Arbeitsrecht in Krise und Insolvenz: Aktuelle Entwicklungen 9783814557465

Das RWS-Skript bietet eine aktuelle Zusammenfassung des sanierungs- und insolvenzbezogenen Arbeitsrechts. Auf der Grundl

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Arbeitsrecht in Krise und Insolvenz: Aktuelle Entwicklungen
 9783814557465

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Mückl Arbeitsrecht in Krise und Insolvenz – Aktuelle Entwicklungen

RWS-Skript 376

Arbeitsrecht in Krise und Insolvenz – Aktuelle Entwicklungen Gesetzgebung, Rechtsprechung, Praxis und Arbeitshilfen

2. Aufl., 2015

von Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Patrick Mückl, Düsseldorf

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH ˜ Köln

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH Postfach 27 01 25, 50508 Köln E-Mail: [email protected], Internet: http://www.rws-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Werk oder Teile daraus in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) zu vervielfältigen. Satz und Datenverarbeitung: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt Druck und Verarbeitung: Hundt Druck GmbH, Köln

Vorwort Mit dem vorliegenden Buch soll erneut vor allem Insolvenzverwaltern, Personalleitern, Rechtsanwälten und Verbandsvertretern, aber auch interessierten Käufern von sich in der Krise oder Insolvenz befindenden Unternehmen, ermöglicht werden, sich ohne fortlaufende Recherche über die aktuelle Entwicklung der Besonderheiten des Arbeitsrechts in Krise und Insolvenz zu informieren. Auf der Grundlage der relevanten gesetzgeberischen Maßnahmen und gerichtlichen Entscheidungen des Jahres 2014 werden deshalb deren wesentliche Inhalte zusammenfassend dargestellt, bewertet und mit Handlungshilfen für die praktische Umsetzung versehen fortentwickelt. Das vorliegende Werk befindet sich auf dem Stand 15.1.2015. Für Kritik, Anregungen und Verbesserungsvorschläge, die ich gerne unter patrick.mueckl@ noerr.com entgegennehme, bin ich dementsprechend dankbar. Für seine Unterstützung bei Recherche zu aktuellen Entwicklungen und beim Korrekturlesen danke ich Herrn wissenschaftlichem Mitarbeiter Rechtsreferendar Daniel Krause.

Düsseldorf, im April 2015

Patrick Mückl

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Vorwort ............................................................................................................ V Literaturverzeichnis ............................................................................... XXVII A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa ........... 1 ........ 1 I.

Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015 ...... 1 1. Anwendungsbereich .............................................................. 2 a) Anknüpfungspunkt: Arbeitnehmereigenschaft ........... 2 b) Einsatzgebiet: Bundesrepublik Deutschland ............... 9 c) Anspruchsgegner ......................................................... 11 d) Geregelte Ausnahmen ................................................. 12 aa) Kinder und Jugendliche ohne Berufsausbildung ................................................. 13 bb) Auszubildende/Ehrenamt .................................. 14 cc) Langzeitarbeitslose ............................................. 15 dd) Praktikanten ........................................................ 18 2. Keine Beschränkung auf den Niedriglohnsektor .............. 20 a) Grundsätzliche Geltung für alle nicht explizit ausgenommenen Arbeitsverhältnisse ......................... 21 aa) Wortlaut .............................................................. 24 bb) Systematik ........................................................... 26 cc) Historisch-teleologische Überlegungen ............ 31 (1) Ziele des Gesetzgebers ................................ 32 (2) Gesetzgebungsverfahren ............................. 35 (3) Gesetzesbegründung ................................... 36 (4) Fazit und Kontrollüberlegung .................... 37 b) Ausnahmen kraft teleologischer Reduktion? ............ 41 c) Auswirkungen auf die Lohnabrechnung – doppelte Lohnabrechnung bei verstetigtem Monatslohn .................................................................. 46 aa) Stundenlohnabrede ............................................. 47 bb) Verstetigter Monatslohn .................................... 48 3. Übergangsregelung ............................................................. 51 a) „Verbindlich“ gemachte Tarifverträge „repräsentativer“ Tarifvertragsparteien ...................... 52 b) Zeitungszusteller ......................................................... 56 4. Mindestlohn als Vergütungsgrundbestandteil ................... 58 a) Fälligkeit ....................................................................... 60 aa) Grundsatz ............................................................ 60

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bb) Was gilt bei Verdienst über dem Mindestlohn? ...................................................... 62 ...... cc) Ausnahme: Arbeitszeitkonto ............................. 63 ...... b) Erfüllung des Mindestlohns – mindestlohnrelevante Vergütungsbestandteile ............................................... 64 ...... aa) Zulässigkeit einer Durchschnittsbetrachtung ... 64 ...... bb) Welche Vergütungsbestandteile sind für den Mindestlohn relevant? ........................... 66 ...... (1) Ausgangsdiskussion .................................... 67 ...... (2) Auslegung des MiLoG ................................ 70 ...... (a) Zirkelschluss der Bundesregierung ..... 71 ....... (b) Ausgrenzung von Sachleistungen ..... 75 ...... (c) Ausgrenzung von Leistungen mit nach § 2 Abs. 1 MiLoG „unzulässiger“ Fälligkeitsregelung ............................ 76 ...... (d) Gesetzlicher Bezugspunkt: Gegenleistung für Arbeitsleistung ... 77 ...... (e) Gesetzeszweck (historische und teleologische Auslegung) .................. 79 ...... (f) Zwischenfazit und Kontrollüberlegung ......................................... 82 ...... (3) Mindestlohnrelevante Vergütungsbestandteile .................................................. 89 ...... (a) Abgrenzungspunkt 1: Abweichende gesetzliche Zwecksetzung ................. 93 ...... (b) Abgrenzungspunkt 2: Abweichende Zwecksetzung kraft arbeitgeberseitiger Vorgabe oder Vereinbarung ... 94 ....... (4) Gegenansicht: Maßgeblichkeit einer „Normalleistung“ ........................................ 97 ...... c)Vergütungspflichtige Arbeitszeit .................................. 105 ...... d) Bewertung von Teilzahlungen .................................. 108 ...... Arbeitszeitkonten und Wertguthaben ............................. 115 ...... a) Geltungsbereich ......................................................... 119 ...... b) Bestehende Konten oder nur Neukonten? .............. 121 ...... c) Anforderungen an ein mindestlohnrelevantes Arbeitszeitkonto ........................................................ 122 ...... aa) Schriftliche Vereinbarung ................................. 123 ...... bb) Notwendigkeit eines verstetigten Entgelts? ... 126 ...... d) Gestaltungsspielraum bei verstetigtem Entgelt ....... 130 ...... Gestaltungsspielraum bei Geltung des MiLoG ............... 136 ...... a) Kennzeichnung einer „Vereinbarung“ ...................... 138 ...... b) Ausschlussfristen und Ausschlussklauseln ............. 140 ...... c) Verbot des Verzichts ................................................. 147 ...... aa) Grundsatz .......................................................... 147 ......

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bb) Bedeutung für Sanierungsvereinbarungen und „Betriebliche Bündnisse für Arbeit“ ................ cc) Ausnahme: gerichtlicher Vergleich .................. d) Verwirkung ............................................................... e) Verjährung ................................................................. 7. Auftraggeberhaftung ......................................................... a) Adressat der Haftung ................................................ aa) Grundsatz .......................................................... bb) Verfassungskonforme Einschränkung bei Insolvenz? ................................................... b) Anspruchsberechtigter und Rechtsnatur der Haftung ................................................................ c) Haftungsinhalt ........................................................... d) Haftungsbegrenzung ................................................. aa) Keine Haftungsbegrenzung im Außenverhältnis durch Vereinbarung zwischen Unternehmern .................................. bb) Haftungsbegrenzung kraft Akzessorietät ....... cc) Gesetzliche Haftungsbegrenzung durch Regress im Innenverhältnis .............................. dd) Privatautonome Haftungsbegrenzung kraft Vereinbarung zwischen Unternehmern .................................................. 8. Sanktionen ......................................................................... a) Ordnungswidrigkeit und Bußgeldsanktion ............. b) Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge ..................................................................... c) Praktische Relevanz ................................................... aa) Massenentlassung .............................................. bb) Verkannter Betriebs- oder Betriebsteilübergang ......................................... cc) Unwirksame Arbeitnehmerüberlassung .......... 9. Mindestlöhne nach anderen Gesetzen, Sittenwidrigkeitsgrenze .................................................... a) Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG), Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) – Verdrängung ungünstigerer Tarifverträge ................ b) Sittenwidrigkeitsrechtsprechung des BAG .............. c) Landestariftreuegesetze ............................................ 10. Fazit ...................................................................................

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II. Reform des Anfechtungsrechts ............................................... 1. Reform der Vorsatzanfechtung ........................................ a) Einführung einer Unlauterkeitsanfechtung ............. aa) Teleologisches Ziel ............................................ bb) Regelungstechnik ..............................................

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cc) Anforderungen an die Unlauterkeit einer Deckung ............................................................ dd) Ausnahmen: Ernsthafter Sanierungsversuch und bargeschäftsähnliche Handlung ................ b) Darlegungs- und Beweislast ...................................... c) Frist ............................................................................ Kodifizierung der Rechtsprechung des BAG zum Vorliegen eines Bargeschäfts bei verspäteten Lohnzahlungen des Arbeitgebers .................................... Weitere Klarstellungen/Änderungen: ............................. a) Anfechtung bei inkongruenter Deckung ................. b) Verzinsung ................................................................. Folgeänderungen im Anfechtungsgesetz (AnfG) ........... Fazit ...................................................................................

III. Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit .................................... 1. Verfassungswidrigkeit ....................................................... 2. Mechanismus der Kollisionsauflösung ............................ 3. Subsidiarität ....................................................................... 4. Betrieb als Anknüpfungspunkt? ....................................... 5. Zielverfehlung: Anreizbildung für Streiks statt Befriedungsfunktion ......................................................... 6. Praktische Folgen eines Eingreifens der Kollisionsregel ................................................................... a) Nach dem Streik ist vor dem Streik ......................... b) Risiko Bezugnahmeklausel ........................................ 7. Fazit ................................................................................... IV. Neue Gestaltungsmöglichkeiten für die Beschäftigung älterer Mitarbeiter? ................................................................... 1. Unbefristetes Arbeitsverhältnis häufig nicht zweckmäßig ....................................................................... 2. Hinausschieben der Beendigung durch Aufhebungsvertrag erfordert Sachgrund ......................... 3. Befristung als Lösungsweg ............................................... 4. Neue Gestaltungsmöglichkeiten seit dem 1.7.2014? ...... 5. Hält die Neuregelung, was sie verspricht? ...................... a) Tarifdispositivität? ..................................................... b) Bloße Verlängerung oder Inhaltsänderung? ............ c) Höchstgrenze für Befristungen? .............................. d) Schriftform erforderlich? .......................................... e) Europarechtskonformität? ........................................ 6. Fazit: Bisherige Gestaltungsvarianten bleiben wichtig ...

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V. Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen .......................................................... 285 ...... 67 1. Anwendungsbereich und arbeitsrechtliche Folgen ......... 288 ...... 68 X

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Zuständiges Insolvenzgericht ........................................... 291 ...... (Vorläufiger) Insolvenzverwalter ..................................... 299 ...... Verfahrenskoordination .................................................... 303 ...... a) Informationspflichten ............................................... 304 ...... b) Bildung eines Gruppen-Gläubigerausschusses ........ 305 ...... c) Koordinationsverfahren ............................................ 306 ...... aa) Antragsberechtigung ........................................ 307 ...... bb) Verfahrensablauf ............................................... 310 ...... cc) Rechtsschutz gegen gerichtliche Ablehnung ...... 319 ....... dd) Verfahrensablauf bei gerichtlicher Bestätigung ........................................................ 320 ...... Arbeitsrechtliche Folgen .................................................. 322 ...... a) Konzernbetriebsrat .................................................... 323 ...... b) Sprecherausschuss ...................................................... 328 ...... c) Kündigungsrecht ....................................................... 329 ......

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VI. Sozialversicherungsrechengrößen 2015 ................................... 332 ...... 76 B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung des Insolvenzverwalters ........... 338 ...... 79 I.

Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen ............................................................................. 1. Kein Zurückbehaltungsrecht bei Altmasseverbindlichkeiten .................................................................... a) Sachverhalt ................................................................. b) Wesentliche Überlegungen des BAG ....................... aa) Keine Neumasseverbindlichkeit durch bloße Arbeitsaufforderung ............................... bb) Grundsatz: Zurückbehaltungsrecht des Arbeitnehmers .................................................. cc) Ausnahme bei Masseunzulänglichkeit ............. dd) Kein Zurückbehaltungsrecht bei Verstoß des Insolvenzverwalters gegen die Grenzen seines Direktionsrechts .................................... c) Folgen für die Insolvenzpraxis ................................. 2. Nachrang von Entgeltansprüchen eines Gesellschafters ................................................................... a) Sachverhalt ................................................................. b) Bewertung des BAG: konkludente Stundung .......... c) Keine verfassungsrechtliche Beschränkung ............. d) Nichteingreifen des Sanierungsprivilegs .................. e) Keine unzulässige Rückwirkung des MoMiG .......... f) Praktische Folgen für GesellschafterArbeitnehmer .............................................................

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Insolvenzrechtliche Qualifikation einer Halteprämie .... a) Sachverhalt ................................................................. b) Wesentliche Überlegungen des BAG ....................... aa) Arbeitsrechtliche Wirksamkeit von Halteprämienvereinbarungen ........................... bb) Qualifikation als Masseverbindlichkeit ........... cc) Anfechtbarkeit aufgrund Inkongruenz? .......... c) Folgen für die Sanierungspraxis ................................

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II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen ............................. 375 ...... 88 1. Insolvenzanfechtung als gesetzliches Schuldverhältnis ...... 381 ....... 89 2. Anfechtungsberechtigter und Anfechtungsgegner ......... 385 ...... 90 3. Voraussetzungen der Insolvenzanfechtung ..................... 387 ...... 90 a) Grundvoraussetzung: Gläubigerbenachteiligende Rechtshandlung ......................................................... 387 ...... 90 b) Erfüllung eines konkreten Anfechtungstatbestands ................................................................. 390 ...... 91 4. Die Anfechtungstatbestände im Einzelnen ..................... 398 ...... 93 a) Anfechtung bei kongruenter Deckung .................... 398 ...... 93 aa) Voraussetzungen ............................................... 398 ...... 93 bb) Darlegungs- und Beweislast ............................. 402 ...... 94 cc) Subjektive Anforderungen auf Seiten des Arbeitnehmers .................................................. 405 ...... 94 (1) Kenntnis von Zahlungsunfähigkeit oder Eröffnungsantrag ....................................... 405 ...... 94 (2) Umstandskenntnis .................................... 411 ...... 95 (a) Funktion des § 130 Abs. 2 InsO .... 412 ...... 95 (b) Nichtgenügen (grob) fahrlässiger Unkenntnis – keine Erkundigungspflicht des Arbeitnehmers .............. 414 ...... 95 (c) Schlussfolgerung auf Zahlungsunfähigkeit bzw. Eröffnungsantrag als Rechtsfrage ................................. 420 ...... 97 (d) Welche Umstände sind ausreichend? .................................... 423 ...... 97 b) Anfechtung aufgrund inkongruenter Deckung ....... 433 .... 100 aa) Voraussetzungen ............................................... 433 .... 100 bb) Leistung unter dem Druck unmittelbar drohender Zwangsvollstreckung ...................... 437 .... 100 cc) Leistung wegen eines (drohenden) Insolvenzantrags ............................................... 444 .... 102 dd) Leistung durch Schwesterunternehmen .......... 451 .... 103 ee) Retention Bonus ............................................... 452 .... 103 c) Vorsatzanfechtung ..................................................... 453 .... 103 aa) Anforderungen an die Benachteiligung ........... 454 .... 104

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5.

bb) Prüfungsanforderungen an die subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen auf Arbeitgeberund Arbeitnehmerseite ..................................... (1) Der Vorsatz des Arbeitgebers und sein Nachweis ................................................... (a) Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit als Beweiszeichen ............................ (b) Besonderheiten bei Vorliegen eines Bargeschäfts bzw. einer bargeschäftsähnlichen Lage ............ (c) Inkongruente Leistung als Beweiszeichen .................................. (2) Kenntnis des Arbeitnehmers vom Benachteiligungsvorsatz des Arbeitgebers .............................................. d) Mögliche Ausnahme: Bargeschäft ............................ aa) Zweck des Bargeschäftsprivilegs ...................... bb) Bargeschäft i. S. d. § 142 InsO ......................... cc) Zeitlicher Zusammenhang ................................ (1) Rechtsprechung des BAG ......................... (2) Kritik des BGH an dieser Rechtsprechung ......................................... (a) Irrelevanz von Zahlungsverzögerungen in manchen Branchen .......................................... (b) Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Betriebs ...................................... (c) Verstoß gegen Recht und Gesetz? ............................................. (d) Überschreitung der Schranken richterlicher Rechtsfortbildung? .... (e) Lösung des BGH ............................. dd) Anfechtbarkeit von Bargeschäften ................... e) Unentgeltliche Leistung ............................................ aa) Qualifikation einer Leistung als „unentgeltlich“ .................................................. bb) Verteilung der Darlegungslast für das Vorliegen eines Scheingeschäfts ....................... Verfassungskonformität ................................................... a) Kein Verstoß gegen Art. 14 GG ............................... aa) Legitimes Ziel .................................................... bb) Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne ........... b) Kein Verstoß gegen Art. 3 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip .....................................................

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Notwendigkeit einer verfassungskonformen Einschränkung zur Sicherung des Existenzminimums? .................................................. aa) Ansatz des BAG ................................................ (1) Ausgangspunkt: Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ................... (2) Ausgestaltung im Vollstreckungs- und Insolvenzrecht ........................................... (3) Zusammenspiel zwischen Anfechtungsrecht und Vollstreckungsschutz ............... (4) Sonderschutz für Arbeitnehmer über die Grenzen der Zwangsvollstreckung hinaus? ....................................................... (a) Situation des Arbeitnehmers bei (einigermaßen) pünktlichen Lohnzahlungen ................................ (b) Situation des Arbeitnehmers bei erheblich verzögerten und eingestellten Lohnzahlungen .......... (c) Lösungsvorschlag des BAG ............ bb) Kritik des BGH ................................................. cc) Bewertung ......................................................... Vereinbarkeit mit der Menschenrechtskonvention ......... (Tarifliche) Ausschlussfristen .......................................... Anspruchsinhalt bei Lohnzahlungen ............................... a) Grundsatz ................................................................... b) Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen ......... c) Lohnanspruch als anfechtungsfreier Schadensersatzanspruch? .......................................................... Fälligkeit/Verzinsung .......................................................

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c)

III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit .................... 1. Bindung an die Berechnungsmethode für Zielerreichung bei Zielvereinbarung ................................ a) Ausgangspunkt: Bindung des Arbeitgebers ............. b) Gestaltungspielraum bei betriebswirtschaftlich gleichwertigen Methoden .......................................... c) Sachverhalt ................................................................. d) Wesentliche Überlegungen des BAG ....................... e) Insbesondere: Anforderungen an die Ermessenausübung .................................................... 2. Berücksichtigung des Leistungsbezugs bei Bestimmung eines Bonusbudgets für einen Leistungsbonus ................................................................. a) Sachverhalt ................................................................. XIV

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b) Wesentliche Überlegungen des BAG ....................... 628 aa) Arbeitsvertrag und Dienstvereinbarung als Regelungseinheit .......................................... 629 bb) Zulässigkeit einer dynamischen Inbezugnahme betrieblicher Regelungen .................................. 637 cc) Kennzeichnung einer Leistungsbestimmung nach „billigem Ermessen“ ................................. 641 dd) Entscheidungsrahmen in leistungsabhängigen Systemen ............................................ 646 ee) Bestätigung des Abschieds vom allgemeinen Freiwilligkeitsvorbehalt .................................... 648 Anfechtung einer Zielvereinbarung ................................ 649 a) Sachverhalt des LAG Hamm .................................... 650 b) Keine AGB-Kontrolle von Zielvereinbarungen bei Erfüllung der Verhandlungspflicht durch den Arbeitgeber ......................................................... 651 aa) Verpflichtung zum Angebot realistischer Ziele .............................................. 651 bb) Keine Inhaltskontrolle bei Zustandekommen einer Zielvereinbarung ...................................... 653 c) Schwierigkeiten bei der Darlegung einer Täuschungsanfechtung .............................................. 656 aa) Voraussetzungen einer Täuschungsanfechtung ......................................................... 659 bb) Immanente Grenzen der Anwendbarkeit bei Zielvereinbarungen ..................................... 664 d) Störung der Geschäftsgrundlage ............................... 669 e) Bedeutung für die Sanierungspraxis ......................... 674 Schwarzarbeit muss nicht bezahlt werden ....................... 675 a) Sachverhalt des BGH ................................................. 676 b) Wesentliche Überlegungen des BGH ...................... 677 c) Bedeutung für die betriebliche Praxis ....................... 678

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IV. Aktuelles zur Arbeitsvertragsgestaltung ................................. 685 .... 158 1. Vertragsstrafenversprechen in Formulararbeitsvertrag ...... 685 ..... 158 a) Sachverhalt des BAG ................................................. 688 .... 159 b) Wesentliche Überlegungen des BAG ....................... 690 .... 159 c) Bedeutung für die betriebliche Praxis ...................... 693 .... 160 2. Aktuelle Entwicklungen zu vertraglichen Ausschlussfristen .............................................................. 694 .... 160 a) Ausgrenzung von Tatbeständen nach § 309 Nr. 7, 11 BGB .................................................. 698 .... 161 aa) Sachverhalt des LAG Hamm ............................ 699 .... 161 bb) Rechtsprechung des BAG und des LAG Hamm ...................................................... 700 .... 161 cc) Verstoß gegen das Transparenzgebot .............. 702 .... 162 XV

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3.

4.

b) (Weitere) Vorgaben für die Transparenz von Ausschlussfristen ....................................................... aa) Sachverhalt des BAG ........................................ bb) Wesentliche Überlegungen des BAG .............. c) Fazit ............................................................................ Anforderungen an die Wirksamkeit einer Rückzahlungsklausel ......................................................... a) Sachverhalt ................................................................. b) Kriterien der Rechtsprechung ................................... c) Bedeutung für die Praxis ........................................... Beendigung von Gesamtzusagen für Neueintritte ......... a) Sachverhalt des BAG ................................................. b) Lösungsmöglichkeiten gegenüber Bestandsmitarbeiter ................................................... c) Lösungsmöglichkeiten gegenüber Neueintritten .... d) Anforderungen an die Beschränkung ....................... e) Bedeutung für die Umstrukturierungs- und Sanierungspraxis ........................................................

V. Pflicht zur Insolvenzsicherung ................................................ 1. Arbeitszeitflexibilisierung und Insolvenzsicherungsbeiträge ............................................................. a) Sachverhalt des BAG ................................................. b) Wesentliche Überlegungen des BAG ....................... c) Bedeutung für die betriebliche Praxis ....................... 2. Insolvenzsicherung von Altersteilzeitguthaben .............. a) Sachverhalt des LAG Baden-Württemberg .............. b) Wesentliche Überlegungen des LAG Baden-Württemberg .................................................. aa) Individuelles Wertguthaben als Bezugspunkt des Nachweises ................................................. bb) Verpflichtung zur Vorlage von Unterlagen ..... cc) Qualität der vorzulegenden Unterlagen .......... c) Bedeutung für die betriebliche Praxis ....................... 3. Insolvenzsicherung bei Versorgungszusage einer Konzernobergesellschaft .................................................. a) Sachverhalt des BAG ................................................. b) Wesentliche Überlegungen des BAG ....................... VI. Besonderheiten bei Leiharbeitnehmern .................................. 1. Verjährung des Auskunftsanspruchs nach § 13 AÜG .... a) Sachverhalt des BAG ................................................. b) Wesentliche Überlegungen des BAG ....................... c) Bedeutung für die betriebliche Praxis ....................... 2. Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt („equal pay“) ....... a) Sachverhalt des BAG .................................................

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b) Wesentliche Überlegungen des BAG ....................... 810 .... 189 c) Bedeutung für die betriebliche Praxis ....................... 812 .... 189 VII. Besonderheiten der Verbraucherinsolvenz – Zahlung des pfändbaren Teils des Arbeitsentgelts an Treuhänder ....... 1. Sachverhalt des BAG ......................................................... 2. Wesentliche Überlegungen des BAG .............................. 3. Bedeutung für die betriebliche Praxis ..............................

816 820 823 833

.... .... .... ....

190 191 192 193

VIII. Urlaubsrecht ........................................................................... 834 .... 194 1. Kein Untergang des Urlaubsabgeltungsanspruchs bei Tod des Arbeitnehmers .............................................. 834 .... 194 a) Sachverhalt des EuGH .............................................. 835 .... 194 b) Wesentliche Überlegungen des EuGH .................... 837 .... 195 c) Bewertung und Folgen für die betriebliche Praxis ...... 838 ..... 196 2. Unbezahlter Sonderurlaub und gesetzlicher Urlaubsanspruch ............................................................... 841 .... 196 a) Sachverhalt ................................................................. 842 .... 197 b) Wesentliche Überlegungen des BAG ...................... 843 .... 197 aa) Wortlaut und Systematik des BurlG ................ 843 .... 197 bb) Keine Qualifikation als Teilzeitarbeitsverhältnis „Null“ ............................................... 846 .... 197 cc) Keine einschränkende verfassungskonforme Auslegung .......................................................... 853 .... 199 c) Bedeutung für die betriebliche Praxis ....................... 855 .... 199 IX. Betriebliche Altersversorgung ................................................. 1. Kürzung bei vorgezogene Inanspruchnahme von Betriebsrente/Keine Korrektur des sog. „BBG-Sprungs“ ......................................................... a) Sachverhalt des BAG ................................................. b) Wesentliche Überlegungen des BAG ....................... aa) Allgemeine Grundsätze für die Kürzung von Betriebsrentenansprüchen bei vorzeitiger Inanspruchnahme ........................... (1) Störung des Äquivalenzverhältnisses ....... (2) Ausgleichsmechanismen ........................... bb) Unanwendbarkeit bei spezifischer vertraglicher Regelung ...................................... cc) Vorliegen einer abschließenden Regelung aller erforderlichen Berechnungsfaktoren ....... dd) Keine Korrektur des sog. BBG-Sprungs ......... 2. Begrenzung einer Betriebsrente durch eine Gesamtversorgungsregelung ............................................ a) Sachverhalt ................................................................. b) Wesentliche Überlegungen des BAG ....................... c) Bedeutung für die betriebliche Praxis .......................

859 .... 200

861 .... 201 862 .... 201 864 .... 202

865 .... 202 866 .... 202 867 .... 203 870 .... 204 872 .... 204 876 .... 205 879 881 882 887

.... .... .... ....

206 207 207 208

XVII

Inhaltsverzeichnis Rz.

3.

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Unwirksamkeit einer Höchstaltersgrenze in einer Versorgungsordnung ........................................................ 889 .... 209 a) Sachverhalt ................................................................. 890 .... 209 b) Wesentliche Überlegungen des BAG ....................... 892 .... 209 c) Bedeutung für die betriebliche Praxis ....................... 893 .... 210 Anpassungspflicht nach § 16 BetrAVG bei einer reinen Rentnergesellschaft ................................................ 896 .... 211 a) Grundsätze der Betriebsrentenanpassung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG ........................................ 897 .... 212 aa) Wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers ............ 898 .... 212 bb) Erlöschen des Anpassungsanspruchs ............... 903 .... 213 cc) Mitteilung nach § 16 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG ..... 906 ..... 214 b) Besonderheiten der Anpassungspflicht bei einer Rentnergesellschaft .................................................... 907 .... 214 aa) Kein 2 %-Zuschlag ............................................ 908 .... 214 bb) Ausschluss des Missbrauchseinwand durch Außenhaftung des bisherigen Arbeitgebers/Versorgungsschuldners ............................ 909 .... 215 cc) Keine Schadensersatzpflicht ohne Schuldnerwechsel .............................................. 911 .... 215 Neue Vorgaben zum Berechnungsdurchgriff im Konzern ........................................................................ 918 .... 216 a) Faktischer Konzern ................................................... 919 .... 217 b) Besonderheiten bei Beherrschungs- bzw. Ergebnisabführungsverträgen ................................... 923 .... 217 aa) Bestehen eines Beherrschungsvertrags ............ 924 .... 218 bb) Bestehen eines Ergebnisabführungsvertrags ... 925 .... 218 Bedeutung eines Schuldbeitritts ....................................... 929 .... 219

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen .................................. 931 .... 221 I.

Betriebsbedingte Kündigung ................................................... 1. Keine Erfüllung der Wartezeit durch Leiharbeitnehmereinsatz ................................................... a) Sachverhalt des BAG ................................................. b) Wesentliche Überlegungen des BAG ....................... 2. Bestimmtheit einer Kündigung zum „nächstzulässigen Termin“ ............................................... 3. Zurückweisung bei Kündigung durch Personalleiter (der Konzernmutter) ........................................................ a) Grenzen des Zurückweisungsrechts nach der Rechtsprechung des BAG ................................... b) Risiken in Konzernsachverhalten ............................. aa) Sachverhalt des LAG Schleswig-Holstein ....... bb) Wesentliche Überlegungen des LAG Schleswig-Holstein ..................................

XVIII

931 .... 221 932 .... 221 933 .... 222 934 .... 222 941 .... 224 946 .... 226 947 .... 226 950 .... 227 951 .... 227 952 .... 228

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4.

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Kündigungsfrist bei Kündigung durch den Insolvenzverwalter ............................................................ 955 .... 228 a) Sachverhalt des BAG ................................................. 958 .... 229 b) Wesentliche Überlegungen des BAG ....................... 959 .... 230 aa) Wortlaut des § 113 InsO .................................. 961 .... 230 bb) Unabwendbarkeit von § 315 Abs. 3 BGB ....... 962 .... 230 cc) Teleologische Bewertung ................................. 963 .... 231 dd) Keine Korrektur durch Rücksichtnahmepflichten ................................. 966 .... 231 Betriebsbedingte Kündigung wegen Betriebsstilllegung ............................................................. 974 .... 233 a) Sachverhalt ................................................................. 975 .... 233 b) Wesentliche Überlegungen des LAG Rheinland-Pfalz ................................................ 977 .... 234 c) Bedeutung für die Sanierungspraxis ......................... 982 .... 235 Betriebsbedingte Kündigung wegen Auftragsmangels ... 983 .... 235 Anforderungen an eine Sozialauswahl ............................. 987 .... 237 a) Anwendbarkeit des KSchG auch in der Insolvenz ...... 988 ..... 237 b) Betriebsbezogenheit der Sozialauswahl .................... 989 .... 238 c) Vergleichbarkeit von Arbeitnehmern ....................... 990 .... 238 d) Auswahl innerhalb der Vergleichsgruppe ................. 993 .... 239 aa) Kennzeichnung einer „groben“ Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl .................. 996 .... 240 bb) „Unmittelbare Substituierbarkeit“ als „grober“ Fehler? ............................................... 998 .... 240 Schaffung einer ausgewogenen Personalstruktur .......... 1002 .... 241 a) Sachverhalt des BAG ............................................... 1003 .... 241 b) Wesentliche Überlegungen des BAG ..................... 1004 .... 242 c) Bedeutung für die Sanierungs- und Insolvenzpraxis ........................................................ 1009 .... 243 Kein Auflösungsantrag bei Änderungsschutzklage ...... 1015 .... 244 a) Sachverhalt des BAG ............................................... 1017 .... 245 b) Wesentliche Überlegungen des BAG ..................... 1018 .... 245 c) Bedeutung für die betriebliche Praxis ..................... 1022 .... 246

II. Beteiligung des Betriebsrats bei Massenentlassungen .......... 1023 .... 246 III. Befristung von Arbeitsverhältnissen ..................................... 1. Aktuelles zur missbräuchlichen Gestaltung einer Befristungsabrede ............................................................ 2. Auflösende Bedingung wegen des Bezuges einer Erwerbsminderungsrente ................................................ a) Sachverhalt des LAG Niedersachsen ...................... b) Wesentliche Überlegungen des LAG Niedersachsen ................................................ c) Bedeutung für die Gestaltungspraxis .....................

1029 .... 248 1029 .... 248 1035 .... 251 1036 .... 251 1039 .... 251 1042 .... 252

XIX

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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/ Betriebsänderung ................................................................... 1044 .... 253 I.

Neues zum Betriebsübergang ................................................ 1. Tatbestand eines Betriebsübergangs .............................. a) Bestehende organisatorische Einheit ...................... b) Übernahme der wesentlichen Betriebsmittel und/oder wesentlichen Arbeitnehmer .................... c) Übergang „durch Rechtsgeschäft“ ......................... 2. Vereinbarung über das (Nicht-)Vorliegen eines Betriebsübergangs ........................................................... a) Vereinbarung zwischen den beteiligten Rechtsträgern ........................................................... aa) Sachverhalt des BAG ...................................... bb) Wesentliche Überlegungen des BAG ............ b) Verwirkung des Widerspruchsrechts bei Vergleich über das Nichtvorliegen eines Betriebsübergangs .................................................... aa) Sachverhalt des BAG ...................................... bb) Wesentliche Überlegungen des BAG ............ cc) Folgen für die betriebliche Praxis .................. 3. Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs ........................... a) Einzelvertraglicher Verzicht auf einen tarifvertraglichen Anspruch ist auch nach einem Betriebsübergang unwirksam ....................... aa) Sachverhalt des BAG ...................................... bb) Wesentliche Überlegungen des BAG ............ b) Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs für gekündigte Tarifverträge ......................................... aa) Sachverhalt des EuGH .................................... bb) Wesentliche Überlegungen des EuGH .......... c) Anforderungen an eine korrekte Unterrichtung bei Betriebsübergang ............................................... aa) Sachverhalt des BAG ...................................... bb) Wesentliche Überlegungen des BAG ............ d) Widerspruch bei mehrfachem Betriebsübergang – Gestaltungschance bei Sanierungen? ......................

1045 .... 253 1045 .... 253 1053 .... 255 1060 .... 257 1062 .... 258 1063 .... 258 1063 .... 258 1065 .... 258 1066 .... 259

1071 1072 1075 1078 1080

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260 260 261 262 262

1083 .... 263 1084 .... 263 1085 .... 264 1089 .... 265 1090 .... 265 1093 .... 266 1098 .... 267 1100 .... 267 1101 .... 268 1103 .... 269

II. Folgen eines Widerspruchs gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses für Ansprüche aus Betriebsvereinbarungen .......................................................... 1109 .... 270 1. Beendigung der Geltung einer Betriebsvereinbarung bei Ausscheiden aus dem Betrieb ................................... 1110 .... 271 a) Übertragung des betriebsverfassungsrechtlichen Betriebs ................................................. 1113 .... 272

XX

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2.

3.

aa) Identität von übertragenem Betrieb und betriebsverfassungsrechtlichem Betrieb ........ 1114 (1) Betrieb i. S. d. § 613a BGB nach der Rechtsprechung des BAG ....................... 1114 (2) Betrieb i. S. d. BetrVG und der Rechtsprechung des EuGH zum Betriebsübergang ..................................... 1120 bb) Konsequenz ..................................................... 1122 b) Individualrechtliche Wirkung der Ausübung des Widerspruchsrechts ........................................... 1123 c) Auswirkungen eines Ausscheidens aus dem Betrieb auf die Geltung von Betriebsvereinbarungen ......... 1125 aa) Grundsatz ........................................................ 1126 bb) Ausnahme ........................................................ 1128 cc) Bedeutung in Fällen des Ausscheidens kraft Widerspruchs .................................................. 1132 Keine Eingliederung in einen Betrieb des übertragenden Rechtsträgers .......................................... 1134 a) Keine automatische Eingliederung ......................... 1135 b) Keine Verpflichtung zur Eingliederung ................. 1141 aa) Kein Anspruch nach § 241 Abs. 2 BGB ........ 1142 bb) Betriebsverfassungsrechtliche Folgen ............ 1146 c) Bestätigung durch die betriebsverfassungsrechtliche Bewertung im Übrigen .......................... 1149 aa) Anhörung nach § 102 BetrVG ....................... 1150 bb) Keine Anhörung des im Amt verbliebenen Betriebsrats des übernehmenden Rechtsträgers ................................................... 1151 cc) Keine Zuständigkeit eines Betriebsrats des übertragenden Rechtsträgers ................... 1153 dd) Kein Restmandat des im Amt verbliebenen Betriebsrats des übernehmenden Rechtsträgers ................................................... 1155 d) Kein Rest- oder Übergangsmandat bei einer Übertragung des betriebsverfassungsrechtlichen Betriebs nach § 613a BGB ....................................... 1162 aa) Keine analoge Anwendbarkeit von § 21a BetrVG bzw. § 21b BetrVG .................. 1163 bb) Keine Vergleichbarkeit der Interessenlage .... 1166 cc) Gesetzeshistorie .............................................. 1167 dd) Gesetzeswortlaut und -systematik ................. 1168 e) Fazit .......................................................................... 1170 Notwendigkeit einer Unterrichtung im Rahmen von § 613a Abs. 5 BGB ................................................... 1171

Seite

.... 272 .... 272

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276 276 277 278 278

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282 283 283 284 284

.... 284

XXI

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4. 5.

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Eingliederung in ein beim übertragenden Rechtsträger verbliebenen Betrieb ................................. 1173 .... 285 Fazit ................................................................................. 1174 .... 285

III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung (Betriebsstilllegung, -spaltung und -verlagerung) – Anspruch des Betriebsrats auf Unterlassung einer Betriebsänderung? .................................................................. 1. Sachverhalt des LAG Berlin-Brandenburg .................... 2. Wesentliche Überlegungen des LAG Berlin-Brandenburg ......................................................... 3. Bedeutung für die betriebliche Praxis ............................

1179 .... 287 1180 .... 287

IV. Keine Nachhaftung des Gesellschafters ................................ 1. Sachverhalt des BAG ....................................................... 2. Wesentliche Überlegungen des BAG ............................ 3. Bedeutung für die Sanierungspraxis ...............................

1183 1184 1186 1191

.... .... .... ....

288 288 289 290

1192 1197 1201 1207

.... .... .... ....

290 291 292 293

V. Neues zur Transfergesellschaft – Kein eigenständiger Vergütungsanspruch anstelle von Transferkurzarbeitergeld .............................................................................. 1. Sachverhalt des BAG ....................................................... 2. Wesentliche Überlegungen des BAG ............................ 3. Bedeutung für die Sanierungspraxis ............................... a) Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich Zuzahlungen ............................................................ b) Entscheidungsfaktor Insolvenzrisiko ..................... c) Keine Unterschätzung der „formalen“ Arbeitgeberstellung der Transfergesellschaft ........

1175 .... 286 1178 .... 287

1208 .... 294 1209 .... 294 1210 .... 294

E.

Tarifrecht ................................................................................ 1213 .... 295

I.

Klage auf Abschluss eines Tarifvertrags ................................ 1. Sachverhalt des BAG ....................................................... 2. Wesentliche Überlegungen des BAG ............................ 3. Bedeutung für die betriebliche Praxis und die Sanierungspraxis ..............................................................

II. Auslegung eines Tarifvertrages .............................................. 1. Sachverhalt des BAG ....................................................... 2. Wesentliche Überlegungen des BAG ............................ 3. Bedeutung für die betriebliche Praxis ............................

1213 .... 295 1216 .... 295 1217 .... 296 1223 .... 297 1226 1227 1231 1238

.... .... .... ....

298 298 299 301

III. Keine Rückforderung tariflicher Sanierungsbeiträge ........... 1239 .... 301 1. Sachverhalt des LAG Düsseldorf ................................... 1240 .... 301 2. Wesentliche Überlegungen des LAG Düsseldorf ......... 1241 .... 302

XXII

Inhaltsverzeichnis Rz.

Seite

IV. Auswirkungen der Beendigung einer tariflichen Sonderleistung auf eine identische kraft betrieblicher Übung gewährte Sonderleistung ........................................... 1244 .... 302 F.

Betriebsverfassung ................................................................. 1252 .... 305

I.

Mitbestimmung bei betrieblicher Lohngestaltung ............... 1. Kein Anspruch auf Weitergewährung eines mitbestimmungswidrig eingeführten Vergütungsbestandteils ...................................................................... a) Sachverhalt des BAG .............................................. b) Wesentliche Überlegungen des BAG ..................... aa) Allgemeine Grundsätze zur Mitbestimmung beim Entgelt .................................................... bb) Besonderheiten bei nicht tarifgebundenem Arbeitgeber ..................................................... cc) Mitbestimmungspflicht bei der Einführung von Vergütungsbestandteilen ......................... dd) Mitbestimmungspflichtigkeit einer Einschränkung des begünstigten Personenkreises ............................................... ee) Kein Durchführungsanspruch des Betriebsrats auf Beibehaltung mitbestimmungswidrig eingeführter Vergütungsbestandteile ............... c) Bedeutung für die betriebliche Praxis ..................... 2. Mitbestimmung bei Wechsel von dynamischer zu statischer Prämienzahlung ......................................... a) Sachverhalt des BAG ............................................... b) Wesentliche Überlegungen des BAG ..................... c) Bedeutung für die betriebliche Praxis .....................

1268 1269 1270 1275

.... .... .... ....

309 309 309 310

II. Mitbestimmung bei Arbeitszeit ............................................. 1. Sachverhalt des BAG ....................................................... 2. Wesentliche Überlegungen des BAG ............................ 3. Bedeutung für die betriebliche Praxis ............................

1278 1279 1282 1285

.... .... .... ....

311 311 312 313

III. Keine Vorlagepflicht des Unternehmenskaufvertrags ......... 1. Sachverhalt des LAG Baden-Württemberg ................... 2. Wesentliche Überlegungen des LAG Baden-Württemberg .............................................. 3. Bedeutung für die betriebliche Praxis ...........................

1286 .... 313 1287 .... 313

1252 .... 305

1252 .... 305 1253 .... 305 1256 .... 306 1257 .... 306 1259 .... 307 1264 .... 307

1265 .... 308

1266 ..... 308 1267 .... 308

1289 .... 314 1305 .... 316

G. Steuer- und sozialversicherungsrechtliche Fragen ........... 1309 .... 319 I.

Umfang des Anspruchsübergangs bei Insolvenzgeldantrag ................................................................ 1309 .... 319 1. Sachverhalt des BAG ....................................................... 1310 .... 319

XXIII

Inhaltsverzeichnis Rz.

2. 3.

Seite

Wesentliche Überlegungen des BAG ............................ 1311 .... 320 Bedeutung für die Sanierungs- und Insolvenzpraxis ..... 1317 .... 321

II. Kein Insolvenzgeld für Arbeitnehmer ohne Arbeitserlaubnis ...................................................................... 1. Sachverhalt des LSG Bayern ........................................... 2. Wesentliche Überlegungen des LSG Bayern ................. 3. Bedeutung für die Sanierungs- und Insolvenzpraxis .....

1319 1320 1322 1327

.... .... .... ....

321 321 322 323

III. Keine Insolvenzgeldumlage von Wohnungseigentümergemeinschaften ....................................................................... 1328 .... 323 H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen ............. 1330 .... 325 I.

Aktuelles zur Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses zur Vermeidung der Zwangsvollstreckung .............................................................. 1. Abgrenzungsfragen ......................................................... a) Sachverhalt des BAG ............................................... b) Wesentliche Überlegungen des BAG ..................... 2. Rückforderung von Bezügen durch den Arbeitgeber bei faktischer Prozessbeschäftigung? ....... a) Sachverhalt des BAG ............................................... b) Wesentliche Überlegungen des BAG ..................... c) Bedeutung für die betriebliche Praxis ..................... 3. Wann macht ein vertragliches (freiwilliges) Prozessarbeitsverhältnis Sinn? ....................................... 4. Wirksamkeitsvoraussetzungen einer befristeten vertraglichen Prozessbeschäftigung ............................... a) Schriftform ............................................................... b) Sachgrund ................................................................. 5. Fazit .................................................................................

1364 1365 1366 1368

.... .... .... ....

332 332 332 333

II. Geltendmachung eines zur Insolvenzmasse gehörenden Rechts im eigenen Namen ................................. 1. Sachverhalt des BAG ....................................................... 2. Wesentliche Überlegungen des BAG ............................ 3. Bedeutung für die betriebliche Praxis ............................

1369 1370 1373 1382

.... .... .... ....

333 333 334 336

1330 1333 1336 1337

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325 325 326 327

1340 1344 1351 1355

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327 328 329 330

1357 .... 331

III. Rechtsschutzbedürfnis für Zahlungsklage aus beendetem Arbeitsverhältnis nach Durchführung eines Insolvenzverfahrens ...................................................... 1383 .... 336 1. Sachverhalt des LAG Hamm .......................................... 1384 .... 336 2. Wesentliche Überlegungen des LAG Hamm ................ 1390 .... 337 IV. Kein Ausschluss nicht angemeldeter Forderungen durch rechtskräftig bestätigten Insolvenzplan ...................... 1395 .... 338 1. Sachverhalt des BAG ....................................................... 1396 .... 338

XXIV

Inhaltsverzeichnis Rz.

2.

3.

Wesentliche Überlegungen des BAG ............................ a) Auswirkungen einer Verzichtsklausel im Insolvenzplan ...................................................... b) Keine Präklusion kraft Gesetzes ............................. c) Gefährdung des Sanierungszwecks durch nachträglich erhobene Forderungen? .......... d) Obiter dictum: Präklusionsklauseln für „Nachzügler“ sind unzulässig ........................... e) Rechtskräftige gerichtliche Anspruchsfeststellung als Voraussetzung einer Leistungsklage ................. Bedeutung für die Sanierungs- und Insolvenzpraxis .....

Seite

1400 .... 339 1400 .... 339 1401 .... 339 1408 .... 340 1413 .... 341 1415 .... 342 1419 .... 342

V. Akteneinsichtsrecht des Insolvenzverwalters ....................... 1423 .... 343 VI. Darlegungs- und Beweislast für Insolvenzverschleppung bei Haftung von GmbH-Geschäftsführern .......................... 1. Sachverhalt des BAG ....................................................... 2. Wesentliche Überlegungen des BAG ............................ 3. Bedeutung für die Sanierungs- und Insolvenzpraxis .....

1424 1425 1426 1434

.... .... .... ....

344 344 344 346

VII. Arbeitnehmereigenschaft eines GmbH-Geschäftsführers nach Abberufung .................................................................... 1439 .... 347 Stichwortverzeichnis ................................................................................... 351

XXV

Literaturverzeichnis Aßmuth Die Beteiligungsrechte des Betriebsrates bei Bagatellspaltungen gemäß § 111 Satz 3 Nr. 3 Alt. 2 BetrVG, 2013 Beck/Depré Praxis der Insolvenz, 2. Aufl., 2010 Blomeyer/Rolfs/Otto Betriebsrentengesetz (BetrAVG), 5. Aufl., 2010 (zit.: Blomeyer/Rolfs/Otto/Bearbeiter) Bork/Gehrlein Aktuelle Probleme der Insolvenzanfechtung, 12. Aufl., 2012 Däubler Tarifvertragsgesetz (TVG), 3. Aufl., 2012 Däubler/Kittner/Klebe/Wedde BetrVG: Betriebsverfassungsgesetz, 14. Aufl., 2014 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), 27. Aufl., 2014 Fuhlrott/Mückl Praxishandbuch Low-Performance, Krankheit, Schwerbehinderung, 2015 (zit.: Bearbeiter, in: Fuhlrott/Mückl) Gaul Das Arbeitsrecht der Betriebs- und Unternehmensspaltung, 2002 Hahn/Hahn Flexible Arbeitszeit, 2. Aufl., 2014 Henkel/Jöris/Röder/Schmitz-Witte/Warden/Wolf Mindestlohn, Neue gesetzliche Rahmenbedingungen und Hinweise für die Praxis, 2014 Henssler/Moll/Bepler Der Tarifvertrag (TVG), 2013 Henssler/Willemsen/Kalb Arbeitsrecht Kommentar, 5. Aufl., 2012 (zit.: HWK/Bearbeiter) Hilgenstock Das Mindestlohngesetz, 2014 Hüffer Aktiengesetz (AktG), Kommentar, 10. Aufl., 2012 Kleingers Der gesetzliche Insolvenzschutz von Arbeitszeitwertguthaben und die Haftung von Arbeitgeberrepräsentanten gegenüber Arbeitnehmern, 2007 XXVII

Literaturverzeichnis

Koberski/Asshoff/Eustrup/Winkler Arbeitnehmer-Entsendegesetz: AEntG MiArbG, 3. Aufl., 2011 Kreft (Hrsg.) Insolvenzordnung (InsO), Heidelberger Kommentar, 6. Aufl., 2011 (zit.: Kreft/Bearbeiter, InsO) Küttner Personalbuch 2014 (zit.: Küttner/Bearbeiter) Lakies Mindestlohngesetz, 2015 (zit.: MiLoG) Larenz/Canaris Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl., 2014 Löwisch/Rieble Tarifvertragsgesetz, 3. Aufl., 2012 Mückl Arbeitsrecht in Krise und Insolvenz, 2014 (zit.: Mückl, 1. Aufl.) Mückl Das Arbeitsrecht der Energiewirtschaft, 2014 Mückl/Pötters/Krause Das Mindestlohngesetz in der betrieblichen Praxis, 2015 Müller-Glöge/Preis/Schmidt Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 13. Aufl., 2013 (zit.: ErfK/Bearbeiter) Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts: Aktiengesellschaft, 3. Aufl., 2007 (zit.: Bearbeiter, in: MünchHdb. AG) Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl., 2010, 4. Aufl., 2014 ff. (zit.: Bearbeiter, in: MünchKomm-AktG) Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl., 2012 (zit.: Bearbeiter, in: MünchKomm-BGB) Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 3. Aufl., 2013 (zit.: Bearbeiter in: MünchKomm-InsO) Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 4. Aufl., 2012 (zit.: Bearbeiter, in: MünchKomm-ZPO) Oetker Kommentar zum Handelsgesetzbuch (HGB), 3. Aufl., 2013

XXVIII

Literaturverzeichnis

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XXIX

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa Kurzinhalt: Gesetzlicher Mindestlohns (Rn. 1 ff.); Reform des Anfechtungsrechts (Rn. 209 ff.); Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit (Rn. 245 ff.); Neue Gestaltungsmöglichkeiten für die Beschäftigung älterer Mitarbeiter (Rn. 270 ff.); Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen (Rn. 285 ff.); Sozialversicherungsrechengrößen (Rn. 332 ff.)

I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015 Auf Basis des Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomie- 1 stärkungsgesetz) ist durch das Mindestlohngesetz (MiLoG) zum 1.1.2015 ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von EUR 8,50 eingeführt worden. Obwohl dies bereits bei der entsprechenden Ankündigung der Regelung im Koalitionsvertrag zu bemängeln war, vgl. Mückl, 1. Aufl., Rn. 40 ff.,

enthält das MiLoG für sanierungsbedürftige Unternehmen keinerlei Erleichterungen. Für Insolvenzsituationen ist teilweise eine verfassungskonform einschränkende Auslegung erforderlich. Vgl. dazu unter Rn. 162 ff. Praxistipp: Ergänzt wird das MiLoG durch neue gesetzliche Vorgaben im TVG sowie im Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG). Hierdurch soll der Staat in die Lage versetzt werden, durch Allgemeinverbindlicherklärung oder Rechtsverordnung verbindliche Lohnuntergrenzen zu setzen, deren Ursprung ein Tarifvertrag ist. Vgl. zu den praktischen Fragen zum MiLoG – auch zu den nachfolgend nicht angesprochenen – ausführlich Mückl/Pötters/Krause, Das Mindestlohngesetz in der betrieblichen Praxis, 2015.

1. Anwendungsbereich a) Anknüpfungspunkt: Arbeitnehmereigenschaft Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG gilt das Gesetz für alle Arbeitnehmerinnen 2 und Arbeitnehmer (im Folgendem aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung „Arbeitnehmer“ genannt). Damit knüpft das MiLoG an den allgemeinen Arbeitnehmerbegriff des deutschen Arbeitsrechts an. Statt vieler Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 84; Hilgenstock, Rn. 12.

Arbeitnehmer ist danach jeder, der in persönlicher Abhängigkeit Dienste auf 3 privatrechtlicher Basis für einen anderen leistet. Vgl. statt aller ErfK/Preis, BGB § 611 Rn. 35.

1

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa Praxistipp: Nicht gemeint ist der Arbeitnehmerbegriff der EU, der auch Beamte erfassen kann.

4 Wer Arbeitnehmer im diesen Sinne ist, bestimmt sich nach den vom BAG entwickelten Grundsätzen. Hiervon ausgehend nicht vom MiLoG erfasst sind, weil sie keine „Arbeitnehmer“ sind: x

Beamte und Soldaten,

x

arbeitnehmerähnliche Personen,

x

Freiberufler, Selbständige,

x

Auszubildende,

x

ehrenamtlich Tätige,

x

nach Familienrecht mitarbeitende Ehegatten und

x

in der Regel DRK-Schwestern.

5 Ebenfalls nicht erfasst sind nach Teilen der Literatur auch Heimarbeiter, für die aber ein vergleichbares Schutzbedürfnis besteht (vgl. § 1 Abs. 1 EFZG), dem §§ 4, 18 f. HAG nur teilweise Rechnung tragen. Vgl. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 84. Praxistipp: Maßgeblich für die Qualifikation des Vertragsverhältnisses ist dessen gelebte Ausgestaltung. Wie auch im übrigen Arbeitsrecht gilt der Grundsatz, dass es auf das gelebte Vertragsverhältnis ankommt. Nicht der gelebten Vertragspraxis entsprechende Vereinbarungen sind insoweit unerheblich.

6 Als Arbeitnehmer im Sinne des MiLoG gelten demgegenüber Praktikanten nach § 26 BBiG (§ 22 Abs. 1 Satz 2 MiLoG). 7 Gleiches gilt für befristet, geringfügig oder in Teilzeit Beschäftigte. Ob das gesetzliche Renteneintrittsalter in der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht ist, spielt solange keine Rolle, wie der betreffende Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt tätig ist. Hilgenstock, Rn. 57; Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 85.

8 Ebenfalls als Arbeitnehmer zu qualifizieren sind Werkstudenten. Vgl. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 85. Praxistipp: Ob der betroffene Arbeitnehmer bereits aus anderen Quellen einen hinreichenden Verdienst zur Deckung seines Lebensbedarfs bezieht, spielt keine Rolle (Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 85).

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

b) Einsatzgebiet: Bundesrepublik Deutschland Weitere Voraussetzung für die Geltung des MiLoG ist grundsätzlich, dass 9 der Arbeitnehmer im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland tätig sein muss. Nach Art. 8, 9 Rom-I-VO ist der Mindestlohn aber auch dann zu zahlen, wenn der Arbeitsvertrag deutschem Recht unterliegt. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 87.

Aus § 20 MiLoG ergibt sich, dass es sich um eine Eingriffsnorm i. S. d. Art. 9 10 Abs. 1 Rom-I-VO handelt. ErfK/Franzen, MiLoG § 20 Rn. 1; Lakies, MiLoG § 20 Rn. 10.

c) Anspruchsgegner Anspruchsgegner ist der Arbeitgeber, wobei keine Rolle spielt, ob er im In- 11 oder Ausland sitzt, solange er im Inland Arbeitnehmer beschäftigt, § 20 MiLoG. Praxistipp: Arbeitgeber können natürliche oder juristische Personen sein. Gleiches gilt für teilrechtsfähige Gesellschaften wie die GbR oder die OHG. Niemals als Arbeitgeber in Frage kommen hingegen Konzerne, da sie nicht über eine Rechtspersönlichkeit verfügen (Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 88).

d) Geregelte Ausnahmen § 22 MiLoG sieht eine Reihe von Herausnahmen aus dem persönlichen An- 12 wendungsbereich des Gesetzes vor: aa) Kinder und Jugendliche ohne Berufsausbildung Ausgenommen ist zunächst die Gruppe der Kinder und Jugendlichen (§ 2 13 Abs. 1, 2 JArbSchG) ohne abgeschlossene Berufsausbildung (§ 22 Abs. 2 MiLoG). Hintergrund hierfür ist, dass kein Anreiz zum Verzicht auf eine Berufsausbildung zugunsten einer mit dem gesetzlichen Mindestlohn vergüteten Beschäftigung geschaffen werden sollte. BT-Drucks. 147/14, S. 46 f. Praxistipp: Ob die Regelung verfassungsrechtlichen Bedenken standhält, die u. a. darauf beruhen, dass sie auch Schüler vom Mindestlohn ausnimmt, die noch nicht ausbildungsreif sind, und Unternehmen einen Anreiz zur Beschäftigung Minderjähriger bietet, ist zweifelhaft (vgl. Sagan/Witschen, jM 2014, 372 m. w. N.; für Verfassungskonformität aber Barczak, RdA 2014, 290, 298 Fn. 128). Denkbar ist ferner eine europarechtlich unzulässige Altersdiskriminierung (vgl. Brors, NZA 2014, 938, 941 f.; Sagan/Witschen, jM 2014, 372, 373).

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

bb) Auszubildende/Ehrenamt 14 Ebenfalls ausgenommen sind die zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten sowie ehrenamtlich Tätige (§ 22 Abs. 3 MiLoG), weil diese ohnehin nicht in einem Arbeitsverhältnis stehen. BT-Drucks. 18/1558, S. 43. Praxistipp: Auszubildende haben nach § 17 BBiG einen Anspruch auf eine angemessene Ausbildungsvergütung.

cc) Langzeitarbeitslose 15 Auch für die Gruppe der Langzeitarbeitslosen i. S. d. § 18 SGB III (Dauer der Arbeitslosigkeit von mindestens einem Jahr) trifft § 22 Abs. 4 MiLoG eine 6-monatige Herausnahme als Sonderregelung mit der Maßgabe, dass die Bundesregierung zum 1.6.2016 den gesetzgebenden Körperschaften darüber Bericht zu erstatten hat, ob diese Regelung die Wiedereingliederung der genannten Gruppe von Beschäftigten in den Arbeitsmarkt gefördert hat, verbunden mit einer Einschätzung dazu, ob die Ausnahmeregelung beibehalten werden soll. 16 In Bezug auf diese Sonderregelung wird allerdings schon heute befürchtet, dass sie ohne Effekt bleiben wird. Vgl. Schweibert/Leßmann, DB 2014, 1866 f.

17 Denn die gesetzliche Definition der Langzeitarbeitslosigkeit in § 18 Abs. 1 SGB III liest sich zwar einfach. Zu berücksichtigen sind in diesem Kontext aber die verschiedenen Unterbrechungen nach § 18 Abs. 2 SGB III, die sowohl für den Arbeitslosen als auch für dessen (potentiellen) Arbeitgeber nur relativ schwer bestimmbar sind. Mit Blick auf die strengen Sanktionen, die bei Nichtzahlung des Mindestlohns drohen, vgl. dazu Rn. 185 ff.,

steht zu befürchten, dass diese Regelung in der betrieblichen Praxis deshalb nicht zur Anwendung kommen wird, weil Arbeitgeber nicht bereit sein werden, dieses Risiko einzugehen. dd) Praktikanten 18 Ebenfalls eine sehr differenzierte Regelung trifft § 22 Abs. 1 MiLoG zum Einbezug von Praktikanten, um dem Phänomen der unterbezahlten „Generation Praktikum“ ein Ende zu bereiten. Ausführlich z. B. Lakies, MiLoG § 22 Rn. 25 ff.

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

Ausgenommen sind lediglich:

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x

Praktika, die verpflichtend aufgrund einer Schul-, Ausbildungs- oder Prüfungsordnung zu leisten sind;

x

Praktika, die der Orientierung für eine Berufsausbildung oder für die Aufnahme eines Studiums dienen;

x

berufs- oder hochschulausbildungsbegleitende Praktika, wenn nicht bereits zuvor ein Praktikumsverhältnis bestanden hat;

x

Praktika im Rahmen der aktiven Arbeitsförderung oder von Maßnahmen der Eingliederung nach den Regelungen des SGB III.

2. Keine Beschränkung auf den Niedriglohnsektor Angesichts der geregelten Ausnahmen stellt sich für die betriebliche Praxis 20 vor allem die Frage, ob Arbeitnehmer mit einer über dem Mindestlohn liegenden Vergütung vom Anwendungsbereich des MiLoG ausgenommen sind. Ansonsten wäre – unter Berücksichtigung der wenigen vorgenannten Ausnahmen – jeder Arbeitnehmer anspruchsberechtigt, unabhängig davon, ob er bereits kraft Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag eine höhere Vergütung bezieht. a) Grundsätzliche Geltung für alle nicht explizit ausgenommenen Arbeitsverhältnisse Richtigerweise wird man von einer Kumulation etwaiger Ansprüche aus Ar- 21 beitsvertrag, Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag und dem MiLoG ausgehen müssen. Ebenso Sagan/Witschen, jM 2014, 372, 373; Bayreuther, NZA 2014, 865 f.; Preis/Ulber, S. 21 ff.; Sittard, NZA 2014, 951, 952 f.; wohl auch Däubler, NJW 2014, 1924, 1928.

Das MiLoG gilt dementsprechend – entgegen einer in der Literatur vertrete- 22 nen Ansicht – Lakies, MiLoG § 1 Rn. 129 ff.; Lakies, ArbRAktuell 2014, 343, 345,

grundsätzlich für alle nicht in § 22 MiLoG ausgenommenen Arbeitsverhältnisse. Dieser Ansicht neigt offenbar auch das BMAS zu, wie seine Verordnung zu den Dokumentationspflichten nach den §§ 16 und 17 des Mindestlohngesetzes in Bezug auf bestimmte Arbeitnehmergruppen (Mindestlohndokumentationspflichten-Verordnung – MiLoDokV) deutlich macht, deren § 1 Satz 2 lautet: „Für die Ermittlung des verstetigten Monatsentgelts sind ungeachtet ihrer Anrechenbarkeit auf den gesetzlichen Mindestlohnanspruch nach den §§ 1

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa und 20 des Mindestlohngesetzes sämtliche verstetigten monatlichen Zahlungen des Arbeitgebers zu berücksichtigen, die regelmäßiges monatliches Arbeitsentgelt sind“. (Hervorhebung hinzugefügt)

23 Auch ohne diese ergänzende Klarstellung sprechen aber die besseren Gründe dafür, dass der Mindestlohn bildlich gesprochen in jeder Vergütung „drinsteckt“. aa) Wortlaut 24 Dies folgt zunächst aus dem Wortlaut von §§ 1 Abs. 1, 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG, der alle Arbeitsverhältnisse erfasst. 25 Hinzu kommt, dass § 3 Abs. 1 MiLoG die Unwirksamkeit von Regelungen lediglich „insoweit“ anordnet, wie sie gegen die Vorgaben des MiLoG verstoßen. Diese ausdrückliche Einschränkung der Unwirksamkeitsfolge lässt darauf schließen, dass weitere – ungeschriebene – Einschränkungen nicht vorgesehen sind. Preis/Ulber, S. 22.

bb) Systematik 26 Bestätigt wird dies systematisch nicht nur durch § 2 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbs. MiLoG, wonach der Anspruch auf den Mindestlohn durch „Zahlung des verstetigten Arbeitsentgelts“ erfüllt werden kann. Denn dies legt nahe, dass der Mindestlohn neben ein (höheres) Vertragsentgelt tritt. Sagan/Witschen, jM 2014, 372, 373.

27 Für dieses Ergebnis spricht systematisch vor allem ein Umkehrschluss aus den in § 22 Abs. 2–4 und § 24 MiLoG geregelten Ausnahmen. Wenn der Gesetzgeber dort Ausnahmen anordnet, dies aber in §§ 1 Abs. 1, 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG und § 3 Satz 1 MiLoG nicht tut, spricht viel für eine bewusste Entscheidung. 28 Hinzu kommt systematisch-teleologisch, dass der Mindestlohnanspruch nach § 3 Satz 1 MiLoG nicht abbedungen werden kann. Wieso „Besserverdiener“ insoweit schlechtergestellt werden sollten, erschließt sich nicht. 29 Darüber hinaus folgt § 3 Satz 1 MiLoG unmittelbar auf § 2 Abs. 2 Satz 1 MiLoG. Der Umstand, dass in § 2 Abs. 2 Satz 1 MiLoG im letzten Halbsatz ausdrücklich eine Einschränkung durch das verstetigte Arbeitsentgelt vorgesehen ist, während in § 3 Satz 1 MiLoG eine derartige Einschränkung fehlt, spricht gegen ein Redaktionsversehen und für eine bewusste Anspruchskumulation. Preis/Ulber, S. 24.

30 In die gleiche Richtung weist § 1 Abs. 3 MiLoG. Dies ergibt sich aus dem Gesetzeswortlaut („soweit“) in § 1 Abs. 3 Satz 1 MiLoG.

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

cc) Historisch-teleologische Überlegungen Lediglich eine teleologische Korrektur könnte zu einer anderen Bewertung 31 führen. Sie dürfte aber durch den im Wortlaut des MiLoG zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers – jedenfalls als flächendeckende Korrektur – gesperrt sein. Ebenso Sagan/Witschen, jM 2014, 372, 374.

(1) Ziele des Gesetzgebers In die Richtung einer derartigen Korrektur weist zwar, dass das MiLoG nach 32 dem in den Materialien zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers insbesondere Arbeitnehmer vor generell unangemessenen Niedrigstlöhnen schützen, einen Lohnunterbietungswettbewerb verhindern und existenzsichernde Arbeitsentgelte garantieren soll. Vgl. dazu die Nachweise unter Rn. 35 ff.

Ausgehend von diesen Zielen scheint eine Anwendung des MiLoG auf Arbeit- 33 nehmer, denen ein den Mindestlohn übersteigendes Entgelt zusteht, nicht geboten. Denn keiner der vorgenannten Zwecke ist einschlägig. Sagan/Witschen, jM 2014, 372, 374.

Bereits die weitere Zielsetzung des Gesetzgebers, eine Stabilisierung des So- 34 zialversicherungssystems, vgl. BT-Drucks. 18/1558, S. 32,

spricht aber für einen unabdingbaren Mindestanspruch. Preis/Ulber, S. 35.

(2) Gesetzgebungsverfahren Entscheidend hinzu kommt, dass während des Gesetzgebungsverfahrens Ei- 35 nigkeit darüber bestanden haben dürfte, dass das MiLoG für alle Arbeitnehmer gelten soll. Denn führt man sich vor Augen, dass der Gesetzgeber trotz mehrfacher ausdrücklicher Kritik dieses Gesichtspunkts im Gesetzgebungsverfahren keinen Anlass gesehen hat, vgl. die diversen Stellungnahmen hierzu in Ausschussdrucksache 18(11)148, auch abgedruckt bei Preis/Ulber, S. 28 ff.,

dies klarzustellen, spricht einiges dafür, dass es sich um eine bewusste Entscheidung handelt. Ebenso Preis/Ulber, S. 31.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

(3) Gesetzesbegründung 36 Hinzu kommt, dass die Gesetzesbegründung zu § 2 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbs. MiLoG dieses Verständnis ausdrücklich bestätigt. Aus ihr folgt nämlich, dass der Gesetzgeber mit der in § 2 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbs. MiLoG isoliert vorgesehenen Ausnahmeregelung ein praktisches Problem im Zusammenhang mit Arbeitszeitkonten lösen und nicht allgemein die Geltung des MiLoG einschränken wollte. Preis/Ulber, S. 24 f., 32 f.

(4) Fazit und Kontrollüberlegung 37 Eine „flächendeckende“ Reduktion des Gesetzes auf Arbeitnehmer, deren Lohn unterhalb von 8,50 € pro Stunde liegt, dürfte angesichts Wortlaut, Systematik und Gesetzgebungsgeschichte „jenseits der Grenze methodisch noch vertretbarer Gesetzesauslegung liegen“. Sagan/Witschen, jM 2014, 372, 374.

38 Konsequenz daraus ist, dass in jedem Entgelt jedenfalls auch der Mindestlohn enthalten ist. 39 Dies wird teleologisch durch folgende Kontrollüberlegung bestätigt: Ansonsten könnte das MiLoG durch das Versprechen, einen Lohn in Höhe von EUR 8,51 (brutto) pro Zeitstunde zu zahlen, ausgehebelt werden. Bayreuther, NZA 2014, 865, 866; Preis/Ulber, S. 35 f.

Dies will der Gesetzgeber aber gerade nicht, wie § 2 Abs. 2 letzter Halbs. MiLoG deutlich macht, der als Ausnahmeregelung für die Gestaltung von Arbeitszeitkonten vorsieht, dass sie unter den dort geregelten Voraussetzungen unabhängig von den Mindestlohnvorgaben gestaltet werden können. Daran wird nämlich deutlich, dass der Gesetzgeber das „Problem“ der den Gesetzeszweck überschießenden Einführung eines Mindestlohns gesehen hat. 40 Nach alledem kommen teleologische Korrekturen nicht flächendeckend, sondern nur im Einzelfall in Betracht. Sagan/Witschen, jM 2014, 372, 374; im selben Sinn Gaul, Aktuelles Arbeitsrecht 2/2014, S. 289 f.

b) Ausnahmen kraft teleologischer Reduktion? 41 In der Literatur ist eine entsprechende Korrektur vor allem für Aufzeichnungs- und Bereithaltungspflichten nach § 17 Abs. 1, 2 MiLoG, d. h. für die dort genannten Branchen (z. B. Baugewerbe, Speditionen und Logistik, Gebäudereinigung), befürwortet worden. Gaul, Aktuelles Arbeitsrecht 2/2014, S. 289.

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

Denn es sei überflüssig, die Arbeitszeit eines Arbeitnehmers zu dokumentieren, dessen Vergütung schon rein rechnerisch nicht unter EUR 8,50 pro Zeitstunde liegen kann. Diese Überlegung hat der Gesetzgeber zwischenzeitlich aufgegriffen, indem 42 er mit der MiLoDokV Präzisierungen vorgenommen und insbesondere den Anwendungsbereich eingeschränkt hat. Die relevanten Verordnungen sind dokumentiert unter http://www.der-mindestlohn-kommt.de/ml/DE/Service/ Meldungen/2014/2014-11-20-ml-neue-verordnung.html.

Mit dem Erlass der MiLoDokV macht das BMAS von der Ermächtigung in 43 § 17 Abs. 3 MiLoG Gebrauch. Nach § 1 Satz 1 MiLoDokV soll die Entgeltgrenze der Arbeitnehmer, deren Arbeitszeiten zu dokumentieren sind, EUR 2.958 (brutto) betragen. Das entspricht einer Arbeit an 29 Tagen im Monat zu je zwölf Stunden. Denkbar ist nach in der Literatur vertretenen Ansichten alternativ auch, an 44 die arbeitszeitrechtliche Höchstgrenze anzuknüpfen, was Arbeitnehmer ausgrenzen würde, die mehr als EUR 1.767,00 (brutto) pro Monat erhalten. Folgt man dieser Bewertung, ist § 17 Abs. 1 MiLoG einschränkend dahin auszulegen, dass keine Aufzeichnungspflicht des Arbeitgebers besteht, wenn durch die Höhe des laufenden Entgelts bereits sichergestellt ist, dass der Anspruch auf Erhalt des Mindestlohns erfüllt worden ist. § 17 Abs. 2 MiLoG soll hiervon unberührt bleiben. Auch § 2 Abs. 2 MiLoG finde keine Anwendung. Dies gelte für die Dauer des Ausgleichszeitraums ebenso wie für die Höhe eines etwaigen Zeitguthabens. Gaul, Aktuelles Arbeitsrecht 2/2014, S. 289.

Dem stehe auch die gesetzliche Regelung im Übrigen nicht entgegen, wenn 45 man sich vor Augen führe, dass § 21 Abs. 3 MiLoG vorsieht, dass Verstöße mit einem Bußgeld belegt werden „können“. Die Prüfbehörden hätten also im Rahmen pflichtgemäßem Ermessens darüber zu entscheiden, ob sie Verstöße gegen das Gesetz, insbesondere gegen §§ 2 Abs. 2, 17 Abs. 1 MiLoG, mit einem Bußgeld belegen. In der Literatur wird für die beiden vorgenannten Normen angenommen, dass selbst dann, wenn man eine teleologische Einschränkung ablehne, die Belegung des Arbeitgebers mit einem Bußgeld jedenfalls dann ermessensfehlerhaft bzw. unverhältnismäßig wäre, wenn ein Verstoß gegen die Pflicht zur Zahlung des Mindestlohns schon durch die Gesamthöhe des Arbeitsentgelts ausgeschlossen sei. Andernfalls werde nämlich der Verstoß gegen eine Pflicht bestraft, deren Zweck bereits erfüllt sei. Dies sei ermessensfehlerhaft. Als Nachweis zur Erfüllung dieser Verpflichtung sollen nach dieser Ansicht die Vereinbarungen zur Dauer der Arbeitszeit und Nachweise zu der dafür gezahlten Vergütung ausreichen. Gaul, Aktuelles Arbeitsrecht 2/2014, S. 289 f.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

c) Auswirkungen auf die Lohnabrechnung – doppelte Lohnabrechnung bei verstetigtem Monatslohn 46 Für die Lohnabrechnungspraxis bringt das Enthaltensein des Mindestlohns in jeder Vergütung einen erheblichen Aufwand mit sich. aa) Stundenlohnabrede 47 Ist im Arbeitsvertrag eine Stundenlohnabrede getroffen, ist die Einhaltung der gesetzlichen Pflicht, EUR 8,50 (brutto) pro Stunde zu zahlen, für Unternehmen zwar noch leicht überprüfbar. bb) Verstetigter Monatslohn 48 Als für die Abrechnungspraxis zeitaufwändig und schwierig kann sich die Überprüfung der Einhaltung des MiLoG aber erweisen, wenn der Arbeitsvertrag – wie in den meisten Fällen – ein monatliches Pauschalgehalt sowie eine „regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit“ vorsieht. 49 Bei dieser Gestaltung ist nämlich denkbar, dass die Zahl der im jeweiligen Monat geleisteten Stunden multipliziert mit EUR 8,50 (brutto) einen das Pauschalgehalt übersteigenden Betrag ergibt. Konsequenz daraus ist, dass ohne „Aufstockungsleistung“ der Anspruch aus § 1 Abs. 1 MiLoG nicht erfüllt ist. Denkbar ist dies zum einen, weil die Zahl vergütungspflichtiger Arbeitstage je Monat abhängig von der Anzahl der Kalendertage von Kalendermonat zu Kalendermonat variiert (in 2015 zwischen 20 und 23). Zum anderen kann die Zahl der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden pro Monat in unterschiedlicher Höhe von der vereinbarten „regelmäßigen“ Arbeitszeit abweichen (Stichwort: Mehrarbeit bzw. Überstunden). Praxistipp: Hier wird die unter Rn. 64 beantwortete Frage relevant, ob Überstunden stets separat vergütungspflichtig sind oder ob sie im Rahmen einer zulässigen Durchschnittsbetrachtung mit dem Grundgehalt abgegolten werden können.

50 Geht man – richtigerweise – vgl. unten Rn. 64

von der Zulässigkeit einer Durchschnittsbetrachtung aus, muss unternehmensseitig bei einem vereinbarten verstetigten Monatslohn im Rahmen der der monatlichen Lohnabrechnung im Hintergrund stets eine Vergleichsrechnung anhand der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden pro Monat auf Grundlage von EUR 8,50 Mindestlohn je Zeitstunde erfolgen, um sicherzustellen, dass die Vorgaben des MiLoG erfüllt werden. Praxistipp: Die Notwendigkeit einer solchen doppelten Lohnabrechnung bedeutet für die Lohnbuchhaltungen zwar einen enormen zusätzlichen Aufwand, sollte aber mit Blick auf die bei einem Verstoß gegen das MiLoG drohenden Sanktionen (vgl. unter Rn. 185 ff.) geleistet werden.

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

3. Übergangsregelung Der Anspruch auf den Mindestlohn gilt grundsätzlich ab dem 1.1.2015. Über- 51 gangsregelungen hierzu sieht allerdings § 24 MiLoG vor. a) „Verbindlich“ gemachte Tarifverträge „repräsentativer“ Tarifvertragsparteien Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 gelten bis zum 31.12.2017 abweichende Regelungen 52 eines Tarifvertrags repräsentativer Tarifvertragsparteien weiter und gehen insofern dem Mindestlohn vor, wenn sie für alle unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitgeber mit Sitz im In- oder Ausland sowie deren Arbeitnehmer verbindlich gemacht worden sind. Ab dem 1.1.2017 müssen abweichende Regelungen in diesem Sinne mindestens 53 ein Entgelt von brutto EUR 8,50 (brutto) je Zeitstunde vorsehen. Nach § 24 Abs. 1 Satz 2 MiLoG gilt dieses entsprechend für Rechtsverord- 54 nungen, die auf der Grundlage von § 11 AEntG sowie § 3a AÜG erlassen worden sind. Davon sind also Tarifverträge betroffen, die nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich oder gemäß § 7 AEntG für zwingend erklärt worden sind und in den Anwendungsbereich des AEntG fallen. Praxistipp: Unerheblich ist, ob sie vor oder nach dem 1.1.2015 geschlossen wurden.

Unklar ist, wann Tarifvertragsparteien „repräsentativ“ sind. Das schafft un- 55 nötige Rechtsunsicherheit, da dies letztlich nur von den Arbeitsgerichten geklärt werden kann. Praxistipp: Klar ist allerdings im Umkehrschluss, dass Firmentarifverträge dieses Erfordernis in aller Regel nicht erfüllen. Das gilt auch für Sanierungstarifverträge.

b) Zeitungszusteller Nach § 24 Abs. 2 MiLoG gelten Sonderregelungen im Übrigen für Zeitungs- 56 zusteller/innen. Danach besteht ab dem 1.1.2015 ein Anspruch auf 75 % des Mindestlohns, also auf EUR 6,83 (brutto) sowie ab dem 1.1.2016 ein Anspruch auf 85 % des Mindestlohns, d. h. auf EUR 7,23 (brutto). Nach § 24 Abs. 2 Satz 1 MiLoG gelten als derartige Zeitungszusteller/innen 57 nur Personen, die „in einem Arbeitsverhältnis ausschließlich periodische Zeitungen oder Zeitschriften an Endkunden zustellen; dies umfasst auch Zustellerinnen und Zusteller von Anzeigenblättern mit redaktionellem Inhalt“. Begründet wird diese Ausnahme mit der Notwendigkeit eines Schutzes der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) sowie der auf dem Mindestlohn beruhenden Gefährdung des Abonnementenwesens.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa Praxistipp: Das Verteilen von Werbeprospekten, das im Jahr 2014 häufig parallel zur Zeitungszustellung erfolgte, ist seit dem 1.1.2015 nicht mehr gleichermaßen privilegiert. Dies wird in der Praxis im Zweifel zu einer Vielzahl von Kündigungen und einer Veränderung des Zustellungsmarktes führen. Denn die erhöhten Kosten durch das MiLoG können letztlich nur über Skaleneffekte aufgefangen werden. Zu erwarten ist daher, dass einerseits eine Konsolidierung des Zustellungsmarktes erfolgt, die andererseits mit der Etablierung spezialisierter Unternehmen einhergeht.

4. Mindestlohn als Vergütungsgrundbestandteil 58 Ausgehend davon, dass der Mindestlohn in jedem Lohn bzw. jeder Vergütung enthalten ist (vgl. oben Rn. 21 ff.), stellen sich für Unternehmen vor allem mit Blick auf ihre Lohnkosten – aber auch mit Blick auf die empfindlichen Sanktionen bei Nichtzahlung des Mindestlohns (vgl. unter Rn. 185 ff.) – die Fragen: x

Wann ist der Mindestlohn zu zahlen?

x

Welche der vorhandenen Vergütungsbestandteile sind mindestlohnrelevant?

x

Welche Arbeitsleistung ist mit dem Mindestlohn zu vergüten und wird mit ihm vergütet?

59 Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG beträgt die Höhe des Mindestlohns ab dem 1.1.2015 brutto EUR 8,50 je Zeitstunde. Praxistipp: Soweit dem Arbeitnehmer als Konsequenz dieser Vorgabe vom Arbeitgeber eine Anpassung des Arbeitsvertrags angeboten werden soll, was insbesondere aus Compliance-Gründen (vor allem im Zusammenhang mit Unternehmensoder Betriebsveräußerungen) wichtig sein kann, muss darauf geachtet werden, für welche sonstigen Regelungen die entsprechende Entgeltregelung relevant ist (betriebliche Altersversorgung, etc.). Lehnt der Arbeitnehmer eine Änderung des Arbeitsvertrages ab, dürften insoweit arbeitsvertraglich die Grundsätze Anwendung finden, welche die Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Erstreckung der AGB-Kontrolle auf das Arbeitsrecht entwickelt hat (vgl. BAG, v. 20.4.2011 – 5 AZR 191/10, ZIP 2011, 1485; Gaul/Mückl, NZA 2009, 1233). In der Literatur zum MiLoG wird diskutiert, ob es für den Arbeitnehmer missbräuchlich ist, sich auf § 612 BGB zu berufen (in diesem Sinne Bayreuther, NZA 2014, 865, 866). Letztlich dürfe sich dabei um eine Frage des Einzelfalls, namentlich der angebotenen Vertragsänderung, handeln (ebenso Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 91). Zu Anpassungsnotwendigkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten vgl. auch Schweibert/ Leßmann, DB 2014, 1866, 1869 f.

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

a) Fälligkeit aa) Grundsatz § 2 Abs. 1 MiLoG sieht zur Fälligkeit vor, dass der Arbeitgeber verpflichtet 60 ist, dem Arbeitnehmer den Mindestlohn x

zum Zeitpunkt der vereinbarten Fälligkeit,

x

spätestens am letzten Bankarbeitstag (Frankfurt am Main) des Monats, der auf den Monat folgt, in dem die Arbeitsleistung erbracht wurde,

zu zahlen. Für den Fall, dass keine Vereinbarung über die Fälligkeit getroffen worden ist, bleibt § 614 BGB gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 MiLoG unberührt. Praxistipp: Der in § 11 Abs. 2 BurlG geregelte Fälligkeitszeitpunkt geht § 2 Abs. 1 MiLoG als speziellere Regelung vor (Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 93).

Damit sind unterschiedliche Konstellationen denkbar:

61

x

Soweit keine spezielle Regelung (Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung, Tarifvertrag) eingreift (§ 2 Abs. 1 Satz 2 MiLoG), gilt § 614 BGB, sodass der Mindestlohn am Ende des Monats fällig ist, in dem die Arbeitsleistung erbracht wird.

x

Abweichend hiervon können Arbeitsvertrag und Tarifvertrag – in den Grenzen der §§ 87 Abs. 1 Einleitungssatz, 77 Abs. 3 BetrVG aber auch Betriebsvereinbarungen – frühere oder spätere Fälligkeitstermine festlegen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 MiLoG).

x

Für ein Hinausschieben der Fälligkeit schreibt § 2 Abs. 1 Nr. 2 MiLoG allerdings den letzten Bankarbeitstag (Frankfurt am Main) des Monats, der auf den Monat folgt, in dem die Arbeitsleistung erbracht wurde, als absolute Grenze vor. Praxistipp: Der letztgenannte Zeitpunkt ist auch für die Prüfpflichten des Zolls maßgeblich; an ihn knüpfen die Sanktionen des § 21 Abs. 1 Nr. 9 i. V. m. § 20 i. V. m. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MiLoG an (vgl. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 92; Lakies, MiLoG § 2 Rn. 3). Wichtig ist dies aus Sicht sanierungsbedürftiger Unternehmen für Stundungsvereinbarungen im Rahmen von sog. „Besserungsscheinen“ als Bestandteil von Sanierungsvereinbarungen (z. B. im Rahmen sog. „Bündnisse für Arbeit“). Denn ein Hinausschieben des Zahlungszeitpunkts über den letztgenannten Termin schließt das Gesetz aus. Lediglich Lohnbestandteile über den Mindestlohn hinaus können im Rahmen von Sanierungsvereinbarungen gestundet werden.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

bb) Was gilt bei Verdienst über dem Mindestlohn? 62 Da der Mindestlohn in jedem Gehalt/Lohn enthalten ist, ist denkbar, aber nicht erforderlich, dass die überschießenden Vergütungsbestandteile zu einem abweichenden, insbesondere späteren Zeitpunkt ausbezahlt werden. Jöris/Steinau-Steinrück, BB 2014, 2101, 2104; Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 92. Praxistipp: Die betriebliche Praxis sollte aber auf eine einfach zu handhabende und zu verstehende Fälligkeitsregelung im Arbeitsvertrag achten. Denn nach §§ 305c, 307 BGB gehen Unklarheiten zu Lasten des Arbeitgebers, bei verspäteter Zahlung gerät der Arbeitgeber in Verzug (§ 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB) und – dies dürfte entscheidend sein – macht sich bei Überschreiten des letzten Fälligkeitstermins (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MiLoG) nach § 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG bußgeldpflichtig bzw. wird von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen. Im Rahmen von Sanierungsvereinbarungen können für die den Mindestlohn übersteigenden Vergütungsbestandteile indes abweichende – spätere – Fälligkeitsregelungen vorgesehen werden.

cc) Ausnahme: Arbeitszeitkonto 63 Ausnahmen von den vorstehend unter Rn. 58 ff. dargelegten Grundsätzen zur Fälligkeit sieht § 2 Abs. 2 MiLoG lediglich für den Fall eines Arbeitszeitkontos vor. Vgl. dazu näher unter Rn. 116 ff.

b) Erfüllung des Mindestlohns – mindestlohnrelevante Vergütungsbestandteile aa) Zulässigkeit einer Durchschnittsbetrachtung 64 Nach § 1 Abs. 2 MiLoG ist der Mindestlohn „je Zeitstunde“ zu zahlen. Losgelöst davon, welche Bedeutung dies in Bezug auf den Inhalt der zu vergütenden Arbeitsleistung hat, vgl. dazu, insbesondere zur fehlenden Vergütungspflicht für Zeiten der Rufbereitschaft ohne Arbeitsabruf, unten Rn. 105 ff.,

ist in der Literatur umstritten, welche Bedeutung die Festlegung „je Zeitstunde“ für den Anspruchsinhalt nach § 1 Abs. 2 MiLoG hat. Während manche meinen, es müsse im dem Sinne tatsächlich für jede gearbeitete Stunde EUR 8,50 (brutto) gezahlt werden, dass eine Betrachtung jeder einzelnen Stunde stattzufinden habe, so z. B. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 89; in diesem Sinne auch Lakies, MiLoG § 1 Rn. 20 (der aber davon ausgeht, dass das MiLoG nur für den Niedriglohnsektor gilt),

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

geht die – angesichts des Gesetzeszwecks, die Zahlung unangemessen niedriger Löhne zu verhindern BT-Drucks. 18/1558, S. 27 ff.

und bei Vollzeitbeschäftigung ein Monatseinkommen „oberhalb der Pfändungsfreigrenze“ zu sichern – BT-Drucks. 18/1558, S. 33

zutreffende Gegenansicht zu Recht davon aus, es bestehe kein Grund, von einer Durchschnittsbetrachtung abzusehen. ErfK/Franzen, MiLoG § 1 Rn. 5; Sittard, NZA 2014, 951; Bayreuther, NZA 2014, 865; Schweibert/Leßmann, DB 2014, 1866, 1868.

Beispiel: Relevant wird dies insbesondere bei Überstunden. Denn folgt man der erstgenannten Ansicht, haben selbst Besserverdiener einen Anspruch auf die Vergütung von Überstunden in Höhe von mindestens EUR 8,50 (brutto) – vgl. hierzu auch die Beispiele bei Bayreuther, NZA 2014, 865, 867. Praxistipp: Pauschale Überstundenabgeltungsklauseln sind losgelöst davon wegen eines Verstoßes gegen § 307 BGB unwirksam (BAG, v. 1.9.2010 – 5 AZR 517/09, DB 2011, 61). Bei der Vertragsgestaltung muss aber – folgt man der erstgenannten Ansicht – wegen § 3 MiLoG ein etwaiger gesetzlicher Mindestlohn von einer Abgeltungsklausel ausgenommen werden.

Angesichts der bei einem Verstoß gegen die Vorgaben des MiLoG drohen- 65 den Sanktionen, ist allerdings auch bei der zutreffenden Zugrundelegung einer Durchschnittsbetrachtung notwendig, dass stets rechnerisch der Mindestlohn gezahlt wird. Geprüft werden muss im Rahmen der der monatlichen Lohnabrechnung damit im Hintergrund stets anhand einer Vergleichsrechnung, dass die monatliche Vergütung – soweit ihre Bestandteile mindestlohnrelevant sind – vgl. dazu nachfolgend unter Rn. 67 ff.

dividiert durch die Anzahl der im relevanten Monat tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden einen Betrag von (brutto) EUR 8,50 (je Zeitstunde) ergibt. Praxistipp: Die Notwendigkeit einer solchen doppelten Lohnabrechnung bedeutet für die Lohnbuchhaltungen einen enormen zusätzlichen Aufwand, der angesichts der drohenden Sanktionen aber geleistet werden sollte.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

bb) Welche Vergütungsbestandteile sind für den Mindestlohn relevant? 66 Welche Vergütungsbestandteile für den Mindestlohn in dem Sinne relevant sind, dass sie den Anspruch nach § 1 MiLoG erfüllen, hat der Gesetzgeber leider nicht klargestellt. (1) Ausgangsdiskussion 67 In der Literatur wird insoweit zunächst an den Ergebnissen der Rechtsprechung des EuGH und des BAG zu den Auswirkungen der Richtlinie zur Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen vom 16.12.1996 (Entsende-RL) angeknüpft. Vgl. z. B. Lakies, MiLoG § 1 Rn. 42 ff.

68 Diese Rechtsprechung soll maßgeblich sein, weil die Bundesregierung im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens auf eine entsprechende Anfrage des Bundesrats hin erklärt hat, dass die Frage der Auslegung des Begriffs des Mindestentgeltsatzes und damit die Frage der Berechnung von Mindestlöhnen bereits durch die Rechtsprechung des EuGH und des BAG mit Blick auf den Mindestentgeltsatz des AentG geklärt sei. Da dessen europarechtlicher Hintergrund die Entsende-RL sei, seien die vom EuGH zur Entsende-RL aufgestellten Vorgaben zur Einbeziehung von Vergütungsbestandteilen auf den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn zu übertragen. BT-Drucks. 18/1558, S. 67 f.

69 Nach Ansicht des BAG ist für die Anrechenbarkeit von Arbeitgeberleistungen im Rahmen des AentG das Kriterium der „funktionalen Gleichwertigkeit“ der jeweiligen Leistung maßgeblich. Eine Anrechnung soll erfolgen, wenn die Leistung nach ihrer Zweckbestimmung als Gegenleistung für eine bestimmte Leistung des Arbeitnehmers dienen soll. Nach Auffassung des EuGH werden nur solche Leistungen, die das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung nicht verändern, bei der Anrechnung auf den nach der Entsende-RL maßgeblichen tarifvertraglichen Mindestlohn berücksichtigt. BAG, v. 18.4.2012 – 4 AZR 168/10, NZA 2013, 386; EuGH, v. 7.11.2013 – C-522/12, NZA 2013, 1359 – Isbir.

(2) Auslegung des MiLoG 70 Für eine Anwendung dieser Rechtsprechung im Rahmen des MiLoG spricht – über die Rechtsansicht der Bundesregierung hinaus – aber nur sehr wenig. Sie dürfte nur als schwaches Auslegungskriterium zu berücksichtigen sein. In diesem Sinne auch Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 139 („nicht primär den Gesetzesmaterialien zuzurechnen“); a. A. Lakies, MiLoG § 1 Rn. 42 ff.

Letztlich kann hierfür im Rahmen von § 1 MiLoG als systematisches Argument nämlich nur herangezogen werden, dass das Gesetz nach § 20 MiLoG

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

auch für Arbeitnehmer gilt, die grenzüberschreitend eingesetzt werden. Das entspricht dem Geltungsbereich der Entsende-RL. (a) Zirkelschluss der Bundesregierung Es wurde jedoch bereits früh zutreffend darauf hingewiesen, dass die EuGH- 71 Rechtsprechung selbst nicht geeignet ist, festzustellen, welche Vergütungsbestandteile mindestlohnwirksam sind. Schweibert/Leßmann, DB 2014, 1866, 1869.

Denn auch Art. 3 Entsende-RL garantiert Arbeits- und Beschäftigungsbe- 72 dingungen nur dann und insoweit, als sie in einem Mitgliedsstaat durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und/oder durch für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge festgelegt wurden. Die Entsende-RL bestimmt also nicht, was verbindlich ist. Sie regelt die Rahmenbedingungen zur Durchsetzung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die nach den nationalen Bestimmungen eines Mitgliedsstaats auch bei grenzüberschreitender Tätigkeit verbindlich sein sollen. Dazu können neben der Arbeitszeit nach Maßgabe des Katalogs von Art. 3 Abs. 1 Entsende-RL auch die Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze gehören. Was von dem Begriff der Mindestlohnsätze erfasst wird, muss aber – wie Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Entsende-RL regelt – durch die Rechtsvorschriften und/oder Praktiken desjenigen Mitgliedstaats – hier also der BRD – festgelegt werden, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird. Praxistipp: Dass hierzu auch Zulagen und Zuschläge gehören können, bestätigt die Entsende-RL in Bezug auf Entsendezulagen in Art. 3 Abs. 7 Entsende-RL, „soweit sie nicht als Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandene Kosten wie z. B. Reise-, Unterbringungs- und Verpflegungskosten gezahlt werden“.

Die Bundesregierung unterliegt in ihrer Auslegung daher einem Zirkel- 73 schluss: Sie setzt voraus, was erst noch bewiesen werden muss, nämlich die Übertragbarkeit der von der Rechtsprechung zu anderen Mindestvergütungsbestimmungen entwickelten Grundsätze. Richtigerweise wird man dementsprechend das MiLoG auslegen müssen, um 74 diese Frage beantworten zu können. (b) Ausgrenzung von Sachleistungen Ausgangspunkt ist dabei stets der Wortlaut der Norm. Da § 1 Abs. 2 Satz 1 75 MiLoG einen Mindestlohn von EUR 8,50 (brutto) festlegt und keinen Lohn „im Wert von“ EUR 8,50 (brutto), dürften bereits dem klaren Wortlaut nach Sachleistungen als mindestlohnrelevant ausscheiden. Dies gilt unabhängig von § 107 Abs. 2 GewO.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa Gaul, Aktuelles Arbeitsrecht 2/2014, S. 273 f.; a. A. ErfK/Franzen, MiLoG § 1 Rn. 6, der allerdings auch annimmt, dass insoweit nur sehr wenig Spielraum bleibt. Praxistipp: Denkbar wäre allenfalls eine teleologische Reduktion im Lichte des Gesetzeszwecks. Begründet werden könnte sie allenfalls mit den in BT-Drucks. 18/2010, S. 18 Nr. 7, enthaltenen Plänen (in diesem Sinne wohl ErfK/Franzen, MiLoG § 1 Rn. 6).

Beispiel: Irrelevant wären – ohne teleologische Korrektur – z. B. die Privatnutzung eines Dienstwagens, ein Personalrabatt oder ein arbeitgeberfinanziertes ÖPNV-Ticket. (c) Ausgrenzung von Leistungen mit nach § 2 Abs. 1 MiLoG „unzulässiger“ Fälligkeitsregelung 76 Aus den Fälligkeitsvorgaben des § 2 Abs. 1 MiLoG folgt zudem systematisch, dass im Rahmen des § 1 MiLoG Vergütungsbestandteile nicht berücksichtigt werden können, die – nach den Vorgaben des § 2 Abs. 1 MiLoG – „zu spät“ fällig werden. Beispiel: Dies gilt z. B. für kalenderjährliche Zuwendungen (vgl. Bayreuther, NZA 2014, 865, 868). Praxistipp: Wenn solche Zahlungen berücksichtigt werden sollen, muss die Abrechnung so umgestellt werden, dass sie monatlich zu je 1/12 erfolgen. Geschieht dies nicht, kommt eine Mindestlohnrelevanz – allerdings zusätzlich abhängig vom Zweck der Zahlung (vgl. dazu sogleich unter Rn. 79 ff.) – gemäß § 2 Abs. 1 MiLoG nur im Monat der Fälligkeit und dem vorangehenden Monat in Betracht (vgl. Lakies, MiLoG § 1 Rn. 50; Sittard/Sassen, ArbRB 2014, 142, 144; wohl auch Ulber, RdA 2014, 176, 180).

(d) Gesetzlicher Bezugspunkt: Gegenleistung für Arbeitsleistung 77 § 1 MiLoG verpflichtet zur Zahlung von „Mindestlohn“ „je Zeitstunde“ i. S. v. Arbeitsstunde (als Recheneinheit). Vgl. oben unter Rn. 64.

78 Bezugspunkt des Mindestlohns ist danach eine Vergütung für die Arbeit im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses. Dafür spricht im Rahmen einer systematischen Auslegung auch § 24 MiLoG, der ein „Entgelt“ regelt.

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

(e) Gesetzeszweck (historische und teleologische Auslegung) Für dieses Verständnis spricht – neben den Gesetzesmaterialien – auch der 79 Zweck des Gesetzes. Ausweislich der Gesetzesbegründung verfolgt das MiLoG nämlich folgende Zwecke: Vgl. BT-Drucks. 18/1558, S. 27 f.

x

Zunächst soll der Mindestlohn Arbeitnehmer vor Niedrigstlöhnen schützen, die generell als unangemessen anzusehen sind.

x

Darüber hinaus soll eine existenzsichernde Vergütung gewährleistet werden.

x

Gleichzeitig soll ein Lohnunterbietungswettbewerb zwischen den Unternehmen zu Lasten der Arbeitnehmer durch Vereinbarung immer niedrigerer Löhne verhindert werden.

x

Ferner sollen durch die Einführung des Mindestlohns negative Kostenwirkungen für die steuerfinanzierte Grundsicherung, Einnahmeausfälle für die Sozialversicherung und negative Folgen für die Alterssicherung der Arbeitnehmer vermieden werden.

Keine dieser Zwecksetzungen gebietet eine Ausgrenzung von Vergütungsbe- 80 standteilen, die eine – wie auch immer geartete (z. B. besonders schwierige, aufwändige, schmutzige, etc.) Arbeitsleistung – synallagmatisch vergüten. Gaul, Aktuelles Arbeitsrecht 2/2014, S. 278 ff.

Die gegenteilige Bewertung der Bundesregierung,

81

BT-Drucks. 18/1558, S. 67 f.,

die in der Literatur verbreitet Gefolgschaft findet, ebenfalls auf eine „Normalleistung“ abstellend Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 140; vgl. ferner Lakies, MiLoG § 1 Rn. 42 ff.,

ist anhand der anerkannten Grundsätze der Gesetzesauslegung daher nicht begründbar. (f) Zwischenfazit und Kontrollüberlegung Eine Berücksichtigung von Vergütungsbestandteilen im Rahmen der Erfül- 82 lung des gesetzlichen Mindestlohnanspruchs hängt – im Rahmen der vorstehend skizzierten, durch Wortlaut und Systematik definierten Grenzen – nach alledem zunächst davon ab, ob sie als Gegenleistung für die Arbeitsleistung erfolgen. Ebenso Lakies, MiLoG § 1 Rn. 40; Sittard, EuZW 2014, 104.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

83 Darüber hinaus ist maßgeblich, dass keine der vorgenannten Zwecksetzungen ihre Berücksichtigung verbietet. 84 Dafür spricht auch folgende Kontrollüberlegung: Wenn der Gesetzgeber arbeitsleistungsbezogene Vergütungen, die innerhalb seiner Fälligkeitsvorgaben monetär gewährt werden sollen, hätte ausschließen wollen, hätte er dies im Zweifel zum Ausdruck gebracht. Gaul, Aktuelles Arbeitsrecht 2/2014, S. 279 f.

Denn dass arbeitgeberseitige Leistungen auch zu anderen Zwecken erfolgen können als zur Vergütung von Arbeitsleistung, ist dem Gesetzgeber ebenso bekannt wie die in der Rechtsprechung des BAG zu tariflichen Mindestlohnvorgaben entwickelte Systematik. 85 Bei der Anrechnung von Leistungen auf tariflich begründete Forderungen ist nach der Rechtsprechung des BAG nämlich darauf abzustellen, ob die vom Arbeitgeber erbrachte Leistung ihrem Zweck nach diejenige Arbeitsleistung des Arbeitnehmers entgelten soll, die mit der tariflich begründeten Zahlung zu vergüten ist. Daher ist dem erkennbaren Zweck des tariflichen Mindestlohns, den der Arbeitnehmer als unmittelbare Leistung für die verrichtete Tätigkeit begehrt, der zu ermittelnde Zweck der jeweiligen Leistung des Arbeitgebers, die dieser aufgrund anderer (individual- oder kollektivrechtlicher) Regelungen erbracht hat, gegenüberzustellen. Besteht danach – ähnlich wie bei einem Günstigkeitsvergleich mit Sachgruppenbildung nach § 4 Abs. 3 TVG – eine funktionale Gleichwertigkeit der zu vergleichenden Leistungen, vgl. dazu etwa BAG, v. 30.3.2004 – 1 AZR 85/03, AP Nr. 170 zu § 112 BetrVG 1972; BAG, v. 27.1.2004 – 1 AZR 148/03, BAGE 109, 244 = ZIP 2004, 1165, dazu EWiR 2004, 689 (Ehrich): „funktional äquivalent“,

ist die erbrachte Leistung auf den zu erfüllenden Anspruch anzurechnen. Ausf. BAG, v. 18.4.2012 – 4 AZR 139/10, BAGE 141, 163.

86 Zur Beurteilung der „funktionalen Gleichwertigkeit“ ist es – wie das BAG in seinem Urteil vom 16.4.2014 – 4 AZR 802/11, NZA 2014, 1277,

noch einmal klargestellt hat – erforderlich, die „Funktion“ zu bestimmen, welche die reale Leistung des Arbeitgebers hat, um dann festzustellen, ob sie sich auf diejenige vom Arbeitnehmer geleistete oder zu leistende Arbeit bezieht, die nach dem durch eine Rechtsverordnung verbindlichen Tarifvertrag mit dem Mindestlohn abgegolten sein soll. 87 Für diese Bestimmung der Funktion ist jedenfalls dann der subjektive Wille des Arbeitgebers nicht entscheidend, wenn die Leistung nach einer an anderer Stelle als in dem durch Rechtsverordnung verbindlichen Tarifvertrag getroffenen Regelung erfolgt und sich ihre Funktion aus dieser Regelung ergibt. Soweit die vom Arbeitgeber danach angewandte Regelung etwa die Ar20

I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

beitsleistung als besonders schwierig oder als unter erschwerten Bedingungen geleistet ansieht und hierfür einen in den Entgeltabrechnungen gesondert ausgewiesenen „Zuschlag“ an den Arbeitnehmer zahlt, ist dieser – so das BAG – „gleichwohl auf den Mindestentgeltanspruch anzurechnen, wenn der betreffende Mindestlohntarifvertrag diese Tätigkeit gerade nicht als zuschlagspflichtig ansieht, sondern sie als im Rahmen der mit dem Grundentgelt abzugeltenden „Normaltätigkeit“ bewertet“. BAG, v. 16.4.2014 – 4 AZR 802/11, NZA 2014, 1277.

Überträgt man diese Überlegung auf das MiLoG – wofür angesichts des Zirkel- 88 schlusses der Bundesregierung die besseren Gründe sprechen –, so auch Lakies, MiLoG § 1 Rn. 46; Gaul, Aktuelles Arbeitsrecht 2/2014, S. 279 f.,

ergibt sich für die Berücksichtigungsfähigkeit von Vergütungsbestandteilen Folgendes: (3) Mindestlohnrelevante Vergütungsbestandteile Im Rahmen der Vorgaben des MiLoG zur Fälligkeit können im Rahmen der 89 Erfüllung des Mindestlohnanspruchs alle arbeitsleistungsbezogenen Zuwendungen berücksichtigt werden. Ob sie auf individual- oder kollektivrechtlicher Grundlage gezahlt werden, spielt keine Rolle. Denn § 1 MiLoG verfolgt nur den Zweck, eine Mindestvergütung für jede Form von Arbeit zu sichern. Insbesondere verlangt keine der vom historischen Gesetzgeber vorgetragenen Zwecke, vgl. oben unter Rn. 32 ff.,

dass Zahlungen, die eine besondere Qualität oder Belastung bei der Arbeit honorieren, ausgegrenzt werden. Vgl. auch Bayreuther, NZA 2014, 866, 869; Gaul, Aktuelles Arbeitsrecht 2/2014, S. 278 ff.; a. A. Bros, NZA 2014, 938, 940.

Gleiches gilt für erfolgs- oder leistungsabhängige Zahlungen, die im Rahmen 90 der Fälligkeitsvorgaben des MiLoG versprochen und gezahlt werden. In diesem Sinne auch ErfK/Franzen, MiLoG § 1 Rn. 15.

Voraussetzung ist allerdings, dass die Zahlung vorbehaltlos und unwiderruf- 91 lich erfolgt. Zu dieser Eingrenzung vgl. auch Ulber, RdA 2014, 176, 180; Bayreuther, NZA 2014, 865, 868; Schweibert/Leßmann, DB 2014, 1866, 1869; Lakies, MiLoG § 1 Rn. 50.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

92 Zu berücksichtigen sind, soweit die Fälligkeitsvorgaben gewahrt werden, z. B.: x

Antrittsgebühren;

x

Auslösungen in Form von Nahauslösungen;

x

Erschwerniszulagen;

x

Feiertagszuschläge;

x

Gefahren- und Leistungszulagen;

x

Inkassoprämien;

x

Mankogelder;

x

Mehrarbeits- und Überstundenvergütung;

x

Nachtarbeitszuschläge;

x

Prämien (z. B. im Berufssport);

x

verstetigte Schmutzzulagen, die in Folge ihrer Verstetigung nicht aus Aufwandsentschädigung zu qualifizieren sind;

x

Sozialzulagen. Vgl. zur Qualifikation als synallagmatisches Arbeitsentgelt Mückl, in: Fuhlrott/Mückl, Kapitel 3 Rn. 107 ff. m. w. N. Praxistipp: Voraussetzung ist, dass die Leistung durch den Arbeitgeber erfolgt. Trinkgelder scheiden deshalb z. B. als mindestlohnrelevant aus, wenn auf sie kein arbeitsvertraglicher Anspruch besteht (vgl. zur Berücksichtigung im Rahmen des EFZG Mückl, in: Fuhlrott/Mückl, Kapitel 3 Rn. 125; zu pauschal Berndt, DStR 2014, 1878, 1881, der aus § 107 Abs. 3 Satz 1 GewO schlussfolgert, dass Trinkgeld kein Teil der regelmäßigen Vergütung ist und folglich auch für den Mindestlohnanspruch unberücksichtigt bleiben muss; ebenfalls zu pauschal mit demselben Ergebnis Lakies, MiLoG § 1 Rn. 41; Däubler, NJW 2014, 1924, 1926). Maßgeblich ist letztlich, ob ein arbeitsvertraglicher Anspruch auf Teilhabe am Trinkgeld dritter Arbeitnehmer besteht oder nicht (ebenso ErfK/Franzen, MiLoG § 1 Rn. 7).

(a) Abgrenzungspunkt 1: Abweichende gesetzliche Zwecksetzung 93 Soweit gesetzlich zwingend eine eigenständige Zahlungspflicht mit abweichender Zweckbestimmung besteht, scheidet eine Mindestlohnrelevanz allerdings aus. Beispiel: Soweit z. B. § 6 Abs. 5 ArbZG den Arbeitgeber verpflichtet, dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren, falls keine tarifvertraglichen Rege22

I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

lungen bestehen, setzt der Gesetzgeber damit einen eigenständigen Rechtsgrund und einen eigenständigen Regelungszweck, der eine Berücksichtigung im Rahmen von § 1 MiLoG ausscheiden lässt (ebenso Ulber, RdA 2014, 176, 181; Lakies, MiLoG § 1 Rn. 47). (b) Abgrenzungspunkt 2: Abweichende Zwecksetzung kraft arbeitgeberseitiger Vorgabe oder Vereinbarung Ebenfalls nicht berücksichtigt werden können Vergütungsbestandteile, welche 94 ausschließlich eine abweichende Zwecksetzung als die Vergütung der Arbeitsleistung verfolgen, vgl. zu der Bedeutung des Zwecks einer Sonderleistung im Rahmen der AGB-Kontrolle und der Insolvenzanfechtung Mückl, 1. Aufl., Rn. 71 ff., 86 ff.,

indem sie x

die Betriebszugehörigkeit honorieren (z. B. denkbar für Retention Boni, Weihnachtsgeld) Lakies, ArbRAktuell 2014, 343, 343; Spielberger/Schilling, NJW 2014, 2897, 2899

x

oder den Urlaub erleichtern sollen (Urlaubsgeld). Ulber, RdA 2014, 176, 181.

Gleiches gilt infolge abweichender Zwecksetzung und/oder Sachvergütungs- 95 charakter für x

vermögenswirksamen Leistungen;

x

Personalrabatte;

x

eine Werkmiet- oder Werkdienstwohnung.

Soweit Vergütungsbestandteile mit gemischter Zweckbestimmung vorliegen, 96 wird man sie – unter den übrigen vorstehend definierten Voraussetzungen – dann berücksichtigen müssen, wenn sie jedenfalls auch die Arbeitsleistung honorieren. Ebenso Lakies, MiLoG § 1 Rn. 50; Sittard/Sassen, ArbRB 2014, 142, 144.

Beispiel: Typische Beispiele sind Sonderzahlungen, die neben der Betriebstreue auch die Arbeitsleistung honorieren – was die Rechtsprechung aus einer leistungsabhängigen Ausgestaltung schlussfolgert (vgl. Mückl, 1. Aufl., Rn. 72).

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa Praxistipp: Mit Blick auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung wird man zwischen arbeitgeber- und arbeitnehmerfinanzierter bAV differenzieren müssen. Mindestlohnrelevant dürfte ausgehend von dem Zweck der Versorgungsleistung (dazu Schlewing, NZA-Beilage 2014, 127, 130 ff.) allein die arbeitnehmerfinanzierte, also die bAV auf der Grundlage einer Entgeltumwandlung sein. Das deckt sich mit der Bewertung der Gesetzesbegründung. Diese stellt klar, dass Vereinbarungen nach § 1a BetrAVG keine Vereinbarungen sind, die zu einer Unterschreitung oder Beschränkung des Mindestlohnanspruchs führen (BT-Drucks. 18/1558, S. 35). Daher ließe sich argumentieren, dass dann auch eine Anrechnung auf den Mindestlohn möglich sein muss (vgl. ErfK/ Franzen, MiLoG § 1 Rn. 17).

(4) Gegenansicht: Maßgeblichkeit einer „Normalleistung“ 97 Folgt man – abweichend von der hier vertretenen Auffassung – der Bewertung der Bundesregierung, gilt beispielhaft Folgendes: x

Überstundenzuschläge

98 Überstundenzuschläge sollen nach Ansicht der Bundesregierung nicht auf den gesetzlichen Mindestlohn angerechnet werden, da sie als Ausgleich für zusätzliche Leistungen des Arbeitnehmers bezahlt werden. Praxistipp: Eine Anrechnung von Überstundenzuschlägen kann jedoch in Betracht kommen, wenn der Arbeitgeber zur Zahlung solcher Zuschläge aufgrund eines Tarifvertrags nach § 3 AEntG oder in der Pflegebranche aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 11 AEntG verpflichtet ist. Der Zoll hält im Hinblick auf tarifvertragliche Mindestlöhne nach dem AEntG solche Zuschläge für berücksichtigungsfähig (Informationen des Zoll abrufbar unter http://www.zoll.de/DE/ Fachthemen/Arbeit/Mindestarbeitsbedingungen/ Mindestlohn_Lohnuntergrenze/mindestlohn_lohnuntergrenze_node.html).

x

Zuschläge für besondere Arbeitszeit

99 Nicht anrechenbar sind nach der Bewertung der Bundesregierung grundsätzlich solche Zuschläge, die der Arbeitnehmer erhält, weil er zu besonderen Zeiten arbeitet. BT-Drucks. 18/1558, S. 67.

Beispiel: Beispielhaft führt die Bundesregierung in den Gesetzgebungsunterlagen auf: Zuschläge für Sonn- und Feiertagsarbeit, Nachtzuschläge sowie (Wechsel-)Schichtzulagen. 100 Selbst ausgehend von der Bewertung der Bundesregierung erscheint eine Berücksichtigung derartiger Zuschläge aber dann vertretbar, wenn der Zweck der Leistung gerade darin besteht, die Arbeitsleistung zu besonderen Arbeitszeiten zu erbringen. 24

I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015 ErfK/Franzen, MiLoG § 1 Rn. 14.

Beispiel: Dies gilt z. B. in Bezug auf Nachtarbeitszuschläge bei typischerweise nachts tätigem Personal (etwa Krankenpersonal, Busfahrern oder Sicherheitsleuten) Allein der Umstand, dass in einer Branche auch Nachtarbeit geleistet wird, soll hingegen für eine Anrechenbarkeit nicht genügen (vgl. BAG, v. 16.4.2014 – 4 AZR 802/11, NZA 2014, 1277). x

Zuschläge für besondere Erschwernis

Weiterhin scheidet nach der Bewertung der Bundesregierung eine Anrechen- 101 barkeit grundsätzlich hinsichtlich solcher Zuschläge aus, die der Arbeitnehmer für eine Arbeitsleistung unter besonders unangenehmen, beschwerlichen, körperlich oder psychisch besonders belastenden oder gefährlichen Umständen erhält. BT-Drucks. 18/1558, S. 67.

Beispiel: Dies gilt beispielsweise für Schmutz- oder Gefahrenzulagen. In Übertragung der zur Arbeitszeit entwickelten Überlegung wird man aller- 102 dings auch hier selbst dann, wenn man den Ausgangspunkt der Bundesregierung teilt, eine Berücksichtigung der Zuschläge ausnahmsweise dann zulassen müssen, wenn der Zweck der Arbeitsleistung gerade in der Erbringung der Arbeitsleistung unter solchen besonderen Umständen besteht. Beispiel: Dies könnte z. B. für Chemielaboranten oder Bauarbeiter gelten. x

Akkord-/Qualitätsprämien

Zuschläge dafür, dass der Arbeitnehmer mehr Arbeit pro Zeiteinheit leistet 103 (z. B. Akkordprämie) oder eine besondere Qualität der Arbeit erbringt (z. B. Qualitätsprämie), sollen nach Ansicht der Bundesregierung nicht auf den gesetzlichen Mindestlohn angerechnet werden können. BT-Drucks. 18/1558, S. 67.

x

Sonderzahlungen

Sonderzahlungen (Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld, 13. Monatsgehalt) sollen nach 104 Ansicht der Bundesregierung regelmäßig unberücksichtigt bleiben, es sei denn, der Arbeitnehmer erhält den anteiligen Betrag zum Fälligkeitszeitpunkt tatsächlich und unwiderruflich ausbezahlt. BT-Drucks. 18/1558, S. 67.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

c) Vergütungspflichtige Arbeitszeit 105 Der Mindestlohn ist gemäß § 1 Abs. 2 MiLoG „je Zeitstunde“ zu zahlen. In Übertragung der vom BAG in seinem Urteil vom 19.11.2014 – 5 AZR 1101/12, n. v. (Pressemitteilung)

zum Mindestentgelt nach § 2 der Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Pflegebranche (PflegeArbbV) vom 15.7.2010, das ebenfalls „je Stunde“ zu zahlen ist, wird man dabei ebenfalls an die vergütungspflichtige Arbeitszeit anknüpfen müssen. Praxistipp: Das ist nicht notwendig die Arbeitszeit im arbeitszeitrechtlichen Sinn, sodass hier noch einmal deutlich wird, wie wichtig die Unterscheidung beider Arbeitszeitbegriffe in der betrieblichen Praxis ist.

106 Zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit gehörten – so das BAG – nicht nur die Vollarbeit, sondern auch die Arbeitsbereitschaft und der Bereitschaftsdienst. Während beider müsse sich der Arbeitnehmer an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort bereithalten, um im Bedarfsfalle unverzüglich die Arbeit aufzunehmen. Zwar könne dafür ein geringeres Entgelt als für Vollarbeit bestimmt werden. Von dieser Möglichkeit habe der Verordnungsgeber im Bereich der Pflege aber keinen Gebrauch gemacht. Deshalb seien arbeitsvertragliche Vereinbarungen, die für Bereitschaftsdienst in der Pflege ein geringeres als das Mindestentgelt nach § 2 PflegeArbbV vorsehen, unwirksam. 107 Dies wird man auf das MiLoG mit der Folge übertragen müssen, dass Vereinbarungen, die für Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst ein geringeres Entgelt vorsehen, ebenfalls unwirksam sind, weil der Gesetzgeber hierfür im MiLoG kein geringeres Entgelt vorgesehen hat. Lakies, MiLoG § 1 Rn. 28 ff. Praxistipp: Rufbereitschaft ist dann – vorbehaltlich abweichender arbeitsvertraglicher oder tariflicher Vorgaben (vgl. zum TV-V z. B. Mückl, Das Arbeitsrecht der Energiewirtschaft, Rn. 337 ff.) – nicht an sich, sondern lediglich insoweit als „Zeitstunde“ i. S. d. MiLoG zu vergüten, wenn tatsächlich gearbeitet, d. h. die Rufbereitschaft in Anspruch genommen wird (Arbeitsabruf); ebenso Lakies, MiLoG § 1 Rn. 31 f.

d) Bewertung von Teilzahlungen 108 Relevant wird der Umstand, dass der Mindestlohn Bestandteil auch vereinbarter höherer Vergütungen ist, u. a. bei Teilzahlungen des Arbeitgebers. Hier kann sich die Frage stellen, welchen Entgeltanspruch er erfüllt. Vgl. zum Folgenden auch Sagan/Witschen, jM 2014, 372, 376 f.; ihnen für den Fall, dass – wie hier – eine Anspruchskumulation angenommen wird (vgl. Rn. 21), wohl auch folgend Lakies, MiLoG § 1 Rn. 132 f.

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

Beispiel: Besitzt ein Arbeitnehmer für seine Tätigkeit im Januar 2015 einen Mindestlohnanspruch in Höhe von EUR 1.000 (brutto) und ist arbeitsvertraglich ein Gehalt in Höhe von EUR 2.000 (brutto) monatlich und eine Ausschlussfrist von 3 Monaten vereinbart, stellt sich, wenn der Arbeitgeber Ende Januar 2015 lediglich EUR 1.000 (brutto) zahlt, die Frage, ob der Arbeitnehmer im Mai 2015 die Zahlung weiterer EUR 1.000 (brutto) verlangen kann. Das richtet sich danach, ob die Teilzahlung auf den vertraglichen oder den gesetzlichen Anspruch erfolgt ist. Ausgangspunkt muss insoweit § 366 Abs. 1 BGB sein, nach dem der Arbeit- 109 geber frei bestimmen kann, welchen Anspruch er tilgen möchte. Praxistipp: Möglich und empfehlenswert wäre daher die Aufnahme einer Klausel in den Arbeitsvertrag, nach der Zahlungen zunächst immer auf den Mindestlohnanspruch erfolgen. AGB-rechtlich bestehen insoweit keine Bedenken (Sagan/ Witschen, jM 2014, 372, 375).

Fehlt es – wie jedenfalls in Altverträgen – an einer entsprechenden Regelung 110 im Arbeitsvertrag, richtet sich die Tilgungsreihenfolge grundsätzlich nach § 366 Abs. 2 BGB. Danach kommt es zuerst auf die Fälligkeit der beiden Lohnansprüche an. Unterscheiden sie sich – wie zumeist (schon wegen § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 MiLoG) – hinsichtlich der Fälligkeit nicht, spricht das in § 366 Abs. 2 BGB genannte Kriterium der Lästigkeit für eine Zahlung auf den Mindestlohn. Sagan/Witschen, jM 2014, 372, 375.

Dies gilt richtigerweise schon deshalb, weil er nicht durch eine Ausschluss- 111 frist eingeschränkt werden kann. Hinzu kommen allerdings die bei Nichtzahlung des Mindestlohns drohenden Sanktionen, insbesondere die Qualifikation einer Nichtzahlung des Mindestlohns als Ordnungswidrigkeit. Vgl. dazu unter Rn. 185 ff.

Dies gilt auch dann, wenn der Mindestlohn im konkreten Fall zugunsten des 112 Arbeitnehmers bei Einbindung eines Generalunternehmers nach § 13 MiLoG i. V. m. § 14 AEntG gesichert ist. Vgl. dazu unter Rn. 153 ff.

Dann liegt bei der Annahme der vorgenannten Tilgungsbestimmung eine ge- 113 ringere Sicherheit für den Arbeitnehmer vor und dieser Gesichtspunkt hat nach dem Katalog des § 366 Abs. 2 BGB zwar grundsätzlich Vorrang vor der Lästigkeit. Die gesetzliche Tilgungsreihenfolge gilt aber anerkanntermaßen dann nicht, wenn sie dem hypothetischen Parteiwillen offensichtlich widerspricht.

27

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa BGH, v. 14.11.2000 – XI ZR 248/99, BGHZ 146, 37 = ZIP 2001, 189, dazu EWiR 2001, 301 (Tiedtke).

114 Dies ist hier erkennbar der Fall. Denn ein Wille des Arbeitgebers zur vorrangigen Erfüllung des Mindestlohnanspruchs folgt jedenfalls aus der Qualifikation der Nicht- oder Zuspätzahlung als Ordnungswidrigkeit, die mit dem Risiko einer Geldbuße nach § 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG und dem (vorübergehenden) Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge verbunden ist. Der Arbeitgeber wird diese Risiken stets abwenden wollen und das ist für den Arbeitnehmer auch erkennbar. Soweit keine ausdrückliche Bestimmung getroffen worden ist, zahlt der Arbeitgeber daher zuerst auf den Mindestlohn als gesetzlichen Sockelbetrag und nachrangig auf darüber hinausgehende Vergütungsbestandteile. Sagan/Witschen, jM 2014, 372, 376.

5. Arbeitszeitkonten und Wertguthaben 115 Abweichend von den Fälligkeitsvorgaben in § 2 Abs. 1 Satz 1 MiLoG sind nach § 2 Abs. 2 Satz 1 MiLoG bei Arbeitnehmern x

die über die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinausgehenden und

x

auf einem schriftlich vereinbarten Arbeitszeitkonto eingestellten Arbeitsstunden

x

spätestens innerhalb von zwölf Kalendermonaten nach ihrer monatlichen Erfassung

x

durch bezahlte Freizeitgewährung oder Zahlung des Mindestlohns auszugleichen.

116 Dies gilt nach § 2 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbs. MiLoG nur nicht, soweit der Anspruch auf den Mindestlohn für die geleisteten Arbeitsstunden nach § 1 Abs. 1 MiLoG bereits durch Zahlung des verstetigten Arbeitsentgelts erfüllt ist. 117 Im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses hat der Arbeitgeber nach § 2 Abs. 2 Satz 2 MiLoG nicht ausgeglichene Arbeitsstunden spätestens in dem auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses folgenden Kalendermonat auszugleichen. 118 Nach § 2 Abs. 2 Satz 3 MiLoG dürfen die auf das Arbeitszeitkonto eingestellten Arbeitsstunden monatlich jeweils 50 % der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit nicht übersteigen. Kritisch zu diesem Umfang Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 125; a. A. Spielberger/Schilling, NJW 2014, 2897, 2900; letztlich auch Gaul, Aktuelles Arbeitsrecht 2/2014, S. 282 f.; i. S. e. Höchstgrenze wohl Bayreuther, NZA 2014, 865, 870.

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

a) Geltungsbereich Nach dem Willen des historischen Gesetzgebers soll § 2 Abs. 2 MiLoG ledig- 119 lich für „mindestlohnrelevante Arbeitszeitkonten“ gelten, aber „keine allgemeinen Vorgaben für sämtliche Arbeitszeitkonten“ machen. BT-Drucks. 18/2010 (neu), S. 22.

Zum Ausdruck kommt dieser Wille im Gesetz zunächst darin, dass § 2 120 Abs. 3 MiLoG vorgibt, dass § 2 Abs. 2 MiLoG nicht für Arbeitszeitkonten in Form von Wertguthabenvereinbarungen im Sinne des SGB IV gilt. Praxistipp: Hiervon sollen Langzeitkontenvereinbarungen i. S. d. ATZG und des § 7b SGB IV erfasst sein (vgl. Lakies, MiLoG § 2 Rn. 17 ff.

b) Bestehende Konten oder nur Neukonten? Ausgehend von dem gerade skizzierten Willen des Gesetzgebers, der durch 121 § 2 Abs. 2 dem Missbrauch von Arbeitszeitkonten zur Umgehung des Mindestlohns vorbeugen will, BT-Drucks. 18/2010 (neu), S. 22,

sprechen die besseren Gründe dafür, dass § 2 Abs. 2 MiLoG auch auf am 1.1.2015 bereits bestehende Arbeitszeitkonten Anwendung findet, soweit sie mindestlohnrelevant sind. Praxistipp: Entsprechende Konten müssen dementsprechend an die neuen gesetzlichen Vorgaben angepasst werden. Vgl. dazu ausführlich Mückl/Pötters/Krause, Rn. 402 ff.

c) Anforderungen an ein mindestlohnrelevantes Arbeitszeitkonto § 2 Abs. 2 MiLoG dürfte daher dahin zu verstehen sein, dass ein Arbeitszeit- 122 konto, das die Fälligkeitsregelung des § 2 Abs. 1 MiLoG modifiziert, unabhängig davon, wann es eingeführt wurde, nur vorliegt, wenn die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 MiLoG erfüllt sind. aa) Schriftliche Vereinbarung Dem klaren Wortlaut nach muss es zunächst schriftlich vereinbart sein. Dies 123 bedeutet, dass die Schriftform des § 126 BGB erfüllt sein muss. Lakies, MiLoG § 2 Rn. 10.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa Praxistipp: Ausweislich der Gesetzesbegründung liegt eine schriftliche Vereinbarung aber auch dann vor, wenn das Arbeitszeitkonto in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung oder in einem Tarifvertrag geregelt ist. Dies gilt sowohl für normativ geltende als auch für in einem schriftlichen Arbeitsvertrag in Bezug genommene tarifliche Regelungen (BT-Drucks. 18/1558, S. 35).

124 Soweit Tarifverträge Arbeitszeitkonten vorsehen, müssen aber auch deren Regelungen die Anforderungen des § 2 Abs. 2 MiLoG erfüllen. Denn § 2 MiLoG ist – außerhalb der Ausnahmen in §§ 1 Abs. 3, 24 MiLoG – nicht tarifdispositiv. Vgl. Lakies, MiLoG § 2 Rn. 9, der in diesem Kontext allerdings § 24 MiLoG übersieht bzw. jedenfalls nicht nennt. Wie hier für Tarifdispositivität im Rahmen der §§ 1 Abs. 3, 24 MiLoG z. B. Sagan/Witschen, jM 2014, 372, 378; ErfK/Franzen, MiLoG § 1 Rn. 21.

125 Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung, Lakies, MiLoG § 2 Rn. 11,

bezieht sich das Schriftformerfordernis auch auf die – nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 2 MiLoG erforderliche – Vereinbarung der Arbeitszeit. Geschlussfolgert wird dies daraus, dass beides in einem Zusammenhang stehe. Dies überzeugt aber nicht, da die Festlegung einer bestimmten Arbeitszeit keine Voraussetzung für den Abschluss einer Vereinbarung über ein Arbeitszeitkonto ist. Angesichts der Vielgestaltigkeit der Arbeitszeitvereinbarungen ist vielmehr ausreichend, wenn die Parteien der Vereinbarung zum Arbeitszeitkonto einen Referenzwert benennen, wie die „vereinbarte“ Arbeitszeit oder die „betriebsübliche“ Arbeitszeit, und von diesem Referenzwert ausgehend – z. B. prozentual – Vorgaben zu buchbaren Zeiten und deren Ausgleich treffen. Praxistipp: Es bleibt also bei der zutreffenden Rechtsprechung des BAG, nach der, wenn im Arbeitsvertrag keine ausdrückliche Vereinbarung über die Dauer der Arbeitszeit getroffen wird, anzunehmen ist, dass die Parteien die betriebsübliche Arbeitszeit vereinbaren wollen (vgl. BAG, v. 9.12.1987 – 4 AZR 584/87, BAGE 57, 130; zur Lage der Arbeitszeit: BAG, v. 23.6.1992 – 1 AZR 57/92, NZA 1993, 89). Dies entspricht dem Vertragswillen verständiger und redlicher Vertragspartner. Ein Mitarbeiter, der einen Arbeitsvertrag über ein Vollzeitarbeitsverhältnis abschließt, muss bei Fehlen einer ausdrücklichen arbeitsvertraglichen Regelung zum Umfang der Arbeitszeit mangels anderweitiger Anhaltspunkte redlicherweise davon ausgehen, dass er in gleichem Umfang wie andere Vollzeitarbeitnehmer des Arbeitgebers zur Arbeitsleistung verpflichtet und für ihn daher der betriebsübliche Umfang der für Vollzeitmitarbeiter geltenden Arbeitszeit maßgeblich ist (BAG, v. 15.5.2013 – 10 AZR 325/12, DB 2013, 2215).

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

bb) Notwendigkeit eines verstetigten Entgelts? Teile der Literatur halten zudem ein – ebenfalls schriftlich zu vereinbarendes 126 – verstetigtes Entgelt für eine weitere Voraussetzung der Zulässigkeit einer Fälligkeitsverschiebung durch ein Arbeitszeitkonto nach § 2 Abs. 2 MiLoG. Lakies, MiLoG § 2 Rn. 12.

Gefolgert wird dies wiederum aus einem behaupteten notwendigen Zusammen- 127 hang, der sich aber weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus der Natur der Sache ergibt. Vielmehr wird mit dieser Annahme die Regelung in § 2 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbs. MiLoG auf den Kopf gestellt. Sie war schließlich nach den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers dazu gedacht, die Erfordernisse von § 2 Abs. 2 Satz 1 MiLoG zu suspendieren. § 2 Abs. 2 Satz 1 MiLoG will also gerade dann gelten, wenn kein verstetigtes Entgelt gezahlt wird. BT-Drucks. 18/2010 (neu), S. 24; Hilgenstock, Rn. 144.

Ein verstetigtes Entgelt ist daher in Übereinstimmung mit der herrschenden 128 Meinung nicht erforderlich, um den durch § 2 Abs. 2 Satz 1 MiLoG gewährten Gestaltungsspielraum für Abweichungen von § 2 Abs. 1 MiLoG nutzbar zu machen. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 121; Bayreuther, NZA 2014, 865, 870; Jöris/von Steinau-Steinrück, BB 2014, 2101, 2104; Henkel u. a., S. 60.

Es wird erst dann relevant, wenn über den durch § 2 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 129 MiLoG ohne verstetigtes Entgelt gewährleisteten Gestaltungsspielraum hinaus nach § 2 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbs. MiLoG weiterer Gestaltungsspielraum bestehen soll. d) Gestaltungsspielraum bei verstetigtem Entgelt § 2 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbs. MiLoG enthält nämlich die Ergänzung, dass 130 die Vorgaben zum Arbeitszeitkonto nach MiLoG keine Anwendung finden, soweit der Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn durch Zahlung eines verstetigten Arbeitsentgelts erfüllt ist. Erhält der Arbeitnehmer ein verstetigtes monatliches Entgelt, welches der 131 Höhe nach dem rechnerisch geschuldeten gesetzlichen Mindestlohn für sämtliche geleisteten Arbeitsstunden einschließlich der Überstunden entspricht oder diesen sogar überschreitet, zur Zulässigkeit einer rechnerischen Durchschnittsbetrachtung vgl. Rn. 64,

finden die in § 2 Abs. 2 Satz 1 MiLoG statuierten Einschränkungen für Arbeitszeitkonten keine Anwendung.

31

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa Praxistipp: Konsequenz daraus ist, dass Überstunden auch länger als 12 Monate in ein Arbeitszeitkonto überführt werden können. Dies bedeutet, dass der Ausgleichszeitraum länger als 12 Monate betragen kann (Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 121; Spielberger/Schilling, NJW 2014, 2897, 2900).

132 Liegt das verstetigte Monatseinkommen in Bezug auf die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden (inklusive Überstunden) dagegen rechnerisch unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns, sind die auf dem Arbeitszeitkonto eingestellten Plusstunden innerhalb von 12 Monaten auszugleichen. Spielberger/Schilling, NJW 2014, 2897, 2900. Praxistipp: Für die Praxis bedeutet dies, dass jeweils im Wege einer „Schattenrechnung“ bzw. „doppelten Buchführung“ (Begriffe nach Jöris/von Steinau-Steinrück, BB 2014, 2101, 2104) zu ermitteln ist, ob das tatsächlich gezahlte und nach dem MiLoG anrechenbare Monatseinkommen unter Berücksichtigung der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden mindestens den gesetzlichen Mindestlohnbetrag erreicht.

133 Fraglich ist in diesem Zusammenhang, ob § 2 Abs. 2 Satz 3 MiLoG, wonach die auf das Arbeitszeitkonto eingestellten Arbeitsstunden monatlich jeweils 50 % der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit nicht übersteigen dürfen, auch im Rahmen des § 2 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbs. MiLoG gilt. Anders als § 2 Abs. 2 Satz 1 MiLoG enthält diese Regelung keine Gegenausnahme für Fälle, in denen das verstetigte Arbeitsentgelt über dem gesetzlichen Mindestlohnbetrag liegt. Hier dürfte aber ein Ansatzpunkt für eine – auch nach dem Willen des historischen Gesetzgebers – zulässige teleologische Korrektur liegen. Vgl. zur Zulässigkeit lediglich punktueller Korrekturen unter Rn. 41 ff.

134 Denn Arbeitnehmer mit einer verstetigt über dem gesetzlichen Mindestlohn liegenden Vergütung bedürfen des Schutzes durch § 2 Abs. 2 Satz 3 MiLoG nicht. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 122 f.; Bayreuther, NZA 2014, 865, 873; Preis/Ulber, S. 15.

135 Eine dem Rechnung tragende einschränkende Auslegung ist hier auch nicht durch den Willen des historischen Gesetzgebers gesperrt. Denn die Gesetzesmaterialien sprechen insoweit für ein Redaktionsversehen. Dort heißt es nämlich: „Die Führung eines Arbeitszeitkontos unterfällt mithin nicht den Vorgaben des Absatzes 2, wenn bereits durch das verstetigte Monatseinkommen für sämtliche geleisteten Arbeitsstunden einschließlich der Überstunden der vom Arbeitgeber nach § 1 Absatz 1 gesetzlich geschuldete Mindestlohn bewirkt wird.“ (Hervorhebung vom Verfasser) Vgl. BT-Drucks. 18/2010 (neu), S. 22.

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015 Praxistipp: Sehr vorsichtige Arbeitgeber sollten vorsorglich dennoch die 50 %-Grenze beachten und darüber hinausgehende Überstunden nach der Fälligkeitsregelung in § 2 Abs. 1 MiLoG mit 8,50 EUR (brutto) vergüten.

6. Gestaltungsspielraum bei Geltung des MiLoG Wie die Gesetzesbegründung ausdrücklich klarstellt, darf der Mindestlohn 136 nicht durch „missbräuchliche Konstruktionen“ umgangen werden. BT-Drucks. 18/1558, S. 35.

§ 3 Satz 1 MiLoG sieht dementsprechend vor, dass Vereinbarungen, die den 137 Anspruch auf Mindestlohn unterschreiten oder seine Geltendmachung beschränken oder ausschließen, „insoweit“ unwirksam sind. Der Arbeitnehmer kann auf den entstandenen Anspruch nach §§ 1 Abs. 1, 20 MiLoG gemäß § 3 Satz 2 MiLoG nur durch gerichtlichen Vergleich verzichten; im Übrigen ist nach dieser Vorschrift ein Verzicht ausdrücklich ausgeschlossen. Die Verwirkung des Anspruchs ist nach § 3 Satz 3 MiLoG ebenfalls ausgeschlossen. Vereinbarungen, die gegen diese Vorgaben verstoßen, sind nach § 134 BGB nichtig, vgl. Lakies, MiLoG § 3 Rn. 1,

wobei sich die Nichtigkeitsfolge, wie der Wortlaut von § 3 Satz 1 MiLoG deutlich macht („insoweit“), jedenfalls dann, wenn man AGB-rechtliche Grundsätze einmal unberücksichtigt lässt, vgl. zu ihnen unter Rn. 700,

lediglich auf den gegen die Vorgaben des MiLoG verstoßenden Teil der Vereinbarung bezieht. § 139 BGB findet also keine Anwendung. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 103; Schweibert/Leßmann, DB 2014, 1866, 1870; Bayreuther, NZA 2014, 865.

a) Kennzeichnung einer „Vereinbarung“ Ausgehend vom Schutzzweck des § 3 MiLoG ist der Begriff „Vereinbarung“ 138 weit auszulegen. Lakies, MiLoG § 3 Rn. 3.

Untersagt und deshalb unwirksam sind Vereinbarungen – gleich welcher Art 139 und Bezeichnung –, x

die den Anspruch auf den Mindestlohn unterschreiten,

x

welche die Geltendmachung des Mindestlohns beschränken oder ausschließen. Lakies, MiLoG § 3 Rn. 3 f.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa Praxistipp: Möglich ist laut der Gesetzesbegründung allerdings eine Entgeltumwandlung aufgrund einer Vereinbarung nach § 1a BetrAVG (BT-Drucks. 18/1558, S. 35, 42).

b) Ausschlussfristen und Ausschlussklauseln 140 Ausgehend von den Vorgaben des § 3 Satz 1 MiLoG können daher Ausschlussfristen – gleich welcher Art (d. h. u. a. auch tarifliche Ausschlussfristen) – den Anspruch auf den Mindestlohn und seine Durchsetzung nicht beschränken. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 107; Jöris/von Steinau-Steinrück, BB 2014, 2101, 2103; Preis/Ulber, S. 36, 46, 76.

141 In der Literatur wird allerdings mit Blick auf die den Mindestlohn übersteigenden Gehaltsbestandteile – angesichts des Wortlauts von § 3 Satz 1 MiLoG und dessen Schutzzweck: zu Recht – ein Eingreifen von Ausschlussfristen für möglich gehalten. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 107; Preis/Ulber, S. 47 ff.; Bayreuther, NZA 2014, 865, 870. Praxistipp: Wichtig ist mit Blick auf die Transparenzvorgaben der AGB-Kontrolle nach § 307 BGB aber, dies im Wortlaut der Klausel zum Ausdruck zu bringen (Bayreuther, NZA 2014, 865, 870; Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 107). Insbesondere für Altfälle wird man insoweit keinen vollständigen Wegfall der Ausschlussfrist annehmen können (Preis/Ulber, S. 57).

142 Das im AGB-Recht geltende Verbot der geltungserhaltenden Reduktion soll insoweit allerdings mit Blick auf den Wortlaut von § 3 Satz 1 MiLoG und dessen Schutzzweck nach zutreffender Ansicht nicht eingreifen. Sagan/Witschen, jM 2014, 372, 376.

143 Zulässig sind Ausschlussklauseln und -fristen selbstverständlich weiterhin dann, wenn das MiLoG nach § 22 MiLoG nicht eingreift. Preis/Ulber, S. 41 ff.; Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 108.

144 Gleiches gilt für Tarifverträge, die unter § 9 AEntG als lex specialis fallen. Preis/Ulber, S. 37 ff.; Lakies, MiLoG § 3 Rn. 18 ff.; Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 108.

145 Ob darüber hinaus im Rahmen von § 24 Abs. 1 MiLoG Gestaltungsspielraum für zulässigerweise von § 3 MiLoG abweichende Tarifverträge repräsentativer Tarifvertragsparteien besteht, ist umstritten. Dabei darf – entgegen einer in der Literatur vertretenen Ansicht Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 108 –

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

der Wortlaut von § 24 Abs. 1 MiLoG („dem Mindestlohn“) nicht überinterpretiert werden. Im Ergebnis ebenso Preis/Ulber, S. 44; Lakies, MiLoG § 3 Rn. 18.

Denn der Gesetzgeber wollte den betroffenen Branchen eine schrittweise 146 Annäherung an den Mindestlohn ermöglichen, sodass nicht anzunehmen ist, dass er im Übrigen – mit Ausnahme der Lohnhöhe – bereits ein vollständiges Eingreifen des MiLoG gewollt hat. Schließlich sollte hinreichend Vorlaufzeit für ggf. erforderliche „Anpassungsprozesse in den Branchen“ gelassen werden. BT-Drucks. 18/1558, S. 43.

c) Verbot des Verzichts aa) Grundsatz Nach § 3 Satz 1 MiLoG ist der Verzicht auf den Mindestlohn unzulässig. 147 Dies gilt insbesondere für einen im Vorhinein erklärten Verzicht. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 110.

bb) Bedeutung für Sanierungsvereinbarungen und „Betriebliche Bündnisse für Arbeit“ Dies ist insbesondere für sanierungsbedürftige Unternehmen eine erhebliche 148 Einschränkung. Denn ein derartiger Verzicht bzw. eine unzulässige Stundung läge auch dann vor, wenn im Rahmen einer Sanierungsvereinbarung bzw. eines sog. „Betrieblichen Bündnisses für Arbeit“ gegen einen (befristeten) Bestandsschutz auf entsprechende Lohnbestandteile bzw. deren Zahlung im Fälligkeitszeitpunkt verzichtet werden würde. Vgl. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 110. Praxistipp: „Betriebliche Bündnisse für Arbeit“ und Sanierungsvereinbarungen müssen dem Rechnung tragen und einen Verzicht bzw. eine Stundung lediglich auf den Mindestlohn übersteigende Lohnbestandteile vorsehen. Das schränkt den Gestaltungsspielraum im Rahmen von Sanierung zwar erheblich ein, ist mit Blick auf die bei einem Verstoß gegen das MiLoG drohenden Sanktionen (vgl. unter Rn. 185 ff.) aber geboten.

cc) Ausnahme: gerichtlicher Vergleich Einzig gerichtliche Vergleiche – nach Aufklärung durch das Gericht – i. S. d. 149 §§ 794 Abs. 1 Nr. 1, 278 Abs. 6 ZPO sind in Bezug auf bereits entstandene Ansprüche zulässig. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 110.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa Praxistipp: Nicht zulässig sind damit außergerichtliche Vergleiche – gleich welcher Art – z. B. auch in Form einer notariellen Verzichtserklärung (Schubert/Jerchel/ Düwell, Rn. 110; Lakies, MiLoG § 3 Rn. 9). Ebenfalls ausgeschlossen sind nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung Vergleiche vor einer Gütestelle (§ 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) oder Anwaltsvergleiche (§ 796a ZPO), vgl. Lakies, MiLoG § 3 Rn. 10.

150 Ein nicht diesen Vorgaben entsprechender Verzicht ist nach § 134 BGB, soweit er den Mindestlohn erfasst, nichtig (§ 3 Satz 1 MiLoG). Praxistipp: Angesichts des Ausschlusses der Verwirkung nach § 3 Satz 3 MiLoG wird in der Literatur angenommen, dass auch ein Berufen auf ein unzulässiges widersprüchliches Verhalten (§ 242 BGB) bei einer Geltendmachung nach unwirksamem Verzicht nicht möglich ist (Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 110).

d) Verwirkung 151 Nach § 3 Satz 3 MiLoG ist selbst eine Verwirkung des Mindestlohnanspruchs ausgeschlossen. e) Verjährung 152 Neben dem oben gekennzeichneten Gestaltungsspielraum (vgl. Rn. 138 ff.) werden Arbeitgeber gegen Mindestlohnansprüche daher nur im Rahmen der Verjährung geschützt. Es gelten die allgemeinen Regeln der §§ 195, 199 BGB. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 102. Praxistipp: Auch sie werden allerdings durch § 3 Satz 1 MiLoG insoweit eingeschränkt, als Vereinbarungen über eine Verjährungserleichterung nicht zulässig sind (Lakies, MiLoG § 3 Rn. 55).

7. Auftraggeberhaftung 153 Von erheblicher Bedeutung für die betriebliche Praxis ist darüber hinaus die in § 13 MiLoG geregelte Auftraggeberhaftung. Denn nach § 13 MiLoG gilt insoweit § 14 AEntG entsprechend. Nach § 14 Satz 1 AEntG haftet ein Unternehmer, der einen anderen Unternehmer mit der Erbringung von Werkoder Dienstleistungen beauftragt, für die Verpflichtungen x

dieses Unternehmers,

x

eines Nachunternehmers oder

x

eines von dem Unternehmer oder einem Nachunternehmer beauftragten Verleihers

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

zur Zahlung des Mindestentgelts an Arbeitnehmer oder zur Zahlung von Beiträgen an eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien nach § 8 AEntG wie ein Bürge, der auf die Einrede der Vorausklage (§ 771 Satz 1 BGB) verzichtet hat. Das Mindestentgelt i. S. d. § 8 Satz 1 AEntG umfasst nach § 8 Satz 2 AEntG nur den Betrag, der nach Abzug der Steuern und der Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung oder entsprechender Aufwendungen zur sozialen Sicherung an Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen auszuzahlen ist (Nettoentgelt). Hintergrund für die Einführung von § 14 AEntG waren negative Erfahrungen 154 in der Baubranche, aufgrund derer sich der Gesetzgeber veranlasst sah, das beauftragende Unternehmen haften zu lassen, um so zu größerer Sorgfalt bei der Auswahl von Nachunternehmern anzuhalten. Vgl. ErfK/Schlachter, AEntG § 14 Rn. 1; Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 221; Hilgenstock, Rn. 177.

Diese Überlegung hat der Gesetzgeber auf das MiLoG übertragen

155

BT-Drucks. 18/1558, S. 40

und von einer ursprünglich angedachten Lösung mit Exkulpationsmöglichkeit zugunsten eines bloßen Verweises auf § 14 AEntG in § 13 MiLoG verzichtet. Er hat sich damit für eine verschuldensunabhängige Haftung entschieden. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 231; Henkel u. a., S. 73; Lakies, MiLoG § 13 Rn. 3.

a) Adressat der Haftung aa) Grundsatz Adressat der Haftung ist nach § 13 MiLoG i. V. m. § 14 AEntG ein Unter- 156 nehmer, der einen anderen Unternehmer mit der Erbringung von Dienstund Werkleistungen beauftragt. Zur Kennzeichnung des „Unternehmers“ i. S. d. § 13 MiLoG i. V. m. § 14 157 AEntG werden in der Literatur überwiegend die vom BAG zu § 14 AEntG entwickelten Kriterien vgl. BAG, v. 16.5.2012 – 10 AZR 190/11, NZA 2012, 980; BAG, v. 28.3.2007 – 10 AZR 76/06, NZA 2007, 613; BAG, v. 12.1.2005 – 5 AZR 617/01, NZA 2005, 627

mit der Folge herangezogen, dass zunächst einmal Privatpersonen ausscheiden. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 227; Hilgenstock, Rn. 181; Lakies, MiLoG § 13 Rn. 14.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

158 Nach überwiegender Ansicht soll auch die öffentliche Hand jedenfalls dann nicht erfasst sein, wenn sie nicht in der Form eines privatrechtlichen Unternehmens oder Eigenbetriebs operiert. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 227; Hilgenstock, Rn. 181; Insam/Hinrichs/Tacou, NZA-RR 2014, 569, 571; tendenziell auch Henkel u. a., S. 74 ff.; a. A. Lakies, MiLoG § 13 Rn. 11.

159 Umstritten ist indes insbesondere, ob die vom BAG zur Ausgrenzung von Eigenauftraggebern, also von solchen Unternehmern, die nicht als Generalunternehmer tätig werden, aus der Haftung nach § 14 AEntG entwickelten Kriterien auch für § 13 MiLoG gelten. Vgl. BAG, v. 16.5.2012 – 10 AZR 190/11, NZA 2012, 980; BAG, v. 28.3.2007 – 10 AZR 76/06, NZA 2007, 613; BAG, v. 12.1.2005 – 5 AZR 617/01, NZA 2005, 627.

160 Dies wird in der Literatur teilweise mit dem Argument verneint, dass § 13 MiLoG lediglich eine „entsprechende“ Anwendung von § 14 AEntG vorschreibe und § 13 MiLoG – anders als § 14 AEntG – keinen Branchenbezug aufweise, auf den sich das BAG bei der Entwicklung dieser Kriterien gestützt hatte. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 228; wohl auch Hilgenstock, Rn. 181 f.

161 Die zutreffende Gegenansicht Lakies, MiLoG § 13 Rn. 14; ErfK/Franzen, MiLoG § 13 Rn. 2; Pacholski/Naumann, NJW-Spezial 2014, 690; Sittard, NZA 2014, 951, 953; wohl auch Bayreuther, NZA 2014, 865, 871; vgl. auch Henkel u. a., S. 75 f.

weist allerdings darauf hin, dass eine derartige Auslegung vom Schutzzweck der Norm nicht mehr erfasst ist. Den leider nicht völlig klaren Gesetzesmaterialien vgl. BT-Drucks. 18/1558, S. 40. Zweifel bestehen wegen des dort in Bezug auf die Generalunternehmerhaftung verwendeten Zusatzes „insbesondere“, den man aber angesichts des teilweise erkennbar geringen Differenzierungsniveaus der Gesetzesbegründung nicht überbewerten dürfen wird

wird ebenfalls entnommen, dass an sich eine Generalunternehmerhaftung gewollt war. Kühn/Reich, BB 2014, 2938, 2940; Insam/Hinrichs/Tacou, NZA-RR 2014, 569, 570.

38

I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

bb) Verfassungskonforme Einschränkung bei Insolvenz? Während ein Teil der Literatur § 13 MiLoG unter Hinweis auf die Recht- 162 sprechung von BVerfG und EuGH zu § 14 AEntG (die erging, als noch eine branchenbezogene Beschränkung vorgesehen war) BVerfG, v. 20.3.2007 – 1 BvR 104, NZA 2007, 609; EuGH, v. 12.10.2004 – C-60/03, AP Nr. 9 zu Art. 49 EG – Wolf & Müller

uneingeschränkt als verfassungskonform betrachtet, Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 224; Lakies, MiLoG § 13 Rn. 6 ff.; zweifelnd demgegenüber Kühn/Reich, BB 2014, 2938; Henkel u. a., S. 75

weisen Teile der Literatur völlig zu Recht darauf hin, dass § 13 MiLoG aber jedenfalls insofern einer verfassungskonformen einschränkenden Auslegung bedarf, als dass die in ihm angeordnete Haftung nicht für den Fall der Insolvenz des Nachunternehmers gilt. Thüsing, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung am 30.6.2014 in Berlin, Ausschussdrucksache 18(11)148, S. 57; Kühn/Reich, BB 2014, 2938, 2939.

Für das AEntG hatten BVerfG und BAG diese Frage ausdrücklich offenge- 163 lassen. BVerfG, v. 20.3.2007 – 1 BvR 104, NZA 2007, 609; BAG, v. 8.12.2010 • 5 AZR 95/10, ZIP 2011, 785, dazu EWiR 2011, 361 (Plagemann).

Eine Haftung für die Zahlungsunfähigkeit, d. h. die Insolvenz des Nachun- 164 ternehmers, dürfte aber zur Erreichung der mit dem MiLoG verfolgten Ziele nicht erforderlich sein. Denn die Wahl eines möglichst solventen Kooperationspartners hat keinen hinreichenden Bezug zur Sicherstellung des Mindestlohnniveaus im Arbeitsverhältnis. Kühn/Reich, BB 2014, 2938, 2939.

Die in § 13 MiLoG vorgesehene Haftung soll auf Sorgfalt bei der Auswahl 165 eines leistungswilligen Nachunternehmers hinwirken und nicht die Arbeitnehmer von dem Insolvenzrisiko ihres Arbeitgebers befreien. Daher ist eine Haftung für „Leistungsunwilligkeit” ausreichend. Thüsing, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung am 30.6.2014 in Berlin, Ausschussdrucksache 18(11)148, S. 57; Kühn/Reich, BB 2014, 2938, 2939.

Haftung eines jeden Auftraggebers für den Mindestlohn der Arbeitnehmer 166 von Subunternehmern bei Insolvenz des Subunternehmers ist demgegenüber nicht erforderlich. a. A. ggf. Sagan/Witschen, jM 2014, 372, 375.

39

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

167 Führt man sich noch einmal vor Augen, dass das MiLoG keine Branchenbegrenzung kennt, würden Unternehmen, die Nachunternehmer beauftragen, bei einer abweichenden Auslegung flächendeckend gezwungen werden, den Arbeitnehmern ihrer Nachunternehmer das Insolvenzrisiko in Bezug auf deren Arbeitgeber abzunehmen. Das hat mit der Zielsetzung des MiLoG nichts zu tun, sodass insoweit eine teleologische Auslegung zu einer verfassungskonformen Begrenzung führt. Vgl. auch Kühn/Reich, BB 2014, 2938, 2939.

168 Konsequenz daraus ist, dass der Auftraggeber lediglich bei „Leistungsunwilligkeit” seiner Nachauftragnehmer gemäß § 13 MiLoG haftet, nicht aber bei „Leistungsunfähigkeit”. Die Haftung nach § 13 MiLoG greift damit jedenfalls nicht mehr ab Eingang eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 13 InsO) beim zuständigen Gericht. Denn die Kooperation und Arbeitsteilung in der Wirtschaft wäre sonst nachhaltig gefährdet. Kühn/Reich, BB 2014, 2938, 2939; vgl. auch Thüsing, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung am 30.6.2014 in Berlin, Ausschussdrucksache 18(11)148, S. 56.

169 Nicht zuletzt würde die Betriebsfortführung eines Insolvenzschuldners bei einer Ausgestaltung des § 13 MiLoG als Liquiditätshaftung oftmals stark erschwert, wenn nicht unmöglich. Es wird sich nämlich kaum ein Auftraggeber finden, der bereit wäre, das Risiko in Kauf zu nehmen, für Löhne seines illiquiden Auftragnehmers bis zur Höhe des Mindestlohns einzustehen; eine Insolvenzgeldvorfinanzierung schützt davor allenfalls zeitlich begrenzt. Kühn/Reich, BB 2014, 2938, 2939.

b) Anspruchsberechtigter und Rechtsnatur der Haftung 170 Die Haftung des Unternehmers besteht gegenüber den Arbeitnehmern der Nachunternehmer. Praxistipp: Das ist insbesondere von Bedeutung, wenn ein Arbeitgeber insolvent wird; die Arbeitnehmer können den Netto-Mindestlohn dann – allerdings lediglich bis zum Zeitpunkt des Insolvenzantrags rückständige Ansprüche (vgl. Rn. 168) – nach Maßgabe von § 13 MiLoG i. V. m. § 14 AEntG von dessen Auftraggebern verlangen. Nach der Rechtsprechung des BAG geht in diesem Fall ein (vorfinanzierter) Anspruch aus § 14 AEntG selbst dann nicht nach § 169 SGB III auf die Bundesagentur für Arbeit über, wenn ein Antrag auf Insolvenzgeld gestellt wird (BAG, v. 6.11.2002 – 5 AZR 617/01 (A), BAGE 103, 240; BAG, v. 8.12.2010 – 5 AZR 95/10, ZIP 2011, 785; a. A. ErfK/Schlachter, § 14 AEntG Rn. 2). Für § 13 MiLoG dürfte insoweit nichts anderes gelten (Sagan/Witschen, jM 2014, 372, 375; a. A. wohl Lakies, MiLoG § 13 Rn. 20).

40

I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

Angesichts des in § 13 MiLoG vorgenommenen Verweises auf das Recht der 171 Bürgschaft haften Unternehmer und Nachunternehmer gesamtschuldnerisch. Konsequenz daraus ist, dass der Arbeitnehmer wählen darf, gegen welchen der haftenden Unternehmer er seinen Anspruch geltend macht. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 231; Lakies, MiLoG § 13 Rn. 15 f.; Insam/Hinrichs/Tacou, NZA-RR 2014, 569, 572.

Anspruchsberechtigt sind allerdings nur Arbeitnehmer, die auch in die Auf- 172 träge eingebunden sind, die der Generalunternehmer und dessen Subunternehmer bearbeiten. Hilgenstock, Rn. 184.

173

In Übertragung der zu § 14 AEntG entwickelten Grundsätze vgl. Koberski/Asshoff/Eustrup/Winkler, AentG, § 14 Rn. 33

erfasst die Haftung nur Ansprüche, die aus einer Tätigkeit im Rahmen des Dienst- oder Werkvertrags, den der Generalunternehmer vergeben hat, resultieren. Ein Einsatz durch den Subunternehmer für andere Auftraggeber, führt nicht zu einer Haftung nach § 13 MiLoG. Henkel u. a., S. 80.

Andernfalls würde die Einbindung des Generalunternehmers für den Arbeit- 174 nehmer schließlich zum ungerechtfertigten „Glücksfall“, während die Beauftragung von Subunternehmern für den Generalunternehmer zu einem nicht zu überschauenden Haftungsrisiko führen würde. c) Haftungsinhalt Der Anspruch nach § 13 MiLoG ist auf die Zahlung des Mindestlohns ge- 175 richtet. Er erstreckt sich nicht auf Sozialversicherungsleistungen. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 232; Henkel u. a., S. 80; Lakies, MiLoG § 13 Rn. 23 ff. Praxistipp: Gleiches gilt selbstverständlich auch für den Mindestlohn übersteigende Vergütungsbestandteile, die ebenfalls nicht von § 13 MiLoG erfasst sind (Lakies, MiLoG § 13 Rn. 26; Henkel u. a., S. 80).

Ausgehend von den zu § 14 AEntG entwickelten Grundsätzen werden eben- 176 falls nicht von der Haftung nach § 13 MiLoG erfasst: x

Annahmeverzugslohnansprüche; Lakies, MiLoG § 13 Rn. 27; vgl. BAG, v. 12.1.2005 – 5 AZR 617/01, NZA 2005, 627;

x

Ansprüche auf Verzugszinsen wegen verspäteter Lohnzahlung; 41

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa Lakies, MiLoG § 13 Rn. 27; vgl. BAG, v. 12.1.2005 – 5 AZR 617/01, NZA 2005, 627;

x

Ansprüche auf Entgeltfortzahlung an Feiertagen oder im Krankheitsfall; Lakies, MiLoG § 13 Rn. 27; Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 232;

x

Ansprüche auf Urlaubsentgelt oder zusätzliches Urlaubsgeld; Lakies, MiLoG § 13 Rn. 27; vgl. Deckers, NZA 2008, 321, 324;

x

Ansprüche auf Aufwendungsersatz. Lakies, MiLoG § 13 Rn. 27; vgl. Deckers, NZA 2008, 321, 324 f.

d) Haftungsbegrenzung aa) Keine Haftungsbegrenzung im Außenverhältnis durch Vereinbarung zwischen Unternehmern 177 Nicht gegenüber dem Arbeitnehmer ausgeschlossen werden kann die Haftung nach § 13 MiLoG durch Vereinbarung zwischen den beteiligten Unternehmen. Das folgt bereits aus der Unzulässigkeit von Verträgen zu Lasten Dritter, indes auch losgelöst davon aus § 3 MiLoG. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 232.

bb) Haftungsbegrenzung kraft Akzessorietät 178 Die durch § 3 MiLoG bedingten Gestaltungsgrenzen sind auch im Rahmen des § 13 MiLoG insoweit relevant, als die Haftung nach § 13 MiLoG akzessorisch ausgestaltet ist. Dies bedeutet zunächst einmal, dass sich der Unternehmer auf die dem Arbeitgeber als Hauptschuldner zustehenden Einreden (§ 768 BGB), insbesondere also auf die Einrede der Verjährung, berufen kann. Lakies, MiLoG § 13 Rn. 19. Praxistipp: Gleiches gilt für die Einreden der Anfechtbarkeit und der Aufrechenbarkeit gemäß § 770 BGB (Lakies, MiLoG § 13 Rn. 19).

cc) Gesetzliche Haftungsbegrenzung durch Regress im Innenverhältnis 179 Soweit der Unternehmer den Arbeitnehmer anstelle des Arbeitgebers befriedigt, geht die Forderung des Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber als Hauptschuldner auf den Unternehmer über (§ 774 Abs. 1 Satz 1 BGB). 180 Der nach § 13 MiLoG in Anspruch genommene Unternehmer kann daher alle nach dieser Norm mithaftenden Unternehmer in Regress nehmen. Da ein 42

I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

gesamtschuldnerischer Ausgleich entsprechend §§ 774 Abs. 2, 426 BGB stattfindet, ist dies zwar an sich nur anteilig möglich. Nach § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB haften die Gesamtschuldner jedoch nur dann zu gleichen Teilen, „soweit nicht ein anderes bestimmt ist“. Ob man daraus im Rahmen des § 13 MiLoG ggf. folgern darf, dass derjenige Unternehmer allein einzustehen hat, der den Verstoß gegen die Pflicht zur Zahlung des Mindestlohns begangen hat, in diesem Sinne Lakies, MiLoG § 13 Rn. 16,

dürfte analog zu § 14 AEntG umstritten sein. Vgl. zum Streitstand z. B. Kühn/Reich, BB 2014, 2938, 2940.

dd) Privatautonome Haftungsbegrenzung kraft Vereinbarung zwischen Unternehmern Angesichts dieser Haftungsausgestaltung wird zu Recht empfohlen, bereits 181 bei der Vertragsanbahnung eine Prüfung in Bezug auf den einzuschaltenden Unternehmer vorzunehmen. Zunächst sollte der Auftraggeber – selbst nach den Gesetzesmaterialien

182

vgl. BT-Drucks. 18/1558, S. 40 –

bereits bei der Auswahl des von ihm mit der Erbringung von Werk- oder Dienstleistungen beauftragten Unternehmens dessen Leumund dahingehend überprüfen, ob konkrete Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten des Auftragnehmers in der Vergangenheit vorliegen, beispielsweise, ob der Auftragnehmer von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen ist. Als weitere Maßnahme kommt die Einholung einer schriftlichen Zusiche- 183 rung durch den Auftragnehmer zur Zahlung des Mindestlohns oder – besser – einer entsprechenden Bestätigung durch einen geeigneten objektiven Gutachter (z. B. durch einen Wirtschaftsprüfer im Rahmen eines sog. „Social Audits“) in Betracht. Insam/Hinrichs/Tacou, NZA-RR 2014, 569, 574.

Als privatautonome Haftungsbegrenzungsmechanismen kraft Vereinbarung 184 zwischen den beteiligten Unternehmern im Dienst- oder Werkvertrag kommen demgegenüber (ggf. kumulativ) in Betracht: Ausführlich Mückl/Pötters/Krause, Rn. 742:

x

Freistellungsvereinbarungen; Hilgenstock, Rn. 197; Kühn/Reich, BB 2014, 2938, 2941;

x

Gewährung von Sicherheiten; Henkel u. a., S. 81; Hilgenstock, Rn. 198; Kühn/Reich, BB 2014, 2938, 2941;

43

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

x

Dokumentations- und Nachweispflichten hinsichtlich der Zahlung des Mindestlohns; Insam/Hinrichs/Tacou, NZA-RR 2014, 569, 574; Kühn/Reich, BB 2014, 2938, 2941;

x

Zustimmungspflichten in Bezug darauf, welcher Subunternehmer beauftragt werden darf; Henkel u. a., S. 81; Kühn/Reich, BB 2014, 2938, 2941;

x

Vertragsstrafen bei Nichtzahlung des Mindestlohns; Henkel u. a., S. 82.; Insam/Hinrichs/Tacou, NZA-RR 2014, 569, 574; Kühn/Reich, BB 2014, 2938, 2941;

x

ein (außerordentliches) Kündigungsrecht bei Nichtzahlung des Mindestlohns. Insam/Hinrichs/Tacou, NZA-RR 2014, 569, 574.

8. Sanktionen 185 Nach § 20 MiLoG müssen Arbeitgeber mit Sitz im In- oder Ausland ihren im Inland beschäftigten Arbeitnehmern ein Arbeitsentgelt mindestens in Höhe des Mindestlohns nach § 1 Abs. 2 MiLoG spätestens zu dem in § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MiLoG genannten Zeitpunkt zahlen. a) Ordnungswidrigkeit und Bußgeldsanktion 186 § 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG sichert diese Verpflichtung dadurch ab, dass er einen vorsätzlichen oder fahrlässigen Verstoß als bußgeldbewerte Ordnungswidrigkeit qualifiziert. 187 Ergänzt wird diese Absicherung durch § 21 Abs. 2 MiLoG. Danach handelt ebenfalls ordnungswidrig, wer Werk- oder Dienstleistungen in erheblichem Umfang ausführen lässt, indem er als Unternehmer einen anderen Unternehmer beauftragt, von dem er weiß oder fahrlässig nicht weiß, dass dieser bei der Erfüllung dieses Auftrags x

entgegen § 20 MiLoG das dort genannte Arbeitsentgelt nicht oder nicht rechtzeitig zahlt oder

x

einen Nachunternehmer einsetzt oder zulässt, dass ein Nachunternehmer tätig wird, der entgegen § 20 MiLoG das dort genannte Arbeitsentgelt nicht oder nicht rechtzeitig zahlt.

188 Nach § 21 Abs. 3 MiLoG können die vorgenannten Ordnungswidrigkeiten mit einer Geldbuße bis zu EUR 500.000,00 geahndet werden.

44

I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015 Praxistipp: Bei vorsätzlichen oder fahrlässigen Verstößen gegen die in § 5 SchwarzArbG bzw. in §§ 16, 17 MiLoG normierten Melde- und Dokumentationspflichten liegen nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 – 8 MiLoG ebenfalls Ordnungswidrigkeiten vor, die jeweils mit einer Geldbuße bis zu EUR 30.000,00 geahndet werden können.

b) Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge Für die Praxis in vielen Fällen noch wichtiger ist allerdings die zusätzliche 189 Absicherung der pünktlichen Mindestlohnzahlung durch § 19 MiLoG. Nach dieser Norm sollen Bewerberinnen oder Bewerber (aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung nachfolgend „Bewerber“ genannt), die wegen eines Verstoßes nach § 21 MiLoG mit einer Geldbuße von wenigstens EUR 2.500 belegt worden sind, für eine angemessene Zeit bis zur nachgewiesenen Wiederherstellung ihrer Zuverlässigkeit von der Teilnahme an einem Wettbewerb um einen Liefer-, Bau- oder Dienstleistungsauftrag der in § 98 GWB genannten Auftraggeber ausgeschlossen werden. Praxistipp: Überwiegend wird davon ausgegangen, dass dies – in Übertragung der zu § 21 AEntG entwickelten Überlegungen – höchstens einen Ausschluss für drei Jahre rechtfertigt, der Bewerber allerdings seine Zuverlässigkeit nachweisen muss (vgl. Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 243; Lakies, MiLoG § 19 Rn. 8). Für diesen Zeitraum spricht, dass § 21 SchwarzArbG ebenfalls einen Höchstzeitraum von drei Jahren vorsieht (vgl. Lakies, MiLoG § 19 Rn. 8).

Auskünfte über einen derartigen Ausschluss dürfen öffentliche Auftraggeber 190 nach § 98 Nr. 1 bis 3 und 5 GWB und Stellen, die von öffentlichen Auftraggebern zugelassene Präqualifikationsverzeichnisse oder Unternehmer- und Lieferantenverzeichnisse führen, von den zuständigen Behörden (Zollverwaltung) nach § 19 Abs. 2 MiLoG verlangen. a. A. wohl irrtümlich Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 244, die – gegen den Wortlaut von § 19 Abs. 2 MiLoG – von einem Recht der Behörden zur Auskunftseinholung bei den Auftraggebern sprechen.

Öffentliche Auftraggeber i. S. d. § 19 Abs. 2 MiLoG müssen darüber hinaus 191 nach § 19 Abs. 3 MiLoG im Rahmen ihrer Tätigkeit beim Gewerbezentralregister x

Auskünfte über rechtskräftige Bußgeldentscheidungen wegen einer Ordnungswidrigkeit nach § 21 Abs. 1 oder Abs. 2 MiLoG anfordern oder

x

von Bewerbern eine Erklärung verlangen, dass die Voraussetzungen für einen Ausschluss nach § 19 Abs. 1 MiLoG nicht vorliegen. Praxistipp: Im Falle einer Erklärung des Bewerbers können öffentliche Auftraggeber i. S. d. § 19 Abs. 2 MiLoG nach § 19 Abs. 3 Satz 2 MiLoG jederzeit zusätzlich Auskünfte des Gewerbezentralregisters nach § 150a GewO anfordern.

45

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

192 Bei Aufträgen ab einer Höhe von EUR 30.000,00 muss der öffentliche Auftraggeber i. S. d. § 19 Abs. 2 MiLoG für den Bewerber, der den Zuschlag erhalten soll, vor der Zuschlagserteilung nach § 19 Abs. 4 MiLoG sogar eine Auskunft aus dem Gewerbezentralregister nach § 150a GewO anfordern. Praxistipp: Vor der Entscheidung über den Ausschluss ist der Bewerber nach § 19 Abs. 5 MiLoG zu hören. Dies schließt die Informations- und Wartepflicht nach § 101a Abs. 1 GWB ein (Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 247).

c) Praktische Relevanz 193 Diese Sanktionsmechanismen können in einer Vielzahl an Fallgruppen relevant werden. Beispielhaft seien hier lediglich drei für die Insolvenz- und Sanierungspraxis wichtige Fallgruppen genannt: aa) Massenentlassung 194 Ganz erheblich kann das Risiko von Bußgeldern und Ausschlüssen z. B. im Fall einer fahrlässig unerkannt unwirksamen Massenentlassung werden. Führt man sich vor Augen, dass x

gerade sanierungsbedürftige Unternehmen häufig Massenentlassungen vornehmen, und

x

die Kriterien dafür, wann die Unwirksamkeit einer Kündigung fahrlässig verkannt wird, keineswegs abschließend geklärt sind,

x

Kündigungsschutzprozesse aber zumeist mehrere Monate, wenn nicht Jahre dauern,

besteht in derartigen Fallkonstellationen ein hohes Risiko dafür, dass der Mindestlohn – in einer Vielzahl an Fällen (Massenentlassung!) – nicht rechtzeitig gezahlt worden ist. 195 Auch wenn die Beratungspraxis bereits zu Recht bemüht ist, die Kriterien für den relevanten Fahrlässigkeitsvorwurf teleologisch dahin zu konkretisieren, dass sie einen im Sinne des MiLoG vorwerfbare Nichtzahlung des Mindestlohns fordert, vgl. zu entsprechenden Überlegungen Grau/Sittard, ArbRB 2014, 375, 376 ff.,

steht keinesfalls fest, dass die Ordnungsbehörden und Gerichte diese Einschätzung teilen werden.

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I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015 Praxistipp: Kündigungen, insbesondere Massenentlassungen, müssen daher sehr sorgfältig vorbereitet werden. Risiken, die in der Vergangenheit als eingehbar bewertet wurden, sind dies ggf. nicht mehr, weil nicht allein Annahmeverzugslohnansprüche, sondern (hohe) Bußgelder und der Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge in Rede stehen. Wenn nicht die Annahmeverzugslohnansprüche eine Insolvenzantragspflicht begründen, kann sie nun nämlich durch die im MiLoG vorgesehenen Sanktionsmechanismen begründet werden.

bb) Verkannter Betriebs- oder Betriebsteilübergang Dieselben Überlegungen gelten auf den ersten Blick auch im Zusammenhang 196 mit fahrlässig verkannten Betriebs- oder Betriebsteilübergängen. Denn die Vergütungspflicht nach § 20 MiLoG trifft den aufnehmenden Rechtsträgern infolge von § 613a Abs. 1 BGB auch dann, wenn er den Übergang von Arbeitsverhältnissen fahrlässig verkannt hat. Dass der – dies ggf. ebenfalls fahrlässig verkennende – übertragende Rechtsträger den Mindestlohn gezahlt hat, ist dem Gesetzeswortlaut nach irrelevant, weil die Pflicht nach § 20 MiLoG den Arbeitgeber trifft, mit dem das Arbeitsverhältnis besteht. Der übertragende Rechtsträger will schließlich mit der Zahlung eine eigene 197 Schuld aus dem als fehlerhaftes Arbeitsverhältnis zu qualifizierenden Rechtsverhältnis zum Arbeitnehmer erfüllen und keine Schuld des aufnehmenden Rechtsträgers. LAG Berlin-Brandenburg, v. 20.11.2013 – 21 Sa 866/13, 21 Sa 960/13, 21 Sa 866/13, 21 Sa 960/13, BB 2014, 1139 (LS) m. w. N.

Da der Arbeitnehmer in dieser Fallkonstellation allerdings vom übertragen- 198 den Rechtsträger den Mindestlohn erhalten muss (der aufgrund des in Vollzug gesetzten faktischen bzw. fehlerhaften Arbeitsverhältnisses ebenfalls Arbeitgeber im Sinne des MiLoG ist) und erhält, dürfte insoweit – sofern nicht ohnehin § 615 Satz 2 BGB Anwendung findet – zugunsten des aufnehmenden Rechtsträgers eine teleologische Reduktion des § 20 MiLoG bzw. Auslegung im Lichte des § 615 Satz 2 BGB gerechtfertigt sein. Schließlich bedarf der Arbeitnehmer, der weiterhin für den übertragenden Rechtsträger tätig ist und von ihm vergütet werden muss, keinen zusätzlichen Schutz durch das MiLoG. § 13 MiLoG sieht dies nämlich nur für den Fall des bewussten und gewollten arbeitsteiligen Zusammenwirkens vor und § 615 Satz 2 BGB findet in dieser Fallkonstellation uneingeschränkt Anwendung. cc) Unwirksame Arbeitnehmerüberlassung Die gerade zum fahrlässig verkannten Betriebsübergang entwickelten Grund- 199 sätze dürften – soweit der Schein-Verleiher den Mindestlohn zahlt – zugunsten

47

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

des Arbeitgebers dann gelten, wenn § 10 Abs. 1 AÜG im Fall einer – fahrlässig verkannt – unwirksamen Arbeitnehmerüberlassung eingreift und ein Arbeitsverhältnis fingiert wird. 9. Mindestlöhne nach anderen Gesetzen, Sittenwidrigkeitsgrenze a) Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG), Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) – Verdrängung ungünstigerer Tarifverträge 200 Lässt man die in § 24 MiLoG normierten – vorübergehenden – Ausnahmen unberücksichtigt, setzen sich nach § 1 Abs. 3 MiLoG nur im Vergleich zu den Vorgaben des MiLoG günstigere Tarifverträge durch. Denn nach § 1 Abs. 3 Satz 1 MiLoG gehen die Regelungen x

des AEntG,

x

des AÜG und

x

der auf ihrer Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen

den Regelungen dieses Gesetzes nur vor, „soweit die Höhe der auf ihrer Grundlage festgesetzten Branchenmindestlöhne die Höhe des Mindestlohns nicht unterschreitet.“

201 Nach § 1 Abs. 3 Satz 2 MiLoG gilt der Vorrang nach § 1 Abs. 3 Satz 1 MiLoG entsprechend für einen auf der Grundlage von § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag i. S. v. § 4 Abs. 1 Nr. 1, § 5 und § 6 Abs. 2 AEntG. Praxistipp: Konsequenz dieser Regelung ist insbesondere, dass Sanierungstarifverträge, durch die der Mindestlohn zeitweise unterschritten werden soll, unzulässig sind (vgl. Lakies, MiLoG § 1 Rn. 17).

b) Sittenwidrigkeitsrechtsprechung des BAG 202 Nicht abgelöst wird durch das MiLoG im Übrigen nach herrschender Meinung die Sittenwidrigkeitsrechtsprechung des BAG. Bayreuther, NZA 2014, 865, 866; Lakies, MiLoG, Einleitung Rn. 103; Henkel u. a., S. 55 f.; Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 156.

203 Danach greift § 138 BGB mit der Folge, dass anstelle des vereinbarten Lohns die nach § 612 Abs. 2 BGB übliche Vergütung zu zahlen ist, dann ein, wenn ein auffälliges Missverhältnis zwischen dem Wert der Arbeitsleistung und der Höhe ihrer Vergütung vorliegt. Dies bestimmt sich nach dem objektiven Wert der Leistung des Arbeitnehmers. Ausgangspunkt der Wertbestimmung sind dabei nach der Rechtsprechung des BAG regelmäßig die Tarifentgelte

48

I. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1.1.2015

des jeweiligen Wirtschaftszweigs oder – wenn die verkehrsübliche Vergütung geringer ist – das allgemeine Entgeltniveau im Wirtschaftsgebiet. Das Missverhältnis ist auffällig, wenn es einem Kundigen, ggf. nach Aufklärung des Sachverhalts, ohne Weiteres ins Auge springt. BAG, v. 17.10.2012 – 5 AZR 792/11, BAGE 143, 212 = ZIP 2013, 474, dazu EWiR 2013, 311 (Semioli/Neumaier); BAG, v. 18.4.2012 – 5 AZR 630/10, EzA BGB 2002 § 138 Nr. 6; BAG, v. 22.4.2009 – 5 AZR 436/08, BAGE 130, 338.

Dafür hat das BAG einen Richtwert entwickelt: Erreicht die Arbeitsvergü- 204 tung nicht einmal zwei Drittel eines in dem betreffenden Wirtschaftszweig üblicherweise gezahlten Tarifentgelts, liegt eine ganz erhebliche, ohne Weiteres ins Auge fallende und regelmäßig nicht hinnehmbare Abweichung vor, für die es einer spezifischen Rechtfertigung bedarf. BAG, v. 17.10.2012 – 5 AZR 792/11, BAGE 143, 212 = ZIP 2013, 474; BAG, v. 18.4.2012 – 5 AZR 630/10, EzA BGB 2002 § 138 Nr. 6; BAG, v. 22.4.2009 – 5 AZR 436/08, BAGE 130, 338.

Im Anwendungsbereich des § 22 Abs. 2, 4 MiLoG plädieren indes Teile der 205 Literatur für eine analoge Anwendung von § 24 Abs. 2 MiLoG mit der Folge, dass dort eine Ablösung der Rechtsprechung des BAG stattfindet und 75 % statt der vom BAG veranschlagten 66 % maßgeblich sein sollen. So Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 154 f.

Das erscheint aber nicht unbedingt überzeugend, da der Gesetzgeber inso- 206 weit ja gerade die Vorgaben des MiLoG nicht – auch nicht mittelbar – zur Anwendung bringen wollte, um den betroffenen Personenkreis nicht zur Arbeitsaufnahme statt Ausbildungsabschluss zu motivieren (§ 22 Abs. 2 MiLoG) bzw. eine Motivation zu dessen Einstellung durch Arbeitgeber zu schaffen (§ 22 Abs. 4 MiLoG). Eine Ablösung der Sittenwidrigkeitsrechtsprechung des BAG hat er daher nicht beabsichtigt. Sie wäre für Arbeitgeber „überraschend“ und damit im Rahmen des § 22 Abs. 4 MiLoG kontraproduktiv. Es dürfte daher an einer planwidrigen Regelungslücke, die Voraussetzung einer Analogie wäre, fehlen. c) Landestariftreuegesetze Soweit Landestariftreuegesetze – was nicht stets der Fall ist: europarechtlich 207 wirksam – vgl. den Überblick über den derzeitigen Verfahrensstand bei Schubert/Jerchel/Düwell, Rn. 250; Däubler, NZA 2014, 694 ff.; Forst, NJW 2014, 3755 ff., jeweils m. w. N.

Mindestlohnvorgaben machen, greift ebenfalls § 1 Abs. 3 MiLoG mit der Folge ein, dass sie nur dann verdrängt werden, wenn sie einen geringeren Mindestlohn als das MiLoG vorsehen. Bayreuther, NZA 2014, 865, 867.

49

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

10. Fazit 208 Das MiLoG enthält gerade für sanierungsbedürftige Unternehmen zahlreiche Einschränkungen und Haftungsfallen, die bei der Anwendung etablierter Lösungen im Vorhinein bedacht werden müssen. Zahlreiche Sanierungsinstrumente (Sanierungsvereinbarungen, Bündnisse für Arbeit, Besserungsscheine, etc.) bedürfen seit dem 1.1.2015 einer Anpassung und dürfen nicht unmodifiziert weiter verwendet werden. Bedauerlich ist, dass der Gesetzgeber Insolvenzsituationen und deren Spezifika in keiner Weise berücksichtigt hat. Dem kann (und muss) teilweise durch eine verfassungskonform beschränkende Auslegung Rechnung getragen werden. II. Reform des Anfechtungsrechts 209 Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) hat am 10.9.2014 „Eckpunkte für eine Reform des Anfechtungsrechts“ vorgelegt, die zwar als interne Diskussionsgrundlage gedacht waren, aber schnell öffentlich wurden. Vgl. dazu Bork, ZIP 2014, 1905 ff.; Mückl, GWR 2014, 427, 433.

210 Bereits der Koalitionsvertrag sah vor, dass das Insolvenzanfechtungsrecht „im Interesse der Planungssicherheit des Geschäftsverkehrs sowie des Vertrauens der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ausgezahlte Löhne“ auf den Prüfstand gestellt werden soll. Vgl. dazu bereits Mückl, 1. Aufl., Rn. 29 f. Praxistipp: Bork (ZIP 2014, 1905 f.) hat insoweit zu Recht darauf hingewiesen, dass eine hinreichende Rechtstatsachenforschung, die einen entsprechenden Bedarf belegt, bislang nicht erfolgt ist.

211 Ohne dass eine derartige Prüfung bislang erfolgt wäre, soll nach den Plänen des BMJV eine den nachstehenden Eckpunkten entsprechende Reform realisiert werden: 1. Reform der Vorsatzanfechtung 212 Angedacht ist zunächst eine Reform der Vorsatzanfechtung, die zuletzt Gegenstand heftiger Kritik war. Vgl. näher unter Rn. 459 ff.

213 Die Gerichte fühlen sich zwar von ihren Kritikern missverstanden. Das BMJV pflichtet den Kritikern aber bei, wenn es feststellt „Der subjektive Tatbestand der bisherigen Vorsatzanfechtung und die hierzu von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten zahlreichen Beweisregeln verursachen insbesondere bei der mittelständischen Wirtschaft, aber

50

II. Reform des Anfechtungsrechts auch bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von insolvenzbedrohten Unternehmen, erhebliche Rechtsunsicherheit. Zudem ist in einigen Fallgestaltungen der Gerechtigkeitsgehalt der Vorsatzanfechtung zweifelhaft. Die Reform soll diese Defizite beheben und insbesondere für mehr Rechtssicherheit sorgen.“

Die Lösung sieht das BMJV in der teilweisen Wiederbelebung eines im Jahr 214 2006 gescheiterten Entwurfs. Ablehnend Bork, ZIP 2014, 1905, 1906; zum damaligen Entwurf Huber, ZIP 2007, 501 ff.

a) Einführung einer Unlauterkeitsanfechtung An die Stelle der bisherigen Anfechtung wegen vorsätzlicher Benachteiligung 215 nach § 133 InsO soll eine Anfechtung wegen unlauterer Benachteiligung treten. aa) Teleologisches Ziel Zweck dieser Unlauterkeitsanfechtung soll es sein, ein sozial inadäquates und 216 deshalb zu missbilligendes Verhalten des Schuldners zu sanktionieren. bb) Regelungstechnik Dabei soll das Gesetz die Fälle einer unlauteren Benachteiligung abschließend 217 aufzählen und namentlich für die in der Praxis bedeutsame Frage, wann die Gewährung einer „Deckung“ (einer Sicherung oder Befriedigung für einen Insolvenzgläubiger) unlauter ist, klare Kriterien vorgeben. Ziel ist damit insbesondere die Schaffung eines weiteren Tatbestands der De- 218 ckungsanfechtung, der ähnlich dem bereits 2006 vorgeschlagenen Entwurf lauten dürfte, aber um Fallgruppen ergänzt werden soll. Kritisch zu dieser geplanten Gesetzgebungstechnik Bork, ZIP 2014, 1905, 1906. Praxistipp: Für Insolvenzverwalter (und die Gläubigermehrheit) ist das keine gute Nachricht. Denn die Erfahrungen aus anderen gesetzlichen Regelungen, die eine abschließende Fallgruppenbildung regeln, zeigen, dass schnell Umgehungskonstruktionen entwickelt werden, die dann – mangels Regelung in einer der als abschließend intendierten Fallgruppen – nicht der Unlauterkeitsanfechtung unterlägen, sofern man die Möglichkeit einer Analogie einmal unberücksichtigt lässt. Misslich wäre dies aus Insolvenzverwaltersicht insbesondere für Deckungen außerhalb des Drei-Monats-Zeitraums der §§ 130 f. InsO.

Neben der Unlauterkeit einer Deckung sollen Fälle der Unlauterkeitsanfech- 219 tung sein: x

entgeltliche Verträge mit nahestehenden Personen, durch die lnsolvenzgläubiger unmittelbar benachteiligt werden, sowie

51

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

x

sonstige Rechtshandlungen (also keine Deckungen), die der Schuldner mit dem Vorsatz vornimmt, seine Gläubiger zu benachteiligen (etwa Vermögensverschiebungen an Nichtgläubiger in der Krise). Insoweit soll es keine wesentlichen Abweichungen vom derzeitigen Rechtszustand geben.

In erster Linie soll es also um die Behandlung einer Deckungsanfechtung gehen. cc) Anforderungen an die Unlauterkeit einer Deckung 220 Die Unlauterkeit einer Deckung soll – so das Eckpunktepapier – zunächst voraussetzen, dass der Schuldner sie in Kenntnis seiner Zahlungsunfähigkeit gewährt. Dies soll unabhängig davon gelten, ob die Deckung kongruent oder inkongruent ist (ob also der Gläubiger die Leistung so, wie sie konkret erfolgt, beanspruchen kann oder nicht). Praxistipp: Dahinter steht die Überlegung, dass ein Schuldner, der die Insuffizienz seines Vermögens kennt, grundsätzlich nicht mehr weiterwirtschaften darf „wie bisher“, sondern Insolvenzantrag stellen muss.

221 Dass der Entwurf insoweit nicht mehr auf den Vorsatz des Schuldners abstellt, sondern seine „Kenntnis“ ausreichen lässt, ist insofern eine Verschärfung, als auf ein voluntatives Element verzichtet wird. Bork, ZIP 2014, 1905, 1906.

222 Gleichzeitig wird die Norm allerdings dadurch, dass es nur noch auf die Zahlungsunfähigkeit ankommen soll, entschärft. Denn damit werden bislang relevante andere Indizien für einen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz ausgeblendet. Bork, ZIP 2014, 1905, 1906. Praxistipp: Irrelevant wären dann insoweit x die Inkongruenz, x Vereinbarungen für den Insolvenzfall, x unmittelbare Gläubigerbenachteiligungen, x besonders gravierende Beeinträchtigungen, x anrüchige atypische Vertragsgestaltungen und x die drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 133 Abs. 1 Satz 2 InsO).

Beispiel: Hiervon ausgehend wäre es z. B. möglich, außerhalb des Drei-Monats-Zeitraums (§§ 130 f. InsO), Schulden durch die Hingabe der (wenigen) verbliebenen werthaltigen Gegenstände an Erfüllung statt zu begleichen. Denkbar wäre z. B.

52

II. Reform des Anfechtungsrechts

die Abtretung von werthaltigen Forderungen an Arbeitnehmer an Erfüllung statt. Vgl. zu einem ähnlichen Beispiel Bork, ZIP 2014, 1905, 1906.

dd) Ausnahmen: Ernsthafter Sanierungsversuch und bargeschäftsähnliche Handlung Eine in Kenntnis eigener Zahlungsunfähigkeit gewährte Deckung soll – so 223 das Eckpunktepapier weiter – nur dann unlauter sein, x

wenn sie nicht Bestandteil eines ernsthaften Sanierungsversuchs ist und

x

hierfür auch nicht unmittelbar eine gleichwertige Gegenleistung in das Vermögen des Schuldners gelangt, die zur Fortführung seines Unternehmens oder zur Sicherung seines Lebensbedarfs erforderlich ist.

Damit soll die höchstrichterliche Rechtsprechung zur bisherigen Vorsatzan- 224 fechtung, wonach im Falle ernsthafter Sanierungsbemühungen BGH, v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491 = ZVI 2014, 458, dazu EWiR 2014, 561 (Ries)

oder bei Zahlungen in bargeschäftsähnlicher Lage ein anfechtungsrechtlich unbedenklicher Wille indiziert ist, „kodifiziert und weiterentwickelt werden“. Praxistipp: Das im Eckpunktepapier enthaltene „und“ dürfte angesichts des Plans einer „Weiterentwicklung“ zwar nicht unbedingt als Redaktionsversehen zu qualifizieren und als „oder“ zu lesen sein. Da die Anfechtung aber letztlich erschwert werden soll, spricht dennoch einiges für ein Redaktionsversehen.

b) Darlegungs- und Beweislast Darlegungs- und ggf. beweispflichtig für alle nachfolgenden Merkmale einer 225 Unlauterkeitsanfechtung soll laut dem Eckpunktepapier aus folgenden Gründen der Insolvenzverwalter sein: x

Der Gläubiger kennt bei Gewährung der Deckung alle Unlauterkeitsmerkmale positiv. Praxistipp: Grob fahrlässige Unkenntnis genügt damit nicht.

x

Der Gläubiger muss wissen, dass der Schuldner im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung zahlungsunfähig ist.

x

Er muss außerdem wissen, dass der Schuldner seine eigene Zahlungsunfähigkeit kennt, etwa weil der Schuldner dies dem Gläubiger gegenüber eingeräumt hat.

53

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

x

Schließlich muss er wissen, dass die Deckung nicht Bestandteil eines ernsthaften Sanierungsversuchs ist, etwa weil ein Sanierungskonzept völlig fehlt oder die angestrebte Sanierung erkennbar aussichtslos ist, und dass für die gewährte Deckung auch nicht unmittelbar eine Gegenleistung, keine gleichwertige Gegenleistung oder keine zur Fortführung des Unternehmens erforderliche Gegenleistung in das Vermögen des Schuldners gelangt.

226 Dadurch soll ein auf Rückzahlung in Anspruch genommener Gläubiger gegenüber der bisherigen Vorsatzanfechtung beweisrechtlich erheblich besser gestellt werden. Praxistipp: Gerade der Umstand, dass selbst die Darlegungs- und Beweislast für das Nichtvorliegen eines der beiden Ausnahmefälle dem Insolvenzverwalter auferlegt werden soll, erscheint insofern nicht gerechtfertigt, als für die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast typischerweise gilt, dass derjenige den Ausnahmefall darlegen und beweisen muss, der sich auf ihn beruft. Das Nichtvorliegen darlegen und ggf. beweisen zu müssen, ist zudem ungleich schwieriger. Gesichtspunkte, welche die angestrebte Verteilung der Darlegungs- und Beweislast rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Völlig zu Recht ablehnend daher Bork, ZIP 2014, 1905, 1907.

227 Soll die Kenntnis des Gläubigers von der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners aus äußeren Umstanden abgeleitet werden, wird es hierfür – so das Eckpunktepapier weiter – „gewichtiger Beweisanzeichen“ bedürfen. 228 In der Begründung des Regelungsentwurfs soll insoweit klargestellt werden, dass „verkehrsübliche Zahlungserleichterungen, die Gläubiger ihrem Schuldner – etwa im Zusammenhang mit saisonalen oder witterungsbedingten Schwankungen – vorübergehend gewähren, für sich genommen im Regelfall kein solches gewichtiges Beweisanzeichen sein werden.“ Praxistipp: Das ist gegenüber der gegenwärtigen Rechtslage eine erhebliche Veränderung. Denn die Bitte um eine Ratenzahlung ist zumindest ein gewichtiges Zeichen für eine Zahlungseinstellung, die ihrerseits auf die Zahlungsunfähigkeit hindeutet (Bork, ZIP 2014, 1905, 1907). Spiegelbildlich geht es zudem um die Frage, ob – bei erfolgreicher Vereinbarung einer Ratenzahlung – die Zahlungsunfähigkeit wieder beseitigt wird (vgl. BGH, v. 6.12.2012 – IX ZR 3/12, ZIP 2013, 228 = ZVI 2013, 65, dazu EWiR 2013, 175 [Bremen]).

229 Die Kenntnis eines Arbeitnehmers von der Zahlungsunfähigkeit seines Arbeitgebers setzt nach der Rechtsprechung des BGH und des BAG zur bisherigen Vorsatzanfechtung einen Gesamtüberblick über die Zahlungs- und Liquiditätslage des schuldnerischen Unternehmens voraus. Vgl. zu dieser Rechtsprechung näher unten unter Rn. 405 ff.

54

II. Reform des Anfechtungsrechts

Diese arbeitnehmerfreundliche Rechtsprechung soll durch die Neuregelung 230 nicht berührt werden. In der Begründung des Regelungsentwurfs soll darüber hinaus – im Einklang mit der Rechtsprechung des BAG – vgl. zu dieser Rechtsprechung näher unten unter Rn. 405 ff.

klargestellt werden, dass der erforderliche Gesamtüberblick auch bei Arbeitnehmern in herausgehobenen Funktionen oder bei Arbeitnehmern, die im kaufmännischen Bereich oder in der Finanzbuchhaltung tätig sind, nicht per se unterstellt werden darf. c) Frist Die Frist für die Unlauterkeitsanfechtung von Deckungsgeschäften soll fünf 231 (statt bisher zehn) Jahre betragen. 2. Kodifizierung der Rechtsprechung des BAG zum Vorliegen eines Bargeschäfts bei verspäteten Lohnzahlungen des Arbeitgebers Bargeschäfte sind bereits nach der geltenden Gesetzeslage anfechtungsrecht- 232 lich privilegiert. Sie unterliegen nach § 142 InsO nur der Vorsatzanfechtung. Sie sollen nach den im Eckpunktepapier verlautbarten Plänen künftig noch 233 stärker privilegiert werden und auch von der Unlauterkeitsanfechtung ausgenommen sein, wenn sie zur Fortführung des Unternehmens erforderlich sind. Unter Übernahme des zuerst von Windel formulierten und vom BAG aufge- 234 griffenen Gedankens vgl. dazu unten unter Rn. 508,

sollen solche besonders privilegierten Bargeschäfte „insbesondere naheliegen bei Entgeltzahlungen eines insolventen Arbeitgebers, mit denen die Arbeitnehmer auch weiterhin an den Arbeitgeber gebunden werden sollen und damit die Fortführung des Betriebs ermöglicht werden soll“.

Deshalb soll die Bargeschäftsrechtsprechung des BAG kodifiziert werden, 235 nach der die Voraussetzungen des § 142 InsO vorliegen, wenn der Arbeitgeber in der Krise Arbeitsentgelt für vom Arbeitnehmer in den vorhergehenden drei Monaten erbrachte Arbeitsleistungen bezahlt. Vgl. zu dieser Rechtsprechung näher unten unter Rn. 478 ff.

Ziel dieser gesetzlichen Regelung soll es sein,

236

„die Rechtssicherheit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erhöhen und ihr Vertrauen darin zu stärken, dass sie Löhne, die sie im engen zeitlichen Zusammenhang mit der erbrachten Arbeitsleistung erhalten, auch behalten dürfen“.

Dass diese Begründung ausnahmslos trägt, ist indes zweifelhaft.

237

Vgl. unten unter Rn. 578 ff.

55

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

3. Weitere Klarstellungen/Änderungen: a) Anfechtung bei inkongruenter Deckung 238 Ergänzend sieht das Eckpunktepapier als „Klarstellung“ vor, „dass während der Krise durch Zwangsvollstreckung erlangte Deckungen der Inkongruenzanfechtung nicht unterliegen“.

Hintergrund hierfür soll sein, dass angeblich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die wegen rückständiger Lohnforderungen gegen ihren Arbeitgeber vollstrecken, ohne im Regelfall dessen Insuffizienz zu kennen, von der Inkongruenzanfechtung betroffen sind. Praxistipp: Diese Begründung trägt nicht, zumal die Vollstreckung gegen kriselnde Arbeitgeber kein Massenphänomen ist. Unter dem Deckmantel des Arbeitnehmerschutzes geht es hier um eine Bevorzugung der institutionellen Gläubiger, die sich selbst ihre Titel verschaffen und dann vollstrecken können, also um den Fiskus und die Sozialversicherungsträger (Bork, ZIP 2014, 1905, 1908). Auch insoweit legt das BMJV lediglich den bereits gescheiterten inhaltsgleichen Versuch aus dem Jahr 2006 wieder auf. Dies geschieht ganz offen, wenn es im Eckpunktepapier heißt: „Damit soll ein Regelungsvorschlag wieder aufgegriffen werden, der bereits im Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zum Pfändungsschutz der Altersvorsorge und zur Anpassung des Rechts der Insolvenzanfechtung (BT-Drucks. 16/886), seinerzeit aber nicht Gesetz wurde“.

239 Bei der Bewertung der Inkongruenz einer Deckung soll – so eine weitere Neuerung – künftig auf das zugrunde liegende Rechtsverhältnis abgestellt werden und nicht auf die Art und Weise ihrer Herbeiführung. Das ist ein klarer Widerspruch zum heutigen § 131 InsO („nicht in der Weise“), der im Eckpunktepapier nicht aufgeklärt wird. Praxistipp: Mit dem durch das ESUG u. a. verfolgten Ziel, die Zahl der Insolvenzeröffnungen zu erhöhen, dürfte dieser (ohnehin systemwidrige) Vorschlag ebenfalls unvereinbar sein (vgl. nur Bork, ZIP 2014, 1905, 1908).

b) Verzinsung 240 Als letzte Änderung, die wiederum als „Klarstellung“ bezeichnet wird, sieht das Eckpunktepapier vor, dass auf der Rechtsfolgenseite geregelt werden soll, „dass der Insolvenzverwalter den Anfechtungsanspruch geltend machen muss. Erst zu diesem Zeitpunkt wird künftig der Anspruch fällig sein und mithin eine Pflicht zur Verzinsung bestehen“.

241 Sinn dieser Neuregelung soll es sein, Anfechtungsgegner bei Geldschulden vor hohen Zinszahlungen zu bewahren, wenn der Insolvenzverwalter sich erst sehr spät entschließt, den Anfechtungsanspruch geltend zu machen.

56

III. Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit Zum Inhalt des Anfechtungsanspruchs nach geltendem Recht vgl. unten unter Rn. 609 ff.

Auch wenn dies vom Ansatz her nachvollziehbar erscheint, wäre es dann 242 sinnvoll, klarzustellen, welche Substantiierungserfordernisse insoweit bestehen. Darüber hinaus sollte erläutert werden, dass es dogmatisch dabei bleibt, dass die Insolvenzanfechtung kein Gestaltungsrecht ist – und erst recht keines, das der Insolvenzverwalter höchstpersönlich ausüben muss. Vgl. dazu Bork, ZIP 2014, 1905, 1908 f.

4. Folgeänderungen im Anfechtungsgesetz (AnfG) Im AnfG, das für die Anfechtung gläubigerbenachteiligender Rechtshand- 243 lungen eines Schuldners außerhalb des Insolvenzverfahrens gilt, sollen entsprechende Änderungen vorgenommen werden. Damit soll sichergestellt werden, dass die Anforderungen an die Anfechtbarkeit innerhalb und außerhalb eines Insolvenzverfahrens auch künftig übereinstimmen. 5. Fazit Dass die Umsetzung der Überlegungen des Eckpunktepapiers zum Schutz 244 von Arbeitnehmern beiträgt, ist sehr zweifelhaft. Denn gegenüber dem durch die aktuelle Rechtsprechung des BAG gewährleisteten Schutz, vgl. zu dieser Rechtsprechung näher unten unter Rn. 381 ff,

bringt das Eckpunktepapier keine Verbesserungen. Die einzige „Verbesserung“ wäre die Umqualifizierung der durch (Drohung mit einer) Zwangsvollstreckung erlangten Deckungen in kongruente Deckungen. Davon profitiert aber wohl am ehesten der Staat selbst und verhindert damit – im Widerspruch zur Zielsetzung des ESUG – eher die Eröffnung von Insolvenzverfahren und fördert die Ablehnung der Eröffnung mangels Masse. Für die Mehrzahl der Arbeitnehmer dürfte dies „Steine“ statt „Brot“ bedeuten. Dass dadurch die Rechtssicherheit gestärkt wird, wird man nicht ernsthaft annehmen können. III. Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit Nach Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG,

245

BAG, v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068,

können für dieselbe Beschäftigtengruppe unterschiedliche Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften gleichzeitig zur Anwendung gelangen. Dieses bislang unter dem Begriff „Tarifpluralität“ bekannte Phänomen soll auf der Grundlage eines vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im November 2014 vorgelegten Entwurfs eines Gesetze zur Tarifeinheit weitestgehend beseitigt werden. Vgl. dazu auch Mückl/Koddenbrock, GWR 2015, 6 ff.

Es wird dort – negativ – als „Tarifkollision“ bezeichnet. 57

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

246 Hintergrund hierfür ist nach der Bewertung der Bundesregierung, dass die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie durch Tarifkollisionen beeinträchtigt wird. Denn Tarifkollisionen bergen – so der Gesetzentwurf – die Gefahr, dass „die Koalitionen der ihnen durch Art. 9 Absatz 3 des Grundgesetzes überantworteten und im allgemeinen Interesse liegenden Aufgabe der Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens nicht mehr gerecht werden können“.

247 Sichern will der Gesetzgeber die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie durch eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip. Der Grundsatz der Tarifeinheit greift nach dem Gesetzentwurf als Kollisionsregel zwar nominell „nur subsidiär“ ein. Der Gesetzgeber beschränkt sich nach eigenem Dafürhalten darauf, Tarifkollisionen nach dem Grundsatz der Tarifeinheit aufzulösen, wenn die Gewerkschaften die zwischen ihnen bestehenden Interessenkonflikte autonom nicht zu einem Ausgleich bringen können. Den Belangen von Minderheitsgewerkschaften soll durch flankierende Verfahrensregelungen Rechnung getragen werden. 248 Das klingt harmlos, dient aber gerade der Einschränkung der Koalitionsfreiheit. Wie Preis, http://www.arbrb.de/media/TarifeinheitVortrag7-11-2014.pdf,

zutreffend sofort nach Veröffentlichung des Gesetzentwurfs erkannt hat, folgt auf das Tarifautonomiestärkungsgesetz, das seinerseits erst durch ein Versagen der Gewerkschaften ins Leben gerufen wurde, nun nach der gesetzgeberischen Zielsetzung ein „Tarifautonomieschwächungsgesetz“ – das Gesetz zur Tarifeinheit. Das damit verfolgte Ziel (letztlich eine Reduktion der Arbeitskämpfe) wird dieses Gesetz allerdings nicht erreichen. Im Gegenteil: Der aktuelle Entwurf wird Arbeitskämpfe sogar eher fördern. Praxistipp: Das ist gerade für in der Krise befindliche Unternehmen äußerst bedauerlich. Denn nicht nur Sanierungstarifverträge werden dadurch – über das MiLoG hinaus – erschwert. Hinzu kommt, dass insbesondere für die zahlreichen von Transport- und Logistikdienstleistungen abhängigen Unternehmen die Streiks bei Bahn und Lufthansa, etc. weitergehen werden. Der damit verbundene volkswirtschaftliche Schaden ist enorm.

1. Verfassungswidrigkeit 249 Zunächst einmal ist bisher allerdings nicht einmal ausreichend dargelegt, dass das Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG im Hinblick auf die Pluralität von Koalitionen im Betrieb einer gesetzlichen Ausgestaltung bedarf. Ebenso der Ausschuss Arbeitsrecht des Deutschen Anwaltvereins abrufbar unter https://www.juris.de/jportal/portal/page/ homerl.psml?nid=jnachr-JUNA141102930&cmsuri= %2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht.jsp

58

III. Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit

Die mit dem Gesetzesentwurf bezweckte Einschränkung der Tarifpluralität 250 beinhaltet einen weitreichenden Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG. Milder und effektiver dürfte eine Schlichtung – ggf. begrenzt auf wichtige Bereiche der Daseinsvorsorge – sein. Denn sie begrenzt – im Unterschied zum Tarifeinheitsgesetz – „nur“ den Arbeitskampf. Darauf kommt es der Praxis zunächst einmal vor allem an. Eine Schlichtung ist damit – im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips – im Vergleich zu einem Eingriff in das Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG, der flächendeckend in allen Tarifbereichen greifen soll – die mildere Maßnahme. Insofern stellt sich – wie der DAV zu Recht hervorgehoben hat – „mit allem Nachdruck die im Schrifttum bereits vielfach angesprochene Frage der Verfassungswidrigkeit des geplanten Gesetzes“.

Auf zwei weitere schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken hat der DAV 251 Ausschuss Arbeitsrecht des Deutschen Anwaltvereins abrufbar unter https://www.juris.de/jportal/portal/page/ homerl.psml?nid=jnachr-JUNA141102930&cmsuri= %2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht.jsp

darüber hinaus zu Recht hingewiesen: § 4a Abs. 2 TVG knüpft zur Auflösung einer Tarifkollision an den Geltungs- 252 bereich des Tarifvertrags an. Damit kann ein Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft jeden anderen Tarifvertrag einer Minderheitsgewerkschaft verdrängen. Auf dessen denkbaren Regelungsgegenstand soll es scheinbar nicht ankommen. Verdrängt wären damit aber auch im Minderheitstarifvertrag geregelte Sachfragen, die mit der Mehrheitsgewerkschaft gerade noch nicht tarifvertraglich geregelt sind. Wieso eine derartige „überschießende“ Wirkung erforderlich sein soll, leuchtet nicht ein. Die Regelung dürfte daher insoweit mit Art. 9 Abs. 3 GG nicht vereinbar sein bzw. jedenfalls verfassungskonform einschränkend auszulegen. Nicht klar geregelt ist im Übrigen, ob § 4a TVG auch Fälle der sog. gewill- 253 kürten Tarifpluralität/Tarifkollision erfassen soll. In derartigen Fällen schließt der Arbeitgeber bewusst und ohne gewerkschaftlichen Druck Tarifverträge unterschiedlichen Inhalts für ein und dieselbe Arbeitnehmergruppe mit verschiedenen Gewerkschaften ab. Einer Auflösung solcher Kollisionen bedarf es nicht. Unternehmen brauchen insoweit keinen Schutz vor sich selbst. Eine „Zwangsauflösung“ dieser bewussten „Kollision“ wäre kaum nachvollziehbar. Insofern sollte klargestellt werden, dass § 4a Abs. 2 TVG jedenfalls dann nicht einschlägig ist, wenn es zu solchen gewillkürten Tarifpluralitäten ohne vorausgegangen Arbeitskampf kommt. Andernfalls verstößt die Neuregelung jedenfalls unter diesem Gesichtspunkt gegen Art. 9 Abs. 3 GG und müsste notfalls verfassungskonform einschränkend ausgelegt werden. Unabhängig von seiner verfassungsrechtlichen Bewertung erscheint der Ent- 254 wurf allerdings auch im Übrigen nicht geeignet, seine Ziele zu erreichen.

59

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

2. Mechanismus der Kollisionsauflösung 255 Herzstück des Entwurfs ist die Einführung eines neues § 4a TVG, dessen Abs. 2 und Abs. 3 (letzterer „nur“ für Betriebsstrukturen und Luftfahrtbetriebe) den Kollisionsauflösungsmechanismus enthalten und wie folgt lauten soll: „(2) Der Arbeitgeber kann nach § 3 an mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften gebunden sein. Soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden (kollidierende Tarifverträge), sind im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrages im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat. Als Betriebe gelten auch ein Betrieb nach § 1 Abs. 1 Satz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes und ein durch Tarifvertrag nach § 3 Abs. 1 Nummer 1 bis Nummer 3 des Betriebsverfassungsgesetzes errichteter Betrieb. Abweichend von Satz 2 ist der Zeitpunkt des Entstehens des Betriebes maßgeblich, wenn der Betrieb nach Abschluss des letzten kollidierenden Tarifvertrags entstanden ist. (3) Für Rechtsnormen eines Tarifvertrags über eine betriebsverfassungsrechtliche Frage nach § 3 Abs. 1 und § 117 Abs. 2 des Betriebsverfassungsgesetzes gilt Abs. 2 Satz 2 nur, wenn diese betriebsverfassungsrechtliche Frage bereits durch Tarifvertrag einer anderen Gewerkschaft geregelt ist.“

256 Mit diesem Mechanismus will der Gesetzgeber eine „widerspruchsfreie Ordnung der Arbeitsbeziehungen im Betrieb“ befördern. Es soll „die Kohärenz des im Betrieb geltenden Entgeltsystems“ gesichert werden. Denn die Verteilungsfunktion der Tarifautonomie werde – so die Entwurfsbegründung weiter – gestört, wenn die konkurrierenden Tarifabschlüsse bloßer Ausdruck der jeweiligen Schlüsselpositionen der unterschiedlichen Beschäftigtengruppen im Betriebsablauf sind. Tarifkollisionen liefen dem Ziel einer „innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit“ – auch verstanden als Leistungsgerechtigkeit – strukturell zuwider. Praxistipp: Die für die betriebliche Praxis wichtige Frage, ob dieser Mechanismus auch dann eingreift, wenn der Mehrheitstarifvertrag im Kollisionszeitpunkt „lediglich“ nach § 3 Abs. 3 TVG fort gilt, beantwortet der Entwurf nicht.

3. Subsidiarität 257 Dennoch will der Gesetzgeber nur subsidiär eingreifen und weist in seinem Entwurf deshalb auf folgende – vorrangige – tarifautonome Lösungsmöglichkeiten des Kollisionsproblems hin: x

Abstimmung der jeweiligen Zuständigkeiten zwischen den Gewerkschaften,

x

Bildung von Tarifgemeinschaften,

x

Abschluss inhaltsgleicher Tarifverträge,

60

III. Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit

x

Anschlusstarifverträge und

x

verbandsinterne Konfliktlösungsverfahren.

Das Gesetz selbst soll erst dann eingreifen, wenn es den Tarifparteien nicht 258 gelingt, sich auf der Grundlage dieser Optionen autonom zu verständigen. In diesem Fall soll ein betriebsbezogenes Mehrheitsprinzip gelten. 4. Betrieb als Anknüpfungspunkt? Verfehlt erscheint indes bereits die Anknüpfung an den – betriebsverfas- 259 sungsrechtlich verstandenen – Betrieb als Regelungsobjekt – und zwar sowohl aus Gewerkschafts- als auch aus Unternehmenssicht. Denn einerseits sind es gerade Konzernverflechtungen mit Tochtergesellschaften ohne Tarifbindung, welche nach der Bewertung der Gewerkschaften die Tarifeinheit gefährden. Zum anderen bringt das angestrebte Modell für Unternehmen mit – wie sehr häufig – mehreren Betrieben keine Befriedung. Das Problem wird lediglich von der betrieblichen auf die Unternehmensebene verlagert: statt Tarifpluralität im Betrieb eben Tarifpluralität im Unternehmen. Und dies mit einem ganz erheblichen juristischen Aufwand. Denn schließlich können die gewerkschaftlichen Mehrheitsverhältnisse in unterschiedlichen Betrieben unterschiedlich ausfallen. Auf Unternehmensebene müssen dann wiederum mehrere Tarifverträge angewendet werden, wobei zunächst ermittelt werden muss, welche Gewerkschaft eigentlich die Mehrheitsgewerkschaft ist. Darin dürfte – auch arbeitskampfrechtlich betrachtet – der größte Schwachpunkt des Entwurfs liegen. Praxistipp: Als Ausweg erscheint unternehmensseitig allenfalls eine zielgerichtete Neustrukturierung der Betriebe, die allerdings – soweit betriebsverfassungsrechtliche Rechte des Betriebsrats zu wahren sind (was bei Gestaltungslösungen nach § 3 BetrVG nicht der Fall sein muss) – mit einem erheblichen Verhandlungsaufwand verbunden sind. Sozialplanpflichtig dürften derartige Strukturierungen – da typischerweise keine ausgleichspflichtigen Nachteile entstehen – allerdings im Ergebnis eher selten sein.

5. Zielverfehlung: Anreizbildung für Streiks statt Befriedungsfunktion Nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG sollen im Betrieb nur die Rechtsnormen des 260 Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar sein, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrages im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat. Praxistipp: Das bedeutet nichts anderes, als dass alle Gewerkschaften bis zu einem Tarifabschluss verhandeln und auch streiken dürfen. Denn „abgerechnet“ wird zum Schluss. Schließlich kann erst dann, wenn feststeht, ob die Tarifverträge kollidieren, festgestellt werden, ob § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG überhaupt eingreift.

61

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

261 Für die betriebliche Praxis bedeutet das, dass es bis zu diesem Zeitpunkt – ganz entgegen der Intention des Gesetzentwurfs – einen verschärften Gewerkschaftswettbewerb geben wird. Denn konkurrierende Gewerkschaften müssen schließlich zu diesem Zeitpunkt – am Ende – die Mehrheit der Arbeitnehmer hinter sich haben. 262 Das bedeutet: Das Gesetz verhindert keinen Streik, sondern befördert ihn letztlich. Praxistipp: Dies gilt umso mehr, als es im einstweiligen Verfügungsverfahren kaum möglich sein dürfte, kurzfristig die Mehrheit zu ermitteln. Und Arbeitskampfstreitigkeiten werden regelmäßig im einstweiligen Verfügungsverfahren geführt. Keine Hilfe dürfte in diesem Zusammenhang auch die beabsichtigte Änderung von § 58 ArbGG sein, der um einen neuen Abs. 3 ergänzt werden soll. Danach soll insbesondere über die Zahl der Mitglieder oder das Vertretensein einer Gewerkschaft in einem Betrieb Beweis durch Vorlage öffentlicher Urkunden angetreten werden können. Praktisch soll dies nach der Entwurfsbegründung geschehen, indem betroffene Gewerkschaften einem Notar Mitgliederlisten für den maßgeblichen Betrieb vorlegen, der dann eine entsprechende Urkunde zu erstellen hat. Auch dies dürfte in der Praxis aber sehr schwierig werden: Denn dass diese Urkunde irgendeinen erheblichen Beweiswert hat, würde voraussetzen, dass der Notar weiß, dass darin genannte Personen (noch) Arbeitnehmer des betreffenden Betriebs sind und dass auf die arbeitsrechtlich zutreffende Organisationseinheit (Betrieb) abgestellt worden ist.

263 Das nimmt der Gesetzgeber scheinbar sehenden Auges in Kauf, wenn es in der Entwurfsbegründung heißt, dass durch das Mehrheitsprinzip die Gewerkschaften in Wettbewerb um Mitglieder treten müssen. Welcher konkurrierende Tarifvertrag künftig gelten soll, werde – so die Entwurfsbegründung – „letztlich dem Koalitionswettbewerb anvertraut“. Praxistipp: Letztlich werden damit alle Gewerkschaften geradezu animiert, zu streiken (und das zu tun, was z. B. die GdL im Jahr 2014 massiv getan hat). Denn wie gewinnen Gewerkschaften die Mehrheit? Indem sie massive Streikforderungen stellen und Stärke demonstrieren, um sie durchzusetzen. Da Streikforderungen nach der Rechtsprechung des BAG nicht der gerichtlichen Inhaltskontrolle unterliegen (BAG, v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, ZIP 2007, 1768 (m. Anm. Kock, S. 1775), dazu EWiR 2007, 657 (Weller)), dürften der deutschen Wirtschaft bei Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes – ggf. bis zur Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit – vermehrt erhebliche gewerkschaftliche Forderungen und Arbeitskämpfe bevorstehen.

62

III. Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit

6. Praktische Folgen eines Eingreifens der Kollisionsregel a) Nach dem Streik ist vor dem Streik Selbst wenn die Mehrheitsgewerkschaft sich auf der Grundlage von § 4a 264 Abs. 2 Satz 2 TVG durchgesetzt haben sollte, wird dies ebenfalls nicht zur Befriedung führen. Größere Chancen darauf bestehen nur dann, wenn sie auch die aus Sicht der Arbeitnehmer „besseren“ Regelungen durchgesetzt hat. War dies nicht der Fall, muss berücksichtigt werden, dass der arbeitskampfweise durchgesetzte Tarifvertrag nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nur bis zur nächsten Tarifkollision gilt. Die unterlegene Minderheitsgewerkschaft wird also den nächsten Arbeitskampf organisieren, um ihrerseits in den Genuss des Eingreifens von § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG zu gelangen. Das gilt umso mehr, als der Entwurf vorsieht, dass für die Mitglieder der zu- 265 nächst unterlegenen Gewerkschaft ein tarifloser Zustand eintritt, wenn die unterlegene Gewerkschaft nicht die „Nachzeichnung“ eines inhaltsgleichen Tarifvertrags beim Arbeitgeber bzw. Arbeitgeberverband beantragt. Nach § 4a Abs. 4 TVG besteht dementsprechend ein Anspruch auf einen Anschlusstarifvertrag. Wird dieser unterzeichnet, greift für die unterlegene Gewerkschaft auch die Friedenspflicht ein. Eine selbstbewusste und schlagkräftige Spartengewerkschaft wird dies im Zweifel aber nicht tun. Praxistipp: Losgelöst davon deutet das angeordnete Eingreifen der Friedenspflicht lediglich bei Nachzeichnung darauf hin, dass die Friedenspflicht dann nicht gilt, wenn nicht nachgezeichnet wird. Für die unterlegene Gewerkschaft würde daraus folgen: Nach dem Streik ist vor dem Streik.

Soweit die Entwurfsbegründung einen Arbeitskampf für unverhältnismäßig 266 hält, wenn ein kollidierender Minderheitstarifvertrag erstreikt werden soll, weil – so die Begründung – ein Arbeitskampf nicht der Sicherung der Tarifautonomie diene, wenn ihm eine ordnende Funktion offensichtlich „nicht mehr“ zukomme, widerspricht diese Bewertung dem klaren Wortlaut von § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG. Denn ein präventives Arbeitskampfverbot ist ausgeschlossen, wenn im Zeitpunkt des Streikaufrufs noch gar nicht feststeht, ob die zum Streik aufrufende Gewerkschaft im Zeitpunkt des zu erstreikenden Tarifabschlusses die Mehrheit der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer haben wird. „Abgerechnet“ wird schließlich immer erst im Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrages. Dass die Rechtsprechung – bevor ein Tarifvertrag verhandelt ist – präventiv 267 ein Arbeitskampfverbot verhängt, erscheint – ausgehend von der eher gegenteiligen Tendenz des BAG, die gewerkschaftliche Betätigung zu fördern – z. B. durch das Zulassen von Flashmobs etc., vgl. BAG, v. 22.9.2009 – 1 AZR 972/08, BB 2010, 379, dazu EWiR 2010, 51 (Fuhlrott/Fabritius)

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

sehr unwahrscheinlich. Ein derartiges Verbot dürfte auch durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen. b) Risiko Bezugnahmeklausel 268 Übersehen zu haben scheint der Gesetzgeber im Übrigen, dass ihm die in der betrieblichen Praxis stark verbreiteten arbeitsvertraglichen Bezugnahmen auf tarifliche Regelungen weitgehend einen Strich durch die Rechnung machen könnten. Denn der durch einen tariflosen Zustand bewirkte Leidensdruck dürfte dann gering sein, wenn die Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag zur (Fort-)Geltung einer vorteilhaften tariflichen Regelung führt. Praxistipp: Gewerkschaften werden vor diesem Hintergrund zunehmend Sonderleistungen fordern, die an die Gewerkschaftszugehörigkeit anknüpfen und – anders als sog. qualifizierte Differenzierungs- oder Spannungssicherungsklauseln (vgl. zur Diskussion hierum statt vieler Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169) – nach der Rechtsprechung des BAG zulässig sind (BAG, v. 21.8.2013 – 4 AZR 861/11, NZA-RR 2014, 201). Die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf eine tarifliche Regelung ersetzt die erforderliche Gewerkschaftszugehörigkeit insoweit nämlich nicht.

7. Fazit 269 Der Gesetzgeber erweist der betrieblichen Praxis mit dem Entwurf eines Tarifeinheitsgesetzes einen „Bärendienst“. Er wäre gut beraten, von dem Entwurf Abstand zu nehmen und für Streiks – insbesondere solche mit erheblicher Breitenwirkung – u. a. ein obligatorisches Schlichtungsverfahren vorzusehen. IV. Neue Gestaltungsmöglichkeiten für die Beschäftigung älterer Mitarbeiter? 270 Der deutlicher spürbar werdende Fachkräftemangel, aber auch der Erwerb speziellen Know-hows oder das Bestehen wichtiger Kontakte älterer Mitarbeiter machen deren Beschäftigung über die gesetzliche Regelaltersgrenze hinaus für viele Unternehmen attraktiv, obwohl arbeitsvertraglich eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei Erreichen der Regelaltersgrenze vorgesehen ist. Praxistipp: Das kann gerade für in der Krise befindliche Unternehmen wichtig sein, die es besonders schwer haben, neue Mitarbeiter für sich zu begeistern.

271 Da der Beschäftigungsbedarf über diese Grenze hinaus in der Regel allerdings nur vorübergehend besteht, ist in der betrieblichen Praxis vor allen Dingen der Ruf nach flexiblen Befristungslösungen laut geworden.

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IV. Neue Gestaltungsmöglichkeiten für die Beschäftigung älterer Mitarbeiter?

1. Unbefristetes Arbeitsverhältnis häufig nicht zweckmäßig Hintergrund hierfür ist, dass die Fortführung des Arbeitsverhältnisses als 272 unbefristetes Arbeitsverhältnis aus Sicht des Unternehmens und des Arbeitnehmers häufig nicht zweckmäßig ist: Der Arbeitnehmer möchte seinen endgültigen Eintritt in den Ruhestand zeitlich planen können. Auf der anderen Seite findet aber das Kündigungsschutzgesetz auch auf Arbeitsverhältnisse mit Arbeitnehmern jenseits der gesetzlichen Regelaltersgrenze uneingeschränkt Anwendung. Das kann für Arbeitgeber insbesondere bei sich einstellenden altersbedingten Minderleistungen problematisch sein. 2. Hinausschieben der Beendigung durch Aufhebungsvertrag erfordert Sachgrund Ein Hinausschieben des zeitlichen Endes des Arbeitsverhältnisses durch einen 273 Aufhebungsvertrag, der unter Verlängerung der „Kündigungsfrist“ eine befristete Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses vorsieht, bedarf nach ständiger Rechtsprechung des BAG eines sachlichen Grundes im Sinne des TzBfG. Vgl. zur Abgrenzung von Aufhebungsvertrag und befristetem Vertrag BAG, v. 28.11.2007 – 6 AZR 1108/06, BAGE 125, 70.

3. Befristung als Lösungsweg In der Praxis wird deshalb typischerweise ein befristetes Arbeitsverhältnis 274 nach § 14 TzBfG vorgezogen, wobei eine sachgrundlose Befristung in Folge des Verbots der Zuvor-Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber (§ 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG) ausscheidet. Sicherheit bot bislang lediglich eine Befristung mit Sachgrund, z. B. aufgrund eines lediglich vorübergehenden Bedarfs an der Arbeitsleistung (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 TzBfG). 4. Neue Gestaltungsmöglichkeiten seit dem 1.7.2014? Mit dem seit dem 1.7.2014 geltenden neuen § 41 Satz 3 SGB VI will der Ge- 275 setzgeber nun den Wünschen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern Rechnung tragen, auch nach Erreichen der Regelaltersgrenze einvernehmlich das Arbeitsverhältnis für einen von vornherein bestimmten Zeitraum rechtssicher fortsetzen zu können. § 41 SGB VI wurde deshalb folgender neuer Satz 3 hinzugefügt: „Sieht eine Vereinbarung die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Erreichen der Regelaltersgrenze vor, können die Arbeitsvertragsparteien durch Vereinbarung während des Arbeitsverhältnisses den Beendigungszeitpunkt, ggf. auch mehrfach, hinausschieben“.

5. Hält die Neuregelung, was sie verspricht? Leider ist die Neuregelung „mit heißer Nadel gestrickt“ und lässt wichtige 276 Fragen offen.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa Vgl. zur Neuregelung auch Poguntke, NZA 2014, 1372 ff.; Kösel/Reitz, NZA 2014, 1366 ff.; Bauer, NZA 2014, 889 ff.; Bader, NZA 2014, 749 ff.

a) Tarifdispositivität? 277 Keine ausdrückliche Aussage trifft sie z. B. dazu, ob sie tarifdispositiv ist. Vgl. Bader, NZA 2014, 749.

b) Bloße Verlängerung oder Inhaltsänderung? 278 Unklar ist darüber hinaus, ob § 41 Satz 3 SGB VI ausschließlich eine Verlängerung des Arbeitsverhältnisses gestattet. Vgl. zu dieser Diskussion Poguntke, NZA 2014, 1372, 1375 f.

Inhaltliche Änderungen wären dann nicht zulässig. Praxistipp: Dagegen spricht aber, dass der Gesetzgeber im neuen § 41 Satz 3 SGB VI das Wort „Arbeitsverhältnis“ anstelle des Begriffs „Arbeitsvertrag“ benutzt. Das spricht für eine großzügigere Änderungsmöglichkeit. Denn das Arbeitsverhältnis bleibt schließlich auch dann bestehen, wenn sich seine Inhalte ändern. Deshalb spricht viel dafür, dass zeitgleich mit dem Hinausschieben des Beendigungszeitpunktes geänderte Vertragsbedingungen (z. B. Arbeitszeit, Arbeitsort und/oder Vergütung) vereinbart werden können. Andernfalls dürfte die Neuregelung in der betrieblichen Praxis weitestgehend ihren Zweck verfehlen. Denn Arbeitnehmer, die über das normale Renteneintrittsalter hinaus weiterarbeiten wollen, möchten häufig etwas weniger arbeiten und sind deshalb auch mit verringertem Entgelt einverstanden. Zudem sollen häufig neue bzw. andere Sonderaufgaben übernommen werden.

c) Höchstgrenze für Befristungen? 279 Ebenfalls nicht vorgesehen ist eine Höchstgrenze für die, ggf. mehrfache, Befristung, obwohl sie dem Gesetzgeber nach der Gesetzesbegründung vorgeschwebt zu haben scheint. Sie wird aus europarechtlichen Gründen gefordert von Bauer, NZA 2014, 889, 890 und Bader, NZA 2014, 749, 752; a. A. Kösel/Reitz, NZA 2014, 1366, 1368 f.

d) Schriftform erforderlich? 280 Darüber hinaus ist unklar, ob die beabsichtigte Verlängerung einem Schriftformgebot (§ 14 Abs. 4 TzBfG) unterliegt.

66

V. Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen

e) Europarechtskonformität? Die wichtigste Frage ist allerdings: Hat der Gesetzgeber sein Ziel erreicht? 281 Können Arbeitsverhältnisse mit Mitarbeitern, die die Regelaltersgrenze erreicht haben, beliebig oft befristet verlängert werden? Daran bestehen leider Zweifel. Denn es sprechen gute Gründe dafür, dass die 282 Neuregelung gegen europarechtliche Vorgaben, namentlich gegen Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG verstößt, weil § 41 Satz 3 SGB VI ausdrücklich ohne jegliche Einschränkung oder Begrenzung beliebig viele befristete Beschäftigungen jenseits der Regelaltersgrenze ermöglicht. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Regelung gegen das Verbot der Altersdiskriminierung verstößt, was nach der Rechtsprechung des EuGH stets zur Unanwendbarkeit einer derartigen Regelung führt. Eine europarechtskonforme Auslegung dürfte mangels konkreter Kriterien für eine Begrenzung der Norm ebenfalls ausscheiden. Vgl. dazu Bauer, NZA 2014, 889, 890 und Bader, NZA 2014, 749, 752; a. A. Kösel/Reitz, NZA 2014, 1366, 1368 f.

6. Fazit: Bisherige Gestaltungsvarianten bleiben wichtig Unternehmen sollten daher allenfalls unter Berücksichtigung dieser Risiken 283 von der Neuregelung Gebrauch machen. x

Rechtssicher dürfte, wenn ein Arbeitsverhältnis in Rede steht, weiterhin lediglich eine Befristung mit einem gemäß § 14 TzBfG anerkannten Sachgrund sein.

x

Alternativ kommt eine freie Mitarbeit in Betracht, die dann allerdings auch als solche gelebt werden muss, so dass keine „Scheinselbstständigkeit“ vorliegt.

x

Eine Arbeitnehmerüberlassung scheidet als Gestaltungsmöglichkeit demgegenüber in der Regel ebenfalls aus.

Mit Blick auf das Bedürfnis vieler Unternehmen, ältere Mitarbeiter befristet 284 weiter zu beschäftigen, bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber die Neuregelung europarechtskonform konkretisiert. Das wäre sowohl für Unternehmen als auch für ältere Mitarbeiter ein echter Gewinn. V. Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen Nach derzeitigem Recht ist das Insolvenzverfahren grundsätzlich rechtsträ- 285 gerbezogen. Dies ist jedoch problematisch, wenn sich ein Unternehmen im Konzernverbund befindet und so wirtschaftlich zusammengehörende Teile rechtlich getrennt sind.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

286 Vor diesem Hintergrund beabsichtigt die Bundesregierung mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen (KInsErlG-E), die Abwicklung entsprechender Insolvenzen zu erleichtern. Hierzu plant sie eine Koordinationslösung. Nicht eingeführt werden soll eine Konsolidierung durch ein einheitliches Konzerninsolvenzverfahren. Vielmehr sollen alle Insolvenzverfahren innerhalb eines Konzerns einheitlich bearbeitet und zwischen den beteiligten Gerichten sowie Organen des Insolvenzverfahrens eine Zusammenarbeit gefördert werden. BT-Drucks. 18/407, S. 16 ff.

287 Das Gesetz soll ein Jahr nach seiner Verkündung in Kraft treten, Art. 9 KInsErlG-E. 1. Anwendungsbereich und arbeitsrechtliche Folgen 288 Arbeitsrechtliche Folgen ergeben sich aus den geplanten Änderungen vor allem mit Blick auf den Konzernbetriebsrat sowie den Konzernsprecherausschuss und im Kündigungsrecht. 289 Regelungsgegenstand ist die Unternehmensgruppe, die in § 3e InsO-E definiert wird. Gemäß dieser geplanten Norm besteht sie aus x

rechtlich selbstständigen Unternehmen,

x

die den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen im Inland haben und

x

entweder durch die Möglichkeit der Ausübung beherrschenden Einflusses oder die Zusammenfassung unter einheitlicher Leitung verbunden sind.

290 Soweit diese Voraussetzungen vorliegen, sollen die Besonderheiten des Rechts der Konzerninsolvenz gelten. Sie sehen im Wesentlichen Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Insolvenzgerichts sowie des vorläufigen und endgültigen Insolvenzverwalters und zur Verfahrenskoordination vor. Ihr Zweck ist es unter anderem, die wirtschaftliche Einheit, die dem Konzern zugrunde liegt, zu erhalten und Zerschlagungsverluste zu verhindern. vgl. BT-Drucks. 18/407, S. 16.

2. Zuständiges Insolvenzgericht 291 Vor dem Hintergrund dieser Zwecksetzung soll zunächst ein Gruppengerichtsstand eingeführt werden, bei dem eine Konzentration von Insolvenzverfahren über gruppenangehörige Schuldner stattfindet. Das Verfahren ist grundsätzlich wie folgt gestaltet: 292 Soweit ein gruppenangehöriger Schuldner einen entsprechenden Antrag stellt, erklärt sich das Insolvenzgericht auch für die Gruppen-Folgeverfahren, d. h. die Insolvenzverfahren über das Vermögen anderer gruppenangehöriger Schuldner, für zuständig.

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V. Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen

Voraussetzung hierfür ist, dass hinsichtlich des antragstellenden Schuldners 293 ein zulässiger Eröffnungsantrag vorliegt und der Schuldner für die Unternehmensgruppe nicht offensichtlich von untergeordneter Bedeutung ist. Praxistipp: Eine untergeordnete Bedeutung ist nach der gesetzlichen Regelung in der Regel dann nicht anzunehmen, wenn bei dem Schuldner im vorangegangenen abgeschlossenen Geschäftsjahr die Bilanzsumme mehr als 10 % der zusammengefassten Bilanzsumme aller gruppenangehörigen Unternehmen betrug, die Umsatzerlöse mehr als 10 % der zusammengefassten Umsatzerlöse aller gruppenangehörigen Unternehmen betrugen und der Schuldner durchschnittlich mehr als 10 % der Arbeitnehmer aller gruppenangehörigen Unternehmen beschäftigte.

Stellen mehrere Schuldner einen derartigen Antrag, gilt das Prioritätsprinzip. 294 Es ist der erste Antrag maßgeblich. Ist nicht feststellbar, welcher Antrag zuerst erfolgt ist, ist der Antrag des Schuldners maßgeblich, der die größte Bilanzsumme besitzt (§ 3a InsO-E). Praxistipp: Das entsprechende Antragsrecht geht nach Bestellung auf den Insolvenzverwalter und den starken vorläufigen Verwalter über (§ 3a Abs. 3 InsO-E). Bei Eigenverwaltung verbleibt es hingegen bei dem eigenverwaltenden Schuldner (§ 270d InsO-E).

Inhaltlich sind nach § 13a InsO-E dort im Einzelnen geregelte Angaben zu 295 machen, welche die Entscheidung über den Antrag ermöglichen sollen. Soweit auf der Grundlage dieser Angaben Zweifel daran bestehen, dass die 296 durch einen Gruppengerichtsstand bewirkte Verfahrenskonzentration im gemeinsamen Interesse der Gläubiger liegt, kann das Gericht den entsprechenden Antrag nach § 3a Abs. 2 InsO-E ablehnen. Maßgeblich ist insoweit, ob durch die Koordination Vorteile für einzelne Massen entstehen, ohne Nachteile für andere Massen zu begründen. Soweit dies zweifelhaft ist, liegt der entsprechende Ablehnungsgrund vor. BT-Drucks. 18/407, S. 27.

Hintergrund hierfür ist der vorstehend erläuterte Zweck des Konzerninsol- 297 venzverfahrens, der auch den Hintergrund dafür bildet, dass der GruppenFolgegerichtsstand unabhängig vom Schicksal des Verfahrens über den Öffnungsantrag des Schuldners, der den Gruppengerichtsstand mit seinem Antrag bewirkt hatte, für weitere Verfahren bestehen bleibt, solange am Gruppengerichtsstand noch ein Gruppenfolgeverfahren anhängig ist (§ 3b InsO-E). Praxistipp: Insoweit bleibt auch derselbe Richter zuständig (§ 3c Abs. 1 InsO-E).

Soweit ein Gruppen-Folgeverfahren bei dem an sich zuständigen Insolvenz- 298 gericht beantragt wird (§ 3c Abs. 2 InsO-E), soll durch eine Verweisungsregelung die Verweisung an das Gericht des Gruppengerichtsstands ermöglicht werden (§ 3d InsO-E). Dies soll auch in anderen Fällen gelten. Das angeru69

A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

fene Gericht kann dann auf Antrag das Eröffnungsverfahren an das Gericht des Gruppengerichtsstands verweisen. Praxistipp: Antragsberechtigt ist insoweit zunächst der Schuldner. Sobald eine Bestellung erfolgt, ist allerdings nur noch der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter bzw. der endgültige Insolvenzverwalter zuständig. Bei einer Eigenverwaltung bleibt die Zuständigkeit bei dem eigenverwaltenden Schuldner (§ 270d InsO-E). Soweit der Schuldner einen entsprechenden Antrag unverzüglich stellt, nachdem er von einem zulässigen Gläubigerantrag Kenntnis erlangt, hat das Gericht seinem Antrag zu entsprechen und muss das Verfahren an das Gericht des Gruppengerichtsstands verweisen.

3. (Vorläufiger) Insolvenzverwalter 299 Mit Blick auf die Bestellung von Insolvenzverwaltern im Rahmen einer Konzerninsolvenz treffen die Insolvenzgerichte nach dem Entwurf Abstimmungspflichten: 300 Sie müssen sich sowohl bei der Bestellung von vorläufigen Verwaltern (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 56b InsO-E) als auch bei der Bestellung von Insolvenzverwaltern (§ 56b InsO-E) darüber abstimmen, ob im Interesse der Gläubiger lediglich eine Person zum Insolvenzverwalter zu bestellen ist. 301 Hintergrund für diese Abstimmungsnotwendigkeit ist das Ziel, sicherzustellen, dass insoweit die gebotene Unabhängigkeit gewährleistet werden kann. Vermieden werden sollen darüber hinaus mögliche Interessenkonflikte durch die Bestellung von Sonderinsolvenzverwaltern (also Verwaltern, die nur einzelne Angelegenheiten für die Masse verwalten). BT-Drucks. 18/407, S. 30.

302 Soweit dies aus den vorgenannten Gründen erforderlich wird, kann das Insolvenzgericht auch von dem Vorschlag eines vorläufigen Gläubigerausschusses abweichen, sofern der vorläufige Gläubigerausschuss eines anderen gruppenangehörigen Unternehmens eine andere Person als Insolvenzverwalter vorschlägt. Der vorläufige Gläubigerausschuss, dessen Vorschlag abgelehnt werden soll, ist allerdings vorher anzuhören. Praxistipp: Für die Bestellung eines Sonderinsolvenzverwalters soll es bei den allgemeinen Regeln bleiben. Obwohl der Gesetzentwurf dies nicht explizit vorsieht, wird man davon ausgehen müssen, dass diese Grundsätze auch dann Anwendung finden, wenn die Verfahren bei dem Gericht des Gruppengerichtsstands anhängig sind. Indirekt lässt sich dies aus § 3d Abs. 3 InsO-E folgern, in dem die Entlassung eines vorläufigen Insolvenzverwalters zur Vorbereitung einer Bestellung eines einzigen Insolvenzverwalters für die gruppenangehörigen Schuldner im Fall einer Verweisung an das Gericht des Gruppengerichtsstands geregelt ist.

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V. Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen Vgl. Zwanziger, Arbeitsrecht der Insolvenzordnung, Einführung Rn. 336f.

4. Verfahrenskoordination Die Verfahrenskoordination regelt der Entwurf wie folgt:

303

a) Informationspflichten In §§ 269a f. InsO-E sowie § 260d InsO-E sieht der Entwurf zunächst um- 304 fassende wechselseitige Informationspflichten x

der Insolvenzverwalter der gruppenangehörigen Unternehmen, soweit dadurch nicht die Interessen der Beteiligten des Verfahrens verletzt werden,

x

des eigenverwaltenden Schuldners und

x

der Insolvenzgerichte, soweit mehrere mit den Verfahren befasst sind,

vor. b) Bildung eines Gruppen-Gläubigerausschusses Eingeführt werden soll zudem die Bildung eines Gruppen-Gläubigeraus- 305 schusses (§ 269c InsO-E). Ein derartiger Gruppen-Gläubigerausschuss kann auf Antrag eines Gläubigerausschusses oder eines vorläufigen Gläubigerausschusses eines der gruppenangehörigen Schuldner von dem Gericht des Gruppen-Gerichtsstands eingesetzt werden. Die anderen Gläubigerausschüsse oder vorläufigen Gläubigerausschüsse sind allerdings vorher anzuhören. Dem Gruppen-Gläubigerausschuss, der eingesetzt wird, gehört je ein Mitglied der anderen Gläubigerausschüsse bzw. vorläufigen Gläubigerausschüsse an. c) Koordinationsverfahren Das für Gruppen-Folgeverfahren zuständige Gericht kann als Koordinations- 306 gericht ein sog. Koordinationsverfahren einleiten. aa) Antragsberechtigung Antragsberechtigt ist zunächst jeder gruppenangehörige Schuldner.

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Ab der Bestellung ist allerdings nur noch der „starke“ vorläufige Insolvenz- 308 verwalter bzw. der Insolvenzverwalter antragsberechtigt. Im Fall der Eigenverwaltung ist jedoch auch der eigenverwaltende Schuldner (§ 270d InsO-E) antragsberechtigt. Auf der Grundlage eines entsprechenden einschlägigen Beschlusses ist dar- 309 über hinaus nach § 269d InsO-E jeder Gläubigerausschuss bzw. vorläufige Gläubigerausschuss antragsberechtigt.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

bb) Verfahrensablauf 310 Im Fall eines entsprechenden Antrags läuft das weitere Verfahren wie folgt ab: 311 Das Koordinationsgericht bestellt – soweit ein Gruppen-Gläubigerausschuss eingesetzt ist, nach dessen Anhörung – ein sog. Koordinationsverwalter (§ 269e InsO-E). 312 Dieser Koordinationsverwalter hat – soweit dies im Interesse der Gläubiger liegt – für eine abgestimmte Abwicklung der Verfahren über die Vermögen der gruppenangehörigen Schuldner zu sorgen. Die Insolvenzverwalter und vorläufigen Insolvenzverwalter sind insoweit zur Zusammenarbeit mit ihm verpflichtet und haben ihm die für die Ausübung seiner Tätigkeit notwendigen Informationen mitzuteilen (§ 269f Abs. 1 und 2 InsO-E). Praxistipp: Für die Rechtsstellung des Koordinationsverwalters hinsichtlich Aufsicht und Haftung gelten im Wesentlichen die Regeln für Insolvenzverwalter entsprechend (vgl. § 269f Abs. 3 InsO-E).

313 Der Koordinationsverwalter bewirkt seine Koordinationsaufgabe vor allem mit dem Instrument des sog. Koordinationsplans, den der Koordinationsverwalter vorlegt und in den jeweiligen Gläubigerversammlungen erläutert bzw. erläutern lässt (§ 269f Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO-E). Praxistipp: Soweit ein Koordinationsverwalter nicht bestimmt worden ist, können auch die Insolvenzverwalter der gruppenangehörigen Schuldner gemeinsam einen Koordinationsplan vorlegen (§ 269h Abs. 1 Satz 1 InsO-E). Ein derartiger Koordinationsplan bedarf der Zustimmung eines Gruppen-Gläubigerausschusses (§ 269h Abs. 1 Satz 2 InsO-E).

314 Ziel eines Koordinationsplans ist die bestmögliche Verwertung im Konzernzusammenhang. Diese kann durch eine Sanierung oder eine koordinierte Verwertung von Teilen des Konzerns geschehen. Der Koordinationsplan gibt dabei nicht die Gestaltung im Einzelnen vor sondern enthält nur eine Darstellung der einzuleitenden Maßnahmen. Praxistipp: Die Gestaltung bleibt den einzelnen Insolvenzverfahren vorbehalten. BT-Drucks. 18/407, S. 39 f.

315 Es können allerdings alle Maßnahmen beschrieben werden, die für eine abgestimmte Abwicklung der Verfahren sachdienlich sind.

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V. Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen

Beispiel: Dies gilt z. B. für Maßnahmen zur Wiederherstellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der gruppenangehörigen Schuldner oder der Unternehmensgruppe selbst. Ebenfalls vorgesehen werden können Maßnahmen zur Beilegung gruppeninterner Streitigkeiten und zu vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Insolvenzverwaltern (§ 269h Abs. 2 InsO-E). Das Koordinationsgericht prüft den Plan im Anschluss. Es weist ihn von 316 Amts wegen zurück, wenn die Vorschriften über das Recht zur Vorlage bzw. den Inhalt des Plans oder über die verfahrensmäßige Behandlung nicht beachtet worden sind und die Vorlegenden den Mangel entweder gar nicht oder jedenfalls nicht innerhalb einer angemessenen Frist beheben können (§ 269h Abs. 1 Satz 3 InsO-E). Praxistipp: Anders als beim Insolvenzplan werden Formalien und inhaltliche Wirksamkeit also im Koordinationsverfahren nicht getrennt.

An § 231 Abs. 1 Satz 2 InsO-E angelehnt soll die Entscheidung allerdings 317 innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Zudem ist der inhaltliche Prüfungsmaßstab begrenzt: Mit Blick darauf, dass der Plan nur einen darstellenden Teil enthält, darf das 318 Koordinationsgericht nicht prüfen, ob der Plan die Aussicht hat, als Grundlage für die Einzelverfahren zu dienen oder wirtschaftliche sinnvoll ist. BT-Drucks. 18/407, S. 39 f.

cc) Rechtsschutz gegen gerichtliche Ablehnung Gegen eine ablehnende Entscheidung des Koordinationsgerichts, die im 319 Entwurf etwas missverständlich als Ablehnung der Bestätigung bezeichnet wird, steht ausschließlich den Vorlegenden die sofortige Beschwerde zu. An einem entsprechenden Beschwerdeverfahren sind alle Vorlegenden zu beteiligen (§ 269h Abs. 3 InsO-E). dd) Verfahrensablauf bei gerichtlicher Bestätigung Soweit das Koordinationsgericht den Plan nicht zurückweist, ist er in den 320 einzelnen Insolvenzverfahren entweder vom Insolvenzverwalter oder dem Koordinationsverwalter bzw. in dessen Auftrag zu erläutern. Dies muss entweder im Gerichtstermin oder in einem vom Insolvenzgericht alsbald gesondert anzusetzenden Termin geschehen. Praxistipp: Will der Insolvenzverwalter vom Koordinationsplan abweichen, hat er dort die Gründe dafür darzulegen.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

321 Auf Beschluss der Gläubigerversammlung ist der Koordinationsplan einem vom Insolvenzverwalter auszuarbeitenden Insolvenzplan zugrunde zu legen (§ 269i InsO-E). 5. Arbeitsrechtliche Folgen 322 Arbeitsrechtlich bringt diese neue Regelung vor allem mit Blick auf den Konzernbetriebsrat sowie den Konzernsprecherausschuss aber ggf. auch im Kündigungsrecht Folgen mit sich. a) Konzernbetriebsrat 323 Die Bildung eines Konzernbetriebsrats nach § 54 Abs. 1 Satz 1 BetrVG setzt nach ständiger Rechtsprechung des BAG das Vorliegen eines Unterordnungskonzerns i. S. d. § 18 Abs. 1 AktG voraus. BAG, v. 23.8.2006 – 7 ABR 51/05, AP BetrVG 1972 § 54 Nr. 12.

324 Konsequenz der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens bzw. der Einsetzung eines vorläufigen „starken“ Insolvenzverwalters ist nach der Rechtsprechung des BGH zur Konkursordnung, BGH, v. 14.12.1987 – I ZR 170/87, NJW 1988, 1326,

an der die bislang herrschende Meinung auch für die InsO festhält, Spindler/Stilz/Veil, AktG, § 305 Rn. 10, dort Fn. 23; Altmeppen, in: MünchKomm-AktG, 3. Aufl., § 308 Rn. 103, 122; Hüffer, AktG, § 297 Rn. 22; Krieger, in: MünchHdb. AG, § 70 Rn. 201 jeweils m. w. N.,

eine Beendigung des Konzernverbunds. Zu Recht kritisch dazu Beck, MwStR 2014, 359, 364 ff.

325 Hiervon ausgehend entfällt mit Insolvenzeröffnung auch der Konzernbetriebsrat. Vgl. allgemein zum Entfall des Konzernbetriebsrats der Konzernvoraussetzungen BAG, v. 23.8.2006 – 7 ABR 51/05, AP BetrVG 1972 § 54 Nr. 12; einschränkend will Zwanziger, Arbeitsrecht der InsO, Rn. 144, dies wohl nur für eine Insolvenz des herrschenden Unternehmens annehmen.

326 Dies soll nach Teilen der Literatur aber bei Inkrafttreten des KInsErlG dann nicht mehr gelten, wenn für mehrere Konzernunternehmen eine (starker vorläufiger) Verwalter bestellt wird. In diesem Fall sei es geboten, auch die Arbeitnehmerinteressen weiter konzernbezogen zu vertreten. Durch die einheitliche Person des Verwalters sei auch der notwendige Beherrschungsbezug weiter gewährleistet. Zwanziger, Arbeitsrecht der InsO, Rn. 144a.

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V. Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen

Gleiches soll gelten, wenn ein Koordinationsverwalter mit der Erstellung eines 327 Koordinationsplans beauftragt werde. Dies setze zwar die Bestellung unterschiedlicher Verwalter voraus. Der Konzernbetriebsrat bleibe aber nach dem Rechtsgedanken des § 218 Abs. 3 InsO zu dem alleinigen Zweck bestehen, beratend an der Aufstellung des Koordinationsplans mitzuwirken. Zwanziger, Arbeitsrecht der InsO, Rn. 144b. Praxistipp: Für Konzernbetriebsvereinbarungen soll insoweit § 120 InsO mit der Maßgabe gelten, dass sie nur gegenüber den Gesamt- bzw. Einzelbetriebsräten gekündigt werden können (vgl. Zwanziger, Arbeitsrecht der InsO, Rn. 144c).

b) Sprecherausschuss Die gerade zu Konzernbetriebsrat und Konzernbetriebsvereinbarungen wie- 328 dergegebenen Grundsätze sollen für Konzernsprecherausschüsse (§§ 21 ff. SprAuG) und die von ihnen getroffenen Vereinbarungen (§ 28 SprAuG) entsprechend gelten. Zwanziger, Arbeitsrecht der InsO, Rn. 144d.

c) Kündigungsrecht Kündigungsrechtlich führt der Wegfall des Konzernverbunds dazu, dass sich 329 Arbeitnehmer nicht länger auf eine – ohnehin nur äußerst selten betriebsbedingte Kündigungen unter besonderen Umständen ausschließende – Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in anderen Konzernunternehmen berufen können. Vgl. zu den strengen Anforderungen hieran HWK/Quecke, KSchG, Rn. 278.

Etwas anderes soll nach Teilen der Literatur – allerdings nur im Rahmen der 330 vom BAG für einen konzernweiten Beschäftigungsschutz entwickelten strengen Vorgaben – mit Blick auf die Zielsetzung des KInsErlG dann gelten, wenn ein (vorläufiger „starker“ oder „halb-starker“, für Personalthemen zuständiger) Verwalter für mehrere Konzernunternehmen bestellt wird. Zwanziger, Arbeitsrecht der InsO, Rn. 252p.

Wird allerdings „nur“ ein Koordinationsverwalter bestellt, soll auch nach dieser 331 Literaturansicht eine unternehmensübergreifende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit, die kündigungshindernd wirkt, ausscheiden, weil der Koordinationsverwalter im Koordinationsplan lediglich unverbindliche Vorgaben machen kann. Erst dann, wenn in Umsetzung eines entsprechenden Koordinationsplans Insolvenzpläne anderer Unternehmen die Übernahme von Personal vorsehen, soll dies auch kündigungsrechtlich erheblich sein. Zwanziger, Arbeitsrecht der InsO, Rn. 252p.

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A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa

VI. Sozialversicherungsrechengrößen 2015 332 Das Bundeskabinett hatte bereits am 15.10.2014 die Verordnung über die Sozialversicherungsrechengrößen 2015 beschlossen. 333 Mit der Verordnung über die Sozialversicherungsrechengrößen 2015 werden die maßgeblichen Rechengrößen der Sozialversicherung gemäß der Einkommensentwicklung im vergangenen Jahr (2013) turnusgemäß angepasst. Die Werte werden – wie jedes Jahr – mittels Verordnung festgelegt. Die den Sozialversicherungsrechengrößen 2015 zugrundeliegende Einkommensentwicklung im Jahr 2013 betrug im Bundesgebiet 2,03 Prozent, in den alten Bundesländern 1,99 Prozent und in den neuen Bundesländern 2,19 Prozent. Bei der Ermittlung der jeweiligen Einkommensentwicklung wird auf die Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer ohne Personen in Arbeitsgelegenheiten mit Entschädigungen für Mehraufwendungen („EinEuro-Jobs“) abgestellt. 334 Die Bezugsgröße, die für viele Werte in der Sozialversicherung Bedeutung hat (unter anderem für die Festsetzung der Mindestbeitragsbemessungsgrundlagen für freiwillige Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung und für die Beitragsberechnung von versicherungspflichtigen Selbständigen in der gesetzlichen Rentenversicherung), erhöht sich auf EUR 2.835 pro Monat (2014: EUR 2.765 pro Monat). Die Bezugsgröße (Ost) steigt auf EUR 2.415 pro Monat (2014: EUR 2.345 pro Monat). 335 Die Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung steigt auf EUR 6.050 pro Monat (2014: EUR 5.950 pro Monat) und die Beitragsbemessungsgrenze (Ost) auf EUR 5.200 pro Monat (2014: EUR 5.000 pro Monat). 336 Die bundesweit einheitliche Versicherungspflichtgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung (Jahresarbeitsentgeltgrenze) steigt auf EUR 54.900 (2014: EUR 53.550). Die ebenfalls bundesweit einheitliche Beitragsbemessungsgrenze für das Jahr 2015 in der gesetzlichen Krankenversicherung beträgt EUR 49.500 jährlich (2014: EUR 48.600 ) bzw. EUR 4.125 monatlich (2014: EUR 4.050). 337 Rechengrößen der Sozialversicherung 2015: West

Ost

Monat

Jahr

Monat

Jahr

Beitragsbemessungsgrenze: allgemeine Rentenversicherung

6.050 €

72.600 €

5.200 €

62.400 €

Beitragsbemessungsgrenze: knappschaftliche Rentenversicherung

7.450 €

89.400 €

6.350 €

76.200 €

Beitragsbemessungsgrenze: Arbeitslosenversicherung

6.050 €

72.600 €

5.200 €

62.400 €

76

VI. Sozialversicherungsrechengrößen 2015 West

Ost

Monat

Jahr

Monat

Jahr

Versicherungspflichtgrenze: Kranken- u. Pflegeversicherung

4.575 €

54.900 €

4.575 €

54.900 €

Beitragsbemessungsgrenze: Krankenu. Pflegeversicherung

4.125 €

49.500 €

4.125 €

49.500 €

Bezugsgröße in der Sozialversicherung

2.835 €*)

34.020 €*)

2.415 €

28.980 €

vorläufiges Durchschnittsentgelt/ Jahr in der Rentenversicherung

34.999 €

*) In der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung gilt dieser Wert bundeseinheitlich.

77

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung des Insolvenzverwalters Kurzinhalt: Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen (Rn. 338 ff.); Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen (Rn. 375 ff.); Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit (Rn. 617 ff.); Aktuelles zur Arbeitsvertragsgestaltung (Rn. 685 ff.); Pflicht zur Insolvenzsicherung (Rn. 740 ff.); Besonderheiten bei Leiharbeitnehmern (Rn. 794 ff.); Besonderheiten der Verbraucherinsolvenz – Zahlung des pfändbaren Teils des Arbeitsentgelts an Treuhänder (Rn. 816 ff.); Urlaubsrecht (Rn. 834 ff.); Betriebliche Altersversorgung (Rn. 859 ff.)

I. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen Die Qualifikation von Vergütungsansprüchen als Masseverbindlichkeiten 338 i. S. d. § 55 InsO ist u. a. für die Frage der Betriebsfortführung wichtig. Arbeitnehmer machen ihre fortgesetzte Arbeitsleistung nämlich typischerweise u. a. davon abhängig, ob und in welchem Umfang sie (vollumfänglich) vergütet wird. 1. Kein Zurückbehaltungsrecht bei Altmasseverbindlichkeiten Sanierungen können zumeist nur dann gelingen, wenn die Arbeitnehmer in- 339 sofern daran mitwirken, als sie weiterhin arbeiten und damit nicht nur ein funktionierendes Unternehmen „am Leben“ halten, sondern auch zur Anreicherung der Masse beitragen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn ihre Vergütungsansprüche als Masseverbindlichkeiten zu qualifizieren sind, sodass sie grundsätzlich vollumfänglich ausbezahlt werden müssen. Ist die Masse unzulänglich, gefährdet dies nicht nur die Motivation zur Weiterarbeit. Ggf. können Arbeitnehmer in diesem Fall auch zu Recht ihre Arbeitsleistung zurückhalten. Unter welchen Umständen dies möglich ist, hat das BAG zuletzt in seinem Urteil vom 8.5.2014 – 6 AZR 246/12, ZIP 2014, 1498

klargestellt. a) Sachverhalt Im entschiedenen Fall hatte der Insolvenzverwalter den Kläger, einen ehema- 340 ligen Arbeitnehmer der insolventen S-GmbH, gleichzeitig mit dem Ausspruch einer Änderungskündigung vom 28.10.2009 aufgefordert, unverzüglich Arbeitsleistungen zu geänderten Bedingungen zu erbringen. Dies hatte der Kläger abgelehnt und sich – unter Hinweis darauf, dass seit dem 1.3.2009 keine Vergütung mehr gezahlt worden sei – auf ein Zurückbehaltungsrecht berufen. Daneben wies er darauf hin, dass die ihm erteilte Arbeitsanweisung nicht von seinem Arbeitsvertrag gedeckt sei. Der Kläger vertrat die Auffas-

79

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

sung, bei seinen Vergütungsansprüchen für den Zeitraum ab November 2009 handele es sich um Neumasseverbindlichkeiten, weshalb ihm ein Zurückbehaltungsrecht zustehe. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. b) Wesentliche Überlegungen des BAG aa) Keine Neumasseverbindlichkeit durch bloße Arbeitsaufforderung 341 Das BAG wies die Revision als unbegründet zurück. Der Kläger habe keinen im Rang einer Neumasseverbindlichkeit i. S. v. § 209 InsO bestehenden Anspruch auf Entgelt für den Zeitraum ab November 2009. Für die Entstehung von Neumasseverbindlichkeiten i. S. v. § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO reiche es insbesondere nicht aus, dass der Insolvenzverwalter den Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung auffordert. bb) Grundsatz: Zurückbehaltungsrecht des Arbeitnehmers 342 Dabei stellt das BAG zunächst noch einmal bestätigend klar, dass ein Arbeitnehmer zwar das Zurückbehaltungsrecht an seiner Arbeitsleistung nach § 273 Abs. 1 BGB ausüben könne, wenn der Arbeitgeber den fälligen Vergütungsanspruch nicht erfüllt. Er sei nicht mehr nach § 614 BGB zur Vorleistung verpflichtet, sondern müsse erst dann wieder seine Arbeit leisten, wenn der Arbeitgeber das rückständige Entgelt zahlt. Solange der Arbeitnehmer sein Zurückbehaltungsrecht wirksam ausübe, ende der Annahmeverzug des Arbeitgebers gemäß § 298 BGB nicht. cc) Ausnahme bei Masseunzulänglichkeit 343 Dies gilt nach ständiger Rechtsprechung des BAG aber in der Insolvenz, d. h. gegenüber dem Insolvenzverwalter, der in die Stellung des Arbeitgebers eingerückt ist, im Fall der Masseunzulänglichkeit nicht uneingeschränkt, sondern nur dann und insoweit, wie die Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts auf Neumasseverbindlichkeiten gestützt wird. 344 Die rückständigen Vergütungsansprüche des Klägers seien indes – vom Kläger unbeanstandet – als Altmasseverbindlichkeiten i. S. v. § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO abgewickelt worden. Altmasseverbindlichkeiten begründeten – so das BAG – aber kein Zurückbehaltungsrecht i. S. v. § 273 Abs. 1 BGB. Denn diese Vorschrift setze einen wirksamen, mit der Klage erzwingbaren und fälligen Gegenanspruch voraus. § 210 InsO verbiete jedoch die Zwangsvollstreckung wegen einer Altmasseverbindlichkeit. Zwar hätte der Kläger die Möglichkeit gehabt, die Altmasseverbindlichkeiten durch Klage nach § 256 Abs. 1 ZPO gerichtlich feststellen zu lassen. Dies reiche aber nicht aus, um ein Zurückbehaltungsrecht zu begründen. Denn das Insolvenzverfahren sei vom Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedung beherrscht. Wenn dem Arbeitnehmer als Altmassegläubiger aber mit dem Zurückbehaltungsrecht ein besonderes Zwangsmittel zur Durchsetzung der vom Insolvenzverwalter nicht

80

I. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen

erfüllten Altmasseverbindlichkeiten zur Verfügung stünde, stehe dies im Widerspruch zum Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung. Die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts sei daher ausgeschlossen. dd) Kein Zurückbehaltungsrecht bei Verstoß des Insolvenzverwalters gegen die Grenzen seines Direktionsrechts Dies gelte – so das BAG weiter – im entschiedenen Fall selbst dann, wenn 345 man zu Gunsten des Klägers annähme, dass er sein Zurückbehaltungsrecht auch auf einen Verstoß gegen das Direktionsrecht des Beklagten gestützt hätte. Denn auch dann wären seine Ansprüche keine Neumasseverbindlichkeiten, da der Beklagte die Arbeitsleistung nicht zur Masse in Anspruch genommen habe. Eine Privilegierung von Vergütungsansprüchen durch ihre Qualifikation als Neumasseverbindlichkeiten sei aber regelmäßig nur dann gerechtfertigt, wenn der Arbeitnehmer durch tatsächliche Arbeitsleistung zur Anreicherung der Masse beitrage. Dass der Insolvenzverwalter den bisher freigestellten Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung auffordere, sei insoweit nicht ausreichend. Neumasseverbindlichkeiten würden vielmehr grundsätzlich nur dann begründet, wenn der Arbeitnehmer der Aufforderung nachkommt und so die Gegenleistung zur Masse gelangt. Nur in diesem Fall seien die „darauf beruhenden Ansprüche aus dem Dauerschuldverhältnis“, d. h. auch das Entgelt für die sogenannten „unproduktiven“ Ausfallzeiten wie Feiertage und krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, als Teil des Synallagmas Neumasseverbindlichkeiten. c) Folgen für die Insolvenzpraxis Insolvenzverwalter gefährden die Masse daher – weiterhin – nicht durch eine 346 bloße Aufforderung zur Arbeitsleistung. Vielmehr müssen Arbeitnehmer und ihre Berater im Fall einer Masseunzulänglichkeit genau prüfen, auf welche Ansprüche sie die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts stützen. Aus Sicht der Sanierungspraxis ist diese Bestätigung der zur Urlaubsabgeltung entwickelten Rechtsprechung des BAG, vgl. bereits zuvor BAG, v. 21.11.2006 – 9 AZR 97/06, ZIP 2007, 834 = NZA 2007, 696, dazu EWiR 2008, 87 (Henkel),

zu begrüßen, trägt sie doch dazu bei, dass die Arbeitnehmer „bei der Stange bleiben“, die Masse anreichern und weiterhin zum Gelingen der Sanierung beitragen. 2. Nachrang von Entgeltansprüchen eines Gesellschafters Insolvenzanträge werden in der Praxis erfahrungsgemäß häufig zu spät ge- 347 stellt. Hintergrund hierfür ist oft u. a., dass zu lange daran geglaubt wird, dass eine Sanierung außerhalb eines Insolvenzverfahrens gelingt. Gefährlich ist das nicht nur für Geschäftsführer, die sich in diesem Fall ggf. wegen Insolvenzverschleppung strafbar machen (§ 15a InsO). Gefährlich ist dies vor 81

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

allem auch für die Gesellschafter. Denn veranlasst der Gesellschafter den Geschäftsführer zu einer Verzögerung des Insolvenzantrags entgegen § 15a InsO, kommt neben einer Haftung nach § 826 BGB auch eine Haftung nach § 830 Abs. 2 BGB wegen Anstiftung oder Beihilfe in Betracht. K. Schmidt, JZ 1978, 661, 666; Staudinger/Oechsler, BGB, § 826 Rn. 361.

348 Die Haftung aus § 830 Abs. 2 BGB soll nach Teilen der Literatur nicht nur bei strafrechtlichen Beteiligungsformen, sondern auch dann eingreifen, wenn der Gesellschafter vorsätzlich an der fahrlässigen Insolvenzverschleppung des Geschäftsführers teilnimmt. K. Schmidt, JZ 1978, 661, 666.

349 Dies dürfte aber der strafrechtlich anknüpfenden Dogmatik des § 830 BGB widersprechen. Staudinger/Oechsler, BGB § 826 Rn. 361.

350 Losgelöst davon ist ein derartiges Verhalten wirtschaftlich insbesondere dann gefährlich, wenn der Gesellschafter zugleich Arbeitnehmer der insolventen Gesellschaft ist. Dies hat das BAG in seinem Urteil v. 27.3.2014 – 6 AZR 204/12, ZIP 2014, 927

deutlich gemacht. Denn setzt ein Arbeitnehmer, der zugleich Gesellschafter des Unternehmens seiner Arbeitgeberin ist, erhebliche Ansprüche auf Arbeitsentgelt über einen längeren Zeitraum nicht durch, stundet er diese Forderungen. Die Stundung ist nach der Bewertung des BAG eine Rechtshandlung, die einem Gesellschafterdarlehen wirtschaftlich entspricht. Die Forderungen sind deshalb im Insolvenzfall nachrangig i. S. v. § 39 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 InsO. a) Sachverhalt 351 Im entschiedenen Fall war der Kläger bis zum 30.9.2009 Arbeitnehmer der A-GmbH, an deren Stammkapital er zu einem Drittel beteiligt war. Er forderte mit seiner im Dezember 2009 erhobenen Klage von der A-GmbH ausstehendes Arbeitsentgelt für die Zeit vom 1.1.2006 bis zum 30.9.2009. Grund und Höhe dieser Forderung waren letztlich unstreitig. Am 2.6.2010 wurde über das Vermögen der A-GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet. Das Insolvenzgericht forderte nicht besonders zur Anmeldung der Vergütungsansprüche des Klägers zur Insolvenztabelle auf. Der Kläger forderte dennoch anstelle seiner bisher erstrebten Leistungen die Feststellung seiner Forderung zur Insolvenztabelle. Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab. b) Bewertung des BAG: konkludente Stundung 352 Die Revision hatte ebenfalls keinen Erfolg. Die Ansprüche des Klägers seien – so das BAG – zwar auf der Grundlage von § 611 Abs. 1 BGB entstanden. 82

I. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen

Eine Feststellung zur Insolvenztabelle scheide aber wegen ihres Nachrangs aus. Denn bei den Ansprüchen handele es sich zwar insolvenzrechtlich nicht um Forderungen auf Rückgewähr eines Gesellschafterdarlehens i. S. v. § 39 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 1 InsO, weil es an einer ausdrücklichen oder konkludenten Darlehensvereinbarung fehle. Die Ansprüche seien aber gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 InsO als Forderungen aus Rechtshandlungen einzuordnen, die einem Gesellschafterdarlehen wirtschaftlich entsprechen. Weil der Kläger seine erheblichen rückständigen Vergütungsansprüche aus 353 den Jahren 2006 bis 2009 erst im Dezember 2009 eingeklagt habe, habe er sie konkludent gestundet. Denn ein „normaler“ Arbeitnehmer hätte in derselben Lage nicht so lange gewartet, bis er seine Vergütungsansprüche gegenüber seinem Arbeitgeber gerichtlich geltend gemacht hätte, zumal der Kläger für die Arbeitsleistung einiger Monate keinerlei Nettoentgelt erhalten habe. Er habe seine Vergütungsansprüche auch errechnen können. Der Kläger habe daher seine fälligen Forderungen „stehen“ gelassen. Dem stehe – so das BAG weiter – auch nicht entgegen, dass er die Ansprüche 354 nach seinem Vorbringen mehrfach außergerichtlich geltend machte und die Forderungen vor der Insolvenzeröffnung der Höhe nach streitig waren. Das LAG habe zu Recht angenommen, gerade in einer solchen Situation habe es nahegelegen, den Rechtsweg zu beschreiten, um die Ansprüche durchzusetzen. Die zunächst unterbliebene gerichtliche Geltendmachung über mehrere Jahre hinweg weiche erheblich vom verkehrsüblichen Verhalten eines Arbeitnehmers ab. Vgl. Schleswig-Holsteinisches OLG, v. 29.5.2013 – 9 U 15/13, ZIP 2013, 1485.

Der Kläger habe sein Arbeitsentgelt daher konkludent gestundet.

355

Kritisch Blöse, GmbHR 2014, 650, 651.

Weil das Insolvenzgericht nicht gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 InsO zur Anmel- 356 dung nachrangiger Forderungen aufgefordert hatte, blieb die Feststellungsklage des Klägers als Gesellschafter-Arbeitnehmer erfolglos. Vgl. zuvor schon LAG Niedersachsen, v. 27.1.2012 – 6 Sa 1145/11, ZIP 2012, 1925; ArbG Nürnberg, v. 10.1.2013 – 15 Ca 1131/12, n. v.

Auf das Merkmal des Eigenkapitalersatzes und der Gesellschaftskrise komme 357 es – so das BAG ergänzend – zwar seit der Neufassung des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO durch das MoMiG nicht mehr an. Die zunächst unterbliebene Durchsetzung fälliger Forderungen sei jedoch nach wie vor als Rechtshandlung einzuordnen, die einem Gesellschafterdarlehen wirtschaftlich entspreche. Dies gelte auch dann, wenn das zugrunde liegende Geschäft – wie hier – kein Darlehensvertrag sei. Denn der Begriff der einem Gesellschafterdarlehen „wirtschaftlich entsprechenden Rechtshandlung“ sei weit auszulegen.

83

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

c) Keine verfassungsrechtliche Beschränkung 358 Auch das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum (Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG) – welches das BAG unter starker Kritik des BGH derzeit vor allem zur Korrektur des Anfechtungsrechts, vgl. dazu unten unter Rn. 596,

einsetzt – verlange nicht, Teilbeträge der Vergütungsansprüche des Klägers zur Tabelle festzustellen. Denn die relevante Anfechtungskonstellation unterscheide sich vom Nachrang von Rückgewähransprüchen aus Rechtshandlungen, die Gesellschafterdarlehen wirtschaftlich entsprechen. Eine verfassungskonforme Auslegung von § 39 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 InsO sei daher nicht geboten. Denn im Fall einer nachträglichen Stundung von Entgeltansprüchen begebe sich der Arbeitnehmer nicht unter Zwang, sondern in seiner Funktion als Gesellschafter freiwillig für eine gewisse Zeit der (gerichtlichen) Durchsetzung seiner Forderungen. Ihm wäre es möglich gewesen, vor Insolvenzeröffnung an Stelle der Stundung gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, um sein Existenzminimum zu sichern. Die Fallgruppen sind nach der Bewertung des BAG also nicht vergleichbar. d) Nichteingreifen des Sanierungsprivilegs 359 Der Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 InsO für die Rückgewähransprüche des Klägers sei ebenfalls nicht ausgeschlossen. Das Sanierungsprivileg des § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO greife nicht ein, da der Kläger seine Gesellschaftsanteile nicht in einer Sanierungssituation erworben habe. Auch das Kleinbeteiligtenprivileg des § 39 Abs. 5 InsO finde keine Anwendung, da der Kläger mit einem Drittel, also mit mehr als 10 % am Haftkapital der A-GmbH beteiligt sei. e) Keine unzulässige Rückwirkung des MoMiG 360 In dem Umstand, dass der kraft Gesetzes eintretende Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO auch für Gesellschafterdarlehen und gleichgestellte Forderungen gelte, die vor Inkrafttreten des MoMiG gewährt wurden, wenn die Insolvenz erst danach eröffnet wurde, liege keine unzulässige echte Rückwirkung. Zwar sei eine unechte Rückwirkung durch die Gesetzesänderung gegeben. Die für diese Form der Rückwirkung geltenden Grenzen seien jedoch nicht überschritten, da die Interessen der durch die Rechtsänderung betroffenen Gesellschaftergläubiger innerhalb der vorzunehmenden Gesamtabwägung nicht gegenüber dem Gewicht und der Dringlichkeit der Rechtsänderungen überwögen. Da das MoMiG bereits am 1.11.2008 in Kraft getreten, das Insolvenzverfahren hier jedoch erst am 2.6.2010 eröffnet worden sei, sei dem Kläger ausreichend Zeit verblieben, noch vor der Insolvenz von einer weiteren Stundung seiner Forderungen abzusehen und seine Ansprüche klageweise geltend zu machen.

84

I. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen

f) Praktische Folgen für Gesellschafter-Arbeitnehmer Anders als im Anfechtungsrecht ist das BAG damit, was den Nachrang von 361 Gesellschafterdarlehen betrifft, nicht auf Kollisionskurs mit dem BGH, sondern es knüpft an die Rechtsprechung des BGH zu § 39 Abs. 1 InsO an. Vgl. BGH, v. 4.7.2013 – IX ZR 229/12, ZIP 2013, 1629 = NJW 2013, 3031, dazu EWiR 2013, 657 (Plathner/Luttmann); BGH, v. 7.3.2013 – IX ZR 7/12, ZIP 2013, 734 = NZI 2013, 483, dazu EWiR 2013, 393 (Delaveaux); BGH, v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, ZIP 2013, 582 (m. Bespr. Preuß, S. 1145 u. Reinhard/Schützler, S. 1898), dazu EWiR 2013, 217 (Bork).

Gesellschafter-Arbeitnehmer haben deshalb nicht nur zur Vermeidung einer 362 Haftung nach §§ 826, 830 Abs. 2 BGB Anlass, rechtzeitig einen Insolvenzantrag zu initiieren. Um den vollständigen Verlust ihrer Entgeltansprüche zu vermeiden, müssen Arbeitnehmer, die mit mehr als 10 % am Haftkapital ihres Arbeitgebers beteiligt sind, die Erfüllung ihrer Ansprüche rechtzeitig nach ihrer Fälligkeit notfalls gerichtlich durchzusetzen. Dies wiederum kann – abhängig von der Höhe der Entgeltansprüche – eine Antragspflicht erst herbeiführen. Letztlich muss daher eine Gesamtabwägung erfolgen. Das BAG ermöglicht insoweit Flexibilität, in dem es auf das zu erwartende „verkehrsübliche Verhalten eines Arbeitnehmers“ abstellt. Vermieden werden muss letztlich die Bewertung, dass von einem Stehenlassen gesprochen werden kann. Dies wird man – abhängig von den Umständen des Einzelfalls – ggf. auch dann noch annehmen können, wenn sich der Gesellschafter in Verhandlungen über die Berechtigung seiner Forderung befindet. Insoweit wird man die Wertungen des § BGB § 203 BGB übertragen können. Vgl. auch Keller, NZI 2014, 624, 625.

3. Insolvenzrechtliche Qualifikation einer Halteprämie Wie bereits im vergangen Jahr ausführlich dargestellt,

363

Mückl, 1. Aufl., Rn. 59 ff.,

sind Halteprämien (auch „Treueprämien“ oder „Retention Boni“ genannt) gerade für in der Krise befindliche Unternehmen ein wichtiges Mittel, die für eine erfolgreiche Sanierung wichtigen Know-how- und Leistungsträger „bei der Stange zu halten“. Große Schwierigkeiten bereitet in der Praxis nicht nur die arbeitsrechtlich „sichere“ Ausgestaltung derartiger Prämien. Mückl, 1. Aufl., Rn. 86 ff.

Insbesondere ihre „insolvenzfeste“ Ausgestaltung, d. h. der möglichst weit- 364 reichende Ausschluss einer Anfechtbarkeit nach §§ 129 ff. InsO, bedarf einer vorausschauenden Planung. Denn in seinem Urteil vom 12.9.2013 – 6 AZR 913/11, ZIP 2014, 139

85

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

hat das BAG noch einmal klargestellt, dass insoweit – aufgrund der regelmäßigen Inkongruenz entsprechender Vereinbarungen – strenge Anforderungen gelten. a) Sachverhalt 365 Im entschiedenen Fall stritten die Parteien über den Anspruch auf die am 31.5.2009 und 30.9.2009 entstandenen Teilbeträge eines Retention Payment (künftig: Halteprämie), deren Zahlung der Beklagte als Insolvenzverwalter in dem am 23.1.2009 beantragten und am 1.4.2009 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der Q AG (Schuldnerin) verweigerte. Die Schuldnerin hatte mit dem Kläger am 16.10.2008 eine Vereinbarung über die Gewährung von drei Halteprämien geschlossen, die gezahlt werden sollten, falls der Kläger sein Arbeitsverhältnis nicht vor einem bestimmten Stichtag (31.1., 31.5., 30.9.2009) kündigte. Der Kläger kündigte am 30.11.2009 zum 31.12.2009. Er vertrat die Ansicht, ihm müssten die streitgegenständlichen Teilbeträge gezahlt werden. Der Beklagte lehnte dies unter Hinweis auf die nach seiner Ansicht bestehende Unwirksamkeit der Halteprämienvereinbarung und deren Anfechtbarkeit ab. Das LAG München gab dem Kläger Recht. b) Wesentliche Überlegungen des BAG 366 Das BAG hielt die Halteprämienvereinbarung zwar für wirksam, aber ggf. anfechtbar und verwies die Sache an das LAG München zurück. aa) Arbeitsrechtliche Wirksamkeit von Halteprämienvereinbarungen 367 Die Halteprämienvereinbarung sei wirksam. Sie sei zunächst nicht gemäß § 134 BGB nichtig. Zwar dürfe die Ausübung des Kündigungsrechts des Arbeitgebers nicht durch die Verpflichtung zur Abfindungszahlung bei schuldhafter Verursachung des Kündigungsgrunds durch den Arbeitnehmer unzumutbar erschwert werden. Das sei hier aber nicht der Fall. Ein Verstoß gegen § 119 InsO scheide ebenfalls aus. Denn anders als insolvenzabhängige Lösungsklauseln greife die Vereinbarung nicht in die Gestaltungsrechte nach §§ 103 ff. InsO ein. Auch das Kündigungsrecht des Klägers sei nicht gemäß § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unangemessen beeinträchtigt. Die jeweils vereinbarte Halteprämie sei nämlich der beabsichtigten Bindungsdauer angemessen. bb) Qualifikation als Masseverbindlichkeit 368 Die streitgegenständlichen Halteprämienvereinbarungen seien nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO als Masseverbindlichkeiten zu qualifizieren. Denn bei Dauerschuldverhältnissen, die wie das Arbeitsverhältnis gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO zulasten der Masse fortbestehen, gelte: Resultiere der Anspruch allein aus einem vor Verfahrenseröffnung begründeten „Stammrecht“, seien die Ansprüche auch dann Insolvenzforderungen, wenn sie erst nach Insolvenzeröffnung fällig würden. Handele es sich um nach der Verfah86

I. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen

renseröffnung neu entstehende Forderungen, die voraussetzen, dass der Arbeitnehmer eine Leistung „für“ die Masse – und sei es in Form von Betriebstreue – erbringt, seien die nach Insolvenzeröffnung entstehenden Forderungen Masseverbindlichkeiten bzw. Neuverbindlichkeiten. cc) Anfechtbarkeit aufgrund Inkongruenz? Eine Anfechtbarkeit nach § 134 InsO scheide damit zwar vorliegend aus, 369 weil es sich nicht um eine unentgeltliche Leistung handele. Die Halteprämienvereinbarung selbst sei aber inkongruent und daher ggf. nach § 133 InsO anfechtbar. Denn das arbeitsvertragliche Leistungsprogramm sei durch die Zusage der Halteprämie nachträglich zugunsten des Klägers abgeändert worden, ohne dass dieser darauf einen Anspruch hatte. Die Inkongruenz sei ein Indiz für das Vorliegen eines Gläubigerbenachteili- 370 gungsvorsatzes des Schuldners und für die Kenntnis des Gläubigers hiervon. Dabei dürften die Anforderungen an den Vortrag des Beklagten zum Vorliegen dieser subjektiven Tatbestände nicht überspannt werden. Habe eine Partei – wie hier der Beklagte als Insolvenzverwalter – keinen Einblick in die Geschehensabläufe, könne sie auch solche Umstände unter Beweis stellen, die sie nur vermutet, aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält. Der Anfechtungsgegner könne die anerkannten Beweisanzeichen im Übrigen 371 erschüttern, indem er gegenläufige Indizien geltend mache und ggf. beweise, zu denen auch ein tragfähiges Sanierungskonzept gehöre. Die Feststellungen des LAG hierzu seien vorliegend aber nicht schlüssig. Denn daraus sei nicht ersichtlich, dass spätestens am 16.10.2008 ein in sich geschlossenes Konzept zur Bereinigung sämtlicher Verbindlichkeiten der Schuldnerin entwickelt worden war oder dass der Kläger dies zumindest annehmen durfte. c) Folgen für die Sanierungspraxis Die Entscheidung überzeugt in der Begründung und im Ergebnis. Sie er- 372 kennt ebenso wie die wichtigen Parallelentscheidungen vom gleichen Tag BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 953/11, ZIP 2013, 2414; BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37, dazu EWiR 2014, 55 (Mückl); BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 981/11, n. v.

zunächst an, dass die Bindung von Leistungs- und Know-how-Trägern ein entscheidender Baustein für eine erfolgreiche Sanierung – auch im Investorenprozess – ist. Repressive Mittel sind zur effektiven Bindung in aller Regel ungeeignet. 373 Gleiches gilt für die Zahlung von (vorfinanziertem) Insolvenzgeld. Zielführend können vor allem Halteprämien sein, die arbeitsrechtlich die Betriebstreue zur Leistungsvoraussetzung machen müssen. Der insoweit maßgebliche Stichtag muss zudem im Bemessungszeitraum und nach Insolvenzeröffnung

87

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

liegen. In diesem Fall handelt es sich – wie das BAG nun explizit klargestellt hat – um Masseverbindlichkeiten, die nicht als unentgeltliche Leistung zu qualifizieren und damit nicht nach § 134 InsO anfechtbar sind. Zur (eingeschränkt möglichen) Absicherung gegen eine Anfechtung müssen sie in einem möglichst frühen Krisenstadium vereinbart und Bestandteil eines schlüssigen Sanierungskonzepts ein. Das setzt eine frühzeitige strategische Planung voraus. Vgl. näher Mückl, ZIP 2012, 1642 ff.

374 Denn die an ein solches Konzept gestellten Anforderungen sind – wie das BAG noch einmal klarstellt – streng. II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen 375 Das Insolvenzverfahren dient der gleichmäßigen Befriedigung der Gläubiger. Durch die Vorschriften der Insolvenzanfechtung (§§ 129 ff. InsO) sollen im Interesse der Wiederherstellung des Schuldnervermögens bestimmte, als ungerechtfertigt angesehene Vermögensverschiebungen rückgängig gemacht und der Insolvenzmasse zurückgewährt werden. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307, dazu EWiR 2014, 291 (Huber).

376 Darüber hinaus bewegen die Bestimmungen über die Insolvenzanfechtung Gläubiger tendenziell dazu, sich im Vorfeld von Insolvenzen bzw. im Geschäftsleben normzweckentsprechend zu verhalten, und helfen so dem Insolvenzrecht, seine Ordnungsfunktion zu erfüllen. Bork, ZIP 2008, 1041.

377 Um diese Ziele zu erreichen, beseitigt die Insolvenzordnung Insolvenzvorrechte soweit als möglich. Das Arbeitnehmerprivileg des § 59 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a KO, wonach Lohnforderungen aus den letzten sechs Monaten vor Verfahrenseröffnung Masseschulden waren, wurde nicht in die Insolvenzordnung übernommen. Dieses Privileg schloss eine Anfechtung weitgehend aus. Wurden Lohnforderungen für die letzten sechs Monate vor Konkurseröffnung vom Schuldner erfüllt, erhielten die Arbeitnehmer nur das, was ihnen auch vom Konkursverwalter aus der Masse zu zahlen gewesen wäre. Es fehlte daher regelmäßig an der nach § 30 KO erforderlichen Gläubigerbenachteiligung. Konkursanfechtungen von Lohnzahlungen spielten darum in der Praxis keine Rolle. Brinkmann, ZZP 125 (2012), 197.

378 Nach gegenwärtiger Rechtslage ist die Erfüllung von Entgeltforderungen unter den allgemeinen in §§ 129 ff. InsO geregelten Voraussetzungen eine anfechtbare Rechtshandlung. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307; vgl. Kayser, in: MünchKomm-InsO, § 129 Rn. 57.

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II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

Sie hat daher in der Sanierungspraxis erheblich an Bedeutung gewonnen. Die 379 aktuellen Pläne des Gesetzgebers, das Anfechtungsrecht zu reformieren, könnten diese Bedeutung wieder schrumpfen lassen. Das BAG bemüht sich losgelöst davon, ein Sonderanfechtungsrecht für Arbeitsverhältnisse zu konturieren. Der Gesetzgeber greift diese Tendenzen – wie bereits gezeigt – auf. Vgl. oben unter Rn. 232 ff.

Doch auch unabhängig von diesen gesetzgeberischen Tendenzen kann das 380 Jahr 2014 geradezu als „Jahr der Insolvenzanfechtung von Lohnzahlungen“ bezeichnet werden. Denn seit Langem haben sich Rechtsprechung und Literatur nicht mehr so intensiv mit der Insolvenzanfechtung der Arbeitnehmervergütung befasst. 1. Insolvenzanfechtung als gesetzliches Schuldverhältnis Der insolvenzrechtliche Rückgewähranspruch aus § 143 Abs. 1 Satz 1 InsO 381 begründet ein gesetzliches Schuldverhältnis. Dieses Schuldverhältnis ist – wie das BAG nunmehr in ständiger Rechtsprechung annimmt – der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien entzogen. Er unterfällt daher tariflichen Ausschlussfristen nicht vgl. BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396 Rn. 35 ff.; BAG, v. 24.10.2013 – 6 AZR 466/12, ZIP 2014, 91, dazu EWiR 2014, 359 (Knof/Stütze); BAG, v. 3.7.2014 – 6 AZR 451/12, n. v.

Die Anfechtung begründet grundsätzlich einen schuldrechtlichen Rückge- 382 währanspruch BGH, v. 17.2.2011 – IX ZR 91/10, ZIP 2011, 1114, dazu EWiR 2011, 433 (Huber)

und entfaltet keine dingliche Wirkung. BGH, v. 14.10.2010 – IX ZR 160/08, ZIP 2010, 2460, dazu EWiR 2011, 89 (Hoffmann).

Anfechtungsrechtlich soll dementsprechend nicht die Rechtswidrigkeit eines 383 Tuns oder Unterlassens sanktioniert werden, sondern der durch eine Rechtshandlung herbeigeführte gläubigerbenachteiligende Erfolg. BGH, v. 16.1.2014 – IX ZR 31/12, ZIP 2014, 275 = ZVI 2014, 110, dazu EWiR 2014, 251 (Cranshaw).

Die Verzögerung des Insolvenzantrags wirkt sich daher allein auf die nach 384 §§ 130–136 InsO maßgeblichen Fristen aus. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

2. Anfechtungsberechtigter und Anfechtungsgegner 385 Anspruchsinhaber ist zwar der Insolvenzschuldner, zur Geltendmachung berechtigt (anfechtungsberechtigt) und in diesem Sinne Anspruchsinhaber ist aber im Regelinsolvenzverfahren nur der Insolvenzverwalter, vgl. BGH, v. 24.3.2011 – IX ZB 36/09, ZIP 2011, 683, dazu EWiR 2011, 281 (Jacoby); BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307,

der die Anfechtung innerhalb der regelmäßigen Verjährungsfrist (§ 146 InsO) seit der Eröffnung zu betreiben hat. Im Fall der Eigenverwaltung (§§ 270 ff. InsO) ist demgegenüber der Sachwalter (§ 280 InsO) und im Verbraucherinsolvenzverfahren (§§ 304 ff. InsO) – abweichend von der bisherigen Rechtslage – nicht mehr jeder Insolvenzgläubiger (§ 313 Abs. 2 Satz 1 InsO a. F.), sondern allein der Insolvenzverwalter zur Anfechtung berechtigt. 386 Die Anfechtung richtet sich grundsätzlich gegen denjenigen, dem gegenüber die anfechtbare Handlung vorgenommen wurde, d. h. gegen den Empfänger des anfechtbar übertragenen oder begründeten Rechts. Vgl. BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396; BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307. Praxistipp: Dass die Zahlungen teilweise an den früheren Rechtsanwalt des Arbeitnehmers und/oder den Gerichtsvollzieher geleistet wurden, ist für die Stellung des Arbeitnehmers als Anfechtungsgegner indes unschädlich. Denn hat der Schuldner in anfechtbarer Weise an einen vom Gläubiger mit dem Empfang der Leistung beauftragten Dritten geleistet, trifft die Rückgewährpflicht den Gläubiger und nicht den Empfangsbeauftragten (vgl. BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396 = ZVI 2014, 303; BAG, v. 8.5.2014 – 6 AZR 465/12, NJW 2014, 3262; BAG, v. 3.7.2014 – 6 AZR 451/12, n. v.; BGH, v. 17.12.2009 – IX ZR 16/09, ZIP 2010, 531 = ZVI 2010, 148).

3. Voraussetzungen der Insolvenzanfechtung a) Grundvoraussetzung: Gläubigerbenachteiligende Rechtshandlung 387 Voraussetzung jeder Insolvenzanfechtung ist nach § 129 InsO das Vorliegen einer vor Verfahrenseröffnung vorgenommenen gläubigerbenachteiligenden Rechtshandlung. Der Begriff der Rechtshandlung ist nach ständiger Rechtsprechung weit auszulegen. Eine gläubigerbenachteiligende „Rechtshandlung“ ist danach jedes von einem Willen getragene Handeln, das rechtliche Wirkungen auslöst und das Vermögen des Schuldners zum Nachteil der Insolvenzgläubiger verändern kann. BGH, v. 9.7.2009 – IX ZR 86/08, ZIP 2009, 1674 = ZVI 2009, 370; BGH, v. 15.12.2011 – IX ZR 118/11, ZIP 2012, 333 = ZVI 2012, 115, dazu EWiR 2012, 247 (Budnik).

90

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

Lohnzahlungen sind als Erfüllungsgeschäfte derartige Rechtshandlungen.

388

BAG, v. 27.3.2014 – 6 AZR 989/12, DB 2014, 1495.

Gleiches gilt aber für ergänzende Abreden über die Gewährung von Sonder- 389 vergütungen. BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 913/11, ZIP 2014, 139; BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37; BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 981/11, n. v.

b) Erfüllung eines konkreten Anfechtungstatbestands Neben der Gläubigerbenachteiligung müssen konkrete Tatbestände (Anfech- 390 tungsgründe, §§ 130–137 InsO) verwirklicht sein, die es rechtfertigen, eine Rechtshandlung der Anfechtung zu unterwerfen. Sie lassen sich grob in vier Haupttatbestände einteilen: Holzer, in: Beck/Depré, § 9 Rn. 52 ff.; Mückl, GWR 2014, 427, 428.

x

Besondere Insolvenzanfechtung: Hierzu gehören die Tatbestände der §§ 130 – 132 InsO (sog. kongruente und inkongruente Deckung). Gemeinsames Element ist die zeitliche Nähe der Rechtshandlung zum Insolvenzantrag, nämlich längstens drei Monate vor diesem. Die insoweit betroffenen Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass bei Vornahme der Rechtshandlung bestimmte Anzeichen einer bevorstehenden Insolvenz aufgetreten sind (Zahlungsunfähigkeit, Insolvenzantrag). Hintergrund hierfür ist einerseits der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung und andererseits der Grundsatz des Vertrauensschutzes, der zugunsten des redlichen Geschäftsverkehrs eingreift. Vgl. nur Klinck, DB 2014, 2455, 2457

x

Vorsatzanfechtung: Bei einer vorsätzlichen Gläubigerbenachteiligung nach § 133 InsO werden Zeiträume von bis zu zehn Jahren vor dem Insolvenzantrag erfasst. Kennzeichnend für diesen Anfechtungstatbestand ist, dass die Rechtshandlung mit dem Vorsatz, die Gläubiger zu benachteiligen, vorgenommen wurde und der andere Vertragsteil entweder unmittelbar den Vorsatz des Schuldners kannte oder Kenntnis von dessen drohender Zahlungsunfähigkeit und einer Gläubigerbenachteiligung hatte.

x

Schenkungsanfechtung: § 134 InsO sieht demgegenüber eine Anfechtung von unentgeltlichen Leistungen des Schuldners vor, die dem Anfechtungsgegner in einem Zeitraum von vier Jahren vor dem Insolvenzantrag zugewendet worden ist, sofern es sich nicht um ein gebräuchliches Gelegenheitsgeschenk handelte. Hier ist die Unentgeltlichkeit der Leistung aus dem Vermögen des Schuldners für den Anfechtungstatbestand kennzeichnend.

x

Anfechtung im Zusammenhang mit Gesellschafterdarlehen: Nach § 135 Abs. 1, 2 InsO und § 136 InsO kann eine Rechtshandlung angefochten

91

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

werden, die für die Forderung eines Gesellschafters auf Rückgewähr eines Darlehens i. S. d. § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO oder für eine gleichgestellte Forderung eine Sicherung oder Befriedigung gewährt hat. Gleiches gilt für die Anfechtung einer Rechtshandlung, mit der eine Gesellschaft einem Dritten für eine Forderung auf Rückgewähr eines Darlehens oder einer dieser wirtschaftlich entsprechenden Forderung Befriedigung gewährt hat. Vgl. dazu oben unter Rn. 347 ff.

391 Für die Anfechtung von Lohnzahlungen sind – neben der Ausnahmevorschrift des § 142 InsO – insbesondere die §§ 130 – 133 InsO relevant. Der Schutzzweck des § 133 Abs. 1 InsO unterscheidet sich dabei grundlegend von dem der §§ 130–132 InsO: 392 Denn die §§ 130 – 132 InsO erlegen den Gläubigern zum Schutz der Gläubigergesamtheit die Pflicht zur wechselseitigen Rücksichtnahme auf und geben deshalb dem Gleichbehandlungsgrundsatz Vorrang vor dem Prioritätsprinzip. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

393 Außerhalb des von diesen Normen besonders geschützten Zeitraums (höchstens drei Monate vor dem Eröffnungsantrag) muss der Gläubiger nämlich bei der Verfolgung seiner Rechte gegenüber dem Schuldner grundsätzlich die Belange der Gläubigergesamtheit nicht beachten. Das Prioritätsprinzip gilt insoweit uneingeschränkt. BGH, v. 10.2.2005 – IX ZR 211/02, BGHZ 162, 143 = ZIP 2005, 494 = ZVI 2005, 204, dazu EWiR 2005, 607 (Eckardt); BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

394 Demgegenüber steht § 133 InsO nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der materiellen Insolvenz, sondern missbilligt bestimmte Verhaltensweisen des Schuldners. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

395 Diese Vorschrift ist Ausdruck des Gedankens, dass ein Schuldner nicht berechtigt ist, vorsätzlich einzelne Gläubiger gegenüber anderen zu bevorzugen, soweit die ihnen gegenüber bestehenden Verpflichtungen gleichrangig sind. Sie schützt das Interesse der Gläubiger daran, dass der Schuldner ihre prinzipiell gleichen Befriedigungschancen nicht beeinträchtigt. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

396 Zentraler Anknüpfungspunkt von § 133 InsO ist damit der in einer Rechtshandlung zum Ausdruck gekommene Wille des Schuldners, den Anfechtungsgegner zum Nachteil anderer Gläubiger zu bevorzugen. Nur der Leistungsempfänger, der diesen Vorsatz des Schuldners kennt, ist rückgewährpflichtig. BGH, v. 10.2.2005 – IX ZR 211/02, BGHZ 162, 143 = ZIP 2005, 494 = ZVI 2005, 204; BGH, v. 10.12.2009 – IX ZR 128/08, ZIP 2010, 191 = ZVI 2010, 54, dazu EWiR 2010, 189 (Huber);

92

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

§ 133 InsO soll deshalb nicht dem Gedanken der Gläubigergleichbehandlung 397 auch für die Zeit vor Beginn des Drei-Monats-Zeitraums Geltung verschaffen, sondern ein die gleichen Zugriffschancen der Gläubiger beeinträchtigendes Verhalten des Schuldners sanktionieren. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307; Kayser, in: MünchKomm-InsO, § 133 Rn. 1a; Lütcke, ZInsO 2013, 1984, 1986.

4. Die Anfechtungstatbestände im Einzelnen a) Anfechtung bei kongruenter Deckung aa) Voraussetzungen Die Anfechtung von kongruent gedeckten Lohnzahlungen nach den vorste- 398 henden Voraussetzungen spielt in der Sanierungspraxis eher eine untergeordnete Rolle, da sie häufig an der erforderlichen Kenntnis des Arbeitnehmers von der Zahlungsunfähigkeit seines Arbeitgebers bzw. eines Eröffnungsantrags scheitert. Zu den Anforderungen an den Nachweis der Zahlungsunfähigkeit durch den Insolvenzverwalter vgl. aus jüngerer Zeit z. B. Klinck, DB 2014, 2455, 2457 f.

Nach § 130 Abs. 1 Satz 1 InsO ist eine Rechtshandlung, die einem Insol- 399 venzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht hat, allerdings anfechtbar, x

wenn sie in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden ist, wenn zur Zeit der Handlung der Schuldner zahlungsunfähig war und wenn der Gläubiger zu dieser Zeit die Zahlungsunfähigkeit kannte (§ 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO) oder

x

wenn sie nach dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden ist und wenn der Gläubiger zur Zeit der Handlung die Zahlungsunfähigkeit oder den Eröffnungsantrag kannte (§ 130 Abs. 1 Nr. 2 InsO).

Der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit oder des Eröffnungsantrags steht dabei 400 nach § 130 Abs. 2 InsO die Kenntnis von Umständen gleich, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit oder den Eröffnungsantrag schließen lassen. Im Gegensatz zur inkongruenten Deckung (§ 131 Abs. 1 InsO) ist die kon- 401 gruente Deckung nicht gesetzlich definiert. Im Umkehrschluss aus der Definition der inkongruenten Deckung folgt jedoch, dass sich die kongruente Deckung als die Gewährung oder Ermöglichung einer Sicherung oder Befriedigung, die der Insolvenzgläubiger so wie geschehen zu beanspruchen hatte, beschreiben lässt. Bork/Gehrlein, Rn. 187.

93

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

bb) Darlegungs- und Beweislast 402 Regelmäßig muss der Insolvenzverwalter nicht nur alle objektiven, sondern auch alle subjektiven Voraussetzungen der Deckungsanfechtung beweisen. BGH, v. 12.7.2007 – IX ZR 210/04, ZIP 2007, 1913 = ZVI 2007, 525 = ZInsO 2007, 1046, dazu EWiR 2007, 691 (Frind); Kirchhof, in: MünchKomm-InsO, § 130 Rn. 61.

403 Dazu hat er substantiiert die im konkreten Einzelfall einschlägigen Tatsachen vorzutragen, aus denen sich die Kenntnis des Anfechtungsgegners von der Zahlungsunfähigkeit oder dem Eröffnungsantrag ergibt. BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366, dazu EWiR 2011, 817 (Huber).

404 Nur gegenüber einer dem Schuldner zur Zeit der Handlung nahestehenden Person i. S. v. § 138 InsO wird gemäß § 130 Abs. 2 InsO vermutet, dass sie die Zahlungsunfähigkeit oder den Eröffnungsantrag kannte. BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366.

cc) Subjektive Anforderungen auf Seiten des Arbeitnehmers (1) Kenntnis von Zahlungsunfähigkeit oder Eröffnungsantrag 405 Dieser Vortrag und ggf. Nachweis ist für Insolvenzverwalter in der Praxis jedenfalls mit Blick auf die Kenntnis des Arbeitnehmers von Zahlungsunfähigkeit oder Eröffnungsantrag häufig nur sehr schwierig zu führen. Denn „Kenntnis“ bedeutet für sicher gehaltenes, positives Wissen. BGH, v. 19.2.2009 – IX ZR 62/08, ZIP 2009, 526 = ZVI 2009, 152 = DB 2009, 559, dazu EWiR 2009, 275 (Bork); Kayser, in: MünchKomm-InsO, § 130 Rn. 33; zur positiven Kenntnis von der Zahlungseinstellung i. S. v. § 30 KO vgl. BGH, v. 15.11.1990 – IX ZR 92/90, WM 1991, 150.

406 Der Gläubiger kennt die Zahlungsunfähigkeit oder Zahlungseinstellung als komplexen Rechtsbegriff damit nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nur dann, wenn er selbst die Liquidität oder das Zahlungsverhalten des Schuldners wenigstens laienhaft so bewertet. BGH, v. 19.2.2009 – IX ZR 62/08, ZIP 2009, 526 = ZVI 2009, 152 = DB 2009, 559; BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366.

407 Dieses positive Wissen muss bei der Vornahme der Rechtshandlung und damit grundsätzlich in dem Zeitpunkt vorhanden sein, in dem die rechtlichen Wirkungen der Rechtshandlung eintreten (§ 140 Abs. 1 InsO). Dazu ist regelmäßig erforderlich, dass x

94

dem Gläubiger zum einen Informationen über den Gesamtbestand der gegen den Schuldner gerichteten, in den nächsten drei Wochen fällig werdenden Verbindlichkeiten und über die in dieser Zeit vorhandenen Geldmittel vorliegen.

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

x

Zum anderen muss der Gläubiger aus diesen Informationen den Schluss ziehen, dass der Schuldner wesentliche Teile seiner in den nächsten drei Wochen fällig werdenden Verbindlichkeiten nicht wird tilgen können BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366; Klinck, AP InsO § 130 Nr. 1.

Die Kenntnis allein einzelner Tatsachen, die eine Zahlungsunfähigkeit be- 408 gründen, genügt damit für sich nicht. Kayser, in: MünchKomm-InsO, § 130 Rn. 33.

Nicht ausreichend ist es auch im Einzelfall, wenn der Gläubiger nur die Er- 409 öffnung eines Insolvenzverfahrens fürchtet oder Zweifel an der Kreditwürdigkeit des Schuldners hat. BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366.

Bei der Beurteilung, ob der Gläubiger über ausreichende Informationen über 410 den Gesamtbestand der Verbindlichkeiten und über das vorhandene Vermögen verfügt, kann auch die Rechtsform des Unternehmens von Bedeutung sein, wobei die Unternehmensform des eingetragenen Kaufmanns den Überblick über die Liquiditäts- und Zahlungslage nicht erleichtern muss, sondern auch erschweren kann. BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366.

(2) Umstandskenntnis Allerdings steht nach § 130 Abs. 2 InsO der Kenntnis der Zahlungsunfähig- 411 keit oder des Eröffnungsantrags die Kenntnis von Umständen gleich, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit oder den Eröffnungsantrag schließen lassen (Vermutungstatsachen). (a) Funktion des § 130 Abs. 2 InsO § 130 Abs. 2 InsO bezweckt eine Beweiserleichterung für den Insolvenzver- 412 walter. Klinck, AP InsO § 130 Nr. 1.

Der Rechtsanwendungsvorteil des Insolvenzverwalters besteht darin, dass 413 die Vermutung des § 130 Abs. 2 InsO unwiderleglich ist BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366.

(b) Nichtgenügen (grob) fahrlässiger Unkenntnis – keine Erkundigungspflicht des Arbeitnehmers Wichtig für die Sanierungspraxis ist, dass die grob fahrlässige Unkenntnis der 414 Zahlungsunfähigkeit nicht genügt. BGH, v. 19.2.2009 – IX ZR 62/08, ZIP 2009, 526 = ZVI 2009, 152 = DB 2009, 559; Klinck, DB 2014, 2455, 2457.

95

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

415 Der Gesetzgeber hat den Begriff der grob fahrlässigen Unkenntnis bewusst vermieden, um Rechtssicherheit zu erzeugen. Bandte, in: Festschrift Beuthien, S. 401, 404.

416 Das folgt auch aus den Gesetzesmaterialien. Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages zum Entwurf einer Insolvenzordnung, BT-Drucks. 12/7302, S. 173.

417 Vorausgesetzt wird demgemäß, dass der Insolvenzgläubiger die tatsächlichen Umstände kennt, aus denen bei zutreffender rechtlicher Bewertung die Zahlungsunfähigkeit zweifelsfrei folgt. BGH, v. 19.2.2009 – IX ZR 62/08, ZIP 2009, 526 = ZVI 2009, 152 = DB 2009, 559; BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366.

418 Erforderlich ist nach der Rechtsprechung des BAG daher auch hier positive Kenntnis. Der Tatbestand des § 130 Abs. 2 InsO ist nach der Bewertung des BAG deshalb nur dann erfüllt, wenn der Anfechtungsgegner – gleichgültig aus welchen Quellen – die tatsächlichen Umstände positiv kennt, aus denen die Zahlungsunfähigkeit objektiv folgt BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366; Kayser, in: MünchKomm-InsO, § 130 Rn. 34; vgl. auch BGH, v. 19.2.2009 – IX ZR 62/08, ZIP 2009, 526 = ZVI 2009, 152 = DB 2009, 559. Praxistipp: Da § 130 Abs. 2 InsO seinem eindeutigen Wortlaut nach auf die Kenntnis von Umständen und gerade nicht auf die (grob) fahrlässige Unkenntnis von Umständen abstellt, trifft Arbeitnehmer unabhängig davon, ob sie Einblick in die Liquiditäts- oder Zahlungslage des Unternehmens haben, keine Erkundigungspflicht. Ein Verstoß gegen eine Erkundigungspflicht könnte zudem keine positive Kenntnis, sondern nur eine schuldhafte Unkenntnis von Vermutungstatsachen begründen (BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366; vgl. Klinck, AP InsO § 130 Nr. 1; Vollrath, ZInsO 2011, 1665, 1669).

419 § 130 Abs. 2 InsO ändert nichts daran, dass der Insolvenzverwalter dem Anfechtungsgegner eingehende Kenntnis über die seinerzeitige Vermögenslage des Schuldners nachweisen und damit beweisen muss, dass dem Anfechtungsgegner alle für die Erstellung einer Liquiditätsprognose erforderlichen Informationen über Bestand und Entwicklung der Verbindlichkeiten und kurzfristig verwertbaren Aktiva vorlagen. BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366; Klinck, Anm. AP InsO § 130 Nr. 1.

96

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

(c) Schlussfolgerung auf Zahlungsunfähigkeit bzw. Eröffnungsantrag als Rechtsfrage Ob aufgrund dieser Kenntnis von Umständen der Schluss auf die Zahlungs- 420 unfähigkeit bzw. den Eröffnungsantrag zwingend war, ist demgegenüber nach ständiger Rechtsprechung eine Rechtsfrage. Konsequenz daraus ist, dass sich der Arbeitnehmer nicht darauf berufen 421 kann, er habe den Schluss nicht gezogen, wenn ein redlich und vernünftig Denkender, der vom Gedanken auf den eigenen Vorteil nicht beeinflusst ist, angesichts der festgestellten Umstände sich der Einsicht nicht hätte verschließen können, dass der Schuldner tatsächlich zahlungsunfähig oder ein Eröffnungsantrag gestellt war. Vgl. BGH, v. 15.10.2009 – IX ZR 201/08, ZIP 2009, 2306 = ZInsO 2009, 2244, dazu EWiR 2009, 779 (Stiller); BGH, v. 19.2.2009 – IX ZR 62/08, ZIP 2009, 526 = ZVI 2009, 152 = DB 2009, 559; Kayser, in: MünchKomm-InsO, § 130 Rn. 33.

Maßgebend ist dabei nicht der individuelle Schuldvorwurf, sondern der indi- 422 viduelle Wissensstand. BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366; Vollrath, ZInsO 2011, 1665, 1670.

(d) Welche Umstände sind ausreichend? § 130 Abs. 2 InsO spricht von der Kenntnis von Umständen, die zwingend 423 auf die Zahlungsunfähigkeit oder den Eröffnungsantrag schließen lassen, ohne die Tatsachen, deren Kenntnis die Vermutung auslösen kann, näher zu beschreiben oder Beispiele für Indizien zu nennen, aus denen regelmäßig auf die Zahlungsunfähigkeit bzw. den Eröffnungsantrag geschlossen werden kann. Wann derartige Umstände gegeben sind, lässt sich generell auch nur schwer umschreiben. BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366.

Im Schrifttum werden als Anhaltspunkte und Beweisanzeichen für die 424 Kenntnis des Anfechtungsgegners von Vermutungstatsachen u. a. genannt: Kayser, in: MünchKomm-InsO, § 130 Rn. 37 ff.; Ries/Doebert, ZInsO 2009, 2367, 2370; Klinck, DB 2014, 2455, 2458; vgl. auch BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366 m. w. N.

x

Die Kenntnis des Anwachsens von Rückständen,

x

die Kenntnis der Nichteinhaltung von Zahlungszusagen, insbesondere vom Schuldner selbst vorgeschlagener Ratenzahlungen,

x

die Kenntnis des Rückstands mit fälligen Sozialversicherungsbeiträgen,

97

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

x

die Kenntnis des erneuten Entstehens von Rückständen nach vorheriger (teilweiser) Befriedigung des Gläubigers,

x

die Kenntnis der Nichtzahlung oder der schleppenden Zahlung von Löhnen und Gehältern,

x

die Kenntnis der Häufung von Klagen und Zwangsvollstreckungen,

x

die Kenntnis der verstärkten Inanspruchnahme von Bürgen des Schuldners,

x

Informationen durch den Schuldner, z. B. bei Betriebsversammlungen, sowie

x

Presseberichte über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens des Schuldners.

425 Eine mit kurzfristigen Engpässen begründete bloße Stundungsbitte des Schuldners reicht dagegen allein regelmäßig nicht als Zurechnungsgrundlage aus. Kayser, in: MünchKomm-InsO, § 130 Rn. 39.

426 Der BGH, BGH, Urt. v. 19.2.2009 – IX ZR 62/08, ZIP 2009, 526 = ZVI 2009, 152 = DB 2009, 559,

hatte zudem angenommen, dass die Kenntnis des Arbeitnehmers, dem der Arbeitgeber in der Krise noch Zahlungen auf rückständige Lohnforderungen erbringt, davon, dass der Arbeitgeber außerdem noch anderen Arbeitnehmern Lohn schuldig ist, allein nicht den Schluss auf die Zahlungsunfähigkeit oder Zahlungseinstellung des Arbeitgebers rechtfertigt. Sei der Gläubiger ein Arbeitnehmer des Schuldners ohne Einblick in die Liquiditäts- oder Zahlungslage des Unternehmens, also ein Arbeitnehmer ohne „Insiderkenntnisse“, treffe ihn keine Erkundigungspflicht. 427 An diesen Grundsätzen hat der BGH in der Entscheidung vom 15.10.2009 – IX ZR 201/08, ZInsO 2009, 2244,

welche die Anfechtung von Entgeltzahlungen desselben Schuldners an einen anderen Arbeitnehmer betraf, festgehalten. Allerdings hat der BGH in dieser Entscheidung hervorgehoben, dass jener Arbeitnehmer in seiner Funktion als Bauleiter in der Informationshierarchie nicht auf unterster Ebene gestanden sei, und hat die Würdigung der Vorinstanz nicht beanstandet, die bezüglich der positiven Kenntnis des Beklagten von Vermutungstatsachen maßgeblich auf die zeitliche Dauer und Höhe der eigenen Lohnrückstände, die erheblichen Lohnrückstände bei anderen Arbeitnehmern sowie die Kenntnis des Beklagten von den ökonomischen und wirtschaftlichen Hintergründen des Unternehmens aufgrund seiner langjährigen Stellung als Bauleiter abgestellt hatte. 428 Die Stellung oder Funktion des Arbeitnehmers im Unternehmen des Schuldners ist bei der Beurteilung, ob der Arbeitnehmer positive Kenntnis von

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II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

Vermutungstatsachen hatte, nach der Rechtsprechung des nun überwiegend für die Insolvenzanfechtung von Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis zuständigen BAG allerdings nicht per se maßgebend. Zustimmend Klinck, DB 2014, 2455, 2459; vgl. auch Abele, FA 2009, 133, 135; Schulz, Anm. DZWIR 2009, 256, 257; kritisch Vollrath, ZInsO 2011, 1665, 1674; a. A. Dahl, NJW-Spezial 2010, 661, 662. Vgl. zu den Plänen des BMAS, dies zu bestätigen, unter Rn. 229 f.

Es trifft zwar zu, dass Arbeitnehmer in herausgehobenen Funktionen in aller 429 Regel eher in der Lage sind, sich über die Liquiditätsgesamtlage des Schuldners zu informieren, als Arbeitnehmer auf unteren Ebenen oder dass sie aufgrund ihrer leitenden Stellung eher um die Situation des Unternehmens wissen. Vgl. Bork, ZIP 2007, 2337, 2338.

Auch mögen Arbeitnehmer, die in der Finanzbuchhaltung tätig sind oder 430 Leitungsaufgaben im kaufmännischen Bereich wahrnehmen, häufig über „Insiderkenntnisse“ verfügen. In diesem Sinne Huber, NJW 2009, 1928, 1931.

Wenn § 130 Abs. 2 InsO anordnet, dass die Kenntnis von Umständen, die 431 zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit oder den Eröffnungsantrag schließen lassen, der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit oder des Eröffnungsantrags gleichsteht, schließt dies nach der Rechtsprechung des BAG jedoch nicht die Vermutung ein, dass Arbeitnehmer in herausgehobenen Funktionen oder Arbeitnehmer, die im kaufmännischen Bereich oder in der Finanzbuchhaltung tätig sind, positive Kenntnis von Umständen haben, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit oder den Eröffnungsantrag schließen lassen. Der Unterschied zwischen der nach § 130 Abs. 1 InsO und der nach § 130 Abs. 2 InsO erforderlichen positiven Kenntnis liegt nach der Bewertung des BAG nur im Bezugspunkt: Bei § 130 Abs. 2 InsO gehe es um die Feststellung der positiven Kenntnis der (tatbestandsfremden) Vermutungstatsachen, von denen dann der Schluss auf die Haupttatsache gesetzlich vermutet werde. BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366.

Umgekehrt kommt nach der Rechtsprechung des BAG auch bei Arbeitneh- 432 mern ohne herausgehobene Funktion eine positive Kenntnis von Vermutungstatsachen in Betracht. Beispiel: Das ist z. B. der Fall, wenn sie als Sekretärin oder Chauffeur des Schuldners Umstände erfahren, die zwingend auf dessen Zahlungsunfähigkeit schließen lassen. BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366; Abele, FA 2009, 133, 135; vgl. dazu auch Ries/Doebert, ZInsO 2009, 2367, 2369.

99

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

b) Anfechtung aufgrund inkongruenter Deckung aa) Voraussetzungen 433 Nach § 131 Abs. 1 InsO ist eine Rechtshandlung, die einem Insolvenzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht hat, die er nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte, anfechtbar, x

wenn die Handlung im letzten Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag vorgenommen worden ist (§ 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO),

x

wenn die Handlung innerhalb des zweiten oder dritten Monats vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden ist und der Schuldner zur Zeit der Handlung zahlungsunfähig war (§ 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO) oder

x

wenn die Handlung innerhalb des zweiten oder dritten Monats vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden ist und dem Gläubiger zur Zeit der Handlung bekannt war, dass sie die Insolvenzgläubiger benachteiligte (§ 131 Abs. 1 Nr. 3 InsO).

434 Eine inkongruente Deckung ist daher – zusammenfassend – gegeben, wenn der Gläubiger eine Befriedigung oder Sicherung erhalten hat, die er nicht, nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte. Nach allgemeiner Erfahrung sind Schuldner nämlich nicht bereit, anderes oder gar mehr zu leisten, als sie schulden. BAG, v. 27.3.2014 – 6 AZR 989/12, DB 2014, 1495.

435 Nach § 131 Abs. 2 Satz 1 InsO steht in den Fällen des § 131 Abs. 1 Nr. 3 InsO der Kenntnis der Benachteiligung der Insolvenzgläubiger die Kenntnis von Umständen gleich, die zwingend auf die Benachteiligung schließen lassen. 436 In der Sanierungspraxis hat die Anfechtung inkongruenter Lohnzahlungen zuletzt insbesondere im Zusammenhang mit einer vom Arbeitnehmer angedrohten Zwangsvollstreckung bzw. der angedrohten Stellung eines Insolvenzantrags, einer Lohnzahlung durch ein Schwesterunternehmen des Schuldners und im Zusammenhang mit der Gewährung von Retention Boni zur Bindung von Leistungs- und Know-how-Trägern eine erhebliche Rolle gespielt. bb) Leistung unter dem Druck unmittelbar drohender Zwangsvollstreckung 437 Dabei sind Arbeitnehmer jedenfalls dann schlecht beraten, ihrem säumigen Arbeitgeber mit einer Zwangsvollstreckung zu drohen, wenn ein vernünftiger Dritter in ihrer Position aus dem bestehenden Zahlungsverzug und weiteren Umständen darauf schließen muss, dass eine Zahlungsunfähigkeit besteht. Denn um eine inkongruente Deckung im Sinn des Anfechtungsrechts han-

100

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

delt es sich – wie das BAG jüngst erneut mehrfach klargestellt hat – bereits dann, wenn der Schuldner während der „kritischen Zeit“ der letzten drei Monate vor dem Eröffnungsantrag oder in der Zeit nach Stellung des Insolvenzantrags unter dem Druck unmittelbar drohender Zwangsvollstreckungsmaßnahmen leistet, um sie zu vermeiden. Vgl. BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396.

Der Schuldner gewährt damit eine Befriedigung, die der Gläubiger „nicht in 438 der Art“ zu beanspruchen hat. Unerheblich ist, ob die Zwangsvollstreckung im verfahrensrechtlichen Sinn 439 schon begonnen hatte, als die Leistung des Schuldners erfolgte. Die Inkongruenz wird durch den zumindest unmittelbar bevorstehenden hoheitlichen Zwang begründet. BAG, v. 3.7.2014 – 6 AZR 451/12, n. v.; BAG, v. 3.7.2014 – 6 AZR 953/12, ZInsO 2014, 2286; BAG, v. 24.10.2013 – 6 AZR 466/12, ZIP 2014, 91; BAG, v. 19.5.2011 – 6 AZR 736/09, ZIP 2011, 1628; BGH, v. 18.12.2003 – IX ZR 199/02, BGHZ 157, 242 = ZIP 2004, 319 = ZVI 2004, 98, dazu EWiR 2004, 865 (Homann).

Ein die Inkongruenz i. S. v. § 131 Abs. 1 InsO begründender Druck einer 440 unmittelbar bevorstehenden Zwangsvollstreckung besteht noch nicht, wenn der Schuldner nach Zustellung eines Titels die titulierte Forderung erfüllt, ohne dass der Gläubiger die Zwangsvollstreckung zuvor eingeleitet oder angedroht hat. Vgl. BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396 = ZVI 2014, 303; BGH, v. 20.1.2011 – IX ZR 8/10, ZIP 2011, 385 = ZVI 2011, 222, dazu EWiR 2011, 227 (Henkel).

Das gilt in gesteigertem Maß, wenn eine Forderung noch nicht tituliert ist.

441

BAG, v. 3.7.2014 – 6 AZR 451/12, n. v.

Das Bargeschäftsprivileg des § 142 InsO scheidet bei Leistung infolge Dro- 442 hung mit Zwangsvollstreckung bereits deshalb aus, weil die Zahlung nicht aufgrund einer Vereinbarung zwischen der Schuldnerin und dem Beklagten, sondern unter dem Druck der Zwangsvollstreckung mit der Folge inkongruenter Befriedigung geleistet wurde. Vgl. BAG, v. 8.5.2014 – 6 AZR 722/12, NZI 2014, 867; BAG, v. 24.10.2013 – 6 AZR 466/12, ZIP 2014, 91.

Im Hintergrund steht dabei folgende Überlegung: Muss der Gläubiger den 443 Schuldner durch die Zwangsvollstreckung oder die Drohung mit ihr zur Leistung zwingen, liegt der Verdacht nahe, dass der Schuldner nicht zahlungsfähig ist. Eine solche Leistung ist nicht insolvenzfest BAG, v. 3.7.2014 – 6 AZR 953/12, ZInsO 2014, 2286; vgl. BAG, v. 19.5.2011 – 6 AZR 736/09, ZIP 2011, 1628.

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

cc) Leistung wegen eines (drohenden) Insolvenzantrags 444 Diese Grundsätze gelten erst recht dann, wenn nicht mit der Zwangsvollstreckung, sondern sogar mit der Stellung eines Insolvenzantrags gedroht wird. Die durch den Druck eines Insolvenzantrags bewirkten Leistungen sind nach der zutreffenden höchstrichterlichen Rechtsprechung selbst außerhalb der gesetzlichen Krise stets inkongruent, weil sie weder dem Inhalt des Schuldverhältnisses entsprechen noch mit Zwangsmitteln erlangt worden sind, die dem einzelnen Gläubiger zur Durchsetzung seiner Ansprüche vom Gesetz zur Verfügung gestellt werden. 445 Denn dem Schuldner, der einen Gläubiger nach gestelltem Insolvenzantrag befriedigt, kommt es nicht in erster Linie auf die Erfüllung seiner gesetzlichen oder vertraglichen Pflichten an, sondern er will diesen Gläubiger zur Rücknahme des Insolvenzantrags bewegen. BAG, v. 27.3.2014 – 6 AZR 989/12, DB 2014, 1495; vgl. BGH, v. 19.9.2013 – IX ZR 4/13, ZIP 2013, 2113, dazu EWiR 2014, 153 (Lau); BGH, v. 25.10.2012 – IX ZR 117/11, ZIP 2012, 2355 = ZVI 2012, 456, dazu EWiR 2012, 797 (Huber).

446 Entsprechendes gilt, wenn ein Insolvenzantrag nicht gestellt, sondern nur angedroht ist. BGH, v. 7.3.2013 – IX ZR 216/12, ZIP 2013, 838 = ZVI 2013, 241, dazu EWiR 2013, 355 (Priebe).

447 Erfüllt ein Schuldner die Forderungen eines einzelnen Gläubigers nämlich vorwiegend, um einen angedrohten Insolvenzantrag zu verhindern oder ein beantragtes Insolvenzverfahren abzuwenden, kommt es ihm auf die Bevorzugung dieses einzelnen Gläubigers an. Damit nimmt er im Allgemeinen zugleich die Benachteiligung der übrigen Gläubiger in Kauf. BAG, v. 27.3.2014 – 6 AZR 989/12, DB 2014, 1495. Praxistipp: Die Inkongruenz trifft Gläubiger, die auf solche Weise Befriedigung erlangen, unabhängig davon, ob sie wiederholt und gezielt so vorgehen oder zum ersten Mal einen Insolvenzantrag gestellt haben, BAG, v. 27.3.2014 – 6 AZR 989/12, DB 2014, 1495.

448 Wurde zur Abwendung eines Insolvenzantrags eine Ratenzahlungsvereinbarung geschlossen, sind die darauf erhaltenen Zahlungen als inkongruent zu werten. BAG, v. 27.3.2014 – 6 AZR 989/12, DB 2014, 1495.

449 Insoweit gilt nichts anderes als bei sonstigen Leistungen von Teilzahlungen. BAG, v. 27.3.2014 – 6 AZR 989/12, DB 2014, 1495; vgl. BGH, v. 8.12.2005 – IX ZR 182/01, ZIP 2006, 290 = ZVI 2006, 121.

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II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

Stellt der Arbeitnehmer also einen Insolvenzantrag, um den Zahlungsdruck 450 auf den Arbeitgeber zu erhöhen, oder droht er ihn an, sind die daraufhin erfolgten Zahlungen als inkongruent anfechtbar. Dem Arbeitgeber ging es bei den Lohnzahlungen dann nämlich erkennbar auch in erster Linie um die Abwendung eines Insolvenzverfahrens. Beispiel: Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Arbeitgeber, nachdem er Lohnforderungen lange Zeit nicht erfüllte und Zwangsvollstreckungsversuche des Arbeitnehmers scheiterten, sich binnen zwei Wochen nach Kenntniserlangung von dem Insolvenzantrag zu einer Ratenzahlungsvereinbarung bereit erklärt und darüber sogleich das Insolvenzgericht, verbunden mit der Bitte um Zurückweisung des Insolvenzantrags, unterrichtet. BAG, v. 27.3.2014 – 6 AZR 989/12, DB 2014, 1495.

dd) Leistung durch Schwesterunternehmen Weist der Arbeitgeber als späterer Insolvenzschuldner einen Dritten an, die 451 geschuldete Leistung gegenüber dem Arbeitnehmer als Gläubiger zu erbringen, liegt darin im Regelfall eine inkongruente Deckung, weil die Erfüllung nicht „in der Art“ erfolgt, in der sie geschuldet ist. Das gilt nach der Rechtsprechung des BAG auch dann, wenn der Schuldner und der Dritte Schwesterunternehmen sind oder einen Gemeinschaftsbetrieb unterhalten. BAG, v. 21.11.2013 – 6 AZR 159/12, ZIP 2014, 233, dazu EWiR 2014, 187 (Würdinger); dazu Mückl/Krause, GWR 2014, 91.

ee) Retention Bonus Die Zusage eines Retention Bonus, d. h. einer Halteprämie, begründet eine 452 Inkongruenz, wenn und soweit dem Arbeitnehmer im Zeitpunkt des Zugangs der Zusage für den Fall, dass er weiter betriebstreu bleibt, lediglich ein Anspruch auf die arbeitsvertraglich vereinbarte Gegenleistung, nicht aber auf die ihm erst mit der ergänzenden Vereinbarung zugesagte Halteprämie zustand. Das arbeitsvertragliche Leistungsprogramm wurde dann durch die Zusage einer Halteprämie nachträglich zugunsten des Arbeitnehmers abgeändert, ohne dass er darauf einen Anspruch hatte. Dies begründet die inkongruente Deckung. Vgl. ausführlich oben unter Rn. 433 ff.

c) Vorsatzanfechtung Nach § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO anfechtbar ist eine Rechtshandlung, die der 453 Schuldner in den letzten zehn Jahren vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag mit dem Vorsatz, seine Gläubiger zu benachteiligen, vorgenommen hat, wenn der andere Teil zur Zeit der 103

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

Handlung den Vorsatz des Schuldners kannte. Diese Kenntnis wird nach § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO vermutet, wenn der andere Teil wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und dass die Handlung die Gläubiger benachteiligte. aa) Anforderungen an die Benachteiligung 454 Für die Vorsatzanfechtung genügt dabei eine mittelbare Benachteiligung. vgl. BAG, v. 21.2.2008 – 6 AZR 273/07, BAGE 126, 89 = ZIP 2008, 1184 = ZVI 2008, 346, dazu EWiR 2008, 691 (Homann); Kirchhof, in: MünchKomm-InsO, § 142 Rn. 24; für § 31 Nr. 1 KO bereits BGH, v. 30.9.1993 – IX ZR 227/92, BGHZ 123, 320= ZIP 1993, 1653, dazu EWiR 1994, 373 (Henckel).

455 Eine derartige mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn die angefochtene Rechtshandlung allein noch keinen (unmittelbaren) Nachteil für die Gläubiger bewirkt, aber die Grundlage für einen weiteren Ablauf geschaffen hat, der zu einer Gläubigerschädigung geführt hat. Kayser, in: MünchKomm-InsO, § 129 Rn. 121.

Beispiel: Das ist z. B. anzunehmen, wenn der Arbeitgeber als Schuldner die Forderung eines Arbeitnehmers als Gläubiger befriedigt, der ohne diese Zahlung Insolvenzgläubiger gewesen wäre. In diesem Fall ist die Masse durch den für die Erfüllung aufgewandten Betrag verkürzt, so dass sich die Quote der anderen Insolvenzgläubiger verringert. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307; BGH, v. 18.7.2002 – IX ZR 480/00, ZIP 2002, 1540 = ZVI 2002, 280; Kayser, in: MünchKomm-InsO, § 129 Rn. 104, 123, 163b.

bb) Prüfungsanforderungen an die subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite 456 Voraussetzung der Vorsatzanfechtung von Lohnansprüchen ist nach § 133 InsO auf Seiten des Arbeitgebers ein Gläubigerbenachteiligungsvorsatz und auf Seiten des Arbeitnehmers die Kenntnis hiervon, wobei – als Erleichterung für den Insolvenzverwalter – insoweit das Wissen um die drohende Zahlungsunfähigkeit und den gläubigerbenachteiligenden Charakter der Lohnzahlung ausreicht. 457 Das Vorliegen der vorgenannten subjektiven Tatbestandsmerkmale als innere, dem Beweis nur eingeschränkt zugängliche Tatsachen kann regelmäßig nur mittelbar aus objektiven Tatsachen hergeleitet werden. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

104

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

Der BGH hat für den Nachweis des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes ver- 458 schiedene Indizien entwickelt und auch bei kongruenten Deckungen insbesondere auf die Kenntnis des Schuldners und des Anfechtungsgegners von der zumindest drohenden Zahlungsunfähigkeit des Schuldners abgestellt. Auch für ein Eingreifen der Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO genügt es nach der Rechtsprechung des BGH scheinbar allein, dass der Anfechtungsgegner die drohende Zahlungsunfähigkeit bzw. die Umstände, aus denen diese zwingend folgt, kennt. Vgl. die Nachweise in BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37.

Nach einer in Teilen der Literatur vertretenen Auffassung kommt es nach 459 dieser Rechtsprechung für die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung praktisch nur auf den ersten Teil der Vermutungsvoraussetzung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO, die Kenntnis von der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit, an. Der zweite Teil der Vermutungsgrundlage, die Kenntnis von der Gläubigerbenachteiligung, soll dann aus dem ersten Teil des Vermutungstatbestands folgen. Dreh- und Angelpunkt der Vorsatzanfechtung ist nach diesem Verständnis der Nachweis, dass Schuldner und Anfechtungsgegner von der zumindest drohenden Zahlungsunfähigkeit oder den auf eine solche hindeutenden Tatsachen Kenntnis hatten. Vgl. die Zusammenfassung der entsprechenden Literaturstimmen bei BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

In der Literatur ist diese Rechtsprechung zuletzt heftig kritisiert worden

460

Jensen, NZI 2013, 471; Foerste, ZInsO 2013, 897, 900; Priebe, ZInsO 2013, 2479, 2481.

Die Vorsatzanfechtung entwickle sich zu einem „Superanfechtungstatbestand“. Lütcke, ZInsO 2013, 1984, 1990.

Teilweise wird dies als verdeckte Rechtsfortbildung bewertet und deshalb zur Verfassungsbeschwerde aufgerufen. Foerste, ZInsO 2013, 897, 900.

Das BAG interpretiert die Rechtsprechung des BGH, der es sich angeschlossen 461 hat, allerdings nicht im vorgenannten Sinn. Eine solche schematische Anwendung des Indizes der Zahlungsunfähigkeit verbiete sich. Vielmehr habe das Tatsachengericht eine einzelfallbezogene Gewichtung der Beweisanzeichen im Wege der Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Kritisch Smid, ZInsO 2014, 275, 280, der eine solche Gesamtbetrachtung für unkonturiert und die Feinabstimmung ausgearbeiteter Tatbestände verwischend hält.

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

462 Dabei gelten nach der aktuellen Rechtsprechung des BAG folgende Grundsätze: Vgl. zum Vorstehenden und Nachfolgenden auch BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

(1) Der Vorsatz des Arbeitgebers und sein Nachweis 463 Der Schuldner handelt mit Vorsatz i. S. d. § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO, wenn er die Benachteiligung der Gläubiger als Erfolg seiner Rechtshandlung will oder als mutmaßliche Folge erkennt und billigt. BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37; BGH, v. 10.1.2013 – IX ZR 13/12, ZIP 2013, 174, dazu EWiR 2013, 123 (Römermann).

464 Die Rechtsprechung hat für den Nachweis des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes verschiedene Indizien bzw. Beweisanzeichen entwickelt. Vgl. Kayser, NJW 2014, 422, 424; Gehrlein, DB 2013, 2843.

465 Ein solches Beweisanzeichen kann nach der Rechtsprechung des BAG das Vorliegen einer inkongruenten Deckung, ein anderes die Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit sein. (a) Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit als Beweiszeichen 466 Die Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit begründet nämlich – wie das BAG ausdrücklich unterstrichen hat – keine gesetzliche Vermutung i. S. d. § 292 ZPO für das Vorliegen der subjektiven Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 InsO, sondern ist nur ein Beweisanzeichen für das Vorliegen des Benachteiligungsvorsatzes, BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37,

das allerdings besondere Bedeutung hat. BGH, v. 24.10.2013 – IX ZR 104/13, ZIP 2013, 2262 = ZVI 2014, 112, dazu EWiR 2014, 151 (Henkel).

467 Es kann – wie jedes andere Beweisanzeichen auch – entkräftet werden Kayser, WM 2013, 293, 298; vgl. zur Entkräftung des Beweisanzeichens der Inkongruenz BGH, v. 5.3.2009 – IX ZR 85/07, BGHZ 180, 98 = ZIP 2009, 922 = ZVI 2009, 292, dazu EWiR 2009, 485 (Wallner)

bzw. im Einzelfall eine so geringe Beweiskraft entfalten, dass es den Schluss auf den Benachteiligungsvorsatz als Haupttatsache nicht mehr zulässt. Vgl. Huber, EWiR 2013, 781, 782.

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II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

Aus der jüngeren Rechtsprechung des BGH folgt nach der Bewertung des 468 BAG nichts anderes. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

Der BGH habe insoweit stets nur angenommen, dass aus der Kenntnis der 469 Zahlungsunfähigkeit auf den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners geschlossen werden „kann“. Erst dann, wenn dies nach den Feststellungen der Tatsachengerichte der Fall ist, komme es auf das Vorliegen eines Sanierungsversuchs als gegenläufiges Indiz an, durch das im Rahmen der erforderlichen Gesamtabwägung das Indiz der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit wieder seine Bedeutung verlieren könne. BGH, v. 10.1.2013 – IX ZR 13/12, ZIP 2013, 174; Kayser, WM 2013, 293, 298.

Bei der Prüfung, welchen Beweiswert das Beweisanzeichen der Kenntnis der 470 Zahlungsunfähigkeit bei Zahlungen im Rahmen eines Bargeschäfts oder in bargeschäftsähnlicher Lage für die Vorsatzanfechtung hat, sei darauf zu achten, dass die Vorsatzanfechtung nicht über ihren Normzweck hinaus ausgedehnt wird. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307; vgl. Kayser, WM 2013, 293, 298.

So werde auch dem vom Gesetzgeber beabsichtigten Stufenverhältnis von 471 § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 133 InsO Rechnung getragen. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

Der Rückgriff auf die von der Rechtsprechung des BGH entwickelten Be- 472 weisanzeichen im Rahmen der Prüfung des § 133 InsO dürfe – so das BAG weiter – nicht dazu führen, dass die Vorsatzanfechtung an den Tatbeständen der Deckungsanfechtung „vorbeizieht“, das gesetzlich bestimmte Stufenverhältnis zwischen der Anfechtung kongruenter Deckungen nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO und § 133 InsO verloren geht und § 142 InsO leer läuft. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

Eine Auslegung, die dazu führte, dass die Vorsatzanfechtung schon unter 473 den Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 InsO durchgreifen würde und damit der letztgenannte Tatbestand im praktischen Ergebnis nicht auf den DreiMonats-Zeitraum beschränkt, sondern auf zehn Jahre ausgedehnt würde, stünde im unvereinbaren Widerspruch zu dem eindeutig zeitlich begrenzten Anwendungsbereich des § 130 InsO. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307; BGH, v. 10.2.2005 – IX ZR 211/02, BGHZ 162, 143 = ZIP 2005, 494 = ZVI 2005, 204.

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

(b) Besonderheiten bei Vorliegen eines Bargeschäfts bzw. einer bargeschäftsähnlichen Lage 474 Den Besonderheiten eines Bargeschäfts bzw. einer bargeschäftsähnlichen Lage trägt das BAG dabei wie folgt Rechnung: 475 Erfolgt die Entgeltzahlung im Wege des Bargeschäfts, kann sich auch bei Kenntnis der eigenen Zahlungsunfähigkeit der Wille des Arbeitgebers nach der Bewertung des BAG darin erschöpfen, eine gleichwertige Gegenleistung für die Arbeitsleistung zu erbringen, die zur Fortführung des Unternehmens nötig ist und damit den Gläubigern auch nützen kann, so dass ihm eine mit der Zahlung verbundene mittelbare Gläubigerbenachteiligung nicht bewusst geworden ist. Vgl. BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37; BGH, v. 16.7.2009 – IX ZR 28/07, NZI 2009, 723; Kayser, in: MünchKomm-InsO, § 133 Rn. 33a; kritisch Foerste, ZInsO 2013, 897, 900, der diese Wertung für systemwidrig hält.

476 Bei Zahlungen im Rahmen eines Bargeschäfts oder in bargeschäftsähnlichen Lagen ist deshalb nach der Rechtsprechung des BAG stets zu prüfen, ob die Zahlung im Einzelfall tatsächlich den Rückschluss auf den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners und die Kenntnis des Anfechtungsgegners zulässt. Dabei kann nach der Bewertung des BAG nach den Umständen des Einzelfalls die Beweisstärke des Indizes der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit so schwach sein, dass es den Rückschluss auf den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners und die Kenntnis des Anfechtungsgegners davon nicht zulässt. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307; vgl. zur Beweisstärke BGH, v. 18.11.2004 – IX ZR 299/00, ZIP 2005, 769 = ZVI 2005, 261, dazu EWiR 2005, 763 (Beutler/Vogel) [kein „starkes“ Beweisanzeichen]; Huber, EWiR 2013, 781, 782.

477 Dieses Erfordernis einer einzelfallbezogenen Prüfung des Beweiswerts der Beweisanzeichen, insbesondere auch des Beweisanzeichens der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit, für die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung bei Bargeschäften oder in bargeschäftsähnlichen Lagen, steht – wie das BAG zu Recht betont – BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307

im Einklang mit der Rechtsprechung des BGH. BGH, v. 16.7.2009 – IX ZR 28/07, NZI 2009, 723; vgl. auch BGH, v. 24.9.2009 – IX ZR 178/07, n. v.

108

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

(c) Inkongruente Leistung als Beweiszeichen Ein einschlägiges Beweisanzeichen kann nach der Rechtsprechung des BAG 478 auch das Vorliegen einer inkongruenten Deckung sein. Voraussetzung für eine Qualifikation als Beweiszeichen ist nach der Rechtsprechung des BAG aber insoweit in der Regel, dass die Lohnzahlung zu einem Zeitpunkt eintrat, als zumindest aus der Sicht des Arbeitnehmers als Empfängers der Lohnzahlung Anlass bestand, an der Liquidität des Arbeitgebers zu zweifeln. BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37; BGH, v. 7.11.2013 – IX ZR 248/12, ZIP 2013, 2368, dazu EWiR 2013, 781 (Huber).

Hintergrund hierfür ist, dass der auslösende Umstand für die von einer in- 479 kongruenten Deckung vermittelte Indizwirkung in einer ernsthaften Besorgnis bevorstehender Zahlungskürzungen oder -stockungen des Schuldners liegt, weil sich damit die Gefährdung der anderen, nicht in gleicher Weise begünstigten Gläubiger aufdrängt. Vgl. BGH, v. 7.11.2013 – IX ZR 248/12, ZIP 2013, 2368.

Die Bedeutung der Inkongruenz als Beweisanzeichen hängt nach der Recht- 480 sprechung des BAG im Übrigen von deren Art und Ausmaß ab: Je geringer das Ausmaß der Inkongruenz im Einzelfall ist, desto mehr tritt ihre Bedeutung als Beweisanzeichen zurück. BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37. Praxistipp: Im Regelfall fällt die Indizwirkung einer inkongruenten Deckung umso weniger ins Gewicht, je länger die Handlung vor der Verfahrenseröffnung liegt (vgl. BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37; BGH 18.12.2003 – IX ZR 199/02, BGHZ 157, 242 = ZIP 2004, 319 = ZVI 2004, 98; Kirchhof, ZInsO 2004, 1168, 1175). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass sich dieses Indiz durch den längeren Fortbestand des Unternehmens praktisch selbst widerlegt (Kayser, NJW 2014, 422, 428).

Beispiel: Dies betrifft Fälle der vorübergehenden wirtschaftlichen Stabilisierung des Schuldners, welche die Gefahr von Zahlungsverkürzungen zu Lasten der Gläubigergesamtheit zeitweise entfallen ließ. BAG, v. 27.3.2014 – 6 AZR 989/12, DB 2014, 1495.

Ebenso wie andere Beweisanzeichen kann die Inkongruenz nach der Recht- 481 sprechung des BAG zudem entkräftet werden bzw. im Einzelfall eine so geringe Beweiskraft entfalten, dass sie den Schluss auf den Benachteiligungsvorsatz als Haupttatsache nicht mehr zulässt.

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung Vgl. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307. Praxistipp: Eine Entkräftung kommt in Betracht, wenn Einzelfallumstände ergeben, dass die angefochtene Rechtshandlung von einem anderen, anfechtungsrechtlich unbedenklichen Willen geleitet war und das Bewusstsein der Benachteiligung anderer Gläubiger infolgedessen in den Hintergrund getreten ist.

Beispiel: Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn die angefochtene Rechtshandlung Bestandteil eines ernsthaften, fehlgeschlagenen Sanierungsversuchs ist. BAG, v. 27.3.2014 – 6 AZR 989/12, DB 2014, 1495; BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37; BGH, v. 10.1.2013 – IX ZR 13/12, ZIP 2013, 174.

482 Kennt der Schuldner seine Zahlungsunfähigkeit, kann daraus aber als Beweisanzeichen auf einen Benachteiligungsvorsatz geschlossen werden. Vgl. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

483 Der Schuldner weiß dann in aller Regel, dass sein Vermögen nicht ausreicht, um sämtliche Gläubiger zu befriedigen. BAG, v. 27.3.2014 – 6 AZR 989/12, DB 2014, 1495; BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37; BGH, v. 10.1.2013 – IX ZR 13/12, ZIP 2013, 174. Praxistipp: Auch in diesen Fällen handelt der Schuldner allerdings nicht mit Benachteiligungsvorsatz, wenn er aufgrund konkreter Umstände mit einer baldigen Überwindung bzw. Abwendung der Krise rechnen kann.

(2) Kenntnis des Arbeitnehmers vom Benachteiligungsvorsatz des Arbeitgebers 484 Nach § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO muss der Anfechtungsgegner zur Zeit der angefochtenen Handlung den Vorsatz des Schuldners, seine Gläubiger zu benachteiligen, kennen. Diese Kenntnis wird vermutet, wenn der Anfechtungsgegner wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und die Handlung die Gläubiger benachteiligte (§ 133 Abs. 1 Satz 2 InsO). 485 Die damit erforderliche Kenntnis des Arbeitnehmers als Anfechtungsgegner ist nach der Rechtsprechung des BAG mit Hilfe der anerkannten Beweisanzeichen spiegelbildlich zum Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Arbeitgebers als Schuldners zu beurteilen. Denn auch diese Kenntnis kann vielfach nur mittelbar aus objektiven Tatsachen hergeleitet werden. BAG, v. 27.3.2014 – 6 AZR 989/12, DB 2014, 1495 m. w. N.

110

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

Der Arbeitnehmer als Anfechtungsgegner kann die Beweisanzeichen aller- 486 dings erschüttern, indem er gegenläufige Indizien geltend macht und nötigenfalls beweist, oder er kann die gesetzliche Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO widerlegen. BAG, v. 27.3.2014 – 6 AZR 989/12, DB 2014, 1495; BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37.

d) Mögliche Ausnahme: Bargeschäft Bargeschäfte sind gemäß § 142 InsO nur unter den Voraussetzungen des 487 § 133 Abs. 1 InsO anfechtbar. aa) Zweck des Bargeschäftsprivilegs Die als Ausnahmevorschrift konzipierte Bestimmung des § 142 InsO beruht 488 auf der Erkenntnis, vgl. zu diesem Rechtscharakter BAG, v. 24.10.2013 – 6 AZR 466/12, ZIP 2014, 91,

dass es bei zeitnahem Austausch gleichwertiger Leistungen an einer objektiven Gläubigerbenachteiligung fehlt. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

§ 142 InsO soll es dem Schuldner ermöglichen, auch in der Zeit seiner wirt- 489 schaftlichen Krise noch wertäquivalente Bargeschäfte, d. h. Rechtsgeschäfte, die die Insolvenzgläubiger nicht unmittelbar benachteiligen, anfechtungsfrei abzuwickeln. BGH, v. 7.3.2002 – IX ZR 223/01, BGHZ 150, 122 = ZIP 2002, 812 = ZVI 2002, 106, dazu EWiR 2002, 685 (Ringstmeier/Rigol); vgl. auch BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366.

Ziel des § 142 InsO ist dementsprechend zu verhindern, dass der potentielle 490 Insolvenzschuldner aufgrund der drohenden Anfechtungsrisiken vollständig vom Wirtschaftsverkehr ausgeschlossen wird, sobald seine Krise erkennbar geworden ist. Klinck, DB 2014, 2455, 2459.

§ 142 InsO greift dabei auch dann ein, wenn das verpflichtende Rechtsge- 491 schäft, das vom Schuldner zeitnah erfüllt worden ist, nicht in dem Zeitraum des § 132 InsO geschlossen worden ist. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307; vgl. BGH, v. 27.9.1984 – IX ZR 3/84, WM 1984, 1430; Kirchhof, in: MünchKomm-InsO, § 142 Rn. 1.

Nach dem Zweck der Vorschrift muss es dem Schuldner, der sich vor Beginn 492 der Krise eine Leistung hat versprechen lassen, auch möglich sein, die ihm

111

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

obliegende Gegenleistung anfechtungsfrei zu erbringen. Unanfechtbar abgeschlossene Rechtsgeschäfte müssen erfüllbar bleiben. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307; vgl. BGH, v. 30.9.1993 – IX ZR 227/92, BGHZ 123, 320 = ZIP 1993, 1653.

493 Auf den Zeitpunkt, in dem der dieser Gegenleistung zugrunde liegende schuldrechtliche Vertrag geschlossen worden ist, kommt es nach der Rechtsprechung des BAG nicht an. Denn nur so lassen sich die Folgen der Erfüllung von Dauerschuldverhältnissen, die vor der Krise begründet worden sind, nach der Bewertung des BAG insolvenzrechtlich angemessen lösen. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

bb) Bargeschäft i. S. d. § 142 InsO 494 Ein Bargeschäft i. S. d. § 142 InsO liegt vor, wenn der Schuldner aufgrund einer Vereinbarung mit dem Anfechtungsgegner im engen zeitlichen Zusammenhang mit seiner Leistung eine gleichwertige Gegenleistung erhalten hat. BAG, v. 24.10.2013 – 6 AZR 466/12, ZIP 2014, 91.

495 Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kommt es zu keiner Vermögensverschiebung zulasten des Schuldners (und damit bei späterer Insolvenz letztlich zulasten der Gläubiger), sondern zu einer bloßen Vermögensumschichtung. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

496 Ob Leistung und Gegenleistung gleichwertig sind, ist nach objektiven Maßstäben zu beurteilen. BAG, v. 18.9.2014 – 6 AZR 145/13, ZIP 2014, 2519; BGH, v. 7.3.2002 – IX ZR 223/01, BGHZ 150, 122 = ZIP 2002, 812 = ZVI 2002, 106.

497 Lässt man anlässlich der Krise getroffene Sondervereinbarungen einmal unberücksichtigt, vgl. zu Retention Boni oben unter Rn. 452,

ist die Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung im Arbeitsverhältnis in der Regel unproblematisch. Klinck, DB 2014, 2455, 2459.

498 Denn das Arbeitsverhältnis ist wie jedes gegenseitige Vertragsverhältnis dadurch gekennzeichnet, dass ein Vertragspartner dem anderen die Leistung um der anderen willen verspricht. Erfolgt die Entgeltzahlung in der vertraglich geschuldeten Höhe, handelt es sich im Allgemeinen um einen gleichwertigen Leistungsaustausch, wie er für das Bargeschäft typisch ist.

112

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307; Bork, ZIP 2007, 2337, 2338; Pieper, ZInsO 2009, 1425, 1430; ein Bargeschäft ohne ausdrückliche Problematisierung der Gleichwertigkeit bejahend BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366.

cc) Zeitlicher Zusammenhang Problematisch ist in der betrieblichen Praxis daher in der Regel allein das Merk- 499 mal der Unmittelbarkeit, d. h. der zeitliche Zusammenhang. Ausgeschlossen muss sein, dass der vom Arbeitnehmer verspätet geduldeten Zahlung eine Kreditierungsfunktion zukommt. Vgl. BT-Drucks. 12/2443, S. 167; Klinck, DB 2014, 2455, 2459 f. m. w. N.

Ist der Anfechtungsgegner – wie es Arbeitnehmer typischerweise sind – vor- 500 leistungspflichtig und werden die wechselseitigen Leistungen abschnittsweise ausgetauscht, liegt noch keine Kreditgewährung, sondern ein Bargeschäft vor, wenn die Zahlung zum festgelegten Zeitpunkt erfolgt. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307; vgl. BGH, v. 13.4.2006 – IX ZR 158/05, BGHZ 167, 190 = ZIP 2006, 1261 = ZVI 2006, 456, dazu EWiR 2007, 117 (Pape).

(1) Rechtsprechung des BAG Das BAG hat allerdings sehr großzügig angenommen, dass nach diesen Grund- 501 sätzen ein Bargeschäft vorliegt, wenn der Arbeitgeber in der Krise Arbeitsentgelt für Arbeitsleistungen zahlt, die der Arbeitnehmer in den vorhergehenden drei Monaten erbracht hat. BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366.

In der Literatur ist dies – vor allem im insolvenzrechtlichen Schrifttum – heftig 502 kritisiert worden, vgl. z. B. Huber, ZInsO 2013, 1049; ders., EWiR 2011, 817; Ganter, ZIP 2012, 2037; Jacobs/Doebert, ZInsO 2012, 618; Brinkmann, ZZP 125 (2012), 197; Klinck, Anm. AP InsO § 130 Nr. 2; ders., DB 2014, 2455, 2459 f.

Das BAG hat seine Bewertung des erforderlichen engen zeitlichen Zusammen- 503 hangs im Wesentlichen auf (behauptete) Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses gestützt und dies wie folgt begründet: Wenn die Frage, ob eine Leistung von der Privilegierung des § 142 InsO er- 504 fasst wird, wesentlich von der Art der ausgetauschten Leistungen und davon abhänge, in welcher Zeitspanne sich der Austausch nach den Gepflogenheiten

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

des Geschäftsverkehrs vollziehe, spreche als rechtstatsächliches Argument für eine längere Frist bereits, dass in nicht wenigen Branchen eine verzögerte Zahlung der Vergütung schon fast die Regel sei und die nicht selten schlechte Zahlungsmoral der Auftraggeber und Schuldner von Arbeitgebern bewirke, dass die verspäteten Eingänge von Forderungen auch zu verzögerten Lohnund Gehaltszahlungen führten. Vgl. Bandte, in: Festschrift Beuthien, S. 401, 405.

505 Dass im Falle einer Kreditgewährung ein Bargeschäft nicht in Betracht kommt, rechtfertige zwar noch nicht den Umkehrschluss, ein Bargeschäft liege immer dann vor, wenn kein Kredit gewährt werde. BGH, v. 13.4.2006 – IX ZR 158/05, BGHZ 167, 190 = ZIP 2006, 1261 = ZVI 2006, 456.

506 Jedoch seien nach der Verkehrsanschauung Entgeltzahlungen von Arbeitgebern für Arbeitsleistungen in den letzten drei Monaten, die Arbeitnehmer im Hinblick auf den in § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III a. F. (entspricht § 165 Abs. 1 SGB III n. F.) festgesetzten Insolvenzgeldzeitraum zumeist als abgesichert anzusehen pflegten, nicht nur nicht Tilgung eines Kredits, sondern – so das BAG – noch Leistungen im engen zeitlichen Zusammenhang mit der von den Arbeitnehmern erbrachten Gegenleistung. 507 Hinzu kommt nach der Bewertung des BAG, dass im Arbeitsverhältnis Arbeit dauernd und nicht abschnittsweise geleistet werde und die Masse nicht nur von den erbrachten Arbeitsleistungen, sondern vor allem auch vom Fortbestand des Betriebs als funktionaler Einheit profitiere. Dazu ist – und das dürfte in der Tat nicht näher begründungsbedürftig sein – erforderlich, dass die einzelnen Arbeitnehmer überhaupt „bei der Stange bleiben“ – und auch dies werde – so das BAG – mit der Berichtigung von Lohnrückständen „erkauft“. a. A. Wegener, NZI 2009, 225, 226.

508 Bei diesem Windel, Windel, AP ArbGG 1979 § 2 Zuständigkeitsprüfung Nr. 14,

entliehenen Argument geht es – ausgehend von dem Zweck des § 142 InsO – im Kern darum, dass der Betrieb als Organisationsform der Tätigkeit des Schuldners die Grundvoraussetzung für dessen weitere Teilnahme am Geschäftsverkehr ist und die Erhaltung von Sanierungschancen ist. Windel, ZIP 2014, 2167, 2169.

509 Zwar trifft es zu, dass der Arbeitgeber nach § 614 Satz 2 BGB eine nach Zeitabschnitten bemessene Vergütung nach dem Ablauf der einzelnen Zeitabschnitte zu entrichten hat, der Arbeitnehmer damit Vorleistungen zu erbringen hat und im Allgemeinen derjenige, der an den Schuldner Vorleistungen er-

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II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

bracht hat, wegen seines Anspruchs auf die Gegenleistung nur eine Insolvenzforderung hat. BGH, v. 13.4.2006 – IX ZR 158/05, BGHZ 167, 190 = ZIP 2006, 1261 = ZVI 2006, 456.

Allerdings bezweckt die Regelung in § 142 InsO, dem in der Krise befindlichen 510 Schuldner eine weitere Teilnahme am Geschäftsverkehr zu ermöglichen, wenn dies die Gläubigergesamtheit nicht beeinträchtigt. Wenn aber § 142 InsO den Zweck erfüllen soll, dass der Schuldner auch in der Krise vorsichtig weiterwirtschaften kann, ist es – so das BAG unter Übernahme des von Windel entwickelten Arguments – in aller Regel erforderlich, dass der Betrieb des Arbeitgebers als funktionale Einheit fortbesteht und die Arbeitnehmer bereit sind, die ihnen obliegenden Arbeitsleistungen trotz des Zahlungsverzugs zu erbringen. BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366.

Ein Unternehmen in der Krise, das die Unterstützung seiner Arbeitnehmer 511 verliert, weil es sie in die Kündigung oder in die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts treibt, wird umso schneller am Ende sein, so dass die Perspektive einer sanierenden Insolvenz schon im Vorfeld der Antragstellung verloren ginge. Abele, FA 2009, 133, 135.

Dazu bedarf es keiner Rechtstatsachenforschung. Das BAG entwickelt dar- 512 aus nun folgende Überlegung: In der Regel ist die Mehrzahl der Arbeitnehmer trotz des Zahlungsverzugs 513 des Arbeitgebers zur Weiterarbeit bereit, sofern sie ihre Entgeltansprüche als durch das Insolvenzgeld gesichert ansehen, das nach § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III für die dem Insolvenzereignis vorausgehenden drei Monate gezahlt wird. Hätten Arbeitnehmer Entgeltzahlungen des Arbeitgebers für Arbeitsleistungen, die sie in den letzten drei Monaten erbracht haben, an die Insolvenzmasse zurückzugewähren, würde das der Regelung in § 142 InsO zugrunde liegende Ziel, dass der Schuldner in der Krise nicht praktisch vom Geschäftsverkehr ausgeschlossen ist und seine Geschäfte fortführen kann, in aller Regel verfehlt. BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 732/10, ZInsO 2012, 834; BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366.

(2) Kritik des BGH an dieser Rechtsprechung Dieser im insolvenzrechtlichen Schrifttum ganz verbreitet stark kritisierten 514 Auslegung des § 142 InsO vgl. Klinck, DB 2014, 2455, 2460; Huber, EWiR 2011, 817; ders., ZInsO 2013, 1049 ff; Ganter, ZIP 2012, 2037 ff;

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung Plathner/Sajogo, ZInsO 2012, 581 ff.; Jacobs/Doebert, ZInsO 2012, 618 ff; Brinkmann, ZZP 125 (2012), 197, 208 f; Smid, DZWIR 2013, 89, 110 f.

hat der BGH in seinem Urteil vom 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491

ebenfalls sehr deutlich widersprochen. (a) Irrelevanz von Zahlungsverzögerungen in manchen Branchen 515 Soweit sich das BAG darauf berufe, „dass in nicht wenigen Branchen eine verzögerte Zahlung der Vergütung schon fast die Regel ist“, werde diese Würdigung schon im Ansatz dem Gesetzeszweck des § 142 InsO nicht gerecht, weil selbst ein verbreiteter Verstoß gegen Fälligkeitszeitpunkte nicht geeignet sein könne, die daran anknüpfenden Rechtsfolgen zu beseitigen. 516 Dieser Bewertung des BGH wird man aus Sicht der Praxis zustimmen müssen, weil die Überlegung des BAG sonst konsequenterweise zu einer branchenbezogenen Bewertung des Unmittelbarkeitskriteriums führen müsste und die damit einhergehende Rechtszersplitterung nicht nur den Gerichten und Insolvenzverwaltern, sondern auch den Arbeitnehmervertretern aufgrund ihrer Komplexität unzumutbar wäre. Vgl. Windel, ZIP 2014, 2167.

517 Die bei der Beurteilung eines Bargeschäfts zugrunde zu legenden allgemeinen geschäftlichen Gepflogenheiten beurteilen sich – worauf der BGH zu Recht ergänzend hinweist – nach den Gebräuchen solventer Partner und werden nicht durch verspätete Zahlungen insolvenzgefährdeter Unternehmen beeinflusst, die unter Liquiditätsengpässen leiden. Jacobs/Doebert, ZInsO 2012, 618, 622; Ganter, ZIP 2012, 2037, 2038, 2043.

518 Andernfalls wäre jeder Leistungsaustausch in der Krise als Bargeschäft zu bewerten, weil liquiditätsschwache Unternehmen typischerweise verzögert zahlen. Brinkmann, ZZP 125 (2012), 197, 208 f.

519 Losgelöst davon überzeugen den BGH die – tatsächlich nicht näher begründeten – rechtstatsächlichen Grundannahmen des BAG nicht. (b) Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Betriebs 520 Die weitere Erwägung des BAG, durch die Zahlung rückständigen Lohns werde „erkauft“, dass Arbeitnehmer zwecks Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs „bei der Stange bleiben“, vermag die Annahme eines Bargeschäfts nach der Bewertung des BGH ebenfalls nicht zu tragen. In der Fortsetzung

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II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

ihrer Arbeitstätigkeit liege – so der BGH – keine berücksichtigungsfähige Gegenleistung der Arbeitnehmer, weil die künftigen Leistungen ihrerseits wieder in Rechnung gestellt würden. BGH, v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491 = ZVI 2014, 458 unter Hinweis auf BGH, v. 30.1.1986 – IX ZR 79/85, BGHZ 97, 87, 94 = ZIP 1986, 448, dazu EWiR 1986, 387 (Kilger); BGH, v. 23.9.2010 – IX ZR 212/09, ZIP 2010, 2009 = WM 2010, 1986, dazu EWiR 2010, 825 (Freudenberg).

Diese Kritik trifft das BAG aber nicht unbedingt. Denn zunächst einmal 521 stellen Arbeitnehmer ihre Leistung nicht in Rechnung, sondern arbeiten in den angesprochenen Fällen schlicht weiter. Sie üben im Fall von Entgeltrückständen dann ihr aus § 273 Abs. 1 BGB folgendes Zurückbehaltungsrecht nicht aus, obwohl ihnen aus §§ 298, 615 BGB Annahmeverzugslohnansprüche ohne Arbeitsleistung zustünden. BAG, v. 8.5.2014 – 6 AZR 246/12, ZIP 2014, 1498, dazu EWiR 2014, 655 (Zimmer); vgl. zu den Grenzen dieses Rechts oben unter Rn. 339 ff. Praxistipp: Arbeitnehmeranwälte raten hierzu im Nachgang zu der Entscheidung des BGH vom 10.7.2014 (IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491) zur schnellstmöglichen Ausübung dieses Zurückbehaltungsrechts (vgl. Schindele, ArbRAktuell 2014, 382).

Es erscheint nicht abwegig, den Verzicht auf die Ausübung dieses Zurückbe- 522 haltungsrechts als Gegenleistung zu qualifizieren, die eine Anwendung des § 142 InsO rechtfertigt. In diesem Sinne Zwanziger, DB 2014, 2391, 2392.

(c) Verstoß gegen Recht und Gesetz? Die Arbeitnehmer einseitig begünstigende Auslegung des § 142 InsO durch 523 das BAG sei – so der BGH zur Fundamentalkritik ansetzend weiter – zudem mit der Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht vereinbar. Vgl. in dieselbe Richtung auch Huber, ZInsO 2013, 1049, 1054 f.; Kreft, ZIP 2013, 241, 250 f.

Der Gesetzgeber habe mit der Schaffung der InsO – wie bereits das Vorblatt 524 der Gesetzesbegründung betone – die allgemeinen Konkursvorrechte einschließlich derjenigen der Arbeitnehmer ausdrücklich beseitigt. BT-Drucks. 12/2443 Vorblatt B. 6.

Aufgrund dieser Gesetzesänderung seien nach Auffassung des Gesetzgebers 525 – so der BGH weiter – für Arbeitnehmer keine sozialen Härten zu erwarten gewesen, weil für die Lohnausfälle der letzten drei Monate vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Ausfallgeld gezahlt werde.

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung BT-Drucks. 12/2443 Vorblatt B. 6 sowie S. 90.

526 Lohnrückstände der Arbeitnehmer sollten durch das für die letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens gewährte Ausfallgeld gesichert werden. BT-Drucks. 12/2443, S. 96.

527 Bei der Streichung der Konkursvorrechte habe sich der Gesetzgeber von der allgemeinen Erwägung leiten lassen, dass sich die Entscheidung über den Vor- oder Nachrang einer Gläubigerklasse nicht auf hinreichend überzeugende soziale Gesichtspunkte stützen lässt. BT-Drucks. 12/2443, S. 90.

528 Wörtlich hat er insoweit ausgeführt: BT-Drucks. 12/2443, S. 90 „Eine dem sozialen Schutzbedürfnis im Einzelfall gemäße Einordnung von Gläubigerklassen in einen Privilegienkatalog erscheint unmöglich. Jeder Vorrechtskatalog ist letztlich willkürlich. Schon das geltende Konkursrecht räumt keineswegs allen anerkanntermaßen sozial schutzwürdigen Gruppen ein Vorrecht ein. Anders als im Recht der Einzelvollstreckung in das Arbeitseinkommen (§§ 850 d, 850 f Abs. 2 ZPO) sind beispielsweise Unterhalts- und Deliktsgläubiger im Konkursverfahren nicht privilegiert. Das Bundesverfassungsgericht hat die Fragwürdigkeit jedes Privilegienkatalogs in seinem Beschluss zum Vorrecht für Sozialplanforderungen (BVerfGE 65, 182 = ZIP 1984, 78) nachdrücklich herausgearbeitet.“

529 In der angeführten Entscheidung hat das BVerfG die Einordnung von Sozialplanabfindungen als Konkursforderungen im Range vor § 61 Abs. 1 Nr. 1 KO kraft Richterrechts als mit der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) unvereinbar beanstandet. BVerfG, v. 19.10.1983 – 2 BvR 485/80, 2 BvR 486/80, BVerfGE 65, 182 = ZIP 1984, 78.

530 Dabei hat es betont, dass jedes Konkursvorrecht eine Ausnahme vom Gebot der Gleichbehandlung aller Konkursgläubiger bildet. Soweit ein Vorrecht nicht gesetzlich begründet ist, muss es deshalb nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bei der Regelung bleiben, dass Forderungen gegen den Gemeinschuldner einfache Konkursforderungen im Range des § 61 Abs. 1 Nr. 6 KO sind. BVerfG, v. 19.10.1983 – 2 BvR 485/80, 2 BvR 486/80, BVerfGE 65, 182 = ZIP 1984, 78.

531 Da die Regelung nach Wortlaut, Systematik und Sinn abschließend sei, bestehe keine verfassungsrechtlich anzuerkennende Regelungslücke, die es dem Richter erlaube, für bestimmte Forderungen eine Privilegierung außerhalb dieses geschlossenen Systems zu begründen. BVerfG, v. 19.10.1983 – 2 BvR 485/80, 2 BvR 486/80, BVerfGE 65, 182 = ZIP 1984, 78

118

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

Diese Überlegungen überträgt der BGH im vorliegenden Kontext. Doch so 532 richtig die Zusammenfassung des gesetzgeberischen Willens und der Rechtsprechung des BVerfG durch den BGH ist: Sie trifft nicht völlig den Kern der Sache. Denn das BAG will keine Insolvenzvorrechte im Sinne von Masseverbindlichkeiten wiedereinführen, die der Gesetzgeber abgeschafft hat. Zwanziger, DB 2014, 2391, 2393.

Und es ist erkennbar nicht völlig dasselbe, ob jemand Zahlungen zurückleisten 533 muss oder aus der Masse vollständig befriedigt wird. Windel, ZIP 2014, 2167.

Dennoch liegt der BGH mit seiner These, der Gesetzgeber habe eine Gleich- 534 behandlung aller Gläubiger gewollt, da die Arbeitnehmer – soweit sie besonders schutzbedürftig sind bzw. der Schuldner auf sie angewiesen ist – über das Insolvenzgeld abgesichert sind, nicht neben der Sache. Soweit der Gesetzgeber sich dabei verschätzt hat, sollte er auch dort nachbessern. Ebenso Klinck, DB 2014, 2455 ff.

(d) Überschreitung der Schranken richterlicher Rechtsfortbildung? Soweit der BGH ergänzend darauf hinweist, die Rechtsprechung des BAG 535 setze sich aus sozialpolitischen Gründen – wie nicht zuletzt die Gesetzesinitiativen, sie durch eine Änderung des Insolvenzanfechtungsrechts zu legalisieren, belegten – Huber, ZInsO 2013, 1049, 1054 f.

über die Schranken richterlicher Rechtsfortbildung hinweg, indem sie Arbeitnehmern (unter Verzicht auf das Tatbestandsmerkmal „unmittelbar“, d. h. mit Hilfe einer vom Wortlaut des § 142 InsO nicht mehr getragenen Auslegung) im Gewand des Bargeschäftsprivilegs das vom Gesetzgeber ausdrücklich beseitigte Konkursvorrecht gewähre, ist dieses Argument den vorgenannten Einwänden ausgesetzt: Das BAG schafft keine Masseverbindlichkeiten, sondern legt § 142 InsO aus. Dass es dabei die Wortlautgrenze des – unbestimmten – Rechtsbegriffs „unmittelbar“ überschreitet, ist nicht gerade evident, Windel, ZIP 2014, 2167, 2172,

auch wenn sich das BAG dabei zweifellos vom allgemeinen Sprachgebrauch entfernt. Der Satz „Ausnahmeregeln sind nicht analogiefähig“, mit dem der BGH darüber hinaus argumentiert, ist methodologisch nicht nur überholt. Er war nie zutreffend. Vgl. z. B. Zwanziger, DB 2014, 2391, 2393.

Soweit der BGH im Übrigen mit dem Gleichheitssatz argumentiert, indem er 536 darauf hinweist, viele Kleinunternehmer, etwa handwerkliche Familienbetriebe, befänden sich in einer Arbeitnehmern vergleichbaren wirtschaftlichen Lage, 119

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

ohne – bei zutreffendem Verständnis – der auf § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO gestützten Anfechtung von verspätet erlangten Werklohnzahlungen mit dem Hinweis auf einen Baraustausch (§ 142 InsO) begegnen zu können und in ihrer Branche gesuchte Arbeitnehmer würden einen vorübergehenden Lohnausfall vielfach leichter verkraften können als etwa ein (Klein-)Unternehmen Umsatzausfälle, die auf der Insolvenz eines langjährigen Hauptabnehmers beruhten, mag dies zutreffen. Es mag auch richtig sein, dass sachgerechte Gründe für die unterschiedliche Behandlung dieser Gläubigergruppen nicht ersichtlich sind. Vgl. BVerfG, v. 19.10.1983 – 2 BvR 485/80, 2 BvR 486/80, BVerfGE 65, 182 = ZIP 1984, 78; BGH, v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491 = ZVI 2014, 458.

537 Dies bedeutet aber nur, dass – soweit eine mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz unvereinbare Rechtsprechung besteht – gerichtlich eine Gleichbehandlung bewirkt werden muss. Im gleichen Sinne Zwanziger, DB 2014, 2391, 2392.

538 Insoweit gilt aber kein „Prioritätsprinzip“ zugunsten der Rechtsprechung des BGH. Vielmehr muss das zutreffende Ergebnis anhand anderer Umstände ermittelt werden. Die Feststellung einer als nicht gerechtfertigt empfundenen Ungleichbehandlung allein trägt nicht. In dieselbe Richtung Windel, ZIP 2014, 2167, 2172.

(e) Lösung des BGH 539 Warum nun gerade die Rechtsprechung des BGH zum Baraustausch bei anwaltlichen Beratungsleistungen auf Arbeitnehmer übertragen lassen soll, wie der BGH in seinem Urteil vom 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491

angenommen hat, leuchtet indes nicht ein. Die Lösung des BGH ist hiervon ausgehend aber die Folgende: x

Der für ein Bargeschäft erforderliche Unmittelbarkeitszusammenhang ist noch gegeben, wenn im Falle einer monatlichen Vorleistungspflicht die Entgeltzahlung innerhalb von 30 Tagen nach Fälligkeit vorgenommen wird.

x

Für die Beurteilung als Bargeschäft ist es unschädlich, wenn der Fälligkeitszeitpunkt entsprechend den tarifvertraglichen Übungen anstelle des ersten Tages nicht länger als bis zum fünfzehnten Tag des Folgemonats hinausgeschoben wird.

x

Ist die Vergütung nach kürzeren Zeitabschnitten zu leisten, scheidet ein Bargeschäft aus, wenn zum Zeitpunkt der Zahlung bereits der Lohn für den nächsten Zeitabschnitt fällig war. BGH, v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491 = ZVI 2014, 458.

120

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

dd) Anfechtbarkeit von Bargeschäften Liegt ein Bargeschäft vor, fehlt es an einer unmittelbaren Benachteiligung der 540 Gläubiger, weil der Insolvenzmasse eine gleichwertige Gegenleistung zugeflossen ist. Kirchhof, in: MünchKomm-InsO, § 142 Rn. 9.

Die Entgeltzahlung im Wege des Bargeschäfts genügt allein noch nicht, um 541 eine mittelbare Benachteiligung der Gläubiger auszuschließen. Zwar erreicht der spätere Schuldner durch die (pünktlichen) Entgeltzahlungen, dass die Arbeitnehmer „bei der Stange bleiben“ und so der Betrieb als funktionale Einheit weiterbestehen kann. Erst das eröffnet – was nicht näher begründungsbedürftig sein dürfte – die Chance für einen Fortbestand des Betriebs. Vgl. BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366.

Die erbrachte Arbeitsleistung gewährt den Insolvenzgläubigern aber nicht 542 dieselbe Zugriffsmöglichkeit, wie sie die abgeflossenen Zahlungsmittel geboten hätten. Eine mittelbare Gläubigerbenachteiligung kann daher nach der zutreffenden Rechtsprechung von BGH und BAG allenfalls dann ausscheiden, wenn sich wegen eines ernsthaften und aussichtsreichen Sanierungsversuchs das Interesse der Gläubiger darauf richtet, dass die Tätigkeit unverändert fortgesetzt wird. Vgl. BGH, v. 12.1.2012 – IX ZR 95/11, ZIP 2012, 285, dazu EWiR 2012, 249 (Kirstein) für Prämienzahlungen, die den Rückkaufswert einer Direktversicherung für ihren Geschäftsführer erhöhen.

Soweit nicht das Vorliegen eines schlüssigen Sanierungskonzepts festgestellt 543 wird, zu den diesbezüglichen Anforderungen BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37,

wird die Anfechtbarkeit allein durch die subjektiven Umstände der Rechtshandlung begrenzt. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307; vgl. auch BGH, v. 4.12.1997 – IX ZR 47/97, ZIP 1998, 248, dazu EWiR 1998, 225 (Gerhardt); Bork, ZIP 2007, 2337, 2339.

Die Erschütterung des Beweisanzeichens der Kenntnis von der (drohenden) 544 Zahlungsunfähigkeit des Schuldners und der daraus folgenden Kenntnis der Gläubigerbenachteiligung auf Seiten des Anfechtungsgegners ist dabei nach der Bewertung des BAG naheliegend. Denn wird eine Entgeltleistung im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses im engen zeitlichen Zusammenhang mit einer gleichwertigen Gegenleistung erbracht, spricht – so das BAG – viel dafür, dass der Arbeitnehmer davon ausgeht und ausgehen darf, dass er nur bekommen hat, was ihm zustand, die Unternehmensfortführung erfolgversprechend ist und er die Erfüllung des Entgeltanspruchs deshalb als nicht gläubigerbenachteiligend ansieht. 121

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung Vgl. BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37. Praxistipp: Besondere Umstände des Einzelfalls können dem Gericht trotz dieser grundsätzlichen Bewertung des BAG dennoch die Überzeugung von der nach § 133 Abs. 1 InsO erforderlichen Kenntnis des Arbeitnehmers von einem Benachteiligungsvorsatz der Arbeitgebers verschaffen (vgl. Kayser, in: MünchKommInsO, § 133 Rn. 38b).

e) Unentgeltliche Leistung 545 Unentgeltliche Leistungen kommen im Arbeitsverhältnis eher selten vor und sind deshalb nicht häufig Gegenstand einer erfolgreichen Klage, die sich auf § 134 InsO stützt. aa) Qualifikation einer Leistung als „unentgeltlich“ 546 Das ArbG Dortmund hat sich hiermit in seinem Urteil vom 23.1.2014 – 6 Ca 4716/13, ZInsO 2014, 1458

auseinandergesetzt, in dem sich der Insolvenzverwalter darauf berufen hatte, der Arbeitsvertrag sei u. a. deshalb unwirksam, weil ein Scheingeschäft vorliege. Praxistipp: § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a ArbGG begründet eine umfassende Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen für individuelle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis. Ziel des Arbeitsgerichtsgesetzes ist es, alle bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten, die in greifbarer Beziehung zu einem Arbeitsverhältnis stehen, auch prozessual im Rahmen der Arbeitssachen zu erfassen (BAG, v. 15.3.2011 – 10 AZB 49/10, BAGE 137, 215; BAG, v. 23.8.2001 – 5 AZB 11/01, BAGE 99, 1 = ZIP 2001, 2059). Ist dem Tatbestand nach die Beschäftigung einer Partei als Arbeitnehmer vereinbart, ist es für die sich aus § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a ArbGG ergebende Rechtswegzuständigkeit ohne Belang, ob sich die vertragliche Grundlage als nichtig oder fehlerhaft erweist (vgl. BAG, v. 10.5.2000 – 5 AZB 3/00; ErfK/Koch, ArbGG § 2 Rn. 15). Nach diesen Grundsätzen ist der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten nach der Bewertung des BAG im Beschluss vom 25.11.2014 (10 AZB 52/14, juris) auch dann eröffnet, wenn der Kläger den geltend gemachten Klageanspruch ausdrücklich nicht auf eine arbeitsrechtliche Anspruchsgrundlage stützt, nach seinen Darlegungen die auf § 143 Abs. 1, § 134 Abs. 1 InsO gestützte Klage jedoch Zahlungen der Schuldnerin betrifft, die diese als Vergütung bezeichnet hatte. Angesichts des zwischen der Schuldnerin und dem Beklagten im entschiedenen Fall unter dem 6.11.2009 abgeschlossenen „Anstellungsvertrags“ hängt der Erfolg der Klage deshalb nach der Bewertung des BAG davon ab, ob dieser Vertrag wirksam geschlossen und beiderseitig erfüllt wurde. Nur wenn dies nicht zutrifft, wurden die Zahlungen „unentgeltlich“ i. S. v. § 134 Abs. 1 InsO von der Schuldnerin vorgenommen. Die Klage muss dort deshalb in der Sache abgewiesen werden, wenn der Beklagte die zurückverlangten Zahlungen als Vergütung für erbrachte Arbeitsleistungen erhalten hat (BAG, v. 25.11.2014 – 10 AZB 52/14, ZIP 2015, 341).

122

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

In anderen Fällen ist eine unentgeltliche Leistung im Zusammenhang mit einem Arbeitsverhältnis aus folgenden Gründen auch nur in gesondert gelagerten Fällen darlegbar. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Leistung unentgeltlich, wenn ver- 547 einbarungsgemäß der Vermögenswert zugunsten einer anderen Person aufgegeben wird, ohne dass diese Person eine ausgleichende Gegenleistung an den Schuldner erbringt. ArbG Dortmund, v. 23.1.2014 – 6 Ca 4716/13, ZInsO 2014, 1458. Praxistipp: Die Darlegungslast dafür, dass eine Vereinbarung dahingehend vorliegt, dass der Anfechtungsgegner das Arbeitsentgelt erhält, ohne eine Gegenleistung dafür zu erbringen, trägt der Insolvenzverwalter. Näher sogleich unter Rn. 549 ff.

In der Anfechtungspraxis ist das häufig nur schwer darzulegen. Denn zum 548 Beleg von Vergütungsansprüchen reicht es regelmäßig aus, wenn ein Arbeitnehmer darlegt, sich zur rechten Zeit am rechten Ort bereitgehalten zu haben, um die Arbeitsanweisungen seines Arbeitgebers zu befolgen – die konkret zu leistende Arbeit durch Weisung zu bestimmen ist dann dessen Sache (§ 106 GewO). Im insolvenzrechtlichen Anfechtungszusammenhang können nach ständiger Rechtsprechung an die sekundäre Darlegungslast von Arbeitnehmern keine höheren Anforderungen gestellt werden. LAG Rheinland-Pfalz, v. 15.2.2013 – 6 Sa 451/11, ZInsO 2013, 1263; ArbG Dortmund, v. 23.1.2014 – 6 Ca 4716/13, ZInsO 2014, 1458. Praxistipp: Legt der Arbeitnehmer im Einzelnen dar, welche Arbeitsleistung nach dem Arbeitsvertrag vereinbart gewesen sein soll und welche Tätigkeiten er ausgeübt haben will, muss der Insolvenzverwalter dem substantiiert entgegengetreten.

bb) Verteilung der Darlegungslast für das Vorliegen eines Scheingeschäfts In der betrieblichen Praxis relevant sind vor diesem Hintergrund Scheinge- 549 schäfte, wie neben dem vorgenannten Urteil des ArbG Dortmund auch das Urteil des BAG vom 18.9.2014 – 6 AZR 145/13, n. v.

noch einmal deutlich gemacht hat, in dem der klagende Insolvenzverwalter ein Scheinarbeitsverhältnis der beklagten Ehefrau des Schuldners, die während des streitigen Arbeitsverhältnisses Bioinformatik studierte, behauptet und die insoweit gezahlte Vergütung nach § 134 InsO zurückgefordert hatte. Begründet hatte er dies im Wesentlichen damit, dass andere Mitarbeiterinnen die Ehefrau des Schuldners nicht bei der Arbeit gesehen hätten. Dem BAG reichte dies nicht aus. Das BAG nahm aber folgende Klarstellungen vor:

123

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

550 Die bewusste Erfüllung einer nicht bestehenden Forderung sei eine unentgeltliche Leistung i. S. d. § 134 Abs. 1 InsO. Dies betreffe auch Fälle sog. „verschleierter Schenkungen“, bei denen ein – entgeltliches – Rechtsgeschäft nur zum Schein abgeschlossen wurde, um die Freigebigkeit zu verdecken. Dabei sei das entgeltliche Geschäft als Scheingeschäft nach § 117 Abs. 1 BGB nichtig und die gemäß § 117 Abs. 2 BGB wirksame unentgeltliche Verfügung nach § 134 InsO anfechtbar. 551 Zu der in der betrieblichen Praxis wichtigen Frage der Darlegungs- und Beweislast, an der die Klage des Insolvenzverwalters letztlich scheiterte, traf das BAG folgende Klarstellungen: x

Wer sich auf die Nichtigkeit eines Geschäfts nach § 117 Abs. 1 BGB beruft, trägt für den Scheincharakter des Geschäfts die Beweislast. Dies gilt auch für die Behauptung, bei einem Arbeitsvertrag habe es sich um ein Scheingeschäft gehandelt. Dem entspricht, dass den anfechtenden Insolvenzverwalter die primäre Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer unentgeltlichen Leistung i. S. d. § 134 InsO trifft.

x

Hat der Insolvenzverwalter alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausgeschöpft und kann er seiner primären Darlegungslast dennoch nicht nachkommen, weil er außerhalb des für seinen Anspruch erheblichen Geschehensablaufs stand, während der Gegner alle wesentlichen Tatsachen kennt und ihm nähere Angaben zuzumuten sind, kann vom Prozessgegner nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungs- bzw. Behauptungslast der Vortrag positiver Gegenangaben verlangt werden.

x

Einer sekundären Darlegungslast steht entgegen, dass der Insolvenzverwalter seine Informationsmöglichkeiten nicht vollständig ausschöpft. Dazu gehört die Geltendmachung seines Auskunftsanspruchs nach § 97 Abs. 1 InsO gegenüber dem Schuldner sowie die Anrufung des Insolvenzgerichts zur Einleitung von Zwangsmaßnahmen nach § 98 InsO. Zudem hat der Insolvenzverwalter ein Zugriffsrecht auf die nach § 36 Abs. 2 Nr. 1 InsO zur Insolvenzmasse gehörenden Geschäftsbücher.

x

Eine sekundäre Darlegungslast wird auch nicht durch eine Auskunftspflicht nach § 101 Abs. 2 InsO i. V. m. § 97 Abs. 1 Satz 1 InsO ausgelöst. Diese Verpflichtung wirkt sich auf die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Anfechtungsprozess nicht aus. Praxistipp: Eine unentgeltliche Leistung kann auch vorliegen, wenn der Schuldner den vollen Lohn zahlt, obwohl der Arbeitnehmer vertragswidrig die Arbeit ganz oder teilweise verweigert und der Schuldner insoweit mangels Gegenleistung nicht gemäß § 611 Abs. 1 BGB zur Vergütung verpflichtet ist.

124

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen Eine derartige teilweise unentgeltliche Leistung unterliegt nach den Feststellungen des BAG der Anfechtung nach § 134 InsO insoweit, als deren Wert den der Gegenleistung übersteigt und die Vertragsparteien den ihnen zustehenden Bewertungsspielraum überschritten haben. Bei der Bewertung von Arbeitsleistung besteht ein entsprechender Spielraum nur, soweit die Arbeitsvertragsparteien nicht an gesetzliche oder tarifliche Vorgaben gebunden sind. Die Bewertung darf sich allerdings von objektiven Verhältnissen nicht zu weit entfernen (BAG, v. 18.9.2014 – 6 AZR 145/13, ZIP 2014, 2519).

5. Verfassungskonformität Nicht nur die Verfassungskonformität der Rechtsprechung des BAG, son- 552 dern auch die Verfassungskonformität des Anfechtungsrechts ist in jüngerer Zeit mehrfach in Zweifel gezogen worden. Entgegen einer zuletzt von Arbeitnehmervertretern mehrfach vertretenen 553 Auffassung begegnet § 131 Abs. 1 InsO – wie das BAG völlig zu Recht in ständiger Rechtsprechung angenommen hat – indes keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Er verletzt insbesondere nicht die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG oder den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. dem durch Art. 20 Abs. 1 GG gewährleisteten Sozialstaatsprinzip. BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396 = ZVI 2014, 303; BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307; BAG, v. 3.7.2014 – 6 AZR 451/12, n. v.; BAG, v. 3.7.2014 – 6 AZR 953/12, ZInsO 2014, 2286; BAG, v. 8.5.2014 – 6 AZR 722/12, NZI 2014, 867. Praxistipp: Dies gilt auch, soweit das BAG in seiner Entscheidung vom 29.1.2014 (6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628) erwogen hat, ob die §§ 129 ff. InsO verfassungskonform dahin auszulegen sind, dass das Existenzminimum nicht dem Zugriff des Insolvenzverwalters unterliegt und von diesem deshalb im Wege der Insolvenzanfechtung nicht im Interesse aller Gläubiger zur Masse gezogen werden kann (vgl. dazu unter Rn. 574 ff.). Denn eine derartige verfassungskonforme Auslegung der §§ 129 ff. InsO scheidet selbst nach der Bewertung des BAG jedenfalls in Fällen der inkongruenten Deckung einer Erfüllung erheblicher Entgeltrückstände unter dem Druck der Zwangsvollstreckung aus. Bei solchen Entgeltrückständen können Arbeitnehmer die zur Absicherung des Existenzminimums vorgesehenen und geeigneten staatlichen Hilfen in Anspruch nehmen (BAG 27.3.2014 – 6 AZR 989/12, DB 2014, 1495; BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396 = ZVI 2014, 303; BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307; BAG, v. 3.7.2014 – 6 AZR 451/12, n. v.; BAG, v. 3.7.2014 – 6 AZR 953/12, ZInsO 2014, 2286).

a) Kein Verstoß gegen Art. 14 GG § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO steht in seiner Auslegung durch die höchstrichterliche 554 Rechtsprechung zunächst einmal mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG im Einklang.

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396 = ZVI 2014, 303; BAG, v. 8.5.2014 – 6 AZR 722/12, NZI 2014, 867.

555 Zweifelhaft erscheint dem BAG bereits völlig zu Recht, ob die §§ 129 ff. InsO im Allgemeinen und § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO im Besonderen überhaupt in den Schutzbereich dieses Grundrechts eingreifen. Art. 14 GG unterfallen zwar auch schuldrechtliche Forderungen. BVerfG, v. 7.12.2004 – 1 BvR 1804/03, BVerfGE 112, 93.

556 Dies gilt nach der Rechtsprechung des BVerfG auch im Rahmen der Zwangsvollstreckung; dort sind Forderungen der Gläubiger als private vermögenswerte Rechte von Art. 14 Abs. 1 GG geschützt. BVerfG, v. 23.5.2006 – 1 BvR 2530/04, BVerfGE 116, 1 = ZIP 2006, 1355 (m. Bespr. Römermann, S. 1332) = ZVI 2006, 340.

557 Anders als im Rahmen der Zwangsvollstreckung lebt aber nach § 144 InsO bei einer erfolgreichen Insolvenzanfechtung die Forderung wieder auf, wenn der Empfänger einer anfechtbaren Leistung das Erlangte zurückgewährt. Zwar ist der wirtschaftliche Wert dieser Insolvenzforderung oft gering. Die angefochtenen Forderungen nehmen aber als Insolvenzforderungen am Insolvenzverfahren weiter teil (vgl. § 144 Abs. 2 Satz 2 InsO) und sind damit nicht völlig ohne wirtschaftlichen Wert, sondern mit der Insolvenzquote zu befriedigen. Das BVerfG hat einen Eingriff in den Schutzbereich jedoch nur bejaht, wenn die Forderung zwar rechtlich bestehen bleibt, aber ohne jeden wirtschaftlichen Wert ist. BVerfG, v. 26.4.1995 – 1 BvL 19/94, 1 BvR 1454/94, BVerfGE 92, 262 = ZIP 1995, 923, dazu EWiR 1995, 669 (Fuchs).

558 So liegt es hier gerade nicht. Unabhängig davon ist § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO aber jedenfalls eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung i. S. v. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. BAG, v. 31.8.2010 – 3 ABR 139/09, ZIP 2011, 629.

559 Insbesondere ist der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den der Gesetzgeber auch bei einer Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums zu beachten hat, nach der zutreffenden Bewertung des BAG nicht verletzt. aa) Legitimes Ziel 560 Der Gesetzgeber hat erkannt, dass das der Einzelzwangsvollstreckung zugrunde liegende Prioritätsprinzip zu einer nicht zu rechtfertigenden Bevorzugung des oft nur zufällig schnelleren Gläubigers führt, wenn – im Insolvenzfall – das haftende Vermögen nicht ausreicht, um alle Gläubiger zu befriedigen. Er hat sich deshalb – wie das BAG zutreffend klarstellt – zulässigerweise dafür entschieden, im Dreimonatszeitraum des § 131 InsO und für

126

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

die Zeit nach Stellen des Insolvenzantrags das Interesse eines einzelnen Gläubigers an der Durchsetzung seines Anspruchs gegenüber dem von der Insolvenzordnung verfolgten Ansatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung zurücktreten zu lassen und seine staatlichen Zwangsmittel zur Sicherung und Befriedigung von Forderungen, die einer gleichberechtigten Gläubigerbefriedigung entgegenstehen, nur außerhalb der von § 131 InsO erfassten Zeiträume insolvenzfest zur Verfügung zu stellen. Vgl. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307; BAG, v. 24.10.2013 – 6 AZR 466/12, ZIP 2014, 91.

Dabei ist auch zu beachten, dass das Insolvenzverfahren auf den Schutz und 561 die Durchsetzung verfassungsrechtlich geschützter privater Interessen zielt und damit seinerseits Teil der Gewährleistung des Eigentums durch Art. 14 Abs. 1 GG ist. Vgl. BVerfG, v. 23.5.2006 – 1 BvR 2530/04, BVerfGE 116, 1 = ZIP 2006, 1355 (m. Bespr. Römermann, S. 1332) = ZVI 2006, 340.

Darauf weist das BAG zu Recht im Rahmen der Verhältnismäßigkeit hin. 562 Richtigerweise wird man dies allerdings bereits im Rahmen der Bestimmung der Legitimität der Zielsetzung berücksichtigen müssen. bb) Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne § 131 Abs. 1 InsO ist unter Beachtung des dem Gesetzgeber zukommenden 563 Beurteilungsspielraums zur Erreichung dieses gesetzgeberischen Ziels geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinn. Ein Verstoß gegen Art. 14 GG scheidet aus. b) Kein Verstoß gegen Art. 3 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip Entgegen der von Arbeitnehmervertretern zuletzt mehrfach vertretenen 564 Auffassung verletzt § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO in seiner vom Gesetzgeber gebilligten Auslegung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung auch unter Berücksichtigung des durch Art. 20 Abs. 1 GG gewährleisteten Sozialstaatsprinzips den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG nicht, wie das BAG BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396 = ZVI 2014, 303; BAG, v. 8.5.2014 – 6 AZR 722/12, NZI 2014, 867

in Übereinstimmung mit der in der Literatur herrschenden Meinung vgl. Kayser, in: MünchKomm-InsO, § 131 Rn. 26a; LG Köln, v. 21.7.2010 – 13 S 89/10, ZIP 2010, 2060 m. w. N.

klargestellt hat. Es weist insoweit zu Recht darauf hin, der Gesetzgeber habe sich bewusst dafür entschieden, in der Insolvenz alle Gläubiger unter Aufgabe aller bisherigen Konkursvorrechte gleich zu behandeln. Seine Annahme, trotz Abschaffung des Arbeitnehmerprivilegs aus § 59 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a 127

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

KO seien für die Arbeitnehmer wegen der Möglichkeit, Insolvenzgeld in Anspruch zu nehmen, keine sozialen Härten zu erwarten, hält das BAG zwar nicht uneingeschränkt für zutreffend. Vgl. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

565 In Fällen einer inkongruenten Deckung bestehe aber – so das BAG weiter – unabhängig davon kein Regelungsdefizit. Im Ergebnis ebenso Froehner, NZI 2014, 133, 134.

566 Denn der arbeitnehmerseitig bisweilen behauptete „strukturelle Nachteil“ folge nicht allein aus der Rechtslage, sondern vor allem daraus, dass der Arbeitnehmer bestehende rechtliche und tatsächliche Handlungsmöglichkeiten nicht wahrnehme, vgl. zu den Grenzen der Nutzung eines Zurückbehaltungsrechts unter Rn. 339 ff,

sondern in der Hoffnung, das rückständige Entgelt doch noch gezahlt zu bekommen, am Arbeitsverhältnis festhalte. Die Handlungsoptionen für den Arbeitnehmer und den für seinen Schutz bestehenden gesetzlichen Rahmen kennzeichnet das BAG wie folgt: x

Bei erheblichen Lohnrückständen könne der Arbeitnehmer schließlich fristlos kündigen. § 626 BGB liege die Annahme des Gesetzgebers zugrunde, der Arbeitnehmer werde im eigenen wirtschaftlichen Interesse von seinem Kündigungsrecht rechtzeitig Gebrauch machen, wenn der Arbeitgeber seine Hauptleistungspflicht in erheblichem Umfang verletzt hat.

x

Der Arbeitnehmer könne dann Arbeitslosengeld beanspruchen.

x

Zudem sei das rückständige Entgelt für die letzten drei Monate vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses über das Insolvenzgeld gesichert. Sei das Arbeitsverhältnis vor dem Insolvenzereignis bereits beendet, sei für die Berechnung des Dreimonatszeitraums allein die Beendigung des Arbeitsverhältnisses maßgeblich. Küttner/Voelzke, Personalbuch 2014, Insolvenz des Arbeitgebers, Rn. 52.

567 Mit seinen Annahmen habe der Gesetzgeber seine Einschätzungsprärogative daher noch nicht überschritten. 568 § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO verletzt in seiner Auslegung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung Art. 3 Abs. 1 GG nicht. Vgl. BAG, v. 24.10.2013 – 6 AZR 466/12, ZIP 2014, 91.

569 Insbesondere werden Gläubiger, die ihren Anspruch erst durch Zwangsvollstreckung realisieren könnten, nicht ohne sachliche Rechtfertigung schlechter

128

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

gestellt als Gläubiger, die der Schuldner in der Krise freiwillig befriedigt. Das begründet das BAG überzeugend wie folgt: Zwar unterlägen freiwillige Zahlungen des Schuldners in der Dreimonatsfrist 570 und nach Stellen des Eröffnungsantrags nicht der Anfechtung nach § 130 InsO, wenn der Gläubiger von der Zahlungsunfähigkeit bzw. dem Eröffnungsantrag weder Kenntnis hatte noch aus den Umständen darauf schließen musste. Dann – und nur dann – seien freiwillige Zahlungen anfechtungsfrei. BAG, v. 8.5.2014 – 6 AZR 722/12, NZI 2014, 867.

Die sachliche Rechtfertigung der erleichterte Anfechtungsmöglichkeit des § 131 571 Abs. 1 InsO gegenüber den Gläubigern, die Befriedigung durch Zwangsvollstreckung erlangen, sei jedoch sachlich gerechtfertigt, weil der Einsatz von bzw. die Drohung mit staatlichen Zwangsmitteln der Leistung des Schuldners aus objektiver Sicht den Charakter der Freiwilligkeit nehme. Müsse der Gläubiger den Schuldner aber erst durch Zwangsvollstreckung oder die Drohung damit zur Leistung zwingen, liege bei typisierender Betrachtung der Verdacht nahe, dass der Schuldner nicht mehr alle Gläubiger zu befriedigen vermag, sondern zahlungsunfähig und insolvenzreif ist. BAG, v. 8.5.2014 – 6 AZR 722/12, NZI 2014, 867; vgl. BAG, v. 24.10.2013 – 6 AZR 466/12 Rn. 25.

Das sei bei freiwilligen Zahlungen, die ohne die Drohung mit zwangsweiser 572 Durchsetzung erfolgen, vollkommen anders, weil dort eine Zahlungsunfähigkeit viel weniger naheliegend sei. Der Erfahrung, dass viele Schuldner in der Krise geneigt seien, bestimmte, ihnen näherstehende Gläubiger bevorzugt zu bedienen, habe der Gesetzgeber mit § 130 Abs. 3 und § 131 Abs. 2 Satz 2 InsO in typisierender Weise ausreichend Rechnung getragen, BAG, v. 8.5.2014 – 6 AZR 722/12, NZI 2014, 867; vgl. Kayser, in: MünchKomm-InsO, § 131 Rn. 26a; LG Köln v. 21.7.2010 – 13 S 89/10, ZIP 2010, 2060,

sodass auch dieser naheliegende Einwand letztlich nicht durchgreife. BAG, v. 8.5.2014 – 6 AZR 722/12, NZI 2014, 867.

c) Notwendigkeit einer verfassungskonformen Einschränkung zur Sicherung des Existenzminimums? Allerdings das BAG in seiner Entscheidung vom 29.1.2014

573

6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628

erwogen, ob die §§ 129 ff. InsO verfassungskonform dahin auszulegen sind, dass das Existenzminimum nicht dem Zugriff des Insolvenzverwalters unterliegt und von diesem deshalb im Wege der Insolvenzanfechtung nicht im Interesse aller Gläubiger zur Masse gezogen werden kann. Es hat diese Überlegung wie folgt begründet.

129

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

aa) Ansatz des BAG 574 Der Gesetzgeber habe bei der Abschaffung des in der KO vorgesehenen Arbeitnehmerprivilegs möglicherweise das aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG folgende Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht hinreichend berücksichtigt. Das könne es i. V. m. Art. 12 Abs. 1 GG bei kongruenten Deckungen, zumal bei Zahlungen im Rahmen eines Bargeschäfts oder in bargeschäftsähnlicher Lage, gebieten, das Existenzminimum vom Zugriff des Insolvenzverwalters freizustellen, so dass dieser Entgeltbestandteil nicht im Wege der Insolvenzanfechtung im Interesse aller Gläubiger zur Masse gezogen werden könnte. (1) Ausgangspunkt: Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums 575 Das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sei dem Grunde nach unverfügbar Vgl. bereits BVerfG, v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, BVerfGE 125, 175.

und verbiete es dem Staat auch, auf den Kernbestand des selbst erzielten Einkommens des Grundrechtsträgers zuzugreifen. Deshalb sei das Einkommen des Steuerpflichtigen insoweit steuerfrei. BVerfG, v. 20.8.1997 – 1 BvR 1300/89, HFR 1997, 937; BVerfG, v. 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, BVerfGE 87, 153; BVerfG, v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, BVerfGE 82, 60.

(2) Ausgestaltung im Vollstreckungs- und Insolvenzrecht 576 Das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bewirke, dass auch im Gläubiger-Schuldner-Verhältnis der Staat seinen Zwangsapparat grundsätzlich nicht zur Verfügung stellen dürfe, um einem Einzelnen den Teil des Einkommens zu entziehen, der zur Sicherung des Existenzminimums erforderlich ist. Vgl. BT-Drucks. 14/6812, S. 8.

577 Im Bereich der zivilrechtlichen Zwangsvollstreckung habe der Gesetzgeber darum durch Pfändungsfreigrenzen (§§ 850 ff. ZPO) die Sicherung des Existenzminimums vorgesehen. Vgl. BAG, v. 21.2.2013 – 6 AZR 553/11, NZA-RR 2013, 590.

578 Auch im Insolvenzrecht habe der Gesetzgeber grundsätzlich erkannt, dass das Existenzminimum nicht dem Zugriff der Gläubiger unterliegt. Dies schließt das BAG daraus, dass gemäß § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO (in der Privatinsolvenz mit beantragter Restschuldbefreiung i. V. m. § 292 Abs. 1 Satz 3 InsO) unpfändbare Forderungen nicht zur Insolvenzmasse gehören und dem Insolvenzverwalter nicht nach §§ 148 Abs. 1, 80 Abs. 1 InsO zur Verwaltung übertragen sind. 130

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen BAG, v. 28.8.2013 – 10 AZR 323/12, NZA 2013, 1302.

Nur der pfändbare Teil des Arbeitsentgelts falle in die Insolvenzmasse und 579 komme daher in der Privatinsolvenz des Arbeitnehmers dessen Gläubigern zugute. So werde dem Schuldner der unantastbare Bereich persönlicher und lebensnotwendiger Güter bewahrt. Gleiches gelte für den selbständig tätigen Schuldner nach Freigabe der selbständigen Tätigkeit (vgl. § 35 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 295 Abs. 2 InsO). BGH, v. 13.6.2013 – IX ZB 38/10, ZVI 2013, 346 = DB 2013, 2206, dazu EWiR 2013, 725 (Harder).

Schließlich sei nach Auffassung des BGH auch § 850b ZPO im Insolvenzver- 580 fahren insgesamt anwendbar. Dies führe dazu, dass von den beschränkt pfändbaren Bezügen dem Schuldner so viel zu belassen ist, wie er zur Absicherung seines Existenzminimums benötigt. BGH, v. 3.12.2009 – IX ZR 189/08, ZIP 2010, 293 = ZVI 2010, 102, dazu EWiR 2010, 331 (Fliegner).

Damit kämen die verfassungsrechtlichen Erwägungen, durch die die Pfän- 581 dungsschutzbestimmungen der Zivilprozessordnung motiviert sind, grundsätzlich auch im Insolvenzverfahren zur Geltung. Vgl. BAG, v. 20.6.2013 – 6 AZR 789/11, ZVI 2013, 433 = NZA 2013, 1147; vgl. für § 850b ZPO BGH, v. 3.12.2009 – IX ZR 189/08, ZIP 2010, 293 = ZVI 2010, 102.

(3) Zusammenspiel zwischen Anfechtungsrecht und Vollstreckungsschutz Die Anfechtungsbestimmungen in §§ 129 ff. InsO ließen jedoch – so die 582 Kernüberlegung des BAG – den rückwirkenden Zugriff des Insolvenzverwalters auf das Existenzminimum für den von der Anfechtung erfassten Zeitraum uneingeschränkt zu. Dem Arbeitnehmer werde dadurch nachträglich der zur Absicherung des Existenzminimums erforderliche, durch eigene Arbeitsleistung verdiente Betrag wieder entzogen. Zur Erfüllung des auf das Existenzminimum entfallenden Teils der Rückzahlungspflicht müsse er auf Rücklagen zurückgreifen, neue Schulden machen oder sein aktuelles Gehalt einsetzen, ohne dies rückwirkend durch Leistungen des Staates, die das Existenzminimum sichern sollen, ausreichend kompensieren zu können. Unter Umständen sei er gezwungen, Privatinsolvenz zu beantragen. Es erscheine deshalb zweifelhaft, ob diese Bestimmungen den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des Existenzminimums bei kongruenten Deckungen hinreichend gewährleisten. Müsse der Arbeitnehmer Entgelt zurückzahlen, das vor Insolvenzeröffnung 583 noch vom Schuldner gezahlt worden ist – wobei diese Verpflichtung bei der Vorsatzanfechtung bis zu zehn Jahre zurückreichen kann – werde er dieses Entgelt bei typisierender Betrachtung für seinen Lebensunterhalt verbraucht

131

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

haben. Auf Entreicherung könne er sich jedoch nur bei unentgeltlichen Leistungen i. S. v. § 134 InsO berufen (§ 143 Abs. 2 InsO). Vgl. die Konstellation in BGH, v. 17.10.2013 – IX ZR 10/13, ZIP 2013, 2208, dazu EWiR 2014, 15 (Budnik).

584 Dem Arbeitnehmer könne allerdings – so das BAG weiter – das gezahlte Entgelt, mit dem er seinen Lebensunterhalt zunächst bestritten hat, als solches nicht rückwirkend entzogen werden. Der zur Masse zu ziehende Geldbetrag könne nur aus Rücklagen des Arbeitnehmers, an denen es bei typisierender Betrachtung jedenfalls dann regelmäßig fehlen werde, wenn die Insolvenz zum Arbeitsplatzverlust geführt habe, geleistet oder durch eine Mobiliarpfändung bzw. – was der Regelfall sein dürfte – durch eine Gehalts- oder Rentenpfändung beigetrieben werden. 585 In diesem Zusammenhang sieht das BAG richtig, dass das Existenzminimum bereits durch die gesetzlichen Pfändungsfreigrenzen gewährleistet werden soll, die – wie vom BAG bestätigt – auch auf Ansprüche nach §§ 129 ff. InsO Anwendung finden. Wegen dieser Grenzen einer Vollstreckung eine Einschänkung bereits des Anspruchsumfangs durch analoge Anwendung von § 850c ZPO auf §§ 129 ff. InsO ablehnend Klinck, DB 2014, 2455, 2462.

586 Bei Pfändungen sei – so das BAG – durch das geltende Zwangsvollstreckungsrecht, insbesondere die §§ 850 ff. ZPO, gewährleistet, dass der Anfechtungsgegner das aktuelle Existenzminimum behält. Der Insolvenzverwalter könne nur auf den pfändbaren Betrag zugreifen. Reiche das Einkommen nicht aus, um den der Masse geschuldeten Betrag abzudecken, bleibe dem Anfechtungsgegner nur der Eigenantrag nach §§ 305 ff. InsO, um einer lebenslangen Schuldverpflichtung zu entgehen. (4) Sonderschutz für Arbeitnehmer über die Grenzen der Zwangsvollstreckung hinaus? 587 Das BAG erklärt für seine Erwägung einer verfassungsrechtlichen Einschränkung allerdings einen einen anderen Gesichtspunkt für maßgeblich: Den Umstand, dass der Arbeitnehmer für die Abrechnungszeiträume, die vom anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruch erfasst sind, in der Regel keine staatliche oder über eine Umlage der Arbeitgeber finanzierte Leistung erhält, die den Teil des zurückzuzahlenden Betrags ausgleicht, der das Existenzminimum abdeckte. (a) Situation des Arbeitnehmers bei (einigermaßen) pünktlichen Lohnzahlungen 588 Die Annahmen des Gesetzgebers, wegen des Insolvenzgeldanspruchs (§§ 165 ff. SGB III) seien trotz Abschaffung des Arbeitnehmerprivilegs der

132

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

KO keine sozialen Härten zu erwarten und ältere Rückstände seien selten von Bedeutung BR-Drucks. 1/92 S. 90

übersehen nach der Bewertung des BAG „eine in mehrfacher Hinsicht bestehende Schutzlücke bei der Ausgestaltung des Insolvenzgeldanspruchs“.

x

Bereits die Annahme des Gesetzgebers, ältere, nicht vom Insolvenzgeld abgesicherte Rückstände seien die Ausnahme, treffe nicht uneingeschränkt zu.

x

Der Gesetzgeber habe zudem nicht berücksichtigt, dass die Anspruchsdauer (§ 170 Abs. 4 SGB III) oft bereits vollständig durch das Insolvenzeröffnungsverfahren ausgeschöpft wird, wenn eine Insolvenzgeldvorfinanzierung erfolgt.

x

Im Übrigen versage der Schutz des Insolvenzgeldanspruchs vielfach selbst dann, wenn er nicht durch das Insolvenzeröffnungsverfahren verbraucht worden ist, sofern der Schuldner das Entgelt pünktlich zahle. Der Arbeitnehmer kann in diesen Fällen zwar nachträglich Insolvenzgeld beantragen, wenn die Entgeltzahlung erfolgreich angefochten wird und er das Erlangte zurückgewährt. In diesem Fall lebt gemäß § 144 Abs. 1 InsO die (Netto-)Entgeltforderung rückwirkend auf den Zeitpunkt des Erlöschens als Insolvenzforderung wieder auf, so dass der Arbeitnehmer Anspruch auf Insolvenzgeld hat. Stellt der Arbeitnehmer nachträglich Antrag auf Insolvenzgeld, sei jedoch die zweimonatige Ausschlussfrist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III, die unionsrechtskonform an das Insolvenzereignis anknüpft, versäumt. Ob die zweimonatige Nachfrist des § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III dem Arbeitnehmer hilft, hänge vom Einzelfall ab. Zudem werde sie im Regelfall zwar unverschuldet versäumt sein. Sie beginne aber mit dem Wegfall des Hindernisses für die Beantragung des Insolvenzgeldes zu laufen, wofür eine Vielzahl von Zeitpunkten denkbar sei, sodass die Bundesagentur für Arbeit dem Arbeitnehmer oft erfolgreich entgegenhalten könne, die Nachfrist sei versäumt. Zudem bestehe rechtstatsächlich ein erhebliches Risiko, dass auch die Nachfrist mangels deren Kenntnis versäumt wird.

x

Arbeitslosengeld könne der Arbeitnehmer für Zeiträume, in denen er gearbeitet hat, nicht rückwirkend beantragen. Es wird erst ab dem Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung gezahlt. BAG, v. 15.11.2012 – 6 AZR 321/11, ZIP 2013, 638, dazu EWiR 2013, 211 (Mückl/Herrnstadt).

x

Auch Sozialhilfe sei erst ab dem Zeitpunkt zu zahlen, in dem der Sozialhilfeträger Kenntnis erlangt, dass die Voraussetzungen der Leistung vorliegen (§ 18 SGB XII). Ausreichend (aber auch erforderlich) für den An-

133

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

spruch auf Sozialhilfe sei damit, dass für den Träger überhaupt die Notwendigkeit der Hilfe erkennbar ist. Zahle der spätere Schuldner das Arbeitsentgelt pünktlich, scheidet damit eine rückwirkende Bewilligung von Sozialhilfe aus. x

Anders als der Arbeitnehmer, der einen Vorschuss erhält, den er anschließend nicht verdient und in voller Höhe zurückzahlen muss, könne sich der Arbeitnehmer, dessen pünktlich gezahltes Entgelt – unter Umständen erst nach Jahren – vom Insolvenzverwalter zurückgefordert werde, auf die etwaige Rückforderung nicht einstellen.

589 Der Arbeitnehmer hat nach der zusammenfassenden Bewertung des BAG jedenfalls dann, wenn der spätere Schuldner das Entgelt (weitgehend) pünktlich zahlt, keine adäquaten arbeits- oder sozialrechtlichen Handlungsmöglichkeiten, dem Risiko einer Insolvenzanfechtung vorzubeugen. Er kann letztlich nur weiterarbeiten und hoffen, dass es nicht zur Insolvenz kommt. Vgl. auch Bork, ZIP 2007, 2337, 2340; Pieper, ZInsO 2009, 1425, 1437.

590 Im Übrigen argumentiert das BAG mit dem Gleichheitssatz: x

Im Unterschied zu einer Vielzahl von Lieferanten und Geschäftspartnern kann der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung nicht im Vorhinein absichern.

x

Dem Arbeitnehmer steht bei pünktlichen Entgeltzahlungen – anders als bei erheblichen Rückständen – weder ein Zurückbehaltungsrecht noch das Recht zur außerordentlichen Kündigung zu. Kündige er dennoch fristlos, sei dies rechtswidrig, so dass er mit einer Sperrfrist rechnen müsse. Vgl. auch Pieper, ZInsO 2009, 1425, 1428, 1437.

x

Zudem nehme er in diesem Fall in Kauf, vom Arbeitgeber wegen Vertragsbruchs mit Schadenersatzansprüchen überzogen zu werden und ggf. eine Vertragsstrafe zahlen zu müssen. Er sei deshalb nicht nur vertraglich verpflichtet, sondern auch praktisch gezwungen, seine Arbeitsleistung weiterhin zu erbringen. Er könne damit dem Anfechtungsrisiko letztlich nicht ausweichen. vgl. Lütcke, ZInsO 2013, 1984, 1989.

x

Bei pünktlichen Gehaltszahlungen könne der Arbeitnehmer auch keinen Insolvenzantrag stellen. Selbst bei Gehaltsrückständen sei ihm ein solcher Antrag in der Regel nicht zumutbar. Bork, ZIP 2007, 2337, 2340 spricht vom „schwächsten Glied in der Gläubigerkette“; vgl. auch Brinkmann, ZZP 125 (2012), 197, 212; Pieper, ZInsO 2009, 1425, 1437.

134

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

(b) Situation des Arbeitnehmers bei erheblich verzögerten und eingestellten Lohnzahlungen Dem stellt das BAG – weiter mit dem Gleichheitssatz argumentierend – die 591 Reaktionsmöglichkeiten des Arbeitnehmers, dem das verdiente Entgelt vor Insolvenzeröffnung nicht mehr gezahlt werde, gegenüber. x

In diesem Fall könne der Arbeitnehmer sein Existenzminimum durch staatliche Sozialleistungen bzw. das Insolvenzgeld decken, ohne dass dieses ihm rückwirkend wieder entzogen werden kann.

x

Lägen erhebliche Entgeltrückstände vor, könne er außerordentlich kündigen und ohne Sperrfrist Arbeitslosengeld beziehen.

x

Zudem sei das rückständige Entgelt für die letzten drei Monate vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses über das Insolvenzgeld, das er im Regelfall unproblematisch fristgerecht beantragen kann, gesichert.

x

Sei das Arbeitsverhältnis vor dem Insolvenzereignis bereits beendet, sei für die Berechnung des Drei-Monats-Zeitraums allein die Beendigung des Arbeitsverhältnisses maßgeblich Küttner/Voelzke, Personalbuch 2014, Insolvenz des Arbeitgebers, Rn. 52.

x

Wolle der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis (noch) nicht beenden, kann er bei Bedürftigkeit Sozialhilfe in Anspruch nehmen.

(c) Lösungsvorschlag des BAG Diese Rechtslage könne – so das BAG in seinem Lösungsvorschlag – in ihrer 592 Gesamtschau eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 129 ff. InsO erfordern, um dem Anspruch an den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des Existenzminimums effektiv zu genügen. Um eine für die Praxis handhabbare Verfahrensweise zu ermöglichen, liege 593 es nahe, auf die Tabelle nach § 850c ZPO zurückzugreifen, um das anfechtungsfreie Existenzminimum zu ermitteln. Der Gesetzgeber habe allerdings bei dieser Tabelle den pauschalierten mo- 594 natlichen Bedarf von DM 1.705,00 für einen erwerbstätigen Hilfeempfänger im Hinblick auf das von ihm für erforderlich gehaltene Abstandsgebot um rund DM 250,00 erhöht. BT-Drucks. 14/6812, S. 9.

Dieser im gleichen Umfang wie der zur Abdeckung des Existenzminimums 595 vorgesehene Bedarf dynamisierte Erhöhungsbetrag BT-Drucks. 14/6812, S. 11 f.

wäre dann jeweils dem Tabellenbetrag zuzuschlagen. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 = ZVI 2014, 307.

135

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

bb) Kritik des BGH 596 Dem ist der BGH ebenfalls in seinem Urteil vom 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491

dezidiert mit folgenden Argumenten entgegengetreten: x

Zunächst einmal sei es nicht Aufgabe der Gläubigergemeinschaft, sondern des Staates, etwaige durch eine Insolvenz zu Lasten bestimmter Gläubiger hervorgerufene unzumutbare Härten auszugleichen.

x

Zum Nachteil der Arbeitnehmer bestehende sozialrechtliche Schutzlücken seien innerhalb dieses Regelungswerks durch ergänzende Vorschriften etwa zum Bezug von Insolvenzgeld zu schließen. BGH, v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491 = ZVI 2014, 458; Brinkmann, ZZP 125 (2012), 197, 215 f.

x

Hingegen könnten nicht der Gläubigergesamtheit sich in einer Quotenminderung manifestierende Sonderopfer, wovon der Gesetzgeber selbst Gesellschafter verschone, BT-Drucks. 16/9737, S. 59,

zugunsten von Mitgläubigern ohne gesetzliche Grundlage im Wege richterlicher Rechtsfortbildung aufgebürdet werden. x

Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes enthalte infolge seiner Weite und Unbestimmtheit keine unmittelbaren Handlungsanweisungen, die durch die Gerichte ohne gesetzliche Grundlage in einfaches Recht umgesetzt werden könnten. Darum sei es den Gläubigern nicht zumutbar durch einen Quotenverzicht Lücken der Insolvenzgeldzahlung zugunsten von Arbeitnehmern als Mitgläubigern aufzufüllen oder deren Existenzminimum zu sichern.

x

Scheide ein Schutz der Arbeitsplatzinteressen gegen den Markt aus, könne ihnen auch im Verhältnis zu anderen Gläubigern nicht einfach kraft Richterrechts der Vorrang eingeräumt werden.

x

Die Argumentation des BAG laufe bei lebensnaher Betrachtung auf das Ergebnis hinaus, die Anfechtung generell zu versagen, wenn das damit verbundene Ergebnis für den Arbeitnehmer wirtschaftlich untragbar ist. Das Sozialstaatsprinzip könne bereits im Ansatz nicht zur Korrektur jeglicher hart oder unbillig erscheinenden Einzelregelung dienen.

x

Davon abgesehen lasse die Würdigung des BAG die Interessen der vor Verfahrenseröffnung nicht befriedigten, regelmäßig die Mehrheit bildenden Gläubiger des Schuldners außer Betracht, die durch einen vollständigen Forderungsausfall ebenfalls untragbare Härten erleiden könnten.

136

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

x

Hier schafft die Insolvenzanfechtung den gebotenen Ausgleich, indem Zahlungen zur Masse gezogen und zur anteiligen Befriedigung sämtlicher – unzumutbar belasteter – Gläubiger einschließlich des Anfechtungsgegners verwendet werden.

x

Zahlt ein Arbeitgeber etwa nur an bestimmte, für die Produktion besonders wichtige Arbeitnehmer Lohn, erscheine es sachgerecht, die weggegebenen Mittel durch eine Anfechtung für sämtliche Arbeitnehmer gleichmäßig verfügbar zu machen. Müsse sich ein Arbeitnehmer mangels eines Vorrechts nach Verfahrenseröffnung ohne Rücksicht auf die Befriedigung seines Existenzminimums mit der Quote abfinden, leuchtet nicht ein, dass er eine anfechtbar erworbene Zahlung unter dem Gesichtspunkt des Existenzminimums behalten dürfe.

cc) Bewertung Wichtig ist im Rahmen dieser Diskussion zunächst einmal, den vom BAG 597 erwogenen Anwendungsbereich einer Einschränkung richtig zu erfassen. Es geht dem BAG nur um die Einschränkung von Leistungen im Rahmen von Bargeschäften bzw. bargeschäftsähnlicher Lage. Insoweit zutreffend die Kritik von Zwanziger, DB 2014, 2391, 2394 an den – falschen – Feststellungen des BGH, nach denen das BAG das gesamte Anfechtungsrecht zur Disposition stelle.

Und selbst diese Einschränkung wird ihrerseits dadurch eingeschränkt, dass 598 sie nicht für inkongruente Deckungen gelten soll. Der vom BAG diskutierte Anwendungsbereich ist damit zunächst einmal 599 kleiner, als die aufgeregte Diskussion verbreitet annimmt. Berechtigter Kern der Kritik an den Überlegungen des BAG ist aber, dass die 600 vom BAG vollkommen richtig gekennzeichneten Schwierigkeiten für Arbeitnehmer letztlich aus deren unzureichender sozialer Absicherung resultieren. Der Gesetzgeber hat das Problem der sozialen Absicherung gesehen und wollte es durch das Insolvenzgeld lösen. Wenn er – wofür nach der überzeugenden Zusammenfassung der Rechtslage durch das BAG – dort von falschen Annahmen ausgegangen ist, muss sich das BAG immerhin fragen lassen, ob die erforderliche Korrektur nicht beim Insolvenzgeld vorgenommen werden muss. Letztlich geht es hier immer um eine verfassungsrechtlich bedingte Regelungslücke: entweder eine „verdeckte“ Regelungslücke im Insolvenzanfechtungsrecht (so das BAG) oder eine „offene“ Regelungslücke der Vorschriften über das Insolvenzgeld (so tendenziell der BGH). Zu diesen Arten der Regelungslücke vgl. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 198 ff.

Welche Lücke wo vorliegt und weshalb welche Lösung den Vorrang verdient, 601 wird das BAG noch begründen müssen. Der BGH allerdings ebenfalls.

137

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

6. Vereinbarkeit mit der Menschenrechtskonvention 602 Entgegen einer von Arbeitnehmervertretern bisweilen vertretenen Auffassung verletzen die Anfechtungsvorschriften der §§ 129 ff. InsO – wie das BAG in seinem Urteil vom 8.5.2014 – 6 AZR 722/12, NZI 2014, 867,

zu Recht klargestellt hat – auch Art. 1 des Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20.3.1952 in der Fassung des Protokolls Nr. 11 (Zusatzprotokoll) nicht. 603 Zwar gewährt Art. 1 Abs. 1 dieses Zusatzprotokolls jeder natürlichen oder juristischen Person das Recht auf Achtung ihres Eigentums und untersagt dessen Entzug. Dies gilt jedoch u. a. dann nicht, wenn das öffentliche Interesse eine Beeinträchtigung des Eigentums verlangt, sofern dies gesetzlich geregelt ist. 604 Da gemäß Art. 1 Abs. 2 des Zusatzprotokolls das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er u. a. für die Regelung der Benutzung des Eigentums für erforderlich hält, nicht beeinträchtigt wird, erhält der Eigentumsschutz der EMRK in Art. 1 Abs. 2 des Zusatzprotokolls eine Inhalts- und Schrankenbestimmung, die nicht enger ist als die des Art. 14 GG. BAG, v. 8.5.2014 – 6 AZR 722/12, NZI 2014, 867.

605 Hiervon ausgehend muss ein Gesetz i. S. d. Art. 1 Abs. 2 des Zusatzprotokolls, welches das Eigentumsrecht aus Art. 1 Abs. 1 des Zusatzprotokolls einschränkt, einen angemessenen Ausgleich zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses und den Anforderungen an den Schutz der Rechte des Einzelnen herbeiführen. Erforderlich ist ein angemessenes Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel. Bei der Überprüfung, ob dem genügt ist, gewährt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Gesetzgeber einen großen Ermessensspielraum. Dieser umfasst sowohl die Auswahl der Durchführungsmodalitäten als auch die Beurteilung der Frage, ob deren Folgen im Allgemeininteresse durch das Bemühen gerechtfertigt sind, das Ziel der in Rede stehenden Rechtsvorschriften zu erreichen. EGMR v. 26.6.2012 – 9300/07, NJW 2012, 3629.

606 Diesen Anforderungen genügt § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO nach den zutreffenden Feststellungen des BAG. BAG, v. 8.5.2014 – 6 AZR 722/12, NZI 2014, 867.

7. (Tarifliche) Ausschlussfristen 607 Der insolvenzrechtliche Rückgewähranspruch aus § 143 Abs. 1 Satz 1 InsO ist als gesetzliches Schuldverhältnis der Regelungsmacht der Tarifvertrags-

138

II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen

parteien entzogen. Er unterfällt deshalb nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung tariflichen Ausschlussfristen nicht. Vgl. BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396 = ZVI 2014, 303; BAG, v. 24.10.2013 – 6 AZR 466/12, ZIP 2014, 91; BAG, v. 3.7.2014 – 6 AZR 296/13, ZVI 2014, 467 = ZInsO 2014, 2040; BAG, v. 3.72014 – 6 AZR 451/12, n. v.; zustimmend Froehner, NZI 2014, 133, 134.

Zentrale Argumente dafür sind, dass §§ 129 ff. InsO – so das BAG – ohne 608 jede Rücksicht auf ein in der Insolvenz fortbestehendes oder ein früheres Arbeitsverhältnis mit dem Insolvenzschuldner ein gesetzliches Schuldverhältnis begründe. Mit diesen Vorschriften habe der Gesetzgeber ein mit Ausschlussfristen unvereinbares, in sich geschlossenes Regelungssystem vorgegeben, das den Besonderheiten der Materie Rechnung trage und wegen des Ziels der abschließenden Gesamtregelung zwingenden Charakter aufweise. Vgl. BAG, v. 24.10.2013 – 6 AZR 466/12, ZIP 2014, 91; BAG, v. 3.7.2014 – 6 AZR 451/12, n. v.; BAG, v. 3.7.2014 – 6 AZR 953/12, ZInsO 2014, 2286.

8. Anspruchsinhalt bei Lohnzahlungen a) Grundsatz Insolvenzrechtlich wird nur die Rückgewähr dessen geschuldet, was aus dem 609 Vermögen des Schuldners infolge der angefochtenen Handlung an den Arbeitnehmer geflossen ist. Damit hat der Arbeitnehmer grundsätzlich nur den erhaltenen Nettolohn zurückzuzahlen. Dies wird mittelbar durch die Begrenzung des Insolvenzgelds auf das Nettoentgelt bestätigt. BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396 = ZVI 2014, 303; Cranshaw, ZInsO 2009, 257, 258; Kirchhof, in: MünchKomm-InsO, § 143 Rn. 50.

b) Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen Hat der Schuldner die Gesamtsozialversicherungsbeiträge noch abgeführt, 610 kann in der Insolvenz des Schuldners diese Zahlung auch wegen der Arbeitnehmeranteile als mittelbare Zuwendung an die Einzugsstelle gegenüber dieser angefochten werden. Die Regelung des § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV, wonach die Zahlung des vom Beschäftigten zu tragenden Teils des Gesamtsozialversicherungsbeitrags als aus dem Vermögen des Beschäftigten erbracht gilt, steht dem nicht entgegen. Eine Anfechtung der Abführung des Arbeitnehmeranteils gegenüber dem Arbeitnehmer scheidet wegen des den Arbeitnehmer schützenden Zwecks des § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV aus.

139

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396 = ZVI 2014, 303; vgl. die st. Rspr. des BGH seit Urt. v. 5.11.2009 – IX ZR 233/08, BGHZ 183, 86 = ZIP 2009, 2301, dazu EWiR 2010, 67 (Henkel); zuletzt BGH, v. 7.4.2011 – IX ZR 118/10, ZIP 2011, 966.

c) Lohnanspruch als anfechtungsfreier Schadensersatzanspruch? 611 Die arbeitnehmerseitig bisweilen vorgetragene Annahme, der Lohnanspruch sei zugleich ein Schadenersatzanspruch nach §§ 823, 826 BGB und unterliege deshalb keiner insolvenzrechtlichen Anfechtung, ist – unabhängig davon, dass die Tatbestandsvoraussetzungen eines solchen Schadenersatzanspruchs zumeist nicht substantiiert dargelegt sind – unzutreffend. Auch Schadenersatzansprüche können – wie das BAG noch einmal klargestellt hat – der Insolvenzanfechtung unterliegen. BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396 = ZVI 2014, 303 = NZI 2014, 559.

612 Insbesondere § 89 Abs. 2 Satz 2 InsO ermöglicht nicht, einen Schadenersatzanspruch aus dem Rechtsgedanken dieser Vorschrift durchzusetzen. Denn § 89 Abs. 2 Satz 2 InsO belässt einem vor Insolvenzeröffnung zugestellten Pfändungs- und Überweisungsbeschluss nur hinsichtlich der nach Insolvenzeröffnung entstehenden Unterhalts- und Schadenersatzforderungen aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung seine Wirkung. Vollstreckungsmaßnahmen von Unterhalts- und Deliktsgläubigern in den gemäß §§ 850d, 850f Abs. 2 ZPO erweitert pfändbaren Teil der Bezüge bleiben insoweit wirksam. Dieser Teil der Einkünfte gehört nicht zur Insolvenzmasse. Deshalb können die von § 89 Abs. 2 Satz 2 InsO privilegierten Gläubiger auch weiterhin in diesen Teil der Einkünfte vollstrecken. BAG, v. 17.9.2009 – 6 AZR 369/08, BAGE 132, 125 = ZVI 2010, 61.

613 Für die Konstellation einer verspäteten Lohnzahlung hat diese Vorschrift jedoch keine Bedeutung. BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396 = ZVI 2014, 303.

9. Fälligkeit/Verzinsung 614 § 143 Abs. 1 Satz 2 InsO enthält eine Rechtsfolgenverweisung auf § 819 Abs. 1 BGB. Aufgrund dieser Anknüpfung ist der Rückgewähranspruch auf anfechtbar erlangtes Geld als rechtshängiger Anspruch zu behandeln. Die Regeln über Prozesszinsen sind anzuwenden. 615 Die Insolvenzanfechtung braucht nicht gesondert erklärt zu werden. Der Rückgewähranspruch wird – von den Fällen des § 147 InsO abgesehen – mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens fällig.

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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit Vgl. BGH, v. 1.2.2007 – IX ZR 96/04, BGHZ 171, 38 = ZIP 2007, 488 = ZVI 2007, 185, dazu EWiR 2007, 313 (Gundlach/ Frenzel). Zu den aktuellen Plänen der Bundesregierung in Bezug auf die Fälligkeit vgl. oben unter Rn. 240 ff.

Die Rückgewähransprüche sind jedoch nicht bereits mit dem Tag der Insol- 616 venzeröffnung, sondern erst mit dem Folgetag zu verzinsen. Denn die Verzinsungspflicht nach § 187 Abs. 1 BGB beginnt erst mit dem Folgetag der Fälligkeit. Vgl. BAG, v. 8.5.2014 – 6 AZR 465/12, NJW 2014, 3262; BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZIP 2014, 1396 = ZVI 2014, 303; BAG, v. 17.9.2013 – 9 AZR 9/12, NZA-RR 2014, 271.

III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit 1. Bindung an die Berechnungsmethode für Zielerreichung bei Zielvereinbarung Die Vergütungsflexibilisierung durch Vereinbarung variabler Bestandteile ist 617 in der betrieblichen Praxis weit verbreitet. Sie ist häufig so ausgestaltet, dass die variablen Bestandteile ihrem Grund und ihrer Höhe nach davon abhängig sind, dass unternehmensbezogene und/oder individuelle Ziele erreicht werden. Derartige Gestaltungen finden sich sowohl in individualvertraglichen als auch in Betriebsvereinbarungen sowie (seltener) in Tarifverträgen. a) Ausgangspunkt: Bindung des Arbeitgebers In seinem Urteil vom 11.12.2013

618

– 10 AZR 364/13, NZA 2013, 1409

hat das BAG deutlich gemacht, dass die Vertragsparteien an die entsprechende Vereinbarung gebunden sind, sobald die Ziele und weiteren Zahlungsvoraussetzungen festgelegt sind. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Ziele, sondern – im Ausgangspunkt wenig überraschend – auch für die Faktoren, die für die Berechnung der Zielerreichung maßgeblich sind. Wird das zu erreichende Ziel nach einer bestimmten Methode festgelegt, muss sie auch nach Ablauf des Beurteilungszeitraums zur Ermittlung der Zielerreichung und damit der Höhe einer variablen Vergütung angewandt werden. Dem Arbeitnehmer muss im Rahmen des Zumutbaren eine sichere Beurteilung möglich sein, unter welchen Voraussetzungen er einen Bonusanspruch erwirbt. Manipulationsmöglichkeiten müssen ausgeschlossen sein. b) Gestaltungspielraum bei betriebswirtschaftlich gleichwertigen Methoden Denkbar und zulässig ist nach der Rechtsprechung des BAG lediglich, dass 619 dem Arbeitgeber bei der Berechnung der Unternehmensziele ein Spielraum 141

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

durch eine Betriebsvereinbarung oder den Spruch der Einigungsstelle zugebilligt wird, solange keine Veränderung der Ziele selbst erfolgt und der Spielraum auch und gerade dazu dient, innerhalb des Geschäftsjahres aufgetretene Effekte, die bei der Zielfestlegung noch nicht berücksichtigt werden konnten, zu neutralisieren. 620 Hiervon ausgehend – und das ist auch für sanierungsbedürftige Unternehmen interessant – kann dem Arbeitgeber erlaubt werden, bei einer vergütungsrelevanten Kennziffer die insoweit maßgebliche Methode einseitig festzulegen. Das gilt jedenfalls dann, wenn für die Bestimmung der Zielerreichung mehrere betriebswirtschaftlich gleichwertige Methoden verfügbar sind. Praxistipp: Dies wird man nicht nur in einer Betriebsvereinbarung, sondern auch in individualvertraglichen Regeln für zulässig halten dürfen.

621 Hintergrund hierfür ist, dass die Leistungsbestimmung durch den Arbeitgeber in diesem Fall – wie das BAG ausdrücklich klarstellt – nach billigem Ermessen erfolgen muss. Die Ermessensausübung ist dann nach § 315 BGB gerichtlich überprüfbar. c) Sachverhalt 622 Im entschiedenen Fall stritten die Parteien über einen arbeitsvertraglichen „variablen Bonus gemäß den jeweiligen gültigen Regelungen“. Die gültige Regelung war eine Gesamtbetriebsvereinbarung, nach der sich der variable Vergütungsanteil zu 60 % nach Unternehmenszielen und zu 40 % nach individuellen Zielen bestimmt. Am 9.3.2009 wurden in einem Einigungsstellenverfahren die Unternehmensziele für das Geschäftsjahr 2008/2009 festgelegt, darunter u. a. das sog. EBITDA. Im Geschäftsjahr 2008/2009 ermittelte die beauftragte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zunächst ein EBITDA von EUR 60,2 Mio., das anschließend aufgrund von Einmaleffekten auf EUR 86,7 Mio. erhöht wurde. Ähnlich war bereits im vorangegangenen Geschäftsjahr verfahren worden. Nachdem dieses EBITDA an die Konzernmutter gemeldet wurde, wies diese die Beklagte an, eine andere Berechnungsmethode bei versicherungsmathematischen Gewinnen und Verlusten anzuwenden. Dies führte zu einer Reduzierung des EBITDA auf EUR 70,5 Mio. Der Kläger ist der Auffassung, dass die Beklagte das EBITDA nach der bislang angewandten Bilanzierungsmethode hätte ermitteln müssen und er daher einen weiteren Bonusanspruch i. H. v. EUR 1.549,28 (brutto) habe. ArbG und LAG wiesen die Klage ab. d) Wesentliche Überlegungen des BAG 623 Die Revision des Klägers hatte teilweise Erfolg. Weder die Gesamtbetriebsvereinbarung noch der Einigungsstellenspruch legten eine bestimmte Methode

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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit

zur Ermittlung des EBITDA fest. Die Festlegung habe daher durch die Beklagte gemäß § 315 BGB nach billigem Ermessen zu erfolgen. Enthalte eine Betriebsvereinbarung einen Fachbegriff, ohne ihn näher zu erläutern, sei davon auszugehen, dass dieser Begriff in seiner fachtechnischen Bedeutung gelten solle. Allerdings definierten gesetzliche und regulatorische Rechnungslegungsvorschriften den Begriff des EBITDA nicht. Grundsätzlich bestünden daher Spielräume für die Beklagte. Bei getroffenen Zielvereinbarungen seien jedoch die festgelegten Ziele und 624 Bewertungsmethoden für beide Seiten bindend und könnten nicht einseitig geändert werden. Die Methode der Beklagten lasse erkennen, dass in der Vergangenheit keine Festlegung auf eine bestimmte Berechnungsmethode erfolgt sei, sondern eine eigenständige, am Zweck der Gesamtbetriebsvereinbarung orientierte Festlegung des EBITDA vorgenommen wurde. e) Insbesondere: Anforderungen an die Ermessenausübung Gemessen an den Vorgaben von § 315 BGB habe die Beklagte die ihr gesetzten 625 Grenzen aber nicht gewahrt. Denn eine Leistungsbemessung, die sich allein nach den Vorgaben der Konzernmutter richte und keine anderen anerkennenswerten Faktoren und Interessen berücksichtige, entspreche nicht billigem Ermessen. Die Festlegung habe daher durch Urteil zu erfolgen. Praxistipp: Die Entscheidung macht für die betriebliche Praxis noch einmal deutlich, dass der Umgang mit Bilanzkennziffern und Kenngrößen der Rechnungslegung auch für Gerichte bisweilen nicht einfach ist. Eine abschließende und umfassende Regelung der Bewertungsmethoden bei der Anwendung von Bilanzkennziffern ist zudem häufig kaum möglich. Sinnvoller dürfte daher in vielen Fällen sein, für die Bemessung der variablen Vergütung bestimmte Kennziffern des testierten Jahres- oder Konzernabschlusses zugrunde zu legen. Dies vermeidet Streit über einen behaupteten Korrekturbedarf im Nachgang zur Feststellung der Zielerreichung.

2. Berücksichtigung des Leistungsbezugs bei Bestimmung eines Bonusbudgets für einen Leistungsbonus Das BAG zieht die Ermessensausübungskontrolle nach § 315 BGB auch in 626 anderen Kontexten zur Ergebniskorrektur heran. Durch die Einräumung von Spielräumen für den Arbeitgeber ermöglicht sie allerdings auch Flexibilität. Dass dies ggf. gerade in Krisensituationen nutzbar ist, verdeutlicht das Urteil des BAG vom 19.3.2014 – 10 AZR 622/13, ZIP 2014, 1241

nach dem dann, wenn ein Arbeitgeber nach § 315 BGB über einen Bonusanspruch zu entscheiden hat, der gleichermaßen auf der Ertragslage des Unternehmens und auf der Leistung des Arbeitnehmers beruht, ein festzusetzendes Bonusbudget – in Abhängigkeit von der Ertragslage – regelmäßig eine

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

Größenordnung erreichen muss, die den Leistungsbezug des Bonussystems beachtet und ausreicht, die durch Abschluss von Zielvereinbarungen angestrebten und tatsächlich erbrachten Leistungen angemessen zu honorieren. a) Sachverhalt 627 Im entschiedenen Fall stritten die Parteien über Bonuszahlungen für die Jahre 2008 bis 2011. Der Kläger ist bei der beklagten Bank als Abteilungsleiter beschäftigt. Gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 des Arbeitsvertrags vom 1.1.2001 „kann“ dem Kläger „als freiwillige Leistung ohne Rechtsanspruch“ ein Bonus gezahlt werden. Arbeitsvertraglich in Bezug genommen wurden insoweit die jeweiligen Dienstvereinbarungen über das Bonussystem der Beklagten. Dieses Bonussystem bestand in manchen Jahren aus zwei Boni: einem von der individuellen Leistung abhängigen „Leistungsbonus“ und einem sog. „Bankbonus“, der von dem Gesamtbankergebnis abhing. In anderen Geschäftsjahren hatten sich die Betriebsparteien auf einen einheitlichen Bonus geeinigt, der indes ebenso individuelle und unternehmerische Ziele berücksichtigte. Nachdem die Beklagte im Geschäftsjahr 2008 einen Verlust von ca. EUR 5 Mrd. und im Geschäftsjahr 2009 einen Verlust von ca. EUR 2,6 Mrd. erlitten hatte, beschloss ihr Vorstand, für beide Geschäftsjahre keine Boni zu zahlen. Für das Geschäftsjahr 2010 legte er ein Gesamtvolumen für die variable Vergütung von EUR 25 Mio. fest und für das Geschäftsjahr 2011 entschied er erneut, keine variable Vergütung auszuschütten. Der Kläger hatte für das Jahr 2010 eine variable Vergütung i. H. v. EUR 8.391 (brutto) erhalten. Der Kläger macht Boni für 2008, 2009 und 2011 sowie eine weitere Zahlung für 2010 geltend. Das ArbG wies die Klage ab, das LAG gab ihr statt. b) Wesentliche Überlegungen des BAG 628 Die Revision der Beklagten hatte Erfolg. Nach Auffassung des BAG hatte der Kläger für 2008 und 2009 keinen Bonusanspruch. Für 2010 und 2011 wies das BAG die Sache an das LAG zurück. aa) Arbeitsvertrag und Dienstvereinbarung als Regelungseinheit 629 Dabei begründet das BAG zunächst überzeugend, dass Arbeitsvertrag und Dienstvereinbarung erst gemeinsam die vollständige Regelung abbilden. Praxistipp: Für die betriebliche Praxis bedeutet dies, dass noch nicht alles „verloren“ sein muss, wenn die arbeitsvertragliche Klausel isoliert betrachtet unwirksam wäre. Denn die – dann wirksame – Gesamtregelung ergibt sich erst aus der in Bezug genommenen Dienstvereinbarung, die ihrerseits den Inhalt ausgestaltet und damit „heilende“ Wirkung entfalten kann, wenn sie jährlich neu – wirksam – geregelt wird.

630 Nach § 4 Abs. 2 Satz 3 des Arbeitsvertrags „kann“ der Kläger einen Leistungsbonus erhalten, der sich im Einzelnen nach seinen Leistungen im je144

III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit

weils vorangegangenen Geschäftsjahr bestimmt. Der Wortlaut dieser Vertragsregelung lässt nach der zutreffenden Bewertung des BAG mehrere Deutungen zu: Denkbar ist zunächst einmal, dass sich „kann“ auf die Entscheidungsfreiheit 631 der Beklagten vor oder nach dem Geschäftsjahr bezieht, ob der Kläger überhaupt eine Leistung erhält. Hierauf deute – so das BAG – die weitere Formulierung „freiwillige Leistung ohne Rechtsanspruch“ hin, deren Rechtswirksamkeit es zunächst offen lässt, um im Nachgang die Unwirksamkeit eines sog. allgemeinen Freiwilligkeitsvorbehalts zu bestätigen. Vgl. dazu Mückl, 1. Aufl., Rn. 211 ff. Praxistipp: Vgl. zur Bedeutung einer Bezeichnung als freiwillige Leistung: BAG, v. 17.4.2013 – 10 AZR 281/12, NZA 2013, 787; BAG, v. 5.7.2011 – 1 AZR 94/10, AP Nr. 139 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung (LS).

Alternativ lasse die Formulierung aber – so das BAG weiter – wegen des klaren 632 Leistungsbezugs im Nachsatz jedenfalls nach § 305c Abs. 2 BGB eine Auslegung zu, nach der „kann“ lediglich zum Ausdruck bringen soll, dass der Leistungsbonus von den Leistungen des Arbeitnehmers abhängt und er bei guten Leistungen einen solchen erzielen kann, sonst aber nicht. In beiden Auslegungsvarianten lege der Vertrag selbst nicht fest, in welcher 633 Höhe und nach welchen Bedingungen ein Bonus ggf. gezahlt wird. Vielmehr bedürfe dies der Ausgestaltung und – falls die Ausgestaltung entsprechenden Spielraum lasse – einer abschließenden Leistungsbestimmung durch den Arbeitgeber. Ein Ausgestaltungsbedürfnis liege im Übrigen auch wegen des Leistungsbezugs des Bonus nahe, da die Beurteilung von Leistungen regelmäßig über Zielvereinbarungen und Beurteilungssysteme erfolge. Hinsichtlich der Ausgestaltung des Bonusanspruchs verweise § 4 Abs. 2 634 Satz 4 des Arbeitsvertrags dementsprechend dynamisch auf die bei der Beklagten bestehenden Dienstvereinbarungen über das Bonussystem für die außertariflich Beschäftigten. Zwar gelten diese ohnehin normativ und zwingend im Arbeitsverhältnis. Vgl. z. B. BAG, v. 19.5.1992 – 1 AZR 417/91, n. v.; BVerwG, v. 7.4 2008 – 6 PB 1.08, NVwZ 2008, 801; Richardi/Dörner/Weber/Weber, BPersVG, § 73 Rn. 21.

Der Hinweis mache für den Arbeitnehmer aber – so das BAG – transparent, 635 dass § 4 Abs. 2 Satz 3 des Vertrags das anwendbare Bonussystem nicht abschließend regele. Er hat damit mehr als deklaratorische Bedeutung. Vgl. dazu auch BAG, v. 5.7.2011 – 1 AZR 94/10, AP Nr. 139 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung (LS).

Die Bestimmung des Inhalts der Vertragsklausel in Satz 3 könne dement- 636 sprechend nicht ohne Beachtung des Satz 4 der Klausel erfolgen. Erst aus 145

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

dem gesamten Inhalt des § 4 Abs. 2 des Arbeitsvertrags und den Bestimmungen der anwendbaren Dienstvereinbarung ergebe sich, nach welchen Bedingungen sich im jeweiligen Geschäftsjahr die variable Vergütungskomponente für außertarifliche Angestellte bestimmt. Praxistipp: Daraus ergibt sich der bereits oben in Rn. 629 gekennzeichnete Gestaltungsspielraum zur „Heilung“ unwirksamer Freiwilligkeitsvorbehalte bei dynamischer Inbezugnahme ergänzender Regelungen, welche die Fehler der isoliert betrachteten arbeitsvertraglichen Regelung beseitigen. Denkbar ist dieser Effekt auch in einer individualvertraglich vereinbarten Zielvereinbarung.

bb) Zulässigkeit einer dynamischen Inbezugnahme betrieblicher Regelungen 637 Die dynamische Verweisung auf betriebliche Regelungen begegnet für sich genommen nach der Bewertung des BAG keinen Bedenken, soweit sie sich auf Betriebsvereinbarungen oder Dienstvereinbarungen bezieht. 638 Eine dynamische Verweisung auf andere Regelungswerke führt für sich genommen zunächst einmal nicht zur Intransparenz der Regelung i. S. v. § 307 Abs. 3 Satz 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 BGB. Praxistipp: Für die Bezugnahme auf tarifliche Regelungen hat das BAG dies jüngst mehrfach bestätigt (vgl. BAG, v. 21.11.2012 – 4 AZR 85/11, ZIP 2013, 994, dazu EWiR 2013, 429 (Oetker); BAG, v. 23.3.2011 – 10 AZR 831/09, NZA 2012, 396). Gleiches gilt für Betriebs- und Dienstvereinbarungen. An der Transparenzkontrolle scheitern zwar auch Bezugnahmen auf einseitige Regelungen des Arbeitgebers damit konsequenterweise nicht. Sie sind allerdings – anders als bei einer Inbezugnahme von Kollektivvereinbarungen –, soweit sie pauschal erfolgen, nach den Vorgaben des § 308 Nr. 4 BGB unwirksam (vgl. BAG, v. 11.2.2009 – 10 AZR 222/08, NZA 2009, 428; BAG, v. 14.11.2011 – 5 AZR 457/10, BAGE 140, 148).

639 Dies schließt nach der zutreffenden Bewertung des BAG ein, dass die Arbeitsvertragsparteien ihre vertraglichen Absprachen dahin gehend gestalten können, dass sie der Abänderung durch betriebliche Normen unterliegen. BAG, v. 21.8.2013 – 5 AZR 581/11, NZA 2014, 271; BAG, v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, ZIP 2013, 1542, dazu EWiR 2013, 635 (Klasen).

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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit Praxistipp: In seinem Urteil vom 5.3.2013 (1 AZR 417/12, ZIP 2013, 1542) hat das BAG sogar angenommen eine Öffnungsklausel für Betriebsvereinbarungen, d. h. deren dynamische Inbezugnahme, sei als AGB ausgestalteten Arbeitsverträgen immanent. Daraus ergeben sich für die Betriebsparteien – ohne Verstoß gegen das Günstigkeitsprinzip ganz erhebliche Gestaltungsspielräume, vgl. Mückl, 1. Aufl., Rn. 250 ff. Diese können gerade auch in der Krise genutzt werden (Stichwort: Bündnis für Arbeit). Abzuwarten bleibt allerdings, ob die Instanzgerichte dieser Entscheidung folgen werden, was derzeit noch nicht klar ist (distinguishing – also Sachverhaltsunterscheidung – betreibt z. B. LAG Rheinland-Pfalz, v. 11.11.2013 – 5 Sa 312/13, n. v.). Der 5. Senat des BAG hat sich dem 1. Senat des BAG indes bereits angeschlossen (vgl. BAG, v. 21.8.2013 – 5 AZR 581/11, NZA 2014, 271; BAG, v. 21.8.2013 – 5 AZR 582/11 bis 5 AZR 588/11, n. v.). Der 9. Senat des BAG scheint gleiches tun zu wollen (vgl. BAG, v. 18.2.2014 – 9 AZR 821/12, NZA 2014, 1036; ebenso der 10. Senat, vgl. BAG, v. 19.3.2014 – 10 AZR 622/13, ZIP 2014, 1241, dazu EWiR 2014, 567 (Göpfert)). Tendenziell dürfte gleiches für den 7. Senat gelten (vgl. BAG, v. 23.7.2014 – 7 AZR 771/12, NZA 2014, 1341). Das BAG befindet sich daher auf dem Weg zu einer einheitlichen Rechtsprechung in dieser Frage.

Die dynamische Verweisung auf ein anderes betriebliches Regelungswerk ent- 640 hält nach der Rechtsprechung des BAG – anders als die Verweisung auf arbeitgeberseitige Richtlinien – auch keinen Änderungsvorbehalt i. S. d. § 308 Nr. 4 BGB. Vgl. auch BAG, v. 21.11.2012 – 4 AZR 85/11, ZIP 2013, 994.

cc) Kennzeichnung einer Leistungsbestimmung nach „billigem Ermessen“ Einzige Voraussetzung für eine wirksame Leistungsbestimmung ist daher, 641 dass sie billigem Ermessen entspricht. Dies ist nach der Rechtsprechung des BAG dann gegeben, wenn die wesentlichen Umstände des Falls abgewogen und die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt worden sind. BAG, v. 19.3.2014 – 10 AZR 622/13, ZIP 2014, 1241; vgl. BAG, v. 12.10.2011 – 10 AZR 746/10, BAGE 139, 283 = ZIP 2012, 340, dazu EWiR 2012, 309 (Hützen); BAG, v. 25.8.2010 – 10 AZR 275/09 BAGE 135, 239; BAG, v. 13.4.2010 – 9 AZR 36/09, DB 2010, 2805; BAG, v. 23.9.2004 – 6 AZR 567/03, BAGE 112, 80.

Maßgeblich ist der Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber die Ermessensent- 642 scheidung zu treffen hat. BAG, v. 19.3.2014 – 10 AZR 622/13, ZIP 2014, 1241; vgl. BAG, v. 10.5.2005 – 9 AZR 294/04, AP Nr. 20 zu § 1 TVG Altersteilzeit.

Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die Leistungsbestimmung der 643 Billigkeit entspricht, hat der Bestimmungsberechtigte zu tragen. BAG, v. 19.3.2014 – 10 AZR 622/13, ZIP 2014, 1241; vgl. BAG, v. 14.7.2010 – 10 AZR 182/09, BAGE 135, 128; BGH, v. 5.7.2005 – X ZR 60/04, BGHZ 163, 321.

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

644 Dem Inhaber des Bestimmungsrechts nach § 315 Abs. 1 BGB verbleibt insoweit für die rechtsgestaltende Leistungsbestimmung ein nach billigem Ermessen auszufüllender Spielraum. Innerhalb des Spielraums können dem Bestimmungsberechtigten mehrere Entscheidungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. BAG, v. 19.3.2014 – 10 AZR 622/13, ZIP 2014, 1241; vgl. BAG, v. 13.6.2012 – 10 AZR 296/11, NZA 2012, 1154; BGH, v. 18.10.2007 – III ZR 277/06, BGHZ 174, 48.

645 Ob die Entscheidung der Billigkeit entspricht, unterliegt dann allerdings der vollen gerichtlichen Kontrolle, § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB. BAG, v. 19.3.2014 – 10 AZR 622/13, ZIP 2014, 1241; vgl. BAG, v. 23.1.2007 – 9 AZR 624/06, NZA-RR 2007, 397.

dd) Entscheidungsrahmen in leistungsabhängigen Systemen 646 Im entschiedenen Fall waren nach der Dienstvereinbarung AT-Vergütung 2010 sowohl die Leistung des Arbeitnehmers als auch die Ertragslage der Bank bei der Leistungsbestimmung zu berücksichtigen. Das vom Vorstand festzusetzende Budget musste deshalb nach der Bewertung des BAG in Abhängigkeit von der Ertragslage eine Größenordnung erreichen, die den Leistungsbezug des Bonussystems beachtet und ausreicht, die durch Abschluss von Zielvereinbarungen angestrebten und tatsächlich erbrachten Leistungen angemessen zu honorieren. 647 Konsequenz aus dieser Vorgabe ist, dass die Leistungsbestimmung in einem solchen Fall regelmäßig nur dann billigem Ermessen entspricht, wenn vereinbarte und erreichte persönliche Ziele ihren angemessenen Ausdruck in dem festgelegten Leistungsbonus finden. Deshalb kommt, wenn der Arbeitnehmer die Ziele erreicht, nur in Ausnahmefällen eine Festsetzung des Bonus auf „Null“ in Betracht. BAG, v. 19.3.2014 – 10 AZR 622/13, ZIP 2014, 1241; BAG, v. 15.5.2013 – 10 AZR 679/12, n. v.; BAG, v. 20.3.2013 – 10 AZR 8/12, NZA 2013, 970. Praxistipp: Die Ausgestaltung von Bonussystemen als einseitiges Leistungsbestimmungsrecht des Arbeitgebers eröffnet daher Spielräume, fordert vom Arbeitgeber aber auch nachvollziehbare Begründungen für die Festlegung der variablen Vergütung im jeweiligen Geschäftsjahr. Das Argument, der Vorstand bzw. der Geschäftsführer habe kein Budget zur Verfügung gestellt, hat das BAG als zweifelhaft bezeichnet. Es dürfte in der Praxis nicht durchgreifen, wenn nicht einer der vom BAG gekennzeichneten Ausnahmefälle vorliegt. Die Kennzeichen eines derartigen Ausnahmefalls hat das BAG indes noch nicht abschließend skizziert, sodass sich die betriebliche Praxis im Zweifel nicht darauf verlassen sollte, dass kein Budget zur Verfügung gestellt werden muss.

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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit

ee) Bestätigung des Abschieds vom allgemeinen Freiwilligkeitsvorbehalt Abschließend hat das BAG noch einmal bestätigt, dass ein Freiwilligkeits- 648 vorbehalt den Arbeitnehmer unangemessen benachteiligt, wenn er dem Arbeitgeber das Recht zubilligt, trotz Abschluss einer vergütungsorientierten Zielvereinbarung nach Ablauf der Beurteilungsperiode frei darüber zu entscheiden, ob eine Vergütungszahlung erfolgt oder nicht. Hintergrund hierfür ist, dass der Arbeitgeber mit Abschluss einer Zielvereinbarung, die Vergütungsbezug hat, Leistungsanreize für den Arbeitnehmer setzt und damit bestimmt, wie aus seiner Sicht die Arbeitsleistung in einer bestimmten Periode durch den Arbeitnehmer optimal erbracht werden soll. Die in Aussicht gestellte erfolgsabhängige Vergütung steht damit im Gegenleistungsverhältnis; sie ist Teil der Gegenleistung für die erbrachte Arbeitsleistung des Arbeitnehmers. BAG, v. 12.4.2011 – 1 AZR 412/09, BAGE 137, 300; BAG, v. 12.12.2007 – 10 AZR 97/07, BAGE 125, 147; BAG, v. 19.3.2014 – 10 AZR 622/13, ZIP 2014, 1241. Praxistipp: Die betriebliche Praxis wird sich daher endgültig vom allgemeinen Freiwilligkeitsvorbehalt verabschieden müssen. Stattdessen sollte die Leistungsgewährung im Einzelfall mit einem – (noch) wirksamen – konkreten Freiwilligkeitsvorbehalt verbunden werden (vgl. Mückl, 1. Aufl., Rn. 222).

3. Anfechtung einer Zielvereinbarung Insbesondere im Zusammenhang mit der Beendigung von Arbeitsverhältnis- 649 sen, aber auch im laufenden Arbeitsverhältnis – nämlich bei (absehbarer, insbesondere weitgehender) Zielverfehlung – kommt es in der betrieblichen Praxis häufig zu Streit darüber, ob vereinbarte oder vorgegebene Ziele realistisch sind bzw. waren. Ein Urteil des LAG Hamm vom 18.2.2014 – 14 Sa 806/13, n. v.

macht noch einmal zu Recht deutlich, dass es Arbeitnehmern im Fall einer getroffenen Vereinbarung über die zu erreichenden Ziele häufig sehr schwer fallen wird, diese nachträglich zu beseitigen bzw. auf anderem Wege an die von ihnen als angemessen empfundene Vergütung zu gelangen. Für sanierungsbedürftige Unternehmen bedeutet dies, dass sie auch ambitionierte Sanierungsziele zum Gegenstand einer Zielvereinbarung machen dürfen. a) Sachverhalt des LAG Hamm Im entschiedenen Fall stritten die Parteien u. a. über die Zahlung eines Bo- 650 nus nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Im Arbeitsvertrag des Klägers war vereinbart, dass er einen Bonus entsprechend einer jährlich abzuschließenden Zielvereinbarung erhalten soll. Während der Verhandlung der streitgegenständlichen jährlichen Zielvereinbarung äußerte der Kläger zwar Zweifel,

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

ob die von der Beklagten vorgeschlagenen Ziele zu erreichen seien, ließ sich aber letztlich auf diese Ziele ein, indem er die Vereinbarung unterzeichnete. Im Zusammenhang mit der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses focht er die Zielvereinbarung dann aber unter Berufung auf eine arglistige Täuschung sowie, hilfsweise, ein Störung der Geschäftsgrundlage an. Vor dem LAG Hamm hatte er damit – zu Recht – keinen Erfolg. b) Keine AGB-Kontrolle von Zielvereinbarungen bei Erfüllung der Verhandlungspflicht durch den Arbeitgeber aa) Verpflichtung zum Angebot realistischer Ziele 651 Hat ein Arbeitnehmer nach dem Arbeitsvertrag einen Anspruch auf einen variablen Gehaltsbestandteil gemäß einer Zielvereinbarung, folgt daraus – wie das LAG Hamm im entschiedenen Fall noch einmal bestätigt – die Verpflichtung des Arbeitgebers, mit dem Arbeitnehmer Verhandlungen über den Abschluss einer Zielvereinbarung zu führen und ihm Ziele, die dieser nach einer auf den Zeitpunkt des Angebots bezogenen Prognose erreichen könnte, für die jeweilige Zielperiode anzubieten. Praxistipp: Werden entgegen einer arbeitsvertraglichen Abrede keine Verhandlungen über eine Zielvereinbarung geführt und wird deshalb für eine Zielperiode keine Zielvereinbarung getroffen, hat der Arbeitnehmer nach Ablauf der Zielperiode grundsätzlich Anspruch auf Schadensersatz, wenn der Arbeitgeber das Nichtzustandekommen der Zielvereinbarung zu vertreten hat (vgl. BAG, v. 12.12.2007 – 10 AZR 97/07, NZA 2008, 409; BAG, v. 10.12.2008 – 10 AZR 889/07, NZA 2009, 256; BAG, v. 12.5.2010 – 10 AZR 390/09, NZA 2010, 1009).

652 Erforderlich ist das Angebot realistischer Ziele. Es geht nach der Rechtsprechung des BAG nicht zulasten des Arbeitnehmers, wenn er ein Angebot mit nicht erreichbaren Zielen ablehnt. Vgl. BAG, v. 10.12.2008 – 10 AZR 889/07, NZA 2009, 256.

bb) Keine Inhaltskontrolle bei Zustandekommen einer Zielvereinbarung 653 Nimmt der Arbeitnehmer ein vom Arbeitgeber unterbreitetes Angebot einer Zielvereinbarung an, ist die Grundlage für einen Schadensersatzanspruch damit allerdings definitiv entfallen. Denn der Arbeitgeber hat – wie auch das LAG Hamm im entschiedenen Fall zu Recht annimmt – seiner Verhandlungspflicht Genüge getan. Schließlich ist im Verhandlungswege eine Regelung getroffen worden. 654 Die Angemessenheit der vereinbarten Ziele i. S. d. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB ist selbst im Falle der Vorformulierung der Zielvereinbarung durch den Arbeitgeber gemäß § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB nicht zu überprüfen. Das gilt – wie das LAG Hamm ebenfalls zu Recht klarstellt – selbst dann, wenn der Arbeitgeber nicht erreichbare Ziele vorformuliert hat. LAG Hamm, v. 18.2.2014 – 14 Sa 806/13, n. v.

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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit

Zur Begründung weist das LAG Hamm zu Recht darauf hin, dass, wenn der 655 Arbeitnehmer trotzdem ein solches Angebot annimmt, er auch die Konsequenz daraus trägt, dass er der vom Arbeitgeber vorgeschlagenen Vereinbarung zugestimmt hat. Er bleibt daran gebunden. Praxistipp: Bereits vor diesem Hintergrund ist eine Vereinbarung über die zu erreichenden Ziele gegenüber einer einseitigen Vorgabe durch den Arbeitgeber aus Unternehmenssicht vorzugswürdig, weil die Vereinbarung – anders als eine einseitige Vorgabe – keiner Inhaltskontrolle (z. B. nach § 315 BGB) unterliegt. Nutzbar machen können Arbeitgeber diesen Vorteil vor allem dann, wenn sie in dem Arbeitsvertrag, der das Erfordernis einer Zielvereinbarung begründet, zugleich eine Initiativlast des Arbeitnehmers für die Zielvorschläge vorsehen. Denn dies schließt Schadensersatzansprüche weitestgehend aus bzw. reduziert das mit ihnen verbundene Risiko erheblich, weil dem Arbeitnehmer jedenfalls ein erhebliches Mitverschulden zur Last fällt (§ 254 BGB).

c) Schwierigkeiten bei der Darlegung einer Täuschungsanfechtung Etwas anderes könnte zwar dann gelten, wenn der Arbeitnehmer aufgrund 656 einer arglistigen Täuschung des Arbeitgebers gemäß § 123 BGB seine Zustimmung zu der vom Arbeitgeber vorgeschlagenen Zielvereinbarung anfechten kann. In diesem Fall käme es grundsätzlich in Betracht, dass nach dem ersatzlosen Wegfall der Zielvereinbarung gemäß § 142 Abs. 1 BGB es der Arbeitgeber zu vertreten hat, dass für die Zielperiode keine Vereinbarung getroffen wurde, weshalb er dem Arbeitnehmer auf Schadensersatz haftet. Die Entscheidung des LAG Hamm macht – ausgehend von der ganz herr- 657 schenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur – aber zu Recht noch einmal deutlich, dass es dem Arbeitnehmer in aller Regel sehr schwer fallen wird, eine arglistige Täuschung darzulegen und ggf. zu beweisen. So konnte im entschiedenen Fall offen bleiben, ob die Beklagte den Kläger 658 dadurch getäuscht hatte, dass sie vor Abschluss der Zielvereinbarung die bisherigen Umsatzzahlen in den vom Kläger umschriebenen Zeiträumen nicht offengelegt hatte, oder – alternativ – eine Täuschung dadurch begangen hatte, dass sie nicht erreichbare Ziele vorformuliert und dem Kläger als erreichbar dargestellt hat. Die vom Kläger erklärte Anfechtung scheiterte jedenfalls an der nach § 123 BGB erforderlichen Arglist. aa) Voraussetzungen einer Täuschungsanfechtung Denn arglistig ist eine Täuschung nur, wenn der Täuschende weiß oder billi- 659 gend in Kauf nimmt, dass seine Behauptungen nicht der Wahrheit entsprechen und deshalb oder mangels Offenbarung bestimmter Tatsachen irrige Vorstellungen beim Getäuschten entstehen oder aufrechterhalten werden.

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung Praxistipp: Fahrlässigkeit – auch grobe Fahrlässigkeit – genügt nicht.

660 Die Beweislast für das Vorliegen von Arglist trägt der Anfechtende. Dass es sich hierbei um eine innere Tatsache handelt, steht dem nicht entgegen. Vgl. BAG, v. 12.5.2011 – 2 AZR 479/09, NZA-RR 2012, 43; BAG, v. 11.7.2012 – 2 AZR 42/11, NZA 2012, 1316, dazu EWiR 2013, 101 (Jacobsen/Menke); BAG, v. 6.9.2012 – 2 AZR 270/11, NZA 2013, 1087.

661 Erforderlich ist, dass der Täuschende die Unrichtigkeit der für den Getäuschten bedeutsamen Umstände kennt LAG Hamm, v. 18.2.2014 – 14 Sa 806/13, n. v.; vgl. BGH, v. 3.2.1998 – X ZR 18/96, NJW-RR 1998, 904; Palandt/Ellenberger, BGB, § 123 Rn. 11

oder unrichtige Behauptungen ohne tatsächliche Grundlage „ins Blaue hinein“ aufstellt. LAG Hamm, v. 18.2.2014 – 14 Sa 806/13, n. v.; vgl. BGH, v. 29.1.1975 – VIII ZR 101/73, NJW 1975, 642; BGH, v. 11.6.1979 – VIII ZR 224/78, NJW 1979, 1886.

662 Im Fall einer Offenbarungspflicht muss der Aufklärungspflichtige wissen oder zumindest damit rechnen und billigend in Kauf nehmen, dass der andere Teil von den verschwiegenen Umständen keine Kenntnis hat. LAG Hamm, v. 18.2.2014 – 14 Sa 806/13, n. v.; vgl. BGH, v. 26.1.1996 – V ZR 42/94, NJW-RR 1996, 690.

663 Der Täuschungswille muss auf Irrtumserregung und Beeinflussung der Willensentschließung beim anderen Teil gerichtet sein. Das setzt die Kenntnis der Bedeutung des eigenen Verhaltens beim Täuschenden voraus. LAG Hamm, v. 18.2.2014 – 14 Sa 806/13, n. v.; BeckOK-BGB/Wendtland, BGB § 123 Rn. 18. Praxistipp: Objektiv unrichtige Angaben lassen regelmäßig den Schluss auf einen Täuschungswillen zu, während eine lediglich ungeschickte Formulierung, welche zur Irreführung geeignet ist, nicht ausreicht (vgl. BGH, v. 22.2.2005 – X ZR 123/03, NJW-RR 2005, 1082).

bb) Immanente Grenzen der Anwendbarkeit bei Zielvereinbarungen 664 Bei Anwendung dieser Grundsätze auf Zielvereinbarungen scheidet eine Arglist häufig aus. Denn zunächst einmal ist – wie das LAG Hamm zu Recht annimmt – jeder Zielvereinbarung die Nichterreichbarkeit von Zielvorgaben immanent. LAG Hamm, v. 18.2.2014 – 14 Sa 806/13, n. v.

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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit

Schließlich handelt es sich bei den Zielen um Prognosen, deren Eintritt un- 665 gewiss ist. Praxistipp: Unterstrichen werden kann dieser Charakter – wie das LAG Hamm bestätigt – bei der Gestaltung der Zielvereinbarung dadurch, dass eine Staffelung abhängig vom Grad der Zielerreichung erfolgt. Denn eine vereinbarte Staffelung der Bonuszahlung je nach Grad der Zielerreichung macht deutlich, dass die vollständige Zielerreichung eben gerade nicht gewiss ist und für den Fall der teilweisen Zielerreichung Vorsorge getroffen werden soll.

Auch wenn der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet ist, dem Arbeitneh- 666 mer Ziele, die dieser nach einer auf den Zeitpunkt des Angebots bezogenen Prognose erreichen könnte, für die jeweilige Zielperiode anzubieten, muss es sich aber – wie das LAG Hamm zu Recht unterstreicht – nicht um in jedem Fall erreichbare Ziele handeln. Auch anspruchsvolle Zielvorgaben, deren Verwirklichung nur bei besonderer Anstrengung und einem optimalen Verlauf der Geschäfte erreicht werden können, dürfen – so das LAG Hamm – Gegenstand einer Zielvereinbarung sein und deswegen vom Arbeitgeber vorformuliert werden. LAG Hamm, v. 18.2.2014 – 14 Sa 806/13, n. v.

Im entschiedenen Fall war es für den Kläger zwar in der Tat schwierig, das 667 Auslandsumsatzvolumen fast zu verdoppeln, um überhaupt eine Prämienzahlung zu erhalten. Mehr als schwierig dürfte im konkreten Fall auch die Erhöhung des bisherigen Umsatzes um das 3,7-fache gewesen sein, so dass die Erreichung dieses Ziels auch bei einem optimalen Verlauf des restlichen Geschäftsjahres im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Einarbeitung des Klägers und den Aufbau des Auslandsvertriebes objektiv kaum möglich gewesen sein dürfte. Praxistipp: Wichtig ist in derartigen Fällen, wie das LAG Hamm zutreffend feststellt, aber auch die Aufgabe, für die der Mitarbeiter eingestellt wird. Geht es gerade darum, Aufgaben zu erfüllen, zu deren Erfüllung der Arbeitgeber mit den vorhandenen Mitarbeitern bislang nicht in der Lage war, darf dies folgerichtig auch bei der Formulierung der bonusrelevanten Ziele berücksichtigt werden.

Im entschiedenen Fall war der Kläger gerade zur Erfüllung von Aufgaben 668 eingestellt worden, die der Arbeitgeber bislang nicht sinnvoll bewältigen konnte. Denn mit dem Kläger als „Manager International Sales“ war ein speziell für das Ausland zuständiger Vertriebsmitarbeiter eingestellt worden, welcher die intensivere Bearbeitung des internationalen Marktes für die hochpreisigen Produkte der Beklagten sicher stellen sollte. Dieser Markt war zudem aus Sicht der Beklagten „wenig durchdrungen“, d. h. er bot erhebliche Entwicklungsmöglichkeiten. Hiervon ausgehend mag die Beklagte zwar die im Jahr 2012 erreichbaren Ziele zu optimistisch formuliert haben. Eine leichtfertige Formulierung der zu erreichenden Ziele zum Zeitpunkt des Ab153

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

schlusses der Vereinbarung ohne tatsächliche Grundlage „ins Blaue hinein“ ist daraus jedoch, wie das LAG Hamm zu Recht angenommen hat, nicht abzuleiten. Praxistipp: Soweit umsatzabhängige Ziele vereinbart oder vorgeschrieben werden, kann sich der Arbeitnehmer jedenfalls dann, wenn er nicht konkret danach fragt, auch nicht darauf berufen, es liege Arglist vor, weil ihm die Ausgangsumsätze, die er erhöhen soll, nicht mitgeteilt werden. Das gilt erst recht, wenn bereits anhand seiner Aufgabenstellung klar ist, dass er derartige Umsätze erst weitestgehend entwickeln soll. Selbst im Fall einer Frage nach derartigen Umsätzen wird man insbesondere dann, wenn die Zielvereinbarung Teil der Einstellungsverhandlungen ist, nicht ohne weiteres von einer Offenlegungspflicht ausgehen dürfen. Denn schließlich sind derartige Informationen besonders sensibel. Wenn sich der Bewerber gegen die angebotene Stelle entscheidet, ist nur schwer kontrollierbar, dass sie Wettbewerbern nicht zugänglich gemacht werden. Mit einer arglistigen Vorenthaltung zum Zweck der Irreführung hat die Zurückhaltung derartiger Informationen daher typischerweise nichts zu tun.

d) Störung der Geschäftsgrundlage 669 Auch ein Anspruch auf Bonuszahlung oder ein entsprechender Schadenersatz aufgrund einer Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) wird nur sehr selten in Betracht kommen. 670 Denn „Geschäftsgrundlage“ i. S. d. § 313 BGB sind die bei Abschluss des Vertrages zutage getretenen, dem anderen Teil erkennbar gewordenen und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Partei oder die gemeinsamen Vorstellungen beider Parteien von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt bestimmter Umstände, sofern der Geschäftswille der Parteien auf diesen Vorstellungen aufbaut, diese aber nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt geworden sind. Vgl. BAG, v. 11.7.2012 – 2 AZR 42/11, NZA 2012, 1316; BAG, v. 23.4.2013 – 3 AZR 512/11, AP Nr. 40 zu § 1 BetrAVG Auslegung.

671 Die Berufung des Arbeitnehmers darauf, dass die übereinstimmenden Vorstellung der Parteien von der Erreichbarkeit der in der Zielvereinbarung genannten Zielgrößen Geschäftsgrundlage gewesen sei, welche von Beginn an falsch gewesen sei, so dass eine Vertragsanpassung zu erfolgen habe, wird in derartigen Fällen zumeist unzulässig ausblenden, dass Bestandteil dieser Geschäftsgrundlage auch gewesen ist, dass die Zielerreichung nicht oder nur teilweise eintreten kann. Inhalt war dann aber auch ein vom Arbeitnehmer zu tragendes Risiko und führt man sich vor Augen, dass einer Vertragspartei auch bei wesentlichen Änderungen der Verhältnisse dann kein Recht auf Anpassung des Vertrages zusteht, wenn die Störung in ihre Risikosphäre fällt, vgl. BeckOK-BGB/Unberath, BGB § 313 Rn. 27; Palandt/Ellenberger, BGB § 313 Rn. 19,

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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit

scheidet eine Anwendung von § 313 BGB bereits deshalb in den Fällen einer erkennbar nicht einfachen Zielerreichung aus. LAG Hamm, v. 18.2.2014 – 14 Sa 806/13, n. v.

Der Umstand, dass sich der Arbeitnehmer ggf. verschätzt hat, führt – wie 672 das LAG Hamm zu Recht klarstellt – zu keiner anderen Bewertung. Denn für eine Berücksichtigung von Störungen der Geschäftsgrundlage ist grundsätzlich kein Raum, soweit es um Erwartungen und Umstände geht, die nach den vertraglichen Vereinbarungen in den Risikobereich einer der Parteien fallen sollen. Eine solche vertragliche Risikoverteilung schließt für den Betroffenen regelmäßig die Möglichkeit aus, sich bei Verwirklichung des Risikos auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage zu berufen. LAG Hamm, v. 18.2.2014 – 14 Sa 806/13, n. v.; vgl. bereits BGH, v. 21.9.2005 – XII ZR 66/03, ZfIR 2006, 197 (m. Anm. Boecken/Queck, S. 203) = NJW 2006, 899; BGH, v. 9.3.2010 – VI ZR 52/09, NJW 2010, 1874.

Das Risiko der Zielverfehlung und des daraus resultierenden Entfalls einer 673 Bonuszahlung liegt dann allein beim Arbeitnehmer. Der Arbeitgeber trägt schließlich nur das unternehmerische Risiko, dass sich seine Umsatzerwartungen nicht erfüllen. Daran ist der Arbeitnehmer zwar indirekt über die Bonusvereinbarung beteiligt, aber eben gerade in der Weise, dass er das Risiko des Entfalls der Bonuszahlung bei Nichterreichung der Zielvorgaben trägt. LAG Hamm, v. 18.2.2014 – 14 Sa 806/13, n. v. Praxistipp: Maßgeblich für die betriebliche Praxis ist daher, ob die Vorstellung der Vertragsparteien über die immer risikobehaftete Erreichbarkeit der vereinbarten Ziele grundlegend falsch war und über das vom Arbeitnehmer zu tragende Risiko hinaus geht. Denn erst eine Überschreitung der immanenten Grenzen der Risikozuweisung würde eine Anwendung von § 313 BGB rechtfertigen (vgl. BeckOK-BGB/Unberath, BGB § 313 Rn. 27; Palandt/Ellenberger, BGB § 313 Rn. 19).

e) Bedeutung für die Sanierungspraxis Wichtig sind diese Feststellungen im Sanierungskontext insbesondere auch 674 für Interimsmanager. Denn mit ihnen dürfen auch sehr ambitionierte Ziele vereinbart werden, bei deren Verfehlung grundsätzlich keine Schadensersatzansprüche usw. befürchtet werden müssen. Gleiches gilt für Sanierungstarifverträge und -betriebsvereinbarungen oder individuelle Zielvereinbarungen zur Umsatzsteigerung, solange erkennbar ist, dass es sich dabei letztlich um Risikogeschäfte handelt. Das wird in aller Regel der Fall sein. 4. Schwarzarbeit muss nicht bezahlt werden Durch Schwarzarbeit entsteht volkswirtschaftlich und steuerlich jährlich ein 675 nicht unerheblicher Schaden. Für Unternehmen als Dienst- oder Werkleister 155

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

lohnt sich eine entsprechende Schwarzarbeit nicht „nur“ aus Compliancegründen seit dem Jahr 2014 noch weniger. Denn in seinem Urteil vom 10.4.2014 – VII ZR 241/13, ZIP 2014, 1027

hat der BGH nun klargestellt, dass dem Unternehmer für erbrachte Bauleistungen nicht einmal ein bereicherungsrechtlicher Anspruch auf Wertersatz gegen den Besteller zusteht, wenn der zugrunde liegende Werkvertrag wegen Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 Nr. 2 SchwarzArbG nichtig ist. Für die betriebliche Praxis spannend ist, ob die vom BGH hierzu entwickelten Überlegungen auf das Arbeitsverhältnis übertragen werden können. a) Sachverhalt des BGH 676 Im entschiedenen Fall stritten die Parteien über die Vergütung von Werkleistungen. Die Klägerin war mit der Ausführung von Elektroarbeiten beauftragt. In einer Auftragsbestätigung, welche die Beklagten unterzeichnet hatten, war ein Pauschalpreis von 18.800 EUR ausgewiesen mit dem Vermerk: „5.000 € Abrechnung gemäß Absprache“. Im Nachgang unterzeichneten die Parteien einen Vertrag, der eine Pauschalvergütung von EUR 13.800 vorsah. Einer der Beklagten übergab dem Geschäftsführer der Klägerin zudem EUR 2.300 in bar. Am 29.4.2011 stellte die Klägerin – nach Abschluss der Arbeiten – eine Schlussrechnung über restliche EUR 3.904,63 brutto aus der Pauschalsumme von EUR 13.800 und am 5.5.2011 eine weitere Rechnung über EUR 2.700 brutto aus. Nach Darstellung der Klägerin haben die Parteien vereinbart, dass die Beklagten neben dem Pauschalwerklohn weitere EUR 5.000 in bar zahlen sollten und für diesen Betrag eine Rechnung nicht gestellt werden sollte. Die Beklagten bestritten dies. b) Wesentliche Überlegungen des BGH 677 Der BGH verneinte einen Zahlungsanspruch der Klägerin. Die Absprache der Parteien über eine Barzahlung von EUR 5.000, das Nichtstellen einer Rechnung sowie das Nichtverlangen und -abführen von Umsatzsteuer verstoße gegen § 1 Abs. 2 Nr. 2 SchwarzArbG. Dies führe gemäß § 134 BGB zur Nichtigkeit des gesamten Werkvertrags, weil es sich um ein einheitliches Rechtsgeschäft gehandelt habe. Der Klägerin stehe auch kein Aufwendungsersatzanspruch gemäß §§ 677, 670 BGB zu, da sie ihre Aufwendungen angesichts des Verstoßes gegen das Verbotsgesetz nicht für erforderlich habe halten dürfen. Ein Bereicherungsanspruch gemäß §§ 812 Abs. 1 Satz 1, 818 Abs. 2 BGB sei nach § 817 Satz 2 BGB ausgeschlossen. Eine einschränkende Auslegung dieser Vorschrift sei nicht geboten, da das Verbotsgesetz nicht zum Schutz des Leistenden, sondern primär zur Wahrung öffentlicher Belange erlassen worden sei. Auch die Grundsätze von Treu und Glauben stünden der Verneinung eines Anspruchs nicht entgegen, da eine generalpräventive Wir-

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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit

kung sonst nicht erzielt werden könne. Ein bewusster Verstoß gegen das Verbotsgesetz sei nicht schützenswert. c) Bedeutung für die betriebliche Praxis In seiner überzeugend begründeten Entscheidung lehnt der BGH entgegen 678 seiner früheren Rechtsprechung bei Schwarzarbeit nun auch einen Bereicherungsanspruch ab. Dass – entgegen der bislang vom BGH vertretenen Auffassung – der generalpräventiven Wirkung des SchwarzArbG nicht bereits durch den Ausschluss vertraglicher Ansprüche, die Gefahr einer Strafverfolgung und der Nachzahlung von Steuern und Sozialabgaben bei Bekanntwerden der Schwarzarbeit Rechnung getragen ist, vgl. noch BGH, v. 31.5.1990 – VII ZR 336/89, ZIP 1990, 1086 = NZA 1990, 809, dazu EWiR 1990, 889 (Tiedtke),

belegt der Umstand, dass Schwarzarbeit in Deutschland – wie der vorliegende Fall noch einmal demonstriert – entgegen der Zielsetzung des SchwarzArbG noch häufig vorkommt und dem Gemeinwesen erheblich schadet. Dies gilt umso mehr, als das SchwarzArbG nicht nur einen fiskalischen Zweck verfolgt, sondern auch der mit der Schwarzarbeit verbundenen Wettbewerbsverzerrung begegnen soll. Die hierfür notwendige abschreckende Wirkung hat der BGH nun deutlich unterstützt. Das gilt nach bisheriger Rechtsprechung des BAG aber nicht für Arbeitsver- 679 hältnisse. Denn danach untersagt das SchwarzArbG im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses die Vergütung und Arbeitsleistung nicht per se. Der Schwarzarbeiter ist daher zu vergüten. Vgl. z. B. BAG, v. 26.2.2003 – 5 AZR 690/01, NZA 2004, 313.

Dagegen spricht, dass Arbeitnehmer nicht schutzwürdiger sein müssen, als 680 Einzelunternehmer, z. B. selbständige Handwerksmeister ohne Personal. Vgl. zum Anfechtungsrecht so zutreffend der BGH, vgl. die Entscheidung unter Rn. 596.

Mit einer „strukturellen Unterlegenheit“ des Arbeitnehmers gegenüber einem 681 Unternehmer, die dazu führt, dass der Arbeitnehmer auch bei der Vereinbarung verbotener Schwarzarbeit als schutzwürdiger anzusehen ist, kann hier nicht sinnvoll argumentiert werden. So aber z. B. Raif/Heinemann-Diehl, GWR 2014, 310.

Das BAG differenziert insoweit allerdings, sodass Ansprüche von Arbeit- 682 nehmern durchsetzbar bleiben dürften. Vgl. BAG, v. 17.3.2010 – 5 AZR 301/09, NJW 2010, 2604.

Es stellt darauf ab, dass nach dem Eingangssatz von § 1 Abs. 1 SchwarzArbG 683 die Erbringung von Dienst- oder Werkleistungen unter Verletzung der genannten Melde- und Anzeigepflichten und bei Verstößen gegen die Gewerbe-

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

oder Handwerksordnung zwar gerade untersagt wird, aber demgegenüber weder die sozial- und steuerrechtlichen Vorschriften noch die §§ 263 Abs. 1, 266a Abs. 1 StGB die Arbeitsleistung an sich verbieten, sondern allein die Hinterziehung der Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Hinzukomme, dass der Gesetzgeber selbst auch nicht von der Unwirksamkeit des Arbeitsvertrags ausgehe, wenn die Vertragspartner darüber einig sind, dass keine Einkommensteuern und Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden sollen. Denn nach Art. 3 Nr. 2 des Gesetzes zur Erleichterung der Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit vom 23.7.2002 (BGBl I, 2787) sei dem § 14 Abs. 2 SGB IV folgender Satz 2 angefügt worden: „Sind bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung nicht gezahlt worden, gilt ein Nettoarbeitsentgelt als vereinbart".

684 Daran werde deutlich, dass ein wirksames Vertragsverhältnis voraussetzt wird. BAG, v. 26.2.2003 – 5 AZR 690/01, BAGE 105, 187. Praxistipp: Der Arbeitnehmer kann aus einer Schwarzgeldabrede aber keinen Anspruch auf Zahlung des Betrags als Nettoarbeitsentgelt herleiten. Denn die Arbeitsvertragsparteien beabsichtigen mit einer Schwarzgeldabrede, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zu hinterziehen, nicht jedoch deren Übernahme durch den Arbeitgeber. Die sozialversicherungsrechtliche Fiktion einer Nettoarbeitsentgeltvereinbarung nach § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV hat keine arbeitsrechtliche Wirkung (BAG, v. 17.3.2010 – 5 AZR 301/09, NJW 2010, 2604).

IV. Aktuelles zur Arbeitsvertragsgestaltung 1. Vertragsstrafenversprechen in Formulararbeitsvertrag 685 Vor allem erkennbar in der Krise befindlichen Unternehmen fällt es naheliegender Weise häufig schwer, qualifiziertes Personal zu finden und/oder an sich zu binden. Gestaltungsmittel hierzu sind neben Retention Boni vgl. dazu insolvenzrechtlich unter Rn. 452

und zielabhängigen Bonusvereinbarungen vgl. zu Gestaltungsmöglichkeiten in Bezug auf sie unter Rn. 649 ff.

häufig auch Vertragsstrafenvereinbarungen für den Fall, dass der Arbeitnehmer die Arbeit nicht aufnimmt, vor Arbeitsantritt kündigt oder im bestehenden Beschäftigungsverhältnis die Kündigungsfrist nicht einhält. Vgl. zur Sinnhaftigkeit derartiger Vereinbarungen in Krise und Insolvenz auch Mückl, ZIP 2012, 1642 ff.

686 Hinreichend effektiv sind derartige Vertragsstrafenregelungen – wenn überhaupt – nur dann, wenn sie nicht lediglich die rechtliche Beendigung des Ar-

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IV. Aktuelles zur Arbeitsvertragsgestaltung

beitsverhältnisses erfassen, sondern bereits die unberechtigte Einstellung der Arbeitsleistung. Zu Zurückbehaltungsrechten des Arbeitnehmers vgl. unter Rn. 339 ff.

Dass die Arbeitseinstellung als Gegenstand der Vertragsstrafenvereinbarung 687 explizit benannt werden sollte, hat das BAG noch einmal in seinem Urteil vom 23.1.2014 – 8 AZR 130/13, ZIP 2014, 1500

deutlich gemacht. Praxistipp: Vertragsstrafenregelungen sind insoweit jedenfalls dann sinnvoll, wenn sie u. a. auf eine – wenn auch zumeist unzureichende – Kompensation für die entfallene Arbeitsleistung abzielen. Denn ein Schadensnachweis ist bei unberechtigter Arbeitseinstellung häufig nur schwer bzw. mit erheblichem Aufwand zu führen.

a) Sachverhalt des BAG In dem entschiedenen Fall war der Beklagte ab dem 1.1.2010 bei der C-GmbH 688 in F, der späteren Insolvenzschuldnerin, als Verfahrensingenieur beschäftigt. Der formularmäßige Arbeitsvertrag sah eine Kündigungsfrist von sechs Monaten für beide Vertragsparteien vor. In Ziffer 14.5 enthielt er folgende Vertragsstrafenregelung: „Beenden Sie den Vertrag ohne Einhaltung der Kündigungsfrist, so verpflichten Sie sich als Vertragsstrafe … zu zahlen.“

Am 30.9.2011 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Arbeit- 689 geberin eröffnet und der Kläger zum Insolvenzverwalter bestellt. Am 11.11.2011 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis „zum nächstmöglichen Termin“ und erschien ab 1.12.2011 nicht mehr zur Arbeit, was der Kläger beanstandete. Der Beklagte weigerte sich, seiner Arbeitsverpflichtung nachzukommen, da er sich – wie in derartigen Fällen bei Eigenkündigungen und Fernbleiben von der Arbeit sehr häufig – bereits im neuen Arbeitsverhältnis befand. Daraufhin kündigte der Kläger das Arbeitsverhältnis fristlos wegen beharrlicher Arbeitsverweigerung und machte – in allen drei Instanzen erfolglos – die Vertragsstrafe geltend. b) Wesentliche Überlegungen des BAG Zunächst einmal steht – wie das BAG zu Recht bestätigt – § 309 Nr. 6 BGB 690 einer Vertragsstrafenregelung im Arbeitsverhältnis für derartige Fälle nicht generell entgegen. Denn wegen der Besonderheiten im Arbeitsrecht gemäß § 310 Abs. 4 2 Halbs. 1 BGB ist eine Vertragsstrafenklausel im vorformulierten Arbeitsvertrag entgegen § 309 Nr. 6 BGB nicht generell unzulässig. An

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

ihre Wirksamkeit ist im Interesse des Arbeitnehmers aber – so das BAG – ein strenger Maßstab anzulegen. Entscheidend ist dabei u. a., dass der Tatbestand, an den der Arbeitgeber die Vertragsstrafe knüpfen will, in der Klausel klar gekennzeichnet wird. Das folgt auch dem Bestimmtheitsgrundsatz i. S. d. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB. 691 Im entschiedenen Fall genügte die dortige Ziffer 14.5 des Arbeitsvertrags dem Bestimmtheitsgrundsatz nach den Feststellungen des BAG daher nur, wenn das die Vertragsstrafe auslösende Verhalten präzise beschrieben ist. Die Formulierung „Beenden Sie den Vertrag …“ war daher nach der Bewertung des BAG nur wirksam, wenn sie auf die rechtliche Vertragsbeendigung beschränkt ist. Eine Erweiterung auf eine der fristgemäßen Kündigung des Arbeitnehmers folgende bloße Arbeitsverweigerung oder auch Lossagung vom Vertrag scheide damit im vorliegenden Fall aus, da diese Vorgänge das Arbeitsverhältnis nicht rechtlich beenden. 692 Rechtlich beendet wurde das Arbeitsverhältnis im entschiedenen Fall erst durch die fristlose Kündigung des Klägers. Der Bestimmtheitsgrundsatz stehe aber – so das BAG – auch einer Erweiterung auf den Fall der fristlosen Kündigung aufgrund unberechtigter und beharrlicher Arbeitsverweigerung entgegen. Dem Kläger stehe daher ggf. nur ein Schadensersatzanspruch gemäß § 628 Abs. 2 BGB gegen den Beklagten zu. c) Bedeutung für die betriebliche Praxis 693 Dieses Ergebnis wird dogmatisch durch § 305c Abs. 2 BGB gestützt, nach dem bei der Auslegung bleibende Zweifel zu Lasten des Verwenders, also des Arbeitgebers, gehen, der vom BAG überraschenderweise in diesem Kontext aber nicht einmal herangezogen wird. Für die betriebliche Praxis bedeutet dies allerdings, dass Unternehmen darauf achten müssen, die Pflichtverletzung so genau wie möglich zu definieren. Soll die Vertragsstrafe daher nicht nur für die vorzeitige Eigenkündigung, sondern auch für die unberechtigte Arbeitsverweigerung oder die vom Arbeitnehmer schuldhaft veranlasste Kündigung des Arbeitgebers gelten, muss dies im Wortlaut der Klausel ausdrücklich und eindeutig geregelt sein. Praxistipp: Wichtig für die Gestaltungspraxis ist darüber hinaus der ergänzende Hinweis des BAG, dass die Einhaltung „der“ (einzuhaltenden) Kündigungsfrist möglicherweise nur die konkrete vertragliche Kündigungsfrist erfasst. Sollen abweichende gesetzliche Kündigungsfristen erfasst werden, könne dies ggf. mit der Formulierung „der jeweiligen Kündigungsfrist“ klargestellt werden.

2. Aktuelle Entwicklungen zu vertraglichen Ausschlussfristen 694 Ausschlussklauseln dienen der raschen Klärung von Ansprüchen und der Bereinigung offener Streitpunkte, die nach der Rechtsprechung des BAG seit Langem „im Arbeitsleben anerkanntermaßen besonders geboten“ ist. 160

IV. Aktuelles zur Arbeitsvertragsgestaltung BAG, v. 13.12.2007 – 6 AZR 222/07, NZA 2008, 478.

Sie bezwecken, dass sich der Anspruchsgegner auf die aus Sicht des Anspruch- 695 stellers noch offenen Forderungen rechtzeitig einstellt, Beweise sichert oder vorsorglich Rücklagen bilden kann. BAG, v. 18.9.2012 – 9 AZR 1/11, NZA 2013, 216.

Häufig sind sie für Arbeitgeber der letzte „Rettungsanker“. Als Stichworte 696 seien nur „Urlaubsabgeltung“, „betriebliche Übung“ und „Überstundenvergütung“ genannt. Um diesen Zweck zu erfüllen, müssen sie natürlich wirksam sein. Sie scheitern 697 allerdings häufig an den Vorgaben der §§ 307 ff. BGB. a) Ausgrenzung von Tatbeständen nach § 309 Nr. 7, 11 BGB Der 8. Senat des BAG hatte im vergangenen Jahr versucht,

698

BAG, Urt. v. 20.6.2013 – 8 AZR 280/12, ZIP 2013, 2327, dazu EWiR 2013, 741 (Fuhlrott),

durch eine großzügige Auslegung die Wirksamkeit zu fördern, indem es gesetzlich unverzichtbare Ansprüche – entgegen dem Wortlaut der Klausel – ausnahm. Dem ist nun allerdings das LAG Hamm in einem Beschluss vom 1.8.2014 – 14 Ta 344/14, n. v.

unter Berufung auf die Rechtsprechung des BGH entgegen getreten. Es hat sich – unter ausdrücklicher Ablehnung der Rechtsprechung des BAG – für die Unwirksamkeit von umfänglichen Ausschlussklauseln ausgesprochen, die in sehr vielen Arbeitsverträgen vereinbart sind. Die Rechtsbeschwerde zum BAG hat das LAG Hamm nicht zugelassen. aa) Sachverhalt des LAG Hamm In dem zugrunde liegenden Fall ging es um eine arbeitsvertragliche Klausel, 699 nach der alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, erlöschen, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten nach der Entgeltabrechnung, bei der sie hätten abgerechnet werden müssen, gegenüber der anderen Partei schriftlich erhoben werden. bb) Rechtsprechung des BAG und des LAG Hamm Der 8. Senat des BAG ist zuletzt im Urteil vom 20.6.2013

700

– 8 AZR 280/12, ZIP 2013, 2327

davon ausgegangen, dass derartige Ausschlussklauseln dahingehend auszulegen seien, dass sie keine Fälle anders als das Gesetz oder unter Verstoß gegen eine

161

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

gesetzliche Verbotsnorm i. S. d. § 134 BGB regeln wolle. Demgegenüber hält das LAG Hamm eine derartige Auslegung nicht für vertretbar: x

Dem Wortlaut nach erfasse eine derartig umfassend formulierte Klausel alle aus dem Arbeitsverhältnis ableitbaren Ansprüche und damit auch Ansprüche, die auf einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Schädigung einer der Vertragsparteien durch die andere beruhen (§ 309 Nr. 7 BGB).

x

Eine gesetzeskonforme einschränkende Auslegung mit der Begründung, dass sich die Parteien gesetzeskonform verhalten wollten, sei verfehlt und würde dem Verwender Allgemeiner Geschäftsbedingungen entgegen § 306 BGB jedes Verwendungsrisiko einer zweifelhaft formulierten Klausel nehmen, mit der er einseitig versucht, am Rande des Gesetzes seine Interessen durchzusetzen.

701 Daher hält das LAG Hamm – in Fortführung seiner Rechtsprechung – vgl. LAG Hamm v. 25.9.2012 – 14 Sa 280/12, n. v.; LAG Hamm v. 11.10.2011 – 14 Sa 543/11, SpuRt 2012, 163

derartige Ausschlussklauseln für insgesamt unwirksam. Die Unwirksamkeit ergebe sich aus Verstößen gegen §§ 202 Abs. 1, 134 BGB und §§ 307 Abs. 1 Satz 1, 202 Abs. 1 BGB, weil die umfassende Ausschlussklausel auch Ansprüche aus der Haftung wegen Vorsatzes umfasse, sowie dem Verstoß gegen § 309 Nr. 7 BGB. Da § 306 BGB in Fällen derartiger Verstöße eine Teilnichtigkeit ausschließe und im Rahmen der AGB-Kontrolle nach §§ 306 ff. BGB das Verbot gelte, die Klausel in dem gerade noch zulässigen Umfang aufrecht zu erhalten (sog. Verbot der geltungserhaltenden Reduktion), sei die Klausel somit insgesamt unwirksam. cc) Verstoß gegen das Transparenzgebot 702 Selbst bei einer Auslegung im Sinne des 8. Senats des BAG geht das LAG Hamm von einem Verstoß gegen das Transparenzgebot (§ 307 BGB) aus, der zur Unwirksamkeit der Klausel führe. Denn sie sei auch im Hinblick auf die Ausdehnung des Haftungsausschlusses auf gesetzliche Vertreter und Erfüllungsgehilfen des Arbeitgebers, die § 309 Nr. 7 BGB eigentlich einschränkt, für den nicht rechtskundigen Arbeitnehmer nicht transparent. LAG Hamm, v. 1.8.2014 – 14 Ta 344/14, n. v.

b) (Weitere) Vorgaben für die Transparenz von Ausschlussfristen 703 Dass im Zweifel nicht mit einer großzügigen Auslegung von Ausschlussfristen jedenfalls durch alle Senate des BAG zu rechnen ist, hat darüber hinaus der 5. Senat des BAG in seinem Urteil vom 19.2.2014 – 5 AZR 700/12, DB 2014, 1262

162

IV. Aktuelles zur Arbeitsvertragsgestaltung

deutlich gemacht, in dem der Senat strenge Anforderungen an die Transparenz von Ausschlussfristen gestellt hat. aa) Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall war der Kläger vom 2.8.2010 bis 30.11.2010 bei der 704 Beklagten, die gewerblich die Überlassung von Arbeitnehmern betreibt, beschäftigt. Die Beklagte überließ ihn ausschließlich der E-GmbH, von der er am 1.12.2010 in ein Arbeitsverhältnis übernommen wurde. Auf das Arbeitsverhältnis des Klägers mit der Beklagten fanden die zwischen dem Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister e. V. (AMP) einerseits und der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP), der Christlichen Gewerkschaft Metall (CGM), der DHV – Die Berufsgewerkschaft e. V. (DHV), dem Beschäftigtenverband Industrie, Gewerbe, Dienstleistung (BIGD), dem Arbeitnehmerverband land- und ernährungswirtschaftlicher Berufe (ALEB) sowie medsonet andererseits abgeschlossenen Tarifverträge Anwendung. In § 9 enthielt sein Arbeitsvertrag die folgende Regelung zur Geltendmachung und zum Ausschluss von Ansprüchen: „1. Alle beiderseitigen Ansprüche aus oder im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis oder seiner Beendigung verfallen, wenn sie nicht innerhalb von 3 Monaten nach Fälligkeit gegenüber der jeweils anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht werden. 2. Der Fristablauf beginnt, sobald der Anspruch entstanden ist und der Anspruchsberechtigte von den, den Anspruch begründenden Umständen Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen musste.“

Mit seiner am 23.9.2011 eingereichten Klage machte der Kläger unter Beru- 705 fung auf § 10 Abs. 4 AÜG die Differenz zwischen der von der Beklagten gezahlten Vergütung und dem Arbeitsentgelt geltend, das die E-GmbH als Entleiherin im streitgegenständlichen Zeitraum ihren mit dem Kläger vergleichbaren Stammarbeitnehmern gewährt hatte. Das LAG wies die Berufung des Klägers gegen das ebenfalls klageabweisende Urteil des ArbG unter Hinweis darauf zurück, dass die vertragliche Ausschlussfrist nicht gewahrt sei. bb) Wesentliche Überlegungen des BAG Das BAG hat das Urteil des LAG demgegenüber mit der Begründung aufge- 706 hoben und den Rechtsstreit zurückverwiesen, dass dem von dem Kläger nach § 10 Abs. 4 AÜG geltend gemachten Anspruch keine Ausschlussfrist entgegenstehe. Die Beklagte sei gemäß § 10 Abs. 4 AÜG verpflichtet, dem Kläger für den Zeitraum vom 1.8.2010 bis 30.11.2010 das gleiche Arbeitsentgelt zu zahlen, wie es die E-GmbH als Entleiherin ihren mit dem Kläger vergleichbaren Stammarbeitnehmern gewährt habe. Dem steht nach der Bewertung des BAG zunächst die im Arbeitsvertrag 707 vorgenommene Bezugnahme auf die vom AMP mit der CGZP und einer

163

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

Reihe von christlichen Arbeitnehmervereinigungen geschlossenen Tarifverträge nicht entgegen. Denn die entsprechende Bezugnahmeklausel sei mangels Kollisionsregel intransparent und nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB unwirksam, so dass gemäß § 10 Abs. 4 AÜG der Grundsatz des „equal pay“ Anwendung finde. 708 Der Anspruch des Klägers auf gleiches Arbeitsentgelt sei auch nicht nach § 9 des Arbeitsvertrags verfallen. Die dort geregelte Ausschlussfrist sei intransparent und damit gemäß § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB ebenfalls unwirksam. Die Intransparenz folge daraus, dass der Arbeitnehmer auch bei einer die Art und Weise der Geltendmachung eines entstandenen Entgeltanspruchs regelnden Klausel erkennen können müsse, was auf ihn zukommt. 709 Aus der Klausel müsse deshalb ersichtlich sein, welche Rechtsfolgen der Arbeitnehmer zu gewärtigen und was er zu tun habe, um deren Eintritt zu verhindern. Diesen Anforderungen genüge die Ausschlussfristenregelung in § 9 des Arbeitsvertrags nicht. Denn während § 9 Abs. 1 des Arbeitsvertrages hinsichtlich des Fristbeginns auf die Fälligkeit des Anspruchs abstelle, werde in § 9 Abs. 2 des Arbeitsvertrags auf das Entstehen des Anspruchs abgestellt. Bereits diese Anknüpfung an juristisch unterschiedliche Zeitpunkte erschwere dem Arbeitnehmer das Verständnis der ihm mit der als AGB ausgestalteten Klausel auferlegten Obliegenheit. Die „Fälligkeit“ eines Anspruchs nach § 271 BGB sei von dessen „Entstehung“ zu unterscheiden. Die Regelung enthalte damit Unklarheiten und Spielräume, die den Arbeitnehmer von der Durchsetzung erworbener Rechte abhalten könnten. Sie sei deshalb intransparent und unwirksam. Praxistipp: Für die Wirksamkeit der Klausel hätte es hier der Klarstellung bedurft, dass die Frist frühestens zu laufen beginnt, wenn die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 des Arbeitsvertrags erfüllt sind, keinesfalls jedoch vor dem Eintritt der Fälligkeit des jeweiligen Anspruchs.

c) Fazit 710 Die jüngeren Entscheidungen zu Ausschlussfristen machen deutlich, dass das Ziel der Rechtssicherheit insoweit noch in weiter Ferne liegt. Die Arbeitsvertragsgestaltung bleibt etwas für Spezialisten. Denn auch wenn ein Umschwung der Rechtsprechung des 8. Senats nicht zwingend zu erwarten ist, sollten Arbeitgeber bei der Gestaltung von Ausschlussklauseln in Arbeitsverträgen der Rechtsprechung des LAG Hamm Rechnung tragen und darin zum Ausdruck bringen, dass die Haftung für Vorsatz sowie für Schäden, die auf der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit oder auf grober Fahrlässigkeit beruhen, nicht von dem Ausschluss umfasst werden. Dies gilt umso mehr, als die Entscheidung des 5. Senats deutlich macht, dass innerhalb der Senate durchaus unterschiedliche Auslegungstendenzen bestehen.

164

IV. Aktuelles zur Arbeitsvertragsgestaltung Praxistipp: Genauso wie sich die Überlegungen des 8. Senats auf Ausschlussklauseln übertragen lassen, die ihrem Wortlaut nach Ansprüche umfassen, auf die der Arbeitnehmer nicht verzichten kann (vgl. §§ 77 Abs. 4 Satz 2 und 3 BetrVG, 4 Abs. 4 TVG), sodass nach dem 8. Senat von einer Wirksamkeit entsprechender Klauseln auszugehen sein dürfte, lassen sich allerdings auch die Überlegungen des LAG Hamm und des 5. Senats auf derartige Ausschlussfristen übertragen. Vorsorglich sollte zudem klargestellt werden, dass die Klausel den gesetzlichen Mindestlohn nicht umfasst (vgl. dazu Rn. 141). Denn bereits die Kosten und der Aufwand, der mit etwaigen Prozessen verbunden ist, lassen sich auf diese Weise leicht vermeiden.

3. Anforderungen an die Wirksamkeit einer Rückzahlungsklausel Die Rückzahlung von Ausbildungskosten ist zwar nur in den seltensten Fällen 711 ein entscheidender Sanierungsbeitrag. Da man die zu den Wirksamkeitsanforderungen einer derartigen Klausel von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, dazu bestätigend zuletzt BAG, v. 18.3.2014 – 9 AZR 545/12, NZA 2014, 957,

aber auch bei der Gestaltung sonstiger Rückzahlungsklauseln berücksichtigen müssen wird, sind sie über den bloßen Ausbildungskontext hinaus für die Vertragsgestaltung wichtig. a) Sachverhalt Das LAG Schleswig-Holstein hat sie in seinem Urteil vom 17.9.2014

712

– 6 Sa 106/14, BeckRS 2014, 73928

noch einmal zusammenfassend in einem Fall bestätigt, dem – in einem Praktikantenvertrag – Praxistipp: Das MiLoG enthält in § 22 Abs. 1 Satz 2 nun erstmals eine gesetzliche Definition des Praktikanten.

folgende Klausel zugrunde lag: „Der Betrieb trägt und entrichtet die Studiengebühr, die von der N. erhoben wird, in der jeweils aktuellen Höhe und übernimmt die Prüfungsgebühr für die Bachelorprüfung. […] Die von der Firma aufgewendeten Studiengebühren sind vorbehaltlich der unten genannten Ausschlusstatbestände zurückzuzahlen, wenn x

das Praktikumsverhältnis nach Ablauf der Probezeit aber vor Beendigung des Studiums auf Wunsch des/der Student/in bzw. aufgrund einer verhaltensbedingten oder fristlosen Kündigung der Firma endet,

x

das Studium aus von der Studentin/dem Studenten zu vertretenden Gründen (z. B. mangelnde Vorbereitung, Nachlässigkeit) abgebrochen bzw. aufgegeben wird,

165

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung x

die Studentin/der Student nach Studienabschluss ein ihr/ihm zumutbares, ihrer/seiner Ausbildung entsprechendes Angebot auf Abschluss eines Arbeitsverhältnisses ablehnt oder

x

ein sich an das Studium anschließendes Arbeitsverhältnis vor Ablauf von zwei Jahren auf Wunsch des/der Mitarbeiter/in oder aus Gründen endet, die den Arbeitgeber zu einer verhaltensbedingten oder fristlosen Kündigung berechtigen.

Eine Rückzahlungspflicht besteht nicht, wenn x

das Praktikumsverhältnis während der Probezeit endet,

x

das Praktikumsverhältnis aus betriebs- oder personenbedingten Gründen beendet wird,

x

ein sich an das Studium anschließendes Arbeitsverhältnis vor Ablauf von zwei Jahren aus betriebs- oder personenbedingten Gründen endet oder

x

die Studentin/der Student berechtigt war, das Arbeitsverhältnis aus einem wichtigen Grund i. S. d. § 626 BGB zu beenden.

Ist die Rückzahlungspflicht während eines an das Studium anschließenden Arbeitsverhältnisses eingetreten, ermäßigt sich der Rückzahlungsbetrag um 1/24 für jeden vollen Monat des bestehenden Arbeitsverhältnisses. Der ggf. maximal zur Rückzahlung fällige Gesamtbetrag beträgt in Abhängigkeit vom Studiengang etwa 16.000,00 €. Der Rückzahlungsbetrag ist sofort zur Zahlung fällig. Eine ratenweise Rückzahlung kann auf Antrag vereinbart werden“.

b) Kriterien der Rechtsprechung 713 Ausgangspunkt der Prüfung sind in aller Regel die §§ 305 ff. BGB, da Arbeitsverträge, Praktikantenverträge etc. auf Arbeitnehmer-, Praktikantenseite etc. in der Funktion als Verbraucher (§ 13 BGB) abgeschlossen werden, sodass die §§ 305 ff. BGB gemäß § 310 Abs. 3 BGB zur Anwendung kommen. Hiervon ausgehend hat das BAG für die Zulässigkeit von Rückzahlungsklauseln die folgenden Grundsätze entwickelt: Vgl. zuletzt BAG, v. 18.3.2014 – 9 AZR 545/12, NZA 2014, 957.

714 Nicht zulässig ist zunächst einmal, die Rückzahlungspflicht schlechthin an das Ausscheiden aufgrund einer Eigenkündigung des Arbeitnehmers innerhalb der vereinbarten Bindungsfrist zu knüpfen. Vielmehr muss – wie das BAG u. a. in seinem Urteil vom 28.5.2013 – 3 AZR 103/12, DB 2013, 2152; vgl. auch BAG, v. 13.12.2011 – 3 AZR 791/09, DB 2012, 1155; BAG, v. 11.4.2006 – 9 AZR 610/05, BAGE 118, 36

noch einmal bestätigt hat – nach dem Grund des vorzeitigen Ausscheidens differenziert werden: 715 Eine Rückzahlungsklausel stelle nur dann eine ausgewogene Gesamtregelung dar, wenn es der Arbeitnehmer selbst in der Hand habe, durch eigene Betriebstreue der Rückzahlungsverpflichtung zu entgehen. Verluste aufgrund 166

IV. Aktuelles zur Arbeitsvertragsgestaltung

von Investitionen, die nachträglich wertlos werden, habe grundsätzlich der Arbeitgeber zu tragen. Denn hätte der Arbeitnehmer die in seine Aus- und Weiterbildung investierten Betriebsausgaben auch dann zu erstatten, wenn die Gründe für die vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausschließlich dem Verantwortungs- und Risikobereich des Arbeitgebers zuzurechnen sind, würde er mit den Kosten einer fehlgeschlagenen Investition des Arbeitgebers belastet. Sehe eine Vertragsklausel auch für einen solchen Fall eine Rückzahlungspflicht vor, berücksichtige sie entgegen § 307 Abs. 1 BGB nicht die wechselseitigen Interessen beider Vertragspartner, sondern nur diejenigen des Arbeitgebers. Dadurch werde der Arbeitnehmer unangemessen benachteiligt. BAG, v. 13.12.2011 – 3 AZR 791/09, DB 2012, 1155; BAG, v. 24.6.2004 – 6 AZR 383/03, BAGE 111, 157.

So lag es nach den zutreffenden Feststellungen des LAG Schleswig-Holstein 716 aber auch in dem entschiedenen Fall. Denn von der Rückzahlungspflicht nicht ausgenommenen waren dem Wortlaut der – im Übrigen differenziert gehaltenen – Klausel Fälle, in denen der Arbeitgeber sich vertragswidrig verhält, jedoch noch keinen wichtigen Grund i. S. v. § 626 BGB verwirklicht. Auch in solchen Fallgestaltungen sind die Gründe für die vorzeitige Beendi- 717 gung des Arbeitsverhältnisses ausschließlich dem Verantwortungs- und Risikobereich des Arbeitgebers zuzurechnen. Jedenfalls in den Fällen, in denen ein verständiger Arbeitnehmer aufgrund des Verhaltens des Arbeitgebers zu einer Kündigung geschritten wäre, überwiegt nach Auffassung des LAG Schleswig-Holstein das billigenswerte Interesse des Arbeitnehmers daran, seinen Arbeitsplatz ohne Belastung mit der Erstattungspflicht wählen zu können, vgl. auch BAG, v. 5.6.2007 – 9 AZR 604/06, NZA-RR 2008, 107,

das Interesse des Arbeitgebers, die vom Arbeitnehmer auf seine Kosten erworbene Qualifikation möglichst langfristig zu nutzen. Unter Berücksichtigung der widerstreitenden Interessen dürfte es den Ar- 718 beitnehmer dagegen – so das LAG Schleswig-Holstein weiter – nicht unangemessen benachteiligen, wenn ihn die gestellte Klausel zur Ausbildungskostenerstattung für solche Fälle der Eigenkündigung verpflichtet, in denen ein verständiger Arbeitnehmer den aus der Sphäre des Arbeitgebers stammenden Grund nicht zum Anlass für eine Kündigung genommen hätte. LAG Schleswig-Holstein, v. 17.9.2014 – 6 Sa 106/14, BeckRS 2014, 73928.

Der Umstand, dass der Arbeitnehmer für eine ordentliche Kündigung des 719 Arbeitsverhältnisses keinen Grund braucht, führt nach der Bewertung des LAG Schleswig-Holstein zu keiner anderen Beurteilung. Denn überprüft wird im Rahmen der Interessenbewertung nicht, ob der Arbeitnehmer kündigen durfte, sondern ob einem verständigen Arbeitnehmer in Ansehung des

167

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

vertragswidrigen Verhaltens seines Arbeitgebers zuzumuten war, an dem Arbeitsverhältnis festzuhalten. LAG Schleswig-Holstein, v. 17.9.2014 – 6 Sa 106/14, BeckRS 2014, 73928.

720 Diesen Grundsätzen wurde die oben wiedergegebene Klausel nicht gerecht. Sie war nach den – insoweit ebenfalls nicht überraschenden – Feststellungen des LAG Schleswig-Holstein auch nicht mit dem Inhalt aufrechtzuerhalten, dass der Arbeitnehmer nur zur Rückzahlung verpflichtet ist, wenn er eine Eigenkündigung ausspricht aus Gründen, die seinem Verantwortungsbereich zuzurechnen sind oder – falls sie aus der Sphäre des Arbeitgebers stammen – die einen verständigen Arbeitnehmer nicht zur Kündigung bestimmt hätten. Insoweit hält das LAG Schleswig-Holstein eine solche geltungserhaltende Reduktion im Rahmen des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht für möglich. Vgl. zu dieser Frage auch BAG, v. 13.12.2011 – 3 AZR 791/09, DB 2012, 1155 und oben Rn. 701.

721 Auch eine ergänzende Vertragsauslegung kam nach der Bewertung des LAG Schleswig-Holstein nicht in Betracht. Denn die Klägerin habe kein schützenswertes Interesse an der Aufrechterhaltung der Rückzahlungsklausel mit gerade noch zulässigem Inhalt. Zu den Anforderungen daran, wann eine derartige Vertragsergänzung von AGB zulässig ist, vgl. Gaul/Mückl, NZA 2009, 1233.

c) Bedeutung für die Praxis 722 Die Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein macht ebenso wie das Urteil des BAG vom 18.3.2014 – 9 AZR 545/12, NZA 2014, 957

noch einmal deutlich, dass bei der Gestaltung von Rückzahlungsklauseln nicht nur auf die – in der oben wiedergegebenen Klausel sicher gestellte – Transparenz i. S. d. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB geachtet werden muss. Inhaltlich muss vielmehr eine klare Abgrenzung von „Verantwortungsbereichen“ für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und damit für die Verfehlung des vom Arbeitgeber intendierten Investionszwecks erfolgen. Vgl. zu Wirksamkeitsvorgaben für Rückzahlungsklauseln bei krankheitsbedingter Kündigung Mückl/Herrnstadt, in: Fuhlrott/ Mückl, Kap. 5 Rn. 119 ff.

723 Eine Verantwortungszuweisung an den Arbeitgeber erst unter Umständen, die den Arbeitnehmer zur außerordentlichen Kündigung berechtigen, ist nach den Feststellungen des LAG Schleswig-Holstein unzulässig. Dies erscheint noch nachvollziehbar. Dabei scheint die Rechtsprechung aber nicht stehen zu bleiben. Denn wenn das BAG in seinem Urteil vom 18.3.2014 dem Arbeitgeber selbst dann kein Bindungsrecht zugesteht, wenn dieser eine aus168

IV. Aktuelles zur Arbeitsvertragsgestaltung

drücklich arbeitnehmerseitig gewünschte und ausgewählte Qualifikation bezahlt, ist das zumindest fragwürdig. Denn wenn ein Arbeitgeber seinem Mitarbeiter eine einseitig vom Mitarbeiter gewünschte und ausgewählte Fortbildung ermöglicht, erscheint es nicht unangemessen, zu verlangen, dass sich der Mitarbeiter entsprechend bindet. Zutreffend Fuhlrott, GWR 2014, 334.

Die Praxis wird dennoch die Rechtsprechung des BAG berücksichtigen und 724 – im Zweifel ausnahmslos – die vorstehend wiedergegebene Differenzierung vorsehen müssen. 4. Beendigung von Gesamtzusagen für Neueintritte Nach der Rechtsprechung des BAG ist eine Gesamtzusage die an alle Ar- 725 beitnehmer des Betriebs oder einen nach abstrakten Merkmalen bestimmten Teil von ihnen in allgemeiner Form gerichtete ausdrückliche Erklärung des Arbeitgebers, bestimmte Leistungen erbringen zu wollen. BAG, v. 20.8.2014 – 10 AZR 453/13, ZIP 2015, 49 = NZA 2014, 1333, dazu EWiR 2015, 159 (Grau/Schaut). Praxistipp: Sie ist in der Praxis – insbesondere im Rahmen einer Due Diligence – nicht zuletzt deshalb schwierig zu identifizieren, weil eine ausdrückliche Annahme des in der Erklärung enthaltenen Antrags i. S. v. § 145 BGB von der Rechtsprechung nicht erwartet wird. Ihrer bedarf es nicht, sodass die Dokumentation zu Gesamtzusagen im Rahmen von Due Diligence-Prozessen zumeist begrenzt ist.

Das in der Zusage liegende Angebot wird gemäß § 151 BGB angenommen 726 und ergänzender Inhalt des Arbeitsvertrags. Gesamtzusagen werden bereits dann wirksam, wenn sie gegenüber den Arbeitnehmern in einer Form verlautbart werden, die den einzelnen Arbeitnehmer typischerweise in die Lage versetzt, von der Erklärung Kenntnis zu nehmen. Auf dessen konkrete Kenntnis kommt es nicht an. Die Arbeitnehmer erwerben einen einzelvertraglichen Anspruch auf die zugesagten Leistungen, wenn sie die betreffenden Anspruchsvoraussetzungen erfüllen. Vgl. bereits BAG, v. 13.11.2013 – 10 AZR 848/12, ZIP 2014, 487, dazu EWiR 2014, 191 (Rolfs).

Zu den Möglichkeiten des Arbeitgebers, sich von entsprechenden Gesamtzu- 727 sagen zu lösen, hat das BAG in seinem Urteil vom 20.8.2014 – 10 AZR 453/13, NZA 2014, 1333

noch einmal Stellung genommen. a) Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall besaß die Klägerin seit dem 1.7.1990 ein Arbeitsver- 728 hältnis zunächst zur m-GmbH, das infolge mehrerer Betriebsübergänge, zu169

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

letzt zum 1.11.2009 auf die beklagte H-P-GmbH überging. Bei der Beklagten besteht eine sog. Krankheitspolicy. Danach gewährt die Beklagte im Fall länger andauernder Arbeitsunfähigkeit einen Zuschuss zum Krankengeld. Die seit 1.5.1984 geltende Fassung der Krankheitspolicy enthält unter der Überschrift „Scope“ folgende Bestimmung: „Mitarbeiter auf der deutschen Payroll mit HP Standard Terms & Conditions“.

729 Die Klägerin machte die Zahlung eines Krankengeldzuschusses für eine mehrmonatige Arbeitsunfähigkeit in den Jahren 2011/2012 geltend. Sie begründete den Anspruch damit, die unter der Überschrift „Scope“ enthaltene Einschränkung des Geltungsbereichs sei in der ursprünglichen Krankheitspolicy vom 15.9.1975 nicht enthalten gewesen. Eine solche Einschränkung würde im Übrigen einer AGB-Kontrolle nicht Stand halten. Das ArbG gab der Klage statt, das LAG wies sie ab. Die Revision vor dem BAG blieb – zu Recht – vor folgendem Hintergrund erfolglos. b) Lösungsmöglichkeiten gegenüber Bestandsmitarbeiter 730 Von der seitens der Arbeitnehmer angenommenen, vorbehaltlosen Zusage kann sich der Arbeitgeber nach den vom 10. Senat in seinem Urteil vom 20.8.2014 – 10 AZR 453/13, NZA 2014, 1333

bestätigten, in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen individualrechtlich nur durch Änderungsvertrag oder wirksame Änderungskündigung lösen. Vgl. bereits BAG, v. 11.12.2007 – 1 AZR 869/06, n. v.

731 Kollektivrechtlich ist – gemeinsam mit dem Betriebsrat – allerdings auf der Grundlage der vom 1. Senat des BAG in seinem Urteil vom 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, ZIP 2013, 1542

entwickelten Grundsätzen dazu Mückl, 1. Aufl., Rn. 250 ff.; zur seitherigen Entwicklung vgl. Rn. 639,

ebenfalls ein verschlechternder Eingriff durch Betriebsvereinbarung möglich, ohne dass dem das Günstigkeitsprinzip entgegensteht. Denn bei einer Gesamtzusage handelt es sich um ein an eine Vielzahl von Arbeitnehmern gerichtetes Vertragsangebot i. S. d. § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB und damit um Allgemeine Geschäftsbedingungen i. S. d. §§ 305 ff. BGB. BAG, v. 13.11.2013 – 10 AZR 848/12, ZIP 2014, 487.

c) Lösungsmöglichkeiten gegenüber Neueintritten 732 Die Notwendigkeit, sich von einer Gesamtzusage zu lösen, kann insbesondere auch gegenüber Neueintritten bestehen. Denn eine Gesamtzusage ist typischerweise nicht auf die im Zeitpunkt ihrer erstmaligen Erklärung beschäf170

IV. Aktuelles zur Arbeitsvertragsgestaltung

tigten Arbeitnehmer beschränkt. Sie wird regelmäßig auch gegenüber nachträglich in den Betrieb eintretenden Mitarbeitern abgegeben und diesen bekannt. Auch sie können deshalb das in ihr liegende Vertragsangebot nach § 151 BGB annehmen. BAG, v. 20.8.2014 – 10 AZR 453/13, ZIP 2015, 49 = NZA 2014, 1333.

Gemäß § 151 Satz 2 BGB bestimmt sich der Zeitpunkt, in welchem der An- 733 trag erlischt, nach dem aus dem Antrag oder den Umständen zu entnehmenden Willen des Antragenden. Geht es nicht um eine einmalige Leistung an bestimmte Arbeitnehmer, sondern erklärt sich der Arbeitgeber – wie im entschiedenen Fall – zu einer Regelung im Sinne einer auf Dauer angelegten Handhabung bei Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen bereit, spricht das für die Fortgeltung des Antrags bis zu einer gegenteiligen Erklärung. Dass eine derartige gegenteilige Erklärung die Gesamtzusage für Neueintritte 734 beenden kann, ohne dass es hierzu eines Grundes bedarf, hat das BAG in seinem Urteil vom 20.8.2014 – 10 AZR 453/13, NZA 2014, 1333

noch einmal bestätigt. Hintergrund für diese Gestaltungsmöglichkeit ist, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers gegenüber jedem Arbeitnehmer besteht, der die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, sodass auf die Erteilung der Gesamtzusage und nicht auf den Beginn des einzelnen Arbeitsverhältnisses abzustellen ist. Die Zusage hat damit – wie das BAG noch einmal klarstellt – für alle Arbeitnehmer den gleichen Inhalt und die gleiche Bedeutung, „sofern es nicht zwischenzeitlich zu einer Veränderung des Inhalts der Zusage durch den Arbeitgeber gekommen oder diese für die Zukunft aufgehoben worden ist“. Vgl. dazu bereits BAG, v. 23.9.2009 – 5 AZR 628/08, AP Nr. 36 zu § 157 BGB. Praxistipp: Eine derartige Inhaltsänderung im Sinne einer Beendigung für Neueintritte ist allerdings, wenn ein Betriebsrat besteht, mit dem die Gesamtzusage auf der Grundlage einer Regelungsabrede abgestimmt ist, nach den vom BAG zu § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG entwickelten Grundsätzen (BAG, v. 9.7.2013 – 1 AZR 275/12, NZA 2013, 1438) kollektivrechtlich nur dann wirksam, wenn der Arbeitgeber zugleich erklärt, eine entsprechende Leistung für Neueintritte auch in der Zukunft nicht mehr erbringen zu wollen. Denn durch die Beendigung der Gesamtzusage für Neueinstellungen verändert der Arbeitgeber das Vergütungssystem im Betrieb, was ohne Beteiligung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG nur dann möglich ist, wenn zusätzlich zur Beendigung eine entsprechende Erklärung erfolgt. Andernfalls ist die Beendigung kollektivrechtlich unwirksam, weil die entsprechende Regelungsabrede nach der Rechtsprechung des 1. Senats des BAG (Urt. v. 23.6.1992 – 1 ABR 53/91, NZA 1992, 109) – entgegen der Rechtsprechung des Großen Senats des BAG (BAG GS v. 3.12.1991 – GS 1/90, DB 1991, 2593) – analog § 77 Abs. 6 BetrVG nachwirkt.

171

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

735 Ist eine solche Änderung erfolgt, wird die Gesamtzusage für neu eintretende Mitarbeiter mit dem Inhalt Vertragsbestandteil, der zum Zeitpunkt ihres Eintritts bekannt gemacht ist. d) Anforderungen an die Beschränkung 736 Nach Ansicht des BAG kam es daher für die Ansprüche der Klägerin darauf an, welchen Inhalt die Gesamtzusage im Zeitpunkt des Eintritts per Betriebsübergang zum 1.11.2009 hatte. Zu diesem Zeitpunkt war die Zusage aber dahingehend beschränkt, dass nur noch Mitarbeiter mit HP-Standardarbeitsvertrag von ihr erfasst sein sollten. 737 Das BAG hält auch diese Beschränkung für wirksam. Bestimmungen zum Geltungsbereich („Scope“) könnten nicht als überraschende Klausel i. S. d. § 305c Abs. 1 BGB angesehen werden. Die Verwendung englischer Begriffe („Scope“) oder einer deutsch-englischen Kunstsprache („Krankheitspolicy“) stünden jedenfalls unter Berücksichtigung der beteiligten Verkehrskreise in einem internationalen IT-Unternehmen der Transparenz der Regelung nicht entgegen. Ein von einem anderen Unternehmen gestalteter Arbeitsvertrag, der gemäß § 613a BGB weiter gilt, könne nicht als „HP Standard Terms & Conditions“ im Sinne der Krankheitspolicy angesehen werden. e) Bedeutung für die Umstrukturierungs- und Sanierungspraxis 738 Das Urteil des BAG überzeugt im Ergebnis und in der Begründung. Zunächst einmal ist die Verwendung der englischen Sprach bzw. die Verwendung von Mischungsbegriffen aus deutsch/englisch in international tätigen Unternehmen üblich. Es ist nicht intransparent, wenn sich der Arbeitgeber für arbeitsvertragliche Regelungen einer üblichen Sprache im Unternehmen bedient. Zu den kündigungsrechtlichen Risiken dieses Sprachgebrauchs vgl. Mückl/Marxen, ArbRAktuell 2012, 465; zur Zulässigkeit der Wahl von Deutsch als Vertragssprache bei fremdsprachigem, kaum deutschkundigem Mitarbeiter, vgl. BAG, v. 19.3.2014 – 5 AZR 252/12 (B), DB 2014, 1623, dazu Mückl/Einfeldt, GWR 2014, 333; allgemein zur Fremdsprachenverwendung als Risiko im Arbeitsverhältnis Mückl/Butz, ArbAktuell 2013, 34 ff.

739 Wichtig sind die Feststellungen des BAG allerdings vor allem deshalb, weil sie den Gestaltungsspielraum bei einem Betriebsübergang bestätigen und kennzeichnen: Denn das BAG beanstandet weder, dass Leistungen von dem auf den Arbeitnehmer anwendbaren Vertragsstandard abhängig gemacht werden, noch dass im Wege des Betriebsübergangs hinzukommende Arbeitnehmer deshalb von allgemein gewährten Leistungen ausgeschlossen werden. Konsequenz dieser Bewertung für die Praxis ist zunächst einmal, dass der Arbeitgeber bei Betriebsübergängen weiter unterschiedliche Arbeitsbedingungen für Alt- und Neubelegschaft zur Anwendung bringen kann, wenn er

172

V. Pflicht zur Insolvenzsicherung

etwaige Gesamtzusagen auf vor dem Betriebsübergang im Unternehmen beschäftigte Arbeitnehmer bzw. auf die Arbeitnehmer beschränkt, die den aktuell im Unternehmen verwendeten Standardarbeitsvertrag akzeptieren. Ausgehend von der Zulässigkeit dieser Differenzierung bei einer einseitigen Gestaltung von Arbeitsbedingungen durch den Arbeitgeber wird man Gleiches erst recht für Betriebsvereinbarungen annehmen müssen, die Zuwendungen – mit Zustimmung des Betriebsrats – ebenfalls auf Arbeitnehmer mit einem Standardvertrag, d. h. die bzw. Teile der Stammbelegschaft, beschränken können. Praxistipp: Nutzbar gemacht werden kann diese Gestaltungsmöglichkeit vor allem zur Vereinheitlichung von Arbeitsbedingungen nach einem Betriebsübergang bzw. im Rahmen der sog. Post-Merger-Integration. Eine entsprechende Gestaltung muss hierzu allerdings vorausschauend geplant werden und kann dann eine in solchen Fällen oftmals angestrebte Harmonisierung von Arbeitsbedingungen im aufnehmenden Unternehmen deutlich erleichtern.

V. Pflicht zur Insolvenzsicherung 1. Arbeitszeitflexibilisierung und Insolvenzsicherungsbeiträge Nicht nur im Urlaubsrecht (vgl. § 13 Abs. 2 BurlG), sondern auch mit Blick 740 auf Arbeitszeitregelungen bieten die gesetzlichen Regelungen für bestimmte Gewerbe und Wirtschaftszweige (z. B. für das Baugewerbe, das Maler- und Lackiererhandwerk und das Gerüstbauerhandwerk) keinen ausreichenden Schutz. Kompensiert wird dies durch allgemeinverbindliche Tarifverträge (§ 5 TVG), die ein Sozialkassenverfahren vorsehen. Für das Gerüstbauerhandwerk ist ein Sozialkassenverfahren im Rahmentarifvertag für das Gerüstbauerhandwerk vom 27.7.1993 i. d. F vom 11.6.2002 (RTV) und im Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Gerüstbauerhandwerk vom 20.1.1994 i. d. F. vom 11.6.2002 (VTV) vorgesehen. Ins seinem Urteil vom 19.3.2014

741

– 10 AZR 750/13, DB 2014, 1439 (LS)

hat das BAG zu der in dem RTV und VTV vorgesehenen Verpflichtung, bei bestimmten Formen der Arbeitszeitflexibilisierung eine Insolvenzsicherung von Arbeitszeitguthaben durchzuführen, zutreffende Klarstellungen vorgenommen. a) Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall stritten die Parteien über die Zahlung eines Beitrags 742 zur Absicherung des Insolvenzrisikos von Zeitguthaben. Die Beklagte führt einen Betrieb des Gerüstbauerhandwerks. Der Kläger ist als gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien des Gerüstbaugewerbes Einzugsstelle für die Zahlung von Sozialkassen- und Insolvenzsicherungsbeiträgen nach Maß173

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

gabe des RTV und des VTV. Zur Flexibilisierung der Arbeitszeit und zu der in diesem Fall erforderlichen Insolvenzsicherung von Zeitguthaben treffen der RTV und der VTV – abweichend von den Vorgaben des § 7e SGB IV zur Insolvenzsicherung bei Wertguthabenvereinbarungen gemäß § 7b SGB IV – vgl. dazu im Überblick z. B. Hahn/Hahn, Rn. 320 ff.

folgende Vorgaben: „[…] 4. Flexibilisierung der Arbeitszeit 4.1 Zweimonatiger Ausgleichszeitraum Durch Betriebsvereinbarung kann innerhalb von zwei zusammenhängenden Lohnabrechnungszeiträumen (2-monatiger Ausgleichszeitraum) an einzelnen Werktagen regelmäßig ausfallende Arbeitszeit durch Verlängerung der Arbeitszeit an anderen Werktagen des Ausgleichszeitraums ohne Mehrarbeitszuschlag ausgeglichen werden. Die Summe der regelmäßigen werktäglichen Arbeitszeiten in den einzelnen Wochen des Ausgleichszeitraums darf 32 Stunden nicht unterschreiten. […] 4.3 Zwölfmonatiger Ausgleichszeitraum 4.3.1 Durchführung Durch Betriebsvereinbarung oder, wenn kein Betriebsrat besteht, durch einzelvertragliche Vereinbarung kann in einem Zeitraum von 12 Monaten (Ausgleichszeitraum) eine von der tariflichen Arbeitszeitverteilung abweichende Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Werktage ohne Mehrarbeitszuschlag vereinbart werden, wenn gleichzeitig ein Monatslohn nach Ziff. 4.3.2 gezahlt wird. Der Beginn des Ausgleichszeitraums muss in der Zeit vom 1.4. bis 30.9. liegen. Aus dieser Betriebsvereinbarung bzw. der einzelvertraglichen Vereinbarung muss sich ergeben, in welchem Umfang, in welcher Form und mit welcher Ankündigungsfrist die jeweilige werktägliche Arbeitszeit festgelegt wird. In die Arbeitszeitverteilung darf der Samstag nicht regelmäßig mit einbezogen werden. Der Arbeitgeber kann innerhalb des Ausgleichszeitraums bis zu 150 Arbeitsstunden vor- und 30 Arbeitsstunden nacharbeiten lassen. Die Anzahl, Lage und die Verteilung dieser Arbeitsstunden im Ausgleichszeitraum ist im Einvernehmen mit dem Betriebsrat oder, wenn kein Betriebsrat besteht, im Einvernehmen mit dem Arbeitnehmer festzulegen. […] 4.3.5 Absicherung des Ausgleichskontos Durch den Arbeitgeber ist in geeigneter Weise auf seine Kosten sicherzustellen, dass das Zeitguthaben jederzeit bestimmungsgemäß ausgezahlt werden kann. Wird ein Antrag auf Insolvenz gestellt oder liegt ein sonstiges Ereignis i. S. d. Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren vor, wandelt sich das Zeitguthaben des Arbeitnehmers in einen Entgeltanspruch um. Weitere Einzelheiten dazu regelt § 9 des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Gerüstbauerhandwerk in der jeweils geltenden Fassung. […]“.

174

V. Pflicht zur Insolvenzsicherung

§ 9 VTV regelt die Insolvenzsicherung von Zeitguthaben wie folgt:

743

„(1) Ist der Arbeitgeber bei Anspruchsfälligkeit insolvent, so erhält der Arbeitnehmer das Recht, die Ansprüche gemäß § 3 Ziff. 4.3.5 des Rahmentarifvertrags für das Gerüstbauerhandwerk vom 20.1.1994 in der jeweils geltenden Fassung unmittelbar gegenüber der Kasse geltend zu machen. Bei der Leistung der Kasse werden Zahlungen gemäß §§ 183 ff. SGB III (Insolvenzgeld) angerechnet, soweit diese auf Grund eines Anspruchs aus § 3 Ziff. 4.3.5 erfolgen. Insolvenz des Arbeitgebers ist mit Antragstellung auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegeben. Diesem Tatbestand gleichgestellt wird die tatsächliche Einstellung der betrieblichen Tätigkeit wegen Zahlungsunfähigkeit. […] Der Erstattungsanspruch gegen die Kasse ist auf maximal 150 Plus- und 30 Minusstunden begrenzt. […] (3) Zur Absicherung des Insolvenzrisikos hat der Arbeitgeber den Durchführungsbeginn der Arbeitszeitflexibilisierung und die Anzahl der betroffenen Arbeitnehmer der Kasse zu melden und bis zum 15. des Folgemonats, der auf den Beginn des Ausgleichszeitraums folgt, einen Betrag von 50,00 Euro pro Arbeitnehmer an die Kasse zu entrichten.“

Die Beklagte vereinbarte im Klagezeitraum 2008 bis 2010 mit ihren Arbeit- 744 nehmern eine Flexibilisierung der Arbeitszeit. Danach war das Volumen der Vorarbeit – im Rahmen der Vorgaben des RTV – auf 117 Gutstunden beschränkt, deren Auszahlung konnte – abweichend von den Vorgaben des RTV – jederzeit verlangt werden. Das Zeitkonto wurde laufend fortgeschrieben, eine Abrechnung am Ende eines Ausgleichszeitraums fand nicht statt. Die Beklagte zahlte ganzjährig eine Vergütung auf Basis von 169 Stunden monatlich. Der Kläger hat die Auffassung vertreten, Arbeitszeit dürfe nur im Rahmen 745 der tariflichen Vorgaben flexibilisiert werden; die Beklagte sei daher zur Zahlung der Insolvenzsicherungsbeiträge an den Kläger als zuständige Einzugsstelle für die Zahlung von Sozialkassen- und Insolvenzsicherungsbeiträgen nach Maßgabe des RTV und des VTV verpflichtet. Das BAG gab in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen dem Kläger Recht, 746 der vor folgendem Hintergrund gemäß § 9 Abs. 3 VTV einen Anspruch auf Zahlung der geltend gemachten Insolvenzsicherungsbeiträge hat: b) Wesentliche Überlegungen des BAG Zur Absicherung des Insolvenzrisikos hat der Arbeitgeber nach § 9 Abs. 3 747 VTV einen Betrag von EUR 50,00 pro Arbeitnehmer und Ausgleichszeitraum an die Kasse zu entrichten. In welchem Umfang eine Insolvenzsicherung durch Leistungen besteht, regelt § 9 Abs. 1 VTV. Danach hat der Arbeitnehmer das Recht, den aus umgewandeltem Zeitguthaben resultierenden Entgeltanspruch (§ 3 Ziff. 4.3.5 RTV) unmittelbar gegenüber der Kasse gel-

175

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

tend zu machen, wenn der Arbeitgeber bei Anspruchsfälligkeit insolvent ist. Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage, ob eine Beitragspflicht besteht, muss deshalb in Übereinstimmung mit den Feststellungen des BAG sein, ob ein Arbeitszeitguthaben i. S. d. § 3 Ziff. 4.3.5 RTV als gemäß § 9 Abs. 1 VTV insolvenzgesichertes Guthaben vorliegt. 748 Da § 3 Ziff. 4.3 RTV insoweit einen Rahmen vorgibt, wird man dementsprechend – in Übereinstimmung mit dem BAG – wie folgt differenzieren müssen: x

Insolvenzgesichert im Sinne der VTV sind Zeitguthaben, die in dem in § 3 Ziff. 4.3 RTV geregelten Modell der Arbeitszeitflexibilisierung mit einem 12-monatigen Ausgleichszeitraum entstehen können.

x

Nicht insolvenzgesichert im Sinne der VTV sind Zeitguthaben, die in dem anderen tariflich nach § 3 Ziff. 4.1 RTV zulässigen Modell mit einem 2-monatigen Ausgleichszeitraum entstehen.

Diese Differenzierung hat die wertende Entscheidung der Tarifvertragsparteien zum Hintergrund, bei einem auf zwei Monate begrenzten Ausfallrisiko auf eine Insolvenzsicherung zu verzichten. 749 Ausgehend von dieser Differenzierung lagen die Voraussetzungen einer Beitragspflicht nach § 9 Abs. 3 VTV im entschiedenen Fall vor. Denn nach den tariflichen Vorgaben wird die Beitragspflicht ausgelöst, sofern ein Arbeitnehmer bei Insolvenz seines Arbeitgebers nach § 9 Abs. 1 VTV i. V. m. § 3 Ziff. 4.3.5 RTV von dem Kläger die Auszahlung eines umgewandelten Zeitguthabens verlangen könnte. Dies war vorliegend der Fall: 750 Die Beklagte führte für ihre Arbeitnehmer ein Arbeitszeitkonto, in das geleistete Mehrarbeit einfließt. Das entsprechende Zeitguthaben wurde nicht nach § 3 Ziff. 4.1 RTV innerhalb von 2 Monaten und damit in der Zeitspanne ausgeglichen, für die eine Insolvenzsicherung tariflich nicht vorgesehen ist. Nach dem von der Beklagten angewendeten Modell konnte ein Zeitguthaben vielmehr sogar über den in § 3 Ziff. 4.3 RTV bestimmten Ausgleichszeitraum von 12 Monaten hinaus unausgeglichen bleiben. 751 Konsequenz dieser Regelung war, dass bei einer Insolvenz ein hohes – nämlich ein über zwei Monate deutlich hinausgehendes – Ausfallrisiko bestünde, welches aber nach § 9 Abs. 1 VTV durch den Anspruch gegen den Kläger abgesichert ist. Dieser – im Insolvenzfall bestehende – Anspruch löst die Beitragspflicht nach § 9 Abs. 3 VTV aus. Ausgehend von dem in der von den Tarifparteien vorgenommenen Differenzierung (Wertentscheidung) zum Ausdruck gekommenen Zweck der Insolvenzsicherung kommt kein anderes Ergebnis in Betracht. 752 Unerheblich war vor diesem Hintergrund – wie das BAG zu Recht klarstellt –, dass die Beklagte in Absprache mit ihren Arbeitnehmern ein von den tariflichen Vorgaben des § 3 Ziff. 4.3 RTV partiell abweichendes Modell der Arbeitszeitflexibilisierung anwandte. Denn nach § 4 Abs. 1 i. V. m. § 5 Abs. 4

176

V. Pflicht zur Insolvenzsicherung

TVG gelten der RTV und VTV unmittelbar und zwingend. In der Ausgestaltung der Flexibilisierungsregelung zur Arbeitszeit war die Beklagte daher an die Vorgaben des § 3 RTV gebunden. Sie durfte ihre Arbeitnehmer nur nach Maßgabe der tariflichen Wochenarbeitszeit beschäftigen oder die Arbeitszeit entsprechend den Modellen des § 3 Ziff. 4.1 oder Ziff. 4.3 RTV flexibel gestalten. Ein abweichendes Arbeitszeitmodell war nach § 4 Abs. 3 TVG nur zulässig, 753 soweit es durch Tarifvertrag gestattet ist oder zugunsten der Arbeitnehmer von den tariflichen Vorgaben abweicht. Eine tarifliche Öffnungsklausel existiert jedoch weder im RTV noch im VTV, sodass keine derartige Legitimation für Abweichungen in Betracht kam. Möglich waren daher lediglich Abweichungen zugunsten der Arbeitnehmer. Soweit die Arbeitnehmer jederzeit über ihr Zeitguthaben verfügen und Aus- 754 zahlung verlangen können, lag darin zwar eine nach § 4 Abs. 3 TVG zulässige Abweichung gegenüber dem tariflichen Arbeitszeitmodell. Diese Abweichung bewirkt jedoch nicht, dass etwaige Zeitguthaben nicht nach § 3 Ziff. 4.3.5 RTV i. V. m. § 9 VTV insolvenzgesichert sind und deshalb keine Insolvenzsicherungsbeiträge zu leisten sind. Denn in dem von der Beklagten eingeführten Arbeitszeitmodell war weder 755 ein Ausgleichszeitraum bestimmt noch überhaupt ein Ausgleich durch Freistunden vorgesehen. Insbesondere hing es bei drohender Insolvenz von der – zufällig – rechtzeitigen Geltendmachung ab, ob ein Zeitguthaben noch zur Auszahlung kommt. Ist die Auszahlung des Zeitguthabens noch erfolgt, droht zudem die Insolvenzanfechtung nach §§ 129 ff. InsO. Die Arbeitnehmer trugen daher weiter gehende Insolvenzrisiken, als gemäß § 3 Ziff. 4.1 RTV eine Flexibilisierung der Arbeitszeit ohne Insolvenzsicherung bewirken darf. Ausgehend von dem Telos der Regelung und den für die Auslegung von Tarifverträgen geltenden Grundsätzen, vgl. BAG, v. 15.2.2012 – 7 AZR 626/10, NZA-RR 2013, 154,

wonach Tarifverträge wie Gesetze auszulegen sind, kam daher eine Subsumtion unter § 3 Ziff. 4.1 RTV nicht in Betracht. Auch § 3 Ziff. 4.3 war seinem Wortlaut nach nicht erfüllt, sodass – auch wenn das BAG dies nicht explizit annimmt – eine Regelungslücke vorlag, die im Einklang mit dem Sinn und Zweck der durch die Tarifparteien vorgenommenen Differenzierung durch eine analoge Anwendung des § 3 Ziff. 4.3 zu schließen war. Auch die Arbeitnehmer der Beklagten hatten deshalb – wie das BAG zu 756 Recht annimmt – gegenüber dem Kläger den unabdingbaren Anspruch nach § 3 Ziff. 4.3.5 RTV (analog) i. V. m. § 9 Abs. 1 VTV; der Kläger wiederum konnte von der Beklagten zur Absicherung des Insolvenzrisikos nach § 9 Abs. 3 VTV den der Höhe nach unstreitigen Sicherungsbeitrag verlangen.

177

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

c) Bedeutung für die betriebliche Praxis 757 Die im Ergebnis überzeugend – wenn auch dogmatisch nicht ganz sauber – begründete Entscheidung unterstreicht noch einmal, dass die Insolvenzsicherungspflicht für Arbeitszeitguthaben selbstverständlich nicht durch Gestaltungen der Arbeitszeit umgangen werden kann, die Insolvenzrisiken begründen, welche über die tariflich maximal zulässigen hinausgehen. 2. Insolvenzsicherung von Altersteilzeitguthaben 758 Dass Arbeitnehmer, die sich in einer verblockten Altersteilzeit nach dem AltTZG befinden, den Nachweis der ordnungsgemäßen Insolvenzsicherung ihres Wertguthabens fordern, kommt in der betrieblichen Praxis bislang nur sehr selten vor. Ebenso Rolfs, EWiR 2014, 365, 366.

759 Die Arbeitsgerichte hatten daher bislang nur wenig Gelegenheit, die hieran zu stellenden Anforderungen zu präzisieren. Das LAG Baden-Württemberg hat jedoch sein Urteil vom 6.3.2014 – 3 Sa 47/13, ZIP 2014, 894

dazu genutzt. Praktisch ist das vor allem unter dem Gesichtspunkt der Inanspruchnahme der Geschäftsführung oder des Vorstands auf Schadensersatz vor folgendem Hintergrund wichtig: 760 Weist der Arbeitgeber auf schriftliches Verlangen des Arbeitnehmers nicht innerhalb eines Monats eine taugliche Insolvenzsicherung nach, kann von ihm zur Sicherheitsleistung mit den in § 8a Abs. 4 Satz 2 AltTZG genannten Mitteln verlangt werden. Dieser Anspruch ist zwar gerichtlich durchsetzbar, führt aber in Bezug auf krisengeschüttelte Unternehmen infolge der mit einem Klageverfahren verbundenen Verzögerungen oft nicht zum Erfolg. ErfK/Rolfs, AltTZG § 8a Rn. 7. Praxistipp: Zum Klageantrag vgl. BAG, v. 30.10.2006 – 3 AZB 39/06, NZA 2007, 647.

761 Der dann bestehende Schadensersatzanspruch wegen Verletzung der Insolvenzsicherungspflicht ist in der Insolvenz des Arbeitgebers wirtschaftlich betrachtet ebenso wertlos wie der Arbeitsentgeltanspruch. Der Arbeitnehmer hat aber das Recht, gemäß § 273 BGB seine Arbeitsleistung zurückzuhalten, vgl. zum Zurückbehaltungsrecht auch unter Rn. 339 ff.,

und damit den Arbeitgeber in Annahmeverzug (§§ 615, 298 BGB) zu versetzen. ErfK/Rolfs, AltTZG § 8a Rn. 7.

178

V. Pflicht zur Insolvenzsicherung Praxistipp: Die Aufstockungsleistungen müssen auch dann erstattet werden (§ 4 AltTZG), wenn der Arbeitgeber keine geeignete Insolvenzsicherung nachweist. Denn eine Insolvenzsicherung nach § 8a AltTZG ist keine Voraussetzung der Förderung (Podewin, RdA 2005, 295, 297; ErfK/Rolfs, AltTZG § 8a Rn. 7).

Dementsprechend steht eine Schadensersatzhaftung der Unternehmensführung 762 oft im Mittelpunkt des Interesses. Ausführlich Kleingers, Der gesetzliche Insolvenzschutz von Arbeitszeitwertguthaben und die Haftung von Arbeitgeberrepräsentanten gegenüber Arbeitnehmern, 2007; zu den bestehenden Anspruchsgrundlagen im Überblick z. B. ErfK/Rolfs, AltTZG § 8a Rn. 8 f.

a) Sachverhalt des LAG Baden-Württemberg Im entschiedenen Fall stritten die Parteien darüber, ob die Beklagte für das 763 während der Arbeitsphase der Altersteilzeit aufgebaute Wertguthaben der Klägerin, den darauf entfallenden Arbeitgeberanteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag und die Aufstockungsbeträge Sicherheit nach § 8a Abs. 4 AltTZG leisten muss. Sie hatten ein Altersteilzeitverhältnis im Blockmodell vereinbart. Die Arbeitsphase der Klägerin dauerte vom 1.12.2009 bis 30.11.2012. Ab 1.12.2012 begann die Freistellungsphase, die bis 30.11.2015 andauert. Die Klägerin erhält neben ihrem entsprechend der reduzierten Arbeitszeit berechneten Altersteilzeitentgelt gemäß § 5 des Altersteilzeitvertrags vom 28.12.2006 einen Aufstockungsbetrag (82,5 % des um die gesetzlichen Abzüge verminderten Bruttovollzeitarbeitsentgelts). Im April 2012 trat die Klägerin mit der Frage nach einer Insolvenzsicherung des Altersteilzeitwertguthabens an die Beklagte heran. Es stellte sich heraus, dass die Beklagte keine Insolvenzsicherung durchgeführt hatte. Nach mehreren Aufforderungen hierzu teilte die Beklagte der Klägerin auszugsweise Folgendes mit: „Hiermit bestätigen wir Ihnen, dass seit 29.11.2012 eine Treuhandvereinbarung zwischen der F. V. GmbH & Co. KG und der D. T. S. besteht. Diese mit Wirkung vom 1.11.2012/23.11.2012 vereinbarte Regelung dient zur Vornahme der Insolvenzsicherung von Mitarbeiteransprüchen aus Altersteilzeitwertguthaben gemäß § 8a ATG. Die Treuhandvereinbarung umfasst auch die K. & V. GmbH und die K. & O. V. GmbH. Als Treuhänder ist die T. S. gehalten, ihr treuhänderisch im Rahmen der Zweckbindung überlassenes Vermögen als Sicherungswert zu verwahren und im Insolvenzfall die Mitarbeiteransprüche aus dem vorhandenen Treuhandvermögen zu befriedigen. Für Sie bestehen Sicherungswerte in Höhe von 153,755,64 €. Ihr aktuelles Wertguthaben (bisher aufgebautes bzw. abzüglich bereits abgebautes Entgelt und Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung) können Sie der monatlichen Entgeltabrechnung entnehmen.“

179

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

764 Die Beklagte übersandte der Klägerin außerdem am 3.1.2013 eine Kopie der „Treuhandvereinbarung zur Sicherung betrieblicher Altersteilzeitkonten“, der allerdings diverse Anlagen nicht beigefügt waren. Die Beklagte übermittelte der Klägerin ferner eine Kopie einer Bürgschaftsurkunde, in welcher der maximale Bürgschaftsbetrag unkenntlich gemacht worden war. Die in der Bürgschaftsurkunde sowie in § 11 Abs. 7 der Treuhandvereinbarung genannten Listen der Arbeitnehmer mit Wertguthaben erhielt die Klägerin nicht. b) Wesentliche Überlegungen des LAG Baden-Württemberg 765 Das LAG Baden-Württemberg hat der Klage wie bereits die Vorinstanz stattgegeben. Die Klägerin könne nach § 8a Abs. 4 Satz 1 ALTTZG verlangen, dass die Beklagte Sicherheit in Höhe des bestehenden Wertguthabens leistet, weil die Beklagte ihrer Nachweisverpflichtung nach § 8a Abs. 3 Satz 1 AltTZG nicht nachgekommen ist und dies auch nicht innerhalb der Monatsfrist des § 8a Abs. 4 Satz 1 AltTZG nachgeholt hat. 766 Die Beklagte hat der Klägerin nicht die zur Sicherung des Wertguthabens ergriffenen Maßnahmen in Textform i. S. d. § 8a Abs. 3 Satz 1 AltTZG nachgewiesen. aa) Individuelles Wertguthaben als Bezugspunkt des Nachweises 767 Dabei stellt das LAG zunächst zutreffend klar, dass mit dem dort genannten Wertguthaben das individuelle Wertguthaben des einzelnen Altersteilzeitarbeitnehmers gemeint ist. Dies ergebe sich zweifelsfrei aus Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck des § 8a AltTZG: 768 § 8a Abs. 1 und Abs. 2 AltTZG befassten sich mit den Fragen, x

unter welchen Voraussetzungen Wertguthaben aus Altersteilzeitarbeit insolvenzgesichert werden müssen (Abs. 1 Satz 1),

x

welche Sicherungsmittel schon ihrer Art nach ungeeignet sind (Abs. 1 Satz 2) und

x

wie die Höhe eines zu sichernden Wertguthabens zu berechnen ist (Abs. 2).

769 Wenn Abs. 3 von der „Sicherung des Wertguthabens“ spreche, werde – so das LAG Baden-Württemberg – klar erkennbar an die Regelungen der Abs. 1 und 2 angeknüpft. Zweifelsfrei gemeint sei das individuelle Wertguthaben des einzelnen Altersteilzeitarbeitnehmers, demgegenüber der Arbeitgeber die ergriffenen Maßnahmen nachzuweisen habe. Denn dem einzelnen Arbeitnehmer solle mit diesem Nachweis die Möglichkeit eröffnet werden, zu überprüfen, ob sein individuelles Wertguthaben rechtzeitig gesichert worden sei und – durch den 6-Monats-Turnus – gesichert bleibe. Verstoße der Arbeitgeber gegen seine gesetzliche Verpflichtung, könne der Arbeitnehmer unter den Voraussetzungen des Abs. 4 Sicherheitsleistungen in Höhe des bestehenden Wertguthabens verlangen. 180

V. Pflicht zur Insolvenzsicherung

Diese Bewertung überzeugt. Insbesondere unterliegen – im Gegensatz zum 770 individuellen Wertguthaben nebst den darauf entfallenden Arbeitgeberanteilen zur Sozialversicherung – die in der Freistellungsphase geschuldeten Aufstockungsbeträge nicht der Insolvenzsicherung. Denn sie sind vom Arbeitnehmer nicht während der Arbeitsphase erarbeitet worden. Es daher kein Grund ersichtlich, sie im Fall einer Insolvenz des Arbeitgebers zu privilegieren. So zutreffend Rolfs, EWiR 2014, 365, 366.

Denn Sinn und Zweck des § 8a AltTZG ist es, den Arbeitnehmer insoweit 771 abzusichern, als er bereits eigene Arbeitsleistung tatsächlich erbracht hat, das hierfür geschuldete Arbeitsentgelt aber noch nicht geflossen ist. Die Aufstockungsbeträge sind aber keine Gegenleistung für erbrachte Arbeit, sondern ein teilweiser Ausgleich für die monatliche Minderung des zur Verfügung stehenden Entgelts. LAG München, v. 12.1.2011 – 11 Sa 707/10; LAG Baden-Württemberg, v. 6.3.2014 – 3 Sa 47/13, ZIP 2014, 894.

Dies hatte das BAG bereits zu § 8a AltTZG a. F. angenommen.

772

BAG, v. 23.2.2010 – 9 AZR 71/09, BB 2010, 2698; ArbG Berlin, v. 31.1.2007 – 9 Ca 19205/06, n. v.

In Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung in der Literatur hat sich 773 hieran durch die Neufassung des § 8a AltZTG nichts geändert. Vgl. ErfK/Rolfs, AltTZG § 8a Rn. 4; Küttner/Kreitner Personalbuch 2014, Altersteilzeit, Rn. 15; Podewin, RdA 2005, 295; Rolfs, NZS 2004, 561.

bb) Verpflichtung zur Vorlage von Unterlagen Nach § 8a Abs. 3 AltTZG muss der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer Unterlagen 774 zur Verfügung stellen, die es dem Arbeitnehmer ermöglichen, die Angaben des Arbeitgebers zur Durchführung der Insolvenzsicherung zu überprüfen. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 8a Abs. 3 AltTZG. Denn ein 775 Nachweis ist, worauf Arbeitsgericht und LAG Baden-Württemberg zutreffend hingewiesen haben, mehr als eine bloße nicht überprüfbare Information oder Behauptung seitens des Arbeitgebers. Für die Verpflichtung zur Vorlage von Unterlagen spricht auch die Gesetz- 776 gebungsgeschichte. In der Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 15/1515, S. 135,

heißt es zu § 8a Abs. 3 AltTZG nämlich: „Abs. 3 bestimmt, dass der Arbeitgeber gegenüber dem Arbeitnehmer erstmals mit der ersten Gutschrift und anschließend alle sechs Monate die zur Sicherung des Wertguthabens ergriffenen Maßnahmen in Textform i. S. v. § 126 b Bürgerliches Gesetzbuch nachzuweisen hat. Der Arbeitgeber muss entspre-

181

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung chende Unterlagen dem Arbeitnehmer zur Verfügung stellen. Dadurch erhalten diese die Möglichkeit, die Richtigkeit der Angaben des Arbeitgebers zu überprüfen. Hiervon unberührt bleiben die Unterrichtungspflichten des Arbeitgebers gegenüber dem Betriebsrat nach § 80 Abs. 2 des Betriebsverfassungsgesetzes.“

777 Insofern entspricht die Notwendigkeit, hinreichend aussagekräftige Unterlagen vorzulegen, dem Willen des historischen Gesetzgebers. 778 Der Arbeitnehmer sei auch dadurch – so das LAG Baden-Württemberg weiter –, dass sich die für den Arbeitgeber handelnden Personen bei unwahren, eine nicht oder nicht im behaupteten Maße vorhandene Insolvenzsicherung vorspiegelnden Auskünften ggf. wegen Betrugs strafbar und dem Arbeitnehmer schadensersatzpflichtig machen würden, nicht so ausreichend gesichert, dass der Arbeitnehmer ihnen schlicht glauben muss. Denn hierdurch würde sowohl das Beweisrisiko als auch das Risiko der mangelnden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der in Anspruch genommenen Personen auf den Arbeitnehmer verlagert, sodass schon aus diesem Grund hierin keine ausreichende Absicherung des Arbeitnehmers liege. cc) Qualität der vorzulegenden Unterlagen 779 Nicht abschließend Stellung nimmt das LAG zu der Frage, welche Unterlagen der Arbeitgeber im Rahmen des § 8a Abs. 3 AltTZG im Einzelnen vorzulegen hat. Dies mag – wie das LAG annimmt – auch von der Art der vorgenommenen Sicherung abhängen. Klarstellungen nimmt das LAG Baden-Württemberg dennoch wie folgt vor: 780 Unabdingbare (vgl. § 8a Abs. 5 AltTZG) Mindestvoraussetzung für einen Nachweis i. S. d § 8a Abs. 3 Satz 1 AltTZG sei im Hinblick auf den Gesetzeszweck, dem Arbeitnehmer eine Überprüfung der Geeignetheit der arbeitgeberseitig vorgenommenen Insolvenzsicherung seines Wertguthabens zu ermöglichen, aber jedenfalls, dass der Arbeitnehmer aus den ihm erteilten Auskünften in Verbindung mit den ihm zur Verfügung gestellten Unterlagen x

die Art der Sicherung einschließlich der hierzu getroffenen Vereinbarungen ersehen und

x

er überprüfen könne, ob er mit seinem Wertguthaben in voller Höhe in die Insolvenzsicherung tatsächlich einbezogen ist.

781 Zur Erfüllung der letztgenannten Voraussetzung hätte die Beklagte der Klägerin nach der Bewertung des LAG scheinbar jedenfalls bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz die Liste mit den Namen der in die Treuhandvereinbarung einbezogenen Altersteilzeitarbeitnehmer zur Verfügung stellen und mitteilen müssen, wie hoch einerseits die Bürgschaftssumme und andererseits das abzusichernde Altersteilzeitwertguthaben insgesamt ist.

182

V. Pflicht zur Insolvenzsicherung

Auf den Datenschutz dritter Arbeitnehmer kann sich der Arbeitgeber nach 782 der Bewertung des LAG Baden-Württemberg zur Verhinderung einer Offenlegungspflicht nicht berufen: Nach dem gesetzlichen Modell habe der Arbeitgeber gegenüber dem einzelnen 783 Arbeitnehmer die ausreichende Insolvenzsicherung des dem jeweiligen Arbeitnehmer individuell zustehenden Wertguthabens nachzuweisen. Die Höhe der abzusichernden Wertguthaben anderer Altersteilzeitarbeitnehmer sei hierfür ohne Belang. Greife der Arbeitgeber – meistens wohl aus Kostengründen – zum Mittel einer Gruppenabsicherung, müsse er sicherstellen, dass er den ihm dem einzelnen Arbeitnehmer gegenüber obliegenden Auskunftspflichten auch unter Berücksichtigung des notwendigen Schutzes persönlicher Daten anderer einbezogener Arbeitnehmer nachkommen kann. Sei ihm dies nicht möglich, handele es sich um kein geeignetes Sicherungsinstrument, und der Arbeitgeber müsse zu einem anderen gesetzeskonformen Sicherungsmechanismus greifen. c) Bedeutung für die betriebliche Praxis Für die betriebliche Praxis bedeutet dies, dass im Fall eines Nachweisverlangens 784 abgestuft verfahren werden kann: Vgl. Rolfs, EWiR 2014, 365, 366.

Im ersten Schritt genügt der Arbeitgeber seiner Informationspflicht, indem 785 er die getroffenen Sicherungsmaßnahmen hinreichend in Textform beschreibt und dem Arbeitnehmer diese Beschreibung zukommen lässt. Praxistipp: Geeignet sind alle Maßnahmen, die in der Insolvenz des Arbeitgebers ein Aussonderungsrecht (§ 47 InsO) begründen. Dies können sein: x Versicherungsmodelle x schuldrechtliche Verpfändungs- oder Bürgschaftsmodelle, x Patronatserklärungen oder x eine doppelstöckige Treuhand in Form eines CTA (vgl. Mückl, 1. Aufl., Rn. 316 ff.). Kraft Gesetzes ausdrücklich ausgeschlossen (§ 8a Abs. 1 Satz 2 AltTZG) sind demgegenüber: x bilanzielle Rückstellungen und x zwischen Konzernunternehmen (§ 18 AktG) begründete Einstandspflichten (z. B. Bürgschaften, Patronatserklärungen oder Schuldbeitritte).

Auf Verlangen des Arbeitnehmers müssen im zweiten Schritt – hinreichend 786 aussagekräftig – die der Insolvenzsicherung zugrunde liegenden Unterlagen in dem Umfang zur Verfügung gestellt werden, der erforderlich ist, damit sich der Arbeitnehmer – ggf. mit sachverständiger Hilfe, jedenfalls aber auf 183

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

eigene Kosten – ein ausreichendes Bild von der Insolvenzfestigkeit der Sicherung und der Höhe des besicherten Betrags machen kann. 787 Wünschenswert wäre, dass der Gesetzgeber insoweit ein weniger aufwändiges und kompliziertes Verfahren einführt. Denn selbst die Ministerialbürokratie kann derzeit nicht anders, als das derzeitige Verfahren als „bürokratische(s) und rechtliche(s) Monster“ zu qualifizieren. Knospe, NZA 2006, 187, 190.

3. Insolvenzsicherung bei Versorgungszusage einer Konzernobergesellschaft 788 Grenzen der Insolvenzssicherungspflicht hat der 3. Senat des BAG in seinem Urteil vom 20.5.2014 – 3 AZR 1094/12, ZIP 2014, 1453

aufgezeigt. a) Sachverhalt des BAG 789 Im entschiedenen Fall war der Kläger als Arbeitnehmer einer Konzerntochtergesellschaft in den Jahren 1962 bis 1979 in Nigeria tätig. Von der Konzernobergesellschaft in Deutschland hatte er parallel eine Versorgungszusage erhalten, für deren Insolvenzsicherung die Konzernobergesellschaft fortlaufend Beiträge an den PSVaG entrichtete. Nachdem der Kläger seine Tätigkeit für die Tochtergesellschaft beendet hatte und im Jahre 2002 die Altersgrenze erreicht war, zahlte die Konzernobergesellschaft an ihn – bis zu ihrer Insolvenz im Jahr 2010 – eine monatliche Betriebsrente in Höhe von EUR 450,00. Als die Konzernobergesellschaft allerdings insolvent wurde, lehnte der PSVaG eine Zahlung der Betriebsrente mit der Begründung ab, dass keine Zusage der betrieblichen Altersversorgung im Sinne des BetrAVG vorliege. b) Wesentliche Überlegungen des BAG 790 Das BAG gab mit überzeugender Begründung dem PSVaG Recht. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG haben Versorgungsempfänger, deren Ansprüche aus einer unmittelbaren Versorgungszusage des Arbeitgebers nicht erfüllt werden, weil über das Vermögen des Arbeitgebers oder über seinen Nachlass das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, zwar gegen den PSVaG als Träger der Insolvenzsicherung einen Anspruch in Höhe der Leistung, die der Arbeitgeber aufgrund der Versorgungszusage zu erbringen hätte, wenn das Insolvenzverfahren nicht eröffnet worden wäre. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass es sich bei den in Rede stehenden Versorgungsleistungen um betriebliche Altersversorgung i. S. d. § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG handelt.

184

V. Pflicht zur Insolvenzsicherung BAG, v. 20.5.2014 – 3 AZR 1094/12, ZIP 2014, 1453, dazu EWiR 2014, 693 (Matthießen); BAG, v. 3.11.1998 – 3 AZR 454/97, ZIP 1999, 1145 = NZA 1999, 594, dazu EWiR 1999, 581 (Schumann).

Diese Voraussetzung war vorliegend deshalb nicht erfüllt, weil eine betriebliche 791 Altersversorgung i. S. d. § 1 BetrAVG nur vorliegt, wenn die entsprechenden Leistungen dem Arbeitnehmer aus Anlass seines Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber zugesagt wurden. Damit verlangt das Gesetz eine Versorgungszusage des Arbeitgebers. Nur derjenige, für den ein Arbeitnehmer im Rahmen des Arbeitsvertrags nach § 611 BGB eine Arbeitsleistung zu erbringen hat, kann also eine betriebliche Altersversorgung i. S. d. § 1 BetrAVG zusagen. Dies war hier aber nicht der Fall, da die Versorgungszusage nicht durch die nigerianische Gesellschaft als Arbeitgeber i. S. d. § 611 BGB erteilt worden war, sondern durch die Konzernobergesellschaft, zu der keine Rechtsbeziehung im Sinne eines Arbeitsverhältnisses bestand. Dass die Konzernobergesellschaft innerhalb des Konzerns die Tätigkeit der 792 Konzerntochtergesellschaft gesteuert hatte, genügte dem BAG zu Recht nicht, um den Gesetzeswortlaut zu überwinden. Keine Rolle spielte im Ergebnis auch, dass der Erfolg der Tätigkeit des Klägers unmittelbar oder mittelbar auch der Konzernobergesellschaft zugutekam. Zu Recht hat der 3. Senat des BAG im Urteil vom 20.5.2014

793

– 3 AZR 1094/12, ZIP 2014, 1453,

schließlich klargestellt, dass eine Insolvenzsicherung auch nicht nach §§ 17 Abs. 1 Satz 2, 7 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG begründet werden konnte. Zwar sieht § 17 Abs. 1 Satz 2 BetrAVG vor, dass die §§ 1 bis 16 BetrAVG für Personen, die nicht Arbeitnehmer sind, entsprechend gelten, wenn ihnen Leistungen in der Alters-, Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung aus Anlass ihrer Tätigkeit für ein Unternehmen zugesagt worden sind. Voraussetzung auch für eine über § 17 Abs. 1 Satz 2 BetrAVG vermittelte Anwendung des § 7 BetrAVG ist jedoch, dass die Tätigkeit, die nicht als Arbeitnehmer erbracht wird, aufgrund von vertraglichen Beziehungen zwischen dem Begünstigten und dem Unternehmen erbracht wird, das die Versorgungszusage macht. Auch diese Voraussetzung war im entschiedenen Fall nicht erfüllt. Praxistipp: Arbeitnehmer, die in den Genuss der Insolvenzsicherung durch den PSVaG kommen möchten, müssen daher sicherstellen, dass der Zusagende mit ihnen in einem Arbeitsverhältnis bzw. sonstigen Vertragsverhältnis i. S. d. § 17 Abs. 1 Satz 2 BetrAVG steht.

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

VI. Besonderheiten bei Leiharbeitnehmern 1. Verjährung des Auskunftsanspruchs nach § 13 AÜG 794 Ansprüche auf „equal pay“ spielen in der betrieblichen Praxis bei Leiharbeitnehmereinsätzen in den letzten Jahren insbesondere infolge der Entscheidung des BAG vom 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, DB 2011, 593

zur Unwirksamkeit der von der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personal-Service-Agenturen (CGZP) abgeschlossenen Tarifverträge eine ganz bedeutende Rolle. Zentraler Gegenstand der Aufmerksamkeit ist deshalb zumeist die Frage, ob wirksam durch Tarifverträge von dem in § 10 Abs. 4 AÜG normierten Grundsatz des equal treatment, insbesondere des equal pay, abgewichen wurde. 795 Um etwaige Ansprüche auf „equal pay“, d. h. die gleiche Vergütung, die Stammarbeitnehmer erhalten, prüfen zu können, sind Arbeitnehmer darauf angewiesen, Auskünfte über die Stammarbeitnehmern gezahlte Vergütung zu erhalten. Dem trägt das AÜG in § 13 Halbs. 1 Rechnung. Der darin geregelte Auskunftsanspruch ist darauf gerichtet, „Leiharbeitnehmern die Überprüfung ihrer Vertragsbedingungen zu ermöglichen“. BT-Drucks. 15/25, S. 39.

796 Gesehen hat der Gesetzgeber dabei eine besondere „Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer in dem komplizierten Dreiecksverhältnis bei Leiharbeit“. BT-Drucks. 15/25, S. 39.

797 Darauf bezogen ist nicht nur der Auskunftsanspruch des Leiharbeitnehmers nach § 13 AÜG, sondern zudem eine damit korrespondierende Verpflichtung des Entleihers in der Rechtsbeziehung zwischen Verleiher und Entleiher normiert worden (§ 12 Abs. 1 Satz 3 AÜG). 798 Sinn und Zweck der gerichtlich einklagbaren Auskunft nach § 13 AÜG ist die Schaffung einer Vergleichsmöglichkeit zwischen den Leistungen des Verleihers und den nach dem Gleichstellungsgebot zustehenden Leistungen. BAG, v. 19.9.2007 – 4 AZR 656/06, DB 2008, 243.

799 Die – ordnungsgemäße – Auskunft des Entleihers über das einem vergleichbaren Stammarbeitnehmer gewährte Arbeitsentgelt ist das gesetzlich vorgesehene Mittel, das dem Leiharbeitnehmer ermöglichen soll, die Einhaltung des Gebots der Gleichbehandlung zu überprüfen und die Höhe des Anspruchs aus § 10 Abs. 4 AÜG zu berechnen. BAG, v. 24.4.2014 – 8 AZR 1081/12, NZA 2014, 968; vgl. auch BT-Drucks. 15/25, S. 39; BAG, v. 13.3.2013 – 5 AZR 146/12, NZA 2013, 782.

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VI. Besonderheiten bei Leiharbeitnehmern

Der Auskunftsanspruch aus § 13 AÜG ist ein gesetzlicher Anspruch und un- 800 terliegt der gesetzlichen Verjährung, die das wesentliche zugunsten des Entleihers eingreifende Begrenzungsmittel bildet. Die den Verjährungsbeginn kennzeichnenden Umstände hat das BAG in sei- 801 nem Urteil vom 24.4.2014 – 8 AZR 1081/12, NZA 2014, 968

näher definiert und damit sowohl für Verleiher als auch für Entleiher wichtige Klarstellungen getroffen. a) Sachverhalt des BAG In dem entschiedenen Fall stritten die Parteien über einen entsprechenden 802 Auskunftsanspruch des klagenden Leiharbeitnehmers nach § 13 AÜG. Im Arbeitsvertrag des Klägers war die Anwendung der zwischen der CGZP und der Mittelstandsvereinigung Zeitarbeit e. V. geschlossenen Tarifverträge vereinbart. Bei der Beklagten als Entleiherin war der Kläger vom 17.9.2007 bis zum 2.10.2007 tätig. Mit Schreiben vom 17.3.2011 verlangte er von ihr erfolglos Auskunft über die wesentlichen Arbeitsbedingungen und insbesondere die Vergütung vergleichbarer Stammarbeitnehmer im Überlassungszeitraum. Die Beklagte erhob die Einrede der Verjährung. Mit seiner Auskunftsklage war der Kläger zwar in erster und zweiter Instanz erfolgreich, scheiterte aber aus folgenden Gründen vor dem BAG. b) Wesentliche Überlegungen des BAG Der Auskunftsanspruch fällt – wie das BAG zu Recht annimmt – unter § 194 803 BGB und unterliegt der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren nach § 195 BGB. Diese beginnt mit dem Schluss des Jahres zu laufen, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB) und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangt haben müsste (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Da der Auskunftsanspruch des Klägers im Zeitpunkt der tatsächlichen Über- 804 lassung (einschließlich des 17.9.2007 Tag für Tag bis einschließlich 2.10.2007) entstanden sei und der Kläger von den anspruchsbegründenden Umständen (die Tatsache der tatsächlichen Überlassung) und der Person des Schuldners (die Beklagte als „sein“ Entleiher) Kenntnis hatte, sei sein Anspruch bei Geltendmachung im März 2011 verjährt. Ob seinem Auskunftsanspruch Ausnahmen vom Gleichstellungsgebot i. S. v. § 13 Halbs. 2 AÜG (beispielsweise die Anwendbarkeit von Tarifverträgen) entgegenstehen, gehöre – so das BAG weiter – nicht zu den anspruchsbegründenden Umständen und habe ihm nicht einzubeziehen oblegen. BAG, v. 24.4.2014 – 8 AZR 1081/12, NZA 2014, 968.

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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

c) Bedeutung für die betriebliche Praxis 805 § 13 Halbs. 2 AÜG gewährt dem Entleiher einen Einwand gegen den Auskunftsanspruch des Leiharbeitnehmers aus § 13 Halbs. 1 AÜG. Aufgrund der anspruchsvernichtenden Tatsache („gilt nicht“), dass ein wirksamer Tarifvertrag auf das Arbeitsverhältnis anzuwenden ist, kommen Ansprüche auf equal pay bzw. equal treatment von vornherein nicht in Betracht. Deshalb kann der Entleiher die vom Leiharbeitnehmer begehrte Auskunft verweigern. Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 13 Halbs. 2 AÜG ist – so das BAG – zwar der Entleiher darlegungs- und beweispflichtig. Das Urteil macht Leiharbeitnehmern das Leben allerdings insofern etwas schwer, als sie ihre Auskunftsansprüche zu einem Zeitpunkt geltend machen müssen, in dem sie u. U. noch keine Kenntnis davon haben, dass die angewandten Tarifverträge unwirksam sind. Das BAG führt insoweit allerdings nur seine vorhergehende Rechtsprechung zur Verjährung des Anspruchs auf equal pay § 10 Abs. 4 AÜG fort. Vgl. BAG, v. 13.3.2013 – 5 AZR 424/12, ZIP 2013, 1392, dazu EWiR 2013, 571 (Greiner/Strippelmann).

806 Geschützt sind Leiharbeitnehmer insoweit ausreichend durch Schadensersatzansprüche nach § 280 BGB Abs. 1 BGB, wenn der Entleiher zu Unrecht die Auskunft unterlässt oder wenn er eine verspätete oder unzutreffende Auskunft erteilt. 2. Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt („equal pay“) 807 Mit Blick auf den equal-pay-Anspruch von Leiharbeitnehmern hat das BAG in seinem Urteil vom 19.2.2014 – 5 AZR 1047/12, NZA 2014, 915

ergänzende Klarstellungen vorgenommen. Darüber hinaus hat es zur Geltendmachung von zur Insolvenzmasse gehörenden Ansprüchen durch den Schuldner im eigenen Namen Stellung genommen. Vgl. hierzu unten unter Rn. 1369 ff.

a) Sachverhalt des BAG 808 Im entschiedenen Fall war Kläger seit 2003 als Leiharbeitnehmer bei der Beklagten R-GmbH, die zum R-Konzern gehört, als Mitarbeiter im sog. Kombi-Außendienst eingesetzt. Auf das Arbeitsverhältnis zur Beklagten fanden die Tarifverträge der CGZP Anwendung. Für die Arbeitnehmer des Entleihers gilt demgegenüber der Manteltarifvertrag der Tarifgruppe RWE, der im Vergleich zu den Tarifverträgen der CGZP ein höheres Bruttomonatsentgelt sowie Sonderzahlungen und Aufwendungsersatz vorsieht. 809 Im Nachgang zu den Feststellungen des BAG über die fehlende Tariffähigkeit der CGZP verlangte der Kläger für die Zeit vom Januar bis August 2011

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VI. Besonderheiten bei Leiharbeitnehmern

die Differenz zwischen der ihm gezahlten Vergütung und dem Arbeitsentgelt, das der Entleiher vergleichbaren Stammarbeitnehmern gewährt. Er stützt sich auf eine entsprechende Auskunft der R-AG. Die Beklagte wandte u. a. ein, dass der Entleiher keine vergleichbaren Stammarbeitnehmer beschäftige. Das ArbG hat der Klage teilweise stattgegeben, das LAG vollständig. Das BAG hat das Urteil aufgehoben, in der Sache aber dem Kläger Recht gegeben und die Sache nur deshalb an das LAG zurückverwiesen, weil die Differenzvergütung neu zu berechnen sei. Begründet hat das BAG seine Entscheidung im Kern wie folgt: b) Wesentliche Überlegungen des BAG Der Kläger habe gemäß § 10 Abs. 4 AÜG einen Anspruch auf das gleiche 810 Arbeitsentgelt wie vergleichbare Stammarbeitnehmer, da infolge der Unwirksamkeit der CGZP-Tarifverträge keine wirksame Abweichung vom equal-payGrundsatz nach § 9 Nr. 2 AÜG vorliege. Unerheblich sei – entgegen der Bewertung der Beklagten –, dass der Entleiher keine vergleichbaren Stammarbeitnehmer beschäftigte. Denn der Entleiher wende ein allgemeines Entgeltschema an. Daher könne auf die fiktive Eingruppierung des Leiharbeitnehmers und die hypothetisch geltenden Arbeitsbedingungen abgestellt werden. Maßgeblich sei dabei das Arbeitsentgelt, das der Leiharbeitnehmer erhalten hätte, wenn er für die gleiche Tätigkeit beim Entleiher eingestellt worden wäre. Der Leiharbeitnehmer genüge bezüglich der Höhe der Vergütung vergleich- 811 barer Stammarbeitnehmer seiner Darlegungslast, wenn er sich im Prozess auf eine nach § 13 AÜG erteilte Auskunft berufe. Anschließend obliege es dem Verleiher als Beklagtem, die maßgeblichen Umstände der Auskunft in erheblicher Art im Einzelnen zu bestreiten. Trage er nichts vor oder lasse er sich nicht substantiiert ein, gelte der Inhalt der vorgetragenen Auskunft als zugestanden. Dies gelte auch dann, wenn beim Entleiher keine vergleichbaren Stammarbeitnehmer beschäftigt würden. Da es sich um eine Wissenserklärung handele, müsse die Auskunft nach § 13 AÜG nicht vom Entleiher (R-GmbH) selbst gegeben werden, sondern dieser könne Hilfspersonen (R-AG) einschalten. c) Bedeutung für die betriebliche Praxis Die Entscheidung belegt noch einmal die relativ hohen Anforderungen in 812 Bezug auf die substantiierte Darlegung eines equal-pay-Anspruchs. Vgl. bereits BAG, v. 23.10.2013 – 5 AZR 667/12, 5 AZR 556/12, DB 2014, 546. Praxistipp: Zuvor muss der Leiharbeitnehmer allerdings ggf. einschlägige Ausschlussfristen gewahrt haben (vgl. BAG, v. 25.9.2013 – 5 AZR 815/12, AP Nr. 28 zu § 10 AÜG (LS); BAG, v. 19.2.2014 – 5 AZR 700/12, DB 2014, 1262).

189

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

813 Voraussetzung ist eine Substantiierung, die sich im Detail auf die jeweils geltenden Arbeitsbedingungen im Entleiherbetrieb erstreckt. Durchsetzen lassen werden sich Ansprüche daher regelmäßig lediglich auf Basis einer entsprechenden Auskunft nach § 13 AÜG. 814 Das BAG klärt zudem, dass die vorgelegte Auskunft nach § 13 AÜG nicht von dem Entleiher selbst stammen muss, sondern auch von einem Dritten, z. B. einer Konzerngesellschaft, erstellt werden kann, wenn dort die betreffenden Informationen vorgehalten werden. Bei der Auskunft ist allerdings Sorgfalt geboten: Beruht eine zu geringe Lohnzahlung durch den Verleiher auf schuldhaft unrichtigen Angaben des Entleihers, kann der Verleiher nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB vom Entleiher Schadensersatz verlangen. Vgl. Bauer/Krets, NJW 2003, 537, 539. Praxistipp: Wichtig für die betriebliche Praxis sind im Übrigen die ergänzenden Hinweise des zur Berechnung der equal-pay-Forderung, wenn die Stammarbeitnehmer des Entleihers ein Monatsgehalt beziehen. Ein „Herunterrechnen” auf einen – fiktiven – Stundenlohn kommt nach der Bewertung des BAG nicht in Betracht. Ausgangspunkt für die Berechnung der Differenzvergütung ist vielmehr das – ggf. anteilige – Monatsgehalt (vgl. zur Umrechnung in Dreißigstel: BAG, v. 23.10.2013 – 5 AZR 556/12, DB 2014, 546; BAG, 16.5.2012 – 5 AZR 251/11, NZA 2012, 971), das der Leiharbeitnehmer erhalten hätte, wenn er beim Entleiher angestellt gewesen wäre.

815 Das BAG bestätigt schließlich eine weite Auslegung des Begriffs „Arbeitsentgelt“: Maßgeblich sei ein Gesamtvergleich der Entgelte im Überlassungszeitraum. Erfasst seien nicht nur das laufende Arbeitsentgelt, sondern jede Vergütung, die aus Anlass des Arbeitsverhältnisses gewährt wird (Zulagen, vermögenswirksame Leistungen, Firmenwagen). VII. Besonderheiten der Verbraucherinsolvenz – Zahlung des pfändbaren Teils des Arbeitsentgelts an Treuhänder 816 Die Bedeutung von Verbraucherinsolvenzen mit Restschuldbefreiung hat in der Lohnabrechnungspraxis deutlich zugenommen, weil sich der Schuldner über ein Restschuldbefreiungsverfahren – mit wenigen Ausnahmen (§ 302 InsO) – sämtlicher Schulden entledigen kann. Derartige Verfahren werden durch die Möglichkeit der Stundung der Kosten des Insolvenzverfahrens (§§ 4a ff. InsO) zudem von den Schuldnerberatungsstellen als Ausweg aus der Verschuldung empfohlen. 817 Die Bedeutung der Verbraucherinsolvenz mit Restschuldbefreiung für die betriebliche Praxis folgt daraus, dass in Verbraucherinsolvenzverfahren mit anschließender Restschuldbefreiung der Treuhänder den pfändbaren Teil des Arbeitslohns zur Insolvenzmasse zieht. Der Arbeitgeber muss ihn als Drittschuldner ermitteln und auf das Anderkonto des Treuhänders überweisen.

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VII. Besonderheiten der Verbraucherinsolvenz

Der Zahlungsanspruch des Treuhänders folgt aus § 611 Abs. 1 BGB i. V. m. §§ 35, 80 Abs. 1, 304 Abs. 1 Satz 2 InsO. Durch eine Zahlung an den Arbeitnehmer erlischt dessen Entgeltanspruch 818 gemäß § 362 Abs. 1 BGB nach § 82 Satz 1 InsO nur dann, wenn der Arbeitgeber zur Zeit der Leistung des pfändbaren Teils des Arbeitsentgelts an den Arbeitnehmer die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über dessen Vermögen nicht gekannt hat. „Kennen“ i. d. S. ist dabei nur positive Kenntnis von der Eröffnung des Verfahrens. Grobfahrlässige Unkenntnis oder Kenntnis von dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens reichen nicht aus. LAG Düsseldorf, v. 3.5.2012 – 11 Sa 196/11, ZIP 2012, 1726.

Die Bedeutung eines auch insoweit funktionierenden internen Informations- 819 austausches auf Arbeitgeberseite macht noch einmal das Urteil des BAG vom 29.1.2014 – 6 AZR 642/12, ZIP 2014, 692

deutlich. Danach muss der Arbeitgeber sicherstellen und darlegen können, dass Erkenntnisse und Informationen, die von einzelnen Angestellten gewonnen werden und die für andere Mitarbeiter und spätere Geschäftsvorgänge erheblich sein können, allen relevanten Unternehmensbereichen zur Verfügung stehen bzw. verfügbar gemacht werden können. 1. Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall hatte zwischen dem insolventen Schuldner und der 820 Beklagten von August 2007 bis 31.3.2009 ein Arbeitsverhältnis bestanden. Der Kläger, der Treuhänder des Schuldners war, forderte die Beklagte in einem an die Lohnbuchhaltung gerichtetem Schreiben vom 9.6.2009 auf, den pfändbaren Teil des Arbeitsentgelts des Schuldners ab sofort ausschließlich an ihn zu leisten. Zu diesem Zeitpunkt war der Schuldner – vorübergehend – nicht mehr Arbeitnehmer der Beklagten. Ende März 2010 vernichtete die Beklagte die Personalakte des Schuldners. Seit 1.7.2010 besteht zwischen dem Schuldner und der Beklagten wieder ein 821 Arbeitsverhältnis. Von Juli 2010 bis Mai 2011 erzielte der Schuldner pfändbares Arbeitseinkommen in Höhe von insgesamt EUR 4.118,40 netto, das die Beklagte an ihn leistete. Der Kläger forderte die Beklagte unter dem 10.6.2011 erneut auf, den pfändbaren Teil des Arbeitsentgelts des Schuldners an ihn zu leisten. Dem kam die Beklagte seit Juni 2011 nach. Der klagende Treuhänder verlangte nun die Zahlung der pfändbaren Arbeits- 822 vergütung des Schuldners zur Insolvenzmasse. Die Parteien stritten darüber, ob die beklagte Arbeitgeberin des Schuldners die Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens bei der Auszahlung an den Schuldner nicht kannte i. S. v. § 82 Satz 1 InsO. Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Das BAG wies die Revision der Beklagten mit der folgenden, überzeugenden Begründung zurück. 191

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

2. Wesentliche Überlegungen des BAG 823 Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht zwar die Empfangszuständigkeit für alle Leistungen, die auf zur Insolvenzmasse gehörende Forderungen erbracht werden, auf den Insolvenzverwalter über (§ 80 Abs. 1 InsO). Nach § 82 Satz 1 InsO wird der Leistende jedoch von seiner Schuld befreit, wenn er die Eröffnung des Verfahrens zur Zeit der Leistung an den Schuldner nicht kannte. Vgl. BGH, v. 16.7.2009 – IX ZR 118/08, BGHZ 182, 85 = ZIP 2009, 1726, dazu EWiR 2009, 685 (Gundlach/Schirrmeister).

824 In diesem Fall wird der Leistende in seinem Vertrauen auf die Empfangszuständigkeit seines Gläubigers – des Insolvenzschuldners – geschützt, wenn ihm die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unbekannt geblieben ist, solange er den Leistungserfolg noch verhindern kann. Vgl. BGH, v. 12.7.2012 – IX ZR 210/11, ZIP 2012, 1565 = ZVI 2012, 344, dazu EWiR 2012, 671 (Flitsch); BGH, v. 16.7.2009 – IX ZR 118/08, BGHZ 182, 85 = ZIP 2009, 1726.

825 Wird die Leistungshandlung – wie im entschiedenen Fall – nach der öffentlichen Bekanntmachung der Verfahrenseröffnung i. S. v. § 9 Abs. 1 InsO vorgenommen, trifft den Leistenden die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht kannte. Vgl. BGH, v. 16.7.2009 – IX ZR 118/08, BGHZ 182, 85 = ZIP 2009, 1726.

826 Nur positive Kenntnis von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens schließt den Gutglaubensschutz des § 82 Satz 1 InsO aus. Grob fahrlässige Unkenntnis genügt nicht. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 642/12, ZIP 2014, 692 = ZVI 2014, 175, dazu EWiR 2014, 457 (Flitsch).

827 Dabei wird der juristischen Person das Wissen auch der Arbeitnehmer zugerechnet, das bei ordnungsgemäßer Organisation in den Akten festzuhalten, weiterzugeben und abzufragen ist. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 642/12, ZIP 2014, 692 = ZVI 2014, 175; vgl. BGH, v. 13.10.2000 – V ZR 349/99, ZIP 2001, 26 = ZfIR 2001, 647, dazu EWiR 2001, 705 (Schramm).

828 Jede am Rechtsverkehr teilnehmende Organisation sei – so das BAG in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH – verpflichtet, Informationen verkehrsgerecht zu verwalten. Ordnungsgemäß zugegangene Informationen sind innerhalb der Organisation weiterzugeben. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 642/12, ZIP 2014, 692 = ZVI 2014, 175; BGH, v. 15.4.2010 – IX ZR 62/09, ZIP 2010, 935 (m. Bespr. Wittmann/Kinzl, ZIP 2011, 2232) = ZVI 2010, 263, dazu EWiR 2010, 615 (Flitsch).

192

VII. Besonderheiten der Verbraucherinsolvenz

Die Organisation hat nach der Rechtsprechung des BAG daher entsprechende 829 organisatorische Maßnahmen zu treffen. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 642/12, ZIP 2014, 692 = ZVI 2014, 175.

Das Fehlen derartiger organisatorischer Maßnahmen hat nach der Recht- 830 sprechung des BAG weitreichende Konsequenzen: Denn jedenfalls dann, wenn derartige organisatorische Maßnahmen fehlen, muss sich die juristische Person das Wissen einzelner Arbeitnehmer unabhängig davon zurechnen lassen, auf welcher Ebene sie angesiedelt sind. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 642/12, ZIP 2014, 692 = ZVI 2014, 175. Praxistipp: Die juristische Person hat folgerichtig darzulegen, welche Organisationsstrukturen sie geschaffen hat, um rechtserhebliche Informationen aufzunehmen und intern weiterzugeben (BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 642/12, ZIP 2014, 692 = ZVI 2014, 175).

Nach diesen Grundsätzen war im entschiedenen Fall das im Juni 2009 erlangte 831 Wissen der Arbeitnehmerin in der Lohnbuchhaltung um die Insolvenz des Schuldners der Beklagten zuzurechnen. Die Beklagte kannte die Insolvenzeröffnung i. S. v. § 82 Satz 1 InsO, als sie die Vergütungen für Juli 2010 bis Mai 2011 an den Schuldner leistete. Abschließend stellt das BAG klar, dass die einmal erlangte positive Kenntnis 832 über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens fortdauere, bis der Dritte nicht zuverlässig davon erfährt, dass das Insolvenzverfahren abgeschlossen sei. BAG, v. 29.1.2014 – 6 AZR 642/12, ZIP 2014, 692 = ZVI 2014, 175.

3. Bedeutung für die betriebliche Praxis Die Entscheidung macht deutlich, wie wichtig eine funktionierende Informa- 833 tionsorgansation in Unternehmen insbesondere auch aus Gründen des Selbstschutzes ist. Wenig überraschend ist, dass schlichtes Vergessen nicht entlastet und einmal erlangte Kenntnis fortwirkt, bis sie durch zuverlässige Kenntniserlangung über den Abschluss des Insolvenzverfahrens wieder entfällt. Die Darlegungslast für ein Entfallen der Kenntnis legt das BAG wegen des Ausnahmecharakters des § 82 InsO dem Arbeitgeber auf. Praxistipp: Über den Abschluss des Verfahrens kann sich der Arbeitgeber durch eine entsprechende amtliche Bekanntmachung, Auskunft des Insolvenzgerichtes oder des Insolvenzverwalters sowie durch eine Einzelabfrage im Internet informieren (vgl. BGH, v. 15.4.2010 – IX ZR 62/09, ZIP 2010, 935 (m. Bespr. Wittmann/ Kinzl, ZIP 2011, 2232) = ZVI 2010, 263).

193

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

Praxistipp: Wichtig für die betriebliche Praxis ist zudem die Feststellung des BAG, dass potentiell einschlägige Unterlagen jedenfalls für die Dauer der maßgeblichen Verjährungsfrist aufgehoben werden müssen. Dies muss beim Informationsmanagement beachtet werden.

VIII. Urlaubsrecht 1. Kein Untergang des Urlaubsabgeltungsanspruchs bei Tod des Arbeitnehmers 834 Abweichend von der dogmatisch und im praktischen Ergebnis überzeugenden Rechtsprechung des BAG, über die im vergangenen Jahr berichtet wurde, vgl. Mückl, 1. Aufl., Rn. 420 ff.,

hat der EuGH in seinem Urteil vom 12.6.2014 – C-188/13, ZIP 2014, 1348 (Bolacke)

entschieden, Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (RL 2008/33/EG) sei dahin auszulegen, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ohne Begründung eines Abgeltungsanspruchs für nicht genommenen Urlaub untergeht, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endet. Eine solche Abgeltung kann nach der Bewertung des EuGH nicht davon abhängen, dass der Betroffene im Vorfeld einen Antrag gestellt hat. a) Sachverhalt des EuGH 835 Die Parteien des zugrunde liegenden Rechtsstreites stritten um die Abgeltung von Urlaubsansprüchen nach dem Tod eines Arbeitnehmers. Die Klägerin ist Witwe und Alleinerbin des am 19.11.2010 verstorbenen Arbeitnehmers der Beklagten. Bei der Beklagten war – jedenfalls bis einschließlich 2010 – intern vereinbart, dass Arbeitnehmer Urlaubsansprüche auch über den regulären Übertragungszeitraum hinaus ansammeln konnten. Nachdem der Arbeitnehmer im Jahr 2009 schwer erkrankte und infolge dessen viele Monate arbeitsunfähig war, hatten sich bis zu seinem Tode über 140 offene Urlaubstage angesammelt. Mit Schreiben vom 31.1.2011 machte die Klägerin nach dem Tod ihres Ehemannes bei der Beklagten u. a. Urlaubsabgeltungsansprüche geltend. Die Beklagte lehnte dies mit Schreiben vom 3.2.2011 mit der Begründung ab, es bestünden Zweifel daran, dass ein vererbbarer Anspruch bestehen könne. Die im Anschluss hieran erhobene Klage hat das ArbG Bocholt mit Urteil vom 1.12.2011 – 3 Ca 310/11, n. v.

194

VIII. Urlaubsrecht

unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung des BAG abgewiesen, nach der Ansprüche auf Urlaubsabgeltung grundsätzlich nicht vererblich sind. BAG, v. 12.3.2013 – 9 AZR 532/11, DB 2013, 1418.

Das LAG Hamm hat am 14.2.2013 beschlossen, das Berufungsverfahren aus- 836 zusetzen LAG Hamm, v. 14.2.2013 – 16 Sa 1511/12, BB 2013, 1216,

und dem EuGH zusammenfassend die Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob Art. 7 RL 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er Vorgaben entgegensteht, nach denen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ohne Abgeltungsanspruch für nicht genommenen Urlaub untergeht, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endet, und ob – falls ja – eine solche Abgeltung davon abhängt, dass der Betroffene im Vorfeld einen Antrag gestellt hat. b) Wesentliche Überlegungen des EuGH Der EuGH hat die erste Frage bejaht. Ausgangspunkt ist dabei die Feststel- 837 lung, der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub sei „ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union“ und „die Ansprüche auf Jahresurlaub und auf Bezahlung während des Urlaubs [seien nach der Richtlinie 2008/ 33/EG] als zwei Aspekte eines einzigen Anspruches“ zu verstehen. Um zu verhindern, dass einem Arbeitnehmer der – auch finanzielle – Vorteil ganz genommen werde, wenn es ihm infolge von Arbeitsunfähigkeit während des Bezugs- bzw. Übertragungszeitraumes oder nach Beendigung des Arbeitsverhältnis nicht mehr möglich war, tatsächlich bezahlten Urlaub zu erhalten, bestehe nach Art. 7 Abs. 2 RL 2008/33/EG ein Anspruch auf Abgeltung nicht genommenen Urlaubes. Vor dem Hintergrund dieser sozialpolitischen Bedeutung dürfe der EuGH den Anspruch auf Urlaubsabgeltung nicht restriktiv auslegen. Er bestehe deshalb auch dann, wenn der Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses der Tod des Arbeitnehmers sei. Denn Art. 7 Abs. 2 RL 2008/33/EG enthalte neben der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und dem Nichtantritt des gesamten, beanspruchbaren Jahresurlaubes durch den Arbeitnehmer bis zu diesem Zeitpunkt, keine weiteren Voraussetzungen für die Anspruchsentstehung. Aus diesem Grund könne auch ein entsprechender Antrag im Vorfeld keine Voraussetzung für das Bestehen des Anspruches ein. Diese Auslegung sei unerlässlich, um die praktische Wirksamkeit des Anspruches auf bezahlten Jahresurlaub sicherzustellen. Würde nämlich der Urlaubsabgeltungsanspruch mit dem Tod des Arbeitnehmers entfallen, hätte dieser unwägbare, weder vom Arbeitnehmer noch vom Arbeitgeber beherrschbare Umstand den rückwirkenden und vollständigen Verlust des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub i. S. d. Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG zur Folge.

195

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

c) Bewertung und Folgen für die betriebliche Praxis 838 Während das BAG bislang in ständiger Rechtsprechung festgestellt hatte, dass der Anspruch auf Urlaubsabgeltung gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG mit dem Tod des Arbeitnehmer untergeht, BAG, v. 12.3.2013 – 9 AZR 532/11, DB 2013, 1418,

hat der EuGH diese Frage nun genau abweichend beantwortet. Dabei vollzieht der EuGH zunächst ein dogmatisches Kunststück: Denn der Anspruch entsteht nach den Feststellungen des EuGH mit dem Tod – und zwar offenbar zunächst dem Toten, um dann in die Erbmasse zu fallen. 839 Führt man sich vor Augen, dass die Rechtsfähigkeit nach deutschem Recht mit dem Tod endet, ist das nur sehr schwer nachvollziehbar. Die Rechtsfähigkeit wird also – offenbar partiell – aufrechterhalten und zwar zu Gunsten der Erben, denen der entstandene Anspruch allein zugutekommt. 840 Hintergrund hierfür ist, dass der EuGH den Vergütungsaspekt des Urlaubsanspruchs, der eigentlich nur der Absicherung des primären Erholungszwecks dient, vom Erholungszweck entkoppelt und so zu einem Bestandteil des Anspruchs gelangt, der die Unerreichbarkeit des Erholungszwecks im Todesfall ebenso „überlebt“ wie der Anspruch den Anspruchsinhaber. Führt man sich weiter vor Augen, dass eben nicht – wie der EuGH betont – der Arbeitnehmer selbst durch einen Abgeltungsanspruch in den „Genuss des Anspruches auf bezahlten Jahresurlaub, selbst in finanzieller Form“ kommt, sondern allenfalls seine Erben, überzeugt die – erkennbar sozialpolitisch motivierte – Entscheidung nicht. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, was vor allem für kleinere Arbeitgeber erhebliche finanzielle Mehrbelastungen durch infolge Versterbens nach Langzeiterkrankung an Erben zu zahlenden Urlaubsabgeltungsansprüche bedeuten. Praxistipp: Helfen muss hier vor allem die Gestaltungspraxis. Denn bei der Gestaltung von Arbeitsverträgen ist nun erst recht darauf zu achten, auch hinsichtlich des Verfallszeitpunkts und der Übertragbarkeit ausdrücklich zwischen dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindesturlaub und etwaigem vertraglichem Mehrurlaub zu differenzieren. Schließlich unterfällt bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG nur der gesetzliche Urlaubsanspruch dem Fristenregime des BUrlG und muss bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs. 4 BUrlG – nun auch im Falle des Todes des Arbeitnehmers – abgegolten werden.

2. Unbezahlter Sonderurlaub und gesetzlicher Urlaubsanspruch 841 Dass das Urlaubsrecht ebenfalls noch einmal gesetzgeberisch überarbeitet werden sollte, um angesichts der durch den Rechtsprechungswandel des EuGH eingeläuteten und vom BAG adaptierten veränderten Rahmenbedingungen für gesetzliche Urlaubsansprüche angesichts des Urlaubszwecks nicht mehr nachvollziehbare Ergebnisse zu vermeiden, macht indes nicht nur die vorste-

196

VIII. Urlaubsrecht

hend wiedergegebene Rechtsprechung des EuGH, sondern auch ein – dogmatisch zutreffend begründetes – Urteil des BAG vom 6.5.2014 – 9 AZR 678/12, NZA 2014, 959

deutlich. a) Sachverhalt In dem entschiedenen Fall war die Klägerin bei der beklagten Universitäts- 842 klinik seit August 2002 als Krankenschwester beschäftigt. Vom 1.1.2011 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Ablauf des 30.9.2011 befand sie sich in einem unbezahlten Sonderurlaub und verlangte danach – bis zur Inanspruchnahme der Gerichte – erfolglos von der Beklagten die Abgeltung von 15 Urlaubstagen aus dem Jahr 2011. Das ArbG hat die Klage noch abgewiesen, das LAG ihr aber stattgegeben und das BAG die Revision zurückgewiesen. b) Wesentliche Überlegungen des BAG aa) Wortlaut und Systematik des BurlG Zur Begründung seiner – dogmatisch überzeugenden – Entscheidung weist 843 das BAG zunächst darauf hin, dass § 1 BUrlG, nach dem jeder Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub hat, weder eine Ausnahmeregelung für den Fall des Ruhens des Arbeitsverhältnisses enthält, noch § 2 Satz 1 BUrlG Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis kraft Abrede der Arbeitsvertragsparteien oder aufgrund tariflicher Anordnung ruht, vom Geltungsbereich des Bundesurlaubsgesetzes ausnimmt. Vgl. BAG, v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, BAGE 142, 371, dazu EWiR 2013, 45 (Köhler).

Dieses aus dem Wortlaut des § 1 BurlG gefolgerte Ergebnis sichert das BAG 844 dann systematisch wie folgt ab: Auch § 5 BUrlG sehe keine Quotelung des Urlaubsanspruchs für Zeiten eines Kalenderjahres vor, in denen das Arbeitsverhältnis ruht. Ferner sei der Gesetzgeber in § 17 BEEG und § 4 ArbPlSchG davon ausgegangen, dass im ruhenden Arbeitsverhältnis Urlaubsansprüche entstehen. Dies zeigten die in diesen Vorschriften geregelten Kürzungsbefugnisse des Arbeitgebers. Vgl. für die Elternzeit: BAG, v. 17.5.2011 – 9 AZR 197/10, BAGE 138, 58; a. A. Powietzka/Christ, NZA 2013, 18, 21 f.

Denn nur ein entstandener Urlaubsanspruch könne gekürzt werden.

845

So schon BAG, v. 30.7.1986 – 8 AZR 475/84, BAGE 52, 305.

bb) Keine Qualifikation als Teilzeitarbeitsverhältnis „Null“ Die Ansicht der Revision, ein ruhendes Arbeitsverhältnis stehe einem Teil- 846 zeitarbeitsverhältnis mit einer Arbeitspflicht an „null Tagen“ in der Woche 197

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

gleich, sodass nach der bei Teilzeitbeschäftigungen üblichen Umrechnungsformel der Urlaubsanspruch „null Tage“ betrage, lehnt das BAG mit folgender Begründung ab: Vgl. bereits BAG, v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, BAGE 142, 371; Höpfner, Anm. AP BUrlG § 7 Nr. 61.

847 Vereinbarten die Arbeitsvertragsparteien das Ruhen des Arbeitsverhältnisses und damit die Suspendierung der wechselseitigen Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis, begründeten sie gerade kein Teilzeitarbeitsverhältnis i. S. v. § 2 Abs. 1 TzBfG. Denn der Arbeitnehmer sei in einem solchen Fall nicht mit einer Wochenarbeitszeit beschäftigt, die kürzer sei als die eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers. Im ruhenden Arbeitsverhältnis werde der Arbeitnehmer vielmehr gar nicht beschäftigt. 848 Ebenso wie beim bezahlten Erholungsurlaub sei der Arbeitnehmer für die Zeit des Sonderurlaubs von seiner Arbeitspflicht befreit. Im Unterschied zum Erholungsurlaub entfalle in aller Regel der Vergütungsanspruch. Eine Befreiung von der Arbeitspflicht setze aber begrifflich voraus, dass die Arbeitspflicht „an sich“ fortbesteht. Sie müsse vom Arbeitnehmer allerdings wegen der Freistellung von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung nicht erfüllt werden. 849 Würde eine Sonderurlaubsabrede als Vereinbarung einer Arbeitszeit „Null“ verstanden, würde die Arbeitspflicht aufgehoben. Das ist etwas anderes, als die Freistellung von einer grundsätzlich weiter bestehenden vertraglichen Arbeitspflicht. BAG, v. 1.10.2002 – 9 AZR 278/02, BAGE 103, 54; vgl. zur Elternzeit auch BAG, v. 19.4.2005 – 9 AZR 233/04, BAGE 114, 206, dazu EWiR 2006, 37 (Bartz/Schelling).

850 Dass der Arbeitgeber mit der Gewährung von Sonderurlaub ggf. nur einem Wunsch des Arbeitnehmers nachkommt, spielt für das BAG aus zwei Gründen keine Rolle: In diese Richtung auch Boecken/Jacobsen, ZTR 2011, 267, 270 f.; a. A. Picker, ZTR 2009, 230, 237; diff. Höpfner, Anm. AP BUrlG § 7 Nr. 61.

851 Zunächst einmal seien sowohl der Umfang des Mindesturlaubsanspruchs als auch die Definition des Geltungsbereichs des BUrlG gemäß § 13 Abs. 1 BUrlG der Disposition der Arbeitsvertragsparteien entzogen. Vgl. bereits BAG, v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, BAGE 142, 371.

852 Dieses Argument sichert das BAG teleologisch durch den Hinweis darauf ab, dass angesichts der im Arbeitsverhältnis typischerweise bestehenden strukturellen Ungleichgewichtslage ansonsten die Gefahr bestünde, dass der Arbeitnehmer letztlich „unfreiwillig“ auf seine Urlaubsansprüche verzichten könnte.

198

VIII. Urlaubsrecht

cc) Keine einschränkende verfassungskonforme Auslegung Entgegen einer in Teilen der Literatur vertretenen Auffassung

853

vgl. Plüm, NZA 2013, 11, 17,

gebietet schließlich auch Art. 12 GG nach der Rechtsprechung des BAG keine einschränkende Auslegung der §§ 1, 2, 3 Abs. 1 BUrlG in den Fällen des Ruhens des Arbeitsverhältnisses bei unbezahltem Sonderurlaub. Insoweit weißt das BAG zutreffend darauf hin, dass der Arbeitgeber schließ- 854 lich gesetzlich nicht verpflichtet sei, dem Arbeitnehmer unbezahlten Sonderurlaub zu gewähren. Gebe er dem Antrag des Arbeitnehmers auf Sonderurlaub statt, erfolge dies regelmäßig nach Abwägung der wechselseitigen Interessen. Er müsse den Arbeitnehmer im fraglichen Zeitraum entbehren können und sich zugleich bewusst sein, dass im ruhenden Arbeitsverhältnis Nebenpflichten weiter bestehen. Vor den Folgen einer solchen unternehmerischen Entscheidung schütze Art. 12 GG den Unternehmer nicht c) Bedeutung für die betriebliche Praxis Die Entscheidung dürfte dogmatisch zutreffen, weil sie der Rechtsprechung 855 des EuGH EuGH, v. 20.1.2009 – C-350/06 und C-520/06, C-350/06, C-520/06, NZA 2009, 135 – Schultz-Hoff

entspricht. Ebenso Bauer, ArbRAktuell 2014, 283; Seel, öAT 2014, 186.

Danach entsteht der Mindesturlaubsanspruch der RL 2003/88/EG auch dann, 856 wenn der Arbeitnehmer nicht arbeitet. Vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung im Überblick auch Mückl, 1. Aufl., Rn. 407 ff.

Für die – mit der Begründung dieser Rechtsprechung durch EuGH und BAG 857 – nicht vertraute betriebliche Praxis wird das Ergebnis dennoch überraschend wirken. Es entfernt sich aus laienhafter Sicht stark vom Zweck des BUrlG: einen Mindesturlaub zu Erholungszwecken zu gewährleisten. Da, wer Sonderurlaub hat und nicht arbeitet, sich auch nicht von entsprechender Arbeit erholen muss, lässt sich dieses Ergebnis praktisch nur noch dann nachvollziehen, wenn man dem Urlaubsanspruch – in Übereinstimmung mit der unter Rn. 834 ff. dargestellten Rechtsprechung des EuGH – vor allem vermögensrechtlich begreift. Von Arbeitszeit und Erholung wird er dadurch allerdings so stark entkoppelt, dass die betriebliche Praxis wohl brauchen wird, bis dieser Zusammenhang realisiert ist. Arbeitgeber, die Arbeitnehmern unbedingt eine Arbeitsbefreiung gewähren, 858 aber nicht zur Vergütung verpflichtet sein wollen, wird man nur empfehlen

199

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

können, eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit stichtagsgenauer Wiedereinstellungszusage zu vereinbaren. Vgl. Bauer, ArbRAktuell 2014, 283; Seel, öAT 2014, 186. Praxistipp: Nicht empfehlen können wird man – entgegen Seel, öAT 2014, 186 – eine Gewährung von Sonderurlaub unter Anrechnung auf den Urlaubsanspruch. Das ist nicht nur deshalb nicht sinnvoll, weil Urlaub bezahlt ist und Sonderurlaub nicht. Hinzu kommt, dass § 13 BurlG dieser Gestaltung – gerade mit Blick auf die Verpflichtung zu bezahltem Urlaub – zwingend entgegenstehen dürfte.

IX. Betriebliche Altersversorgung 859 Im Rahmen einer Restrukturierung oder eines Unternehmenskaufs ist die Behandlung der betrieblichen Altersversorgung häufig einer der finanziell wichtigsten und manchmal auch kritischsten Punkte. Das folgt einerseits aus ihrem quantitativen Volumen. Denn Pensionsrückstellungen sind häufig ein äußerst bedeutender Posten auf der Passivseite der Bilanz. Zum anderen ergibt sich dies aus dem Umstand, dass es sich um äußerst langfristige Verpflichtungen des Unternehmens handelt, die nur unter engen Voraussetzungen einseitig vom Unternehmen verändert werden können. 860 Der Inhalt der Versorgungsverpflichtung des Arbeitgebers bzw. des Versorgungsrechtes des Arbeitnehmers (und ggf. seiner Hinterbliebenen) wird in der Versorgungszusage (Versorgungsordnung, Pensionsplan, Pensionszusage, Leistungsplan etc.) festgelegt. Geregelt werden u. a.: x

die Leistungsarten (Alters- auch Invaliditäts- und/oder Hinterbliebenenleistungen),

x

Auszahlungsform (Rente, Kapital, Ratenzahlung etc.),

x

die Höhe der Leistungen und die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen (z. B. Wartezeiten),

x

besondere Leistungsvoraussetzungen für einzelne Leistungsarten (z. B. der Zeitpunkt, bis zu dem eine Verheiratung erfolgt sein muss),

x

das normale Pensionierungsalter,

x

Zeitpunkt und Höhe der Leistungen bei einem vorzeitigen Ausscheiden etc. sowie

x

Abschläge bei vorzeitigem Bezug.

200

IX. Betriebliche Altersversorgung

1. Kürzung bei vorgezogene Inanspruchnahme von Betriebsrente/ Keine Korrektur des sog. „BBG-Sprungs“ Zu dem vorstehend letztgenannten Aspekt, der Gestaltung von Abschlägen 861 bei vorzeitigem Rentenbezug, hat das BAG in seinem Urteil vom 15.4.2014 – 3 AZR 435/12, n. v.,

wichtige Klarstellungen getroffen, die in der betrieblichen Praxis – wie das Urteil deutlich macht – nicht nur bei der Gestaltung von Versorgungszusagen in Arbeitsverträgen, sondern auch dann beachtet werden müssen, wenn eine Regelung zu Abschlägen in einem Aufhebungsvertrag geregelt wird. Praxistipp: Dies wird insbesondere dann ein wirtschaftlich erheblicher Faktor, wenn Massenentlassungen mithilfe von Aufhebungsverträgen bewirkt werden sollen.

a) Sachverhalt des BAG In dem entschiedenen Fall war der 1945 geborene Kläger seit 1962 bei der 862 Beklagten beschäftigt. Sein Arbeitsvertrag enthielt eine Pensionszusage mit sog. gespaltener Rentenformel, vgl. zu dieser Gestaltung z. B. ErfK/Steinmeyer, BetrAVG § 1 Rn. 3; Blomeyer/Rolfs/Otto/Rolfs, BetrAVG, Anh zu § 1 Rn. 224a ff.

wonach sich die Höhe der monatlichen Rente für jedes Dienstjahr aus 0,3 % des Gehalts bis zur und 1,5 % des Gehalts über der bei Renteneintritt maßgeblichen Beitragsbemessungsgrenze (BBG) errechnete. Im Jahr 2001 schied der Kläger auf der Grundlage eines Aufhebungsvertrags vorzeitig aus dem Arbeitsverhältnis aus. Der Aufhebungsvertrag sah u. a. vor: „8. Ab 1.10.2008 erhält Herr B Bankpension gemäß § 7 des Anstellungsvertrages vom 1.10.1983. Als Berechnungsgrundlage für die Anfangspension gemäß § 7.4 wird ein Bruttomonatsgehalt von DM 19.300 festgesetzt. Als anrechnungsfähige Dienstzeit gemäß § 7.5 gilt die Zeit bis zum 30.9.2008. Auf die sich aus § 7.9 ergebende Kürzung wegen vorgezogener Inanspruchnahme vor dem Alter 65 wird verzichtet. Herr B verpflichtet sich, vorgezogenes Altersruhegeld aus der Angestelltenversicherung und Ruhegeld vom BVV rechtzeitig zum 1.10.2008 zu beantragen. Die vollständigen Rentenbescheide sind der Bank umgehend vorzulegen. Vorgezogenes Altersruhegeld aus der Angestelltenversicherung und Ruhegeld vom BVV werden bis zum 65. Lebensjahr fiktiv angerechnet, wenn Herr B Ansprüche auf diese Leistungen wegen anderweitiger Einkünfte (Überschreiten der Grenze zulässigen Einkommens) nicht geltend machen kann. Die Anpassung der Pension erfolgt gemäß § 10 des Anstellungsvertrages vom 1.10.1983. 9. Der Eintritt des Rentenfalles vor dem 1.10.2008 (vorgezogenes Ruhegeld, Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeitsrente), löst keinen Anspruch nach § 7 des Anstellungsvertrages vom 1.10.1983 aus, sondern lediglich nach den gesetzlichen Bestimmungen.“

201

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

863 Zum 1.1.2003 wurde die BBG gemäß § 275c SGB VI außerplanmäßig von EUR 4.600 auf EUR 5.100 angehoben (sog. „BBG-Sprung“). Bei der Berechnung der Betriebsrente im Jahre 2008 glich die Beklagte diesen BBG-Sprung nicht aus und kürzte die Betriebsrente zeitratierlich wegen vorzeitigen Ausscheidens des Klägers. Der Kläger beantragte daraufhin, die Betriebsrente ohne Berücksichtigung des BBG-Sprungs sowie ohne Kürzung zu ermitteln. b) Wesentliche Überlegungen des BAG 864 Während die Vorinstanzen der Klage vollumfänglich stattgaben, hatte die Revision der Beklagten teilweise Erfolg. Die Beklagte sei zwar nicht berechtigt gewesen, die Betriebsrente zeitratierlich zu kürzen, habe aber die bei der Berechnung der Pension maßgebliche BBG ohne Berücksichtigung der außerplanmäßigen Erhöhung im Jahr 2003 zugrunde legen dürfen. aa) Allgemeine Grundsätze für die Kürzung von Betriebsrentenansprüchen bei vorzeitiger Inanspruchnahme 865 Dabei bestätigt das BAG zunächst noch einmal seine Rechtsprechung, nach welcher der Versorgungsschuldner nach den allgemeinen Grundsätzen des Betriebsrentenrechts berechtigt sein kann, die Betriebsrente bei deren vorgezogener Inanspruchnahme nach vorzeitigem Ausscheiden zeitratierlich zu kürzen. (1) Störung des Äquivalenzverhältnisses 866 Hintergrund für diese Kürzungsberechtigung ist der Umstand, dass bei vorgezogener Inanspruchnahme der Betriebsrente stets zweifach in das Äquivalenzverhältnis zwischen der zugesagten Versorgungsleistung und der vom Arbeitnehmer zu erbringenden Gegenleistung eingegriffen wird. Ob der Arbeitnehmer bis zur vorgezogenen Inanspruchnahme betriebstreu war oder nicht, spielt nach der Bewertung des BAG insoweit keine Rolle. x

Zum einen wird in das Gegenseitigkeitsverhältnis, das der Berechnung der Vollrente zugrunde liegt, dadurch eingegriffen, dass der Arbeitnehmer die Betriebszugehörigkeit bis zu der in der Versorgungsordnung vorgesehenen festen Altersgrenze nicht vollständig erbracht hat.

x

Zum anderen erfolgt eine Verschiebung des in der Versorgungszusage festgelegten Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung dadurch, dass der Arbeitnehmer die Betriebsrente mit höherer Wahrscheinlichkeit früher und länger als mit der Versorgungszusage versprochen in Anspruch nimmt. Vgl. bereits BAG, v. 25.6.2013 – 3 AZR 219/11, ZIP 2013, 2373; BAG, v. 19.6.2012 – 3 AZR 289/10, BB 2012, 2828 (LS); BAG, v. 15.11.2011 – 3 AZR 778/09, AP Nr. 25 zu § 1 BetrAVG Auslegung (LS).

202

IX. Betriebliche Altersversorgung

(2) Ausgleichsmechanismen Der ersten Störung im Äquivalenzverhältnis kann nach der Rechtsprechung 867 des BAG dadurch Rechnung getragen werden, dass entsprechend § 2 Abs. 1 und Abs. 5 BetrAVG eine Quotierung vorgenommen wird, indem die fiktive Vollrente zeitratierlich entsprechend dem Verhältnis der tatsächlichen zu der möglichen Betriebszugehörigkeit bis zum Erreichen der in § 2 Abs. 1 BetrAVG bestimmten Altersgrenze bzw. bis zu der in der Versorgungsordnung ggf. vorgesehenen niedrigeren festen Altersgrenze gekürzt wird. In seinem Urteil vom 10.12.2013

868

– 3 AZR 832/11, NZA-RR 2014, 375,

hat das BAG in diesem Zusammenhang klargestellt, dass allein die aufsteigende Berechnung der Betriebsrente in einer Versorgungsordnung für den Fall der dort geregelten Inanspruchnahme nicht bedeute, dass diese Berechnung auch im Fall der vorgezogenen Inanspruchnahme gelte. Vielmehr seien die Grundsätze des Betriebsrentenrechts anwendbar. Danach sei die Rente in einem ersten Schritt wegen des vorzeitigen Ausscheidens aus dem Arbeitsverhältnis gemäß § 2 Abs. 1, Abs. 5 BetrAVG ratierlich zu kürzen. Dazu sei die fiktive Vollrente mit Alter 65 zu berechnen. Bei der Anrechnung der gesetzlichen Rente gemäß einer in der Versorgungsordnung vorgesehenen sog. „Gesamtversorgung“, vgl. dazu unten unter Rn. 879 ff,

sei auf die fiktiv auf die feste Altersgrenze von 65 Jahren hochgerechnete gesetzliche Rente abzustellen. Gemäß der Veränderungssperre in § 2 Abs. 5 BetrAVG sei dabei das letzte Monatsgehalt vor dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis maßgeblich. Die sich daraus ergebende Vollrente sei dann ebenfalls zeitratierlich zu kürzen. Praxistipp: Unklar ist das Verhältnis dieser Feststellungen zu der vorhergehenden Rechtsprechung des BAG in der es angenommen hatte, dass stattdessen auf einen Durchschnittswert abzustellen ist, wenn das letzte Monatsgehalt – z. B. wegen Jahressonderleistungen – nicht typisch ist (BAG, v. 21.3.2006 – 3 AZR 374/05, NZA 2006, 1220).

Die zweite Störung im Äquivalenzverhältnis kann nach der Bewertung des 869 BAG entsprechend den Wertungen in der Versorgungsordnung berücksichtigt werden: x

Wenn und soweit diesem Gesichtspunkt in der Versorgungsordnung Rechnung getragen wird, z. B. indem ein versicherungsmathematischer Abschlag vorgesehen ist, verbleibt es dabei.

x

Für den Fall, dass die Versorgungsordnung keine Wertung enthält, hat das BAG als Auffangregelung einen sog. „untechnischen versicherungs-

203

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

mathematischen Abschlag“ entwickelt. Dieser erfolgt durch eine weitere zeitratierliche Kürzung. Dabei ist die Zeit vom Beginn der Betriebszugehörigkeit bis zur vorgezogenen Inanspruchnahme der Betriebsrente ins Verhältnis zu setzen zur möglichen Betriebszugehörigkeit bis zu der in § 2 Abs. 1 BetrAVG bestimmten Altersgrenze bzw. bis zu der in der Versorgungsordnung ggf. vorgesehenen niedrigeren festen Altersgrenze. Vgl. BAG, v. 25.6.2013 – 3 AZR 219/11, ZIP 2013, 2373; BAG, v. 19.6.2012 – 3 AZR 289/10, BB 2012, 2828 (LS); BAG, v. 15.11.2011 – 3 AZR 778/09, AP Nr. 25 zu § 1 BetrAVG Auslegung (LS). Praxistipp: Wenn die Kürzungsmöglichkeit zunächst nicht realisiert wird, muss dies nicht bedeuten, dass sie ausscheidet. In seinem Urteil vom 10.12.2013 (3 AZR 832/11, NZA-RR 2014, 375) hat das BAG nämlich auch klargestellt, dass die anfängliche Zahlung einer erhöhten Rente keine betriebliche Übung begründe; das erfordere vielmehr, dass der Arbeitgeber aus Sicht der Versorgungsberechtigten eine bewusst überobligatorische Leistung erbringen will. Das sei bei zunächst erfolgten (unbewusst) zu hohen Zahlungen nicht der Fall.

bb) Unanwendbarkeit bei spezifischer vertraglicher Regelung 870 Wie bereits die vorstehende – vom BAG im Wege der Auslegung von Versorgungszusagen entwickelte – Differenzierung zwischen Zusagen mit und ohne immanente Wertung deutlich macht, hängt die Anwendbarkeit dieser Grundsätze letztlich von der Ausgestaltung der konkreten Versorgungszusage ab. 871 Eine Anwendung dieser allgemeinen Grundsätze des Betriebsrentenrechts kommt dementsprechend – wie das BAG noch einmal explizit klarstellt – BAG, v. 15.4.2014 – 3 AZR 435/12, n. v.

nur in Betracht, wenn die Versorgungszusage keine Regelung zur Berechnung der Betriebsrente bei deren vorgezogener Inanspruchnahme nach vorzeitigem Ausscheiden enthält. Regele die Versorgungszusage die Höhe der Betriebsrente für diesen Fall selbst, sei – so das BAG weiter – für die Anwendung allgemeiner betriebsrentenrechtlicher Grundsätze kein Raum. Vgl. bereits BAG, v. 10.12.2013 – 3 AZR 726/11, NZA-RR 2014, 654; BAG, v. 10.12.2013 – 3 AZR 832/11, NZA-RR 2014, 375.

cc) Vorliegen einer abschließenden Regelung aller erforderlichen Berechnungsfaktoren 872 So lag es im entschiedenen Fall nach der Bewertung deshalb, weil die Parteien sich im Aufhebungsvertrag unter Ziff. 8 darauf verständigt hatten, dass der Kläger ab dem 1.10.2008 die Bankpension nach Ziff. 7 seines Arbeitsvertrags

204

IX. Betriebliche Altersversorgung

vom 1.10.1983 erhält und dass als anrechnungsfähige Dienstzeit nach Ziff. 7.5 des Anstellungsvertrages die Zeit bis zum 30.9.2008 gilt. Daraus dürfe – so das BAG – geschlossen werden, dass der Kläger erkennbar 873 so gestellt werden solle, als wäre er nicht vorzeitig, sondern erst mit Eintritt des in Ziff. 7.1 des Arbeitsvertrags bestimmten Versorgungsfalls der vorgezogenen Inanspruchnahme der Betriebsrente bei gleichzeitiger Inanspruchnahme von Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden. Hinzu kamen im entschiedenen Fall der in Ziff. 8 Abs. 1 des Aufhebungsver- 874 trags erklärte Verzicht auf eine arbeitsvertraglich vorbehaltene Kürzungsmöglichkeit sowie die Einigung der Parteien auf ein Bruttomonatsgehalt von DM 19.300,00 (= EUR 9.867,93) als Berechnungsgrundlage für die „Anfangspension“ gemäß Ziff. 7.4 des Arbeitsvertrags. Damit standen – so das BAG – alle für die Berechnung der Bankpension des 875 Klägers zum 1.10.2008 erforderlichen Berechnungsfaktoren fest. Hieraus habe der Kläger nur den Schluss ziehen können, dass ihm bei Eintritt des Versorgungsfalls am 1.10.2008 eine nach diesen Berechnungsregeln ermittelte Betriebsrente zustehen solle. Dies stehe einer zeitanteiligen Kürzung der Betriebsrente nach allgemeinen betriebsrentenrechtlichen Grundsätzen entgegen. Praxistipp: Die Entscheidung macht daher noch einmal deutlich, dass bei der Gestaltung von Aufhebungsverträgen darauf geachtet werden muss, dass die von der Rechtsprechung anerkannten Kürzungsregelungen jedenfalls nicht abgeschnitten werden. Idealerweise sollten die gewünschten Kürzungen bei vorzeitiger Inanspruchnahme explizit geregelt werden. Sofern eine Regelung getroffen wird, muss aber jedenfalls darauf geachtet werden, anerkannte Kürzungsmöglichkeiten nicht zu beschneiden. Vielmehr sollte die Rechtsprechung des BAG abgebildet werden, sodass in der Klausel zunächst eine Quotierung vorgenommen werden sollte, indem die fiktive Vollrente zeitratierlich entsprechend dem Verhältnis der tatsächlichen zu der möglichen Betriebszugehörigkeit bis zum Erreichen der in § 2 Abs. 1 BetrAVG bestimmten Altersgrenze bzw. bis zu der in der Versorgungsordnung ggf. vorgesehenen niedrigeren festen Altersgrenze gekürzt wird. Darüber hinaus sollte z. B. ein versicherungsmathematischer Abschlag vorgesehen werden.

dd) Keine Korrektur des sog. BBG-Sprungs Eine weitere Konkretisierung seiner Rechtsprechung nimmt das BAG dann 876 in Bezug auf die Grenzen einer Korrektur des sog. BBG-Sprungs vor. Die Pensionszusage sei zunächst einmal nicht dahingehend auszulegen, dass 877 außerplanmäßige Erhöhungen der BBG nicht zu berücksichtigen seien. Es könne dahinstehen, ob die Zusage wegen des BBG-Sprungs lückenhaft geworden sei. Für eine ergänzende Vertragsauslegung sei jedenfalls kein Raum. Aufgrund mehrerer gleichwertiger Möglichkeiten zur Lückenschließung be-

205

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

stünden nämlich keine hinreichenden Anhaltspunkte für den hypothetischen Parteiwillen. Praxistipp: Der 3. Senat hatte bis zum Jahr 2013 eine ergänzende Vertragsauslegung aufgrund der außerplanmäßigen Erhöhung der BBG für geboten gehalten. Seit seinen Urteilen vom 23.4.2013 (3 AZR 512/11 AP Nr. 40 zu § 1 BetrAVG Auslegung [LS]) und vom 18.3.2014 (3 AZR 952/11, NZA 2014, 843) wendet er stattdessen die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) an.

878 Auch nach § 313 BGB könne der Kläger nicht verlangen, dass die Anhebung der BBG bei Berechnung der Betriebsrente unberücksichtigt bleibe. Denn die bei ihm eintretende Renteneinbuße von 7,1 % sei nicht so schwerwiegend, dass ihm ein Festhalten am unveränderten Vertrag unzumutbar sei. Praxistipp: Nachdem das BAG diese Grundsätze bereits auf Betriebsvereinbarungen, Tarifverträge, Gesamtzusagen und Sprecherausschussvereinbarungen angewendet hatte, ist nun – nicht unbedingt überraschend – klar, dass arbeitsvertragliche Einheitsregelungen ebenfalls keine ergänzende Vertragsauslegung in Betracht kommt. Nach wie vor offen ist die für die betriebliche Praxis wichtige Frage, bei welcher Renteneinbuße die „Opfergrenze“ erreicht ist, die zum Eingreifen von § 313 BGB führt. Die Entscheidung bestätigt allerdings noch einmal, dass dies bei einer Renteneinbuße von unter 10 % nicht der Fall ist. Eine Präzisierung der insoweit maßgeblichen Kriterien nimmt der Senat zudem insoweit vor, als der Kläger seit dem BBG-Sprung keine Beträge zur gesetzlichen Rentenversicherung mehr geleistet hatte. Er hatte also von der Beitragserhöhung nicht durch eine erhöhte Rente profitiert, ohne dass das BAG dies bei der Prüfung der Störung der Geschäftsgrundlage berücksichtigt hätte.

2. Begrenzung einer Betriebsrente durch eine Gesamtversorgungsregelung 879 Möglich – und früher häufiger genutzt, heute aber nicht zu empfehlen – sind Versorgungszusagen in Form einer sog. Gesamtversorgungszusage. Kennzeichnend für sie ist die Zusage einer bestimmten Gesamtversorgung unter Anrechnung der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung und ggf. anderer Zusatzversorgungen. Dabei wird die Zusage regelmäßig limitiert auf einen bestimmten Prozentsatz des zuletzt bezogenen Brutto- oder Nettoeinkommens.

206

IX. Betriebliche Altersversorgung Praxistipp: Solche Zusagen erfolgen wegen ihrer unkalkulierbaren Finanzierungsrisiken nur noch selten. Die betriebliche Praxis kämpft vor allem mit „Altlasten“. Denn Gesamtversorgungszusagen haben die folgenden – aus Unternehmenssicht – nachteiligen Effekte: Bei sinkenden Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung steigt die vom Arbeitgeber zu schließende Versorgungslücke. Verstärkt wird dieser Effekt, wenn sich die Höhe des Gesamtversorgungsgrads auch noch nach dem letzten Bruttoeinkommen richtet. Die sich ergebenden Versorgungsbezüge können je nach Steuer- und Abgabenbelastung der Aktivenbezüge netto höher sein als das zuletzt bezogene Aktiven-Nettoeinkommen. Zudem erhalten Bezieher niedriger Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung eine höhere Betriebsrente als Bezieher höherer Renten. Dies benachteiligt vor allem Arbeitnehmer mit langjähriger Berufstätigkeit und Einkünften in der Nähe der Beitragsbemessungsgrenze. Gesamtversorgungszusagen widersprechen daher dem Leistungsprinzip und sollten daher heute nicht mehr vereinbart werden.

Das BAG hat indes in seinem Urteil vom 18.2.2014

880

– 3 AZR 833/12, NZA 2014, 1217

deutlich gemacht, dass es die in einer Versorgungsregelung vorgesehene Begrenzung der mit der Betriebsrente und der Sozialversicherungsrente erzielten Gesamtversorgung auf einen bestimmten Höchstsatz des versorgungsfähigen Einkommens für zulässig und wirksam hält. Insbesondere führe dies nicht zu einer unzulässigen Diskriminierung wegen des Alters i. S. d. §§ 1, 3 Abs. 1 und 2, 7 AGG. a) Sachverhalt Im entschiedenen Fall stritten die Parteien darüber, wie ein für die Bemessung 881 der dem Kläger zugesagten Leistungen der betrieblichen Altersversorgung maßgebender Rentenfestbetrag – sog. garantierte Rente – zu ermitteln ist. Die entsprechende Versorgungszusage war in Form einer dynamischen Bezugnahme auf einen Tarifvertrag enthalten, der diverse Veränderungen, zuletzt durch Tarifverträge von 1999 und 2005, erfuhr. Dabei sieht der für den Kläger kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme maßgebliche Tarifvertrag vor, dass die Altersbezüge aus dem betrieblichen Ruhegeld und unter Einschluss der gesetzlichen Rentenansprüche zusammengerechnet nicht mehr als 86 % des versorgungsfähigen Einkommens bilden sollen. Der Kläger hatte die Auffassung vertreten, dass tariflich definierte Freibeträge bei der Sozialversicherungsrente nicht nur bei der Anrechnung der gesetzlichen Rente auf das Ruhegeld, sondern auch bei der Prüfung, ob die tarifliche Höchstgrenze für die Versorgungsleistung der Beklagten überschritten ist, zu berücksichtigen seien. Seine Klage blieb in allen Instanzen erfolglos. b) Wesentliche Überlegungen des BAG Ausgangspunkt der Überlegungen des BAG ist insoweit, dass es nach § 5 882 Abs. 2 Satz 2 BetrAVG u. a. zulässig ist, Leistungen der betrieblichen Alters207

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

versorgung zu kürzen, soweit Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen, die auf Pflichtbeiträgen beruhen, die Kürzung bewirken. Diesen Rahmen hätten die Tarifvertragsparteien durch die Nichtanrechnung der tariflich definierten Freibeträge nicht ausgeschöpft. 883 Es widerspreche aber – trotz dieser Entscheidung der Tarifparteien hinsichtlich der Anrechnung auf das zugesagte Ruhegeld – der tariflichen Festlegung des maximalen Versorgungsniveaus (Höchstgrenze der Versorgungsleistung), wenn bei der Prüfung, ob die Gesamtversorgungsobergrenze eingehalten ist, die anrechnungsfreien Anteile der Sozialversicherungsrente unberücksichtigt blieben. Denn anderenfalls würde das Ziel, die Gesamtversorgungsobergrenze sicherzustellen, konterkariert. 884 Ob Personen eines bestimmten Alters von der dem Anschein nach neutralen Berechnungsregel des Tarifvertrags in besonderer Weise benachteiligt werden können, kann nach der Bewertung des BAG dahinstehen. Selbst wenn hiervon zugunsten des Klägers auszugehen sein sollte, läge – so das BAG – deshalb keine unzulässige mittelbare Benachteiligung wegen des Alters vor, weil die Regelung durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind angemessen und erforderlich sein. Dies schließe den Tatbestand der mittelbaren Diskriminierung nach § 3 Abs. 2 AGG aus. 885 Diese Bewertung stehe auch im Einklang mit höherrangigem Recht. Denn die insoweit anwendbare Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (RL 2000/78/EG) sehe in Art. 6 Abs. 1 zwar nur vor, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters gerechtfertigt sind, wenn dafür rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung verfolgt werden. Das schließt nach der Bewertung des BAG aber auch die Verwendung anderer von der Rechtsordnung anerkannter Gründe ein. 886 Ein solches i. d. S. legitimes Ziel sei die Begrenzung des Risikos des Arbeitgebers, die von ihm zu erbringenden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung überschaubar und kalkulierbar zu halten. Die Gesamtversorgung auf einem bestimmten Höchstsatz des versorgungsfähigen Einkommens zu begrenzen, sei insgesamt ein angemessenes Mittel, um die Leistungen hinreichend sicher kalkulieren zu können. c) Bedeutung für die betriebliche Praxis 887 Für die betriebliche Praxis ist die Entscheidung wichtig, weil sie hilft, die ohnehin häufig schwierig kalkulierbaren Gesamtversorgungszusagen kalkulierbarer zu machen. Sie verhindert insofern ungeplante Belastungen. 888 Ob dieses klar unternehmerisch-wirtschaftliche Interesse gleichwertig mit den in Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG angesprochenen Zielen aus den Berei-

208

IX. Betriebliche Altersversorgung

chen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und Berufliche Bildung dürfte allerdings trotz der entsprechenden ständigen Rechtsprechung des BAG erst durch den EuGH geklärt werden. 3. Unwirksamkeit einer Höchstaltersgrenze in einer Versorgungsordnung Lässt man eine Entgeltumwandlung nach § 1a BetrAVG einmal unberück- 889 sichtigt, handelt es sich bei einer – dann arbeitgeberfinanzierten – betrieblichen Altersversorgung um eine freiwillige Sozialleistung. Völlig zu Recht belässt das BAG Unternehmen daher bislang bei der Zusage derartiger Leistungen zwar einen weiten Gestaltungsspielraum, versucht aber gleichzeitig, kalkulierbare Grenzen zu setzen. Diese Grenzen hat das BAG in seinem Urteil vom 18.3.2014 – 3 AZR 69/12, ZIP 2014, 1041,

nun dahin präzisiert, dass eine Bestimmung in einer Versorgungsordnung, nach der ein Anspruch auf betriebliche Altersrente nicht besteht, wenn der Mitarbeiter bei Erfüllung einer vorgesehenen zehnjährigen Wartezeit das 55. Lebensjahr vollendet hat, gegen das Verbot der Altersdiskriminierung verstößt und deshalb unwirksam ist. a) Sachverhalt Im entschiedenen Fall war die im Juni 1945 geborene Klägerin seit dem 890 1.11.1981 bei der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängerin beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete mit Ablauf des 30.6.2010. Die Beklagte sagte ihren Mitarbeitern im Jahr 1991 Leistungen der betrieblichen Altersversorgung nach einer Versorgungsordnung (VO) der Beklagten zu. Die VO sieht nach Vollendung des 65. Lebensjahrs die Gewährung einer Altersrente vor. § 2 VO legt den Kreis der Versorgungsberechtigten wie folgt fest: „(1) Von der Versorgungsordnung werden alle fest angestellten Mitarbeiter – mit Ausnahme der Vorstandsmitglieder und der geringfügig Teilzeitbeschäftigten i. S. d. § 8 SGB IV sowie ausgeschiedene Mitarbeiter im Vorruhestand – der Bank erfasst, die a) das 20. Lebensjahr vollendet und b) eine mindestens 10-jährige anrechnungsfähige Dienstzeit (Wartezeit) nach Maßgabe des § 3 nachweisen können … sowie c) zum Zeitpunkt der Erfüllung der Wartezeit das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. […]“.

Die auf Gewährung einer Altersrente nach der VO gerichtete Klage hatte 891 beim ArbG keinen Erfolg; das LAG Baden-Württemberg gab ihr statt. b) Wesentliche Überlegungen des BAG Die wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassene Revision der 892 Beklagten blieb vor dem 3. Senat des BAG erfolglos. Dem Anspruch stehe – 209

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

so der 3. Senat – die § 2 Abs. 1 lit. c) VO, wonach der Mitarbeiter bei Erfüllung der Wartezeit das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet haben darf, nicht entgegen. Denn § 2 Abs. 1 lit. c) VO führe zu einer unmittelbaren Benachteiligung wegen des Alters i. S. v. §§ 1, 3 Abs. 1 und 7 Abs. 1 AGG. Mitarbeiter, die bei Beginn des Arbeitsverhältnisses das 45. Lebensjahr vollendet haben, würden durch diese Regelung von den Leistungen der betrieblichen Altersversorgung ausgeschlossen. Diese Benachteiligung sei nicht nach § 10 Satz 1 und 2, 3 Nr. 4 AGG gerechtfertigt. Danach könnten zwar grundsätzlich Altersgrenzen in Systemen der betrieblichen Altersversorgung festgesetzt werden. Die konkrete Altersgrenze müsse jedoch angemessen sein. Dies sei bei einer Bestimmung nicht der Fall, die Mitarbeiter welche noch mindestens 20 Jahre betriebstreu sein könnten, von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung ausschlössen. Daher sei § 2 Abs. 1 lit. c) VO nach § 7 Abs. 2 AGG unwirksam. c) Bedeutung für die betriebliche Praxis 893 Mit seiner Entscheidung präzisiert das BAG in erwarteter Weise vgl. Mückl/Herrnstadt, GWR 2013, 258,

seine überzeugenden Klarstellungen im Urteil vom 12.2.2013 – 3 AZR 100/11, NZA 2013, 733, dazu Mückl/Herrnstadt, GWR 2013, 258,

in dem der 3. Senat entschieden hatte, dass die Festlegung von Altersgrenzen in betrieblichen Versorgungssystemen zwar grundsätzlich gemäß § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG zulässig ist, z. B. wenn der Mitarbeiter eine mindestens 15jährige Betriebszugehörigkeit bis zur Erreichbarkeit der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung zurücklegen muss. Allerdings durften dabei – so das BAG weiter – die berechtigten Belange der Mitarbeiter nicht außer Acht gelassen werden. Für unzulässig hielt das BAG daher bereits im vergangenen Jahr eine Regelung, „die zur Folge hat, dass während eines beträchtlichen Teils eines typischen Erwerbslebens keine Versorgungsanwartschaften erworben werden können, nicht zu vereinbaren sein.“

894 Was unter einem „beträchtlichen Teil“ zu verstehen ist, hat der 3. Senat nun klargestellt. Regelungen in Versorgungsordnungen sind dann nicht mehr objektiv, angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt (§ 10 Satz 1 AGG und Art. 6 Abs. 2 RL 2000/78/EG), wenn der Mitarbeiter mindestens 20 Jahre oder mehr betriebstreu sein muss, um in den Genuss der betrieblichen Altersversorgung zu kommen. 895 Die überzeugend begründete Entscheidung konkretisiert damit die Zulässigkeit von anspruchsausschließenden Wartezeiten und (faktischen) Höchstaltersgrenzen in Versorgungsordnungen. Jedenfalls eine Wartezeit von 15 Jahren

210

IX. Betriebliche Altersversorgung

und spiegelbildlich, ausgehend von der derzeitigen gesetzlichen Regelaltersgrenze, eine Höchstaltersgrenze von 52 Jahren, vgl. auch Rolfs, NZA 2008, 553, 556,

sind danach zulässig, während eine (faktische) Altersgrenze von 45 Jahren unzulässig ist. Für die Praxis bringt das Urteil insoweit Rechtssicherheit. Praxistipp: Wichtig ist unabhängig davon, dass diese Feststellungen nur für arbeitgeberfinanzierte, leistungsorientierte Versorgungszusagen gelten dürften. Für beitragsorientierte Versorgungssysteme, bei denen die zu erbringende Versorgungsleistung nach versicherungsmathematischen Gesichtspunkten kalkuliert wird, besteht kein sachliches Bedürfnis für eine Höchstaltersgrenze, weil dem legitimen Ziel der Vermeidung des Entstehens von mit unangemessenen Verwaltungskosten verbundenen Kleinstanwartschaften bereits durch die 5-jährige Unverfallbarkeitsfrist hinreichend Rechnung getragen wird (vgl. bereits Mückl/ Herrnstadt, GWR 2013, 258 m. w. N.).

4. Anpassungspflicht nach § 16 BetrAVG bei einer reinen Rentnergesellschaft Auslöser einer Krise sind in der Praxis bisweilen Versorgungsverbindlichkeiten, 896 deren belastende Wirkung falsch eingeschätzt wurde oder die durch nachträgliche Entwicklungen in der Rechtsprechung belastender wirken, als ursprünglich angenommen wurde. Unternehmen suchen dann immer wieder Wege, diese Belastung zu verringern oder jedenfalls eine Ausweitung zu verhindern. Dies geschieht nicht selten durch Umstrukturierung von Unternehmen. Infolge der vom BAG im Urteil vom 11.3.2008 – 3 AZR 358/06, NZA 2009, 790

entwickelten Grundsätze wurde der insoweit verbleibende Gestaltungsspielraum vielfach als nur noch sehr gering bewertet. In seinem Urteil vom 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459

hat der 3. Senat des BAG nun aber klargestellt, dass seine Feststellungen im Urteil vom 11.3.2008 zur Betriebsrentenanpassung in einer Rentnergesellschaft nach dem Wirksamwerden einer Ausgliederung gemäß § 123 UmwG nicht verallgemeinerungsfähig sind. Die vom BAG im Urteil vom 11.3.2008 – 3 AZR 358/06, NZA 2009, 790

entwickelten Grundsätze gelten nur für die besondere Situation einer durch Spaltung zur Neugründung gemäß § 123 UmwG geschaffenen Rentnergesellschaft. Damit besteht ein nicht unerheblicher Gestaltungsspielraum, der nicht nur in Krisensituationen genutzt, sondern allgemein bei der Gestaltung von Umstrukturierungslösungen bedacht werden muss.

211

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

a) Grundsätze der Betriebsrentenanpassung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG 897 § 16 Abs. 1 BetrAVG verpflichtet den Arbeitgeber, alle drei Jahre eine Anpassung der laufenden Leistung der betrieblichen Altersversorgung zu prüfen und hierüber nach billigem Ermessen zu entscheiden. Dabei hat er die Belange der Versorgungsempfänger und seine eigene wirtschaftliche Lage zu berücksichtigen. Lässt die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers eine Anpassung der Betriebsrenten nicht zu, ist er nicht zu einer Anpassung verpflichtet. aa) Wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers 898 § 16 Abs. 1 BetrAVG knüpft an die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers an, der die Versorgungszusage gemacht hat. Es ist auf seine wirtschaftliche Lage, ggf. die eines Rechtsnachfolgers, abzustellen. BAG, v. 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459, dazu EWiR 2014, 793 (Forst).

899 Hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage des Arbeitgebers ist eine Zukunftsprognose aufzustellen, die auf der Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung des Unternehmens bis zum Anpassungsstichtag versucht, die künftige Belastbarkeit des Arbeitgebers aufzuzeigen. Um die notwendige Zuverlässigkeit zu erreichen, muss die bisherige Entwicklung über einen Zeitraum von in der Regel mindestens drei Jahren ausgewertet werden. BAG, v. 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459; BAG, v. 28.5.2013 – 3 AZR 125/11, BB 2013, 2489.

900 Gerechtfertigt ist die Ablehnung einer Betriebsrentenanpassung nur dann, wenn das Unternehmen dadurch in der Zukunft übermäßig belastet und seine Wettbewerbsfähigkeit gefährdet würde. Hiervon ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG, die es seinem Urteil vom 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459

noch einmal bestätigt hat, dann auszugehen, x

wenn keine angemessene Eigenkapitalverzinsung erwirtschaftet wird oder

x

das Unternehmen nicht mehr über genügend Eigenkapital verfügt. Praxistipp: Wie die Bewertung der wirtschaftlichen Lage eines Unternehmens nach § 16 Abs. 1 BetrAVG vorgenommen werden muss, wenn das Unternehmen im für die Prüfung maßgeblichen Bewertungszeitraum aus der Verschmelzung zweier Unternehmen entstanden ist, war Gegenstand der Entscheidung des 3. Senats des BAG vom 15.4.2014 (3 AZR 51/12, DB 2014, 2054).

901 Die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers rechtfertigt die Ablehnung einer Betriebsrentenanpassung ausgehend von diesen Feststellungen nur dann und insoweit, als der Arbeitgeber auf der Grundlage seiner Prognose annehmen darf, dass es ihm mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht möglich sein 212

IX. Betriebliche Altersversorgung

wird, den Teuerungsausgleich aus den Unternehmenserträgen und den verfügbaren Wertzuwächsen des Unternehmensvermögens in der Zeit bis zum nächsten Anpassungsstichtag aufzubringen. Maßgeblich ist dabei die voraussichtliche Entwicklung der Eigenkapitalverzinsung und der Eigenkapitalausstattung des Unternehmens. Eine Verpflichtung, die Anpassungen aus der Unternehmenssubstanz zu finanzieren, besteht nicht. Vgl. bereits BAG, v. 28.8.2013 – 3 AZR 750/11, AP Nr. 91 zu § 16 BetrAVG; BAG, v. 29.9.2010 – 3 AZR 427/08, ZIP 2011, 191 = NZA 2011, 1416, dazu EWiR 2011, 171 (Matthießen).

Dass einzelne Einkünfte des Arbeitgebers den Umfang der Anpassungslast 902 übersteigen, ist insoweit allerdings nicht ausreichend. Vielmehr ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung festzustellen, wie die Ertragskraft des Unternehmens im Ganzen geprägt ist. Grundlage für die insoweit erforderliche Feststellung der erzielten Betriebsergebnisse und des vorhandenen Eigenkapitals sind dabei für das BAG die handelsrechtlichen Jahresabschlüsse. BAG, v. 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459; BAG, v. 11.12.2012 – 3 AZR 615/10, AP Nr. 88 zu § 16 BetrAVG.

bb) Erlöschen des Anpassungsanspruchs Grundsätzlich erlischt der Anspruch auf Prüfung und Entscheidung über eine 903 Anpassung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG nach Ablauf einer Frist von drei Jahren ab dem Anpassungsstichtag. In seinem Urteil vom 21.10.2014 – 3 AZR 690/12, n. v.

hat der 3. Senat des BAG diesbezüglich deutlich gemacht, dass eine Klage, die zwar innerhalb dieser Frist bei Gericht eingeht, dem Arbeitgeber aber erst nach dem folgenden Anpassungsstichtag zugestellt wird, diese Frist nicht wahren kann. § 16 BetrAVG verlange – so das BAG – einen tatsächlichen Zugang der Rüge bei dem Versorgungsschuldner innerhalb der richterrechtlich bestimmten Rügefrist. Wenn der Betriebsrentner die Anpassungsentscheidung des Arbeitgebers für 904 falsch hält, muss dies also grundsätzlich vor dem nächsten Anpassungsstichtag dem Arbeitgeber gegenüber wenigstens außergerichtlich geltend gemacht werden. Ohne Rüge erlischt der Anspruch auf nachträgliche Anpassung, also auf Korrektur einer früheren Anpassungsentscheidung. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Versorgungsschuldner keine ausdrück- 905 liche (positive oder negative) Anpassungsentscheidung getroffen hat. Zwar enthält das Schweigen des Versorgungsschuldners die Erklärung, nicht anpassen zu wollen. Diese gilt – so das BAG BAG, v. 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459; BAG, v. 25.4.2006 – 3 AZR 372/05, DB 2006, 2527 –

213

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

jedoch erst nach Ablauf von drei Jahren nach dem Anpassungsstichtag als abgegeben. Der Betriebsrentner kann daher die unterbliebene Anpassung noch bis zum übernächsten Anpassungstermin rügen. cc) Mitteilung nach § 16 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG 906 Darüber hinaus kann selbst eine unberechtigterweise abgelehnte Anpassung der Betriebsrente auch dadurch unangreifbar werden, dass der Arbeitgeber seine Entscheidung mit einer Mitteilung gemäß § 16 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG verknüpft. Denn nach dieser Norm gilt eine Anpassung ohne Rücksicht auf die eigentlichen Anforderungen aus § 16 Abs. 1 BetrAVG als zu Recht unterblieben, wenn (kumulativ) x

der Arbeitgeber dem Versorgungsempfänger die wirtschaftliche Lage des Unternehmens schriftlich dargelegt,

x

der Versorgungsempfänger nicht binnen drei Kalendermonaten nach Zugang der Mitteilung schriftlich widersprochen hat und

x

er durch den Arbeitgeber auf die Rechtsfolge eines nicht fristgemäßen Widerspruchs hingewiesen wurde.

b) Besonderheiten der Anpassungspflicht bei einer Rentnergesellschaft 907 In seinem Urteil vom 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459

hat der 3. Senat des BAG nun klargestellt, dass diese Grundsätze im Wesentlichen zwar auch für sogenannte Rentner- und Abwicklungsgesellschaften gelten. Auch solche Gesellschaften seien nicht verpflichtet, die Kosten für die Betriebsrentenanpassung aus ihrer Vermögenssubstanz aufzubringen. Ihnen sei ebenfalls eine angemessene Eigenkapitalverzinsung zuzubilligen. Deshalb reiche es nicht aus, wenn der Rentner- oder Abwicklungsgesellschaft lediglich das gesetzlich vorgeschriebene Stammkapital verbleibe. aa) Kein 2 %-Zuschlag 908 Abweichend von werbenden Gesellschaften sei bei einer Rentner- und Abwicklungsgesellschaft lediglich eine Eigenkapitalverzinsung schon dann als angemessen zu bewerten, wenn sie der Umlaufrendite öffentlicher Anleihen entspreche. Für einen Zuschlag von 2 %, wie er bei werbenden Unternehmen vorzunehmen sei, deren in das Unternehmen investierte Eigenkapital einem höheren Risiko ausgesetzt sei, bestehe bei diesen Gesellschaften kein Anlass. BAG, v. 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459; BAG, v. 26.10.2010 – 3 AZR 502/08, ZIP 2011, 632 = BB 2011, 700, dazu EWiR 2011, 403 (Kock/Milenk).

214

IX. Betriebliche Altersversorgung

bb) Ausschluss des Missbrauchseinwand durch Außenhaftung des bisherigen Arbeitgebers/Versorgungsschuldners Dem steht nach der Bewertung des BAG auch der Grundsatz von Treu und 909 Glauben (§ 242 BGB) nicht entgegen Diese folge insbesondere nicht aus dem Urteil des BAG vom 11.3.2008 – 3 AZR 358/06, NZA 2009, 790.

Zwar habe der 3. Senat des BAG in dieser Entscheidung erkannt, dass den versorgungspflichtigen Arbeitgeber grundsätzlich die arbeitsvertragliche Nebenpflicht treffe, eine Gesellschaft, auf die Versorgungsverbindlichkeiten ausgegliedert würden, so auszustatten, dass sie nicht nur die laufenden Versorgungsleistungen zahlen könne, sondern auch zu den gesetzlich vorgesehenen Anpassungen in der Lage sei. Auch eine Verletzung dieser Pflicht zur ausreichenden Ausstattung der 910 Rentnergesellschaft verbiete es der Abwicklungs- und Rentnergesellschaft aber nicht, sich auf die unzureichende wirtschaftliche Lage zu berufen. Vielmehr habe eine Missachtung der Verpflichtung zur hinreichenden Ausstattung der Rentnergesellschaft zur Folge, dass der Versorgungsempfänger einen Schadenersatzanspruch gegen den früheren Arbeitgeber als übertragenden Rechtsträger gemäß §§ 280 Abs. 1 Satz 1, 241 Abs. 2, 31, 278 BGB geltend machen könne. Insofern handelt es sich nicht um einen Anspruch aus § 16 Abs. 1 BetrAVG, sondern um eine Außenhaftung des bisherigen Arbeitgebers und Versorgungsschuldners. BAG, v. 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459; BAG, v. 11.3.2008 – 3 AZR 358/06, ZIP 2008, 1935 = NZA 2009, 790, dazu EWiR 2008, 765 (Matthießen).

cc) Keine Schadensersatzpflicht ohne Schuldnerwechsel Die vorstehend zusammengefassten Grundsätze gelten aber – wie das BAG 911 in seinem Urteil vom 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459

klarstellt – nur in der vorstehend beschriebenen Fallkonstellation einer Übertragung von Versorgungsverbindlichkeiten. Das BAG lehnt es nämlich ausdrücklich ab, eine Schadenersatzpflicht auch dann anzunehmen, wenn die Rentnergesellschaft durch Übertragung des operativen Geschäfts auf einen anderen Rechtsträger entsteht. Ein solcher Übertragungsvorgang könne zwar zur Folge haben, dass der künftige Ertrag der Gesellschaft ohne das operative Geschäft nicht mehr ausreiche, um unter Berücksichtigung einer angemessenen Eigenkapitalverzinsung eine Anpassung der Betriebsrenten nach § 16 Abs. 1 BetrAVG zu rechtfertigen. Dennoch bestehe keine Verpflichtung, im Zusammenhang mit der Übertragung des operativen Geschäfts das bei der übertragenden Gesellschaft verbleibende Vermögen so festzulegen, dass auch künftige Betriebsrentenanpassungen finanziert werden können. 215

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

912 Den Unterschied zwischen diesem Sachverhalt und der Übertragung von Versorgungsverbindlichkeiten im Rahmen einer Spaltung nach § 123 UmwG begründet das BAG überzeugend wie folgt: 913 Bei einer Übertragung von Versorgungsverbindlichkeiten nach § 123 UmwG komme es zu einem Wechsel in der Person des Versorgungsschuldners. Schuldner der Versorgungsleistungen sei in diesem Fall nicht mehr der ursprüngliche Arbeitgeber, sondern die Rentnergesellschaft, auf welche die Versorgungsverpflichtungen übertragen würden. Diese habe nunmehr nicht nur die laufenden Versorgungsleistungen zu erbringen, sondern sei zudem zur Anpassungsprüfung nach § 16 Abs. 1, 2 BetrAVG verpflichtet und dürfe eine Anpassung ablehnen, wenn ihre eigene wirtschaftliche Lage eine solche nicht zulasse. Damit bestehe – wenn man keinen Schadensersatzanspruch anerkennen wollte – in dieser Konstellation die Gefahr, dass Gestaltungsoptionen des UmwG dazu genutzt würden, die Versorgungsverpflichtungen auf eine nicht ausreichend ausgestattete Gesellschaft zu übertragen und dadurch die schutzwürdigen Interessen der hätte Versorgungsberechtigten zu beeinträchtigen. 914 Wenn der frühere Arbeitgeber und – spätere – Versorgungsschuldner sein operatives Geschäft hingegen im Wege des Betriebsübergangs an einen Betriebserwerber veräußere, bestehe eine vergleichbare Gefahr aber nicht. Denn die Versorgungsverpflichtungen verblieben bei dem ursprünglichen Versorgungsschuldner. BAG, v. 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459.

915 § 613a BGB erfasst schließlich nur bestehende Arbeitsverhältnisse. 916 Die differenzierende Überlegung des BAG überzeugt insbesondere dann, wenn man die vorliegende Fallkonstellation mit der vergleicht, in welcher der Versorgungsschuldner sich zu einer Einstellung des Geschäftsbetriebs entschließt und die Gesellschaft ohne Liquidation als Rentnergesellschaft fortführt. Dann besteht schließlich ebenfalls kein Schadensersatzanspruch, weil keine Pflicht zur Fortführung des Geschäftsbetriebs besteht. 917 Gleiches gilt, wenn lukrative Betriebsteile veräußert und lediglich solche Betriebsteile beim Versorgungsschuldner fortgeführt werden, mit denen der für eine Betriebsrentenanpassung erforderliche Ertrag nicht erwirtschaftet werden kann. Denn all diese Veränderungen sind Ausdruck der grundgesetzlich geschützten unternehmerischen Entscheidungsfreiheit, vor der ein Betriebsrentner wiederum auch durch § 16 Abs. 1 BetrAVG nicht geschützt ist. 5. Neue Vorgaben zum Berechnungsdurchgriff im Konzern 918 Ebenfalls in seinem Urteil vom 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459

hat der 3. Senat des BAG seine Rechtsprechung zum Berechnungsdurchgriff im Konzern erheblich weiterentwickelt. 216

IX. Betriebliche Altersversorgung Praxistipp: Diese Vorgaben sind nicht nur im Rahmen der Anpassungsprüfung nach § 16 BetrAVG sondern auch im Rahmen Dotierung von Sozialplänen maßgeblich. Denn bislang hat sich der 1. Senat in Bezug auf die Sozialplandotierung stets der Rechtsprechung des 3. Senats zur Anpassungsprüfung im Rahmen von § 16 BetrAVG angeschlossen. Die nachfolgenden Grundsätze müssen daher auch im Rahmen von Betriebsänderungen beachtet werden.

a) Faktischer Konzern Wenn der Versorgungsschuldner ein verbundenes Unternehmen im Konzern 919 ist, stellt sich im Rahmen der Anpassungsprüfung nach § 16 BetrAVG nämlich immer die ergänzende Frage, ob im Wege eines Berechnungsdurchgriffs ausnahmsweise auf die wirtschaftliche Lage einer anderen Konzerngesellschaft abzustellen ist. Unter Aufgabe seiner bisherigen, anders lautenden Rechtsprechung hat der 3. Senat des BAG sich in seinem Urteil vom 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459

den durch den BGH in der Grundsatzentscheidung vom 16.7.2007 – II ZR 3/04, BB 2007, 1970

entwickelten Überlegungen angeschlossen. Ausgangspunkt dieser neuen Rechtsprechung ist der Grundsatz, dass ein Be- 920 rechnungsdurchgriff bei konzernverbundenen Unternehmen nur dann zu einer höheren Zahlungsverpflichtung des in Anspruch genommenen Unternehmens führen kann, wenn für das in Anspruch genommene Unternehmen die Möglichkeit besteht, diese höhere Belastung an das andere Unternehmen weiterzugeben, sich also bei diesem zu refinanzieren. BAG, v. 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459; BAG, v. 29.9.2010 – 3 AZR 427/08, ZIP 2011, 191 = NZA 2011, 1416.

Dies ist nach der Rechtsprechung des BGH aber nur möglich, wenn infolge 921 eines existenzvernichtenden Eingriffs ein Ausgleichsanspruch nach § 826 BGB besteht. Vgl. BGH, v. 9.2.2009 – II ZR 292/07, ZIP 2009, 802 = BB 2009, 1037; BGH, v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, ZIP 2007, 1552 (m. Bespr. Weller, S. 1681) = BB 2007, 1970, dazu EWiR 2007, 557 (Wilhelm).

Dies ist nur dann der Fall, wenn nicht gerechtfertigte und kompensationslose 922 Eingriffe in das der Zweckbindung zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger dienende Gesellschaftsvermögen vorliegen und dies eine Insolvenz der Gesellschaft bzw. deren Vertiefung zur Folge hat. b) Besonderheiten bei Beherrschungs- bzw. Ergebnisabführungsverträgen Wichtig für die betriebliche Praxis und die Sanierungspraxis sind indes vor allem 923 die vom 3. Senat zum Berechnungsdurchgriff im Fall des Bestehens von Un217

B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung

ternehmensverträgen entwickelten Grundsätze. Dabei muss zwischen Beherrschungs- und Ergebnisabführungsverträgen differenziert werden: aa) Bestehen eines Beherrschungsvertrags 924 Wenn ein Beherrschungsvertrag besteht, hat dies stets einen Berechnungsdurchgriff auf das herrschende Unternehmen zur Folge. Soweit die wirtschaftliche Lage des Versorgungsschuldners nach § 16 Abs. 1 BetrAVG maßgeblich ist, muss also auch auf die Leistungsfähigkeit des herrschenden Unternehmens abgestellt werden. BAG, v. 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459; BAG, v. 26.5.2009 – 3 AZR 369/07, ZIP 2009, 2166 = NZA 2010, 641, dazu EWiR 2010, 7 (Oetker).

bb) Bestehen eines Ergebnisabführungsvertrags 925 Für den Fall, dass kein Beherrschungs-, sondern lediglich ein Ergebnis- bzw. Gewinnabführungsvertrag besteht, tendiert der 3. Senat nun aber – entgegen einer teilweise in der Literatur vertretenen Auffassung – vgl. Arendt, RdA 2012, 340, 342

mit der folgenden, überzeugenden Begründung deutlich dazu, einen Berechnungsdurchgriff bei dem bloßen Abschluss eines Ergebnis- bzw. Gewinnabführungsvertrags abzulehnen: 926 Zwar sei nach § 302 Abs. 2 AktG der andere Vertragsteil auch bei Bestehen eines Ergebnis- bzw. Gewinnabführungsvertrags zum Verlustausgleich verpflichtet; allerdings sei die Interessenlage hier eine andere. Ein bloßer Gewinnabführungsvertrag sei weder mit einer tatsächlichen Beherrschung noch mit dem Recht und der Möglichkeit zur nachteiligen Einflussnahme auf den Versorgungsschuldner verbunden. Die Rechtsfolgen der §§ 302 f. AktG träten hier allein unter dem Gesichtspunkt des Ausgleichs für die Pflicht der verbundenen Gesellschaft zur Gewinnabführung ein. Der Gewinnabführungsvertrag gebe der Konzernobergesellschaft – anders als bei einem Beherrschungsvertrag – nicht das Recht und die Möglichkeit, ihre eigene unternehmerische Zielkonzeption zu entwickeln und zu verfolgen und diese, ggf. durch Ausübung des Weisungsrechts, in der durch den Unternehmensvertrag verbunden Gesellschaft durchzusetzen. Die Möglichkeit einer fast schrankenlosen Disposition über die Geschäftspolitik und das Vermögen der verbundenen Gesellschaft bestehe dementsprechend nicht. Anders als beim Beherrschungsvertrag verlöre das verbundene Unternehmen deshalb nicht umfassend seine wirtschaftliche Selbständigkeit. Es werde nicht seiner Geschäftspolitik und unternehmerischen Zielsetzung beeinflusst. Es verliere „lediglich“ seine Freiheit, sich für die Verwendung des Gewinns zu entscheiden. BAG, v. 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459.

927 Da es der Versorgungsempfänger im Rahmen der Anpassungsprüfung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG auch hinzunehmen habe, dass ein nicht durch einen 218

IX. Betriebliche Altersversorgung

Unternehmensvertrag gebundenes Unternehmen seinen Gewinn nicht im Sinne einer optimalen Prosperität des Unternehmens verwende, sei es zweifelhaft, ob allein das Bestehen eines Gewinnabführungsvertrags eine Abweichung von der Grundregel des § 16 Abs. 1 BetrAVG rechtfertige, wonach es ausschließlich auf die wirtschaftliche Lage des Versorgungsschuldners ankomme. Zu erwägen ist nach der Bewertung des BAG vielmehr, ob dem Interesse der 928 Versorgungsempfänger im Rahmen der Anpassungsprüfung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG dadurch ausreichend Rechnung getragen werde, dass die wirtschaftliche Lage des zur Anpassung verpflichteten Unternehmens vor der Gewinnabführung berücksichtigt werde. Praxistipp: Es bleibt zu hoffen, dass der 1. Senat sich dieser Bewertung anschließt und seine Erwägungen im Beschluss vom 15.3.2011 (1 ABR 97/09, ZIP 2011, 1433) zu einer analogen Anwendung von § 302 AktG nicht weiterverfolgt. Der 3. Senat hat hierfür jedenfalls mit überzeugender Begründung den Boden bereitet.

6. Bedeutung eines Schuldbeitritts Wichtige Klarstellungen hat der 3. Senat des BAG in seinem Urteil vom 929 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, ZIP 2014, 2459

schließlich zur Bedeutung eines – insbesondere bei Konzernunternehmen nicht unüblichen – Schuldbeitritts für die Anpassungsprüfung vorgenommen. Praxistipp: In der Praxis sind derartige Zusagen zumeist im Innenverhältnis insofern beschränkt, als vereinbart wird, dass der eigentliche Versorgungsschuldner primär für die Erfüllung der Versorgungsverbindlichkeiten Sorge tragen soll. Der Versorgungsschuldner und das beigetretene Unternehmen haften in derartigen Fällen im Außenverhältnis demgegenüber gemäß dem erklärten Schuldbeitritt als Gesamtschuldner für die Erfüllung der Verbindlichkeiten aus der Zusage einer betrieblichen Altersversorgung.

Für die Betriebsrentenanpassung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG hat der Schuld- 930 beitritt nach der zutreffenden Bewertung des BAG keine Bedeutung. Denn er bewirkt im Ergebnis nur die Verpflichtung des beitretenden Unternehmens, die dem früheren Arbeitgeber selbst obliegenden Pflichten zu erfüllen. Wenn der frühere Arbeitgeber als Versorgungsschuldner angesichts der unzureichenden wirtschaftlichen Lage keine Anpassung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG vornehmen kann, ändert daran auch eine bessere wirtschaftliche Lage des beigetretenen Unternehmens nichts. Für den Bestand und die Höhe der Zahlungsverpflichtung des beigetretenen Unternehmens als Gesamtschuldner bleibt nach den überzeugenden Feststellungen des 3. Senats die Hauptverbindlichkeit des früheren Arbeitgebers als Versorgungsschuldner maßgeblich.

219

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen Kurzinhalt: Betriebsbedingte Kündigung (Rn. 931 ff.); Beteiligung des Betriebsrats bei Massenentlassungen (Rn. 1023 ff.); Befristung von Arbeitsverhältnissen (Rn. 1029 ff.)

I. Betriebsbedingte Kündigung Bestandteil von Sanierungen und Restrukturierungen ist immer wieder – je- 931 denfalls auch – der Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen, zu denen die Rechtsprechung im Jahr 2014 wiederum wichtige Klarstellungen vorgenommen hat. Dies gilt sowohl für betriebsbedingte Kündigungen in der Insolvenz als auch außerhalb der Insolvenz. 1. Keine Erfüllung der Wartezeit durch Leiharbeitnehmereinsatz Nachdem die Rechtsprechung zuletzt eine starke Annäherung von Leiharbeit- 932 nehmern und Stammmittarbeitern bewirkt hat, in dem der 1. Senat des BAG zu § 111 Satz 1 BetrVG BAG, v. 18.10.2011 – 1 AZR 335/10, ZIP 2012, 540 = NZA 2012, 221, dazu EWiR 2012, 165 (Unger-Hellmich)

und der 7. Senat des BAG zu § 9 Satz 1 BetrVG im Entleiherbetrieb beschäftigte Leiharbeitnehmer BAG, v. 13.3.2013 – 7 ABR 69/11, ZIP 2013, 1489 = NZA 2013, 789, dazu EWiR 2013, 539 (Korff)

unter bestimmten Voraussetzungen bei der Anzahl der zu berücksichtigenden Arbeitnehmer und bei der Größe des Betriebsrats berücksichtigt haben und der 2. Senat des BAG in seinem Urteil vom 24.1.2013 – 2 AZR 140/12, NZA 2013, 726

entschieden hat, dass bei der Bestimmung der Betriebsgröße i. S. v. § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG im Betrieb beschäftigte Leiharbeitnehmer zu berücksichtigen sind, wenn ihr Einsatz auf einem in der Regel vorhandenen Personalbedarf beruht, hat der 2. Senat des BAG in seinem Urteil vom 20.2.2014 – 2 AZR 859/11, BB 2014, 2227

Klarstellungen zu der Frage vorgenommen, ob Zeiten, während derer ein Leiharbeitnehmer in den Betrieb des Entleihers eingegliedert war, bei einem späteren, sich unmittelbar an die Überlassung anschließenden Arbeitsverhältnis zwischen ihm und dem Entleiher auf die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG anzurechnen sind. Dabei hat das BAG auch die Umstände gekennzeichnet, unter denen bei einem Wechsel des Vertragsarbeitgebers im Konzern eine zumindest konkludente einzelvertragliche Vereinbarung über die Anrechnung von Vorbeschäftigungszeiten geschlossen wird.

221

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen

a) Sachverhalt des BAG 933 In dem entschiedenen Fall war die Klägerin zunächst seit dem 1.9.1997 als Verkaufsstellenleiterin bei Anton Schlecker in einer Filiale beschäftigt. Wegen Schließung dieser Filiale zum 31.10.2009 schlossen die Parteien am 26.10.2009 einen Aufhebungsvertrag. Ab dem 2.11.2009 wechselte die Klägerin sodann zu der M-GmbH, die ebenfalls zum Schlecker Konzern gehörte, und wurde von dieser Gesellschaft als Leiharbeitnehmerin auf der Grundlage eines Vertrags vom 14.9.2009 beschäftigt. Ihr Einsatz erfolgte bei der Schlecker XL-GmbH in einem Drogeriemarkt. Am 18.1.2010 schloss die Klägerin mit der XLGmbH einen Arbeitsvertrag, wonach sie ab 1.2.2010 ihre bisherige Tätigkeit fortsetzte. Außerdem kam es noch im Januar 2010 zu einem Aufhebungsvertrag mit der M-GmbH. Die XL-GmbH kündigte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin mit Schreiben vom 7.7.2010 zum 31.8.2010. In der von der Klägerin angestrengten Kündigungsschutzklage, die sich zwischenzeitlich gegen den Insolvenzverwalter der insolventen XL-GmbH richtete, machte sie geltend, das KSchG käme zur Anwendung, weil ihre als Leiharbeitnehmerin erbrachten Vordienstzeiten auf die Wartezeit bei der Schuldnerin angerechnet werden müssten. b) Wesentliche Überlegungen des BAG 934 Das BAG folgte dieser Überlegung zu Recht nicht. Denn sie widerspricht dem klaren Wortlaut von § 1 Abs. 1 KSchG, nach dem eine Kündigung dann rechtsunwirksam ist, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist und das Arbeitsverhältnis im selben Betrieb oder Unternehmen zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat. Sinn und Zweck dieser Wartezeit besteht nach der Bewertung des BAG darin, den Parteien des Arbeitsverhältnisses für eine gewisse Zeit zu ermöglichen, zu prüfen, ob sie sich auf Dauer binden wollen. BAG, v. 7.7.2011 – 2 AZR 12/10, NZA 2012, 148; BAG, v. 20.6.2013 – 2 AZR790/11, NZA-RR 2013, 470.

935 Nach Ansicht des BAG kann dieser Erprobungszweck, der bei der Wartezeitregelung in § 1 Abs. 1 KSchG im Vordergrund steht, umfassend nur verwirklicht werden, wenn der Arbeitgeber im Rahmen eines mit ihm begründeten Arbeitsverhältnisses „nicht nur die Arbeitsleistung“ des Arbeitnehmers, sondern auch dessen „sonstiges Verhalten“ zur ordnungsgemäßen Vertragserfüllung aus eigener Kenntnis zu beurteilen imstande ist. Praxistipp: Für die Erfüllung der Wartezeit – und damit die persönlichen Voraussetzungen für die Anwendung des § 1 KSchG – trägt der Arbeitnehmer die Darlegungsund Beweislast. BAG, v. 10.5.2012 – 8 AZR 434/11, NZA 2012, 116 Rz. 28; BAG, v. 20.6.2013 – 2 AZR 790/11, NZA-RR 2013, 470 Rz. 15; BAG, v. 20.2.2014 – 2 AZR 859/11, BB 2014, 2227.

222

I. Betriebsbedingte Kündigung

Neben dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 KSchG spricht nach der überzeugenden 936 Bewertung des BAG auch der Sinn und Zweck der Wartezeitregelung gegen eine Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten als Leiharbeitnehmer. Das BAG erkennt zwar an, dass Leiharbeitnehmer weitgehend dem arbeitsbezogenen Weisungsrecht, der Organisationshoheit und der Dispositionsbefugnis des Entleihers unterstellt sind. Damit wird jedoch nur ein Teilbereich der Arbeitgeberfunktionen wahrgenommen, während andere Funktionen wie die Lohnzahlung, Urlaubsgewährung und Entgeltfortzahlung bei Krankheit den Verleiher betreffen, und das dabei gezeigte Verhalten zur ordnungsgemäßen Vertragserfüllung vom Entleiher nicht beurteilt werden kann. Da die Klägerin bei Zugang der Kündigung ohne Berücksichtigung der Vor- 937 dienstzeiten als Leiharbeitnehmerin die Wartezeit des § 1 KSchG nicht erfüllt hatte, bestand dem Wortlaut des § 1 KSchG nach zwar noch kein gesetzlicher Kündigungsschutz. Ergänzend prüfte das BAG aber, x

ob sich die Parteien möglicherweise konkludent auf eine Anrechnung der von der Klägerin bei Anton Schlecker und/oder M-GmbH erbrachten Beschäftigungszeiten geeinigt hatten und

x

ob – alternativ – dem Hinweis, die Wartezeit sei von der Klägerin nicht erfüllt, der Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegensteht.

Eine allgemeine Feststellung dahin, dass von einer stillschweigenden Verein- 938 barung über die Anrechnung von Vorbeschäftigungszeiten dann auszugehen ist, wenn ein Arbeitnehmer innerhalb eines Konzerns versetzt wird, selbst wenn dies mit dem Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags verbunden ist, lehnt das BAG zu Recht unter Hinweis darauf ab, dass der allgemeine Kündigungsschutz nicht konzernbezogen, sondern betriebs-, allenfalls unternehmensbezogen ausgestaltet ist. Dies gilt unabhängig davon, ob auf der Gesellschafterebene Personenidentität besteht. Angesichts dessen bedarf es nach Ansicht des BAG für die Annahme einer konkludenten Vereinbarung über die Anrechnung vorangegangener Beschäftigungszeiten besonderer Anhaltspunkte. Derartige Anhaltspunkte können sich aus den Umständen ergeben, unter 939 denen der Wechsel vollzogen wurde. Beispiel: Ein derartiger Umstand kann beispielsweise nach Ansicht des BAG vorliegen, wenn der Arbeitgeberwechsel ausschließlich auf die Initiative des Arbeitgebers zurück zu führen und der Arbeitnehmer beim verbundenen Unternehmen zu annähernd gleichen Arbeitsbedingungen ohne Vereinbarung einer Probezeit weiter beschäftigt wird.

223

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen Praxistipp: Drängen der bisherige und ein neuer Arbeitgeber den Arbeitnehmer zum Unternehmenswechsel und verfolgen Sie dabei vorrangig das Ziel, den Verlust des Kündigungsschutzes herbeizuführen, kann der Arbeitnehmer bereits nach dem Rechtsgedanken des § 162 BGB so zu stellen sein, als hätte er die Wartefrist beim neuen Arbeitgeber bereits erfüllt.

940 Da im Streitfall die äußeren Umstände dafür sprachen, dass die eingetretenen Arbeitgeberwechsel von der Arbeitgeberseite veranlasst worden waren, was aus der Sicht der Klägerin dadurch bestärkt wurde, dass der letzte Arbeitsvertrag keine Probezeit vorsah und möglicherweise weitere Umstände vorlagen, die bei der Klägerin den Eindruck erwecken mussten, ihre Tätigkeit beim bisherigen Arbeitgeber setze sich bei dem neuen Arbeitgeber unverändert fort, hat das BAG den Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zur weiteren Aufklärung zurückverwiesen. Praxistipp: Die Anrechnung von Vordienstzeiten ist vor allem bei einem Wechsel des Arbeitnehmers innerhalb verschiedener Konzernunternehmen nicht unüblich. Wichtig ist dabei, klar zu regeln, welche möglichen Ansprüche sich daraus für den Arbeitnehmer ergeben können. Dies gilt nicht nur für die Frage der Anwendung des Kündigungsschutzes, sondern z. B. auch für eine betriebliche Altersversorgung oder andere Ansprüchen, die von der Dauer der Betriebszugehörigkeit abhängen.

2. Bestimmtheit einer Kündigung zum „nächstzulässigen Termin“ 941 Im Rahmen von Sanierungen stellt sich häufig die Frage, ob bereits initiierte Beendigungstatbestände wirksam sind. Wenn ein Risiko für die gewünschte Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf der Grundlage der bereits in Rede stehenden Beendigungstatbestände verringert werden soll, empfiehlt es sich, dass der Arbeitgeber aus Gründen der Vorsorge eine (weitere) Kündigung des Arbeitsverhältnisses erklärt. Dass eine solche „vorsorgliche“ Kündigung „zum nächstzulässigen Termin“ die notwendige Bestimmtheit besitzt, um als rechtsgestaltende Willenserklärung eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses herbeizuführen, hat der 2. Senat des BAG nun unter Bestätigung der Entscheidung des 6. Senats vom 20.6.2013 – 6 AZR 805/11, ZIP 2013, 1835; dazu Mückl, 1. Aufl., Rn. 424 ff.

noch einmal in seinem Urteil vom 10.4.2014 – 2 AZR 647/13, n. v.

klargestellt. Zunächst einmal enthalte die Kündigung – so das BAG – keine Bedingung, die ihrer Wirksamkeit im Wege stünde. Auch eine „hilfsweise“ oder „vorsorgliche“ Kündigung drücke den Willen des Arbeitgebers aus, das Arbeitsverhältnis zu beenden. Solche Zusätze machten lediglich deutlich,

224

I. Betriebsbedingte Kündigung

dass der Arbeitgeber sich in erster Linie auf einen anderen Beendigungstatbestand berufe, auf dessen Rechtswirkungen er nicht verzichten wolle. Die „hilfsweise“ oder „vorsorglich“ erklärte Kündigung stehe unter einer – zulässigen – auflösenden Rechtsbedingung i. S. d. § 158 Abs. 2 BGB. Ihre Wirkung ende, wenn feststehe, dass das Arbeitsverhältnis bereits zu einem früheren Zeitpunkt aufgelöst worden sei. BAG, v. 10.4.2014 – 2 AZR 647/13, EWiR 2015, 261 (Menke/Czycholl); BAG, v. 21.11.2013 – 2 AZR 474/12, n. v.

Die Kündigung sei auch nicht deshalb unwirksam, weil im Kündigungs- 942 schreiben kein konkretes Beendigungsdatum genannt wurde. Einer solchen Angabe bedurfte es nach der Bewertung des BAG trotz des Umstands nicht, dass die Anwendbarkeit unterschiedlicher Kündigungsfristen in Rede stand. Nach den Feststellungen des BAG verlangt das Erfordernis der Bestimmtheit einer ordentlichen Kündigung vom Kündigenden nicht, den Beendigungstermin als konkretes kalendarisches Datum ausdrücklich anzugeben. Es reiche aus, wenn der gewollte Beendigungstermin für den Kündigungsempfänger zweifelsfrei bestimmbar sei. BAG, v. 10.4.2014 – 2 AZR 647/13, n. v.; BAG, v. 23.5.2013 – 2 AZR 54/12, ZIP 2013, 2230 = NZA 2013, 1197, dazu EWiR 2014, 61 (Hergenröder).

Auch eine Kündigung „zum nächstzulässigen Termin“ sei hinreichend be- 943 stimmt, wenn dem Erklärungsempfänger die Dauer der Kündigungsfrist bekannt oder für ihn bestimmbar sei. Denn sie sei typischerweise dahin zu verstehen, dass der Kündigende die Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu dem Zeitpunkt erreichen wolle, der sich bei Anwendung der einschlägigen gesetzlichen, tarifvertraglichen und/oder vertraglichen Regelungen als rechtlich frühestmöglicher Beendigungstermin ergebe. BAG, v. 23.5.2013 – 2 AZR 54/12, ZIP 2013, 2230 = NZA 2013, 1197.

Der vom Erklärenden gewollte Beendigungstermin sei damit objektiv ein- 944 deutig bestimmbar. Dies sei jedenfalls dann ausreichend, wenn die rechtlich zutreffende Frist für den Kündigungsadressaten leicht feststellbar sei und nicht umfassende tatsächliche Ermittlungen oder die Beantwortung schwieriger Rechtsfragen erfordere. BAG, v. 10.4.2014 – 2 AZR 647/13, n. v.; BAG, v. 23.5.2013 – 2 AZR 54/12, ZIP 2013, 2230 = NZA 2013, 1197.

Wenn mehrere Termine für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses in einer 945 Erklärung genannt werden und für den Erklärungsempfänger nicht erkennbar ist, welcher Termin gelten soll, hat dies zwar die fehlende Bestimmtheit der Kündigung zur Folge. Wenn im Kündigungsschreiben aber eine Beendigung „zum nächstmöglichen Zeitpunkt“ genannt wird, ohne dass es Anhalts-

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C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen

punkte dafür gäbe, dass sich der Arbeitgeber auf einen wichtigen Grund i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB mit der Folge einer fristlosen Beendigung berufen will, spricht dies dafür, dass die Kündigung zu einem erst in der Zukunft liegenden, sich aus der zutreffenden Kündigungsfrist ergebenden Termin wirken solle. In diesem Fall hält es der 2. Senat des BAG für ausreichend, wenn der Arbeitnehmer unter Berücksichtigung der im Arbeitsvertrag getroffenen Regelungen feststellen kann, welche individual- oder kollektivvertragliche Frist für ihn maßgeblich ist. Praxistipp: Nach der Rechtsprechung des BAG ist und bleibt es damit zulässig, die zunächst einmal zu einem bestimmten Termin erklärte Kündigung um eine vorsorgliche Kündigung „zum nächstzulässigen“ Termin zu ergänzen. Die Wirksamkeit einer derartigen Kündigung muss nicht daran scheitern, dass nicht zusätzlich auf die jeweils maßgeblichen Vorschriften für die Berechnung der Kündigungsfrist hingewiesen werden muss. Da das BAG die Bestimmtheit in der vorliegenden Entscheidung allerdings jedenfalls auch damit begründet hat, dass es für den Arbeitnehmer „problemlos“ möglich gewesen sei, die richtige Frist zu erkennen, sollte die Rechtsgrundlage der Berechnung der Kündigungsfrist im Zweifel benannt werden, um den Vorwurf von „Erkennbarkeitsproblemen“ zu vermeiden.

3. Zurückweisung bei Kündigung durch Personalleiter (der Konzernmutter) 946 In ihren Urteilen vom 25.9.2014 und 25.2.2014 haben das BAG v. 25.9.2014 – 2 AZR 567/13, dazu EWiR 2015, 57 (Wösthoff)

und das LAG Schleswig-Holstein v. 25.2.2014 – 1 Sa 252/13, BeckRS 2014, 68045

noch einmal deutlich gemacht, unter welchen Umständen die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses, die nicht vom Geschäftsführer bzw. Vorstand oder einer natürlichen Person als Arbeitgeber ausgesprochen wird, nicht vom Arbeitnehmer nach § 174 BGB zurückgewiesen werden kann. a) Grenzen des Zurückweisungsrechts nach der Rechtsprechung des BAG 947 Eine Zurückweisung ist nach der ständigen Rechtsprechung des BAG nicht nur – wegen § 15 Abs. 2 HGB – dann ausgeschlossen, wenn sich die Befugnis des Vertreters dem Handelsregister entnehmen lässt. Dies ist bei einer Prokura der Fall, sofern ergänzende Vorgaben zur Gesamtprokura beachtet werden. 948 Nach § 174 Satz 2 BGB ist eine Zurückweisung auch dann ausgeschlossen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer von der Bevollmächtigung in Kenntnis gesetzt hatte. Wie das BAG mit Urteil vom 25.9.2014 – 2 AZR 567/13, n. v.

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I. Betriebsbedingte Kündigung

bestätigt hat, liegt ein In-Kenntnis-Setzen in diesem Sinne auch dann vor, wenn der Arbeitgeber bestimmte Mitarbeiter – z. B. durch die Bestellung zum Prokuristen, Generalbevollmächtigten oder Leiter der Personalabteilung – in eine Stelle berufen hat, mit der üblicherweise ein Kündigungsrecht verbunden ist. Die interne Übertragung einer solchen Funktion reiche indes – so das BAG unter Bestätigung seiner bisherigen Rechtsprechung – nicht aus. Erforderlich sei vielmehr, dass sie auch nach außen im Betrieb ersichtlich sei oder eine sonstige Bekanntmachung erfolge. Insofern müsse der Erklärungsempfänger davon in Kenntnis gesetzt werden, dass der Erklärende die Stellung tatsächlich innehabe. Kündige ein Prokurist, könne die Zurückweisung der Kündigung nach § 174 BGB selbst dann ausgeschlossen sein, wenn der Erklärungsempfänger keine Kenntnis der Erteilung der Prokura bzw. der Prokuristenstellung habe. Dies gelte jedenfalls im Rahmen der Fiktion des § 15 Abs. 2 HGB. Diese Grundsätze gelten – wie das BAG ergänzend klarstellt – allerdings 949 auch dann, wenn der Personalleiter und Gesamtprokurist das Kündigungsschreiben mit dem Zusatz „ppa“ unterzeichnet. Insofern kommt es auf die Frage, ob er auch als Gesamtprokurist die erforderliche Vertretungsmacht hat, nicht an. Der Zusatz nach § 51 HGB solle zwar klarstellen, dass der Erklärende als Prokurist für den Inhaber handele. Daraus lasse sich aber nicht schließen, dass er aus der Funktion als Personalleiter keine alleinige Kündigungsbefugnis habe. Dies gelte erst recht, wenn man berücksichtige, dass ein Gesamtprokurist selbst dann mit dem gewöhnlichen Prokurazusatz zeichne, wenn er nur mit interner Zustimmung des anderen Gesamtprokuristen handele. BAG, v. 25.9.2014 – 2 AZR 567/13, n. v. Praxistipp: Dies ist eine für die Praxis wichtige Klarstellung und Erleichterung. Zur Vermeidung einer Diskussion um ein erfolgtes In-Kenntnis-Setzen empfiehlt es sich dennoch, Kündigungen vorsorglich eine Originalvollmacht beizufügen, wenn das In-Kenntnis-setzen nicht nachweislich erfolgt ist. Dies kann z. B. durch ein gegengezeichnetes Rundschreiben, einen betrieblichen Aushang oder eine E-Mail geschehen. Sichergestellt werden muss dabei aber, dass dies auch gegenüber dem gekündigten Mitarbeiter erfolgt ist.

b) Risiken in Konzernsachverhalten Die dabei bestehenden Risiken hat noch einmal die Entscheidung des LAG 950 Schleswig-Holstein vom 25.2.2014 deutlich gemacht, in der die Parteien um die formelle Wirksamkeit der Kündigung des Klägers stritten. aa) Sachverhalt des LAG Schleswig-Holstein Die Personalleiterin (HR Director) der in einen Konzernverbund eingebun- 951 denen Beklagten, welche die Kündigung des Klägers nach gut sechsmonatiger Dauer des Arbeitsverhältnisses für die Beklagte unterzeichnet hatte, war

227

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen

nicht bei der Beklagten selbst, sondern bei der Konzernmuttergesellschaft angestellt und übte die Personalbefugnisse für eine ganze Gruppe von Unternehmen aus dem Konzern aus. Sie hatte bereits das Einstellungsgespräch geführt und den Arbeitsvertrag des Klägers für die Beklagte unterzeichnet. Darüber hinaus ergaben sich allerdings keine Berührungspunkte zwischen ihr und dem Kläger, der aus dem Home Office heraus tätig war und an Mitarbeiter der Beklagten berichtete. Dem am 14.1.2013 zugegangenen Kündigungsschreiben lag die Kopie einer Kündigungsvollmacht des Geschäftsführers der Beklagten bei. Mit Schreiben vom 18.1.2013, der Beklagten spätestens tags darauf zugegangen, rügte der Kläger das Vorliegen einer Vollmachtsurkunde und wies die Kündigung zurück. Von der Funktion der Personalleiterin habe er erst nach der Kündigung erfahren. Der Titel „HR Director“ lasse weder auf besondere Befugnisse, noch auf Kompetenzen der Personalleiterin zur Kündigung von Arbeitsverhältnissen schließen. Das ArbG gab der Klage statt. bb) Wesentliche Überlegungen des LAG Schleswig-Holstein 952 Das LAG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Wirksamkeit der Kündigung scheitere an der wirksamen Zurückweisung nach § 174 Satz 1 BGB. Ein Ausschluss des Zurückweisungsrechts nach § 174 Satz 1 BGB komme nicht in Betracht, da dem Kündigungsschreiben nur eine Kopie der Vollmacht beigefügt war, so dass keine Vollmachtsurkunde i. S. v. § 174 BGB vorgelegen habe. Den zwischen dem Zugang der Kündigung am 14.1.2013 und des Zurückweisungsschreibens am 19.1.2014 liegenden Zeitraum von fünf Tagen hielt das LAG Schleswig-Holstein für ausreichend, um von einer noch „unverzüglichen“ Zurückweisung auszugehen. 953 § 174 Satz 2 BGB hielt das LAG Schleswig-Holstein nicht aufgrund vorheriger Kenntniserlangung von der Kündigungsberechtigung der Personalleiterin für einschlägig. Zwar sei die Stelle des Leiters der Personalabteilung üblicherweise mit einem Kündigungsrecht verbunden, jedoch reiche die bloße Übertragung einer solchen Funktion nicht aus, wenn sie aufgrund der Stellung des Bevollmächtigten im Betrieb nicht offensichtlich sei und auch sonst keine Bekanntmachung erfolge. Insbesondere sei die Befugnis zum Abschluss von Arbeitsverträgen kein ausreichendes Indiz für die Befugnis zur Kündigung, weil entsprechende Bevollmächtigungen auseinanderfallen könnten. 954 Die Entscheidung macht daher noch einmal deutlich, wie wichtig eine öffentliche Bekanntmachung von Kündigungsbefugnissen ist. 4. Kündigungsfrist bei Kündigung durch den Insolvenzverwalter 955 Zu den arbeitsrechtlichen Erleichterungen in der Insolvenz zählt insbesondere die in § 113 InsO normierte Kündigungsmöglichkeit. § 113 Satz 1 InsO regelt die Möglichkeit, die in der Insolvenz gemäß § 108 InsO zunächst fortbestehenden Arbeitsverhältnisse ohne Rücksicht auf eine vereinbarte Vertragsdauer oder einen vereinbarten Ausschluss des Rechts zur ordentlichen

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I. Betriebsbedingte Kündigung

Kündigung zu kündigen. § 113 Satz 2 InsO legt sodann fest, wie sich die für eine solche Kündigung maßgebliche Kündigungsfrist bestimmt. Durch § 113 InsO werden Hindernisse, die der Ausübung des ordentlichen Kündigungsrechts entgegenstehen, in der Insolvenz beseitigt Vgl. zu den Grenzen dieser beseitigenden Wirkung statt vieler Zwanziger, Arbeitsrecht der Insolvenzordnung, InsO § 113 Rn. 14 ff.

und länger als drei Monate dauernde Kündigungsfristen „gekappt“. Praxistipp: Die Kappung gilt unabhängig vom Kündigungsgrund, sodass neben betriebsbedingten Kündigungen auch personen- und verhaltensbedingte Kündigungen erfasst sind (vgl. Zwanziger, Arbeitsrecht der Insolvenzordnung, InsO § 113 Rn. 11).

Die Einhaltung der höchstens dreimonatigen Kündigungsfrist ist dem Insol- 956 venzverwalter, wie das BAG in seinem Urteil vom 23.1.2014 – 2 AZR 372/13, DB 2014, 1813

klargestellt hat, nicht allein aufgrund der Insolvenzsituation unzumutbar. In seinem Urteil vom 27.2.2014

957

– 6 AZR 301/12, DB 2014, 1125

hat das BAG die Anwendung dieser Regelung durch die Klarstellung erleichtert, dass es zum einen keinen Anspruch des Arbeitnehmers gegen den Insolvenzverwalter darauf gibt, im Ausnahmefall eine Kündigung erst in einem späteren Zeitpunkt auszusprechen. In diesem Zusammenhang hat der 6. Senat des BAG zu Recht einen Anspruch auf Verlängerung der Frist wegen der – z. B. sozialversicherungsrechtlichen – Besonderheiten des Einzelfalls abgelehnt. Praxistipp: Dem Insolvenzverwalter ist es durch § 113 Satz 2 InsO zwar rechtlich nicht untersagt, mit einer längeren Frist als der danach vorgesehenen zu kündigen. Aus Haftungsgründen wird er von dieser rechtlichen Möglichkeit vor allem dann Gebrauch machen, wenn die längere Kündigungsfrist im Interesse der Masse liegt. Dies kann dann in Betracht kommen, wenn die Masse nicht mit dem Schadenersatzanspruch nach § 113 Satz 3 InsO belastet werden soll oder wenn der Arbeitnehmer zu Abwicklungsarbeiten noch bis zum Ablauf der längeren Kündigungsfrist benötigt wird (BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 301/12, ZIP 2014, 1685 = DB 2014, 1125).

a) Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall war über das Vermögen der Arbeitgeberin am 1.9.2009 958 das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Der beklagte Insolvenzverwalter kündigte das Arbeitsverhältnis der sich im Zeitpunkt der Kündigung in Elternzeit befindenen Klägerin u. a. nach der Zulässigkeitserklärung durch das 229

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen

Gewerbeaufsichtsamt mit Schreiben vom 9.2.2010 zum 31.5.2010 wegen einer Betriebsstilllegung. Die Klägerin verlor dadurch die Möglichkeit, sich und ihre Kinder weiterhin beitragsfrei in der gesetzlichen Krankenversicherung zu versichern. Dies war dem Insolvenzverwalter bekannt. Die Parteien stritten im Kündigungsschutzverfahren u. a. darüber, ob das Arbeitsverhältnis der Klägerin vom Beklagten mit der Drei-Monats-Frist des § 113 Satz 2 InsO beendet werden konnte. Arbeitsvertraglich war eine Kündigungsfrist von drei Monaten zum Quartalsende vereinbart. b) Wesentliche Überlegungen des BAG 959 Das BAG bewertete die Revision der Klägerin zu Recht als unbegründet. Das Arbeitsverhältnis war durch die Kündigung des Insolvenzverwalters unter Einhaltung der Höchstfrist des § 113 Satz 2 InsO von drei Monaten zum 31.5.2010 beendet worden. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers handelt es sich dabei um eine „eigene“ Kündigungsfrist als Höchstfrist, die sowohl für den Insolvenzverwalter als auch für den Arbeitnehmer gilt. BT-Drucks. 12/7302, S. 169.

960 Diese Frist geht als gesetzliche Spezialregelung allen längeren Kündigungsfristen vor. Vgl. bereits BAG, v. 22.9.2005 – 6 AZR 526/04, BAGE 116, 19 = ZIP 2006, 631.

aa) Wortlaut des § 113 InsO 961 Die Klägerin hatte ihre Argumentation u. a. auf das im Wortlaut des § 113 InsO enthaltene Wort „kann“ gestützt und die Ansicht vertreten, daraus folge, dass die Nutzung der in § 113 InsO vorgesehenen Kündigungserleichterungen der Billigkeitskontrolle unterliege. Dabei übersieht sie aber – worauf das BAG zu Recht hinweist –, dass bereits der Wortlaut des § 113 InsO gegen ihre Annahme spricht. Denn lediglich § 113 Satz 1 InsO sieht vor, dass das Arbeitsverhältnis vom Insolvenzverwalter ohne Rücksicht auf die vereinbarte Vertragsdauer und einen Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung gekündigt werden „kann“. Macht der Insolvenzverwalter von diesem Gestaltungsrecht Gebrauch, „beträgt“ nach § 113 Satz 2 InsO die Kündigungsfrist höchstens drei Monate zum Monatsende. Ein Ermessen hinsichtlich der Kündigungsfrist eröffnet ihm der Wortlaut dieser Bestimmung gerade nicht. bb) Unabwendbarkeit von § 315 Abs. 3 BGB 962 Darüber hinaus fehlt es für die von der Klägerin in Anspruch genommene Billigkeitskontrolle an der erforderlichen Rechtsgrundlage. Denn § 315 Abs. 3 BGB knüpft die Billigkeitskontrolle an ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht einer Vertragspartei (§ 315 Abs. 1 BGB). Da ein Kündigungsrecht mit einem Leistungsbestimmungsrecht aber nicht vergleichbar

230

I. Betriebsbedingte Kündigung

ist, scheidet eine Billigkeitskontrolle von gesetzlichen Kündigungsfristen nach § 315 Abs. 3 BGB aus. Sie unterliegen – wie das BAG explizit klarstellt – allein einer Rechtskontrolle. cc) Teleologische Bewertung Bei dieser „formalen“ Argumentation bleibt das BAG allerdings nicht stehen, 963 sondern sichert sein Ergebnis teleologisch anhand des Zwecks gesetzlicher Kündigungsfristen sowie des das Insolvenzrecht beherrschenden Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung ab. Mit beidem sei es nicht vereinbar, die Länge der Kündigungsfrist von der Interessenlage des Kündigungsempfängers im konkreten Einzelfall abhängig zu machen. Dabei berücksichtigt es spezifisch die Insolvenzsituation: Gerade in der Insolvenz stellten Kündigungen oft Massenphänomene dar 964 und müssten im Interesse der Rechtssicherheit hinsichtlich des Zeitpunkts, zu dem sie wirksam werden sollen, überschaubar und feststellbar sein. Vgl. für § 193 BGB bereits BAG, v. 5.3.1970 – 2 AZR 112/69, BAGE 22, 304.

Dem widerspräche es, wenn einzelne Arbeitnehmer erfolgreich geltend machen 965 könnten, ihr Arbeitsverhältnis müsse bei im Übrigen identischen Voraussetzungen aufgrund individueller Härten später enden als das anderer Arbeitnehmer. Dies gilt umso mehr, als sich die Rechtsunsicherheit, die sich aus der von der Klägerin geforderten Billigkeitskontrolle bei der Anwendung der Insolvenzkündigungsfrist ergäbe, bei anderen arbeits- und insolvenzrechtlichen Fragestellungen fortsetzte. So könne die Höhe eines Sozialplananspruchs vom Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses abhängen. Auch könne der Insolvenzverwalter die Höhe der von ihm nach § 55 Abs. 2 InsO zu begleichenden Masseverbindlichkeiten und damit die weitere Zulänglichkeit der Masse kaum kalkulieren, wenn er damit rechnen muss, dass eine Vielzahl von Arbeitnehmern Gesichtspunkte anführen, die für eine Nichtanwendung der Kündigungshöchstfrist des § 113 Satz 2 InsO aus Billigkeitsgründen sprächen. dd) Keine Korrektur durch Rücksichtnahmepflichten Das auch angesichts der vom BAG skizzierten Interessenlage überzeugend 966 begründete Ergebnis will das BAG auch nicht auf der Grundlage einer aus der in § 241 Abs. 2 BGB i. V. m. § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V unter Berücksichtigung der Wertentscheidungen des Art. 6 Abs. 1 GG gefolgerten Rücksichtnahmepflicht korrigieren. Ausgehend davon, dass der Arbeitnehmer außer in den Fällen einer notwen- 967 digen Auslauffrist etwa bei tariflicher Unkündbarkeit keinen Anspruch dar-

231

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen

auf habe, dass der Arbeitgeber von einer gesetzlichen Kündigungsfrist keinen Gebrauch mache, sondern das Arbeitsverhältnis erst zu einem späteren Zeitpunkt beende, vgl. bereits BAG, v. 20.1.2005 – 2 AZR 500/03, NZA 2005, 687,

könne der Arbeitnehmer in der Insolvenz seines Arbeitgebers – so das BAG – erst recht nicht verlangen, dass der Insolvenzverwalter auf die Möglichkeit verzichtet, das Arbeitsverhältnis zum in § 113 Satz 2 InsO gesetzlich vorgesehenen Zeitpunkt zu beenden. Praxistipp: Das gilt nach den Feststellungen des BAG auch dann, wenn dadurch keine Entgeltansprüche oder sonstige Nachteile – und sei es nur durch die Verzögerung der Abwicklung – zulasten der Masse entstünden.

968 Der zur Gleichbehandlung aller Gläubiger und zügigen Abwicklung des Insolvenzverfahrens verpflichtete Insolvenzverwalter müsse bei seiner Kündigungsentscheidung auch die sich aus § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V ergebenden sozialversicherungsrechtlichen Folgen nicht berücksichtigen und den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht an diesen Folgen ausrichten. Habe ein Arbeitnehmer, der Elternzeit in Anspruch nimmt, durch die abgekürzte Kündigungsfrist des § 113 Satz 2 InsO sozialversicherungsrechtliche Nachteile, sei er auf den Schadenersatzanspruch nach § 113 Satz 3 InsO zu verweisen. 969 Dieses Ergebnis stehe entgegen der Auffassung der Klägerin im Einklang mit Art. 6 Abs. 1 GG. Denn der Schutzauftrag aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG richte sich nicht an den Arbeitgeber, sondern an den Staat und dieser habe ihm in der vorliegenden Konstellation durch § 18 Abs. 1 Satz 1 BEEG, der auch in der Insolvenz gilt, genügt. Dabei umfasse § 18 Abs. 1 BEEG nicht den Schutz vor etwaigen nachteiligen sozialversicherungsrechtlichen Folgen einer Kündigung, die sich daraus ergeben, dass § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V eine beitragsfreie Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung während der Elternzeit nur vorsieht, solange das Arbeitsverhältnis fortbesteht. Der Gesetzgeber habe sich bewusst dafür entschieden, den mit der Elternzeit verbundenen sozialversicherungsrechtlichen Vorteil einer beitragsfreien gesetzlichen Krankenversicherung nicht in den gesetzlichen Schutz des § 18 BEEG einzubeziehen. Die zuständige Behörde dürfe deshalb den Erhalt dieser beitragsfreien Mitgliedschaft nicht zugunsten des Arbeitnehmers in ihre Ermessensentscheidung nach § 18 BEEG einbeziehen. Ebenso BVerwG, v. 30.9.2009 – 5 C 32.08, NJW 2010, 2074.

970 Erst recht müsse dann der Insolvenzverwalter die sozialversicherungsrechtlichen Folgen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses für Arbeitnehmer, die sich in Elternzeit befinden, weder bei seiner Kündigungsentscheidung als solcher noch bei der Anwendung der gesetzlichen Kündigungsfrist des § 113 Satz 2 InsO berücksichtigen. 232

I. Betriebsbedingte Kündigung

Die Klägerin berücksichtige bei ihrer abweichenden Argumentation auch die 971 Systematik des § 113 InsO sowie der Insolvenzordnung nicht. Die Klägerin kann einen etwaigen, ihr durch die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.5.2010 entstandenen versicherungsrechtlichen Nachteil als Schadenersatz geltend machen. § 113 Satz 3 InsO räumt dem Arbeitnehmer einen verschuldensunabhängigen, im Rang einer Insolvenzforderung stehenden Anspruch auf Ersatz des Verfrühungsschadens ein, wenn der Insolvenzverwalter unter Abkürzung der ohne die Insolvenz maßgeblichen Kündigungsfrist kündigt. Der Arbeitnehmer ist so zu stellen, wie er bei Anwendung der für ihn ohne das Insolvenzverfahren maßgeblichen Regelung stehen würde. Vgl. bereits BAG, v. 25.4.2007 – 6 AZR 622/06, BAGE 122, 197 = ZIP 2007, 1875.

Allein dieser Schadenersatzanspruch sei der dem Insolvenzrecht immanente 972 und dem System der Insolvenzordnung entsprechende Ausgleich für die Nachteile, die dem Arbeitnehmer durch die gesetzlich eröffnete Verkürzung der Kündigungsfrist entstehen. Vgl. bereits BAG, v. 16.5.2007 – 8 AZR 772/06, BAGE 122, 337 = ZIP 2007, 1829, dazu EWiR 2007, 755 (Brose).

Der von der Klägerin begehrte Anspruch auf Verlängerung der Kündigungs- 973 frist ist dem System der Insolvenzordnung dagegen fremd. BAG, v. 27.2.2014 – 6 AZR 301/12, ZIP 2014, 1685 = DB 2014, 1125.

5. Betriebsbedingte Kündigung wegen Betriebsstilllegung Mit den dringenden betrieblichen Erfordernissen i. S. d. § 1 Abs. 2 Satz 1 974 KSchG, die eine Kündigung sozial rechtfertigen können, hat sich das LAG Rheinland-Pfalz in seinem für die Sanierungspraxis wichtigen, rechtskräftigen Urteil vom 20.2.2014 – 2 Sa 123/13, BeckRS 2014, 70591

überzeugend auseinander gesetzt. a) Sachverhalt Im entschiedenen Fall stritten die Parteien über die Wirksamkeit einer be- 975 triebsbedingten Kündigung des beklagten Insolvenzverwalters über das Vermögen des Arbeitgebers. Der Beklagte beschloss, den Betrieb, in dem die Klägerin beschäftigt war, stillzulegen. In der Gläubigerversammlung wurde dies bestätigt. Der Beklagte führte daraufhin einen Abverkauf durch und schloss mit dem kraft Gesetzes zuständigen Gesamtbetriebsrat (GBR) einen Interessenausgleich, der die Stilllegung mehrere fiktiver Betriebe nach § 3 Abs. 5 BetrVG betraf, nachdem er den GBR darüber informiert hatte, dass eine Übernahme des Unternehmens durch einen Investor gescheitert sei. Der Interessenausgleich enthielt insoweit u. a. folgende Regelung: 233

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen „§ 9 Der Insolvenzverwalter ist bemüht, soweit Filialen durch anderweitige Firmen übernommen werden, auch wenn dies nicht im Rahmen des § 613a BGB erfolgt, die Erwerber zu veranlassen, Mitarbeiter mitzuübernehmen. Soweit Mitarbeiter Filialen in Eigenregie übernehmen wollen, wird der Insolvenzverwalter, soweit dies möglich ist, die Mitarbeiter hierbei unterstützen (z. B. bei Übernahme Mietverträge etc.). Soweit sich für einzelne Filialen oder Lagerstandorte neue Übernahmeangebote ergeben sollten, wird der Insolvenzverwalter den GBR, auch wenn die Kündigungen bereits ausgesprochen sind hierüber informieren. Die Insolvenzverwalter haben der Gewerkschaft ver.di zugesagt, dass mit diesen unverzüglich auf Grundlage des beigefügten Entwurfes ein Transfertarifvertrag verhandelt und abgeschlossen wird, sofern dessen Finanzierung darstellbar ist.“

976 Der Beklagte kündigte das mit der Klägerin bestehende Arbeitsverhältnis wegen der Betriebsstilllegung. Mit ihrer Kündigungsschutzklage machte die Klägerin u. a. geltend, die Kündigung sei trotz der zunächst getroffenen Entscheidung zur vollständigen Betriebsstilllegung unwirksam, weil nicht alle Verkaufsstellen tatsächlich geschlossen würden, sondern für eine ihr nicht bekannte Anzahl Übernahme- bzw. Weiterführungsangebote gemacht worden seien. Das ArbG hat der Klage stattgegeben. b) Wesentliche Überlegungen des LAG Rheinland-Pfalz 977 Das LAG Rheinland-Pfalz hat die Kündigung demgegenüber zu Recht als aus betriebsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt nach § 1 Abs. 2 KSchG bewertet. 978 Dabei hat es zunächst noch einmal bestätigt, dass die Stilllegung des gesamten Betriebes durch den Arbeitgeber zu den dringenden betrieblichen Erfordernissen i. S. v. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG gehöre, die einen Grund zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung abgeben können. Daran kann grundsätzlich auch kein Zweifel bestehen. Denn einen noch dringenderen Grund als die Stilllegung des gesamten Betriebs kann es für den Wegfall von Beschäftigungsbedarf nicht geben. 979 Wichtig ist daher in der betrieblichen Praxis in erster Linie die Frage, wann von einer Betriebsstilllegung auszugehen ist. Dazu stellt das LAG RheinlandPfalz in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BAG fest, dass von einer Stilllegung jedenfalls dann ausgegangen werden könne, wenn x

der Arbeitgeber seine Stilllegungsabsicht unmissverständlich äußert,

x

allen Arbeitnehmern kündigt,

x

etwaige Miet- oder Pachtverträge zum nächstmöglichen Zeitpunkt auflöst,

234

I. Betriebsbedingte Kündigung

x

die Betriebsmittel, über die er verfügen darf, veräußert und

x

die Betriebstätigkeit vollständig einstellt. St. Rspr., vgl. BAG, v. 14.3.2013 – 8 AZR 153/12, AP Nr. 201 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung (LS); BAG, v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465.

Ausgehend von diesen Grundsätzen war die Kündigung im entschiedenen 980 Fall wegen der Stilllegung des gesamten Betriebes durch den Beklagten sozial gerechtfertigt. Entgegen der Ansicht der Klägerin ergab sich nach den zutreffenden Fest- 981 stellungen des LAG Rheinland-Pfalz aus der in § 9 des Interessenausgleichs enthaltenen Regelung nichts anderes. Allein der Umstand, dass sich der Beklagte ungeachtet der Betriebsstilllegung bemühen wollte, die Übernahme von Filialen durch andere Firmen oder durch Mitarbeiter in Eigenregie zu unterstützen und der Beklagte den Gesamtbetriebsrat im Falle sich ergebender neuer Übernahmeangebote zu informieren hat, stelle – so das LAG Rheinland-Pfalz – die im Zeitpunkt der Kündigung erfolgte Betriebsstilllegung nicht in Frage. Denn – und dies ist insbesondere für die zumeist unter Zeitdruck agierende Insolvenzpraxis wichtig – selbst wenn sich ein Arbeitgeber bei endgültig geplanter und bereits eingeleiteter Betriebsstilllegung noch eine Betriebsveräußerung vorbehält, falls sich eine Chance bietet, und dann später noch eine Betriebsveräußerung gelingt, bleibe es bei der sozialen Rechtfertigung der Kündigung. Vgl. auch BAG, v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465.

c) Bedeutung für die Sanierungspraxis Die Entscheidung schafft – zumal das BAG die gegen sie eingelegte Revision 982 verworfen hat – BAG, v. 30.7.2014 – 6 AZN 470/14, n. v.

weitere Klarheit zu der Frage, ob bereits eine Betriebsstilllegung vorliegt, wenn die Chancen für eine spätere Übernahme durch einen Investor noch nicht völlig aussichtslos sind, der Insolvenzverwalter aber weiß, dass er den Betrieb nicht auf Dauer selbst fortführen kann. Auf der Grundlage der Feststellungen des LAG Rheinland-Pfalz kann er, selbst wenn er mit Zustimmung des Gläubigerausschusses oder der Gläubigerversammlung beschließt, den Betrieb mangels Finanzierung oder zur Vermeidung einer Masseschmälerung stillzulegen, zu einem späteren Zeitpunkt dennoch mit Investoren weiterverhandeln und versuchen, den Betrieb zu veräußern. 6. Betriebsbedingte Kündigung wegen Auftragsmangels Betriebliche Erfordernisse, die eine Kündigung nach § 1 Abs. 2 KSchG zulassen, 983 entstehen nicht nur aus innerbetrieblichen Umständen wie Rationalisierungs235

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen

maßnahmen, Arbeitszeitflexibilisierung, Streichung von Aufgaben und/oder die Stilllegung von Betrieben oder Betriebsteilen. Betriebliche Erfordernisse i. S. d. § 1 Abs. 2 KSchG können sich auch aus außerbetrieblichen Umständen ergeben, wie der 2. Senat des BAG in seinem Urteil vom 20.2.2014 – 2 AZR 346/12, ZIP 2014, 1691

noch einmal mit Blick auf einen Auftragsverlust bzw. einen reduzierten Auftragsbestand unter Kennzeichnung der Anforderungen an die Darlegungsund ggf. Beweislast des Arbeitgebers deutlich gemacht hat. 984 Wenn der Arbeitgeber in solchen Fällen die Anzahl der benötigten Arbeitnehmer an die verbliebene Arbeitsmenge anpasse, könne sich daraus ein dringendes betriebliches Erfordernis zur Kündigung ergeben. Voraussetzung hierfür sei, dass der Arbeitsanfall – dauerhaft – so zurückgegangen sei, dass zukünftig für einen oder mehrere Arbeitnehmer kein Bedürfnis mehr für eine Beschäftigung bestehe. Dies muss der Arbeitgeber darlegen und ggf. beweisen. Praxistipp: Wichtig für die betriebliche Praxis ist, dies bereits bei der Vorbereitung der Betriebsratsanhörung zu berücksichtigen, die bereits den entsprechenden Sachvortrag enthalten muss.

985 Ein Verweis des Arbeitgebers auf auslaufende Aufträge und das Fehlen von Anschlussaufträgen reicht insoweit nach den Feststellungen des BAG regelmäßig nicht aus, um einen nachhaltigen Rückgang zu begründen. Der Arbeitgeber, den im Kündigungsschutzprozess nach § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen i. S. v. § 1 Abs. 2 KSchG treffe, müsse vielmehr anhand seiner Auftrags- und Personalplanung im Einzelnen darstellen, warum nicht nur eine kurzfristige Abwärtsbewegung vorliege, sondern ein dauerhafter Auftragsrückgang zu erwarten sei. Die Möglichkeit einer „normalen“, im Rahmen des Üblichen liegenden Auftragsschwankung müsse prognostisch ausgeschlossen sein. 986 Diesem Erfordernis müssten – so das BAG – der Inhalt und die Substanz des Sachvortrags des Arbeitgebers gerecht werden. Er müsse deshalb den nachhaltigen Rückgang des Arbeitsvolumens nachvollziehbar darstellen, indem er die einschlägigen Daten aus repräsentativen Referenzperioden miteinander vergleiche. BAG, v. 20.2.2014 – 2 AZR 346/12, ZIP 2014, 1691, dazu EWiR 2014, 635 (Schubert); BAG, v. 23.2.2012 – 2 AZR 548/10, NJW 2012, 2747.

Beispiel: Als nicht ausreichend hat das BAG im entschiedenen Fall bewertet, dass die Beklagte nur Umsatzzahlen vorgelegt hatte, die den Zeitraum vom 1. Quartal 2008 bis zum 1. Quartal 2009 betrafen. Den Auftragsbestand hatte sie lediglich mit Zahlenmaterial für das 2. Halbjahr 2008 und das 1. Quartal 2009 beschrieben.

236

I. Betriebsbedingte Kündigung

Wie sich das Geschäft der Beklagten in vergleichbaren Referenzperioden davorliegender Jahre konkret – in Zahlen ausgedrückt – darstellte, hatte die Beklagte nicht vorgetragen. Damit war nicht erkennbar, ob etwaige Schwankungen üblich oder unüblich waren. Ebenso wenig war erkennbar, ob eine nachhaltige Tendenz in Bezug auf die Auftragsentwicklung gegeben war. Auf dieser Grundlage konnte nach der Bewertung des BAG weder ausgeschlossen werden, dass nur ein kurzzeitiger Auftragseinbruch zu erwarten war, noch war ausgeschlossen, dass die behaupteten Einbußen nur Umsatz- oder Auftragsspitzen betrafen, die für die „normale“ Auftrags- und Beschäftigungslage bei der Beklagten nicht charakteristisch waren. Praxistipp: Ein Auftragsrückgang kann damit zwar die betriebsbedingte Kündigung eines Arbeitsverhältnisses als außerbetrieblicher Grund rechtfertigen. Die Anforderungen an die Darlegung und den Nachweis dieses außerbetrieblichen Umstands sind aber relativ streng, sodass die Darlegung aufwändig ist. Erforderlich ist nämlich, dass die fehlende Möglichkeit einer zukünftigen Weiterbeschäftigung, die auf der Basis aktueller Auftrags- bzw. Umsatzzahlen prognostiziert wird, auf der Basis von Referenzzeiträumen mehrerer Jahre der Vergangenheit erläutert wird. Nur wenn durch diesen Vergleich erkennbar wird, dass eine abweichende, negative Entwicklung eingetreten ist, kann mit der für eine Kündigung hinreichenden Wahrscheinlichkeit die fehlende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit prognostiziert werden. Die Sanierungspraxis sollte daher außerbetriebliche Gründe eher zum Anlass für innerbetriebliche Maßnahmen nehmen, deren Darlegung zumeist wesentlich leichter umsetzbar ist.

7. Anforderungen an eine Sozialauswahl In seinem Urteil vom 19.12.2013

987

– 6 AZR 790/12, ZIP 2014, 536

hat das BAG im Rahmen der Prüfung einer Sozialauswahl auf der Grundlage eines Interessenausgleichs nach § 125 InsO noch einmal zusammengefasst, wie eine Sozialauswahl durchzuführen ist und dabei wichtige Klarstellungen zur groben Fehlerhaftigkeit einer Sozialauswahl vorgenommen. Zum Sachverhalt vgl. unter Rn. 1003.

a) Anwendbarkeit des KSchG auch in der Insolvenz Dabei hat es zunächst noch einmal klargestellt, dass das KSchG im Insol- 988 venzverfahren mit der Folge Anwendung findet, dass der Insolvenzverwalter grundsätzlich eine soziale Auswahl i. S. d. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG vorzunehmen hat. Vgl. bereits BAG, v. 28.10.2004 – 8 AZR 391/03, BAGE 112, 273 = ZIP 2005, 412, dazu EWiR 2005, 263 (Richter).

237

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen

b) Betriebsbezogenheit der Sozialauswahl 989 Nach der Konzeption des § 1 Abs. 3 KSchG ist die Sozialauswahl betriebsbezogen durchzuführen. In die Auswahlentscheidung sind diejenigen vergleichbaren Arbeitnehmer einzubeziehen, welche in demselben Betrieb beschäftigt sind. St. Rspr., vgl. BAG, v. 7.7.2011 – 2 AZR 476/10, IPRspr 2011, Nr. 56, 118; BAG, v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, BB 2009, 447; BAG, v. 31.5.2007 – 2 AZR 276/06, BAGE 123, 1 = ZIP 2007, 2433, dazu EWiR 2008, 201 (Ostermaier). Praxistipp: Im Falle der Insolvenz können sich die Betriebspartner nicht bewusst über diese nicht zu ihrer Disposition stehende gesetzliche Grundbedingung der sozialen Auswahl hinwegsetzen und den Kreis der in die Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer enger oder weiter ziehen, als es das KSchG in seiner Auslegung durch das BAG zulässt (vgl. BAG, v. 20.9.2012 – 6 AZR 483/11, ZIP 2013, 284). § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO verändert nur den Prüfungsmaßstab. Eine abteilungsbezogene Sozialauswahl ist daher ein grober Auswahlfehler, wenn nicht die Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer auf die Abteilungen beschränkt ist (vgl. auch ErfK/Gallner, InsO § 125 Rn. 10).

c) Vergleichbarkeit von Arbeitnehmern 990 Die „horizontale“ Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG setze – so das BAG weiter – voraus, dass die vom Wegfall des Arbeitsplatzes unmittelbar betroffenen Arbeitnehmer auf einem vorhandenen Arbeitsplatz tatsächlich und rechtlich einsetzbar sind. Es komme darauf an, ob diese Arbeitnehmer aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation sowie aufgrund ihrer gleichwertigen Tätigkeiten im Betrieb in der Lage sind, eine andersartige, aber gleichwertige Arbeit von anderen Arbeitnehmern nach einer (relativ) kurzen Einarbeitungszeit auszuüben. Praxistipp: Auch wenn der 6. Senat dies alles unter dem Begriff „horizontale“ Vergleichbarkeit zusammenfasst, sind damit in der Sache die – ebenfalls erforderlichen – Aspekte der fachlichen Vergleichbarkeit (qualifikationsmäßige Austauschbarkeit) und der rechtlichen Vergleichbarkeit (Versetzbarkeit im Rahmen des Direktionsrechts nach § 106 GewO) gemeint.

991 Mit Blick auf die fachliche Austauschbarkeit kann nach den Feststellungen des BAG einem aktuellen Stand von Kenntnissen und Fähigkeiten erhebliche Bedeutung zukommen. Ein arbeitsplatzbezogener „Routinevorsprung“ habe bei der Frage der Vergleichbarkeit aber außer Betracht zu bleiben.

238

I. Betriebsbedingte Kündigung Praxistipp: Das ist rechtlichen Laien häufig nur schwer zu vermitteln. Hierauf muss in der Beratungspraxis besonderer Wert gelegt werden. Ggf. sollte, um „Überraschungen“ zu vermeiden, mehrfach nachgefragt und der Mandant gebeten werden, zu umschreiben, warum der eine Mitarbeiter nicht „nur“ besser arbeitet als ein anderer.

Welcher Einarbeitungszeitraum dem Arbeitgeber zugemutet werden kann, 992 hängt nach der Rechtsprechung des BAG von den Umständen des Einzelfalls ab. BAG, v. 24.5.2005 – 8 AZR 398/04, BAGE 114, 374 = ZIP 2005, 1978, dazu EWiR 2006, 165 (Grimm/Brock); BAG, v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, BB 2009, 447. Praxistipp: Als „Faustformel“ hat sich in der Praxis eine Einarbeitungszeit von sechs Wochen, im Einzelfall aber höchstens von drei Monaten herausgebildet.

d) Auswahl innerhalb der Vergleichsgruppe Es ist – so das BAG weiter – das Wesen der Sozialauswahl, dass sie innerhalb 993 der Vergleichsgruppen zu erfolgen hat. Vgl. bereits BAG, v. 22.3.2012 – 2 AZR 167/11, NZA 2012, 1040.

Dazu muss grundsätzlich zunächst einmal die Vergleichsgruppe zutreffend 994 gebildet sein. Praxistipp: Nach Aufgabe der „Dominotheorie“ durch das BAG (BAG, v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, DB 2007, 1087) kann sich ein Arbeitnehmer auf Fehler der Sozialauswahl – und das heißt auch auf eine fehlerhafte Gruppenbildung – nur berufen, wenn sie für seine Kündigung kausal war (vgl. HWK/Quecke, KSchG § 1 Rn. 332).

Liegt allerdings ein Interessenausgleich mit Namensliste nach §§ 1 Abs. 5 995 KSchG bzw. 125 Abs. 1 Satz 1 InsO vor, ist die Sozialauswahl insgesamt – auch in Bezug auf die Vergleichsgruppenbildung – nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüfbar. Praxistipp: Dies eröffnet den Betriebsparteien erhebliche Gestaltungsspielräume bis hin zur Grenze der Offensichtlichkeit eines Fehlers bzw. des Missbrauchs dieser Gestaltungsmöglichkeit. Diese Grenzen kennzeichnet das BAG wie folgt.

239

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen

aa) Kennzeichnung einer „groben“ Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl 996 Im Insolvenzverfahren kann bei Vorliegen eines Interessenausgleichs gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO die Sozialauswahl grob fehlerhaft sein, wenn x

bei der Bestimmung des Kreises vergleichbarer Arbeitnehmer die Austauschbarkeit offensichtlich verkannt worden ist und

x

bei der Anwendung des Ausnahmetatbestands des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG die betrieblichen Interessen augenfällig überdehnt worden sind. Vgl. bereits BAG, v. 17.11.2005 – 6 AZR 107/05, BAGE 116, 213 = ZIP 2006, 774, dazu EWiR 2006, 499 (Thüsing/v. Medem).

997 Sprechen dagegen gut nachvollziehbare und ersichtlich nicht auf Missbrauch zielende Überlegungen für die – ggf. fehlerhaft – getroffene Eingrenzung des auswahlrelevanten Personenkreises, ist die Grenze der groben Fehlerhaftigkeit unterschritten. So bereits BAG, v. 20.9.2012 – 6 AZR 483/11, ZIP 2013, 284; BAG, v. 3.4.2008 – 2 AZR 879/06, NZA 2008, 1060. Praxistipp: Hinsichtlich der Einschätzung der tatsächlichen Verhältnisse ist den Betriebspartnern durch § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt; auch insoweit ist die Sozialauswahl nur auf grobe Fehlerhaftigkeit zu überprüfen (BAG, v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, ZIP 2014, 536 (m. Bespr. Göpfert/Stark, ZIP 2015, 155), dazu EWiR 2014, 295 (Mückl)).

bb) „Unmittelbare Substituierbarkeit“ als „grober“ Fehler? 998 Ob eine Beschränkung des auswahlrelevanten Personenkreises auf sofort austauschbare Arbeitnehmer („unmittelbare Substituierbarkeit“) in verschiedenen Geschäftsbereichen in einem Interessenausgleich mit Namensliste grob fehlerhaft ist, hatte das BAG bislang offengelassen. Vgl. BAG, v. 17.11.2005 – 6 AZR 107/05, BAGE 116, 213 = ZIP 2006, 774.

999 In seinem Urteil vom 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, ZIP 2014, 536

hat das BAG nun klargestellt, dass im Regelfall grobe Fehlerhaftigkeit vorliegen wird, da die soziale Schutzwürdigkeit der Arbeitnehmer zu Gunsten der betrieblichen Interessen anderenfalls schon dann zurücktreten würde, wenn nur eine kurze Einarbeitungszeit von einigen Stunden oder einem Tag erforderlich wäre. Gerade bei niedrig qualifizierten Tätigkeiten mit kurzer Anlernzeit sei dies nicht zu begründen. 1000 Im Hinblick auf den Sanierungszweck einerseits und den zu beachtenden Schutz der Arbeitnehmer andererseits werde deshalb eine Regelung, welche die Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer generell von der sofortigen Austausch240

I. Betriebsbedingte Kündigung

barkeit ohne jegliche Einarbeitungszeit abhängig macht, nur ausnahmsweise als nicht grob fehlerhaft anzusehen sein. Ebenso Kreft/Linck, InsO 6. Aufl. § 125 Rn. 37; vgl. auch Lindemann, ZInsO 2006, 697.

Beispiel: Ein solcher Ausnahmefall kann nach der zutreffenden Bewertung des BAG z. B. vorliegen, wenn die Betriebspartner davon ausgehen durften, dass die Sozialauswahl zu einer ernsthaften Gefährdung der betrieblichen Arbeitsabläufe führen würde, welche in der konkreten Situation des Schuldners die Sanierung gefährden würde. Geringfügige Störungen des Betriebsablaufs genügten nicht (a. A. Caspers, in: MünchKomm-InsO, § 125 Rn. 94). Den Betriebspartnern stehe allerdings eine weite Einschätzungsprärogative 1001 u. a. bei der Frage zu, welche Einarbeitungszeit im Einzelfall zumutbar ist. Vgl. dazu bereits ErfK/Gallner, InsO § 125 Rn. 11; Caspers, in: MünchKomm-InsO, § 125 Rn. 94.

8. Schaffung einer ausgewogenen Personalstruktur 1002

In derselben Entscheidung vom 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, ZIP 2014, 536

hat das BAG zudem wichtige Klarstellungen zur Schaffung einer ausgewogenen Personalstruktur auf der Grundlage eines Interessenausgleichs mit Namensliste nach § 125 InsO vorgenommen. a) Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall stritten die Parteien um die Wirksamkeit einer be- 1003 triebsbedingten Kündigung. Der 1960 geborene Kläger war bei der Schuldnerin seit 1998 als Produktionsmitarbeiter beschäftigt. Am 1.4.2011 wurde über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zu 1. zum Insolvenzverwalter bestellt. Dieser schloss am selben Tag mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste gemäß § 125 InsO, auf der sich auch der Name des Klägers befindet. Die Sozialauswahl wurde nach Alters- und Qualifikationsgruppen vorgenommen. Mit Schreiben vom 1.4.2011 kündigte der Beklagte zu 1. das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum 31.7.2011. Am 5.4.2011 ging der Betrieb auf die Beklagte zu 2. über. Mit seiner Klage wendet sich der Kläger gegen die Kündigung und verlangt seine Weiterbeschäftigung bei der Beklagten zu 2. Er meint, die Sozialauswahl sei infolge einer unzulässigen Bildung von Alters- und Qualifikationsgruppen grob fehlerhaft. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen.

241

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen

b) Wesentliche Überlegungen des BAG 1004 Auf die Revision des Klägers hat das BAG das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das LAG zurückverwiesen. Die Kündigung sei zwar durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt, da die Vermutung des § 125 InsO insoweit nicht widerlegt sei. Es stehe aber noch nicht fest, dass die Kündigung sozial gerechtfertigt ist. 1005 § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO eröffne dem Insolvenzverwalter und dem Betriebsrat weiter gehende Möglichkeiten bei der Sozialauswahl als § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG. Insbesondere könne mit einem Interessenausgleich nach § 125 InsO angestrebt werden, eine ausgewogene Personalstruktur nicht nur zu erhalten, sondern erst zu schaffen. Der insoweit geltende Prüfungsmaßstab der groben Fehlerhaftigkeit gelte nicht nur für die Auswahlkriterien und ihre relative Gewichtung, sondern auch die Bildung der auswahlrelevanten Arbeitnehmergruppe. Die Sozialauswahl sei grob fehlerhaft, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliegt und der Interessenausgleich jede soziale Ausgewogenheit vermissen lässt. Die getroffene Auswahl müsse sich mit Blick auf den klagenden Arbeitnehmer im Ergebnis als grob fehlerhaft erweisen. 1006 Die Regelung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Halbs. 2 InsO verletzte das unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung nicht, sondern sei durch das legitime Ziel der Sanierung eines insolventen Unternehmens gerechtfertigt. Der EuGH habe entschieden, dass legitime Ziele i. S. d. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 RL 2000/78/EG wegen der als Beispiele genannten Bereiche Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung solche aus dem Bereich „Sozialpolitik“ sind. Ziele, die als „rechtmäßig“ i. S. d. Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG angesehen werden können, stünden als „sozialpolitische Ziele“ im Allgemeininteresse. Dadurch unterschieden sie sich von Zielen, die im Eigeninteresse des Arbeitgebers liegen, wie Kostenreduzierung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. 1007 Demnach liege in Übereinstimmung mit den unionsrechtlichen Vorgaben ein im Allgemeininteresse liegendes legitimes Ziel aus dem Bereich der Sozialpolitik vor, wenn die Sozialauswahl nach Altersgruppen dazu dienen solle, den Betrieb aus der Insolvenz heraus zu sanieren und ggf. verkaufsfähig zu machen. Denn soweit durch eine Sanierung aus der Insolvenz heraus – und sei es auch nur vorübergehend – Arbeitsplätze erhalten würden, diene dies nicht nur dem Interesse des Arbeitgebers, sondern auch dem der Gesamtbelegschaft und der Allgemeinheit. Die Leistungsfähigkeit von Betrieben und Unternehmen in ihrer Gesamtheit gehöre zu den Grundlagen eines funktionierenden Wirtschaftssystems. Die Sanierung eines insolventen Unternehmens stelle aus den genannten Gründen auch ein legitimes Ziel gemäß § 10 Satz 1 AGG dar. 1008 Bei beabsichtigter Schaffung einer neuen Struktur gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG i. V. m. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Halbs. 2 InsO müsse der Insolvenzverwalter aber vortragen, welche konkrete Altersstruktur die Betriebs242

I. Betriebsbedingte Kündigung

parteien schaffen wollten und aus welchem Grund dies erforderlich war. Er sei insoweit darlegungs- und beweispflichtig. Aus dem Vortrag müsse ersichtlich werden, dass die vereinbarte Altersgruppenbildung zur Erreichung des Ziels der sanierungsbedingten Schaffung einer ausgewogenen Altersstruktur angemessen und erforderlich ist. Die Vorlage des Interessenausgleichs könne nur dann ausreichen, wenn in diesem die erforderlichen Angaben bereits enthalten sind. Schlagwortartige Bezeichnungen genügten nicht. Denn sonst könne nicht überprüft werden, ob die Ungleichbehandlung durch das verfolgte Ziel gerechtfertigt ist. Das bloße Bestreben, das Durchschnittsalter der Beschäftigten zu reduzieren, sei für sich allein betrachtet kein legitimes Ziel. c) Bedeutung für die Sanierungs- und Insolvenzpraxis Die aus Sicht der Sanierungspraxis begrüßenswerte Entscheidung präzisiert 1009 die Anforderungen an die nur nach Insolvenzeröffnung BAG, v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822, dazu EWiR 2012, 707 (Hützen), vgl. zur „Rettung“ eines zuvor abgeschlossenen Interessenausgleichs Mückl, BB 2012, 2570

zulässige Schaffung einer ausgewogenen Personalstruktur. Um die unionsrechtlichen Vorgaben zu wahren, präzisiert das BAG insbesondere die Anforderungen an den Vortrag: Nicht ausreichend ist insoweit der Vergleich mit einem „Musterbetrieb“ der 1010 Branche ohne Bezug zur konkreten Situation des Insolvenzschuldners. Die Schaffung einer ausgewogenen Altersstruktur bedarf vielmehr eines – zu erläuternden – Bezugs auf ein konkretes Sanierungsvorhaben. Dabei sind wegen des praktischen Bedürfnisses zügiger Entscheidungen nach den zutreffenden Feststellungen des BAG aber keine überzogenen Anforderungen zu stellen. Beispiel: Es reicht z. B. aus, dass der Insolvenzverwalter innerbetriebliche Gründe wie Kostenstrukturen anführt oder die Probleme bei Gesprächen mit potentiellen Investoren oder Käufern schildert. Dabei kann auch die Altersstruktur vergleichbarer Unternehmen eine Rolle 1011 spielen. Es muss aber ein Sanierungskonzept deutlich werden, nicht nur der pauschale Wunsch nach einer Verjüngung der Belegschaft. Hiervon ausgehend muss bei (übertragenden) Sanierungen noch stärker dar- 1012 auf geachtet werden, dass sich die gewünschte Altersstruktur notwendig aus dem Sanierungskonzept ergibt. Um dies hinreichend darstellen zu können, dürfte eine zweischrittige Prüfung erforderlich sein: Vgl. zum Folgenden auch Mujan, BB 2014, 953:

243

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen

x

Im ersten Schritt dürfte erforderlich sein, das Ergebnis einer Sozialauswahl ohne Altersgruppenbildung mit dem Ergebnis der Sozialauswahl unter Berücksichtigung der gewünschten Altersgruppenbildung zu vergleichen. Praxistipp: Damit ist ein nicht zu unterschätzender Aufwand verbunden, zumal ein berechtigtes betriebliches Interesse an der Altersgruppenbildung nicht vermutet wird – anders als bei der Altersgruppenbildung zum Erhalt der bestehenden Altersstruktur bei Massenentlassungen (BAG, v. 18.3.2010 – 2 AZR 468/08, ZIP 2010, 2114 = BB 2010, 2299, dazu EWiR 2010, 793 [Mehrens]).

x

In zweiten Schritt muss dargelegt werden, dass die (übertragende) Sanierung von der beabsichtigten Altersstruktur – jedenfalls auch – abhängt. Praxistipp: Eine entsprechende nicht weiter begründete Forderung des Erwerbers wird dafür nicht genügen. Vielmehr sind Gründe dafür nötig, warum ohne die konkrete getroffene Altersgruppenbildung eine Fortführung des Betriebs wirtschaftlich nicht sinnvoll wäre.

1013 Auch wenn das BAG „keine überzogenen Anforderungen” stellen will, ist dies im Zweifel ein ganz erheblicher Aufwand. 1014 Als denkbare legitimierende Gründe werden in der Literatur genannt: x

entsprechend hohe Forderungen aus der betrieblichen Altersvorsorge,

x

die Gehaltsstruktur im Übrigen,

x

die Gründe dafür, dass eine überalterte Belegschaft die langfristige Nachwuchsplanung stark erschwert oder die Möglichkeit gefährdet, dem Betrieb die aktuelleren Fachkenntnisse jüngerer Arbeitnehmer zugutekommen zu lassen. Praxistipp: Dies waren jedenfalls Gründe, die der 2. Senat des BAG bereits im Zusammenhang mit der Altersgruppenbildung bei Massenentlassungen außerhalb der Insolvenz angeführt hatte (vgl. BAG, v. 18.3.2010 – 2 AZR 468/08, ZIP 2010, 2114 = BB 2010, 2299).

9. Kein Auflösungsantrag bei Änderungsschutzklage 1015 Die häufigste Reaktion von Arbeitnehmern auf eine durch den Arbeitgeber ausgesprochene Änderungskündigung, ist die Annahme des Änderungsangebots unter dem Vorbehalt der sozialen Rechtfertigung. In der Praxis versuchen die Parteien häufig, während des Kündigungsschutzprozesses Beendigungskonditionen zu verhandeln. Arbeitnehmer drohen hier bisweilen mit dem Ziel, eine möglichst hohe Abfindung durchzusetzen, mit einem Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG. Der Druck einer gerichtlichen

244

I. Betriebsbedingte Kündigung

Festsetzung der Abfindung soll die Verhandlungsbereitschaft des Arbeitgebers erhöhen. Diese Verhandlungsgestaltung hat das BAG in seinem Urteil vom 24.10.2013 1016 – 2 AZR 320/13, BeckRS 2014, 67647

erheblich eingeschränkt. a) Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall hatte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien 1017 ordentlich gekündigt und dem Kläger zugleich eine Weiterbeschäftigung zu den Bedingungen einer niedrigeren Lohngruppe angeboten. Der Kläger nahm das Angebot unter dem Vorbehalt der sozialen Rechtfertigung bzw. sonstiger Unwirksamkeitsgründe an. Er erhob eine entsprechende Kündigungsschutzklage und beantragte zugleich, das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung aufzulösen. Die Änderungskündigung sei zwar sozial ungerechtfertigt, es sei ihm aber nicht zumutbar, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, da die Beklagte ihn vor Ausspruch der Kündigung immer wieder schikaniert und grob gegen vertragliche und gesetzliche Bestimmungen verstoßen habe. Die Sozialwidrigkeit der Änderungskündigung wurde daraufhin gerichtlich bestätigt; der Auflösungsantrag blieb jedoch in allen Instanzen erfolglos. b) Wesentliche Überlegungen des BAG Das BAG hält § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG im Fall einer Klage nach § 4 Satz 2 1018 KSchG für nicht anwendbar. Hierfür spreche schon der Wortlaut. Danach sei Voraussetzung, dass das Gericht feststellt, dass „das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist“. Eine solche Feststellung komme aber im Falle des § 4 Satz 2 KSchG nicht in Betracht, da das Gericht dort feststelle, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen sozial ungerechtfertigt oder aus anderem Grund unwirksam sei. Zudem habe der Gesetzgeber mit §§ 2, 4 Satz 2 KSchG lediglich die Rechte 1019 des Arbeitnehmers – nach Maßgabe der im Zeitpunkt der Einführung geltenden Rechtsprechung – im Falle der Änderungskündigung klarstellen wollen, so dass auch die Entstehungsgeschichte für einen Ausschluss von § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG bei Änderungskündigungen spreche. Schließlich stehe auch der Sinn und Zweck einer anderen Auslegung entgegen. 1020 Zwar treffe die für die Schaffung von § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG maßgebende Erwägung, dass es während des Kündigungsschutzprozesses zu zusätzlichen Spannungen kommen könne, die eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar erscheinen lassen, auch für Auseinandersetzungen um eine Änderungskündigung zu. Allerdings unterscheide sich das Änderungsschutzverfahren insoweit nicht von sonstigen Verfahren, in denen der Inhalt des Arbeitsverhältnisses im Streit stehe. Anders als bei einer Beendigungskündigung haben jedoch bei der Änderungsschutzklage beide Parteien – und sei es 245

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen

unter Vorbehalt – erklärt, das Arbeitsverhältnis fortsetzen zu wollen. Der Bestand des Arbeitsverhältnisses stehe damit nicht im Streit, so dass kein sachlicher Grund ersichtlich sei, warum das Gericht das Arbeitsverhältnis auflösen können sollte. 1021 Bei § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG handele es sich zudem um eine Ausnahmevorschrift. Das KSchG sei ein Bestandsschutzgesetz und kein Abfindungsgesetz. Daher scheide auch eine analoge Anwendung des § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG aus. Mangels vergleichbarer Sachverhalte gebe es keinen Grund, den durch eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses erfolgenden Eingriff in die Vertragsfreiheit durch das Gericht zuzulassen. Zudem sei es den Parteien unbenommen, das Arbeitsverhältnis selbst zu kündigen. c) Bedeutung für die betriebliche Praxis 1022 Für die betriebliche Praxis stellt sich im Nachgang zu der Entscheidung die spannende Frage, ob der Arbeitgeber sich durch den Ausspruch einer Änderungskündigung ebenfalls in dem Sinne für einen Fortbestand des Arbeitsverhältnisses ausspricht, dass ein Auflösungsantrag ausscheidet. Richtigerweise wird man insoweit differenzieren müssen: x

Soll der Auflösungsantrag auf im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung bekannte Umstände gestützt werden, dürfte ein Auflösungsantrag ausscheiden. Denn es ist widersprüchlich, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses dann anzubieten, wenn sie für unzumutbar gehalten wird.

x

Anders wird man aber für sich nach dem Ausspruch der Kündigung ergebende oder bekannt werdende Umstände entscheiden müssen, soweit eine ergänzende Beendigungskündigung, die sich auf solche Umstände stützt, keinen Erfolg hat, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses aber dennoch i. S. d. § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG unzumutbar ist.

II. Beteiligung des Betriebsrats bei Massenentlassungen 1023 Die Anforderungen an die ordnungsgemäße Betriebsratsbeteiligung im Rahmen von Massenentlassungen hat die Rechtsprechung in den letzten Jahren zunehmend verschärft, dabei aber wichtige Fragen – z. B. zum Formerfordernis i. S. d. § 17 Abs. 2 KSchG – noch nicht abschließend geklärt. Vgl. zu den aktuellen Entwicklungen Mückl, 1. Aufl., Rn. 501 ff.

1024 Wenig überraschend hat jedoch der 2. Senat des BAG in seinem Urteil vom 20.2.2014 – 2 AZR 346/12, ZIP 2014, 1691

klargestellt, dass die Anzeigepflicht nach § 17 Abs. 1 KSchG auch dann eingreift, wenn ordentliche Änderungskündigungen in Rede stehen. Diese seien nach Wortlaut, Systematik und Zweck der gesetzlichen Regelung als Entlassung zu behandeln, ohne dass es darauf ankomme, ob der Arbeitnehmer das ihm 246

II. Beteiligung des Betriebsrats bei Massenentlassungen

im Zusammenhang mit der Kündigung unterbreitete Änderungsangebot bei oder nach Zugang der Kündigung mit oder ohne Vorbehalt angenommen habe. Bei der Prüfung, ob die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG innerhalb des 1025 30-Tage-Zeitraums überschritten sind, sodass eine anzeigepflichtige Massenentlassung vorliegt, müssen folgerichtig auch Änderungskündigungen einbezogen werden. Das Argument, es stehe schließlich nicht fest, ob der Arbeitnehmer das Än- 1026 derungsangebot annimmt, sodass keine „Entlassung“ vorliegt, oder ob infolge Schweigens bzw. einer Ablehnung eine Beendigungskündigung in Rede steht, greift nicht durch. Denn die Beteiligung des Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 KSchG und die Erstattung der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 3 KSchG müssen vor Ausspruch der Kündigungen erfolgen. Praxistipp: Da die Betriebsratsbeteiligung das Ziel hat, den Arbeitgeber ggf. davon zu überzeugen, auf die geplante Massenentlassung zu verzichten oder jedenfalls deren Folgen zu mildern, ist Auslöser bereits eine – definitiv vor dem Ausspruch von Änderungskündigungen stattfindende – entsprechende Planung des Arbeitgebers.

Missachtet der Arbeitgeber die aus §§ 17 Abs. 2, 3 KSchG folgenden Pflichten, 1027 hat dies nach § 17 Abs. 1, 3 Satz 2 KSchG i. V. m. § 134 BGB die Unwirksamkeit der Beendigungskündigungen zur Folge. Zu der Entwicklung einer individualschützenden Komponente durch das BAG vgl. Mückl, BB 2012, 2570 ff.

Dies gilt auch für Beendigungskündigungen, die im Rahmen von Änderungs- 1028 kündigungen erklärt wurden. BAG, v. 20.2.2014 – 2 AZR 346/12, ZIP 2014, 1691. Praxistipp: Welche Folgen das Fehlen einer Massenentlassungsanzeige für die Arbeitnehmer hat, die im Rahmen einer Änderungskündigung das Änderungsangebot unter Vorbehalt bzw. vorbehaltlos angenommen haben, hat das BAG offengelassen. Überträgt man insoweit die vom BAG im Zusammenhang mit dem Ausschluss von § 9 KSchG bei Änderungskündigungsschutzklagen entwickelten Überlegungen einer unbedingten Entscheidung beider Parteien für eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch bei einer Annahme des Änderungsangebots unter dem Vorbehalt der sozialen Rechtfertigung (vgl. oben unter Rn. 1018 ff.), sprechen die besseren Gründe dafür, einer unterlassenen Massenentlassungsanzeige insoweit keine Bedeutung beizumessen. Denn die Massenentlassungsanzeige ist nur bei einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses relevant, nicht aber bei einer Fortsetzung – und sei es zu geänderten Bedingungen.

247

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen

III. Befristung von Arbeitsverhältnissen 1. Aktuelles zur missbräuchlichen Gestaltung einer Befristungsabrede 1029 Im Jahr 2014 hat das BAG in mehreren Entscheidungen seine Rechtsprechung zur missbräuchlichen und damit unwirksamen Gestaltung einer Befristungsabrede vgl. dazu Mückl, 1. Aufl., Rn. 565 ff.

fortgesetzt. Praxistipp: Die Regelungen in § 14 Abs. 3 Satz 1 und 2 TzBfG in der ab 1.5.2007 geltenden Fassung sind nach der Rechtsprechung des BAG allerdings, jedenfalls soweit es um deren erstmalige Anwendung zwischen denselben Arbeitsvertragsparteien geht, mit Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht vereinbar (BAG, v. 28.5.2014 – 7 AZR 360/12, ZIP 2015, 287 = DB 2014, 2475).

1030 Ein derartiger Rechtsmissbrauch kann dabei, wie das BAG in seinem Urteil vom 22.1.2014 – 7 AZR 243/12, NZA 2014, 483

noch einmal bestätigt hat, nur dem letzten Vertragsarbeitgeber entgegengehalten werden. Praxistipp: § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG begegnet demgegenüber weder verfassungs- noch unionsrechtlichen Bedenken (BAG, v. 22.1.2014 – 7 AZR 243/12, NZA 2014, 483; BAG, v. 19.3.2014 – 7 AZR 828/12, NZA-RR 2014, 462).

1031 Die Gerichte dürfen sich bei der Befristungskontrolle nach § 14 Abs. 1 2 Nr. 3 TzBfG nach der Rechtsprechung des BAG aber nicht auf die Prüfung des geltend gemachten Sachgrunds der Vertretung beschränken. Sie sind vielmehr aus unionsrechtlichen Gründen verpflichtet, alle Umstände des Einzelfalls und dabei namentlich x

die Gesamtdauer und

x

die Zahl

x

der mit derselben Person

x

zur Verrichtung der gleichen Arbeit

x

geschlossenen aufeinanderfolgenden befristeten Verträge

zu berücksichtigen, um auszuschließen, dass Arbeitgeber rechtsmissbräuchlich auf befristete Arbeitsverträge zurückgreifen. BAG, v. 19.2.2014 – 7 AZR 260/12, NZA-RR 2014, 408.

248

III. Befristung von Arbeitsverhältnissen

Neben dem Sachgrund ist danach bei einer erheblichen Überschreitung von 1032 zwei Jahren (§ 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG) immer zu prüfen, ob sich die Befristung nicht aufgrund der Umstände des Einzelfalls als rechtsmissbräuchlich erweist und damit unwirksam ist. Praxistipp: Hier kommt es vor allem auf die Gesamtdauer der befristeten Verträge, die Zahl der Vertragsverlängerungen, den konkreten Arbeitseinsatz und die wahrzunehmenden Aufgaben, die Laufzeit der einzelnen Verträge und darauf an, ob und inwieweit die vereinbarte Befristungsdauer zeitlich hinter dem zu erwartenden Vertretungsbedarf zurückbleibt.

Nähere quantitative Angaben dazu, wann eine rechtsmissbräuchliche Vertre- 1033 tungsbefristung vorliegt, macht der Senat in seiner Entscheidung vom 19.2.2014 – 7 AZR 260/12, NZA-RR 2014, 408

zwar nicht. Bereits in seinem Urteil vom 4.12.2013 – 7 AZR 290/12, ZIP 2014, 744

hatte das BAG aber eine – Missbrauch nahe legende – Verbundenheit zwischen der Beklagten und der Bundesagentur für Arbeit u. a. aus dem Grund angenommen, dass beide Arbeitgeber die Pflicht der einheitlichen Durchführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende trifft. Eine Umgehung lag dort zudem vor, weil die dortige Klägerin auf demselben Arbeitsplatz wie zuvor tätig war und auf den unveränderten Einsatz bei der ARGE vertrauen durfte. Überdies hatte die Agentur die Klägerin zur Bewerbung veranlasst, woraufhin die Beklagte auch kein Vorstellungsgespräch führte, bevor sie die Klägerin einstellte. Praxistipp: Indizien für einen Missbrauch liegen umso näher, je weiter sich die Beteiligten von üblichen Gepflogenheiten der betrieblichen Praxis entfernen, indem sie z. B. auf übliche Kontrollmechanismen wie ein Vorstellungsgespräch verzichten. In derartigen Fällen liegt ein kollusives Zusammenwirken besonders nahe.

Beispiele: Ein Rechtsmissbrauch liegt nach der vom BAG in seinem Urteil vom vom 4.12.2013 – 7 AZR 290/12, ZIP 2014, 744

bestätigten Bewertung u. a. dann vor, wenn mehrere rechtlich und tatsächlich verbundene Vertragsarbeitgeber in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge mit einem Arbeitnehmer abschließen, mit dem Ziel über die nach § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG vorgesehenen Möglichkeiten hinaus sachgrundlose Befristungen nacheinander vereinbaren zu können.

249

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen

Leitet der frühere Arbeitgeber Unterlagen über den Arbeitnehmer auf eigene Initiative an den späteren Vertragspartner weiter, kann dies ebenfalls ein Indiz für eine unzulässige Umgehung sein, während eine Bewerbung auf Veranlassung des bisherigen Arbeitgebers nicht unbedingt einen Missbrauch indizieren muss. Vgl. BAG, v. 4.12.2013 – 7 AZR 290/12, ZIP 2014, 744, dazu EWiR 2014, 333 (Lelley).

Gleiches gilt, wenn vertraglich abgesichert wird, dass die Arbeitnehmer dieselben Tätigkeiten zu den gleichen Konditionen wie bisher verrichten sollen. BAG, v. 9.3.2011 • 7 AZR 657/09, NZA 2011, 114.

Dagegen kommt es entgegen der früheren Rechtsprechung des BAG v. 18.10.2006 – 7 AZR 145/06, NZA 2007, 443

nicht mehr darauf an, ob die in § 14 Abs. 2a TzBfG genannte Grenze von vier Jahren unter Ausnutzung der rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten überschritten wird. Entscheidend ist stets eine Abwägung der Umstände des Einzelfalls. 1034 Dem insoweit darlegungs- und beweispflichtigen Arbeitnehmer kommen dabei nach der Rechtsprechung des BAG die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast zu Gute: x

Der Arbeitnehmer genügt seiner Darlegungslast zunächst, wenn er einen Sachverhalt vorträgt, der die Missbräuchlichkeit indiziert.

x

Der Arbeitgeber muss sich sodann nach § 138 Abs. 2 ZPO im Einzelnen auf diesen Vortrag einlassen. Er kann einzelne Tatsachen konkret bestreiten oder Umstände vortragen, welche den Sachverhalt in einem anderen Licht erscheinen lassen.

x

Trägt der Arbeitgeber nichts vor oder lässt er sich nicht substantiiert ein, gilt der schlüssige Sachvortrag des Arbeitnehmers gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden. BAG, v. 19.3.2014 – 7 AZR 527/12, DB 2014, 1322.

x

Kann der Arbeitgeber hingegen in der vorgenannten Weise die Indizien erschüttern, bleibt der Arbeitnehmer darlegungs- und beweisbelastet. Praxistipp: Wegen der Anwendung der Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast muss der Arbeitgeber folgerichtig Missbrauchsindizien immer konkret bestreiten oder besondere Umstände vortragen, die gegen eine Gesetzesumgehung sprechen. Dafür kann er z. B. Gründe für den Arbeitgeberwechsel nennen.

250

III. Befristung von Arbeitsverhältnissen

2. Auflösende Bedingung wegen des Bezuges einer Erwerbsminderungsrente Mit der Wirksamkeit einer auflösenden Bedingung durch Rentenbezug hat 1035 sich das LAG Niedersachsen in Urteil vom 11.12.2013 – 2 Sa 206/13, AE 2014, 75 (LS)

auseinander gesetzt. a) Sachverhalt des LAG Niedersachsen Die Parteien stritten um eine arbeitsvertraglich doppelte, nämlich einmal 1036 ausdrücklich und einmal durch Inbezugnahme eines Tarifvertrags vereinbarte auflösenden Bedingung. Im dem Arbeitsverhältnis zugrunde liegenden Arbeitsvertrag war zum einen vereinbart, dass „auf das Arbeitsverhältnis ergänzend die Bestimmungen des Manteltarifvertrages jeweils in der letzten gültigen Fassung Anwendung finden“.

Der danach maßgebliche Manteltarifvertrag (MTV) sah vor, dass das Arbeits- 1037 verhältnis „bei Bezug einer Erwerbsunfähigkeitsrente (auch auf Zeit) mit dem Tage des Zugangs des Rentenbescheides bei der Krankenkasse endet“.

Eine inhaltsgleiche Regelung war zudem im Arbeitsvertrag vereinbart. Mit 1038 Bescheid vom 3.8.2012 erkannte die Deutsche Rentenversicherung Bund dem Kläger eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung zu. Den Rentenbescheid legte der Kläger der Beklagten vor, die ihm daraufhin mitteilte, das Arbeitsverhältnis ende aufgrund dieses Bescheids. Der Kläger hielt die entsprechende Bedingung für unwirksam. b) Wesentliche Überlegungen des LAG Niedersachsen Das LAG Niedersachsen beurteilt die ausdrücklich vereinbarte und die kraft 1039 Inbezugnahme vereinbarte Bedingung in seiner Entscheidung unterschiedlich. Es stellt in seiner Entscheidung zunächst fest, dass das Arbeitsverhältnis nicht aufgrund des Eintritts der im Arbeitsvertrag geregelten auflösenden Bedingung beendet worden sei. Die arbeitsvertragliche Regelung sei mit der Folge der Unwirksamkeit der Vertragsklausel unangemessen benachteiligend i. S. d. § BGB § 307 BGB. Eine entsprechende Regelung sei in AGB nur dann zulässig, wenn vorgesehen ist, dass bei Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit ein Anspruch auf Wiedereinstellung bestehe. Die vertragliche Regelung könne infolge des im AGB-Recht geltenden Verbots der geltungserhaltenden Reduktion auch nicht einschränkend mit dem Inhalt aufrecht erhalten werden, dass die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nur bei Bezug einer unbefristeten Erwerbsminderungsrente erfolge. Zu einem anderen Ergebnis gelangt das LAG Niedersachsen hinsichtlich der 1040 in Bezug genommenen Klausel des MTV durch Anwendung der Grundsätze 251

C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen

der Tarifauslegung auf die tarifliche Regelung. Da Tarifverträge nach Möglichkeit gesetzes- und verfassungskonform und damit zugleich geltungserhaltend auszulegen sind, sei die tarifvertragliche Regelung einschränkend dahingehend auszulegen, dass bei Bezug einer unbefristeten Erwerbsminderungsrente das Arbeitsverhältnis mit dem Tag des Zugangs des Rentenbescheides bei der Krankenkasse ende. 1041 Die so verstandene tarifvertragliche Regelung sei auch nicht gemäß § 7 Abs. 2 AGG unwirksam. Denn sie trage dem Interesse des Arbeitgebers Rechnung, keine sinnentleerten Arbeitsverhältnisse aufrecht erhalten zu müssen. Zudem habe die Regelung auch arbeitsmarktpolitische Bedeutung, weil sie die Neubesetzung nunmehr freier Stellen ermögliche. Die tarifvertragliche Regelung verfolge mithin ein rechtmäßiges Ziel, welches eine mittelbare Benachteiligung bereits tatbestandlich ausschließe. c) Bedeutung für die Gestaltungspraxis 1042 Ausgehend von den vom LAG Niedersachsen bestätigten Grundsätzen muss bei der Gestaltung von arbeitsvertraglichen Regelungen über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Wege einer auflösenden Bedingung wegen des Bezuges einer Erwerbsunfähigkeitsrente ausdrücklich danach unterschieden werden, ob die Beendigung aufgrund einer Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit oder aufgrund einer unbefristeten Erwerbsunfähigkeitsrente erfolgen soll. 1043 Soweit eine Beendigung bereits bei Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit erfolgen soll, muss zudem ausdrücklich geregelt werden, dass ein Wiedereinstellungsanspruch bei Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit besteht.

252

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/ Betriebsänderung Kurzinhalt: Neues zum Betriebsübergang (Rn. 1045 ff.); Folgen eines Widerspruchs gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses für Ansprüche aus Betriebsvereinbarungen (Rn. 1109 ff.); Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung (Rn. 1175 ff.); Keine Nachhaftung des Gesellschafters (Rn. 1183 ff.); Neues zur Transfergesellschaft (Rn. 1192 ff.)

Ungeachtet der Stärkung des Planverfahrens durch das ESUG ist das für die 1044 Praxis zurzeit wichtigste Instrument zur Rettung eines insolventen Unternehmens die übertragende Sanierung. Mit ihrer Hilfe werden alle oder wesentliche Unternehmensgegenstände auf einen anderen Rechtsträger übertragen und so die Vermögensgegenstände (Aktiva) von den an der Insolvenzschuldnerin haftenden Verbindlichkeiten (Passiva) getrennt. Damit verbunden ist die Chance eines wirtschaftlichen Neustarts. Der Erwerber kann das auf diesem Wege von Verbindlichkeiten befreite Unternehmen fortführen und ggf. weiter sanieren. Arbeitsrechtlich ist die übertragende Sanierung zumeist mit einem Betriebsübergang i. S. d. § 613a BGB bzw. mit dem Ziel seiner Vermeidung verbunden. Exakte Kenntnisse der Voraussetzungen und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs sind daher zur Sanierung von Unternehmen innerhalb und außerhalb der Insolvenz unvermeidlich. I. Neues zum Betriebsübergang 1. Tatbestand eines Betriebsübergangs Tatbestandlich setzt ein Betriebs(teil)übergang nach § 613a BGB zunächst 1045 einmal voraus, dass ein neuer Rechtsträger die wirtschaftliche Einheit unter Wahrung ihrer Identität fortführt. Vgl. nur EuGH, v. 6.3.2014 – C-458/12, ZIP 2014, 791 – Amatori u. a.; BAG, v. 20.3.2014 – 8 AZR 1/13, ZIP 2014, 1992.

Zur Herbeiführung eines Betriebs(teil)übergangs bedarf es also zunächst einer 1046 wirtschaftlichen Einheit, d. h. einer organisatorischen Gesamtheit von Personen und/oder Sachen zur auf Dauer angelegten Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigener Zielsetzung. Diese Einheit muss auf den Erwerber übergehen und bei ihm im Wesentlichen unverändert fortbestehen. Ob dies der Fall ist, richtet sich nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls. BAG, v. 23.5.2013 – 8 AZR 236/12, n. v.

Bei der Prüfung, ob eine solche Einheit ihre Identität bewahrt, müssen sämt- 1047 liche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen berücksichtigt werden. Dazu gehören namentlich x

die Art des Unternehmens oder Betriebs, 253

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

x

der etwaige Übergang der materiellen Betriebsmittel wie Gebäude und bewegliche Güter,

x

der Wert der immateriellen Aktiva im Zeitpunkt des Übergangs,

x

die etwaige Übernahme der Hauptbelegschaft durch den neuen Inhaber,

x

der etwaige Übergang der Kundschaft sowie

x

der Grad der Ähnlichkeit zwischen den vor und nach dem Übergang verrichteten Tätigkeiten und

x

die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeiten.

1048 Diese Umstände sind jedoch nur Teilaspekte der vorzunehmenden Gesamtbewertung und dürfen deshalb nicht isoliert betrachtet werden. BAG, v. 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, ZIP 2014, 1750, dazu EWiR 2014, 633 (Fuhlrott).

1049 Den für das Vorliegen eines Übergangs maßgeblichen Kriterien kommt je nach der ausgeübten Tätigkeit und je nach den Produktions- oder Betriebsmethoden ein unterschiedliches Gewicht zu. Näher EuGH, v. 15.12.2005 – C-232/04 und C-233/04, ZIP 2006, 95 – Güney-Görres und Demir; BAG, v. 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, ZIP 2014, 1750.

1050 Dem Übergang eines gesamten Betriebs steht, soweit die Vorrausetzungen des § 613a BGB erfüllt sind, nach ständiger Rechtsprechung des EuGH und des BAG der Übergang eines Betriebsteils gleich. Dies ist unabhängig davon, ob die übergegangene wirtschaftliche Einheit ihre Selbständigkeit innerhalb der Struktur des Erwerbers bewahrt oder nicht. EuGH, v. 6.3.2014 – C-458/12, ZIP 2014, 791 – Amatori u. a.; EuGH, v. 12.2.2009 – C-466/07, ZIP 2009, 433 – Klarenberg.

1051 Es genügt vielmehr, wenn die funktionelle Verknüpfung zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren beibehalten und es dem Erwerber derart ermöglicht wird, diese Faktoren zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen. EuGH, v. 12.2.2009 – C-466/07, ZIP 2009, 433 – Klarenberg; BAG, v. 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, ZIP 2014, 1750.

1052 Für die Praxis leichter greifbar zusammengefasst, liegt ein Betriebs(teil)übergangs vor, wenn im Wesentlichen folgende Voraussetzungen erfüllt sind: x

Vorliegen einer organisatorischen Einheit auf Seiten des potenziellen Veräußerers;

x

rechtsgeschäftliche Übernahme der für diese Einheit wesentlichen Betriebsmittel und/oder wesentlichen Arbeitnehmer durch den potenziellen Erwerber;

254

I. Neues zum Betriebsübergang

x

keine wesentliche Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit;

x

tatsächliche Fortsetzung der gleichen oder gleichartigen Tätigkeit durch den potenziellen Erwerber im Wesentlichen unter Wahrung der organisatorischen Einheit bzw. des funktionalen Zusammenhangs der wesentlichen Ressourcen (Arbeitnehmer und/oder Betriebsmittel), wie sie/er bis zum Übertragungsvorgang bestanden hat. Vgl. Mückl, 1. Aufl., Rn. 581. Praxistipp: Wichtig ist, dass diese Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein müssen, um die Anwendbarkeit von § 613a BGB auszulösen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass jedes Kriterium für sich genommen geeignet ist, durch Nichterfüllung einen Betriebsübergang i. S. d. § 613a BGB zu vermeiden. Dies ist insbesondere im Kontext übertragender Sanierungen zu beachten, in deren Rahmen die Rechtsfolgen des § 613a BGB zumeist zulässig vermieden (anstatt unzulässig umgangen) werden sollen. Dies ist auf Rechtsfolgenseite insbesondere tarifvertraglich zunehmend schwierig, sodass die Sanierungspraxis besonderes Augenmerk auf die Tatbestandsseite richten sollte.

a) Bestehende organisatorische Einheit Voraussetzung eines Betriebs(teil)übergangs nach § 613a BGB ist nach alledem 1053 zunächst das Vorliegen einer organisatorischen (wirtschaftlichen) Einheit beim Veräußerer. Sollen Betriebsteile übergehen, müsse sie beim Veräußerer bereits als solche vorhanden sein. Denn nur eine existente, selbständig abtrennbare organisatorische Einheit kann im Wege eines Betriebsteilübergangs übergehen. Dabei muss es – wie das BAG in seinem Urteil vom 22.5.2014

1054

– 8 AZR 1069/12, ZIP 2014, 1750; EuGH, v. 6.3.2014 – C-458/12, ZIP 2014, 791 – Amatori

noch einmal klargestellt hat – um eine auf Dauer angelegte Einheit gehen, deren Tätigkeit nicht auf die Ausführung eines bestimmten Vorhabens beschränkt ist. Um eine solche Einheit handelt es sich bei jeder hinreichend strukturierten 1055 und selbständigen Gesamtheit von Personen und Sachen zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigenem Zweck. EuGH, v. 6.3.2014 – C-458/12, ZIP 2014, 791 – Amatori; BAG, v. 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, ZIP 2014, 1750. Praxistipp: Im öffentlichen Dienst kommt § 613a Abs. 1 BGB grundsätzlich bei einer Übertragung wirtschaftlicher Tätigkeiten – jedoch nicht bei einer Übertragung von Tätigkeiten in Ausübung hoheitlicher Befugnisse – zur Anwendung (vgl. EuGH, v. 6.9.2011 – C-108/10, ZIP 2012, 1366 – Scattolon; BAG, v. 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, ZIP 2014, 1750).

255

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

1056 Die Anforderung einer „hinreichenden strukturierten und selbständigen Gesamtheit von Personen und Sachen“, welche das Vorliegen einer übertragbaren Einheit beschreibt, hat das BAG in seinem Urteil vom 20.3.2014 – 8 AZR 1/13, ZIP 2014, 1992

in Bezug auf eine Kindertagesstätte zutreffend dahin gekennzeichnet, dass maßgeblich eine eigene Leitungsstruktur ist. Praxistipp: Für die Frage, ob eine übergangsfähige Einheit vorliegt, ist also zu prüfen, ob es eine Führungskraft gibt, die in Bezug auf einen abgegrenzten Personenkreis die wesentlichen Leitungsfunktionen ausübt. Sollen übertragungsfähige Einheiten geschaffen werden, muss zunächst eine solche Leitung eingerichtet werden.

1057 Als ausreichend hat das BAG im entschiedenen Fall völlig zu Recht angesehen, dass mit dem Vorliegen einer Leitung für vier Erzieherinnen eine hinreichend strukturierte und selbständige Gesamtheit von Personen vorlag. In diese waren im entschiedenen Fall Sachen (Gebäude, Gruppenräume mit kindgerechter Möblierung, Außenbereiche mit Spielgeräten, Spiel- und Lehrmittel) zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit dem eigenen Zweck „Kinderbetreuung“ eingebunden, sodass eine übertragungsfähige Einheit (Betrieb oder Betriebsteil) vorlag. Praxistipp: Ohne Bedeutung ist, ob das Eigentum an den eingesetzten Betriebsmitteln übertragen worden ist (BAG, v. 20.3.2014 – 8 AZR 1/13, ZIP 2014, 1992).

1058 Obwohl das BAG in seinem Urteil vom 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, ZIP 2014, 339,

offengelassen hat, ob an seiner – in der Literatur seit dem Inkrafttreten von § 35 Abs. 2 InsO umstrittenen – für die Fortführung dieser Rechtsprechung Ahrens, NJW-Spezial 2012, 341; Nungeßer, NZI 2012, 359; Windel, RdA 2012, 366; Henkel, EWiR 2008, 687; abl. Ries, NZI 2009, 2030; Lindemann, BB 2011, 2357; differenzierend Wischemeyer, ZInsO 2009, 937

Rechtsprechung zur analogen Anwendung von § 613a BGB bei Freigabe von Gegenständen aus der Insolvenzmasse durch den Verwalter festzuhalten ist, hat das BAG im vorgenannten Urteil jedenfalls klargestellt, dass eine analoge Anwendung von § 613a BGB allenfalls dann in Betracht kommt, wenn der beklagte Insolvenzverwalter dem Beschlag der Masse unterliegende Betriebsmittel freigegeben hätte, die sich als eine „Einheit“ im Sinne der zu § 613a

256

I. Neues zum Betriebsübergang

BGB ergangenen Rechtsprechung darstellen, und das Arbeitsverhältnis dieser „Einheit“ zugeordnet gewesen wäre. Für diesen Fall hat der 6. Senat des BAG in der Vergangenheit angenommen, dass aufgrund der vergleichbaren Interessenlage eine entsprechende Anwendung des § 613a BGB geboten wäre, d. h. das Arbeitsverhältnis würde auf den Schuldner im Zuge der Freigabe „übergehen“, wenn der Arbeitnehmer nicht entsprechend § 613a Abs. 6 BGB widerspricht. BAG, v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, BAGE 126, 229 = ZIP 2008, 1346, dazu EWiR 2008, 687 (Henkel); BAG, v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, BAGE 129, 257 = ZIP 2009, 984, dazu EWiR 2009, 615 (Hertzfeld/Höher).

Ein Widerspruch würde hingegen den Rückfall an den Schuldner verhindern, 1059 der Insolvenzverwalter bliebe im Kündigungsschutzverfahren passiv legitimiert. BAG, v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, ZIP 2014, 339 = ZVI 2014, 177, dazu EWiR 2014, 157 (Hergenröder).

b) Übernahme der wesentlichen Betriebsmittel und/oder wesentlichen Arbeitnehmer Bei der Frage der Übernahme der wesentlichen Betriebsmittel und/oder wesent- 1060 lichen Arbeitnehmer wird man (auch zur Vereinfachung der Handhabung in der betrieblichen Praxis) jedenfalls im Ausgangspunkt zwischen betriebsmittelgeprägten und betriebsmittelarmen Tätigkeiten differenzieren können. Vgl. ausführlich Mückl, 1. Aufl., Rn. 584 ff.

Kommt es – bei einer betriebsmittelarmen Tätigkeit – im Wesentlichen auf 1061 die menschliche Arbeitskraft an, kann eine strukturierte Gesamtheit von Arbeitnehmern trotz des Fehlens nennenswerter materieller oder immaterieller Vermögenswerte eine wirtschaftliche Einheit darstellen. Denn wenn eine Einheit ohne nennenswerte Vermögenswerte funktioniert, kann die Wahrung ihrer Identität nach ihrer Übernahme nicht von der Übernahme derartiger Vermögenswerte abhängen. Die Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit ist in diesem Fall anzunehmen, wenn der neue Betriebsinhaber nicht nur die betreffende Tätigkeit weiterführt, sondern auch einen nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil des Personals übernimmt. EuGH, v. 6.9.2011 – C-108/10, ZIP 2012, 1366 – Scattolon; vgl. auch EuGH, v. 20.1.2011 – C-463/09, ZIP 2011, 488 – CLECE; BAG, v. 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, ZIP 2014, 1750. Praxistipp: Hingegen stellt die bloße Fortführung der Tätigkeit durch einen anderen (Funktionsnachfolge) ebenso wenig einen Betriebsübergang dar wie die reine Auftragsnachfolge (vgl. EuGH, v. 20.1.2011 – C-463/09, ZIP 2011, 488 – CLECE; BAG, v. 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, ZIP 2014, 1750).

257

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

c) Übergang „durch Rechtsgeschäft“ 1062 Der Umstand, dass ein Übergang auf einseitigen Entscheidungen staatlicher Stellen und nicht auf einer Willensübereinstimmung beruht, steht der Annahme eines Betriebsübergangs nach der Bewertung des BAG im Urteil vom 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, ZIP 2014, 1750

in Übereinstimmung mit dem EuGH EuGH, v. 6.9.2011 – C-108/10, ZIP 2012, 1366 – Scattolon

nicht entgegen. 2. Vereinbarung über das (Nicht-)Vorliegen eines Betriebsübergangs a) Vereinbarung zwischen den beteiligten Rechtsträgern 1063 Bei § 613a BGB handelt es sich um zwingendes Recht, sodass der Übergang von Arbeitsverhältnissen bei Eingreifen des § 613a BGB von Rechts wegen erfolgt. Vgl. u. a. EuGH, v. 26.5.2005 – C-478/03, ZIP 2005, 1377 – Celtec; EuGH, v. 25.7.1991 – C-362/89, ZIP 1993, 936 – d’Urso u. a.; EuGH, v. 10.2.1988 – C-324/86, Slg 1988, 739 – Foreningen af Arbejdsledere i Danmark, „Daddy’s Dance Hall“; BAG, v. 21.6.2012 – 8 AZR 181/11, BB 2012, 3144.

1064 Anders lautende Abmachungen zwischen den Parteien ändern daran – wie das BAG in seinem Urteil vom 20.3.2014 – 8 AZR 1/13, ZIP 2014, 1992

noch einmal klargestellt hat – nichts. aa) Sachverhalt des BAG 1065 Im entschiedenen Fall stritten die Parteien über eine außerordentliche Kündigung. Die Klägerin war bei der beklagten Gemeinde zuletzt als Leiterin einer Kindertagesstätte beschäftigt. Eine im Jahr 2009 ausgesprochene außerordentliche Änderungskündigung wurde rechtskräftig für unwirksam erklärt. Mit Wirkung zum 1.1.2011 übernahm ein Verein den Betrieb der Kindertagesstätten der Gemeinde. In einem Betreibervertrag übertrug die Gemeinde dem Verein sämtliche sachlichen und immateriellen Betriebsmittel. Er regelte zudem, dass die Mitarbeiter in den Kindertagesstätten bei der Gemeinde blieben und lediglich dauerhaft an den Verein zur Arbeitsleistung gestellt würden. In einem weiteren Personalgestellungsvertrag zwischen Gemeinde und Verein regelten die Parteien, dass die Arbeitsverhältnisse nicht übergehen, sondern die Gemeindebeschäftigten zur Verfügung gestellt werden. Allerdings wurde interessierten Erziehern ein Vertrag des Vereins angeboten. In der Kindertagesstätte der Klägerin nahmen drei von vier Erzieherinnen dieses Angebot

258

I. Neues zum Betriebsübergang

an. Mit Schreiben vom 1.8.2011 kündigte die beklagte Gemeinde das Arbeitsverhältnis außerordentlich mit der Begründung, dass sämtliche anderen Mitarbeiter der Kindertagesstätte die Zusammenarbeit mit der Klägerin ablehnten. Das ArbG gab der Klage statt, das LAG wies sie ab. bb) Wesentliche Überlegungen des BAG Die Revision der Klägerin blieb ohne Erfolg. Da das Arbeitsverhältnis der 1066 Klägerin – so das BAG – bereits vor Ausspruch der Kündigung im Wege eines Betriebsteilübergangs auf den beklagten Verein übergegangen sei, ging die Kündigungserklärung der Beklagten ins Leere, ohne dass der zwischen der Gemeinde und dem Verein abgeschlossene Personalgestellungsvertrag dem Übergang des Arbeitsverhältnisses entgegen stehe. § 613a BGB sei zwingendes Recht. Von diesem könne durch Vereinbarung zwischen Veräußerer und Erwerber nicht abgewichen werden. Unerheblich sei deshalb, in welchem (vermeintlichen) Rechtsverhältnis der 1067 Übernehmer die bisherigen Arbeitnehmer nach der Übernahme (weiter-)beschäftigt. Vgl. bereits BAG, v. 18.2.1999 – 8 AZR 485/97, BAGE 91, 41 = ZIP 1999, 1142.

Die Verträge und Arbeitsverhältnisse, die im Zeitpunkt des Übergangs zwi- 1068 schen dem Veräußerer und den im übertragenen Betrieb(steil) beschäftigten Arbeitnehmern bestehen, seien als zu diesem Zeitpunkt vom Veräußerer auf den Erwerber übergegangen anzusehen, unabhängig davon, welche Einzelheiten dazu zwischen beiden vereinbart worden sind. BAG, v. 20.3.2014 – 8 AZR 1/13, ZIP 2014, 1992.

§ 4 Abs. 3 Satz 1 TVöD, der die Personalgestellung regelt, finde in der Folge 1069 – entgegen der Regelungen in § 6 Abs. 4 Betreibervertrag und im Personalgestellungsvertrag, denen § 613a BGB vorgehe – auf diese Situation keine Anwendung. Ferner fehle es an einem wirksamen Widerspruch der Klägerin gegen den 1070 Übergang ihres Arbeitsverhältnisses. Ein Erfolg im Kündigungsschutzprozess setze nach dem punktuellen Streitgegenstandsbegriff voraus, dass zum Zeitpunkt der Kündigung noch ein Arbeitsverhältnis bestehe. Dies gelte auch im Falle eines Betriebsübergangs. Mangels Arbeitsverhältnis ging daher die Kündigung der Beklagten ins Leere. Die gleichwohl erhobene Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung sei daher unbegründet.

259

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung Praxistipp: Ein bei Vorliegen der in § 613a BGB geregelten Voraussetzungen kraft Gesetzes eintretender Betriebsübergang kann – entgegen einem im öffentlichen Dienst verbreiteten Missverständnis – allein durch einen Personalgestellungsvertrag nicht vermieden werden. Vielmehr gehen dann die Arbeitsverhältnisse über und werden von den Beteiligten – häufig über Jahre hinweg – fälschlicherweise als solche des öffentlichen Dienstes behandelt. Das im öffentlichen Dienst häufig gewünschte Ergebnis einer Personalgestellung konnte in der Vergangenheit durch vorsorglich erklärte Widersprüche der Mitarbeiter gegen den Übergang ihres Arbeitsverhältnisses bewirkt werden. Seit der Reform des AÜG im Jahr 2011 stellt sich jedoch die Frage, ob dauerhafte Personalgestellungen noch möglich sind. Da das AÜG für den öffentlichen Dienst keine Bereichsausnahme enthält, müssen dessen Vorgaben zur lediglich vorübergehend zulässigen Arbeitnehmerüberlassung auch im Rahmen einer entsprechenden Personalgestellung beachtet werden.

b) Verwirkung des Widerspruchsrechts bei Vergleich über das Nichtvorliegen eines Betriebsübergangs 1071 Bereits in seinem Urteil vom 17.10.2013 – 8 AZR 974/12, NZA 2014, 774

hat das BAG demgegenüber angenommen, das Widerspruchsrecht nach § 613a Abs. 6 BGB sei verwirkt, wenn der Arbeitnehmer sich im Prozess mit dem Betriebserwerber darüber vergleiche, dass kein Betriebsübergang stattgefunden habe und kein Arbeitsverhältnis bestehe, wenn seit der Information über den Betriebsübergang ausreichende Zeit vergangen sei (hier sechs Monate). aa) Sachverhalt des BAG 1072 Im entschiedenen Fall war der Kläger bei der Beklagten im Teilbetrieb A beschäftigt. Mit Schreiben vom 12.11.2010 informierte die Beklagte ihn – nicht den Anforderungen des § 613a Abs. 6 BGB entsprechend – vgl. zu neuen Entwicklungen zum Inhalt der Unterrichtung unter Rn. 1098 ff.

über den Übergang dieses Teilbetriebs auf die Ap KG (Ap) zum 1.1.2011. Der Kläger bot der Ap am 3.1.2011 seine Arbeitsleistung an. Diese lehnte das Angebot ab, weil sie nicht Betriebserwerberin und damit nicht Arbeitgeberin des Klägers sei. Daraufhin bot der Kläger am 4.1.2011 der Beklagten seine Arbeitsleistung an. Diese lehnte ebenfalls ab, weil sie von einem Betriebsübergang auf die Ap ausging. 1073 Am 26.1.2011 erhob der Kläger Klage gegen die Ap auf Feststellung, dass nach Betriebsübergang ein Arbeitsverhältnis mit ihr bestehe, und erweiterte die Klage nach Kündigung durch die Ap um einen Kündigungsschutzantrag. Der Beklagten verkündete er den Streit. Mit der Ap schloss der Kläger am 26.4.2011 einen gerichtlichen Vergleich mit folgendem Inhalt:

260

I. Neues zum Betriebsübergang „1. Zwischen den Parteien besteht Einigkeit, dass kein Betriebsübergang gemäß § 613a BGB vorliegt, dass das Arbeitsverhältnis demzufolge nicht auf die Beklagte übergegangen ist und auch sonst kein Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien begründet wurde und somit nicht besteht. 2. Die Beklagte zahlt an den Kläger einen Betrag in Höhe von EUR 45.000,00 (in Worten: Euro Fünfundvierzigtausend 00/100). Etwaige hierauf anfallende Steuern und Sozialversicherungsbeiträge sind von dem Kläger zu tragen. 3. Mit Erfüllung dieser Vereinbarung sind alle etwaigen wechselseitigen finanziellen Ansprüche zwischen den Parteien, gleich welcher Art und gleich, ob bei Abschluss dieses Vergleiches bekannt oder unbekannt, erledigt und ausgeglichen. Dem Kläger bleibt die Geltendmachung des Widerspruchsrechts gemäß § 613a Abs. 5 und 6 BGB gegenüber der Firma E-GmbH vorbehalten. […]“.

Der Kläger widersprach daran anschließend gegenüber der Beklagten am 1074 5.5.2011 dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf die Ap. Er begehrt nun die Feststellung, dass zwischen ihm und der Beklagten ein Arbeitsverhältnis bestehe. bb) Wesentliche Überlegungen des BAG Die Klage war erfolglos. Nach der Bewertung des BAG lag ein Betriebsüber- 1075 gang auf die Ap vor. Das Widerspruchsrecht des Klägers nach § 613a Abs. 6 BGB war allerdings verwirkt. Das Zeitmoment der Verwirkung war nach der Bewertung des BAG bereits nach Ablauf von knapp sechs Monaten seit der Unterrichtung über den Übergang des Arbeitsverhältnisses erfüllt. Das Umstandsmoment hatte der Kläger durch den mit der Ap geschlossenen Vergleich verwirklicht, weil er damit einen Aufhebungsvertrag mit dem Betriebserwerber geschlossen und dadurch über den Bestand seines Arbeitsverhältnisses disponiert hatte. Nach dem Wortlaut des Vergleichs hatten die Parteien zwar gerade nicht über 1076 den Bestand des Arbeitsverhältnisses des Klägers disponiert und auch keine Abfindung für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses vereinbart, sondern nur eine nicht näher deklarierte Zahlung. Der Kläger hatte damit jedoch einen Kündigungsschutzprozess gegen die Ap beendet und dadurch letztlich doch über den Bestand seines allein mit Ap bestehenden Arbeitsverhältnisses verfügt. Daher war die Zahlung als Abfindung zu qualifizieren, auch wenn sie nicht als solche bezeichnet worden war. Denn sie war – so das BAG – nur damit zu erklären, dass damit das vom Kläger angestrengte Prozessrisiko abgewendet werden sollte. Die weitere Regelung im Vergleich, dass das Widerspruchsrecht gegenüber 1077 der Beklagten bestehen bleiben solle, stand im Widerspruch zu der Vereinbarung, dass kein Betriebsübergang stattgefunden habe und war daher nach der vom BAG bestätigten Auffassung des LAG unerheblich.

261

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

cc) Folgen für die betriebliche Praxis 1078 Führt man sich vor Augen, dass die am Betriebsübergang beteiligten Rechtsträger sich nicht über das (Nicht-)Vorliegen einigen können, weil § 613a BGB zwingendes Recht enthält, ist es nur folgerichtig, dass entsprechende Vereinbarungen auch mit dem von dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses betroffenen Arbeitnehmer nicht zulässig sind. Praxistipp: Das muss auch im Rahmen von Due Diligence und bei der Gestaltung von Unternehmenskaufverträgen berücksichtigt werden.

1079 Entsprechende Vereinbarungen führen – wie das BAG zutreffend annimmt – zu einer Disposition über das Arbeitsverhältnis, die auch in Bezug auf die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts berücksichtigt werden muss. Das gilt zutreffend auch dann, wenn – wie hier – die Parteien durch die Wortwahl im Vergleich versuchen, eine solche Disposition gerade zu verhindern. Das BAG billigt zu Recht die Auslegung des LAG, welches nach dem eigentlichen Sinn gefragt und daher eine Disposition bejaht hat. Ausgeschlossen wird dadurch nämlich, dass der Arbeitnehmer nach Vereinbarung einer Abfindung mit dem übernehmenden Rechtsträger nun auch noch den übertragenden Rechtsträger in Anspruch nimmt. 3. Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs 1080 Rechtsfolge eines Betriebs(teil)übergangs ist der Eintritt des übernehmenden Rechtsträgers in alle vom Betriebsübergang erfassten Arbeitsverhältnisse inklusive aller individualvertraglichen Rechte und Pflichten. Vgl. näher Mückl, 1. Aufl., Rn. 629 ff.

1081 Nach § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB gelten die bis zu einem Übergang des Arbeitsverhältnisses unmittelbar und zwingend durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung geregelten Rechte und Pflichten grundsätzlich als Bestandteil des Arbeitsverhältnisses fort und dürfen für die Dauer eines Jahres auf einzelvertraglicher Ebene nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers verändert werden (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB). 1082 Diese Fortgeltung des Tarifvertrags gilt gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB allerdings zunächst einmal dann nicht, wenn diese Rechte und Pflichten beim Erwerber durch einen anderen Tarifvertrag geregelt sind, der die gleiche Sachfrage regelt und für das Arbeitsverhältnis gilt. Losgelöst davon lässt § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB Veränderungen ferner dann zu, wenn diese als Folge einer Beendigung und den Eintritt einer (dispositiven) Nachwirkung auf individualoder kollektivrechtlicher Ebene auch ohne einen Betriebsübergang möglich gewesen wären. In gleicher Weise endet die Übernahme eines Tarifvertrags dann, wenn dieser als Folge seiner Beendigung ohne Nachwirkung auch ohne einen Betriebsübergang keine weitergehenden Rechte und Pflichten mehr entfaltet hätte. 262

I. Neues zum Betriebsübergang

a) Einzelvertraglicher Verzicht auf einen tarifvertraglichen Anspruch ist auch nach einem Betriebsübergang unwirksam Keine Strategie zur Vermeidung dieser Rechtsfolgen ist – wie das BAG in 1083 seinem Urteil vom 12.2.2014 – 4 AZR 317/12, ZIP 2014, 988

klargestellt hat – ein einzelvertraglicher Verzicht auf einen bereits entstandenen tarifvertraglichen Anspruch. Ein solcher Verzicht ist auch dann wegen eines Verstoßes gegen § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG nichtig, wenn dieser erst nach einem Betriebsübergang gegenüber dem Betriebsveräußerer oder dem Betriebserwerber erklärt wird. Der Betriebsübergang ist für die Unverzichtbarkeit tariflich begründeter Ansprüche ohne Bedeutung. Praxistipp: Daher muss im Vorfeld übertragender Sanierungen geprüft werden, ob im Rahmen „betrieblicher Bündnisse für Arbeit“, welche die Verkaufschance erhöhen sollen, mit Blick auf tarifvertragliche Ansprüche eine hinreichende Beteiligung der zuständigen Gewerkschaft mit der Folge erfolgt ist, dass entsprechende tarifvertragliche Ansprüche wirksam beseitigt sind.

aa) Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall stritten die Parteien über einen Anspruch auf eine Jahres- 1084 sonderzahlung. Die seit 1995 beim Beklagten und dessen Rechtsvorgängerinnen beschäftigte Klägerin ist Mitglied von ver.di. Eine Rechtsvorgängerin des Beklagten hatte mit ver.di einen Haustarifvertrag über eine Jahressonderzahlung geschlossen. Danach hatten die Mitarbeiter Anspruch auf die Jahressonderzahlung, falls am 1.10. des Jahres ein Beschäftigungsverhältnis bestand. Mitte des Jahres 2008 wurde über das Vermögen der Rechtsvorgängerin die Insolvenz eröffnet. Zum 1.12.2009 übernahm der Beklagte im Wege eines Betriebsübergangs die Klinik von dem übertragenden Rechtsträger. Der Beklagte ist Mitglied im VKA und an den TVöD/VKA gebunden. Im Vorfeld des Betriebsübergangs versuchten der Beklagte, der Insolvenzverwalter, ver.di und der Betriebsrat die Verpflichtung zur Zahlung der noch offenen Jahressonderzahlung für 2009 zu reduzieren. Dies gelang jedoch nicht. Mit Schreiben vom 27.11.2009 informierte der Betriebsrat die Belegschaft über die Überlegungen, auf die Jahressonderzahlung zu verzichten, wenn im Gegenzug eine Eingruppierung entsprechend höherer Erfahrungsstufen vorgenommen würde. Der Betriebsrat teilte ferner mit, dass er gegen dieses Vorgehen juristische Bedenken habe, jedoch um eine schnelle Rückmeldung bitte. Am 1.12.2009 unterzeichnete die Klägerin gegenüber dem Insolvenzverwalter eine Verzichtserklärung auf die Jahressonderzahlung. Am darauffolgenden Tag gab sie auch gegenüber dem Beklagten eine schriftliche Verzichtserklärung ab. Dennoch machte sie mit Schreiben vom 29.3.2010 die Zahlung der Sonderzahlung geltend. ArbG und LAG verurteilten den Beklagten zur Zahlung. 263

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

bb) Wesentliche Überlegungen des BAG 1085 Auch das BAG hat eine Zahlungspflicht angenommen. Die Verzichtserklärung änderte am Anspruch auf die Jahressonderzahlung gegen den Beklagten. Denn nach § 613a Abs. 2 Satz 1 BGB richtete sich der Anspruch gegen den Beklagten. 1086 Auf diesen Anspruch habe die Klägerin – so das BAG – nicht gemäß § 397 Abs. 1 BGB wirksam verzichtet. Der erklärte Verzicht sei nämlich aufgrund Verstoßes gegen § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG nichtig. Es handele sich insbesondere nicht um einen – zulässigen – sog. Tatsachenvergleich. Denn ein solcher liege nur dann vor, wenn eine bestehende Unsicherheit über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anspruchs durch gegenseitiges Nachgeben ausgeräumt werden soll. Eine solche Unsicherheit habe aber nicht bestanden. Ob für den Verzicht ein sachlicher Grund vorgelegen habe, sei deshalb unerheblich, weil das – ohne hinreichende Gewerkschaftsbeteiligung – bestehende Verzichtsverbot des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG eine solche Einschränkung nicht kenne. Praxistipp: Werden „betriebliche Bündnisse für Arbeit“ genutzt, muss der Arbeitgeber sich gegen entsprechende Ansprüche daher durch entsprechende Gestaltung absichern, soweit keine tarifvertraglichen Ausschlussfristen eingreifen. Das gilt insbesondere mit Blick auf den im Rahmen „betrieblicher Bündnisse für Arbeit“ üblichen (befristeten!) Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen.

1087 Der Betriebsübergang zum 1.12.2009 ändere an dieser Bewertung nichts. Durch den Betriebsübergang wandle sich der bereits am 1.10.2009 entstandene tarifliche Anspruch nicht in einen einzelvertraglichen, schuldrechtlichen Anspruch um, auf den individualrechtlich wirksam verzichtet werden könne. Vielmehr ändere sich – wie das BAG unter Bestätigung seiner ständigen Rechtsprechung seit 2009 klarstellt – durch den Betriebsübergang nichts an der Rechtsnatur. Der Schutz des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG bleibe erhalten. Nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB behielten Kollektivverträge als sog. transformierte Normen in das Arbeitsverhältnis ihren kollektivrechtlichen Charakter. Vgl. dazu Mückl, 1. Aufl., Rn. 652 ff.

1088 Die Klägerin sei an der Geltendmachung des Anspruchs auch nicht nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gehindert. Praxistipp: Gleiches dürfte auch für tarifliche Ansprüche gelten, die der Transformation gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB unterliegen, wenn diese erst nach dem Betriebsübergang entstehen. Auch hier scheint das BAG der Ansicht zuzuneigen, dass in Bezug auf solche Ansprüche ein Verzicht an § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG scheitert, da es sich bei den transformierten Normen weiterhin um kollektivrechtliche Regelungen handele. Für einen wirksamen Verzicht ist daher – mit Ausnahme einer Ablösung gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB – stets die Mitwirkung der tarifschließenden Gewerkschaft notwendig.

264

I. Neues zum Betriebsübergang

b) Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs für gekündigte Tarifverträge § 613a Abs. 2 Satz 4 BGB sieht vor, dass nachwirkende tarifliche Arbeitsbe- 1089 dingungen vor Ablauf eines Jahres durch andere Arbeitsbedingungen abgelöst werden können. Dies setzt voraus, dass die nachwirkenden Tarifbestimmungen auch den Erwerber erfassen und ihr dispositiver Charakter es rechtfertigt, sie von der einjährigen Veränderungssperre auszunehmen. Dass diese Regelung im Einklang mit den Vorgaben der Richtlinie 2001/23/EG steht, lässt sich dem Urteil des EuGH vom 11.9.2014 – C-328/13, NZA 2014, 1092 – Österreichischer Gewerkschaftsbund

entnehmen. aa) Sachverhalt des EuGH Der österreichische Oberste Gerichtshof hatte dem EuGH einen Rechts- 1090 streit zwischen dem Österreichischen Gewerkschaftsbund und der Wirtschaftskammer im Vorabentscheidungsverfahren vorgelegt, in dem es um die Frage ging, ob ein zwischen den Parteien geschlossener Kollektivvertrag aufgrund gesetzlicher Anordnung auch nach einem Betriebsübergang nachwirke. Die Wirtschaftskammer hatte für eines ihrer Mitgliedsunternehmen Kollektivverträge mit dem Gewerkschaftsbund abgeschlossen. Dieses Mitgliedsunternehmen gliederte einen Teil seines Unternehmens auf eine Tochtergesellschaft aus, für welche die Wirtschaftskammer mit dem Gewerkschaftsbund einen besonderen Kollektivvertrag geschlossen hatte, dessen Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer ungünstiger waren. Im Vorfeld dieses Übertragungsvorgangs kündigte die Wirtschaftskammer, 1091 die mit dem Gewerkschaftsbund den für die Konzernobergesellschaft geltenden Kollektivvertrag abgeschlossen hatte, diesen zum 30.6.2012. Der Gewerkschaftsbund nahm dies zum Anlass, den bei der Tochtergesellschaft geltenden Kollektivvertrag zum selben Termin zu kündigen. Nachdem die Arbeitsverhältnisse zum 1.7.2012 übergegangen waren, bestand Streit, ob und inwieweit die Tochtergesellschaft als übernehmender Rechtsträger noch an Rechte und Pflichten des Kollektivvertrags gebunden war, der bis zum 30.6.2012 noch bei der Konzernobergesellschaft gegolten hatte. Die Tochtergesellschaft war insoweit der Ansicht, dass dieser Kollektivvertrag keine Bindungswirkung mehr entfalte und auf der Grundlage einseitig erlassener Unternehmensrichtlinien eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen bewirkt werden konnte. Das österreichische Arbeitsverfassungsgesetz bestimmt in § 13, dass die Rechts- 1092 wirkungen eines Kollektivvertrages nach seinem Erlöschen solange aufrechterhalten bleiben, als für diese Arbeitsverhältnisse nicht ein neuer Kollektivvertrag wirksam wird. Der Oberste Gerichtshof beschloss, das Verfahren

265

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

auszusetzen und dem EuGH zur Vorabentscheidung die folgenden Fragen vorzulegen: „Ist […] dahin auszulegen, dass davon auch solche Arbeitsbedingungen erfasst sind, die mit einem Kollektivvertrag festgelegt wurden und nach nationalem Recht trotz dessen Kündigung unbegrenzt weiter nachwirken, solange nicht ein anderer Kollektivvertrag wirksam wird oder die betroffenen Arbeitnehmer neue Einzelvereinbarungen abgeschlossen haben?“ „Ist Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2001/23 dahin auszulegen, dass unter „Anwendung eines anderen Kollektivvertrags“ des Erwerbers auch die Nachwirkung des ebenfalls gekündigten Kollektivvertrags des Erwerbers im eben dargestellten Sinne zu verstehen ist?“

bb) Wesentliche Überlegungen des EuGH 1093 Der EuGH legt auf die erste Vorlagefrage hin Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG dahin aus, dass „in einem Kollektivvertrag vereinbarte Arbeitsbedingungen“ auch nachwirkende kollektivvertragliche Bedingungen sein können und diese bei einem Übergang aufrechterhalten werden. 1094 Dabei macht der EuGH deutlich, dass Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG nicht die Weitergeltung eines Kollektivvertrags als solchen bestimme, sondern die der in einem solchen Vertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen. Daraus folge, dass Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG nicht darauf abstelle, mit welcher Rechtstechnik die in einem Kollektivvertrag enthaltenen Arbeitsbedingungen Geltung für ein Arbeitsverhältnis beanspruchen. Regelungen eines Kollektivvertrags müssen grundsätzlich auch im Anschluss an einen Betriebsübergang aufrechterhalten werden, ohne Rücksicht darauf, ob die Geltung zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs individual- oder kollektivrechtlicher Natur ist. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob eine unmittelbar und zwingende oder nur eine (dispositive) nachwirkende Regelung vorliegt. Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG will nur verhindern, dass sich die Lage der übergegangenen Arbeitnehmer allein aufgrund des Übergangs verschlechtert. 1095 Dies schließt nach den Feststellungen des EuGH nicht aus, dass der Erwerber auch in Bezug auf Rechte und Pflichten, die bis zum Übergang durch Kollektivvertrag abgesichert waren, Anpassungen vornimmt. Vgl. EuGH, v. 18.7.2013– C-426/11, NZA 2013, 835 – Alemo Herron und zu dieser Entscheidung ausführlich Mückl, 1. Aufl., Rn. 727 ff.

1096 Denn auch Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG erlaubt ausdrücklich Veränderungen durch einen neuen Kollektivvertrag oder eine Vereinbarung, durch die unter Berücksichtigung der Jahresfrist auf einzelvertraglicher Ebene Veränderungen bewirkt werden. Außerhalb dieses Gestaltungsspielraums bleibt es dabei, dass die Arbeitnehmer im Anschluss an den Übergang ihres Arbeitsverhältnisses zunächst einmal so behandelt werden sollen, wie sie stünden, wenn kein entsprechender Übergang erfolgt wäre. Wenn es als Folge einer Kündigung des Kollektivvertrags vor dem Betriebsübergang zu der Nachwirkung 266

I. Neues zum Betriebsübergang

dieses Kollektivvertrags gekommen wäre, ist hiervon auch nach dem Übergang des Arbeitsverhältnisses im Verhältnis zum Erwerber auszugehen. Die zweite Vorlagefrage ließ der EuGH unbeantwortet. Das nationale Ge- 1097 richt wird daher die Folgefrage, ob die aufrecht erhaltenen nachwirkenden Bedingungen abgelöst werden, nach nationalem Recht zu beantworten haben. Praxistipp: Das österreichische Tarifvertragsrecht sieht wie das deutsche Tarifvertragsrecht nach dem Ende der unmittelbaren und zwingenden Wirkung eines Tarifvertrages dessen Nachwirkung vor. Die Vorschrift hat Parallelen zu § 4 Abs. 5 TVG. Entscheidend ist ausgehend von den Feststellungen des EuGH insoweit, ob auch ohne Betriebsübergang die Regelungen eines nur nachwirkenden Tarifvertrags einen anderen nur nachwirkenden Tarifvertrag ablösen können, wenn in dem erstgenannten Tarifvertrag speziellere Regelungen enthalten sind. Dies dürfte bei einem nachwirkenden Firmentarifvertrag gegenüber einem nachwirkenden Verbandstarifvertrag im Zweifel der Fall sein. Die derzeit in § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB enthaltenen Regelungen entsprechen im Übrigen uneingeschränkt den Feststellungen des EuGH zur Fortgeltung von Kollektivverträgen gemäß Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG, sodass an ihnen und ihrer bisherigen Auslegung durch das BAG insoweit festgehalten werden kann (zu Zweifelsfragen im Übrigen vgl. Mückl, 1. Aufl., Rn. 662 ff., 727 ff.).

c) Anforderungen an eine korrekte Unterrichtung bei Betriebsübergang Durch die Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB soll eine ausreichende 1098 Wissensgrundlage für den Arbeitnehmer in Bezug auf die Entscheidung geschaffen werden, dem Übergang des Arbeitsverhältnisses zu widersprechen oder ihn hinzunehmen. Das BAG stellt an die ordnungsgemäße Unterrichtung der Arbeitnehmer bei einem Betriebsübergang sehr strenge Anforderungen. Soweit ersichtlich hat es lediglich in einem Fall eine ordnungsgemäße Unterrichtung angenommen. Vgl. BAG, v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP BGB § 613a Unterrichtung Nr. 15, dazu EWiR 2012, 375 (Hartmann).

In seinem Urteil vom 14.11.2013

1099

– 8 AZR 824/12, ZIP 2014, 839

hat das BAG die Anforderungen bei einem im Unterrichtungsschreiben vorgenommenen Verweis auf das Handelsregister konkretisiert und darüber hinaus klargestellt, dass bei einem Übergang auf einen neu gegründeten Rechtsträger über die fehlende Sozialplanpflicht nach § 112a Abs. 2 BetrVG unterrichtet werden muss. aa) Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall stritten die Parteien über den Übergang des Arbeits- 1100 verhältnisses des Klägers infolge eines Betriebsübergangs. Der Kläger wurde 267

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

zuletzt mit Schreiben vom 17.1.2008 über den Übergang seines Arbeitsverhältnisses informiert. Darin heißt es u. a., der Standort S werde von der V GmbH an die a Services S GmbH (derzeit noch firmierend als „a Zweite GmbH“), vertreten durch den Geschäftsführer F übertragen. Nach Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags wurde die a Zweite GmbH in „a Services S GmbH“ umbenannt. Die Gesellschaft wurde beim Amtsgericht S am 8.5.2008 in das Handelsregister eingetragen. Bei dem Betriebsübergang am 1.3.2008 trat die „a Services S 7 GmbH“ als übernehmender Rechtsträger auf. Die a Services S GmbH kündigte im Anschluss das Arbeitsverhältnis des Klägers wegen Betriebsstilllegung. Gegen diese Kündigung seines Arbeitsverhältnisses erhob der Kläger Kündigungsschutzklage. Außerdem erklärte er den Widerspruch gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf die a Services S GmbH mit Schreiben vom 20.7.2010. Er beantragte, festzustellen, dass zwischen den Parteien ein Arbeitsverhältnis über den 29.2.2008 hinaus bestehe und verlangte Weiterbeschäftigung. Das ArbG hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das LAG die Klage abgewiesen. bb) Wesentliche Überlegungen des BAG 1101 Das BAG hob die Entscheidung des LAG in der Revision wieder auf. Der Kläger sei durch das Schreiben vom 17.1.2008 nicht ordnungsgemäß i. S. d. § 613a Abs. 5 BGB über die Person der Betriebserwerberin unterrichtet worden. Denn die „a Services S GmbH“ habe es im Zeitpunkt der Unterrichtung noch nicht gegeben. Daher sei auch die Angabe eines Geschäftsführers „F“ unzutreffend gewesen. Eine Gesellschaft mit dieser Firma sei am 17.1.2008 weder im Handelsregister G noch in S eingetragen gewesen. Daher hätten sich die Arbeitnehmer durch Einblick in das Handelsregister auch keine Klarheit über die Betriebserwerberin verschaffen können. Die Betriebserwerberin sei im Unterrichtungsschreiben auch nicht als solche aufgeführt, sondern – falsch geschrieben – als „noch Firma“ der Betriebserwerberin und übernehmerin. Aufgrund des Hinweises im Unterrichtungsschreiben auf eine so nicht firmierende GmbH, der fehlenden Angabe zum Firmensitz, dem Schweigen zum zuständigen Handelsregister, der fehlenden Angabe einer Handelsregisternummer, hätten die unterrichteten Arbeitnehmer binnen der Frist zum Widerspruch die ihnen angegebene Erwerberin wieder im Handelsregister von G noch in dem von S finden können. Die Identität der Betriebserwerberin sei daher unklar geblieben. Bereits deshalb war die Unterrichtungspflicht nach § 613a Abs. 5 BGB nicht erfüllt. 1102 Losgelöst davon war die Unterrichtung nach der Bewertung des BAG auch wegen des fehlenden Hinweises auf die Neugründung des übernehmenden Rechtsträgers und seiner deshalb fehlenden Sozialplanpflichtigkeit fehlerhaft. Auf die Freiheit von der Pflicht zum Sozialplan nach § 112a Abs. 2 BetrVG müsse in einem Unterrichtungsschreiben hingewiesen werden. Es handele sich dabei um mittelbare Folgen eines Betriebsübergangs, welche aufgrund

268

I. Neues zum Betriebsübergang

der Gefährdung der wirtschaftlichen Absicherung der Arbeitnehmer ein wesentliches Kriterium für einen möglichen Widerspruch darstelle. d) Widerspruch bei mehrfachem Betriebsübergang – Gestaltungschance bei Sanierungen? Die vorstehende Entscheidung macht noch einmal deutlich, wie sorgfältig 1103 Unterrichtungsschreiben nach § 613a Abs. 5 BGB gestaltet werden müssen, um vor dem BAG Bestand zu haben. Der Umstand, dass das BAG bislang – soweit ersichtlich – lediglich ein Unterrichtungsschreiben als ordnungsgemäß akzeptiert hat, zeigt für die Sanierungspraxis aber auch einen durchaus erfolgversprechenden Weg auf, einen Personalabbau ohne den Ausspruch von Kündigungen und die Notwendigkeit, Sozialplanleistungen gewähren zu müssen, zu bewirken: Wenn in der Vergangenheit vor Eintritt der Sanierungsbedürftigkeit – wie bei 1104 vielen Unternehmen – Betriebs- oder Betriebsteilübergänge stattgefunden haben und die in deren Zuge übernommenen Arbeitsverhältnisse nun im Rahmen einer Sanierung von Personalabbaumaßnahmen betroffen sind, der zu sanierende Rechtsträger aber nicht sozialplanpflichtig ist oder jedenfalls keine relevanten Sozialplanmittel besitzt, sollten insbesondere Insolvenzverwalter prüfen, ob die bei den vorhergehenden Übertragungsvorgängen verwendeten Unterrichtungsschreiben den vom BAG im Rahmen von § 613a Abs. 5 BGB entwickelten Anforderungen entsprechen. Praxistipp: Das kommt in der Praxis durchaus häufig vor. Anlass hierfür kann nicht nur ein (erneuter) Auftragnehmerwechsel im Dienstleistungsbereich oder der Erneutverkauf eines Betriebs- oder Betriebsteils an einen weiteren Interessenten sein. Hintereinander geschaltete Betriebsübergänge kommen auch – in der Regel aus steuerrechtlichen Gründen – dann häufig vor, wenn umwandlungsrechtliche Übertragungsvorgänge mit der Maßgabe vorgenommen werden, dass der Übergang des Arbeitsverhältnisses auf die letztliche Zielgesellschaft erst dann erfolgt, wenn zuvor weitere Übergänge des Betriebs- oder Betriebsteils auf andere Rechtsträger wirksam geworden sind.

Ist dies nämlich nicht der Fall, kann eine – auch für die betroffenen Arbeit- 1105 nehmer – durchaus interessante Gestaltungsmöglichkeit darin bestehen, dem damaligen Übergang des Arbeitsverhältnisses gemäß § 613a Abs. 6 BGB mit der Folge zu widersprechen, dass das betroffene Arbeitsverhältnis bei dem damals übertragenden Rechtsträger verbleibt. Dadurch bietet sich für den betroffenen Arbeitnehmer ggf. dort eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit, jedenfalls aber die Chance, von einem potenteren Arbeitgeber als dem insolventen bisherigen Arbeitgeber eine (höhere) Abfindung zu erhalten. Stehen in Bezug auf dasselbe Arbeitsverhältnis mehrere in der Vergangenheit 1106 erfolgte Betriebs(teil)übergänge in Rede, kann durch Widerspruch bzw. Widersprüche ggf. gezielt der Bestand des Arbeitsverhältnisses mit einem be-

269

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

stimmten der vorhergehenden übertragenden Rechtsträger bewirkt werden. Beachtet werden müssen dabei allerdings die Feststellungen des BAG in dessen Urteil vom 24.4.2014 – 8 AZR 369/13, ZIP 2014, 1647.

In diesem Urteil hat der 8. Senat des BAG deutlich gemacht, dass der Widerspruch nach § 613a Abs. 6 BGB jeweils nur in Bezug auf den letzten Betriebs- oder Betriebsteilübergang erklärt werden kann. Dies folge aus dem Gesetz. Denn § 613a Abs. 6 Satz 2 BGB bestimme, dass der Widerspruch gegenüber dem neuen Inhaber oder dem bisherigen Arbeitgeber erklärt werden könne. Der bisherige Arbeitgeber sei aber nur das Unternehmen, das an der letzten Transaktion und der damit verbundenen Übertragung des Arbeitsverhältnisses beteiligt gewesen sei. 1107 Ausgehend von dieser Vorgabe kann der Arbeitnehmer den Widerspruch gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses grundsätzlich nicht mehr gegenüber einem Arbeitgeber erklären, bei dem er in der Vergangenheit einmal beschäftigt war, wenn im Anschluss daran mehrere Betriebsübergänge erfolgt sind. Dies gilt nach den Feststellungen des BAG selbst dann, wenn die Unterrichtung gemäß § 613a Abs. 5 BGB hinsichtlich des damaligen Betriebsübergangs fehlerhaft war, so dass die Monatsfrist für den Widerspruch nach § 613a Abs. 6 BGB nicht zum Tragen kommt. 1108 Damit ist ein Widerspruch gegen vorhergehende Betriebs(teil)übergänge aber richtigerweise noch nicht ausgeschlossen. Voraussetzung hierfür ist vielmehr lediglich, dass zuvor (wirksam) den nachfolgenden Betriebsübergängen widersprochen wurde. Es muss also ein Kettenwiderspruch gegen den jeweils letzten Betriebsübergang in der durch § 613a Abs. 6 BGB vorgegebenen Form und Frist erfolgen. Geschieht dies nicht, heilt der fehlende oder verspätete Widerspruch gegen den letzten Übergang Fehler, die bei früheren Betriebsübergängen in Bezug auf die Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB gemacht wurden. Praxistipp: Wird ein ordnungsgemäßer „Kettenwiderspruch“ erklärt, sind dieser Gestaltungsmöglichkeit nur durch die Verwirkung von Widerspruchsrechten Grenzen gesetzt.

II. Folgen eines Widerspruchs gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses für Ansprüche aus Betriebsvereinbarungen 1109 Im Zusammenhang mit Betriebs- bzw. Betriebsteilübergängen kommt es in der betrieblichen Praxis relativ häufig auch dann zu Widersprüchen einzelner Arbeitnehmer gemäß § 613a Abs. 6 BGB, wenn die Übertragung von der Mehrheit der Arbeitnehmer unterstützt wird. Die kollektive Ausübung des Widerspruchsrechts, die nur dann zulässig ist, wenn sie nicht rechtsmissbräuchlich (z. B. zur Erzielung einer Standortgarantie) erfolgt, geschieht in

270

II. Folgen eines Widerspruchs gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses

der Praxis eher selten. Wie sich ein Widerspruch auf etwaige Ansprüche des widersprechenden Arbeitnehmers aus Betriebsvereinbarungen auswirkt, ist bislang kaum Gegenstand einer vertieften Diskussion in Rechtsprechung und Literatur gewesen. Diese Frage ist in der betrieblichen Praxis allerdings nicht nur unter dem Gesichtspunkt bedeutsam, ob und inwieweit auf etwaige negative betriebsverfassungsrechtliche Folgen eines Widerspruchs im Rahmen des Unterrichtungsschreibens nach § 613a Abs. 5 BGB hingewiesen werden muss. 1. Beendigung der Geltung einer Betriebsvereinbarung bei Ausscheiden aus dem Betrieb Die Ausübung des Widerspruchsrechts nach § 613a Abs. 6 BGB kann den 1110 Betriebsübergang nicht verhindern. Vgl. nur LAG Sachsen v. 21.6.2006 – 2 Sa 677/05, BeckRS 2007, 42288 = ArbRB 2007, 136 (LS).

Soweit dies in der Literatur teilweise angenommen wird,

1111

z. B. HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, BGB § 613a Rn. 352; Hidalgo/Kolber, NZA 2014, 290, 291,

wird dabei die Rechtsfolge des Widerspruchs mit dem Tatbestand eines Betriebsübergangs verwechselt. Dies gilt nicht nur im Fall eines betriebsmittelintensiven Betriebs, der ohne Übernahme von Personal übergehen kann, BAG, v. 28.4.2011 – 8 AZR 709/09, BeckRS 2011, 75933; BAG, v. 23.9.2010 – 8 AZR 567/09, DB 2011, 246,

sondern auch bei einem sog. betriebsmittelarmen Betrieb. Denn Voraussetzung für die Übertragung eines Betriebs oder Betriebsteils mit einer betriebsmittelarmen Tätigkeit ist, dass das nach Zahl und Sachkunde wesentliche Personal durch Abschluss entsprechender Verträge sein Arbeitsverhältnis mit dem übertragenen Rechtsträger beendet und ein neues Arbeitsverhältnis mit dem aufnehmenden Rechtsträger begründet. BAG, v. 15.12.2011 – 8 AZR 197/11, NZA-RR 2013, 179.

Werden derartige Verträge mit dem nach Zahl und Sachkunde wesentlichen 1112 Personal abgeschlossen, liegt – soweit nicht sonstige Hinderungsgründe eingreifen – vgl. dazu z. B. Mückl, 1. Aufl., Rn. 609 ff.

ein Betriebsübergang vor. Denn wer den Übergang seines Arbeitsverhältnisses vereinbart (und dadurch ggf. erst einen Betriebsübergang auslöst), kann ihm nicht nach § 613a Abs. 6 BGB widersprechen. Auf Widersprüche des verbleibenden (nicht wesentlichen) Personals kommt es nicht an.

271

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

a) Übertragung des betriebsverfassungsrechtlichen Betriebs 1113 Zum Ausscheiden aus dem betriebsverfassungsrechtlichen Betrieb(steil) führt das widerspruchsbedingte Ausscheiden aus dem übertragenen Betrieb(steil) i. S. d. § 613a BGB aber – vorbehaltlich der Notwendigkeit einer Zuordnungsentscheidung durch den Arbeitgeber – vgl. dazu unter Rn. 1134 ff.

nur dann, wenn sich beide Betriebe (bzw. Betriebsteile) entsprechen. aa) Identität von übertragenem Betrieb und betriebsverfassungsrechtlichem Betrieb (1) Betrieb i. S. d. § 613a BGB nach der Rechtsprechung des BAG 1114 Voraussetzung eines Betriebs(teil)übergangs nach § 613a BGB ist das Vorliegen einer übertragungsfähigen organisatorischen (wirtschaftlichen) Einheit beim übertragenden Rechtsträger. Als entsprechende Einheit definiert das BAG eine organisatorische Gesamtheit von Personen und/oder Sachen zur auf Dauer angelegten Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigener Zielsetzung. BAG, v. 23.5.2013 – 8 AZR 236/12, n. v.; vgl. oben unter Rn. 1053 ff.

1115 Wesentliches Merkmal der Kennzeichnung eines Betriebs(teils) ist damit, dass Arbeitnehmer und Betriebsmittel zur Verfolgung einer arbeitstechnischen Zweckbestimmung organisatorisch zusammengefasst sind. Vgl. dazu bereits oben unter Rn. 1055 ff.

1116 Nicht ausreichend soll ein bloß funktionaler Zusammenhang zwischen den maßgeblichen Produktionsfaktoren sein. BAG, v. 13.10.2011 – 8 AZR 455/10, ZIP 2012, 488 = DB 2012, 1100, dazu EWiR 2012, 235 (Oetker). Zum Umstand, dass dies ggf. mit der Rechtsprechung des EuGH nicht vereinbar ist, vgl. Mückl, 1. Aufl., Rn. 583.

1117 Hiervon ausgehend wird man zur Kennzeichnung des Betriebs i. S. d. § 613a BGB im Wesentlichen auf die Kriterien zurückgreifen können, die für die Kennzeichnung eines selbständigen Betriebsteils i. S. d. § 4 I 1 Nr. 2 BetrVG erfüllt sein müssen. BAG, v. 15.12.2011 – 8 AZR 692/10, NZA-RR 2012, 570, dazu EWiR 2012, 655 (Grau/Sittard).

1118 Es ist also eine Eigenständigkeit gefragt, die alle wesentlichen Fragen betrifft, die der personellen und sozialen Mitbestimmung des Betriebsrats nach §§ 87, 92, 99, 102 BetrVG unterworfen sind. Vgl. nur Gaul, § 6 Rn. 226.

272

II. Folgen eines Widerspruchs gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses

Liegen diese Voraussetzungen in Bezug auf die übertragene Organisations- 1119 einheit vor, ist stets zugleich auch ein Betrieb i. S. d. § 613a BGB gegeben, Staudinger/Annuß, BGB, § 613a Rn. 45,

obwohl § 613a BGB ein autonomer Betriebsbegriff zugrunde liegt. Vgl. Mückl, BB 2010, 2830, 2831.

(2) Betrieb i. S. d. BetrVG und der Rechtsprechung des EuGH zum Betriebsübergang Die Entscheidung des EuGH in der Sache UGT-FSP

1120

EuGH, v. 29.7.2010 – C-151/09 – UGT-FSP, DB 2011, 58

lässt – wie an anderer Stelle dargelegt – darauf schließen, vgl. Mückl, BB 2010, 2830, 2831,

dass der EuGH ein von der Kompetenz, die (faktisch-funktionale) Organisation zu gestalten, geprägtes Verständnis der für die betriebsverfassungsrechtliche Qualifikation maßgeblichen „Selbständigkeit“ des Betriebs i. S. d. RL 2001/ 23/EG vertritt. Die vom EuGH für die Bestimmung der „Selbständigkeit” herangezogenen Faktoren entsprechen dabei im Kern den vom BAG (unter dem Begriff „Identität”) entwickelten Kriterien zur Kennzeichnung des betriebsverfassungsrechtlichen Betriebs. Vgl. Mückl, BB 2010, 2830, 2831.

Ein Betrieb i. S. v. § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist danach eine organisatorische 1121 Einheit, innerhalb derer der Arbeitgeber zusammen mit den von ihm beschäftigten Arbeitnehmern bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. BAG, v. 13.2.2013 – 7 ABR 36/11, NZA-RR 2013, 521.

bb) Konsequenz Zusammenfassend bedeutet das: Wird die bei dem übertragenden Rechtsträger 1122 bestehende Organisationsstruktur unter Beibehaltung der Kompetenzen der beim übertragenden Rechtsträger Verantwortlichen im Wesentlichen unverändert übertragen, Zu dieser Anforderung EuGH, v. 29.7.2010 – C-151/09, DB 2011, 58 – UGT-FSP,

geht nicht nur der Betrieb(steil) i. S. d. § 613a BGB, sondern auch der Betrieb(steil) im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne auf den aufnehmenden Rechtsträger über und wahrt seine Identität im Sinne der Rechtsprechung des BAG bzw. seine „Selbständigkeit“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH.

273

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

b) Individualrechtliche Wirkung der Ausübung des Widerspruchsrechts 1123 Wird das Widerspruchsrecht nach § 613a Abs. 6 BGB vor dem Übergang ausgeübt, verbleibt das Arbeitsverhältnis bei dem übertragenden Rechtsträger. Der Mitarbeiter scheidet also im Zeitpunkt des Betriebsübergangs aus dem Betrieb(steil) i. S. d. § 613a BGB und – unter den vorgenannten Voraussetzungen – aus dem betriebsverfassungsrechtlichen Betrieb(steil) aus. Gleiches gilt nach der Rechtsprechung des BAG, v. 16.4.2013 – 9 AZR 731/11, DB 2013, 1672,

1124 bei einer Ausübung des Widerspruchsrechts nach dem Betriebsübergang. Denn in diesem Fall wirkt das Widerspruchsrecht auf den Zeitpunkt des Betriebsübergangs zurück. Der Widerspruch bewirkt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen dem übertragenden Rechtsträger und dem widersprechenden Arbeitnehmer ununterbrochen fortbesteht. BAG, v. 16.4.2013 – 9 AZR 731/11, ZIP 2013, 1783 = DB 2013, 1672, dazu EWiR 2013, 767 (Haußmann).

c) Auswirkungen eines Ausscheidens aus dem Betrieb auf die Geltung von Betriebsvereinbarungen 1125 Konsequenz des Widerspruchs ist damit, dass der Arbeitnehmer aus dem übergehenden Betrieb(steil) i. S. d. § 613a BGB und im Sinne des BetrVG ausscheidet. aa) Grundsatz 1126 Dies wirkt sich grundsätzlich auch auf die Geltung einer Betriebsvereinbarung aus. Denn der persönliche Geltungsbereich einer Betriebsvereinbarung erstreckt sich grundsätzlich (nur) auf alle Arbeitnehmer des Betriebs. Sie erfasst insoweit zwar nach ihrem Abschluss auch neu in den Betrieb eingetretene Arbeitnehmer. BAG, v. 5.9.1960 – 1 AZR 509/57, AP BGB § 399 Nr. 4.

1127 Da die normative Geltung von Betriebsvereinbarungen sowohl räumlich als auch zeitlich grundsätzlich auf den Betrieb begrenzt ist, dessen Belegschaft der die Betriebsvereinbarung abschließende Betriebsrat repräsentiert, endet sie regelmäßig, wenn ein Arbeitnehmer in einen anderen Betrieb versetzt wird oder aus sonstigen Gründen ausscheidet. BAG, v. 28.6.2005 – 1 AZR 213/04, DB 2005, 2698(LS).

bb) Ausnahme 1128 Dies gilt allerdings nicht ausnahmslos. So können nach der Rechtsprechung des BAG u. a. Regelungen in Sozialplänen in ihrer normativen Wirkung die Betriebszugehörigkeit überdauern. Dies hat das BAG für einen Sozialplan z. B. angenommen, wenn die Belegschaft eines Betriebs oder Teile derselben 274

II. Folgen eines Widerspruchs gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses

in den Diensten des bisherigen Arbeitgebers bleiben und lediglich in einen anderen Betrieb übernommen werden. Der Sozialplan verliere für diese Arbeitnehmer nicht seine normative Wirkung. BAG, v. 28.6.2005 – 1 AZR 213/04, DB 2005, 2698(LS); BAG, v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097; BAG, v. 24.3.1981 – 1 AZR 805/78, ZIP 1981, 1125.

Begründet hat das BAG,

1129

BAG, v. 24.3.1981 – 1 AZR 805/78, ZIP 1981, 1125,

dies – etwas apodiktisch (mit dem Ziel, eine Zuständigkeit des Betriebsrats des aufnehmenden Betriebs für den Sozialplan zu begründen) – im Wesentlichen damit, dass der Sozialplan durch eine Betriebsstilllegung nicht seinen kollektiven Charakter verliere. Seine fortgeltenden Regelungen wirkten weiterhin normativ auf die Arbeitsverhältnisse der betroffenen Arbeitnehmer ein. Sie würden mit der Übernahme dieser Arbeitnehmer in einen anderen Betrieb des Arbeitgebers zum Bestandteil der kollektiven Normenordnung dieses Betriebs. Sie „ordne[te]n einen Ausschnitt der Arbeitsbedingungen kollektiv für die Gruppe der von dem stillgelegten Betrieb übernommenen Belegschaftsmitglieder und bilde[te]n damit eine normative Teilordnung“ des aufnehmenden Betriebs. Gleiches gilt nach der Rechtsprechung des BAG im Fall einer Betriebsspaltung 1130 und -übertragung dann, wenn der übertragene Betriebsteil beim aufnehmenden Rechtsträger als selbständiger Betrieb fortgeführt wird. BAG, v. 14.8.2013 – 7 ABR 56/11, DB 2014, 308.

Dieselben Grundsätze finden Anwendung, wenn der abgespaltene (und über- 1131 tragene) Betriebsteil (beim aufnehmenden Rechtsträger) in einen Betrieb i. S. d. § 3 Abs. 5 BetrVG eingegliedert BAG, v. 7.6.2011 – 1 ABR 110/09, DB 2011, 2498

und die Betriebsvereinbarung dort nicht nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB abgelöst wird. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt, die vom BAG vorstehend zum Sozialplan entwickelten Grundsätze in Spaltungs- und Übertragungsfällen auf Betriebsvereinbarungen mit der Folge zu übertragen, dass sie in übertragenen Betriebsteilen einen Ausschnitt der Arbeitsbedingungen kollektiv für die Gruppe der von dem gespaltenen Betrieb übernommenen Belegschaftsmitglieder „ordnen“ und damit eine normative Teilordnung des aufnehmenden Betriebs bilden, dafür Fitting u. a., BetrVG § 77 Rn. 174; Monz, BB 2012, 1923, 1924 f.; wohl auch Löwisch, in: Festschrift Bepler, 2012, S. 403, 405; differenzierend z. B. GK-BetrVG/Kreutz, BetrVG § 77 Rn. 413 m. w. N.,

soweit sie dort nicht nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB abgelöst werden.

275

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

cc) Bedeutung in Fällen des Ausscheidens kraft Widerspruchs 1132 Ausgehend von der („zielorientiert“ wirkenden) Begründung des BAG ist für die normative Fortgeltung einer Betriebsvereinbarung für den einzelnen Arbeitnehmer – vorbehaltlich einer Ablösung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB – der Umstand maßgeblich, dass er weiterhin bei seinem bisherigen Arbeitgeber beschäftigt bleibt und dort in einen bestehenden Betrieb des Arbeitgebers, in dem ein Betriebsrat gebildet wurde, eingegliedert wird. a. A. Löwisch, in: Festschrift Bepler, 2012, S. 403, 408, der Betriebsvereinbarungen (auch dem Inhalt nach) nur abhängig vom Bestehen eines Übergangs- oder Restmandats weitergelten lassen will.

1133 Die erste Voraussetzung ist im Fall eines Widerspruchs gemäß § 613a Abs. 6 BGB stets gegeben. Ausgehend von der Rechtsprechung des BAG scheidet eine ausnahmsweise eintretende Fortgeltung der Betriebsvereinbarung für das Arbeitsverhältnis des widersprechenden Arbeitnehmers aber aus, wenn er bei seinem bisherigen Arbeitgeber nicht in einen bestehenden Betrieb, in dem ein Betriebsrat gebildet worden ist, eingegliedert wird. Dann bleibt es bei dem allgemeinen Grundsatz, dass ein Ausscheiden aus dem persönlichen Geltungsbereich der Betriebsvereinbarung dazu führt, dass die Betriebsvereinbarung auf den Arbeitnehmer keine Anwendung mehr findet. 2. Keine Eingliederung in einen Betrieb des übertragenden Rechtsträgers 1134 Ausgehend von diesen Grundsätzen stellt sich im Zusammenhang mit Widersprüchen unter dem Gesichtspunkt der fortbestehenden Geltung von Betriebsvereinbarungen für die widersprechenden Arbeitnehmer vor allem die Frage, ob sie (automatisch) in einen Betrieb des übertragenden Rechtsträgers eingegliedert werden oder der übertragende Rechtsträger verpflichtet ist, eine solche Eingliederung vorzunehmen. a) Keine automatische Eingliederung 1135 Ohne zuordnende Entscheidung des übertragenden Rechtsträgers findet indes keine Eingliederung statt. Ebenso Hidalgo/Kolber, NZA 2014, 290, 292 f.; a. A. offenbar – ohne Begründung – Löwisch, in: Festschrift Bepler, 2012, S. 403.

1136 Denn grundsätzlich entscheidet nach der Rechtsprechung des BAG der Arbeitgeber auf der Grundlage seines Organisations- und Direktionsrechts über den Arbeitseinsatz des Arbeitnehmers, der lediglich einen Anspruch auf vertragsgemäße Arbeit zu vertragsgemäßen Bedingungen hat. BAG, v. 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, DB 2013, 1178.

1137 Kein Anspruch besteht auf eine Beschäftigung auf einem bestimmten Arbeitsplatz oder in einem bestimmten Arbeitsbereich. Etwas anderes kann nur

276

II. Folgen eines Widerspruchs gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses

ausnahmsweise dann gelten, wenn sich die Tätigkeit entsprechend konkretisiert hatte. BAG, v. 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, DB 2013, 1178.

Ob der Arbeitgeber insoweit sein Weisungsrecht ermessensfehlerfrei ausge- 1138 übt hat, ist nach der Rechtsprechung des BAG bezogen auf den Beginn der Personalmaßnahme zu prüfen. Dies ist die Zuordnung des Arbeitnehmers zu dem Tätigkeitsbereich, der von dem Übertragungsvorgang erfasst war. Eine weitere Prüfung bei Beendigung der personellen Maßnahme, im Fall eines Widerspruchs gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses also der Zeitpunkt des Widerspruchs, erfolgt nach der Rechtsprechung des BAG nicht. BAG, v. 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, DB 2013, 1178; BAG, v. 17.1.2006 – 9 AZR 226/05, NZA 2006, 1064.

Ohne erneute zuordnende Entscheidung des Arbeitgebers, erfolgt also keine 1139 Eingliederung in einen Betrieb des übertragenden Rechtsträgers. Dies gilt auch dann, wenn das Widerspruchsrecht kollektiv ausgeübt wird; vgl. zuletzt Hidalgo/Kolber, NZA 2014, 290, 291;

in einem betriebsmittelintensiven Betrieb sogar dann, wenn alle Arbeitnehmer dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses widersprechen. Denn der (rückwirkende) Verbleib einer Vielzahl oder gar aller Arbeitnehmer beim bisherigen Arbeitgeber führt nicht dazu, dass bei diesem ein entsprechender Betrieb im Sinne des BetrVG besteht, in den die Arbeitnehmer eingegliedert wären. LAG München, v. 17.10.2007 – 11 TaBV 73/07, BeckRS 2009, 61605 = LAGE Nr. 50 zu § 98 ArbGG 1979 (LS); Hidalgo/Kolber, NZA 2014, 290, 292; Moll/Ersfeld, DB 2011, 1108.

Eine fortbestehende Zuständigkeit des Betriebsrats des aufnehmenden Rechts- 1140 trägers würde auch § 24 Nr. 4 BetrVG vgl. GK-BetrVG/Oetker, BetrVG § 24 Rn. 24; WPK/Wlotzke, BetrVG § 24 Rn. 7; Hidalgo/Kolber, NZA 2014, 290, 292

sowie der Rechtsprechung des BAG zum Personalvertretungsrecht widersprechen. Vgl. BAG, v. 25.5.2000 – 8 AZR 416/99, ZIP 2000, 1630 (m. Anm. Bauer/Mengel, S. 1635) = DB 2000, 1966, dazu EWiR 2000, 1009 (Joost).

b) Keine Verpflichtung zur Eingliederung Grundsätzlich besteht darüber hinaus nach der Rechtsprechung des BAG 1141 auch kein Anspruch des gemäß § 613a Abs. 6 BGB widersprechenden Arbeitnehmers, in einen bestimmten Betrieb eingegliedert zu werden.

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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung Als nicht „abschließend behandelt“ bezeichnen dies Hidalgo/Kolber, NZA 2014, 290, 293, die allerdings nicht auf BAG, v. 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, DB 2013, 1178 eingehen und auf der Grundlage der vorhergehenden Rechtsprechung des BAG bei fehlendem Beschäftigungsbedarf beim übertragenden Rechtsträger im Ergebnis dieselbe Ansicht vertreten.

aa) Kein Anspruch nach § 241 Abs. 2 BGB 1142 Ein derartiger Anspruch folgt nach der Bewertung des BAG insbesondere nicht aus § 241 Abs. 2 BGB. BAG, v. 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, DB 2013, 1178.

1143 Das Arbeitsverhältnis könne nach seinem Inhalt zwar jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten (§ 241 Abs. 2 BGB). Die Interessen eines widersprechenden Arbeitnehmers im Hinblick auf den Bestand seines Arbeitsverhältnisses zu den bisherigen Arbeitsbedingungen werden jedoch durch § 613a BGB gewahrt. Danach geht das Arbeitsverhältnis mit allen Rechten und Pflichten auf den Betriebserwerber über. Widerspricht der Arbeitnehmer, trägt er nach der Rechtsprechung des BAG daher das Risiko, dass für ihn kein Beschäftigungsbedarf beim Betriebsveräußerer mehr besteht, weil aufgrund des Betriebsübergangs sein alter Betrieb dort nicht mehr existiert. Der Arbeitgeber sei – so das BAG – grundsätzlich nicht verpflichtet, dem Arbeitnehmer dieses Risiko dadurch zu nehmen, dass er ihn in einen anderen Betrieb seines Unternehmens versetze. Dies gelte auf jeden Fall dann, wenn er den anderen Betrieb ebenfalls bereits an einen Betriebserwerber veräußert habe und er diesem – nach Abschluss der Übernahmevereinbarung – einen zusätzlich zu übernehmenden Arbeitnehmer „verschaffen“ würde. BAG, v. 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, DB 2013, 1178.

1144 Etwas anderes wird man faktisch im Einzelfall – vermittelt durch die Verpflichtung nach § 1 Abs. 2 KSchG und den rein faktischen Druck des Annahmeverzugslohns – nur dann annehmen können, wenn beim übertragenden Rechtsträger Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bestehen. Ähnlich wohl Hidalgo/Kolber, NZA 2014, 290, 294.

1145 Denn sie stehen dem Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung entgegen und bewirken daher zur Vermeidung von Annahmeverzugslohn einen faktischen Zuordnungsdruck. bb) Betriebsverfassungsrechtliche Folgen 1146 Betriebsverfassungsrechtlich hat das Fehlen einer Rechtspflicht zur Eingliederung zur Konsequenz, dass der Arbeitnehmer, sofern er widerspricht, ohne erneute zuordnende Entscheidung des Arbeitgebers, auf die er keinen Anspruch hat, keinem betriebsverfassungsrechtlichen Betrieb mehr zugeordnet

278

II. Folgen eines Widerspruchs gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses

ist. Da er aus seinem ehemaligen betriebsverfassungsrechtlichen Betrieb ausgeschieden ist, hat dies wiederum zur Folge, dass die im übertragenen Betrieb geltenden Betriebsvereinbarungen auf ihn keine Anwendung finden. Auch eine analoge Anwendung von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB scheidet aus. 1147 Es fehlt bereits an einer vergleichbaren Interessenlage als Voraussetzung einer Analogie. Dazu allgemein BAG, v. 23.1.2014 – 8 AZR 118/13, BB 2014, 1534.

Denn der Arbeitnehmer ist insoweit nicht schutzwürdig, weil er sich des durch 1148 § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB bewirkten Schutzes durch autonome Entscheidung, nämlich durch die Ausübung seines Widerspruchsrechts, begeben hat. c) Bestätigung durch die betriebsverfassungsrechtliche Bewertung im Übrigen Die vorstehende betriebsverfassungsrechtliche Bewertung stimmt mit der 1149 betriebsverfassungsrechtlichen Situation, welche die herrschende Meinung im Übrigen annimmt, überein. Führt man sich noch einmal vor Augen, dass das BAG die normative Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen an die fortbestehende Zugehörigkeit zu einem betriebsverfassungsrechtlichen Betrieb, in dem ein Betriebsrat gebildet worden ist, anknüpft, erscheint diese Bewertung allein folgerichtig. Denn für einen widersprechenden Arbeitnehmer ist, wenn keine entsprechende Zuordnungsentscheidung des Arbeitgebers erfolgt, auf die kein Anspruch besteht, kein Betriebsrat zuständig. Es besteht insoweit – wie das BAG zuletzt in seinem Urteil vom 8.5.2014 – 2 AZR 1005/12, DB 2014, 2840 (LS)

bestätigt hat – weder ein Übergangs- noch ein Restmandat. aa) Anhörung nach § 102 BetrVG Entschieden hat das BAG dies teilweise bereits in seinem Urteil vom 1150 21.3.1996 2 AZR 559/95, DB 1996, 2230; zustimmend LAG Düsseldorf, v. 12.10.2005 – 12 Sa 931/05, EzAÜG § 14 AÜG Betriebsverfassung Nr. 62; LAG Düsseldorf, v. 11.1.2011 – 17 Sa 828/10, juris

zur Anhörungspflicht nach § 102 BetrVG. bb) Keine Anhörung des im Amt verbliebenen Betriebsrats des übernehmenden Rechtsträgers Die Anhörung eines anderen Betriebsrats komme, wenn ein Unternehmer 1151 nur einen Betrieb habe und diesen veräußere, von vornherein nicht in Betracht, weil nur ein Betrieb und damit auch nur ein Betriebsrat bestanden habe.

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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung BAG, v. 21.3.1996 – 2 AZR 559/95, ZIP 1996, 1560 = DB 1996, 2230, dazu EWiR 1996, 917 (Schipp).

1152 Die Zuständigkeit des Betriebsrats des insgesamt veräußerten Betriebs scheitere daran, dass dieser Betriebsrat – was regelmäßig der Fall sei – im Amt geblieben sei und aufgrund des Widerspruchs den Arbeitnehmer, der weder in einer rechtlichen noch in einer tatsächlichen Beziehung zu dem neuen Betriebsinhaber stehe, nicht mehr repräsentieren könne. cc) Keine Zuständigkeit eines Betriebsrats des übertragenden Rechtsträgers 1153 Ein beim bisherigen Betriebsinhaber in einem anderen Betrieb bestehender Betriebsrat sei in keinem Fall zuständig, BAG, v. 21.3.1996 – 2 AZR 559/95, ZIP 1996, 1560 = DB 1996, 2230,

wenn der Unternehmer, der einen Betrieb insgesamt veräußert habe, noch mehrere weitere Betriebe besitze und kein Anhaltspunkt dafür bestehe, welchen der verbleibenden Betriebe der dem Betriebsübergang widersprechende Arbeitnehmer zugeordnet werden könnte. BAG, v. 21.3.1996 – 2 AZR 559/95, ZIP 1996, 1560 = DB 1996, 2230.

1154 Weder eine Pflicht des Arbeitgebers zur Anhörung eines bestimmten Betriebsrats (welches?), noch eine Pflicht zur Anhörung der Betriebsräte aller verbleibenden Betriebe, lassen sich in einem derartigen Fall begründen. Die bloße Pflicht des Arbeitgebers, ggf. Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten für den Arbeitnehmer in diesem Betrieb zu suchen, vermöge hier ebenso wenig eine Pflicht zur Anhörung der Betriebsräte der verbleibenden Betriebe zu begründen wie bei sonstigen betriebsbedingten Kündigungen, bei denen der Arbeitgeber auch nach § 1 Abs. 2 KSchG derartige Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten zu prüfen habe, ohne dass dadurch die Anhörungspflicht nach § 102 BetrVG ausgeweitet würde. Der widersprechende Arbeitnehmer, der mit der Ausführung seines Widerspruchsrechts schon ein höheres Kündigungsrisiko eingehe, riskiere damit gleichzeitig also ein Leerlaufen der betrieblichen Mitbestimmung im Fall seiner Kündigung. dd) Kein Restmandat des im Amt verbliebenen Betriebsrats des übernehmenden Rechtsträgers 1155 Die in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1996 offengelassene Frage nach dem Bestehen eines Restmandats hat das BAG in seinem Urteil vom 24.5.2012 – 2 AZR 62/11, DB 2013, 1731

beantwortet, das er in seinem Urteil vom 8.5.2014 – 2 AZR 1005/12, DB 2014, 2840 (LS)

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II. Folgen eines Widerspruchs gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses

noch einmal bestätigt hat. Der widersprechende Arbeitnehmer hatte dort eine Anhörungspflicht unter Berufung auf ein angebliches Restmandat (§ 21b BetrVG) vertreten. Diese sollte sich daraus ergeben, dass ein Teilbetriebsübergang letztlich die Stilllegung des Restteilbetriebs bewirkt habe. So im Ergebnis auch die Überlegungen von Löwisch, in: Festschrift Bepler, 2012, S. 403, 406.

Insoweit stellt das BAG zunächst zu Recht klar, dass die Stilllegung von Teilen 1156 eines Betriebs, der unter Wahrung seiner Identität fortgeführt wird, grundsätzlich keinen Anwendungsfall von § 21b BetrVG darstellt. Ebenso LAG Nürnberg, v. 9.8.2011 – 6 Sa 230/10, ZIP 2012, 844 (LS) = DB 2011, 2612 (LS); LAG Sachsen, v. 21.6.2006 – 2 Sa 677/05, ArbRB 2007, 136 (LS).

Im Übrigen weist es darauf hin, dass weder die behauptete Stilllegung eines 1157 Restteilbetriebs noch die Kündigung des Klägers in einem für die Anwendung von § 21b BetrVG erforderlichen Zusammenhang mit der im Wege von Betriebsteilübergängen im Übrigen erfolgten Ausgliederung von Geschäftsbereichen stehe. Ebenso LAG Nürnberg, v. 9.8.2011 – 6 Sa 230/10, ZIP 2012, 844 (LS) = DB 2011, 2612 (LS).

Denn das Restmandat i. S. d. § 21b BetrVG sei kein Vollmandat, sondern le- 1158 diglich ein nachfolgendes Teilmandat. Es solle bei Eingreifen eines der in § 21b BetrVG beschriebenen Tatbestände gewährleisten, dass die zur Abwicklung nötigen betrieblichen Regelungen noch getroffen werden können. Das Restmandat setze daher einen funktionalen Bezug zu den durch die Stilllegung, Spaltung oder Zusammenlegung ausgelösten Aufgaben des Betriebsrats voraus. § 21b BetrVG begründe aber kein allgemeines Mandat für alle im Zeitpunkt der betrieblichen Umstrukturierung noch nicht erledigten Betriebsratsaufgaben. Ebenso wenig erstrecke sich das Restmandat auf solche Aufgaben, die nach einer Betriebsspaltung in den durch sie neu geschaffenen neuen Einheiten anfallen. Solche Aufgaben könnten allenfalls Gegenstand eines Übergangsmandats (§ 21a BetrVG) sein. Das in Rede stehende Anhörungsrecht nach § 102 BetrVG weist – wie das 1159 BAG ergänzend klargestellt hat – keinen hinreichenden Bezug zu Aufgaben im Zusammenhang mit der behaupteten Spaltung auf. Die Kündigung beruht nicht auf dieser Spaltung. Zu ihr hätten erst spätere, infolge des Widerspruchs des Klägers getroffene Organisationsentscheidungen geführt. Die Erklärung des Widerspruchs sei ihrerseits kein Vorgang, an den ein Restmandat des Betriebsrats anknüpfen könne. Sie stelle – als Akt eines Einzelnen oder als kollektiver Akt einer Mehrzahl von Arbeitnehmern – schon deshalb keine Stilllegung, Spaltung oder Zusammenlegung eines Betriebs dar, weil es sich bei ihr nicht um eine Entscheidung des Arbeitgebers handele. Ebenso Aßmuth, S. 58.

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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

1160 Arbeitnehmer könnten keine Betriebe stilllegen, spalten oder zusammenlegen. Diese Bewertung sei mit Art. 6 Nr. 1 RL 2001/23/EG vereinbar. 1161 Abgelehnt hat das BAG damit zu Recht die Überlegung von Löw, AuR 2007, 194, 195,

und Schubert, AuR 2003, 132, 133,

die sich mit der Konstruktion des Fortbestehens einer „Rumpfbetriebsabteilung“, welche mit den gegen den Übergang ihres Arbeitsverhältnisses widersprechenden Arbeitnehmern bestehe und mit deren Kündigung stillgelegt würde, behelfen. Denn erforderlich ist – wie auch das LAG Sachsen, LAG Sachsen, v. 21.6.2006 – 2 Sa 677/05, ArbRB 2007, 136 (LS),

zu Recht betont –, dass eine Betriebsabteilung aufrechterhalten oder gar wissentlich und willentlich geschaffen wird. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn widersprechenden Arbeitnehmern gekündigt wird. LAG Sachsen, v. 21.6.2006 – 2 Sa 677/05, ArbRB 2007, 136 (LS).

d) Kein Rest- oder Übergangsmandat bei einer Übertragung des betriebsverfassungsrechtlichen Betriebs nach § 613a BGB 1162 Ausgehend von diesen Feststellungen kommt bei einer identitätswahrenden Übertragung des gesamten Betriebs in Bezug auf die dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses widersprechenden Arbeitnehmer erst recht kein Restoder Übergangsmandat in Betracht. aa) Keine analoge Anwendbarkeit von § 21a BetrVG bzw. § 21b BetrVG 1163 Die herrschende landesarbeitsgerichtliche Rechtsprechung lehnt völlig zu Recht auch eine analoge Anwendung der §§ 21a f. BetrVG ab. BAG, v. 8.5.2014 – 2 AZR 1005/12, DB 2014, 2840 (LS); LAG Sachsen, v. 21.6.2006 – 2 Sa 677/05, ArbRB 2007, 136 (LS); LAG Nürnberg, v. 9.8.2011 – 6 Sa 230/10, ZIP 2012, 844 (LS) = DB 2011, 2612 (LS); Richardi/Thüsing, BetrVG § 21b Rn. 4b; GK-BetrVG/Kreutz, BetrVG § 21b Rn. 23 und § 21a Rn. 86; Fitting u. a., BetrVG § 21b Rn. 6.

1164 Es fehle schon an der hierfür erforderlichen Regelungslücke. Zudem sei bereits sehr zweifelhaft, ob eine analoge Anwendung derartiger Ausnahmevorschriften überhaupt in Betracht komme. Im vorliegenden Fall verneinend LAG Sachsen, v. 21.6.2006 – 2 Sa 677/05, ArbRB 2007, 136 (LS).

1165 Das Fehlen einer Regelungslücke hat das BAG nun noch einmal bestätigt. Der Annahme einer unbeabsichtigten Regelungslücke stehe entgegen, dass

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II. Folgen eines Widerspruchs gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses

der Gesetzgeber die Entstehung eines Übergangs- und eines Restmandats an tatbestandlich klar umgrenzte Änderungen in der Betriebsorganisation gebunden hat, obwohl das BAG in seiner Entscheidung vom 21.3.1996 – 2 AZR 559/95, BAGE 82, 316

die Problematik, die mit einem Widerspruch des Arbeitnehmers beim Übergang des ganzen Betriebs verbunden ist, ausdrücklich angesprochen habe. BAG, v. 8.5.2014 – 2 AZR 1005/12, DB 2014, 2840 (LS).

bb) Keine Vergleichbarkeit der Interessenlage Sie ist aber jedenfalls nicht erforderlich: Denn der Arbeitnehmer verlässt den 1166 Betrieb, für den der Betriebsrat nach wie vor besteht und zuständig ist, aufgrund eigener Entscheidung, nämlich infolge seines Widerspruchs. Die Konstellation ist daher mit derjenigen, in der ein Verlust der Repräsentation durch den gewählten Betriebsrat aufgrund einer Maßnahme des Arbeitgebers erfolgt (Stilllegung, Spaltung oder Zusammenlegung), nicht vergleichbar. Dies gelte – so das LAG Nürnberg, v. 9.8.2011 – 6 Sa 230/10, DB 2011, 2612 (LS) –

auch im Hinblick auf § 4 Satz 2 BetrVG, der gewährleisten solle, dass die Arbeitnehmer nicht aufgrund von Organisationsentscheidungen des Arbeitgebers an der Repräsentation durch einen Betriebsrat gehindert seien. Denn in den vorliegenden Fällen habe der Arbeitnehmer den Betrieb lediglich durch Ausübung seines Widerspruchsrechts verlassen. Damit entfalle für ihn gemäß der ganz herrschenden Meinung eine Repräsentation durch den Betriebsrat. Eine andere Auffassung hat lediglich das LAG Rheinland-Pfalz in seinem Beschluss vom 19.4.2005 – 2 TaBV 15/05, NZA-RR 2005, 529; a. A. unter berechtigter Kritik an inneren Widersprüchen dieser Entscheidung LAG Sachsen, v. 21.6.2006 – 2 Sa 677/05, ArbRB 2007, 136 (LS)

angedeutet. Dies wird aber von der herrschenden Meinung bereits mit der vorstehenden Begründung zu Recht abgelehnt. cc) Gesetzeshistorie Ergänzend hat insbesondere das LAG Sachsen in seinem Urteil vom 21.6.2006 – 2 Sa 677/05, ArbRB 2007, 136 (LS)

zutreffend darauf hingewiesen, dass das BAG in den vor Inkrafttreten der §§ 21a f. BetrVG entwickelten Grundsätzen zum Übergangs- bzw. Restmandat bereits keine Hinweise auf ein derartiges Verständnis gegeben hatte. Auch die Gesetzesbegründung BT-Drucks. 14/5741, S. 39

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1167

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

habe ausschließlich die Fälle im Blick gehabt, in denen infolge einer „Organisationsänderung“ entweder der bisherige Betriebsrat wegfalle oder ein Teil der Arbeitnehmerschaft aus dem Zuständigkeitsbereich des Betriebsrats herausfalle und die Arbeitnehmer dadurch ihren betriebsverfassungsrechtlichen Schutz verlieren würden. An diesen Voraussetzungen fehlt es – wie gerade gezeigt – in den vorliegenden Fällen aber. Ebenso BAG, v. 8.5.2014 – 2 AZR 1005/12, DB 2014, 2840 (LS).

dd) Gesetzeswortlaut und -systematik 1168 Im Übrigen hat der Gesetzgeber spätestens seit der Verwendung amtlicher Überschriften im BGB – auch in § 613a BGB – klargestellt, was ein „Betriebsübergang“ ist. Verwendet er nun den sinngemäßen Begriff der Betriebsveräußerung zwar in § 21a BetrVG, nicht aber in § 21b BetrVG, ist kaum anzunehmen, dass auch für den Fall des unveränderten Fortbestand des Betriebs ein Restmandat geschaffen werden sollte. LAG Sachsen, v. 21.6.2006 – 2 Sa 677/05, ArbRB 2007, 136 (LS).

1169 Von dem Bestehen einer planwidrigen Regelungslücke kann deshalb nicht ausgegangen werden. Zu weiterführenden Überlegungen mit Blick auf Kostentragung und Haftung vgl. ebenfalls LAG Sachsen, v. 21.6.2006 – 2 Sa 677/05, ArbRB 2007, 136 (LS).

e) Fazit 1170 Zusammenfassend ist daher kein Grund ersichtlich, aus dem ein Arbeitnehmer, der infolge eines Widerspruchs aus seinem Ursprungsbetrieb ausscheidet, auch dann weiterhin aus im Ursprungsbetrieb geltenden Betriebsvereinbarungen berechtigt sein sollte, wenn er beim übertragenden Rechtsträger nicht in einen anderen Betrieb, in dem ein Betriebsrat gebildet worden ist, integriert wird. Einen Anspruch hierauf hat er nicht. 3. Notwendigkeit einer Unterrichtung im Rahmen von § 613a Abs. 5 BGB 1171 Mit Blick auf diese möglicherweise nachteiligen Folgen eines Widerspruchs (z. B. in Form des Verlusts von an die Betriebszugehörigkeit anknüpfenden Sonderleistungen oder Anwartschaften darauf) stellt sich die Frage, ob hierauf in Unterrichtungsschreiben gemäß § 613a Abs. 5 BGB hingewiesen werden muss. In der betrieblichen Praxis sind derartige Hinweise bisher nicht üblich, zumal dieser Themenkomplex – soweit ersichtlich – bislang gar nicht Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war und auch in der Literatur kaum diskutiert wird. 1172 In der Entscheidung des 8. Senats vom 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP Nr. 15 zu § 613a BGB Unterrichtung

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II. Folgen eines Widerspruchs gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses

hat das BAG – soweit ersichtlich – erstmals ein Unterrichtungsschreiben den Vorgaben des § 613a Abs. 5 BGB entsprechend gehalten. In dem dortigen Unterrichtungsschreiben, welches das BAG auch insoweit nicht beanstandet hat, waren mögliche negative Folgen eines Widerspruchs für betriebsverfassungsrechtliche Ansprüche des Arbeitnehmers bzw. seinen Schutz nach betriebsverfassungsrechtlichen Vorgaben nicht Gegenstand der Unterrichtung. Praxistipp: Dennoch sollte (vorsorglich) in Unterrichtungsschreiben darauf hingewiesen werden, dass ein Widerspruch gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses den Verlust betriebsverfassungsrechtlicher Rechtspositionen zur Folge haben kann, aber nicht haben muss. Darauf, dass er den Verlust zur Folge haben wird, wird man dann hinweisen müssen, wenn beim übertragenden Rechtsträger bereits feststeht, dass eine Neuzuordnung widersprechender Arbeitnehmer zu organisatorischen Einheiten, in denen ein Betriebsrat gebildet worden ist, nicht geplant ist.

4. Eingliederung in ein beim übertragenden Rechtsträger verbliebenen Betrieb Wird der Arbeitnehmer hingegen vom übertragenden Rechtsträger in einen 1173 anderen, bei diesem verbliebenen Betrieb eingegliedert, in dem ein Betriebsrat besteht, wird man auf der Grundlage der Rechtsprechung des BAG davon ausgehen müssen, dass die im übertragenen Ursprungsbetrieb für den Arbeitnehmer gültigen Betriebsvereinbarung in dem neuen Betrieb, in den er eingegliedert worden ist, als Betriebsvereinbarung normativ weiter gelten, soweit sie nicht nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB abgelöst werden. Ihre Geltung beschränkt sich allerdings auf die Arbeitnehmer, die dem übertragenen Ursprungsbetrieb angehört haben. Eine Ausdehnung auf die Stammbelegschaft des Betriebs, in den der widersprechende Arbeitnehmer eingegliedert worden ist, findet nicht statt. Ob der Arbeitgeber eine entsprechende Eingliederung vornimmt, steht – lässt man den faktischen Druck durch Annahmeverzugslohnansprüche einmal unberücksichtigt – im Rahmen seines Direktionsrechts in seinem billigen Ermessen. Gebunden ist er dabei lediglich durch den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz sowie die übrigen zum billigen Ermessen entwickelten Grundsätze. 5. Fazit Der Widerspruch gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses gemäß § 613a 1174 Abs. 6 BGB kann für den Arbeitnehmer zahlreiche nachteilige Folgen in Bezug auf seine betriebsverfassungsrechtliche Rechtsposition auslösen. Nicht nur kann er den durch das Erfordernis einer Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG bewirkten Kündigungsschutz einbüßen, sondern auch sonstige betriebsverfassungsrechtliche Ansprüche, weil er infolge des Widerspruchs aus dem übertragenen Betrieb(steil) ausscheidet, ohne dass damit eine automatische Wiedereingliederung in ein beim übertragenden Rechtsträger verbliebenen Betrieb(steil) verbunden wäre oder hierauf ein Anspruch bestünde. 285

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

Auch unter diesem Gesichtspunkt kann ein Widerspruch also ein erhebliches Risikogeschäft für den Arbeitnehmer darstellen. In Unterrichtungsschreiben gemäß § 613a Abs. 5 BGB sollte auf diese mögliche Rechtsfolge hingewiesen werden. Dies kann unternehmensseitig insbesondere auch dazu genutzt werden, Widersprüche zu vermeiden. Denn Arbeitnehmer werden umso eher von einem Widerspruch absehen, desto deutlicher ihnen die möglichen – oder sogar wahrscheinlichen – negativen Folgen ihres Widerspruchs vor Augen geführt werden. Diese können sowohl mit Blick auf einen Verlust des Kündigungsschutzes als auch mit Blick auf den Verlust betriebsverfassungsrechtlicher Ansprüche erheblich sein. III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung (Betriebsstilllegung, -spaltung und -verlagerung) – Anspruch des Betriebsrats auf Unterlassung einer Betriebsänderung? 1175 Ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen der Betriebsrat zur Sicherung seiner Beteiligungsrechte aus §§ 111, 112 BetrVG im Zusammenhang mit einer Betriebsänderung beim Arbeitsgericht – ggf. im Wege der einstweiligen Verfügung – einen Unterlassungsanspruch gegen einzelne Maßnahmen des Arbeitgebers durchsetzen kann, hängt nach wie vor davon ab, in welchem LAGBezirk sich der jeweilige Betrieb befindet. Denn diese Frage wird zumeist im einstweiligen Verfügungsverfahren entschieden, sodass eine Klärung durch das BAG derzeit nicht absehbar ist. 1176 Während ein Teil der Instanzgerichte einen solchen Anspruch anerkennt, vgl. nur LAG Berlin-Brandenburg, v. 12.12.2013 – 17 TaBVGa 2058/13, n. v.; LAG Hamburg, v. 22.5.2008 – 7 Ta 5/08, n. v.; Hessisches LAG, v. 19.1.2010 – 4 TaBVGa 3/10, NZA-RR 2010, 187; LAG Hamm, v. 20.4.2012 – 10 TaBVGa 3/12, n. v.,

lehnt ein anderer Teil der Instanzgerichte bereits die Möglichkeit eines solchen Anspruchs ab. So LAG Köln, v. 27.5.2009 – 2 TaBVGa 7/09, n. v.; LAG Baden-Württemberg, v. 21.10.2009 – 20 TaBVGa 1/09, n. v.; LAG München, v. 22.12.2008 – 6 TaBVGa 6/08, BB 2010, 896 Rz. 30; LAG Nürnberg, v. 9.3.2009 – 6 TaBVGa 2/09, ZTR 2009, 554; LAG Rheinland-Pfalz, v. 24.11.2004 – 9 TaBV 29/04, n. v., LAG Rheinland-Pfalz, v. 26.10.2006 – 11 TaBV 58/06, n. v.; LAG Köln, v. 30.4.2004 – 5 Ta 166/04, NZA – RR 2005, 199; LAG Köln, v. 27.5.2009 – 2 TaBVGa 7/09, n. v.; vgl. auch LAG Rheinland-Pfalz, v. 26.1.2011 – 7 TaBVGa 4/10, n. v.

1177 Obwohl das LAG Berlin-Brandenburg zu den Instanzgerichten gehört, die grundsätzliche die Möglichkeit eines Unterlassungsanspruchs auch im Rahmen von §§ 111 ff. BetrVG anerkennen, hat es mit Beschluss vom 19.6.2014 – 7 TaBVGa 1219/14, n. v.

286

III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung

klare Grenzen für einen derartigen Anspruch – selbst wenn man ihn anerkennen wollte – gezogen. 1. Sachverhalt des LAG Berlin-Brandenburg In dem entschiedenen Fall bestand Streit um die Frage, ob der Arbeitgeber 1178 im Zusammenhang mit einer geplanten Betriebsverlegung, die 323 Mitarbeiter betraf, 20 Mitarbeiter noch während der laufenden Verhandlungen über Interessenausgleich und Sozialplan an den neuen Standort versetzen konnte, um dort den Umzug vorzubereiten. Der Betriebsrat war der Auffassung, dass darin bereits ein erster Schritt zur Umsetzung der Betriebsänderung läge, der dem Verhandlungsanspruch insbesondere in Bezug auf den Interessenausgleich zuwiderliefe. 2. Wesentliche Überlegungen des LAG Berlin-Brandenburg Völlig zu Recht hat das LAG Berlin-Brandenburg demgegenüber eine diffe- 1179 renzierende Betrachtung vorgenommen: Zum einen handele es sich nur um eine geringe Zahl der von der geplanten Betriebsänderung insgesamt betroffenen Arbeitnehmer. Zum anderen seien die Maßnahmen auch nicht unumkehrbar. Der Bestand der Arbeitsverhältnisse werde nicht tangiert. Auch wenn die Versetzung Teil der von der Arbeitgeberin insgesamt geplanten Betriebsänderung sei, würden die Rechte des Betriebsrats mit der Durchführung dieser Maßnahme nicht erlöschen. Vielmehr lasse sich der Verhandlungsanspruch des Betriebsrats noch immer mit allen Optionen verwirklichen. 3. Bedeutung für die betriebliche Praxis Für die betriebliche Praxis ist die Entscheidung eine Erleichterung, hilft sie 1180 doch immerhin, (aus sachfremden Gründen erfolgende) Verzögerungsmaßnahmen jedenfalls dann auszuschließen, wenn die geplante Veränderung keine unumkehrbare Festlegung mit sich bringt. Auf der Grundlage der Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg ist nämlich klar, dass – selbst wenn man (nicht zutreffend) einen Unterlassungsanspruch dem Grunde nach anerkennt – nicht pauschal jede Maßnahme des Arbeitgebers im Zusammenhang mit der Umsetzung einer geplanten Betriebsänderung untersagt werden kann. Der Unterlassungsanspruch des Betriebsrats diene – so das LAG Berlin- 1181 Brandenburg – nur der Sicherung des Anspruchs des Betriebsrats auf Verhandlungen über einen Interessenausgleich und einen Sozialplan, nicht aber losgelöst hiervon, einer Untersagung der Betriebsänderung selbst. Aus diesem Grunde könnten durch den Erlass einer einstweiligen Verfügung nur solche Maßnahmen des Arbeitgebers untersagt werden, die den Verhandlungsanspruch des Betriebsrats rechtlich oder faktisch in Frage stellten. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn wegen der Schaffung eines Fait accompli die Position des Betriebsrats substanziell beeinträchtigt würde.

287

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

1182 Im entschiedenen Fall waren diese Voraussetzungen nicht erfüllt, blieb es doch trotz des Einsatzes der betroffenen Arbeitnehmer am neuen Standort möglich, sich im Rahmen des Interessenausgleichs auf abweichende Maßnahmen (z. B. einen späteren Umzug, einen eingeschränkten Umzug oder einen Verzicht auf den Umzug) zu einigen. Dass die Wahrscheinlichkeit eines Verzichts oder der Einschränkung der geplanten Betriebsverlegung gering ist, ändert nichts daran, dass die vorbereitenden Maßnahmen umkehrbar sind. Beispiel: Die gleiche Argumentation dürfte auch dann eingreifen, wenn einzelne Maschinen oder Ausrüstungsgegenstände verlagert werden, sofern die Produktion am bisherigen Standort noch im Wesentlichen unverändert fortgeführt werden kann. Praxistipp: Besteht die Gefahr, dass der Betriebsrat entsprechende Anträge auf Erlass einer einstweiligen Verfügung stellen wird, müssen rechtzeitig Schutzschriften beim Arbeitsgericht hinterlegt werden. Denn dies vermeidet in der Regel immerhin, dass ohne eine mündliche Verhandlung über den Antrag des Betriebsrats auf Unterlassung der geplanten Maßnahmen entschieden wird In einer derartigen Schutzschrift sollte zunächst dargelegt werden, dass die Beteiligungsrechte des Betriebsrats aus §§ 111, 112 BetrVG gewahrt werden. Im zweiten Schritt sollte hilfsweise dargelegt werden, dass und warum ein Unterlassungsanspruch nicht besteht. Im letzten Schritt (äußert hilfsweise) muss deutlich gemacht werden, dass etwaige Maßnahmen, die zur Vorbereitung erfolgen, kein unumkehrbarer Schritt zur Umsetzung der Betriebsänderung sind.

IV. Keine Nachhaftung des Gesellschafters 1183 Eine wichtige Erleichterung für ehemalige Gesellschafter einer aufgelösten GbR hat das BAG in seinem Beschluss vom 13.2.2014 – 8 AZR 144/13, ZIP 2014, 1782

bestätigt. 1. Sachverhalt des BAG 1184 In dem entschiedenen Fall war der Kläger seit 1.10.2010 als Koch in einer Gaststätte beschäftigt. Inhaber und Betreiber der Gaststätte war damals J. Dieser kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum 30.11.2010, weil das Gasthaus „mit Ablauf des 30.11.2010 unter neuer gewerblicher Verantwortung weitergeführt“ werde. Seit 1.12.2010 wurde es von der K u. P GbR geführt. Gesellschafter dieser nicht in das Handelsregister eingetragenen GbR waren der Beklagte und der Gesellschafter P. Für die GbR setzte der Kläger seine Arbeit als Koch gegen ein auf rd. 2/3 seines bisherigen Verdienstes reduziertes Gehalt fort. Die K u. P GbR erteilte für Dezember 2010 eine Lohnabrechnung für den Kläger. Am 5.1.2011 fassten P und der Beklagte als Gesellschafter folgenden Beschluss:

288

IV. Keine Nachhaftung des Gesellschafters „1. Mit heutiger Sitzung wird offiziell beschlossen, dass die gegründete GbR laut Vereinbarung vom 1.12.2010 zum 31.12.2010 einvernehmlich aufgelöst wird. 2. Alle Rechte und Pflichten der GbR gelten als erledigt. 3. Es gilt als vereinbart, dass [der Beklagte] aus der GbR seinen eingebrachten Anteil mit einem Pauschalbetrag von 1.500 Euro erhält. […] 4. Für eventuelle Umschreibungen bestehender Verträge auf Herrn P hat dieser alleinig Sorge zu tragen […]. 5. Keine weiteren Nebenabreden wurden getroffen.“

Ab 1.1.2011 führte P die Gaststätte allein weiter. Der Kläger setzte seine Tä- 1185 tigkeit für P fort. Am 15.5.2011 kündigte P das Arbeitsverhältnis des Klägers. Im Kündigungsschutzprozess wurde es am 9.6.2011 durch Vergleich beendet. P verpflichtete sich darin zur Zahlung rückständiger Vergütung für den Zeitraum vom 1.4.2011 bis 9.6.2011 i. H. v. EUR 3.417,94 (brutto). In der Folgezeit war P zahlungsunfähig. Der Kläger erhielt von der Bundesagentur für Arbeit EUR 1.730,35 netto Insolvenzgeld. Er beantragt, den Beklagten zur Zahlung von EUR 3.417,35 (brutto) abzüglich des erhaltenen Insolvenzgeldes zu verurteilen. Das ArbG hat der Klage stattgegeben, während das LAG Köln sie abgewiesen hat. 2. Wesentliche Überlegungen des BAG 1186

Die Revision des Klägers hatte vor dem BAG keinen Erfolg.

Zunächst stellt das BAG zu Recht klar, dass der Kläger den Beklagten nicht 1187 für die Vergütung nach seinem Arbeitsvertrag i. V. m. §§ 611 Abs. 1 BGB, 128 Satz 1 HGB analog in Anspruch nehmen kann. Denn der Kläger macht Vergütungsforderungen geltend, die den Zeitraum vom 1.4.2011 bis zum 9.6.2011 betreffen und die spätestens mit dem Zeitpunkt des Vergleichsschlusses am 10.6.2011 entstanden sind und fällig wurden. Am 1.4.2011 war die GbR, mit der der Kläger im Dezember 2010 ein Arbeitsverhältnis hatte, bereits seit geraumer Zeit aufgelöst. Voraussetzung für die Haftung nach § 128 HGB ist allerdings – wie das BAG bestätigt –, dass die Gesellschaft besteht bzw. in dem für die Haftungsbegründung entscheidenden Zeitpunkt vorhanden war. K. Schmidt, in: MünchKomm-HGB, § 128 Rn. 7; Oekter/Boesche, HGB, § 128 Rn. 17.

Daher schieden Ansprüche, die sich auf diese Grundlage stützen, aus. Denkbar war folgerichtig – wenn überhaupt – eine Haftung des Beklagten 1188 unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftsrechtlichen Nachhaftung. Auch daraus ergibt sich nach den zutreffenden Feststellungen des BAG aber kein Anspruch des Klägers gegen den Beklagten. Denn eine begrenzte Nachhaftung des Beklagten nach § 736 Abs. 2 BGB i. V. m. § 160 HGB kommt nur in Betracht, wenn der Gesellschaftsvertrag eine sog. Fortsetzungsklausel bei

289

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

Ausscheiden eines Gesellschafters vorsieht (§ 736 Abs. 1 BGB). Daran fehlte es hier. Praxistipp: Offengelassen hat das BAG, ob es in einem solchen Fall überhaupt eine „EinMann-GbR“ geben kann. Die herrschende Meinung, insbesondere die Rechtsprechung des BGH, lehnt das ab, vgl. OLG Düsseldorf, v. 29.7.2011 – I-15 U 107/11, 15 U 107/11, n. v.; Ulmer/Schäfer, in: Münchkomm-BGB, § 705 Rn. 61 m. w. N.

1189 Auch eine entsprechende Anwendung des § 736 Abs. 2 BGB, § 160 HGB kommt nach der Bewertung des BAG nicht in Betracht. Der Sonderfall, dass bei einer zweigliedrigen Gesellschaft einer der beiden Gesellschafter das Gesellschaftsvermögen – sämtliche Aktiva und Passiva – im Wege der Gesamtrechtsnachfolge übernimmt, vgl. BGH, v. 27.9.1999 – II ZR 356/98, BGHZ 142, 324 = ZIP 1999, 1967; OLG Brandenburg, v. 14.1.2009 – 3 U 75/08, n. v.,

liege nicht vor. Dem im Gesellschafterbeschluss vom 5.1.2011 dokumentierten Willen der Gesellschafter sei gerade nicht zu entnehmen, dass P die Gesellschaftsanteile des Beklagten „übernehmen“ und die Gesellschaft im Wege der Gesamtrechtsnachfolge weiterführen sollte. Eine Nachhaftung des Beklagten auch für nur „begründete“ Ansprüche nach § 736 Abs. 2 BGB, § 160 HGB analog komme daher nicht in Betracht. 1190 Für die streitgegenständlichen Lohnansprüche des Klägers ab dem 1.4.2011 hafte der Beklagte – wie das BAG anschließend zu Recht feststellt – selbst im Falle eines Betriebsübergangs von der GbR auf P nicht nach § 613a Abs. 2 BGB, da solche Verpflichtungen nicht vor dem Zeitpunkt des Übergangs, also vor dem 1.1.2011 entstanden sind, sondern ab dem 1.4.2011. 3. Bedeutung für die Sanierungspraxis 1191 Für die Sanierungspraxis ist die Entscheidung eine Erleichterung, weil ehemalige Gesellschafter einer aufgelösten GbR keine Haftung für nach ihrem Ausscheiden begründete Ansprüche befürchten müssen. Zudem bewirkt die Entscheidung dadurch Klarheit, dass sich das BAG mit Blick auf eine Haftung nach § 128 HGB der in der Literatur herrschenden Meinung anschließt. V. Neues zur Transfergesellschaft – Kein eigenständiger Vergütungsanspruch anstelle von Transferkurzarbeitergeld 1192 Werden im Rahmen von Sanierungsprozessen Personalabbaumaßnahmen erforderlich, kann die Einbindung einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft (auch „Transfergesellschaft“ genannt) eine sozialverträgliche Lösung durchaus fördern.

290

V. Neues zur Transfergesellschaft Praxistipp: Dies ist aufgrund der Förderung durch Transferkurzarbeitergeld nach § 111 SGB III auch unter Kostengesichtspunkten bei Sanierungsmaßnahmen zu berücksichtigen.

Grundlage für den Wechsel des Arbeitnehmers in eine Transfergesellschaft 1193 ist der Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrages zwischen Arbeitnehmer und Transfergesellschaft, der in der Regel in Form eines dreiseitigen Vertrags mit einem Aufhebungsvertrag zwischen Arbeitnehmer und bisherigem Arbeitgeber kombiniert wird. Praxistipp: Aus Unternehmenssicht nicht sinnvoll ist die Einbindung einer Transfergesellschaft in Sanierungsmaßnahmen daher dann, wenn die zu entlassenden Mitarbeiter während der Kündigungsfrist noch eingesetzt werden müssen (z. B. zur Bearbeitung von Bestandsaufträgen oder zum Know-how-Transfer). Denn ein durch Transferkurzarbeitergeld geförderter „Sale-and-Lease-Back“ ist nach § 111 Abs. 8 SGB III ausgeschlossen.

Im befristeten Arbeitsvertrag mit der Transfergesellschaft wird von Beginn 1194 die „Leistung“ von Kurzarbeit „Null“ vereinbart. Wirtschaftlich abgesichert wird der Arbeitnehmer zumeist allerdings nicht 1195 nur durch Transferkurzarbeitergeld, sondern zudem durch einen Zuschlag, mit dem die Differenz zwischen dem Kurzarbeitergeld und dem bisherigen Nettoarbeitsentgelt – zumeist nur zum Teil – ausgeglichen wird. Praxistipp: Ausnahmen gelten für die Dauer des gesetzlichen Urlaubsanspruchs sowie gesetzliche Feiertage, für die eine 100 %ige Vergütung vereinbart wird, weil für sie kein Transferkurzarbeitergeld gezahlt wird.

In seinem Urteil vom 19.3.2014

1196

– 5 AZR 299/13, ZIP 2014, 2102

hat das BAG nun näher gekennzeichnet, wann im Rahmen einer derartigen Vereinbarung kein eigener Anspruch auf Arbeitsvergütung des Arbeitnehmers gegen die Transfergesellschaft besteht. 1. Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall hatte der Kläger auf der Grundlage eines Interessen- 1197 ausgleichs und Transfersozialplans einen entsprechenden dreiseitigen Vertrag geschlossen, mit dem er zugleich sein seit 1974 bestehendes Arbeitsverhältnis mit dem bisherigen Arbeitgeber beendete und ein befristetes Anstellungsverhältnis mit der Transfergesellschaft begründete. In der dreiseitigen Vereinbarung war geregelt, dass ihm Transferkurzarbeitergeld sowie ein vom bisherigen Arbeitgeber finanzierter Aufstockungsbetrag monatlich zu über-

291

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

weisen war. Die Vergütung setzte sich aus Transferkurzarbeitergeld der Agentur für Arbeit und einer Zahlung des bisherigen Arbeitgebers zur Aufstockung der Vergütung auf 80 % des bisherigen Nettoentgelts zusammen. U. a. enthielt der Vertrag folgende Regelungen: 1198 Nr. III. 2. Buchst. a Abs. 1 Anstellungsvertrag bestimmte, dass der Kläger für die Teilnahme an der Qualifizierungsmaßnahme ein monatliches Entgelt erhält, das sich aus Zahlungen der Agentur für Arbeit und aus Zahlungen des bisherigen Arbeitgebers zusammensetzt. Dabei stand das befristete Arbeitsverhältnis mit der Transfergesellschaft unter der aufschiebenden Bedingung der Bewilligung von Transferkurzarbeitergeld (Nr. III. 1. Buchst. e Anstellungsvertrag), das der bisherige Arbeitgeber beantragt (Nr. I. 3. Anstellungsvertrag), und nicht die Transfergesellschaft, sondern wiederum der bishergie Arbeitgeber auf 80 % des Nettoentgelts aufstockt (Nr. III. 2. Buchst. a Abs. 4 Satz 4 Anstellungsvertrag). 1199 Der bisherige Arbeitgeber leistete zunächst aufgrund seiner vertraglichen Vereinbarung mit der Transfergesellschaft einen Betrag von EUR 100.000 an die Transfergesellschaft. Weitere Zahlungen erhielt sie vom bisherigen Arbeitgeber nicht, nachdem über dessen Vermögen das Insolvenzverfahren eingeleitet worden war. 1200 Der Kläger verlangte von der Transfergesellschaft als seinem neuen Arbeitgeber Annahmeverzugslohn und forderte eine Nettovergütung i. H. v. 80 % seines bisherigen Nettoentgelts. Das LAG wies die Klage auf die Berufung der Beklagten gegen das teilweise stattgebende Urteil des ArbG hin ab. 2. Wesentliche Überlegungen des BAG 1201 Das BAG wies die Revision zurück. Es qualifizierte die dreiseitige Vereinbarung zutreffend als AGB, die nach der ständigen Rechtsprechung des BAG – ausgehend vom Vertragswortlaut – nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen sind, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden, wobei die Verständnismöglichkeiten des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen sind. 1202 Die Auslegung nach diesem Maßstab ergab nach der Bewertung des BAG, dass der Anstellungsvertrag die Transfergesellschaft nicht zu einer eigenständigen Entgeltleistung verpflichtet. Bei einer – wie vorstehend Rn. 1198 wiedergegebenen – Vertragsgestaltung dürfe ein redlicher und verständiger Arbeitnehmer nicht annehmen, dass neben der vorgesehenen Sozialleistung aus dem Recht der Arbeitsförderung und der betriebsverfassungsrechtlich begründeten, der Abfederung des Personalabbaus dienenden Aufstockungsleistung des bisherigen Arbeitgebers ein eigenständiger Vergütungsanspruch gegen die Transfergesellschaft begründet wird. Diese solle – wie für das Trans-

292

V. Neues zur Transfergesellschaft

ferkurzarbeitergeld, das gemäß § 320 Abs. 1 Satz 2 SGB III vom Arbeitgeber an die Arbeitnehmer weitergeleitet werde – vgl. BAG, v. 22.4.2009 – 5 AZR 310/08, BAGE 130, 331

erkennbar nur die technische Abwicklung der Entgeltzahlung übernehmen. Sonstige Vertragsbedingungen verleiteten einen verständigen Arbeitnehmer 1203 ebenfalls nicht zu der Annahme, es bestehe ein eigenständiger Vergütungsanspruch gegen die Transfergesellschaft. Nach Nr. III. 3. Buchst. a Anstellungsvertrag werde vielmehr „Kurzarbeit Null realisiert“ und der Kläger habe in der Transfergesellschaft keine Arbeitsleistung im üblichen Sinne zu erbringen, sondern lediglich an allein ihm nützlichen Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen, Nr. III. 9. Buchst. c Anstellungsvertrag. Des Weiteren verdeutliche die Pflicht, sich vor Beginn der Maßnahme bei der 1204 Bundesagentur für Arbeit arbeitssuchend zu melden, an von dieser angebotenen Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen und aktiv an der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz mitzuwirken (Nr. III. 9. Buchst. b und c Anstellungsvertrag), dass die Teilnahme an der Maßnahme kein reguläres Arbeitsverhältnis begründe und eine eigenständige „Vergütung“ seitens der Transfergesellschaft nicht zu erwarten sei. Dem steht die vom BAG lediglich als „formal[e]“ qualifizierte Arbeitgeber- 1205 stellung der Transfergesellschaft nach der Bewertung des BAG nicht entgegen. Zwar dürfe im Normalfall der Arbeitnehmer annehmen, dass der Arbeitgeber als Gläubiger der vereinbarten Dienste entsprechend § 611 Abs. 1 BGB auch Schuldner der vereinbarten Vergütung ist. Im Streitfall hätten die Parteien aber für den Sonderfall des befristeten Transferarbeitsverhältnisses, in dem gerade keine produktive Arbeitsleistung zu erbringen ist, ausdrücklich etwas anderes vereinbart. Der Einwand des Klägers, bei einer solchen Vertragsgestaltung trage der Ar- 1206 beitnehmer das Risiko der Insolvenz seines bisherigen Arbeitgebers, ist richtig, vermag der Klage aber nach der Bewertung des BAG ebenfalls nicht zum Erfolg zu verhelfen. Dieses Insolvenzrisiko treffe den Kläger – so das BAG – auch hinsichtlich der vereinbarten Abfindung, einer weiteren Leistung zur Milderung der Nachteile des Personalabbaus. Außerdem stehe der Kläger hinsichtlich des Insolvenzrisikos nicht anders, als er stünde, wenn sein bisheriger Arbeitgeber die Transfermaßnahmen unternehmensintern durchgeführt und nicht – was allerdings Voraussetzung einer Förderung ist (§ 216a SGB III in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung bzw. nunmehr § 110 SGB III) – einen Dritten eingeschaltet hätte. 3. Bedeutung für die Sanierungspraxis Die Entscheidung bietet Transfergesellschaften wichtige Orientierungshilfen 1207 für die Vertragsgestaltung. Denn sie verhindert mit Blick auf die in der betrieblichen Praxis üblichen Aufstockungsbeträge eine Inanspruchnahme bei 293

D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung

Ausfall des bisherigen Arbeitgebers. Insoweit besteht – anders als in Bezug auf das Transferkurzarbeitergeld – allerdings Gestaltungsspielraum. a) Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich Zuzahlungen 1208 Denkbar ist – wie im entschiedenen Fall – zunächst, dass der Zuschlag während des zwischen Transfergesellschaft und Arbeitnehmer bestehenden Arbeitsverhältnisses weiterhin durch den bisherigen Arbeitgeber entweder vermittelt über die Transfergesellschaft oder – was ebenfalls denkbar ist – unmittelbar an den Arbeitnehmer gezahlt wird. In diesem Fall handelt es sich um eine Leistung des bisherigen Arbeitgebers, die – wie eine ratierliche Abfindung – nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses in monatlichen Raten gewährt wird. Alternativ kann der Zahlungsanspruch des Arbeitnehmers unmittelbar gegen die Transfergesellschaft gerichtet werden, die dann sicherstellen muss, dass sie die hier erforderlichen Mittel rechtzeitig erhält. b) Entscheidungsfaktor Insolvenzrisiko 1209 Ein entscheidender Gesichtspunkt für Auswahl zwischen diesen Gestaltungen ist in der Regel die Übernahme des Insolvenzrisikos des bisherigen Arbeitgebers, das über Bürgschaften, Treuhandmodelle oder – wenn möglich – Vorleistung abgesichert werden kann. c) Keine Unterschätzung der „formalen“ Arbeitgeberstellung der Transfergesellschaft 1210 Dass das BAG die Arbeitgeberstellung der Transfergesellschaft als rein „formale“ Arbeitgeberstellung bezeichnet und zugleich deutlich macht, dass in diesem Vertragsverhältnis nicht Arbeit gegen Geld getauscht wird, sollten Transfergesellschaften indes nicht überbewerten. 1211 Die Entscheidung ist nämlich zum einen dogmatisch deshalb etwas zweifelhaft (wenngleich im Ergebnis richtig), wenn man sich vor Augen führt, dass die Regeln über die Höhe des Transferkurzarbeitergeldes in §§ 105 f., 111 Abs. 10 SGB III über die Vorgabe des Soll-Entgelts als Berechnungsfaktor eigentlich auch im Rahmen einer Transfergesellschaft ein vereinbartes Bruttoarbeitsentgelt voraussetzen, das der Berechnung des Kurzarbeitergeldanspruchs zugrunde gelegt werden kann. Daran wird nämlich bereits deutlich, dass die Parteien im entschiedenen Fall wohl eher eine Leistung an Erfüllung statt (§ 364 BGB) vereinbart haben, die durch einen Dritten, den bisherigen Arbeitgeber, erbracht wird, den daher auch die Gewährleistungspflicht nach § 365 BGB trifft. Vgl. zu letzterem Palandt/Grüneberg, BGB, § 365 Rn. 2.

1212 Denn man wird nicht annehmen können, dass das BAG die Einordnung der durch eine entsprechende dreiseitige Vereinbarung begründeten Vertragsbeziehung als Arbeitsverhältnis oder Fortsetzung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, § 111 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB III grundsätzlich in Frage stellt. 294

E. Tarifrecht Kurzinhalt: Abschluss Tarifvertrag (Rn. 1213 ff.); Auslegung Tarifvertrag (Rn. 1226 ff.); Rückforderung tariflicher Sanierungsbeiträge (Rn. 1239 ff.)

I. Klage auf Abschluss eines Tarifvertrags Insbesondere tarifliche Verpflichtungen in Bezug auf Arbeitsentgelt und -zeit 1213 stellen in der Krise befindliche oder insolvente Unternehmen häufig vor erhebliche Herausforderungen, weil sie wirtschaftlich belastend oder operativ hinderlich sind. Dadurch sind sie ggf. auch ein Verkaufshindernis im Rahmen einer übertragenden Sanierung. Sich von ihnen zu lösen, ist auch in der Krise schwierig. Dies gilt vor allem für Verbandstarifverträge. Zu Strategien einer Beendigung der Tarifbindung in der Krise vgl. Mückl/Krings, BB 2012, 769 ff.

Deshalb sind Vorsorgestrategien sehr zu empfehlen, werden in der Praxis bei 1214 Abschluss eines Tarifvertrags aber häufig nicht bedacht. Praxistipp: Leichter durchsetzbar sind entsprechende Forderungen nach Sonderlösungen für Krise und Insolvenz in Firmentarifverträgen. Arbeitgeberverbände müssen die Interessen aller Mitglieder waren und sind daher im Zweifel nicht bereit, durch Sonderlösungen für Einzelunternehmen Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Verbandsmitgliedern zu verschaffen.

Eine sehr effektive Strategie kann die Verpflichtung im Tarifvertrag sein, in 1215 Krisensituationen einen Sanierungstarifvertrag abzuschließen. Welche Anforderungen eine entsprechende Vereinbarung erfüllen muss, damit sie in der Krise effektiv genutzt werden kann, hat das BAG in seinem Urteil vom 25.9.2013 – 4 AZR 173/12, BAGE 146, 133

präzisiert. 1. Sachverhalt des BAG In dem entschiedenen Fall hatte die klagende Gewerkschaft (Deutsche Or- 1216 chestervereinigung) mit dem beklagten Arbeitgeberverband (Deutscher Bühnenverein) jahrelang Tarifverträge für die Arbeitsverhältnisse der Mitglieder von Kulturorchestern geschlossen. § 19 Tarifvertrag für Kulturorchester (TVK) sah mit Blick auf die Gehälter eine Anpassungsverpflichtung vor, nach der bei einer allgemeinen Veränderung im Bereich der Kommunen und der Länder die Gehälter der tarifunterworfenen Musiker „durch Tarifvertrag sinngemäß anzupassen“ sind. Hieraus hatte die klagende Gewerkschaft einen Anspruch gegen den beklagten Verband abgeleitet, einem von ihr formulierten

295

E. Tarifrecht

Tarifvertragsentwurf zuzustimmen. Nach ihrer Auffassung waren die letzten im TVöD/VKA bzw. im TV-L geregelten Entgelterhöhungen durch entsprechende Tarifänderung „eins zu eins“ auf die tarifunterworfenen Musiker umzusetzen. Der beklagte Arbeitgeberverband war hingegen der Ansicht, die Anpassungsklausel TVK enthalte lediglich eine Verhandlungspflicht. ArbG und LAG haben die Klage abgewiesen. 2. Wesentliche Überlegungen des BAG 1217 Der 4. Senat des BAG hat eine Rechtspflicht des Arbeitgeberverbands zum Abschluss des gewerkschaftlich vorgelegten Tarifvertrags zu Recht abgelehnt. Zwar könne sich ein solcher Anspruch grds. aus einem verbindlichen Vorvertrag oder aus einer eigenen vorher vereinbarten tariflichen Regelung ergeben. Eine entsprechende Verpflichtung könne aber nur dann anerkannt werden, wenn sich sowohl der darauf gerichtete Bindungswille als auch der konkretisierte Inhalt der angestrebten Tarifeinigung aus der verpflichtenden Regelung selbst ergäbe. Ein etwaiger Bindungswille der Tarifvertragsparteien allein genüge nicht. Auch wenn sie deutlich machten, dass sie mehr als eine bloße Verhandlungspflicht begründen wollen, sei für die Verbindlichkeit einer konkreten zukünftigen Tarifregelung deren eindeutige Bestimmbarkeit erforderlich. Der Inhalt der abzuschließenden tarifvertraglichen Einigung müsse sich – so das BAG weiter – grundsätzlich vollständig aus der Regelung selbst ergeben, ggf. unter Heranziehung äußerer objektivierbarer Faktoren, wie etwa die Feststellung des im Tarifvertrag vorgesehenen Anlasses für den Abschluss der Neuregelung. 1218 Die „Vorvereinbarung“ setzt damit nach der überzeugenden Bewertung des BAG den abschließend gebildeten Willen der Tarifvertragsparteien voraus, einen Tarifvertrag mit einem bestimmten Inhalt abschließen zu wollen. Daran fehlt es, wenn die beabsichtigten Regelungen nicht zweifelsfrei und mit solcher Bestimmtheit festgelegt sind, dass sie ohne weiteres in eine Tarifregelung umgesetzt werden können. Ebenso Henssler/Moll/Bepler, Teil 3 Rn. 60.

1219 Denn die Tarifvertragsparteien dürfen die Bestimmung der weiteren inhaltlichen Regelungen – wie das BAG bestätigt – nicht den Gerichten überlassen. Schon eine bloße Konkretisierung einer in einer solchen Vorvereinbarung lediglich allgemein formulierten Regelung durch Richterspruch ist nach der Bewertung des BAG unzulässig; die Verurteilung zum Abschluss konkreter Tarifregelungen kann nicht über den bereits vorbestimmten oder bestimmbaren Inhalt des Vorvertrags hinausgehen. Däubler/Reim/Nebe, TVG, § 1 Rn. 22.

1220 Auch eine rein faktische Delegation der tariflichen Normsetzung auf den auslegenden Richter sei unzulässig. Ebenso Wiedemann/Thüsing, TVG, § 1 Rn. 230.

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I. Klage auf Abschluss eines Tarifvertrags

Eine Verpflichtung zum Abschluss eines bestimmten Tarifvertrags aus einer 1221 „Vorvereinbarung“ kann deshalb nach der Bewertung des BAG allenfalls angenommen werden, wenn der Inhalt des abzuschließenden Tarifvertrags so eindeutig ist, dass es nur eine einzige, der Vorgabe entsprechende Regelungsmöglichkeit gibt. Praxistipp: Vgl. zu einer solchen Eindeutigkeit aufgrund eines Vorvertrags den Sachverhalt zu BAG, v. 5.6.2006 – 4 AZR 381/05, BAGE 119, 1.

Bei einer nicht ganz eindeutigen Zuordnung zu einer der beiden Auslegungs- 1222 möglichkeiten („im Zweifel“) ist deshalb nach der Rechtsprechung des BAG regelmäßig davon auszugehen, dass eine bloße Verhandlungspflicht begründet werden sollte. BAG, v. 25.9.2013 – 4 AZR 173/12, BAGE 146, 133. Praxistipp: Über diese Anforderungen an eine entsprechende Vereinbarung hinaus ist selbstverständlich die Schriftform nach § 1 Abs. 2 TVG auch bei einem Vorvertrag zu wahren (Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 1309). Mündliche Einigungen oder parafierte Versionen reichen dementsprechend nicht aus.

3. Bedeutung für die betriebliche Praxis und die Sanierungspraxis Für die betriebliche Praxis, insbesondere die Sanierungspraxis, wichtig ist, 1223 dass eine Verpflichtung zum Abschluss eines bestimmten Tarifvertrags aus einem früheren Tarifvertrag (wie hier) oder aus einem tariflichen Vorvertrag allenfalls dann angenommen werden kann, wenn der Inhalt des abzuschließenden Tarifvertrags so eindeutig ist, dass es nur eine einzige, der Vorgabe entsprechende Regelungsmöglichkeit gibt. Im Krisenfall nutzbar gemacht werden kann eine entsprechende Vereinbarung daher nur, wenn sie bereits festlegt, welche Sanierungsinstrumente genutzt werden sollen. Das ist im Voraus häufig nur schwer planbar. Helfen können hier aber Erfahrungen aus vorhergehenden Sanierungen. Hinzu kommt, dass in bestimmten Branchen auch bestimmte – belastende – Arbeitsbedingungen typisch sind, die in Krisensituationen stets in gleichartiger Weise angepasst werden müssen. Voraussetzung eines sinnvollen Vorvertrags ist daher, dass entsprechende Erfahrungen – ggf. über die beteiligten Berater – in ihn einfließen. Praxistipp: Idealerweise wird gleichzeitig ein Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen für das Unternehmen Flexibilität besteht, weil Krisensituationen typischerweise nur begrenzt planbar sind.

Wenn entsprechende Vereinbarungen nicht gelingen, stellt sich die Frage, 1224 welchen praktischen Nutzen ein i. d. R. anzunehmender bloßer Verhandlungsanspruch hat. Auch er ist nicht wertlos. Denn mit seiner Hilfe kann das 297

E. Tarifrecht

Fehlen eines allgemeinen Verhandlungsanspruchs gegenüber der Gewerkschaft überwunden werden. Insbesondere können auf dieser Grundlage Verhandlungen während laufender Friedenspflicht eingefordert werden, obwohl das Druckmittel des Arbeitskampfs nicht zur Verfügung steht. Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 1109.

1225 Durch die Geltendmachung eines derartigen Anspruchs wird der Gewerkschaft nicht der Weg in den Arbeitskampf geebnet. Denn die Friedenspflicht aus dem entsprechenden Tarifvertrag endet erst, wenn von eventuell vereinbarten gesonderten Kündigungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht worden ist. Praxistipp: Die Gestaltungsmöglichkeit einer Verpflichtung zum Abschluss eines bestimmten Tarifvertrags kann auch im Rahmen von Sanierungstarifverträgen genutzt werden, um zu verhindern, dass mit der Beendigung des Sanierungstarifvertrags unmittelbar der in der Praxis häufig vorübergehend abbedungen Verbandstarifvertrag zur Anwendung kommt. Die sofortige Geltung des Verbandstarifvertrags zerstört nämlich nicht selten den Sanierungserfolg. In Krisensituationen sind vorausschauende Regelungen zur ggf. schrittweise erfolgenden Rückkehr auf das Verbandsniveau für Unternehmen zumeist leichter verhandelbar, sodass die Krise als Chance genutzt werden sollte.

II. Auslegung eines Tarifvertrages 1226 Im Gegensatz zu den gerade vorgestellten, aber selten genutzten Möglichkeiten, arbeitgeberseitig Vorsorge für Krisensituationen zu treffen, ist die Forderung nach Rationalisierungsschutz seit Langem Bestandteil typischer gewerkschaftlicher Forderungen. Arbeitgeberseitig wird damit – typischerweise weit vor einer Krise – häufig zu sorglos umgegangen. Realisiert sich die Krisensituation, ist der Arbeitgeber dann davon abhängig, wie die Arbeitsgerichte entsprechende tarifliche Rationalisierungsschutzabkommen auslegen. Die dabei geltenden Grundsätze hat das BAG in seinem Urteil vom 12.12.2013 – 8 AZR 942/12, NZA-RR 2014, 431

noch einmal bestätigt. 1. Sachverhalt des BAG 1227 Im entschiedenen Fall stritten die Parteien um die Höhe eines tariflichen Abfindungsanspruchs. Der Arbeitsvertrag der am 18.3.1970 geborenen und seit 15.9.2000 bei der Beklagten beschäftigten Klägerin nimmt die Tarifverträge für das private Bankgewerbe, u. a. die insoweit vereinbarten Rationalisierungsschutzabkommen (RSchABK), die in § 9 Nr. 3 RSchABK auch Abfindungsregelungen enthielten, in Bezug. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin endete mit Ablauf des 30.6.2010 aufgrund einer Kündigung der Beklagten.

298

II. Auslegung eines Tarifvertrages

§ 9 Nr. 3 RSchABK enthält zur Höhe von Abfindungsleistungen bei Ratio- 1228 nalisierungsmaßnahmen zunächst eine Tabelle, in der abhängig von Lebensalter und Betriebszugehörigkeit die Anzahl der Monatsgehälter angegeben ist, die als Abfindung gezahlt werden. Sowohl das Lebensalter (beginnend mit „40“) als auch die Betriebszugehörigkeit (beginnend mit „10“) sind jeweils als Zahl ohne weiteren Zusatz angegeben. Für die Konstellation des Alters 40 und der Betriebszugehörigkeit 10 ist eine Abfindung i. H. v. 4,5 Monatsgehältern vorgesehen. Im Anschluss an die Tabelle regelt § 9 Nr. 3 RSchABK Folgendes: „Für Arbeitnehmer vor Vollendung des 40. Lebensjahres beträgt die Abfindung: Bei 5-jähriger Betriebszugehörigkeit ein Monatsgehalt, bei 10-jähriger Betriebszugehörigkeit zwei Monatsgehälter, …“.

Entscheidend für diese Schwellenwerte ist nach § 9 Nr. 3 RSchABK jeweils 1229 der Tag der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Die Klägerin meint, ihr stehe eine Abfindung i. H. v. 4,5 Monatsgehältern zu, 1230 da sie zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ihr 40. Lebensjahr vollendet und sich im zehnten Jahr der Betriebszugehörigkeit befunden habe. Die Beklagte zahlte lediglich eine Abfindung in Höhe eines Monatsgehalts, da die Klägerin zum Zeitpunkt ihres Ausscheidens noch keine vollen 10 Jahre bei ihr beschäftigt war. 2. Wesentliche Überlegungen des BAG Das BAG gab der Beklagten Recht und bestätigte in diesem Zusammenhang 1231 seine ständige Rechtsprechung zur Auslegung von Tarifverträgen. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt danach den 1232 für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Ausgehend vom Tarifwortlaut ist der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Erlaubt der Tarifwortlaut kein abschließendes Ergebnis, ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und oft nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm ermittelt werden kann. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages, die folgende Tarifgeschichte und ggf. auch die praktische Tarifübung herangezogen werden, dies ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge. Es gibt nämlich weder einen allgemeinen Erfahrungssatz, in welcher Weise die Tarifvertragsparteien jeweils den mit einer Tarifnorm verfolgten Sinn und Zweck zum Ausdruck bringen, noch gebietet die juristische Methodenlehre hier eine bestimmte Reihenfolge der Auslegungskriterien. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten, gesetzeskonformen und praktisch brauchbaren Regelung führt.

299

E. Tarifrecht BAG, v. 12.12.2013 – 8 AZR 942/12, NZA-RR 2014, 431.

1233 Die Zahl „10“ in Bezug auf die Betriebszugehörigkeit in der Tabelle legt das BAG ausgehend von diesen Grundsätzen dahingehend aus, dass damit volle Jahre der Betriebszugehörigkeit gemeint seien und nicht etwa „bis zu 10 Jahre“. Dies ergebe sich aus dem weiteren Text der Regelung, bei dem durch die Formulierung „bei 5-jähriger Betriebszugehörigkeit“ usw. deutlich werde, dass der jeweils genannte Zeitraum bereits abgeschlossen sein müsse. Zudem widerspreche es der tariflichen Struktur, wenn über 40jährige Arbeitnehmer, die bei Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses nur eine kurze Betriebszugehörigkeit aufwiesen, 4,5 Monatsgehälter als Abfindung erhielten. 1234 Der Tarifvertrag enthalte damit eine Regelungslücke. Denn eine Abfindung für Arbeitnehmer, die zwar das 40. Lebensjahr vollendet haben, jedoch eine Betriebszugehörigkeit von weniger als 10 Jahren aufwiesen, sei nicht vorgesehen. 1235 Vor diesem Hintergrund stellte sich im entschiedenen Fall die Frage einer ergänzenden Auslegung des Tarifvertrags. Einer ergänzenden Auslegung sind Tarifverträge indes nach der Rechtsprechung des BAG grundsätzlich nur dann zugänglich, wenn damit kein Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie verbunden ist. Dazu bildet das BAG zwei Fallgruppen: x

Eine ergänzende Auslegung eines Tarifvertrages scheidet zunächst einmal aus, wenn die Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Frage bewusst ungeregelt lassen und diese Entscheidung höherrangigem Recht nicht widerspricht. BAG, v. 23.4.2013 – 3 AZR 23/11, NZA-RR 2013, 542.

x

Eine Lückenschließung im Wege der ergänzenden Tarifauslegung muss ferner unterbleiben, wenn unter Berücksichtigung von Treu und Glauben den Tarifvertragsparteien ein Spielraum zur Lückenschließung verbleibt und es ihnen wegen der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie überlassen bleiben muss, die von ihnen für angemessen gehaltene Regelung selbst zu finden. Vgl. BAG, v. 23.4.2013 – 3 AZR 23/11, NZA-RR 2013, 542; BAG, v. 12.12.2013 – 8 AZR 942/12, NZA-RR 2014, 431.

1236 Da nicht anzunehmen sei, dass Mitarbeiter, die älter als 40 Jahre seien und eine Betriebszugehörigkeit von mindestens 5 Jahren aufwiesen, keine Abfindung erhalten sollten, Arbeitnehmer unter 40 Jahren bei gleicher Betriebszugehörigkeit dagegen ein Monatsgehalt als Abfindung bekämen, geht das BAG im entschieden Fall von einer unbewussten Regelungslücke aus. Denn im Tarifvertrag sei das Lebensalter 40 ausdrücklich als abfindungserhöhender Faktor vorgesehen. Zudem würde anderenfalls eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung wegen des Alters vorliegen. Ausgehend von den beiden vorgenannten Fallgruppen, die nicht einschlägig sind, war also eine ergänzende Auslegung zulässig. 300

III. Keine Rückforderung tariflicher Sanierungsbeiträge

Die Regelungslücke war nach der Bewertung des BAG dadurch zu schließen, 1237 dass der Klägerin eine Abfindung in Höhe eines Monatsgehalts zustehe. Diese Höhe sei bei 5-jähriger Betriebszugehörigkeit jedenfalls für Mitarbeiter unter 40 Jahren im Tarifvertrag ausdrücklich vorgesehen. Für einen anderen Wert enthalte das Tarifwerk keine hinreichenden Anhaltspunkte. 3. Bedeutung für die betriebliche Praxis Die überzeugend begründete Entscheidung macht noch einmal deutlich, das 1238 Ergebnis einer ergänzenden Tarifauslegung letztlich nur sein kann, was im Tarifvertrag selbst angelegt ist. Arbeitgeber sollten daher nicht darauf „setzen“, dass ein undeutlich oder lückenhaft formulierter Tarifvertrag in dem von ihnen intendierten Sinne (ergänzend) ausgelegt wird. Gerade bei langfristigen Vereinbarungen wie Rationalisierungsschutzabkommen sollte daher große Sorgfalt in eine vorausschauende Planung und exakte Formulierung von Nachteilsausgleichsregelungen investiert werden. Dabei müssen branchenbezogene Erfahrungen ebenso wie Erfahrungen aus vergangenen Sanierungen – ggf. vermittelt über die beteiligten Berater – genutzt werden. III. Keine Rückforderung tariflicher Sanierungsbeiträge Mit der für die Sanierungspraxis wichtigen Frage, ob ein Arbeitnehmer tarif- 1239 liche Sanierungsbeiträge zurückfordern kann, wenn der Investitionsrahmen in den einzelnen Betrieben entgegen einer Verpflichtung aus einem Beschäftigungssicherungstarifvertrag nicht ausgeschöpft wurde, hat sich das LAG Düsseldorf in seinem Urteil vom 5.12.2014 – 10 Sa 605/14, n. v.

auseinandergesetzt. 1. Sachverhalt des LAG Düsseldorf Im entschiedenen Fall war der Kläger bei der Beklagten, einem Automobil- 1240 zulieferer, am Standort D. beschäftigt. Die Beklagte unterhielt in Deutschland zusammen mit einem Schwesterbetrieb insgesamt vier Standorte. Im Rahmen eines Beschäftigungssicherungstarifvertrages vom 12.3.2008 (BTV) war u. a. eine Arbeitszeiterhöhung ohne Lohnausgleich vereinbart worden. Neben der Beschäftigungssicherung sah § 5 Abs. 1 BTV eine Investitionsverpflichtung von insgesamt 40 Millionen Euro bis zum 31.12.2012 vor. Eine Übersicht zu den Investitionsrahmen in den einzelnen Betrieben sollte bis zum 30.4.2008 als Anlage erstellt werden. Diese Anlage erstellten die Tarifvertragsparteien allerdings nicht, obwohl § 5 Abs. 2 BTV als „Erfüllungsanreiz“ einen Anspruch auf Nachvergütung enthielt, soweit die Beklagte ihrer Investitionsverpflichtung nicht nachkommen sollte. Nach dem Ende der Laufzeit des BTV zum 31.5.2013 schloss die Beklagte das Werk in D. und kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers. Dieser verlangt von der Beklagten eine Nachvergütung gemäß § 5 Abs. 2 BTV in Höhe von insgesamt EUR 14.000,00. 301

E. Tarifrecht

2. Wesentliche Überlegungen des LAG Düsseldorf 1241 Das LAG Düsseldorf hat die Klage – auch in den verhandelten Parallelverfahren – mit der überzeugenden Begründung abgewiesen, die Investitionsverpflichtung in § 5 Abs. 1 BTV sei vorrangig unternehmensbezogen zu verstehen. Wie die Vorbemerkung des BTV erkennen lasse, sei es den Parteien des Tarifvertrags um die Rettung des Unternehmens aus der Insolvenz gegangen. Diesem Zweck hätten sowohl der Sanierungsbeitrag der Arbeitnehmer als auch die Investitionsverpflichtung der Beklagten gedient. 1242 Der unter § 5 Abs. 2 BTV angelegte und durch die Erstellung der Anlage noch ergänzungsbedürftige Nachvergütungsanspruch sei nur ein Sicherungsinstrument gewesen, das die gegenüber der Gewerkschaft eingegangene Verpflichtung der Beklagten durch einen Anspruch einzelner Arbeitnehmer absichern habe sollen. Aus dem Umstand, dass die Tarifvertragsparteien den Abschluss der Anlage bewusst unterließen, schlussfolgert das LAG Düsseldorf, Gewerkschaft und Arbeitgeberseite seien stillschweigend davon ausgegangen, dass es aufgrund der tatsächlichen Entwicklung keines «Erfüllungsanreizes» und damit auch keiner Anlage mehr bedurft habe. Hätten die Tarifertragsparteien danach aber bewusst und gewollt § 5 Abs. 2 BTV unvollkommen gelassen, ließen sich daraus keine individuellen Ansprüche einzelner Arbeitnehmer ableiten. 1243 Die Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer aus D. seien damit keinesfalls wertlos geworden. Denn auch bezogen auf den Betrieb in D. hätten die Arbeitsplätze zumindest für die Laufzeit des BTV gesichert werden können. IV. Auswirkungen der Beendigung einer tariflichen Sonderleistung auf eine identische kraft betrieblicher Übung gewährte Sonderleistung 1244 In Sanierungsfällen wird von nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern selbst dann, wenn sie im Vorfeld mit gewerkschaftlich organisierten Mitarbeitern gleich behandelt worden sind, nicht selten die Auffassung vertreten, die im Rahmen von Sanierungstarifverträgen vereinbarten Einschnitte (in aller Regel eine Einschränkung der tariflichen Leistungen wie z. B. der tariflichen Jahresleistung und des Urlaubsgelds) beträfen sie nicht, da sie nicht gewerkschaftlich gebunden seien. Typischerweise wird dann deshalb die Zahlung der Sonderleistung verlangt. 1245 Das LAG Düsseldorf hat diese Überlegung in seinem Urteil vom 24.6.2014 – 16 Sa 388/14, BeckRS 2014, 73949

mit überzeugender Begründung zurückgewiesen. 1246 Denn behandelt ein Arbeitgeber die nicht gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter in allen arbeitsrechtlichen Belangen – ohne explizite Vereinbarung – genauso wie einen tarifgebundenen Mitarbeiter, hat der nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer zwar aufgrund betrieblicher Übung einen

302

IV. Auswirkungen der Beendigung einer tariflichen Sonderleistung

Anspruch auf tarifliche Leistungen erworben. Dieser Anspruch umfasst jedoch nur solche Leistungen, die der Arbeitgeber aufgrund seiner Tarifgebundenheit den gewerkschaftlich organisierten Kollegen auch schuldet. Es handelt sich im Ergebnis um eine Gleichstellungsabrede. Denn um das Verhalten des Arbeitgebers abweichend vom Regelfall als Ange- 1247 bot zur Einbeziehung eines bestimmten Tarifvertrages oder als Bezugnahme nur auf die jeweils geltenden Verbandstarifverträge zu verstehen, bedürfte es besonderer Anhaltspunkte, die im entschiedenen Fall nicht vorlagen: Denn der Arbeitsvertrag enthielt – wie bei dem Ausgangspunkt einer be- 1248 trieblichen Übung naheliegend – überhaupt keine Regelung zu Umfang und Reichweite der Anwendbarkeit tariflicher Regelungen. Er nahm im entschiedenen Fall lediglich eine Eingruppierung des Klägers in Tarifgruppe VI vor. Auch die arbeitsvertraglich in Bezug genommene Arbeitsordnung enthielt nur den Satz, dass Lohn- und Gehaltsregelungen im Rahmen bestehender tariflicher Regelungen in Betriebsvereinbarungen getroffen werden können. Unabhängig davon, ob diese Regelung mit Blick auf § 77 Abs. 3 BetrVG als unwirksam anzusehen ist oder nicht, spreche – so das LAG Düsseldorf – deren Wortlaut nicht für die Annahme des Klägers, dass der Kreis der auf sein Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifverträge eingeschränkt sein soll. Im Gegenteil: Im entschiedenen Fall sprach der Umstand, dass die Beklagte 1249 2009 und 2010 die tariflichen Leistungen in Anwendung des damals abgeschlossenen Sanierungstarifvertrages reduziert hatte, ebenfalls dafür, dass sie lediglich die Gleichstellung von organisierten und tarifungebundenen Arbeitnehmern anbieten wollte. Sie hat damit zu keinem Zeitpunkt den Eindruck entstehen lassen, dass unabhängig vom Umfang tariflicher Verpflichtungen eine Pflicht auf Zahlung von Urlaubsgeld und Jahresleistung bestehen soll. Daher kam dem Kläger auch der Umstand, dass eine einmal entstandene be- 1250 triebliche Übung nicht durch eine spätere Änderung des Arbeitgeberverhaltens einseitig aufgehoben werden kann, BAG, v. 25.11.2009 – 10 AZR 779/08, AP Nr. 242 BGB Betriebliche Übung,

nicht zugute. Denn diese Überlegung geht – worauf das LAG Düsseldorf zu Recht hinweist – an der Sache vorbei. Vorrangig ist nämlich die Frage nach dem Inhalt der betrieblichen Übung, d. h. die Frage, warum der Kläger das Verhalten der Beklagten so verstehen durfte, dass diese weiter tarifliche Leistungen erbringen möchte, obwohl keine entsprechende tarifliche Bindung besteht. Fehlt es aber an Anhaltspunkten hierfür, führt der Abschluss eines Firmen- 1251 sanierungstarifvertrages, der einen Anspruch auf tarifliche Sonderleistungen ausschließt, in Übereinstimmung mit den Feststellungen des LAG Düsseldorf dazu, dass auch der tarifungebundene Arbeitnehmer keinen Anspruch nach dem einschlägigen Verbandsmanteltarifvertrag (hier: Manteltarifvertrag der Druckindustrie für gewerbliche Arbeitnehmer) hat.

303

F. Betriebsverfassung Kurzinhalt: Mitbestimmung bei betrieblicher Lohngestaltung (Rn. 1252 ff.); Mitbestimmung bei Arbeitszeit (Rn. 1278 ff.); Keine Vorlagepflicht des Unternehmenskaufvertrags (Rn. 1286 ff.)

I. Mitbestimmung bei betrieblicher Lohngestaltung 1. Kein Anspruch auf Weitergewährung eines mitbestimmungswidrig eingeführten Vergütungsbestandteils In seinem Beschluss vom 18.3.2014

1252

– 1 ABR 75/12, NZA 2014, 984

hat der 1. Senat des BAG wichtige Klarstellung zum Gestaltungsspielraum des Arbeitgebers bei der Veränderung von mitbestimmungswidrig eingeführten Vergütungsbestandteilen vorgenommen. a) Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall hatte der nicht tarifgebundene Arbeitgeber zunächst 1253 allen Beschäftigten für Arbeit an Samstagen eine Zeitgutschrift von zusätzlich 25 % pro Stunde gewährt, ohne den Betriebsrat hierbei zu beteiligen. Grundlage hierfür ist ein von der Arbeitgeberin im März 2009 in der Filiale K veröffentlichtes hausinternes Rundschreiben, in dem es hieß: „ZEITKONTO/SAMSTAGSVERGÜTUNG Ihr seid super! Für Eure hervorragende Arbeit in den Jahren seit unserer Eröffnung konnte unsere Filiale eine tolle Leistung erzielen. Daher gilt ab sofort folgende Regelung für die Arbeit der Voll- und Teilzeitkräfte am Samstag: 25 % der geleisteten Stundenzahl wird in einem separaten Stundenkonto gesammelt. Die Vergütung dieser Stunden wird noch geregelt. In Kürze erhaltet Ihr weitere Infos.“

Die Arbeitgeberin gewährte in der Folgezeit bei einem Einsatz an Samstagen 1254 auf den Arbeitszeitkonten ihrer Beschäftigten eine Gutschrift i. H. v. 25 % für die erbrachte Arbeitsleistung. Den Betriebsrat beteiligte sie hierbei nicht. Seit September 2010 schließt die Arbeitgeberin mit neu eingestellten Arbeitnehmern arbeitsvertraglich eine Zeitgutschrift für die Arbeit an Samstagen aus. Den am 31.8.2010 beschäftigten Arbeitnehmern gewährt sie diese hingegen unverändert weiter. Der Betriebsrat hat geltend gemacht, die Arbeitgeberin sei zur Gewährung 1255 der Zeitgutschrift an alle Arbeitnehmer verpflichtet. Die Änderung des begünstigten Personenkreises unterliege seinem Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Ihre Zusage aus dem Frühjahr 2009 könne die Arbeitgeberin daher nicht ohne seine Zustimmung ändern.

305

F. Betriebsverfassung

b) Wesentliche Überlegungen des BAG 1256 Das BAG wies den Antrag des Betriebsrats als unbegründet zurück. Dabei bestätigte es zwar die vom 1. Senat zur Mitbestimmungspflicht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG für nicht tarifgebundene Arbeitgeber entwickelten Grundsätze. aa) Allgemeine Grundsätze zur Mitbestimmung beim Entgelt 1257 Nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG hat der Betriebsrat in Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere bei der Aufstellung und Änderung von Entlohnungsgrundsätzen und der Einführung und Anwendung von neuen Entlohnungsmethoden sowie deren Änderung, mitzubestimmen. Das Mitbestimmungsrecht bezieht sich – wie das BAG noch einmal bestätigt – auf die Grundsätze, nach denen sich die Entgeltfindung im Betrieb vollzieht. Es soll die Arbeitnehmer vor einer einseitig an den Interessen des Arbeitgebers orientierten Lohngestaltung schützen. Zugleich soll die Einbeziehung des Betriebsrats zur Wahrung der innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit sowie zur Sicherung der Angemessenheit und Durchsichtigkeit des Lohngefüges beitragen. Vgl. bereits BAG, v. 10.12.2013 – 1 ABR 39/12, NZA 2014, 1040.

x

Die betriebliche Lohngestaltung betrifft die Festlegung abstrakter Kriterien zur Bemessung der (Gegen-)Leistung des Arbeitgebers, die dieser zur Abgeltung der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers oder sonst mit Rücksicht auf das Arbeitsverhältnis insgesamt erbringt.

x

Entlohnungsgrundsätze bestimmen demgegenüber das System, nach dem das Arbeitsentgelt für die Belegschaft oder Teile der Belegschaft ermittelt oder bemessen werden soll. Entlohnungsgrundsätze müssen Arbeitsentgelt i. S. d. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG zum Gegenstand haben und abstrakte Vorgaben für dessen Verteilung auf die Arbeitnehmer enthalten. Praxistipp: Nach ständiger Rechtsprechung ist das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG nicht beschränkt auf die im Synallagma stehenden Entgeltbestandteile, sondern betrifft alle Formen der Vergütung, die aus Anlass des Arbeitsverhältnisses nach bestimmten Grundsätzen oder nach einem System gewährt werden (vgl. bereits BAG, v. 8.11.2011 – 1 ABR 37/10, BAGE 139, 369).

1258 Der Mitbestimmung aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG unterliegt die Einführung von Entlohnungsgrundsätzen und deren Änderung. Für das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats kommt es nicht darauf an, auf welcher rechtlichen Grundlage die Anwendung der bisherigen Entlohnungsgrundsätze erfolgt ist. Maßgeblich ist nicht der Geltungsgrund der Entgeltleistung, sondern das Vorliegen eines kollektiven Tatbestands. BAG, v. 14.1.2014 – 1 ABR 57/12, NZA 2014, 922; vgl. dazu gleich unter Rn. 1268 ff.

306

I. Mitbestimmung bei betrieblicher Lohngestaltung

bb) Besonderheiten bei nicht tarifgebundenem Arbeitgeber Das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG wird bei einem 1259 nicht tarifgebundenen Arbeitgeber durch die Tarifsperre des § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG, wonach der Betriebsrat nur mitbestimmen kann, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, weder beschränkt noch ausgeschlossen. Konsequenz daraus ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG zunächst 1260 einmal, dass der tarifungebundene Arbeitgeber kollektivrechtlich das gesamte Volumen der von ihm für die Vergütung der Arbeitnehmer bereitgestellten Mittel mitbestimmungsfrei festlegen kann. BAG, v. 18.3.2014 – 1 ABR 75/12, NZA 2014, 984.

Weitere Folge daraus ist nach der Rechtsprechung des BAG aber, dass er 1261 mangels Tarifbindung in diesem Fall sämtliche Vergütungsbestandteile kollektivrechtlich „freiwillig“, d. h. ohne hierzu normativ verpflichtet zu sein, leistet. BAG, v. 26.8.2008 – 1 AZR 354/07, BAGE 127, 297 = ZIP 2009, 88, dazu EWiR 2009, 99 (Schröder); BAG, v. 18.3.2014 – 1 ABR 75/12, NZA 2014, 984.

Bei der Entscheidung über die Verteilung der Gesamtvergütung hat der nicht 1262 tarifgebundene Arbeitgeber wegen der fehlenden Tarifsperre des Eingangshalbsatzes einen Gestaltungsspielraum, bei dessen Ausgestaltung der Betriebsrat aber mitzubestimmen hat. BAG, v. 22.6.2010 – 1 AZR 853/08, BAGE 135, 13; BAG, v. 18.3.2014 – 1 ABR 75/12, NZA 2014, 984.

Die Betriebsparteien haben für die gesamten Vergütungsbestandteile Ent- 1263 lohnungsgrundsätze i. S. d. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG aufzustellen, durch die eine am Normzweck des Mitbestimmungsrechts ausgerichtete Verteilung erfolgt. Dabei unterliegt nicht nur die Einführung, sondern auch die Änderung der im Betrieb für die Verteilung der Gesamtvergütung aufgestellten Entlohnungsgrundsätze dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats. BAG, v. 10.12.2013 – 1 ABR 39/12, NZA 2014, 1040; BAG, v. 18.3.2014 – 1 ABR 75/12, NZA 2014, 984.

cc) Mitbestimmungspflicht bei der Einführung von Vergütungsbestandteilen Nach diesen Grundsätzen hatte der Betriebsrat bereits bei der Einführung 1264 des Zeitzuschlags für Samstagsarbeit im Frühjahr 2009 nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG mitzubestimmen. Mit der Gewährung einer solchen Vergütung für Arbeit an Samstagen habe die Arbeitgeberin einen Entlohnungsgrundsatz aufgestellt, durch den das bei ihr bestehende Vergütungssystem geändert worden ist. Diese Maßnahme habe wegen der mit ihr verbundenen Auswirkungen auf die Verteilung der von der Arbeitgeberin gezahlten Gesamtvergütung der Zustimmung des Betriebsrats bedurft. 307

F. Betriebsverfassung

dd) Mitbestimmungspflichtigkeit einer Einschränkung des begünstigten Personenkreises 1265 Ebenso unterlag die von der Arbeitgeberin seit dem 1.9.2010 vorgenommene Beschränkung des begünstigten Personenkreises, dem ein besonderer Zuschlag für Samstagsarbeit gewährt wird, dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Durch diese Maßnahme hat sie den im Frühjahr 2009 aufgestellten Entlohnungsgrundsatz geändert. Denn diese Maßnahme berührt die Verteilung der den Arbeitnehmern gewährten Gesamtvergütung. ee) Kein Durchführungsanspruch des Betriebsrats auf Beibehaltung mitbestimmungswidrig eingeführter Vergütungsbestandteile 1266 Ein auf die Gewährung einer Zeitgutschrift für Arbeit an Samstagen gerichteter Durchführungsanspruch des Betriebsrats besteht nach den überzeugenden Feststellungen des BAG jedoch nicht. Zwar habe die Arbeitgeberin dessen Mitbestimmungsrecht durch die ohne seine Beteiligung erfolgte Aufstellung und Änderung des Entlohnungsgrundsatzes über die Vergütung von Samstagsarbeit verletzt. Der Betriebsrat könne jedoch nur die Durchführung einer mit der Arbeitgeberin getroffenen Vereinbarung verlangen. Für die Durchsetzung von mitbestimmungswidrigem Verhalten der Arbeitgeberin fehlt es hingegen an einer Anspruchsgrundlage. Eine solche ergebe sich nicht aus § 77 Abs. 1 Satz 1 BetrVG, der jedenfalls Betriebsvereinbarungen erfasst. BAG, v. 18.5.2010 – 1 ABR 6/09, BAGE 134, 249. Praxistipp: Ob ein Durchführungsanspruch des Betriebsrats auch für Regelungsabreden besteht, hat der 1. Senat des BAG bisher offengelassen (vgl. BAG, v. 27.10.1998 – 1 ABR 3/98, BAGE 90, 76).

c) Bedeutung für die betriebliche Praxis 1267 Die Entscheidung schafft für den Arbeitgeber faktisch ein wenig Gestaltungsspielraum. Denn anders als in seiner früheren Rechtsprechung z. B. BAG, v. 28.2.2006 – 1 ABR 4/05, NZA 2006, 1426

akzeptiert der 1. Senat des BAG einen Unterlassungsantrag bei Verstößen gegen das Mitbestimmungsrecht jedenfalls dann nicht (mehr), wenn Entgeltgrundsätze geändert werden, die auf „einer vom Arbeitgeber einseitig praktizierten Vergütungsordnung“ so die bisherige Rechtsprechung, zuletzt BAG, v. 14.1.2014 – 1 ABR 57/12, NZA 2014, 922

beruhen. Betriebsräte können zudem nicht etwaige Individualansprüche der Arbeitnehmer durchsetzen. Sie können einen Feststellungsantrag stellen,

308

I. Mitbestimmung bei betrieblicher Lohngestaltung vgl. BAG, v. 14.1.2014 – 1 ABR 57/12, NZA 2014, 922,

müssen aber letztlich ein Einigungsstellenverfahren initiieren bzw. – allerdings erst bei entsprechenden groben Verstößen – nach § 23 BetrVG vorgehen. 2. Mitbestimmung bei Wechsel von dynamischer zu statischer Prämienzahlung Dass Arbeitgeber das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG 1268 losgelöst davon beachten müssen, wenn „Doppelzahlungen“ bzw. erhebliche zeitliche Verzögerungen bei der Umsetzung der Einführung von neuen bzw. anderen Vergütungskomponenten vermieden werden sollen, hat der 1. Senat des BAG indes in seinem Beschluss vom 14.1.2014 – 1 ABR 57/12, NZA 2014, 922

deutlich gemacht. a) Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall hatte die nicht tarifgebundene Arbeitgeberin 2004 mit 1269 90 % der bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer Formulararbeitsverträge abgeschlossen, in denen u. a. die Vergütung neu geregelt wurde. Darin war u. a. eine jährliche Gewinnbeteiligung enthalten, deren Höhe auf der Grundlage des ausgewiesenen Jahresüberschusses der Bilanz des Vorvorjahres bestimmt werden sollte. Die Einzelheiten sollten in einer Betriebsvereinbarung geregelt werden, die aber nicht zustande kam. Die veröffentlichten Handelsbilanzen der Arbeitgeberin wiesen seit 2004 keinen Überschuss aus. Im Januar 2010 unterbreitete die Arbeitgeberin den Arbeitnehmern Änderungsangebote, mit denen die Gewinnbeteiligung gegen eine Einmalzahlung i. H. v. EUR 3.000 aufgehoben werden sollte. Viele Arbeitnehmer nahmen dieses Angebot an. Der Betriebsrat hielt den Abschluss der Änderungsverträge nach §§ 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG für mitbestimmungspflichtig. Die Arbeitgeberin argumentierte u. a. mit der Günstigkeit der neuen Vergütungsbedingungen, unterlag aber in allen Instanzen. b) Wesentliche Überlegungen des BAG Das BAG sah in der angebotenen Einmalzahlung als Gegenleistung für den 1270 Verzicht auf eine Gewinnbeteiligung eine mitbestimmungspflichtige Änderung bestehender Entlohnungsgrundsätze. Das Mitbestimmungsrecht erstrecke sich zwar nicht auf die vertraglich vereinbarten Entgelte der Arbeitnehmer. Stelle der Arbeitgeber jedoch für die individualrechtlich versprochene Vergütung einen besonderen Dotierungsrahmen zur Verfügung, unterliege dessen Verteilung der Mitbestimmung. Die vereinbarte Gewinnbeteiligung sei Teil der vertraglichen Gesamtvergü- 1271 tung, die sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetze und einen betrieblichen Entlohnungsgrundsatz darstelle. Durch die Aufhebung des An309

F. Betriebsverfassung

spruchs auf Gewinnbeteiligung habe die Arbeitgeberin einen Entgeltbestandteil dieser Gesamtvergütung beseitigt und damit die bis dahin geltenden Entlohnungsgrundsätze geändert. Die Änderung erfolge abstrakt generell für alle Anspruchsinhaber gegen Zahlung eines Pauschalbetrages. Sie habe damit einen kollektiven Bezug. Denn die Besonderheiten einzelner Arbeitsverhältnisse spielten keine Rolle. 1272 Unbeachtlich sei in diesem Zusammenhang, dass der Betriebsrat an dem im Jahre 2004 aufgestellten Entlohnungsgrundsatz nicht mitgewirkt habe. Für die Mitbestimmung bei der Änderung bestehender Entlohnungsgrundsätze sei nicht maßgeblich, auf welcher rechtlichen Grundlage deren Anwendung erfolge. 1273 Der Zuordnung der Gewinnbeteiligung zur Gesamtvergütung stehe im Übrigen nicht entgegen, dass die Verteilung des Jahresüberschusses bislang nicht in einer gesonderten Betriebsvereinbarung geregelt sei und mangels ausgewiesenen Jahresüberschusses auch noch keine Auszahlung erfolgt sei. Die Arbeitnehmer hätten nach den Änderungsverträgen aus dem Jahre 2004 unabhängig vom Zustandekommen einer Betriebsvereinbarung einen Anspruch auf Gewinnbeteiligung. Ein Gewinn hätte dementsprechend gemäß § 315 Abs. 1 BGB nach billigem Ermessen verteilt werden müssen. 1274 Das Mitbestimmungsrecht sei auch nicht davon abhängig, ob die anstelle der Gewinnbeteiligung angebotene Einmalzahlung für den einzelnen Arbeitnehmer günstiger sei. Das Günstigkeitsprinzip sei eine Kollisionsregel für die Fälle, in denen Betriebsvereinbarungen und individualrechtliche Absprachen denselben Gegenstand unterschiedlich regeln. Es führe dabei nicht zur Unwirksamkeit der kollektiven Regelung, sondern nur dazu, dass sich der Arbeitnehmer trotz des Bestehens einer unmittelbaren und zwingenden Wirkung auf eine ihm günstigere individualvertragliche Abrede berufen könne. c) Bedeutung für die betriebliche Praxis 1275 Mit Blick auf die vom Großen Senat des BAG entwickelte „Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung“ BAG GS v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749

sind mitbestimmungswidrige Vergütungsverschlechterungen kollektivrechtlich unwirksam. Praxistipp: Das muss insbesondere bei Sanierungsvereinbarungen im Rahmen von betrieblichen Bündnissen für Arbeit ohne Beteiligung des Betriebsrats im Blick behalten werden.

1276 Eine – wie im entschiedenen Fall – unter Verstoß gegen das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats aufgestellte Vergütungsordnung löst die bisher

310

II. Mitbestimmung bei Arbeitszeit

geltende Vergütungsordnung nicht ab. Dem Arbeitnehmer steht eine Bezahlung nach der früheren Vergütungsordnung zu. BAG, v. 24.4.2001 – 1 ABR 2/01, NZA 2002, 232.

In Fortführung der Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung nimmt das BAG 1277 weiter an, dass der Arbeitnehmer bei einer mitbestimmungswidrigen Änderung der im Betrieb geltenden Entlohnungsgrundsätze eine Vergütung auf der Grundlage der zuletzt mitbestimmten Entlohnungsgrundsätze verlangen kann. Insoweit wird die arbeitsvertragliche Vergütungsabrede von Gesetzes wegen ergänzt durch eine Verpflichtung des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer nach den geltenden Entlohnungsgrundsätzen zu vergüten. BAG, v. 22.6.2010 – 1 AZR 853/10, NZA 10, 1243; kritisch Reichold, RdA 2011, 311, 312 ff.

II. Mitbestimmung bei Arbeitszeit Regelungen zur Arbeitszeit haben nur dann Auswirkungen auf die Vergü- 1278 tung, wenn sie die vergütungspflichtige Arbeitszeit betreffen. Schließen die Betriebsparteien eine Betriebsvereinbarung über Gleitzeit und regeln sie darin die Arbeitszeit i. S. v. § 87 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 BetrVG, können sie z. B. bestimmen, dass die über zehn Stunden hinaus geleistete werktägliche Arbeitszeit gekappt und grundsätzlich nicht als zu verteilende Arbeitszeit behandelt wird. Eine solche Kappungsregelung betrifft aber – wenn nicht besondere Anhaltspunkte vorliegen – nicht die vergütungspflichtige Arbeitszeit, wie das BAG in seinem Beschluss vom 10.12.2013 – 1 ABR 40/12, NZA 2014, 675

klargestellt hat. 1. Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall hatte der Antragsteller, der Betriebsrat eines Gemein- 1279 schaftsbetriebes, mit dem Arbeitgeber eine Betriebsvereinbarung Arbeitszeit (BV-Arbeitszeit) abgeschlossen, die Regelungen zur Gleitzeit vorsah. Ergänzt wurde sie um eine Regelung in einer Protokollnotiz, nach der die tägliche Arbeitszeit zehn Stunden nicht überschreiten darf. Darüber hinaus geleistete Arbeitsstunden sind im Zeiterfassungssystem zu protokollieren, werden aber systemseitig gekappt. Nur in Ausnahmefällen und nach schriftlicher Zustimmung der Führungskraft, des Personalbereichs und des Betriebsrats werden diese Zeiten dem Gleitzeitkonto gutgeschrieben. Nach der BVArbeitszeit entfällt zudem der positive Saldo auf dem Arbeitszeitkonto von AT-Angestellten am Ende des Jahres, sofern dieser 300 Stunden überschreitet. Der Arbeitgeber ist Mitglied im Verband der Bayerischen Metall- und Elekt- 1280 roindustrie. Der geltende Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer (MTV) enthält eine Regelung, nach der die wöchentliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer grundsätzlich 35 Stunden nicht überschreiten darf. Als – nach den tarif311

F. Betriebsverfassung

lichen Vorgaben zu vergütende – Mehrarbeit gilt auch die über zehn Stunden täglich hinaus geleistete Arbeitszeit. 1281 Der Betriebsrat beantragte, die Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung, hilfsweise der Protokollnotiz zu dieser Betriebsvereinbarung, festzustellen. Hilfsweise sollte jedenfalls für die Mitarbeiter, auf die der MTV angewendet wird, die Unwirksamkeit festgestellt werden. Weiter beantragte er, hilfsweise festzustellen, dass diese Regelung in der BV-Arbeitszeit durch die zuvor erklärte Kündigung ohne Nachwirkung beendet worden ist. Die Anträge des Betriebsrates blieben in allen Instanzen erfolglos. 2. Wesentliche Überlegungen des BAG 1282 Die Protokollnotiz zur BV-Arbeitszeit ist nach Ansicht des BAG eine eigenständige normative Vereinbarung i. S. v. § 77 Abs. 2 BetrVG, in der die Betriebsparteien eine Arbeitszeitregelung nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG getroffen haben. Die Pflicht zur Vergütung der geleisteten Arbeit bleibe hiervon unberührt. 1283 Vielmehr werde mit der BV-Arbeitszeit lediglich das auf dem Arbeitszeitkonto zum „Gleiten” verfügbare Arbeitsvolumen der Beschäftigten begrenzt. Mit der betroffenen Regelung hätten die Betriebsparteien – so das BAG – erkennbar ein Arbeitszeitregime schaffen wollen, das den Arbeitnehmern ein hohes Maß an Zeitsouveränität gewährt und zugleich sicherstellt, dass die gesetzlichen Höchstgrenzen des Arbeitszeitrechts beachtet werden. Das entspricht dem Regelungsauftrag des § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG. Die Betriebsparteien seien gesetzlich verpflichtet, bei ihren Regelungen die Höchstgrenzen des Arbeitszeitrechts zu beachten. Daher sei es nicht zu beanstanden, wenn die über zehn Stunden hinaus geleistete Arbeitszeit grundsätzlich gekappt und nicht als nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG zu verteilende Arbeitszeit behandelt wird (vgl. § 3 ArbZG). 1284 In vergütungsrechtliche Ansprüche der Arbeitnehmer wird dadurch nach der Bewertung des BAG nicht eingegriffen; diese bleiben vielmehr von der getroffenen Regelung unberührt. Es ist – so das BAG weiter – nicht ersichtlich, dass die Betriebsvereinbarung bezweckt, den Arbeitnehmern Ansprüche auf die Bezahlung von Arbeit, die über zehn Stunden Tätigkeit hinaus geleistet wird, abzuschneiden. Das wäre im Streitfall schon deshalb nicht möglich, weil der MTV ausdrücklich vorsah, dass sämtliche geleisteten Mehrarbeitsstunden zu vergüten sind. Es könne aber nicht unterstellt werden, dass die Betriebsparteien eine gesetzwidrige Regelungsabsicht oder bewusste Missachtung des Tarifvorbehalts nach § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG beabsichtigten.

312

III. Keine Vorlagepflicht des Unternehmenskaufvertrags

3. Bedeutung für die betriebliche Praxis Die Entscheidung führt noch einmal deutlich vor Augen, dass in der betrieb- 1285 lichen Praxis nicht nur zwischen dem arbeitszeit- und dem vergütungsrechtlichen Arbeitszeitbegriff, sondern auch zwischen individual- und kollektivrechtlichen Folgen einer Regelung unterschieden werden muss. Die Entscheidung überzeugt insoweit auch in der Begründung. Denn lediglich faktisch kann ein „Abschneiden” entsprechender Zeitguthaben auf dem Gleitzeitkonto bewirken, dass Arbeitnehmer davon abhalten werden, Ansprüche auf Vergütung der „abgeschnittenen“ Stunden geltend zu machen. Das dürfte letztlich auch den Betriebsrat motiviert haben, gegen die getroffene Regelung – ohne Erfolg – vorzugehen, nachdem er sie zunächst geschaffen hatte. Insoweit wird man Arbeitnehmern aber – wie jedem anderen Gläubiger auch – zumuten können, die erbrachte Leistung selbst zu dokumentieren und die hierfür geschuldete Gegenleistung geltend zu machen. III. Keine Vorlagepflicht des Unternehmenskaufvertrags Im Zuge der Veräußerung von Unternehmensanteilen besteht in der betrieb- 1286 lichen Praxis bei Arbeitnehmervertretern häufig ein Interesse an möglichst umfassender Information. Gewünscht wird oft insbesondere die Vorlage des Unternehmenskaufvertrags. Unter welchen Umständen jedenfalls kein derartiger Anspruch besteht, hat das LAG Baden-Württemberg in seinem Beschluss vom 9.10.2013 – 10 TaBV 2/13, n. v.

klargestellt. 1. Sachverhalt des LAG Baden-Württemberg Im entschiedenen Fall stritten die Beteiligten über die Wirksamkeit eines Ei- 1287 nigungsstellenspruchs vom 28.6.2012 sowie die Verpflichtung einer Unterrichtung des Arbeitgebers gegenüber dem antragstellenden Betriebsrat. In dem Einigungsstellenverfahren konnte zu Frage 2 des Katalogs des Be- 1288 triebsrats keine Einigung erzielt werden. Diese Frage bezog sich darauf, inwieweit in dem Kaufvertrag Hinweise auf personelle Auswirkung genannt sind und inwieweit der Betriebsrat einen Anspruch darauf hat, Angaben des Geschäftsführers der Arbeitgeberin durch eine Einsichtnahme in den Kaufvertrag überprüfen zu können, den notariellen Kaufvertrag über die Veräußerung der Gesellschaftsanteile einschließlich des genannten Kaufpreises vorgelegt zu bekommen sowie Auskunft hinsichtlich der Drittfinanzierung des Kaufpreises zu erhalten. Ein entsprechender Antrag des Betriebsrats fand in der Einigungsstelle keine Mehrheit; der Betriebsrat focht den Einigungsstellenspruch insoweit an. Der Arbeitgeber ist der Ansicht, dass sich ein Anspruch des Betriebsrats auf Vorlage des Kaufvertrages weder aus § 106 Abs. 2 Satz 1 und 2 i. V. m. Abs. 3 Nr. 9a BetrVG noch aus § 106 Abs. 2 Satz 1

313

F. Betriebsverfassung

i. V. m. Abs. 3 Nr. 10 BetrVG herleiten lasse. Es handle sich bei dem Kaufvertrag nicht um eine Unterlage des Unternehmens. Im Übrigen seien in diesem Vertrag mit Ausnahme des Wechsels der Geschäftsführer keine Absprachen über die Geschäftsführung und die Geschäftspolitik enthalten: Der Vertrag regele allein das Innenverhältnis der ehemaligen Gesellschafter zum neuen Gesellschafter. Es handele sich auch nicht um eine erforderliche Unterlage im Sinne des Gesetzes. Der Kaufvertrag enthalte keine Absprachen über Geschäftsumfang und die Geschäftspolitik. Der Verkauf der Gesellschaftsanteile bewirke keine Änderung des unternehmerischen Konzepts. Hinzu komme, dass vorliegend keine Zugriffsmöglichkeit auf den Kaufvertrag bestehe. So sei in dem Vertrag eine Verpflichtung enthalten, den Inhalt des Kaufvertrages geheim zu halten. Das Arbeitsgericht hat die Anträge des Betriebsrats abgewiesen. 2. Wesentliche Überlegungen des LAG Baden-Württemberg 1289 Das LAG Baden-Württemberg hielt die Beschwerde des Betriebsrats ebenfalls für nicht begründet. Der Spruch der Einigungsstelle sei wirksam. Der Betriebsrat habe keinen Anspruch auf Vorlage des Kaufvertrages. 1290 Im Spruch der Einigungsstelle sei zunächst einmal zu Recht darauf abgestellt worden, dass der geltend gemachte Anspruch sich nicht aus § 106 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 3 Nr. 10 BetrVG ergebe. Den sich hieraus ergebenden Unterrichtungsverpflichtungen sei der Arbeitgeber dadurch nachgekommen, dass er x

den Wirtschaftsausschuss über die Tatsache der Veräußerung sämtlicher Geschäftsanteile an den neuen Gesellschafter informiert habe;

x

Name und Anschrift des neuen Gesellschafters mitgeteilt habe;

x

dem Wirtschaftsausschuss mitgeteilt worden sei, dass in dem Veräußerungsvertrag keinerlei Absprachen über Geschäftsführung und Geschäftspolitik getroffen worden seien.

1291 Wenn die Einigungsstelle hieraus schließe, dass damit der Unternehmensseite eine hinreichende Grundlage geschaffen wurde, um dem Wirtschaftsausschuss Gelegenheit zu geben, auf die diesbezüglichen Planungen des Unternehmens Einfluss zu nehmen, sei dies nicht zu beanstanden. 1292 Etwas anderes folge – wie das LAG Baden-Württemberg zu Recht annimmt – auch nicht aus der Entscheidung des BAG vom 22.1.1991 – 1 ABR 38/89, AP Nr. 9 zu § 106 BetrVG 1972.

Dort hatte das BAG nämlich klargestellt: „Betrifft der Inhalt des Veräußerungsvertrages nur das Innenverhältnis der Gesellschafter, nicht das Unternehmen und gibt die Tatsache der Veräußerung der Geschäftsanteile auf einen neuen Gesellschafter keinen Anlaß zur Beratung zwischen Unternehmer und Wirtschaftsausschuß, solange das Un-

314

III. Keine Vorlagepflicht des Unternehmenskaufvertrags ternehmen eine Veränderung in der Geschäftsführung und Geschäftspolitik nicht plant, besteht auch keine Rechtsgrundlage für die Vorlage des Vertrages über die Veräußerung der Geschäftsanteile“.

Diese Anforderungen waren im entschiedenen Fall erfüllt. Denn nach den 1293 Angaben der Unternehmensseite betrifft der Veräußerungsvertrag nur das Innenverhältnis der Gesellschafter und kann daher noch nicht Anlass zur Beratung zwischen Unternehmen und Wirtschaftsausschuss sein. Der Anspruch ergibt sich nach den überzeugenden Feststellungen des LAG 1294 Baden-Württemberg aber auch nicht aus § 106 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Nr. 9a BetrVG. Entgegen der Auffassung des Betriebsrates könne insbesondere aus § 106 1295 Abs. 2 Satz 2 BetrVG nicht entnommen werden, dass zu den vorzulegenden erforderlichen Unterlagen auch der Kaufvertrag über die Gesellschaftsanteile gehört. Die Auffassung, nach der der gesellschaftsrechtliche Vorgang der Unter- 1296 nehmensübernahme als solcher zur wirtschaftlichen Angelegenheit erklärt sei und damit der Veräußerungsvertrag automatisch eine vorlagepflichtige Unterlage nach § 106 Abs. 2 Satz 2 BetrVG sei, so Fitting u. a., BetrVG § 106 Rn. 125 f.,

lehnt das LAG Baden-Württemberg mit überzeugender Begründung ab: Bereits der Wortlaut von § 106 Abs. 2 Satz 2 BetrVG gebe dies nicht her. Als 1297 erforderliche Unterlagen werden insbesondere die „Angaben über den potentiellen Erwerb und Absichten im Hinblick auf die künftige Geschäftstätigkeit des Unternehmens sowie daraus ergebende Auswirkungen auf die Arbeitnehmer“

aufgeführt. Bei „Angaben“ handelt es sich aber bereits dem Wortlaut nach nicht um Unterlagen, sondern um Auskünfte. Vgl. auch ErfK/Kania, BetrVG § 106 Rn. 6a.

§ 106 Abs. 2 Satz 2 BetrVG erweitere seinem Wortlaut nach nicht die Vor- 1298 lagepflicht; insoweit verbleibe es bei den durch § 106 Abs. 2 Satz 1 BetrVG aufgestellten Vorgaben. Dafür spricht in der Tat der erste Halbsatz des § 106 Abs. 2 Satz 2 BetrVG, 1299 der deutlich macht, dass in § 106 Abs. 2 Satz 2 BetrVG lediglich Klarstellungen in Bezug auf die in § 106 Abs. 2 Satz 1 BetrVG geregelte Vorlagepflicht erfolgen sollen. Daraus schließt das LAG Baden-Württemberg, dass mit der Gleichsetzung 1300 von Angaben und Unterlagen nur gemeint sein könne, dass das Unternehmen die entsprechenden Informationen zu dokumentieren und als selbst erstellte Unterlage entsprechend der Unterrichtungspflicht nach § 106 Abs. 2 Satz 2 BetrVG zu erstellen habe. Dies mache auch deshalb Sinn, weil damit das 315

F. Betriebsverfassung

Problem gelöst werde, dass es sich bei dem Kaufvertrag um eine Urkunde nicht des Unternehmens, sondern vielmehr der alten und der neuen Gesellschafter handele. 1301 Aus der Absicht des Gesetzgebers, nicht börsennotierte Unternehmen insoweit gleichzustellen, vgl. BT-Drucks. 16/7438, S. 9,

ergebe sich nicht zwingend die Vorlage des Vertrags zur Veräußerung der Gesellschaftsanteile. Praxistipp: Bei börsennotierten Unternehmen sind die erforderlichen Angaben im Übernahmeangebot enthalten (§§ 11, 2, 39 WpÜG).

1302 Soweit dies bei börsennotierten Unternehmen nicht vorhanden sei, folge daraus nicht zwingend eine Vorlagepflicht in Bezug auf den Kaufvertrag. Denn unabhängig davon, dass es sich bei dem Kaufvertrag um keine Unterlagen des Unternehmens handelt, über die es ggf. (wie im entschiedenen Fall) nicht verfügt, mögen zwar Teile eines Kaufvertrages über die Gesellschaftsanteile von Bedeutung für die künftige Geschäftstätigkeit des Unternehmens und Auswirkungen auf die Arbeitnehmer sein. Der Kaufvertrag könne daher Punkte regeln, die für den Wirtschaftsausschuss im Hinblick auf § 106 Abs. 2 BetrVG von Bedeutung sein können. 1303 Die Vorlage von Unterlagen diene aber – wie das LAG Baden-Württemberg völlig zu Recht klarstellt – nicht der Kontrolle darüber, ob die Unterrichtung des Unternehmens wahrheitsgemäß ist. Die Vorlage der Unterlagen bezwecke ausschließlich die gleichgewichtige und damit grundsätzlich vom selben Kenntnisstand ausgehende Beratung über wirtschaftliche Angelegenheiten. BAG, v. 22.1.2991 – 1 ABR 38/89, AP Nr. 9 zu § 106 BetrVG 1972; LAG Baden-Württemberg, v. 9.10.2013 – 10 TaBV 2/13, n. v.

1304 Dies gelte z. B. für die Frage, ob mit Ausnahme einer Regelung über den Wechsel in der Geschäftsführung keine Aussagen über personelle Auswirkungen des Anteilserwerbers enthalten seien. 3. Bedeutung für die betriebliche Praxis 1305 Das Urteil führt zu einer fairen Begrenzung des Unterrichtungsanspruchs des Wirtschaftsausschusses. Wenn – entgegen § 2 BetrVG – die Vorlage letztlich allein der Kontrolle dienen soll, hat dies mit dem Zweck des § 106 BetrVG nichts mehr zu tun. Betriebsrat und Wirtschaftsausschuss sind im Übrigen über die aus § 106 Abs. 3 Nr. 1 BetrVG und § 110 Abs. 2 BetrVG hinreichend abgesichert, soweit die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Unternehmens in Rede steht.

316

III. Keine Vorlagepflicht des Unternehmenskaufvertrags LAG Baden-Württemberg, v. 9.10.2013 – 10 TaBV 2/13, n. v.

Offengelassen hat das LAG Baden-Württemberg die in der Literatur umstrit- 1306 tene Frage, ob zumindest bei Alleingesellschaftern oder beherrschenden Gesellschaftern ein Durchgriff auf die Gesellschafter möglich ist. Verneinend Richardi/Annuß, BetrVG § 106 Rn. 57; Fleischer, ZfA 2009, 787 ff.; a. A. DKKW-Däubler, BetrVG § 106 Rn. 91.

Das wird man richtigerweise schon deshalb verneinen müssen, weil der Ge- 1307 setzgeber dieses Problem aus anderem Kontext bestens kennt (vgl. § 17 Abs. 3a KSchG, § 5 EBRG), aber eine entsprechende Regelung gerade nicht in § 106 BetrVG aufgenommen hat, obwohl er sonstige Hindernisse – z. B. das Nichtbestehen eines Wirtschaftsausschusses (§ 109a BetrVG) – ausgeräumt hat. Lediglich obiter hat das LAG Baden-Württemberg aber zu Recht auch einen 1308 Anspruch des Wirtschaftsausschusses auf eine Information bezüglich des Kaufpreises abgelehnt, die von Wirtschaftausschüssen in der Praxis bisweilen gefordert wird, um zu erwägen und zu prüfen, ob und welche unternehmerischen Planungen von Unternehmensseite möglicherweise anstehen. Insoweit weist das LAG Baden-Württemberg zu Recht darauf hin, dass § 106 Abs. 2 Satz 2 BetrVG eine Information über die zukünftige Geschäftstätigkeit und damit zukünftige Planungen des Unternehmens verlangt und nicht noch weitergehend Informationen, damit der Wirtschaftsausschuss im Voraus Überlegungen anstellen kann, welche Absichten der Erwerber im Hinblick auf die künftige Geschäftstätigkeit des Unternehmens möglicherweise hat. Insoweit hält das LAG Baden-Württemberg die Entscheidung des BAGs vom 22.1.2991 – 1 ABR 38/89, AP Nr. 9 zu § 106 BetrVG 1972

trotz der Neufassung von § 106 BetrVG weiterhin für einschlägig.

317

G. Steuer- und sozialversicherungsrechtliche Fragen Kurzinhalt: Anspruchsübergang bei Insolvenzgeldantrag (Rn. 1309 ff.); Insolvenzgeld für Arbeitnehmer ohne Arbeitserlaubnis (Rn. 1319 ff.); Insolvenzgeldumlage von Wohnungseigentümergemeinschaften (Rn. 1328 f.)

I. Umfang des Anspruchsübergangs bei Insolvenzgeldantrag In seinem Urteil vom 25.6.2014

1309

– 5 AZR 283/12, ZIP 2014, 2147

hat der 5. Senat des BAG noch einmal seine – in der Literatur umstrittene – ablehnend (für eine Beschränkung auf das Nettoentgelt) Hefermehl, in: MünchKomm-InsO, § 55 Rn. 234, 237; befürwortend Zwanziger, Arbeitsrecht der Insolvenzordnung, § 108 InsO Rn. 141

Rechtsprechung bestätigt, nach welcher der durch den Antrag auf Insolvenzgeld bewirkte gesetzliche Anspruchsübergang – begrenzt auf die Höhe der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze – den Bruttolohnanspruch des Arbeitnehmers erfasst. Der Anspruchsübergang ist nach der Rechtsprechung des 5. Senats nicht auf den Nettolohnanspruch oder auf den Betrag des an den Arbeitnehmer zu zahlenden Insolvenzgelds beschränkt. Praxistipp: Unklar ist die Haltung des 8. Senats des BAG, der sich – obiter – im Urteil vom 20.6.2002 (– 8 AZR 459/01, BB 2003, 423) dahin geäußert hat, der Anspruchsübergang sei auf das Nettoentgelt beschränkt, weil die Bundesanstalt für Arbeit nur in dieser Höhe Insolvenzgeld zahle, (ebenso LAG Saarland, v. 1.2.2012 – 2 Sa 96/11, NZI 2012, 504 – dazu zusammenfassend Mückl, 1. Aufl., Rn. 936 ff.) ohne eine abweichende Auffassung zu erwähnen.

1. Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall arbeitete die Klägerin, eine Grenzgängerin, für die C- 1310 GmbH, über deren Vermögen am 1.12.2009 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Für die Monate September bis November 2009 beantragte sie Insolvenzgeld. Der beklagte Insolvenzverwalter wies in den Entgeltabrechnungen für die Monate September bis November 2009 fiktive Lohnsteuer aus. Die Klägerin verlangte nun klageweise die Zahlung dieser Steuern, da sie vor der Insolvenz ihr Nettogehalt ohne einen Steuerabzug ausgezahlt bekommen und als Grenzgängerin ihre Nettoeinkünfte in Frankreich zu versteuern habe. Das ArbG hat die Klage abgewiesen, das LAG ihr stattgegeben.

319

G. Steuer- und sozialversicherungsrechtliche Fragen

2. Wesentliche Überlegungen des BAG 1311 Das BAG hat auf die Revision des Beklagten die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass die Klägerin nicht aktiv legitimiert sei. Der streitgegenständliche Anspruch sei mit Stellung des Antrags auf Insolvenzgeld gemäß § 187 Satz 1 SGB III a. F. auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangen. Praxistipp: § 187 Satz 1 SGB III a. F. findet sich – mit identischem Wortlaut – heute unter § 169 Satz 1 SGB III.

1312 Der Anspruchsübergang erfasse – begrenzt auf die Höhe der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze – den Bruttolohnanspruch des Arbeitnehmers, sei also nicht auf den Nettolohnanspruch oder auf den Betrag des Insolvenzgelds beschränkt. 1313 Dies folge bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift, nach der die Ansprüche auf Arbeitsentgelt, „die einen Anspruch auf Insolvenzgeld begründen“, auf die Bundesagentur übergehen. Dabei handele es sich – anders als bei § 115 SGB X, bei dem der Anspruchsübergang auf die „Höhe der erbrachten Sozialleistungen“ beschränkt sei – um das Bruttoarbeitsgeld. 1314 Für diese Auslegung spreche auch der Sinn und Zweck der §§ 183 ff. SGB III a. F. Denn Insolvenzgeld werde wegen der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers gezahlt. Ginge man von einem auf das Nettoentgelt begrenzten Anspruchsübergang aus, hätte dies, verglichen mit der Situation außerhalb der Insolvenz, regelmäßig eine Besserstellung des Arbeitnehmers zur Folge: Er erhielte Insolvenzgeld, das nach § 3 Nr. 2 EStG nicht zu versteuern sei und lediglich dem Progressionsvorbehalt unterliege. Zudem behielte er einen Anspruch auf den auf den Bruttolohn entfallenden Steueranteil. Hierin läge nach der zutreffenden Bewertung des BAG aber ein Verstoß gegen den allgemeinen Grundsatz, das versicherte Interesse auf die Kompensation des Einkommensverlustes zu beschränken. 1315 Diese Auslegung des § 187 SGB III a. F. verstoße auch dann nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn man die Besonderheiten bei der Besteuerung von Grenzgängern berücksichtige. Denn Insolvenzgeld sei kein Arbeitslohn, sondern eine Leistung der Sozialversicherung, bei deren Gestaltung dem Gesetzgeber ein großer Spielraum zustehe. Dabei dürfe er sich grundsätzlich am Regelfall (hier: der im Inland steuerpflichtigen Arbeitnehmer) orientieren und typisieren, ohne in steuerlicher Hinsicht nach der individuellen Situation des einzelnen Arbeitnehmers differenzieren zu müssen. Dabei handele es sich bei diesen Unterschieden nicht um Ungleichheiten der zu ordnenden Lebenssachverhalte, die so bedeutsam wären, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsdenken orientierten Betrachtungsweise hätten beachtet werden müssen. 1316 Auch einen Verstoß von § 187 Satz 1 SGB III a. F. gegen Art. 45 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), wonach

320

II. Kein Insolvenzgeld für Arbeitnehmer ohne Arbeitserlaubnis

jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedsstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen verboten sei, lehnt das BAG mit überzeugender Begründung ab: Nicht § 187 Satz 1 SGB III a. F., sondern erst die gesetzlichen Regelungen zur Berechnung der Höhe des Insolvenzgeldes könnten zu Nachteilen für einzelne Arbeitnehmer führen. Ob diese gegen EU-Recht verstoßen, sei für die streitgegenständliche Frage des Umfangs des Anspruchsübergangs aber nicht entscheidungserheblich. 3. Bedeutung für die Sanierungs- und Insolvenzpraxis Der 5. Senat bestätigt seine Rechtsprechung zum Umfang des Anspruchs- 1317 übergangs bei Insolvenzgeldantrag. Vgl. grundlegend BAG, v. 11.2.1998 – 5 AZR 159/97, ZIP 1998, 868 = NZA 1998, 710, dazu EWiR 1998, 529 (Peters-Lange); zuletzt zuvor BAG, v. 22.8.2012 – 5 AZR 526/11, ZIP 2013, 86, dazu EWiR 2013, 105 (Fuhlrott).

Neu ist, dass er sie auch auf Grenzgänger uneingeschränkt anwendet. Das 1318 BSG, BSG, v. 20.6.2001 – B 11 AL 97/00 R, ZInsO 2002, 152 (LS), dazu EWiR 2002, 455 (Peters-Lange),

hatte dies für Grenzgänger bislang offengelassen. Ein Rechtsprechungswandel ist angesichts der ausführlichen Auseinandersetzung des Senats, insbesondere auch mit höherrangigem Recht, nicht zu erwarten. Konsequenz dieser Rechtsprechung ist, dass etwaige steuerliche Nachteile beim Arbeitnehmer verbleiben. II. Kein Insolvenzgeld für Arbeitnehmer ohne Arbeitserlaubnis Anspruch auf Insolvenzgeld haben nur Personen, die eine Beschäftigung i. S. d. 1319 § 25 SGB III, § 7 SGB IV ausgeübt haben, nicht aber selbstständige Subunternehmer. Nachweispflichtig dafür, dass eine Beschäftigung i. S. d. § 25 SGB III, § 7 SGB IV ausgeübt wurde, ist der Antragsteller. Dass die Anforderungen an einen derartigen Nachweis von der Rechtsprechung zurzeit relativ streng ausgestaltet werden, belegt das Urteil des LSG Bayern vom 6.8.2014 – L 10 AL 50/14, BeckRS 2014, 72708.

1. Sachverhalt des LSG Bayern Im entschiedenen Fall hatte der Kläger, ein bulgarischer Staatsangehöriger 1320 ohne Arbeitsgenehmigung für eine Tätigkeit in Deutschland, am 16.1.2012 die Zahlung von Insolvenzgeld beantragt. Zur Begründung führte er an, sein Arbeitgeber, bei dem er als Bauarbeiter beschäftigt gewesen sei, habe am „31.9.2011“ seine Betriebstätigkeit vollständig eingestellt. Zuvor habe er habe seit dem 15.6.2011 für den im September 2011 insolvent gewordenen Arbeit-

321

G. Steuer- und sozialversicherungsrechtliche Fragen

geber gearbeitet, der keine Betriebsstätte gehabt habe. Ein schriftlicher Vertrag existiere nicht. Im Juni 2011 habe er 138,5 Stunden und im Juli 2011 173,5 Stunden gearbeitet, wobei ein Mindestlohn nach dem Tarifvertrag für das Baugewerbe von 13,40 EUR/Stunde zugrunde zu legen sei. Für Verpflegung habe er lediglich EUR 130 netto erhalten. Der Arbeitgeber sei nicht auffindbar. Im Wege eines Versäumnisurteils habe er vor dem ArbG immerhin Forderungen für den Juni 2011 i. H. v. EUR 1.793,58 und für Juli 2011 i. H. v. EUR 2.255 durchgesetzt. Das Arbeitsverhältnis habe er zum 31.8.2011 gekündigt. 1321 Obwohl gegen den früheren Arbeitgeber ein Verfahren wegen des Vorenthaltens und Veruntreuung von Arbeitsentgelt lief, lehnte die beklagte Bundesagentur für Arbeit den Antrag mit der Begründung ab, ein Insolvenzereignis sei nicht feststellbar. Die Weigerung, Zahlungen zu erbringen, rechtfertige nicht die Annahme eines Insolvenzereignisses. Dagegen richtet sich die Klage, die das SG zurückgewiesen hat, sowie die – ebenfalls erfolglose – Berufung. 2. Wesentliche Überlegungen des LSG Bayern 1322 Nach § 183 SGB III a. F. (= § 165 SGB III) setzt ein Anspruch auf Insolvenzgeld kumulativ voraus, dass x

ein Insolvenzereignis nachgewiesen ist und

x

der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum als Arbeitnehmer beschäftigt war sowie

x

dass in diesem Zusammenhang die Zahlung von Arbeitsentgelt aus seinem Arbeitsverhältnis ausgeblieben ist.

1323 Vor diesem Hintergrund weist das LSG Bayern zu Recht darauf hin, der Kläger sei es, der diese Voraussetzungen nachzuweisen habe. Seine Behauptung, als Arbeitnehmer beschäftigt gewesen zu sein und nicht als selbstständiger Subunternehmer, reiche dazu nicht aus. Denn bereits auf Basis der Angaben des Klägers sei zweifelhaft, dass er mit Blick auf die streitgegenständliche Tätigkeit einen Arbeitsvertrag abgeschlossen habe. Schriftliche Unterlagen über den Abschluss und die Durchführung eines Arbeitsvertrags gebe es nicht. Vor dem ArbG habe der Kläger zudem vorgetragen, mit dem insolventen Arbeitgeber sei vereinbart worden, dass er – der Kläger – als Subunternehmer tätig werde. 1324 Die bereits daraus begründeten Zweifel werden nach der Bewertung des LSG Bayern durch den Umstand vertieft, dass der Kläger als bulgarischer Staatsangehöriger im streitgegenständlichen Zeitraum eine Arbeitsgenehmigung (gemäß § 284 SGB III a. F.) bedurft hätte, um als Arbeitnehmer auf dem deutschen Arbeitsmarkt tätig zu werden. Unstreitig verfügte der Kläger seinerzeit nicht über eine Arbeitsgenehmigung. Daraus schlussfolgert das LSG

322

III. Keine Insolvenzgeldumlage von Wohnungseigentümergemeinschaften

Bayern, dass offenbar weder der Kläger noch sein „Arbeitgeber“ den Abschluss eines Arbeitsvertrags gewollt hätten. Gegen den Abschluss eines Arbeitsvertrags spreche – so das LSG Bayern 1325 weiter – auch das Unterschreiten zwingender Bestimmungen zu Mindestarbeitsbedingungen. Der Kläger habe im Übrigen nichts vorgetragen, das eine zweifelsfreie Quali- 1326 fizierung der Tätigkeit als abhängige Beschäftigung zulasse. Er habe lediglich dargelegt, er sei nach Stunden bezahlt worden, er habe die täglich vorgegebenen Arbeitszeiten einhalten müssen und er habe in Bezug auf die Ausführung der Bauleistung den Weisungen unterlegen. Diese Umstände – als wahr unterstellt – seien allein jedoch nicht geeignet, zweifelsfrei einen Arbeitnehmerstatus des Klägers zu begründen. Denn auch die Tätigkeit eines selbstständigen Subunternehmers könne auf Honorarbasis als Stundenvergütung vereinbart sein. 3. Bedeutung für die Sanierungs- und Insolvenzpraxis Die Argumentation des LSG Bayern überzeugt in manchen Teilen, in ande- 1327 ren nicht. Sie zeigt jedenfalls für als „Sub-Unternehmer“ „getarnte“ Arbeitnehmer auf, dass derartige Konstruktionen nicht nur für den „Auftrageber“ wirtschaftlich sehr gefährlich sind. In Fällen dieser Art werden allerdings auch dem „Auftraggeber“ des Schein-Subunternehmers in der Praxis der Agentur für Arbeit zumeist massive Beitragsnachzahlungspflichten auferlegt, wenn Anzeichen für einen Umgehungstatbestand deutlich überwiegen. Die Strafgerichte verurteilen solche Auftraggeber auch häufig gemäß § 266a StGB. Ob sich das zur Auslegung herangezogene Argument, es fehle an einer Arbeitserlaubnis aufrechterhalten lässt, ist indes im Lichte der Feststellungen des EuGH in seinem Urteil vom 5.11.2014 – C-311/13, BeckRS 2014, 82309 – „O. Tümer//Raad van bestuur van het Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen“

zweifelhaft. Denn dort hat der EuGH entschiedne, die Richtlinie 80/987/ EWG stehe einer mitgliedstaatlichen Regelung über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers entgegen, wonach ein Drittstaatsangehöriger, der sich in dem betreffenden Mitgliedsstaat nicht rechtmäßig aufhält, nicht als Arbeitnehmer anzusehen ist, der Leistungen bei Insolvenz verlangen kann, obwohl er nach dem Zivilrecht dieses Mitgliedsstaates als Arbeitnehmer einzustufen ist, der Anspruch auf eine Vergütung hat, die bei den nationalen Gerichten gegen seinen Arbeitgeber eingeklagt werden kann. III. Keine Insolvenzgeldumlage von Wohnungseigentümergemeinschaften Wohnungseigentumsgemeinschaften können zur Zahlung einer Insolvenz- 1328 geld-Umlage für die von ihnen zur ordnungsmäßigen Instandhaltung und In323

G. Steuer- und sozialversicherungsrechtliche Fragen

standsetzung des gemeinschaftlichen Eigentums Beschäftigten (Hausmeister, Reinigungskräfte, usw.) nicht herangezogen werden. Das hat der 11. Senat des BSG in seinem Urteil vom 23.10.2014 – B 11 AL 6/14 R, n. v. (Pressemitteilung)

klargestellt und damit die Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt. 1329 Hintergrund für diese Bewertung durch das BSG ist, dass Wohnungseigentümergemeinschaften im Rahmen der Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums zwar Arbeitgeber von Beschäftigten (Hausmeistern oder Reinigungskräften usw.) und dementsprechend u. a. zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen verpflichtet sein können. Zur Zahlung der Insolvenzgeld-Umlage können sie aber gleichwohl deshalb nicht herangezogen werden, weil es nach § 11 Abs. 3 WEG gesetzlich ausgeschlossen ist, dass über das Verwaltungsvermögen von Wohnungseigentümergemeinschaften ein Insolvenzverfahren stattfindet. Demzufolge kann auch kein Insolvenzereignis verbunden mit Ansprüchen auf Zahlung von Insolvenzgeld an Beschäftigte eintreten. Die Zahlung einer Insolvenzgeld-Umlage könnte daher ihren sozialversicherungsrechtlichen Zweck nie erfüllen. Insoweit sieht der Senat eine ungewollte Regelungslücke darin, dass Wohnungseigentümergemeinschaften in der Vorschrift des § 358 Abs. 1 Satz 2 SGB III, welche die nicht umlagepflichtigen Körperschaften des öffentlichen Recht aufzählt, nicht erwähnt sind. Er schließt diese Regelungslücke, indem er auch Wohnungseigentümergemeinschaften als von der Insolvenzumlagepflicht ausgenommen ansieht. Praxistipp: Die von einer Wohnungseigentümergemeinschaft im Rahmen der Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums Beschäftigten (Hausmeister, Reinigungskräfte etc.) werden dadurch aber nicht schutzlos gestellt: Zum Ausgleich dafür, dass Wohnungseigentümergemeinschaften als solche nicht insolvent werden können, hat der Gesetzgeber den Gläubigern der Wohnungseigentümergemeinschaft einen anteiligen Haftungsanspruch gegen jeden einzelnen Wohnungseigentümer eingeräumt. Dieser führt in Fällen wie dem vorliegenden im Ergebnis zu einem Entlohnungsanspruch der Beschäftigten gegen jeden der Wohnungseigentümer.

324

H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen Kurzinhalt: Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses zur Vermeidung der Zwangsvollstreckung (Rn. 1330 ff.); Geltendmachung eines zur Insolvenzmasse gehörenden Rechts im eigenen Namen (Rn. 1369 ff.); Rechtsschutzbedürfnis für Zahlungsklage aus beendetem Arbeitsverhältnis nach Durchführung eines Insolvenzverfahrens (Rn. 1383 ff.); Ausschluss nicht angemeldeter Forderungen durch rechtskräftig bestätigten Insolvenzplan (Rn. 1395 ff.); Akteneinsichtsrecht Insolvenzverwalter (Rn. 1423); Darlegungs- und Beweislast für Insolvenzverschleppung bei Haftung von GmbH-Geschäftsführern (Rn. 1424 ff.); Arbeitnehmereigenschaft eines GmbH-Geschäftsführers nach Abberufung (Rn. 1439 ff.)

I. Aktuelles zur Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses zur Vermeidung der Zwangsvollstreckung Im Zusammenhang mit der Beendigung von Arbeitsverhältnissen werden in 1330 der betrieblichen Praxis immer wieder echte oder vermeintliche Fehler gemacht werden, die zur (vermeintlichen) Unwirksamkeit der Kündigung führen. Gleiches gilt bei befristeten Arbeitsverhältnissen mit Blick auf eine wirksame Befristung. Ist die Kündigung oder Befristung unwirksam, muss der Arbeitgeber das Arbeitsentgelt nachzahlen, das er in der Annahme nicht gezahlt hat, das Arbeitsverhältnis sei wirksam beendet, den „Annahmeverzugslohn“. Dieses Risiko ist zumeist der wesentliche wirtschaftliche Grund dafür, dass in Kündigungsschutz- und Entfristungsprozessen im Vergleichswege Abfindungen gezahlt werden, obwohl keine entsprechende Verpflichtung aus einem Sozialplan besteht. Für Unternehmen stellt sich daher regelmäßig die Frage, wie dieses Risiko 1331 minimiert werden kann. Ein häufiger empfohlenes Mittel dazu ist die sog. Prozessbeschäftigung. Sie ist in zwei Konstellationen denkbar: x

entweder als gerichtlich erzwungene Prozessbeschäftigung zur Vermeidung der Zwangsvollstreckung aus einem erstinstanzlichen Weiterbeschäftigungsurteil oder

x

aufgrund der (freiwilligen) Vereinbarung einer vorläufigen Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutz- bzw. Entfristungsprozesses.

Insbesondere im letztgenannten Fall müssen zahlreiche Klippen umschifft 1332 werden, damit die Prozessbeschäftigung nicht mehr Nach- als Vorteile mit sich bringt. 1. Abgrenzungsfragen Ob ein Prozessarbeitsverhältnis auf einem freiwilligen Angebot des Arbeits- 1333 gebers basiert oder eine faktische Prozessbeschäftigung vorliegt, ist durch Auslegung zu ermitteln: 325

H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen LAG Schleswig-Holstein, v. 29.9.2011 – 5 Sa 155/11, LAGE § 14 TzBfG Nr. 66a.

x

Erfolgt die Prozessbeschäftigung lediglich zur Abwendung der Zwangsvollstreckung, liegt kein Vertragsverhältnis vor. BAG, v. 8.4.2014 – 9 AZR 856/11, n. v.; BAG, v. 24.9.2003 – 5 AZR 500/02, BB 2003, 2688.

x

Beschränkt sich die Weiterbeschäftigung dagegen gerade nicht auf die Abwehr von Vollstreckungsmaßnahmen, sondern wird dem Arbeitnehmer aus der Sicht eines objektiven Dritten in der Position des Arbeitnehmers (sog. „Empfängerhorizont“) ein Arbeitsvertrag, längstens befristet bis zum rechtskräftigen Abschluss des Entfristungs- bzw. Kündigungsrechtsstreits, angeboten, ist das ein Indiz für ein vertragliches Prozessarbeitsverhältnis. Praxistipp: Erst recht von einem vertraglichen (freiwilligen) Prozessarbeitsverhältnis ist auszugehen, wenn die Weiterbeschäftigung nach einem klageabweisenden erstinstanzlichen Urteil erfolgt. Gleiches gilt, wenn das die Weiterbeschäftigungspflicht aussprechende Urteil aufgehoben wird und die Parteien dennoch die Beschäftigung fortsetzen. Dann schließen sie nach der Rechtsprechung des BAG regelmäßig konkludent einen Arbeitsvertrag, da das faktische Beschäftigungsverhältnis als Grundlage für die Beschäftigung entfällt. Dieser Arbeitsvertrag ist unbefristet, wenn die Voraussetzungen des TzBfG nicht eingehalten werden (BAG, v. 8.4.2014 – 9 AZR 856/11, n. v.).

1334 Von der Formulierung des Beschäftigungsangebots hängt ab, ob die Beschäftigung befristet (§ 14 TzBfG) oder auflösend bedingt (§ 21 TzBfG) erfolgen soll. BAG, v. 19.1.2005 – 7 AZR 113/04, EzBAT § 53 BAT Beschäftigung Nr. 13.

1335 Dass die Rechtsprechung im Zweifel relativ schnell zu einem konkludenten Vertragsschluss tendiert, hat das Urteil des BAG vom 8.4.2014 – 9 AZR 856/11, n. v.

noch einmal deutlich gemacht. a) Sachverhalt des BAG 1336 Im entschiedenen Fall stritten Arbeitgeber und Arbeitnehmer zunächst in einem Vorprozess über einen Befristungskontrollantrag des Arbeitnehmers. Das ArbG gab diesem statt und verpflichtete den Arbeitgeber zur vorläufigen Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers. Daraufhin verlangte der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber unter Bezugnahme auf und unter Androhung der Zwangsvollstreckung aus dem Urteil Weiterbeschäftigung „bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits“. Der Arbeitgeber forderte ihn auf, „seine Arbeitsverpflichtung […] bis zum rechtskräftigen Abschluss des 326

I. Aktuelles zur Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses

Rechtsstreits aufzunehmen.“ Dem kam der Arbeitnehmer ab dem 7.1.2009 nach. Auf die Berufung des Arbeitgebers hin hob das LAG am 26.3.2009 das Urteil des ArbG auf und wies die Klage ab. Dennoch wurde der Arbeitnehmer bis zum Tag nach der Zurückweisung der Revision des Arbeitnehmers (7.10.2010) weiter beschäftigt. b) Wesentliche Überlegungen des BAG Nach der Bewertung des BAG war durch die weitere Beschäftigung nach der 1337 Aufhebung des die Weiterbeschäftigungspflicht aussprechenden Urteils ab dem 27.3.2009 konkludent ein neues Arbeitsverhältnis begründet worden. Zwar sei die Weiterbeschäftigung nach dem Urteil der 1. Instanz zunächst 1338 erfolgt, um die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil abzuwenden. Eine auf Abschluss eines Arbeitsvertrages gerichtete Willenserklärung des Arbeitgebers scheide insoweit aus. Es handele sich vielmehr um ein rein faktisches Beschäftigungsverhältnis. Mit der Aufhebung des zur Weiterbeschäftigung verpflichtenden Urteils sei dann aber das durch die Androhung der Zwangsvollstreckung erzwungene faktische Beschäftigungsverhältnis entfallen. Vor diesem Hintergrund könne Grundlage für die Beschäftigung habe in der Zeit danach nur ein Arbeitsvertrag sein. Dies habe auch im Interesse des Arbeitnehmers gelegen. Sämtliche Umstände insoweit relevanten Umstände, insbesondere die Interessenlage, seien für den Arbeitgeber auch erkennbar gewesen. Der auf diesem Wege zustande gekommene Arbeitsvertrag sei unbefristet, da 1339 eine mögliche Befristung jedenfalls nicht schriftlich erfolgt sei (§ 14 Abs. 4 TzBfG). Die Klagefrist des § 17 TzBfG sei eingehalten, da die Auslegung ergebe, dass mit dem allgemeinen Feststellungsantrag gleichzeitig eine Befristungskontrollklage erhoben worden sei. Praxistipp: Nicht eindeutig geklärt hat das BAG, ob es einen Sachgrund für diese „Prozessbefristung“ gibt, was – wie das Urteil immerhin nahelegt – der Fall sein dürfte (vgl. näher z. B. BeckOKArbR/Bayreuther, TzBfG § 14 Rn. 81).

2. Rückforderung von Bezügen durch den Arbeitgeber bei faktischer Prozessbeschäftigung? Wird der Arbeitgeber verurteilt, einen Arbeitnehmer bis zum rechtskräftigen 1340 Abschluss des Kündigungsschutzprozesses weiter zu beschäftigen, so bewirkt diese Verurteilung nicht, dass das gekündigte Arbeitsverhältnis auflösend bedingt durch die rechtskräftige Entscheidung über die Kündigungsschutzklage fortbesteht. BAG, v. 24.9.2003 – 5 AZR 500/02, NZA 2004, 90.

Denn das ideelle Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers während des 1341 Kündigungsrechtsstreits erfordert nur die tatsächliche Beschäftigung, nicht

327

H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen

aber den Fortbestand des wirksam gekündigten Arbeitsverhältnisses. Wird der Arbeitnehmer eines entsprechenden arbeitsgerichtlichen Urteils weiterhin tatsächlich beschäftigt, wird der Leistungsaustausch, der während der Prozessbeschäftigung erfolgt, nach den Grundsätzen der ungerechtfertigten Bereicherung behandelt, weil für die beiderseitigen Pflichten kein Rechtsgrund bestanden hat. Da der Arbeitgeber eine erhaltene Arbeitsleistung nicht herausgeben kann, schuldet er Wertersatz nach § 818 Abs. 2 BGB. Vgl. bereits BAG, v. 1.3.1990 – 6 AZR 649/88, NZA 1990, 696.

1342 Eine Rückabwicklung findet dementsprechend jedenfalls bei in Vollzug gesetzter Prozessbeschäftigung regelmäßig nicht statt. 1343 Die Frage, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer immerhin dann nach § 717 Abs. 2 ZPO auf Rückzahlung der für die Dauer der Freistellung gezahlten Bezüge in Anspruch nehmen kann, wenn der Arbeitnehmer ausschließlich zur Abwendung der Zwangsvollstreckung von der Erbringung der Arbeitsleistung unter Fortzahlung der Vergütung freigestellt worden ist und das Berufungsgericht (LAG) die Kündigungsschutzklage abgewiesen hat, hat das BAG in seinem Urteil vom 20.3.2014 – 8 AZR 269/13, 8 AZR 560/13, EzA § 717 ZPO 2002 Nr. 3

entschieden. a) Sachverhalt des BAG 1344 Der auf entsprechende Rückzahlung in Anspruch genommene beklagte Arbeitnehmer hatte erreicht, dass eine ordentliche Kündigung der Klägerin (der früheren Arbeitgeberin) für unwirksam erklärt und die Klägerin verurteilt worden war, den Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses weiter zu beschäftigen. 1345 Nachdem der Beklagte mit Schreiben vom 14.6.2010 erfolglos seine Arbeitsleistung angeboten hatte, ließ er mit Anwaltsschreiben vom 7.7.2010 mitteilen: „Mein Mandant ist gegenwärtig ausschließlich an einer Fortführung des Beschäftigungsverhältnisses gelegen. … Im Rahmen des titulierten Weiterbeschäftigungsanspruches fordere ich Sie auf, Herrn B bis zum 15.7.2010 Ort und Zeit einer Tätigkeitsaufnahme zuzuweisen, in jedem Fall ihn auch rückwirkend seit Verkündung des Urteils vom 8.6.2010 in den Gehaltslauf aufzunehmen. … Soweit Sie eine Freistellung vornehmen wollen, bitte ich um Bestätigung, daß die Zahlung der Vergütung ab diesem Zeitpunkt hiervon nicht berührt würde.“

1346 Im Anwaltsschreiben der Klägerin vom 26.7.2010 heißt es: „Die Sparkasse hat bislang keine Einsatzmöglichkeit für Ihren Mandanten gefunden.

328

I. Aktuelles zur Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses Die Sparkasse wird jedoch, ausschließlich zur Abwendung der Zwangsvollstreckung, Ihren Mandanten bis auf Weiteres von der Erbringung der Arbeitsleistung unter Fortzahlung der Vergütung freistellen.“

Das Anwaltsschreiben des Beklagten vom 18.8.2010 lautet u. a.:

1347

„Entgegen unserer Aufforderung vom 7.7.2010 und Ihrer Ankündigung vom 26.7.2010 wurde Herr B bisher nicht in die Vergütungsabrechnung mit aufgenommen. Vor diesem Hintergrund haben wir nunmehr eine vollstreckbare Ausfertigung des Urteils abgefordert. Wir fordern Sie letztmalig auf, Ihre Mandantschaft zur angekündigten Abrechnung und Zahlung der Vergütung seit Verkündungstermin zu veranlassen. Ansonsten müsste die Vollstreckung nach § 888 ZPO erfolgen.“

Mit Anwaltsschreiben vom 20.8.2010 ließ die Klägerin mitteilen:

1348

„… habe ich Rücksprache mit der beklagten Sparkasse genommen. Dort wurde mir versichert, dass Ihr Mandant mit der Zusage … der bezahlten Freistellung ab dem 1.8.2010 in den Lohnlauf der Sparkasse mit aufgenommen wurde.“

Für die Monate August bis November 2010 erteilte die Klägerin dem Beklagten 1349 jeweils Entgeltabrechnungen und zahlte ihm die darin ausgewiesenen Nettobeträge. Nachdem das LAG Sachsen unter Abänderung der arbeitsgerichtlichen Ent- 1350 scheidung die Klage insgesamt rechtskräftig abgewiesen hatte, beanspruchte die Klägerin aus § 717 Abs. 2 ZPO die Rückzahlung der geleisteten Vergütung für die Dauer der Freistellung in Höhe von EUR 27.543,73. b) Wesentliche Überlegungen des BAG Das BAG hat die Klage – anders als weitgehend die Vorinstanz,

1351

LAG Sachsen, v. 11.1.2013 – 3 Sa 380/12, n. v. –

als unbegründet abgewiesen. Denn die Klägerin könne den Zahlungsanspruch nicht aus § 717 Abs. 2 Satz 1 ZPO herleiten. Nach dieser Vorschrift ist der Kläger, wenn ein für vorläufig vollstreckbar erklärtes Urteil aufgehoben oder abgeändert wird, zum Ersatz desjenigen Schadens verpflichtet, der dem Beklagten durch die Vollstreckung des Urteils oder durch eine zur Abwendung der Vollstreckung gemachte Leistung entstanden ist. Da die vorläufige Vollstreckbarkeit stets auflösend bedingt ist und außer Kraft tritt, wenn das zu vollstreckende Urteil in der Hauptsache infolge eines Rechtsmittels aufgehoben oder abgeändert wird, will § 717 Abs. 2 Satz 1 ZPO dem vollstreckenden Gläubiger im Sinne einer Gefährdungshaftung das Risiko auferlegen, wenn er vor Rechtskraft der Entscheidung die Vollstreckung betreibt. Der Gläubiger handelt dann grundsätzlich auf eigene Gefahr. Leistet der Vollstreckungsschuldner zur Abwendung einer drohenden Zwangsvollstreckung, räumt ihm § 717 Abs. 2 Satz 1 ZPO einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Schadensersatz ein, dessen Umfang sich nach den §§ 249 ff. BGB richtet. Der Vollstreckungsgläubiger hat danach den Zustand herzustellen, der ohne die Vollstreckung bestehen würde. 329

H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen

1352 Im entschiedenen Fall hatte die nunmehrige Klägerin als damalige Vollstreckungsschuldnerin allerdings lediglich vereinbart, den Beklagten „ausschließlich zur Abwendung der Zwangsvollstreckung, […] bis auf Weiteres von der Erbringung der Arbeitsleistung unter Fortzahlung der Vergütung frei[zu]stellen“.

1353 Nicht vereinbart war damit nach der Bewertung des BAG eine Abwendung der drohenden Zwangsvollstreckung auf tatsächliche Beschäftigung i. S. v. § 717 Abs. 2 Satz 1 ZPO. Denn die von der Klägerin erbrachte Entgeltfortzahlung für den Zeitraum der Freistellung sei von vornherein ungeeignet gewesen, die Zwangsvollstreckung wegen des Weiterbeschäftigungsanspruchs abzuwenden. Der Titel war auf Weiterbeschäftigung und nicht auf Zahlung gerichtet, so dass trotz Zahlung der Vergütung die Vollstreckung auf Weiterbeschäftigung hätte betrieben werden können. 1354 Überdies war zusätzlich zu bedenken, dass die Parteien allenfalls eine vollstreckungsbeschränkende Vereinbarung abgeschlossen haben und die Zahlung der Klägerin aufgrund dieser Vereinbarung vorgenommen worden ist und damit nicht unter der Voraussetzung des § 717 Abs. 2 Satz 1 ZPO, sodass sich – angesichts der Vereinbarung als gesondertem Rechtsgrund – jedenfalls kein Rückforderungsanspruch aus § 717 Abs. 2 ZPO ergab. c) Bedeutung für die betriebliche Praxis 1355 Die Entscheidung des BAG macht noch einmal deutlich, dass arbeitgeberseitig möglichst bereits im Erkenntnisverfahren geltend gemacht werden muss, dass keine Möglichkeit besteht, den Arbeitnehmer über die Kündigungsfrist hinaus tatsächlich beschäftigen zu können. Dies ist der sicherste Weg, eine Verurteilung zur Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Prozesses vermeiden. 1356 Als ungeeignet erweist sich demgegenüber häufig die Alternative, mit der Einlegung der Berufung beim Landesarbeitsgericht gemäß § 719 und § 707 ZPO i. V. m. § 62 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 ArbGG die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung zu erreichen, weil geltend gemacht werden muss, dass die Zwangsvollstreckung zu einem nicht zu ersetzenden Nachteil führt. BAG, v. 15.4.2009 – 3 AZB 93/08, NZA 2009, 917. Praxistipp: Als solcher Nachteil kommt vor allem eine durch die Vollstreckung drohende Insolvenz oder sonstige erhebliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Betracht. Dies gilt vor allem dann, wenn Massenentlassungen in Rede stehen und eine Zwangsvollstreckung einer Vielzahl von geltend gemachten Weiterbeschäftigungsansprüchen eine Insolvenz des kündigenden Arbeitgebers bewirken würde.

330

I. Aktuelles zur Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses

3. Wann macht ein vertragliches (freiwilliges) Prozessarbeitsverhältnis Sinn? Das freiwillige Prozessarbeitsverhältnis hat den Zweck, dass Annahmeverzugs- 1357 lohnrisiko für den Arbeitgeber zu minimieren. Weist der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nämlich unter Hinweis auf eine unwirksame Kündigung oder Befristung des Arbeitsverhältnisses tatsächlich keine Arbeit zu, gerät er hierdurch in Annahmeverzug (§ 615 BGB). Das bedeutet, dass der Mitarbeiter, weil ihm keine Arbeit zugewiesen wird, zwar nicht arbeiten muss, aber einen Anspruch auf die geschuldete Vergütung hat. Das Gesetz stellt den Arbeitgeber insoweit indes nicht schutzlos. Denn nach 1358 § 615 Satz 2 BGB verliert der Arbeitnehmer seinen Annahmeverzugslohnanspruch, wenn er ein zumutbares vertragliches Angebot zur Weiterbeschäftigung nicht annimmt. Die Ablehnung dieses Angebots ist ein böswilliges Unterlassen i. S. d. § 615 Satz 2 Alt. 3 BGB. Die Zumutbarkeit des Weiterbeschäftigungsangebots hängt in der betrieblichen 1359 Praxis vom Kündigungsgrund und den Umständen des Einzelfalls ab: x

Bei einer personen- oder betriebsbedingten Kündigung ist dem Arbeitnehmer eine Weiterbeschäftigung regelmäßig zumutbar. BAG, v. 14.11.1985 – 2 AZR 98/84, ZIP 1986, 1345, dazu EWiR 1986, 1093 (Schwerdtner).

x

Bei einer (ordentlichen) verhaltensbedingten Kündigung ist eine Interessenabwägung vorzunehmen: Macht der Arbeitnehmer selbst einen Weiterbeschäftigungsanspruch geltend, ist ihm ein Prozessarbeitsverhältnis regelmäßig zumutbar. Umgekehrt können das Ansehen des Arbeitnehmers bzw. schwere Vorwürfe – insbesondere bei außerordentlicher Kündigung – dazu führen, dass eine Weiterbeschäftigung unzumutbar ist (BAG, v. 24.9.2003 – 5 AZR 500/02, NZA 2004, 90). Dann macht ein Weiterbeschäftigungsangebot zur Vermeidung von Annahmeverzugslohnansprüchen keinen Sinn. Praxistipp: Wichtig – auch im Rahmen von Änderungskündigungsschutzprozessen – ist darüber hinaus, dass nach der Rechtsprechung des BAG auch das Angebot einer Prozessbeschäftigung zu geänderten Bedingungen wirksam sein kann – und zwar bereits während des Laufs der Kündigungsfrist (BAG, v. 7.7.2007 – 5 AZR 422/06, BB 2007, 1059).

Unternehmen müssen bei der Entscheidung für eine Prozessbeschäftigung 1360 im Übrigen stets beachten, dass eine Prozessbeschäftigung eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit und deren Zumutbarkeit suggeriert. Das kann es bei betriebsbedingten Kündigungen schwierig machen, den Wegfall des Arbeitsplatzes zu begründen. Bei einer Entfristungsklage ist maßgeblich, aus welchem Grund sie erhoben wurde. Hat das Unternehmen die Befristung mit einem

331

H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen

vorübergehenden Arbeitsanfall begründet, gefährdet ein Prozessarbeitsverhältnis diese Begründung ebenfalls. 1361 Wenn der Mitarbeiter endgültig ausscheiden soll, ist eine Prozessbeschäftigung nach dem Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung (bzw. bei Befristung unter Hinweis auf vorübergehenden Arbeitsanfall) auch dann nicht sinnvoll, wenn dem Arbeitnehmer eine Tätigkeit angeboten werden kann, die zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung (bzw. der Befristung) weder vorhanden noch absehbar war. Denn hier kann eine Prozessbeschäftigung vom Mitarbeiter genutzt werden, um einen Wiedereinstellungsanspruch zu begründen. 1362 Ähnliches gilt bei verhaltensbedingten Kündigungen. Unternehmen müssen insbesondere darauf achten, dass sie mit dem Angebot auf Prozessbeschäftigung ihrem Prozessvortrag nicht widersprechen, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei unzumutbar. 1363 Unproblematisch sinnvoll ist im Fall eines Betriebsübergangs (§ 613a BGB) aus Sicht des Betriebsveräußerers das Angebot einer Prozessbeschäftigung durch den Betriebserwerber (bzw. – im Wege der Arbeitnehmerüberlassung – durch den Betriebsveräußerer beim -erwerber), wenn der Arbeitnehmer dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses widerspricht. BAG, v. 9.9.2010 – 2 AZR 582/09, ZTR 2011, 113.

4. Wirksamkeitsvoraussetzungen einer befristeten vertraglichen Prozessbeschäftigung 1364 Die Abgrenzung zwischen faktischer Prozessbeschäftigung und vertraglichem (freiwilligen) Prozessarbeitsverhältnis ist vor allem wichtig, weil das Prozessarbeitsverhältnis – wie vorstehend unter Rn. 1137 ff. gezeigt – wirksam befristet oder bedingt werden muss, damit es nicht über das Ende des Kündigungsschutz- bzw. Entfristungsprozesses hinaus andauert. Sonst wäre der mit der Kündigung bzw. Befristung erzielte Erfolg dahin. Für die Wirksamkeit der erforderlichen Befristung bzw. Bedingung ist das TzBfG maßgeblich. a) Schriftform 1365 Die Vereinbarung über die befristete (bzw. bedingte) Prozessbeschäftigung muss nach § 14 Abs. 4 TzBfG (i. V. m. § 21 TzBfG) schriftlich (§ 126 BGB) erfolgen, um wirksam zu sein. Der schriftliche Vertrag muss vorliegen, bevor der Mitarbeiter die Arbeit tatsächlich aufnimmt. Sonst ist die Befristung bzw. Bedingung unwirksam. b) Sachgrund 1366 Darüber hinaus muss, damit die Befristung (bzw. Bedingung) wirksam ist, ein Sachgrund i. S. d. § 14 Abs. 1 TzBfG vorliegen. In der Rechtsprechung

332

II. Geltendmachung eines zur Insolvenzmasse gehörenden Rechts im eigenen Namen

wird überwiegend angenommen, dass der Abschluss eines befristeten Prozessarbeitsverhältnisses zur Vermeidung von Annahmeverzugslohn auf einem Sachgrund beruht, der den in § 14 Abs. 1 TzBfG gleichwertig ist. LAG Köln, v. 5.4.2012 – 13 Sa 1360/11, AE 2013, 20 (LS).

Durch das BAG entschieden ist das – wie vorstehend (Rn. 1137 ff.) dargelegt – 1367 aber noch nicht. Rechtssicher wäre insoweit, einen Prozessteilvergleich über die Prozessbeschäftigung abzuschließen (§ 14 Abs. 1 Nr. 8 TzBfG). Praxistipp: Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Arbeitnehmer den endgültigen Verzicht des Arbeitgebers auf die Wirkungen der Kündigung oder Befristung nicht zur Bedingung der Prozessbeschäftigung machen kann (BAG, v. 13.7.2005 – 5 AZR 578/04, BB 2006, 50).

5. Fazit Eine (freiwillige) Prozessbeschäftigung kann sinnvoll sein, um das Annahme- 1368 verzugsrisiko zu minimieren, zumal der Arbeitgeber sehr häufig nicht die ursprünglichen Arbeitsbedingungen anbieten muss. Als „Bumerang“ erweist sich eine Prozessbeschäftigung aber, wenn sie die Kündigungs- oder Befristungsgründe konterkariert bzw. Wiedereinstellungsansprüche begründen hilft. Schon deshalb sollte stets sorgfältig geprüft werden, ob sie im Einzelfall sinnvoll ist. Entscheidet sich das Unternehmen für eine Prozessbeschäftigung, muss sichergestellt werden, dass die Vorgaben des TzBfG eingehalten werden. II. Geltendmachung eines zur Insolvenzmasse gehörenden Rechts im eigenen Namen In seinem Urteil vom. 19.2.2014

1369

– 5 AZR 1047/12, NZA 2014, 915

hat das BAG nicht nur die Anforderungen an die Berechnung des sog. equalpay-Anspruchs eines Leiharbeitnehmers präzisiert, vgl. dazu unter Rn. 809 ff.,

sondern auch gekennzeichnet, unter welchen Bedingungen der Insolvenzschuldner berechtigt ist, prozessual ein zur Masse gehörendes Recht im eigenen Namen geltend zu machen, d. h. unter welchen Umständen der Schuldner insoweit prozessführungsbefugt ist. 1. Sachverhalt des BAG Im entschiedenen Fall ging, als am 22.6.2006 das Verbraucherinsolvenzver- 1370 fahren über das Vermögen des Klägers eröffnet wurde, die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen des Klägers auf die Treuhänderin über (§ 80 Abs. 1, § 304 Abs. 1 Satz 1, § 313

333

H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen

Abs. 1 Satz 1 InsO). Zur Insolvenzmasse gehört gemäß §§ 35, 36 Abs. 1 Satz 2 InsO das nach den §§ 850 ff. ZPO pfändbare Arbeitseinkommen. Vgl. BAG, v. 20.6.2013 – 6 AZR 789/11, ZVI 2013, 433 = ZInsO 2013, 1806 und dazu Mückl, 1. Aufl., Rn. 362 ff.

1371 Mit dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellte der Kläger, wie sich aus einem Schreiben der Treuhänderin vom 14.9.2012 ergibt, auch einen Antrag auf Restschuldbefreiung (§ 305 Abs. 1 Nr. 2 InsO) und trat demgemäß seine pfändbaren Forderungen auf Bezüge aus einem Dienstverhältnis für die Dauer von sechs Jahren nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens an die Treuhänderin ab (vgl. § 287 Abs. 2 Satz 1 InsO). Der Umfang dieser Abtretung, die gemäß § 313 Abs. 1 Satz 2, § 291 Abs. 2 InsO mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens wirksam wurde, bestimmt sich nach den Pfändungsschutzbestimmungen der ZPO (§ 292 Abs. 1 Satz 3 InsO). Vgl. BAG, v. 20.6.2013 – 6 AZR 789/11, ZVI 2013, 433 = ZInsO 2013, 1806 und dazu Mückl, 1. Aufl., Rn. 362 ff.

1372 Die Treuhänderin erklärte mit Schreiben vom 14.9.2012 in Bezug auf die von dem Kläger geltend gemachten equal-pay-Ansprüche: „Es bestehen seitens der Unterzeichnerin keine Bedenken, dass die Ansprüche in den Verfahren 6 Sa 1063/11 und 6 Sa 113/12 weiterhin durch Herrn V im eigenen Namen geltend gemacht werden. Bei beiden Verfahren handelt es sich zwar um Lohnansprüche aus Zeiträumen, die grundsätzlich in die Laufzeit der Abtretungserklärung des § 286 InsO fallen (Ende der Laufzeit ab der Abtretungserklärung ist bekanntlich erst der 8.3.2012). Da zugunsten der Insolvenzmasse allerdings lediglich etwaige sich aus den Nachzahlungen ergebende Pfändungsbeträge beansprucht werden können, ist die Unterzeichnerin damit einverstanden, dass die Ansprüche in Gänze durch Herrn V im eigenen Namen geltend gemacht werden und er insoweit auch Zahlung an sich selbst verlangen kann.“

2. Wesentliche Überlegungen des BAG 1373 Ausgehend von diesem Sachverhalt ist der Kläger nach der Bewertung des BAG trotz des über sein Vermögen eröffneten Insolvenzverfahrens hinsichtlich der gesamten Klageforderung prozessführungsbefugt. 1374 Die Prozessführungsbefugnis ist das Recht, einen Prozess als die richtige Partei im eigenen Namen zu führen. Sie ist als Prozessvoraussetzung in jeder Lage des Verfahrens, auch in der Revisionsinstanz, von Amts wegen zu prüfen. BAG, v. 1.9.2010 – 5 AZR 700/09, BAGE 135, 255 = ZIP 2011, 140, dazu EWiR 2011, 61 (Fuhlrott); BGH, v. 7.7.2008 – II ZR 26/07, ZIP 2008, 2094.

334

II. Geltendmachung eines zur Insolvenzmasse gehörenden Rechts im eigenen Namen

Im Fall einer Insolvenzeröffnung über das Vermögen des Arbeitnehmers dif- 1375 ferenziert das BAG insoweit zutreffend zwischen unpfändbarem und pfändbarem Arbeitseinkommen: x

Soweit es sich bei der Klageforderung um unpfändbares Arbeitseinkommen handelt, ist der Kläger prozessführungsbefugt, weil er insoweit mit der Klage ein behauptetes eigenes Recht geltend macht.

x

Soweit die Klageforderung pfändbares Arbeitseinkommen betrifft, macht der Kläger kein eigenes, sondern ein behauptetes fremdes Recht geltend.

Letzteres ist prozessual nur zulässig, wenn die Voraussetzungen der gewill- 1376 kürten Prozessstandschaft vorliegen. Dies setzt neben der wirksamen Ermächtigung durch den Berechtigten ein eigenes schutzwürdiges Interesse des Klägers voraus. Praxistipp: Wirksamkeit und Bestand einer Prozessführungsermächtigung richten sich nach dem materiellen Recht. Die Prozessführungsermächtigung kann nach Klageerhebung erteilt werden und wirkt bei offengelegter Prozessstandschaft auf den Zeitpunkt der Klageerhebung zurück. Ein eigenes rechtsschutzwürdiges Interesse liegt vor, wenn die Entscheidung des Prozesses die eigene Rechtslage des Prozessführenden günstig beeinflusst (vgl. bereits BAG, v. 23.9.2009 – 5 AZR 518/08, NZA 2010, 781).

Für den Insolvenzschuldner – soweit es sich um eine natürliche Person han- 1377 delt – trifft das BAG insoweit die folgenden Klarstellungen: Eine natürliche Person, über deren Vermögen das Insolvenzverfahren eröff- 1378 net worden ist, habe regelmäßig ein schutzwürdiges Eigeninteresse daran, ein zur Insolvenzmasse gehörendes Recht im eigenen Namen geltend zu machen und so ihre Verbindlichkeiten zu tilgen. Insoweit schließt sich das BAG der einschlägigen Rechtsprechung des BGH an. Vgl. BGH, v. 19.3.1987 – III ZR 2/86, BGHZ 100, 217 = ZIP 1987, 793, dazu EWiR 1987, 725 (Marotzke); BGH, v. 11.3.1999 – III ZR 205/97, NJW 1999, 1717.

Das gelte – so das BAG in Übereinstimmung mit dem BGH weiter – nicht 1379 nur, wenn der Insolvenzschuldner nach § 80 Abs. 1 InsO lediglich die Verfügungsbefugnis verloren hat und daher nach wie vor Inhaber der betreffenden Ansprüche ist, vgl. BGH, v. 19.3.1987 – III ZR 2/86, BGHZ 100, 217 = ZIP 1987, 793,

sondern auch, wenn er zusätzlich Restschuldbefreiung beantragt und daher wegen Abtretung der pfändbaren Dienstbezüge (§ 287 Abs. 2 InsO) nicht mehr Inhaber der betreffenden Forderungen ist. Vgl. zum Eigeninteresse bei der Geltendmachung abgetretener Forderungen: BGH, v. 11.3.1999 – III ZR 205/97, NJW 1999, 1717.

335

H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen

1380 Auch die Möglichkeit der Restschuldbefreiung nach §§ 286 ff. InsO lasse das Eigeninteresse des Insolvenzschuldners in diesen Fällen nicht entfallen, weil während der sechsjährigen Wohlverhaltensphase noch offen sei, ob die Restschuldbefreiung nach ihrem Ablauf tatsächlich erfolgen wird. Vgl. in diesem Sinne bereits Mohn, NZA-RR 2008, 617, 621.

1381 Da die Treuhänderin den Kläger wirksam zur Geltendmachung ermächtigt hatte, indem sie ihm mit Schreiben vom 14.9.2012 gestattete, den streitgegenständlichen Anspruch in vollem Umfang im eigenen Namen gerichtlich geltend zu machen, lagen im entschiedenen Fall die Voraussetzungen einer gewillkürten Prozessstandschaft vor. 3. Bedeutung für die betriebliche Praxis 1382 Das BAG schließt sich vollumfänglich dem BGH an, sodass insoweit keine Rechtsprechungsdifferenzen zu erwarten sind und die vor den ordentlichen Gerichten entwickelte bisherige Prozesspraxis vor den Arbeitsgerichten fortgesetzt werden kann. III. Rechtsschutzbedürfnis für Zahlungsklage aus beendetem Arbeitsverhältnis nach Durchführung eines Insolvenzverfahrens 1383 Mit der Frage, ob Insolvenzgläubiger ihre im Insolvenzverfahren endgültig bestrittene Forderung aus einem beendeten Arbeitsverhältnis unmittelbar nach Durchführung des Insolvenzverfahrens gegen den Schuldner geltend machen können oder zunächst die Erteilung einer beantragten Restschuldbefreiung abwarten müssen, hat sich das LAG Hamm in seinem Urteil vom 23.1.2014 – 15 Sa 1447/13, ZInsO 2014, 1101

überzeugend auseinander gesetzt und die Zulässigkeit einer unmittelbar nach Beendigung des Insolvenzverfahrens wiederaufgenommenen Klage bejaht. 1. Sachverhalt des LAG Hamm 1384 Im entschiedenen Fall war der Kläger ab 1994 bis zum 31.7.2008 bei dem Beklagten als Tankwart beschäftigt. Die von dem Beklagten betriebene Tankstelle wurde am 1.8.2008 geschlossen. Mit Schreiben vom 31.7.2008 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger außerordentlich zum 31.7.2008. 1385 Mit am 7.1.2009 eingegangener Zahlungsklage hat der Kläger von dem Beklagten Entgelt aus den Jahren 2006, 2007 und 2008/09 in Höhe von insgesamt EUR 29.127,03 brutto beansprucht. 1386 Durch Beschluss des AG Paderborn vom 18.3.2009 wurde über das Vermögen des Beklagten das Insolvenzverfahren eröffnet, das streitige Verfahren daraufhin mit Beschluss vom 30.3.2009 unterbrochen. 336

III. Rechtsschutzbedürfnis für Zahlungsklage aus beendetem Arbeitsverhältnis

Unter dem 5.5.2009 nahm der Kläger eine Forderungsanmeldung zur Insol- 1387 venztabelle in Höhe von EUR 31.728,13 vor. Die Forderung wurde durch den Insolvenzverwalter endgültig bestritten. Ein Feststellungsverfahren gegen den Insolvenzverwalter führte der Kläger nicht durch. Mit Beschluss des AG Paderborn vom 13.5.2011 wurde das Insolvenzverfahren 1388 aufgehoben. Dem Beklagten wurde auf seinen Antrag hin bereits mit Beschluss des Amtsgerichts Paderborn vom 10.1.2011 die Restschuldbefreiung angekündigt. Mit Schriftsatz vom 15.5.2013 nahm der Kläger den Rechtsstreit wieder auf. 1389 Er hat die Auffassung vertreten, dass er den von ihm verfolgten Zahlungsanspruch nach Beendigung des Insolvenzverfahrens nunmehr direkt gegen den Beklagten geltend machen könne. Das ArbG hielt die Klage für unzulässig. 2. Wesentliche Überlegungen des LAG Hamm Das LAG wies die Klage zwar im Ergebnis ebenfalls ab, hielt sie aber mit über- 1390 zeugender Begründung für zulässig. Für die Klage bestehe, obwohl sich der Beklagte in der sog. Wohlverhaltens- 1391 phase befinde, ein Rechtsschutzbedürfnis. Zwar gelte für den Kläger das gesetzliche Vollstreckungsverbot des § 294 Abs. 1 InsO. Das LAG Hamm unterscheidet insoweit aber zutreffend zwischen Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren: Da die Parteien sich nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens noch im Erkenntnis- und nicht im Vollstreckungsverfahren befänden, könne die Klage nicht unter Berufung auf § 294 InsO für unzulässig erklärt werden. Keine Rolle spiele insoweit, ob dem Beklagten die begehrte Restschuldbe- 1392 freiung erteilt werden werde. Dies lasse sich derzeit zwar nicht abschließend beurteilen (vgl. §§ 295 ff. InsO). Würde jedoch die Restschuldbefreiung versagt, könnten die Insolvenzgläubiger – anders als der Kläger – sofort gegen den Beklagten aus der Eintragung in die Tabelle vollstrecken (§ 201 Abs. 1 und 2 Satz 1 und 2 InsO), ohne dass dem das Vollstreckungsverbot des § 294 Abs. 1 InsO entgegenstände (vgl. § 299 InsO). Insofern würde es – so das LAG Hamm weiter – eine nicht dem Sinn und Zweck der Regelungen in §§ 294 Abs. 1, 301 Abs. 1 InsO entsprechende Benachteiligung des Klägers gegenüber den anderen Gläubigern, die sofort vollstrecken dürften, bedeuten, wenn der Kläger darauf verwiesen würde, erst die Versagung bzw. den Widerruf einer bereits erteilten Restschuldbefreiung abzuwarten. Im Ergebnis ebenso BGH, v. 22.1.2008 – VI ZR 126/07, NJW 2008, 1440; vgl. auch BGH, v. 28.6.2007 – IX ZR 73/06, WM 2007, 1844; Uhlenbruck/Uhlenbruck, InsO, § 87 Rn. 5; Hintzen, in: MünchKomm-InsO, § 201 Rn. 17 ff.

Konsequenz daraus ist – wie das LAG Hamm in Übereinstimmung mit der 1393 herrschenden Meinung annimmt –, dass der Kläger nach Aufhebung des In-

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H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen

solvenzverfahrens seine nicht titulierten Insolvenzforderungen, die am Verfahren nicht teilgenommen haben, gemäß § 201 Abs. 1 InsO gegen den Beklagten unbeschränkt geltend machen kann. Hintzen, in: MünchKomm-InsO, § 201 Rn. 17 ff.; Uhlenbruck/Uhlenbruck, InsO, § 87 Rn. 5.

1394 Dem stehe – so das LAG Hamm zutreffend weiter – nicht entgegen, dass der Kläger zwar seine Forderung zur Insolvenztabelle angemeldet habe, der auf die Anmeldung erfolgte Widerspruch des Insolvenzverwalters während des Insolvenzverfahrens jedoch nicht beseitigt wurde. Hintzen, in: MünchKomm-InsO, § 201 Rn. 17 ff.

IV. Kein Ausschluss nicht angemeldeter Forderungen durch rechtskräftig bestätigten Insolvenzplan 1395 In seinem Urteil vom 12.9.2013 – 6 AZR 907/11, ZIP 2013, 2268

hat sich das BAG mit der für die Sanierungspraxis immens wichtigen Frage beschäftigt, wie in einem Insolvenzplanverfahren Gläubiger zu behandeln sind, die (bzw. deren Forderungen) im Zeitpunkt der rechtskräftigen Bestätigung des Insolvenzplans unbekannt waren und erst danach ihre Forderungen geltend machen. Die Entscheidung ist für die Sanierungsberatung insbesondere mit Blick auf die Erstellung von Insolvenzplänen wichtig und berührt das Spannungsfeld zwischen dem Gläubiger auf der einen Seite, dessen Forderung zum Zeitpunkt der Bestätigung des Insolvenzplans noch nicht bekannt war und den daher auch kein Verschulden an der nachträglichen Anmeldung trifft und dem vormals insolventen Unternehmen auf der anderen Seite, welches durch ein Insolvenzplanverfahren saniert werden soll. Eine derartige Sanierung kann aber nur effektiv gelingen, wenn das Unternehmen Planungssicherheit mit Blick auf die zu berücksichtigenden Forderungen besitzt. 1. Sachverhalt des BAG 1396 Im entschiedenen Fall war der Kläger bei der Beklagten in den Zeiträumen Januar bis Mai 2007 und November 2007 bis Januar 2008 als Leiharbeitnehmer beschäftigt. In den Arbeitsverträgen wurde jeweils Bezug genommen auf die Tarifverträge zwischen dem Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister e. V. und der Tarifgemeinschaft Christliche Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP). 1397 Mit Beschluss vom 1.9.2009 wurde über das Vermögen der Beklagten das Insolvenzverfahren eröffnet. Der vom Insolvenzverwalter vorgelegte Insolvenzplan enthielt die folgende Ausschlussklausel: „13. Gläubiger, die nicht bis zum Wirksamwerden des Insolvenzplans ihre Forderungen angemeldet haben, verlieren ihre Rechte. Mit der Rechtskraft der Bestätigung des Insolvenzplans wird insoweit ein antizipierter Verzicht dieser Gläubiger fingiert.“

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IV. Kein Ausschluss nicht angemeldeter Forderungen

Nachdem die Bestätigung des Insolvenzplans rechtskräftig wurde, hob das 1398 Amtsgericht das Insolvenzverfahren am 19.10.2009 auf. Mehr als ein Jahr später, nämlich mit Beschluss vom 14.12.2010, erkannte das BAG, dass die Tarifgemeinschaft CGZP nicht tariffähig ist. Daraufhin nahm der Kläger die Beklagte vor dem ArbG auf „equal-pay-Zahlungen“ gemäß § 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 AÜG a. F. in Höhe von EUR 9.845,52 in Anspruch. Die Forderung war im Insolvenzverfahren nicht angemeldet worden, weil sie 1399 dem Kläger während des Verfahrens noch unbekannt war. Die Beklagte bestritt den geltend gemachten Anspruch dennoch. Einen Antrag entsprechend § 256 Abs. 1 Satz 2 InsO, in welchem Ausmaß der Schuldner vorläufig eine Forderung des Klägers zu berücksichtigen habe, hatten weder der Schuldner noch der Gläubiger beim Insolvenzgericht gestellt. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem BAG ebenfalls keinen Erfolg. 2. Wesentliche Überlegungen des BAG a) Auswirkungen einer Verzichtsklausel im Insolvenzplan Zunächst stellt das BAG dabei die Rechtswirkungen einer Ausschlussklausel 1400 im Insolvenzplan – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH – wie folgt klar: Soweit die Forderungen als erlassen gelten oder ein sog. Verzicht auf sie fingiert wird, sind sie nicht erloschen, bestehen aber als natürliche, unvollkommene Verbindlichkeiten fort. Die Erfüllung dieser Naturalobligationen ist möglich, kann aber nicht erzwungen werden. Vgl. BGH, v. 10.5.2012 – IX ZR 206/11, ZIP 2012, 1359, dazu EWiR 2012, 533 (Rendels/Körner); BGH, v. 19.5.2011 – IX ZR 222/08, ZIP 2011, 1271.

b) Keine Präklusion kraft Gesetzes Die Forderungen des Klägers seien auch nicht schon gesetzlich präkludiert. 1401 Die Insolvenzordnung sehe nicht vor, dass Ansprüche, die im Insolvenzverfahren nicht angemeldet wurden, nach rechtskräftiger Bestätigung des Insolvenzplans und Aufhebung des Insolvenzverfahrens nicht mehr gegen den Insolvenzschuldner geltend gemacht werden könnten. Vgl. BGH, v. 10.5.2012 – IX ZR 206/11, ZIP 2012, 1359; BGH, v. 19.5.2011 – IX ZR 222/08, ZIP 2011, 1271; a. A. Sächsisches LAG, v. 22.11.2007 – 1 Sa 364/03, n. v.

Nach § 254 Abs. 1 Satz 3 InsO a. F. (heute § 254b InsO n. F.) galt der Insol- 1402 venzplan auch für nicht angemeldete Forderungen. Praxistipp: Nach der aktuellen Fassung der InsO bestehen ein besonderer Vollstreckungsschutz und eine besondere Verjährungsfrist in §§ 259a und 259b InsO, vgl. dazu BT-Drucks. 17/5712, S. 37 zu Nr. 41 und sogleich im Text.

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H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen

1403 Dass er auch für derartige Forderungen galt, setzte – so das BAG in Übereinstimmung mit der in der Rechtsprechung herrschenden Ansicht weiter – voraus, dass die nicht angemeldeten Forderungen fortbestanden und weiter durchgesetzt werden konnten. Vgl. BGH, v. 10.5.2012 – IX ZR 206/11, ZIP 2012, 1359; s. a. LAG Rheinland-Pfalz, v. 12.10.2006 – 4 Sa 281/06, n. v.

1404 Die jüngere Rechtsentwicklung macht indes deutlich, dass nicht angemeldete Forderungen auch nach der Annahme und Bestätigung des Insolvenzplans und der Aufhebung des Insolvenzverfahrens gesetzlich nicht ausgeschlossen sind: 1405 Durch das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) vom 7.12.2011 traten mit Wirkung vom 1.3.2012 §§ 259a, 259b InsO in Kraft. Nach § 259a InsO kann der Schuldner Vollstreckungsschutz beantragen, wenn die Durchführung des Plans durch nachträglich erhobene Forderungen gefährdet wird. Nach § 259b InsO verjähren im Insolvenzverfahren nicht angemeldete Forderungen von Insolvenzgläubigern spätestens innerhalb eines Jahres nach rechtskräftiger Bestätigung des Insolvenzplans. 1406 Der Gesetzgeber hat damit die Vorschläge der Kommission für Insolvenzrecht nachträglich modifiziert aufgegriffen. Vgl. BGH, v. 10.5.2012 – IX ZR 206/11, ZIP 2012, 1359.

1407 §§ 259a, 259b InsO setzen jedoch – worauf das BAG zu Recht hinweist – voraus, dass dem Planverfahren keine Ausschlusswirkung zukommt. Weiter gehenden Vorschlägen, eine materielle Ausschlussfrist für im Insolvenzverfahren nicht angemeldete Forderungen zu schaffen, sei der Gesetzgeber – so das BAG weiter – nach der Gesetzesbegründung bewusst nicht gefolgt. Er gehe davon aus, eine Ausschlussfrist müsse aus verfassungsrechtlichen Gründen die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung bei unverschuldeter Fristversäumnis vorsehen. Die vergleichbare Ausschlussfrist des § 14 Abs. 1 Satz 1 GesO habe zu zahlreichen und langwierigen Streitigkeiten über die Frage des Verschuldens bei Fristversäumnis geführt. Vgl. BT-Drucks. 17/5712, S. 37 zu Nr. 41.

c) Gefährdung des Sanierungszwecks durch nachträglich erhobene Forderungen? 1408 Dass durch die Annahme, nachträglich erhobene Forderungen könnten durchgesetzt werden, die Erfüllung von Insolvenzplänen und der ihnen zugrunde liegende Sanierungszweck gefährdet oder unmöglich werden kann, sieht das BAG in diesem Kontext ausdrücklich. Dies gelte – so zutreffend das BAG – insbesondere dann, wenn ein Insolvenzplan vorsieht, dass eine bestimmte Summe Geldes unter den Insolvenzgläubigern verteilt wird. 1409 Dieses Problem habe der Gesetzgeber der InsO jedoch gesehen, sodass es insoweit – ohne dass das BAG dies explizit anspricht – an einer Regelungslücke

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IV. Kein Ausschluss nicht angemeldeter Forderungen

fehlt. Das BAG stützt sich insoweit einerseits auf den historischen Gesetzgeber, andererseits auf Art. 14 Abs. 1 GG. Die Kommission für Insolvenzrecht habe im Ersten Bericht, Leitsätze 2.2.30 1410 und 2.2.31, einen Vollstreckungsschutz zugunsten des Schuldners und eine Verjährungsfrist von längstens zwei Jahren nach rechtskräftiger Bestätigung des Reorganisationsplans vorgeschlagen. Vgl. BT-Drucks. 17/5712, S. 37 zu Nr. 41.

Die angesichts dieses Kommissionsberichts bewusste Entscheidung des Ge- 1411 setzgebers, das mit der Zulassung nachträglich erhobener Forderungen verbundene Risiko eines Scheiterns der Planerfüllung ohne Abhilfemöglichkeiten hinzunehmen, sei – so das BAG – für die Gerichte bindend. Dieses – ggf. nicht zwingende Auslegungsergebnis – sichert der 6. Senat ver- 1412 fassungsrechtlich mit dem Argument ab, dass der völlige Verlust einer Forderung als Folge einer Ausschlussfrist ein erheblicher Eingriff in das Eigentumsrecht des Gläubigers aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG sei. Die Insolvenzforderung falle in den Schutzbereich der Eigentumsfreiheit. Für den von der Verfassung erlaubten Eingriff in das Freiheitsrecht mit geeigneten, erforderlichen und angemessenen Mitteln sei nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage erforderlich, vgl. BVerfG, v. 26.4.1995 – 1 BvL 19/94, 1 BvR 1454/94, BVerfGE 92, 262 = ZIP 1995, 923; BGH, v. 10.5.2012 – IX ZR 206/11, ZIP 2012, 1359; weniger vorsichtig für eine Ausschlussklausel noch BGH, v. 19.5.2011 – IX ZR 222/08, ZIP 2011, 1271,

an der es hier fehle. d) Obiter dictum: Präklusionsklauseln für „Nachzügler“ sind unzulässig Diese verfassungsrechtlichen Anforderungen sprechen – und das ist für die 1413 Sanierungspraxis eine ganz bedeutsame Feststellung – nach der Bewertung des BAG im Übrigen gegen die Zulässigkeit von Präklusionsklauseln für sog. Nachzügler in Insolvenzplänen, die über die gesetzlichen Regelungen der §§ 254 ff. InsO hinaus den Verlust von Ansprüchen fingieren, die dem Gläubiger bei rechtskräftiger Bestätigung des Insolvenzplans unbekannt waren. In der Literatur wird dies – jedenfalls für die Neufassung der InsO – eben- 1414 falls vermehrt angenommen. Ebenso wie das BAG zur aktuellen Fassung der InsO: Küpper/Heinze, ZInsO 2013, 471, 473 ff.; ähnlich zum alten Recht: Schreiber/Flitsch, BB 2005, 1173, 1176 f.; zweifelnd auch Bähr/Höpker, EWiR 2012, 151, 152; a. A. zum alten Recht: OLG Hamm v. 3.12.2010 – 30 U 98/10, I-30 U 98/10, n. v.; Otte/Wiester, NZI 2005, 70, 77.

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H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen

e) Rechtskräftige gerichtliche Anspruchsfeststellung als Voraussetzung einer Leistungsklage 1415 Der Kläger kann die erhobenen Ansprüche aber nach der Bewertung des BAG, mit der sich der 6. Senat dem BGH anschließt, nicht durchsetzen, weil sie nicht rechtskräftig festgestellt sind. 1416 Sei eine Forderung – wie im entschiedenen Fall – nicht zur Tabelle festgestellt und habe das Insolvenzgericht auch keine Entscheidung über das Stimmrecht oder die vorläufige Berücksichtigung der Forderung nach § 256 Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO getroffen, könne der Gläubiger einer vom Schuldner bestrittenen Forderung erst dann wirksam eine Frist nach § 255 Abs. 1 Satz 2 InsO setzen, wenn seine Forderung vom Prozessgericht rechtskräftig festgestellt worden ist. Frühere Fristsetzungen seien wirkungslos. BGH, v. 10.5.2012 – IX ZR 206/11, ZIP 2012, 1359.

1417 Entsprechendes gelte für Gläubiger, deren Forderungen bei rechtskräftiger Bestätigung des Insolvenzplans unbekannt sind. Solange der Gläubiger keine Feststellungsklage erhoben und sie nicht fristgerecht entsprechend § 189 InsO nachgewiesen habe, könne der Schuldner nicht analog § 255 Abs. 1 InsO mit der Erfüllung des Plans in Rückstand geraten. Sobald die Feststellungsklage entsprechend § 189 InsO fristgerecht nachgewiesen sei, könne sich der Schuldner durch Zahlungen entsprechend § 256 InsO vor Nachteilen schützen. Ggf. sei auf Antrag des Schuldners in Analogie zu § 256 Abs. 1 Satz 2 InsO festzustellen, in welchem Umfang die bestrittene Forderung vorläufig zu berücksichtigen ist. Vgl. BGH, v. 15.7.2010 – IX ZB 65/10, ZIP 2010, 1499 = ZVI 2011, 20, dazu EWiR 2010, 681 (Huber).

1418 Dadurch werde dem (Schutz-)Zweck einer nicht mehr möglichen Tabellenfeststellungsklage genügt. Der Gläubiger einer zunächst unbekannten Forderung könne seinen Anspruch deswegen nicht unmittelbar im Weg der Leistungsklage gegenüber dem Schuldner durchsetzen. Aus diesem Grund scheide auch eine Auslegung der Leistungsklage als Feststellungsklage oder eine Umdeutung aus. 3. Bedeutung für die Sanierungs- und Insolvenzpraxis 1419 Mit der vorliegenden Entscheidung schließt sich das BAG im Ergebnis und in der Begründung der Rechtsprechung des BGH an. Damit gilt auch faktisch für alle Gläubiger im Insolvenzplanverfahren dieselbe Rechtslage. Geschützt wird dadurch der Vollzug eines Insolvenzplans vor Leistungsklagen von Insolvenzgläubigern, die im Insolvenzverfahren nicht teilgenommen haben. Gläubiger können sich den Wirkungen des Insolvenzplans einschließlich dort vereinbarter Erlassquoten nicht dadurch entziehen, dass sie am Insolvenzverfahren nicht teilnehmen.

342

V. Akteneinsichtsrecht des Insolvenzverwalters

Sehr kritisch hat sich das BAG zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der 1420 im Insolvenzplan enthaltenen Präklusionsregelung für nicht angemeldete Forderungen geäußert, soweit diese über die §§ 254 ff. InsO hinaus gehend den Verlust von Forderungen fingiert. Für die Zulässigkeit einer solchen Fiktion mag zwar sprechen, dass die Nichtteilnahme im Regelinsolvenzverfahren über das Vermögen einer juristischen Person ebenfalls zur Entwertung der Gläubigerforderung führt, weil sie an der Vermögensverteilung nicht teilnimmt. So Fridgen, GWR 2014, 20.

Das BAG fordert vor dem Hintergrund des Art. 14 Abs. 1 GG aber nicht zu 1421 Unrecht eine explizite gesetzliche Regelung. Die Entscheidung zeigt damit letztlich, dass die Neuregelungen des Gesetzgebers notwendig sind, um die Durchführbarkeit von Insolvenzplänen nicht zu gefährden. Ein stärkerer Ausschluss von im Zeitpunkt der Planbestätigung unbekannten Forderungen erscheint aus Sicht der Sanierungspraxis wünschenswert. In diesem Sinne Pörschke, NZI 2013, 1080 f.

Dies gilt insbesondere auch mit Blick auf die Fragen, die sich ergänzend stellen, 1422 wenn solche Forderungen Berücksichtigung finden, z. B. für die Frage der Höhe der Befriedigung solcher Ansprüche. Eine vollständige Befriedigung ist nicht interessengerecht, weil die so befriedigten Gläubiger dann besser gestellt würden als die Gläubiger, die am Planverfahren teilgenommen haben. V. Akteneinsichtsrecht des Insolvenzverwalters In seinem Beschluss vom 14.2.2014

1423

– 12 Ta 63/14, ZIP 2014, 944

hat das LAG Hamm noch einmal klargestellt, dass dem Insolvenzverwalter das Akteneinsichtsrecht nach § 299 Abs. 1 ZPO als Partei kraft Amtes zusteht. § 299 Abs. 2 ZPO ist, soweit der Insolvenzverwalter – wie im entschiedenen Fall – Akteneinsicht beantragt, um über eine Aufnahme des unterbrochenen Rechtsstreits entscheiden zu können, nicht einschlägig, da der Insolvenzverwalter kein Dritter i. S. d. § 299 Abs. 2 ZPO, sondern Partei nach § 299 Abs. 1 ZPO ist. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG vgl. BAG, v. 21.9.2006 – 2 AZR 573/05, ZIP 2007, 1078 = NZA 2007, 404

und des BGH, vgl. BGH, v. 7.1.2008 – II ZR 283/06, ZIP 2008, 546 = NJW-RR 2008, 860,

sowie der herrschenden Meinung in der Literatur, vgl. die Nachweise bei LAG Hamm, v. 14.2.2014 – 12 Ta 63/14, ZIP 2014, 944,

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H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen

ist der Insolvenzverwalter Partei kraft Amtes und übt die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis im eigenen Namen aus. Ihm steht daher mit der Insolvenzeröffnung und seiner Bestellung das Akteinsichtsrecht nach § 299 Abs. 1 ZPO als Partei zu, ohne dass er ein rechtliches Interesse glaubhaft machen müsste. VI. Darlegungs- und Beweislast für Insolvenzverschleppung bei Haftung von GmbH-Geschäftsführern 1424 Kommt es zu einer Insolvenz des Arbeitgebers, versuchen Arbeitnehmer bisweilen, die Organmitglieder des insolventen Unternehmens in Anspruch zu nehmen. Unter welchen Umständen dies (nicht) möglich ist, hat das BAG in seinem Urteil 20.3.2014 – 8 AZR 45/13, ZIP 2014, 1976

gekennzeichnet und darüber hinaus klargestellt, wie sich die Darlegungs- und Beweislast verteilt. 1. Sachverhalt des BAG 1425 Im entschiedenen Fall war der Kläger seit dem 1.1.1996 bei der Arbeitgeberin als Architekt angestellt. Das Unternehmen befand sich seit 2006 in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, meldete jedoch erst am 9.6.2009 Insolvenz an. Zuvor war der Kläger aufgrund eines Interessenausgleichs und Sozialplans vom 22.10.2008 in eine Transfergesellschaft gewechselt und sollte aufgrund des Verlustes seines Arbeitsplatzes eine Abfindung von EUR 61.788,00 brutto erhalten. Zur Auszahlung der Abfindung kam es nicht. Der Kläger erhielt lediglich 3 % seiner zur Insolvenztabelle angemeldeten Abfindungsforderung. Er verlangte daraufhin von den Geschäftsführern seiner früheren Arbeitgeberin sowie dem Aufsichtsratsvorsitzenden der ehemaligen Muttergesellschaft Schadensersatz im Umfang der nicht ausgezahlten Abfindung aufgrund Insolvenzverschleppung. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Auch die Revision des Klägers vor dem BAG blieb mit überzeugender Begründung erfolglos. 2. Wesentliche Überlegungen des BAG 1426 Da die früheren Geschäftsführer und der Aufsichtsratsvorsitzende der früheren Muttergesellschaft mit dem Kläger in keiner Vertragsbeziehung gestanden hätten, schieden zunächst vertragliche Ansprüche aus. 1427 Der Kläger könne seinen Anspruch aber auch nicht nach den Grundsätzen der sog. Sachwalterhaftung direkt gegenüber den Beklagten geltend machen. Danach seien zwar Sachwalter und Vertreter in der Regel nur aus Delikt in Anspruch zu nehmen. Vgl. BGH, v. 4.7.1983 – II ZR 220/82, BGHZ 88, 67 = ZIP 1983, 1351.

344

VI. Darlegungs- und Beweislast für Insolvenzverschleppung

Ausnahmsweise könne aber ein Sachwalter auch persönlich wegen Verschul- 1428 dens bei Vertragsschluss nach § 311 Abs. 3 i. V. m. § 241 Abs. 2 BGB in Anspruch genommen werden, wenn er x

entweder die Verhandlungen oder den Vertragsschluss in unmittelbarem eigenen wirtschaftlichen Interesse herbeigeführt oder

x

dadurch, dass er ein besonderes persönliches Vertrauen in Anspruch genommen hat, erheblich beeinflusst hat. Vgl. BGH, v. 3.4.1990 – XI ZR 206/88, ZIP 1990, 659, dazu EWiR 1990, 553 (Medicus); BGH, v. 24.5.2005 – IX ZR 114/01, ZIP 2005, 1327 = ZVI 2005, 373.

Denn nach dem mit der Schuldrechtsreform 2002 eingeführten § 311 Abs. 3 1429 BGB könne – diesen Grundsätzen entsprechend – ein Schuldverhältnis mit der Folge einer persönlichen Haftung auch zu Personen entstehen, die nicht selbst Vertragspartei werden sollten oder geworden sind. Das in § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB aufgeführte Beispiel für einen Haftungsgrund des in besonderem Maße in Anspruch genommenen Vertrauens stelle jedoch keine abschließende Regelung dar. Es bleibe bei den bisher von der Rechtsprechung angewandten Grundsätzen. BAG, v. 20.3.2014 – 8 AZR 45/13, ZIP 2014, 1976.

Die Beklagten hätten aber nicht zu erkennen geben, dass sie für die Abfin- 1430 dungsansprüche aus dem Sozialplan persönlich einstehen wollten. Es seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die beklagten Geschäftsführer hierauf in irgendeiner Weise Einfluss genommen hätten oder von dem konkreten Vertragsschluss mit dem Kläger auch nur Kenntnis gehabt hätten. Sie hätten auch keine Erklärung dahin gehend abgegeben, auch nicht in den Rundschreiben, dass sie selbst in eigener Person für die im Sozialplan niedergelegten Abfindungsansprüche einstehen wollten. Das allgemeine Interesse als Geschäftsführer oder Vorstandsvorsitzender am Erfolg des Unternehmens begründe keine Eigenhaftung. Vgl. bereits BGH, v. 3.10.1989 – XI ZR 157/88, ZIP 1989, 1455, dazu EWiR 1990, 265 (Miller); BGH, v. 27.3.1995 – II ZR 136/94, ZIP 1995, 733, dazu EWiR 1995, 529 (Decher); BAG, v. 13.2.2007 – 9 AZR 106/06, DB 2007, 1690.

Deliktsansprüche gegenüber den Beklagten aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. 1431 § 263 StGB – Eingehungsbetrug – oder aus § 823 Abs. 1 BGB – Verletzung eines absoluten „Rechts am Arbeitsplatz/am Arbeitsverhältnis“ würden bereits an einem fehlenden (zielgerichteten) Eingriff in Rechtspositionen des Klägers scheitern. Insbesondere schieden Schadenersatzansprüche wegen der behaupteten In- 1432 solvenzverschleppung nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO bzw. § 64

345

H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen

GmbHG a. F. aus. Der Kläger habe keine hinreichenden Anhaltspunkte vorgetragen, die auf eine Insolvenzreife des Unternehmens bereits vor dem gestellten Insolvenzantrag hätten hindeuten können. Die einschlägige Darlegungs- und Beweislast kennzeichnet das BAG in Übereinstimmung mit den insoweit vom BGH entwickelten Grundsätzen wie folgt: x

Für die Feststellung, dass die Gesellschaft insolvenzrechtlich überschuldet ist, bedarf es nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich der Aufstellung einer Überschuldungsbilanz, in der die Vermögenswerte der Gesellschaft mit ihren aktuellen Verkehrs- oder Liquidationswerten auszuweisen sind.

x

Hingegen kommt einer Handelsbilanz für die Frage, ob die Gesellschaft überschuldet ist, lediglich indizielle Bedeutung zu. Legt der Anspruchsteller für seine Behauptung, die Gesellschaft sei überschuldet gewesen, nur eine Handelsbilanz vor, aus der sich ein nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag ergibt, hat er jedenfalls die Ansätze dieser Bilanz darauf zu überprüfen und zu erläutern, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang stille Reserven oder sonstige aus ihr nicht ersichtliche Vermögenswerte vorhanden sind.

x

Ist der Anspruchsteller diesen Anforderungen nachgekommen, ist es Sache des beklagten Geschäftsführers, im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast im Einzelnen vorzutragen, welche stillen Reserven oder sonstigen für eine Überschuldungsbilanz maßgeblichen Werte in der Handelsbilanz nicht abgebildet sind So bereits BGH, v. 15.3.2011 – II ZR 204/09, ZIP 2011, 1007, dazu EWiR 2011, 503 (Kort); BGH, v. 27.4.2009 – II ZR 253/07, ZIP 2009, 1220, dazu EWiR 2009, 575 (Podewils).

1433 Dieser Darlegungslast sei der Kläger nicht nachgekommen; er habe nicht einmal – eine zu seinen Gunsten abgesenkte Darlegungslast unterstellt – eine umfassende und nachvollziehbare Einschätzung der Unternehmenslage dargestellt. Zu Recht habe das Berufungsgericht daher die Beweiserhebung auf der Grundlage bloßer Vermutungen oder bruchstückhafter Bezugnahmen auf nicht näher erläuterte oder belegte Zahlen zur wirtschaftlichen Lage abgelehnt. 3. Bedeutung für die Sanierungs- und Insolvenzpraxis 1434 Die Entscheidung bestätigt die bisherige Rechtsprechung des BGH zur Darlegungs- und Beweislast für eine Insolvenzverschleppung, wenn GmbH-Geschäftsführer im Wege der Durchgriffshaftung in Anspruch genommen werden sollen. Insoweit bestehen also ebenfalls keine Differenzen zwischen der Bewertung durch die ordentlichen Gerichte und die Arbeitsgerichte. Die Entscheidung belegt allerdings auch, wie schwierig die Inanspruchnahme von Organmitgliedern wegen Insolvenzverschleppung für Arbeitnehmer ist. 346

VII. Arbeitnehmereigenschaft eines GmbH-Geschäftsführers nach Abberufung

Denn im Kern muss der Kläger den Insolvenztatbestand beweisen. Beweiserleichterungen kommen lediglich dann in Betracht, wenn der Kläger den Nachweis der Insolvenz nur deshalb nicht führen kann, weil der Beklagte seine Pflicht zur Führung und auch Aufbewahrung von Büchern und Belegen verletzt und dadurch eine Beweisführung vereitelt hat. BGH, v. 24.1.2012 – II ZR 119/10, ZIP 2012, 723, dazu EWiR 2012, 523 (Podewils).

Das bloße Angebot eines Sachverständigengutachtens genügt für die Beweis- 1435 führung als unzulässiger Ausforschungsbeweis in aller Regel nicht. So zutreffend LAG Düsseldorf, v. 28.8.2012 – 8 Sa 1346/11, n. v.

Ob es ein „Recht am Arbeitsplatz“ als absolutes Recht i. S. d. § 823 Abs. 1 1436 BGB gibt, musste das BAG nicht entscheiden. Die Rechtsprechung lehnt dies ganz überwiegend völlig zu Recht ab. Ein derartiges Recht abl. z. B. LAG Hessen, v. 14.11.2005 – 10 Sa 1580/04, n. v.; LAG Niedersachsen, v. 18.6.1996 – 12 Sa 21/95, n. v.; OLG Koblenz, v. 23.1.2003 – 5 U 13/03, NZA 2003, 438, dazu EWiR 2003, 267 (Schaub); LG Frankfurt/M., v. 26.10.1999 – 2-26 O 166/98, NZA-RR 2000, 185; offengelassen in BAG, v. 18.1.2007 – 8 AZR 234/06, NZA 2007, 1167.

Ein absolutes Recht i. S. v. § 823 Abs. 1 BGB wird schließlich dadurch ge- 1437 kennzeichnet, dass es nicht nur relativ in Bezug auf einzelne andere, sondern im Verhältnis zu allen anderen Personen „ausschließlich“ existiert und von diesen zu beachten ist. LAG Düsseldorf, v. 28.8.2012 – 8 Sa 1346/11, n. v.

Eine derartige Ausschlussfunktion kann dem „Recht am Arbeitsplatz“ als 1438 Bündelung der schuldrechtlichen Beziehungen der Arbeitsvertragsparteien aber nicht beigemessen werden. Denn das Arbeitsverhältnis begründet Rechte und Pflichten lediglich im Verhältnis zur jeweils anderen Partei. LAG Düsseldorf, v. 28.8.2012 – 8 Sa 1346/11, n. v.; vgl. auch die Begründung des BAG, v. 4.6.1998 – 8 AZR 786/96, NZA 1998, 1113, dazu EWiR 1998, 1027 (Oetker), das ebenfalls in diese Richtung tendiert.

VII. Arbeitnehmereigenschaft eines GmbH-Geschäftsführers nach Abberufung 1439

Der Beschluss des OLG München vom 27.10.2014 – 7 W 2097/14, NZA-RR 2014, 660

gibt Anlass, noch einmal an die bereits im vergangenen Jahr entwickelten Grundsätze für die Beendigung des Anstellungsverhältnisses eines Geschäftsführers vgl. Mückl, 1. Aufl., Rn. 942 ff.

347

H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen

1440 zu erinnern. Denn das OLG München geht – ohne Auseinandersetzung mit der abweichenden Rechtsprechung des BGH –, BGH, v. 29.1.1981 – II ZR 92/80, ZIP 1981, 367 (m. Bespr. Miller, S. 578) = NJW 1981, 1270,

davon aus, dass einer Geschäftsführertätigkeit – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BAG –, BAG, v. 26.10.2012 – 10 AZB 60/12, ZIP 2013, 335, dazu EWiR 2013, 305 (Bross),

auch ein Arbeitsverhältnis zugrunde liegen könne. Ob dies aus der Rechtsprechung des EuGH v. 11.11.2010 – C-232/90, NJW 2011, 2343 – Danosa

folgen könne, lässt das OLG München dahinstehen. 1441 Wichtig ist deshalb, wie bereits dargelegt, vgl. Mückl, 1. Aufl., Rn. 942 ff.,

die Kündigung des Anstellungsverhältnisses zeitlich vor der Abberufung vorzunehmen. Dann ist aufgrund der Fiktion des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG eine Anrufung der Arbeitsgerichte ausgeschlossen. BAG, v. 4.2.2013 – 10 AZB 78/12, ZIP 2013, 539, dazu EWiR 2013, 501 (Undritz/Röger).

1442 Diese Grundsätze hat das BAG allerdings in seinem Beschluss vom 22.10.2014 – 10 AZB 46/14, BeckRS 2014, 74114

wie folgt weiterentwickelt: Ist der Geschäftsführer einer GmbH durch die Gesellschafter abberufen worden und ist ihm dies bekanntgegeben worden, endet die Fiktion des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG. Die Eintragung der Abberufung in das Handelsregister hat nach der zutreffendne Bewertung des BAG rein deklaratorische Wirkung und ist insoweit ohne Bedeutung. Nach der Abberufung des Geschäftsführers richtet sich die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen bei Rechtsstreitigkeiten zwischen diesem und der Gesellschaft nach allgemeinen Grundsätzen. 1443 Hiervon ausgehend stellt das BAG weiter klar, dass, sofern ein GmbH-Geschäftsführer zum Zeitpunkt der Klagezustellung noch nicht abberufen gewesen ist, einer Zuständigkeit der Arbeitsgerichte zunächst § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG entgegen. Die Sperrwirkung der Fiktion entfällt nach den Feststellungen des BAG jedoch, wenn die Abberufung vor einer rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtswegzuständigkeit noch erfolgt. Zuständigkeitsbegründende Umstände seien im Rahmen des Verfahrens nach § 17 Abs. 3 GVG zu berücksichtigen, auch wenn sie bei Klageerhebung noch nicht vorlagen.

348

VI. Darlegungs- und Beweislast für Insolvenzverschleppung Praxistipp: Hiervon ausgehend muss, sofern Auseinandersetzungen vor den Arbeitsgerichten vermieden werden sollen, mit der Abberufung abgewartet werden, bis rechtskräftig über den Rechtsweg entschieden ist.

Mit dem hierdurch vermittelten prozessualen „Vorteil“ korrespondiert – in der Praxis entscheidend – ein materiell-rechtlicher Vorteil: Wird die Kündigung des der Geschäftsführerstellung zugrunde liegenden Rechtsverhältnisses – wie hier empfohlen – vor der Abberufung als Geschäftsführer ausgesprochen, finden die §§ 1 ff. KSchG gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG auf die in Rede stehende Kündigung unabhängig davon keine Anwendung, ob das Rechtsverhältnis als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist. Dies gilt selbst dann, wenn der Bestellung zum Geschäftsführer ausnahmsweise ein Arbeitsverhältnis zugrunde liegt. BAG, v. 25.10.2007 – 6 AZR 1045/06, NZA 2008, 168.

Der soziale Kündigungsschutz nach §§ 1 ff. KSchG kann dann vom Ge- 1444 schäftsführer nicht nutzbar gemacht werden, um hohe Abfindungen durchzusetzen.

349

Stichwortverzeichnis

Akkordprämie

103 Altersdiskriminierung 1006 Altersteilzeitguthaben 758 ff. Anfechtung 209 ff., 358 – Anspruch 241 – Arbeitgeberleistung 375 ff. – Bargeschäft 540 ff. – Eckpunktepapier 220, 223 ff., 233, 238 – Existenzminimum 358 – Gesellschafterdarlehen 390 – Gläubigerbenachteiligung 387 – inkongruente Deckung 238, 369, 390, 401, 433 ff., 444 ff., 565 – kongruente Deckung 390, 398 ff. – Lohnzahlungen 380, 388, 391, 398 – Schenkungs- 390 – Schuldverhältnis 381 – Sondervergütung 389 – Täuschungs- 656, 659 ff. – Unlauterkeits- 215 ff. – Verjährungsfrist 385 – Verzinsung 240 ff. – Vorsatz- 212, 232, 390, 453 ff., 583 – Zielvereinbarung 649 Anfechtungstatbestand 390 Annahmeverzugslohn 1144, 1173, 1330, 1359, 1366 Arbeitnehmerentsendegesetz 1, 200 ff. Arbeitnehmerüberlassung 199 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz 200 Arbeitskampfverbot 267 Arbeitsverhältnis – ältere Mitarbeiter 270 ff. – Aufhebungsvertrag 273 – auflösend bedingtes 1334, 1340

– befristetes 273 f., 279, 1029 ff., 1334 – bestimmter Zeitraum 275 – europarechtskonformes 281 f. – Inhaltsänderung 278 – Regelaltersgrenze 275 – Prozessbeschäftigung 1331 ff. – Schriftform 280 – unbefristetes 272, 1339 – Verlängerung 278 Arbeitsvertrag 9, 59 – Bezugnahmeklausel 268 – Dienstvereinbarung 629 – Formular- 685 ff., 1269 Arbeitszeitflexibilisierung 740 ff. Arbeitszeitkonto 36, 63, 115 ff., 1253 – bestehendes 121 – mindestlohnrelevantes 119, 121 ff. – Missbrauch 121 – neues 121 – Schriftform 123 ff. – verstetigtes Entgelt 126 ff. – Wertguthaben 115, 119 Ausschlussfrist 140 ff. – tarifliche 140, 607 f. – Transparenz 702 ff. – vertragliche 694 ff. – Wegfall 141 Ausschlussklausel 143 ff., 700

Bargeschäft

234 f., 487 ff. – Anfechtung 540 – Kredit 505 BBG-Sprung 863, 876 ff. Berechnungsdurchgriff 918 – Beherrschungsvertrag 924 – Ergebnisabführungsvertrag 925 Beschäftigung älterer Mitarbeiter 270 ff. – Aufhebungsvertrag 273

351

Stichwortverzeichnis

– – – – – –

Befristung 274, 279 europarechtskonform 281 ff. Kündigungsschutz 272 Schriftform 280 Tarifdispositivität 277 unbefristetes Arbeitsverhältnis 272 – Verlängerung 278 Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft s. Transfergesellschaft Bestandsmitarbeiter 730 Betriebliche Altersversorgung 859 ff. Betriebsänderung 1175 Betriebsrat 259, 731, 739 ff., 1118, 1175 – Anhörung 984 – Einsichtnahme in den Kaufvertrag 1286 ff. – Gesamt- 975, 981 – Gleitzeit 1278 – im Amt verbliebenen 1151, 1155 – Konzern- 288, 323 ff. – Massenentlassungen 930, 1023 ff. – Neueinstellungen 734 – Prämienzahlung 1268 – Restmandat 1155 ff. – Sozialauswahl 1005 – Vergütungsbestandteile 1264, 1266 – Zuständigkeit 1140, 1153 Betriebsrente 861 ff. – Anpassung 897, 930 – Begrenzung 879 – vorgezogene 861, 865 ff. Betriebsspaltung 1175 Betriebsstilllegung 974 ff., 1175 Betriebsvereinbarung 637, 739, 1081, 1109 ff., 1125, 1132, 1146 – Sozialplan 1128 f. – Unwirksamkeit 1281

352

Betriebsverfassung 1252 ff. – Lohngestaltung 1252 ff. – Tarifbindung 1259 ff. Betriebsteil 196, 1057, 1113 – betriebsverfassungsrechtlicher 1113 ff. – Stilllegung 983 – Übergang 196, 1053, 1066, 1104 ff., 1130 Betriebsübergang 196, 739, 1045 ff., 1132 – Arbeitnehmerüberlassung 199, 1060 – Betriebsmittel 1060 – Betriebsteil 1053, 1066, 1104 ff., 1130 – durch Rechtsgeschäft 1062 – Eingliederung 1134 ff. – Kettenwiderspruch 1108 – mehrfacher 1103 – organisatorische Einheit 1046, 1053 ff. – Prozessbeschäftigung 1363 – Rechtsfolgen 1080 – Tarifvertrag 1080 ff., 1089 – Unterrichtung 1098 – verkannter 196 – Widerspruchsrecht 1102 ff., 1123 ff. Bezugnahmeklausel 268 Bilanzkennziffer 625

Dienst- oder Werkvertrag 184 Dienstvereinbarung 629, 637 Dienstvereinbarung AT-Vergütung 2010 646 Eingliederung

1134 ff. – automatische 1135 – Verpflichtung 1141 Entgelt – pfändbares 816 – verstetigtes 126 ff. Erwerbsminderungsrente 1035 Existenzminimum 573 ff.

Stichwortverzeichnis

Freistellungsvereinbarung 184 Freiwilligkeitsvorbehalt 648 Geschäftsführer

347 – Haftung 1424 – Insolvenzantrag 347 – Kündigungsvollmacht 951 Gesellschafter 356 – Arbeitnehmer 361 – Entgeltanspruch 347 – Fortsetzungsklausel 1188 – Insolvenzverschleppung 348 – Nachhaftung 1043, 1183 Gesellschafterdarlehen 350, 352 ff. Gewerkschaft 245 ff. – Mehrheits- 264 – Minderheits- 247, 264 Gruppen-Gläubigerausschuss 305, 311

Halteprämie Insolvenzgeld

363, 367

588 ff., 609, 1309 ff. – Arbeitserlaubnis 1319 – Arbeitsvertrag 1323 – Beschäftigungsnachweispflicht 1319 – Subunternehmer 1323 ff. Insolvenzgeld-Umlage 1328 Insolvenzplan 1395 – nicht angemeldete Forderung 1395 – Verzichtsklausel 1400 Insolvenzverschleppung 347 – Darlegungs- und Beweislast 1424 – fahrlässige 348 Insolvenzverwalter 218, 240 – Akteneinsichtsrecht 1423 – Direktionsrecht 345 – Haftung 338 ff. – Sonder- 301 – vorläufiger 299, 308 Interessenausgleich 975, 995, 1002 ff., 1181 – Namensliste 1002

Kettenwiderspruch 1108 Kleinbeteiligtenprivileg 359 Kollektivvertrag 1090 ff. Koordinationsplan 314, 327 Koordinationsverfahren 306 ff. – Antragsberechtigung 307 ff. – gerichtliche Ablehnung 319 – gerichtliche Bestätigung 320 Koordinationsverwalter 312 ff., 327, 331 Konzernbetriebsrat 288, 323 ff., 328 Konzernbetriebsvereinbarungen 328 Konzerninsolvenz, Entwurf eines Gesetzes 285 ff. – Gruppen-Folgeverfahren 297 f. – Gruppen-Gläubigerausschuss 305, 311 – Insolvenzgericht 291 – Koordinationsgericht 311 ff. – Koordinationsplan 320, 327 – Koordinationsverwalter 312 ff., 327 – Kündigungsrecht 329 ff. Konzernsprecherausschuss 288, 322 Konzernverbund 285, 324 – Wegfall 329 Kündigung 931 ff. – Änderungs- 1015 ff., 1024, 1028 – Auftragsmangel 983 ff. – Beendigungs- 1026 ff. – betriebsbedingte 931 ff., 974 ff., 983 ff., 1145, 1360 – Betriebsstilllegung 974 ff. – Dreimonatsfrist 958 ff. – hilfsweise 941 – Insolvenzverwalter 955, 959, 988 – nächstmöglicher Termin 941 ff. – ordentliche 955, 961 353

Stichwortverzeichnis

– – – –

personenbedingte 955 Rücksichtnahmepflichten 966 Sozialauswahl 987 ff. sozialversicherungsrechtliche Folgen 968 ff. – unwirksame 1330 – verhaltensbedingte 955, 1362 – vorsorgliche 941 – Zurückweisung 946 ff. Kündigungsfrist 955 ff. Kündigungsschutzprozess 1330

Landestariftreuegesetze

207 Leiharbeitnehmer 794 ff., 932 – Auskunftsanspruch 794 ff. – equal pay 794 ff., 807, 1369 – Kündigungsschutz 937 – Wartezeit 932 ff. Leistungsbonus 626 ff., 647 Leistungsbestimmung 641 – Darlegungs- und Beweislast 643 – nach billigem Ermessen 641 ff. Lohnabrede 47 ff. Lohnrückstände 526, 566 Lohnunterbietungswettbewerb 79 Lohnuntergrenze 1 Lohnzahlung – Anfechtung 380, 388, 391, 398 – eingestellte 591 – inkongruente 436 – kongruente 398 – Schadenersatzanspruch 611 – verspätete 176, 232

Massenentlassung

194, 861 – Anzeige 1025 f. – Aufhebungsvertrag 861 ff. – Betriebsrat 1023 ff. Mindestlohn 1 ff. – Abrechnungspraxis 46 – Anspruchsgegner 11 – Anspruchskumulation 21, 29 – Arbeitnehmer 2 ff. – Arbeitsvertrag 9, 59, 110

354

– – – – – – –

Auslegung 70 Ausschlussfrist 140 ff. Ausschlussklausel 143 ff. Auszubildende 14 Beschränkung 137 Bußgeld 186 ff. Dokumentations- und Nachweispflicht 184 – Ehrenamtliche 14 – Fälligkeit 60 – Gesetzgeber 32 ff. – Haftung 153 ff., 164 f., 170 ff. – Insolvenz 162 ff., 193 – Jugendliche 13 – Kinder 13 – Langzeitarbeitslose 15 – Niedriglohn 20 – Ordnungswidrigkeit 186 ff. – Praktikanten 18 f. – Sachleistungen 75 – Sanierung 1, 148 – Sittenwidrigkeitsrechtsprechung 202 – Social Audits 183 – Stundenlohnabrede 47 – Tarifvertrag 1, 21, 52 ff. – Teilzahlung 108 – teleologische Reduktion 41 – Übergangsregelung 51 – Vereinbarung 138 – Vergleich 149 – Vergütungsbestandteile 89 ff. – Verjährung 152 – verstetigtes Entgelt 46, 48, 126 ff. – Verstoß 137 – Vertragsstrafe 167 – Verwirkung 151 – Verzicht 147 ff. – Zeitstunde 105 – Zeitungszusteller 56 f. – Zuschläge 97 ff. Mindestlohndokumentationspflichten-Verordnung 22 Mitarbeiter, ältere 270 ff.

Stichwortverzeichnis

Niedriglohn

20, 32, 79

Pension

862 Pensionsrückstellungen 859 Präklusionsklausel 1413 Prozessbeschäftigung 1331, 1357 – Befristung 1339, 1360, 1364 – Betriebsübergang 1363 – faktische 1340 – freiwillige 1357, 1364 – Prozessteilvergleich 1367 – Schriftform 1365

Qualitätsprämie

103

Restschuldbefreiung

816, 1371 ff. – Zahlungsklage 1383 Retention Bonus 363, 452, 685 Rückzahlungsklausel 711 ff. – Transparenz 722

Sanierungsprivileg

359 Scheingeschäft 549 Schwarzarbeit 675 Sonderleistung 104, 1244 Sozialauswahl 987 ff., 1005 – Qualifikation 1003 ff. – Altersgruppenbildung 1003 ff. – betriebsbezogene 989 – Dominotheorie 994 – grobe Fehlerhaftigkeit 996 ff. – horizontale Vergleichbarkeit 990 – Vergleichsgruppe 993 Sozialplan 258, 965, 1128 ff., 1181, 1425 – Abfindung 529, 1430 – fehlender 1102 – Transfer- 1197 Sozialversicherungsbeitrag 610 Sozialversicherungsrechengrößen 332 ff. Stundenlohnabrede 47

Tabellenfeststellungsklage 1418 Tarifautonomie 246 f., 256

Tarifeinheit 245 ff. – Koalitionsfreiheit 248 – Sanierung 248 – Schlichtung 250 Tarifkollision 246 f., 255, 264 ff. Tarifvertrag 1, 21, 52 ff., 144, 245, 260 ff., 794 – Abschluss 1213 ff. – allgemeinverbindliche r 740 – Anschluss- 257 – auflösende Bedingung 1036 ff. – Auslegung 1226 ff. – Betriebsübergang 1080 ff. – Betriebszugehörigkeit 1233 – Gleichstellungsabrede 1246 – inhaltsgleich 265 – lückenhaft formulierter 1238 – Mantel- 1037, 1251, 1280 – Minderheits- 266 – Rahmen- 740 – Verbands- 1247 – Vorvereinbarung 1218 ff. Tarifvertragsgesetz 252 ff. Tarifvertragsparteien 52 ff. Teilzahlung 108 ff. – Altvertrag 110 Transfergesellschaft 1192 ff. – Arbeitsvertrag 1193 Transferkurzarbeitergeld 1192 Treueprämie 363

Überstundenzuschlag 98 Unentgeltliche Leistung 545 ff. Unlauterkeit – Anfechtung 215 ff. – Darlegungs- und Beweislast 225 – Deckung 220 – Frist 231 Urlaubsrecht 834 ff. – Bundesurlaubsgesetz 843 ff. – gesetzlicher Anspruch 841 ff. – Mindesturlaub 840, 851, 856 – null Tage 846 355

Stichwortverzeichnis

– Ruhens des Arbeitsverhältnisses 843, 846 – Sonderurlaub 841, 849 f., 854 Urlaubsabgeltungsanspruch 834 ff. – Tod des Arbeitnehmers 834

Verbraucherinsolvenz

816 ff. Vergütung 338 ff. – Flexibilisierung 617 ff., 626 – Gesellschafter 347 – Insolvenztabelle 351 – konkludente Stundung 352 – Masseunzulänglichkeit 343 ff. – Masseverbindlichkeit 338 ff. – Masseschulden 377 – Nachrang 347, 352 – rückständige 344, 353 – Sonder- 389 – Zurückbehaltungsrecht 342, 345 Vergütungsbestandteile 89 ff. Versorgungsordnung 860, 866 ff. – Höchstalter 889 Versorgungszusage 788, 860, 866, 870 – Betriebsübergang 914 – Gesamt- 879 ff. – Schuldbeitritt 929 Verstetigtes Entgelt 126 ff. Vertragsstrafenvereinbarung 685 Vollstreckungsschutz 582

356

Vorsatzanfechtung 212, 232

Zahlungsunfähigkeit

405 ff. – Benachteiligungsvorsatz 482, 484 – Kenntnis 405, 420 ff., 466 – Unkenntnis (grob fahrlässige) 414 ff. Zeitungszusteller 56 f. Zielperiode 651 Zielvereinbarung – AGB-Kontrolle 651 – Anfechtung 649 ff. – anspruchsvolle 666 – erreichbare 666 – Inhaltskontrolle 653 – Verfehlung 673 – Wegfall 656 Zuschlag 97 f. – Akkordprämie 103 – für besondere Arbeitszeit 99 – für besondere Erschwernis 101 – Qualitätsprämie 103 – Sonderzahlung 104 – Überstunden 98 Zwangsvollstreckung 437, 424 – drohende 437 – Einzel- 560 – Existenzminimum 573 ff. – Prozessbeschäftigung 1331 – Sonderschutz 587