hien/Meckmann (2018), S. 153

775

51 Technische Immobilienanalyse – TIA

Investmentmanagement Asset Management Finanzdienstleistung (Finanzierer, Banken) Transaktionsmanagement Projektentwicklung Technisches Asset Management Technische Dienstleistungen 0%

10%

20%

30%

40%

50%

n=86

Abb. 51-2

Branchenverteilung der BefragungsteilnehmerInnen

Abb. 51-2 zeigt die Verteilung der BefragungsteilnehmerInnen auf die vorangehend genannten Branchen und verdeutlicht den Fokus der Befragung auf die Bereiche Investmentmanagement (23,2 %) mit circa einem Fünftel der BefragungsteilnehmerInnen sowie Asset Management (18,2 %) und Finanzdienstleistungen (17,2 %). Aufgrund der Gleichförmigkeit der Befragungsergebnisse der Branchengruppen Investmentmanagement und Transaktionsmanagement sowie der Branchengruppen Asset Management und Technisches Assetmanagement wurden zur aussagekräftigeren Auswertung der Branchenspezifika die relevanten Zielgruppen „Investitionsmanagement“ (Investmentmanagement und Transaktionsmanagement mit n=33), „Asset Management“ (Asset Management und Technisches Asset Management mit n=24) und „Finanzdienstleistung“ (mit n=17) zusammengefasst.

51.3.1.2

Tätigkeitsebene

Neben der Branchenzugehörigkeit ist für die Auswertung der Ergebnisse die Tätigkeitsebene innerhalb der Unternehmen relevant, der die BefragungsteilnehmerInnen zuzuordnen sind. Der Großteil der BefragungsteilnehmerInnen ordnet sich der Gruppe der Spezialisten bzw. Experten (52,4 %) ohne Leitungsfunktion zu. Die Tätigkeitsebene mit Leitungsfunktion, zusammengesetzt aus der Unternehmensleitung (10,7 %) sowie der Bereichs- und Abteilungsleitung (34,5 %), bildet etwas weniger als die Hälfte (45,2 %) der BefragungsteilnehmerInnen ab. In die Auswertung wurde die im Rahmen der Befragung nicht vorgesehene Gruppe Junior aufgenommen, diese wurde bei der weiterführenden Auswertung aufgrund der geringen Berufserfahrung jedoch nicht berücksichtigt (siehe Abb. 51-3).

776

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

Unternehmensleitung

Bereichs- und Abteilungsleitung Spezialisten / Experten Junior n=84

Abb. 51-3

51.3.1.3

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

Tätigkeitsebene BefragungsteilnehmerInnen

Berufserfahrung und anteilige Arbeitszeit

Zentrales Kriterium für die Expertise der BefragungsteilnehmerInnen ist die einschlägige Berufserfahrung in der Bau- und Immobilienwirtschaft sowie die Berufserfahrung innerhalb der Assetklasse Büroimmobilien. Die aktuelle Auseinandersetzung mit der Assetklasse Büroimmobilien im beruflichen Alltag wurde abgefragt und als Ausschlusskriterium genutzt. Die durchschnittliche Berufserfahrung der BefragungsteilnehmerInnen in der Bau- und Immobilienwirtschaft beträgt 18,8 Jahre (Median 18 Jahre) und weist eine Spannweite von 6 bis 37 Jahren auf. TeilnehmerInnen mit einer Berufserfahrung von weniger als 5 Jahren in der Bau- und Immobilienwirtschaft wurden bei der Auswertung nicht berücksichtigt. Die Berufserfahrung mit der Assetklasse Büroimmobilien ist im Durchschnitt etwas niedriger und liegt bei 14,4 Jahren (Median 15 Jahre). Mit der Assetklasse Büroimmobilien beträgt die Spannweite der Berufserfahrung 0 bis 37 Jahre. BefragungsteilnehmerInnen wurden auch mit weniger als 5 Jahren Berufserfahrung berücksichtigt, wenn der Anteil der monatlichen Arbeitszeit im Bereich der Assetklasse Büroimmobilien entsprechend hoch war (siehe Abb. 51-4). Abb. 51-5 zeigt den Anteil der monatlichen Arbeitszeit der BefragungsteilnehmerInnen im Bereich der Assetklasse Büroimmobilien. Im Durchschnitt setzen sich die BefragungsteilnehmerInnen 54 % (Median 50 %) ihrer monatlichen Arbeitszeit mit der Assetklasse Büroimmobilien auseinander. Für die weitere Auswertung wurden BefragungsteilnehmerInnen berücksichtigt, deren monatlicher Anteil bei mindestens 5 % lag, sodass eine Spannweite von 5 bis 100 % erreicht wurde. Die Selbsteinschätzung der TeilnehmerInnen zu Branche, Berufserfahrung und anteiligen Arbeitszeit dient hierbei nicht zu einer wissenschaftlichen Auswertung, sondern der Überprüfung der selektiven ExpertInnenauswahl der Autoren. Die selektive ExpertInnenauswahl erfolgt auf der Basis von Informationen aus persönlichen Gesprächen, Empfehlungen und der Listung in relevanten Branchenverbänden.

777

51 Technische Immobilienanalyse – TIA

40

35

30

Jahre

25

20

15

10

5

0

Berufserfahrung Bau- und Immobilienwirtschaft

n=76

Abb. 51-4

Berufserfahrung Assetklasse Büroimmobilien

Berufserfahrung BefragungsteilnehmerInnen

100% 90%

80% 70%

Prozent

60% 50%

40% 30%

20% 10%

0%

Anteil der monatlichen Arbeitszeit im Bereich Assetklasse Büroimmobilien n=72

Abb. 51-5

Arbeitszeit Assetklasse Büroimmobilien

778

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

51.3.1.4

Risikoneigung

Die Studie analysiert ebenfalls den Zusammenhang zwischen Risikoneigung und der Bedeutung bzw. Ausgestaltung der TIA im Rahmen von Transaktionen. Um diesen zu ermittelt, gaben die BefragungsteilnehmerInnen die allgemeine Risikoneigung ihres Unternehmens, die Risikoneigung des Unternehmens im Bezug auf die Assetklasse Büroimmobilien sowie ihre persönliche Risikoneigung an. In Abb. 51-6 zeigen sich signifikante Unterschiede in der Risikoneigung auf den unterschiedlichen Ebenen. Während die allgemeine Risikoneigung des Unternehmens von annähernd Dreiviertel (70,5 %) der BefragungsteilnehmerInnen als „eher risikoavers“ (45,1 %) bzw. „risikoavers“ (25,4 %) eingeschätzt wird, schätzen weniger als der Hälfte (49,3 %) der BefragungsteilnehmerInnen ihre persönliche Risikoneigung mit „eher risikoavers“ (42,3 %) bzw. „risikoavers“ (7,0 %) ein. Auch im Bereich der Assetklasse Büroimmobilien reduziert sich die Einschätzung „risikoavers“ (CORE – 15,5 %) und „eher risikoavers“ (CORE PLUS – 52,1 %) im Vergleich zur allgemeinen Risikoeinschätzung.

Unternehmerische Risikoneigung im Allgemeinen Unternehmerische Risikoneigungim Bezug auf Assetklasse Büroimmobilien Persönliche Risikoneigung Core (risikoavers)

45,1%

25,4%

15,5%

52,1%

7,0%

0%

20%

30%

28,2%

40%

7,0%

19,7%

42,3%

10%

18,3%

50%

60%

11,3%

70%

80%

7,0%

11,3%

90%

100%

Core Plus (eher risikoavers) Value Added (eher risikoaffin)

Opportunistic (risikoaffin) keine Angabe

Abb. 51-6

n=71

Risikoneigung im Vergleich (Unternehmen – Assetklasse Büro – Persönlich)

Die Studie zeigt, dass auf persönlicher Ebene eine deutlich höhere Risikoaffinität (39,5 %) als auf Unternehmensebene in Bezug auf die Assetklasse Büroimmobilien (25,3 %) bzw. auf allgemeiner Ebene (22,5 %) empfunden wird. Dies kann als Indiz gewertet werden, dass einheitliche Vorgaben im Risikoumgang fehlen, welche zu einem unterschiedlichen Risikoverhalten führen. In diesem Zusammenhang ist zu diskutieren, ob die MarktteilnehmerInnen ausschließlich die Risikoprofile des Unternehmens umsetzen oder ob es zu Konflikten zwischen der Risikoauslegung des Unternehmens und der persönlichen Risikoauslegung der MitarbeiterInnen kommen kann.

51.3.1.5

Struktur Marktstudie

Neben den allgemeinen Angaben zu den BefragungsteilnehmerInnen, die vorangestellt bereits ausgeführt wurden, befasste sich die Studie mit drei zentralen Themenbereichen: 1. Einbindung der TeilnehmerInnen in den Prozess der TIA und die damit verbundene Zielsetzung. 2. Qualitätskriterien zur TIA sowie den ausführenden technischen Dienstleistern. 3. Definition der notwendigen Untersuchungsbereiche mit zusätzlichem Fokus auf dem Aspekt der Zukunftsfähigkeit.

51 Technische Immobilienanalyse – TIA

779

Nachfolgend werden die Ergebnisse der Studie aus den Bereichen Zielsetzung, Qualitätsanforderung und Untersuchungsbestandteile diskutiert.

51.4

Ergebnisse der Marktstudie

Die erste Marktstudie hat gezeigt, dass kein einheitliches Verständnis für die TIA über die unterschiedlichen Marktakteure hinweg besteht und es auch innerhalb der einzelnen Akteursgruppen differente Auffassungen gibt. Grundsätzlich waren circa 80 % der TeilnehmerInnen in die Weiterverarbeitung der Ergebnisse der TIA eingebunden, sodass mutmaßlich ein allgemeines Interesse an einer hohen Aussagekraft der Ergebnisse der TIA besteht.

51.4.1

Zielsetzung der technischen Immobilienanalyse (TIA)

Bei der Analyse durchgeführter Berichte zur TIA (im marktüblichen Sprachgebrauch als TDD-Berichte bezeichnet) wurde festgestellt, dass die Ausführungsqualität und Aussagekraft der einzelnen Berichte stark von der Intention abhängen, zu welchem Verwendungszweck die TIA durchgeführt wird. Im Rahmen der Studie wurden den BefragungsteilnehmerInnen zehn unterschiedliche Verwendungszwecke vorgegeben, diese konnten mit den Kriterien „zwingend erforderlich“, „sehr bedeutend“, „bedeutend“ und „unbedeutend“ bewertetet werden. Zur klareren Abgrenzung der einzelnen Verwendungszwecke wurden diese definiert und hinreichend beschrieben. Die BefragungsteilnehmerInnen hatten außerdem anschließend an die Bewertung die Möglichkeit, weitere Verwendungszwecke zu benennen, die mit der Durchführung einer TIA im Rahmen der Immobilientransaktion verfolgt werden. In Abb. 51-7 ist die Bewertungsverteilung der unterschiedlichen Verwendungszwecke dargestellt. Wie von den Autoren der Studie erwartet, dient die TIA im Rahmen von Immobilientransaktionen hauptsächlich zur Grundlagenschaffung für die Kaufpreisverhandlung (73,5 % zwingend erforderlich) sowie die Risikoerkennung (61,2 % zwingend erforderlich) und -einschätzung (61,2 % zwingend erforderlich). Alle drei Zwecke werden zu mindestens 98 % als bedeutend, sehr bedeutend oder zwingend erforderlich bewertet. Auffällig ist, dass der Chancenerkennung als Bestandteil der TIA im Rahmen von Immobilientransaktionen eine deutlich untergeordnete Rolle zugewiesen wird. Über ein Viertel (26,5 %) der BefragungsteilnehmerInnen bewertet die Chancenerkennung mit unbedeutend und lediglich 16,2 % mit zwingend erforderlich. In Relation schneiden neben der Chancenerkennung auch die betriebsbezogenen Zwecke „Vorbereitung für Budgetierung“ und „Vorbereitung für Betrieb“ unterdurchschnittlich schwach ab. Dies verdeutlicht die Markteinschätzung der TIA als kurzfristig temporäres Instrument ohne signifikanten Einfluss auf die an die Transaktion anschließende Betriebsphase (siehe Abb. 51-7). Die an die Frage anschließende Kommentarmöglichkeit nutzen die BefragungsteilnehmerInnen hauptsächlich, um die Bedeutung der TIA als Instrument der Risikoeinschätzung bzw. Deal-Breaker-Identifikation herauszustellen. Die TIA setzt die MarktteilnehmerInnen in Kenntnis über die Risiken einer Immobilie und schafft dadurch die Möglichkeit zur Risikobeteiligung des Verkäufers im Rahmen der Transaktion.

780

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

Grundlagenschaffung Kaufpreisverhandlung

13,2%

73,5%

Risikoeinschätzung

61,2%

Risikoerkennung

61,2%

Informationsgenerierung für Business-Case

35,8% 34,3%

40,3%

Haftungsübertragung

36,4%

Informationsgenerierung für Immobilienbewertung

35,8%

Risikoprofilierung

38,8%

43,3%

20,6%

13,8%

0%

10%

zwingend erforderlich

30%

26,9% 36,8%

40%

sehr bedeutend

7,5% 26,5%

30,8%

50%

60%

bedeutend

4,5%

19,4%

47,7%

20%

9,1%

22,4%

37,3%

16,2%

Vorbereitung für Betrieb

21,2%

37,3%

28,4%

Chancenerkennung

17,9%

33,3%

34,3%

Vorbereitung für Budgetierung

11,8%

70%

80%

7,7%

90%

100%

unbedeutend n=68

Abb. 51-7

51.4.1.1

Zielverfolgung durch die technische Immobilienanalyse

Qualitätsmerkmale der technischen Immobilienanalyse (TIA)

Neben der Auseinandersetzung mit dem Verwendungszweck, hat sich die Studie auch damit auseinandergesetzt, welche Kriterien zur Bewertung der Qualität der TIA von den Marktteilnehmern herangezogen werden. Dabei wurden zehn Qualitätskriterien definiert, die von den BefragungsteilnehmerInnen mit den Kriterien „essentieller Einfluss“, „starker Einfluss“, „mittlerer Einfluss“ und „kein Einfluss“ bewertet wurden. Zur klareren Abgrenzung der einzelnen Qualitätsbewertungen wurden diese definiert und hinreichend beschrieben. Die BefragungsteilnehmerInnen hatten außerdem anschließend an die Bewertung die Möglichkeit, weitere Qualitätskriterien zu benennen. Zentrale und wichtigste Qualitätskriterien sind die personenbezogene Qualität der individuellen technischen ExpertInnen (61,3 % essentieller Einfluss) und der verfügbaren Datenqualität24) (49,2 % essentieller Einfluss). Insbesondere das Kriterium Datenqualität in Verbindung mit dem Kriterium Datenverfügbarkeit25) (29,0 % essentieller Einfluss) verdeutlichen den starken Einfluss einer detaillierten und vollständigen Objektdokumentation auf die Qualität der TIA und in der Folge auf die Kaufpreisverhandlung (siehe Abb. 51-8).

24) 25)

Definition Datenqualität: Vollständigkeit und Aussagekraft der verfügbaren Daten bzw. des Datenraums Definition Datenverfügbarkeit: Vorbereitungszeit des technischen Dienstleisters/Zeitpunkt der Verfügbarkeit der Objektdaten vor Begehung

781

51 Technische Immobilienanalyse – TIA

Qualität der technischen Experten

61,3%

Datenqualität

49,2%

Eindeutigkeit der Leistungsdefinition

29,5%

Datenverfügbarkeit

29,0%

Abstimmungsaktivität innerhalb der Expertenteams

27,4%

38,7%

21,7%

58,3%

33,9%

48,4%

9,7%

40,3%

45,2%

Erheblichkeitsschwelle

41,7%

46,7%

0% essentieller Einfluss

10%

20%

30%

starker Einfluss

6,5%

30,6%

43,5%

16,1%

Bearbeitungszeit

17,7%

51,6%

20,0%

Begehungsquote

18,0%

52,5%

24,2%

Vollständigkeit und Struktur des Q&A Prozesses

8,2%

42,6%

27,4%

Objektbesichtigung

Abb. 51-8

37,1%

40%

50%

60%

mittlerer Einfluss

70%

8,3%

80%

kein Einfluss

90%

100% n=62

Qualitätsmerkmale der Dienstleistung der TIA

Ebenfalls hohen Einfluss auf die Qualität der TIA haben drei prozessrelevante Kriterien: Sowohl die Eindeutigkeit der Leistungsdefinition (82,0 % mind. starker Einfluss) als auch die Vollständigkeit und Struktur des Q&A Prozesses (78,3 % mind. starker Einfluss) zeigen, dass ein definierter systematischer Prozessablauf und eine allgemeingültige und einheitliche Leistungsdefinition den Anforderungen des Marktes entsprechen. Ergänzt werden diese durch das ebenfalls prozessrelevante Kriterium der Abstimmungsaktivität innerhalb der Expertenteams (56,1 % mind. starker Einfluss). Hier bedarf es eines Umdenkens der Einzeldisziplinen der Immobilienanalyse (bspw. technische und rechtliche Due Diligence), aber auch innerhalb der einzelnen Untersuchungsbereiche (bspw. technische Anlagen und Baukonstruktion) zu mehr Kommunikation und direktem Austausch. Die Erkenntnisse aus der Bewertungsfrage wurden durch die Kommentarmöglichkeit ergänzt, in welcher die Darstellungsform der Ergebnisse der TIA thematisiert wurde und leichter zu analysierende Darstellungsformen gewünscht wurden (O-Ton: „…mehr Tabellen, wenig Prosa…“).

51.4.1.2

Auswahlkriterien technische Dienstleister

Zielsetzung des Forschungsvorhabens ist es, ein Instrument zur Qualitätssicherung der TIA zu entwickeln. Neben den Leistungsdefinitionen ist ein relevanter Aspekt bei der Bewertung die Anforderungen, die an die technischen Dienstleister gestellt werden bzw. die Definition der notwendigen Qualifikationen der beteiligten Personen.

782

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

Neutralität

38,30%

Mitarbeiterqualität (Erfahrung)

33,30%

37,30%

Mitarbeiterqualität (Ausbildung)

50,80%

22,00%

Interdisziplinaritäte des technischen Dienstleisters

13,80%

Referenzprojekte

13,10%

42,60%

57,40%

24,60%

42,10%

35,10%

41,00%

34,40%

23,00%

0%

23,00%

56,70%

30,50%

16,70%

50,80%

20%

starker Einfluss

19,70%

49,20%

25,00%

Interne Vergleichsdatenbank des Dienstleisters

Abb. 51-9

15,50%

39,30%

Regionalität

essentieller Einfluss

13,60%

67,20%

8,80% 14,00%

Research Qualität

8,50%

57,60%

13,10%

Präqualifikation

21,70%

40%

mittlerer Einfluss

60%

16,90%

80%

kein Einfluss

100% n=61

Qualitätsmerkmale der technischen Dienstleister

Dazu wurden im Rahmen der Studie elf Bewertungskriterien für technische Dienstleister definiert, die von den BefragungsteilnehmerInnen mit den Kriterien „essentieller Einfluss“, „starker Einfluss“, „mittlerer Einfluss“ und „kein Einfluss“ bewertet wurden. Zur klareren Abgrenzung der einzelnen Qualitätsbewertungen wurden diese definiert und hinreichend beschrieben. Die BefragungsteilnehmerInnen hatten außerdem anschließend an die Bewertung die Möglichkeit, weitere Auswahlkriterien zu benennen. Wie auch in der Qualitätsbewertung der TIA Berichte ist die Qualität der technischen Dienstleister stark personenabhängig. Neben der grundsätzlich vorausgesetzten Neutralität der Dienstleister wird die Mitarbeiterqualität, unterschieden in Erfahrung (37,3 % essentieller Einfluss) und Ausbildung (22,0 % essentieller Einfluss), durch die BefragungsteilnehmerInnen als das wichtigste Kriterium mit dem höchsten Einfluss eingestuft (siehe Abb. 51-9). Auch das Kriterium aus der Qualitätsbewertung der TIA zum Austausch zwischen den einzelnen Expertenteams wird in der Dienstleisterbewertung erneut aufgegriffen. Wie in Abb. 51-9 dargestellt wird dem Kriterium der Interdisziplinarität des Dienstleisters ein hoher Qualitätseinfluss (81,0 % mind. starker Einfluss) beigemessen. Dienstleister sind somit angehalten, sich interdisziplinär aufzustellen und die Kommunikation zwischen den einzelnen Disziplinen zu forcieren. Für die angestrebte Prozessdefinition der TIA ist die Bewertung des Kriteriums des systematischen Bearbeitungsprozesses von besonderer Bedeutung. Die Einschätzung der Marktteilnehmer, über 70 % der BefragungsteilnehmerInnen haben dem Kriterium mindestens einen starken Einfluss beigemessen, unterstützt die Bestrebung, einen Standardprozess für die TIA zu definieren, um eine Bewertung der Systematik des Dienstleisters zu ermöglichen. Die BefragungsteilnehmerInnen nutzten die Kommentarmöglichkeit hauptsächlich, um die Personenabhängigkeit bzw. die Abhängigkeit von individuell gemachten Erfahrungen im Rahmen von vorangegangenen TIAs hervorzuheben: Die TIA ist ein „People-Business“.

783

51 Technische Immobilienanalyse – TIA

51.4.1.3

Inhaltsbestandteile der technischen Immobilienanalyse (TIA)

Wichtigster Aspekt eines einheitlichen Verständnisses bzw. eines branchenanerkannten Standards zur TIA ist die einheitliche Auffassung der Untersuchungsbestandteile. Auf Basis von ausgewerteten TIA Berichten und einer national wie international durchgeführten Literaturanalyse wurden 10 Untersuchungsbestandteile definiert, die im Rahmen der TIA relevant sind. Die BefragungsteilnehmerInnen haben diese jeweils von einer Skala von 0 (nicht relevant) bis 10 (zwingend erforderlich) bewertet. Zur klareren Abgrenzung der einzelnen Untersuchungsbestandteile wurden diese definiert und hinreichend beschrieben. Die BefragungsteilnehmerInnen hatten außerdem anschließend an die Bewertung die Möglichkeit, weitere Untersuchungsbestandteile zu benennen.

zwingend erforderlich

Abb. 51-10 zeigt die Relevanz der einzelnen Untersuchungsbestandteile. Das Modul Brandschutz wurde von den TeilnehmerInnen mit der höchstens Relevanz bedacht und ist mit einem Mittelwert von 9,5/10 nahezu zwingend relevant und in jeder TIA vorzusehen. Das ist insbesondere vor dem Aspekt interessant, dass einzelne BefragungsteilnehmerInnen die Kommentarfunktion dazu genutzt haben darauf hinzuweisen, dass teilweise keine vollumfängliche Beauftragung, häufig ohne Brandschutzuntersuchung, erfolgt. Die klassischen TIA Module Anlagentechnik (Mittelwert 8,8/10) und Baukonstruktion (8,5/10) sowie das Schnittstellenmodul Baurecht (8,8/10) wurden als sehr bedeutend eingestuft. Gleiches gilt für das Querschnittsmodul Kosten (8,8/10), das über alle Module zu betrachten ist. Entgegen der Analyse der Berichte, in denen die Umwelttechnik häufig nicht berücksichtigt wurde, wird dem Ergänzungsmodul Umwelt (8,3/10) ebenfalls eine hohe Bedeutung beigemessen.

10 9 8



7



6



5

nicht relevant

4 3

● ●



● ● ●

2 1





0







n=61

Abb. 51-10 Untersuchungsbestandteile TIA

Wie in Abb. 51-7 bereits dargestellt, wird die TIA nicht als Instrument zur Vorbereitung des Betriebs oder der Budgetierung gesehen, weswegen auch das Modul Facility Management / Gebäudebetrieb (6,3/10) von den Befragungsteilnehmern als weniger

784

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

bedeutend eingestuft wird. Das Modul Grundstück / Außenanlagen (5,6/10), welche einen signifikanten Einfluss auf den späteren Gebäudebetrieb haben können, wird von den BefragungsteilnehmerInnen als das unbedeutendstes der genannten Module eingeschätzt. Der Einschätzung der Zukunftsfähigkeit von Büroimmobilien wird von den BefragungsteilnehmerInnen eine unerwartet hohe Bedeutung (7,3/10) zugesprochen, da diese in aktuellen Berichten kaum Anwendung finden und wenig thematisiert werden. Auch das freie Kommentarfeld haben die BefragungsteilnehmerInnen hauptsächlich genutzt, um eine gewünschte Veränderung hin zur Betrachtung der Zukunftsfähigkeit zu beschreiben. Aufbauend auf der Bewertung der Bedeutung der einzelnen Untersuchungsbereiche definierten die BefragungsteilnehmerInnen auf einer Skala von gar nicht informiert (0) bis ausführlich informiert (10), wie gut sie sich aktuell durch die TIA Berichte über die einzelnen Untersuchungsberichte informiert fühlen. Die Studie zeigt, dass sich die BefragungsteilnehmerInnen in keinem der Untersuchungsbereiche ausführlich informiert fühlen. Die relevantesten Module sind Brandschutz (Mittelwert 7,5/10), Anlagentechnik (7,4/10), Kosten (7,8/10), Baurecht (7,3/10) und Baukonstruktion (7,3/10). Insbesondere das Modul Baurecht fällt durch eine große Streuung (Standardabweichung 2,3) auf, aber auch das Modul Baukonstruktion (Median 7,5) offenbart Informationsdefizite bei den BefragungsteilnehmerInnen (siehe Abb. 51-11).

ausführlich informiert

Die in Abb. 51-10 erkannte verhältnismäßig hohe Bedeutung des Moduls Zukunftsfähigkeit und die Erkenntnis, dass diese in aktuellen TIA Berichten keine Berücksichtigung findet, spiegelt sich in Abb. 51-11 wider. Dem Modul Zukunftsfähigkeit (Mittelwert 5,1/10) wird die geringste Informationsstufe zugesprochen.

10 9 8 7 6

5

gar nicht informiert

4 3

● ●

2 1





0





n=57

Abb. 51-11 Informationserfüllung durch TIA

51 Technische Immobilienanalyse – TIA

51.5

785

Aktuelle Trends

Im weiteren Forschungsverlauf wird durch ExpertInneninterviews mit Anwendern (Investmentmanagement, Assetmanagement, Transaktionsmanagement und Finanzierung) als auch mit ausführenden Unternehmen (technische Dienstleister) das Grundverständnis zur TIA eruiert und auf Basis dieser Befragungen Mindestanforderungen an die TIA entwickelt. Der aktuell wichtigste Trend der Immobilienwirtschaft, die Disruption durch Digitalisierung, bedarf einer soliden und einheitlichen Informations- und Datengrundlage, um Potentiale ideal auszunutzen. Um Effizienzsteigerungen durch automatisierte Bearbeitungs- und Auswertungsprozesse zu erzielen, ist es notwendig, dass ein klares Verständnis für notwendige Daten geschaffen und eine Sensibilität im Markt erzeugt wird. Eine künstliche Intelligenz kann nur die Qualität liefern, die durch die Eingangsdaten vorgegeben wird. In der Entwicklung von Mindestanforderungen wird das Potential gesehen, einen Standard zu schaffen der in seiner Anwendung weniger marktzyklusgetrieben ist und einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der kurz-, mittel- und langfristigen Robustheit von Immobilieninvestments leisten kann.

51.6

Zusammenfassung und Ausblick

Die erstmalig durchgeführte Marktbefragung zur technischen Immobilienanalyse (TIA) hat gezeigt, dass im Rahmen der Transaktion diese in erster Linie zur Risikoerkennung und -einschätzung durchgeführt wird und Themen wie Betriebsvorbereitung oder Chancenerkennung nur eine sekundäre Aufmerksamkeit beigemessen wird. Somit handelt es sich bei der TIA schlussfolgernd um ein Instrument des Transaktionsrisikomanagements, das bei nachhaltiger Anwendung Daten und Informationen für weitere Bereiche bereitstellen kann. Die Qualität sowohl der TIA als auch des technischen Dienstleisters basiert stark auf den durchführenden Personen und deren Expertise. Diese Wissensträger werden durch die Anwendung eines systematischen Prozesses unterstützt. Dieser Prozess beginnt bereits bei einer eindeutigen Leistungsdefinition, schließt die interdisziplinäre Kommunikation innerhalb der Expertenteams ein und setzt sich mit der Struktur des Q&A Prozesses auseinander. Grundlage für eine eindeutige Leistungsdefinition ist ein einheitliches Verständnis der Untersuchungsbereiche. Durch die Entwicklung eines marktfähigen Leitfadens zur technischen Immobilienanalyse, in dem sowohl die Untersuchungsbereiche als auch Prozess und Anforderung an die ausführenden Personen definiert sind, wird die Qualität der TIA sichergestellt.

786

51.7

Teil G – Chancen- und Risikomanagement

Abkürzungsverzeichnis

ASTM

......................... American Society for Testing and Materials

BRD

......................... Bundesrepublik Deutschland

CREFC

......................... Commercial Real Estate Finance Council

Q&A

......................... Questions and Asks

TDD

......................... Technische Due Diligence

TIA

......................... Technische Immobilienanalyse

RICS

......................... Royal Institute of Chartered Surveyors

51.8

Literaturverzeichnis

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51 Technische Immobilienanalyse – TIA

787

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Teil H DIGITALISIERUNG

52

Digitalisierungspotenziale im Rahmen der Kostenermittlung von Bauleistungen Digitaler Schatten – Analytik – Cyber-physische Systeme – Plattformen

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Mike Gralla Lehrstuhl Baubetrieb und Bauprozessmanagemen Fakultät Architektur und Bauingenieurwesen Technische Universität Dortmund August-Schmidt-Straße 8 44227 Dortmund www.bauwesen.tu-dortmund.de/bb/ [email protected] Lisa Theresa Lenz, M.Eng. Lehrstuhl Baubetrieb und Bauprozessmanagement Fakultät Architektur und Bauingenieurwesen Technische Universität Dortmund August-Schmidt-Straße 8 44227 Dortmund www.bauwesen.tu-dortmund.de/bb/ [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_52

792

Teil H – Digitalisierung

52.1

Abstract

Die Hauptaufgabe der Bauauftragsrechnung ist die Kostenermittlung für Bauleistungen vor, während und nach der Leistungserstellung. Diese Kostenermittlungen werden als Kalkulation bezeichnet.1) Zu diesem Zweck werden die der jeweiligen Kostenermittlung zu Grunde liegenden Unterlagen (Pläne, Baubeschreibungen etc.) analysiert und die daraus resultierenden preisrelevanten Leistungen in einem Leistungsverzeichnis abgebildet. Das Leistungsverzeichnis besteht aus einzelnen Positionen, deren Einzelkosten der Teilleistungen je nach Anforderung (Eigenleistungen, Fremdleistungen etc.) auf unterschiedliche Weise ermittelt werden, um daraus die Kosten für die Bauleistungen ableiten zu können. Dieser manuelle Prozess wird je nach Bauvorhaben mehrmals und mit einem differierenden Detaillierungsgrad durchgeführt. So können beispielsweise Änderungen des Bauablaufs einen Einfluss auf die Kosten haben und demnach Anpassungen der Kostenermittlung notwendig werden. Außerdem sind häufig Schnittstellen und Abhängigkeiten aus der Änderung einer Teilleistung in Bezug auf andere Leistungen unklar und intransparent, woraus ein hohes Fehlerpotenzial resultiert. Dies zeigen nicht zuletzt diverse Großprojekte die hinsichtlich der notwendigen Kostensicherheit durch immense Risiken gekennzeichnet sind.2) Zu diesem Zweck werden die aus der fortschreitenden Digitalisierung entstehenden Möglichkeiten untersucht, um i.S. einer effizienten Nutzung von Informationen in Form von Daten die Potenziale im Rahmen von Kostenermittlungen für Bauleistungen zu eruieren. Anschließend erfolgt eine Diskussion über die zu schaffenden Randbedingungen für eine effiziente Datennutzung.3)

52.2

Situationsanalyse

Kalkulationen werden derzeit weitestgehend manuell unter Zuhilfenahme von AVASoftwareanwendungen4) erstellt. Insgesamt kann der Vorgang der Kalkulation als ein Prozess, der je nach Entwicklungsstand der Planung mit einem unterschiedlichen Detaillierungsgrad und mehrmals ausgeführt wird, identifiziert werden. Da dieser Prozess durch wiederholende Tätigkeiten, standardisierte Abläufe, Anpassungen (Variantenvergleiche), hohe Anforderungen an Transparenz und Genauigkeit etc. gekennzeichnet ist, können durch Digitalisierung, i.S. einer effizienten Nutzung von Daten-Informationen über den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks, große Optimierungspotenziale identifiziert werden. „Während die Anforderungen an Planung und Herstellung von Bauwerken ständig gestiegen sind, so hat sich bei der Methodik und den Hilfsmitteln zur Ablauf- und Kostenplanung, zur Baustellensteuerung und zur Projektdatenverwaltung nicht viel getan. Die Verantwortlichen vor Ort werden mit einer immer größeren Flut von Daten konfrontiert, die zudem noch meist unstrukturiert und unzusammenhängend sind. Um aus diesen Daten mit dem vorhandenen Werkzeug nützliche und für eine wirtschaftliche Projektabwicklung erforderliche Informationen zu gewinnen, ist ein nicht mehr tragbarer manueller Aufwand nötig.5)“ 1) 2) 3) 4) 5)

Vgl. Gralla (2011), S. 131. Vgl. BMVI (2015), S. 7 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Graduiertenkollegs 2193 „Anpassungsintelligenz von Fabriken im dynamischen und komplexen Umfeld“ gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Softwareanwendungen zur Unterstützung von Ausschreibungs-, Vergabe- und Abrechnungsprozessen Vgl. Kuhne et al. (Januar 2000), S. 15.

52 Digitalisierungspotenziale im Rahmen der Kostenermittlung von Bauleistungen

52.2.1

793

Komplexität und Dynamik des Umfeldes

Ein Bauprojekt wird i.d.R. durch verschiedene Projektbeteiligte initiiert, geplant, realisiert, betrieben und revitalisiert bzw. rückgebaut. Diese Gegebenheit impliziert eine erhöhte Komplexität, da eine Vielzahl an Projektbeteiligten, mit unterschiedlichen, fachlichen Hintergründen an einem Projekt zusammenarbeitet (vgl. Abb. 52-1).

Abb. 52-1

Beteiligte am Bauprozess6)

Diese Vielzahl an Projektbeteiligten aus verschiedenen Disziplinen (Architektur, Fachplaner etc.) erstellt die Grundlagen, die für eine Kalkulation erforderlich sind und berücksichtigt werden müssen. Diese interdisziplinären Informationen in Form von Daten verschiedener Formate (Word-, PDF-, DWG-Dateien o.Ä.) haben in der Regel keine Korrelationen zueinander, sodass beispielsweise Änderungen oder Variantenvergleiche weder schnell noch effizient in einer Kalkulation abgebildet werden können. Darüber hinaus folgt eine grundlegende Dynamik aus der Gegebenheit, dass das Bausoll während der eigentlichen Bauphase häufig angepasst wird. So hat der Auftraggeber (Bauherr/Investor) während des Produktionsprozesses weitgehende Einflussmöglichkeiten i.S. von Veränderungsmöglichkeiten auf die Qualität, die zu verwendenden Baustoffe, den Produktionsumfang, die Konstruktion, die Ausführungsfristen usw.7)

52.2.2

Prozess der Kalkulation

Um die möglichen Potenziale im Rahmen der Kalkulation bestimmen zu können, ist eine Analyse des Prozesses der Kalkulation und insbesondere der damit verbundenen Eingangsparameter (Input) sowie die damit verfolgten Ziele (Output) notwendig.

6) 7)

Vgl. Kuhne et al. (2000), S. 15 Vgl. Gralla (2011), S. 7

794

Teil H – Digitalisierung

Für die Kalkulation sind je nach Detaillierungsgrad der Planung unterschiedliche Elemente, die i.d.R. in analoger oder digitaler Form in unterschiedlichen Dateiformaten als Eingangsparameter (Input) zur Verfügung gestellt werden, zu berücksichtigen. Die Eingangsparameter ergeben sich aus einer vollständigen Analyse der Baumaßnahme und den damit einhergehenden notwendigen Leistungen. Diese Analyse umfasst eine detaillierte Auswertung aller Ausschreibungs- und Vertragsunterlagen, um insbesondere den Leistungsinhalt, die Bauumstände und die vertragsrechtlichen Rahmenbedingungen festzustellen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse wird eine Arbeitsbeschreibung erstellt. Die Festlegung der vom Bieter dafür anzuwendenden Bauverfahren hängt nicht zuletzt von den vorgeschriebenen Ausführungsbedingungen, den innerbetrieblichen Gegebenheiten sowie den äußeren Randbedingungen der Baustelle ab. Die Prozessschritte innerhalb einer Kalkulation (zwischen In- und Output) sind vereinfacht in der Erstellung eines Leistungsverzeichnisses mit den einzelnen Positionen, der dazugehörigen Ermittlung der Mengen auf Positionsebene, sowie der Implementierung der Kosten- und Preisbestandteile in das Leistungsverzeichnis zu beschreiben (vgl. Abb. 52-2). Für den ersten Prozessschritt werden die Ausschreibungsunterlagen (Input) geprüft und alle kostenrelevanten Parameter im Rahmen der Erstellung des Leistungsverzeichnisses, mit dem Ziel einer möglichst vollumfänglichen Abbildung des Leistungssolls, berücksichtigt. Demnach erfolgen in diesem Schritt eine manuelle Prüfung des Inputs sowie ein Übertrag von zusätzlichen Informationen (z.B. aus einem Brandschutzgutachten) in die entsprechenden Positionen des Leistungsverzeichnisses. Danach wird eine Mengenermittlung unter Berücksichtigung der aktuellen Planunterlagen, die die geometrischen Rahmenbedingungen (Größe des Gebäudes, Bauteile etc.) abbilden, durchgeführt. Darauf basierend werden die Kosten- und Preiselemente in die Position integriert, die je nach Perspektive, wie Eigen- oder Fremdleistung, detaillierter (Lohn-, Material-, Gerätekosten etc.) oder weniger detailliert ermittelt werden. Die Kosten- und Preiselemente werden auf Basis von Erfahrungswerten, Nachunternehmerangeboten, Preisdatenbanken o.ä. generiert. Damit werden im dritten Prozessschritt – im Unterschied zu den beiden vorherigen Prozessschritten – keine Informationen aus den originären Input-Datenquellen verwendet, sondern aus anderen Datenquellen, die auf Basis des Inputs (Leistungsposition in Bezug auf Eigenschaften und Menge) differieren können.

Abb. 52-2

Prozess der Kalkulation8)

Bei der Betrachtung der einzelnen Prozessschritte, die i.d.R. nicht digital, sondern manuell ausgeführt werden, ist es naheliegend, dass eine Änderung des Leistungssolls oder verschiedener Parameter zu einer aufwendigen – manuellen – Anpassung der Kostenermittlung führen. Darüber hinaus sind mögliche Auswirkungen in Form von Schnittstellen und Interdependenzen zu anderen Bauteilen oder Gewerken oft unklar, was zu einem erhöhten Fehlerpotenzial führt und einfache Variantenvergleiche ebenfalls sehr aufwendig 8)

Vgl. Gralla (2011), S. 133; Icons (2019)

52 Digitalisierungspotenziale im Rahmen der Kostenermittlung von Bauleistungen

795

und ineffizient gestaltet. Die Notwendigkeit einer effizienten Datennutzung im Rahmen diverser Digitalisierungspotenziale für unterschiedliche Prozessschritte, die in anderen Dateiformaten (Input, Preisdatenbanken o.Ä. Datenquellen) per se zur Verfügung stehen, enthält demnach insbesondere für Kostenermittlungsverfahren große Möglichkeiten.

52.3

Digitalisierungspotenziale

Im Zuge der Digitalisierung entstehen große Datenmengen, die in unterschiedlichen Formen und verschiedenen Dateiformaten durch die einzelnen Projektbeteiligten im Laufe des Lebenszyklus eines Bauwerks generiert werden. In diesem Zusammenhang können aus Sicht der Bauwirtschaft analog zur Entwicklung der stationären Industrie bzw. Industrie 4.0 vier Handlungsfelder, aus denen Digitalisierungspotenziale für die Kalkulation resultieren, identifiziert werden:9) • • • •

Digitaler Schatten Analytik Sensorik Plattformen

Diese werden in den folgenden Unterkapiteln erläutert und bzgl. der Potenziale im Rahmen der Kostenermittlung analysiert. Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung der Digitalisierungspotenziale auf Basis der Handlungsfelder sowie eine Einordnung in den Kostenermittlungsprozess.

52.3.1

Digitaler Schatten

Der digitale Schatten kann auf den Digitalisierungstreiber der Baubranche, der unter dem Akronym BIM (Building Information Modeling) subsumiert wird, übertragen werden. Unter dem Einsatz der BIM-Methode wird ein Bauwerksinformationsmodell, d.h. ein mit verschiedenen Informationen aus der Planungs-, Bau- und Betriebsphase gekoppeltes, virtuelles Abbild der Planung bzw. des realen Bauwerks („as-built-Modell“) erzeugt. Diese virtuelle attribuierte Abbildung kann für verschiedene Anwendungsfälle verwendet werden. Einen typischen Anwendungsfall stellt beispielsweise das BIM-Modell als Informationsplattform dar, welche allen Projektbeteiligten ein identisches Verständnis der Bauaufgabe vermitteln soll.10) Zu diesem Zweck werden die geometrischen Daten (3D+i) der einzelnen Bauteile modelliert und mit den dazugehörigen Informationen (Qualitäten) versehen. Um eine terminliche Bewertung zu ermöglichen, werden die Zeitansätze als vierte Dimension in das BIM-Modell implementiert. Dementsprechend erfolgt in diesem Schritt die Verknüpfung der Bauteile mit dazugehörigen Zeitansätzen, wie beispielsweise Liefer- oder Montagezeiten. Anschließend können diese bauteilorientiert den Vorgängen des Terminplans zugeordnet werden, um daraus beispielsweise Simulationen des Bauablaufs zu generieren. Wird in weiterer Folge die fünfte Dimension betrachtet, stellt diese die Kombination des BIM-Modells bzw. der Bauteile mit verschiedenen Kostenarten (vgl. Abb. 52-3), wie Material-, Geräte-, Lohnkosten etc., welche als Basis für die Kalkulation fungieren, dar. 9) 10)

Vgl. Bauernhansl et al. (2015), S. 10ff. Vgl. Gralla, Lenz (2017), S. 207

796

Teil H – Digitalisierung

Zu diesem Zweck werden die Bauteile mit den einzelnen Positionen eines Leistungsverzeichnisses verknüpft, um daraus resultierend eine automatisierte Kalkulation durchführen zu können.11)

Abb. 52-3

BIM Symbiose Qualitäten, Zeit- und Kostenansätze am Beispiel einer Bodenplatte

Die Verknüpfung der geometrischen mit nicht-geometrischen Daten in einem BIM-Modell auf Bauteilebene gewährleistet schnelle, effiziente sowie transparente Variantenvergleiche. Auch die Durchführung von Änderungen im BIM-Modell oder SOLL-ISTVergleiche sind einfach durchführbar. Dementsprechend kann die BIM-Methode ganzheitlich betrachtet (3D+i + 4D + 5D) als ein Digitalisierungspotenzial im Rahmen der Kostenermittlung von Bauleistungen identifiziert werden, welches simultan die Herausforderung eines effizienten Umgangs mit Informationen in Form von Daten impliziert.

52.3.2

Analytik

Der Einsatz großer Datenmengen aus verschiedenen Quellen i.S. von Dateiformaten mit einer hohen Verarbeitungsgeschwindigkeit und dem Ziel eines wirtschaftlichen Nutzens wird als Big Data bezeichnet. Dabei sind vier grundlegende Aspekte zu unterscheiden: die Datenmenge, die Datenvielfalt (Datenquellen, Datenformate), die Datengeschwindigkeit (Datenverarbeitung in Echtzeit) und die Datenanalyseverfahren (Data Mining, Algorithmen, Text- und Bildanalytik u.Ä.). Somit basiert Big Data nicht auf einer singulären Technologie, sondern beschreibt vielmehr das Zusammenwirken einer ganzen Reihe unterschiedlicher Technologien.12) Zur Entwicklung einer Datenbasis sind die Erhebung von Daten i.S. der Definition der für die zu erfüllenden Ziele, relevanten Datenqualitätsanforderungen und die mögliche 11) 12)

Vgl. Gralla/Lenz (2017), S. 211 Vgl. Bitkom e.V. (2014), S. 12

52 Digitalisierungspotenziale im Rahmen der Kostenermittlung von Bauleistungen

797

Erzeugung von Daten von Relevanz. Diese beiden Schritte bilden die Grundlage für die Verarbeitung von Daten (Datenanalyseverfahren) zur Erreichung der jeweiligen Zieldefinition. Die im Kontext der Digitalisierung von Wertschöpfungsnetzwerken zunehmende Quantität von Unternehmensdaten in Verbindung mit einem geeigneten Datenqualitätsmanagement stellt demnach die Basis für die Anwendung von präzisen Prognosemodellen dar13). Dementsprechend ist es von großer Bedeutung, neben der Sicherung der Datenqualität, der Datenerzeugungsmethoden sowie der Datenanalyseverfahren, die adäquate Datenverwaltung i.S. eines geeigneten Datenmanagement zu betrachten. Synchron dazu gilt die Fähigkeit, mit geeigneten Softwareanwendungen aus diesen Daten Erkenntnisse zu ziehen, und diese ggfs. als weitere digitale Zwischenprodukte zu vermarkten, als ein zentraler Wettbewerbsfaktor im Rahmen der Digitalisierung.14) Zur automatisierten Erzeugung von Erkenntnissen aus Daten bzw. zu Analysezwecken von großen Datenmengen werden verschiedene Datenanalyseverfahren eingesetzt, wie nachfolgender Abb. 52-4 entnommen werden kann.

Abb. 52-4

Datenanalyseverfahren15)

Bei textbasierten Analyseverfahren bzw. sogenannten Text Semantic Analytics werden beispielsweise linguistische und semantische Verfahren angewandt, die aus Texten relevante Informationen extrahieren, Strukturen erkennen und Verknüpfungen der Daten untereinander sowie mit anderen Datenquellen herstellen können.16) Diese werden beispielsweise in abgewandelter Form in BIM-fähigen AVA-Softwareanwendungen eingesetzt. Ein BIM-Modell mit den Bauteilqualitäten (3D+i) wird in eine AVASoftwareanwendung importiert und die einzelnen Bauteile zur Mengenermittlung nach verschiedenen Kriterien genutzt. Bei sogenannten QTO-Abfragen (Quantity-Take-Off, vgl. Abb. 52-5) werden Mengenabfragen auf Basis der Nutzung der Bauteileigenschaften erstellt, so dass daraus teilautomatisierte Mengenermittlungen erzeugt werden können.

13) 14) 15) 16)

Otto/Österle (2016), S. 1ff. Bitkom e.V. (2017), S. 11 Vgl. Bitkom e.V. (2014), S. 23 Bitkom e.V. (2014), S. 25

798

Teil H – Digitalisierung

Abb. 52-5

52.3.3

Beispiel QTO-Abfrage

Cyber-physische Systeme

Cyber-physische Systeme können Daten automatisch erzeugen, empfangen und auswerten. Die Verbindung der Daten zueinander, also im übertragenen Sinne die Kommunikation zwischen den Cyber-physischen Systemen und anderen Geräten erfolgt über eine IoT-Plattform17) (Internet of Things), die eine digitale Verbindung für die automatische Datenübertragung darstellt. Die Analytik bzw. Datenanalyseverfahren spielen in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle, da die Daten in der richtigen Form und zur richtigen Zeit von einem zum anderen Gerät übertragen werden müssen. Somit repräsentiert ein Cyber-physisches System die Einheit von Realität und digitalem Abbild durch eine Weiterentwicklung synergetischer Ansätze der Mechatronik zu einem symbiotischen Systemansatz auf Basis der informationstechnischen Vernetzung der Komponenten18). Der digitale Schatten (BIM-Modell) stellt dabei zusammenfassend ein virtuelles Testbed als Versuchsumgebung dar und wird dabei ähnlich wie die Cyber-physischen Systeme in die IoT-Plattform aufgenommen, um den Datentransfer zwischen Cyber-physischen Systemen und dem BIM-Modell gewährleisten zu können. Eine der bekanntesten Arten von Cyber-physischen Systemen stellen Sensoren dar. Im Rahmen des Kostencontrollings können Sensoren beispielsweise in Form von Webcams (Kamerasensoren) auf der Baustelle für SOLL-IST-Vergleiche genutzt werden. Dies hat den Vorteil, dass Informationen, zum aktuellen Status Quo des Baufortschritts, jederzeit 17) 18)

Vgl. Kap. 3.4 Plattformen Vgl. Drossel et al. (2018), S. 199

52 Digitalisierungspotenziale im Rahmen der Kostenermittlung von Bauleistungen

799

zur Verfügung stehen und mit den SOLL-Daten abgeglichen werden können. Die durch den Kamerasensor erkennbaren Fortschritte können in ein BIM-Modell implementiert und bewertet werden. Zudem ist es beispielsweise möglich Sensoren in Form von RFID Tags zu nutzen, um Daten aufzuzeichnen die für den Betrieb von Immobilien von Relevanz sind, um Wartungszyklen und damit Kosten optimieren zu können. Weitere Potenziale ergeben sich aus der Nutzung von Laser-Scanning-Technologien in Form von Drohnen o.Ä. Derartige Geräte sind in der Lage sich autonom fortzubewegen und hochauflösende Aufnahmen zu erzeugen, wodurch einerseits fotorealistische Abbildungen erzeugt werden, die z.B. als Grundlage für die Abnahme von Bauleistungen fungieren können. Anderseits bieten sie die Möglichkeit, über Aufnahmen verschiedener Bereiche die Topographie abzubilden oder Aufmaße von Flächen oder Volumina zu generieren und die kostenbeeinflussenden Parameter darauf basierend transparent und mit einer hohen Genauigkeit auswerten zu können.

52.3.4

Plattformen

Den Rahmen für die Verwaltung von Daten in und aus unterschiedlichen Systemen bilden sogenannte Plattformen. Diese stellen einen zentralen Dreh- und Angelpunkt für alle Daten und für alle Projektbeteiligten dar. Im Rahmen der Entwicklung einer Datenbasis sind die Faktoren Zieldefinition, Anwendungsfall, Zeitpunkt sowie die Sichtweise, i.S. welcher Projektbeteiligte nutzt die Daten, von elementarer Bedeutung, um daraus die Informations- bzw. Datenanforderungen unter Berücksichtigung von Zugriffsrechten ableiten zu können. Die dabei entstehenden Daten und auch deren Nutzung können sich ggf. überschneiden oder auch vollkommen anderer Natur sein. Dies ist grundlegend abhängig vom jeweiligen Anwendungsfall bzw. der Zieldefinition, die erfüllt werden soll. Einen weiteren Faktor stellt der Umstand dar, dass sich Daten über den Lebenszyklus eines Bauwerks hinweg verändern. Um die Komplexität hinsichtlich der unterschiedlichen Projektbeteiligten (vgl. Abb. 52-6) sowie die Heterogenität der Informations- bzw. Datenanforderungen bzgl. des jeweiligen Anwendungsfalls zu einer bestimmten Zeit beherrschen zu können, ist die Verfügbarkeit der Daten auf einer Cloud- und dienstebasierten Plattform19) von elementarer Bedeutung.

19)

Eine Plattform, die durch die technische Möglichkeit diverse Geräte und Applikationen miteinander verknüpfen kann.

800

Teil H – Digitalisierung

Abb. 52-6

Beteiligte am Bauprozess und Perspektiven auf Informationen bzw. Daten

Dieses Prinzip ist gut am Beispiel der Kalkulation einer Bodenplatte ersichtlich. Die für die Kalkulation notwendige Datenbasis beschränkt sich auf die kostenbeeinflussenden Parameter bzw. Daten der zu erstellenden Bauleistung. Eine Auswertung der Einflussparameter für das Bauteil Bodenplatte und deren Kategorisierung ergibt insgesamt elf kostenbeeinflussende Parameter bzw. Datensätze. Diese lassen sich sowohl in geometrische Daten, wie die Dicke der Bodenplatte als auch nicht-geometrische Daten, wie beispielsweise die Festigkeitsklasse des Betons oder die Einbauart der Bodenplatte unterscheiden.20) Eine Kategorisierung (Datenkategorisierung) der kostenbeeinflussenden Parameter mit dem Ziel einer effizienten Datennutzung im Rahmen der Kostenermittlung unter Berücksichtigung der jeweiligen Perspektive (Bauherr, Planer, Bauunternehmen etc.) ist somit von hoher Relevanz und zur vollumfänglichen Nutzung der verschiedenen Digitalisierungspotenziale, i.S. der Nutzung von Daten im Rahmen der Kostenermittlung von großer Bedeutung.

20)

Vgl. Weist (2019), S. 68 ff.

52 Digitalisierungspotenziale im Rahmen der Kostenermittlung von Bauleistungen

52.3.5

801

Zusammenfassung der Digitalisierungspotenziale

Die vier oben beschriebenen Handlungsfelder beinhalten verschiedene Digitalisierungspotenziale im Rahmen der Kalkulation, die teilweise ineinandergreifen und teilweise losgelöst voneinander betrachtet werden können. Eine Analogie aller Handlungsfelder ist in einer effizienten Nutzung der für den Kalkulationsprozess relevanten Informationen in Form von Daten zu identifizieren. Im Rahmen des BIM-Modells, aber auch darüber hinaus über alle Handlungsfelder hinweg, wird die Analytik i.S. von Datenanalyseverfahren eingesetzt, um diese miteinander in Relation setzen zu können und daraus folgend Wissen als Entscheidungsgrundlage generieren zu können. Cyber-physische Systeme liefern dagegen automatisiert Daten, die beispielsweise mit dem BIM-Modell kombiniert und durch Datenanalyseverfahren ausgewertet werden können. Die Plattformen stellen den notwendigen Rahmen für das Management diverser Softwareanwendungen und Daten dar. Dabei ist der zentrale Bestandteil eine Datenbank, in welcher Daten gesichert und vorgehalten werden (vgl. Abb. 52-7). Die Vorteile der Digitalisierung liegen in einer schnellen, effizienten Nutzung von Daten, aus welcher Vorteile, wie eine Erhöhung der Transparenz, eine einfache Durchführung von Variantenvergleichen, eine Bewertungsfähigkeit der Auswirkungen von Veränderungen auf Kosten in Echtzeit etc. resultieren. Dies führt insgesamt zu einer Erhöhung der Kostensicherheit durch bspw. der Identifikation von Schnittstellen und Abhängigkeiten einzelner Bauteile untereinander und einer Steigerung der Produktivität durch die Teilautomatisierung einzelner Prozessschritte.

Abb. 52-7

Symbiose der Handlungsfelder in einer Cloud-Installation

802

Teil H – Digitalisierung

In nachfolgender Tab. 52-1 erfolgt eine Einordnung der Handlungsfelder in Digitalisierungspotenziale sowie in den Kostenermittlungsprozess.

Tab. 52-1

52.4

Digitalisierungspotenziale im Rahmen der Kostenermittlung von Bauleistungen

Aktuelle Trends

Ein weiteres Potenzial bzw. ein aktueller Trend im Rahmen der Digitalisierung ist im Bereich der „Künstlichen Intelligenz“, wie beispielsweise neuronaler Netze, zu finden. Derartige Entwicklungen thematisieren einen effizienten sowie intelligenten Umgang mit Daten im Schwerpunkt des Handlungsfeldes Analytik. Das Ziel, das mit dem Einsatz von „Künstlicher Intelligenz“ verfolgt wird, ist es, menschliche Erkennungs- und Denkprozesse zu formalisieren und in Algorithmen zu übertragen. So wäre es möglich, ein BIMModell zu erstellen, welches durch hinterlegte Prüfalgorithmen autonom entscheiden könnte, welche Ausführungsvariante am wirtschaftlichsten (Vergleich der Auswirkungen auf Kosten) ist. Daraus resultierend wären neue Dimensionen der Effizienz von Planung, Bau, Betrieb sowie Rückbau über den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks möglich.

52.5

Zusammenfasssung

Die Digitalisierung i.S. einer effizienten Nutzung von Informationen in Form von Daten stellt insbesondere für Kostenermittlungsverfahren große Potenziale dar. Dabei ist im Rahmen der Entwicklung einer geeigneten Datenbasis für den Kalkulationsprozess die Formulierung der Anforderungen, welcher Projektbeteiligte, zu welchem Zeitpunkt, welche Informationen benötigt und wie die Zusammenarbeit gestaltet werden soll, um die jeweilige Zieldefinition erreichen zu können, von elementarer Bedeutung. Um diesen Anforderungen adäquat begegnen zu können, ist ein Konzept als Standard zum Umgang und der Nutzung von Daten von hoher Relevanz. Dies sollte die klassischen Entwicklungsschritte einer Datenbasis von der Festlegung der Datenqualitäten, der

52 Digitalisierungspotenziale im Rahmen der Kostenermittlung von Bauleistungen

803

Datenerzeugungsmethoden sowie ein Datenmanagementkonzept, die zugehörigen Datenanalyseverfahren und die damit zu erzielenden Potenziale in Form von Wissen bzw. Wertschöpfung vollumfänglich thematisieren und beinhalten. Zusammenfassend können die Vorteile in einer Erhöhung der Kostensicherheit und einer Steigerung der Produktivität durch die Teilautomatisierung einzelner Prozessschritte, identifiziert werden. Ein aktueller Trend zur effizienten Nutzung von Daten entwickelt sich im Themenfeld „Künstlicher Intelligenz“, deren Chancen aber auch Herausforderungen im Rahmen künftiger Forschungsvorhaben zu untersuchen sind.

52.6

Literaturverzeichnis

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804

Teil H – Digitalisierung

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53

Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

Assoc.Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Christian Hofstadler Institutsvorstand Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected] Amir Dini zarG Byte Studios www.zargbyte.com [email protected] Johannes Petschnig zarG Byte Studios www.zargbyte.com [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_53

806

53.1

Teil H – Digitalisierung

Abstract

Zeitnahe SOLL-IST-Vergleiche sind nicht nur in baubetrieblicher und bauwirtschaftlicher Hinsicht sehr bedeutend, sondern haben auch für die Arbeitssicherheit – z.B. in der Schalungs- und Rüsttechnik – einen hohen Stellenwert. Für alle beteiligten Personen auf der Baustelle ist es wichtig, dass die Auswahl und Kombination der Produktionsfaktoren vorschriftsgemäß erfolgt. Es sind neben den gesetzlichen Rahmenbedingungen auch die Anwendungshinweise der Hersteller einzuhalten. Die Kontrolle, ob der jeweilige ISTZustand den planlichen Vorgaben (z.B. des Gerüstherstellers) entspricht, erfolgt weitgehend visuell durch Menschen. Natürlich unterliegt diese Überprüfung einer gewissen Subjektivität und auch Remanenz. Erstrebenswert wäre langfristig ein Echtzeitvergleich, der automatisch durchgeführt wird. Auch bei der Schalung sollte der Vergleich zwischen dem IST-Zustand und dem 3D-Modell in Echtzeit möglichst automatisiert erfolgen. Potenzielle Abweichungen sollten sofort erkannt und gemeldet werden. Dadurch ist ein rasches Einschreiten möglich und Unfälle können vermieden werden. Im Beitrag wird anhand einer Wandschalung gezeigt, wie durch Einsatz der Photogrammetrie eine 3D-Rekonstruktion ermöglicht wird. Selbst mit dem aktuellen Stand der Technik beträgt die Dauer für die Erzeugung der Bilder und die Rekonstruktion für mehrere Fertigungsabschnitte noch einige Stunden. Durch die Weiterentwicklung der Aufnahmegeräte und der Software sowie dem damit verbundenen Können und Handeln der Ausführenden gelingt es, die Bearbeitungsdauer dafür weiter zu verkürzen, womit eine Annäherung an eine Echtzeitrekonstruktion und den Echtzeitvergleich erreicht werden kann. Als Aufnahmetechniken für den IST-Zustand auf der Baustelle werden mehrere Einzelbilder, Videosequenzen und Laserscanning eingesetzt, wobei letzteres in der Regel als Ergänzung für eine bessere Oberflächenrekonstruktion zum Einsatz kommt. Im Beitrag wird ausschließlich auf die Rekonstruktion mittels Einzelbildern eingegangen.

53.2

Situationsanalyse

In den letzten Jahrzehnten wurde verstärkt Forschung hinsichtlich der Bauablaufsimulation betrieben. Es können Störungen verschiedener Ursachen (z.B. zu kurze Projektvorlaufzeit, zu kurze Bauzeit, fehlerhaftes Schnittstellenmanagement) simuliert und deren Auswirkungen dargestellt werden. Primäres Ziel dieser Konzepte ist es, die Bauzeit und den Ressourceneinsatz zu optimieren und damit die Kosten zu senken, ohne dabei die Qualitätsziele zu verfehlen. Ein wesentlicher Faktor für die Qualität und Aussagekraft solcher Simulationen ist jedoch die Zuverlässigkeit der Eingangsdaten sowie ein permanenter SOLL-IST- bzw. SOLL-SOLLTE-IST-Vergleich zwischen Planung und Ausführung. Um dies zu ermöglichen, sind Datenerhebungen hinsichtlich Personen-, Geräte- und Materialeinsatz auf Baustellen unumgänglich. Wie die Datenerfassung und -auswertung durch den Einsatz innovativer Methoden wie Sensoren (z.B. in Verbindung mit GPS, Infrarottechnolgie, Personen-Tracking, Eye-Tracking), einer automatischen Bilddatenauswertung (z.B. Bewegungsabläufe, 3D-Rekonstruktion, Objekterkennung) etc. effizienter durchgeführt werden können, stellt derzeit im Zuge der Digitalisierung einen wichtigen und zukunftsweisenden Forschungs- und Entwicklungsbedarf dar. Durch das erzielte bessere Kosten-Nutzen-Verhältnis im Vergleich zu traditionellen REFAStudien wird die Implementierung einer flächendeckenden Praxisanwendung begünstigt. Mit dem Einsatz von mobilen digitalen Endgeräten (Smartphone, Tablets, Notebooks etc.)

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

807

ist es möglich, direkt auf der Baustelle auf umfangreiche Informationen zuzugreifen. Dadurch können die Dokumentation – bei gleichzeitiger Reduktion des Aufwands – verbessert sowie Maßnahmen zur Optimierung des Bauablaufs zielgerichtet und unmittelbar umgesetzt werden. Durch die stetigen Weiterentwicklungen in der Planung im Zuge der Anwendung von Building Information Modeling (BIM) gewinnen verlässliche Daten und Informationen zunehmend an Bedeutung und bieten vielseitige Anwendungsmöglichkeiten. Bauteile werden nicht nur dreidimensional geplant, es können ihnen auch Daten und Informationen zugewiesen werden, wodurch sich neue Einsatzgebiete für den Aufbau und Betrieb eines fundierten Wissensmanagements unter der Berücksichtigung von Nichtlinearitäten und für ein systematisches Chancen-Risikomanagement ergeben. Die Digitalisierung nimmt zunehmend gestalterischen Einfluss auf den Baubetrieb und dessen Prozesse. Diese Entwicklungstendenzen begünstigen es, zukünftig genauere Daten und Informationen für die Kalkulationen und Simulationen neuer Projekte zu erhalten, damit Chancen besser genutzt und Risiken besser erkannt und bewertet bzw. minimiert werden können. Für laufende Projekte sollen die Echtzeitdaten und -informationen dazu beitragen, den Baubetrieb besser dokumentieren, kontrollieren und steuern zu können. Letztendlich kann durch die Digitalisierung auch die Arbeitssicherheit für die Menschen dahingehend gesteigert werden, dass beispielsweise mittels Mixed Reality – z.B. anhand des Vergleichs zwischen dem 3D-Modell aus der BIM-Planung mit der 3D-Rekonstruktion des aufgebauten Gerüsts – sofort Gefährdungspotenziale erkannt werden können. Dadurch werden Fehlanwendungen und -verhalten laufend aufgezeigt und potenzielle Unfälle bereits im Vorfeld verhindert. Auch zu dieser Thematik wird an der TU Graz am Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft anhand von mit der Baupraxis gemeinsam durchgeführten Projekten intensiv geforscht.

53.3

Modellierung und Digitalisierung

Die Digitalisierung ist ein systematischer Bestandteil eines entwickelten Modells, bezogen auf ein konkretes Vorhaben, welches vorab zu definieren ist. Es sollen dahingehend klare Ziele formuliert werden, was mit den Werkzeugen der Digitalisierung intendiert wird (z.B. Projektziele und/oder Betriebsziele) und wie genau diese erreicht werden sollen.

53.3.1

Modellierung

Ein Modell steht in Wechselwirkung mit dem Modellsubjekt und dem Modellobjekt. Das Modellsubjekt ist die Erstellerin bzw. der Ersteller des Modells und kann auch gleichzeitig die nutzende Person darstellen. Wenn das Modell auch für Dritte verwendbar ist, können es Personen, die nicht an der Modellerstellung beteiligt waren, individuell einsetzen. Das Modell steht in Verbindung mit Modellobjekten, für deren Analyse es entwickelt wurde. Modellobjekte können Bauwerke, Baulose oder einzelne Bauteile sein und beispielsweise für die Ermittlung des Bauablaufs, der Logistik, der Bauzeiten und auch der Kosten durchgeführt werden. Zur Modellspezifikation braucht es eine entsprechende Verstehensumgebung, um Systeme zu begreifen und die notwendigen Prozesse abzubilden bzw. Abhängigkeiten zu berücksichtigen.

808

Teil H – Digitalisierung

0RGHOOVXEMHNW PRGHOOLHUHQGH QXW]HQGH3HUVRQ

'LJLWDOLVLHUXQJ

%HUHFKQXQJV 0RGHOO $EELOG

'DWHQ XQG ,QIRUPDWLRQVJHQHULHUXQJ

'LDJQRVH 3URJQRVH 0RGHOOREMHNW%,00RGHOO UHDOHV6\VWHP2ULJLQDO

:LVVHQV PDQDJHPHQW

(UJHEQLV LQWHUSUHWDWLRQ 6LPXODWLRQ

Abb. 53-1

Multisystemische Modellentwicklung1)

Wichtig bei der Modellbildung ist die Abgrenzung des Modells zu anderen Systemen und Prozessen. Die Grenzen müssen eindeutig gezogen und nachvollziehbar dokumentiert werden, wodurch sichergestellt ist, dass besonders für jene NutzerInnen, die bei der Modellbildung nicht mitgewirkt haben, eine sachgemäße Anwendung möglich ist. Die Art sowie die Ausrichtung von Modellen zur Abbildung von baubetrieblichen und bauwirtschaftlichen Zusammenhängen ändern sich mit den Projektphasen. Die Anforderungen an die Modellbildung hängen grundsätzlich davon ab, ob es sich um Prognosen oder Planungen handelt und welche Projektphasen damit betrachtet werden. Grundsätzlich gibt es Modelle für ex ante, inter actio und ex post Untersuchungen. In Abb. 53-1 ist das multisystemische Modell, das als Basis für Ermittlungen, Prognosen, Vergleiche, Entscheidungen etc. dient, als sechseckige Pyramide dargestellt. Alle Untersuchungen und Entwicklungen beginnen mit Modellierungen. „Man kann nicht nicht modellieren!“ Dieses Statement wurde an folgendes berühmte Zitat von Paul Watzlawick angeknüpft: „Man kann nicht nicht kommunizieren!“ Warum ist das hier angeführte Zitat „Man kann nicht nicht modellieren!“ zutreffend? Jeder Mensch nutzt bewusst und/oder unbewusst Modelle für seine Handlungen, Entscheidungen, Prognosen, Planungen etc. 1)

Hofstadler (2019), S. CPM-16-3

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

809

Genauso nutzen und brauchen Organisationen Modelle für unternehmerische Prognosen, Planungen, Entscheidungen etc. Modelle sollten auch kommunizierbar sowie verständlich und nachvollziehbar sein. Besonders dann, wenn es sich bei der/dem ModellerstellerIn und der/dem -benutzerIn um unterschiedliche Personen handelt, was meistens der Fall ist! Heutzutage werden Modelle vermehrt mit dem Computer erzeugt und entweder zweidimensional oder dreidimensional dargestellt. Physische Modelle können mittlerweile auch als 3D-Modelle ausgedruckt werden, nicht nur als Miniaturform, sondern auch im Maßstab 1:1. Mittels spezieller Software werden BIM-Modelle erzeugt, die das Verständnis für die Proportionen und Funktionen des Bauwerks erhöhen sowie ein sehr gutes räumliches Vorstellungsvermögen ermöglichen. Neben der rein geometrischen Darstellung werden auch weitere Dimensionen hinzugefügt. Wie verläuft der systematische Weg von Modellen zum genauen und brauchbaren Output? Um diesen Weg aufzuzeigen, bedient man sich der Darstellung der sechseckigen Pyramide (siehe Abb. 53-1). Diese multisystemische Pyramide soll die Basis für den einzelnen Projekterfolg und in weiterer Folge für den Unternehmenserfolg bilden.

53.3.2

Digitalisierung im Modell

Um mit dem erzeugten Modell gute und brauchbare Ergebnisse zu erzielen, werden kontextbezogene Daten und Informationen benötigt. Es stellt sich die Frage, woher die Daten und Informationen stammen und wie diese für ein neues Projekt erzeugt werden sollen? Die Datengewinnung erfolgt teilweise automatisch, wie beispielsweise bei meteorologischen Daten, die über Temperaturverläufe oder auch über Luftfeuchtigkeitsentwicklungen Auskunft geben. Informationen dazu, welche Auswirkungen diese Einflüsse auf das Produktionssystem auf der Baustelle haben, müssen von den Menschen vor Ort zunächst erkannt und in weiterer Folge zutreffend und nachvollziehbar dokumentiert werden. Dabei spielen die jeweilige Verstehensumgebungen sowie die subjektiven Einschätzungen der Situationen durch die handelnden Personen eine große Rolle. Hier liegt auch großes Verbesserungspotenzial in der Daten-, Informations- und Wissensgenerierung: Um ein genaues Modell zu entwickeln, braucht es eine entsprechende Verstehensumgebung. Damit ist es möglich, Systeme zu begreifen, die notwendigen Prozesse abzubilden und Abhängigkeiten zu berücksichtigen. Die Bauwerkstypen sowie auch die Bauwerke selbst unterscheiden sich immer und werden unter differierenden äußeren Produktionsbedingungen errichtet. Die Prozesse und Tätigkeiten sind dem Grunde nach zumeist ähnlich, verursachen aber immer unterschiedliche Daten und bedürfen stetig angepasster Begleitinformationen, um sie für den aktuellen Prozess und besonders für Dritte überhaupt nutzbar zu machen. Die Daten- und Informationsgenerierung hängt stark von den eigenen Erfahrungen der handelnden Menschen und dem Studium von internen oder externen Literaturquellen ab. REFA-Studien anhand von Multimomentaufnahmen sind anerkannte Methoden, um Arbeitsstudien durchzuführen, allerdings sind sie sehr zeitaufwendig. Ergänzend werden Fotos und Videos (sofern erlaubt) von Bauprozessen aufgenommen, um nicht erfasste Eindrücke später nachvollziehen zu können und Unklarheiten aufzuklären. Besonders bei arbeitsintensiven Tätigkeiten ist es sehr schwierig, die Subjektivität in der Daten- und besonders der Informationsgenerierung zu reduzieren und somit gleichzeitig die Validität zu erhöhen. Zudem ist der Aufwand der manuellen Erhebung sehr hoch und

810

Teil H – Digitalisierung

teilweise auch wenig zielgerichtet. Sind Daten und Informationen einmal gesammelt, stellt die dezentrale Ablage ein Problem dar, da für Dritte der Zugang (wenn intendiert) nicht oder nur schwer möglich ist. Darüber hinaus fehlt auch die Kategorisierung von Bauwerkstypen und deren Bauteilen, damit die Zahlen für den Arbeitsaufwand auch ein klares Bild über Art, Form und Komplexität sowie von den äußeren Produktionsbedingungen widerspiegeln. Oft ist auch eine fehlende oder falsche Verknüpfung von Daten und Informationen zu bemängeln. Außerdem erfolgt die Daten- und Informationsgenerierung meist unsystematisch und asymmetrisch, weshalb die Vergleichbarkeit mit anderen Bauwerken bzw. deren Bauteilen nur schwer möglich ist. %DXZHUNVW\SHQ

$EOlXIH3UR]HVVH 7lWLJNHLWHQ

)RUPHQGHU'DWHQ XQG,QIRUPDWLRQV JHQHULHUXQJ ELVKHU

3UREOHPH

=XNQIWLJH)RUPHQGHU'DWHQ /|VXQJVNRQ]HSWH X,QIRUPDWLRQVJHQHULHUXQJ ƒ (LQVDW]YRQ

6PDUW'HYLFHV ƒ 6HQVRULN 5*%'$NXVWLN ƒ 6XEMHNWLYLWlW ,QIUDURWVHQVRUHQ ƒ /RFDWLRQ XQG 0RWLRQ 7UDFNLQJ ƒ $NWXDOLWlW *36 ƒ 'DWHQDXVWDXVFK ƒ $XIZDQGEHLGHU SODWWIRUPHQ (UKHEXQJ ƒ =HQWUDOHU6SHLFKHU 'DWHQEDQNHQ ƒ =LHOJHULFKWHWH ƒ 9HUQHW]XQJYRQ 6XFKH 'DWHQ EDQNHQ ƒ %,00RGHOOH .RQWH[W ƒ 'DWHQPHQJH ƒ $XWRPDWLVLHUWH EH]RJHQH '$7(1 'DWHQHUKHEXQJ ,1)250$ ƒ 'H]HQWUDOH$EODJH ƒ ,QWHOOLJHQWH6XFK 7,21(1 ΔΔ NULWHULHQ )LOWHUXQJ  .DWHJRULVLHUXQJ ƒ )HKOHQGH .HQQ]DKOHQ .DWHJRULVLHUXQJ HUPLWWOXQJ .HQQ]DKOHQ JHQHULHUXQJƒ 'HHSOHDUQLQJ ƒ )HKOHQGH 1HXURQDOH1HW]H 9HUNQSIXQJ ƒ '5HNRQVWUXNWLRQ PLWWHOV6RIWZDUH ]% ƒ 8QV\VWHPDWLVFKH 5HDOLW\&DSWXUH  9RUJHKHQVZHLVH 3KRWRJUDPPHWULH /DVHUVFDQQLQJ 3XQNWZRONHQ ƒ )HKOHQGH 9HUJOHLFKEDUNHLW ƒ 0L[HG5HDOLW\ ƒ '5HNRQVWUXNWLRQ .RQWH[WEH]RJHQH'DWHQXQG,QIRUPDWLRQHQ PLWWHOV6FKDOO

Abb. 53-2

Systematische Daten- und Informationsgenerierung mittels Methoden und Instrumenten der Digitalisierung – Lösungskonzepte2)

Durch die Digitalisierung sollen das Erfassen, das Aufbereiten, das Filtern, das Umwandeln und das Auswerten von Daten schneller (in Echtzeit), zuverlässiger und systematischer erfolgen können. Je nach Vorhaben wird gemessen, fotografiert oder gescannt. Ergebnisse davon sind Messwerte und damit erzeugte Kennzahlen sowie reproduzierte Oberflächen oder 3D-Modelle. Für zukünftige und gegenwärtige Datenerfassungen sind Sensoren aller Art sowie Messstreifen bestens geeignet und werden teilweise im Bauwesen schon für Bauteile sowie Bauprozesse eingesetzt. Sind diese Datenerfassungsysteme richtig installiert und vor Beeinträchtigung und gar Zerstörungen geschützt, liefern sie verlässliche Daten, die automatisch mittels Software ausgewertet werden können. Idealerweise werden sie gefiltert, damit nur jene gespeichert werden, die auch tatsächlich von Relevanz sind. Auch 2)

Vgl. Hofstadler (2018). Vorlesungsfolien: Produktivität im Baubetrieb

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

811

eine Filterung nach den EmpfängerInnen/NutzerInnen von Daten sollte durch die Software ermöglicht werden. Damit erhält beispielsweise der AG nur jene Daten, die auch für ihn bestimmt sind, der AN wiederum kann sich seine internen Daten durch eine Verschlüsselung (idealerweise: Nutzung von Verschlüsselungstechnologien wie Kryptographie, biometrische Authentifizierung etc.) schützen lassen. Nach der Filterung der Daten erfolgt die Transformation in zuvor definierte Kennzahlen. Diese Kennzahlen müssen auch unbedingt mit Informationen aus dem Produktionssystem verknüpft werden, damit sie möglichst in Echtzeit für das aktuelle Projekt verwendet und auch dem zentralen Wissensspeicher zugeführt werden können. Durch die Digitalisierung sollen Echtzeitdaten und Informationen ermittelt werden. Diese können für das aktuelle Projekt genutzt und sollen auch systematisch in den Wissensspeicher überführt werden. Wissen ist ein entscheidender und in manchen Bereichen der entscheidendste Produktionsfaktor im Planungs- und auch Produktionssystem. Mit dem Wissen und den Kennzahlen aus dem Wissensspeicher soll die kontextbezogene Anwendung der Modelle verbessert werden. Kenntnisse über den Entstehungskontext der Daten sind dabei Voraussetzung für ein realistisches Verständnis der Ursache-Wirkungsbeziehungen. Im Beitrag wird gezeigt wie mittels Photogrammetrie von einer Wandschalung ein 3DModell reproduziert wurde.

53.3.3

Digitalisierungs- und Photogrammetrietechnologien im Baubetrieb

Die Fortschrittsberichterstattung (SOLL-IST-Vergleich) ist eine wesentliche Managementfunktion für die erfolgreiche Durchführung von Bauprojekten. Sie stützt sich auf erhebbare Daten, die auf Baustellen gesammelt wurden und dann verwendet werden, um die tatsächlich geleistete Arbeit mit der zuvor geplanten zu vergleichen. Das Controlling von Bauprojekten erfordert eine Berücksichtigung von Zeit und Kosten, um die geplanten Ziele zu erreichen. Das Management benötigt zeitnahe Daten, die den Status des Projekts darstellen, um bei Bedarf Korrekturmaßnahmen ergreifen zu können. Dafür können verschiedene automatisierte Technologien integriert werden, um Daten, die für die Fortschrittsmessung erforderlich sind, auf Baustellen zu erfassen. Aktuelle automatisierte Datenerfassungstechnologien sind zum Beispiel Laserscanner, Barcodes, RFID (Radio Frequency Identification), Photogrammetrie, Multimedia und stiftbasierte Tabelts (siehe auch Abb. 53-2). Die Benutzerin bzw. der Benutzer kann sich mit einem Tablet auf der Baustelle bewegen und direkt aufzeichnen, Schnappschüsse machen und auch handschriftliche Kommentare zu Aktivitäten vor Ort abgeben. Das vorgeschlagene Kosten-/Bauzeitplanungs-Steuerungsmodell lässt sich in die automatisierten Datenerfassungstechnologien, wie z.B. ein Planungssoftwaresystem, eine relationale Datenbank oder in das BIM-Modell integrieren, um Fortschrittsberichte zu generieren. Dies unterstützt die Bauleitung und das Projektmanagementteam bei der Entscheidungsfindung und Steuerung. Mit diesen Daten können dann die Leistungsmengen ermittelt werden, die innerhalb des zwischen zwei aufeinanderfolgenden „Scans“ betrachteten Zeitintervalls ausgeführt wurden. Besonders hervorzuheben ist auch die Bedeutung der 3D-Rekonstruktion für die Arbeitssicherheit, da durch einen Echtzeit SOLL-IST-Vergleich sofort Bedienungs- und Verwendungsfehler aufgezeigt und damit Unfälle verhindert werden können. Gefährdungsbeurteilungen können durchgeführt und durch Simulationen auch der erwartete

812

Teil H – Digitalisierung

Baufortschritt visualisiert werden. Durch die frühzeitige Feststellung potenzieller Gefährdungspotenziale können schon vorab Gegensteuerungsmaßnahmen eingeleitet werden. Die Photogrammetrie ist eine Methode zur 3D-Rekonstruktion, bei der die geometrischen Eigenschaften eines Objekts vor Ort aus einer Fotoserie generiert werden. Im folgenden Abschnitt werden die grundlegenden Schritte der Photogrammetrie erläutert.

53.4

Photogrammetrie

Mit der Photogrammetrie wird ein reales Objekt anhand einer Fotoserie erfasst (Beispiel siehe in Abb. 53-3) und daraus ein digitales Modell erstellt. Diese Rekonstruktion erfolgt in mehreren Stufen, die einen Workflow darstellt und in weiterer Folge beschreibt. Welche Ergebnisse mit der jeweiligen Bearbeitungsstufe erzielbar sind, wird anhand von Beispielbildern verdeutlicht.

Abb. 53-3

Situation bei der Aufnahme einer Fotoserie zur Rekonstruktion einer Sichtbetonoberfläche an der TU Graz

Es gibt zahlreiche Verwendungsmöglichkeiten für die Photogrammetrie. Dabei ist der Arbeitsablauf vom Verwendungszweck abhängig. Beispiele dafür sind: topografische Kartierungen und vielfältige Anwendungen in Architektur, Ingenieurwesen, Archäologie, Geologie sowie in der Computerspiele- und Filmbranche. Dieser Abschnitt zielt darauf ab, einen Photogrammetrie-Workflow zu beschreiben, der sich mit der Erstellung von 3D-Modellen befasst. Der damit verbundene Zeitaufwand für die Digitalisierung lässt sich als vertretbar charakterisieren. Zwar besteht immer die Möglichkeit, extrem hochwertige Modelle (genaue Digitalisierung) von Objekten zu erstellen, allerdings ist dies mit einem erheblichen Zeit- und Ressourcenaufwand verbunden, der nicht immer den damit erzielten Mehrwert rechtfertigt. Im Folgenden werden die Verwendung der Photogrammetrie in der Baubranche sowie die dafür notwendigen Arbeitsschritte, mit denen unter Berücksichtigung eines vertretbaren Zeitbudgets die Qualitätsanforderungen eingehalten werden können, beschrieben. Des Weiteren wird auf die dafür notwendige Ausrüstung eingegangen.

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

813

Was ist Photogrammetrie? Als Photogrammetrie (Bildmessung) wird eine Messmethode zur Generierung von Messdaten aus Fotografien verstanden. Dadurch ist es möglich, das abgelichtete Objekt in seiner räumlichen Lage oder seiner dreidimensionalen Form zu bestimmen. Anhand der Stereoskopie (als Methode) besteht die Möglichkeit, mittels Softwareprogrammen, Informationen über die fotografierten Objekte zu sammeln. Somit werden die physischen Eigenschaften eines Objekts (geometrische Form, Volumen) erfasst. Im Zuge dieser Methode erfolgt anhand von mehreren Bildern (Fotos/Photographien) eines Objektes eine Umwandlung in ein 3D-Modell. Wie funktioniert die Photogrammetrie? Photogrammetrie ist der Prozess, mit dem der 3D-Scan eines Objekts unter Verwendung mehrerer Bilder erstellt wird. Für die Erstellung eines 3D-Modells werden Bilder des Objekts benötigt. Diese können grundsätzlich mit jeder Kamera (Fotoapparat) – wie z.B. Smartphones, Tablets, Kompaktkameras – erstellt werden. Zu beachten ist, dass scharfe Aufnahmen eine wesentliche Voraussetzung für ein genaues 3D-Modell sind. Demzufolge wird in der Regel ein Fotoapparat mit einer Bildstabilisierung empfohlen. Mit Hilfe eines entsprechenden Softwareprogramms erfolgt der Rekonstruktionsprozess. Anhand von Algorithmen werden aus den Bildern Daten und Informationen gewonnen, mit denen anschließend ein digitales 3D-Modell erstellt wird. Dabei gilt, je mehr Bilder für die Rekonstruktion zur Verfügung stehen, desto präziser gestaltet sich das 3D-Modell. Es kann bereits aus einem Bild ein 3D-Modell erstellt werden.3) Allerdings führt dies aufgrund einer zu geringen Informationsdichte zu keinem optimalen Ergebnis. Warum sollte eine Photogrammetrie-Software verwendet werden? Im Folgenden werden einige Photogrammetrie-Softwareprogramme aufgelistet (demonstrative Aufzählung), welche die notwendigen Erwartungen und Ziele – der Baubranche – erfüllen • Agisoft PhotoScan4) Agisoft Photoscan ist eine vollständige Software, die für verschiedene Anwendungen nützlich ist. Es ist eines der am häufigsten verwendeten Photogrammetrie-SoftwareTools. Dieses Softwareprogramm bietet viele Funktionen wie z.B. photogrammetrische Triangulation, Punktwolkendaten, Entfernungs-, Volumen- und Flächenmessungen, 3D-Modellgenerierung und Texturierung. • 3DF Zephyr Free5) Bei diesem Softwareprogramm handelt es sich um eine kostenlose Version. Das Softwareprogramm bietet umfangreiche und effiziente Funktionen für die Rekonstruktion von Objekten aus Bildern. Da das 3DF Zephyr alle 3D-Rekonstruktionswerkzeuge und grundlegenden Bearbeitungswerkzeuge für einen Rekonstruktionsprozess bietet, wird dieses Softwareprogramm als Einstieg in die Photogrammetrie von den Verfassern empfohlen. • Visual SFM6) Visual SFM basiert auf „Structure from Motion“ (SFM). Unter SFM wird ein Verfahren einer photogrammetrischen Entfernungsbildgebungstechnik zur Schätzung dreidimen3) 4) 5) 6)

Vgl. Saxena (2008), S. 53ff. Vgl. https://www.agisoft.com/ Vgl. https://www.3dflow.net/3df-zephyr-free/ Vgl. http://ccwu.me/vsfm

814

Teil H – Digitalisierung

sionaler Strukturen aus zweidimensionalen Bildsequenzen, welche mit lokalen Bewegungssignalen gekoppelt werden können, verstanden. Diese Methode wird in den Bereichen Computer Vision/Graphik und visuelle Wahrnehmung eingesetzt. Visual SFM ist ein einfach zu bedienendes Softwareprogramm. Die Bilder eines Objektes werden in das Programm geladen, abgeglichen und anschließend automatisch in ein 3D-Modell rekonstruiert. • Reality Capture7) Reality Capture ist ein Photogrammetrie-Softwareprogramm, welches zusätzlich eine Laserscan-Funktion enthält. Dieses Softwareprogramm bietet eine Komplettlösung für die Photogrammetrie. Des Weiteren ist es möglich, auch mit Georeferenzierungen zu arbeiten. Somit erhält man in Projekten unter dem Vorgang der Georeferenzierung, Geokodierung, Geotagging oder Verortung die Zuweisung raumbezogener Informationen, der Georeferenz, zu einem Datensatz. Für die demonstrative Rekonstruktion einer Wandschalung (siehe Abschnitt 53.5) wurde die Software Reality Capture verwendet.

53.4.1

Photogrammetrie-Workflow

Der Workflow (siehe Abb. 53-4) besteht im Wesentlichen aus den zwei Hauptbereichen – dem Erfassen und dem Verarbeiten. Anhand der Prozessdarstellung sollen die systematische (erforderliche) Arbeitsweise sowie die wesentlichen zu berücksichtigenden Einflüsse dargestellt werden, um eine verwertbare Fotoserie anzufertigen, mit der ein ansprechendes (hängt von der Art der Verwendung ab) IST-3D-Modell erzeugt werden kann. Zwischen den Hauptprozessen werden „Quality Gates“ (QG) festgelegt, die sicherstellen, dass erst nach Prüfung der bis dahin erforderlichen Arbeitsprozesse bzw. Zustände der Wechsel in die nächste Prozessebene erfolgt. Dabei wird auf Rückkopplungen zu vorigen Arbeitsschritten geachtet. Die dabei entstehende Wissensaggregation sollte auch systematisch den jeweiligen Wissensspeichern zugeführt werden. Zukünftig ist es zielführend, einen unabhängigen (neutralen), interaktiven Wissensspeicher zu entwickeln, um die Prozess- und Herstellungsqualität rund um das Thema Photogrammetrie zu erhöhen. Eine Problematik bei den Schnittstellen sowie fehlende Informationen und Koordinationen sollen damit weitgehend ausgeschlossen werden. Wenn eine ganzheitliche Koordination nicht möglich oder vorgesehen ist, sollen zumindest die Arbeiten innerhalb eines Zuständigkeitsbereiches klar abgestimmt werden. Die 3D-Datenerfassung und Objektrekonstruktion kann mithilfe von Stereobildpaaren durchgeführt werden. Die Stereophotogrammetrie oder Photogrammetrie auf der Grundlage eines Blocks überlappender Bilder ist der primäre Ansatz für die 3DAbbildung und Objektrekonstruktion unter Anwendung von 2D-Bildern. Die Fortschritte der Nahbereichsphotogrammetrie ermöglichen mittlerweile die Verwendung von handelsüblichen Kameras oder Digitalkameras, um Nahbilder von Objekten, z.B. Gebäuden, aufzunehmen und anschließend unter Verwendung der Theorie der Luftbildphotogrammetrie zu rekonstruieren. Um eine realistische Abbildung eines Objekts (ein realitätsnahes 3D-Modell) zu erhalten, wird eine durchdachte Vorgangsweise empfohlen.

7)

Vgl. https://www.capturingreality.com

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

6FKOHFKW ƒ 5HJHQ6FKQHHIDOO ƒ 1HEHO ƒ 'LUHNWHV/LFKWPLWVWDUNHP6FKDWWHQ ƒ :LQG

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6FKOHFKW ƒ 7UDQVSDUHQWH*HJHQVWlQGH ƒ *HJHQVWlQGHPLWVWDUNHQ5HIOH[LRQHQ ƒ 6LFKEHZHJHQGH*HJHQVWlQGH ƒ +RPRJHQH)OlFKHQPLWGHQVHOEHQ )DUEEHUHLFKHQ GXUFK=XVDW]PD‰ QDKPHQYHUEHVVHUEDU]%0XVWHU

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Abb. 53-4

Workflow zur Photogrammetrie

1HLQ

0DQXHOOH .RQWUROOSXQNWH GHILQLHUHQ

815

816

Teil H – Digitalisierung

53.4.1.1

Wetter

Bei den Aufnahmen geht es darum, ein Objekt vollständig (von allen Seiten) zu fotografieren, sodass alle Bereiche des Objekts abgedeckt sind, damit eine vollständige 3DRekonstruktion möglich ist. Der Fokus in der Verarbeitung liegt darin, ein Netz (Mesh8)) zu erzeugen und Texturdaten aus den Fotos zu extrahieren. Derzeit haben die Wetterbedingungen noch einen großen Einfluss auf die Qualität der Fotos. Im Workflow sind beispielhaft gute und schlechte Bedingungen angeführt.

53.4.1.2

Equipment

Zur Durchführung einer Photogrammetrie ist eine entsprechende Ausrüstung erforderlich. Im Folgenden werden die wesentlichen Geräte, welche zur Erfassung von qualitativ hochwertigen Bildaufnahmen notwendig sind, aufgezeigt. Neben den in weiterer Folge empfohlenen Geräten, um adäquate Daten für eine qualitativ hochwertige Photogrammetrie zu erfassen, können natürlich auch andere verwendet werden. Der Workflow und die weiteren Ausführungen sind als wichtige Grundlagen für das eingesetzte Aufnahme-Reproduktionsteam zu betrachten. Damit wird eine optimale Vorbereitung ermöglicht, bevor die Aufnahmen auf der Baustelle gemacht werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kameraführenden die notwendigen Grundkenntnisse mitbringen. Spiegelreflexkamera In technischer Hinsicht kann jede Kamera für die Photogrammetrie verwendet werden (z.B. Kompakt-, System-, Handykamera). Für eine optimale Qualität ist es jedoch wichtig, eine Kamera, mit der scharfe Bilder in einer hohen Auflösung erstellt werden können, zu verwenden. Darüber hinaus werden mit einer hohen Auflösung weniger Fotos für den Rekonstruktionsprozess benötigt. Aus diesem Grund wird die Verwendung einer Systemkamera mit Vollformatsensor (z.B. Canon EOS 6D) empfohlen. Objektiv Im Zusammenhang mit dem empfohlenen Kameragehäuse wird die Verwendung eines Zoomobjektivs anstatt einer Festbrennweite empfohlen. Grund dafür ist, dass in einer natürlichen Umgebung einige Objekte unzugänglich – also zu weit entfernt – sind. Somit kann der Aufnahmeausschnitt des Objekts mit Hilfe des Zooms ausgewählt werden. Die Aufnahmen können mit unterschiedlichen Brennweiten erfolgen, da das für die Rekonstruktion verwendete Softwareprogramm die unterschiedlichen Brennweiten bei der Rekonstruktion berücksichtigt. Speicherkarte: 256 GB bieten eine gute Kapazität für einen vollständigen Erfassungstag. Klasse 109) ist erforderlich, um die Latenzzeit zu minimieren.

8) 9)

Ein Mesh ist eine Sammlung von Kanten, Flächen und Verbindungspunkten, mit denen ein 3D-Modell repräsentiert wird. Datenübertragung mit 10 MB/s

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

817

ColorChecker: Die ColorChecker-Schablone (Beispiel siehe in Abb. 53-5) ist ein Diagramm mit einer Anordnung von 4 x 6 Farbfeldern und essenziell für die Bildbearbeitungsbranche. Sie wurde 1976 in einem Artikel von McCamy10) offiziell vorgestellt. Der ColorChecker besteht aus einer Reihe von sechs grauen Flächen sowie typischen, additiven (Rot-Grün-Blau) und subtraktiven (Cyan-Magenta-Gelb) Primärfarben sowie weiteren „natürlichen“ Farben wie heller und dunkler Haut und Himmelblau. Die Farbpigmente wurden für eine optimale Farbkonstanz ausgewählt, wenn Felder der Tabelle mit Bildern der natürlichen Farben verglichen werden. Die Farbflächen auf der Schablone werden als Basis für Farbkorrekturen eingesetzt. Die ColorChecker-Schablone sollte bei jeder Aufnahme für die Kalibrierung der Fotos verwendet werden.

Abb. 53-5

53.4.1.3

X-Rite ColorChecker Passport Photo

Das 3W-Prinzip

Als Basis für gute (reproduzierbare) Ergebnisse in der Rekonstruktion sind qualitativ hochwertige Bilder, die das gesamte Objekt abdecken, zu erstellen. Dazu ist auch ein Aufnahmepfad zu planen, der die 3W-Vorgangsweise berücksichtigt. Es ist quasi ein Drehbuch für die Aufnahmen zu schreiben, besonders dann, wenn die Aufnahmen von Dritten gemacht werden. Was soll erhoben werden? Im ersten Schritt werden die Umgebungsbedingungen untersucht. Dabei ist eine Liste mit den Objekten bzw. Bauteilen, welche es zu rekonstruieren gilt, zu erstellen. Im Zuge dessen sind die Voraussetzungen (Eignung) für eine 3D-Modellierung der Objekte zu untersuchen (z.B. Oberflächenstruktur, Transparenz, Aggregatszustand). Analog ist zu prüfen, ob das verwendete Softwareprogramm für die Objekte und deren Oberflächeneigenschaften passend sind. 10)

McCamy et al. (1976), S. 95ff.

818

Teil H – Digitalisierung

Anhand der Rekonstruktionssoftware wird aus einer Serie von Bildern die Geometrie eines Objekts erstellt. Dies erfolgt auf Basis von Aufnahmeinformationen/Kamerainformationen. Dabei wird die Position (Koordinaten) der Pixel der Bilder mit Bezug auf ein globales Koordinatensystem hergestellt (siehe Abb. 53-12). Pixel mit genügend „Ähnlichkeiten“ (annähernd gleiche Koordinaten) werden vom Softwareprogramm in eine „räumliche Gruppe von Pixeln“ erfasst und als „Punkt“ (einzelne Koordinate) zusammengefasst. Das Ergebnis dieses Prozesses wird als „Punktwolke“ bezeichnet. In der Planung der Aufnahmen ist zu berücksichtigten, dass bestimmte Oberflächen (glatte, reflektierende, spiegelnde, nasse, flüssige, transparente bzw. sich bewegende Oberflächen) für die Photogrammmetrie ungeeignet sind. Bei solchen Verhältnissen kann die Rekonstruktionssoftware (derzeit) nicht die Pixelfarben aller Fotos des Objekts anpassen. In solchen Fällen ist es schwierig bzw. nicht möglich, aus den abgebildeten Objekten brauchbare Ergebnisse zu erzielen. Wo soll es erhoben werden? Die 3D-Rekonstruktion diverser Bauteile auf Baustellen ist derzeit noch mit einem hohen Zeitaufwand verbunden. Dieser kann beispielsweise bereits durch den Einsatz von Trägergeräten, wie z.B. Drohnen, reduziert werden. Die Qualität der Aufnahmen ist derzeit nicht so gut wie bei manuell angefertigten Aufnahmen. Essenziell ist allerdings immer eine sorgfältige und vollständige Planung der Aufnahmen. Bei den Aufnahmen ist auf die Einhaltung der Persönlichkeitsrechte der Menschen im unmittelbaren Aufnahmebereich zu achten. In den Bereichen, in denen aufgenommen werden soll, ist es (derzeit noch) nicht zulässig, dass während der Aufnahmen gearbeitet wird. Es ist generell auf die Einhaltung der Arbeitssicherheit zu achten. Wann soll erfasst werden? Mit der Frage, wann das abzubildende Objekt fotografiert werden soll, werden die notwendigen Randbedingungen berücksichtigt, um brauchbare Daten (Bilder) für die anschließende Rekonstruktion zu erhalten. In der Regel handelt es sich bei Baustellenaufnahmen um Außenaufnahmen, welche maßgebend von den Witterungsverhältnissen abhängig sind. Regen, Schnee und/oder Wind stellen allesamt ungünstige Rahmenbedingungen für Bildaufnahmen für die Photogrammetrie dar. Nasse Oberflächen (z.B. von Betonwänden) sind hinderlich für die anschließende Rekonstruktion mittels Software, da die Reflexion stärker ist. Regen oder Schneefall beeinträchtigen die Linse und führen ebenfalls zu nicht brauchbaren Bildern für die Photogrammetrie. Unter diesen Verhältnissen wird von den Verfassern empfohlen, keine Aufnahmen durchzuführen, da die Bilder unter diesen Umständen für die Photogrammetrie nicht brauchbar sind. Ebenso sind Aufnahmen bei starken Windverhältnissen zu vermeiden, da durch Staub und Sand-Verwirbelungen Bewegungen in den Bildern entstehen, welche die anschließende Rekonstruktion beeinträchtigen. Eine direkte Sonneneinstrahlung auf ein Objekt führt zu hellen und zu dunkeln Bereichen. Dabei entstehen „harte Schatten“, die einen hohen Kontrast zwischen Licht und Schatten verursachen. Diese Situation stellt ungünstige Rahmenbedingungen für die Kamera dar, da das wünschenswerte Ergebnis von gleichmäßigen und korrekt belichteten Bildern verhindert wird. In kontrastreichen Fotos wird das Rauschen tendenziell in starken Schatten angezeigt. Darüber hinaus lassen sich Hervorhebungen oder gerichtete Schatten nur schwer aus der

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

819

erzeugten Textur entfernen. Dieser Schritt ist erforderlich, um ein erfasstes Objekt erneut zu identifizieren. Die an diesen Stellen erzeugte Textur weist sehr helle Bereiche und starke Occlusion11) auf, die nur mit hohem Aufwand zu entfernen sind. Bedeckte/bewölkte Tage hingegen bieten optimale Bedingungen für Bilder, die für die Photogrammetrie genutzt werden wollen. Diese Rahmenbedingungen führen zu einer konstanten Beleuchtung und weichen Schatten, sodass das Licht später leicht vom Bild entfernt werden kann. Die Lichtstärke ist in diesem Fall jedoch niedrig. Daher ist es erforderlich, den ISO-Wert12) dementsprechend zu erhöhen. Die bevorzugten Bedingungen für Aufnahmen sind sonnige Tage mit diffusem Licht. Die Verschlusszeit der Kamera ist so zu wählen, dass das Motiv von der Richtungsbeleuchtung isoliert wird. Dadurch entstehen weichere Fotos (wie bei einem bedeckten Himmel), jedoch mit einer besseren Belichtung. Eine konstante Beleuchtung der Aufnahmen ist für die Rekonstruktionssoftware wesentlich. Außerdem variiert der EV-Bereich (Exposure Value: Lichtwert) saisonal. Besonders an Wintertagen ist der für die Aufnahme von Motiven verfügbare EV-Bereich geringer. Das verfügbare Tageslicht variiert ebenfalls mit den Jahreszeiten.

53.4.1.4

Notwendige Kameraeinstellungen

Das Ergebnis der Rekonstruktion eines Objektes ist von der Qualität der Aufnahmen abhängig. Die besten Ergebnisse werden mit scharfen Bildern ohne Clamping13) des Farbbereichs erzielt. Dabei ist die Schärfe der Aufnahmen ein wesentlicher Faktor. Die folgenden – hier von den Verfassern – empfohlenen Standardeinstellungen zielen darauf ab, ein möglichst scharfes Bild zu erhalten: • Blende von f/8 Diese Blendeneinstellung wird verwendet, wenn der Autofokus aktiviert ist und durch den Vergleich verschiedener Blenden hervorgehoben wird. • Verschlusszeit max. 1/160 s oder weniger Bei Aufnahmen im Freien können bedingt durch unterschiedliche Wetterbedingungen (Sonneneinstrahlung, Bewölkung) die Lichtverhältnisse variieren. Um Zeit zu sparen, wird daher die Verwendung eines Stativs nicht empfohlen. Die Verschlusszeit muss 1/160 s oder weniger betragen, um scharfe (nicht verwackelte) Aufnahmen manuell zu erstellen. • ISO-Wert von 100 Der ISO-Wert sollte auf 100 oder niedriger eingestellt werden. Dadurch wird ein Rauschen der Bilder – insbesondere in dunklen Bereichen – vermieden, welche für die Rekonstruktionssoftware nicht geeignet sind. In der Praxis sollte bei schlechten Lichtverhältnissen zuerst der ISO-Wert und dann die Blende erhöht werden. Dabei kann es erforderlich sein, die Blende anzupassen, um das durch höhere ISO-Werte erzeugte Rauschen auszugleichen. Ein Stativ macht es möglich, die Verschlusszeit zu variieren (anzupassen – niedrigere Verschlusszeiten zu wählen). Die Verwendung eines Stativs führt jedoch, wie bereits erwähnt, zu einem höheren Zeitaufwand zwischen den Aufnahmen. 11) 12) 13)

Verschattung von Szenen Angabe der Filmempfindlichkeit; International Organization for Standardization (ISO) Begrenzung einer Position auf einen Bereich

820

Teil H – Digitalisierung

• Bildformat RAW14) Als Ausgabeformat (Dateiformat) ist RAW zu wählen. Das RAW-Format bietet eine höhere Genauigkeit bei der Rekonstruktion und ermöglicht einen besseren Weißabgleich in den Bildern.

53.4.1.5

Vorbereitung der Fotoaufnahmen

Für eine realitätsnahe Rekonstruktion sind farbgetreue Fotos des Objekts erforderlich. Dafür stehen folgende zwei Möglichkeiten zur Wahl. Die erste besteht darin, die Farben des Motivs so genau wie möglich wiederzugeben. Dies bedeutet, dass das aufgenommene Foto einer Schalung den gleichen Farbton (z.B. denselben Gelbton) wie das Originalobjekt haben sollte. Die zweite Möglichkeit bezieht sich darauf, Farben zu generieren, welche an die Farbwahrnehmung des menschlichen Auges angepasst sind. Diese müssen nicht unbedingt realitätsgetreu sein. Anzumerken ist, dass Digitalkameras auf den letzteren Fall ausgelegt sind. Mit Hilfe einer Farbschablone (ColorChecker) ist es möglich, die realitätsnahen Farben im Nachhinein zu adjustieren. Um die Bedeutung der Kalibrierung zu demonstrieren, wurde eine Sichtbetonsäule mit einer Spiegelreflexkamera aufgenommen. Das Ergebnis der nicht kalibrierten Aufnahme ist in Abb. 53-7 auf der rechten Seite dargestellt. Das Bild hat offensichtlich einen unnatürlichen Farbton. Um diese Verzerrungen zu beseitigen, ist eine Kalibrierung durchzuführen. Dazu wurde der ColorChecker verwendet, der im unteren Bereich beider Bilder zu sehen ist. Bevor mit der Verarbeitung der Bilder begonnen werden kann, sollte überprüft werden, ob die Fotos, die für die Rekonstruktionssoftware zur Verfügung gestellt werden, für die Rekonstruktion ausreichend sind. Für die Rekonstruktionssoftware müssen die Bilder ausgerichtet und eine einzelne Komponente erstellt werden. Es wird empfohlen, die Ausrichtung des Bildsatzes direkt mit den RAW-Daten in der Rekonstruktionssoftware zu überprüfen. Wenn zusätzliche Bilder benötigt werden, kann eine neue Fotosession durchgeführt werden.15) Der Weißabgleich von Fotos wird in Bildverarbeitungsprogrammen (Photoshop, Gimp etc.) in einem 32-Bit-Format durchgeführt, bevor diese an die Rekonstruktionssoftware gesendet werden. Der Prozess dafür ist wie folgt definiert: • Umwandeln der RAW-Dateien in ein 32-Bit-TIFF-Format. • Eine TIFF-Datei, in der der ColorChecker (siehe Abb. 53-6) ersichtlich ist, in einem Bildverarbeitungsprogramm öffnen. • Die Farbe des zweiten grauen Fleckes (60 %) auswählen. Es ist besser, den zweiten Patch zu verwenden, besonders wenn der erste nahe bei 1 liegt (255, 255, 255). • Der abgelesene Farbwert auf dem Foto wird in Relation zum RGB-Farbwert (153, 153, 153) gebracht und der Kalibrierungsfaktor berechnet. Dies erfolgt indem eine graue Farbebene (60 % Weiß) mithilfe von Bildverarbeitungsoperatoren mit dem Foto multipliziert wird und daraufhin eine Farbebene mit dem Kalibrierungsfaktor dividiert wird.

14) 15)

Eine Kamera-RAW-Datei ist ein unverarbeitetes Foto, das mit einer Digitalkamera aufgenommen wurde. Je detailreicher das zu erstellende 3D-Modell werden soll, desto mehr Bilder werden benötigt.

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

Abb. 53-6

821

Der zweite Patch wird für den Weißabgleich verwendet (mit einem RGB-Farbwert von 153, 153, 153), um noch einen Toleranzspielraum nach oben und unten zu erhalten

Der vorherige Schritt wird für die restlichen Fotos für den Weißabgleich automatisiert wiederholt. Bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen (beispielsweise auf der Vorder- und Rückseite einer Wand) ist die Kalibrierung neuerlich durchzuführen.

Abb. 53-7

Beispiele für kalibrierte (links) und nicht kalibrierte Fotoaufnahmen (rechts)

822

53.4.1.6

Teil H – Digitalisierung

Fotos aufnehmen

Die Rekonstruktion eines Objekts mittels Photogrammmetrie basiert auf fotografischen Quellbildern. Aus Aufnahmen, die mittels einer Videokamera (z.B. GoPro oder ähnlichem 4K-Videogerät) aufgenommen wurden, können Standbilder extrahiert werden. Kleine Videoaufnahmegeräte bieten den Vorteil, dass damit alle Seiten eines Objekts schnell aufgenommen werden können. Dies kann bei einer größeren Kamera schwieriger sein. Allerdings besteht das Problem, dass Videokameras sehr empfindlich auf hohe Lichtverhältnisse reagieren, was dazu führt, dass in den überbelichteten Bereichen der Aufnahme helle Flecken auftreten. Außerdem gibt es keine manuelle Steuerung für die ISO-Werte, die Blende und die Verschlusszeit. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass im aufgenommenen Video mehr Unschärfen aufgrund von Handbewegungen oder schnellen Bewegungen enthalten sind. Für die Rekonstruktion in diesem Beitrag wurden ausschließlich Fotos, die von einer Spiegelreflexkamera aufgenommen wurden, verwendet. Erfassen Im ersten Schritt werden mehrere Fotos des Objekts aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen. Dabei ist es auch notwendig, zusätzliche Informationen (GPS-Koordinaten, Uhrzeit, Lichtverhältnisse, Wetter etc.) als Referenz zu sammeln, die Metriken zu skalieren und die Fotos korrekt zu belichten. In Abb. 53-8 ist eine Situation für die Erfassung von Bildern auf einer Baustelle in Graz dargestellt. Ziel war es, für einen Wandabschnitt ausreichend Fotos von verschiedenen Blickwinkeln zu erstellen, damit daraus ein IST-Modell erzeugt werden kann.

Abb. 53-8

Baustellensituation beim Erfassen der Bilder (zum Zeitpunkt der Aufnahmen war die Wandschalung noch nicht fertig aufgebaut; es handelt sich um einen Zwischenzustand)

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

823

Die Aufnahmen wurden in der Mittagspause durchgeführt, da die Arbeitskräfte zu diesem Zeitpunkt nicht auf der Baustelle waren (die Bilder für die Rekonstruktion wären ansonsten weitgehend unbrauchbar). Darin liegt ein großes Forschungspotenzial, das darauf abzielt, eine Aufnahmemethode zu finden, mit der auch bei vollem Betrieb geeignete Bilder erfasst werden können. Der Vorteil liegt darin, dass der Baubetrieb durch die Erfassung nicht gestört wird und gleichzeitig laufend dokumentiert werden kann.

53.4.1.7

Datentransfer auf Computer

Die Bilder werden mittels Kameraspeicher auf den Verarbeitungsrechner übertragen. Dabei ist für ein Bauwerk eine Ordnerstruktur anzulegen, die sich auf Geschosse und einzelne Bauteile sowie Fertigungsabschnitte bezieht. Es ist darauf zu achten, dass auch Übersichtsfotos erzeugt werden, damit die ganzheitliche Entwicklung des Bauwerks über die Zeit ersichtlich ist. Im Zuge des Transfers ist stichprobenartig zu prüfen, ob innerhalb einer Fotoserie eines Abschnittes eine ausreichende Überlappung gegeben scheint. Deshalb ist es vorab wichtig, einen systematischen Aufnahmepfad festzulegen, um Lücken zu verhindern. Es wird empfohlen, folgende Arten von Ordnern anzulegen: • • • • •

Ordner mit den Aufnahmedaten (RAW-Dateien) Ordner mit den kalibrierten Bildern Ordner für die Dokumentation der Erfassung Ordner für die Rekonstruktion Ordner für multiple Rekonstruktionsobjekte (getrennt nach Detaillierungsgrad der Objekte) • Ordner für die exportierten und berechneten Texturen • Ordner für die Finalisierung

53.4.1.8

Datenverarbeitung

Zuerst müssen die Fotos kalibriert (Weißabgleich) und dann an eine Rekonstruktionsanwendung gesendet werden. Die Rekonstruktionsanwendung vergleicht die Formen in den Fotos (Ausrichtung), um daraus ein hochauflösendes 3D-Netz zu erzeugen. Die in den Bildern enthaltenen Farben werden dann entweder auf die Scheitelpunktfarben des Netzes (Einfärben) oder auf die verwendeten Texturen auf der Oberfläche des Netzes übertragen. Die Rekonstruktionssoftware (im gegenständlichen Fall Reality Capture) erzeugt idealerweise ein Netz mit sehr hoher Auflösung, welches nicht für die Verwendung in EchtzeitEngines geeignet ist. Daher muss für diesen Zweck eine niedrigere Auflösung generiert werden. Es ist möglich, ein Netz mit niedrigerer Auflösung zu erstellen, während die Details des Netzes mit hoher Auflösung erhalten bleiben, indem eine Normal-Map mit Baking-Tools16) erstellt wird. Eine Normal-Map ist ein Bild, das bei jedem Pixel eine Richtung speichert. Diese Richtungen werden als Normalen bezeichnet. Die roten, grünen und blauen Farbkanäle des Bilds werden verwendet, um die Richtung der Normalen jedes Pixels zu steuern. Eine Normal-Map wird häufig verwendet, um hochauflösende Details in einem Modell mit niedriger Auflösung zu „fälschen“. Die Baking-Tools übertragen hochfrequente Informationen vom Netz mit hoher Auflösung an die Normal-Map Texturen des Netzes mit niedriger Auflösung. 16)

Blender, Maya, 3D-Studio Max, MARI, xNormal etc.

824

Teil H – Digitalisierung

Als nächstes wird das Netz mit einer niedrigeren Auflösung für den Baking-Prozess erstellt. Beim Baking von Texturen werden Details von einem Modell auf ein anderes übertragen. Das Baking-Tool (z.B. 3D Studio Max) beginnt mit einem bestimmten Abstand vom Modell (normalerweise ein Modell mit niedriger Auflösung) und wirft Strahlen nach innen auf ein anderes Modell (normalerweise ein Modell mit hoher Auflösung). Ein Mesh mit mittlerer bis niedriger Auflösung wird aus der Rekonstruktionssoftware exportiert und in einem 3D-Software-Tool modifiziert, um mittels BakingTools Texturen zu erzeugen (Retopologie- und UV-Mapping). UV-Mapping ist der 3DModellierungsprozess zum Projizieren eines 2D-Bilds auf die Oberfläche eines 3DModells für das Textur-Mapping. Die Buchstaben „U“ und „V“ bezeichnen die Achsen der 2D-Textur, da „X“, „Y“ und „Z“ bereits zur Bezeichnung der Achsen des 3D-Objekts im Modellraum verwendet werden. Schließlich wird das niedrigauflösende Netz zum Baking in ein 3D-Programm (Mesh mit korrekter Ausrichtung, Angelpunkt und UV-Texturkoordinaten) umgewandelt. Dieser Prozess ist ausschlaggebend, um das Modell in Echtzeitanwendungen einzusetzen.

53.4.1.8.1

Bump-Map

Bump-Maps erzeugen mithilfe von Computergrafiken die Illusion von Tiefe auf der Oberfläche eines 3D-Modells. Texturen werden auf Basis von Graustufen und einfachen Lichttechniken künstlich auf der Oberfläche von Objekten erzeugt, anstatt einzelne Unebenheiten und Risse manuell zu erzeugen. Das besondere bei Bump-Maps ist, dass die Details, die erstellt werden, optische Täuschungen sind. Bei Verwendung einer Bump-Map wird dem Modell keine zusätzliche Auflösung hinzugefügt. In der Regel handelt es sich bei Bump-Maps um Graustufenbilder, die auf 8-Bit-Farbinformationen beschränkt sind. Das sind nur 256 (8-Bit: 28 Farben) verschiedene Farben: Schwarz, Graustufen oder Weiß. Diese Werte in einer Bump-Map werden verwendet, um der 3D-Software grundsätzlich zwei Dinge mitzuteilen – ob die Oberfläche vom Modell nach oben oder unten verschoben werden soll. Wenn die Werte in einer Reliefkarte in der Nähe von 50 % Grau liegen, werden auf der Oberfläche kaum Details sichtbar. Wenn die Werte heller werden und sich Weiß annähern, scheinen sich Details aus der Oberfläche hervorzuheben. Wenn die Werte dunkler und näher an Schwarz heranrücken, erzeugt dies die Illusion, dass die Details in die Oberfläche eindringen. Bump-Maps eignen sich hervorragend, um kleine Details auf einem Modell zu erstellen, wie zum Beispiel Poren oder Risse auf einer Sichtbetonoberfläche. Wenn nur Graustufenwerte verwendet werden, lassen sie sich auch relativ einfach in einer 2DAnwendung wie Photoshop oder Gimp erstellen und bearbeiten, Das Problem bei BumpMaps ist, dass sie ziemlich leicht brechen, wenn die Kamera diese aus dem falschen Winkel betrachtet. Da die erstellten Details falsch sind, und keine echten Details dem Modell hinzugefügt wurden, wird die Kontur der Geometrie, auf welche die Bump-Map angewendet wird, von der Map nicht beeinflusst.

53.4.1.8.2

Normal-Map

Normal-Maps können als eine neuere, bessere Art von Bump-Maps bezeichnet werden. Wie bei Bump-Maps muss man bei Normal-Maps als Erstes verstehen, dass die Details, die erzeugt werden, ebenfalls gefälscht sind. Der Geometrie in der Szene wird keine zusätzliche Auflösung hinzugefügt. Am Ende erzeugt eine Normal-Map zwar die Illusion

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

825

von Tiefendetails auf der Oberfläche eines Modells, aber anders als eine Bump-Map. Wie bereits bekannt ist, werden in einer Bump-Map Graustufenwerte verwendet, um Aufwärtsoder Abwärtsinformationen bereitzustellen. Eine Normal-Map verwendet RGB-Informationen, die direkt mit der X-, Y- und Z-Achse im 3D-Raum korrespondieren. Diese RGBInformation teilt der 3D-Anwendung mit, in welcher exakten Richtung die Oberflächennormalen für jedes Polygon ausgerichtet sind. Die Ausrichtung der Oberflächennormalen, oft nur als Normale bezeichnet, gibt der 3D-Anwendung an, wie die Objektoberfläche schattiert werden soll. Wenn man sich mit Normal-Maps beschäftigt, sollte man darauf achten, dass es zwei völlig unterschiedliche Typen gibt, die im 2D-Raum völlig unterschiedlich aussehen. Die am häufigsten verwendete Variante nennt sich Tangent Space Normal-Map und ist eine Mischung aus hauptsächlich Purpur- und Blau-Farbwerten. Diese Maps eignen sich am besten für Netze, die sich während der Animation verformen müssen. Tangent Space Normal-Maps sind hervorragend an Dinge wie bewegliche Objekte angepasst. Für Objekte, die nicht deformiert werden müssen, wird häufig eine normale Objektraum-Map verwendet. Diese Karten verfügen über eine Regenbogensortierung in verschiedenen Farben sowie eine geringfügig verbesserte Leistung gegenüber Tangent Space Maps. Es gibt definitiv einige Punkte, die es zu beachten gibt, wenn eine Normal-Map verwendet wird. Im Gegensatz zu einer Bump-Map können diese Maps in einer 2D-Software wie Photoshop oder Gimp nur sehr schwierig erstellt oder bearbeitet werden. Wenn es um die Unterstützung geht, sind Normal-Maps in den meisten Pipelines ziemlich gut integriert. In der Computergrafik ist eine Pipeline, eine Rendering-Pipeline oder einfach eine Grafik-Pipeline ein Konzeptmodell, das beschreibt, welche Schritte ein Grafiksystem ausführen muss, um eine 3D-Szene auf einem 2D-Bildschirm zu rendern. Im Gegensatz zu einer Bump-Map gibt es Ausnahmen von dieser Regel. Eines davon wäre Mobile Game Design. Erst in jüngster Zeit hat sich die Hardware so weit entwickelt, dass mobile Spiele beginnen, normale Zuordnungen in ihre Pipelines zu übernehmen. In Abb. 53-9 ist links die Diffuse-Map dargestellt, die keinen Detaillierungsgrad aufweist. Nach Kombination mit der Normal-Map wird der Detaillierungsgrad scheinbar verbessert.

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Abb. 53-9

1RUPDO0DS

.RPELQDWLRQ

Einsatz von Normal-Maps, um nachträglich Details zu erzeugen, für den Einsatz im Echtzeitbereich (VR/AR)

826

Teil H – Digitalisierung

53.4.1.8.3

Kombinieren dieser Maps

Die Texturzuordnung ist eine grundlegende Methode zur Steuerung des Erscheinungsbilds gerenderter Objekte. Eine übliche Verwendung der Texturierung besteht darin, der Geometrie Oberflächendetails zu verleihen (Normal- oder Bump-Maps), indem die Oberflächenfarbe auf Pixelbasis geändert wird. Ein digitales Bild wird als Quelle für Oberflächenfarbinformationen verwendet. Texture-Mapping kann jedoch noch viel mehr. Es ist eine leistungsstarke und allgemeine Technik zum Kombinieren von Bildern und Geometrie. Durch die Kombination von Diffuse- und Normal-Map auf das rekonstruierte 3D-Modell, erhält man ein Modell, welches optisch einen hohen Detailgrad aufweist, aber dennoch nur ein Hunderttausendstel an Polygonen vom ursprünglichen 3D-Modell besitzt (siehe Abb. 53-10). Damit hat man in weiterer Folge den Vorteil, die Rekonstruktion in Echtzeitanwendungen (VR/AR, Simulationen etc.) einzusetzen. .RPELQDWLRQ

'LIIXVH0DS

1RUPDO0DS

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Abb. 53-10 Kombination aus Diffuse- und Normal-Map

53.4.1.9

Normal-Map in Detail

Das Anwenden von Normal-Maps ist im Gegensatz zu einem hochdetaillierten 3D-Modell sehr effektiv in der Leistung (und manchmal im endgültigen Aussehen). Bei der Arbeit an einem realitätsnahen Objekt mit extrem hohem Detail ist es wünschenswert, dass dieses mit physischen Details erstellt wird. In diesen Fällen empfiehlt sich die Verwendung von Normal-Maps. In Tab. 53-1 sind die wesentlichen Vorteile/Nachteile zwischen Normal-Map und hochdetailliertem 3D-Modell dargestellt.

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

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Tab. 53-1

Vergleich der Modelle

53.4.1.9.1

Bitangent versus Binormal

Der Begriff binormal wird üblicherweise als Name der zweiten Tangentenrichtung verwendet (d.h. senkrecht zur Oberflächennormalen und zur Tangentenrichtung mit Ausrichtung in u-Richtung). Dies ist jedoch eine falsche Bezeichnung. Der Begriff binormal taucht beim Studium von Kurven auf und vervollständigt einen sogenannten Frenet-Frame17), um einen bestimmten Punkt auf einer Kurve darzustellen. Diese Kurven haben eine einzige Tangentenrichtung und zwei orthogonale Normalenrichtungen, daher die Begriffe normal und binormal. Bei der Diskussion eines Koordinatenrahmens an einem Punkt auf einer Oberfläche gibt es eine Normalenrichtung und zwei Tangentenrichtungen, die als Tangente und Bitangente bezeichnet werden. Berechnung von Tangent Space Basis Vektoren für ein beliebiges Netz Moderne Bump-Mappings (auch als Normal-Mapping bezeichnet) erfordern die Berechnung von Tangent Space Basis Vektoren für jeden Scheitelpunkt in einem Netz. Hier wird die Theorie zur Berechnung der tangentialen Per-Vertex-Räume für ein beliebiges Dreiecksnetz erläutert und der Quellcode zur Implementierung der richtigen Mathematik bereitgestellt. Mathematische Herleitung Es ist notwendig, dass der Tangentialraum so ausgerichtet wird, dass die x-Achse der uRichtung in der Normal-Map und die y-Achse der v-Richtung in der Normal-Map entspricht. Dies bedeutet, wenn Q einen Punkt innerhalb des Dreiecks darstellt, ist die Gleichung wie folgt zu definieren:18) Q – P 0 = ( u – u 0 )T + ( v – v 0 )B

(53-1)

Dabei ist P0 die Position eines der Eckpunkte des Dreiecks, und (u0, v0) sind die Texturkoordinaten an diesem Eckpunkt. Die Vektoren T und B sind die Tangenten- und Bitangentenvektoren, die an der Texturabbildung ausgerichtet sind und sollen in den nächsten Schritten erläutert werden.

17) 18)

Vgl. Bishop (1975), S. 246ff. Vgl. Hearn/Baker/Carithers (2004), S. 634f.; Akenine-Moller/Haines/Hoffman (2008), S. 187f.

828

Teil H – Digitalisierung

Es wird ein Dreieck angenommen, dessen Scheitelpunkte durch die Punkte P0, P1 und P2 gegeben ist und dessen entsprechende Texturkoordinaten durch (u0, v0), (u1, v1) und (u2, v2) bestimmt sind. Durch die getroffenen Annahmen können die Berechnungen viel einfacher gestalten werden, indem diese relativ zum Vertex P0 angenähert wird: Q1 = P1 – P0

(53-2)

Q2 = P2 – P0

(53-3)

( s 1, t 1 ) = (u 1 – u 0,v 1 – v 0)

(53-4)

( s 2, t 2 ) = (u 2 – u 0,v 2 – v 0)

(53-5)

Die beiden folgenden Gleichungen sind nach T und B aufzulösen: Q1 = s1 T – t1 B

(53-6)

Q2 = s2 T – t2 B

(53-7)

Dies ist ein lineares System mit sechs Unbekannten (drei für jedes T sowie B) und sechs Gleichungen (den x-, y- und z-Komponenten der beiden Vektorgleichungen). Die Repräsentation in einer Matrixform kann wie folgt beschrieben werden: ( Q1 )x ( Q1 )y ( Q1 )z s t T T T = 1 1 x y z ( Q2 )x ( Q2 )y ( Q2 )z s2 t2 Bx By Bz

(53-8)

Multipliziert man beide Seiten mit der Inversen der (s,t)-Matrix folgt daraus: t –t1 ( Q1 )x ( Q1 )y ( Q1 )z 1 = ------------------------- 2 s t – s t Bx By Bz 1 2 2 1 –s2 s1 ( Q2 ) ( Q2 ) ( Q2 ) x y z Tx Ty Tz

(53-9)

Das Ergebnis liefert die (nicht normalisierten) T und B-Vektoren für das Dreieck, dessen Eckpunkte P0, P1 und P2 sind. Um die Tangentenvektoren für einen einzelnen Scheitelpunkt zu berechnen, werden die Tangenten für alle Dreiecke gemittelt, die diesen Scheitelpunkt gemeinsam haben. Dies erfolgt in ähnlicher Weise wie bei der Berechnung der Scheitelpunktnormalen. Für den Fall, dass benachbarte Dreiecke eine diskontinuierliche Texturabbildung haben, werden Scheitelpunkte entlang der Grenze im Allgemeinen bereits dupliziert, da sie ohnehin unterschiedliche Abbildungskoordinaten haben. Aus derartigen Dreiecken werden keine Tangenten ermittelt, da das Ergebnis die Ausrichtung der Normal-Map für eines der Dreiecke nicht genau wiedergeben würde.

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

829

Sobald die Normalvektoren N und die Tangentenvektoren T und B für einen Scheitelpunkt berechnet wurden, können diese mithilfe der Matrix vom Tangentenraum in den Objektraum transformiert werden: Tx Bx Nx Ty By Ny Tz Bz Nz

(53-10)

Um in die entgegengesetzte Richtung zu transformieren (vom Objektraum in den Tangentialraum – welches notwendig ist, um die Lichtrichtung mit einzubeziehen), kann die Matrix einfach umgekehrt werden. Es ist nicht notwendigerweise wahr, dass die Tangentenvektoren senkrecht zueinander oder zum Normalvektor stehen müssen, so dass die Inverse dieser Matrix im Allgemeinen nicht gleich ihrer Transponierung ist. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die drei Vektoren zumindest annähernd orthogonal sind, sodass die Verwendung des Gram-Schmidt-Algorithmus19) zur Orthogonalisierung keine inakzeptablen Verzerrungen verursachen sollte. Mit diesem Verfahren werden neue (noch nicht normierte) Tangentenvektoren T' und B' durchgegeben: T ' = T – ( N ⋅ T )N

(53-11)

B' = B – ( N ⋅ B )N – ( T ' ⋅ B ) T ' ⁄ T ' 2

(53-12)

Wenn diese Vektoren normalisiert und als Tangens und Bitangens für einen Scheitelpunkt gespeichert werden, kann diese Matrix verwendet werden, um die Richtung des Lichts vom Objektraum in einen tangentialen Raum umzuwandeln. Wenn man das Skalarprodukt der transformierten Lichtrichtung mit einer Stichprobe aus der Normal-Map nimmt, erhält man den korrekten Lambertschen Streulichtwert:20) T 'x T 'y T 'z B 'x B 'y B 'z N x N y Nz

(53-13)

Es ist nicht erforderlich, ein zusätzliches Array zu speichern, das den Per-VertexBitangens enthält, da das Kreuzprodukt N × T' verwendet werden kann, um mB' zu erhalten, wobei m = ±1 die Händigkeit des Tangentenraums darstellt. Der Händigkeitswert muss pro Scheitelpunkt gespeichert werden, da der aus N × T' erhaltene Bitangens B' in die falsche Richtung zeigen kann. Der Wert von m ist gleich der Determinante der Matrix in Glg. (53-13). Es ist möglicherweise zweckmäßig, den Tangentenvektor T' pro Scheitelpunkt als vierdimensionale Einheit zu speichern, deren w-Koordinate den Wert von m enthält. Dann kann der Bitangens B' unter Verwendung der Formel berechnet werden: B ' = T 'w ( N × T ' )

(53-14)

Dabei ignoriert das Kreuzprodukt die w-Koordinate. Dies funktioniert gut für Vertex19) 20)

Vgl. Björck et al., S. 176ff. Vgl. Ronen et al., S. 228ff.

830

Teil H – Digitalisierung

Shader, da kein zusätzliches Array angegeben werden muss, da die m-Werte pro Vertex enthalten sind.

53.5

3D-Rekonstruktion der Schalung

In den nächsten Abschnitten werden die vorher erläuterten Schritte anhand eines Praxisbeispiels demonstriert. Es wurde für eine Doka Framax Xlife Plus Schalung eines Betonierabschnitts eine Fotoserie erstellt und daraus ein 3D-Modell rekonstruiert.21)

53.5.1

Vorbereitung der Aufnahmen

Die Bilder wurden zwischen 12:00 und 12:30 Uhr aufgenommen. Die Sonneneinstrahlung war nicht optimal (starke Einstrahlung im Zenit), aber mit dem gewählten Zeitpunkt konnte sichergestellt werden, dass keine weiteren Störfaktoren (bewegliche Objekte wie Bauarbeiter) die Fotoaufnahme beinträchtigen. Deshalb wurde ein Zeitfenster von 30 Minuten (Mittagspause) für die Aufnahmen eingerichtet.

53.5.2

Aufnahmen auf der Baustelle

Auf der Baustelle wurden die örtlichen Gegebenheiten vom Ausführenden begutachtet und die Kameraeinstellungen auf die Umgebung abgestimmt. Im Zuge der unbedingt zu führenden Dokumentation sollten die örtlichen Gegebenheiten stets erfasst werden (Uhrzeit, Wetterverhältnisse, Störelemente etc.). Entlang eines vorher definierten Pfades wurden 110 Fotos aufgenommen (Auszug aus der Fotoserie siehe Abb. 53-11). Diese Fotos sollten möglichst direkt vor Ort kontrolliert werden, da meistens keine Möglichkeit einer späteren Wiederherstellung der aufgezeichneten Szene besteht (z.B. die Wandschalung ist zu einem späteren Zeitpunkt bereits ausgeschalt). Des Weiteren wird empfohlen, dass die aufgenommenen Bilder auf einem Notebook oder direkt über den Monitor der Kamera stichprobenartig (z.B. mithilfe des Histogramms der Belichtung) überprüft werden

Abb. 53-11 Auszug aus der erfassten Fotoserie, welche als Basis für die Rekonstruktion dient

21)

Das fertige Modell kann unter folgendem Link betrachtet werden: https://shurl.zargbyte.com/bc

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

53.5.3

831

Datentransfer auf den Computer

Da die Fotos im RAW-Format aufgenommen werden, entstehen große Datenmengen (~70 MB / Foto). Aus diesem Grund ist sicherzustellen, dass für die nächsten Schritte genügend Speicherplatz zur Verfügung steht. Für die Rekonstruktion der Wandschalung (siehe Beispiel in Abb. 53-15) wurden in Summe ca. 10 GB an Speicher benötigt. Des Weiteren wird nach jedem Arbeitsschritt ein Backup der Dateien empfohlen, da im schlimmsten Fall verloren gegangene Daten nicht rekonstruierbar sind. Die Ordnerstruktur ist ausschlaggebend für ein kollaboratives Arbeiten. In Tab. 53-2 ist eine Möglichkeit für eine übersichtliche Ordnerstruktur dargestellt. /IG 1U

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Tab. 53-2

Beispiel für eine systematische Ordnerstruktur

Je nach Arbeitsweise kann eine andere Struktur angelegt werden. Generell sollte darauf abgezielt werden, dass jeder im Workflow beschriebene Schritt befolgt wird und somit ein systematischer Pfad gewährleistet ist.

53.5.4

Datenverarbeitung

Als Rekonstruktionssoftware wurde bei der Datenverarbeitung Reality Capture verwendet. Bevor mit der Rekonstruktion begonnen werden kann, müssen die Bilder miteinander ausgerichtet werden. Diese Ausrichtung ist bei jedem Import neuer Bilder erforderlich.

Abb. 53-12 Ermittlung der Kamerapositionen (3D-Weltkoordinaten)

832

Teil H – Digitalisierung

Nach der Ausrichtung (siehe Abb. 53-12) werden die markanten Bildmerkmale als einzelne Punkte in der 3D-Welt dargestellt. Da auf den Fotos mehrere Merkmale enthalten sind (nicht nur die Schalung), müssen alle nicht relevanten Punkte gefiltert und gelöscht werden. Dies erfolgt durch manuelles Markieren und Löschen. Die gefilterte Punktwolke wird zunächst trianguliert, um ein Netz zu erzeugen. Um die Rekonstruktion zu testen, wird empfohlen zuerst ein Modell mit einem reduzierten Detaillierungsgrad zu generieren, da die Rekonstruktion mit hoher Detaillierung sehr zeitaufwendig ist.

Abb. 53-13 3D-Rekonstruktion der Schalung ohne Farbinformationen

Sind noch Fehler (z.B. Lücken, Fragmente, unerwünschte Elemente im Objekt) vorhanden, sollten diese behoben werden, bevor ein hochdetailliertes Modell erzeugt wird (siehe Abb. 53-13).

Abb. 53-14 3D-Rekonstruktion der Schalung mit Farbinformationen

Wenn das Ergebnis zufriedenstellend ist, kann damit begonnen werden, die Farbinformationen aus den Bildern auf das Modell zu übertragen (siehe Abb. 53-14).

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

53.5.5

833

Ergebnis der 3D-Rekonstruktion

Anhand der dargestellten Prozesse wurden Bilder aufgenommen und mittels einer Software in ein 3D-Modell umgewandelt. In Abb. 53-15 ist beispielhaft eine Ansicht des erzeugten 3D-Modells dargestellt. Im Programm kann das erzeugte Modell aus verschiedensten Perspektiven betrachtet werden. Durch das Zoomen kann eine Mikro- oder Makrobild erzeugt werden.

Abb. 53-15 3D-Modell der rekonstruierten Schalung für die IST-Situation (die Schalung stellt einen Zwischenzustand dar!)

53.6

Einfluss der Netzdichte auf die Rekonstruktionsqualität

Interessant ist in weiterer Folge der Zusammenhang zwischen gewählter Netzdichte und der damit erzeugten Modellqualität. Zur Veranschaulichung des Zusammenhangs wurden folgende Netzdichten gewählt (von links nach rechts betrachtet): • 20.000 Polygone • 100.000 Polygone • 1.000.000 Polygone

834

Teil H – Digitalisierung

Für die Praxis relevant ist die Fragestellung, welche Netzdichte ausreicht, um für Vergleichszwecke ein geeignetes 3D-Modell zu erzeugen. In Abb. 53-16 sind die Ergebnisse für die aufgenommene Wandschalung dargestellt.

Abb. 53-16 Von links nach rechts nimmt die Netzdichte zu; Von links nach rechts: 20.000, 100.000 und 1.000.000 Polygone; Oben: Auswirkungen auf die Rekonstruktion; Mitte: Auswirkungen auf das Drahtgittermodell; Unten: Auswirkungen auf die fertige 3D-Rekonstruktion

In Tabelle 53-3 sind für unterschiedliche Detaillierungsgrade die damit erzeugte Anzahl an Polygonen und Punkten dargestellt. Es ist auch ersichtlich, welche Qualität notwendig wäre, um das Modell in Echtzeit einsetzen zu können. Des Weiteren ist dargestellt, inwiefern eine VR/AR-Fähigkeit gegeben ist. /IG 1U

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Tab. 53-3

Modelldaten und Eignung

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

53.7

835

Aktuelle und zukünftige Trends

Nicht nur das Baugeschehen und damit verschiedene System- und Prozessabläufe werden in Zukunft zunehmend digitalisiert, sondern auch die damit erzeugten Bauteile und das gesamte Bauwerk. Durch Sensoren, die in den Bauteilen verbleiben, und jene, die in den Betriebsmitteln installiert sind, können zukünftig nicht nur Daten und Informationen für den Bau-, sondern auch für den Betriebsprozess erzeugt werden. Die Entwicklungen ermöglichen es, dass die Sensoren künftig immer kleiner und leistungsfähiger werden und eine längere Funktionsdauer aufweisen. Sensoren können auch miteinander kommunizieren und damit Veränderungen direkt aufzeigen und aufzeichnen. Es wird so weit gehen, dass Sensoren beispielsweise nicht mehr fix mit der Schalung verbunden, sondern über das Trennmittel auf die Schalhautoberfläche appliziert werden. Damit können beispielsweise die Steiggeschwindigkeit, die Verdichtungsintensität, die Schüttlagenhöhe, der Frischbetondruck, das Strömungsbild des Frischbetons, die Schüttlagenreihenfolge, die Frischbetontemperatur, die Betontemperaturentwicklung, der Wasser-Bindemittelgehalt (W/B-Wert) und die Temperatur an der Schalungshautoberfläche in Echtzeit gemessen werden. Die damit erzeugten Ergebnisse werden in aufbereiteter Weise auf digitalen Endgeräten wie z.B. Laptops, Tablets, AR/VR-Brillen22) und Smartphones dargestellt. Werden Daten und Informationen z.B. direkt auf eine AR-Brille übertragen, zeigt diese sofort an, in welchen Bereichen Grenzwerte nicht eingehalten werden. Die überwachende Person blickt dazu mit der AR-Brille auf die Schalung, in die Frischbeton eingebracht wird, und hat auf einen Blick alle wesentlichen Umstände der Leistungserbringung digital zur Verfügung. Damit kann sofort steuernd in den Produktionsprozess eingegriffen werden. Mit diesen zukunftsweisenden Verfahren lassen sich die Prozessqualität und damit auch die Bauteilqualität erhöhen bzw. sichern. Automatisch werden diese damit erzeugten Daten in Kennzahlen umgewandelt, mit den notwendigen Informationen ausgestattet und anschließend den Bauteilen im BIM-Modell zugeordnet. Auch für die Arbeitssicherheit ergeben sich dadurch große Vorteile. Blickt man mit der AR-Brille auf eine eingeschalte Wand, wird der Vergleich zwischen dem Geplanten und dem Hergestellten offensichtlich. Automatisch wird z.B. angezeigt, ob im IST-Zustand ein Element in der Schalung fehlt. Dadurch kann sofort in den Produktionsprozess eingegriffen und Unfälle vermieden werden. Durch die Kombination von AR und Eye-Tracking Technologien erhält man auch die Möglichkeit, Prozesse der menschlichen Aufmerksamkeit mit einfließen zu lassen. Diese interaktive Begegnung menschlicher Kompetenz mit dem Bauprozess begünstigt weitere Optimierungen und ergänzt die Digitalisierung um wertvolle Aspekte handelnder Personen. Die Eye-Tracking Technologie ist eine neuartige und aufstrebende Methode zur Messung und Vorhersage der aktuellen Situation in den jeweiligen Prozessen23) und besitzt das Potenzial, aktuelle Praktiken zur Messung des Situationsbewusstseins von Arbeitskräften zu transformieren. Dies beruht auf der Annahme, dass Augenbewegungen anzeigen, wohin die Aufmerksamkeit einer Arbeitskraft gerichtet ist. Das Verfolgen solcher Bewegungen bietet eine praktische Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der Arbeitskraft zu prüfen und das Verständnis für Gefahren aufzuzeigen (auf die Einhaltung der Persönlichkeitsrechte der Menschen ist jedenfalls zu achten!). Um das Potenzial der Digitalisierung voll ausschöpfen zu können, ist jedoch ein fundiertes und umfassendes Verständnis des Produktionssystems mit den inneren und äußeren 22) (AR = Augmented Reality; VR = Virtual Reality) 23)

Vgl. Dini et al., S. 4354ff.

836

Teil H – Digitalisierung

Produktionsbedingungen sowie den darin ablaufenden Prozessen unbedingt erforderlich! Der Baubetrieb wird in Zukunft immer mehr von der Digitalisierung geprägt sein. Das darin liegende Potenzial sollte auch dazu eingesetzt werden, genauere Daten und Informationen für die Kalkulationen und Simulationen zukünftiger Projekte zu erhalten, damit Chancen besser genutzt und Risiken minimiert werden können. Für laufende Projekte soll die Erhebung von Echtzeitdaten und -informationen dazu beitragen, den Baubetrieb zeitnah besser kontrollieren und steuern zu können. Letztendlich kann durch die Digitalisierung auch die Arbeitssicherheit für die Menschen dahingehend gesteigert werden, dass beispielsweise mittels Mixed Reality – z.B. anhand des Vergleichs zwischen dem 3DModell aus der Planung und dem aufgebauten Gerüst – Gefährdungspotenziale aufgezeigt und sofort behoben werden können. Die Gesundheit der Menschen auf den Baustellen wird das sehr positiv beeinflussen, was auch zu einem großen volkswirtschaftlichen Nutzen führt. Mit der Digitalisierung wird zukünftig auch die Einhaltung der Projektziele besser kontrollierbar, steuerbar und damit prognostizierbar. Dies setzt aber voraus, dass vorher die richtigen Filter – bezogen auf die zu erzeugenden Daten und Informationen – definiert und in das Digitalisierungssystem implementiert wurden. Die damit systemisch erzeugten Daten, kombiniert mit kontextbezogenen, aus der Praxis stammenden Informationen, führen im Rahmen eines funktionierenden Wissensmanagements in eine noch effizientere und effektivere Transformation von Wissen in Nutzen – Nutzen für vergangene, gegenwärtige und besonders zukünftige Projekte. Falsche Bauzeitvorgaben und in weiterer Folge Bauzeitüberschreitungen können damit weiter reduziert werden, wodurch sich auch die Wertschöpfung und die Zufriedenheit aller Projektbeteiligten, sowie insgesamt die volkswirtschaftliche Produktivität steigern lässt. Ohne Verständnis und Wissen über die Prozesse, die das Produktionssystem beeinflussen, und deren Interdependenzen wird kein wesentlicher Nutzen aus der Digitalisierung zu erwarten sein. Deshalb müssen das Vermitteln und das gedankliche Vernetzen der essenziellen Grundlagenkenntnisse des Baubetriebs und der Bauwirtschaft ständig gefordert, vorangetrieben und gefördert werden. Es besteht noch erhebliches Entwicklungspotenzial hinsichtlich der Aufnahmetechnik, damit Störeinflüsse wie Reflexionen, Lichtverhältnisse und Niederschlag weitgehend reduziert und vielleicht sogar zukünftig vollkommen eliminiert werden können. Weiters sollte die Anwendung von Panoramaaufnahmen für die Rekonstruktionen vertieft werden. Optimalerweise werden zukünftig die Bilder sofort für die 3D-Rekonstruktion verarbeitet. Dies ermöglicht die Entstehung eines 3D-Modells in Echtzeit, wodurch – wiederum in Echtzeit – sofort vor Gefahren gewarnt werden kann. Diese Entwicklung würde einem Idealzustand nahekommen. Darüber hinaus könnte dies noch übertroffen werden, wenn darauf basierend noch Prognosen und Trendvorhersagen realisiert werden könnten. Ein weiterer Entwicklungsschritt für die Zukunft liegt auch darin, dass Elemente der ‚gamification‘ (‚Spielifizierung‘) für den Baubetrieb genutzt werden können. Beispielsweise werden die Menschen auf den Baustellen motiviert, spielerisch Verbesserungsvorschläge für die Kombination der Produktionsfaktoren zu entwickeln.

53 Digitalisierung im Baubetrieb – Einsatz der Photogrammetrie zur 3D-Rekonstruktion

53.8

837

Zusammenfassung

Die Digitalisierung findet mehr und mehr Einzug in das Planen, Bauen und Betreiben von Bauwerken. Idealerweise werden Daten erzeugt, gefiltert, in brauchbare Kennzahlen umgewandelt und mit kontextbezogenen Informationen verknüpft sowie stets wiederauffindbar, optimal kommunizierbar und übertragbar gespeichert. Dadurch wird der Grad der Subjektivität weiter reduziert und in manchen Bereichen gänzlich ausgeschaltet. Für den Baubetrieb ist es wichtig, möglichst Echtzeitdaten und Echtzeitinformationen zu erzeugen, die in weiterer Folge in 2D- oder 3D-Bilder umgewandelt und für die Kennzahlenerzeugung genutzt werden. Im Beitrag wird im Speziellen auf die 3D-Rekonstruktion anhand einer Fotoserie eingegangen und dazu ein Workflow dargestellt und beschrieben. Anhand des Prozessmodells für die Modellierung wird gezeigt, wie aus Einzelfotos die 3D-Rekonstruktion einer Wandrahmenschalung erfolgte. Es handelt sich dabei um eine Stahlrahmenschalung mit größtenteils stark reflektierenden Flächen. Diese Umstände sowie weitere Umwelt- und Umfeldbedingungen beeinflussen maßgeblich die Qualität der Fotoserie. In naher Zukunft wird es möglich sein, 3D-Modelle des Baufortschritts direkt aus Fotos zu erstellen, die in regelmäßigen Abständen während des Bauens aufgenommen werden. Diese Modelle können dann verwendet werden, um automatische Erfassungen sowie Messungen und Vergleiche mit dem erwarteten Fortschritt auf der Baustelle durchzuführen. Obwohl der aktuelle Stand der Forschung derzeit noch keine vollständige Automatisierung dieses Prozesses zulässt, hat sich gezeigt, dass ein halbautomatisches System zur Überwachung des Baufortschritts durchaus implementierbar ist und viel Zeit und Mühe sparen kann. Dies führt in weiterer Folge zu einer Verbesserung der Produktivität, der Arbeitssicherheit, der Qualität, der Dokumentationsgenauigkeit, der Verringerung von Konflikten und generell zur Reduktion der Kosten sowie zur erhöhten Zufriedenheit der handelnden Menschen und der NutzerInnen der Bauwerke. Ein optimierter und systematischerer Daten- und Informationsfluss kann das Vertrauen zwischen den Beteiligten des Projektteams stärken.

53.9

Abkürzungsverzeichnis

AG

......................... Auftraggeber

AN

......................... Auftragnehmer

AR

......................... Augmented Reality

BIM

......................... Building Information Modeling

CMYK

......................... Cyan, Magenta, Yellow, Key

ISO

......................... International Organization for Standardization

REFA

......................... Reichsausschuß für Arbeitszeitermittlung

RGB

......................... Red, Green, Blue

VR

......................... Virtual Reality

838

53.10

Teil H – Digitalisierung

Literaturverzeichnis

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54

Bauprozess optimieren Digitale Services von Doka steigern die Produktivität am Bau

Stefan Pruckmayr Head of Customer Value Added Services Program Manager Digitization Doka GmbH Josef-Umdasch Platz 1 3300 Amstetten www.doka.com [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_54

840

Teil H – Digitalisierung

54.1

Abstract

Doka geht einen Schritt weiter in Sachen Produktivitätssteigerung: Neue digitale Dienstleistungen und Anwendungen rund um den Bauprozess erhöhen die Wertschöpfung auf der Baustelle.

54.2

Situationsanalyse

Die Konjunktur im Baugewerbe brummt: Der ZDB (Zentralverband des Deutschen Baugewerbes) geht für das Jahr 2019 von einem nominalen Umsatzplus von sechs Prozent1) im Bauhauptgewerbe aus. Indessen attestiert eine McKinsey-Studie2) der deutschen Bauwirtschaft langfristig stagnierende Produktivität: Während die Gesamtwirtschaft seit 1995 eine jährliche Produktivitätssteigerung von 1,3 % verzeichnen kann, wird die Bauindustrie jährlich nur um etwa 0,3 % produktiver. Hinzu kommt der relativ hohe Anteil nicht wertschöpfender Arbeiten im Vergleich zu anderen fertigenden Industrien: Eine 2016 veröffentlichte Erhebung der Hochschule Augsburg3) zur Tätigkeit von Polieren ergab beispielsweise einen Anteil von durchschnittlich 16,4 % an Arbeitszeit, der allein für Logistik, Klärungstelefonate und Dokumentationsaufgaben verwendet wurde. Andere Studien (Construction Industry Institute4)) gehen für den gesamten Bauprozess sogar von bis zu 57 % nicht wertschöpfenden Tätigkeiten aus. Wie kann in diesem Zusammenhang ein Schalungshersteller unterstützen und seinen Beitrag zu effizienterem Bauen leisten? Keine schwere Frage für Doka: Überall dort, wo unausgeschöpfte Potenziale schlummern. Doka hat sich zum Ziel gesetzt, Bauunternehmen bei der Umsetzung von Lean Construction voranzubringen – nicht nur in der Planungsphase, sondern auch bei der Baumaßnahme vor Ort. Denn eine Standardisierung auf Taktebene, die von strukturierten Informationen und Arbeitsprozessen getragen wird, birgt das Potenzial, die Produktivität enorm zu steigern. Die Frage nach „Digitalisierung am Bau oder der Zukunft des Bauens“ ist untrennbar mit der Frage „Wie können wir unsere Kunden unterstützen, noch schneller und wirtschaftlicher zu bauen?“ verbunden. Doka beschäftigt sich damit intensiv und setzt mit „upbeat construction – digital services for higher productivity“ (siehe Abb. 54-1) einen Schwerpunkt auf digitale Lösungen, die auf eine Optimierung des Baustellenablaufs abzielt und somit einen wesentlichen Beitrag zur Produktivitätssteigerung auf der Baustelle leistet. Das digitale Serviceangebot wird dabei in drei Bereichen – Smarte Baustelle, Smarte Assistenten und Smarte Planung – gegliedert. Dabei stehen die Schaffung von Mehrwert für die Kunden und die Optimierung des gesamtheitlichen Bauprozesses – von der Planungsphase über Baumaßnahmen vor Ort bis zur Analyse der eigenen Performance – im Fokus.

1) 2) 3) 4)

Vgl. https://www.zdb.de/zdb-cms.nsf/id/baumarkt-2019-weiter-auf-stabilem-wachstumskurs-de?open&ccm= /. Datum des Zugriffs: 29.05.2019 Vgl. McKinsey-Studie (2017), S. 1 Vgl. Fleck/Krupp (2016) Vgl. Aziz/Hafez (2013), S. 679ff.

54 Bauprozess optimieren

Abb. 54-1

54.3

841

Firmenlogo Doka und Schriftzug von upbeat construction

Die Baustelle wird smart

Doka bietet mit der Plattform Contakt eine smarte Methode zur Produktivitätssteigerung auf der Baustelle. Das System erlaubt durch die Kombination aus Software und Sensorik Planung, Monitoring und Beschleunigung des Baufortschritts.

54.3.1

Software und Sensorik für produktivere Bauprozesse

Wie kann man in der Planung und in der Bauausführung sicherstellen, dass man über die produktivste Taktplanung, Teameinteilung und Materialdisposition verfügt? Wie darüber hinaus noch sicherstellen, dass die besten Varianten auf den Baustellen systematisch erkannt und allen im Unternehmen beim Bau ähnlicher Projekte zur Verfügung gestellt werden? Die sensorgestützte Softwarelösung Doka Contakt (siehe Abb. 54-2) unterstützt direkt bei der Ausführung auf der Baustelle. Mit ihr können Poliere und BauleiterInnen auf Taktebene Material, Betriebsmittel sowie Personal planen, einteilen, vergleichen und daraus wertvolle Erkenntnisse ziehen. Lieferanten für alle zu erfassenden Ist-Daten sind eine Sensorikeinheit, die an der Schalung befestigt wird und die BauarbeiterInnen. Die Sensorikeinheit erkennt genau, welche Arbeitsschritte bereits durchgeführt worden sind und gleicht diese in Echtzeit mit der geplanten Taktzeit ab. Sie kommuniziert selbstständig mit der Software-Plattform, auf der alle Teams spielerisch einfach und deutlich produktiver arbeiten. Die Teams profitieren unter anderem von automatischen Fortschrittsberichten oder frühzeitigem Erkennen von Abweichungen.

842

Teil H – Digitalisierung

Abb. 54-2

54.3.1.1

Plattform Doka Contakt5)

Echtzeit-Monitor für den Baufortschritt

Jedes Gebäude ist einzigartig, aber die Arbeitsabläufe bei der Ausführung einer Wand oder Decke in Ortbeton sind immer gleich. Genau dies ist im System hinterlegt und wird von der Sensorik automatisch erkannt. Die Schalung dient dabei als Trägermedium. Alle Vorgänge auf einer Baustelle sind in Doka Contakt planbar, in Echtzeit überwachbar und werden automatisch dokumentiert. Bei Planabweichungen, beispielsweise im Taktfortschritt, wird der Polier informiert und kann entsprechende Maßnahmen setzen. Das bewährte Concremote-System (siehe Abb. 54-3) zur Messung und Optimierung der Betonperformance ist vollständig integriert. Ist die nötige Betonfestigkeit erreicht, erhält der Polier eine Meldung, dass ausgeschalt werden kann.

5)

Vgl. Doka GmbH

54 Bauprozess optimieren

Abb. 54-3

843

Betonreifemessung mit Concremote6)

Neben einem SOLL-IST-Vergleich in Echtzeit eröffnet Doka Contakt darüber hinaus die Möglichkeit, Felddaten zum tatsächlichen Baufortschritt in Kombination mit Informationen zu den einzelnen Baustellenteams zu sammeln. Ein hoher Mehrwert für Bauunternehmen entsteht durch den kontinuierlichen Einsatz: BauleiterInnen können sowohl das Material im Blick behalten als auch auf Teamebene, einschließlich möglicher Subunternehmen, Rückschlüsse auf die Leistung ziehen.

54.3.1.2

Datenbasierte Arbeitsvorbereitung und gezielte Angebotslegung

So lassen sich unter anderem Aussagen darüber treffen, unter welchen speziellen Bedingungen welches Team welche Taktzeiten erzielen kann. Auch notwendige Schulungsmaßnahmen lassen sich ableiten. Letztlich bedeutet dies eine bessere Entscheidungsgrundlage für die Arbeitsvorbereitung. Durch die Contakt-Methode arbeitet das gesamte Team nach Lean- sowie Location Based Planning-Methoden. Auch für die Angebotsphase ergibt sich mehr Vorhersehbarkeit: Statt mit Mittelwerten zu arbeiten, können Bauunternehmen in Zukunft auf Basis eigener Performance-Daten gezieltere Angebote erstellen. Das verbessert die Wettbewerbsfähigkeit und KalkulationsTrefferrate. Für die Zukunft plant Doka außerdem eine Verbindung zwischen Doka Contakt und vielen weiteren Services, wie zum Beispiel dem Kundenportal myDoka, sodass Materialverfügbarkeit und Materialeinsatz ohne Informationsverlust über eine einzige Plattform gesteuert werden können.

6)

Vgl. Doka GmbH

844

54.4

Teil H – Digitalisierung

Kollaborative Schalungsplanung

Immer aktuelle, einheitliche Schalungsinformationen, verbessertes Materialmanagement, 3D-Visualisierungen, 4D-Simulationen und Modellanalyse: Die Liste der Vorteile einer in den BIM-Prozess (Building Information Modeling) integrierten Schalungsplanung könnte noch weiter fortgesetzt werden. Doka bietet zahlreiche, passende Services, die einen Mehrwert für Bauunternehmen schaffen. Neben den bisher beschriebenen Lösungen für die Baustelle spielt bei Doka natürlich auch das Planen und Bauen gemäß BIM eine wichtige Rolle bei der Digitalisierung. Die kollaborative Methodik für den automatisierten Daten- und Informationsaustausch über die Gewerke hinweg wird mittlerweile als Standard der Zukunft angesehen. Der Grundansatz zielt darauf ab, Bauwerksdaten vom Entwurf, der Planung, Ausführung und Nutzung in einem digitalen Modell abzubilden, zu bearbeiten und zu erfassen. Signifikante Zeitersparnisse und höhere Planungssicherheit gehören zu den größten Vorteilen der Methodik, die momentan jedoch meist nur in der Planungs- und Kalkulationsphase zum Einsatz kommt – häufig mit einer Lücke hin zur Ausführung. So sind mitunter schon umfangreiche digitale Planungsdaten vorhanden, die dann durch einen Bruch im Informationsfluss wieder zu zweidimensionalen Plänen reduziert werden. Hier gilt es für Doka den Kunden die richtigen Lösungen dafür anzubieten und in der Branche die Möglichkeiten bzw. Vorteile von digitalen Services zu verdeutlichen.

54.4.1

VDC und BIM mit Doka

Als Schalungsanbieter arbeitet Doka mit daran, diese Lücke zu schließen und bietet zahlreiche digitale, mit BIM verbundene Dienstleistungen an. Ziel ist es, dass Baufirmen die Schalungsplanung ohne Datenverluste in den BIM-Prozess einfließen lassen können. VDC (Virtual Design and Construction) ist die von Doka angewandte Methodik zur Durchführung von Projekten, bei denen BIM zum Einsatz kommt. VDC umfasst Engineering Modeling, Visualisierungsmethoden sowie modellbasierte Analyse. Zu Schalungsplanung arbeitet Doka dabei mit Autodesk Revit sowie Tekla Software, da diese unter anderem in Europa und den USA sehr häufig zur Erstellung von BIM-fähigen Bauwerksmodellen genutzt werden. Bauunternehmen können dadurch die von Doka gelieferte Schalungsplanung ohne Datenverluste per Verlinkung in das eigene Modell übernehmen. Ihnen steht es aber auch frei, die Schalungsplanung selbst zu übernehmen: Doka bietet native, kostenlose Bibliotheken mit künftig allen 4.500 Schalungskomponenten in 3D sowohl für Revit und Tekla, als auch für die eigene Software Tipos sowie den AutoCAD-Aufsatz DokaCAD an. In DokaCAD sind zudem über 40.000 erprobte Musterlösungen für eine schnelle und wirtschaftliche Planung hinterlegt. Somit kann Doka Bauunternehmen auf verschiedenen Plattformen betreuen. Mit DokaCAD for Revit und der damit verbundenen automatischen Schalungsplanung im BIM-Kontext wurde ein Meilenstein gesetzt, welcher auf großes Kundeninteresse und zahlreiche Anfragen gestoßen ist. Die Veröffentlichung einer kostenfreien Kundenversion ist für Anfang 2020 vorgesehen. Als Austauschplattform steht die Lösung Share Point zur Verfügung. Doka nutzt aber auch, je nach Projekt und Kundenwunsch, andere Kollaborationsplattformen.

54 Bauprozess optimieren

54.4.1.1

845

Vorteile durchgängiger digitaler Schalungsplanung

Ein erheblicher Mehrwert der durchgängigen 3D-Planung für Bauunternehmen sind auch 3D-Visualisierungen in größerem Umfang sowie 4D-Simulationen. So kann Doka bei Bedarf komplexe Schalungssequenzen visualisieren und beispielsweise den zeitlichen Ablauf oder die Machbarkeit von Schalungsaufgaben veranschaulichen. Auf Basis von Zeitwerten aus Referenzbaustellen lassen sich auch 4D-Simulationen mit einer Zeitachse als zusätzliche Dimension erstellen. Damit sind Unternehmen zum Beispiel in der Lage, den Schalungsmaterialfluss und die Schalungsauslastung bei zeitkritischen Vorgängen wie Ausschalen und Umsetzten zu optimieren. Darüber hinaus können die 3D-Planungsdaten mit der AR-/VR-App direkt für die Baustelle genutzt werden. VDC / BIM mit Doka (siehe Abb. 54-4) – die Vorteile im Überblick: • gesteigerte Produktivität auf der Baustelle durch effiziente Schalungsauslastung und Logistik • verlässlichere Planung dank BIM-gestütztem Risikomanagement und Kollisionskontrolle • reduzierter Aufwand bei der Ausführungsplanung durch direkten Export aus BIMModellen • naht- und reibungslose Zusammenarbeit dank umfassender Kompatibilität der BIMPlattform • automatische Schalungsplanung im BIM Umfeld durch DokaCAD for Revit

Abb. 54-4 7)

VDC/BIM7)

Vgl. Doka GmbH

846

54.5

Teil H – Digitalisierung

Aktuelle Trends

Damit der Kunde künftig nicht nur das Mietmaterial von Doka administrieren kann, sondern auch den Eigenmaterialbestand immer im Überblick hat, bietet Doka künftig das neue Yard Management Service an. Durch die gemeinsame Verwaltung von Miet- und Eigenmaterial steht dem Kunden eine zentrale Plattform zur transparenten Darstellung und optimierten Verwaltung zur Verfügung. Neben einer Projekt-, Baustellen- und Artikelverwaltung werden umfangreiche Features zur Materialdisposition inkl. Messagecenter zur einfachen Prozessverfolgung angeboten. Durch die enge Vernetzung über die Plattform erhöht Doka die Kundenbindung und kann treffsicher zum Kunden hin agieren. Das umfasst zielgerichtete Kaufangebote bzw. Services wie Beratungsleistungen zur Materialoptimierung oder die effiziente Reinigung und Sanierung des Eigenmaterials.

54.6

Zusammenfassung

Der Takt bestimmt den Fortschritt und die Geschwindigkeit am Bau. Er ist Einheit und Treiber von Produktivität im Zyklus aller innovativen Bauprojekte. Führende ConsultingUnternehmen sind sich einig und attestieren Bauvorhaben mit koordinierter Taktplanung bis zu 15 % höhere Produktivität. Genau hier gilt es anzusetzen, um die Effizienz und in Folge auch die Margen unserer Branche nachhaltig zu steigern. Nur wer heute offen für Innovationen der Digitalisierung ist und diese fördert, wird morgen erfolgreich sein. Im gesamten Bauprozess gibt es im Wesentlichen vier Bereiche über die Schalung hinaus, an denen Doka mitwirkt. Da ist einmal der Konstruktionsprozess, also die Planung. Dann ist es der Bereich Logistik, der gesamte Materialfluss. Des Weiteren der Bereich der technischen Hilfsmittel. Und dann haben wir natürlich noch das Thema Beton. Zusätzlich sind noch die Vorbereitung, Taktplanung, das Live-Monitoring und die Analyse im Prozess zu beachten. Doka hat in diesen Bereichen ein breites Spektrum von Lösungen entwickelt, die zum Teil sehr unterschiedliche Ansätze verfolgen. Die einzelnen Angebote wirken wie einzelne Teile in einem Puzzle, ergänzen sich immer mehr und werden zu einem attraktiven Dienstleistungsangebot, welches sich im gesamten Bauprozess auszahlt. All diese einzelnen Bestandteile fügen sich zu einer Prozesskette, die dazu beiträgt, dass Kunden ihre Produktivität steigern können – sei es durch weniger Administration, bessere Prozesse oder durch Erleichterung von manuellen Arbeiten, die automatisiert werden und so zur Fehlervermeidung beitragen. Mit upbeat construction möchte Doka den Bau nach vorne bringen und Taktgeber für produktiveres Bauen sein.

54.7

Abkürzungsverzeichnis

AR

......................... Augmented Reality

BIM

......................... Building Information Modeling

VDC

......................... Virtual Design and Construction

VR

......................... Virtual Reality

ZDB

......................... Zentralverband des Deutschen Baugewerbes

54 Bauprozess optimieren

54.8

847

Literaturverzeichnis

Aziz, Remon Fayek; Hafez, Sherif Mohamed (2013), Applying lean thinking in construction and performance improvement. In: Alexandria Engineering Journal, Volume 52, Issue 4. Seite 679-695. Faculty of Engineering, Alexandria University. (ISSN 1110-0168) – Online unter: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S111001681300046X#b0190. Datum des Zugriffs: 17.06.2019 Fleck, Viktoria; Krupp, Michael (2016). Der Polier – Taktgeber der Bau Supply Chain – Tätigkeitsfelder in Theorie und Praxis – Entwicklungsperspektiven – 4. Ausgabe. Augsburg. HSAOps, Forschungsruppe Optimierung und Operations Management, Hochschule Augsburg, Fakultät für Wirtschaftsrecht. (ISBN 978-3-939788-15-7) https://www.mckinsey.com/de/news/presse/mckinsey-studie-produktivitat-derbaubranche-in-deutschland-stagniert /. Datum des Zugriffs: 29.05.2019 https://www.mckinsey.com/de/~/media/McKinsey/Locations/Europe%20and%20Middle %20East/Deutschland/News/Presse/2017/2017-02-28/170228_mgi_construction.ashx/. Datum des Zugriffs: 30.05.2019 https://www.mckinsey.com/de/~/media/McKinsey/Locations/Europe%20and%20Middle %20East/Deutschland/News/Presse/2017/2017-02-28/170228_pm_mgi_baubranche.ashx. Datum des Zugriffs: 17.06.2019 https://www.zdb.de/zdb-cms.nsf/id/baumarkt-2019-weiter-auf-stabilem-wachstumskursde?open&ccm= /. Datum des Zugriffs: 29.05.2019

55

Gemeinsam mit der Crowd die Gebäude und Städte von morgen gestalten!

Dr. Conny Weber Research Director isn – innovation service network GmbH Grabenstraße 231 8045 Graz www.innovation.at [email protected] Dr. Dipl.-Ing. Reinhard Willfort Geschäftsführer isn – innovation service network GmbH Grabenstraße 231 8045 Graz www.innovation.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_55

850

Teil H – Digitalisierung

55.1

Abstract

Open Innovation und Crowdsourcing ermöglichen es eine Vielzahl von Menschen, die sogenannte „Crowd“ in die Gestaltung und Entwicklung urbaner Lebensräume miteinzubeziehen. Davon profitieren nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, die sich aktiv an der Gestaltung Ihrer Wohnhäuser, Bezirke oder Stadt beteiligen können – sondern auch die Verwaltung und die lokale Politik, weil Fehlplanungen verhindert und innovative Impulse geschaffen werden.

55.2

Situationsanalyse

In den letzten Jahren konnte beobachtet werden, wie die Phänomene Crowdsourcing und Crowdfunding als besondere Ausprägung davon, in verschiedenen Branchen und Geschäftsbereichen eingesetzt, zunächst kreative Zerstörung verursachen und schließlich Geschäftsmodellinnovationen hervorbringen.1) Crowdsourcing und Crowdfunding ermöglichen neue Dimensionen des Dienstleistungsund Produktlebenszyklus-Managements von Innovationen und liefern enorme Potenziale für Startups, kleine und mittlere Unternehmen, aber auch für große Unternehmen und die Wissenschaft, über alle Phasen des Innovationsprozesses hinweg. Ausgelöst durch die technologischen Möglichkeiten, die durch das Internet in den letzten Jahren ermöglicht wurden, und die damit einhergehenden ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen, haben sich Innovationsprozesse drastisch geändert. Innovation findet immer weniger isoliert in einzelnen wissenschaftlichen Institutionen oder den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen von Unternehmen statt. Open Science, Open Innovation und alternative Finanzierung durch Crowdfunding sind Schlagwörter, die derzeit Innovationsprozesse in Organisationen beeinflussen. Haben sich diese neuen Phänomene zunächst in der Wirtschaft breit gemacht, finden sich nun immer mehr Anwendungsszenarien im Bereich der Bauwirtschaft. So werden Bürgerinnen und Bürger bei Fragen der Stadtentwicklung über moderne Online-Technologien miteinbezogen, Smart Cities Konzepte stellen diese sogar in den Mittelpunkt um die nutzerzentrierte Perspektive zu gewährleisten. Und Immobilien Crowdinvesting, bei dem Immobilienprojekte gegen eine Rendite über Onlineplattformen von privaten Anlegern Geld einsammeln, hat sich im deutschsprachigen Raum längst gegenüber der Start-up Finanzierung durchgesetzt. Durch internetbasierte Plattformen können Menschen kooperieren und Informationen, Wissen, Zeit oder Geld können einer breiten Masse zur Verfügung gestellt werden. • Durch Crowdsourcing ergeben sich neue, zeit- und ortsunabhängige Formen der Arbeitsorganisation und innovative Ideen können von klugen Köpfen oder Communities gesammelt werden. Neue Technologien ermöglichen die Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in den Innovationsprozess und ermöglichen eine Individualisierung von Produkten und Dienstleistungen – oder eben dem urbanen Umfeld. • Crowdfunding basiert auf einem Effekt, der in der Finanzwelt längst verloren gegangen ist: Der direkte, emotionale und persönlich motivierte Leistungstransfer in vertrauensvollen Partnerschaften. Damit liefert Crowdfunding in den unterschiedlichen 1)

Vgl. Weber/Willfort (2016), S. 51

55 Gemeinsam mit der Crowd die Gebäude und Städte von morgen gestalten!

851

Arten – von Spenden- über Nachrangdarlehen bis zu realen Beteiligungsmodellen ein ergänzendes Instrument der alternativen Finanzierung.2)

55.3

Hintergründe zur Entwicklung der Phänomene Crowdsourcing und Crowdfunding

Die Einsatzmöglichkeiten für neue Phänomene wie Crowdsourcing und Crowdfunding sind vielfältig. Eine Voraussetzung für deren Einsatz ist das Internet. Unter dem Schlagwort Web 2.0, das zunehmend vom Begriff „Soziale Medien“ abgelöst wird, haben sich Mechanismen entwickelt, die eine einzigartige Umgebung zur Kommunikation und Zusammenarbeit, losgelöst von Zeit und Ort, geschaffen haben. Der innovative Aspekt dabei ist, dass Nutzer Inhalte nicht nur konsumieren, sondern als sogenannte „Prosumer“ selbst Inhalte und Information erstellen und miteinander vernetzten können. Je mehr Menschen sich an der Erstellung, Vernetzung und Neu-Zusammenstellung von Informationen beteiligen, desto wertvoller werden diese. Schließlich sind diese Informationen dann das Ergebnis kollektiver Intelligenz, die ein Grundprinzip von Crowdsourcing und Crowdfunding darstellt. Jedoch basieren diese Phänomene nicht ausschließlich auf der technologischen Innovation „Internet“, sondern gehen auch einher mit einem Wandel ökonomischer und gesellschaftlicher Aspekte.3)

55.3.1

Was ist Open Innovation?

Der Begriff wurde 2003 von Henry Chesbrough4) geprägt und beschreibt die Einbindung des Wissens einer großen Masse von Menschen, der sogenannten „Crowd“, in den Innovationsprozess. Bezogen auf das Ideen- und Innovationsmanagement, geht es vor allem darum die Ideen einer „Crowd“ als Innovationsquelle zu nutzen. Durch die Einbeziehung von externen Ideen in einem sehr frühen Stadium eines Innovationsprozesses kann das Innovationsrisiko stark gesenkt werden. Das Wissen der Masse liefert in dieser frühen Phase interessante Erkenntnisse über Stimmungsbilder und über die Resonanzfähigkeit einer Idee und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem noch kein Wissen materialisiert wurde und damit wenig Kosten entstanden sind. In der Bauwirtschaft wird es damit in Zukunft möglich sein die Nutzerwünsche und erforderlichen Service zu deren Erfüllung, gemeinsam mit der Zielgruppe zu erarbeiten und abzustimmen bevor eine erste Maschine auf der Baustelle zum Einsatz kommt.

55.3.1.1

...und Crowdsourcing?

Unter dem Begriff „Co-Creation“ haben Prahalad/Ramaswamy5) die Entwicklung und Veränderung des Kundenverhaltens durch Phänomene wie Globalisierung und Internet festgehalten. Ausgehend von dieser Bezeichnung, wurde im Jahr 2006 schließlich der Begriff Crowdsourcing von dem Amerikaner Jeff Howe in seinem Artikel „The Rise of Crowd2) 3) 4) 5)

Vgl. Willfort/Mayr/Weber (2016), S. 51 Vgl. Weber/Willfort (2016), S. 53 Vgl. Chesbrough (2003) Vgl. Prahalad/Ramaswamy (2000)

852

Teil H – Digitalisierung

sourcing“6) geprägt. Howe beschreibt dabei das Phänomen, das hinter der Aktivierung von Menschenmassen mittels Internettechnologien steht und bezeichnet es als „Crowdsourcing“, das sich aus den Begriffen „Crowd“ und „Outsourcing“ zusammensetzt.

„Crowdsourcing represents the act of a company or institution taking a function once performed by employees and outsourcing it to an undefined (and generally large) network of people in the form of an open call. This can take the form of peer-production (when the job is performed collaboratively), but is also often undertaken by sole individuals. The crucial prerequisite is the use of the open call format and the large network of potential laborers”7) Crowdsourcing hat sich als eine spezielle Form von Open Innovation etabliert. Crowdsourcing bezeichnet demnach das kollaborative Generieren neuer Ideen und neuen Wissens über moderne Informations- und Kommunikationstechnologien, sogenannte „Crowd-Technologien“. Bezogen auf die Gestaltung unserer urbanen Lebensräume geht es vor allem darum, Ideen einer „Crowd“ als Innovationsquelle zu nutzen. Durch die Einbeziehung von Ideen der zukünftigen Anwender oder Bewohner in einem sehr frühen Abschnitt eines Entwicklungsprozesses können lokale Behörden das Risiko von Fehlplanungen verhindern oder Akzeptanz und Wünsche der Gemeinde berücksichtigen.

55.3.1.1.1

…dann gibt es auch noch Crowdfunding?

Eine weitere Dimension des Crowdsourcing stellt das Crowdfunding dar. Bei dieser Variante werden anstatt Ideen finanzielle Beträge gesammelt. Gerade für kleinere Kommunen oder Wohngebiete eignet sich diese Variante um Maßnahmen zu realisieren, die einzig mit den Mitteln der öffentlichen Hand nicht finanzierbar wären. Moderne Plattformen ermöglichen sehr einfach die Einbindung der „Crowd“ – die Initiative muss jedoch von der Politik kommen. Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ist garantiert da sie ihr Geld in die Verbesserung der eigene Lebensqualität investieren und damit einen unmittelbaren Nutzen haben!

55.4

Einsatzgebiete – Crowdsourcing in der Stadt- und Regionalentwicklung

55.4.1

Crowdsourcing in der Städteentwicklung

Crowdsourcing in der Städteentwicklung ist an und für sich nichts Neues. Jeder von uns kennt Trampelpfade, die vorbei an den ordentlich von Architekten geplanten Wegen eine Alternative aufzeigen, die wohl die Mehrheit besser findet. Zwar gab es in den 70er Jahren bereits einige Pioniere, z.B. der Landschaftsarchitekt des Münchner Olympia Parks und Prof. der TU München Günther Grzimek. Er war vor allem bekannt für seine „Nutzerorientierung“ – um teure Fehlplanungen zu verhindern, baute er zunächst keine festen Wege in seine Grünflächen, sondern wartete erst ab, wo sich Trampelpfade durch die tägliche Nutzung entwickelten. 6) 7)

Howe (2006a) Howe (2006b)

55 Gemeinsam mit der Crowd die Gebäude und Städte von morgen gestalten!

853

Jedoch hat sich bis heute das Konzept der Bürgerbeteiligung im Bereich der urbanen Entwicklung nicht durchgesetzt. Dabei könnte doch die öffentliche Verwaltung zur Inspirations- und Lösungsfindung, einfach die „Crowd“, also die Bürgerinnen und Bürger einer Stadt oder Gemeinde befragen, ob besser ein Wohn- oder ein Gewerbegebiet gebaut werden soll oder ob das Verkehrskonzept überarbeitet werden muss. Natürlich kann man die Crowd aber auch zu allem anderen befragen: Wie soll das E-Mobility Konzept der Gemeinde aussehen? Woher wollen wir in Zukunft unsere Energie beziehen? Welche zusätzlichen Services werden benötigt? Wie kann man die Temperatur im Stadtkern oder in Gebäuden durch Bepflanzung reduzieren? Warum sollte man daher das Konzept des Crowdsourcing nicht auch auf eine ganze Nachbarschaft, Gemeinde oder sogar Stadt ausweiten?

55.4.1.1

Einbindung der Bürgerinnen und Bürger mit Co-Creation und Citizen Science

Social-Media-Werkzeuge ermöglichen es WissenschaftlerInnen, Unternehmen, Studierende oder ForschungspartnerInnen in die gemeinsame Gestaltung von Projekten einzubinden. Unter dem Motto „co-create-your-own-city“ können zum Beispiel Städte das Wissen der Bürgerinnen und Bürger zur Entwicklung neuer Infrastruktur oder Dienstleistungen nutzen. Aber auch andere Stakeholder im Bauwesen können unabhängig von Raum und Zeit gemeinsam an Ideen für neue Entwicklungsprojekte arbeiten. Crowdsourcing im Bereich der Forschung, Technologie und Innovation kann auch unter den Begriff Citizen Science fallen und ermöglicht WissenschaftlerInnen, Studierenden oder auch der interessierten Öffentlichkeit Einblicke in wissenschaftliche Prozesse oder die Möglichkeit selbst daran teilzuhaben. Dass sich leidenschaftliche Bürgerinnen und Bürger an der Forschung beteiligen ist zwar kein neues Konzept – z.B. wird seit 1900 jährlich in den USA zum Christmas Bird Count8) aufgerufen – jedoch hat Citizen Science durch digitale Medien neue Dimensionen erhalten und Bürgerinnen und Bürger können ortsunabhängig forschen, über Smartphone-Applikationen Daten erheben oder selbst Daten sichten und auswerten.

55.4.1.2

Die Bandbreite von Crowdsourcing

In den letzten Jahren sind durch zunehmende Verbreitung des Internets und Social-MediaFunktionalitäten eine Vielzahl an Crowdsourcing-Plattformen für unterschiedliche Zwecke entstanden. Forschungs-, technologie- bzw. innovationsbasierte Unternehmen sind ein zentrales Element für den Innovationsstandort Österreich. Der Einsatz von Crowdsourcing hat eine sehr große Bandbreite. Diese reicht vom Sammeln von Ideen, der Co-Creation, dem Testen und Evaluieren, hin zu Crowdsourcing als Marketingtool einzusetzen und die besten Ideen von der Crowd filtern zu lassen. Innovation entsteht meistens dann, wenn neue heterogene Aspekte aufeinander treffen. Richtige disruptive Innovationen, das heißt Innovationen, die bisherige Geschäftsmodelle, Produkte oder Dienstleistungen ablösen und damit Auslöser wirklicher wirtschaftlicher Veränderungen sind, können auch nur durch neue Kombinationen entstehen. So dachten 1850 Forscher in New York noch, dass die Stadt 1910 aufgrund des aufkommenden Kutschenverkehrs im Pferdemist versinken würde. 8)

Vgl. https://www.audubon.org/conservation/science/christmas-bird-count. Datum des Zugriffs: 02.07.2019

854

Teil H – Digitalisierung

Co-Creation bzw. Crowdsourcing ermöglicht neue Formen der Einbindung und Zusammenarbeit. Eine wichtige Voraussetzung für Crowdsourcing ist jedoch die Öffnung des Innovationsprozesses nach außen. Diese Öffnung wird auch als Open Innovation bezeichnet. Das bedeutet, dass eine Crowd (je nach Öffnung kann es sich hier um eine unternehmensinterne Crowd bzw. eine unternehmensexterne Crowd handeln) in den Wertschöpfungsprozess von Innovationen, also den Innovationsprozess, eingebunden ist. Im aktuellen Kontext in allen Bereichen des Bauwesens.

55.4.2

Crowdfunding in der Regionalentwicklung

Damit Österreich im globalen Wettbewerb mithalten kann, ist es wichtig, dass die Regionen gestärkt werden und insbesondere die vorhandene regionale Wirtschaft unterstützt und weiter ausgebaut wird. Als Beispiel wurde mehrfach die Bürgerbeteiligung bei steirischen Photovoltaikanlagen9) angeführt. Ein Motiv für private Kapitalgeber in diesen Bereich zu investieren, ist vor allem die Schaffung einer besseren regionalen Infrastruktur für mehr Lebensqualität, während die Rendite nicht so wichtig ist. Gute Ideen sind zum Beispiel das Prinzip der sogenannten Matching Funds, bei dem Regionalentwicklungsprojekte mit privatem Kapital finanziert werden und mit öffentlichen Geldern zusätzliches Kapital gehebelt wird. In diesem Szenario werden die Investments oder Spenden der Bürgerinnen und Bürger durch öffentliche Gelder z.B. verdoppelt, um ausreichend Ressourcen für die Umsetzung von Ideen zur Verfügung zu haben. Weitere Beispiele erfolgreicher regionaler Crowdfunding-Plattformen sind zum Beispiel Dresden Durchstarter10) oder Leih Deiner Stadt Geld11). Eine österreichische Plattform mit regionalem und sozialem Bezug ist zum Beispiel die Plattform Es Geht!12) der BAWAG P.S.K. Eine österreichweite Initiative wurde davor von der Erste Bank mit der Plattform „startedeinprojekt“13) ins Leben gerufen. Die beiden Banken haben sich also auch bereits frühzeitig mit Crowdfunding auseinandergesetzt.

55.5

Zusammenfassung & Ausblick

Crowdsourcing und Crowdfunding verursachen derzeit auf verschiedenen Ebenen „kreative Zerstörung“ und setzten gleichzeitig wichtige Impulse für aktuelle/zukünftige Trends des Baumanagements von Morgen. Schließlich entstehen durch innovative Ideen neue Projekte oder optimierte Abläufe in bestehenden Systemen. Durch neue Produkte oder Geschäftsmodelle werden Unternehmen gegründet, es entstehen neue Kundenleistungen und damit verbunden neue Arbeitsplätze. Crowdsourcing als neue Form der Interaktion zwischen unterschiedlichen Akteuren in einem Wissenschafts- und Wirtschaftssystem wird in den nächsten Jahren einen Trend hin zu transparenteren und demokratischeren Innovationsprozessen begünstigen. Es ist absehbar, dass damit auch die Bereitschaft der Bevölkerung zur aktiven Teilnahme an Innovationsinitiativen und deren Finanzierung steigt. 9) 10) 11) 12) 13)

Vgl. Kaufmann (2013) Vgl. https://www.dresden-durchstarter.de/home.html. Vgl. https://www.leihdeinerstadtgeld.de/. Datum des Zugriffs: 02.07.2019 Vgl. https://www.crowdfunding.at/. Datum des Zugriffs: 02.07.2019 Vgl. http://www.startedeinprojekt.at/. Datum des Zugriffs: 02.07.2019

55 Gemeinsam mit der Crowd die Gebäude und Städte von morgen gestalten!

855

Crowdfunding löst gleichzeitig zwei Probleme in der Frühphase von Innovationsvorhaben: Fehlende Sichtbarkeit und fehlende Ressourcen. Die großen Chancen von Crowdfunding werden sich vor allem für kleine und mittlere Unternehmen in den nächsten Jahren offenbaren und liegen nicht nur in der Finanzierung, sondern vielmehr in den dabei wirksamen Massenphänomenen, die zur Risikosenkung und zur schnelleren Verbreitung von Ergebnissen beitragen.

55.6

Literaturverzeichnis

Chesbrough, Henry W. (2003). Open Innovation – The New Imperative for Creating and Profiting from Technology. Boston, Massachusetts. Harvard Business School Press. (ISBN 978-0-19922-646-7) Howe, Jeff (2006a). The Rise of Crowdsourcing. In: Wired Magazine. (Online unter: http://www.wired.com/wired/archive/14.06/crowds.html. Datum des Zugriffs: 02.07.2019) Howe, Jeff (2006b). Crowdsourcing – Why the Power of the Crowd is Driving the Future of Business. Midtown Manhattan. crown business publishing. (ISBN 978-0-30739621-1) (Online unter: http://crowdsourcing.typepad.com/cs/2006/06%20/crowdsourcing_a.html. Datum des Zugriffs: 07.01.2015) Kaufmann, Josef (2013). BürgerInnenbeteiligung bei steirischen Photovoltaikanlagen. (Online unter: https://media.arbeiterkammer.at/stmk/BuergerInnenbeteiligung_bei_steirischen_Photovoltaikanlagen_.pdf. Datum des Zugriffs: 01.06.2019) Prahalad, Coimbatore Krishnarao; Ramaswamy, Venkatram (2000). Co-Opting Customer Competence. In: Harvard Business Review, Issue 1, January-February 2000. Brighton, Massachusetts. Harvard Business Publishing. (ISSN print 0017-8012) Weber, Conny; Willfort, Reinhard (2016). Crowdbasierte Innovation – von der kreativen Zerstörung zur Geschäftsmodellinnovation. In: Wirtschaftspolitischen Blätter, Ausgabe 2, 2016. Seite 347-361. Wien. Wirtschaftskammer. Willfort, Reinhard; Weber, Conny (2015). The crowdpower 2.0 concept- An integrated approach to innovation that goes beyond crowdfunding. In: Crowdfunding in Europe – State of the Art in Theory and Practice. Hrsg.: Brüntje, Dennis; Gajda, Oliver. Seite 211-221. Cham, Heidelberg, New York, Dordrecht, London. Springer International Publishing AG. (ISBN 978-3-319-18016-8) Willfort, Reinhard; Mayr, Peter; Weber, Conny (2015). Crowdfunding und Crowdsourcing – Potenzial für den österreichischen Innovationsstandort. (Online unter: https://www.rat-fte.at/files/rat-fte-pdf/Crowdfunding-Crowdsourcing-Potenzial_Endbericht.pdf. Datum des Zugriffs: 02.07.2019)

56

Die digitale Baustellendokumentation Ein Mittel zum Zweck, kein Zweck für sich...

„Nachdem wir das Ziel endgültig aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir unsere Anstrengungen.“ Mark Twain (1835 - 1910)

Dipl.-Ing. Dr. Wolfgang Wiesner

Abteilungsleiter Bauwirtschaft PORR Bau GmbH Absberggasse 47 1100 Wien www.porr.at [email protected] Dipl.-Ing. Andrea Moore Vertragsmanagerin Abteilung Bauwirtschaft PORR Bau GmbH Absberggasse 47 1100 Wien www.porr.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_56

858

56.1

Teil H – Digitalisierung

Abstract

Was ist die Aufgabenstellung der Baustellendokumentation aus dem Blickwinkel der Vertragsmanagements? Ist die Digitalsierungswelle das Allheilmittel für eine „gute“ Dokumentation? Wie lässt sich eine „gute“ Baustellendokumentation definieren? Ziehen auch wirklich alle am Projekt Beteiligten die Dokumentation betreffend an einem Strang? Sollten wir uns vielleicht wieder mehr auf das Dokumentationsziel besinnen? Diesen und anderen Fragen wird im folgenden Artikel nachgegangen. Es werden die Regelungen der deutschsprachigen Werkvertragsnormen beleuchtet, Kriterien für die Beurteilung der „Güte“ einer Baustellendokumentation vorgeschlagen und diese dann sowohl aus abstrakter Projektsicht, als auch aus Sicht der Vertragsparteien diskutiert. Abschließend werden aus der praktischen Erfahrung die Grundzüge für die verschiedensten Herangehensweisen an Projekte dargestellt.

56.2

Situationsanalyse

Die Digitalisierung der Bauabläufe ist in aller Munde. Der Themenkreis wurde und wird in zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten, Veranstaltungen und Schriftenreihen im bauwirtschaftlichen Umfeld ausführlich abgehandelt. Wir wollen an dieser Stelle jedoch keine weitere mit mehr oder weniger Enthusiasmus begleitete digitale Entwicklung anpreisen, sondern stattdessen aus der Perspektive des Vertragsmanagements kritisch analysieren, ob die Branche bei aller Begeisterung für die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung noch die wesentlichen Fragen einer geordneten Bauabwicklung im Blick hat. Viele Baubeteiligte entwickeln nämlich immer weitreichendere Vorstellungen darüber, wie quasi „alles“ dokumentiert werden kann und dies nicht nur schneller und vollumfänglicher, sondern auch „besser“ und genauer. Es werden Konzepte entwickelt, um schier endlose Datenmengen auf Vorrat anzusammeln, welche vielleicht irgendwann in der näheren oder ferneren Zukunft benötigt werden könnten. Somit scheint auch die Frage hinfällig zu werden, was eigentlich genau und vor allem zu welchem Zweck dokumentiert werden soll. Unter der Vorstellung, dass die Datengewinnung und -speicherung ohnehin „automatisch“ und ohne Aufwand abläuft, werden die Anstrengungen primär in die Entwicklung und Implementierung digitaler Helferlein investiert. Aus der Sicht des Vertragsmanagements ist es natürlich begrüßenswert, wenn z.B. 3DModelle von Bauwerken mit ressourcenhinterlegten Bauzeitplänen verknüpft werden und dadurch Leistungsabweichungen umfassend, anschaulich und verständlich dargestellt werden können. Die Verfasser sind jedoch – gestützt auf langjährige Praxiserfahrung in der Analyse und Aufbereitung komplexer Leistungsabweichungen – davon überzeugt, dass kein digitales Tool eine zielorientierte Vorgangsweise ersetzen kann. Die vorliegende Analyse beansprucht für den Spezialbereich des Vertragsmanagements in der Bauabwicklung Geltung – also jener Baustellendokumentation, welche in weiterer Folge für die vertragliche Abwicklung von Forderungen der Vertragsparteien, insbesondere aus Leistungsabweichungen, herangezogen werden soll.

56 Die digitale Baustellendokumentation

56.3

859

Was ist die Aufgabe der Baustellendokumentation im Vertragsmanagement?

Gehen wir also zunächst der Frage nach, was die Aufgabe einer Baustellendokumentation im Vertragsmanagement ist. Die einschlägigen Werkvertragsnormen in Österreich, Deutschland und der Schweiz (ÖNORM, VOB, SIA) enthalten dazu beachtenswerte Bestimmungen.1) In der ÖNORM B 2110 ist unter Punkt 6.2.7 festgelegt, was und in welcher Form zu dokumentieren ist. Zusammengefasst sind nach dieser Norm Vorkommnisse zu dokumentieren, welche die Leistung oder die Abrechnung wesentlich beeinflussen. Die Norm versteht darunter Tatsachen, Anordnungen, getroffene Maßnahmen. Weiters sind Feststellungen zu dokumentieren, welche zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr getroffen werden können. Bemerkenswert ist, dass nach der österreichischen Standardwerkvertragsnorm beide Vertragspartner dazu verpflichtet werden, an einer gemeinsamen Dokumentation mitzuwirken. In der ÖNORM B 2118 werden die wechselseitigen vertraglichen Verpflichtungen aus der ÖNORM B 2110 im Wesentlichen übernommen und weiter detailliert. Insbesondere wird der Begriff der „Routinedokumentation“ eingeführt (vgl. ÖNORM B 2118, Punkt 3.14), welche als Nebenleistung beider Vertragspartner ohne gesonderte Vergütung durchzuführen ist. Von dieser Routinedokumentation werden Dokumentationstätigkeiten unterschieden, die ausschließlich zur Nachweisführung im Zusammenhang mit Leistungsabweichungen durchzuführen sind: Dafür wird den Vertragspartnern die gemeinsame Verpflichtung auferlegt, Ziele und Umfang einer über das Routinemaß hinausgehenden Dokumentation in den periodischen Partnerschaftssitzungen (PSS) in angemessener Weise festzulegen. Sofern Dokumentationsaufwände erforderlich, zweckmäßig und angemessen sind, und darüber ein Einvernehmen gefunden wurde, sind diese als kostenmäßiger Bestandteil einer zugeordneten Mehrkostenforderung forderbar. Wird das Dokumentationsziel außer Streit gestellt, ist eine dazugehörige Dokumentation nicht erforderlich (vgl. ÖNORM B 2118, Punkte 6.2.7.1 und 6.2.7.2). Die deutsche VOB/B regelt konkrete Dokumentationserfordernisse an verschiedenen Stellen. So sind Bedenken gegen Anordnung des Auftraggebers, die vorgesehene Art der Ausführung, gegen die Güte der vom Auftraggeber gelieferten Stoffe oder Bauteile oder gegen die Leistungen anderer Unternehmer schriftlich mitzuteilen. Weiters ist der Zustand von Teilen der Leistung erforderlichenfalls gemeinsam festzustellen. Glaubt sich der Auftragnehmer in der ordnungsgemäßen Ausführung der Leistung behindert, so hat er es dem Auftraggeber unverzüglich schriftlich anzuzeigen. Sobald die hindernden Umstände wegfallen, sind die Arbeiten wieder aufzunehmen und der Auftraggeber ist davon zu informieren (vgl. VOB/B, §4 und §6). Die schweizerische SIA 118 enthält nur in zwei Punkten Regelungen in Bezug auf eine Dokumentation. Bei außerordentlichen Umständen werden die nachgewiesenen tatsächlichen Mehraufwendungen vergütet (vgl. SIA 118, Art. 59). Verhältnisse, die eine zugehörige oder rechtzeitige Ausführung des Werkes gefährden, sind der Bauleitung (Anmerkung: Der Begriff entspricht in Österreich in etwa der Örtlichen Bauaufsicht) ohne Verzug anzuzeigen (vgl. SIA 118, Art. 25). 1)

Vgl. ÖNORM B 2110:2013; Vgl. ÖNORM B 2118:2013; VOB/B 2016; SIA 118:2013

860

Teil H – Digitalisierung

Zusammengefasst fordern also die deutschsprachigen Werkvertragsnormen jedenfalls dann eine nachweisliche Anzeige und fortlaufende Dokumentation der Auswirkungen durch den Auftragnehmer, wenn sich dieser in seiner Leistungserbringung behindert sieht. Die ÖNORM B 2110 und ÖNORM B 2118 (in weiterer Folge als „ÖNORMEN“ bezeichnet) legen darüber hinaus auch detaillierter als die Vergleichsnormen fest, welche Vorkommnisse und Feststellungen in welchem Ausmaß und vor allem durch wen zu dokumentieren sind. Ausschließlich in den ÖNORMEN ist beiden Vertragspartnern die Pflicht zur gemeinsamen Dokumentation auferlegt, welche erforderlich, zweckmäßig und angemessen zu sein hat. In diesem Punkt sind die ÖNORMEN also einzigartig und im Sinne einer partnerschaftlichen Projektabwicklung fortschrittlich unter den deutschsprachigen Normen. In manchen, von marktmächtigen Auftraggebern gestalteten Verträgen wird diese gemeinsame Verpflichtung jedoch einseitig auf den Auftragnehmer überwälzt. Das mag für einen gleichzeitig marktmächtigen und risikoaversen Auftraggeber verlockend erscheinen, umso mehr, als gut organisierte Bauunternehmen ja in jedem Fall bestmöglich dokumentieren werden, unabhängig davon, wie intensiv der Vertragspartner daran mitwirkt. Im vorliegenden Artikel werden wir jedoch noch erläutern, dass die untersuchten ÖNORM-Bestimmungen, welche ein gemeinsames zeitnahes Engagement fordern, und das darin ausgedrückte Prinzip der Außerstreitstellung von Sachverhalten sehr wohl einen praktischen Sinn für beide Vertragspartner haben. Um diese Sicht argumentativ zu untermauern und zu plausibilisieren, wollen wir nun untersuchen, welche Anforderungen an eine „gute“ (das heißt nach den ÖNORMEN: erforderliche, zweckmäßige, angemessene) Dokumentation zu stellen sind.

56.4

Was ist eine „gute“ Dokumentation?

Was zu dokumentieren ist, ergibt sich aus dem Vertrag. Oben wurde zusammengefasst, welche Vorkommnisse und Feststellungen nach den ÖNORMEN zu dokumentieren sind. Die Güte einer Dokumentation kann vor diesem Hintergrund anhand der Begriffe von Effektivität und Effizienz erklärt werden: Effektivität beschreibt ein Beurteilungskriterium, mit dem sich bestimmen lässt, ob eine Maßnahme geeignet ist, ein vorgegebenes Ziel zu erreichen.2) Effizienz beschreibt ein Beurteilungskriterium, mit dem sich bestimmen lässt, ob eine Maßnahme geeignet ist, ein vorgegebenes Ziel in einer bestimmten Art und Weise zu erreichen.3) Nach betriebswirtschaftlichem Verständnis ist darunter ein möglichst sparsamer Mitteleinsatz zu verstehen. Es liegt nahe, eine Dokumentationsmethode als „gut“ zu bezeichnen, wenn sie sowohl effektiv als auch effizient ist.

2) 3)

Vgl. https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/effektivitaet-33138, Datum des Zugriffs: 07.05.2019 Vgl. https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/effizienz-35160, Datum des Zugriffs: 07.05.2019

56 Die digitale Baustellendokumentation

56.4.1

861

Effektivität der Dokumentation

Im ersten Schritt ist also zu klären, ob eine bestimmte Dokumentationsmaßnahme effektiv ist. Im Sinne der ÖNORMEN ist also zu prüfen, ob • Vorkommnisse (Tatsachen, Anordnungen, getroffene Maßnahmen) erfasst werden, welche die Leistung oder die Abrechnung wesentlich beeinflussen, oder • Feststellungen dokumentiert werden, welche zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr getroffen werden können. Im Anwendungsbereich der ÖNORM B 2118 ist unter dem Gesichtspunkt der Effektivität weiters zu prüfen, ob • es sich dabei um „Routinedokumentation“ handelt, oder • Dokumentationstätigkeiten betrachtet werden, welche ausschließlich zur Nachweisführung im Zusammenhang mit Leistungsabweichungen durchzuführen sind. Für den zweiten Fall der anlassbezogenen vertieften Dokumentation ist es nämlich beiden Vertragspartnern gemeinsam auferlegt, Ziele und Umfang einer über das Routinemaß hinausgehenden Dokumentation in den periodischen Partnerschaftssitzungen (PSS) in angemessener Weise festzulegen. Wird das Dokumentationsziel außer Streit gestellt, ist eine dazugehörige Dokumentation nicht erforderlich (vgl. ÖNORM B 2118, Punkt 6.2.7.1). Aus unserer praktischen Erfahrung wird gerade diese – im positiven Fall eindeutig administrationskostensenkende – gemeinsame Abstimmung regelmäßig unterlassen. Im Dialog mit Auftragnehmervertretern hören wir regelmäßig, dass mangels Erfolgschancen gar nicht mehr der Versuch unternommen wird, Auftraggebervertreter zu einer gemeinsamen Dokumentation zu bewegen. Von dieser Aufgabe eines vertraglichen Rechts ist jedoch schon deshalb abzuraten, da der unterlassene Dialog über Ziele und Umfang der über das Routinemaß hinausgehenden Dokumentation im Nachhinein wiederum jener Seite vorgeworfen werden könnte, die mit der Dokumentation konkrete Forderungen nachweisen und durchsetzen möchte. Auch letztendlich erfolglose Bemühungen um eine gemeinsame Dokumentation sind somit zu dokumentieren. Die hier angestellten Überlegungen zeigen, dass es bei der Frage nach der Effektivität einer Dokumentationstätigkeit unerheblich ist, ob diese „klassisch analog“ (im Extremfall über handgeschriebene Protokolle oder Bautagesberichte) oder digital (im Extremfall über automatisch generierte Prozessdaten von Baumaschinen) erfolgt. Es geht lediglich darum, ob mit bestimmten Dokumenten das Ziel – in unserem Fall der Nachweis für die Berechtigung bestimmter Forderungen – erreicht wird, oder nicht.

56.4.2

Effizienz der Dokumentation

Erst wenn für eine in Betracht kommende Dokumentationsmethode die Frage geklärt ist, ob diese ein bestimmtes Ziel erfüllt, stellt sich die Frage, ob diese auch „effizient“ ist, das heißt mit einem möglichst sparsamen Mitteleinsatz durchgeführt werden kann. Unsere Erfahrung zeigt, dass zum Beispiel trotz der teilweise mittlerweile weit entwickelten digitalen Erfassung und Speicherung von Baustellendaten für interne Zwecke (z.B. Lohnstunden, teilweise inklusive der Zuordnung zu Tätigkeiten; Geräteeinsatzzeiten …) dieselben Daten immer wieder für bauwirtschaftliche Zwecke gesondert erfasst werden. So kommt es beispielsweise fallweise noch immer vor, dass Personalstunden

862

Teil H – Digitalisierung

einerseits für die Lohnabrechnung in IT-Plattformen erfasst und dort für das technische Baustellencontrolling sogar nach Tätigkeiten gegliedert werden, die Anwesenheitszeiten der selben Arbeitskräfte jedoch parallel – in Extremfällen sogar von gut ausgebildeten Ingenieuren händisch – in Bautagesberichte eingetragen werden, ohne dass aus dieser Dokumentation in den Bautagesberichten erkennbar wird, welche Tätigkeiten mit welchem Zeitaufwand ausgeführt wurden. Daraus entsteht einerseits ein Mehraufwand durch Mehrfacheingaben und andererseits ein bedauernswerter Informationsverlust, da die Informationstiefe in den Bautagesberichten eben geringer ist, als sie bei entsprechender Verknüpfung als Nebenprodukt der internen Informationserfassung anfallen würde. Damit ist nach unserer Ansicht auch bereits der Hauptanwendungsbereich für die Digitalisierung der Baustellendokumentation adressiert: Die Routinedokumentation von Leistungs- und Aufwandswerten im Sinne der ÖNORM B 2118 sollte auf „gut digitalisierten“ Baustellen in naher Zukunft nicht mehr eigens durchgeführt, sondern aus der internen Datenerfassung der Baustelle zum Zweck der Lohn-/Geräte- und Materialabweichung sowie des technischen Controllings automatisch generiert werden. Dazu geeignete IT-Plattformen mit Schnittstellen zu üblichen Abrechnungs- und Terminverwaltungsprogrammen liegen bereits praxiserprobt vor und werden laufend verbessert. Das Haupthemmnis für eine flächendeckende Anwendung erleben wir vor allem darin, dass die für eine sinnvolle Anwendung erforderlichen SOLL-Daten (detaillierter Vertragsbauzeitplan, Zuweisung von Vorgängen zu Abrechnungspositionen …) häufig mangels Einvernehmen zwischen den Vertragspartnern oder auch nur schlicht mangels fehlender Zeit für die Vorbereitungsarbeiten nicht vorliegen.

56.5

Der Nutzen einer „guten“ Dokumentation: Projektsicht versus Parteiensicht

Wem hilft nun eine „gute“ Dokumentation? Relativ leicht lässt sich diese Frage für die bauvertragliche Abwicklung aus der Perspektive „des Projektes“ beantworten: Wie bereits ausgeführt, legen die ÖNORMEN die Verantwortung für eine gemeinsame Dokumentation beiden Vertragspartnern gemeinsam auf. Zweifellos ist es bei der Abwicklung des Projektes wünschenswert, wenn jene Sachverhaltsfragen, die für die bauvertragliche Beurteilung, z.B. ob eine Leistungsabweichung vorliegt, zu einem Zeitpunkt erfasst und außer Streit gestellt werden, zu dem zwischen den Vertretern der Vertragsparteien noch sinnvoll und plausibel darüber diskutiert werden kann. Wir erinnern uns: „Vorkommnisse (Tatsachen, Anordnungen und getroffene Maßnahmen), welche die Ausführung der Leistung oder deren Abrechnung wesentlich beeinflussen sowie Feststellungen, die zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr getroffen werden können, sind nachweislich festzuhalten.“ (vgl. ÖNORM B 2110 und ÖNORM B 2118, Punkt 6.2.7.1) Es erscheint selbstverständlich, dass nur dann ein sinnvoller Dialog über allfällige Ansprüche geführt und das Projekt insgesamt effizient (das heißt mit minimierten Administrationskosten) abgewickelt werden kann, wenn die Sachverhalte, aufgrund derer Ansprüche erhoben und diskutiert werden, ausreichend außer Streit gestellt sind. Nun ist aber „das Projekt“ ein abstraktes Gebilde, welches real eine Schnittmenge verschiedenster Interessenslagen darstellt. Es ist daher leicht nachvollziehbar, dass jene

56 Die digitale Baustellendokumentation

863

Projektbeteiligte, die aus einer effektiven Erfassung eines bestimmten Sachverhaltes Nachteile erwarten, diese nicht gerade pro-aktiv betreiben werden. Man könnte annehmen, dass die Verfasser der deutschen VOB/B oder der schweizerischen SIA 118 gar nicht von der realen Möglichkeit einer gemeinsamen Dokumentation ausgingen, da diese in den genannten Normen nirgends erwähnt wird. Umgekehrt gab es für die Verfasser der ÖNORMEN offensichtlich gute Gründe, diese gemeinsame Verantwortung trotz des offensichtlichen „Schönheitsfehlers“ einer zunächst möglicherweise unklaren gemeinsamen Verantwortungszuordnung an beide Partner in das Regelwerk der ÖNORMEN aufzunehmen. Aus unserer Sicht gibt es diese guten Gründe tatsächlich: Im ersten Schritt wird davon auszugehen sein, dass jede Vertragspartei über eine angemessene Routinedokumentation hinaus primär jene Vorkommnisse und Feststellungen dokumentiert, die ihren Interessen dienlich sind. Der scheinbare Vorteil für die andere Vertragspartei, durch die Verweigerung einer gemeinsamen Dokumentation kein Anerkenntnis zu liefern und dadurch den Fall offen zu halten, existiert aber aus mehreren Gründen nur bei oberflächlicher Betrachtung: • Erstens werden gut organisierte Projektteams die Möglichkeiten der ÖNORMEN nutzen, bei einer Verweigerung der Mitwirkung eben einseitig zu dokumentieren und diese Dokumente der anderen Vertragspartei fristgerecht zuzustellen. Somit kann eine erfolgreiche Dokumentation des fordernden Partners durch Verweigerung der Mitwirkung nicht verhindert, sondern bestenfalls erschwert und verteuert werden. • Weiters wird es im Eskalationsfall bei einer zur Entscheidung angerufenen unparteiischen Instanz (z.B. dem ordentlichen Gericht) wenig Eindruck machen, die Mitwirkung an einer gemeinsamen Dokumentation schlicht verweigert zu haben, ohne glaubwürdige Gegenbeweise vorlegen zu können. • Ebenso wenig sinnvoll erscheint die unter Auftragnehmer- wie Auftraggebervertretern gleichermaßen verbreitete Strategie einer „heimlichen“ einseitig vorgenommenen Dokumentation, die dem Vertragspartner erst im Eskalationsfall nachträglich vorgelegt wird. Auch in diesem Fall wird die Glaubwürdigkeit einer einseitigen Dokumentation darunter leiden, dass sie vertragswidrig nicht bereits zum Zeitpunkt der Entstehung ausgetauscht und abgestimmt wurde. • Manchmal begegnen wir der Vorstellung, man würde das „Klima auf der Baustelle nicht dadurch vergiften“ wollen, dass den unmittelbaren Projektbeteiligten die Last auferlegt würde, offensichtlich divergierende Meinungen zu Sachverhalten zeitnahe aufzuzeigen und auszuräumen. Warum es für ein lösungsorientiertes Klima zwischen den Vertragsparteien besser wäre, derartige Sachverhaltsfragen zwischen Unbeteiligten auszudiskutieren oder diese gar durch aufwändige externe Expertisen und Sachverständigengutachten zu ersetzen, erschließt sich allerdings nicht. Zusammenfassend ist zumindest für häufig zusammenarbeitende institutionelle Baupartner keine beidseitig effektivere und effizientere Methode der Klarstellung von Sachverhaltsfragen vorstellbar, als diese nach den Regeln der ÖNORMEN zeitnahe im Dialog zu klären. An dieser Stelle ist auch zu erwähnen, dass die realen durchschnittlich anfallenden Administrationskosten von Bauunternehmen jedenfalls über Nachkalkulationen erfasst und bei der Preisbildung zukünftiger Projekte zugrunde gelegt werden. In Zeiten starker Nachfrage und Engpässen bei Schlüsselpersonal mag dann sogar von der Angebotslegung bei besonders „administrationsintensiven“ Projekten abgesehen werden. Letztendlich haben große institutionelle Auftraggeber somit einen doppelten Vorteil, wenn sie

864

Teil H – Digitalisierung

Maßnahmen setzen, um sowohl im eigenen Bereich als auch im Bereich ihrer Baupartner Administrationskosten bei der Baustellendokumentation zu senken.

56.6

Praxisbeispiele/aktuelle Trends

Diese Überlegungen werden anhand von abstrahierten Praxisbeispielen aus unserer Erfahrung erläutert. Damit soll nochmals gezeigt werden, dass eine „gute“ Dokumentation im Sinne einer effektiven und effizienten Vertragsabwicklung (sowohl aus der Sicht „des Projekts“ als auch aus Sicht der Vertragsparteien) regelmäßig durch klar definierte Ziele und entsprechend realistischer Mitwirkung der Beteiligten erreicht wurde. Dort, wo im Sinne einer „Vogel Strauß-Politik“ versucht wurde, Ansprüche durch das Verschließen vor Fakten zu negieren, kam es demgegenüber zu nachteiligen Folgeeffekten wie überproportional ansteigenden Folgekosten, „Aufrüsten“ der Vertragsparteien mit projektfremden Bauwirtschaftsexperten, Juristen, Gutachtern, usw. ohne dass berechtigte Ansprüche gut organisierter Vertragsparteien dadurch abgewehrt werden konnten. So geschehen bei einer Infrastrukturbaustelle in der Steiermark: Die Planung des Auftraggebers war lückenhaft und rief anhaltende Bauablaufstörungen hervor. Die vom Auftraggeber mit der örtlichen Bauaufsicht beauftragten Zivilingenieure (ÖBA) beteiligten sich nicht an einer diesbezüglichen gemeinsamen Dokumentation. Es war weder möglich, gemeinsam die Themen und den Umfang der Dokumentation festzulegen, noch war es möglich, Dokumentationen gemeinsam vor Ort zu unterfertigen. Die Beiträge der ÖBA erschöpften sich in nachträglicher Kritik an den dann einseitig erstellten Dokumentationen des Auftragnehmers. Selbst ganz offensichtliche Sachverhalte, wie z.B. gegenüber den Vereinbarungen weit verspätet übergebene Ausführungspläne waren Gegenstand langwieriger Diskussionen. In Summe führte dies zu einem im Verhältnis zum materiell geltend gemachten Nachteil überproportionalen Aufwand für Dokumentation und Nachweisführung auf beiden Seiten. Da den zwangsläufig einseitig durchgeführten Dokumentationen zwar keine entsprechenden Gegendokumentationen des Auftraggebers gegenüberstanden, dieser jedoch trotzdem wenig Motivation zeigte, die Forderungen zügig zu bereinigen, zog sich die Bereinigung der Forderungen noch weit über das Bauende hinaus. Schauplatzwechsel zum selben Auftraggeber in einem anderen Bundesland und somit mit anderen Beteiligten: Die ausgeschriebenen – an sich schon sehr komplexen – Sanierungsmaßnahmen unter laufendem Betrieb stellten sich als umfangreicher heraus als angenommen. Das Projekt konnte nur realisiert werden, indem alle Beteiligten gemeinsam die unvorhergesehene Situation ohne vermeidbare Verzögerungen bewältigten. In diesem Zusammenhang wurde auch die Vorgangsweise für die laufende Erfassung von Mehraufwendungen abgestimmt und gemeinsam umgesetzt. Dadurch war es möglich, gemeinsam getragene Entscheidungen zeitnahe zu treffen. Weiters wurde die gerechtfertigte Preisanpassung für die komplexen Leistungsabweichungen bereits vor Bauende abgeschlossen. Erneuter Schauplatzwechsel zu einem Bestandsumbau eines größeren Gebäudes in Wien: Der Bestand war für die Planung nicht ausreichend aufgenommen worden. Zusätzlich ergaben sich während des Umbaus geänderte Nutzerwünsche, Entscheidungen der Projektgesellschaft über den Umgang mit diesen Leistungsabweichungen wurden laufend vertagt, die Dokumentation von Abweichungen einseitig dem Auftragnehmer übertragen. Es war kein gemeinsames Verständnis der Herausforderungen des Projektes vorhanden.

56 Die digitale Baustellendokumentation

865

Da auch auf Seiten des Auftragnehmers während der Bauabwicklung keine ausreichende Dokumentation der Auswirkungen durchgeführt wurde, wurden dann in der nachträglichen Vertragsdiskussion von beiden Seiten aufwändige und im Ergebnis wenig erfolgreiche abstrakte Sachverständigengutachten eingeholt. Die endgültige wirtschaftliche Bereinigung ist auch jetzt, mehr als fünf Jahre nach Baufertigstellung noch nicht erfolgt. Letzter Schauplatzwechsel zu einer Hochbaubaustelle: Das gemeinsame Ziel war von Anfang an klar, nämlich ein Projekt gemeinsam, effektiv und effizient zu realisieren. In einem partnerschaftlichen Klima wurden die dafür erforderlichen Entscheidungen der Auftraggeberseite zeitnah, umfassend und eindeutig getroffen. Allfällige Umplanungen wurden zwischen Auftraggeber, Architektengruppe und Auftragnehmer vor Ort abgestimmt, festgehalten und in die Planung umgesetzt. Die daraus entstehenden Mehrwaufwendungen wurden im Dialog ausgehandelt und zügig beauftragt. In Summe zeigt uns unsere Erfahrung, dass es sehr selten an technologischen Tools – konkret an einer hochdigitalisierten Baustellendokumentation – alleine liegt, ob Bauprojekte aus der Perspektive des Vertragsmanagements erfolgreich abgewickelt werden, sondern vor allem am Zusammenspiel der Projektbeteiligten. Sobald es gelingt, den Blick aus den unmittelbaren Gräben eines konkreten, möglicherweise herausfordernden Projektes zu lösen, wird in der Regel recht rasch erkennbar, dass ein pragmatisches Zusammenwirken mit Augenmaß im Sinne „des Projekts“ zumindest über eine längere Phase der Zusammenarbeit hin gesehen auch zum jeweiligen Nutzen der Vertragsparteien gereicht.

56.7

Zusammenfassung

Im Unterschied zu den vergleichbaren deutschen und schweizerischen Normen enthalten die österreichischen Werkvertragsnormen ÖNORM B 2110 und ÖNORM B 2118 eine vertragliche Verpflichtung für beide Vertragsparteien, an einer gemeinsamen Dokumentation von relevanten Vorkommnissen und Feststellungen mitzuwirken. Diese auf den ersten Blick möglicherweise naiv erscheinende Verpflichtung auch für jenen Vertragspartner, der durch die Außerstreitstellung von Sachverhalten mit dann unabwendbaren Forderungen konfrontiert wird, trotzdem am Einvernehmen über den Sachverhalt mitzuwirken, enthält bei detaillierter bauwirtschaftlicher Betrachtung viel Sinn, insbesondere aus der Senkung von Administrationskosten und der Möglichkeit, auch in unvorhergesehenen Situationen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu bewahren. Eine „gute“ Dokumentation ist „effektiv“ im Sinne des sicheren Erreichens eines Dokumentationsziels und „effizient“ im Sinne eines minimierten Dokumentationsaufwandes. Die Frage nach einer effektiven Dokumentation, also die Frage danach, was genau zu dokumentieren ist, ist nach ÖNORM B 2118 von den Vertragspartnern zu diskutieren und nach Möglichkeit einvernehmlich zu entscheiden. Ressourcenschonend kann es sein, eindeutige Sachverhalte von vorneherein außer Streit zu stellen, sodass dazu keine weitere spezifische Dokumentation mehr erforderlich ist. Auch im Anwendungsbereich der ÖNORM B 2110 erscheint uns ein derartiger Dialog höchst sinnvoll. Die Möglichkeiten der digitalen Baustellendokumentation können die Routinedokumentationen erleichtern, jedoch auch zu weit überschießenden Anforderungen oder Anwendungen führen. Nicht alles, was technologisch dokumentiert werden kann, wird auch

866

Teil H – Digitalisierung

sinnvoll dokumentiert werden. Eine hoch digitalisierte Baustellendokumentation erspart auch keineswegs die angemessene Beschäftigung mit dem Dokumentationsziel. Die größte Bedeutung haben die modernen Möglichkeiten digitalisierter Bauabläufe nach unserer Ansicht darin, Mehrfacheingaben von Daten abzustellen und die Routinedokumentation zu einem automatischen Nebenprodukt interner digitalisierter Prozessabläufe z.B. im Zuge der Lohn-, Geräte- und Materialverrechnung sowie des technischen Baustellencontrollings zu machen. Dafür existieren am Markt bereits geeignete IT-Lösungen. Die Voraussetzung für eine erfolgreiche Anwendung ist jedoch eine angemessene Festlegung des angestrebten SollBauablaufs.

56.8

Abkürzungsverzeichnis

ÖNORM ......................... Österreichische Norm VOB

......................... Vergabe und Vertragsordnung für Bauleistungen

SIA

......................... Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein

PSS

......................... Partnerschaftssitzung

ÖBA

......................... Örtliche Bauaufsicht

56.9

Literaturverzeichnis

https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/effektivitaet-33138. Datum des Zugriffs: 07.05.2019 https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/effizienz-35160. 07.05.2019

Datum

des

Zugriffs:

ÖNORM B 2110 (Ausgabe: 2013-03-15). Allgemeine Vertragsbestimmungen für Bauleistungen – Werkvertragsnorm. ÖNORM B 2118 (Ausgabe: 2013-03-15). Allgemeine Vertragsbestimmungen für Bauleistungen unter Anwendung des Partnerschaftsmodells, insbesondere bei Großprojekten – Werkvertragsnorm. VOB/B (2016). Vergabe und Vertragsordnung für Bauleistungen – Teil B (Fassung 2016) Allgemeine Vertragsbedingungen für die Ausführung von Bauleistungen. SIA 118:2013 Bauwesen (gültig ab: 2013-01-01) Allgemeine Bedingungen für Bauarbeiten

Teil I WISSENSMANAGEMENT

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Frühzeitiger Wissenstransfer zwischen Auftraggeber und Bieter anhand einer Online-Wissensplattform Verminderung der Wissenslücke bei Straßenprojekten in der Angebotsphase

M. Sc. Markus Hanschke Projektmitarbeiter Universität Kassel Heinrich-Platt-Str. 40 34109 Kassel www.uni-kassel.de [email protected] M. Eng. Ahmed Elbaz Wissenschaftlicher Mitarbeiter Universität Kassel Heinrich-Platt-Str. 40 34109 Kassel www.uni-kassel.de [email protected] Univ. Prof. Dr.-Ing. Konrad Spang Leiter des Fachgebiets Projektmanagement Universität Kassel Heinrich-Platt-Str. 40 34109 Kassel www.uni-kassel.de [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_57

870

Teil I – Wissensmanagement

57.1

Abstract

Die Planungsphase von Straßenprojekten beträgt oftmals mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte, um sämtliche Planungsprozesse zu durchlaufen und die daraus resultierenden Planungsunterlagen zu erstellen.1) Die Bieter müssen dagegen in der vorgegebenen Angebotsfrist, die meist nur wenige Wochen beträgt, ein qualitativ hochwertiges Angebot erstellen.2) Die kurze Zeit in der Angebotsphase verstärkt die bestehende Wissenslücke zwischen Auftraggeber (AG) und Bieter/Auftragnehmer (AN).3) Im vorliegenden Beitrag wird eine Auftraggeber-Online-Wissensplattform vorgestellt, die einen positiven Beitrag zur Reduzierung dieser Wissenslücke leisten soll. Um die Hypothese der Wissenslücke und den entwickelten Lösungsansatz zu überprüfen, wurden leitfadengestützte ExpertInnengespräche durchgeführt, die anschließend anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet wurden. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass ein frühzeitiger Wissenstransfer über eine Auftraggeber-Wissensplattform einen positiven Beitrag zur Minderung unterschiedlicher Planungs- und Baurisiken leisten kann, Unternehmer bei dem Prozess der Angebotserstellung unterstützen kann und, dass die Wissenslücke zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer auf diese Weise vermindert werden kann.4) Der Beitrag ist in 8 Kapitel gegliedert. Im 2. Kapitel wird die aktuelle Situation und die Problemstellung beschrieben. Des Weiteren werden in dem Kapitel die Forschungsfrage und die Ziele der Arbeit definiert. Im anschließenden 3. Kapitel wird der Leserin/dem Leser der aktuelle Forschungsstand zur Thematik des Artikels vorgestellt und wie sich daraus der Ansatz für die Idee des Artikels ableiten lies. Kapitel 4 stellt den neuen Ansatz vor und wie damit die Forschungsziele beantwortet werden sollen. Um die Forschungsfragen zu beantworten, wurden leitfadengestützte ExpertInneninterviews durchgeführt. Die genaue Vorgehensweise des Ablaufs, der Aufbereitung und der Auswertung der ExpertInneninterviews wird in Kapitel 5 vorgestellt. Kapitel 6 und 7 fokussieren auf die Fragen und Antworten aus den ExpertInnengesprächen und welche Resultate sich daraus ableiten ließen. Im Kapitel 7 wird auf den weiteren Forschungsbedarf eingegangen, der sich aus der vorliegenden Arbeit ergeben hat. Zudem werden in diesem Kapitel aktuelle Trends aufgezeigt, die sich mit der Thematik des Artikels beschäftigen.

57.2

Situationsanalyse

Die Studie „Großprojekte in Deutschland – Zwischen Ambitionen und Realität“ der „Hertie School of Governance“ untersuchte 170 unterschiedliche öffentliche InfrastrukturGroßprojekte mit dem Ergebnis, dass ein Großteil dieser sowohl Kosten- als auch Terminüberschreitungen zu verzeichnen hatte. Die 119 abgeschlossenen Projekte wiesen eine Kostensteigerung von durchschnittlich 73 % auf. Speziell bei Verkehrsprojekten liegt die Kostensteigerung durchschnittlich bei 27 %.5) In der Literatur werden unterschiedliche Ursachen für Kosten- und Terminüberschrei1) 2) 3) 4) 5)

Vgl. Spang (2016), S. 86 Vgl. Spang (2016), S. 86 Vgl. Spang (2018), S. 3; Experte A, S. 3; Experte D + E, S. 1 Vgl. Experte A, S. 5; Experte D + E, S. 7; Experte F, S. 8; Experte A2, S. 12; Experte D + E2, S.17; Experte G2, S. 11; Experte H2, S. 8 Vgl. https://www.hertie-school.org. Datum des Zugriffs 16.05.2019

57 Frühzeitiger Wissenstransfer zw. Auftraggeber und Bieter anhand einer Online-Wissensplattform

871

tungen bei Infrastrukturprojekten genannt. Dazu zählen sehr lange Planungsphasen, Änderungen, Klagen oder politische Ursachen.6) Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) nennt zudem, dass ein professionelles Risikomanagement als Voraussetzung für die erfolgreiche Realisierung von Infrastrukturprojekten notwendig ist, damit sich ausreichend mit den Risiken eines Projektes auseinandergesetzt werden kann.7) Die deutsche Vergabepraxis sieht für Unternehmen i.d.R. nur wenige Wochen vor8), um die Ausschreibungsunterlagen zu verstehen, diese zu bewerten und sämtliche Risiken in der Angebotserstellung zu identifizieren und zu berücksichtigen. Aufgrund der kurzen Angebotszeit, der oft unzureichenden Durchführung eines systematischen Risikomanagements und Planungsänderungen kann es zu einem fehlerhaften Projektverständnis seitens des Unternehmens kommen was zur Folge hat, dass Risiken nicht identifiziert und berücksichtigt werden können und, dass die Ausschreibungsunterlagen fehlerhaft bewertet werden, was dann auch eine negative Auswirkung auf den Prozess der Kalkulation und somit auf das zu erstellende Angebot hat. Dementsprechend wird hier die Annahme getroffen, dass ein Bieter ein Angebot mit einem Wissensdefizit abgibt.9) In diesem Beitrag wird die Hypothese aufgestellt, dass über eine Auftraggeber-OnlineWissensplattform auftraggeberspezifische Informationen, wie z.B. Projektpläne und Projektberichte- auch solche, die nicht Bestandteil der Ausschreibung sind, den Interessenten frühzeitig zur Verfügung gestellt werden könnten, um die potenziellen Auftragnehmer bei der Projektrisikoidentifikation, Bewertung der Ausschreibungsunterlagen, der Kalkulation und der Erstellung eines qualitativ hochwertigen Angebots zu unterstützen, um die Auftragnehmer-Wissenslücke zu vermindern und damit die Projektqualität und die Einhaltung von Terminen und Kosten zu verbessern.

57.3

Aktueller Forschungsstand und Ableitung des Ansatzes

Spang beschäftigt sich mit dem Thema Wissensdefizite zwischen AuftraggeberAuftragnehmer10) und siedelt seine Beschreibung zum Thema Wissensdefizit in den Bereichen „Störungs- und Risikomanagement“ an und stellt dieses für die Angebots- und Vergabephase im Infrastrukturbereich dar.11) Dort wird aufgezeigt, dass sich der Auftragnehmer in der vorgegebenen Angebotszeit nur einen Teil des Projektwissens aneignen kann, welches er für die Erstellung eines Angebotes und für die spätere Ausführungsphase benötigt. Weiteres benötigtes Projektwissen eignet sich der Auftragnehmer erst mit der Erstellung des Projektes in der Ausführungsphase an. Dadurch, dass sich der Auftragnehmer erst mit der Erstellung des Projektes weiteres Projektwissen aneignet, führt dies zu einem Wissensdefizit. Dieses Wissensdefizit kann zu Risiken in der Angebots- und Realisierungsphase führen.12) In der folgenden Abb. 57-1 wird die eben beschriebene Situation dargestellt.

6) 7) 8) 9) 10) 11) 12)

Vgl. BMVI (2015), S. 14 ff.; Experte G, S. 9ff. Vgl. BMVI (2015), S. 31 Vgl. VOB/A, § 10a EU. Vgl. Experte D + E, S. 4. Vgl. Spang (2016) S. 86; Spang (2018), S. 7-533a Vgl. Spang (2018), S. 7-519a Edb.

872

Teil I – Wissensmanagement

Abb. 57-1

Wissensverlauf des AG und der Bieter bei öffentlichen Straßenbauprojekten13)

Auf Grundlage des eben aufgezeigten Sachverhalts wurde eine Literaturrecherche durchgeführt um herauszufinden, welche Ansätze es gibt, um die Wissenslücke zwischen AG und AN zu vermindern. Diesbezüglich konnten viele Ansätze zur Einbindung des Wissens des AN in die Planungsphase wie (Public Private Partnership-Projekte, Early Contractor Involvement, Partnering Modelle) gefunden werden. Die frühe Einbindung des Unternehmens Know-Hows in die Planungsphase des AGs führt zu diversen Vorteilen, wie etwa der Verbesserung des Projektcontrollings, der Innovationsfähigkeit, der Einhaltung des Kosten- und Terminrahmens.14) Die Literaturrecherche hat auch gezeigt, dass es umfassende Studien bezüglich Vorteilen für Auftragnehmer und Auftraggeber gibt, wenn das Wissen des Auftragnehmers frühzeitig in ein Projekt miteingebunden wird. Jedoch gibt es keine signifikanten Studien darüber, welche Auswirkung die frühe Bereitstellung von Projektinformationen für den Auftragnehmer hat, wenn das Wissen des Auftraggebers frühzeitig dem Auftragnehmer zur Verfügung gestellt wird. Aus dieser Situation ergibt sich eine Forschungslücke, die den Impuls zur Erstellung eines neuen Konzepts gab. Darin wird die frühere Bereitstellung von Projektwissen angestrebt und dessen Auswirkungen für beide Vertragsparteien untersucht. Es ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass der Wissensverlauf und das Wissensdefizit, welches in der Abbildung herangezogen wurde, als Hypothese anzusehen ist, da keine weitere Literatur bezüglich dieser Thematik gefunden werden konnte.

57.4

Konzept des neuen Ansatzes zur Verminderung der Wissenslücke

Um die Forschungslücke hinsichtlich der Thematik, welche Auswirkungen frühzeitige Projektinformationen auf das Wissensdefizit des Auftragnehmers bzw. Bieter hat, zu schließen, wurde nach Möglichkeiten gesucht, wie das Projektwissen dem Auftragnehmer 13) 14)

In Anlehnung an Spang (2018), S. 7-533a Vgl. Van Valkenburg et al. (2008); International Group for Lean Construction (2016) S. 13.

57 Frühzeitiger Wissenstransfer zw. Auftraggeber und Bieter anhand einer Online-Wissensplattform

873

bzw. Bieter frühzeitig zur Verfügung gestellt werden kann. Für ungehinderte, frühe und schnelle Zugänglichkeit wurde als Distributionsmedium eine Online-Wissensplattform gewählt. Neben diesen grundlegenden Aspekten sind auch rechtliche Rahmenbedingungen des Vergabeverfahrens zu berücksichtigen, sodass jeder Bieter beispielsweise dieselben Informationen erhält. Die nachfolgende Abbildung (Abb. 57-2) zeigt das entwickelte Konzept der Projekt-Online-Wissensplattform.

Abb. 57-2

Konzeption der Projekt-Online-Wissensplattform („Online-Plattform“)

In Abb. 57-2 werden zwei unterschiedliche Projektabläufe dargestellt. Der Status-Quo repräsentiert den konventionellen Ablauf eines Straßenprojektes. Der Auftraggeber stellt dabei keine frühzeitigen Projektinformationen zur Verfügung und die Bieter erhalten diese erst bei Veröffentlichung der Ausschreibungsunterlagen. Bis zur Einreichungsfrist der Angebote müssen diese Unterlagen vom Bieter verstanden, bewertet und daraus ein wirtschaftliches Angebot ausgearbeitet werden, um den Zuschlag erhalten zu können.15) Die neue Konzeption sieht vor, dass der Auftraggeber bereits vor der Angebotsphase Projektinformationen über die Online-Wissensplattform bereitstellt. Diese neuen Projektinformationen umfassen nicht nur die späteren Ausschreibungsunterlagen, sondern auch Informationen, die üblicherweise nicht in die Ausschreibungsunterlagen einfließen. Die zusätzlichen Projektinformationen dienen viel mehr dazu, dass die Bieter Hintergrundinformationen über ein Projekt erlangen können. Als Beispiele hierfür lassen sich Informationen aus der Linienbestimmung, Variantenvergleiche oder aus verschiedenen Planungsebenen nennen. Der frühe Zugang zu den Informationen verfolgt das Ziel die Wissenslücke zu vermindern und damit einerseits die Angebotsqualität zu steigern und andererseits die Voraussetzungen für einen qualitätsgerechten zügigen Projektstart zu verbessern.

15)

Vgl. https://www.dtad.de Datum des Zugriffs 27.05.2019.

874

57.5

Teil I – Wissensmanagement

Vorgehensweise und Methodik

Zur Überprüfung der Hypothese, dass „eine frühzeitige Bereitstellung von Projektinformationen zur Verminderung des Auftragnehmer-Wissensdefizites beitragen kann und sich daraus auch Verbesserungen für die Vertragsparteien ergeben können“, wurden ExpertInneninterviews durchgeführt. Insgesamt wurden zehn unterschiedliche ExpertInnen, die mindestens eine Berufserfahrung von zehn Jahren vorweisen konnten, in zwei Runden mit Hilfe von leitfadengestützten Interviews befragt. Die ExpertInnen repräsentierten unterschiedlicher Rollen, vom Verantwortlichen auf Auftraggeberseite über die Unternehmerseite bis hin zu einem Vertragsjuristen. Basierend auf den Ergebnissen der Literaturanalyse wurden rollenspezifische Interviewleitfäden erstellt und anschließend die erste Befragungsrunde durchlaufen. Die Schwerpunkte der Erhebung lagen auf (1) der Sinnhaftigkeit des Ansatzes, (2) dessen Anwendungspotenzial und (3) dessen Verminderungspotenzial bezogen auf die Wissenslücke. Zudem wurde ermittelt, welche Informationen vom AG frühzeitig bzw. vor der Vergabephase veröffentlicht und bereitgestellt werden können und welche frühzeitigen Projektinformationen vom AN für nützlich befunden werden. Der juristische Experte wurde zur rechtlichen Zulässigkeit und den rechtlichen Rahmenbedingungen einer solchen Wissensplattform befragt. Nach der ersten Befragungsrunde wurden die Interviews transkribiert und mittels qualitativer Inhaltsanalyse (sowohl deduktiv als auch induktiv) ausgewertet. Basierend auf diesen Daten wurde die Online-Wissensplattform, die bis dahin als grober Entwurf existierte, optimiert und in einer zweiten Gesprächsrunde mit denselben ExpertInnen validiert.

57.6

Zielsetzung und Ergebnisse der ExpertInneninterviews

Im folgenden Textabschnitt werden die Fragen der Interviewleitfäden sowie die Antworten der ExpertInnen zusammenfassend dargestellt.

57.6.1

Fragen der 1. Befragungsrunde

Dem Juristen wurden folgende Fragen gestellt: 1. Wie bewerten Sie das neue Konzept (Abb. 57-2)? 2. Sehen Sie Konflikte mit dem deutschen Vergaberecht, wenn bei einem öffentlichen Projekt Informationen frühzeitig zur Verfügung gestellt werden? 3. Sehen Sie Konfliktpunkte mit dem deutschen Vertragsrecht, wenn bei einem öffentlichen Projekt Informationen frühzeitig zur Verfügung gestellt werden? 4. Sehen Sie weitere Konfliktpunkte, wenn Informationen frühzeitig zur Verfügung gestellt werden? (z.B. Copyright, Datenschutz)

57 Frühzeitiger Wissenstransfer zw. Auftraggeber und Bieter anhand einer Online-Wissensplattform

875

Den ExpertInnen der Auftraggeber- und der Bieterseite wurden in der ersten Befragungsrunde folgende Fragen gestellt: 1. Wie bewerten Sie das neue Konzept (Abb. 57-2)? 2. Wünschen Sie sich frühzeitige Informationen und falls ja, welche Informationen sollten bei Ihnen eingehen? 3. Welche Anforderungen würden Sie an die frühzeitigen Informationen stellen? 4. Welche Auswirkungen haben frühzeitige Informationen auf die Herausforderungen in der Angebots- und Kalkulationsphase? (AN) 5. Wie beurteilen Sie die Dauer der Angebotsphase bzw. der Planungsphase? 6. Wie beurteilen Sie die Hypothese der Wissenslücke (Abb. 57-1) und wie würde sich dieser durch frühzeitige Informationen verändern?

57.6.2

Auswertung der 1. Befragungsrunde

Die Antworten des Juristen lauten wie folgt (zusammengefasst): 1. Insgesamt wäre es für den Bauablauf positiv zu beurteilen.16) 2. Solange das Gebot des Wettbewerbs und das Gebot der Transparenz eingehalten werden, gibt es keine Konfliktpunkte mit dem deutschen Vergaberecht. Das bedeutet, dass keine Informationen nur an einzelne Interessenten weitergeleitet werden dürfen.17) 3. Diesbezüglich gibt es keine Konfliktpunkte mit dem deutschen Vertragsrecht.18) 4. Bezüglich der Thematik Copyright müssen die Planer informiert werden, dass die von ihnen erstellten Unterlagen auf einer Online-Plattform hochgeladen werden.19) Die Antworten der ExpertInnen auf der Auftraggeber- und der Bieterseite lauten wie folgt (zusammengefasst): 1. Die ExpertInnen waren unterschiedlicher Meinung über die Realisierbarkeit des Ansatzes (Abb. 57-2). Daher kann zu diesem Zeitpunkt keine abschließende Aussage dazu getroffen werden.20) 2. Zusammenfassend kann aus den Gesprächen gesagt werden, dass die ExpertInnen eine frühzeitige Informationsbereitstellung befürworten.21) Dabei wurden folgende Informationen als hilfreich beschrieben: Informationen über spezielle Bauweisen, Rahmenbedingungen von Projekten (Projektvolumen, Anzahl Ingenieurbauwerke, Mengen/Massen, Startzeitpunkt Ausschreibung), ob ein BIM-Modell in der Planung und in der Ausführung verwendet werden soll, Investitionsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden der Länder.22)

16) 17) 18) 19) 20) 21) 22)

Vgl. Experte J, S. 1 Vgl. Experte J, S. 2 Vgl. Experte J, S. 4 Vgl. Experte J, S.4 Vgl. Experte A, S. 2; Experte B, S. 1; Experte C, S. 7; Experte D + E, S. 9; Experte F, S. 1, Experte G, S.1; Experte I, S. 1 Vgl. Experte A, S. 6; Experte B, S. 5, Experte D + E, S. 9; Experte F, S. 7 Vgl. Experte B, S. 3; Experte D + E, S. 9 + 18; Experte F, S. 2; Experte G, S. 2 + 12; Experte H, S. 2; Experte I, S. 1

876

Teil I – Wissensmanagement

3. Die Experten (von der AG- und der AN-Seite 25) beschreiben, dass die frühzeitigen Informationen konkret und so genau wie möglich sein sollen. Die Online-Wissensplattform soll für jeden Interessenten frei zugänglich sein, damit jeder Interessent denselben Projektwissensstand haben kann. 4. Die ExpertInnen beschreiben weiterhin, dass frühzeitige Informationen einen positiven Einfluss auf die folgenden Prozesse haben können: die Projektselektierung, interne Planung eines Unternehmens,23) Preisfindung, Abschätzung von Mengen/Massen im Projekt, Qualität der Ausschreibungsunterlagen, frühzeitige Erkennung von Risiken, Finden von Nachunternehmern, Finden von Arbeitsgemeinschaften, Terminplanung, Kapazitätsplanung, Planung der Logistik sowie die technische Durchdringung des Projektes.24) 5. Bezüglich der Beurteilung der Dauer der Angebotsphase kann keine signifikante Aussage getroffen werden, weil die ExpertInnen unterschiedliche Meinungen vertreten. Ein Teil der ExpertInnen beschreibt die Angebotszeit als ausreichend und ein anderer Teil beschreibt diese als zu kurz. Es kann lediglich die Aussage getroffen werden, dass die befragten ExpertInnen der Auftraggeberseite alle beschrieben haben, dass die vorgegebene Angebotszeit ausreichend bemessen ist.25) Über die Bewertung der Dauer der Planungsphase kann auch keine signifikante Aussage getroffen werden, weil die ExpertInnen unterschiedlicher Meinung sind.26) Ein Experte der Auftraggeberseite beschreibt die Situation der Dauer der Planungsphase als dramatisch schlecht.27) 6. Zusammenfassend kann die Aussage getroffen werden, dass die befragten ExpertInnen der Verlaufslinie des Wissens, wie in Abb. 57-1 abgebildet, zustimmten.28) Dennoch betonten sie ihre Schwierigkeit die frühzeitigen Informationen und deren Einfluss auf den Wissensverlauf zu quantifizieren. Ohne den Einfluss konkret zu bewerten, wurde die Aussage getroffen, dass frühzeitige Informationen einen positiven Einfluss auf das Wissensdefizit haben können.29)

57.6.3

Weiterentwicklung des Ansatzes basierend auf den Ergebnissen (1. Befragungsrunde)

Basierend auf den ExpertInnenaussagen aus der 1. Befragungsrunde ergaben sich die nachfolgenden Anforderungen und Strukturen für den Aufbau der Plattform: 1. Anforderungen an die Online-Wissensplattform a. Die bereitgestellten Informationen müssen konkret und unveränderbar sein. b. Jede Interessentin/jeder Interessent hat freien Zugang zur Plattform. c. Die Unterlagen sind nicht verbindlich, da sich diese über den Projektverlauf hinweg und durch rechtliche Rahmenbedingungen ändern können.

23) 24) 25) 26) 27) 28) 29)

Vgl. Experte B, S. 3; Experte D + E, S. 9 + 18; Experte F, S. 2; Experte G, S. 2 + 12; Experte H, S. 2; Experte I, S. 1 Vgl. Experte F, S. 5 Vgl. Experte A, S. 7; Experte F, S. 8 ff.; Experte D + E, S. 12; Experte H, S.12 Vgl. Experte G, S. 3; Experte H, S.3 Vgl. Experte A, S. 3; Experte D + E, S. 1; Experte B, S. 4; Experte F, S. 4; Experte G, S.9; Experte H, S.4, Experte I, S. 5 Vgl. Experte A, S. 11; Experte D + E, S.17; Experte I, S. 9; Experte G, S. 14. Vgl. Experte G, S.3; Experte H, S.3

57 Frühzeitiger Wissenstransfer zw. Auftraggeber und Bieter anhand einer Online-Wissensplattform

877

2. Aufbau der Online-Wissensplattform a. Der öffentliche Auftraggeber trägt sowohl die Verwaltungs- und Administrationspflicht der Plattform als auch die Verantwortung für sonstige datenschutzrechtlichen Belange. b. Die Plattform ist in Strukturbäume untergliedert. Dabei wird die erste Ebene in Regionen untergliedert. Auf nächster Instanz wird zwischen projektspezifischen und nichtprojektspezifischen Unterlagen unterschieden. (Erläuterung in Abschnitt 57.6.6.1) 3. Abbildung der Wissenslücke a. Basierend auf den ExpertInnenaussagen wurde die Abbildung angepasst und eine neue Abbildung (siehe Abb. 57-3) erstellt. Des Weiteren wurde eine zweite Abbildung für die Situation erstellt, wenn der Interessentin/dem Interessenten frühzeitig Informationen zur Verfügung gestellt werden (siehe Abb. 57-4). In Abb. 57-3 wird der angepasste Projektwissensverlauf des Auftraggebers und Auftragnehmers bzw. Bieters in den verschiedenen Projektphasen bei Straßenprojekten aufgezeigt. Die Abbildung zeigt die Wissensdifferenz, die zwischen Auftraggeber und -nehmer bzw. Bieter in den LPH 7-9 vorhanden ist.

Abb. 57-3

Projektwissen Auftraggeber und Bieter/Interessent bei Straßenbauprojekten

Die unterschiedlichen Projektphasen nach der HOAI werden auf der horizontalen Achse dargestellt. Ein Straßenprojekt beginnt mit LPH 1. Dabei wird sich der Auftraggeber, bis Ende LPH 2 Wissen über unterschiedliche Varianten seines Projektes aneignen. Am Ende der Leistungsphase 2 findet die Linienbestimmung statt, die konkreten Bestandteile des Vorhabens festlegt und zur internen Freigabe herangezogen wird.30) Mit der Linienbestimmung legt sich der Auftraggeber auf eine Variante fest, das Wissen über andere Alternativen wird nicht weiter verfolgt.31) Das Nichtberücksichtigen der Alternativen, die für Bieter und v.a. Auftragnehmer wichtige Informationen enthalten können, wird als 30) 31)

Vgl. RE 2012, Seite 15, Teil 1. https://www.strassen.nrw.de Datum des Zugriffs, 27.05.2019.

878

Teil I – Wissensmanagement

„Wissensverlust“ für das Projekt durch den hier dargestellten Absatz (Sprung) der Wissenslinie abgebildet. Die darauffolgenden Phasen 3 und 4 dienen der weiteren Planung und Detaillierung der Vorzugsvariante. LPH 3 schließt mit der Entwurfsplanung und LPH 4 mit der Genehmigungsplanung ab. Mit Fertigstellung dieser Unterlagen wird in LPH 5 die Ausführungsplanung und anknüpfend daran, in LPH 6, werden die Ausschreibungsunterlagen erstellt.32) Der zweite Absatz der Wissenslinie repräsentiert den „Wissensverlust“ im Übergang von LPH 5 in 6 (Planungsunterlagen → Ausführungsunterlagen), da nicht alle wesentlichen Projektwissensinhalte, die der Auftraggeber sich angeeignet hat, in die Ausschreibungsunterlagen einfließen.33) In der LPH 7 werden bestehende Beschreibungslücken durch Bieterfragen geschlossen.34) Sobald die (Bau-)Ausführungsphase beginnt, steigt der Wissensstand beider Parteien weiter an. Basierend auf den Aussagen aus der ersten ExpertInnenbefragung wurde die Darstellung der Wissenslücke (siehe Abb. 57-3) angepasst. Der positive Beitrag durch die Auftraggeber-Online-Wissensplattform (siehe Abb. 57-2) fließt in nachfolgende Abbildung (Abb. 57-4) ein, um die Verminderung der Wissensdifferenz zu visualisieren.

Abb. 57-4

Angepasster Wissensverlauf vom Auftraggeber und Bieter/Auftragnehmer bei Straßenbauprojekten

Wie bereits in Abb. 57-3 wird in Abb. 57-4 der Wissensverlauf des Auftraggebers und des Bieters bei öffentlichen Projekten dargestellt. Der Unterschied liegt in der Berücksichtigung der Online-Wissensplattform und deren Auswirkungen auf die Wissensdiskrepanz zwischen AG und AN bzw. Bieter. Der Wissensverlauf des Auftraggebers bleibt unverändert. Lediglich der Wissensverlauf des Bieters/Interessenten, verändert sich. Die Veränderung entsteht dadurch, dass der Interessent sich ab LPH 5 regelmäßige Informationen über die Online-Wissensplattform aneignen kann. Damit kann der Bieter bei der Angebotsbearbeitung, im Vergleich zur bisherigen Lösungen einen Wissensvorsprung haben. Ein Wissensunterschied zwischen AG und AN bzw. Bieter besteht weiterhin, jedoch konnte dieser reduziert werden. Eine Quantifizierung der Wissenslücke und der Veränderung durch die Online-Plattform ist nicht möglich. Dennoch kann festgehalten werden, dass eine positive Veränderung durch frühzeitige Bereitstellung der Informationen die Wissenslücke reduzieren kann.35) 32) 33) 34) 35)

Vgl. RE 2012, S. 15, Teil 1 Vgl. Experte G, S. 9 ff. Vgl. Experte C, S. 7; Experte D + E, S. 15 Vgl. Experte A2; Experte D + E2; Experte G2; Experte H2

57 Frühzeitiger Wissenstransfer zw. Auftraggeber und Bieter anhand einer Online-Wissensplattform

57.6.4

879

Fragen der 2. Befragungsrunde

Zur Validierung wurden den Probanden der Auftraggeber- und der Bieterseite in der zweiten ExpertInnenrunde folgende Fragen gestellt: 1. Wie beurteilen Sie den angepassten hypothetischen Wissensverlauf? (Abb. 57-3 und Abb. 57-4) 2. Wie beurteilen Sie die genannten Anforderungen an die Online-Wissensplattform? 3. Wie beurteilen Sie die erstellte Online-Wissensplattform? 4. Denken Sie das die Online-Wissensplattform einen positiven Effekt auf die Wissenslücke haben kann?

57.6.5

Auswertung der 2. Befragungsrunde

Die Antworten der ExpertInnen auf der Auftraggeber- und der Bieterseite lauten wie folgt (zusammengefasst): 1. Die Mehrzahl der Probanden beschreibt, dass sie dem neuen Wissensverlauf und der Wissenslücke zustimmen, diesen für nachvollziehbar halten und dass eine Wissenslücke zwischen den Vertragsparteien vorhanden ist.36) Während der Validierung haben die ExpertInnen folgende Vorschläge für die weitere Bearbeitung der Abbildung des Wissensverlaufes eingebracht: Unterscheidung zwischen projektrelevantem Wissen und nicht für die Ausschreibungsunterlagen relevantem Wissen.37) 2. Die Probanden stimmen den vordefinierten Voraussetzungen zu, erkennen diese als verständlich und formal richtig an.38) 3. Die ExpertInnen erachten eine Unterteilung der Unterlagen nach Regionen sowie in projektspezifische und nichtprojektspezifische Informationen für sinnvoll.39) Dies wird mit der positiven Auswirkung auf die strategische Planung von Unternehmen begründet.40) Des Weiteren nannten sie eine Verbesserung der internen Kapazitätsplanung als Vorteil.41) 4. Basierend auf den Aussagen der Probanden ist zusammenfassend festzuhalten, dass die erstellte Online-Wissensplattform einen positiven Beitrag zur Verminderung der Wissenslücke haben kann. Wie bereits oben erwähnt, lässt sich jedoch keine Quantifizierung dieser Veränderung ableiten.42)

57.6.6

Weiterentwicklung des Ansatzes basierend auf den Ergebnissen (2. Befragungsrunde)

Basierend auf den Aussagen aus der 2. ExpertInnenbefragung wurde die Online-Wissensplattform angepasst und es wurden Vorteile für den AG und AN abgeleitet. 36) 37) 38) 39) 40) 41) 42)

Vgl. Experte A2, S. 4; Experte D + E2, S. 2; Experte H2, S. 2 Vgl. Experte A2, S.3 Vgl. Experte A2, S. 4; Experte G2, S. 5, Experte H2, S. 2 Vgl. Experte A2, S. 5; Experte D + E2, S. 5; Experte F2, S. 6, Experte G2, S.7; Experte H, S.3 Vgl. Experte A2, S. 5; Experte D + E2, S. 5; Experte F2, S.6, Experte G2, S.7; Experte H, S. 3 Vgl. Experte 2 D + E, S.7 Vgl. Experte A2, S. 12; Experte D + E, S. 17; Experte G, S.11; Experte H, S. 8

880

Teil I – Wissensmanagement

57.6.6.1

Auftraggeber Online-Wissensplattform

In der 2. Befragungsrunde wurde die Online-Wissensplattform validiert. Des Weiteren wurde die Online-Wissensplattform nach der Validierung durch weitere Anregungen der ExpertInnen weiterentwickelt. Folgende Abbildung (Abb. 57-5) veranschaulicht die Inhalte der Online-Wissensplattform.

Online-Wissensplattform

Region auswählen (Mehrfachauswahl möglich)

Neubaumaßnahmen ; Nichtprojektspezifische Unterlagen ;

Abb. 57-5

Projekt A : Projekt B : Projekt C ; Projekt D ;

Ausbaumaßnahmen ; Nichtprojektspezifische Unterlagen ;

Projekt A : Projekt B : Projekt C ; Projekt D ;

Erhaltungsmaßnahmen : Nichtprojektspezifische Unterlagen ;

Projekt A : Projekt B : Projekt C ; Projekt D ;

Konzeption der Auftraggeber-Online-Wissensplattform43)

Der Vorhabenträger (Auftraggeber) verwaltet diese Wissensplattform mit dem Ziel der Angebotsoptimierung, zur Verbesserung des Projektverständnis (AN), die Wissenslücke zwischen Bieter und Auftraggeber zu vermindern und Projektinformationen für die Interessenten leichter zugänglich zu machen. WƌŽũĞŬƚƐƉĞnjŝĨŝƐĐŚĞ/ŶĨŽƌŵĂƚŝŽŶĞŶ

EŝĐŚƚƉƌŽũĞŬƚƐƉĞnjŝĨŝƐĐŚĞ/ŶĨŽƌŵĂƚŝŽŶĞŶ

Unterschiedliche Pläne (Höhenplan, Lageplan, Straßenquerschnitte etc..)

Investitionsvolumen eines Regierungspräsidiums

in wieweit wird BIM in einem Projekt umgesetzt

Untergliederung des Investitionsvolums in: Neubaumaßnahmen Ausbaumaßnahmen Erneuerungsmaßnahmen

Eckdaten eines Projektes (Zeitpunkt Überschlägige Mengenangabe: Das heißt, wie viel Ausschreibung, Anzahl Ingenieurbauwerke, Ingenieurbauwerke oder wie viel Asphalt ist z. B. Mengen und Massen) geplant im Jahr 2020. Beschlüsse und Gutachten Tab. 57-1

Darstellung projektspezifischer und nichtprojektspezifischer Informationen

Die erste Strukturebene ist als Region bezeichnet, diese stellt ein Gebiet dar (z.B. ein Bundesland), in dem Baumaßnahmen geplant sind. Mit der Selektion dieser erweiterte sich die Struktur und erlaubt den Zugriff auf weitere Informationen zu den dortigen Bauvorhaben. Hierbei können ein oder mehrere Gebiete ausgewählt werden. Die darauffolgende Ebene unterscheidet nach der Projektart. Darunter zu verstehen ist der Maßnahmentyp: Neubau-, Ausbau-, Erhaltungsmaßnahme. Die Plattform untergliedert in Abhän43)

Eigene Darstellung

57 Frühzeitiger Wissenstransfer zw. Auftraggeber und Bieter anhand einer Online-Wissensplattform

881

gigkeit von der ausgewählten Maßnahme in projektspezifische und nichtprojektspezifische Unterlagen. In Tab. 57-1 werden die projektspezifischen Informationen und die nichtprojektspezifischen Informationen vorgestellt, welche von den ExpertInnen genannt wurden. Die Informationen (Tab. 57-1) werden den Interessenten auf der Online-Wissensplattform zur Verfügung gestellt. Der Zeitpunkt und wie die Interessenten darauf zugreifen können, sind wie folgt: Aufgaben des AG bezüglich der Online-Wissensplattform und Zeitpunkt der Veröffentlichung der Informationen 1. Der AG erstellt und verwaltet die Plattform. Auf dieser Plattform werden projektspezifischen Informationen sowie nichtprojektspezifischen Informationen hochgeladen, sobald diese erstellt und geprüft wurden. a. Im Normalfall veröffentlicht der AG diese Informationen auf der Onlineplattform über sein(e) Projekt(e) erst nach LPH 4 bzw. nach dem Planfeststellungsbeschluss. Dieser Zeitpunkt wurde gewählt, um zu gewährleisten, dass die Informationen sich voraussichtlich nicht mehr ändern. b. Falls der Planfeststellungsbeschluss erst zu einem späteren Zeitpunkt genehmigt wird, kann der Auftraggeber die vorherigen Genehmigungspläne sowie andere Informationen veröffentlichen. Auf der Online-Wissensplattform gibt es unterschiedliche Funktionen für NutzerInnen die nicht registriert oder registriert sind. 1. Nicht registrierte NutzerInnen: a. Aufgrund der Voraussetzungen an die Online-Wissensplattform kann jeder Interessent die Plattform nutzen. Das bedeutet, Interessierte können sich die nichtprojektspezifischen und projektspezifischen Unterlagen auf der Plattform ansehen und herunterladen. 2. Registrierte NutzerInnen: a. Registrierten NutzerInnen stehen dieselben Funktionen wie die nichtregistrierten NutzerInnen zur Verfügung. Zusätzlich können diese Projekte auswählen (abonnieren) und bekommen in einem zeitlichen Intervall von 4 Wochen Informationen über Änderungen/Neuerungen über die von ihnen abonnierten Projekte. Des Weiteren können registrierte NutzerInnen über die Plattform dem Auftraggeber „anonym“ Fragen stellen, die beantwortet und auf der Plattform allen NutzerInnen bereitgestellt werden.

57.6.6.2

Vorteile für den AG und Bieter/AN

Mit Hilfe der zweiten Befragungsrunde konnten Vorteile für den Auftraggeber und den Bieter bzw. Auftragnehmer herausgearbeitet werden, die sich durch die Nutzung der Online-Wissensplattform ergeben können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Vorteile für den Auftragnehmer auch einen positiven Einfluss auf den Auftraggeber haben können. Die Vorteile sehen wie folgt aus:

882

Teil I – Wissensmanagement

Eƌ͘ ĞŶĞĨŝƚƐ 1 2 3 4

5

' E

Verbesserung der Qualität der Ausschreibungsunterlagen, da eine „Kontrollfunktion“ durch die frühzeitige Sichtung der Unternehmer gegeben ist. Es lässt sich eine Transparenzsteigerung durch vereinfachte Bereitstellung von Informationen über die Projekte oder den Auftraggeber realisieren. Die Qualität des abgegebenen Angebots kann erhöht werden, da die Bieter erste Informationen bereits vor der Ausschreibungsphase erhalten. Anhand der frühzeitigen Informationen können Risiken bereits in einem Vorprojektstadium untersucht werden. Dies kann einen positiven Einfluss auf die Ablaufplanung nehmen. Aus den frühzeitigen Informationen kann ein Interessent erkennen, welche Leistung er selbst erbringen kann und wofür dieser Nachunternehmer benötigt. Somit hat der AN mehr Zeit entsprechende Nachunternehmer zu finden.

Bei Projekten die ein Interessent nicht alleine durchführen kann, hat dieser durch die frühzeitigen Informationen mehr Zeit um eine Arbeitsgemeinschaft zu bilden. Sofern Nebenangebote zulässig sind, kann sich ein Unternehmer basierend auf den 7 frühzeitigen Informationen überlegen, welche Alternativen möglich sind. Die nicht projektspezifischen Unterlagen leisten einen positiven Beitrag für die strategische 8 Ausrichtung. Ist das Investitionsvolumen bekannt, also damit die Anzahl, Größe und Menge der künftigen Projekte, kann die interne Kapazitätsplanung optimiert werden.

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6

Tab. 57-2

x x

x x

Vorteile für AG/AN

Die Berücksichtigung der vorgeschlagenen Auftraggeber-Wissensplattform kann dem Auftraggeber sowie dem Auftragnehmer Vorteile bringen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Vorteile als Hypothesen anzusehen sind, da sich diese durch eine qualitative Befragung ergeben haben und nicht anhand der Literatur überprüft werden konnten, da zum Thema Reduktion des Wissensdefizits durch frühe Informationsbereitstellung seitens des Auftraggebers keine entsprechenden Quellen gefunden wurden. Um zu überprüfen, ob es sich um realisierbare und realistische Vorteile handelt, empfiehlt sich eine quantitative Datenerhebung. Oder schlichtweg eine – ggf. zunächst probeweise – Anwendung.

57.7

Aktuelle Trends

Basierend auf den vorgestellten Ergebnissen ergibt sich weiterer Forschungsbedarf, um das Wissensdefizit weiter zu verringern: • Die AG-Online-Wissensplattform sollte im Rahmen einer Fallstudie auf ihre Realisierbarkeit getestet werden, um herauszufinden, in wieweit diese in der Praxis die Wissenslücke zwischen AG und Bieter schließen kann und welche tatsächlichen Vorteile diese für die Vertragsparteien hat. • Da BIM ab dem Jahr 2020 für alle öffentlichen Verkehrsprojekte angewendet werden soll, ist zu untersuchen, ob die projektspezifischen Informationen in Form eines BIMModells in die AG-Online-Wissensplattform implementiert werden können und wie eine solche Integration realisierbar ist. Für Pilot-Anwendungen der Wissensplattform bietet das Fachgebiet Projektmanagement der Universität Kassel seine Unterstützung sowohl bei Entwicklung als auch bei der Implementierung an.

57 Frühzeitiger Wissenstransfer zw. Auftraggeber und Bieter anhand einer Online-Wissensplattform

57.8

883

Zusammenfassung

Durch den langen Planungszeitraum von Straßenprojekten, die oftmals zahlreichen Planungsänderungen und die kurze Angebotszeit, beginnt ein Auftragnehmer die Bauphase mit einem Wissensdefizit gegenüber dem Auftraggeber. Die Wissenslücke führt zu einem unterschiedlichen Projektverständnis zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber in der Angebotsphase und der Auftragnehmer erlangt meist erst während der Realisierungs-/Ausführungsphase eine mehr oder weniger vollständige technische Durchdringung des Projektes. Die Folgen sind häufig sowohl Verzögerungen der Projektlaufzeit als auch Mehrkosten für den Auftraggeber und daraus entsprechende Konflikte zwischen den Vertragsparteien. Um die in diesem Beitrag aufgezeigte Wissenslücke zu vermindern, wurde ein Ansatz entwickelt, mit dem der öffentliche Auftraggeber über eine Online-Wissensplattform den InteressentInnen bereits in der Planungsphase projektspezifische und nichtprojektspezifische Unterlagen zur Verfügung stellen kann. Dieser Ansatz wurde durch eine qualitative Datenerhebung überprüft und das Ergebnis der Überprüfung ist, dass die vorgestellte Online-Wissensplattform die AuftragnehmerWissenslücke vermindern kann. Zudem hat sich aus den ExpertInnenbefragungen ergeben, dass sowohl der Auftraggeber als auch der Auftragnehmer bzw. Bieter von der Online-Wissensplattform profitieren können.

57.9

Abkürzungsverzeichnis

AG

......................... Auftraggeber

AN

......................... Auftragnehmer

BIM

......................... Building Information Modelling

LPH

......................... Leistungsphase nach HOAI

HOAI

......................... Honorarordnung für Architekten und Ingenieure

57.10

Literaturverzeichnis

Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2015). Reformkommission Bau von Großprojekten – Endbericht. (Online unter: https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Publikationen/G/reformkommission-bau-grossprojekte-endbericht.pdf?__blob=publicationFile. Datum des Zugriffs: 16.05.2019) Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (2012): Richtlinien zum Planungsprozess und für die einheitliche Gestaltung von Entwurfsunterlagen im Straßenbau – Ausgabe 2012. (Online unter: https://www.thueringen.de/mam/th9/tlbv/re_2012.pdf. Datum des Zugriffs: 03.03.2019) Experte A, Erste Expertenrunde. Mitarbeiter in einem Bauunternehmen, NordrheinWestfalen, 07.12.2018, durchgeführt von Hanschke, M. Unveröffentlichte Quelle. Einsehbar im Fachgebiet Projektmanagement, Universität Kassel.

884

Teil I – Wissensmanagement

Experte B, Erste Expertenrunde. Mitarbeiter in einem Bauunternehmen, BadenWürttemberg, 18.12.2018, durchgeführt von Hanschke, M. Unveröffentlichte Quelle. Einsehbar im Fachgebiet Projektmanagement, Universität Kassel. Experte C, Erste Expertenrunde. Mitarbeiter in einem Bauunternehmen, BadenWürttemberg, 06.12.2018, durchgeführt von Hanschke, M. Unveröffentlichte Quelle. Einsehbar im Fachgebiet Projektmanagement, Universität Kassel. Experte D + E, Erste Expertenrunde. Mitarbeiter in einem Bauunternehmen, BadenWürttemberg, 06.12.2018, durchgeführt von Hanschke, M. Unveröffentlichte Quelle. Einsehbar im Fachgebiet Projektmanagement, Universität Kassel. Experte F, Erste Expertenrunde. Mitarbeiter in einem Bauunternehmen, Hessen, 08.01.2019, durchgeführt von Hanschke, M. Unveröffentlichte Quelle. Einsehbar im Fachgebiet Projektmanagement, Universität Kassel. Experte G, Erste Expertenrunde. Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, Hessen, 10.12.2018, durchgeführt von Hanschke, M. Unveröffentlichte Quelle. Einsehbar im Fachgebiet Projektmanagement, Universität Kassel. Experte H, Erste Expertenrunde. Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, Hessen, 21.12.2018, durchgeführt von Hanschke, M. Unveröffentlichte Quelle. Einsehbar im Fachgebiet Projektmanagement, Universität Kassel. Experte I, Erste Expertenrunde. Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, Hessen, 02.01.2019, durchgeführt von Hanschke, M. Unveröffentlichte Quelle. Einsehbar im Fachgebiet Projektmanagement, Universität Kassel. Experte J, Erste Expertenrunde. Vertragsjurist, Hessen, 11.12.2018, durchgeführt von Hanschke, M. Unveröffentlichte Quelle. Einsehbar im Fachgebiet Projektmanagement, Universität Kassel. Experte A2, Zweite Expertenrunde. Mitarbeiter in einem Bauunternehmen, NordrheinWestfalen, 15.02.2019, durchgeführt von Hanschke, M. Unveröffentlichte Quelle. Einsehbar im Fachgebiet Projektmanagement, Universität Kassel. Experte D + E2, Zweite Expertenrunde. Mitarbeiter in einem Bauunternehmen, BadenWürttemberg, 14.02.2019, durchgeführt von Hanschke, M. Unveröffentlichte Quelle. Einsehbar im Fachgebiet Projektmanagement, Universität Kassel. Experte F2: Zweite Expertenrunde. Mitarbeiter in einem Bauunternehmen, Hessen, 12.02.2019, durchgeführt von Hanschke, M. Unveröffentlichte Quelle. Einsehbar im Fachgebiet Projektmanagement, Universität Kassel. Experte G2: Zweite Expertenrunde. Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, Hessen, 08.02.2019, durchgeführt von Hanschke, M. Unveröffentlichte Quelle. Einsehbar im Fachgebiet Projektmanagement, Universität Kassel. Experte H2, Zweite Expertenrunde. Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, Hessen, 07.02.2019, durchgeführt von Hanschke, M. Unveröffentlichte Quelle. Einsehbar im Fachgebiet Projektmanagement, Universität Kassel. https://www.absthessen.de/pdf/Auftragswesen_Aktuell_Maerz_2019.pdf. Datum des Zugriffs: 16.05.2019. https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Pressemitteilungen/2014/044-dobrindt-verkehrsprognose2030.html. Datum des Zugriffs: 16.05.2019. https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Pressemitteilungen/2015/152-dobrindt-stufenplanbim.html. Datum des Zugriffs: 16.05.2019.

57 Frühzeitiger Wissenstransfer zw. Auftraggeber und Bieter anhand einer Online-Wissensplattform

885

https://www.bwi-bau.de/fileadmin/media/bwi/dokumente/Risikokatalog_auf_Bauprojektebene.pdf. Datum des Zugriffs: 16.05.2019. https://www.hertieschool.org/fileadmin/2_Research/2_Research_directory/Research_projects/Large_infra structure_projects_in_Germany_Between_ambition_and_realities/1_Grossprojekte_in_Deutschland_-_Factsheet_1.pdf. Datum des Zugriffs: 16.05.2019. https://www.ingenieur.de/technik/forschung/studie-oeffentliche-grossprojekte-im-schnitt73-teurer-geplant. Datum des Zugriffs: 16.05.2019. https://www.strassen.nrw.de/de/planung-bau/mit-planung-zum-bau/linienfindung.html. Datum des Zugriffs 25.05.2019. https://www.dtad.de/workxl/content/leitfaden-verfahren.0.html. Datum des Zugriffs: 27.05.2019. Spang, Konrad (2016). Projektmanagement von Verkehrsinfrastrukturprojekte. Berlin Heidelberg. Springer Vieweg. (ISBN 978-3-662-46458-8) Spang, Konrad (2018). Vorlesungsfolien Projektmanagement 5 – Projektmanagement von Infrastrukturprojekten: ‚Störungs- und Risikomanagement‘ – Sommersemester 2018. Universität Kassel. (Online unter: http://slideplayer.de/slide/644669/#. Datum des Zugriffs: 16.05.2019) Van Valkenburg, Marcelle; Lenferink, Sander; Nijsten, Roel; Arts, Jos (2008): Early Contractor Involvement: A New Strategy For ‚Buying The Best‘ in Infrastructure Development In The Netherlands. In: 3rd International Public Procurement Conference Proceedings 28-30 August 2008. Seite 323-356. (Online unter: http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.562.1967&rep=rep1&type= pdf. Datum des Zugriffs 25.05.2019) VOB/A, (2016): Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen – Teil A. (Online unter: https://dejure.org/gesetze/VOB-A. Datum des Zugriffs: 27.05.2019) Wondimu, Paulos Abebe et al.(2016). Early Contractor Involvement in Public Infrastructure Projects. In: 24th annual conference. of the International Group for Lean Construction – Boston, MA, USA. Hrsg.: International Group for Lean Construction. sect. 3 pp. 13-22. (Online unter https://www.researchgate.net/publication/305699322_Early_Contractor_Involvment_In_Public_Infrastructure_Projects. Datum des Zugriffs: 25.05.2019)

58

Wissen als grundlegender Produktionsfaktor in der Bauwirtschaft

Assoc.Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Christian Hofstadler Institutsvorstand Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected] Dipl.-Ing. Cornelia Ninaus Universitätsassistentin Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft Technische Universität Graz Lessingstraße 25/II 8010 Graz www.bbw.tugraz.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_58

888

58.1

Teil I – Wissensmanagement

Abstract

Die Gesamt-Produktivität auf der Baustelle wird wesentlich von den elementaren Produktionsfaktoren bestimmt. Für die Auswahl und Kombination und die damit einhergehenden Optimierungen sind die dispositiven Produktionsfaktoren zuständig. In diesem Zusammenhang wird dem grundlegenden Produktionsfaktor Wissen oftmals zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dem soll dieser Beitrag entgegenwirken, indem das Produktionssystem und die darauf wirkenden äußeren Einflüsse beschrieben und in weiterer Folge die Grundlagen zum Faktor Wissen und dem organisationalen Umgang damit dargestellt werden. Wesentlich dabei ist, dass ein integraler Austausch zwischen den elementaren und dispositiven Produktionsfaktoren geschaffen wird. Das dabei entstehende Wissen sollte nicht nur eine Addition, sondern eine Aggregation darstellen. Die Maxime dabei lautet: Voneinander und füreinander lernen, ganzheitliches Denken und abgestimmtes Handeln.

58.2

Situationsanalyse

Die effiziente Kombination der Produktionsfaktoren ist maßgebend für die GesamtProduktivität im Baubetrieb. Das Wissen über die Art der Produktionsfaktoren und über deren optimales Zusammenwirken ist entscheidend, um eine genaue Auswahl treffen zu können. Wissen wird im Zusammenspiel der elementaren und dispositiven Produktionsfaktoren generiert. Der notwendige Wissensaustausch zwischen den Faktoren geht dabei oft nicht geordnet vonstatten und sehr wertvolles Wissen geht dann ob mangelnder Archivierung und Speicherung verloren. Um diesen Wissensverlust zu vermeiden, besteht die Empfehlung, ein dementsprechendes Wissensmanagement zu installieren und zu leben.

58.3

Produktionssystem im Baubetrieb

Die Produktivität stellt eine wesentliche Kennzahl im Baubetrieb und der Bauwirtschaft dar und ist ein zentraler Begriff bei der Planung, Kalkulation und Durchführung von Bauleistungen. Sie dient zur Beurteilung der Ergiebigkeit einzelner Arbeiten oder des gesamten Produktions- bzw. Wirtschaftsprozesses und wird durch das Verhältnis von Output zu Input ausgedrückt. Maßgebend beeinflusst wird die erzielbare Produktivität von der Leistungsfähigkeit des Produktionssystems. Das Produktionssystem im Baubetrieb steht im Zentrum der folgenden Ausführungen. Es wird dabei auf die inneren und äußeren Einflüsse des Produktionssystems eingegangen. Im Baubetrieb bestehen die Produktionsfaktoren aus elementaren (Arbeit, Betriebsmittel, Stoffe) und dispositiven Elementen (Projektleiter, Bauleiter, Techniker etc.), die planen, steuern, kontrollieren, auswählen, organisieren, kommunizieren, dokumentieren sowie Wissensarbeit leisten (siehe Abb. 58-1). Der Grad des produktiven Zusammenwirkens der elementaren Produktionsfaktoren wird idealerweise im Zuge von zeitnahen Rückkopplungen untersucht. Die Geräte und Materialien auf der Baustelle werden von Arbeitskräften kombiniert, um die geplanten Bauleistungen mit der „Normal-Produktivität“1) zu erbringen. Die Zeit, in der die Leistungen erbracht werden, und die Intensität des Ressourceneinsatzes sind entscheidend für die erzielbare Produktivität und in weiterer Folge für die verursachten

58 Wissen als grundlegender Produktionsfaktor in der Bauwirtschaft

889

Kosten. Werden vom Auftragnehmer mehr Kosten verursacht, als in der Auftragskalkulation angesetzt, entsteht ein Defizit. In Abhängigkeit vom Verursacher der Differenz und den Vereinbarungen im Bauvertrag hat der AN diese Mehrkosten zu tragen oder kann die gesamten Kosten oder Teile davon auf den Auftraggeber übertragen. Kosten werden als geldmäßig ausgedrückter Verzehr an Gütern und Dienstleistungen bezeichnet. Somit ist unter Kosten der ordentliche, betrieblich bedingte, bewertete Verzehr von Gütern und Dienstleistungen einer Periode zu verstehen.

Abb. 58-1

Kombination der Produktionsfaktoren zur Erzielung der Gesamtproduktivität – Produktionssystem2)

Das innere Produktionssystem bezieht sich auf die isolierte Betrachtung der Art, der Anzahl 1)

2)

Unter durchschnittlicher Normal-Produktivität wird die menschliche Produktivität, die von jeder hinreichend geeigneten Arbeitskraft nach genügender Einübung und Einarbeitung ohne Gesundheitsschädigung auf die Dauer im Durchschnitt mindestens erreicht und erwartet werden kann, wenn sie die in der Vorgabe berücksichtigten Zeiten für persönliche Bedürfnisse und ggf. auch für die Erholung einhält. Anmerkung: in Anlehnung an die REFA Definition für Normalleistung. Vgl. Hofstadler (2014). Produktivität im Baubetrieb. S. 67. Weiterentwickelt nach Hofstadler (2014), S. 15.

890

Teil I – Wissensmanagement

und der Kombination der elementaren Produktionsfaktoren. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen Arbeitskräfte, Betriebsmittel und Stoffe, die zur Ausführung der Leistungen erforderlich sind. Wesentlich ist die zeitliche, räumliche und intensitätsmäßige Abstimmung, damit die Grenzen zu Produktivitätsverlusten nicht überschritten werden. Für die Auswahl und das Funktionieren dieser Faktoren sind die dispositiven Produktionsfaktoren verantwortlich. Dieses zweidimensionale System der Gesamtproduktivität ist um eine zusätzliche Dimension zu erweitern, da die Produktionsfaktoren besonders durch die Umwelt- und Umfeldbedingungen, Art, Form und Komplexität des Bauvorhabens, die auszuführenden Qualitäten sowie Quantitäten und nicht zuletzt durch die vorgegebene Bauzeit beeinflusst werden. Das innere Produktionssystem steht in Wechselbeziehung mit dem äußeren. Das äußere Produktionssystem besitzt dabei eine steuernde Funktion und nimmt mit der Ausgestaltung des inneren Produktionssystems einen maßgeblichen Einfluss auf die erzielbare Produktivität (Rückkopplungen sind dabei zeitnah durchzuführen). Die äußeren Bedingungen sind vom AN nicht wählbar und damit auch nur bedingt beeinflussbar (z.B. durch Vorfertigung in einer Fertigungshalle). Zur Erreichung aller Projektziele ist das innere Produktionssystem unter Berücksichtigung der äußeren Randbedingungen effizient zu gestalten. Wer die Kosten für diese Anpassungen in der Bauausführungsphase zu tragen hat, folgt aus den Vereinbarungen im Bauvertrag bzw. ist Gegenstand von Streitigkeiten zwischen den Parteien. Die Einflüsse des gesamten Produktionssystems auf die Berechnung von Kosten und Zeiten sind anhand von Daten und Informationen zu bewerten und an den somit erweiterten Kenntnisstand anzupassen. Die richtige Auswahl und Kombination von Produktionsfaktoren nimmt wesentlichen Einfluss auf die Produktivität, da Aufwands- sowie Leistungswerte damit in direktem Zusammenhang stehen. Von ihnen hängt es auch ab, ob die Normal-Produktivität erzielt werden kann. Werden die spezifischen Grenzen der Produktionsfaktoren nicht eingehalten, muss ein größerer Ressourceneinsatz die dabei entstehenden Produktivitätsverluste kompensieren. Die Produktionsfaktoren sind gesamtheitlich zu betrachten und nicht einseitig zu optimieren.3) Wie wirtschaftlich die Kombination der Produktionsfaktoren gelingt, hängt maßgebend von der Art, Form und Komplexität des Bauwerks sowie von den Umständen der Leistungserbringung ab. Zudem wird die erzielbare Gesamtproduktivität von den geforderten Qualitäten und Quantitäten, der Bauzeit, dem Umfeld und nicht zuletzt durch die Witterung bestimmt.4) Zur Beurteilung, Bewertung und Analyse der erzielten bzw. der erzielbaren Gesamtproduktivität müssen sowohl die elementaren als auch die dispositiven Produktionsfaktoren (Art, Anzahl und deren Kombination) dokumentiert werden. Dabei ist zu beachten, dass stets ein zeitlicher, räumlicher und intensitätsmäßiger Bezug hergestellt wird. Das ganzheitliche Systemdenken fordert, dass bei der Betrachtung des Gesamtsystems stets die Einflüsse aus den Teilsystemen zu berücksichtigen sind. Die Eigenschaften der einzelnen Elemente sind im Gesamtkontext zu verstehen. Die inneren und äußeren Produktionsbedingungen (Grundlegendes dazu in Abb. 58-2) stehen in Wechselbeziehung zueinander. Es ist bei den Ermittlungen zur Produktivität darauf zu achten, dass jedes Projekt eine Anlaufphase, eine Hauptbauzeit und eine Auslaufphase aufweist. Kommt es zu Störungen und einem Stillstand oder zu einer 3) 4)

Vgl. Hofstadler (2014), S. 13ff. Vgl. Hofstadler/Kummer (2015), S. 52f.

58 Wissen als grundlegender Produktionsfaktor in der Bauwirtschaft

891

Winterpause, gibt es wieder eine Aus- und Anlaufphase. In An- und Auslaufphasen werden i.d.R. vergleichsweise geringere Produktivitäten erzielt als in der Hauptbauzeit.

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Abb. 58-2

58.4

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Produktionsbedingungen die auf ein Produktionssystem einwirken5)

Wissen als Produktionsfaktor

Wie bereits in den bisherigen Ausführungen erläutert, ist die Kombination der elementaren Produktionsfaktoren entscheidend für die Produktivität im Baubetrieb. Erst durch das Wissen, wie die Produktionsfaktoren optimal zusammenwirken müssen, können Erfolge erzielt werden. Diese Ausführungen sollen anhand eines sehr trivialen Beispiels näher erläutert werden: Für die Herstellung von einer kleinen Menge Beton auf der Baustelle stehen einem Bauarbeiter folgende elementare Produktionsfaktoren zur Verfügung: ein Sack Zement, ein Kübel, Wasser und Gesteinskörnung sowie ein Handrührwerk und seine Arbeitskraft. Seine Aufgabe besteht darin, Beton herzustellen. Dafür benötigt er das Wissen über die richtige Kombination der Produktionsfaktoren (Mischverhältnisse, Konsistenz, Reihenfolge etc.). Vor allem im Bauwesen ist dieses Wissen oftmals von Erfahrungswerten (implizites Wissen, siehe Abschnitt 58.5.2) geprägt. Eine weitere Möglichkeit ist das Erlangen von Wissen in expliziter Form über niedergeschriebene Rezepturen, Checklisten, Arbeitsanweisungen etc. Dadurch gelingt es, den Anteil an unsystematischen Entscheidungen zu reduzieren bzw. im Idealfall, total zu 5)

Vgl. Hofstadler (2018). Vorlesungsfolien: Produktivität im Baubetrieb

892

Teil I – Wissensmanagement

eliminieren. Somit sei anhand dieses einfachen Beispiels gezeigt, dass die drei elementaren Produktionsfaktoren Arbeitskraft, Betriebsmittel und Werkstoff nicht ausreichend sind. Erst durch das Wissen über die richtige Kombination der Produktionsfaktoren können diese auch effizient und effektiv genutzt werden. Weiterführend kann sogar gesagt werden, dass die elementaren Produktionsfaktoren unter Umständen austauschbar bzw. abwandelbar sind. Wissen ist jedoch eine wesentliche Grundlage, ohne die die anderen Faktoren nicht wertschöpfend sind. Aus diesen Überlegungen heraus kann Wissen als grundlegender elementarer Produktionsfaktor – eingebettet innerhalb der elementaren Faktoren – wie in Abb. 58-1 ersichtlich, bezeichnet werden. Es gibt Wissen im elementaren und dispositiven Bereich. Das elementare Wissen bezieht sich auf das Können bzw. die Fähigkeit etwas zu tun und das dispositive umfasst tendenziell eher steuernde Funktionen (wie im Produktionssystem bei den dispositiven Faktoren dargestellt). Die systematische Verknüpfung dieser beiden Wissensbereiche trägt jedenfalls zur Wissensaggregation bei und damit in hohem Ausmaß zur Steigerung der Produktivität. Das kann nur dadurch gelingen, dass die Menschen und deren Wissen im elementaren und im dispositiven Bereich integral miteinander verknüpft werden. Ausbildungsniveauunterschiede dürfen in der Qualität des Austauschs keine Rolle spielen. Es ist auf eine gemeinsame Verstehensumgebung abzuzielen, damit keine Missverständnisse oder Fehlinterpretationen entstehen. Auch Status- und Hierarchiedenken kann sich negativ auf den Wissenstransfer auswirken und ist in diesem Kontext jedenfalls abzubauen. Es ist Aufgabe der Führungsebene der Organisation (hier das Bauprojekt mit sämtlichen Beteiligten), diese Barrieren durch entsprechende Maßnahmen zu vermeiden bzw. eliminieren.

58.5

Allgemeines zu Wissen

Mit der Definition von Wissen beschäftigten sich Philosophen6) der ganzen Welt schon seit Jahrtausenden. Jedoch – oder vielleicht gerade deswegen – findet sich keine einheitliche Definition. Jeder Bereich, sei es Betriebswirtschaft, Pädagogik oder Psychologie hat seinen eigenen Zugang zur Materie und der damit verbundenen Interpretation des Begriffs „Wissen“. Ein einheitlicher Terminus scheint somit auch nicht sinnvoll. Anstelle einer Sammlung von Definitionen sollen im Folgenden die Entstehung von Wissen, die wesentlichen Merkmale sowie Arten aufgezeigt werden.

58.5.1

Die Entstehung von Wissen

Die wohl bekannteste Herleitung von Wissen im deutschsprachigen Raum ist die Wissenstreppe nach North (Vgl. Abb. 58-3). Ausgangspunkt der Wissenstreppe sind Zeichen (Buchstaben, Ziffern, Sonderzeichen). Erst durch Ordnungsregeln sowie einem Code oder einer Syntax werden daraus Daten. Diese Daten geben aber noch sehr viel Interpretationsspielraum. Durch deren Bedeutung bzw. Bezug werden daraus Informationen, die von 6)

Aristoteles bezeichnete Wissen als wissenschaftliche Erkenntnis (griech.: episteme) eines Sachverhaltes aus seiner Ursache heraus im Gegensatz zur Vermutung und Meinung (griech.: doxa) bzw. zum Glauben.

893

58 Wissen als grundlegender Produktionsfaktor in der Bauwirtschaft

Leserinnen und Lesern interpretiert werden können. Wenn eingangs nur klar war, dass es sich um die Zahl 7 handelt, wird durch dessen Bedeutung klar, dass diese Zahl für den Aufwandswert von 7 Std/m³ für Stahlbetonarbeiten steht. Der derzeitige Trend der Digitalisierung der Baubranche erreicht – auf Grund von mangelnder Vernetzung – oftmals lediglich die Informationsstufe. Informationen, die nicht vernetzt werden, sind für Baustellenreviews belanglos. Der Aufwandswert 7 Std/m³ ist ohne jegliche Vernetzung nicht vergleichbar. Erst durch die Vernetzung wird die Stufe des Wissens erlangt, in der dieser Aufwandswert beurteilt werden kann und Schlüsse für zukünftige Projekte gezogen werden können. Dieses Wissen wird für Unternehmen erst dann erkennbar, wenn es durch einen Anwendungsbezug in „Können“ transferiert wird. Dieses Können wird in tatsächliches Handeln umgewandelt, wenn das dazugehörige Wollen bzw. der Antrieb dafür gegeben ist. Durch das richtige Handeln wird Kompetenz erzeugt, die schlussendlich durch die Einzigartigkeit in der Wettbewerbsfähigkeit und somit Spitze der Wissenstreppe endet.

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Abb. 58-3

Wissenstreppe in Anlehnung an North7)

Dem Faktor Wissen können folgende Merkmale zugeordnet werden: • • • •

Wissen ist dynamisch generiert durch Veränderungen kognitiver Strukturen. Wissen ist immer an Personen gebunden. Wissen ist Voraussetzung für das menschliche Handeln. Wissen vermehrt sich durch Teilung.8) 7) 8)

In Anlehnung an North et al. in Hofstadler/Kummer (2016), S. 96 Winkler/Bauer (2007), S.13

894

Teil I – Wissensmanagement

58.5.2

Die Wissensarten

Die gesamte Wissensbasis eines Unternehmens (hier eines Bauprojektes) besteht aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Wissensarten, die den gesamten Wissensspeicher darstellen. Wissen lässt sich je nach Dimension (Wissenspsychologie, Wissensträger, Artikulierbarkeit) in verschiedene Wissenskategorien einordnen (Siehe Abb. 58-4).

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Abb. 58-5

Horizontales Schichtenmodell11)

Das Zentrum bildet das von allen geteilte Wissen der Organisation wie zum Beispiel Patente, Normen, Regeln usw. Dieses Wissen ist nicht an Personen gebunden. Die zweite Schicht beinhaltet das individuelle Wissen der MitarbeiterInnen. Dieses Wissen steht dem Unternehmen zur Verfügung und kann beispielsweise die Erfahrung oder Fachkenntnisse der MitarbeiterInnen sein. Diese beiden Schichten bilden die aktuelle Wissensbasis eines Unternehmens. 10) 11)

Vgl. Pautzke zitiert in Cüppers 2006, S. 50f. Ebd.

896

Teil I – Wissensmanagement

Die dritte Schicht ist eine abgewandelte Form des individuellen Wissens. Es ist an eine Person gebunden und steht dem Unternehmen nicht zur Verfügung. Dies kann eventuell durch diverse Barrieren (z.B. kulturell oder räumlich) in der Unternehmung geschehen. Vor allem in Bauprojekten ist dies sehr häufig. Das individuelle Wissen eines Mitarbeiters eines bestimmten Gewerks ist durch die vertragliche Struktur nicht für andere Gewerke zugänglich. Das Metawissen stellt die vierte Schicht der organisationalen Wissensbasis dar. Sie zeigt, dass es auch jenseits der aktuell genutzten Wissensbasis noch nutzbare Wissenspotenziale gibt. Die dritte und vierte Schicht bilden gemeinsam die latente Wissensbasis, die das versteckte Wissen einer Organisation widerspiegelt. Das restliche Wissen wird der fünften und mengenmäßig größten Schicht zugeordnet. Pautzke12) nennt dieses Wissen auch kosmisches Wissen. Hierbei handelt es sich um sämtliches Wissen aus dem Umfeld, welches nicht oder nur begrenzt der Organisation bekannt ist.

58.6

Systemarten und Wissensgenerierung

Bauprojekte sind immer einzigartig. In der Regel stellen sie sozio-technische Systeme dar. Solche Systeme (Systemarten siehe Abb. 58-6) weisen aufgrund der Anzahl an Beteiligten, der Menge an Systemkomponenten und der zeitlichen, länderspezifischen, tätigkeitsbezogenen, betrieblichen, regionalen sowie saisonalen Gegebenheiten einen hohen Komplexitätsgrad13) und je nach Projektphase entsprechende Unsicherheiten in den Systemparametern auf. In der stationären Industrie herrschen technische Systeme und vermehrt auch cyber-physische Systeme, die im Baubetrieb teilweise schon im Ingenieurbau und Tunnelbau anzutreffen sind, vor. Auch in den Arbeitswissenschaften und baubetrieblichen Untersuchungen bildet das Systemdenken die Ausgangsbasis. Die REFA-Methodenlehre14) definiert ein System als eine Gesamtheit von Elementen, deren Beziehungen einem bestimmten Zweck dienen. Je nach Betrachtungstiefe kann ein einzelner Arbeitsplatz, ein ganzes Unternehmen, ein Wirtschaftszweig oder eine gesamte Volkswirtschaft als System bezeichnet werden. Für den Bereich der Wirtschaft wird jeweils nach den beteiligten Systemelementen in • technische Systeme (Maschinen-Systeme), • soziale Systeme (Systeme von Menschen), • sozio-technische Systeme (Mensch-Maschine-Systeme) und • cyber-physische Vernetzung von Systemen (digitale Vernetzung von Systemen) unterschieden.15) Ein cyber-physisches System, engl. „cyber-physical system“ (CPS), bezeichnet den Verbund informatischer, softwaretechnischer Komponenten mit mechanischen und elektronischen Teilen, die über eine Dateninfrastruktur, wie z.B. das Internet, kommunizieren. Ein cyber-physisches System ist durch seinen hohen Grad an Komplexität gekennzeichnet. 12) 13) 14) 15)

Pautzke zitiert in Cüppers 2006, S. 50f. Die Komplexität grenzt sich von der Kompliziertheit durch das Vorhandensein einer zeitlichen Komponente (Dynamik) ab. Vgl. Berg (1984), S. 51 Vgl. ebd., S. 51

58 Wissen als grundlegender Produktionsfaktor in der Bauwirtschaft

897

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Systemarten beeinflussen das Produktions- und Wissenssystem16)

Die Daten- und Informationsgenerierung hängt wesentlich von der Art des vorherrschenden Systems ab. Bei sozialen Systemen im Baubetrieb müssten alle Menschen mit Trackingsystemen ausgestattet sein, um die gesamten Bewegungen über die gesamte Arbeitszeit genau aufzeichnen zu können. Damit könnten die zurückgelegten Wege nachvollzogen und analysiert werden. Vieles ist möglich, aber nicht alles ist (glücklicherweise) erlaubt! Dürfen die Bewegungen aufgezeichnet werden und werden diese zeitlich und räumlich Bauteilen zugeordnet, können daraus Kennzahlen wie z.B. Aufwandswerte ermittelt werden. Damit besteht die Möglichkeit, zeitnah und systematisch SOLLSOLLTE-IST-Vergleiche durchzuführen. Bei Abweichungen können die Gründe dafür eruiert werden. Darin liegt jedoch die große Schwierigkeit bzw. Herausforderung: Wer ist dafür verantwortlich und wie genau soll dies umgesetzt werden?! Es soll merklichen zusätzlichen Arbeitsaufwand nach sich ziehen (sonst macht es keiner) und dabei ist auch die Maxime der Objektivität möglichst zu berücksichtigen. Hierfür wird die geführte Informationsgenerierung als Erfolgsmodell angesehen, da durch vorgegebene Schemata Subjektivität verringert wird und Ressourcen eingespart werden können. Im Zuge der Weitergabe von Informationen über Daten und die Umstände der Leistungserbringung entstehen Informationsasymmetrien. Der Informationserzeuger, der unmittelbar in die Beobachtungen und Messungen eingebunden ist, gibt die baubetrieblichen und umstandsbezogenen Perzeptionen nicht 1:1 an den Informationsverwender bzw. den 16)

Vgl. Hofstadler (2018). Vorlesungsfolien: Produktivität im Baubetrieb

898

Teil I – Wissensmanagement

Wissensspeicher weiter oder kann die gesammelten Eindrücke nicht bzw. nicht alle in relevante und verwertbare Informationen transformieren. Diese Informationsverluste entstehen besonders bei der Transformation von Eindrücken zum beobachteten Baubetrieb in nutzbare Informationen wie Beschreibungen, Skizzen, Darstellungen von Prozessen etc. für an der Daten- und Informationsentstehung unbeteiligten Informationssuchenden. Die Informationsdefizite äußern sich besonders im Umfang, der Tiefe, der Präzision und der Eindeutigkeit. Teilinformationen werden durch bewusstes und unbewusstes Filtern vom Beobachter in subjektiv sinnvolle Gesamteindrücke überführt. In diesem Zusammenhang ist eine prozessorientierte Betrachtungsweise sinnvoll. Durch die Definition von Prozessen kann das Wissen für und über den Prozess sowie aus dem Prozess identifiziert und dementsprechende Maßnahmen abgeleitet werden.17) Entscheidend ist, ob der Informationserzeuger die Art und Umstände der Kombination der Produktionsfaktoren durch eigene, frei formulierte Texte beschreibt oder ob die Organisation vorgegebene Informationsblätter mit Textbausteinen (geführte Informationen18)) bereitstellt (siehe Abb. 58-7). ,QIRUPDWLRQVHU]HXJHU

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Abb. 58-7

17) 18)

19)

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Von der eigenständigen bis zur geführten Informationsgenerierung 19)

Vgl. Winkler/Bauer (2007), S. 99ff. Geführte Informationen: Im Zuge von geführten Informationen werden in einem Informationserfassungsblatt oder mit Hilfe einer Software fertige Textbausteine für ausgewählte Fragestellungen angeführt, die eine Auswahlmöglichkeit zur Beschreibung von z.B. bestimmten Baustellensituationen bieten. Der Nutzer kann durch die Auswahl eines Textfeldes damit einfach und rasch Informationen generieren. aus: Hofstadler/Kummer (2017), S. 93 Hofstadler/Kummer (2017), S. 94

58 Wissen als grundlegender Produktionsfaktor in der Bauwirtschaft

899

Anhand dieser Vorgaben können beispielsweise durch Ankreuzen (z.B. auch am Tablet) die zutreffendsten Beschreibungen ausgewählt werden. Selbstverständlich können spezifische, durch die Formblätter nicht vorgegebene Auswahlmöglichkeiten durch eigene Textierungen ergänzt werden. Es leuchtet ein, dass bei den für die Informationserzeugung Verantwortlichen die Bereitschaft zur lückenlosen Dokumentation eher gegeben ist, wenn wenig Text vom Beobachter zu entwickeln ist und auf standardisierte, bereits erprobte und vorgefertigte Systeme und Prozesse zurückgegriffen werden kann. Mittels vorgefertigter Systeme und Prozesse können auch die einzelnen Interpretationsspielräume eingegrenzt und idealerweise gänzlich eliminiert werden. Hinsichtlich des Eigenanteils der Generierung von Informationen wird hier in folgende Arten differenziert:20) • Eigenständige Informationsgenerierung • Informationserzeuger und Vorgesetzter haben vorher die Muss-, Soll-, Kannund Nichtziele vereinbart • Informationserzeuger leitet eigenständig die Informationsgenerierung ein • Informationserzeuger setzt die Informationsgenerierung auf der Baustelle um • Vorgesetzter unterstützt bei Interpretationsproblemen und Abgrenzungsfragen, auch vorab, wenn mit diesen zu rechnen ist oder es vom Erzeuger verlangt wird • Unterstützte Informationsgenerierung • Informationserzeuger und Vorgesetzter haben vorher die Muss-, Soll-, Kannund Nichtziele vereinbart • Informationserzeuger leitet eigenständig die Informationsgenerierung ein • Informationserzeuger setzt die Informationsgenerierung auf der Baustelle um und hat eigene Ideen zur Verbesserung des Informationssystems • Vorgesetzter überprüft die Verbesserungsvorschläge und unterstützt bei Interpretationsproblemen und Abgrenzungsfragen, auch vorab, wenn mit diesen zu rechnen ist • Geführte Informationsgenerierung • Informationserzeuger und Vorgesetzter haben vorher die Muss-, Soll-, Kannund Nichtziele vereinbart • Informationserzeuger führt die Informationsgenerierung anhand von vorgegebenen Informationserfassungsblättern oder einer Software durch. Auf Basis fertiger Beschreibungen von bestimmten Produktionsverhältnissen kann vom Erzeuger für spezifische Fragestellungen von ihm auf vorgegebene Auswahlmöglichkeiten zurückgegriffen werden. • durch die Auswahlmöglichkeit wird eine systematische und umfassende Informationsgenerierung ermöglicht • Vorgesetzter überprüft die Verbesserungsvorschläge und unterstützt bei Interpretationsproblemen sowie Abgrenzungsfragen, auch vorab, wenn mit diesen zu rechnen ist Im Prozess des Generierens von Informationen ist zu beachten, dass der Informationserzeuger den späteren Informationsnutzern i.d.R. nicht mehr für die Interpretation von Daten und Informationen zur Verfügung steht. Auch bei einer noch so guten Datenerfassung und Informationsgenerierung bleibt ein Rest an Informationsasymmetrien bestehen (z.B. Person A hat mehr oder andere Informationen als Person B). 20)

Hofstadler/Kummer (2017), S. 93f.

900

Teil I – Wissensmanagement

Mögliche Erklärungsansätze für Informationsasymmetrien:21) • Hidden property bzw. Hidden characteristics: Dabei handelt es sich um eine verborgene und nicht beobachtbare, unveränderbare Eigenschaft des besser informierten Akteurs. • Hidden action: Dies bezeichnet die verborgene und unbeobachtbare Handlung des besser informierten Akteurs. • Hidden information: Dabei handelt es sich um den verborgenen, unbeobachtbaren und unveränderlichen Umstand außerhalb der Person des besser informierten Akteurs. • Hidden intention: Dies bezeichnet die verborgene und unbeobachtbare Absicht des besser informierten Akteurs. Die Qualität von Informationen trägt wesentlich zur Erreichung der gesteckten Ziele bzw. zur richtigen und präzisen Vermittlung von Sachverhalten bei. Zu den häufig verwendeten Qualitätskriterien für Informationen zählen Strukturiertheit, Korrektheit, Vollständigkeit, Relevanz, Konsistenz, Aktualität, Zuordenbarkeit, Klarheit, Zuverlässigkeit, Gültigkeit, Objektivität und Prägnanz. Je schlechter die Qualität der Daten und Informationen ist, desto höher ist das Risiko für Fehleinschätzungen. Chancen können bei einer höheren Qualität der Daten und Informationen besser eingeschätzt und genutzt sowie Risiken besser bewertet und vermieden werden.

58.7

Die Entwicklung zur Wissensgesellschaft

Die Wirtschaft durchläuft einen fortwährenden dynamischen Veränderungsprozess, der sich in guten und schlechten wirtschaftliche Phasen manifestiert. Vor allem im letzten Jahrhundert konnten ökonomisch betrachtet starke strukturelle Veränderungen festgestellt werden. Wissen und die menschliche Fähigkeit zur kognitiven Verarbeitung wird als treibender Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet, weshalb häufig von der Wissensgesellschaft gesprochen wird. Die folgenden Ausführungen sollen die Entwicklung der österreichischen Volkswirtschaft bzw. die Entwicklung zur Wissensgesellschaft in der Bauwirtschaft darstellen.

58.7.1

Die Entwicklung in Österreich

Während Anfang des 19. Jh. die österreichische Volkswirtschaft durch den primären, sekundären und tertiären Wirtschaftssektor22) beschrieben werden konnte, ist diese Differenzierung heute längst nicht mehr ausreichend. Der primäre Sektor – auch als Urproduktion bekannt – liefert durch den hohen physischen Arbeitseinsatz und Investitionen die Rohstoffe für die Wirtschaft. Dieser arbeits- und kapitalintensive Bereich umfasst jene Betriebe, die Güter direkt aus der Natur gewinnen sowie Land- und Forstwirtschaft, Fischerei oder Bergbau.23) Die Güter des primären Sektors werden im sekundären Sektor weiterverarbeitet. Man bezeichnet diesen auch als industriellen Sektor, welcher durch eine material- und kapitalintensive Produktion charakterisiert ist.24) 21) 22) 23)

Vgl. z.B. Arrow (1984), S. 3ff.; Vgl. Werkl (2013), 56ff. Das Wort Wirtschaftssektor stammt aus der amtlichen Statistik und dient der Zusammenfassung einzelner Wirtschaftsbranchen innerhalb der Volkswirtschaft. Züger (2011), S. 25

58 Wissen als grundlegender Produktionsfaktor in der Bauwirtschaft

901

Vereinfacht25) betrachtet stellt der dritte Sektor den Dienstleistungsbereich dar. Dieser umfasst Handelsunternehmen, Banken, Versicherungen, Krankenhäuser, Forschung usw. Der tertiäre Sektor hängt großteils von den beschäftigten Menschen ab und ist somit sehr personalintensiv.26) Ende des 19. Jh. kam es aufgrund der Technisierung der Wirtschaft zu einer Umschichtung der Land- und Forstwirte zu Fabrikarbeitern und somit zur stärkeren Ausprägung des sekundären Sektors. Ab 1970 fand abermals eine grundlegende Umstrukturierung unserer Wirtschaft statt (Vgl. Abb. 58-827)).

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Abb. 58-8

Beschäftigte nach Wirtschaftssektoren in Österreich 28)

Der technologische Fortschritt aufgrund von Automatisierung und Rationalisierung von Prozessen, effizientere Arbeitsabläufe und Digitalisierung führten zu einem enormen Strukturwandel unserer Gesellschaft. Die österreichische Wirtschaft ist, wie die meisten 24) 25)

26) 27) 28)

Ebd. Die Ökonomen Fischer und Clark (1930) sehen im dritten Sektor all jene Bereiche, die nicht dem primären oder sekundären Bereich zuordenbar sind. In ihren Augen ist diese Kategorie von Luxusartikeln oder Luxusdienstleistungen, die der Bequemlichkeit des Konsumenten geschuldet sind, geprägt. Da diese Einteilung sehr viele Branchen zusammenfasst hat Fourastiés (1954) seine Tertiärisierungsthese entwickelt. Er unterteilt die Sektoren je nach Entwicklung der Arbeitsproduktivität. Branchen mit mittelmäßiger Produktivitätssteigerung – das heißt durch Rationalisierung ist es möglich, mit weniger Arbeitskräften dasselbe Ergebnis zu erzielen – werden dem primären Sektor zugeordnet. Bei starker/hoher Produktivitätssteigerung werden sie dem sekundären Teil der Volkswirtschaft zugewiesen. Aufgrund der nicht vorhandenen Rationalisierbarkeit des Dienstleistungssektors ist im dritten Sektor nur mit geringen Produktivitätssteigerungen zu rechnen. Züger (2011), S. 25 Basierend auf Zahlen der WKO Quelle: Hauptverband der Sozialversicherungsträger, STATISTIK AUSTRIA Aktualisierung: Februar 2019 Vgl. http://wko.at/statistik/Extranet/Langzet/Lang-Beschaeftigtenstruktur.pdf?_ga=2.33372407.839140062.1560850568-639899993.1559739943 Datum des Zugriffs: 18.06.2019

902

Teil I – Wissensmanagement

hoch entwickelten modernen Volkswirtschaften, heutzutage von Dienstleistungen dominiert. Dadurch gewann der tertiäre Sektor immer mehr an Bedeutung, weshalb es zur Entwicklung des 5-Sektorenmodells nach Bell kam. Er verzichtet auf eine Ausdifferenzierung des dritten Sektors und führt zusätzliche Sektoren ein. Mit der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien kommt es, zufolge den Ansätzen von Bell, nebst dem primären und sekundären Sektor zur Ausbildung folgender Bereiche: • Tertiärer Sektor: Klassische Dienstleistungen. Dies umfasst alle Leistungen, die individuelle Gebrauchsgüter herstellen. • Quartärer Sektor: Jene Leistungen, die sich mit der Massenproduktion von Informationen beschäftigen. Dies umfasst sowohl die Speicherung als auch die Vervielfältigung von Informationen. • Quintärer Sektor: Dienstleistungen, die sich mit der individuellen, spezifischen Bearbeitung von Informationen auseinandersetzen.29) Die letzten beiden Sektoren werden auch als informationsverarbeitende Bereiche bezeichnet, weshalb Daten und Informationen bis hin zum Wissen hier den maßgebenden Rohstoff bilden.

58.7.2

Die Entwicklung zur Wissensgesellschaft in der Bauwirtschaft

Auch in der Bauwirtschaft machen sich der Wandel zur Wissensgesellschaft und die steigende Bedeutung der geistigen Arbeit bemerkbar. Obgleich die Baubranche sehr traditionell geprägt und mit einer Vielzahl von sozialen Systemen (vgl. Abb. 58-6) konfrontiert ist, finden sich heute immer mehr sozio-technische oder gar technische Systeme in der Bauausführung. Durch die Entwicklung und den vermehrten Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien werden unzählige Daten und Informationen im Laufe eines Bauprojektes erzeugt und gespeichert. Durch die digitale Vernetzung wird versucht, der steigenden Komplexität von Bauprojekten, die mit einer erhöhten Anzahl von Projektbeteiligten und Schnittstellen einhergeht, sowie dem immer größerem Kosten- und Termindruck Herr zu werden. Die Vernetzung sämtlicher Projektbeteiligter scheint in Anbetracht des horizontalen Schichtenmodells nach Pautzke (siehe Abb. 58-5) durchaus sinnvoll und erforderlich. Jedoch zeigt die Praxis, dass durch die Digitalisierung derzeit nur Daten und Informationen gesammelt werden, aber deren Interpretation noch nicht ausgereift ist und somit der Weg zur nächsten Stufe – dem „Wissen“ – nicht beschritten wird (siehe Abb. 58-3). Wie bereits Naisbitt im Jahr 1982 sagte: „We are drowning in information but starved for knowledge.“30) Vor allem dem impliziten Wissen wird in der Bauwirtschaft noch nicht gebührend Aufmerksamkeit geschenkt. Baustellenreviews, welche die Erfahrungen der Projekte festhalten sollen, werden in der Praxis leider nur selten oder unzureichend durchgeführt, da die Zeit hierfür nicht veranschlagt wird. Durch neue Technologien und Materialien 29) 30)

Vgl. TUWIEN (2018), S. 20ff. Naisbitt (1982), S. 24

58 Wissen als grundlegender Produktionsfaktor in der Bauwirtschaft

903

wird sowohl in der operativen (elementare und dispositive Faktoren) als auch strategischen Ebene nahezu täglich neues implizites Wissen generiert. Der individuelle Wissensspeicher wird somit täglich gefüttert, jedoch nicht weitergegeben. Die Erfahrungen und das somit generierte implizite Wissen ist das „Gold“ einer jeden Organisation. Wird dieses aber nicht dementsprechend festgehalten, verschwindet es mit dem Verlassen des Mitarbeiters aus dem Projekt bzw. des Unternehmens. Wissen ist eines der wenigen Dinge, das sich durch Teilung vermehrt. Jedoch ist gerade der interdisziplinäre und organisationsübergreifende Wissensaustausch in der Baubranche derzeit unzureichend. Die einzelnen Unternehmen bilden miteinander eine temporäre Projektorganisation, aber kein Team, weshalb sie i.d.R. auch nicht bereit sind ihr Wissen zu teilen. Eine aktuelle Untersuchung am Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft31) hat gezeigt, dass die Menschen – sowohl in der operativen aber auch strategischen Ebene – davon überzeugt sind, dass interdisziplinärer Wissensaustausch zwischen den Projektbeteiligten profitabel für alle Beteiligten ist und den Projekterfolg maßgebend positiv beeinflussen kann. Jedoch wurde festgestellt, dass hierfür vertragliche, finanzielle und terminliche Rahmenbedingen erfüllt sein bzw. Anreizsysteme geschaffen werden müssen. Erst wenn Tools und Instrumente verwendet werden, die das Wissen auf der Baustelle festhalten und vernetzen und die richtigen Voraussetzungen für interdisziplinäre Zusammenarbeit gegeben sind, kann der grundlegende Produktionsfaktor „Wissen“ als Erfolgsfaktor für Bauprojekte eingesetzt und somit Wettbewerbsvorteile lukriert werden.

58.8

Aktuelle und zukünftige Trends

Durch den Einsatz von digitalen Hilfsmitteln können Daten- und Informationen systematisch generiert werden, wodurch eine Vielzahl der bisherigen Probleme der Daten- und Informationserfassung mit herkömmlichen Methoden verhindert werden. Jedoch bergen die modernen Lösungskonzepte das Risiko der Daten- und Informationsüberflutung. Auf Grund der automatisierten Datenerfassung werden wesentlich mehr Daten und Informationen erzeugt, die nur durch die genaue Vernetzung, Filterung und Kontextualisierung zu verwertbarem Wissen führen. Um mit jedem erzeugten Modell – das z.B. für Berechnungen, Simulationen und Prognosen benötigt wird – gute und brauchbare Ergebnisse zu erzielen, sind belastbare Daten und Informationen essenziell. Zentrale Fragen dabei sind, woher diese Daten und Informationen stammen und wie sie für neue Projekte erzeugt werden. Die Daten werden teilweise automatisch gewonnen, wie beispielsweise Wetterdaten, die über Temperaturverläufe oder auch über Luftfeuchtigkeitsentwicklungen Auskunft geben. Informationen darüber, welche Auswirkungen diese Einflüsse auf das Produktionssystem auf der Baustelle haben, müssen von den Menschen vor Ort zunächst erkannt und in weiterer Folge zutreffend und nachvollziehbar dokumentiert werden. Dabei spielen die jeweilige Verstehensumgebung sowie die subjektiven Einschätzungen der Situationen durch die handelnden Personen eine große Rolle. Hier liegt auch der große Schwachpunkt der Daten-, Informations- und Wissensgenerierung: Um ein Modell zu entwickeln, braucht es eine entsprechende gemeinsame Verstehensumgebung. Diese hilft dabei, Systeme besser zu begreifen, die notwendigen Prozesse abzubilden und die logischen Abhängigkeiten zu berücksichtigen. Dadurch wird das Potenzial an Subjektivität, an Unsicherheiten und an 31)

Ninaus, Knapp (2019)

904

Teil I – Wissensmanagement

Fehlinterpretationen reduziert. Nie außer Acht gelassen werden darf zudem, dass die Bauwerkstypen und auch die Bauwerke immer von unterschiedlicher Art sind und unter differierenden äußeren Produktionsbedingungen errichtet werden. Die Prozesse und Tätigkeiten sind dem Grunde nach immer ähnlich, verursachen aber immer unterschiedliche Daten und bedürfen stetig neuen und vor allem adäquaten Begleitinformationen, um sie für Dritte überhaupt nutzbar zu machen. Die Daten- und Informationsgenerierung hängt stark vom spezifischen Erfahrungskontext der handelnden Menschen und dem Zuzug von internen oder externen Literaturquellen ab. REFA Studien anhand von Multimomentaufnahmen sind zwar anerkannte Methoden, aber sehr zeitaufwendig. In Ergänzung dazu können Fotos und Videos (wenn es erlaubt ist) von Bauprozessen aufgenommen werden, um nicht erfasste Eindrücke später nachvollziehen zu können und potenzielle Unklarheiten zu vermeiden. Besonders die Erhebung aktueller Daten bei arbeitsintensiven Tätigkeiten ist sehr aufwendig, gleichzeitig besteht die Schwierigkeit, die Subjektivität in der Daten- und besonders der Informationsgenerierung zu reduzieren. Gerade die manuelle Erhebung ist von hohem Ressourcenbedarf geprägt und wird teilweise nur wenig zielgerichtet durchgeführt. Sind Daten und Informationen einmal gesammelt, stellt die dezentrale Ablage ein Problem dar, da für Dritte der Zugang (falls dies intendiert wird) nicht oder nur schwer möglich ist. Weiters fehlt des Öfteren die Kategorisierung von Bauwerkstypen und deren Bauteilen, damit zusammen mit den Zahlen für den Arbeitsaufwand auch ein klares Bild für die Art, die Form und die Komplexität sowie die äußeren Produktionsbedingungen vorhanden ist. Häufig ist auch eine fehlende oder falsche Verknüpfung von Daten und Informationen zu bemängeln. Weiters erfolgt die Daten- und Informationsgenerierung meist unsystematisch, was einen Vergleich mit anderen Bauwerken bzw. deren Bauteilen praktisch unmöglich macht. Für zukünftige und gegenwärtige Datenerfassungen sind Sensoren aller Art und Messstreifen bestens geeignet. Sind diese Datenerfassungsgeräte richtig installiert und vor Beeinträchtigung und gar Zerstörungen geschützt, liefern sie verlässliche Daten, die automatisch in eine Datenauswertungssoftware übertragen werden können. Idealerweise werden die Daten gefiltert, damit nur jene gespeichert werden, die auch tatsächlich benötigt werden. Auch eine Filterung nach den Empfängern/Nutzern von Daten sollte durch die Software ermöglicht werden. Damit erhält beispielsweise der AG nur jene Daten, die für ihn bestimmt sind, und der AN kann sich seine internen Daten durch eine Firewall (idealerweise: Nutzung der Kryptographie) schützen lassen. Nach der Filterung der Daten erfolgt die Transformation in vorher definierte Kennzahlen. Diese Kennzahlen müssen unbedingt mit Informationen aus dem Produktionssystem verknüpft werden, damit sie möglichst in Echtzeit für das aktuelle Projekt verwendet und auch dem zentralen Wissensspeicher zugeführt werden können. Die Generierung von Wissen aus Daten und Informationen wird zukünftig noch wichtiger werden, um im Wettbewerb zu bestehen und die Spitze der Wissenstreppe zu erklimmen. Mittels neuer Technologien – wie beispielsweise Sensorik und Photogrammetrie – werden zukünftig viele Daten erzeugt, die mit kontextbezogenen Informationen zu versorgen sind. Erst dann entsteht ein Mehrwert. Dies zu bewerkstelligen, stellt die große Herausforderung der derzeitigen Baubranche dar. Die anderen Aufgaben liegen im systematischen Aussortieren der Daten, der Umwandlung in Kennzahlen, der ressourcenschonenden Verarbeitung und Speicherung, der Wiederauffindbarkeit, des systematischen Zugriffs, der Austauschfähigkeit mit anderen Systemen sowie der Verknüpfung mit dem BIM-Modell. Aber auch in Zukunft wird das implizite Wissen, das einzelne Menschen tragen, das wertvollste Gut bleiben. Die größte Herausforderung liegt darin, dies zu erfassen und für andere nutzbar zu machen. Gleichzeitig besteht hier ein hoher Forschungsbedarf, dem ein

58 Wissen als grundlegender Produktionsfaktor in der Bauwirtschaft

905

hohes Potenzial für die Baubranche innewohnt. Die Bedeutung und der Nutzen von Wissen bzw. Wissensmanagement ist zwar den meisten klar, jedoch wird dieser wertvolle Produktionsfaktor nach wie vor vernachlässigt. Der Hauptgrund dafür liegt darin, dass dieser Nutzen nur sehr schwer monetär darstellbar ist und sich oftmals erst nach Jahren – dann aber als nicht zu vernachlässigender Mehrwert – bemerkbar macht. Außerdem ist der Konkurrenzdruck in der Baubranche sehr hoch, weshalb Unternehmen ihr generiertes Wissen als Wettbewerbsvorteil ansehen und auch innerhalb der eigenen Organisation so wenig wie möglich preisgeben möchten.

58.9

Zusammenfassung

Dem Faktor Wissen und besonders dem prozessorientierten Wissensmanagement wird in der Bauwirtschaft eine noch zu geringe Bedeutung beigemessen. In allen Projektphasen spielt dieser Faktor eine große Rolle. Ohne das sich stetig weiterentwickelnde Wissen der richtigen Kombination der Produktionsfaktoren und der Erfahrung aus vergangenen Projekten bleiben Projekterfolge aus. Wissen birgt das große Potenzial, dass es sich durch Teilung vermehrt. Somit muss das Ziel verfolgt werden, das Wissen der Menschen innerhalb einer Organisation – insbesondere das schwer erfassbare implizite Wissen – systematisch zu vernetzen. Die Kunst liegt darin, Menschen zu motivieren, aktiv an der Wissensspeicherung teilzuhaben und das Wissensmanagement ständig weiterzuentwickeln. Der Austausch und auch die Speicherung des Wissens sollten integral für die elementaren und auch dispositiven Faktoren gelingen. Entsprechende Rahmenbedingungen (ausreichend Zeit/Geld, IT-Infrastruktur, Einführen von Wissensmanagementprozessen etc.) müssen von der Organisation bzw. dem Auftraggeber bereitgestellt werden. Damit werden die Voraussetzungen geschaffen, optimalen Nutzen für die Angebotsphase und Ausführungsphase zu generieren.

58.10

Abkürzungsverzeichnis

AG

......................... Auftraggeber

AN

......................... Auftragnehmer

BIM

......................... Building Information Modeling

IT

......................... Informationstechnik

REFA

......................... Reichsausschuß für Arbeitszeitermittlung

906

58.11

Teil I – Wissensmanagement

Literaturverzeichnis

Arrow, Kenneth (1984). The Economics of Agency. Technical Report No. 451. A Report of the Center of Research on organizational Efficiency. Institute for Mathematical Studies in the Social Sciences, Stanford University. Stanford, California. Cüppers, Andrea (2006): Wissensmanagement in einem Baukonzern - Anwendungsbeispiele bei Bauprojekten. Dissertation. Fakultät für Bauingenieurwesen der RheinischWestfälischen Technischen Hochschule Aachen. Hofstadler, Christian (2014): Produktivität im Baubetrieb – Bauablaufstörungen und Produktivitätsverluste. Berlin, Heidelberg. Springer-Verlag, 2014. (ISBN 978-3-64241632-3) Hofstadler, Christian; Kummer, Markus (2016). Der Preis einer fast lückenlosen Dokumentation. In: Tagungsband – 14. Grazer Baubetriebs- und Bauwirtschaftssymposium – Belastbare Dokumentation in der Bauausführung – Baubetriebliche, bauwirtschaftliche und rechtliche Aspekte. Hrsg.: Heck, Detlef; Hofstadler, Christian; Kummer Markus. Seite 91-138. Graz. Verlag der Technischen Universität Graz. (ISBN 978-385125-442-6) Hofstadler, Christian; Kummer, Markus (2017): Chancen- und Risikomanagement in der Bauwirtschaft – Für Auftraggeber und Auftragnehmer in Projektmanagement, Baubetrieb und Bauwirtschaft. Berlin, Heidelberg. Springer-Verlag, 2017. (ISBN 978-3-66254318-4) http://wko.at/statistik/Extranet/Langzeit/Lang-Beschaeftigtenstruktur.pdf?_ga=2.33372407.839140062.1560850568-639899993.1559739943 Datum des Zugriffs: 18.06.2019 Naisbitt, John (1982): Megatrends. Ten new directions transforming our lives. New York NY u.a.: Warner Books Ninaus, Cornelia; Knapp David (2019). The potential of Knowlege Management on Construction Sites in Austria. In Tagungsband – ISEC 10 – The tenth international structural engineering and construction conference. Hrsg.: Didem Ozevin; Hossein Ataei; Mehdi Modares; Asli Pelin Gurgun; Siamak Yazdani; Amarjit Singh. Chicago. Verlag ISEC Press (ISBN 978-0-9960437-6-2) North, Klaus; Brandner, Andreas; Steininger, Thomas (2016): Wissensmanagement für Qualitätsmanager. Erfüllung der Anforderungen nach ISO 9001:2015. 1. Aufl. 2016. Wiesbaden: Springer Gabler (essentials). Online verfügbar unter http://dx.doi.org/ 10.1007/978-3-658-11250-9. TUWIEN (2018): Die Entwicklung von der Dienstleistungswirtschaft zur global orientierten Informationsdienstleistungswirtschaft. Online verfügbar unter: http://www.srf. tuwien.ac.at/LVA/p3_newecon/Flash/2_3_Dienstlwirtschaft.pdf, Datum des Zugriffs: 23.04.2018 Werkl, Michael (2013). Risiko- und Nutzenverhalten in der Bauwirtschaft – Eine entscheidungstheoretische Betrachtung im institutionenökonomischen Kontext. Dissertation. Graz. Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der Technischen Universität Graz. Winkler, Roland; Bauer, Renate (Hg.) (2007): Das Praxishandbuch Wissensmanagement. Integratives Wissensmanagement. Graz: Verlag der Technischen Universität

58 Wissen als grundlegender Produktionsfaktor in der Bauwirtschaft

907

Züger, Rita-Maria (2011): Betriebswirtschaft – Management-Basiskompetenz. Theoretische Grundlagen und Methoden mit Beispielen, Repetitionsfragen und Antworten. 4., aktualisierte Aufl. Zürich: Compendio-Bildungsmedien (Betriebswirtschaftslehre).

59

Der Einsatz eines Unternehmensplanspiels in betriebswirtschaftlichen Seminaren für bautechnische Berufe

Mag. Herbert Krutina Mitglied des Vorstandes STRABAG AG Donau-City-Straße 9 1220 Wien www.strabag.com [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_59

910

59.1

Teil I – Wissensmanagement

Abstract

Von einem/einer modernen ProjektleiterIn wird erwartet, dass er/sie unternehmerisch handelt, vernetzt denkt und interdisziplinäres Wissen anwenden kann. Deshalb ist es für ihn/sie unerlässlich, wirtschaftliche Wirkungsweisen zu verstehen, Zusammenhänge zu erkennen und betriebswirtschaftliche Methoden bei der Erarbeitung von Entscheidungsgrundlagen anzuwenden. Heutzutage werden Bauvorhaben von selbständig agierenden Projektteams, bestehend aus Technikerinnen bzw. Technikern und Kaufleuten, realisiert. Zur Verbesserung der Kommunikation und zur effizienten Setzung von Prioritäten ist es von unschätzbarem Vorteil, wenn die Beteiligten auch über ein Grundverständnis für die jeweils andere Disziplin verfügen. In diesem Beitrag wird über praktische Erfahrungen mit dem Einsatz eines Unternehmensplanspiels zur Vermittlung betriebswirtschaftlichen Grundwissens im Rahmen von betriebsinternen Weiterbildungsmaßnahmen wie auch im Rahmen von Lehrveranstaltungen im tertiären Bildungsbereich berichtet.

59.2

Situationsanalyse

In den Vorlesungen der Technikstudien wird Betriebswirtschaft meist in Form von Frontalunterricht vorgetragen und von den Studierenden überwiegend als theoretisch, abstrakt und schwer nachvollziehbar empfunden. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass auf diese Weise vorgetragenes Wissen nicht nachhaltig und dauerhaft zur Verfügung steht. Firmeninterne Weiterbildungsmaßnahmen verfolgen oft den Zweck, die Schnittstellen zwischen den Projekten und der zentralen Verwaltung und damit die dahinter liegenden Prozesse zu optimieren, können aber Wissensdefizite in der beschränkt zur Verfügung stehenden Schulungszeit nicht vollständig beseitigen.

59.3

Hintergrund

„Es ist einfacher, einen Frosch in der Wüste heimelig zu machen, als einen Techniker für die Bilanz zu begeistern.“ Dieses Zitat stammt von einem erfahrenen Seminarleiter, der angesichts der mangelnden Aufnahmefähigkeit seiner Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Ausbildungsmaßnahme „Betriebswirtschaft für bautechnische Berufe“ Anzeichen von Resignation zeigte. Dies war Anlass, nach alternativen Lehrmethoden zu suchen. Wechseln wir zu einem Schulungskurs der jüngsten Vergangenheit: Auf vier großen Tischinseln sind Spielpläne aufgelegt, verschiedenfarbige Münzen sind darauf verteilt und die um die Tische versammelten Gruppenmitglieder sind in angeregte Diskussionen über die nächsten Spielzüge und deren Auswirkungen vertieft. In Arbeitsheften werden Notizen gemacht, Abrechnungen erstellt und Tabellen vervollständigt. Auch der unbeteiligte Beobachter erkennt, dass hier interaktiv gemeinsam Wissen erworben und angewandt wird.

59 Unternehmensplanspiel in betriebswirtschaftlichen Seminaren für bautechnische Berufe

59.4

911

Aufgabenstellung

Der Autor verfügt über umfangreiche Seminarerfahrung, die sowohl im Rahmen der firmeneigenen Ausbildungsakademie, wie auch in Vorlesungen an Universitäten und Fachhochschulen erworben wurde, um Bautechnikerinnen und -technikern das Thema Betriebswirtschaft näher zu bringen. Im Mittelpunkt der Vorträge stehen folgende Themen: Allgemeines über die Betriebswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten ökonomisches Prinzip und oberster Unternehmenszweck, Unterschiede zwischen Finanzbuchhaltung und Kostenrechnung, sowie die interne und externe Leistungsverrechnung. Den Besonderheiten des Baugeschäftes wird ausreichend Raum gegeben. Dabei war immer wieder festzustellen, dass diese Schulungsmaterie für die Zielgruppe sehr abstrakt und schwer fassbar war, gleich, mit wie vielen Praxisbeispielen die traditionellen Präsentationen „gewürzt“ waren. Die Schwierigkeit von Folienvorträgen besteht darin, die Zuhörer interessiert zu halten und zu motivieren, Zusammenhänge zu verstehen und nachzuvollziehen. Wirken die Ausführungen theoretisch, haben technische Fachkräfte offenbar Mühe, die Relevanz der Inhalte für die Baupraxis zu erkennen.

59.5

Die Lösung

Der Vortrag wurde durch ein interaktives Planspiel ersetzt, Gruppenarbeit erfordert und fördert die Kommunikation zwischen den Lernenden. Der Folienvortrag wird lediglich ergänzend und sparsam eingesetzt, um das Erfahrene auch von der theoretischen Seite zu beleuchten und zusammenzufassen. Bei der Konzeption der Seminare gibt es zwei unterschiedliche Ausbildungsziele. Entweder soll vorrangig betriebswirtschaftliches Fachwissen vermittelt werden oder es sollen Fähigkeiten zur strategischen Unternehmensführung entwickelt werden. Die Schulungsmethode hat eine lange Geschichte. Begonnen hat die Entwicklung bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts in der militärischen Offiziersausbildung, ökonomisch orientierte Brettspiele folgten bald. Es werden Münzen und Figuren auf Spielbrettern bewegt, um Unternehmensprozesse zu simulieren und sichtbar zu machen. In unterschiedlichen Branchen konnten überaus positive Erfahrungen gemacht werden, es haben sich aber auch Varianten für andere hochkomplexe Systeme, wie der Klimaforschung bewährt. Schließlich heißt es, dass Dinge, die man angreifen kann, auch besser zu begreifen sind. Komplizierte Zusammenhänge lassen sich durch Vereinfachung und Visualisierung verbunden mit haptischen Erfahrungen leichter fassbar darstellen. Es gibt mittlerweile auch eine große Anzahl von Anbietern elektronischer Planspiele. Diese bringen eine Reihe von Vorteilen, so lassen sich Wettbewerbssituationen auf unterschiedlichen Märkten, welche einander auch wechselseitig beeinflussen, abbilden. Durch den Wegfall der Manipulation von Spielsteinen werden die Spielzüge schneller, es können längere Zeiträume simuliert werden. Die Schulungsschwerpunkte liegen hier auf der Förderung des vernetzten Denkens, der Entwicklung von Strategien und deren Adaptierung aufgrund von veränderten Marktbedingungen, sowie dem Treffen von Managemententscheidungen. Einzelpersonen oder Gruppen, welche eigene Unternehmen repräsentieren, spielen mitund gegeneinander und nehmen regelmäßig Dateneingaben vor. Sie melden ihre Entscheidungen über Einkäufe, Ressourcenplanung, Investitionen, Marketingmaßnahmen an ein

912

Teil I – Wissensmanagement

zentrales System, welches die Auswirkungen aller Entscheidungen berechnet. Als Ergebnisse werden erzielbare Marktpreise, Verfügbarkeit von Produktionsmitteln, Absatzzahlen und Marktanteile zurückgegeben. Der Vorteil dieser Methode liegt in der Unvorhersehbarkeit des Eintritts von Ereignissen in unterschiedlichen Kombinationen und somit der hohen Komplexität der Spielanlage. Dies bringt zusätzlichen Unterhaltungswert, der die Motivation der Teilnehmerinnen und Teilnehmer hochhält. Allerdings laufen die Algorithmen unsichtbar im Hintergrund ab und sind somit meist nicht nachvollziehbar, wodurch sich ein reduzierter Lerneffekt einstellt. Seitens der Trainingsanbieter gibt es auf dem Gebiet der Unternehmensspiele wenige Angebote, welche die Themen der Bauwirtschaft auch nur ansatzweise behandeln. Die meisten Spielvarianten nehmen sich die stationäre Produktindustrie als Vorbild, wo Waren eingekauft werden, in verschiedenen Produktionsstufen zum Endprodukt verarbeitet und schließlich an den Markt verkauft werden. Mangels passender Angebote für Baubetriebe, hat der Autor unter Nutzung firmeninterner Ressourcen ein Planspiel entwickelt, welches die bauspezifischen Eigenheiten berücksichtigt. Ziel war es dabei vor allem, betriebswirtschaftliche Zusammenhänge darzustellen, zu zeigen wie sich die Aktivitäten auf den Baustellen in der Bilanz und Kostenrechnung niederschlagen. Deshalb wurde besonderes Augenmerk auf die Behandlung von Anzahlungen, die Ausstellung von Teil- und Schlussrechnungen, die Notwendigkeit von Abgrenzungen wie auch die Berücksichtigung von Deckungs- und Haftrücklässen gelegt. Als Spielformat wurde ganz bewusst jenes eines Brettspieles gewählt, da die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Zusammenhänge besser erkennen, wenn einzelne Werte mit Spielmünzen auf dem Spielplan bewegt und Veränderungen unmittelbar beobachtet werden können. Der Spielablauf ist auf eine Dauer von eineinhalb bis zwei Schulungstagen ausgelegt. Es wurden auch schon Schulungen abgehalten, welche nur vier Stunden dauerten. Dazu sollten die zu Schulenden aber über betriebswirtschaftliche Vorkenntnisse verfügen, um dem Verlauf der Veranstaltung folgen zu können.

59.6

Das Spiel

Der Spielplan ist in zwei große Abschnitte gegliedert, nämlich den Baubetrieb mit den operativen Baustellen und den zentralen Verwaltungseinheiten, sowie den Bereich des Rechnungswesens mit Gewinn- und Verlustrechnung sowie Bilanz. Hier finden sich auch Felder für Abgrenzungen, um gebuchte Werte korrigieren zu können. Auf den Baustellen gibt es Felder für die einzelnen Aufwandsarten, die Verwaltung deckt die Bereiche Geschäftsführung, Administration sowie Forschung und Entwicklung ab. In einem eigenen Abschnitt sind Forderungen, Verbindlichkeiten und das Bankkonto aus der Bilanz herausgezeichnet, um den Zahlungsaustausch mit der Außenwelt unter Berücksichtigung von Fälligkeiten und Sicherheitseinbehalten verfolgen zu können. Ein Arbeitsheft stellt den Schulungsteilnehmerinnen und -teilnehmern Angaben und Anleitungen bereit. Hier finden sich Tabellen für die Rechnungslegung, die Berechnung des Working Capitals und der internen Zinsen. Es ist möglich, aber nicht zwingend notwendig, auch unterjährig die Werte des Spielplans in die Gewinn- und Verlustrechnung und Bilanz zu übertragen, um den Periodenerfolg und die Ausgeglichenheit von Soll und Haben zu prüfen.

59 Unternehmensplanspiel in betriebswirtschaftlichen Seminaren für bautechnische Berufe

Abb. 59-1

913

Interaktives Lernen in Kleingruppen

Die Arbeitsanweisungen beschreiben detailliert jeden Arbeitsschritt und bieten die Möglichkeit, bereits durchgeführte Spielzüge zu markieren, um so den Überblick über den Spielverlauf zu behalten. Im Spiel wird das Wirtschaftsjahr in vier Bauquartale eingeteilt, welche die Buchungsperioden darstellen. Im Laufe jedes Quartals werden die Bauaufwände erfasst, am Ende der Rechnungsperiode erfolgt die Rechnungslegung. Dabei werden nicht nur die Grundzüge der Kalkulation und der Zuschlagsberechnung unterrichtet und geübt, sondern auch die Umlage der allgemeinen Gemeinkosten auf die Bauprojekte besprochen. Die Buchungswerte werden mit Spielmünzen unterschiedlicher Nennwerte aus zwei Farbgruppen gelegt: weiße bzw. gelbe Münzen stehen für positive Werte, rote Münzen für negative Werte, Verbindlichkeiten und interne Erlöse. Für die Verwaltung von Baugeräten stehen Gerätekarten zur Verfügung, welche Informationen über den Kaufpreis, die wirtschaftliche Nutzungsdauer, die Kosten für interne und externe Miete, sowie den Rückkaufpreis im Falle von Desinvestitionen zeigen. Zur Abwicklung von Bauaufträgen müssen Geräte entweder gekauft oder fremd angemietet werden. Für den Personal- und Nachunternehmeraufwand gibt es ebenfalls Spielkarten, welche die Kosten für die jeweilige Arbeitskolonne angeben. Auftragskarten liefern Informationen über Aufwände unterschiedlicher Bauaufträge und enthalten Vertragsbedingungen wie Zahlungsziele, Bonus- und Pönaleregelungen sowie Sicherheitseinbehalte. Durch den Einsatz dieser Materialien ergeben sich eine Reihe von Gestaltungsmöglichkeiten für den Seminarablauf, der auf das angestrebte Lernziel flexibel abgestimmt werden kann. Eine Gruppengröße von vier bis sechs Personen hat sich als ideal erwiesen. Bei dieser Anzahl ist die Aufgabenteilung innerhalb der Gruppe gut möglich, sodass alle

914

Teil I – Wissensmanagement

Teilnehmerinnen und Teilnehmer zur Mitarbeit animiert werden und dem Spielverlauf folgen können. Mit den zur Verfügung stehenden Spielmaterialien können bis zu sechs Gruppen ausgestattet werden. Diese Anzahl stellt nach unseren Erfahrungen auch die Obergrenze dar, welche von einem Trainer/einer Trainerin betreut werden kann. Das Spiel beginnt mit der Neugründung eines Unternehmens, dessen Finanzierung, Investitionen in Anlagevermögen und der Abwicklung eines ersten Bauauftrages. Dabei werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit den verschiedenen Spielzügen und dem Lesen bzw. Ausfüllen der Arbeitsunterlagen vertraut gemacht. Bei firmeninternen Schulungsmaßnahmen wird üblicherweise besonderer Wert auf die Darstellung der internen Abläufe gelegt und gezeigt, welche Informationen verschiedenen Auswertungen entnommen werden können. Deshalb bearbeiten die Gruppen nur vier bis fünf Bauquartale und es werden Haltepunkte im Spielfluss definiert, an denen theoretische Inhalte mit vertiefender Präsentation vermittelt werden. Dabei ist es von untergeordneter Bedeutung, ob die Spielgruppen die gleichen oder unterschiedliche Bauaufträge bearbeiten. Die Spielvariante des Wettbewerbs zwischen den Gruppen, welche besondere Schwerpunkte auf die Kalkulations-, Bieter- und Vergabeprozesse für unterschiedliche ausgeschriebene Bauprojekte setzt, wurde in Veranstaltungen der TU Graz bereits mehrfach erfolgreich eingesetzt. Die Gruppen wählen, ob sie sich für öffentliche Aufträge, welche an den Billigstbieter vergeben werden, bewerben oder an Verhandlungsprozessen mit privaten Auftraggebern teilnehmen möchten. Vor Arbeitsbeginn müssen Entscheidungen über Geräteinvestitionen, Personalaufnahmen und Nachunternehmervergaben getroffen werden. Eine Beschränkung der verfügbaren Arbeitskolonnen durch den Spielleiter sowie den Einsatz von Ereigniskarten können Veränderungen herbeiführen, welche sich auf die ursprünglich kalkulierten Herstellkosten, Bauzeiten und prognostizierten Erlöse der verschiedenen Aufträge auswirken. Entscheiden Spielgruppen, mehr als einen Auftrag gleichzeitig abzuwickeln, gibt ihnen dies einen erweiterten Handlungsspielraum bezüglich des Personaleinsatzes, erhöht aber auch den Bearbeitungsaufwand. Bei dieser Spielvariante werden nicht nur die Veränderungen in der Bilanz gezeigt. Durch Vergleich der Bilanzkennzahlen entsteht zusätzlicher Anreiz, bessere Betriebsergebnisse als die Mitbewerber zu erzielen. Am Ende des 4. Quartals eines Kalenderjahres werden die Gewinn- und Verlustrechnung, sowie die Bilanz erstellt. Im Zuge der Jahresabschlussarbeiten wird das Anlagevermögen um die Abschreibungen abgewertet und der Instandhaltungsaufwand für die Winterreparaturen gebucht. Die internen Zinsen werden dem Finanzergebnis als interne Erlöse zugerechnet, während Bankzinsen als Aufwand erfasst werden. Abhängig vom Betriebsergebnis werden Körperschaftssteuern an das Finanzamt gezahlt. Im Spielverlauf erkennen die Schulungsteilnehmerinnen und -teilnehmer, dass sie aus der Finanzbuchhaltung die Entstehung der Aufwände und Erträge nicht rückverfolgen können, dass es nicht möglich ist, den Erfolg des Einzelprojektes aus der Gewinn- und Verlustrechnung abzulesen. Sie verstehen deshalb, dass für die Steuerung der Projekte wie auch des Unternehmens zusätzlich ein internes Rechnungswesen zwingend notwendig ist. Mit Hilfe der Simulation können die Notwendigkeiten zur Bildung von Abgrenzungen und die Auswirkungen bei deren Veränderungen einfach nachvollzogen werden. Somit kann durch das Planspiel ein nachhaltiger Trainingseffekt erzielt werden.

59 Unternehmensplanspiel in betriebswirtschaftlichen Seminaren für bautechnische Berufe

59.7

915

Aktuelle Trends

In der letzten Version wurde das Brettspiel um eine Kostenrechnungssimulation ergänzt, bei der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Werte der zuvor auf dem Spielbrett abgewickelten Aufträge in das interne Rechnungswesen übertragen, um die Ergebnisse der einzelnen Baustellen verfolgen zu können. Dabei können die Themen der Rechnungsabgrenzungen und der Regieumlagen vertieft behandelt werden. Es ist angedacht, das Planspiel künftig um weitere Module, wie Arbeitskalkulation, Projektcontrolling und Planungsprozesse zu erweitern. Damit könnte ein Angebot für Fortgeschrittene geschaffen werden, welche den Grundkurs bereits absolvierten.

59.8

Zusammenfassung

Aus der Konzeption des Planspiels ergeben sich vielfältige Einsatzmöglichkeiten, welche sich im Praxiseinsatz bewährt haben: • Technikerinnen und Technikern, gleich ob noch in Ausbildung stehend oder bereits mit Praxiserfahrung ausgestattet, können betriebswirtschaftliche Zusammenhänge wie auch der Aufbau von Gewinn- und Verlustrechnung, Bilanz und Kostenrechnung nahegebracht werden • Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, welche erst kürzlich in das Unternehmen eingetreten sind, werden mit den Prinzipien der Leistungsdarstellung und den internen Verrechnungsmodalitäten vertraut gemacht • Studierende betriebswirtschaftlicher Fakultäten erhalten einen Überblick über den Organisationsaufbau von Bauunternehmen, die Arbeitsweisen in den Kalkulationsabteilungen, die Akquisitionsprozesse wie auch die Ausführung von Bauvorhaben • Für Kaufleute in operativen Bereichen ist es eine wertvolle Erfahrung, den Blick auf das Gesamtunternehmen mit allen Verwaltungs- und Serviceeinheiten zu werfen und nicht nur auf die eigene Betriebseinheit mit ihren Projekten fokussiert zu sein. Sie entwickeln dadurch ein besseres Verständnis für Managementaufgaben. An der Fachhochschule Campus Wien konnte nach dem Einsatz des Unternehmensspiels festgestellt werden, dass die Abschlussprüfungen gegenüber Lehrveranstaltungen mit herkömmlichem Folienvortrag besonders bei Verständnisfragen deutlich verbesserte Ergebnisse zeigten. Damit ist der Lernerfolg dieser Schulungsmethode auch objektiv nachgewiesen. Allerdings musste hierfür die Klassengröße auf maximal 30 Studierende limitiert werden, um die notwendige Betreuung sicherzustellen. Im firmeninternen Schulungsbereich konnte durch die Umstellung der Schulungsmethode das Seminarangebot attraktiver gestaltet werden, was durch die steigende Anzahl der Anmeldungen und die positiven Beurteilungswerte dokumentiert ist. Durch Einsatz des Unternehmensplanspiels ist es gelungen, die Seminarabläufe aufzulockern und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zur aktiven Mitarbeit anzuregen. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass Betriebswirtschaft nicht nur trockene und theoretische Materie sein muss, sondern auch Raum für Freude am gemeinsamen Lernen bieten kann. Abschließend ist es wichtig festzuhalten, dass ein Unternehmensplanspiel gleich welcher Konzeption, ein äußerst effizientes Transportmittel, aber kein Ersatz für Inhalte ist. Der unterhaltsame Aspekt ist nicht Zweck, sondern Verstärker der Lernprozesse, deren Erfolg auch kontrolliert werden sollte.

60

Beitrag zum Design von techno-ökonomisch geprägten wissenschaftlichen Abschlussarbeiten im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Praxis

Assoc. Prof. Priv.-Doz. DDipl.-Ing. Dr. techn. Bernd Markus Zunk Leiter der Arbeitsgruppe „Industrial Marketing, Purchasing and Supply Management“, stellvertretender Leiter des Instituts für Betriebswirtschaftslehre und Betriebssoziologie Technische Universität Graz Kopernikusgasse 24/II 8010 Graz www.bwl.tugraz.at [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3_60

918

Teil I – Wissensmanagement

60.1

Abstract

In der akademischen Betreuungs- und Supervisionspraxis von schriftlichen wissenschaftlichen Abschlussarbeiten in den (Wirtschafts-)Ingenieurwissenschaften an der Schnittstelle „Wissenschaft und Praxis“ stehen sowohl Studierende als auch das Personal an Universitäten/Hochschulen vor besonderen Herausforderungen, die es (1) zu verstehen und (2) zu bewältigen gilt. Dieser erfahrungsbasierte Beitrag am Beispiel des Wirtschaftsingenieurstudiums… • ...beinhaltet eine Kurzdarstellung der Situation von Studierenden der Ingenieurwissenschaften, welche die Anforderung zu erfüllen haben, ihre wissenschaftliche Abschlussarbeit mit starkem Bezug zu den Sozialwissenschaften (somit mit techno-ökonomischer Prägung) im Spannungsfeld Wissenschaft und Praxis auf adäquaten akademischem Niveau zu designen, rigoros zu bearbeiten und mit hoher Relevanz (i.S.v. Informationsgehalt für externe Kooperationspartner) zu verfassen. • ...skizziert auf Basis der Situationsdarstellung und Situationsanalyse ein praxisnahes, erfahrungsbasiertes dreiteiliges (Grob-)Design von schriftlichen, techno-ökonomisch geprägten wissenschaftlichen Abschlussarbeiten. Mit den Darstellungen und Gedanken in diesem Beitrag soll zur Weiterentwicklung des Designs von zeitgemäßen wissenschaftlichen Abschlussarbeiten beigetragen werden. Dies kann die Voraussetzung dafür schaffen, einen noch qualitätsvolleren Wissensinput aus techno-ökonomischen Abschlussarbeiten im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Praxis in den „Wissensspeicher Scientific Community Techno-Ökonomie” sicherzustellen.

60.2

Situation und Situationsanalyse in aller Kürze

Studierende des Wirtschaftsingenieurwesens bzw. der Ingenieurwissenschaften (verstanden als angewandte Naturwissenschaften) an den drei Technischen Universitäten in Österreich (TU Austria1)) verfassen nicht selten ihre wissenschaftlichen Abschlussarbeiten innerhalb von (praxisgetriebenen Forschungs-) Projekten mit externen Kooperationspartnern aus dem betrieblichen Umfeld. Derartig angelegte Abschlussarbeiten sind auf Problemstellungen im Schnittstellenbereich zwischen Ingenieurwissenschaften und (angewandten) Sozialwissenschaften angelegt und erfahren so eine sog. techno-ökonomische Prägung. Die betriebliche Praxis im technologieorientierten Umfeld2) zeigt, dass viele „moderne Ingenieure” (i.S.v. sozialwissenschaftlich gebildete Ingenieure) bzw. Wirtschaftsingenieure am Arbeitsmarkt sehr begehrt sind3), da sie inter- und multidisziplinäre komplexe Praxisprobleme unter Anwendung von wissenschaftlichen Methoden erarbeiten können. Die Kompetenzen und das Wissen über die Forschungstraditionen an der Schnittstelle Technik und Wirtschaft erwerben sich Wirtschaftsingenieure abschließend im Zuge der techno-ökonomischen Abschlussarbeit. Somit geht der Inhalt dieses Beitrags von einem umfassenden Verständnis der Ingenieur- und Sozialwissen1)

2) 3)

Als Folge universitätsstrategischen Erwägungen in Österreich, hat sich an den drei Technischen Universitäten (Technische Universität Wien, Montanuniversität Leoben und Technische Universität Graz – zusammen „TU Austria“) das Forschungsfachgebiet „Techno-Ökonomie“ in den letzten Jahrzehnten aus dem interdisziplinären Studien- und Lehrprogramm des Wirtschaftsingenieurwesens heraus etabliert. Vgl. Zunk/Bauer (2013), S. 37 Vgl. Bauer/Sadei (2015), S. 29ff.

60 Design von techno-ökonomisch geprägten wissenschaftlichen Abschlussarbeiten

919

schaften aus und inkludiert dabei u.a. Traditionen der Management- und Organisationstheorie, Innovationstheorie sowie Technik- und Industriegeschichte. Die Situation während des initialen (Grob-)Designs bzw. der Erstellung einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit in der „Techno-Ökonomie”4) lässt sich insofern durch folgende Eckpunkte verorten, als dass … • … aufgrund der hohen gesellschaftlichen Relevanz des Wirtschaftsingenieurwesens5) die Notwendigkeit besteht, dass Studierende der angewandten Naturwissenschaften (i.S.v. Ingenieurwissenschaften) in der Wissensvermittlung die Forschungstraditionen bzw. den „Denk- und Wissensrahmen” der Ingenieur- UND Sozialwissenschaften (Anm.d.V. wobei sich die Wirtschaftswissenschaft im Wissenschaftssystem als Teil der Sozialwissenschaften einordnen lassen6)) vermittelt bekommen und um diesen Bescheid wissen. • … zur Speicherung des in wissenschaftlichen Abschlussarbeiten generierten Wissens (Anm.d.V. welches durch Publikation und Dissemination für die Gesellschaft verfügbar gemacht wird) ein adäquater Wissensspeicher in Form einer „Scientific Community Techno-Ökonomie” gebildet und dauerhaft vorgehalten wird. Dieser Wissensspeicher setzt sich aus aktiven Mitgliedern von Universitäten/Hochschulen sowie außeruniversitären Forschungseinrichtungen zusammen. • … grundsätzlich von der Tatsache ausgegangen werden muss, dass Studierende des Wirtschaftsingenieurwesens im Zuge der Abfassung ihrer wissenschaftlichen Abschlussarbeit oftmals zwei BetreuerInnen haben: einen aus der Wissenschaft (BetreuerIn an der Universität/Hochschule) und einen aus der Praxis bzw. Industrie/des Gewerbes (BetreuerIn im externen Kooperationsunternehmen). • … der Umstand zu akzeptieren ist, dass der Prozess der Abschlussarbeit v.a. im Spannungsfeld Wissenschaft und Praxis aufgrund vielfältiger Interessen nicht linear, sondern i.d.R. iterativ verläuft. • … die Abschlussarbeit ein Stück weit als „Handwerkskunst” zu betrachten ist und vom Studierenden erlernt werden muss, bevor er sich dem Schreibprozess widmet. Dieser Hintergrund führt zu der anschließenden Situationsanalyse und dem darauf basierenden skizzierten dreiteiligen (Grob-)Design für wissenschaftliche Abschlussarbeiten im techno-ökonomischen Umfeld.

60.2.1

Techno-Ökonomie als interdisziplinärer Denk- und Bezugsrahmen

Techno-Ökonomie befasst sich mit der forschungsgeleiteten interdisziplinären Wissensvermittlung, die sowohl erkenntnisgetrieben wie auch anwendungsorientiert die disziplinäre (mikro-) ökonomische Theorie (Anm.d.V. diese wird als Teil der Sozialwissenschaften aufgefasst) auf angewandte naturwissenschaftliche (i.S.v. technische) Sachverhalte mit gesellschaftlicher und praktischer Relevanz umlegt. In der technoökonomischen Lehre werden technische und ökonomische Betrachtungsweisen kombiniert und oftmals in fallstudienbasierten Konzepten an praktischen Fragestellungen den Studierenden zugänglich gemacht. Ziel ist dabei, Technik resp. Technologie7) aus ökono4) 5) 6) 7)

Vgl. Zunk (2016), S. 103ff. Vgl. Zunk/Sadei (2015), S. 109ff. Vgl. u.a. Härdler/Gonschorek (2016), S. 22 Vgl. zu diesen Begrifflichkeiten u.a. Chmielewicz (1994), S. 169 sowie Isenmann/Möhrle (2002), S. 5

920

Teil I – Wissensmanagement

mischer Sicht zu betrachten sowie zu bewerten und darauf aufbauend, Studierenden die Kompetenz zu vermitteln, Technik resp. Technologie wirtschaftlich-zukunftsorientiert mitzugestalten und zu diesem Zwecke ihr Wissen im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Abschlussarbeit im Spannungsfeld Wissenschaft und Praxis initial anzuwenden. Die techno-ökonomische Lehre positioniert sich innerhalb der Schnittmenge zwischen den Disziplinen „Technik und (Mikro-)Ökonomie“. Die Betriebswirtschaft wird in diesem Kontext als eine sozialwissenschaftliche Teilmenge aufgefasst, was den dritten Kreis – die Soziologie – begründet und den Zugang zwischen disziplinärer Vertiefung und interdisziplinärer Ausrichtung erklärt. Nach den normierten FOS (Fields of Science and Technology) Klassifikationen der OECD, ist Techno-Ökonomie zwischen „Engineering and Technology“ und „Economics and Business“ (OECD 2007) einzuordnen.8) Dieser Zugang (unter dem Hinweis auf die FOS der OECD) verdeutlicht, dass es international in der Entwicklung von neuen Lehrfächern und Wissenschaftsbereichen die Bestrebung gibt, disziplinenübergreifende Bereiche zu schaffen, um so die Erkenntnisse einzelner Wissenschaftsbereiche nutzenstiftend (Anm. und somit praktisch anwendbar) zu verknüpfen.9)

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Abb. 60-1

60.2.2

Techno-Ökonomie: Interdisziplinärer Denk- und Bezugsrahmen10)

„Scientific Community Techno-Ökonomie“ als Wissensspeicher

Wird der Schnittstellenbereich Techno-Ökonomie als geordnetes Wissenssystem aufgefasst, so mündet dieser in den Versuch einer Synthese der Wissenschaftsdisziplinen Betriebswirtschaftslehre und Technik zu einer Techno-Ökonomie als Institution (i.S.v. Wissenschaftergemeinschaft bzw. Scientific Community) unter Einbezug/Berücksichtigung ihrer Elemente und Einflussfaktoren. Dabei erhält die Wissenschaftergemeinschaft auf Universitäten, Hochschulen und außeruniversitären Forschungsstätten Anregungen für ihre Arbeit von „außen“ (resp. der technischen und betriebswirtschlichen Praxis) sowie von „innen“ (resp. aus dem Wissenssystem, das aus dem bestehenden Forschungs- und Ausbildungswissen besteht) und kombiniert vorhandenes mit dem von ihr neu gewonnenen Wissen. Dabei muss im Wissenssystem zwischen zwei Arten von Wissen differenziert werden: es ist das aus der Forschung von der Wissenschafterin/vom Wissenschafter generierte Wissen von dem in der Lehre 8) 9) 10)

Vgl. http://www.oecd.org/science/inno/38235147.pdf Datum des Zugriffs: 12.06.2019 Zunk (2016), S. 111f. Leicht verändert übernommen von Zunk/Bauer (2013), S. 6

60 Design von techno-ökonomisch geprägten wissenschaftlichen Abschlussarbeiten

921

vermittelte Wissen, dem Ausbildungswissen, zu unterscheiden. Aus- und Weiterbildungswissen ist insbesondere dazu geeignet, in die Praxis übertragen zu werden, um dort eine Nutzung und Weiterentwicklung zu erfahren. So kommt es zur Ausstrahlung der („technischen“) Praxis auf die Wissenschaft und im Falle der als interdisziplinär interpretierten Betriebswirtschaftslehre „Techno-Ökonomie“ zu einer anwendungsorientierten „wirtschaftlichen“ Wissenschaftsperspektive.11)

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Abb. 60-2

60.2.3

„Scientific Community Techno-Ökonomie“ als Wissensspeicher: Elemente und Einflüsse12)

Doppelbetreuung durch Wissenschaft und Praxis

Ein weiterer Eckpunkt der vorliegenden Skizze einer Situationsdarstellung stellt sich der Tatsache, dass viele Wirtschaftsingenieurwesenstudierende, die mit der Erstellung einer praxisorientierten wie gleichermaßen wissenschaftlichen Abschlussarbeit beschäftigt sind, zwei BetreuerInnen haben. Zum einen haben sie eine Betreuerin/einen Betreuer an der Universität/Hochschule, der eine wissenschaftliche Arbeit verlangt, welche den Anforderungen der wissenschaftlichen Legitimität gerecht wird13) und folglich gemäß der Beurteilungskriterien und Lernziele einer „praxisprojektorientierten” Abschlussarbeit bewertet werden kann.14) Zum anderen erhalten sie oftmals eine „Zweitbetreuerin“/einen „Zweitbetreuer” von einem externen Unternehmenskooperationspartner (z.B. aus der Industrie) bzw. einer sonstigen Organisation, der einen Auftrag formuliert, welcher vom Studierenden auszuführen ist, wobei dieser dazu angehalten ist, die Problemdarstellung selbst zu formulieren und folglich eine Lösung für diese zu finden. Dabei haben Studierende häufig das Gefühl, dass Praxis/Industrie und Wissenschaft unterschiedliche Anforderungen bezüglich des Inhalts der wissenschaftlichen Abschlussarbeit stellen. Die allgemeine Wahrnehmung ist, dass die Universität/Hochschule „abstrakte Theorie”15) einfordert, während der externe Kooperationspartner bzw. das Unternehmen verwert- und anwendbare Resultate will. Natürlich kann diese Disparität existieren; aber die Betreuungspraxis zeigt vielfach, dass diese i.d.R. deutlich geringer ist als es zu Beginn des 11) 12) 13) 14) 15)

Vgl. Zunk (2014), S. 12 Leicht verändert übernommen von König (2006), S. 38 Vgl. zu Kriterien der wissenschaftlichen Qualität u.a. Balzert/Schäfer/Schröder,/Kern (2010), S. 9ff. Vgl. einführend z.B. Badock et al. (2018), S. 10ff. Vgl. u.a. Meidl (2009) sowie Mittelstraß (2004)

922

Teil I – Wissensmanagement

wissenschaftlichen Arbeitsprozesses für den Studierenden den Anschein hat. Unabhängig davon, ob Studierende ihre Abschlussarbeiten auf der Basis eines Auftrages von einem Unternehmen bzw. einer anderen Organisation außerhalb der Universität verfassen, oder ob das Abschlussprojekt auf einer Idee der Betreuerin/des Betreuers der Hochschule/Universität basiert: das erklärte Ziel der akademischen Abschlussarbeit ist und bleibt es (Anm.d.V. rigoros und relevant zugleich), die Qualität des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses sowie der erlangten Ergebnisse sicherzustellen. Die Resultate die der Studierende als AutorIn der Abschlussarbeit liefert, müssen in der Theorie, dem Forschungsstand und in den eigenen Erkenntnissen (Anm.d.V. sprich dem empirischen Material und den Daten, die der Studierende während der Durchführung der empirischen Studie erhoben hat) wohlbegründet sein. Darüber hinaus müssen die Herangehensweise und die vom Studierenden gewählten Methoden so dokumentiert werden, dass das Betreuungspersonal – und hier sind sowohl die Betreuerin/der Betreuer an der Universität/Hochschule wie auch die Betreuerin/der Betreuer beim externen Kooperationspartner gemeint – in der Lage ist festzustellen, ob die Ergebnisse plausibel sind. Davon hängt die Glaubwürdigkeit der/des Studierenden in ihrer/seiner Rolle als WissenschafterIn (oder im Übrigen auch als z.B. Consultant) sowie der Ergebnisse – dokumentiert in der erstellten wissenschaftlichen Arbeit – ab. Die akademische Abschlussarbeit ist ein zentrales Dokument und kann zur Überprüfung herangezogen werden, sollten die Ergebnisse in Frage gestellt werden.

60.2.4

Akzeptanz eines iterativen Vorgehens

Die Basis für den folgend dargelegten Eckpunkt16) dieser Situationsbeschreibung liegt in der Annahme, dass der Prozess des Verfassens einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit im Spannungsfeld Wissenschaft und Praxis von vielen Studierenden als linearer Schreibprozess gesehen wird. Das Bearbeiten eines Abschlussprojektes dieser Ausprägung (mit einer konkreten und verwertbaren Ergebniserwartung des externen Kooperationspartners) ist jedoch weder ein linearer noch ein sequentieller Prozess bestehend aus in sich abgeschlossenen Aufgabenteilen/Tätigkeiten. Man kann die einzelnen fertigen Teile des Projektes nicht einfach zu einem stimmigen Ganzen (z.B. durch „Copy&Paste”) wie bei Spielzeugbausteinen zusammensetzen, da es komplexe Schnittstellen zwischen den unterschiedlichen Aufgabenpaketen zu beachten gilt. Somit ist es notwendig, kontinuierlich auf Vorangegangenes zurückzugreifen und zu iterieren, um sicherzustellen, dass während des Entstehens der wissenschaftlichen Arbeit die Abstimmung der verschiedenen Teile der schriftlichen Arbeit gegeben ist und final ein „großes Ganzes” entsteht. Hervorzuheben ist, dass Iteration erst durch das laufende Bearbeiten und dem daraus folgenden Erstellen verschiedener Versionen des Textes (die den Bearbeitungsstand dokumentieren) möglich wird. Bei der Zusammenführung müssen alle Textteile kohäsiv sein und auf das Forschungsziel resp. die Beantwortung der Forschungsfrage abzielen. Alle Abschnitte müssen zudem kohärent sein und all das, was für die Absicherung der Ergebnisse nicht notwendig ist, muss aus der Endversion der Abschlussarbeit entfernt werden. Zudem beinhaltet ein derartiger Iterationsprozess im Zuge der Erstellung von wissenschaftlichen Abschlussarbeiten das regelmäßige Präsentieren17) vor relevanten Interessensgruppen, d.h. den Betreuungspersonen an der Universität/Hochschule, ggf. weiteren 16) 17)

Vgl. zu den folgenden Ausführungen v.a. Blomkvist/Hallin (2015), S. 8ff. Vgl. dazu u.a. die Ausführungen bei Friedrich (2003)

60 Design von techno-ökonomisch geprägten wissenschaftlichen Abschlussarbeiten

923

VertreterInnen des Industriepartners und StudienkollegInnen. Mittels regelmäßigen Präsentationen wird die Ausrichtung der Arbeit laufend korrigiert und die/der Studierende in die Lage versetzt, die eigene Argumentation voranzubringen und ständig zu verbessern. Das Akzeptieren dieses iterativen Designs hat gegenüber dem traditionellen (linearen) Zugang zu wissenschaftlicher Forschung und dem wissenschaftlichen Schreiben zwei – aus Sicht des Verfassers – entscheidende Vorteile: • Erstens erfordert dieser Zugang eine viel öffentlichere und sozialere Arbeitsweise. Studierende zeigen und diskutieren ihre Teilarbeitsergebnisse häufiger ihren Betreuungspersonen an der Universität/Hochschule und den Praxispartnern im Kooperationsunternehmen aber auch StudienkollegInnen. Dies kann eine entspannte und unverkrampfte Einstellung gegenüber (i) der oftmals komplexen Aufgabenstellung und (ii) den verschiedenen, vom Studierenden zu verfassenden Texten schaffen. Dies bietet – im Vergleich zu einem traditionellen Textabschnitt, den man alleine verfasst hat – auch die Entwicklungsmöglichkeit, Kritik anzunehmen und Feedback „von außen” zu bekommen, um so die Qualität der Arbeit zu verbessern. Damit soll im Prozess der Erstellung der wissenschaftlichen Abschlussarbeit, das Schreiben und das Diskutieren von Texten zu einer Routinehandlung für die Studierenden werden. Idealvorstellung wäre es, dem Bild der einsamen Schreiberin/des einsamen Schreibers ein Ende zu setzen und soziales – von der Praxis wie von der Wissenschaft zugleich – Lern- und Forschungsverhalten in das Kompetenzgefüge der/des Studierenden zu integrieren. Dazu kann man sich Metaphern und Analogien von kreativen und kollektiven Arbeitsprozessen (z.B. aus Softwareentwicklung, Architektur, Theater und Musik) ausborgen. In allen diesen Bereichen werden den Beteiligten Skizzen, Prototypen oder/und unvollständige Versionen (wie z.B. in der Softwarebranche die Beta-Version als die erste Version eines Computerprogramms, die vom Hersteller zu Testzwecken veröffentlicht wird) gezeigt. Keine Version ist anfangs besonders gut, aber das Ziel ist es, bei der Verbesserung einer ersten Version mittels Kritik, Textprototypenentwicklung und Feedback zu assistieren. • Zweitens bedeutet ein iteratives Vorgehen auch, dass Studierende während des gesamten Abschlussarbeitsprojektes auf sehr fokussierte Art ihrem Endresultat, d.h. dem „Artefakt Abschlussarbeit“, entgegenarbeiten. Ein iterativer Zugang kann es Studierenden erleichtern, auch fallbezogen Textteile zu löschen, zu bearbeiten und jederzeit im Bearbeitungsprozess zu verändern. Es ist nicht der einzelne Textabschnitt der zählt, sondern der gesamte kohäsive und kohärente Text, der als Abschlussarbeit (Anm.d.V. das ist das „Produkt” des Studierenden, welches aus dem Arbeitsprozess resultiert) eingereicht und dem Kooperationsunternehmen in der Praxis präsentiert wird. So ist es z.B. nicht wichtig, wie gut oder perfekt ein bestimmtes Kapitel während der Bearbeitungsphase tatsächlich ist. Ist dieses Kapitel z.B. zu lang, zu unpräzise bzw. zu ungerichtet, muss es neu geschrieben bzw. umgeschrieben werden. Eine Abschlussarbeit zu designen, bedeutet somit, die verschiedenen Teile im Schreibprozess zu einer reibungsfreien funktionierenden Einheit zu formen. Die einzelnen Textteile müssen final dem großen Ganzen (dem Forschungsziel resp. der Forschungsfrage) untergeordnet sein und sich ineinanderfügen.

60.2.5

Notwendigkeit der Beherrschung des Handwerks

Mit starkem Bezug zum vorhergehenden Abschnitt wird evident, dass die Arbeit an einem wissenschaftlichen Abschlussprojekt in der Techno-Ökonomie ein Stück weit eine Handwerkskunst18) darstellt, bei der Studierende der Ingenieurswissenschaften lernen

924

Teil I – Wissensmanagement

müssen, bestimmte Taktiken, Methoden, Theorien und Konzepte aus den Wirtschaftswissenschaften19) zu verstehen und diese anzuwenden, um ein adäquates Resultat in ihrer wissenschaftlichen Abschlussarbeit zu erzielen. Diese Handwerkskunst und das Produkt – die akademische Abschlussarbeit – haben einen speziellen Rahmen sowie rigorose und möglicherweise gelegentlich in den Augen von Studierenden „langweilige” Regeln. Ein standardisiertes Format (Anm.d.V. welches von der Universität/Hochschule bzw. einem Institut oder dem dort beschäftigten wissenschaftlichen Betreuungspersonal vorgegeben sein kann/ist) zielt darauf ab, den Vergleich zwischen verschiedenen Ergebnissen des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses zu ermöglichen und so die Objektivität in der Beurteilung sowie die praktische Qualität des erzielten Resultats zu gewährleisten. Das Rahmenwerk und die Regeln ermöglichen es dem jeweiligen Gegenüber, die Argumente und Schlussfolgerungen kritisch zu überprüfen, was auch die Umsetzbarkeit der erzielten Ergebnisse in der Praxis ermöglicht und die Dissemination der wissenschaftlichen Erkenntnisse (u.a. durch Publikation in Scientific Journals, Praktikerzeitschriften oder Conference Proceedings) am Ende verbessert und auch wahrscheinlicher macht. Mit Bezug zum Schreiben einer wissenschaftlichen Arbeit, verstanden als „Handwerk”, wird im darauffolgenden Kapitel ein Vorschlag für ein dreiteiliges Design für wissenschaftliche Abschlussarbeiten (Anm.d.V. nicht nur anwendbar in der Techno-Ökonomie) in seinen Grundzügen vorgestellt.

60.3

Skizze eines dreiteiligen Designs für schriftliche Abschlussarbeiten

Unter Berücksichtigung der Inhalte der vorangegangenen Kapitel dieses Beitrags und nach Abschluss des Großteils der Literaturrecherche zu relevantem Forschungsmaterial (inkl. Methoden) sowie der Erhebung des empirischen Materials bzw. der Daten, haben Studierende nun diverse Zwischenberichte (i.S.v. Vorabversionen einzelner Textteile der wissenschaftlichen Abschlussarbeit) vorliegen. Auf dieser Basis (Anm.d.V. sollten auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle empirischen Erhebungen abgeschlossen sein und sollten z.B. noch eine Anzahl von Interviews zu führen sein oder es ist noch auf Feedback aus der letzten Iterationsschleife aus Zwischenpräsentation zu warten) geht die/der Studierende jetzt allmählich in die Phase des Enddesigns bzw -fertigens der Abschlussarbeit über. Dies beinhaltet erneut das iterative Erstellen und ggf. Präsentieren von weiteren Teilergebnissen und Zwischenberichten vor dem akademischen wie praktischen/externen Betreuungspersonal. Begleitend werden – ermöglicht durch die permanente Iteration im Schreibprozess – „tiefere und größere” Einblicke in das gewonnen, was die akademische Abschlussarbeit im Spannungsfeld Wissenschaft und Praxis letztlich zeigen wird/soll. Im Zuge der Anfertigung einer Abschlussarbeit bzw. des „operativen Tuns” sind natürlich von Studierenden detaillierte Gedanken zum Handwerk, wie Verwendung von Vorlagen, Aufbau des Schriftwerkes etc. anzustellen.20) Abgesehen davon, ist es nun unter Berücksichtigung der allgemeinen und speziellen Erfordernisse an eine wissenschaftliche Abschlussarbeit im Spannungsfeld Wissenschaft und Praxis an der Zeit, die Ergebnisse 18) 19) 20)

Vgl. v.a. zum „Handwerk Wissenschaft“ die Ausführungen bei Booth/Colomb/Williams (2016) Vgl. dazu u.a. Schweiger/Meyer (2016) Dazu wird an dieser Stelle auf die facheinschlägige Literatur verwiesen. Vgl. u.a. die Darstellungen bei Kornmeier (2018), Ebster/Stalzer (2017), Esselborn-Krumbiegel (2017), Franck/Stary (2013), Balzert/Schäfer/Schröder/Kern (2010), Eco (2010), Jonker/Pennink (2010), Schnur (2010), Rössl (2008), Kruse (2007)

60 Design von techno-ökonomisch geprägten wissenschaftlichen Abschlussarbeiten

925

der Literaturrecherche sowie der Empirie21), welche bereits vorliegen, eventuell aber noch nicht sehr sorgfältig analysiert worden ist, zusammenzufassen. Erst wenn eine solche Version des Schriftwerks vorliegt, ist in Absprache mit den Betreuungspersonen z.B. zu entscheiden, welcher Aufbau am besten für die Endversion der Abschlussarbeit geeignet ist. Es ist wahrscheinlich, dass jede Universität/Hochschule ihre eigenen (formalen) Erfordernisse zur Abfassung derartiger schriftlicher Abschlussarbeiten hat. Dennoch kann man davon ausgehen, dass die große Mehrheit der Universitäten/Hochschulen im Großen und Ganzen der folgenden Hauptstruktur folgt. Diese besteht aus drei Teilen und wird für gewöhnlich wie folgt beschrieben:22) • Teil 1 beschreibt einleitend, was man im welchem Denk- und Bezugsrahmen unter (i) Einsatz welcher Literatur und (ii) Anwendung welches Vorgehens/welcher Methoden gedenkt zu tun. • Teil 2 beschreibt detailliert, wie man das in Teil 1 Beschriebene getan hat, wie man welche Ergebnisse erhielt, wie die Analyse der Ergebnisse des „Tuns“ durchgeführt wurde und welche Resultate (inkl. der Datenanalyse) zustandegekommen sind. • Teil 3 widmet sich der Argumentation/Diskussion der Resultate vor dem Literaturhintergrund unter Berücksichtigung der angewendeten Methode und beinhaltet Handlungsempfehlungen, Schlussfolgerungen, Limitationen des tatsächlich Gemachten mit Bezug zu Teil 1 und 2 sowie einen Ausblick.

60.3.1

Teil 1: Einleitung inkl. Literatur- und Methodenüberblick, Problemdarstellung und Abgrenzungen

Teil 1 besteht aus der Einleitung inkl. Bezugsrahmen, dem Literaturteil (Anm.d.V. welcher auch die Theorie enthält) sowie der gewählten Methode und sollte ungefähr 25 % bis 30 % des Gesamttextes der wissenschaftlichen Arbeit ausmachen. Die Einleitung sollte so geschrieben sein, dass das Interesse der Leserin/des Lesers geweckt wird und dass diese/dieser nachvollziehen kann, warum die durchgeführte Studie benötigt wird. Das bedeutet, dass mit einer Hintergrundbeschreibung begonnen wird (Anm.d.V. die den breiteren Kontext beschreibt; hier muss auf bereits vorhandene Forschung, Studien, Artikel in den Massenmedien oder andere Quellen hingewiesen werden). Diese sollte zur Problemdarstellung überleiten, wo die wissenschaftliche Abschlussarbeit eingegrenzt und auf das konkrete Problem fokussiert wird, um das es in der Arbeit schlussendlich geht. Die Problemdarstellung sollte wissenschaftlich fundiert sein – sprich Literatur aus akademischen abgesicherten Quellen, Zeitschriften und Büchern enthalten. Das bedeutet, dass das beschriebene Problem in Beziehung zu bereits existierender Forschung in diesem Feld gesetzt werden muss und Bezug auf diese nimmt. Die Problemdarstellung führt dann zum Forschungsziel der Arbeit und den Frageformulierungen, die – vor dem Hintergrund der Einleitung – die logische Konsequenz dessen sind, was untersucht werden muss. Man kann die Einleitung noch um (Begriffs-)Abgrenzungen, die manchmal angeführt werden sollten/müssen, ergänzen. Im Literaturteil berichtet die/der Studierende über vorangegangene Forschung (i.S.v. bereits durchgeführten Studien) zum Phänomen, an dem Interesse besteht. Im Abschnitt theoretischer Bezugsrahmen wird die Theorie, die für das Verstehen des gesammelten empirischen Materials verwendet werden, beschrieben. Der Schwerpunkt der Literaturab21) 22)

Vgl. zu Methoden der empirischen Sozialforschung z.B. Schnell/Hill/Esser (2018) Vgl. für dieses Kapitel und die drei folgenden Unterkapitel v.a. die Ausführungen bei Blomkvist/Hallin (2015), S. 48ff. sowie S. 101ff.

926

Teil I – Wissensmanagement

schnitte (inkl. der anwendbaren Theorie) sollte relevant sein für den Inhalt und somit die konkrete Problemstellung der Abschlussarbeit. Mit Bezug zur Problemstellung, ist auch initial ein Hinweis/Überblick über die möglichen/verfügbaren Methoden zur Problemlösung in die Ausführungen zu integrieren. Angemerkt ist, dass nicht sämtliche Theorien, Methoden und die gesamte bisherige Forschung in diesem Forschungsfeld in Teil 1 miteinbezogen werden müssen. Vielmehr wird i.d.R. vom Betreuungspersonal erwartet, dass sich Studierende ein komplexitätsreduzierendes „Basic Research Model” zurechtlegen und im Teil 1 der Abschlussarbeit beschreiben.

60.3.2

Teil 2: (Erhebungs- und Analyse-)Methode, Datenanalyse und Resultate

Der Mittelteil der Abschlussarbeit (Teil 2) sollte ungefähr 40 % bis 50 % des Gesamtumfangs der schriftlichen Endversion ausmachen. Im Methodenabschnitt wird genau und nachvollziehbar erklärt, wie etwas getan wurde, um das in der Problemdarstellung formulierte Problem zu untersuchen. Es wird die Wahl des Forschungsdesigns, die Wahl der Datenerhebungsmethode inkl. der Analysemethode, die Resultate – wenn möglich in dieser Reihenfolge – beschrieben. Ebenso müssen die Entscheidungen im Hinblick auf den Zweck der Abschlussarbeit gerechtfertigt werden. Beim Plädieren für die letztendlichen Wahlentscheidungen kann man sich von relevanter Literatur zur Methode „inspirieren“ lassen; wenn die Wahl der Methode gerechtfertigt werden soll, ist es im Methodenabschnitt angebracht, auf die entsprechende Methodenliteratur23) zu verweisen. Auch zu beachten ist, dass im Methodenabschnitt nicht alles, was über die (Datenerhebungs- und Datenauswerte-)Methode in Erfahrung gebracht wurde oder alle alternativen Möglichkeiten zur Erreichung des Ziels, die man hätte heranziehen können, wiederzugeben ist. Zu diskutieren sind mögliche Alternativen nur dann, wenn diese aus irgendeinem Grund offensichtlich sind, jedoch verworfen wurden. Weiters enthält der Teil 2 der Arbeit die Datenanalyse und deren Ergebnisse (Anm.d.V. die erhobenen Rohdaten bzw. aufbereiteten Daten werden i.d.R. als Anhang der Arbeit beigefügt). Die Beschreibung der Problemlösung (i.S.v. Resultat) der Arbeit, welche aus der Datenanalyse abgeleitet wird und in Bezug zur praktischen Problemstellung des externen Kooperationspartners gebracht werden soll, bildet den zentralen Bestandteil von Teil 2 innerhalb einer techno-ökonomisch geprägten Abschlussarbeit im Spannungsfeld Wissenschaft und Praxis. Der Umfang dieser Beschreibung ist von Studierenden entsprechend groß zu bemessen. Ergänzend ist auch zu erklären, wie Themen wie Ethik und Gender im Laufe der Arbeit berücksichtigt wurden; welche Quellen Verwendung gefunden haben und wie diese beurteilt sowie gewichtet worden sind und wie sich die Autorin/der Autor quellenkritisch auf diese bezogen hat. Hier geht es im Wesentlichen darum, zu begründen, was für die techno-ökonomische Abschlussarbeit und die vorgestellte Problemlösung relevant ist, so dass die methodischen, wissenschaftlichen wie auch Anforderungen der Praxis erfüllt sind.24)

23) 24)

Vgl. dazu u.a. Creswell/Creswell (2018) sowie Ang (2014) Vgl. dazu einführend Karmasin/Ribing (2009), Boeglin (2007) sowie Theisen (2001)

60 Design von techno-ökonomisch geprägten wissenschaftlichen Abschlussarbeiten

60.3.3

927

Teil 3: Argumentation, Diskussion, Limitationen und Ausblick

Der abschließende Teil 3 der wissenschaftlichen Abschlussarbeit beträgt ungefähr 25 % bis 30 % des Gesamttextes. Hier werden die Resultate zusammengefasst UND die Ergebnisse kritisch – vor dem argumentierten (theoretischen wie praktischen) Hintergrund, der verwendeten Literaturund Datenquellen und der angewendeten Methode(n) – diskutiert. Es kann an dieser Stelle Sinn machen, nochmal kurz den Zweck der vorliegenden Arbeit zu wiederholen, wie man vorgegangen ist, um das gesteckte Ziel zu erreichen und zu welchem Ergebnis man gekommen ist. Ergänzend sind die Grenzen und Schwächen der Untersuchung anzuführen und es ist zu reflektieren (z.B. in Bezug auf Reliabilität und Validität), wie diese Limitationen auf die Ergebnisse einwirken können. Wichtig ist in diesem Abschnitt, die besondere Leistung der Arbeit hervorzuheben und zu argumentieren, dass die Abschlussarbeit (trotz diverser Schwächen und Mängel) dazu beiträgt, vorhandenes Wissen zu erweitern. Für techno-ökonomische Abschlussarbeiten im Spannungsfeld Wissenschaft und Praxis ist es zudem relevant, den Nutzenbeitrag für den externen Kooperationspartner auszuführen und vertieft zu diskutieren. Man sollte basierend auf den nunmehr vorliegenden Forschungsergebnissen z.B. Handlungsempfehlungen und Ratschläge anbieten sowie die Möglichkeiten angeben, wie die erarbeiteten Resultate im Unternehmen umgesetzt werden können (z.B. in Form einer Roadmap) bzw. was die Umsetzung bringen könnte (i.S.v. praktischen betriebswirtschaftlichen Implikationen). Ebenso soll ein Ausblick auf zukünftige Forschungsmöglichkeiten gemacht werden – sowohl für die akademische Welt als auch für die Praxis.

60.4

Aktuelle Trends

In Zeiten längst realisierter globaler Wertschöpfung, großer gegenseitiger Abhängigkeiten in/von Supply Chains, konstant hohen Innovationsdrucks, rasch wechselnder Kundenbedürfnisse sowie Marktsättigungen, steigender Probleme in der Rekrutierung von „frischen und motivierten” Humanressourcen sowie eines zugleich wachsenden Nachhaltigkeitsbewusstseins in der Gesellschaft, sind Partner aus der betrieblichen Praxis bzw. Industriepartner hochgradig an temporären Kooperationen mit Universitäten und Hochschulen interessiert. Diese sind ihrerseits (Anm.d.V. zumindest in Österreich) u.a. damit konfrontiert, Forschungsergebnisse sowie AbsolventInnen in entsprechend „hoher Qualität und Quantität zu produzieren” und zur Höherstufung in diversen Universitäts-/Hochschulrankings sowie zur Hebung der Akademikerquote beizutragen. Obwohl gegenwärtig die Wichtigkeit von Kooperationen mit Universitäten/Hochschulen und damit dem wissenschaftlichen Betreuungspersonal und selbstverständlich Studierenden (als „externe Kreativitäts- und Innovationspartner”) von VertreterInnen der betrieblichen Praxis klar erkannt und auch kommuniziert wird, ist im Falle einer sich anbahnenden Auftragsvergabe paradoxerweise oftmals nur eine unklare Problemstellung formuliert. Es wird meist viel zu früh in fertigen, verkaufbaren Lösungen gedacht – i.d.R. ohne der Problemformulierung und dem dazu erforderlichen iterativen Denk- und Reflektionsprozess den gebührenden Raum zu geben. Aus der Betreuungserfahrung von techno-ökonomisch geprägten Abschlussarbeiten zeigt sich, dass externe Kooperationspartner sich selbst oft nicht ausreichend Zeit geben und somit auch nicht hinreichend genau wissen, worin das konkrete Problem im Kooperations-

928

Teil I – Wissensmanagement

unternehmen liegt. Immer bestehen aber Vermutungen, wo genau nach einer Lösung gesucht werden könnte. In solchen Fällen ist es Aufgabe des Studierenden (in enger Zusammenarbeit mit der/dem wissenschaftlichen BetreuerIn), einen Schritt zurückzugehen und über die eigentliche Problemdarstellung nachzudenken, um – zusätzlich zur Erfüllung der akademischen Anforderungen durch das wissenschaftliche Abschlussprojekt – den externen Kooperationspartner mit einem Mehr an problemzentrierten Informationen zu versorgen, als dieser ursprünglich erwartet hätte. Dies erzeugt i.d.R. eine hohe Kundenzufriedenheit beim externen Kooperationspartner. Es ist davon auszugehen, dass in Zeiten der voranschreitenden Digitalisierung das unternehmerische Umfeld noch schnelllebiger wird und Studierende wie auch externe Kooperationspartner verstärkt die Verlockung zu spüren bekommen werden, allzu früh lösungsorientiert zu sein. Trotz allem muss bei der Bearbeitung techno-ökonomisch geprägter wissenschaftlicher Abschlussarbeiten im Spannungsfeld Wissenschaft und Praxis stets reflektiv und argumentativ vorgegangen werden. Der Studierende in seiner Rolle als Forscher im Projekt muss – unter rigoroser Verwendung von Literatur, wissenschaftlichen Methoden und wohlbegründeten Tatsachen – sich dazu verpflichtet sehen, zu argumentieren. Ziel ist es immer, dass die akademische Abschlussarbeit, die darin enthaltenen Ergebnisse qualitätsvoll sowie das Vorhaben plausibel dargelegt werden. Dazu erfordert es – gegenwärtig wie zukünftig – Ehrlichkeit, Offenheit und Transparenz.

60.5

Schlussbetrachtung

Die vorgestellte erfahrungsbasierte Herangehensweise zum schriftlichen Design von Abschlussarbeiten ist – trotz ihres skizzenhaften Charakters – gut geeignet, wenn die Universität/Hochschule von einem externen Kooperationspartner aus der betrieblichen Praxis einen Projektauftrag bekommt, welcher Studierenden die Möglichkeit bietet, anhand dieses Auftrags in Projektform den empirischen Teil (Anm.d.V. meist als „Single Case Study”) für die wissenschaftliche Abschlussarbeit im Spannungsfeld Wissenschaft und Praxis zu realisieren. Zugleich erscheint die in diesem Beitrag implizit dargestellte Denk- und Arbeitshaltung – auch wenn keine Interessen von Kooperations- bzw. Industriepartnern außerhalb der Universität berücksichtigt werden müssen – geeignet, um besser verwertbare Arbeitsergebnisse z.B. in Form von wissenschaftlichen Publikationen hervorzubringen. Durchaus wird die Ansicht vertreten, dass Studierende im Zuge ihres Abschlussprojektes bzw. bei der Abfassung ihrer Master- oder Diplomarbeit immer so arbeiten sollen, als würde ein Kooperationspartner aus der betrieblichen Praxis hohes Interesse an der rigorosen Bearbeitung der Aufgabe sowie der Lösung der sich stellenden relevanten Problemstellung haben. Auch wenn die/der Studierende keinen tatsächlichen Industriepartner hat, wird die Meinung vertreten, dass das Betreuungspersonal an der Universität/Hochschule das Arbeitsvorhaben an mögliche reelle externe Auftraggeber (auch aus der Wissenschaft) richten sollte. Dadurch kann ein motivierendes Milieu simuliert werden, in welchem ein fiktives Unternehmen bzw. eine fiktive externe Organisation als Auftraggeber auftritt, das/die hohes Interesse an der Problembearbeitung und -lösung hat. Durch ein auf einen (fiktiven) Auftraggeber hin fokussiertes Formulieren einer Problemdarstellung erhält die Abschlussarbeit ein klares Ziel und damit einen definierten Adressatenkreis: sei es die Leserschaft eines wissenschaftlichen Journals oder einer praxisorientierten Managementzeitschrift. Dies unterstützt letztlich nicht nur die Erfüllung des Forschungsauftrags der betreuenden Universität/Hochschule, sondern kann vom Studierenden beispielsweise auch

60 Design von techno-ökonomisch geprägten wissenschaftlichen Abschlussarbeiten

929

dazu eingesetzt werden, die Abschlussarbeit als „Arbeitsprobe” an existierende Unternehmen/Organisationen im Zuge der Jobsuche zu versenden. Abschließend wird angemerkt, dass (1) der dargelegte Inhalt auf Erfahrungen aus der Betreuung von Abschlussarbeiten bzw. -projekten zwischen Wissenschaft und Praxis – durchgeführt vom Institut für Betriebswirtschaftslehre und Betriebssoziologie der Technischen Universität Graz (als Teil der TU Austria) – der letzten Jahre beruht und (2) die Ausführungen und dargelegten Grundgedanken sich stark an die nationale/internationale/europäische „Wirtschaftsingenieursausbildungswelt” (i.S.v. Industrial Engineering and Management) der Gegenwart anlehnen.

60.6

Abkürzungsverzeichnis

Anm.d.V. ......................... Anmerkung des Verfassers ca.

......................... cirka

d.s.

......................... das sind

ECTS

......................... European Credit Transfer System

etc.

......................... et cetera

FOS

......................... Fields of Science and Technology

ggf.

......................... gegebenenfalls

i.d.R.

......................... in der Regel

i.S.v.

......................... im Sinne von

o.ä.

......................... oder ähnlich

OECD

......................... Organisation for Economic Co-operation and Development

resp.

......................... respective

sog.

......................... sogenannt

u.a.

......................... unter anderem

v.a.

......................... vor allem

z.B.

......................... zum Beispiel

60.7

Literaturverzeichnis

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

A

E

Andrieu 667

Ehgartner 193 Elbaz 869 Ellmer 209 Eschenbruch 519

B Bauer F. XV Bauer U. 163 Beidersandwisch 695 Bernat 371 Bojkovsky 667 Bok 261 Brigola-Pulverer 179

C

F Fenner 79 Fischer 193 Fortmüller 385 Franz 123 Frühwirth 179

G

Čadež 503

D

Gaar 609 Gnerlich 123 Gralla 791 Greiner 399 Gutsche 345

Dini 805 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Hofstadler (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Baubetrieb, Bauwirtschaft und Bauvertragsrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27431-3

934

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

H

M

Hanschke 869 Heck 45, 219 Hien 769 Höcker 415 Hofstadler V, 3, 15, 33, 227, 739, 805, 887 Hussian 527

Marius 227 Mauerhofer 49, 345, 361 Meckmann 769 Mogel 595 Möhring 123 Monsberger 53, 385 Moore 857 Motzko 79 Müller 609

J Jünger 371

K Kainz XI Karasek XIX, 541 Kleiner 79 Kober 647 Koppelhuber 261 Kropik 277 Krutina 909 Kumlehn 59 Kummer 15, 227, 739

N Neuhold 95 Ninaus C. 887 Ninaus M. 475 Nitsche 623

O Ortbauer 361

P L Lechner 441 Ledl 459 Lenz 791 Lessiak 555 Lücke 287

Paar 635 Petschnig 805 Pochmarski 647 Pruckmayr 839

Q Quirke 487

935

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

R

Z

Reister 305 Richter 79 Rieder 319 Rockenbauer 361

Zenz XIII Zunk 917

S Schlabach 487 Schlagbauer 107 Schubert 327 Schwerdtner 59 Seebacher 667 Spang 869 Sparowitz 227 Stadler 339 Steding 685 Sundermeier 695

T Tiesler 123

W Wall 487 Weber 849 Weigl 371 Weißengruber 143 Wenkenbach XVII Wiesinger 729 Wiesner 857 Willfort 849