Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017: Aktuelle Entwicklungen des Parteienwettbewerbs in Deutschland [1. Aufl.] 9783658297701, 9783658297718

Das Buch liefert eine systematische Bestandsaufnahme der Entwicklung des deutschen Parteiensystems insgesamt und aller i

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Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017: Aktuelle Entwicklungen des Parteienwettbewerbs in Deutschland [1. Aufl.]
 9783658297701, 9783658297718

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VII
Die Entwicklung des Parteiensystems bis nach der Bundestagswahl 2017 (Oskar Niedermayer)....Pages 1-41
Die CDU: Volkspartei am Ende der Ära Merkel (Torsten Oppelland)....Pages 43-69
Die Krise der SPD: Kaum Licht am Ende des Tunnels (Uwe Jun)....Pages 71-104
Konkurrenz am rechten Rand: Die Etablierung der AfD im Parteiensystem (Oskar Niedermayer)....Pages 105-132
Die FDP zwischen Wahlerfolgen, Regierungsflucht und Stagnation (Benjamin Höhne, Uwe Jun)....Pages 133-157
Die Linke zwischen internen Konflikten, der ersten Koalition im Westen, Niederlagen im Osten und dem Ramelow-Effekt (Hendrik Träger)....Pages 159-186
Bündnis 90/Die Grünen: Grüne Erfolgswelle nach enttäuschendem Wahlergebnis (Lothar Probst)....Pages 187-219
Baustelle CSU. Das Experiment einer postmaterialistisch ergänzten Volkspartei (Michael Weigl)....Pages 221-252

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Uwe Jun Oskar Niedermayer Hrsg.

Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017 Aktuelle Entwicklungen des Parteienwettbewerbs in Deutschland

Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017

Uwe Jun · Oskar Niedermayer (Hrsg.)

Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017 Aktuelle Entwicklungen des Parteienwettbewerbs in Deutschland

Hrsg. Uwe Jun Universität Trier Trier, Deutschland

Oskar Niedermayer Berlin, Deutschland

ISBN 978-3-658-29770-1 ISBN 978-3-658-29771-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29771-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Jan Treibel Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Die Entwicklung des Parteiensystems bis nach der Bundestagswahl 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Oskar Niedermayer Die CDU: Volkspartei am Ende der Ära Merkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Torsten Oppelland Die Krise der SPD: Kaum Licht am Ende des Tunnels . . . . . . . . . . . . . . . 71 Uwe Jun Konkurrenz am rechten Rand: Die Etablierung der AfD im Parteiensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Oskar Niedermayer Die FDP zwischen Wahlerfolgen, Regierungsflucht und Stagnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Benjamin Höhne und Uwe Jun Die Linke zwischen internen Konflikten, der ersten Koalition im Westen, Niederlagen im Osten und dem Ramelow-Effekt . . . . . . . . . . . . . 159 Hendrik Träger Bündnis 90/Die Grünen: Grüne Erfolgswelle nach enttäuschendem Wahlergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Lothar Probst Baustelle CSU. Das Experiment einer postmaterialistisch ergänzten Volkspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Michael Weigl

V

Autorenverzeichnis

Benjamin Höhne, Dr., stellvertretender Leiter des Instituts für Parlamentarismusforschung in Berlin. Uwe Jun,  Dr., Professor für Politikwissenschaft (Westliche Regierungssysteme/ Das politische System Deutschlands) an der Universität Trier. Oskar Niedermayer, Dr., Professor für Politikwissenschaft am ­ Otto-SuhrInstitut der Freien Universität Berlin. Torsten Oppelland, Dr., Akademischer Oberrat, außerplanmäßiger Professor und Leiter des Arbeitsbereichs Vergleichende Regierungslehre an ­der FriedrichSchiller-Universität Jena. Lothar Probst, Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen. Hendrik Träger, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig. Michael Weigl, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Universität Passau.

VII

Die Entwicklung des Parteiensystems bis nach der Bundestagswahl 2017 Oskar Niedermayer

1 Einleitung Das deutsche Parteiensystem wandelt sich. Mit der Bundestagswahl 2009 vollzog es erstmals seit seinem Bestehen einen Typwechsel von einem System mit Zweiparteiendominanz zu einem pluralistischen System. Bei der nächsten Wahl 2013 kehrte es wieder zur Zweiparteiendominanz zurück. Die Bundestagswahl 2017 brachte den erneuten Typwechsel zu einem pluralistischen System und in den zwei Jahren nach der Wahl vollzogen sich weitere gravierende Veränderungen. Im Folgenden werden zunächst die einzelnen Parteiensystemeigenschaften und die Systemtypologie kurz erläutert, danach wird analysiert, warum es zu diesen Typwechseln kam, und schließlich wird die Entwicklung des Parteiensystems in den ersten beiden Jahren nach der Bundestagswahl 2017 in den Blick genommen.

2 Eigenschaften und Typen von Parteiensystemen Unter einem Parteiensystem versteht man „die Gesamtheit der Parteien in einem politischen System sowie deren Beziehungsgeflecht“ (Niedermayer 2007, S. 197).1 Das für die Systemebene konstitutive zwischenparteiliche 1Der

Abschnitt wurde übernommen aus Niedermayer 2015a, S. 2 ff. Eine ausführliche Diskussion der Parteiensystemeigenschaften und Systemtypologien findet sich in Niedermayer 2013a, b.

O. Niedermayer (*)  Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Jun und O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29771-8_1

1

2

O. Niedermayer

­eziehungsgeflecht lässt sich durch eine Reihe von relationalen, auf die B Koexistenz von mehreren Parteien bezogenen Parteiensystemeigenschaften struktureller und inhaltlicher Art charakterisieren, die auf der Wähler- und Parlamentsebene gemessen werden können. Die Struktur eines Parteiensystems wird wesentlich durch sein Format, d. h. die Anzahl der das System bildenden Parteien, bestimmt. Gemessen wird das Format auf der elektoralen Ebene durch die Anzahl der an einer Wahl teilnehmenden und auf der parlamentarischen Ebene durch die Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien. Neben der Gesamtzahl der Parteien werden in der Literatur noch Kriterien diskutiert, mit deren Hilfe sich relevante von irrelevanten Parteien trennen lassen.2 Für Deutschland stellt sich die Frage, wie mit den beiden christdemokratischen Parteien umgegangen werden soll. Auf der Einzelparteienebene sind CDU und CSU ohne Zweifel getrennt zu behandeln. Auf der Parteiensystemebene werden in Analysen demokratischer, d. h. kompetitiver Parteiensysteme Parteien nur dann als getrennte Analyseeinheiten betrachtet, wenn sie miteinander im Wettbewerb stehen. Da dies für CDU und CSU weder auf der elektoralen noch auf der parlamentarischen Ebene der Fall ist3, bilden sie hier eine Analyseeinheit. Die zweite strukturelle Eigenschaft ist die Fragmentierung. Sie nimmt die Größenverhältnisse der Parteien in den Blick und gibt den Grad an Zersplitterung oder Konzentration eines Parteiensystems an. Zur Messung dieser Eigenschaft wurde eine ganze Reihe von Indizes vorgeschlagen, wobei die „effektive Anzahl der Parteien“ (vgl. Laakso und Taagepera 1979) aufgrund ihrer Anschaulichkeit die größte Verbreitung gefunden hat. Der Index ist so gestaltet, dass die effektive Anzahl der Parteien auf der elektoralen bzw. parlamentarischen Ebene der realen Parteienanzahl entspricht, wenn alle Parteien den gleichen Stimmenanteil bzw. Mandatsanteil aufweisen, also ein ausgeglichenes Machtverhältnis existiert. Je ungleicher das Machtverhältnis ist, d. h. je mehr sich die Parteien in ihrer Größe unterschieden, desto geringer ist die effektive im Vergleich zur realen Anzahl, und bei Dominanz nur einer Partei nähert sich der Index dem Wert 1.

2Meist

handelt es sich dabei um eine bestimmte numerische Größe der Parteien. In Deutschland z. B. hat der Gesetzgeber ein Relevanzkriterium dadurch festgelegt, dass nur Parteien, die bestimmte Stimmenanteile erreichen (1 % bei Landtags- und 0,5 % bei Bundestags- und Europawahlen), an der staatlichen Parteienfinanzierung teilnehmen. 3Die CDU tritt bei Bundestagswahlen nur außerhalb Bayerns, die CSU nur in Bayern an, und beide bilden im Bundestag eine feste Fraktionsgemeinschaft.

Die Entwicklung des Parteiensystems …

3

Für Parteiensysteme, die durch zwei große Parteien dominiert werden, wie es für die Bundesrepublik im ersten halben Jahrhundert der Fall war, ist es für die Analyse ihrer Funktionslogik sinnvoll, zusätzlich die Stärke dieser Dominanz und das Größenverhältnis der beiden Großparteien zu betrachten. Die Dominanz der beiden Großparteien zeigt sich auf der Wählerebene am gemeinsamen Anteil der für die beiden Parteien abgegebenen Stimmen an der Gesamtheit der abgegebenen gültigen Stimmen. Vor allem bei einer geringen oder im Zeitverlauf sinkenden Wahlbeteiligung ist es zusätzlich sinnvoll, den Anteil der beiden Parteien an der Gesamtheit der Wahlberechtigten zu betrachten, um ihre Mobilisierungsfähigkeit aufzuzeigen. Auf der parlamentarischen Ebene wird die Dominanz am gemeinsamen Mandatsanteil der beiden Großparteien gemessen. Neben der Frage, wie stark die beiden Großparteien das Parteiensystem dominieren, ist deren Größenverhältnis von Interesse. Sind beide in etwa gleich stark oder ist eine der beiden über längere Zeit hinweg deutlich stärker als die andere, sodass eine Asymmetrie im Größenverhältnis vorliegt? Das Vorliegen einer solchen Asymmetrie zwischen den beiden Parteien wird einfach an der Differenz der Stimmen- bzw. Mandatsanteile gemessen. Wie leicht sich der dadurch gegebene Wettbewerbsvorteil einer der Parteien in Regierungsmacht umsetzen lässt oder ob er sogar von der benachteiligten Partei durch Koalitionsbildungen konterkariert werden kann, hängt von den inhaltlichen Eigenschaften eines Parteiensystems ab. Eine parlamentarische Asymmetrie zugunsten einer Großpartei bedeutet daher nicht zwingend, dass diese Partei auch immer die führende Regierungspartei ist. Die Gründe für ein asymmetrisches Größenverhältnis zwischen den beiden Parteien können kurz- oder langfristiger Natur sein. Hat eine der Parteien dadurch Wettbewerbsvorteile, dass ein größerer Anteil der Wähler durch eine starke, längerfristige Identifikation an sie gebunden ist, so wollen wir von einer strukturellen Asymmetrie sprechen. Die bisherigen Struktureigenschaften messen den Status eines Parteiensystems zu einem bestimmten Zeitpunkt und Aussagen über Entwicklungstendenzen können daher nur im Rahmen komparativ-statischer Analysen durch den Vergleich zweier Systemzustände gewonnen werden. Der Wandel selbst lässt sich durch die sogenannte Volatilität eines Parteiensystems (vgl. Pedersen 1980) wiedergegeben, die durch die halbierte Summe der absoluten Veränderungen des – in Prozent der gültigen Stimmen ausgedrückten – Wahlergebnisses aller Parteien zwischen zwei aufeinanderfolgenden Wahlen gemessen wird. Spätestens seit den Arbeiten Sartoris (1976) werden die Struktureigenschaften durch eine inhaltliche, die ideologisch-programmatischen Distanzen zwischen den Parteien in den Blick nehmende Eigenschaft ergänzt, die als Polarisierung bezeichnet wird. Bei der Operationalisierung dieser Eigenschaft ist zum einen

4

O. Niedermayer

danach zu fragen, welches die grundlegenden Konfliktlinien des Parteienwettbewerbs sind, und zum anderen muss festgestellt werden, wie sich die Parteien auf diesen Konfliktlinien positionieren, um sagen zu können, wie homogen oder heterogen das gesamte Parteiensystem ist. Der Parteienwettbewerb in Deutschland wird seit längerer Zeit durch eine wirtschafts- und eine gesellschaftspolitische Konfliktlinie geprägt, die auf unterschiedlichen Wertgrundlagen fußen. In der als Sozialstaatskonflikt zwischen den Grundwerten soziale Gerechtigkeit und Marktfreiheit bezeichneten wirtschaftspolitischen Konfliktlinie geht es um die Rolle des Staates im ökonomischen Wettbewerb. Der gesellschaftspolitische Konflikt dreht sich um die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens. Hier stehen linksliberale, multikulturell und international orientierte Wertvorstellungen auf der einen und konservative bis autoritäre, die nationale Identität und Kultur betonende Werte auf der anderen Seite. In enger Beziehung zur Polarisierung steht die Segmentierung eines Parteiensystems. Sie gibt den Grad der gegenseitigen Abschottung der einzelnen Parteien wieder. Auf der elektoralen Ebene sind Parteiensysteme stark segmentiert, wenn zwischen den einzelnen Parteien kaum Wettbewerb stattfindet, weil alle Parteien ihre jeweilige Wählerschaft aus klar voneinander abgegrenzten und gegenseitig abgeschotteten Segmenten der Wählerschaft rekrutieren. Auf der parlamentarischen Ebene sind extrem segmentierte Parteiensysteme dadurch gekennzeichnet, dass die Parteien untereinander alle nicht koalitionswillig sind, während in nicht segmentierten Parteiensystemen alle Parteien untereinander prinzipiell zu Koalitionsbildungen bereit sind. Anhand dieser Systemeigenschaften lässt sich die Vielzahl der existierenden Parteiensysteme in Gruppen einteilen. Zu finden sind in der Literatur zum einen Klassifikationen, d. h. die Einteilung von Parteiensystemen in sich gegenseitig ausschließende Klassen mithilfe einer einzigen Systemeigenschaft, und zum anderen Typologien, die mehrere Eigenschaften kombinieren. Die folgende Typologie (vgl. Niedermayer 2013b, S. 850), die sich in international vergleichenden Analysen bewährt hat, kombiniert die Struktureigenschaften von Parteiensystemen auf der parlamentarischen Ebene, d. h. die Systeme werden nach ihrer Wettbewerbsstruktur im Parlament typologisiert. Unterschieden werden Parteiensysteme mit einer prädominanten Partei, Parteiensysteme mit Zweiparteiendominanz, pluralistische Parteiensysteme und hoch fragmentierte Parteiensysteme. Zur Abgrenzung der ersten beiden Typen ist es notwendig, die Größenrelationen der zwei bzw. drei größten Parteien zu definieren. Um willkürliche bzw. rein empirisch gewonnene Abgrenzungen weitgehend zu vermeiden, wird als zentrales Kriterium die qualitative Veränderung der Machtposition von Parteien in Parlamenten beim Überschreiten zweier Grenzen des Mandatsanteils

Die Entwicklung des Parteiensystems …

5

herangezogen: zum einen der absoluten Mehrheit, die einer Partei die Alleinregierung erlaubt, und zum anderen der 2/3-Mehrheit, die in vielen Staaten die Grenze für Verfassungsänderungen darstellt. Als Hilfskriterium zur Abgrenzung gegenüber kleineren Parteien wird argumentiert, dass eine Partei A dann wesentlich kleiner ist als eine Partei B, wenn sie über weniger als die Hälfte des Mandatsanteils der Partei B verfügt. Unter einem Parteiensystem mit einer prädominanten Partei wird ein System verstanden, bei dem eine Partei im Parlament über die absolute Mehrheit und die nächst kleinere Partei höchstens über ein Viertel der Mandate verfügt, sodass ihr Mandatsanteil weniger als die Hälfte des Mandatsanteils der prädominanten Partei beträgt. Beim zweiten Strukturtyp, der Zweiparteiendominanz, verfügen die beiden dominierenden Parteien im Parlament je über mehr als ein Viertel und zusammen über mindestens zwei Drittel der Sitze und die nächst kleinere Partei erreicht weniger als die Hälfte der Sitze der kleineren der beiden Großparteien. Zur Abgrenzung der anderen beiden – stärker fragmentierten – Typen wird die effektive Anzahl der Parlamentsparteien verwendet. Ein Parteiensystem mit einer effektiven Parteienanzahl von über 5 wird als hoch fragmentiertes Parteiensystem eingestuft. Liegt der Wert höchstens bei 5 und handelt es sich nicht um einen der beiden erstgenannten Strukturtypen, so sprechen wir von einem pluralistischen Parteiensystem.

3 Die Strukturveränderungen des Parteiensystems Analysiert man die Entwicklung des Parteiensystems anhand dieses theoretischen Rasters, so zeigen sich die gravierenden, alle Parteiensystemeigenschaften umfassenden Veränderungen des letzten Jahrzehnts.4 Die Stärke des Wandels zeigen zusammenfassend die Volatilitätswerte, die bei den Bundestagswahlen 2009 bis 2019 deutlich höher waren als vorher und nur von der Volatilität des sich Anfang der 1950er Jahre konsolidierenden Parteiensystems übertroffen wurden (vgl. Abb. 1). Betrachten wir zunächst die verschiedenen Struktureigenschaften und beginnen mit dem parlamentarischen Format, dessen Entwicklung seit 1949 in der Abb. 2 wiedergegeben wird. Nach der ersten Bundestagswahl 1949 waren 10 Parteien im Parlament vertreten, wenn CDU und CSU aufgrund ihrer festen

4Vgl.

hierzu auch Niedermayer 2017a, 2018.

6

O. Niedermayer

24 20 16 12 8 4 0

49 53 57 61 65 69 72 76 80 83 87 90 94 98 02 05 09 13 17

Abb. 1   Die Volatilität des Parteiensystems (Petersen-Index). (Quelle: eigene Berechnungen auf der Basis der amtlichen Wahlstatistik)

Fraktionsgemeinschaft als politische Handlungseinheit gezählt werden.5 Aufgrund des durch eine Reihe von Faktoren bedingten Konsolidierungsprozesses des Parteiensystems in den 1950er Jahren verringerte sich diese Zahl schnell und in den 1960er und 1970er Jahren waren nur noch drei Parteien, die CDU/CSU, die SPD und die FDP, parlamentarisch repräsentiert. 1983 kamen die Grünen hinzu und nach der Wiedervereinigung 1990 die PDS – seit ihrer Vereinigung mit der WASG 2007 DIE LINKE –, sodass seither auf der parlamentarischen Ebene ein Fünfparteiensystem existierte.6 Auch nach der Bundestagswahl von 2009 waren fünf Parteien im Bundestag vertreten. Die anderen Strukturcharakteristika des Parteiensystems änderten sich jedoch deutlich. Vor allem die elektorale, aber auch die parlamentarische Fragmentierung stiegen deutlich an und übertrafen zum ersten Mal sogar die starke Zersplitterung bei der ersten Bundestagswahl von 1949 (vgl. Abb. 3).

5Zudem

gehörten dem ersten Bundestag noch 3 parteiunabhängige Mitglieder an. damalige PDS wird auch 2002 einbezogen, weil sie zwar an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, aber mit zwei direkt gewählten Abgeordneten im Bundestag vertreten war.

6Die

Die Entwicklung des Parteiensystems …

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12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0

49 53 57 61 65 69 72 76 80 83 87 90 94 98 02 05 09 13 17

Abb. 2    Das parlamentarische Format (parlamentarisch repräsentierte (Quelle: eigene Berechnungen auf der Basis der amtlichen Wahlstatistik)

Parteien).

Der starke Anstieg der Zersplitterung des Parteiensystems war auf zwei Entwicklungen zurückzuführen. Zum einen brachte die Wahl für die beiden Volksparteien CDU/CSU und SPD ein katastrophales Ergebnis: Die Union fiel auf 33,8 % der abgegebenen gültigen Stimmen (vgl. Abb. 4). Bezieht man die Stimmen auf die Gesamtheit der Wahlberechtigten, fragt man also nach der Mobilisierungsfähigkeit, dann fiel die Union mit einem Anteil von nur noch 23,6 % an den Wahlberechtigten auf das Niveau von 1949 zurück. Die SPD stürzte regelrecht ab. Sie musste mit 23,0 % der abgegebenen Stimmen das bis dahin mit Abstand schlechteste Ergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte hinnehmen und konnte nur noch 16,1 % der Wahlberechtigten für sich gewinnen. Zum anderen konnten zum ersten Mal seit 1990 alle drei kleineren Parteien gleichzeitig mehr oder minder deutliche Stimmengewinne verzeichnen. Eindeutige Siegerin der Wahl war die FDP, die ihr Wahlergebnis von 9,8 auf 14,6 % steigerte, aber auch die Linke und die Grünen konnten sich mit 11,9 % bzw. 10,7 % gegenüber 2005 deutlich verbessern. Das deutsche Parteiensystem war von Beginn an und sechs Jahrzehnte lang ein System mit Zweiparteiendominanz. Obwohl nach der ersten Bundestagswahl von 1949 zehn Parteien im Bundestag vertreten waren, konnten Union und SPD

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O. Niedermayer 5.5 5.0 4.5 4.0 3.5 3.0 2.5 2.0 1.5 1.0

elekt. Fragmentierung

parl. Fragmentierung

0.5 0.0

49 53 57 61 65 69 72 76 80 83 87 90 94 98 02 05 09 13 17

Abb. 3   Die elektorale und parlamentarische Fragmentierung (effektive Parteienanzahl). (Quelle: eigene Berechnungen mit Daten der amtlichen Wahlstatistik)

zusammen schon über 67 % der Bundestagsmandate auf sich vereinigen und die FDP als drittstärkste Partei kam nur auf knapp 13 % der Sitze (vgl. Abb. 5). Die Dominanz der beiden Volksparteien stieg in den nächsten zwei Jahrzehnten noch deutlich an, und in den 1970er Jahren erhielten sie zusammen 92 % der Mandate. In den 1980er Jahren ging sie jedoch deutlich zurück und nach einer Stagnationsphase in den Neunzigern setzte sich die Mobilisierungsschwäche der Volksparteien weiter fort und erreichte bei der Bundestagswahl von 2009 ihren vorläufigen Höhepunkt: Union und SPD erreichten zusammen zum ersten Mal weniger als zwei Drittel der Bundestagsmandate, und die FDP konnte mit 15 % der Mandate deutlich mehr als die Hälfte des Mandatsanteils der SPD von 23,5 % erringen. Damit war keine der Bedingungen für ein System mit Zweiparteiendominanz mehr erfüllt und das Parteiensystem vollzog einen Typwechsel zu einem pluralistischen System. Dies gab der in der Wissenschaft schon länger geführten Niedergangsdiskussion der Volksparteien7 neue Nahrung. Die Apologeten eines nahen Endes

7Zur

Zusammenfassung und Kritik dieser Diskussion vgl. Niedermayer 2013c.

Die Entwicklung des Parteiensystems …

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100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

elekt. DOM

CDU/CSU

SPD

49 53 57 61 65 69 72 76 80 83 87 90 94 98 02 05 09 13 17

Abb. 4    Stimmenanteile der CDU/CSU und SPD (in Prozent). (Quelle: amtliche ­Wahlstatistik)

dieses Parteientyps führten dabei eine Reihe von Gründen an, die sich vor allem auf längerfristige Prozesse bei den Rahmenbedingungen des politischen Wettbewerbs und auf seiner Nachfrageseite – also den Orientierungen und Verhaltensweisen der Wahlberechtigten – beziehen, vor allem die Erosion der traditionellen sozialen Milieus, aus der die Volksparteien ihre Stammwählerschaft rekrutieren, durch Prozesse des ökonomischen und sozialen Wandels. Die Stellung von Parteien im Parteienwettbewerb hängt jedoch auch von Faktoren der Angebotsseite des Wettbewerbs und damit auch vom personellen und inhaltlichen Angebot der Parteien an die Wähler ab. Einen wesentlichen Faktor im inhaltlichen Bereich bildet die Positionierung auf der wirtschafts- und der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie, die den Parteienwettbewerb in Deutschland prägen (vgl. den Abschn. 2). Union und SPD müssen bei der Verortung auf den beiden Konfliktlinien einen schwierigen Balanceakt vollführen: Einerseits müssen sie voneinander unterscheidbar sein, um den Wählern Argumente für ihre Wahl zu liefern. Andererseits müssen sie in der Nähe der Mitte bleiben, weil an den Rändern zu wenig Wähler sind, um die noch andere Parteien mit ihnen konkurrieren. Hinsichtlich der Unterscheidbarkeit helfen ihnen ihre unterschiedlichen geschichtlichen Traditionslinien, die zu unterschiedlichen Markenkernen

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O. Niedermayer

100 90 80 70

pDOM

CDU/CSU

SPD

3. P.

60 50 40 30 20 10 0

49 53 57 61 65 69 72 76 80 83 87 90 94 98 02 05 09 13 17

Abb. 5   Mandatsanteile CDU/CSU und SPD und drittstärkste Partei (in Prozent). (Quelle: eigene Berechnungen auf der Basis der amtlichen Wahlstatistik)

geführt haben, d. h. zu unterschiedlichen politischen Kernkompetenzen, mit denen sie verbunden werden, aus denen sie ihre Identität schöpfen und derentwegen sie primär gewählt werden. Diese Markenkerne liegen beide im Bereich der wirtschaftspolitischen Konfliktlinie. Bei der Union ist es die Wirtschaftskompetenz, bei der SPD die Sozialkompetenz, also ihr Grundwert der sozialen Gerechtigkeit. Bei der Umsetzung dieser Grundwerte in konkrete Politik besteht so etwas wie ein Akzeptanzkorridor seitens ihrer Wählerschaft, innerhalb dessen sich die Parteien mit ihrem politischen Angebot halten müssen und dessen Verlassen für sie schwerwiegende Konsequenzen haben kann. Dies bekam die SPD ab 2003 bei der Agenda 2010 zu spüren, mit der Gerhard Schröder die Partei im Sozialstaatskonflikt nach Ansicht eines Teils der Funktionäre, Mitglieder und Wähler der SPD zu weit in Richtung einer marktliberalen Position verschob. Das Verlassen des Akzeptanzkorridors brachte der SPD aber nicht nur ein schwer zu überwindendes Glaubwürdigkeitsproblem ein, sondern führte auch – durch die Westabspaltung von der SPD in Gestalt der WASG und deren Zusammenschluss mit der bisherigen ostdeutschen Regionalpartei PDS zur gesamtdeutschen Konkurrenzpartei DIE LINKE – 2007 zu einer Strukturveränderung

Die Entwicklung des Parteiensystems …

11

des Parteiensystems, die ihr zusätzlich zu schaffen machte. Der Absturz der SPD 2009 war somit primär nicht durch langfristige Faktoren des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels bedingt, sondern durch einen kurzfristigen Faktor in Form einer inhaltlichen Entscheidung der Parteieliten und ihrer Folgen. Dass kurzfristige Faktoren in Form des personellen und inhaltlichen Angebots der Parteien an die Wählerinnen und Wähler den langfristigen Trend nicht nur – wie 2009 bei der SPD – deutlich verstärken, sondern auch abschwächen und sogar umkehren können, zeigte sich bei der nächsten Wahl. Bei der Bundestagswahl 20138 konnten die beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert gleichzeitig Stimmengewinne verzeichnen, wenn auch in höchst unterschiedlichem Maße: Die Union steigerte ihren Stimmenanteil um fast 8 Prozentpunkte auf 41,5 % und verfehlte nur knapp die absolute Mehrheit der Sitze im Bundestag. Die SPD konnte um knapp 3 Prozentpunkte auf 25,7 % zulegen. Die Umkehr des seit den 1980er Jahren – mit Ausnahme von 2002 – bestehenden Abwärtstrends in den Stimmenanteilen (vgl. Abb. 4) gelang der Union durch eine optimale Kombination ihres personellen und inhaltlichen Angebots: Der Wahlkampf wurde stark auf Angela Merkel konzentriert, die bei den Bürgern die besten Kanzlerbeurteilungen seit 1990 erhielt, und das Image der Kanzlerin wurde inhaltlich mit dem wirtschaftspolitischen Markenkern der CDU/CSU verbunden, indem man auf der Basis guter ökonomischer Grundlagen das Bedürfnis der Wähler nach einem „weiter so“ bediente. Dass die Union bei Bundestagswahlen vor der SPD liegt, ist im deutschen Parteiensystem nichts Neues. Diese Asymmetrie d. h. der sowohl bei den Stimmen- als auch bei den Mandatsanteilen bestehende Vorsprung der Union vor der SPD, ist eine Eigenschaft, die das deutsche Parteiensystem seit den 1950er Jahren fast durchgehend prägt (vgl. Abb. 6). Bei der ersten Bundestagswahl 1949 waren Union und SPD sowohl auf der Wähler- als auch auf der Parlamentsebene noch etwa gleich stark. In den 1950er Jahren bildete sich jedoch – vor allem aufgrund der Tatsache, dass die Union als Regierungspartei den gesellschaftlichen Wandel sehr viel stärker für sich nutzen konnte als die SPD und zudem das bürgerlich-konservative Kleinparteienspektrum weitgehend absorbierte – eine Asymmetrie zugunsten der Union heraus. Diese blieb – mit Ausnahme der Wahl von 1972, die die SPD mit einer optimalen Konstellation ihres personellen und inhaltlichen Angebots (Stichworte: Willy Brandt und neue Ostpolitik) für sich entscheiden konnte – bis Mitte der 1990er Jahre bestehen.

8Zur

Bundestagswahl 2013 vgl. Niedermayer 2014, 2015a, b.

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O. Niedermayer

24 20

elekt. Asymmetrie

parl. Asymmetrie

16 12 8

4 0 -4 -8 -12

49 53 57 61 65 69 72 76 80 83 87 90 94 98 02 05 09 13 17

Abb. 6   Elektorale und parlamentarische Asymmetrie (in Prozent). (Quelle: eigene Berechnungen auf der Basis der amtlichen Wahlstatistik)

Allein bei der Wahl von 1998, bei der es der SPD mit dem Duo Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine unter dem Motto „Innovation und soziale Gerechtigkeit“ gelang, der Wählerschaft eine optimale Verbindung von sozialer Kern- und wirtschaftlicher Sekundärkompetenz zu vermitteln, konnte die SPD jedoch deutlich mehr Stimmen und Mandate erhalten als die Union. Die vor dieser Wahl geweckten hohen Erwartungen konnten nach der rot-grünen Regierungsübernahme allerdings nicht eingelöst werden und die SPD verspielte 2002 ihren Vorteil wieder. Danach führten vor allem die Positionsveränderung der SPD im Sozialstaatskonflikt und die daraus resultierende Strukturveränderung des Parteiensystems 2009 zu einer Wiederherstellung der traditionellen Asymmetrie zugunsten der Union, die sich 2013 noch deutlich vergrößerte. Die Wahl hatte noch weitere bemerkenswerte Ergebnisse: Die Wahlbeteiligung stieg seit 1998 zum ersten Mal wieder. Die FDP, die die Geschicke der Bundesrepublik von Anfang an mitgeprägt hatte, scheiterte zum ersten Mal in ihrer Geschichte an der Fünf-Prozent-Hürde und war im Bundestag nicht mehr vertreten. Da auch die Grünen und die Linkspartei schlechter abschnitten als 2009, mussten bei dieser Wahl erstmals alle drei kleineren Parteien gleichzeitig Stimmenverluste hinnehmen. Hingegen bekam mit der Alternative für Deutschland

Die Entwicklung des Parteiensystems …

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(AfD) erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik eine erst kurz vor der Wahl (am 6. Februar 2013) gegründete Partei so viele Stimmen, dass sie den Einzug in den Bundestag nur knapp verpasste. Insgesamt markierte die Wahl wiederum einen deutlichen Einschnitt in der Entwicklung des Parteiensystems. Alle seine relevanten Strukturcharakteristika wurden verändert: Sein parlamentarisches Format sank zum ersten Mal seit 1990 von fünf auf vier im Bundestag vertretene Parteien (vgl. Abb. 2). Der seit den 1980er Jahren bestehende Trend zunehmender elektoraler und parlamentarischer Fragmentierung wurde zum ersten Mal wieder deutlich umgekehrt (vgl. Abb. 3). Das Wahlsystem führt vor allem wegen der Fünf-Prozent-Sperrklausel bei der Transformation von Wählerstimmen in Parlamentsmandate zu einem Konzentrationseffekt, das heißt die parlamentarische Fragmentierung ist immer geringer als die elektorale. Da diesmal neben den üblichen Kleinstparteien auch die FDP, sowie die AfD und die Piraten an der 5 %-Hürde scheiterten, hatten fast 6,9 Mio. Wählerinnen und Wähler, das sind 15,7 %, ihre Zweitstimmen einer Partei gegeben, die bei der Mandatsvergabe nicht berücksichtigt wurde. Dies schlug sich in der höchsten Diskrepanz zwischen elektoraler und parlamentarischer Fragmentierung nieder, die Deutschland je hatte. Die Dominanz der beiden Volksparteien, die schon seit den 1980er Jahren und verstärkt in den 2000er Jahren zurückgegangen war, stieg 2013 wieder stark an: Union und SPD zusammen erhielten über 67 % der Stimmen und knapp 80 % der Mandate (vgl. die Abb. 4 und 5). Und schließlich stieg die parlamentarische Asymmetrie durch den Vorsprung der Union vor der SPD in den Mandatsanteilen von 18,7 Prozentpunkten auf einen Wert, wie er zuletzt 1950er Jahren erreicht wurde (vgl. Abb. 6). Da die Union 49,3 %, die SPD 30,6 % und die Linkspartei als drittstärkste Partei nur 10,1 % der Mandate erringen konnten, erfüllte das Parteiensystem wieder alle Bedingungen eines Systems mit Zweiparteiendominanz, sodass der 2009 erfolgte Typwandel rückgängig gemacht wurde.

3.1 Die Entwicklung von 2013 bis 2017 In der ersten Hälfte der Wahlperiode nach der Bundestagswahl 20139 – d. h. bis Anfang September 2015 – veränderte sich am Ausmaß der Unterstützung der beiden Volksparteien so gut wie nichts. Den Umfragen zufolge blieben CDU/ CSU und SPD in etwa auf dem Stimmenanteil, den sie bei der Wahl erreicht

9Vgl.

hierzu Niedermayer 2018, S. 291 ff., und ders. 2015c.

14

O. Niedermayer

50 45 40 35 30 25 20 15 10 5

0

CDU/CSU

FL

MS

SPD 9/13 1/14 5/14 9/14 1/15 5/15 9/15 1/16 5/16 9/16 1/17 5/17 37.W

Abb. 7   Wahlabsicht CDU/CSU und SPD 2013–2017 (in Prozent). (Quelle: Infratest dimap Sonntagsfragen)

hatten (vgl. Abb. 7). Das ist eher ungewöhnlich, denn normalerweise beginnt die Zustimmung der Wähler zu den Regierungsparteien nach einer kurzen Nachwahleuphorie abzubröckeln. Geschuldet ist dies der Tatsache, dass Regierungen zwischen zwei Parlamentswahlen in der Regel einem Popularitätszyklus unterliegen: Sie haben vor der Wahl bei ihren Anhängern hohe Erwartungen geweckt, die sie durch ihre konkrete Politik meist enttäuschen. Zudem führen die Regierungen notwendige, aber bei der Bevölkerung unbeliebte Maßnahmen bevorzugt in der ersten Halbzeit der Wahlperiode durch, damit die Wähler sie bis zur nächsten Wahl wieder vergessen haben. Daher fallen die Zufriedenheitswerte mit der Arbeit der Bundesregierung normalerweise in der ersten Hälfte der Wahlperiode deutlich, was sich negativ auf die Wahlabsichten zugunsten der Regierungsparteien auswirkt. Nach der Bundestagswahl 2013 war dies jedoch nicht der Fall, im Gegenteil: Die Große Koalition erreichte bei der Zufriedenheit der Bevölkerung mit ihrer Arbeit schon von Anfang an einen Wert, der über jenen der letzten drei Regierungen lag. In der Folgezeit stieg die Zufriedenheit noch

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weiter an und erreichte im zweiten Regierungsjahr Werte, von denen die letzten drei Regierungen im vergleichbaren Zeitraum sehr weit entfernt waren.10 Für diese gute Bewertung, die sich in den Wahlabsichten für die beiden Parteien niederschlug, gab es einen wesentlichen Grund: Im Gegensatz zu ihren Vorgängern führte die Regierung keine von der Bevölkerung kritisch gesehenen Reformen durch und hielt die wesentlichen Versprechungen, die die Parteien im Wahlkampf gemacht hatten. Dies betraf vor allem die beiden 2014 beschlossenen zentralen sozialpolitischen Maßnahmen, die beim Wahlvolk auf breite Zustimmung stießen: die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns und der Rente mit 63 Jahren. Zudem führten außenpolitische Krisensituationen dazu, dass sich die Bevölkerung hinter die Regierungsparteien scharrte. Bis zur Hälfte der Wahlperiode gab es somit insgesamt weiterhin die klare Zweiparteiendominanz von Union und SPD mit einem gemeinsamen Stimmenanteil von etwa zwei Dritteln, die bei der Bundestagswahl 2013 entgegen dem längerfristigen Trend erreicht worden war. Auch an der deutlichen Asymmetrie zugunsten der Union hatte sich nichts verändert, weil sich die Faktoren, die dafür verantwortlich waren, nicht gewandelt hatten: Neben ihrem weiter bestehenden längerfristigen Vorteil durch einen größeren Anteil an stark an die Partei Gebundenen profitierte die Union weiterhin von der sehr guten Beurteilung der Kanzlerin durch die Bevölkerung, an die die Werte des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel bei Weitem nicht heranreichten (vgl. Abb. 8)11, und den inhaltlichen Zuschreibungen von größeren Problemlösungskompetenzen – nicht nur – im Bereich ihres Markenkerns. Ab Herbst 2015 änderte sich die Lage jedoch deutlich (vgl. Niedermayer 2016). Das lag an einer sachpolitischen und einer personellen Entscheidung der politischen Akteure, die starke Auswirkungen auf die beiden kurzfristigen Faktoren hatten, die die Wahlabsichten beeinflussen. Die sachpolitische Entscheidung war der Entschluss Angela Merkels in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015, in Budapest festsitzende Flüchtlinge unbürokratisch nach Deutschland einreisen zu lassen. Durch diese Entscheidung wurde das Flüchtlingsproblem, das für die Deutschen schon seit dem Herbst 2014 zum wichtigsten Problem geworden war, zum einzig wichtigen Problem auf der politischen Agenda (vgl. Abb. 9).

10Vgl.

die Politbarometer-Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen e. V. enthält Mittelwerte einer von −5 bis +5 reichenden generellen Bewertungsskala.

11Die Abb.

16

O. Niedermayer

3

Merkel Gabriel Schulz

3 2 2 1

1 FL 0

MS

9/13 1/14 5/14 9/14 1/15 5/15 9/15 1/16 5/16 9/16 1/17 5/17

37

Abb. 8   Generelle Bewertung von Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Martin Schulz (MW). (Quelle: Forschungsgruppe Wahlen e. V.: Politbarometerumfragen)

Merkels Entscheidung wurde zunächst von zwei Dritteln der Deutschen gutgeheißen.12 Der folgende dramatische Anstieg der Flüchtlingszahlen führte jedoch schon im Oktober zu einem Umschlagen der Stimmung. Danach war die Gesellschaft in der Flüchtlingsfrage gespalten, die Diskussion wurde in einer stark polarisierten und emotionalisierten Weise geführt, und Ereignisse wie die sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht und eine Reihe von Terroranschlägen im In- und Ausland heizten die Stimmung weiter an. Die Beurteilung der Kanzlerin durch die Bevölkerung wurde deutlich schlechter, und ihre Imagewerte verharrten bis Ende 2016 trotz größerer Schwankungen auf niedrigerem Niveau (vgl. Abb. 8). Parallel hierzu verlor die Union rund ein Fünftel ihres Wählerpotenzials (vgl. Abb. 7). Obwohl auch ein Teil der CDU mit Merkels Flüchtlingspolitik unzufrieden war, wurden der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer und seine CSU zu ihren schärfsten Kritikern. Die SPD konnte bis Ende 2016 von der Schwäche der Kanzlerin und der Union nicht profitieren, im

12Vgl.

Forschungsgruppe Wahlen e. V., Politbarometer September I, 2015.

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100 90 80

Flüchtlingsproblem zweitw. Problem

70 60 50 40 30 20

10 0

FL 9/13 1/14 5/14 9/14 1/15 5/15 9/15 1/16 5/16 9/16 1/17 5/17

37

Abb. 9   Problemrelevanz (in Prozent). (Quelle: Forschungsgruppe Wahlen e. V. Politiba­ rometerumfragen)

Gegenteil: Die Beurteilung Sigmar Gabriels verschlechterte sich ebenfalls, und ab Anfang 2016 verlor die SPD etwa ein Zehntel ihres Wählerpotenzials. Das Blatt wendete sich jedoch am 24. Januar 2017 durch Gabriels Entscheidung, auf die Kanzlerkandidatur zu verzichten und Martin Schulz als SPD-Kandidaten vorzuschlagen. Kurz nach seiner Nominierung wurde Schulz von der Bevölkerung besser bewertet als die Kanzlerin (vgl. Abb. 8). Die SPD konnte in den Umfragen stark zulegen und fand sich von Anfang Februar bis Ende März mit der Union auf Augenhöhe (vgl. Abb. 7). Dies hatte eine Reihe von Gründen (vgl. Niedermayer 2017b, S. 475 ff.). Der wichtigste war, dass es einen wochenlangen, bisher noch nicht dagewesenen Medienhype um Schulz gab, der mit einer teilweise groteske Züge annehmenden Kampagne im Internet begann und von den traditionellen Medien fortgesetzt wurde. Dabei half sehr, dass die SPD ihren Kandidaten als Verkörperung der sozialdemokratischen Erzählung präsentieren konnte, d. h. als jemand, der sich – aus kleinen Verhältnissen kommend – trotz vieler Widrigkeiten seinen Platz im Leben erkämpft hatte. Seine Botschaft „ich bin einer von euch“ wirkte daher glaubhaft, obwohl er als Präsident des Europäischen Parlaments seit vielen Jahren der hochbezahlten europäischen politischen Elite angehört hatte.

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O. Niedermayer

Zudem war Schulz der einen Neuanfang verkörpernde Mann von außen. Dadurch wurde er nicht für die Innenpolitik der jahrzehntelangen Regierungspartei SPD verantwortlich gemacht. Dies betraf vor allem die Agenda 2010. Durch sein Versprechen, die Agenda zu reformieren, und seine Konzentration auf den traditionellen SPD-Markenkern der sozialen Gerechtigkeit konnte Schulz den linken Flügel hinter sich bringen und so die Einheit der Partei als Voraussetzung für einen Wahlsieg herstellen. Auch seine inhaltliche Unbestimmtheit in den meisten anderen Politikbereichen half ihm zunächst, da er damit zur Projektionsfläche für sehr unterschiedliche Vorstellungen im Rahmen des Wunsches nach einer Alternative zur Kanzlerin wurde. Dies alles war für die SPD geradezu ein Wiederbelebungsprogramm. Hatte sie die letzten Jahre wegen der Agenda 2010, dem Dasein als Juniorpartner der Union und des von vielen ungeliebten Vorsitzenden in politischer Dauerdepression verbracht, so wirkte nun der mit Zuversicht zum Angriff blasende Martin Schulz wie ein Erlöser. Die Partei feierte ihn daher auch in einer an Personenkult grenzenden Weise, die ihren Höhepunkt bei seiner mit 100 % der Stimmen erfolgten Wahl zum neuen Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten fand. Die euphorische, die SPD mit Schulz auf Augenhöhe zu Merkel und der Union sehende Aufbruchstimmung in Medien und Partei produzierte bei der Bevölkerung Kurzfristeffekte, die sie sozusagen zur self-fulfilling prophecy machten. Einige sahen nun in Schulz den ersten ernsthaften Herausforderer der angeschlagenen Kanzlerin, andere fanden ihn einfach nur sympathischer als Merkel, wieder andere wollten zum vermeintlichen Sieger gehören, und alle brachten ihre Stimmung in den Umfragen durch eine Wahlabsicht für die SPD zum Ausdruck, sodass die SPD tatsächlich zur Union aufschloss. Die Union hatte dem Schulz-Hype anfangs nichts entgegenzusetzen. Die Kanzlerin hatte durch ihre Politik einen Teil ihrer Wähler vergrätzt, die Umfragewerte hatten sich noch nicht erholt, und die Schwesterparteien waren durch den langen Streit paralysiert. Nach nur zwei Monaten flaute der Schulz-Effekt jedoch deutlich ab, und im Juli war die SPD in den Umfragen wieder dort angekommen, wo sie vor der Nominierung ihres Kandidaten gewesen war. Ein wesentlicher Grund lag darin, dass der von der SPD selbst so inszenierte Praxistest des Schulz-Effekts in Form der Landtagswahlen Ende März im Saarland und im Mai in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen krachend scheiterte. An der Niederlage im Saarland war Martin Schulz nicht unschuldig, da er Sympathien für die Ablösung der ­CDU-geführten Großen Koalition durch ein Bündnis aus SPD und Linkspartei erkennen ließ und diese Aussicht viele Wähler mobilisierte, die dies ablehnten. Kurz nach der Wahl schwenkte er dann um und lobte die FDP, was wiederum

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die Anhänger von Rot/Rot/Grün irritierte. Das Koalitionsproblem und damit die Frage nach der Machtperspektive blieb bis zur Wahl ein Dilemma der SPD, weil man einerseits die Parole ausgab, über Koalitionen nicht zu reden, sich andererseits aber nicht jeder daran hielt. Schon die Saarlandwahl führte zu einer deutlich kritischeren und abnehmenden Medienberichterstattung über Schulz und schlug sich im Internet teilweise in ausgesprochener Häme über den gescheiterten Kandidaten nieder. Ein weiterer Faktor für das Abflauen des Schulz-Effekts war die Tatsache, dass Schulz, da er kein bundespolitisches Amt hatte, in der Tagespolitik im Gegensatz zur Kanzlerin nicht sichtbar war. Inhaltlich wurde zudem schnell klar, dass mit einer unter dem Motto der sozialen Ungerechtigkeit stehenden Pauschalkritik am Zustand des Landes die Wahl nicht zu gewinnen war, weil nur wenige Bürger ihre eigene ökonomische Situation als schlecht beurteilten und Deutschland wirtschaftlich gut dastand. Daher wuchs der Druck auf Schulz, die Kritik auf konkrete Missstände herunterzubrechen und auch zu anderen Themen Stellung zu beziehen, was jedoch sehr lange, nämlich bis Mitte Mai, nicht geschah. So wurde die Stimmungseuphorie für Schulz nicht mit konkreten Konzepten politisch unterfüttert. Für die SPD war daran allein Hannelore Kraft schuld, die Schulz während des NRW-Wahlkampfs zur bundespolitischen Zurückhaltung aufgefordert habe. Heute wissen wir aber, dass der Kanzlerkandidat selbst lange daran festhielt, inhaltlich unbestimmt zu bleiben. Nach der NRW-Wahl präsentierte er dann in schneller Folge Konzepte für eine Reihe von Politikbereichen. Es gelang ihm aber bis zum Schluss nicht, ein wirkliches Gewinnerthema für die SPD zu etablieren. Eher verfestigte sich der Eindruck, dass er sich verzettelte und die Kernbotschaft verwässert wurde. Ein letzter Grund für das schlechte Abschneiden der Sozialdemokraten war, dass sie die handwerklich schlechteste Wahlkampagne aller Parteien ablieferten. Das begann bereits damit, dass die Nominierung des Kanzlerkandidaten schon wieder – und nun zum dritten Mal hintereinander – eine Sturzgeburt war. Sigmar Gabriel hatte die Partei viel zu lange in dem Glauben gelassen, er würde es selbst machen. Daher gab es zum Zeitpunkt der Nominierung von Schulz kein eingespieltes Team, keine längerfristige strategische Planung und zu wenige ausgearbeitete inhaltliche Konzepte. Außerdem überließ man die Führung des Wahlkampfmanagements anfangs zwei Personen, die auf diesem Gebiet keinerlei Erfahrung hatten. Zudem tat die Union der SPD nicht den Gefallen, sich auf eine Detaildiskussion über ihre inhaltlichen Konzepte einzulassen. CDU und CSU zeigten sich ab März nach außen hin wieder geschlossen, d. h. die CSU stellte sich, auch wenn es vielen schwerfiel, hinter die Kanzlerin. Ihre Wahlkampfstrategie zielte

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O. Niedermayer

eindeutig darauf ab, das in der Flüchtlingskrise stark beschädigte Image von Angela Merkel als erfahrene und verlässliche Krisenmanagerin, die Deutschland als Mutter der Nation sicher durch alle Turbulenzen steuert und dafür sorgt, dass es den Deutschen weiterhin gut geht, einigermaßen wiederherzustellen. Dabei halfen ihr natürlich die internationalen krisenhaften Entwicklungen. Zwar war den Wahlkampfstrategen der Union klar, dass man das Traumergebnis von 2013 unter den 2017 herrschenden Umständen nicht würde wiederholen können; im Juli/August schien jedoch ein Abschneiden knapp unter der 40 %-Marke möglich. In der Schlussphase ging der Unionskampagne aber buchstäblich die Luft aus: Zum einen ging man in der Öffentlichkeit spätestens nach dem TV-Duell, bei dem Martin Schulz seine letzte Chance, das Ruder noch herumzureisen, verspielt hatte, einhellig davon aus, dass die Union die Wahl mit großem Vorsprung vor der SPD gewinnen würde. Die Medien, die sich normalerweise in der Schlussphase auf das Rennen zwischen Regierungschef/in und Herausforderer konzentrieren, richteten ihr Augenmerk fast ausschließlich auf die kleineren Parteien und das Rennen um Platz drei. Das schadete zwar auch der SPD, aber der Union als designierter Gewinnerpartei deutlich mehr. Sie hatte immer größere Probleme, ihr Wählerpotenzial zu mobilisieren. Der zweite Grund war, dass das bei den Wählern etwas aus dem Blick geratene Flüchtlingsthema in der Schlussphase des Wahlkampfes wieder deutlich stärker im Vordergrund der Diskussion stand. Die Zuspitzung der Situation auf der Mittelmeerroute im Juli, der Versuch von Martin Schulz Ende Juli, die Flüchtlingssituation zum Wahlkampfthema für die SPD zu machen, die Relevanz im TV-Duell und in den anderen Wahlsendungen: all dies führte dazu, dass die Flüchtlingsfrage in den Augen der Wähler bei der Wahl das mit Abstand wichtigste Problem war. Für die Union hatten schon deutlich früher die massiven Störungen der Wahlkampfauftritte Angela Merkels nicht nur in Ostdeutschland angezeigt, dass die sich in ihrer Person manifestierende Polarisierung der Gesellschaft in der Flüchtlingsfrage angehalten hatte und nun verstärkt wieder zum Vorschein kam, was die Partei Stimmen kostete. Die Wahl im September 2017 war für beide Volksparteien ein schwarzer Tag (Niedermayer 2017c, S. 465). Noch nie in der fast 70-jährigen Wahlgeschichte der Bundesrepublik mit insgesamt 19 Bundestagswahlen war die elektorale und parlamentarische Dominanz von CDU/CSU und SPD so gering: Die beiden Parteien konnten zusammengenommen nur noch 53,4 % der Stimmen mobilisieren und erhielten nur noch 56,3 % der Bundestagsmandate (vgl. die Abb. 4 und 5). Die CDU/CSU musste gegenüber 2013 Verluste von 8,6 Prozentpunkten hinnehmen und erzielte mit 32,9 % das zweitschlechteste Wahlergebnis ihrer Parteigeschichte. Damit lag sie aber immer noch 12,4 Prozentpunkte vor

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der SPD, die 5,2 Punkte verlor und mit 20,5 % das schlechteste Ergebnis ihrer bundesrepublikanischen Geschichte einfuhr. War die Wählerunterstützung für die Union und SPD in der ersten Hälfte der Wahlperiode durch Stagnation gekennzeichnet, so zeigte sich bei den kleineren Parteien etwas mehr Bewegung, vor allem bei der AfD (vgl. Abb. 10). Die im Februar 2013 gegründete Partei wurde zunächst primär über ihren wirtschaftspolitischen Markenkern, die marktliberal orientierte Kritik an der Eurorettungspolitik der Regierung, wahrgenommen. Schon bei der Bundestagswahl 2013 und noch stärker bei der Europawahl Ende Mai 2014 stand jedoch auch ihre kritische Haltung zur Immigration im Vordergrund, sodass sie sich nicht nur den Gegnern der Eurorettung, sondern auch zuwanderungskritischen Protestwählern als Alternative anbot. Bei der Wahl konnte die Partei ihr Ergebnis gegenüber der Bundestagswahl deutlich auf 7,1 % steigern und konnte in den bundespolitischen Umfragen erstmals Werte oberhalb der Fünf-Prozent-Schwelle erzielen. Ein deutlicher Aufschwung erfolgte jedoch erst, als die AfD vor allem aufgrund ihrer restriktiven Positionen zur inneren Sicherheit und zur E ­ inwanderungs-/Asylthematik bei der sächsischen Landtagswahl Ende August 2014 mit 9,7 % in den ersten Landtag einzog und gleich darauf bei den Landtagswahlen in Brandenburg

18 16

AfD

FDP

14 12 10 8 6 4 2 0

FL 9/13 1/14 5/14 9/14 1/15 5/15 9/15 1/16 5/16 9/16 1/17 5/17 37.W

Abb. 10   Wahlabsicht AfD und FDP 2013–2017 (in Prozent). (Quelle: Infratest dimap Sonntagsfragen)

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und Thüringen Mitte September zweistellige Ergebnisse erzielte. Die Hochphase hielt jedoch nicht allzu lange und konnte auch durch den – deutlich knapperen – Einzug in die Bürgerschaft von Hamburg und Bremen nicht stabilisiert werden. Ab Mitte 2015 lag die Partei wieder bei Werten um die fünf Prozent. Diese Entwicklung ist auf den ersten Blick erstaunlich, denn die AfD hätte eigentlich von der großen Bedeutung ihres ursprünglichen Markenkerns, der Eurorettung, und ihres zweiten inhaltlichen Hauptthemas, der Immigration, auch bundespolitisch weiter profitieren müssen. Dass sie diese Themenkonjunktur bis Anfang September 2015 nicht in eine steigende Wählerunterstützung ummünzen konnte, war vor allem auf die immer heftigeren und schließlich zur Spaltung führenden inhaltlichen und personellen Konflikte innerhalb der Partei zurückzuführen. So hatte die Frage der gesellschaftspolitischen Positionierung schon seit dem Sommer 2013 bei Themen wie der Haltung zum Islam, zur Familien- und Geschlechterpolitik, zur Einwanderungs- und Asylpolitik und ab dem Herbst 2014 auch zu dem islamfeindlichen PEGIDA-Bündnis zu innerparteilichen Auseinandersetzungen geführt, die immer mehr an Schärfe zunahmen. Dabei standen sich ein gemäßigt konservativer und ein rechtskonservativer Flügel mit unscharfer Abgrenzung zum rechtsextremen Rand gegenüber. Der inhaltliche Streit wurde zudem überlagert durch persönliche Animositäten, die 2015 im Bundesvorstand zu einem offenen Machtkampf zwischen zwei der drei gleichberechtigten Parteisprecher, Bernd Lucke und Frauke Petry, eskalierten. Auf einem Bundesparteitag im Juni 2015 entschied der rechtskonservative Flügel die Vorstandswahlen für sich und servierte Bernd Lucke unter Buhrufen regelrecht ab. Dieser trat daraufhin mit seinen etwa ein Fünftel der Mitglieder ausmachenden Anhängern aus der AfD aus. Unter ihren neuen Vorsitzenden Frauke Petry und Jörg Meuthen bewegte sich die Partei weiter nach rechts und sackte nach der Spaltung in den Umfragen zunächst auf drei bis vier Prozent ab. Die dramatische Entwicklung der Flüchtlingskrise und die strategische Entscheidung der AfD-Führung, die strikte Gegnerschaft zur Flüchtlingspolitik von Angela Merkel zu ihrem neuen Schwerpunkt zu machen, bescherte der Partei ab dem Herbst 2015 steil ansteigende Umfragewerte. Da nicht nur die mitregierende SPD, sondern auch alle Oppositionsparteien im Bundestag in der Flüchtlingspolitik auf Merkels Seite standen, hatte die AfD hier ein Alleinstellungsmerkmal, sodass sie neben Überzeugungswählern eine große Zahl von Protestwählern anzog, die den anderen Parteien einen Denkzettel verpassen wollten. Mit Spitzenwerten von bis zu 16 % wurde sie dadurch 2016 über weite Strecken zur drittstärksten Partei (vgl. Abb. 7). Daran änderte auch das

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Zerbrechen der baden-württembergischen Landtagsfraktion wegen Antisemitismusvorwürfen gegen einen ihrer Abgeordneten, die Eskalation eines erneuten Machtkampfes im Bundesvorstand zwischen Petry und Meuthen sowie die Aufdeckung einer Reihe von Verbindungen von AfD-Funktionären zu als rechtsextrem eingestuften Gruppen und Organisationen nichts. Ab Anfang 2017 ging die Wählerunterstützung der AfD jedoch zurück und erreichte im Frühjahr 2017 nur noch einstellige Werte. Ursache waren – auf dem Hintergrund wesentlich geringerer Flüchtlingszahlen und der restriktiveren Flüchtlingspolitik der Bundesregierung – der andauernde innerparteiliche Führungsstreit und vor allem eine Rede des Rechtsaußen der Partei, Björn Höcke, Mitte Januar in Dresden, in der er in Anspielung auf das Holocaustmahnmal in Berlin von einem „Denkmal der Schande“ sprach und eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad forderte. Damit war zum einen für viele bürgerliche (Protest-)Wähler eine rote Linie überschritten und zum anderen initiierte die sich nun immer stärker für eine Abgrenzung der AfD gegenüber dem äußersten rechten Rand einsetzende Frauke Petry einen Mehrheitsbeschluss des Bundesvorstands zur Einleitung eines Parteiausschlussverfahrens gegen Höcke. Dies ließ den innerparteilichen Führungsstreit weiter eskalieren und ihre Gegner vom völkisch-nationalistischen „Flügel“ sorgten dafür, dass der Parteitag im April für Petry ein Desaster wurde. Der Wahlkampf lief holprig, die Partei wirkte strategisch unentschlossen und hatte ihr großes Wahlkampfthema noch nicht gefunden. Dies wurde ihr dann von außen geliefert, als das Flüchtlingsthema in der Schlussphase des Wahlkampfes wieder deutlich stärker in den Vordergrund rückte. Die Partei legte in den letzten Wochen vor der Wahl in den Umfragen wieder deutlich zu und zog letztendlich mit 12,6 % der Stimmen als drittstärkste Partei in den Bundestag ein. Neben der AfD konnte die FDP bei der Wahl mit einem Stimmenanteil von 10,7 % große Zuwächse erzielen und schaffte den Wiedereinzug in den Bundestag, nachdem sie 2013 auf 4,8 % abgestürzt und nach 64 Jahren parlamentarischer Repräsentanz aus dem Bundestag ausgeschieden war. Das Wahldesaster von 2013 führte zum Rücktritt der gesamten Führungsspitze, und der ­nordrhein-westfälische Landes- und Fraktionschef Christian Lindner wurde zum neuen Vorsitzenden gewählt. Die innerparteiliche Konsolidierung schlug sich in den Umfragen jedoch zunächst nicht nieder. Angesichts der wenigen überregional profilierten Köpfe in der neuen Führung, des Verlustes des Markenkerns in den Augen der Wähler, der Ressourcenknappheit der Partei, der Schwierigkeiten, als außerparlamentarische Oppositionspartei Medienaufmerksamkeit zu generieren und der neuen Konkurrenz durch die AfD mit ihrer marktliberal

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ausgerichteten Eurorettungskritik fiel es der Partei schwer, überhaupt wahrgenommen zu werden. Ihr Ergebnis bei der Europawahl 2014 war mit 3,4 % noch schlechter als bei der Bundestagswahl, und in den nachfolgenden drei Landtagswahlen scheiterte sie jeweils an der Fünf-Prozent-Hürde, sodass ihr Schicksal Ende 2014 besiegelt zu sein schien. Im Frühjahr 2015 besserte sich die Lage jedoch durch ihr gutes Abschneiden bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg und Bremen. Sie wurde von einigen Beobachtern wieder als notwendige Alternative im Parteiensystem wahrgenommen und konnte in den bundesweiten Umfragen etwas zulegen. Die Belebung dauerte jedoch nicht lange: Im Herbst fiel die Partei wieder auf Werte um die fünf Prozent zurück. 2016 wendete sich das Blatt zunächst. Die FDP verzeichnete bei den drei Landtagswahlen im März des Jahres überall Stimmengewinne; in ­Rheinland-Pfalz zog sie nicht nur wieder in den Landtag, sondern auch in die neue Landesregierung ein. Allerdings schmolz das bundesweite Umfrageplus relativ schnell wieder ab. Die Landtagswahlen im Herbst 2016 und Frühjahr 2017 brachten gemischte Ergebnisse: In Mecklenburg-Vorpommern stagnierte die Partei auf niedrigem Niveau, in Berlin konnte sie wieder ins Abgeordnetenhaus einziehen, im Saarland scheiterte sie jedoch an der Fünf-Prozent-Hürde. Mit bundesweiten Umfragewerten von fünf bis sechs Prozent war die FDP bis zum späten Frühjahr des Wahljahrs 2017 bezüglich ihres Wiedereinzugs in den Bundestag noch lange nicht auf der sicheren Seite. Ihre Wahlerfolge bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen im Mai 2017 und die Tatsache, dass sie in beiden Ländern zur Regierungspartei aufstieg, führten dann jedoch bundesweit zu einer Steigerung ihrer Wählerunterstützung auf acht Prozent. Diese gute Ausgangsposition nützte sie im Wahlkampf optimal durch eine auf Christian Lindner, der als erster FDP-Politiker nach 2013 von den Bürgern wieder unter die wichtigsten Politiker gezählt und sehr gut beurteilt wurde, konzentrierte und mit allen Regeln brechende und gerade dadurch viel Aufmerksamkeit erzielende Plakatkampagne. Inhaltlich gab die Partei die thematische Verengung von früher auf, setzte mit den wichtigen Zukunftsbereichen Bildung und Digitalisierung neue Schwerpunkte, blieb aber weiterhin die Partei der sozialen Marktwirtschaft, um die teilweise abgewanderte traditionelle Kernwählerschaft aus dem Mittelstand wiederzugewinnen. Zudem präsentierte sie sich den Wählern mit einer rechtsstaatlich orientierten Kritik an der Flüchtlingspolitik als Alternative zur AfD. Keine großen Stimmenzuwächse konnten die Grünen und die Linkspartei erzielen (vgl. Abb. 11). Die Grünen lagen bis in das Frühjahr 2016 hinein bei Werten von zehn bis elf Prozent. Im Gefolge der Landtagswahl in

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18 16

GRÜNE

LINKE

14 12 10 8 6 4 2

0

FL 9/13 1/14 5/14 9/14 1/15 5/15 9/15 1/16 5/16 9/16 1/17 5/17 37.W

Abb. 11   Wahlabsicht Grüne und Linke 2013–2017 (in Prozent). (Quelle: Infratest dimap Sonntagsfragen)

­ aden-Württemberg im März 2016, wo die Partei mit über 30 % der Stimmen B einen großen Erfolg feiern konnte, der es dem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann erlaubte, weiterhin Ministerpräsident zu bleiben, stiegen auch die Unterstützungswerte der Bundespartei bis auf 14 % an. Von Januar 2017 an fiel der Wählerzuspruch jedoch wieder deutlich bis auf acht Prozent. Neben der Tatsache, dass die Urwahl der Spitzenkandidaten durch die Parteibasis am Jahresende 2016 nicht die gewünschte Medienaufmerksamkeit brachte und die Partei durch die kritischen Äußerungen der Vorsitzenden Simone Peter zum Polizeieinsatz in der Silvesternacht in Köln den Start ins Wahljahr verpatzte, war ihr größtes Problem, dass sie kein zugkräftiges Thema hatte, mit dem sie über ihre Stammwählerschaft hinaus punkten konnte. Ihr umweltpolitischer Markenkern, konkretisiert anhand des Klimawandels, war für die Bevölkerung nicht relevant genug, und bei anderen Themen wurden den Grünen zu wenig Lösungskompetenzen zugemessen. Zudem verpassten sie im März 2017 im Saarland den Wiedereinzug in den Landtag und wurden in Nordrhein-Westfalen als Regierungspartei abgelöst. Angesichts dieser Entwicklungen erschien die Stagnation bei 8,9 % als Erfolg.

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Die Linkspartei hatte schon vor der Bundestagswahl 2013 die schwere Krise überwunden, die sie im Umfeld des Göttinger Parteitages im Juni 2012 an den Rand einer Spaltung geführt hatte. Unter ihrer neuen Führung gelang es, die Flügelkämpfe zwischen Fundamentalisten und Reformern zumindest nach außen einzudämmen. Die Partei bewegte sich über die gesamte Wahlperiode hinweg bei Werten um die acht Prozent. Auch ihre Regierungsbeteiligung in Berlin nach der Abgeordnetenhauswahl im September 2016 als Teil der ersten rot-rot-grünen Regierungskoalition in einem Bundesland wirkte sich auf der Bundesebene nicht positiv aus. Der anfängliche Schulz-Hype ließ die Wählerunterstützung der Linken etwas zurückgehen; in der Schlussphase konnte sie durch den konsequent auf ihren Markenkern der sozialen Gerechtigkeit ausgerichteten Wahlkampf ihre Wählerklientel jedoch wieder ausreichend mobilisieren, sodass sie mit 9,2 % gegenüber 2013 sogar ein kleines Plus verzeichnen konnte und die Grünen auf den letzten Platz verwies. Wie schon die Wahlen von 2009 und 2013, so markierte die Bundestagswahl von 2017 wiederum einen deutlichen Einschnitt in der Entwicklung des Parteiensystems, der alle seine relevanten Strukturcharakteristika veränderte: Das elektorale Format, also die Zahl der an der Wahl teilnehmenden Parteien, war mit 42 das höchste aller bisherigen Bundestagswahlen, und das parlamentarische Format wuchs durch das Hinzukommen von FDP und AfD zum ersten Mal seit Ende der 1950er Jahre auf sechs (vgl. Abb. 2). Die elektorale und parlamentarische Fragmentierung erhöhten sich sehr stark und erreichten die höchsten Werte seit 1949 (vgl. Abb. 3). Zum zweiten Mal in der Wahlgeschichte der Bundesrepublik fiel die parlamentarische Dominanz von CDU/CSU und SPD unter die Zwei-Drittel-Marke und markierte mit 56,3 % der Bundestagsmandate einen historischen Tiefststand. Der Mandatsanteil der CDU/CSU verringerte sich auf 34,7 %, der der SPD auf 21,6 % und die AfD als drittstärkste Partei konnte einen Anteil von 13,3 % erreichen. Damit war keine der Bedingungen für eine Zweiparteiendominanz erfüllt und das Parteiensystem vollzog erneut einen Typwandel zu einem eindeutig pluralistischen System. Auf den ersten Blick schien somit die Wahl von 2013 eine Ausnahme gewesen zu sein und die Wahl von 2017 den auf langfristige Faktoren zurückzuführenden Trend des deutschen Parteiensystems zu einer immer größeren Zersplitterung zu bestätigen und fortzuführen. Die genauere Analyse zeigte jedoch, dass das Abschneiden insbesondere der größeren Parteien – bei der SPD lässt sich mit einem Stimmenanteil von knapp 22 % schon nicht mehr von einer Volkspartei sprechen – beide Male sehr stark von Kurzfristfaktoren bestimmt wurde. Die Wahlen von 2013 und 2017 verdeutlichten somit, dass die Entwicklung des Parteiensystems kein zwangsläufiger, nur durch langfristige ökonomische und

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gesellschaftliche Veränderungen bestimmter Prozess ist. Der durch die Langfristfaktoren vorgegebene Trend kann durch die Parteien selbst – wie 2013 – aufgehalten bzw. umgekehrt oder – wie 2017 – dramatisch beschleunigt werden, je nachdem wie sie durch politische Entscheidungen ihres Führungspersonals ihr personelles und inhaltliches Angebot an die Wählerinnen und Wähler und damit die das Wahlverhalten prägenden kurzfristigen Einflussfaktoren gestalten.

3.2 Die Entwicklung nach der Bundestagswahl 201713 Nach der Bundestagswahl erlebten CDU/CSU und SPD einen sich in mehreren Schüben vollziehenden weiteren Niedergang, der Mitte 2019 zu den historisch niedrigsten jemals gemessenen Umfragewerten von gerade noch 25 % bei der Union und 12 % bei der SPD führte (vgl. Abb. 12). Auch diese Entwicklung war nicht durch langfristige Faktoren, sondern durch kurzfristige Sach- und Personalentscheidungen bedingt. Zunächst wurden aus den Wahlniederlagen in den drei Parteien sehr unterschiedliche Lehren gezogen. Angela Merkel äußerte, sie könne nicht erkennen, was man jetzt anders machen sollte, und danach wurde in der CDU mit dem Argument, man müsse jetzt nach vorne schauen und die Regierungsbildung vorantreiben, eine die Probleme offen ansprechende Aufarbeitung der Wahl vermieden. In der CSU deutete man das schlechte Wahlergebnis in Bayern mehrheitlich als Folge des letztendlichen Einknickens von Horst Seehofer in der Flüchtlingsfrage, welches der CSU Stimmen gekostet und die AfD stark gemacht habe. Dies erhöhte den Druck auf Seehofer im schon lange bestehenden Machtkampf mit seinem Erzrivalen Marcus Söder und führte dazu, dass er im Dezember 2017 einwilligte, Söder das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten zu überlassen. Für die SPD schloss Martin Schulz mit Rückendeckung des Vorstands eine erneute Große Koalition kategorisch aus. Das war angesichts der Tatsache, dass die SPD nicht sich selbst, sondern Merkel und der Koalition die Schuld für ihre Niederlage gab, auch verständlich. Allerdings gab es nach dieser Absage nur eine weitere politisch halbwegs realistische Option für die Bildung einer Mehrheitsregierung: eine Jamaikakoalition aus CDU, CSU, der FDP und den Grünen. Neben vielen anderen inhaltlichen Differenzen gab es für eine solche Koalition aber ein

13Die Entwicklung bis Ende 2018 ist entnommen aus Niedermayer 2019, S. 52 ff. Zu den einzelnen Parteien im Detail siehe die nachfolgenden Kapitel.

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36 32 28 24 20 16 12 8 4 0

CDU/CSU 9/17

12/17

3/18

6/18

9/18

GRÜNE 12/18

3/19

SPD 6/19

9/19

12/19

Abb. 12   Wahlabsicht CDU/CSU, SPD und Grüne seit der Bundestagswahl 2017 (in Prozent). (Quelle: Infratest dimap Sonntagsfragen)

zentrales Problem: Der vorher zwischen CDU und CSU mühsam ausgehandelte Kompromiss in der Flüchtlingspolitik mit einer verklausulierten Obergrenze und der Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs markierte für die CSU das Äußerste an Nachgiebigkeit und stand der Position der Grünen diametral entgegen. Es spricht vieles dafür, dass Jamaika letztlich an dieser Frage gescheitert wäre, wenn die FDP die Sondierungsgespräche nicht vorher abgebrochen hätte. Nach dem Scheitern von Jamaika hätte man in der SPD-Führung erkennen und die Partei darauf vorbereiten müssen, dass man sich dem Druck zur Aufnahme von Gesprächen über eine erneute Große Koalition nicht mehr verschließen konnte, zumal man weder inhaltlich noch personell auf baldige Neuwahlen vorbereitet war und auch keine Einigkeit über die Tolerierung einer Minderheitsregierung bestand. Dennoch blieb Schulz zunächst bei dem kategorischen Nein und vollzog kurz danach eine Wende, die nicht nur von den Jusos und dem linken Flügel heftig bekämpft wurde. Nach dem Abschluss von Sondierungsgesprächen sprach sich im Januar 2018 ein Sonderparteitag der tief gespaltenen Partei nach kontroverser Debatte und unter dem Eindruck einer leidenschaftlichen Rede der

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Fraktionsvorsitzenden Andrea Nahles knapp für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen aus. Man hielt jedoch substanzielle Nachbesserungen an dem von Schulz als hervorragend bezeichneten Sondierungsergebnissen für notwendig und beschloss den Einbau einer Sollbruchstelle, nach der ein Parteitag im Herbst 2019 die Entscheidung über den Fortgang der Koalition treffen sollte. Nach Abschluss der äußerst zähen Koalitionsverhandlungen, in deren Verlauf die SPD den beschlossenen Mitgliederentscheid über die Ergebnisse als Druckmittel benutzte, verkündete der schwer angeschlagene Parteivorsitzende in Abstimmung mit der Führungsspitze seinen zweiten Wortbruch: Obwohl er mehrfach betont hatte, nie in eine Regierung unter Angela Merkel einzutreten, wollte er jetzt Außenminister werden. Dafür sollte Andrea Nahles den Parteivorsitz übernehmen. Die öffentliche und parteiinterne Welle an Kritik, die auf diese Ankündigung folgte und Schulz zwei Tage später zum Verzicht auf das angestrebte Ministeramt nötigte, antizipierte offenbar niemand. In der Folge stürzte Schulz in der persönlichen Bewertung durch die Bevölkerung dramatisch ab (vgl. Abb. 13) und seine Partei erreichte mit 16 % in den Umfragen einen ersten Tiefpunkt (vgl. Abb. 12).

2.8

Merkel Seehofer

2.4 2.0

Schulz AKK

Nahles Habeck

1.6 1.2 0.8 0.4 0.0 -0.4 -0.8 -1.2 -1.6 -2.0

9/17

12/17

3/18

6/18

9/18

12/18

3/19

6/19

9/19

12/19

Abb. 13   Generelle Bewertungen der Spitzenpolitiker ab 2017 (in Prozent). (Quelle: Forschungsgruppe Wahlen e. V.: Politbarometer)

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Für das Verhältnis der beiden Schwesterparteien CDU und CSU blieb das Flüchtlingsthema, das 2018 den Umfragen gemäß für die Deutschen immer noch das wichtigste Problem war, weiterhin bestimmend. Zu erneuten Unstimmigkeiten kam es schon im März, als Horst Seehofer – nun Innenminister – erklärte, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, und kurz danach die Aussetzung der Grenzenlosigkeit innerhalb des Schengen-Raumes in der EU befürwortete. Nachdem im Mai der Skandal um die Bremer Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu einer erneuten öffentlichen Diskussion um die Flüchtlingspolitik geführt hatte, eskalierte im Juni der Streit zwischen Seehofer und Merkel: Merkel lehnte die in Seehofers Masterplan Asyl vorgesehene Zurückweisung von aus sicheren Drittstaaten einreisenden und dort schon registrierten Asylsuchenden strikt ab mit dem Argument, es dürfe keine nationalen Alleingänge geben, obwohl sie im September 2015 die Eskalation der Flüchtlingskrise mit einem nationalen Alleingang herbeigeführt hatte. Die Bevölkerung stand inhaltlich mehrheitlich auf Seehofers Seite, wie die Umfragen zeigten. Dieser überspannte jedoch den Bogen mit Ultimaten, persönlichen Angriffen auf Merkel und einer kurz danach wieder zurückgenommenen Rücktrittsdrohung. Der ausufernde Streit mit einer erst spät und sehr mühsam gefundenen Einigung schadete Seehofers – in geringerem Maße auch Merkels – Ansehen und ließ die Umfragewerte der Union zurückgehen (vgl. die Abb. 13 und 12). Ende August wurde in Chemnitz ein Deutscher mutmaßlich durch Flüchtlinge getötet und Merkel sprach von einer Hetzjagd auf Ausländer während der folgenden rechtsextremen Demonstrationen, was der Präsident des Verfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, öffentlich bezweifelte. Vor allem auf Druck des linken SPD-Flügels forderte daraufhin Angela Nahles seinen Rücktritt. Die drei Parteivorsitzenden einigten sich schließlich auf Vorschlag Seehofers darauf, Maaßen mit deutlich mehr Gehalt ins Innenministerium zu versetzen, was ein hohes Maß an strategisch-politischem Unvermögen in der Einschätzung von Wählerreaktionen offenbarte und die persönlichen Beurteilungen aller drei Parteivorsitzenden abstürzen ließ (vgl. Abb. 13). Die wütende Reaktion weiter Teile der Bevölkerung, die sich parallel dazu zeigende geringe Problemlösungskompetenz der Regierung im sogenannten Dieselskandal und die krachende Niederlage von CSU und SPD bei der bayerischen Landtagswahl führten dann im Oktober 2018 zum ersten absoluten Tiefpunkt der Wählerunterstützung für Union und SPD (vgl. Abb. 12). Nach einer erneuten Niederlage bei der nachfolgenden Landtagswahl in Hessen gab Angela Merkel bekannt, auf dem Parteitag im Dezember nicht mehr für das Amt der CDU-Vorsitzenden zu kandidieren. Allein diese Ankündigung

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verbesserte ihre Bevölkerungsbeurteilung wesentlich, und der folgende innerparteiliche Wahlkampf zwischen der bisherigen Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer, dem Gesundheitsminister Jens Spahn und dem Wiedereinsteiger Friedrich Merz, den Kramp-Karrenbauer, die von der Bevölkerung gute Bewertungen erhielt, mit einem äußerst knappen Vorsprung zu Merz für sich entschied, ließ die Umfragewerte – sozusagen als Vertrauensvorschuss für eine personell und inhaltlich erneuerte CDU – bis zum Jahresende deutlich ansteigen, während die SPD sich nicht erholen konnte (vgl. die Abb. 12 und 13). Die hohe Relevanz des Themas Flüchtlingspolitik und die starke gesellschaftliche Spaltung und Polarisierung in diesem Bereich, die Deutschland auch 2018 prägte, nützte den beiden Parteien, die von der Bevölkerung als die klaren politischen Vertreter der beiden Seiten dieses Konflikts angesehen wurden. Daher waren die Grünen und die AfD die einzigen Parteien, die 2018 in den Umfragen zulegen konnten (vgl. die Abb. 12 und 14). Während jedoch die Flüchtlingsthematik der einzig bestimmende Grund für den Anstieg der AfD-Werte war, wurde der Höhenflug der Grünen durch das Zusammenwirken einer Reihe von Gründen bewirkt, die sowohl innerparteilicher Art waren als auch durch

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16

12

8

4 AfD 0

9/17

12/17

3/18

6/18

FDP 9/18

12/18

LINKE 3/19

6/19

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12/19

Abb. 14   Wahlabsicht AfD, FDP und Linke ab 2017 (in Prozent). (Quelle: Infratest dimap Sonntagsfragen)

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das ­ Verhalten der Konkurrenzparteien und die allgemeine Themenkonjunktur geschaffen wurden. Innerparteilich legte die Führungsspitze der Grünen die Grundlagen für eine stärkere Wählerunterstützung der Partei schon im Rahmen der Jamaikasondierungen Ende 2017. Dort gelang es, die Außenwirkung der Partei nicht mehr von den ewigen Kämpfen zwischen dem linken Flügel und den sogenannten Realos bestimmen zu lassen. Stattdessen wurde Geschlossenheit demonstriert und durch Kompromissbereitschaft grundsätzliche Regierungsfähigkeit signalisiert. Die beiden vom Parteitag Ende Januar 2018 gewählten neuen Vorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock, die das neue Machtzentrum der Partei bilden, führen diese Strategie erfolgreich weiter. Sie wollen die Partei durch Öffnung für neue Wählermilieus und eine pragmatischere Politikkonzeption zur linksliberalen, für Regierungsbündnisse nach beiden Seiten prinzipiell anschlussfähigen Scharnierpartei im Parteiensystem aufbauen. Dabei ist es für die Partei äußerst hilfreich, dass sie nicht gezwungen wurde, ihre für die Regierungsfähigkeit notwendige Kompromissfähigkeit in konkreten Koalitionsverhandlungen unter Beweis zu stellen. Dies blieb ihnen schon durch den Abbruch der Jamaikasondierungen erspart, in Bayern kam es nicht zum Test, ob eine Koalition mit der CSU möglich gewesen wäre, und in Hessen reichte es schon rein rechnerisch nicht für eine grün-rot-rote Koalition, die der linke Flügel als willkommene Möglichkeit eines Politikwechsels ansah, während der Realoflügel Angst davor hatte, die gerade in der Mitte gewonnenen Anhänger durch eine Koalition mit der Linkspartei wieder zu verprellen. Die Partei profitierte zudem von der Tatsache, dass sich ihre Hauptkonkurrentin, die SPD, in den ersten Monaten des Jahres 2018 selbst zerlegte und im Herbst noch weiter abstürzte. Das erlaubte es den Grünen, sich geschickt als Alternative für verunsicherte und enttäuschte ­SPD-Anhänger in Stellung zu bringen. Schließlich spielte auch die gesellschaftliche Themenkonjunktur jenseits der Flüchtlingsfrage den Grünen in die Hände. Eine Partei profitiert immer, wenn ihr Markenkern in der gesellschaftlichen Diskussion einen hohen Stellenwert bekommt. Der grüne Markenkern ist der Umweltbereich, konkretisiert in den letzten Jahren anhand der Themen Klimawandel und Energiewende. Diese Themen bekamen durch den Dieselskandal, die Auseinandersetzungen um den Kohleabbau im Hambacher Forst und insbesondere durch die Tatsache, dass die lange und extreme Hitzewelle im Sommer der Bevölkerung die Folgen des Klimawandels drastisch vor Augen führte, 2018 eine größere Relevanz als in den Jahren zuvor. Zudem profitierten die Grünen stark von einer in weiten Teilen grün-affinen Medienberichterstattung. Den Höhepunkt in der Wählergunst erreichten sie nach den Landtagswahlen in Bayern und Hessen, wo sie die großen Gewinner waren.

Die Entwicklung des Parteiensystems …

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Die AfD konnte ihre Wählerunterstützung seit der Bundestagswahl langsam aber kontinuierlich steigern und erreichte ihren Höhepunkt während des ­CDU-CSU-Streits um die Flüchtlingspolitik, der Geschehnisse in Chemnitz und des Maaßen-Desasters. Danach gingen ihre Werte wieder deutlich zurück. Dies zeigt, dass die Zusammensetzung ihrer Wählerschaft die Achillesferse der Partei darstellt. Als Partei, die Personen mit völkisch-nationalistischen und damit rechtsextremistischen Orientierungen in ihren Reihen hat, zieht die AfD natürlich auch rechtsextremistische Überzeugungswähler an. Die Mehrheit sind jedoch wohl immer noch Protestwähler, die durch ihre Wahlentscheidung für die AfD den anderen Parteien vor allem wegen der Flüchtlingspolitik einen Denkzettel verpassen wollen.14 Dabei gibt es zwei unterschiedliche Gruppen: Zum einen die ­ bürgerlichkonservativen, primär von der Union abgewanderten Wähler, für die der Grenzübertritt von hunderttausenden Flüchtlingen und Merkels Kommentar, man sei zur Kontrolle des Zustroms nicht in der Lage, einem Offenbarungseid von Politik und einem Staatsversagen gleichkommen. Denn zum konservativen Staatsverständnis gehört, dass der Staat die Sicherheit seines Staatsvolkes nach innen wie nach außen gewährleistet, wozu auch die Kontrolle über seine Grenzen gehört. Zudem ist die Tatsache, dass sehr viele vollziehbar Ausreisepflichtige, vor allem auch Straftäter, dennoch in Deutschland bleiben, mit ihrem Rechtsstaatsverständnis nicht vereinbar. Daher ging das Grundvertrauen vieler ­konservativ-bürgerlicher Wähler in die CDU als „Law-and-order“-Partei verloren. Zum anderen handelt es sich um Wähler aus prekären ökonomischen Verhältnissen, Wähler mit Abstiegsängsten und Wähler – vor allem aus Ostdeutschland –, die sich vom Staat benachteiligt und alleingelassen fühlen. Bei dieser Gruppe, die vor allem von SPD und der Linkspartei abgewandert ist, produzierte der staatliche Umgang mit den Flüchtlingen das Gefühl einer neuen Form von sozialer Ungerechtigkeit. Sie argumentieren, dass der Staat für seine eigene Bevölkerung zu wenig getan habe, weil angeblich das Geld dafür fehlte, und nun plötzlich zweistellige Milliardenbeträge für Leute ausgebe, die in Deutschland nichts erwirtschaftet hätten und zudem noch aus anderen Kulturkreisen kämen, sodass man sich zunehmend fremd im eigenen Land fühle. Da während des AfD-Abstiegs gegen Ende des Jahres 2018 nur die Unionswerte gestiegen sind und alle drei Kandidaten für die Merkel-Nachfolge in der Flüchtlingspolitik deutlich konservativere Töne anschlugen, könnte man

14Vgl.

hierzu im Detail den Beitrag über die AfD.

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v­ ermuten, dass einige abgewanderte Protestwähler kurzfristig zur CDU zurückgekehrt sein könnten, was durch die bei den Chemnitz-Demonstrationen deutlich gewordene Nähe der AfD zu rechtsextremen Gruppen, die mögliche Beobachtung durch den Verfassungsschutz und die Spendenaffäre der Partei noch verstärkt wurde. Die anderen beiden im Parlament vertretenen Parteien, die FDP und die Linke, profitierten vom Rückgang der Wählerunterstützung der Union und SPD nicht. Vor allem bei der FDP war eher das Gegenteil der Fall. Kurz nach der Wahl und während der Sondierungsgespräche für eine sogenannte ­Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen konnte sie leicht zulegen. Nach deren Abbruch im November 2017 gingen ihre Werte jedoch unter das Wahlergebnis zurück und erholten sich, von einem kurzen Zwischenhoch abgesehen, nicht mehr. Der Abbruch der Jamaikasondierungen war aus FDP-Sicht durchaus folgerichtig: Für die Partei gab es nach ihren Erfahrungen mit früheren schwarz-gelben Regierungen und dem Ausscheiden aus dem Bundestag 2013 ein wesentliches Ziel: Sie wollte auf jeden Fall vermeiden, ihr Come-Back dadurch gleich wieder zu gefährden, dass man ihr wieder das Image der Umfallerpartei verpasste, die wegen ein paar Ministerposten in einer Regierung ihre Prinzipien aufgibt. Daher machte sie von Anfang an deutlich, dass sie die Gespräche ergebnisoffen führen und einer Koalition nur zustimmen würde, wenn sie einige ihrer wesentlichen Ziele in für sie annehmbaren Maße durchsetzen könnte. Im Verhandlungsverlauf gewann sie dann den Eindruck, dass diese Interessenlage gerade von Angela Merkel nicht ernst genug genommen wurde. Das Problem war allerdings, dass es Christian Lindner nicht gelang, den Wählerinnen und Wählern die Gründe des Abbruchs überzeugend zu erklären, wie der dramatische Einbruch seiner persönlichen Beurteilung Anfang Dezember 2017 zeigt, von dem er sich das gesamte Jahr über nicht mehr erholte. Zudem führte der Abbruch der Jamaikasondierungen zum Verlust jeglicher Machtoption. Dies war gerade für die FDP, die sich seit jeher nicht nur als inhaltliches Korrektiv, sondern auch als Mehrheitsbeschafferin verstand, besonders problematisch. Auch mit ihren Inhalten drang die Partei in den öffentlichen Diskussionen nicht wirklich durch, weil ihre Positionierung kein Alleinstellungsmerkmal erkennen ließ. Der Linkspartei gelang es ebenso wenig, ihre Wählerunterstützung zu steigern. Das lag daran, dass sie sich das gesamte Jahr über vor allem mit sich selbst beschäftigte. Ihr Bild in der Öffentlichkeit wurde geprägt von einem erbitterten Machtkampf zwischen den Fraktions- und Parteichefs, insbesondere zwischen Sarah Wagenknecht und Katja Kipping, bei dem sich inhaltliche und strategische Streitpunkte mit persönlicher Feindschaft mischten. Der zentrale inhaltliche Streitpunkt war die Flüchtlingsfrage, wo die an internationaler Solidarität und

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einer Willkommenskultur mit offenen Grenzen ausgerichtete Mehrheit in der Parteiführung und Fraktion Sarah Wagenknecht und ihren Anhängern gegenüberstand, die für eine Beschränkung der Zuwanderung eintraten und vor Arbeits- und Armutsmigration mit Verteilungskämpfen unter den an den Rand Gedrängten warnten. Dies ging einher mit der strategischen Frage, ob man sich darum bemühen sollte, die zur AfD abgewanderten Wähler vor allem aus der Arbeiterschicht zurückzuholen oder sich eher am jungen, urbanen, akademischen Milieu orientieren sollte. Zur Eskalation des Streits führte zudem, dass Wagenknecht und andere eine linke Sammlungsbewegung namens „Aufstehen“ ins Leben riefen, die viele als Vorstufe einer neuen Partei sahen. Zum Jahresbeginn 2019 endete der Aufschwung der Union in den Umfragen und ihre Werte stabilisierten sich in den nächsten fünf Monaten bei etwa 29 %. Die SPD konnte vor allem durch ihre Sozialstaatsoffensive Anfang Februar mit der Grundrente von Arbeitsminister Heil und der endgültigen Abkehr von der Agenda 2010 durch das Sozialstaatskonzept 2025 wieder etwas Boden gewinnen und stabilisierte ihre Umfragewerte bei 16–18 %. Die Wählerunterstützung der Grünen ging nach dem Höhepunkt im November 2018 wieder etwas zurück und die Partei stabilisierte sich bei Werten um die 20 % (vgl. Abb. 12). Die relativ stabile Verteilung der Wählerpräferenzen zwischen den drei Parteien fand jedoch nach der Europawahl ihr jähes Ende. Die Wahlergebnisse für die Union (28,9 %), die SPD (15,8 %) und die Grünen (20,5 %) blieben zwar alle im Rahmen dessen, was die Umfragen zur (Bundestags-)Wahlabsicht seit Monaten zeigten, die Wahlberichterstattung konzentrierte sich jedoch verständlicherweise auf den Vergleich mit dem Europawahlergebnis von 2014, wo das Parteiensystem sich noch in einer völlig anderen Situation befunden hatte. Gegenüber 2014 verloren die Union und die SPD dramatisch an Unterstützung und fielen auf ihren historischen Tiefststand bei bundesweiten Wahlen. Das Unionsergebnis wurde als Fehlstart der neuen Parteivorsitzenden interpretiert, deren Beurteilung durch die Bevölkerung sich schon vorher deutlich verschlechtert hatte und die durch eigene Fehler – auch kurz vor der Wahl durch das Kommunikationsdesaster beim Versuch einer Antwort auf das CDU-bashing des YouTubers Rezo – und die zunehmenden Diskussionen um ihre Kanzlerfähigkeit nun regelrecht abstürzte (vgl. Abb. 13). Auch ihr Gegenpart aufseiten der SPD, Andrea Nahles, bekam nach dem Wahldesaster zunehmend Gegenwind, vor allem aus der eigenen Fraktion, und trat schließlich schon Anfang Juni von allen Ämtern zurück. Die Grünen hingegen konnten, gestützt auf die dramatisch gestiegene, auch von der hohen Medienaufmerksamkeit für die sogenannten ‚Fridays for Future‘-Demonstrationen getragene gesellschaftliche Relevanz ihres Markenkerns Klimawandel, ihren Stimmenanteil von 2014 verdoppeln und waren

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somit der eindeutige Wahlgewinner. Nach der Wahl erreichte der Grünen-Hype in den Medien mit starker Personalisierung auf Robert Habeck, der schon als nächster Bundeskanzler gehandelt wurde, seinen Höhepunkt. Dies alles verfehlte seine Wirkung auf die Bevölkerung nicht: In der ersten Infratest dimap-Umfrage nach der Wahl stiegen die Grünen um acht Prozentpunkte auf 26 %, die Union fiel um vier Prozentpunkte auf 25 % und die SPD um fünf Prozentpunkte auf 12 % (vgl. Abb. 12). Auf die Wählerunterstützung der anderen Parteien hatte die Europawahl so gut wie keine Auswirkungen (vgl. Abb. 14). Dies galt auch für die AfD, deren Reputation sich unter der Gesamtbevölkerung weiter verschlechtert hatte, wobei mittlerweile vier Fünftel der Deutschen der Ansicht waren, dass rechtsextremes Gedankengut in der Partei (sehr) weit verbreitet sei, was auf bürgerliche Protestwähler abschreckend wirkte. Gegenüber ihrem Ergebnis bei der Europawahl 2014, die von der Flüchtlingsthematik deutlich weniger bestimmt wurde als die Bundestagswahl 2017, konnte sie zwar zulegen, im Wahljahr 2019 war ihr diesbezüglicher Markenkern bundesweit aber weniger relevant. Allerdings gab es im Wahlergebnis eine deutliche Ost-West-Differenz: während die Partei im Westen nur auf 8,8 % kam, wurde sie im Osten mit 21,1 % knapp hinter der CDU zur zweitstärksten Partei. In Brandenburg und Sachsen kam sie sogar auf Platz 1. Genau in diesen beiden Ländern wurden am 1. September 2019 die Landtage neu gewählt, am 27. Oktober folgte Thüringen. Alle drei Wahlkämpfe waren in der Schlussphase von einer starken Polarisierung zwischen der AfD und der Partei des jeweiligen Ministerpräsidenten – SPD in Brandenburg, CDU in Sachsen und Linkspartei in Thüringen – bestimmt, die letztlich das Rennen um Platz 1 für sich entschied. Die hohe Medienaufmerksamkeit für diesen Aspekt der Wahlergebnisse trug wohl zur leichten Erholung der bundesweiten Werte für die drei Parteien bei (vgl. die Abb. 12 und 14), obwohl CDU und SPD bei allen drei Wahlen ihre historisch schlechtesten Wahlergebnisse einfuhren und die Linkspartei in Brandenburg und Sachsen fast eine Halbierung ihres Stimmenanteils hinnehmen musste, bevor sie – vor allem wegen der guten Bewertung des Ministerpräsidenten Bodo Ramelow – in Thüringen zulegen konnte. Die erfolgsverwöhnten Grünen blieben überall unter den Erwartungen und mussten in Thüringen sogar leichte Verluste hinnehmen, was sich auf der Bundesebene in einem Rückgang der Umfragewerte niederschlug. Die FDP konnte zwar überall zulegen, verpasste aber bei den ersten zwei Wahlen den Wiedereinzug in den Landtag und übersprang in Thüringen die 5 %-Hürde nur mit wenigen Stimmen. Die AfD hingegen wurde mit Ergebnissen zwischen 23,4 (Thüringen) und 27,5 (Sachsen) Prozent überall zur zweitstärksten Partei, was ihr auch eine leichte Steigerung ihrer bundesweiten Umfragewerte einbrachte (vgl. Abb. 14).

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Die letzten zwei Monate des Jahres 2019 wurden von den Bundesparteitagen der vier wichtigsten Parteien bestimmt. Den Anfang machten die Grünen am 15.‒17. November. Auf dem wenig spektakulär verlaufenden Parteitag wurden die beiden Vorsitzenden Baerbock und Habeck mit sehr guten Ergebnissen wiedergewählt, Die Frage nach der Kanzlerkandidatur war kein Thema. Die beiden sollen das später unter sich ausmachen, um der Partei keine Streitfrage zu liefern, die das Bild der Harmonie stört. Auch mögliche inhaltliche Streitthemen wurden von der Parteispitze vorher abgeräumt. Die beiden Vorsitzenden machten den Gestaltungswillen und Regierungsanspruch der „Quasi-Regierungspartei im Wartestand“ (Habeck) deutlich. Man will die Grünen als eine grundsätzlich nach beiden Seiten anschlussfähige Scharnierpartei im Parteiensystem positionieren. Die inhaltlichen Beschlüsse zur Sozial- und Wohnungspolitik machten aber deutlich, dass sich die Partei im Bereich der wirtschaftspolitischen Konfliktlinie eindeutig auf der staatsinterventionistischen, linken Seite verortet. Und auf der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie sind sie noch weniger im Bereich der Mitte zu finden, sondern bilden in Bezug auf die gesellschaftliche Spaltung in der Flüchtlingsfrage zusammen mit der Linkspartei den linkslibertären, multikulturell und global orientierten Pol des Parteiensystems. Mit deutlich größerer Spannung wurden die drei anderen Parteitage erwartet. Bei der AfD warfen die Wahlerfolge der drei vom völkisch-nationalistischen „Flügel“ dominierten ostdeutschen Landesverbände die Frage auf, wie sich dies in der innerparteilichen Machtverteilung auf der Bundesebene niederschlagen würde, insbesondere da Björn Höcke auf dem Kyffhäusertreffen des Flügels Anfang Juli angekündigt hatte, bei den auf dem nächsten Parteitag anstehenden Neuwahlen für eine grundlegende Veränderung zu sorgen. Kurz darauf wandten sich mehr als hundert Mandats- und Funktionsträger in einem parteiinternen Aufruf gegen den exzessiv zur Schau gestellten Personenkult um Höcke und dessen bundesweite Machtansprüche. Die Personalentscheidungen und die inhaltlichen Positionierungen der Vorstandskandidaten auf dem Parteitag am 30. November und 1. Dezember 2019 zeigten dann, dass der Flügel die Partei nicht schon übernommen hat, wie vorher vielfach zu lesen war, aber die Personalpolitik der Partei nun maßgeblich mitbestimmt. Co-Vorsitzender anstelle des nicht mehr antretenden Alexander Gauland wurde mit dem sächsischen Bundestagsabgeordneten Tino Chrupalla ein zwar nicht dem Flügel angehörender aber von ihm wohl gelittener Kompromisskandidat und im Gesamtvorstand werden dem Flügel jetzt 6 von 14 Mitgliedern zugerechnet. Vor dem CDU-Parteitag am 22./23. November waren sowohl die Partei als auch ihre Vorsitzende in den Umfragen wieder auf ihre historisch schlechtesten Werte gefallen (vgl. die Abb. 12 und 13). Der Versuch Annegret

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­ ramp-Karrenbauers, sich mit verteidigungspolitischen Vorschlägen öffentlich K zu profilieren, hatte nichts bewirkt, die Junge Union beschloss einen ihre Kandidatur infrage stellenden Antrag auf Urwahl des/der Kanzlerkandidat/in und Friedrich Merz attestierte der von Angela Merkel geführten Bundesregierung ein grottenschlechtes Erscheinungsbild. Dies führte zu einer erneuten Personaldiskussion und Medienspekulationen um einen möglichen Putsch ihrer Kritiker gegen Kramp-Karrenbauer, obwohl Merz selbst den Gerüchten entgegentrat und ein solcher Aufstand aus vielen Gründen sehr unwahrscheinlich war. Die Parteivorsitzende selbst forderte dann am Ende ihrer Parteitagsrede dennoch einen Vertrauensbeweis, um die Delegierten bei den nachfolgenden kontroversen inhaltlichen Debatten stärker auf die Linie des Parteivorstands zu bringen, künftige Kritik aus der Partei an ihrer Person als nicht mehr legitim erscheinen zu lassen und die öffentliche Meinung durch eine positive Medienberichterstattung in ihrem Sinne zu beeinflussen und damit ihre schlechten Umfragewerte zu verbessern. Das erste gelang ihr, das zweite bleibt abzuwarten, aber das dritte Ziel erreichte sie bisher nicht (vgl. Abb. 13). Bei der SPD bildete der Bundesparteitag am 6.‒8. Dezember den Abschluss einer sechsmonatigen Selbstbeschäftigung auf der Suche nach einer neuen Führung, die mit der inhaltlichen Frage nach dem Verbleib in der Regierung gekoppelt war. Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles Anfang Juni schlug der Dreier-Interimsvorstand Ende Juni vor, dass die SPD zukünftig von einer durch die Parteibasis gekürten und von einem Parteitag Anfang Dezember formal gewählten Doppelspitze mit mindestens einer Frau geführt werden solle. Am Ende der vom 1. Juli bis 1. September dauernden Bewerbungsphase hatten sich ein Einzelbewerber und acht Duos gemeldet, darunter als einziger Kandidat aus der Führungsspitze Olaf Scholz, der mit Klara Geywitz ins Rennen ging. Vom 4. September bis 12. Oktober stellten sich die Bewerber in 23 Regionalkonferenzen der Parteibasis vor, die dann vom 14. bis 25. Oktober zu ihrem Wunschduo befragt wurde. Da keines der beiden bestplatzierten Duos – das für eine Fortsetzung der Großen Koalition stehende Duo Geywitz/Scholz und das koalitionskritische, vom No-GroKo-Protagonisten Kevin Kühnert und seinen Jusos tatkräftig unterstützten Duo aus der Stuttgarter Bundestagsabgeordneten Saskia Esken und dem früheren nordrhein-westfälischen Finanzminister Norbert Walter-Borjans – die notwendige absolute Mehrheit erreichte, gab es vom 19. bis 29. November eine weitere Mitgliederbefragung. Das Ergebnis – E ­ sken/ Walter-Borjans 53 %, Scholz/Geywitz 45 % bei einer Beteiligung von 54 % – wurde zunächst überwiegend als Entscheidung für ein Verlassen der Koalition gewertet. Schon kurz darauf zeigte sich jedoch, dass das neue Führungsduo mit dem ganz überwiegend für eine Fortsetzung stehenden Parteiestablishment aus

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Fraktion, Regierungsmitgliedern und Ministerpräsidenten Kompromisse schloss. Das Ergebnis war ein – vom Parteitag dann auch beschlossener – Leitantrag des Parteivorstands, der die bisher kursierenden harten Bedingungen für den Verbleib in der Koalition aufweichte und die Letztentscheidung darüber dem Parteivorstand überantwortete, der auf der Grundlage von mit der Union zu führenden Gesprächen über die Themenbereiche Infrastrukturinvestitionen, Arbeitsmarkt, Digitalisierung und Nachbesserungen beim Klimapaket bewerten soll, „ob die drängenden Aufgaben in dieser Koalition zu bewältigen sind.“ Somit wurde die Entscheidung über den Verbleib der SPD in der Regierung auf das nächste Jahr vertagt. Bei den Wählerinnen und Wählern haben der gesamte Prozess und sein Ausgang nichts bewirkt: Die SPD verharrte bei Werten um die 14 % (vgl. Abb. 12).

4 Fazit Das deutsche Parteiensystem befindet sich am Ende des Jahres 2019 immer noch in einer Umbruchphase. Nach der Bundestagswahl 2017 erlebten die einstigen Volksparteien einen sich in mehreren Schüben vollziehenden weiteren Niedergang, sodass – am Wählerzuspruch gemessen – momentan nur noch eine Partei diesen Typ ohne Zweifel verkörpert: die CSU.15 Dieser Niedergang war durch kurzfristige Sach- und Personalentscheidungen bedingt, die den langfristigen Negativtrend deutlich verstärkten. Eine Trendwende wäre zwar prinzipiell möglich, jedoch ohne einen externen Schock nur durch eine optimale Kombination des personellen und inhaltlichen Angebots erreichbar. Dafür fehlen jedoch sowohl bei der CDU als auch bei der SPD die Voraussetzungen. Die CDU-Vorsitzende Annegret KrampKarrenbauer verharrt in der Bewertung durch die Bevölkerung im Negativbereich und die Frage, wer die Union in den nächsten Bundestagswahlkampf führen soll, ist ungeklärt. Das gleiche trifft auf die SPD zu, deren neues Führungsduo nach Meinung der großen Mehrheit der Bevölkerung die SPD nicht erfolgreich in die

15Zentrale Kriterien für eine Volkspartei sind eine starke und breite gesellschaftliche Verankerung sowie eine hohe und breit gestreute Mobilisierungsfähigkeit. Auch wenn es dafür keine theoretisch begründbaren und einhellig akzeptierten numerischen Schwellenwerte gibt, lässt sich die – u. a. am Wählerzuspruch gemessene – Volksparteieneigenschaft bei einer 14 %-Partei schwerlich begründen und auch im Falle der CDU, die bei der Europawahl außerhalb Bayerns 26,7 % erreichte, lässt sich darüber streiten, während die CSU 40,7 % erzielte und bei Umfragen in Bayern zwischen 36 und 38 % liegt.

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Zukunft führen und mehr Bürger von der Partei überzeugen kann, während der am besten bewertete SPD-Politiker Olaf Scholz von der Partei aus dem Rennen genommen wurde. Auch inhaltlich präsentieren sich beide Parteien nicht optimal. Die CDU ist immer noch im Prozess der Neujustierung der drei Säulen ihres Wertefundaments – dem wirtschaftspolitischen Liberalismus, dem gesellschaftspolitischen Konservatismus und dem christlich-sozialen Menschenbild. Die SPD hat zwar gerade ein neues Sozialstaatskonzept beschlossen, in wichtigen anderen Fragen, z. B. in der Flüchtlingspolitik, der Ausgestaltung der europäischen Solidarität und dem Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie, existiert aber kein kohärentes sozialdemokratisches Politikangebot. Ein deutlich steigender, mittelfristig auch anhaltender Wählerzuspruch für die beiden Parteien erscheint somit wenig wahrscheinlich. Die Grünen scheinen auf dem Weg zu sein, sich als zweitstärkste Kraft im Parteiensystem zu etablieren. Angesichts früherer Erfahrungen mit dem Wählerzuspruch für diese Partei ist jedoch Vorsicht angebracht. Die letzten eineinhalb Jahre waren durch eine optimale Kombination von für die Partei günstigen Faktoren geprägt, eine Konstellation, die sich nicht unbegrenzt aufrechterhalten lässt – zum Beispiel, wenn sich negative ökonomische und soziale Folgen der Klimapolitik zeigen sollten. Die AfD hat sich im Parteiensystem mittlerweile fest etabliert. Sie ist auf allen Ebenen vollständig parlamentarisch repräsentiert und ihre zwischen 11 und 18 % schwankenden bundespolitischen Umfragewerte zeigen keinen Trend nach unten. Zudem könnte sie in dem Maße, wie das Klimawandelthema zu einer erneuten gesellschaftlichen Spaltung und Polarisierung führt, ihre bisherige starke Abhängigkeit von der Flüchtlingsfrage überwinden und sich durch die Vertretung der Klimawandelleugner und Skeptiker ein erneutes Alleinstellungsmerkmal im Parteiensystem schaffen. Bei den anderen beiden parlamentarisch repräsentierten Parteien, der FDP und der Linkspartei, haben im letzten Jahr weder eigene Anstrengungen oder Probleme noch externe Ereignisse und Entwicklungen zu wesentlichen Veränderungen des Wählerzuspruchs geführt und es spricht momentan nichts dafür, dass sich dies grundlegend ändert. Insgesamt hat sich das deutsche Parteiensystem, das von Anfang an und über sechs Jahrzehnte hinweg ein System mit Zweiparteiendominanz war, zu einem pluralistischen System an der Grenze zum hochfragmentierten System entwickelt. Die Auswirkungen dieser Zersplitterung bei gleichzeitigem Erstarken der Segmentierung in Form einer von den anderen Parteien als nicht koalitionsfähig angesehenen Partei, der AfD, auf die Regierungsbildung sind im Bund und auf der Länderebene schon deutlich spürbar und werden den Parteien auch in Zukunft Probleme bereiten.

Die Entwicklung des Parteiensystems …

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Die CDU: Volkspartei am Ende der Ära Merkel Torsten Oppelland

1 Einleitung Die Bundestagswahl vom September 2017 endete mit einem für die CDU ernüchternden Ergebnis. Nur noch 26,8 % der Wähler hatten für sie gestimmt, das waren 7,8 Prozentpunkte weniger als bei der Wahl von 2013, die sich freilich im Rückblick als der große Ausreißer in der Ära Merkel erweist. Die CDU blieb – gemeinsam mit der CSU – in einer Position, in der eine Regierungsbildung gegen sie so gut wie ausgeschlossen war. Das Ergebnis der Bundestagswahl wie auch diejenigen der meisten sich anschließenden Landtagswahlen warf jedoch ein Schlaglicht auf die Probleme einer Volkspartei, die sich sowohl inhaltlich als auch in Bezug auf die Führung in einem Umbruch befindet. In diesem Beitrag wird ein Rückblick auf den Bundestagswahlkampf von 2017 gegeben, das Wahlergebnis bei der Bundestagswahl und die Resultate bei den Landtagswahlen, die seitdem stattgefunden haben, knapp analysiert, um danach einige Entwicklungen im Hinblick auf das Verhältnis von CDU und CSU sowie in der Führungsstruktur der CDU zu beschreiben. Abschließend gilt es, in einem Ausblick die Probleme der Volkspartei CDU, sich in einem wandelnden und erweiternden Parteiensystem zu profilieren (vgl. Oppelland 2019a) und sich insbesondere auf die neue Herausforderung durch eine rechtspopulistische Partei einzustellen, zu benennen.

T. Oppelland (*)  Institut für Politikwissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Jun und O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29771-8_2

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2 Die Strategie der CDU im Bundestagswahlkampf 2017 Wenn Strategien „erfolgsorientierte Konstrukte, die auf situationsübergreifenden Ziel-Mittel-Umwelt-Kalkulationen beruhen,“ sind (Raschke und Tils 2013, S. 127), dann gilt es zur Beurteilung des Erfolgs einer Strategie, erst einmal diese drei Elemente, Ziele, Mittel und Umwelt, zu rekonstruieren. Die Umwelt, um mit dem letztgenannten Punkt zu beginnen, also die Ausgangslage, stellte sich aus Sicht der CDU ein Jahr vor der Bundestagswahl trotz des nach wie vor großen Ansehens der Bundeskanzlerin1 keineswegs nur positiv dar. Zwar nahm der weitaus größte Teil der Wählerschaft die äußerst positive wirtschaftliche Entwicklung während der Legislaturperiode wahr, aber, so stellte Infratest dimap als Ergebnis der Vorwahlbefragung fest: „Es sind nicht Konjunkturfragen, die die Deutschen vor der Wahl bewegen“ (Infratest 2017, S. 25). Viel größere Bedeutung hatten 2017 „Migrationsfragen“; die Bevölkerung zerfiel hoch polarisiert in zwei ungefähr gleich große Gruppen, die die Aufnahme von Flüchtlingen als Bereicherung oder Belastung ansahen oder die den Einfluss des Islam in Deutschland für zu groß oder eben nicht für zu groß hielten (vgl. ebd. sowie Korte 2017, S. 4‒6). Diese Polarisierung wurde für das Unionslager zu einem schwerwiegenden Problem: Erstens stand die Kanzlerin hier ganz persönlich für die Entscheidung vom September 2015, die Grenzen in einer speziellen Notsituation zu öffnen und insofern dafür, dass die Dublin-Regel, die Entscheidung über die Asylbewerbung in den jeweiligen europäischen Ankunftsländern treffen zu lassen, außer Kraft gesetzt wurde. Und zweitens, war es ein Unionsproblem, weil der Riss quer durch das Unionslager ging. Denn außer von der AfD, die durch die Flüchtlingskrise überhaupt erst wieder stabilisiert wurde (Pickel 2019, S. 164 f.), kam die schärfste Kritik an der Politik der Kanzlerin von der Schwesterpartei CSU (vgl. Oppelland 2018, S. 12 f.; Jung et al. 2019, S. 28; Schoen und Gavras 2019, S. 28‒31). Im Hinblick auf die Mitbewerber sah die Ausgangslage ein Jahr vor der Wahl ähnlich ambivalent aus. So schien einerseits der Koalitionspartner, die SPD, während der gesamten Legislaturperiode wie in Beton gemauert, was die

1Aber

selbst dieses war nicht mehr auf dem Stand wie noch bei der Bundestagswahl 2013; im Politbarometer stand Angela Merkel im Oktober 2016, also knapp ein Jahr vor der Bundestagswahl, nicht mehr an der Spitze der Liste der beliebtesten Politiker, sondern hinter ihrem Außenminister Frank Steinmeier und dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann nur noch auf Platz 3 (Oppelland 2018, S. 8).

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Umfragewerte betraf, andererseits hatte sich die AfD im Zuge der Flüchtlingskrise stabilisiert (vgl. Oppelland 2019a, S. 66‒68). In dieser Zeit hatte die CDU in mehreren Landtagswahlen insbesondere in ostdeutschen Bundesländern in zum Teil erheblichem Umfang Wähler an die AfD abgegeben. Auch die FDP, von der die CDU 2013 in erheblichem Umfang Wähler gewonnen hatte, schien auf einem guten Weg zur Rückkehr in den Bundestag (Montag 2018, S. 8 ff.), sodass der Wählermarkt zugleich polarisierter und umkämpfter erschien als vier Jahre zuvor. Vor diesem Hintergrund fiel im November 2016 die in doppelter Hinsicht weichenstellende Entscheidung von Angela Merkel, auf dem bevorstehenden CDU-Bundesparteitag erneut für den Parteivorsitz kandidieren zu wollen und dies zugleich mit der Bereitschaft zu verbinden, noch ein weiteres Mal als Kanzlerkandidatin im Bundestagswahlkampf antreten zu wollen.2 Dabei war ihr offensichtlich bewusst, dass sich die Konstellation gegenüber 2013 nicht unerheblich verändert hatte, denn mehrfach betonte sie, dies werde der härteste Wahlkampf zumindest seit der Wiedervereinigung. Auch wenn es wenig motivierend gewesen wäre, auf einem Parteitag zu sagen, dass wenig Aussichten bestanden hätten, das Wahlergebnis von 2013 zu wiederholen, so war das doch die unterschwellige, mit der Kandidatur verbundene Botschaft (vgl. Oppelland 2018, S. 13 ff.). Weichenstellend war die erneute Kandidatur in dreierlei Hinsicht: Erstens war damit klar, dass Angela Merkel und ihr engeres Umfeld das strategische Zentrum der Partei war und damit auch bei der Planung des auf ihre Person zuzuschneidenden Wahlkampfs sein würde; zweitens war ebenso klar, dass man in irgendeiner Form den internen Konflikt mit der Schwesterpartei CSU, für die Merkel dann ja auch Kanzlerkandidatin sein würde, würde beilegen müssen und schließlich drittens zeigte sich bald, dass Merkel und ihr Umfeld nicht bereit sein würden, die Entscheidung zur Öffnung der Grenzen vom Sommer 2015 als einen Fehler zu bezeichnen. Vielmehr wurde die Sprachregelung durchgesetzt, 2015 habe ein humanitärer Notstand geherrscht, auf den man habe reagieren müssen, und nun müsse politisch abgesichert werden, dass sich eine solche Situation nicht wiederholen könne. Schon auf dem Parteitag vom Dezember 2016 hatte sich die Entscheidung des strategischen Zentrums gezeigt, mit flüchtlingspolitischen Themen keinen Wahlkampf zu machen. Von einem von der Jungen Union eingebrachter Parteitagsbeschluss, sich für Einschränkungen bei der doppelten

2Merkels

Ergebnis bei der Wiederwahl zur Parteivorsitzenden auf dem Essener Parteitag vom November 2016 war freilich das zweitschlechteste ihrer gesamten Amtszeit (Statista. com 2018) und gab zu Spekulationen über „ihren innerparteilichen Niedergang“ (Bannas 2016) Anlass.

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Staatsangehörigkeit einzusetzen, der mit knapper Mehrheit angenommen wurde, distanzierte sich Merkel; man werde keinen „Doppelpass“-Wahlkampf führen wie einst Roland Koch in Hessen (Oppelland 2019a, S. 80). Mit anderen Worten, im Wahlkampf wollte man der AfD nicht auf einem Gebiet, auf dem sie zumindest für Teile der Bevölkerung so etwas wie issue ownership entwickelt hatte, der Flüchtlings- und Migrationspolitik, entgegentreten, sondern dieses Thema möglichst meiden bzw. es herunterspielen, indem man darauf bestand, das Flüchtlingsthema habe in Wirklichkeit längst an Relevanz verloren.3 Grundlage für die Planung eines Wahlkampfs ist neben der möglichst realistischen Analyse der Ausgangslage stets die Definition strategischer Ziele. Für die CDU war das 2017 relativ einfach – es ging um die Verteidigung der Regierungsmacht. Dazu musste ein Wahlergebnis erreicht werden, aus dem die Union die Legitimation für den Regierungsauftrag ableiten konnte und zwar möglichst als stärkste Kraft, damit man weiterhin die Kanzlerin würde stellen können. Dazu wiederum war es erforderlich, dass gegen die Union keine Mehrheit gebildet werden könne. Am Wahlabend erklärte Angela Merkel – sicherlich auch um angesichts der Stimmenverluste die Anhänger etwas zu trösten – alle diese Ziele für erreicht, was durchaus den Tatsachen entsprach. Denn für eine ­rot-rot-grüne Koalition gab es keine rechnerische Mehrheit und eine Koalition gegen die Union unter Einbeziehung der AfD war politisch ausgeschlossen. Diese Ziele wurden mittels eines Wahlkampfes erreicht, der durch drei wesentliche Elemente gekennzeichnet war: einen Formelkompromiss mit der CSU, der den Ausschluss jeglicher Kooperation mit der AfD mit beinhaltete, eine Feel-Good-Strategie für den Wahlkampf sowie die richtige Reaktion auf den Schulz-Hype während des Wahlkampfs.

3Diese

De-Thematisierungsstrategie ist im Nachhinein als „fame avoidance“ kritisiert worden (Blätte et al. 2019: 364): „Was jedenfalls nicht erfolgte, war ein eindeutiges öffentliches Bekenntnis zu dem in der Sache längst vollzogenen Kurswechsel in der Asyl- und Flüchtlingspolitik. ‚Merkels Flüchtlingspolitik‘ war ab 2016 zu einem Phantom geworden. Der Weg zu einer kommunikativen Wende schien aber offenkundig verstellt. Es hatte sich eine Kluft zwischen Darstellungs- und Entscheidungspolitik geöffnet“ (ebd., S. 371). Diese Kluft zwischen politischem Handeln und Reden wird dabei aus demokratietheoretischer Perspektive kritisiert, wobei der taktische Aspekt kaum berücksichtigt wird, durch De-Thematisierung der AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dass diese Taktik letztlich nicht erfolgreich war, steht auf einem anderen Blatt.

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a) Formelkompromiss mit der CSU Für Mitte-Rechts-Volksparteien wie die beiden Unionsparteien ist es selbstverständlich, das Entstehen einer Konkurrenzpartei rechts von ihr, die Aussichten hat, in den Bundestag oder Landtage einzuziehen, möglichst zu verhindern oder, sollte das bereits verfehlt sein, diese möglichst klein zu halten. Die entscheidende Frage ist, wie man das erreichen kann. Die internationale politikwissenschaftliche Forschung dazu, wie etablierte Mainstream-Parteien auf neu ins Parteiensystem eintretende rechtspopulistische Parteien reagieren können, hat insbesondere mit Blick auf Skandinavien, wo es solche neuen Wettbewerber schon länger gibt, einige Ergebnisse erzielt. Eine mögliche Strategie der Auseinandersetzung mit neuen rechtspopulistischen Parteien ist die „Ignore“-Strategie, d. h. die etablierte Partei (in Regierungsverantwortung) negiert die Legitimität der neuen Partei und versucht zugleich die Probleme, die zum Aufstieg der rechtspopulistischen Partei geführt haben, soweit zu lösen, dass sie an Virulenz verlieren und die Rechtspartei folglich Wählerzuspruch einbüßt (Meguid 2005, S. 349; Heinze 2018, S. 289). Dies beschreibt ziemlich genau die Herangehensweise von Angela Merkel und der CDU gegenüber der AfD. Auf der einen Seite lehnt die CDU jegliche Kooperation mit der AfD ab, auf der anderen Seite betonte sie im Vorfeld des Wahlkampfes, dass eine Situation wie die vom Spätsommer 2015, als die Flüchtlinge nicht nur in großer Zahl, sondern auch unter relativ chaotischen Umständen in die Bundesrepublik Deutschland einreisten, nicht wieder eintreten dürfe. Die EU-Türkei-Vereinbarung vom Frühjahr 2016, so betonte Merkel in ihrer Parteitagsrede in Essen, werde dazu beitragen, illegale Migration zu verhindern und das Schlepperwesen, das auch für die Flüchtlinge inhuman und gefährlich sei, zu unterbinden (CDU 2016, S. 25 f.). Eine solche Strategie ist langfristig angelegt und kann auf lange Sicht tatsächlich dazu führen, dass eine rechtspopulistische Partei wie die AfD an Attraktivität einbüßt. Die CSU jedoch war als bayerische Landespartei über den Termin der Bundestagswahl hinaus vor allem auf die nächste bayerische Landtagswahl im Jahr 2018 fixiert, und setzte auf eine „Co-Opt Policies“-Strategie (Downs 2001, S. 26 ff., Heinze 2018, S. 290), das heißt darauf, der AfD kurzfristig ihre Erfolgsthemen „wegzunehmen“. Dem entsprach das Eintreten der CSU für die „Obergrenze“ als Mittel zur strikten Begrenzung des Zuzugs von Flüchtlingen. Damit hoffte man, der Konkurrenz von rechts den Wind aus den Segeln nehmen und den Einzug der Partei wenigstens in den bayerischen Landtag verhindern zu können. Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen strategischen Ziele und Prämissen war das eigentlich Überraschende, dass es beiden Schwesterparteien dennoch gelang, sich für den Bundestagswahlkampf auf ein gemeinsames

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Wahlprogramm zu einigen. Anfang Februar 2017 wurde im Rahmen einer Klausurtagung der Führungsgremien beider Parteien eine „Münchener Erklärung“ beschlossen, in der sich die CSU in die Realitäten fügte und Angela Merkel als die Kanzlerkandidatin der Unionsparteien akzeptierte. Das bedeutete, dass die CSU nicht nur ihre scharfe Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik einstellen, sondern sogar erklären musste, warum sie deren erneute Kandidatur unterstützte und sie auch als ihre Kandidatin begriff. Das gelang in einer durchaus disziplinierten Weise: Von diesem Zeitpunkt war eine klare Sprachregelung ausgegeben, dass Angela Merkel im Wahlkampf zu unterstützen sei und dass sie von der CSU geschlossen als die beste Wahl für das Amt des Kanzlers angesehen werde.4 Dieses Bekenntnis der CSU-Führung zur Kandidatur der Bundeskanzlerin änderte freilich nichts an den unterschiedlichen Sachpositionen beider Parteien insbesondere in der Frage der jährlichen Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen. Noch im Dezember 2016 hatte Seehofer, damals noch in der Doppelrolle als ­CSU-Vorsitzender und bayerischer Ministerpräsident, in einem Fernsehinterview eine „Garantie“ ausgesprochen, dass sich die CSU an keiner Koalition beteiligen werde, die nicht die Obergrenze einführen wolle (Bannas 2016). Dieser Gegensatz wurde lediglich dadurch überdeckt, dass die CSU ein gemeinsames Wahlprogramm akzeptierte, in dem die „Obergrenze“ nicht erwähnt wurde, diese aber in ihrem „Bayernplan“, einem eigenständigen CSU-Programm für die Bundestagswahl, weiterhin prominent erwähnte. Dass Merkel und Seehofer sich bei der Vorstellung des gemeinsamen Wahlprogramms als „ein Herz und eine Seele“ (Bannas 2017) präsentierten, änderte nichts daran, dass letztlich nur ein – wie sich nach der Wahl zeigen sollte – kurzlebiger Formelkompromiss erreicht worden war. b) Feel-Good-Wahlkampfstrategie Mit der Einigung auf ein gemeinsames Wahlprogramm war die Grundausrichtung des Wahlkampfs ebenfalls geklärt. Bereits in der Präambel wurde der Ton gesetzt, Deutschland als „ein gutes Land in dieser Zeit“ und als ein „liebensund lebenswertes Land“ beschrieben, „in dem man gut wohnen, arbeiten und leben kann“ (CDU und CSU 2017, S. 4). Als führende Regierungsparteien wird diese fast schon poetische Beschreibung des Landes als Erfolg der Unionsparteien präsentiert. Wenn darüber hinaus formuliert wurde: „Der großen Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger ging es noch nie so gut wie heute. … Unsere Wirtschaft wächst. Es gibt in Deutschland mehr Beschäftigung als je zuvor“ 4Dieser Schwenk wurde später als unglaubwürdig kritisiert (Jung et al. 2019: 28 f.), aber eine ernsthafte Alternative dazu hatte es nicht gegeben, es sei die CSU hätte die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU riskieren wollen.

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(ebd.), dann zeigt dies, dass die guten Wirtschaftsdaten das Fundament für die Botschaft der Unionsparteien und eine „feel-good“-Strategie liefern sollten.5 c) Die richtige Reaktion auf den Schulz-Hype Mit der Ankündigung des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel vom 24. Januar 2017, sich nicht selbst um die Kanzlerkandidatur bewerben, sondern Martin Schulz dafür vorschlagen zu wollen, kam der „Schulz-Zug“ in Fahrt, der seine Höchstgeschwindigkeit erreichte, als Schulz im März mit 100 % der abgegebenen Stimmen zum SPD-Vorsitzenden gewählt wurde (vgl. Feldenkirchen 2018, S. 34‒38; Jun 2018, S. 20‒22). Die vielleicht wichtigste strategische Entscheidung der CDU im Verlauf des Bundestagswahlkampfs 2017 war es, auf diesen Hype nicht panisch zu reagieren. Es gab zwar einige Ansätze, Schulz, der in den Monaten Februar und März auch in der Kanzlerfrage vor Angela Merkel lag (Infratest dimap 2017; Neu und Pokorny 2017, S. 5), wegen seiner Politik und seines Verhaltens als EU-Parlamentspräsident direkt zu attackieren; dies wurde aber aus dem Konrad-Adenauer-Haus unterbunden, als Generalsekretär Tauber Ende März öffentlich erklärte: „Wir werden Herrn Schulz nicht persönlich angreifen“ (zit. nach Schäfer 2017). Diese Entscheidung, erst einmal abzuwarten und nichts unmittelbar zu unternehmen, auch wenn man in der Partei nervös zu werden begann – was Schulz und der SPD nicht verborgen blieb (Feldenkirchen 2018, S. 37 ff.) –, erwies sich als richtig. Denn dem „Schulz-Zug“ war ein klarer Fahrplan zugrunde gelegt worden: Erst sollte die SPD bei der Landtagswahl im Saarland Ende März die Macht erringen, dann bei den Landtagswahlen in ­Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein im Mai die Macht verteidigen, um schließlich im September das Kanzleramt zu erobern. Aber bereits bei der saarländischen Wahl wurde die Weichen anders gestellt: Mit einem couragierten Wahlkampf gelang es der CDU unter Annegret Kramp-Karrenbauer, ihr Ergebnis deutlich zu verbessern und anschließend eine neue Große Koalition mit einer SPD, die sogar leichte Verluste zu verbuchen hatte, einzugehen (Winkler 2018; Feldenkirchen 2018, S. 39 ff.). Mit diesem Wahlsieg hatte Kramp-Karrenbauer zugleich die Grundlage für ihre zukünftige bundespolitische Karriere gelegt. 5Daneben

knüpfte die Union auch 2017 an die berühmt gewordene Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“ (Jung et al. 2009, S. 19 sowie für die Bundestagswahl 2017: Jung 2019, S. 332, der freilich betont, dass diese Strategie aufgrund der veränderten Umstände nicht mehr so konsequent anzuwenden war wie in früheren Wahlkämpfen unter Merkels Führung) an. Denn Begriffe wie „gute Arbeit“ bezeichnen zentrale Ziele und Inhalte der Politik der politischen Linken und wenn die Unionsparteien diese nicht nur für sich reklamieren, sondern kommunizieren, in der politischen Umsetzung seien diese Ziele bei ihnen besser aufgehoben, dann zielt das auf die Wähler der linken Parteien.

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Nachdem die SPD auch die Wahlen in den anderen beiden Ländern verloren hatte (Feldenkirchen 2018, S. 48 ff.; Jun 2018, S. 22 f.), fehlte ihr jegliche Machtperspektive und die schließlich folgende verheerende Niederlage bei der Bundestagswahl war abzusehen.

3 Die Wahlergebnisse der CDU seit September 2017 Das Ergebnis der Bundestagswahl kam aus Sicht der CDU nicht völlig unerwartet, war aber dennoch sehr enttäuschend. Über sieben Prozentpunkte weniger als bei der Wahl vorher, und dies bei einer um fast fünf Prozentpunkte gestiegenen Wahlbeteiligung, entsprachen einem Nettoverlust von fast 2,5 Mio. Wählerstimmen. Von den Verlusten der CDU profitierten vor allem zwei Parteien: Die FDP, die nach den Erhebungen von Infratest dimap beiden Unionsparteien zusammen im Saldo 1.360.000 Wählerstimmen abnahm6 sowie die AfD, zu der eine knappe Million früherer Unionswähler wechselte (Infratest 2017, S. 86).7 Konnte man in der Union die Verluste an die FDP noch gewissermaßen als eine Lager-interne Normalisierung nach den extremen Verlusten der FDP bei der Bundestagswahl 2013 verbuchen, so waren die Verluste an die AfD weitaus schmerzlicher, hatte man doch im Wahlkampf immer wieder deutlich gemacht, dass jegliche Kooperation mit dieser Partei ausgeschlossen sei. Wähler, die von der CDU zur AfD gewechselt waren, taten dies insofern nicht aus irgendwelchen taktischen Überlegungen, sondern weit überwiegend, weil sie mit der Politik der unionsgeführten Regierung unzufrieden waren und weil sie ihre politischen Einstellungen und ihre („Bedrohungs-, Angst- und Entfremdungs-“) Gefühle bei den Unionsparteien nicht mehr wieder- bzw. aufgehoben fanden (Pickel 2019, S. 163). Wenn man dann noch berücksichtigt, dass die AfD am stärksten von allen Parteien frühere Nichtwähler gewinnen konnte (Infratest 2017, S. 89), von denen zweifellos ein beträchtlicher Anteil in Wahlen, die vor der letzten lagen, für die Unionsparteien gestimmt hatte, dann wird deutlich, wie sehr der elektorale Aufstieg der AfD gerade CDU und CSU trifft. Allerdings waren die Unionsverluste an die AfD regional sehr ungleich verteilt. So lagen die höchsten S ­ timmenverluste 6In

der Wahlanalyse der Konrad-Adenauer-Stiftung wurde betont, dass dies deutlich unter den Verlusten der Partei an die Union bei der Bundestagswahl von 2013 lag (Neu und Pokorny 2017, S. 20). 7Von der SPD konnten die Unionsparteien im Saldo sogar Wähler gewinnen, die Verluste an die anderen Parteien blieben marginal (ebd.).

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der CDU in den ostdeutschen Bundesländern und B ­ aden-Württemberg, wobei der Verlust von 15,8 Prozentpunkten in Sachsen selbst in den neuen Bundesländern herausragte. Auch die CSU musste in Bayern Verluste von über 10 Prozentpunkten hinnehmen. Fast überall gingen diese Verluste mit überdurchschnittlich hohen Gewinnen der AfD einher (FG Wahlen 2017, S. 10), am deutlichsten wiederum in Sachsen, wo diese am Ende sogar knapp vor der CDU lag und stärkste Partei wurde. Auch in sozialstrukturellen Stammwählergruppen fielen die Verluste überproportional hoch aus. So lagen die Einbrüche bei Selbstständigen und Landwirten bei 14 bzw. 13 Prozentpunkten, wobei diese Verluste nicht allein oder auch nur in erster Linie der AfD, sondern in hohem Maße auch der FDP zugutekamen (FG Wahlen 2017, S. 53). Ein „Spitzenwert“ wurde auch hierbei wiederum in Ostdeutschland erzielt: Bei Landwirten lag das Ergebnis von 2017 36 Prozentpunkte unter dem von 2013 (ebd., S. 118)! Bei Männern der mittleren Jahrgänge bei denen die Unionsparteien ebenfalls etwas überdurchschnittliche Verluste zu verzeichnen hatten (−12 Prozentpunkte), lagen die Gewinne der AfD überdurchschnittlich hoch (+13 Prozentpunkte). Obwohl Katholiken auch 2017 überdurchschnittlich häufig die Unionsparteien wählten – je größer die Kirchenbindung desto mehr –, kam es auch in dieser Gruppe zu erheblichen Verlusten (ebd., S. 57, 112 ff.). Ansonsten entsprach die soziale Zusammensetzung der Unionswählerschaft weitgehend langfristigen Trends (Neu und Pokorny 2017, S. 22 f.). Die Stimmenverluste der CDU lassen sich auf vier Hauptfaktoren zurückführen, die freilich alle miteinander zusammenhängen und zum Teil gemeinsame Wirkungen entfaltet haben. Zum Ersten ist bereits mehrfach erwähnt worden, dass es der FDP unter der Führung ihres neuen, rhetorisch versierten und führungsstarken Vorsitzenden Christian Linder gelungen ist, das Negativimage, das sie in den vier Jahren der gemeinsamen Koalition mit den Unionsparteien erworben hatte und bis zur Bundestagswahl 2013 nicht hatte loswerden können, allmählich zu überwinden.8 Im Wahlkampf hat sich die FDP unter Lindner zielstrebig als eine für bürgerliche Kräfte wählbare Alternative zur aktuellen Koalition präsentiert – auch und besonders im Bereich der Migrationsund Flüchtlingspolitik (Montag 2018, S. 20–24; Höhne und Jun 2019, S. 226 f; Decker 2019, S. 210).

8Neben

der Person des Vorsitzenden hatte das mit innerparteilichen Vorgängen wie dem Leitbildprozess zu tun, aber auch damit, dass sich die Kompetenzwerte der Partei wieder verbessert hatten (Höhne und Jun 2019, S. 229 ff.; Böttger 2017, passim).

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Zweifellos hat zum Zweiten der unionsinterne Streit um die Flüchtlingspolitik, die Stilisierung des Begriffs der „Obergrenze“ zum zentralen politischen Symbol in der Asylpolitik durch die CSU im Allgemeinen und deren Vorsitzenden Horst Seehofer im Besondern, die Unionsparteien geschwächt. Und sei es nur, weil es die Aufmerksamkeit für das wichtigste Mobilisierungsthema der AfD hochgehalten und die öffentliche Resonanz auf das inzwischen sehr viel restriktivere Regierungshandeln reduziert hat (Blätte et al. 2019, S. 373 f.). Auch wenn im Wahljahr selbst, wie oben beschrieben, Formelkompromisse die inhaltlichen Gegensätze zwischen beiden Unionsparteien verdecken sollten, wurde doch denjenigen Unionswählern außerhalb Bayerns, die eher der politischen Position der CSU zuneigten, diese aber nicht wählen konnten, der Wechsel zur AfD erleichtert. Der dritte Faktor ist die Rolle der Spitzenkandidatin. Anders als in früheren Wahlkämpfen war Angela Merkel nicht mehr eine quasi präsidial, dem Parteienstreit geradezu enthoben regierende Kanzlerin, sondern durch ihre Entscheidungen in der Flüchtlingskrise war sie in den Mittelpunkt der umkämpften Tagespolitik gerückt und hatte erhebliche, so zuvor nicht gekannte Animositäten („Merkel muss weg“) ausgelöst (Pickel 2019, S. 164; vgl. auch FG Wahlen 2017, S. 30). Dennoch gelang es ihr, in der heißen Phase des Wahlkampfs ihren direkten Konkurrenten Martin Schulz in fast allen Aspekten deutlich hinter sich zu lassen; in dieser Hinsicht kann man vielleicht sagen, Merkel habe „an den Wahlurnen ähnlich viel Zugkraft wie 2013“ entwickelt (Infratest 2017, S. 46 ff.). Bei der Vorwahlbefragung von Infratest haben jedoch immerhin 51 % der Befragten der Aussage, zwölf Jahre einer Kanzlerin Merkel seien genug, zugestimmt. Vor allem aber hat die Kandidatenorientierung bei der Wahlentscheidung im Jahr 2017 gegenüber der im Jahr 2013 an Bedeutung verloren (FG Wahlen 2017, S. 43 sowie Glinitzer und Jungmann 2019, S. 258). Was wiederum mit der Migrations- und Flüchtlingspolitik zu tun hatte, dem vierten Erklärungsfaktor für die Verluste der Unionsparteien. Wenn Korte (2019, S. 4 ff.) über die Bundestagswahl 2017 schreibt, diese sei ein „nachgelagertes Plebiszit über die Grenzöffnung im Sommer 2015“ gewesen und die „Flüchtlinge haben … über den Ausgang der Bundestagswahl 2017 entschieden“, so ist das etwas plakativ zugespitzt, trifft aber insofern den Kern, als alle bisher genannten Faktoren mehr oder weniger direkt durch die Entscheidungen Merkels vom Spätsommer 2015 beeinflusst waren. Wenn in der Woche vor der Bundestagswahl 44 % der Befragten den Komplex Asyl und Flüchtlinge für das dringlichste Problem hielten (FG Wahlen 2017, S. 35) und die Unzufriedenheit „mit Merkels Asyl- und Flüchtlingspolitik“ auch kurz vor der Wahl trotz sinkender Tendenz noch deutlich höher als die Zufriedenheit war – und bei den AfD-Anhängern, offenbar einschließlich derjenigen, die früher die Unionsparteien gewählt haben,

Die CDU: Volkspartei am Ende der Ära Merkel

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Tab. 1   Die Ergebnisse von CDU und CSU bei Wahlen seit der Bundestagswahl 2017. (Quelle: Bundeswahlleiter) Wahltag

Wahlergebnis

Gewinne/Verluste

Resultierende Koalition

BTW

24.09.2017

26,8

15.10.2017

33,6

−7,4

CDU/CSU-SPD

Niedersachsen Bayern

14.10.2018

37,2

CSU-Freie Wähler

Hessen

28.10.2018

27,0

−10,5

Europawahl

26.05.2019

22,6



Bremen

26.05.2019

26,7

−7,5

Brandenburg

01.09.2019

15,6

Sachsen

01.09.2019

32,1

Thüringen

27.10.2019

21,7

−2,4

SPD-CDU

−11,3

CDU-Grüne

+ 4,3

Opposition

−7,4

SPD-CDU-Grüne

−11,8

(tolerierende) Opposition

−7,3

CDU-SPD-Grüne

bei 100 % lag – (Infratest 2017, S. 38), dann weist das auf die Bedeutung des Themas und dessen Wirkung. Dass Anhänger der Grünen größere Zufriedenheit mit der Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel aufwiesen als die Unionsanhänger, wird den Unionsparteien elektoral wenig geholfen haben. Der Eindruck, die Bundestagswahl sei trotz des Erreichens der strategischen Ziele letztlich eine Niederlage gewesen, wurde dadurch verschärft, dass sie quasi zu einem Trendsetter wurde. Hatten im Super-Wahljahr 2017 die CDU-Erfolge bei Landtagswahlen den Weg dafür geebnet, den „Schulz-Hype“ zu brechen und den Unionsparteien die Position als mit einigem Abstand stärkste politische Kraft zu sichern – und damit letztlich auch das Kanzleramt – (Decker 2019, S. 206), so waren die folgenden Wahlen einschließlich der Europawahl 2019 mit ganz wenigen Ausnahmen von starken Stimmenverlusten der Unionsparteien gekennzeichnet (vgl. Tab. 1). Die Landtagswahl in Niedersachsen, die wenige Wochen nach der Bundestagswahl stattfand, war in mehrfacher Hinsicht eine solche Ausnahme, da dort die SPD aus der Regierung heraus deutliche Stimmengewinne und die AfD nur ein vergleichsweise schwaches Resultat erzielen konnten. Aufgrund der Stimmenverluste der Grünen konnte die CDU trotz eigener Verluste von 2,4 Prozentpunkten als Juniorpartner in die neue Landesregierung einziehen (Meyer und Müller-Rommel 2018). Alle weiteren Wahlen mit Ausnahme Bremens, die wiederum auf lokale Besonderheiten zurückzuführen war, sahen Verluste der CDU (bzw. in Bayern der CSU) in ähnlicher Größenordnung

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wie bei der Bundestagswahl oder sogar noch höhere, obwohl die Ausgangsbedingungen sehr unterschiedlich waren (Regierungspartei in Bayern, Hessen und Sachsen, Oppositionspartei in Bremen, Brandenburg und Thüringen). Die relativ hohe Einheitlichkeit des Trends, die es in dieser Form vor der Bundestagswahl nicht gegeben hatte (Oppelland 2019a, S. 65 f.), verweist darauf, dass strukturelle Probleme der CDU im Parteienwettbewerb ungelöst sind.

4 Neue Entwicklungen nach der Bundestagswahl von 2017 4.1 Die erste Phase: Die Zeit der Regierungsbildung Versucht man die Entwicklung der CDU von der Bundestagswahl 2017 bis zum Leipziger Parteitag vom November 2019 im Ganzen zu überblicken, so lassen sich drei Phasen unterscheiden. Die erste war geprägt einerseits vom Schreck über die unerwartet hohen Verluste, andererseits aber noch mehr von den Erfordernissen der Regierungsbildung. Außerdem war auf die bevorstehende Landtagswahl in Niedersachsen Rücksicht zu nehmen, sodass es kaum zu einer intensiven Aufarbeitung des Wahlergebnisses kam. Diese Phase zog sich über das überraschende Scheitern der Sondierungen für eine J­amaika-Koalition aus den Unionsparteien, Grünen und FDP im November 2017 bis zum Ende der langwierigen Verhandlungen mit der SPD hin9, die erst im Februar 2018 – fast ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl – abgeschlossen werden konnten (dazu ausführlich: Decker 2019, S. 217 ff. sowie Saalfeld et al. 2019, S. 522 f.). Aus Sicht der CDU als Partei war dies kaum mehr als eine Phase des Abwartens. Nur gelegentlich wurde deutlich, dass es in der Partei durchaus Unzufriedenheit über einige Inhalte des zwischen CDU, CSU und SPD ausgehandelten Koalitionsvertrages gab und darüber, dass das Finanzministerium an die SPD fallen sollte (Schmoll 2018). Merkel reagierte beim Sonderparteitag in Berlin, auf dem die CDU über das Verhandlungsergebnis, also den Koalitionsvertrag, zu entscheiden hatte, auf diese Kritik, indem sie die Gestaltungsmöglichkeiten des Wirtschaftsministeriums, immerhin „das Haus Ludwig Erhards … das Kraftzentrum für

9Die

SPD war bekanntlich anfangs überhaupt nicht interessiert daran, erneut in eine „große“ Koalition einzutreten und ließ sich erst nach dem Scheitern der JamaikaSondierungen und den Appellen des Bundespräsidenten Steinmeier, der aus ihren Reihen stammte, an ihre staatspolitische Verantwortung dazu überzeugen (Decker 2019, S. 281).

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Soziale Marktwirtschaft“, betonte (CDU 2018a, S. 26).10 Letztlich ging man bei aller Kritik freilich nicht so weit, den Koalitionsvertrag abzulehnen: Am Ende stimmten lediglich 27 Delegierte dagegen (ebd., S. 90). Eine personelle Neuerung gab es in dieser Phase dann doch: Auf dem Berliner Parteitag wurde Annegret Kramp-Karrenbauer, die sich den Delegierten als jemand präsentierte, der bereit war, ein hohes exekutives Amt aufzugeben – sie war immerhin erst ein knappes Jahr zuvor als saarländische Ministerpräsidentin wiedergewählt worden –, um sich ganz „in den Dienst der Partei“ zu stellen (ebd., S. 91), mit 98,87 % der Delegiertenstimmen zur neuen Generalsekretärin der Partei gewählt. Dass dies in der Presse als eine mögliche „Vorentscheidung über die Nachfolge“ Merkels gewertet wurde (z. B. Bannas 2018), war zu diesem Zeitpunkt eher spekulativ und wurde erst in der dritten der oben erwähnten Phasen relevant.

4.2 Die zweite Phase: Die Neuauflage des Unionsstreits über die Migrationspolitik Nachdem Angela Merkel Mitte März 2018, zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich noch immer CDU-Bundesvorsitzende, endlich erneut zur Bundeskanzlerin gewählt worden war, trat etwas ein, das so gewiss nicht erwartet worden war, aber angesichts der Vorgeschichte eigentlich auch nicht überraschen konnte. Der Streit mit der CSU über die Asyl- und Flüchtlingspolitik, der, wie oben beschrieben, zu Beginn des Bundestagswahlkampfs mit einem Formelkompromiss, aber letztlich auch mit einem „agree to differ“ stillgelegt worden war, brach in einer derartigen Schärfe wieder auf, dass dadurch das Bild beider Parteien und der Bundesregierung in hohem Maße litt. Horst Seehofer machte unter dem Eindruck der CSU-Verluste bei der Bundestagswahl seinen schon vor längerer Zeit angekündigten Rückzug vom Amt des bayerischen Ministerpräsidenten wahr und übergab dieses ebenfalls Mitte März 2018 an Markus Söder, an dem inzwischen kein Weg mehr vorbeigeführt hatte. An den Verhandlungen über den Koalitionsvertrag hatte sich Seehofer als CSU-Vorsitzender intensiv beteiligt und am Ende das Amt des Innenministers in der neuen Bundesregierung übernommen (ungeachtet der Tatsachen, dass der bayerische Innenminister Joachim ­Herrmann

10Damit

hatte sie zugleich das Stichwort für die Vertreter des Wirtschaftsrats der CDU und der Mittelstandsvereinigung geliefert, die ihre Sorge darüber ausdrückten, „dass die marktwirtschaftliche Ausrichtung unserer Partei, ein wichtiger Bestandteil des Markenkerns der CDU, im Zuge der Dritten Koalition weiter an Kontur“ verliere (CDU 2018a, S. 48).

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als CSU-Spitzenkandidat die Liste für die Bundestagswahl angeführt hatte und dass Seehofer selbst kein Mitglied des Bundestags war). In den Koalitionsverhandlungen mit der SPD hatte sich die CSU – auch gegen Bedenken aus der CDU – insoweit durchgesetzt, als dort nach zahlreichen Bekenntnissen zum Grundrecht auf Asyl, zur Genfer Flüchtlingskonvention und den Leistungen der deutschen Gesellschaft bei der Integration von Geflüchteten schließlich auch davon die Rede war, die Integrationsfähigkeit der Aufnahmegesellschaft nicht zu überfordern und die „Zuwanderungszahlen … die Spanne von jährlich 180 000 bis 220 000 nicht übersteigen“ sollen (Koalitionsvertrag 2018, S. 103; vgl. auch Saalfeld u. a. 2019, S. 524). Damit war zwar der belastete Begriff der „Obergrenze“ vermieden worden, faktisch war diese in Form der „Spanne“ jedoch Teil des Koalitionsvertrags. Die weiterhin formulierten Maßnahmen, die sicherstellen sollten, dass die Zahlen innerhalb dieser Spanne bleiben würden, waren jedoch sehr vage gehalten. Und genau an diesem Punkt entzündeten sich die erneuten Konflikte. Denn Seehofer drängte in den kommenden Monaten, unterstützt von der CSU im Allgemeinen und der CSU-Landesgruppe unter der Führung von Alexander Dobrindt im Besonderen, darauf, an den deutschen Außengrenzen alle diejenigen Flüchtenden und Migranten zurückzuweisen, die bereits in einem anderen E ­ U-Mitgliedsland registriert worden seien, wozu die Bundeskanzlerin und die CDU nicht bereit waren (Carstens 2019). Der Konflikt schaukelte sich auf und für einige Wochen im Juni 2018, also nur wenige Monate nach der Konstituierung der Regierung, schien es, als stünden nicht nur die Position Seehofers als Innenminister und der Bestand der Koalition, sondern sogar die bis in die Anfänge der Bundesrepublik zurückreichende Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU zur Disposition. Am Ende kam es zu keiner dieser Konsequenzen des unionsinternen Streits und man fand stattdessen Anfang Juli erneut eine gesichtswahrende Kompromissformel, die im Koalitionsausschuss auch von der SPD akzeptiert wurde. Flüchtlinge, die schon in einem anderen europäischen Land registriert und dann an der deutschen Grenze aufgegriffen wurden, sollten künftig in sogenannten Transitzentren ein beschleunigtes Verfahren durchlaufen, in andere EU-Staaten sollten sie jedoch nur dann zurückgeschickt, wenn diese dem auch zugestimmt haben (Schuler 2018). Erst in der Rückschau wird vollends deutlich, dass es sich bei dem Konflikt um reine Symbolpolitik handelte, denn das Symbol „Zurückweisung“ sollte genauso wie zuvor das der „Obergrenze“ dazu dienen, potenziellen AfD-Wählern zu signalisieren, dass das Thema Migration und Asyl bei der CSU gut aufgehoben sei. In dem Moment jedoch, als CSU und CDU bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Oktober 2018 mehr Wähler an die Grünen als an die AfD verloren (Infratest 2018), wurde der Versuch, der AfD das Flüchtlingsthema zu

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entwinden, ebenso abrupt wie endgültig aufgegeben. Das Thema Migration und Flüchtlinge spielte fortan im Vergleich zur ersten Jahreshälfte 2018 eine völlig untergeordnete Rolle in der politischen Kommunikation. Offenbar hatte sich die Einsicht durchgesetzt, man werde mit einer migrationskritischen Rhetorik den Grünen mehr Wähler zutreiben, als man von der AfD zurückgewinnen konnte.

4.3 Die dritte Phase: Vom Hamburger zum Leipziger Parteitag Mit der unmittelbar auf die Landtagswahl in Hessen folgenden Ankündigung von Angela Merkel, auf dem Hamburger Parteitag im Dezember 2018 nach 18 Jahren als Vorsitzende nicht noch einmal für den CDU-Vorsitz kandidieren zu wollen, begann die dritte Phase der CDU-Entwicklung seit der Bundestagswahl. Die folgenden Wochen waren vom Schaulaufen der Kandidaten in acht Regionalkonferenzen geprägt. Drei Kandidaten hatten sich beworben: die Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer, die sich seit dem Beginn ihrer Amtszeit auf einer „Zuhör-Tour“ mit den Landesverbänden vertraut und sich selbst bekannt gemacht hatte und deshalb über einen gewissen Vorsprung verfügte, der Vertreter des Wirtschaftsflügels Friedrich Merz, der die Merkel-Ära in einer Art politischem inneren Exil verbracht hatte, aber immer noch über viel Unterstützung in der CDU verfügte, beispielsweise von Wolfgang Schäuble (FAZ 2018), und schließlich der Gesundheitsminister Jens Spahn, der für den Führungsanspruch einer jüngeren Generation in der CDU stand. Allen Beteiligten war klar, dass es bei der Entscheidung über den CDU-Vorsitz auch über eine mögliche Nachfolge in der Kanzlerschaft ging; denn seit Merkels Favorit für die Position des Fraktionsvorsitzenden, Volker Kauder, seinem Stellvertreter Ralph Brinkhaus bei der fraktionsinternen Wahl wenige Wochen zuvor unterlegen war, begann sich nun definitiv ein Ende der Ära Merkel abzuzeichnen (Geis und Ulrich 2018). Diese Wahl war aber insofern auch eine Richtungsentscheidung, als insbesondere Friedrich Merz – in gewisser Weise galt das auch für Spahn, der jedoch als Minister in die Kabinettsdisziplin eingebunden war – für einen deutlich konservativeren Kurs der CDU stand. Er machte auf dem Parteitag auch keinen Hehl daraus, warum das so sei. Der flächendeckende Aufstieg der AfD, die inzwischen die größte Oppositionspartei im Bundestag stelle, sei für ihn „unerträglich“ und er halte ihn für gefährlich für die Mehrheitsfähigkeit der Union und die Stabilität des Landes: „Deshalb meine und sage ich: Wir brauchen einen Strategiewechsel im Umgang mit den Themen, im Umgang mit

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unseren politischen Wettbewerbern und vor allem in der Kommunikation mit den Menschen in unserem Land“ (CDU 2018b, S. 66). Worin dieser Strategiewechsel bestehen sollte, wurde mehr angedeutet als ausgeführt. Aber wenn Merz im Zusammenhang mit Ausführungen zum Nationalstaat betonte, dieser gebe den Menschen Identität und ein Zusammengehörigkeitsgefühl und dass es auch für eine weltoffene und tolerante Gesellschaft „Grenzen der Möglichkeiten“ gebe (ebd., S. 69), dann war für die Delegierten ziemlich klar, worum es dem früheren Protagonisten der Leitkultur ging, nämlich darum, durch eine rechtere Position auf der soziokulturellen Konfliktachse ehemalige Unionswähler von der AfD wieder zurückzugewinnen. In der Stichwahl konnte sich Merz mit dieser Position freilich nicht ganz durchsetzen, sondern mit 51,75 % der Delegiertenstimmen gewann Kramp-Karrenbauer denkbar knapp (ebd., S. 93). Nach der Wahl der neuen Parteivorsitzenden schien für eine Zeitlang das Problem des Übergangs der CDU in die Nach-Merkel-Zeit relativ konfliktfrei und glatt gelöst worden zu sein, denn das Verfahren mit den Regionalkonferenzen wurde allgemein als sehr demokratisch und der Umgang der Kandidaten miteinander als vorbildlich fair gelobt. Doch dabei blieb es nicht, da sich bald herausstellte, dass die Amtsführung von Kramp-Karrenbauer und ihrem neuen CDU-Generalsekretär, dem früheren JU-Vorsitzenden Paul Ziemiak, von wenig Fortune begleitet war. Dabei fing alles ganz gut an. Bei einem „Werkstattgespräch“ im ­KonradAdenauer-Haus im Februar 2019, bei dem Parteipolitiker, Praktiker und Wissenschaftler zu einem Austausch zusammengebracht wurden, gelang es, die ­Gegensätze, die innerhalb der CDU, aber vor allem auch zwischen CDU und CSU bestanden hatten, zu einem Ausgleich zu bringen. Das war keineswegs selbstverständlich, denn in dem Papier, das dabei herauskam (CDU 2019a), stand nur wenig, das über den bisherigen Stand hinausging: Eine Situation wie 2015 müsse künftig vermieden werden, man müsse besser vorbereitet sein u. a. durch „intelligente Grenzüberwachung“; Abschiebungen sollen für straffällig gewordene Asylbewerber erleichtert werden und Zurückweisungen an den Grenzen „in der letzten Konsequenz“ nicht ausgeschlossen werden; insgesamt war der Tenor, „Humanität und Härte“ zu verbinden (Zitate ebd., S. 1, 3). Aber es wurde damit der Eindruck erzeugt, dass man sich wieder stärker auf einer Linie bewegte und die Konflikte dadurch beigelegt seien, dass sich die neue Parteiführung auf die Merkel-Kritiker zubewegt habe. Doch wie oben angedeutet, spielte das Thema Migration in der Öffentlichkeit nicht mehr dieselbe Rolle wie noch ein Jahr zuvor, sodass die positive Wirkung dieses Werkstattgesprächs, das in dem Gesamtkontext der Vorbereitung eines neuen Grundsatzprogramms zu sehen ist, bald durch andere Dinge ü­berlagert

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wurde. Im Vorfeld der Europawahlen von Ende Mai 2019 erreichte ein YoutubeVideo Zugriffszahlen von mehreren Millionen Nutzern in wenigen Wochen, dessen Titel an der Intention keinen Zweifel ließ: „Die Zerstörung der CDU“ (Rezo 2019). Der Urheber, ein Influencer namens Rezo, der bis dahin eher durch Musik- als durch politische Videos bekannt geworden war, analysierte darin zuerst die umwelt- bzw. klimapolitische Bilanz der CDU-geführten Bundesregierung der letzten Jahre, dann einige weitere Politikfelder und kam dabei zu dem eindeutigen Ergebnis, dass weder CDU noch CSU oder SPD für seine Klientel wählbar seien und aus anderen Gründen die AfD auch nicht. Seine Wirkung entfaltete das Video einerseits durch die an der Sprache und Tonalität seiner Musikvideos orientierte Machart und andererseits dadurch, dass zahlreiche eingeblendete wissenschaftliche Studien quasi als Beweise für die vernichtenden Urteile über die Politik der CDU angeführt wurden. Die Argumentation, der im Video selbstverständlich nicht widersprochen und die durch keinerlei Verweise auf andere Interessen oder Umstände, die einer ausschließlich durch die Ergebnisse der Klimaforschung geprägten Politik entgegenstanden, relativiert wurde, erhielt dadurch eine sehr suggestive (Schein-) Objektivität. Dieses Vorgehen wies starke Anklänge an die Argumentationsmuster der “Fridays-For-Future”-Bewegung auf, die zur selben Zeit auch immer größere öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog. Allein schon diese Parallelität entfaltete eine erhebliche Wirksamkeit, die aber noch dadurch vergrößert wurde, dass sich die CDU-Führung nicht zu einer klaren Reaktion entschließen konnte. Offenbar wurde eine Art Gegen-Video mit dem jüngsten Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor produziert und öffentlich angekündigt, dies dann aber doch nicht auf Youtube hochgeladen (Bender und Lohse 2019). Komplettiert wurde das PR-Desaster durch eine Pressekonferenz der neuen Parteivorsitzenden, die nach einer Sitzung des CDU-Präsidiums wenige Tage nach der Europawahl stattfand. Wohl unter dem Eindruck der unerwartet großen Stimmenverluste (vgl. Tab. 1) – und dies obwohl der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei ein deutscher Unionspolitiker gewesen war, Manfred Weber – nahm Kramp-Karrenbauer Stellung zu einem Appell von 70 Youtubern im Nachgang zum Rezo-Video, die alle dazu aufgerufen hatten, weder Union noch SPD zu wählen. Sie stellte die Frage, was wohl passiert wäre, wenn 70 Tageszeitungen zwei Tage vor einer Wahl einen ähnlichen Appell veröffentlicht hätten: „Und die Frage stellt sich schon mit Blick auf das Thema Meinungsmache, was sind eigentlich Regeln aus dem analogen Bereich, und welche Regeln eigentlich für den digitalen Bereich, ja oder nein“ (zit. nach Lohse 2019a). Damit erweckte sie für die Internet-Gemeinde, die aufgrund der Debatte über das Urheberrecht und Upload-Filter der CDU ohnehin schon kritisch gegenüberstand, nun endgültig den Eindruck, das Recht auf freie Meinungsäußerung im Internet

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einschränken zu wollen. Alle Versuche diese Diskussion wieder einzufangen, verschlimmerten die Lage eher, als sie zu verbessern. Im Grunde hat sich das öffentliche Image Kramp-Karrenbauers von diesen kommunikativen Fehlleistungen bis kurz vor dem Leipziger Parteitag im Dezember 2019 nicht mehr erholt. Denn andere Dinge kamen hinzu. Dazu zählen die Niederlagen der CDU bei den Europawahlen und den ostdeutschen Landtagswahlen (s. Tab. 1), die zwar eher mit dem (geringen) Ansehen der Bundesregierung zu tun hatten als mit der Person der CDU-Vorsitzenden, die letztlich aber auch ihr zugeschrieben wurden. Dazu gehörte aber auch, dass innerhalb der CDU immer wieder Diskussionen über das Verhältnis zur AfD entbrannten. So hat etwa das prominenteste Mitglied der Werte-Union, einer zahlenmäßig kleinen Gruppe von CDU-Mitgliedern, die zentralen Elementen der Politik von Angela Merkel, von der Euro-Rettung bis zur Flüchtlingskrise, seit langem kritisch gegenüberstanden (Oppelland 2019a, S. 80), der entlassene Präsident des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen, vor den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen gegen den Stachel gelöckt und Koalitionen mit der AfD wenn schon nicht aktuell, dann wenigstens auf mittlere Sicht nicht ausschließen wollen. Eine Entschließung des Präsidiums und Bundesvorstands vom 24. Juni 2019 zum Tod des christdemokratischen Regierungspräsidenten von Kassel, der am 2. Juni von einem Rechtsextremisten ermordet worden war, stellte in einer Schärfe fest, die auch gegen Maaßen und die ­Werte-Union gerichtet war: „Walter Lübcke ist, nach allem was wir wissen, das Opfer von rechtsextremer Gewalt geworden. Die Entfesselung extremer rechter Gewalt bis hin zu Rechtsterrorismus gedeiht in einem Umfeld rechten Hasses und rechter Hetze im Internet und in sozialen Medien. Die geistigen und sprachlichen Propagandisten von Hass und Ausgrenzung haben den Weg zur Gewalt bereitet. Führende Repräsentanten der AfD und nicht wenige ihrer Mitglieder beteiligen sich bewusst daran. Sie tragen damit Verantwortung für die gezielte Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas und die Verrohung des politischen Diskurses in unserem Land. Wer die AfD unterstützt, muss wissen, dass er damit bewusst auch rechtsradikalen Hass und Hetze, extreme Polarisierung und persönliche Diffamierungen in Kauf nimmt“ (CDU Präsidium 2019, S. 2). Indem die Verbindung von rechtsextremer Gewalt und der politischen Propaganda der AfD hergestellt wurde, schloss man noch einmal in aller Deutlichkeit jegliche Kooperation mit der rechten Konkurrenzpartei aus. Die Absicht, die AfD als nicht wählbar hinzustellen, ist offensichtlich. Unter dem Eindruck der fortschreitenden Radikalisierung der Partei (vgl. den Beitrag zur AfD in diesem Band) wurde die Strategie des Ignorierens, die noch während des Bundestagswahlkampfs

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die Haltung der CDU bestimmt hatte (siehe oben S. 61), durch eine der Dämonisierung abgelöst. Das Problem war nur, dies in der ganzen Partei durchzusetzen. Äußerungen der Bundesvorsitzenden, die dahin gehend interpretiert werden konnten, sie befürworte einen Parteiausschluss von Hans-Georg Maaßen, führten im Sommer zu innerparteilichen Diskussionen, die letztlich neue Zweifel an der Führungsstärke Kramp-Karrenbauers weckten (Lohse 2019b). Auch ihre Entscheidung entgegen früherer Ankündigungen, sich ausschließlich der Partei widmen zu wollen, doch ins Bundeskabinett einzutreten, als die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen überraschend zur neuen Präsidentin der europäischen Kommission gewählt wurde, stieß nicht überall in der CDU auf positive Resonanz. Und als sich eine große Mehrheit der Delegierten auf dem Deutschlandtag der Jungen Union im Oktober in einer Resolution für die Urwahl des nächsten Unionskanzlerkandidaten aussprach (Schrörs 2019), wurde endgültig deutlich, dass das Führungsproblem des Machttransfers von Angela Merkel auf einen oder eine Nachfolgerin noch nicht endgültig gelöst war. Erst auf dem Leipziger Parteitag Ende November 2019 gelang es ­Kramp-Karrenbauer, die Kritik an ihrer Führung in den Griff zu bekommen. Sie gab in ihrer Rede unumwunden zu, dass ihr erstes Jahr als Vorsitzende „in Teilen nicht so gelaufen [ist], wie ich mir das vorgestellt habe, wie ihr es euch vorgestellt habt“ (CDU 2019b, S. 36); insbesondere sei man in Wahlen nicht so erfolgreich gewesen, wie man gehofft habe. Aber als sie dann den Delegierten anbot, „wenn ihr der Meinung seid, dass dieser Weg, den ich gemeinsam mit euch gehen möchte, nicht der Weg ist, den ihr für den richtigen haltet, dann lasst es uns heute aussprechen, und dann lasst es uns heute auch beenden, hier und jetzt und heute“ (ebd., S. 37), da erwies sich der Parteitag als loyal. Mit 493 zu 134 Stimmen wurden der Antrag für eine Urwahl zur Kanzlerkandidatur abgelehnt, was allgemein – da keine Wahl der Vorsitzenden anstand – als klarer Vertrauensbeweis für „AKK“ gewertet wurde. In einem Punkt half der Parteitag seiner Vorsitzenden jedoch wenig bzw. gar nicht: Ihre persönlichen Beliebtheitswerte etwa im ZDF-Politbarometer blieben auch nach dem Parteitag sehr niedrig (ZDF 2019) und auch die Werte der CDU in der Sonntagsfrage überstiegen nicht die 30 %. Zu diesem Zeitpunkt war ein weiteres Problem ungelöst, die Regierungsbildung in Thüringen. Die CDU hatte dort Ende Oktober eine heftige Wahlniederlage erlitten, war nur noch drittstärkste Fraktion hinter der Linken und der AfD. Die Linke stellte zwar die stärkste Fraktion, ihre rot-rot-grüne Koalition hatte aber aufgrund der Stimmenverluste der SPD und der noch immer sehr schwachen Stellung der Grünen ihre Mehrheit im Landtag verloren. Als der CDU-Landesund Fraktionsvorsitzende Mike Mohring in dieser Situation unmittelbar nach

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der Wahl seine Bereitschaft andeutete, mit der rot-rot-grünen Minderheitsregierung zusammenarbeiten zu wollen, fand er dafür keine Unterstützung im Präsidium der Bundespartei, im Gegenteil. Eine Kooperation mit der AfD, die von einigen Kommunalpolitikern des thüringischen Landesverbands ins Gespräch gebracht wurde, wurde von der Bundesebene erst recht abgelehnt, da es gegen alle Beschlüsse, auf keinen Fall mit der AfD zu kooperieren, verstoßen hätte. Die bundespolitischen Vorgaben zeigten der thüringischen CDU keine klare Richtung auf, in die man hätte gehen können. Versuche, eine nicht näher definierte „Projektregierung“ mit Mehrheit im Landtag zu bilden oder sich mit der Linken auf konkrete gesetzgeberische Projekte zu einigen, die von der CDU-Fraktion hätten unterstützt werden können, waren noch keineswegs abgeschlossen, als sich Anfang Februar 2020 Die Linke, SPD und Grüne auf einen neuen Koalitionsvertrag geeinigt und entschieden hatten, Bodo Ramelow (Die Linke) erneut im Landtag zur Wahl zum Ministerpräsidenten vorzuschlagen. Am 5. Februar kam es dann zum aufsehenerregenden Eklat, als im dritten Wahlgang nicht etwa Ramelow, sondern mit Thomas Kemmerich der Kandidat der FDP für viele überraschend die meisten Stimmen erhielt. Er war erst als „Kandidat der Mitte“ im dritten Wahlgang angetreten, als klar war, dass die AfD an ihrem Kandidaten festhalten würde. Hätten alle Fraktion für ihren jeweiligen Kandidaten gestimmt, hätte Ramelow problemlos die relative Mehrheit erhalten, die im dritten Wahlgang für die Wahl zum Ministerpräsidenten reichte. Das war aber nicht der Fall – und darin bestand der Eklat: Die AfD-Fraktion stimmte in diesem Wahlgang geschlossen für Kemmerich; ihr eigener Kandidat erhielt 0 Stimmen. Am Ende war Kemmerich mit den Stimmen von FDP, CDU und der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt und nahm die Wahl an, obwohl er keine arbeitsfähige Mehrheit hinter sich hatte. Sein Angebot an SPD und Grüne, mit der CDU in seine Regierung einzutreten, stieß auf empörte Ablehnung. Auch in der Öffentlichkeit – und Teilen von FDP und CDU – wurde die Wahl überwiegend als Tabu-Bruch gewertet und leidenschaftlich kritisiert. In dieser Situation intervenierten die Bundesvorsitzenden sowohl der FDP als auch der CDU. Als erster reiste Christian Lindner nach Erfurt und bewegte Kemmerich bereits am Tag nach dessen Wahl, seinen Rücktritt anzukündigen, der dann wenige Tage später vollzogen wurde, und sich für Neuwahlen auszusprechen. Am Abend des 6. Februar kam auch Annegret Kramp-Karrenbauer in den Thüringer Landtag und setzte sich mit der CDU-Fraktion zusammen. Sie konnte diese jedoch nicht davon überzeugen, das Plädoyer der FDP für Neuwahlen zu unterstützen. Die ­CDU-Abgeordneten wussten genau, dass viele von ihnen bei Neuwahlen ihr Mandat verlieren würden. Viele verübelten der Bundesvorsitzenden zudem, dass die Bundes-CDU die Thüringer CDU im Regen hatte stehen lassen und

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angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Landtag jede realistische Handlungsmöglichkeit abgeschnitten hatte. Kramp-Karrenbauer musste mit leeren Händen nach Berlin zurückkehren. Am folgenden Tag erklärte Mike Mohring, bei der Wahl des CDU-Fraktionsvorsitzenden im Thüringer Landtag im Mai nicht mehr ­ kandidieren zu wollen. Annegret Kramp-Karrenbauer wartete bis zum 10. Februar, dem folgenden Montag, um anzukündigen, dass sie keine Kanzlerkandidatur mehr anstrebe. Da sie der Meinung war, dass Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur in eine Hand gehörten, verzichtete sie auch auf eine erneute Kandidatur zur Parteivorsitzenden. Ihre Absicht, beide Wahlprozesse zu leiten und den neuen Vorsitzenden erst auf dem nächsten regulären Bundesparteitag im Herbst des Jahres 2020 wählen zu lassen, stieß schnell auf starke innerparteiliche Kritik, sodass derzeit (Februar 2020) davon auszugehen ist, dass die „Ära“ Kramp-Karrenbauer noch in der ersten Jahreshälfte 2020 enden wird.11

5 Fazit: Das Dilemma der Volkspartei CDU Nach dem angekündigten Verzicht von Annegret Kramp-Karrenbauer auf eine Kanzlerkandidatur und damit verbunden auf den CDU-Vorsitz sind alle Probleme der CDU, die im Zusammenhang mit dem Übergang von Angela Merkel auf einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin stehen, nach wie vor ungelöst. Die personelle Dimension des Übergangs ist jedoch nur ein, wenn auch wichtiger Aspekt. Mindestens ebenso wichtig ist das Problem der Position der CDU im Parteienwettbewerb. Von den 41,5 %, die die Unionsparteien gemeinsam bei der Bundestagswahl 2013 erreicht hatten, ist man derzeit weit entfernt. Waren bei der Bundestagswahl 2017 noch knapp 33 % erreicht worden, so kamen die Unionsparteien in den Umfragen der Jahre 2018 und 2019 bei praktisch allen Instituten nur sehr selten an die 30 % heran (Wahlrecht.de 2020). Zugleich hielt auch der elektorale und der Umfrage-Niedergang der Sozialdemokratie an, also der beiden „Volksparteien“, die in drei von vier der von Angela Merkel geführten Bundesregierungen in einer (nicht mehr allzu) Großen Koalition miteinander regierten. Davon haben in erster Linie zwei Parteien profitiert, die nicht an der Regierung beteiligt sind: Die Grünen und die AfD, mithin die beiden Parteien, die auf der soziokulturellen Konfliktachse am weitesten auseinanderliegen. 11Diese

Vorgänge wurden anhand der aktuellen Medienberichterstattung rekonstruiert. Eine gründlichere Analyse mit Einzelnachweisen wird in der Zeitschrift für Parlamentsfragen im Jahrgang 2020 erscheinen.

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Auf dem Hamburger Parteitag von 2018, dem letzten, den Angela Merkel als CDU-Vorsitzende eröffnete, ergriff ein niedersächsischer Delegierter das Wort: „Moin, Moin, mein Name ist Necdet Savural. Sie können es von meinem Namen ableiten: Ich habe einen Migrationshintergrund. Ich hatte nicht vor, heute hier zu sprechen. Ich habe mich jedoch kurzfristig entschlossen, einige Worte zu sagen. … Einer meiner Vorredner hatte vorhin einiges über den Islam gesagt. Liebe Parteifreunde, das C in unserem Parteinamen steht zwar für Christen und Menschenliebe, aber das hindert uns nicht daran, jemanden wie mich in unsere Partei aufzunehmen. … Ich bin gerne dabei, und ich bin sehr stolz, liebe Frau Merkel, dass ich die letzten 16 Jahre – Sie sind 18 Jahre dabei als unsere Vorsitzende – dabei sein konnte, mit Ihnen unser Land – ich sage bewusst: unser Land – und unsere Partei gemeinsam gestalten zu dürfen und zu können. Ich bin sehr stolz auf diese Arbeit und werde auch in Zukunft, egal wer heute gewählt wird, die gleiche Arbeit mit dem gleichen Enthusiasmus weiterführen. … Ich erinnere an 2015, an die humanitäre Art, die Sie ins Leben gerufen haben. Frau Dr. Merkel, so etwas Humanitäres, hätte kein anderer machen können. Das war nicht nur eine gute Entscheidung, es war eine richtige und wichtige Entscheidung. Sie haben weltweit gezeigt, dass wir Menschen sind, dass nicht nur Politiker, sondern Menschen am Werk sind. Dafür kann ich Ihnen nur danken“ (CDU 2018b, S. 45 f.).

Das Zitat zeigt eindrucksvoll, dass die CDU nach 18 Jahren unter der Führung von Angela Merkel nicht mehr dieselbe ist, wie zwanzig Jahre vorher. Ähnliche Gefühle wie diejenigen des Delegierten „mit Migrationshintergrund“ ließen sich gewiss auch bei jüngeren Frauen finden, die erst zur CDU gefunden haben, als diese ihr Frauen- und Familienbild modernisiert hatte; allerdings sind beide Gruppen, Frauen und Muslime, in der CDU Minderheiten (Neu 2017, S. 44, 52; bei den Wählern stellen Frauen jedoch eine Mehrheit, ebd., S. 52). Und dies sind zugleich die Gruppen von Mitgliedern und Wählern, die die CDU Gefahr liefe zu verlieren, wenn sie ihre derzeitige Strategie gegenüber der AfD ändern würde. Unter der Führung von Annegret Kramp-Karrenbauer wurden Beschlüsse der CDU-Führungsinstanzen noch einmal verschärft. Nicht nur wird jede Kooperation mit der AfD ausgeschlossen, sondern diese wird, wie oben beschrieben, in die Nähe des gewaltbereiten Rechtsextremismus gerückt. Das Ziel einer solchen Strategie ist offensichtlich, die Partei als verfassungsfeindlich und damit letztlich als unwählbar darzustellen. Unabhängig davon, ob ein solches Kalkül angesichts der Wahlerfolge der AfD aufgehen kann, birgt die Strategie Risiken. Denn je nachdem, wie hoch das Wahlergebnis der AfD ausfällt, werden immer breitere Koalition nach links erforderlich. Das sächsische Beispiel ist bezeichnend. Denn nachdem die CDU 2019 ihre Position als stärkste Partei in einem extrem aufwendigen und auf die Person des Ministerpräsidenten Kretschmer zugeschnittenen Wahlkampf zurückerobern konnte – bei der Bundestagswahl 2017 hatte die AfD die CDU ganz knapp an Stimmen übertroffen –, ist

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sie gezwungen, eine „Kenia-Koalition“ mit SPD und Grünen zu bilden, um nicht auf die AfD angewiesen zu sein. Dies obwohl die Erfahrungen mit einem solchen Koalitionsmodell in Sachsen-Anhalt mehr als zwiespältig sind. Im Prinzip wird die CDU durch eine solche, die AfD konsequent ausschließende Politik, wenn es nicht zu Ausnahmekonstellationen wie in Nordrhein-Westfalen kommt, wo es 2017 noch einmal zu einer Mehrheit aus CDU und FDP gereicht hat, gezwungen, nur noch Mitte-Links-Koalitionen in verschiedenen Konstellationen einzugehen. Inzwischen wird, durch die Vorgänge in Thüringen verstärkt, in der CDU darüber diskutiert, auch mit der Linkspartei zusammen zu arbeiten, wenn auch nicht in Form von Koalitionen (Holzhauser 2019). Damit aber gehen zwei Konsequenzen einher. Zum einen verliert sie die von der Forschung zur internationalen Christdemokratie stets als Stärke beschriebene, klassische Fähigkeit nach beiden Seiten des politischen Spektrums anschluss- und koalitionsfähig zu sein (van Kersbergen 1994, S. 36–38). Und zum zweiten besteht die Gefahr, dass es im politischen System bzw. dem Parteiensystem zu solch breiten Koalitionsmodellen faktisch keine Alternative mehr gäbe. Das führt auf mittlere Sicht in eine Spirale, in der die mit den Leistungen und Ergebnissen solcher Koalitionen unzufriedenen Wähler erst recht der AfD in die Armen getrieben werden würden; aber dennoch würde nach der Wahl wieder mehr oder weniger dieselbe Koalition regieren. Wovon wiederum die AfD profitieren würde (Oppelland 2019b). Eine fundamentale Strategieänderung der CDU, die die ÖVP unter der Führung von Sebastian Kurz zum Vorbild nehmen und darauf zielen würde, die AfD – zumindest mittelfristig – in Koalitionen einzubinden, um sie zu „entzaubern“ und die Partei damit entweder zum Verschwinden oder auf die Rolle eines kleineren Mehrheitsbeschaffers zu reduzieren, birgt eigene Gefahren, nämlich die oben angedeuteten Verluste bei Wählergruppen (und Mitgliedern) wie Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund. Davon würden dann wiederum die Grünen profitieren können. Ein derartiger Strategiewechsel ist freilich derzeit in der CDU, obwohl er in den Bundesländern, in denen eine Zusammenarbeit mit der AfD rechnerisch möglich wäre, immer wieder diskutiert wird, aufgrund der klaren Festlegung aller führenden Akteure – einschließlich der potenziellen Nachfolger Kramp-Karrenbauers – kaum vorstellbar. Darin, dass jede strategische Alternative mit einiger Wahrscheinlichkeit zu elektoralen Verlusten führen wird, besteht das ungelöste Dilemma der CDU12.

12Wie

sich das aktuelle, auf die Corona-Pandemie zurückzuführende Umfragehoch der Unionsparteien und die Perspektive einer möglichen Kanzlerkandidatur des CSU-Vorsitzenden Markus Söder auf die CDU als Partei auswirken werden bzw. würden, ist derzeit [Mai 2020] nicht absehbar. Es spricht jedoch einiges dafür, dass die strukturellen Probleme dadurch lediglich überlagert werden.

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T. Oppelland

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1 Einleitung: Die SPD in der Krise1 Die Beschreibungen zum aktuellen Zustand der SPD Anfang des Jahres 2020 könnten kaum dramatischer ausfallen. Da ist davon die Rede, dass sie „den Nimbus einer Volkspartei endgültig verloren hat“ (Berg 2019, S. 7, siehe auch Fuß 2019), da wird von einer „Existenzkrise“ (Butzlaff und Pausch 2019, S. 81) bzw. der „tiefsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“ (Bandau 2019, S. 588 mit Blick auf die gesamte europäische Sozialdemokratie) gesprochen oder davon, dass sie keine „besondere geschichtliche Mission“ mehr für sich reklamieren könne (Walter 2018, S. 377). Zwar ist die Rede von der „Vertrauens- und Akzeptanzkrise“ der SPD (Meise 2009, S. 113 ff.) der Partei keineswegs neu und reicht viele Jahre zurück, jedoch hat sich die elektorale Wettbewerbssituation für die Partei in den letzten Jahren erheblich verschlechtert. Mit Ausnahme der Landtagswahl in Niedersachsen unmittelbar nach der Bundestagswahl 2017 erlitt sie seit dieser Parlamentswahl im September 2017 deutliche Niederlagen bei Landtagswahlen und der Wahl zum EU-Parlament, zum Teil mit historischen Tiefstständen. In bundesweiten Umfragen rangiert sie bei gerade einmal 14 % (vgl. Abb. 1).

1Dieser

vollständig aktualisierte und überarbeitete Beitrag basiert zu Teilen auf Jun (2019).

U. Jun (*)  Fach Politikwissenschaft, Universität Trier, Trier, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Jun und O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29771-8_3

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Abb. 1   Sonntagsfrage – Umfrageergebnisse der SPD seit der BTW 2017. (Quelle: Infratest Dimap)

Die Wahldebakel der SPD im Jahr 2017 mit dem bislang schlechtesten Ergebnis bei Bundestagswahlen (vgl. Abb. 2) in der Geschichte der Bundesrepublik überraschen aber letztlich kaum noch jemanden: Es deutete sich lange vorher an. Seit vielen Jahren schon bleibt die Partei bei nationalen Wahlen oder in Umfragen für Wahlen zum Deutschen Bundestag deutlich unter den von ihr selbst gesteckten Erwartungen und Zielen. In der Zeit der Parteivorsitzenden Martin Schulz und seines Vorgängers Sigmar Gabriel seit Oktober 2009 kam sie in Umfragen selten einmal über die 30 %-Marke, anschließend in der kurzen Zeit der Parteivorsitzenden Andrea Nahles nicht einmal mehr über die 20 %-Marke (siehe Abb. 1). Der Niedergang der Partei scheint sich zu beschleunigen. Eine überzeugende Strategie bzw. ein visionäres Konzept, um den Trend umzukehren, lässt sich derzeit nicht ausmachen. Welche Faktoren sind für den elektoralen Niedergang der letzten Jahre verantwortlich? Wie stellt sich die Position der SPD im Parteienwettbewerb dar? Und welche Zukunftsperspektiven sind erkennbar? Die Gründe für die derzeitige Position der SPD im politischen System Deutschlands sind vielschichtig und nicht ausschließlich bei der SPD selbst zu suchen (siehe zu krisenhaften Tendenzen der gesamten europäischen Sozialdemokratie die Beiträge in Manwaring und Kennedy 2018). Dieser Beitrag will Antworten auf die aufgeworfenen Fragen liefern, wird daher unterschiedliche Facetten des Parteihandelns analysieren und in einen historischen sowie systemischen Kontext stellen. Ausführlicher behandelt werden sollen die Gründe für den elektoralen Niedergang und die Stellung der SPD im Parteienwettbewerb.

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BTW NI HE BY HB EU BB SN TH 2017 2017 2018 2018 2019 2019 2019 2019 2019

36.9 40 32.8 32.6 31.9 30.7 35 27.2 26.2 25.7 24.9 30 20.6 19.8 25 20.5 15.8 20 12.4 12.3 9.7 15 8.2 7.7 10 4.3 5 0 -5 -10 -4.2 -4.6 -5.2 -5.7 -7.9 -15 -10.9 -10.9 -11.4

Wahlergebnis

Wahlergebnis der vorangegangenen Wahl Differenz Abb. 2    Wahlergebnisse der SPD seit der Bundestagswahl 2017. (Quelle: Der ­Bundeswahlleiter)

Schließlich wird ein kurzer Blick in die Zukunft riskiert. Welche Optionen bieten sich der SPD nach der Wahl von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans Ende des Jahres 2019 zu den neuen Parteivorsitzenden?

2 Die Gründe für den elektoralen Niedergang der SPD Die Gründe und Ursachen für den elektoralen Niedergang der SPD mit einem Absturz von mehr als 20 Prozentpunkten bei Bundestagswahlen innerhalb von weniger als 20 Jahren sind vielfältig und können nicht alle Erwähnung finden. Dennoch sollten einige dargelegt und erläutert werden. Hervorzuheben sind strategische, programmatische und kommunikative Defizite angesichts erheblicher gesellschaftlicher und politischer Veränderungen der letzten Jahrzehnte, Glaubwürdigkeitsprobleme, das Fehlen einer sozialdemokratischen Zukunftserzählung und einer populären Führungspersönlichkeit sowie eine für die Sozialdemokratie sehr ungünstige Themenkonjunktur in den letzten Jahren mit einem Relevanzzuwachs der sozio-kulturellen gegenüber der sozio-ökonomischen ­Wettbewerbsdimension.

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2.1 Der Verlust an Traditionswählern Wie alle Integrationsparteien, die den Anspruch an sich stellen, möglichst viele Wählergruppen zu repräsentieren und deren Meinungen, Interessen, Werte und Haltungen in den politischen Prozess einzubringen, leidet auch die SPD unter dem Zerfall ihres traditionellen (gewerkschaftsnahen Arbeitnehmer-) Milieus und den damit einhergehenden Prozessen der Individualisierung, Pluralisierung von Lebensstilen und der Zunahme von „Singularitäten“ (Reckwitz 2019). Meinte Individualisierung noch die Loslösung des Einzelnen aus sozialen Vorgaben, die Pluralisierung noch das Neben- statt Miteinander von höchst unterschiedlichen gesellschaftlichen (Klein-)gruppen, so betont die Gesellschaft der Singularitäten das vom Individuum angestrebte und gesellschaftlich anerkannte Streben nach individueller Einzigartigkeit (vgl. ausführlicher Reckwitz 2019). Individuelle Selbstverwirklichung und -entfaltung gepaart mit dem Wunsch nach sozialer Anerkennung sind die zentralen Lebensmaximen dieser neuen Mittelschichten, die ihren sozialen Status ihrem Bildungserfolg verdanken. All diese Entwicklungen lassen den Anspruch von Volksparteien, nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen allumfassend repräsentieren zu können und auf kollektive Interessenvertretung oder sozialen Zusammenhalt setzen, weit weniger attraktiv erscheinen als noch Jahrzehnte zuvor. Stattdessen stehen die Vertretung von Einzelinteressen und -themen im Vordergrund. Noch schwieriger für auf Integration bedachte Parteien ist die Beobachtung, dass sich die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen voneinander abkoppeln und sich der gesellschaftliche Zusammenhalt kaum noch herstellen lässt. So formuliert der Soziologe Andreas Reckwitz (2019, S. 107), dass sich die neuen, akademisch ausgebildeten Mittelschichten und die sozial benachteiligten Gruppen sich „lebensweltlich wie politisch denkbar fern“ sind. Wenn tatsächlich „gegenseitige Verachtung, Abwertung und Kommunikationsverweigerung“ (Berg 2019, S. 12) das Zusammenleben gesellschaftlicher Schichten mitbestimmen, wird es für sozialen Ausgleich und Integration betonende Parteien nahezu unmöglich, im Wettbewerb noch breite Unterstützung zu bekommen. Da die Wählergruppen der SPD seit ihrem Aufstieg in den 1960er Jahren schon immer sehr heterogen strukturiert waren, hatte es die SPD besonders schwer, ein einigendes Band über ihre verschiedenen Wählersegmente herzustellen. Hinzu trat ein in den letzten Jahrzehnten sich beschleunigender Entfremdungsprozess zwischen den aufstiegsorientierten Gruppen ihrer Wählerschaft, denen (nicht selten akademische) Bildung verhalf, sich aus ihrem Milieu zu lösen, und denjenigen Gruppen, die weiterhin in weniger privilegierten Verhältnissen lebten. In der Arbeiterschaft hat die SPD zudem in den letzten

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15 Jahren erheblich an Zustimmung eingebüßt (vgl. Jung et al. 2019). Gesprochen werden kann von einem kumulativen und wechselseitigen Entfremdungsprozess, der sich eher schleichend vollzog, aber dennoch einen tiefen Riss zwischen großen Teilen der Arbeiterschaft und der Partei nach sich zog (Walter 2010, S. 22; vgl. auch Micus und Walter 2017; Jun 2017). Die einstige Solidargemeinschaft der Sozialdemokratie, mittlerweile seit den 1970er Jahren erweitert – „workers, the intellectual and professional middle class, trade unions and social movements“ (Cuperus 2018, S. 190) – fiel weiter auseinander, der zusammenhaltende Kitt vertrocknet und zerbröselt (Lösche 2003, S. 211). Jüngste Entwicklungen beschleunigten den Zerfallsprozess. Die durch die Prozesse der ökonomischen und kulturellen Globalisierung hervorgerufenen sozialen und politischen Unsicherheitsgefühle der Bevölkerungsgruppen, die nicht über hohes kulturelles und sozial anerkanntes Kapital verfügen (vgl. Reckwitz 2019; Burzan 2014) bedeuten für diese konkret das Gefühl der „relativen Deprivation“ (Reckwitz 2019, S. 100), Angst vor sozialem Abstieg oder nur geringe Zukunftserwartungen und wenig Vertrauen in traditionelle Parteien und deren politisches Handeln (vgl. Cuperus 2018; Merkel 2017; letzter spricht von einer neuen Konfliktlinie zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen). Die zunehmenden Migrationsbewegungen, die sich verstärkende Konkurrenzsituation um Weltmarktanteile unter den Volkswirtschaften, der internationale Terrorismus oder die vielfältigen globalen ökologischen Folgen, um einige der Globalisierungsentwicklungen zu benennen, haben erhebliche Auswirkungen auf die einzelnen Gesellschaften und treffen sie in je unterschiedlicher Konstellation, führen jedoch zu diffusen Ängsten, Zukunftssorgen, Abstiegsängsten und Protesthaltungen. Es herrscht bei diesen Bevölkerungsgruppen der Eindruck vor, dass die etablierte Politik nicht in der Lage ist, diese Probleme zu lösen, was zu einem grundsätzlich skeptischen bis pessimistischen oder sogar fatalistischen Politikverständnis führt und erhebliche Vertrauensverluste in die Zukunftsfähigkeit von Politik mit sich bringt (vgl. Petersen 2017; Köcher 2016, 2019). Diese Gruppen der vormals affektiv und kulturell auch der Sozialdemokratie zuneigenden Wähler fühlen sich an den Rand gedrängt, abgehängt, auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt, sind zuweilen auch prekär beschäftigt und sehen sich subjektiv in der Wahrung ihrer traditionellen Lebenswelten bedroht (vgl. Reckwitz 2019; Betzelt und Bode 2017; Nölke 2017). Sie erleben subjektiv ein Gefühl der sozialen Ab- und der kulturellen Entwertung, indem ihre Bildungsabschlüsse und beruflichen Tätigkeiten nur noch eine im Vergleich deutlich geringere Akzeptanz erfahren (vgl. ausführlicher Reckwitz 2019, S. 97 ff.). Dieses tendenziell sesshafte Milieu, das oftmals in Klein- und Mittelstädten mit sozialer Verwurzelung lebt, blickt aber gleichzeitig abschätzig

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auf jene, „die nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten, sondern von staatlicher Hilfe abhängen“ (Reckwitz 2019, S. 99). Jene Gruppe der traditionellen SPDWähler mit mittleren beruflichen Positionen und mittleren Bildungsabschlüssen arbeitet häufig in klassischen Büro- und Dienstleistungsberufen, als Handwerker, Facharbeiter oder Angestellte in privaten Unternehmen. Es steht sowohl dem Prozess der Globalisierung skeptisch gegenüber wie es sich von Enteignungsvorstellungen àla Kevin Kühnert nicht angesprochen fühlt (vgl. die empirischen Daten bei Gagné und Hilmer 2019). Die positive Sichtweise der Globalisierung, die Hinwendung der Sozialdemokratie zum Dritten Weg und zu den akademisch ausgebildeten Gruppen der neuen Mittelschichten und die damit einhergehende Ambivalenz des Handelns der SPD hat deren Abwendung verstärkt (vgl. Gagné und Hilmer 2019; Berg 2019; Micus und Walter 2017). Diese Wähler sind zum Teil zu den Linken, zum Teil zur AfD gewechselt oder in den Nichtwählerbereich (Infratest Dimap 2017; Berg 2019; Pickel 2019). Zudem ist die weitgehend akademisch ausgebildete SPD-Führung (und auch der größere Teil ihrer verbliebenen Wähler) in der Migrations- und Integrationspolitik sowie Fragen kultureller Differenzen offener und eher am libertären Pol des Parteienwettbewerbs anzusiedeln als am autoritären (vgl. Wessels 2011, S. 16), was einerseits die strategische Manövrierfähigkeit der SPD hin zu autoritäreren Positionen begrenzt. Andererseits entspricht diese Position der Mehrheit der realen Wähler der SPD nicht der Haltung zahlreicher potenzieller Wähler in sozial geringer privilegierten Gruppen. Bei diesen Gruppen lässt sich eine Präferenz für stärker autoritäre Haltungen wie eine restriktive Migrations- und Flüchtlingspolitik erkennen, was den Wählerzuspruch für die Sozialdemokratie potenziell verringert und die rechtspopulistische Partei AfD begünstigt (Kroh und Fetz 2016; siehe auch Vehrkamp und Wratil 2017; Berg 2019). In Folge der erheblichen Zuwanderung im Jahr 2015 hat hier auch die SPD verstärkt an Terrain verloren und einen Teil ihrer potenziellen Wählerschaft an die AfD abgeben müssen (vgl. Niedermayer und Hofrichter 2016). Soziale Abstiegsängste und kulturelle Entfremdungstendenzen spielen also ineinander. In der Politikwissenschaft ist umstritten, welchem der beiden Aspekte eine höhere Bedeutung zukommt. Einigkeit herrscht jedoch, dass sozialdemokratische Parteien europaweit dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien Tribut zollen müssen (vgl. Manow 2018; Norris und Inglehart 2019). Jüngere empirische Studien belegen empirisch einen erheblichen Entfremdungsprozess zwischen der SPD und ihren vormaligen Traditionswählern aus den sozial geringer privilegierten Gruppen, insbesondere im soziokulturellen Bereich: „Ein großer Teil der ehemaligen SPD-Wählerschaft positioniert sich deutlich gegen eine weitergehende Öffnung der Gesellschaft zugunsten von

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­ inwanderung und Multikulturalität“ (Gagné und Hilmer 2019, S. 50). Aber auch E derzeitige SPD-Wähler assoziieren sich zu 41 % stärker mit Überfremdungsängsten (ebda., S. 49). Die noch verbleibende Wählerschaft sozialdemokratischer Parteien hat sich gewandelt, es kann von einer elektoralen Substituierung gesprochen werden: „Middle-class voters have clearly become the largest share in the Left electoral base in all regimes“ (Gingrich und Häusermann 2015, S. 58). Bestätigt wird dieses Ergebnis durch die Studie von Jérémie Gagné und Richard Hilmer (2019, S. 48), die konstatieren, „dass sich die verbleibenden Teile der SPD-Wähler_innen in der Tendenz einen gesellschaftlich überdurchschnittlichen Sozialstatus zuschreiben“. Umgekehrt gilt, dass diese verunsicherten Wähler, welche vormals auch zum Wählerpotenzial der SPD gehörten, sich von der SPD abwenden und in nicht geringer Zahl nun Wähler der AfD sind; bei deren Wählern ließ sich in den letzten Wahlen eine „leichte Ballung in der unteren Einkommensmitte“ (Bergmann et al. 2018, S. 260) und ein spürbarer Relevanzzugewinn bei traditionellen Industriearbeitern konstatieren (Bergmann et al. 2018). „Die SPD hat sich auf die Seite der Kosmopoliten geschlagen, die sich jedoch lieber Richtung Grüne orientieren. Die Einwanderungsskeptiker, von denen viele bislang sozialdemokratisch wählten, hat die Partei vernachlässigt“ (Fuß 2019, S. 13). Dieser keineswegs neuen Entwicklung des Bedeutungsverlusts der SPD als Partei der sozial Benachteiligten hat die Partei jedoch weder strategisch noch inhaltlich eine klare Linie entgegengesetzt. Schon 2007 zeigte Gero Neugebauer (2007, S. 102) auf, dass sich das untere gesellschaftliche Drittel größtenteils von der SPD abgewendet und sich rechts- bzw. linkspopulistischen Positionen zugewandt hatte beziehungsweise zur Nichtwahl tendierte. Vertrauensverluste bei diesen Bevölkerungssegmenten und eine Hinwendung zu anderen Parteien bestimmten entsprechend schon das Bild bei den Bundestagswahlen 2009 und 2013 (vgl. Matuschek und Güllner 2011; Kulick 2011; Jun und Berzel 2014). In der kulturellen Wettbewerbsdimension sind innerhalb der ­SPD-Wählerschaft „autoritäre Werthaltungen stärker in (den) sozialdemokratischen Wählerkreisen aus der unteren Mittelschicht und der Arbeiterschicht verankert“ (Wiesendahl 2017), sodass ihre liberale Haltung in der Migrationspolitik „einseitig“ zugunsten ihrer „kosmopolitischen bildungsbürgerlichen Klientel“ (ebenda) sich negativ auf Wahlergebnisse auswirken musste, wenn das Thema der Migration weit oben auf der Agenda stand. Damit konnte sie weder in diesem Politikfeld von der CDU enttäuschte Wechselwähler für sich gewinnen (siehe dazu Mader und Schoen 2019), noch diejenigen aus dem eigenen Wählerreservoir zur Stimmabgabe zu ihrem Vorteil bewegen, bei denen die Skepsis gegenüber der Migrationspolitik der Bundesregierung eine sehr große Rolle spielte und die sich hier restriktivere Positionen

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erhofften (vgl. dazu schon Jun 2018). Dabei war diese Haltung in der Wählerschaft der Regierungsparteien seit September 2015 sichtbar: Vom Herbst 2015 an veränderte sich die Wählerunterstützung zuungunsten der Regierungsparteien, was hauptsächlich auf die Flüchtlingspolitik zurückgeführt werden kann (vgl. Niedermayer 2017, S. 472). Gleichzeitig sanken übrigens auch die Popularitätswerte der Bundeskanzlerin, was jedoch die SPD durch ihre breite Unterstützung der Politik Angela Merkels in diesem Politikbereich nicht zu ihren Gunsten nutzen konnte. Doch die über längere Zeiträume der Vergangenheit in der SPD auch zum Repertoire der Partei gehörenden einwanderungs- und migrationskritischen Töne sind mittlerweile völlig verstummt (vgl. Fuß 2019, S. 57 ff.). Doch nicht nur in diesem Politikbereich konstatieren viele Beobachter und einzelne Studien einen Prozess der Entfremdung zwischen der S ­ PD-Parteiführung und ihrer früheren Wählerschaft (vgl. beispielhaft Gagné und Hilmer 2019; Fuß 2019; Berg 2019) bzw. Teilen ihrer Mitgliedschaft (vgl. Faus et al. 2018, S. 71 ff.). Nicht wenige Wähler aus den traditionellen Wählermilieus können mit der professionellen Sprache und dem Habitus der SPD-Spitzen wenig anfangen – ihre Lebenswirklichkeiten passen kaum noch zusammen, was zu Abkoppelungsund Entfremdungstendenzen geführt hat und letztlich die Fliehkräfte zwischen ihrer Wählerschaft und der SPD zu groß werden ließ. Im europäischen Vergleich schneidet die SPD im Hinblick auf „Policy-Gaps“ zwischen ihrer traditionellen Wählerschaft unter verschiedenen sozialdemokratischen Parteien am schlechtesten ab (vgl. Gagné und Hilmer 2019). Die Differenzen zeigen sich hauptsächlich in der kulturellen Dimension, weit weniger in der s­ ozio-ökonomischen (siehe Abb. 3).

2.2 Das Fehlen einer sozialdemokratischen Erzählung Das Fehlen eines neuen wählerwirksamen sozialdemokratischen Narrativs aufseiten der SPD wird schon seit vielen Jahren konstatiert (vgl. Jun 2010; Butzlaff 2009; Butzlaff und Micus 2011). Zuletzt wird dieser Missstand wieder vermehrt diskutiert (vgl. Butzlaff und Pausch 2019; Morina 2019). Zwar steht die SPD im europäischen Kontext damit nicht alleine da und allenthalben tut sich die europäische Sozialdemokratie schwer, bei Zukunftsthemen wie dem Klimawandel, der Digitalisierung der Arbeitswelt und der Wissensrevolution, aber auch bei ihr eigentlich zufallenden Themen wie etwa den gesellschaftlichen Zusammenhalt als Agenda-Setter Deutungshoheit zu gewinnen. Es fehlt ein sinn- und identitätsstiftender Entwurf, eine kohärente Erzählung, stattdessen dominieren Vielstimmigkeit und Unschärfe: „Das, was derzeit aus der SPD (…) zu hören ist, hinterlässt jedoch selten einen fundierten, vom Willen zur

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Abb. 3   Policy Gaps zwischen SPD und der allg. Bevölkerung (durchgezogener Pfeil) bzw. Blue Collar Arbeitern (gestrichelter Pfeil). (Eigene Darstellung nach Gagné und Hilmer 2019)

Gegenwartsdurchdringung gekennzeichneten Eindruck“ (Morina 2019, S. 17). Unzweifelhaft haben sich die Voraussetzungen einer kohärenten Erzählung zu sozialer Gerechtigkeit im Zuge der Globalisierung mit ihren verschärften Wettbewerbsbedingungen verändert und zwar zuungunsten der auf das nationalstaatliche soziale Sicherheitsversprechen setzenden Sozialdemokratie (vgl. Miller 2008; Adam 2018). Dennoch können Wähler und Wählerinnen von der Sozialdemokratie erwarten, dass sie genuine sozialdemokratische Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts liefert, um weiter Politik gestaltend agieren zu können. Um über Alltagsvorstellungen hinauszureichen bedarf es eines in sich stimmigen Narrativs, doch über einzelne Ideen ist die Sozialdemokratie bislang kaum hinausgekommen.

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Das übersetzt sich dann in Mängel der Alltagskommunikation der Partei: Eher unstet und unklar erschienen die Botschaften der SPD; so verhallten Begriffe und die dahinterstehenden Konzepte und Ideen aus der recht kurzen Oppositionszeit wie „Neuer Fortschritt“ oder „Fairness“, die wegen der stärker technokratisch geprägten Regierungssprache auch als semantische Erneuerung gedacht waren, weitgehend ungehört im öffentlichen Raum. Der von Sigmar Gabriel bei seinem Amtsantritt im Jahr 2009 versprochene sozialdemokratische Aufbruch oder die propagierte Erneuerung wurden nicht in ein kohärentes Programm überführt. Der im Wahlkampf 2017 einzig eingesetzte Slogan „Für mehr Gerechtigkeit“ litt darunter, dass er zu unkonkret blieb, das heißt wenig auf einzelne konkrete Aspekte heruntergebrochen wurde. Das Kernproblem, das hier entsteht, liegt darin, dass die Erarbeitung einer sozialdemokratischen Erzählung des 21. Jahrhunderts sowie die Schaffung eines vertrauenswürdigen Images2 eine komplexe, zum Teil auch ermüdende Aufgabe darstellen. Die SPD müsste ihre Politik einhellig und kohärent darstellen, die thematischen Schwerpunkte vielfach wiederholen und begründen, um sie an die Bürger wirksam zu kommunizieren. Innerparteiliche (Selbst-)Zweifel oder stetige Infragestellung der eigenen Politik sind da ebenso wenig hilfreich wie Unklarheiten bei der Imagegenerierung, permanente Modifikationen oder stetige Wechsel von Argumenten. Ohne eine klare Zukunftsvorstellung ist es fast unmöglich die nötige Stetigkeit, Klarheit und Überzeugungskraft zu schaffen. Selbst im Wahlkampf gibt es oft Wechsel von Positionen, Themen, Botschaften, sodass Insider nach eigenem Bekunden keine klare politische oder kommunikative Linie erkennen konnten (vgl. Faus et al. 2018, S. 76 ff.). Die SPD selbst hat dazu eine ausführliche Studie anfertigen lassen, die mit Blick auf den Bundestagswahlkampf 2017 die Lage der Partei schonungslos analysiert.

2.3 Glaubwürdigkeitsverluste und innerparteiliche Disharmonien Die häufige Infragestellung der eigenen Politik, die nicht selten gleich die Gegenargumente zur eigenen Positionierung gleich mitliefert, das Lavieren und der häufige Wechsel von Positionen ziehen erhebliche Glaubwürdigkeitsprobleme und Vertrauensverluste nach sich. 2Das Image meint das Fremdbild einer Marke. In Abgrenzung zum Selbstbild, das sich aus der Sicht interner Anspruchsgruppen zusammensetzt, wird das Fremdbild laut Burmann und Meffert (2002, S. 65) als „Ergebnis der subjektiven Wahrnehmung, Dekodierung und Akzeptanz der von der Marke ausgesendeten Impulse“ definiert. Ziel einer Partei ist es, das Fremdbild der externen Anspruchsgruppen an das Selbstbild, die Markenidentität, anzugleichen.

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Die Partei stand zu wenig zu ihren Entscheidungen und rückte nicht selten sogar wieder davon ab, etwa mit Blick auf die unter „Agenda 2010“ bekannte Reformpolitik in der Zeit des früheren Bundeskanzlers Schröder (siehe zu dieser ausführlicher Hassel und Schiller 2010; Hegelich et al. 2011; Zohlnhöfer 2016), die nun auf dem Berliner Parteitag 2019 mit ihrem neuen Sozialstaatskonzept offiziell den Archiven überantwortet worden ist. Bereits in den Jahren seit 2009 hatte sich die SPD schrittweise von dieser Politik losgesagt und wieder vermehrt Verteilungsgerechtigkeit in den Vordergrund ihrer Politikentwürfe gestellt, ohne dass der Wähler dies honoriert hatte. Zwar verstieß die Agenda-Politik gegen zuvor im Wahlkampf geäußerte Versprechen der Partei, sie wird aber mitverantwortlich gemacht für die nachfolgende ökonomische Prosperität Deutschlands. Erstaunlicherweise hat aber nicht die SPD diese Leistung für sich beansprucht, sondern der Bundeskanzlerin ohne große Widersprüche diese Erfolge für sich reklamieren lassen. Die SPD dringt mit ihrer eher typischen Oppositionsrhetorik der negativen ökonomischen und sozialen Lage auch deswegen nicht durch, weil die ihre eigene Deutung zuletzt nicht mit der Mehrheit der Wähler übereinstimmte; denn nur acht Prozent der Deutschen bewerteten beispielsweise zu Beginn des Jahres 2017 die seinerzeitige ökonomische Lage ihres Landes als ungünstig (vgl. Köcher 2018). Diese Werte veränderten sich bis zum Wahltag kaum. Selbst in der eigenen Anhängerschaft sagten 56 %, es gehe in Deutschland eher gerecht zu. Nur eine Minderheit von 16 % (18 % der SPD-Anhänger) fühlte sich eher benachteiligt (siehe auch Neu und Pokorny 2017; Daten bei Infratest Dimap 2017). Mit ihrem sehr einseitigen Wahlkampfschwerpunkt der sozialen Gerechtigkeit traf die SPD somit weder die Einstellungen der Gesamtwählerschaft noch die ihrer eigenen Anhängerschaft. Diese Wahrnehmung der ökonomischen Gesamtsituation dürfte die SPD keineswegs überrascht haben, denn sie war nahezu während der gesamten Legislaturperiode sichtbar: „Die Zufriedenheit (…) erreichte im zweiten Regierungsjahr Größenordnungen, von denen die letzten drei Regierungen im vergleichbaren Zeitraum sehr weit entfernt waren“ (Niedermayer 2017, S. 469). Die positive Grundstimmung blieb bis zum Wahltag tendenziell vorhanden. War in der Vergangenheit häufig die Unzufriedenheit mit der Regierung höher, ist bei dieser Wahl der Anteil der Zufriedenen und Unzufriedenen etwa gleich auf (vgl. Infratest dimap 2017). In der Bewertung der Leistungen der Parteien in der Regierung liegen Unionsparteien mit 1,0 und SPD mit 0,9 auf gleichem Niveau. In der Bewertung der Arbeit der Parteien außerhalb der Regierung hat die Union mit 1,7 gegenüber der SPD mit 1,3 einen deutlichen Vorsprung. Doch auf die Herausstellung der Erfolge ihrer Regierungstätigkeit hat die SPD während des Wahlkampfs eher verzichtet.

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Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für einen Zick-Zack-Kurs lieferte die SPD bei der Bildung der Großen Koalition 2017/2018. Am Wahlabend überraschte die SPD die Öffentlichkeit mit ihrer unmissverständlichen und eindeutigen Erklärung, für die erneute Bildung einer Großen Koalition nicht zur Verfügung zu stehen. Alle führenden SPD-Politiker erklären einmütig wie selten, dass die für sie die notwendige Konsequenz aus dem Wahlergebnis darstelle. Stattdessen wolle sich die Partei in der Opposition inhaltlich, organisatorisch und strategisch erneuern. Diese schon seit geraumer Zeit große Sehnsucht der SPD nach der „Verdammung (…) in die Opposition“ (vgl. Sturm 2009, S. 454) schien sich endgültig Bahn zu brechen. Der Parteivorsitzende Martin Schulz ergänzte diese Feststellung am Wahlabend mit dem Satz, dass er niemals ein Ministeramt in einer von Angela Merkel geführten Regierung übernehmen werde. Dieser Satz sollte sich einige Monate später als höchst bedeutsam für Martin Schulz herausstellen – sie kostete ihm das Amt des Parteivorsitzenden und das Außenamt. Während der Sondierungsgespräche von CDU, CSU, FDP und Bündnis’90/Grüne (der so genannten „Jamaika-Koalition“) gewannen nicht wenige Beobachter den Eindruck, die SPD schien erleichtert zu sein, keine Regierungsaufgaben mehr zu übernehmen. Die SPD hielt entsprechend an ihrer Entscheidung, Oppositionspartei werden zu wollen, selbst nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche am 20. November zunächst fest. Der Parteivorstand beschloss einstimmig, dass die Sozialdemokraten für eine Koalition mit den Unionsparteien nicht zur Verfügung stünden. Unterschätzt hatte die Parteiführung aber offenkundig den nachfolgenden Druck, der angesichts der Großen Koalition als einzig verbliebener realistischer Option zur Regierungsbildung von außen auf sie ausgeübt wurde. Nach einem Gespräch des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der nicht nur aufgrund seiner sozialdemokratischen Vergangenheit hohe Reputation in den Reihen der SPD-Führung genießt, Ende November mit den Parteivorsitzenden Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz gab letzterer den Widerstand zur möglichen Regierungsbildung dann doch auf. Auf einem ordentlichen Bundesparteitag in Berlin vom 7. bis zum 9. Dezember hatten die Delegierten das letzte Wort; sie sollten darüber abstimmen, ob die SPD „ergebnisoffene Gespräche“ mit der Union über eine mögliche Zusammenarbeit führen solle. Vor dem Parteitag wurden öffentlich und innerparteilich auch andere Modelle der Regierungsbildung diskutiert, so eine Minderheitsregierung der Union (wobei nicht klar ausgesprochen wurde, ob dies mit der SPD als Tolerierungspartei geschehen sollte) und eine sogenannte Kooperationskoalition, bei der die einzelnen Koalitionsparteien (CDU, SPD, CSU) bei vorher zu vereinbarenden Themen nur punktuell zusammenarbeiten, aber alle drei Parteien in der Regierung vertreten sind. Wie konkret dies geschehen soll und ob diese ­bislang

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weder auf Länder- noch auf Bundesebene jemals auch nur avisierte Form der Kooperation in einer parlamentarischen Demokratie praktikabel ist, wurde nicht besprochen. Aus der SPD verlautete lediglich, sie sei nicht auf eine „bestimmte Form“ der Regierungsbeteiligung festgelegt (zitiert nach FAZ vom 16. Dezember 2017, S. 1). Die innerparteiliche Diskussion über die Teilnahme der SPD an einer Koalition oder Kooperation mit den Unionsparteien war geprägt von Freude am Dissens und politischer Bissigkeit, was einerseits für eine funktionierende innerparteiliche Debattenkultur spricht, andererseits aber eine Zerrissenheit der Partei offen zutage förderte. Zwar war kein offener Bruch zwischen der Parteiführung und Teilen der Basis zu beobachten, aber gewisse Entfremdungstendenzen waren eindeutig zu spüren. Doch die Parteispitze um Andrea Nahles ließ sich davon nicht beirren: Bereits am 12. Januar 2018 präsentierte sie ein 28 Seiten umfassendes Papier zu den Ergebnissen der Sondierungsgespräche. Die vom seinerzeitigen Parteivorsitzenden Martin Schulz und der Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag Andrea Nahles angeführte Verhandlungsgruppe der SPD sprach sich angesichts eines „guten Ergebnisses“ (Nahles am 15. Januar, zitiert nach https://www.tagesschau.de/inland/nach-sondierung-103.html) einstimmig für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der Union aus, auch der 45-köpfige Parteivorstand stimmte bei nur wenigen Gegenstimmen dafür. Der für den 21. Januar 2018 anberaumte außerordentliche Parteitag der SPD in Bonn verlief wieder turbulent und sah ähnliche Konfliktlinien wie der Berliner Parteitag wenige Wochen zuvor. Erneut standen sich Befürworter von Gesprächen mit der Union den Gegnern solcher gegenüber, erneut führte der Juso-Vorsitzende die Gruppe der Opponenten an, während die Parteispitze dieses Mal geschlossen hinter der Option pro Koalitionsgespräche stand. Auch die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin und seinerzeitige Vize-Vorsitzende der SPD Malu Dreyer, welche sich in Berlin noch skeptisch gegenüber der Bildung einer Großen Koalition zeigte, warb auf und vor dem Parteitag offen für Koalitionsgespräche. Mitentscheidend für den knappen Abstimmungssieg zugunsten der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen (362 der 642 Delegierten votierten dafür, also etwa 56 %) war die emotionale Rede von Andrea Nahles, welche zugleich alle wesentlichen inhaltlichen Argumente zugunsten von Koalitionsgesprächen enthielt. Nahles offenes und mutiges Eintreten zugunsten der Großen Koalition war jedoch schon der Anfang vom schnellen Ende ihrer machtvollen Position innerhalb der SPD. Zu viele Widersacher hatten sich anschließend formiert und ihr immer wieder verdeutlicht, dass viele in der Partei die Koalition als eher zwanghafte Zweckehe sahen. Ihr Resultat bei der Wahl zur Parteivorsitzenden auf dem Parteitag in Wiesbaden im April 2018 mit 66,35 % der Delegiertenstimmen stellt das zweitschlechteste Ergebnis in der Geschichte von Wahlen einer

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­ PD-Vorsitzenden dar. Dabei stand ihr mit der Flensburger Oberbürgermeisterin S Simone Lange vom linken Flügel der Partei eine Gegenkandidatin gegenüber, die selbst vielen SPD-Mitgliedern außerhalb Schleswig-Holsteins noch Wochen zuvor nahezu unbekannt war. Doch Nahles forsches Eintreten für die Große Koalition machte sie innerhalb der Partei bei ihren Kritikern nicht beliebter. Nach außen hin erschien sie vielen Wählern wiederum eher als Parteisoldatin, die mit ihren zuweilen unkonventionellen öffentlichen Auftritten ohnehin nie hohe Popularität genoss. Zudem hatte sich Andrea Nahles mit der in der SPD sehr seltenen Ämterkumulation von Partei- und Fraktionsvorsitz offensichtlich sehr viel zugemutet. Als dann noch einige Ungeschicklichkeiten im Koalitionshandeln (etwa im Prozess der Abberufung des früheren Chefs des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen) und für die Partei enttäuschende Wahlergebnisse bei Landtags- und der EU-Wahl hinzukamen, war das politische Schicksal von Andrea Nahles besiegelt. Ihr Rücktritt erfolgte kurz nach der Wahl zum Europaparlament Anfang Juni 2019 und wurde begleitet von vielen Berichten über innerparteiliche Zwistigkeiten und persönlichen Zerwürfnissen zwischen einzelnen Akteuren (vgl. beispielhaft Eubel und Ismar 2019). Als besonderer Kritiker Nahles’ und der Bildung der Großen Koalition trat der Juso Vorsitzende Kevin Kühnert auf, der mittlerweile seit dem Berliner Parteitag vom Dezember 2019 das Amt des stellvertretenden Parteivorsitzenden innehat. Dass Kühnert trotz der mehrheitlichen Zustimmung der Mitglieder zugunsten der Großen Koalition immer wieder und noch immer auf so viel Zustimmung stieß bzw. stößt, zeigt die beharrliche, emotional tiefsitzende Skepsis bis Ablehnung innerhalb der Partei gegen eine weitere Zusammenarbeit mit den Unionsparteien. Immerhin votierten knapp 2/3 der Mitglieder zugunsten der Mitwirkung der SPD an der Großen Koalition; mit 66,02 % Zustimmung bei einer Abstimmungsbeteiligung von 78,39 % konnte die Parteiführung auf eine recht breite Zustimmung unter den SPD-Mitgliedern verweisen.3 Als Nachteil für die Gegner der Regierungsbeteiligung erwies sich die demografische Struktur der Mitgliedschaft: im „jusofähigen Alter“, also unter 35 Jahren, sind gerade mal elf Prozent der Mitglieder der Partei. Die Zustimmung unter den Mitgliedern war am Ende höher als unter den Delegierten auf beiden Parteitagen, was eine These unterstützt, dass Delegierte prinzipienfestere Einstellungen haben als einfache Mitglieder, welche

3Folgendes

offizielle Ergebnis ließ die SPD verlauten: Abgegebene Stimmen: 378.437 (78,39 %); davon wirksam abgegeben: 363.494, von den wirksam abgegebenen Stimmen ungültig: 561; Ja-Stimmen: 239.604 (66,02 %); Nein-Stimmen: 123.329 (33,98 %).

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näher an den Haltungen der Wähler sind. Denn auch unter den SPD-Wählern waren einer Umfrage vom Februar 2018 zufolge 48 % für die Bildung einer Großen Koalition, 38 % dagegen und 14 % nicht entschieden (vgl. Wichmann 2018). Einzelne innerparteiliche Konflikte waren auch bei der langwierigen Suche nach neuen Parteivorsitzenden im Jahr 2019 erkennbar. Nachdem der Parteivorstand beschlossen hatte, dass alle Mitglieder über den Parteivorsitz bestimmen sollten und sich eine klare Präferenz für eine Doppelspitze (mit mindestens einer Frau) herausschälte, gingen schließlich zunächst acht Duos und ein Einzelkandidat ins Rennen, die sich jeweils selbst nominierten (auch um Flügelstreitigkeiten zu vermeiden sollten die Duos gleich als solche firmieren), formal für ihre Kandidatur die Unterstützung von mindestens fünf Unterbezirksverbänden oder einem Bezirks- bzw. Landesverband benötigten. Da ein Duo (erneut wollte zunächst Simone Lange antreten, dieses Mal gemeinsam mit dem Bautzener Bürgermeister Alexander Ahrens) und der Einzelkandidat (der Bundestagsabgeordnete Karl-Heinz Brunner) recht schnell ihren Rückzug verkündeten, blieben am Ende sieben Duos übrig, die sich auf 23 Regionalkonferenzen der Parteibasis vorstellen sollten. Bemerkenswert war die Tatsache, dass aus dem engsten Kreis der Parteiführung nur der seinerzeitige Parteivize und amtierende Finanzminister Olaf Scholz (gemeinsam mit der früheren Landtagsabgeordneten aus Brandenburg Klara Geywitz) – und dies auch erst nach einigem Zögern – seinen Hut in den Ring warf. Scholz und Geywitz gewannen die erste Wahlrunde, allerdings mit nur 22,68 %. Nach den Regeln des Auswahlverfahrens mussten sie sich den Zweitplatzierten Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans (mit 21,04 %) in einer Stichwahl stellen. Letztere wurden im Wahlkampf offen von den Jusos unterstützt. Dieser Zweikampf wurde auch als ein Wettbewerb zwischen den verschiedenen Parteiflügeln betrachtet: Während Scholz und Geywitz sich explizit zur Großen Koalition bekannten, waren von Walter-Borjans und Esken während der Regionalkonferenzen immer wieder skeptische bis ablehnende Töne zur Fortführung der Großen Koalition zu vernehmen. Insgesamt repräsentieren die beiden Duos einerseits den eher regierungspragmatischen Teil der Partei und andererseits den gemäßigten linken Flügel. Am Ende entschied sich die Mitgliedschaft für Walter-Borjans und Saskia Esken, die mit 53,06 % der abgegebenen Stimmen gegen Scholz und Geywitz (45,33 %) die Oberhand behielten. Bei einer Wahlbeteiligung von nur 54,09 % war es offensichtlich, dass der rechte Parteiflügel seine Mobilisierungsreserven nicht ausschöpfen konnte, was nicht wenige Beobachter auf in der SPD recht weit verbreitete ­Anti-Establishment-Stimmungen zurückführen, die Olaf Scholz in besonderem Maße galten.

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2.4 Die sinkenden Kompetenzwerte Die Hoffnung der Regierungsbefürworter der SPD, durch die Befriedigung materieller Bedürfnisse dieser oder jener sozialstaatsaffinen Klientel in Dankbarkeit an den Wahlurnen zu bekommen, erfüllte sich fraglos nicht (vgl. Butzlaff und Pausch 2019, S. 84). Ihr immer wieder vorgetragenes Motto „mehr soziale Gerechtigkeit“ verfing schon allein deswegen nicht, weil es viele Wähler verwundert hat, dass ausgerechnet eine Partei, die in 15 der letzten 19 Jahre Regierungsverantwortung trug, erst jetzt die Zeit für „mehr Gerechtigkeit“ gekommen sah. Hatte nicht die SPD während all der Jahre schon sehr viele Gelegenheiten gehabt, mehr Gerechtigkeit herzustellen? Es gelingt derzeit der SPD nur selten, von sich aus erfolgreiches ­Agenda-setting zu betreiben, um die Deutungsmacht der öffentlichen Diskussion inne zu haben. Die Themen waren vorhanden. Ob zunehmende soziale oder ökonomische Sicherheitsbedürfnisse der Bürger im Zuge der Folgen der zunehmenden Migration seit 2015, die öffentliche Diskussion um die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse oder die Ungleichverteilung von Vermögen, die Arbeitslosigkeit als neuen Megatrend abzulösen scheint: alles klassische sozialdemokratische Themen, die es wählerwirksam zu adressieren lohnte. Gleichzeitig aber alles auch Entwicklungen, die von der SPD selbst in ihrer Regierungszeit mit implementiert worden sind. Letzterer Umstand erleichterte die Herstellung glaubwürdiger Kommunikation nicht. Auch die Themenbearbeitung der SPD lässt Defizite erkennbar werden: Obwohl vielen Beobachtern recht schnell klar wurde, dass mit sozialer Gerechtigkeit allein in einer Zeit, in der nur eine relativ kleine Minderheit ihre ökonomische Situation als schlecht beurteilte und andere Themen im Vordergrund standen (bspw. Flüchtlinge, innere Sicherheit), die Wahl nicht zu gewinnen war (vgl. Niedermayer 2017, S. 477), entschied sich die SPD im recht monothematisch auf Verteilungsgerechtigkeit zu setzen. Entsprechend hat sie auf dem jüngsten Berliner Parteitag Ende 2019 ein neues Sozialstaatskonzept vorgestellt. Das dahinterstehende Gerechtigkeitsverständnis erscheint jedoch nach außen wenig zielgerichtet einerseits und allzu einseitig auf Umverteilung ausgerichtet andererseits. Die von Andrea Nahles zunächst verfochtene Vielfalt des Verständnisses dringt extern kaum durch: „Unsere Idee von sozialer Gerechtigkeit bündelt die Prinzipien Bedarfsgerechtigkeit, soziale und politische Chancengleichheit, Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit – und hat immer Generationengerechtigkeit im Blick“ (Nahles 2017, S. 557). Die Außenkommunikation der SPD wird dagegen deutlich stärker durch den Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit wahrgenommen, in dem sie seit einiger Zeit eine Abkehr von der Agenda-Politik

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Schröders, seit 2019 per Parteitagsbeschluss auch öffentlichkeitswirksam, proklamiert. Sie übersieht damit aber, dass sie – trotz beispielsweise der Einführung des Mindestlohns und der Rente mit 63 nach mindestens 45 Beitragsjahren in der Sozialversicherung sowie der vermehrten Förderung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, der Erhöhung des BAFÖG, der Mietpreisbremse, der Grundrente oder der Erhöhung des Unterhaltsvorschusses für Alleinerziehende – ihre Kompetenzwerte selbst in der Sozialpolitik kaum verbessern konnte (Daten bei Neugebauer 2017; Infratest dimap 2020; Faus et al. 2018, S. 22, s. auch Abb. 4). Mit der Besetzung des Arbeits- und Sozialministeriums ist es trotz unbestreitbarer Durchsetzungsstärke auf diesem Gebiet innerhalb der beiden Großen Koalitionen seit 2013 nicht gelungen, elektoral Vorteile für sich zu verbuchen. Konkrete Vorschläge einer moderaten Umverteilung zugunsten der sozial weniger privilegierten Gruppen wurden von der Sozialdemokratie im Wahlkampf allenfalls ansatzweise in die öffentliche Diskussion eingebracht – aber zu technokratisch erschienen beispielsweise ein staatlich dotiertes Chancenkonto zur Finanzierung von Weiterbildung oder Existenzgründungen, um weitergehende Mobilisierungseffekte zu erzielen. Das für viele Wähler eher diffuse Wort von der sozialen Gerechtigkeit konnte daher in der abstrakten Darstellung des Wahlkampfs nicht in Kompetenzzugewinne umgemünzt werden.

Abb. 4   Problemlösungskompetenz – Wirtschaft und Wahlergebnis. (Quelle: Faus et al. 2018, S. 22)

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Waren es im September 2002 – also zur damaligen Bundestagswahl – noch 48 % der Befragten, die der SPD am ehesten zutrauten, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, war dieser Wert bis zur Bundestagswahl im September 2009 auf nur noch 33 % gesunken. Nur noch ein Drittel der Deutschen sahen die SPD demnach zu Beginn ihrer Oppositionszeit als kompetent in ihrem ureigenen Markenkern an. Eine der Hauptaufgaben war es also, die Sozialkompetenz wieder auszubauen. Gleichzeitig ist es für politische Organisationen, die den Anspruch hegen, Volkspartei zu sein, ihr Wählerpotenzial weitgehend zu nutzen und mehrheitsfähig zu sein, wichtig, Sekundärkompetenzen wahrzunehmen, etwa im ökonomischen Bereich ihre Sozialkompetenz durch Wirtschaftskompetenz zu ergänzen (vgl. Niedermayer 2010, S. 231). Der Ausbau der Markenkompetenz durfte also nicht zulasten der Sekundärkompetenz Wirtschaft gehen, die sich zwischen 2002 und 2009 von 31 Prozentpunkten auf lediglich 16 nahezu halbiert hatte und seitdem etwa dort verharrt (vgl. auch Neugebauer 2017, S. 215). Immerhin 69 % aller Wähler erwarteten kurz vor Antritt der nachfolgenden Großen Koalition im Juni 2013, dass sich die künftige Bundesregierung um gute Rahmenbedingungen der deutschen Volkswirtschaft kümmert (vgl. Köcher 2018), doch gelang es der SPD trotz der Besetzung des Wirtschaftsressorts durch ihren Spitzenmann Gabriel oder seit 2017 des Finanzministeriums mit Vize-Kanzler Olaf Scholz nicht, hier im Wettbewerb mit der Union Kompetenzgewinne zu erzielen. Die Zahlen offenbaren, dass es offensichtlich nicht ausreicht, den Fokus fast ausschließlich auf den Faktor Verteilungsgerechtigkeit zu richten, sondern dass die volkswirtschaftlichen Bedingungen insgesamt zu beachten sind, gerade weil Arbeitslosigkeit derzeit in Deutschland nicht als zentrales Problem wahrgenommen wird. Diese Beispiele fügen sich in einen generellen Trend der SPD mit Blick auf ihre Kompetenzwerte: Das Zutrauen in die SPD zentrale politische Probleme lösen zu können ist „allgemeiner geringer geworden oder gar schwach geblieben“ (Neugebauer 2017, S. 213; siehe Abb. 5). Die subjektiv wahrgenommene ökonomische Gesamtsituation erklärt zudem, warum die SPD mit dem Thema soziale Gerechtigkeit beim Wähler wenig Resonanz fand: 84 % im Elektorat beurteilten die wirtschaftliche Lage positiv (Infratest dimap 2017); unter den SPD-Wählern kam eine Mehrheit (56 %) zu der Überzeugung, es gehe in Deutschland eher gerecht zu. Oskar Niedermayer (2017, S. 475) resümiert für den Bundestagswahlkampf 2017: „Die SPD wurde weder personell noch inhaltlich als überzeugende Alternative zur Union wahrgenommen“. Diese Sichtweise hat sich seitdem nicht verändert.

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Kompetenzen Kriminalität und Verbrechen bekämpfen Terrorismus bekämpfen Wirtschaft in Deutschland voranbringen Gute Außenpolitik betreiben Gute Gesundheitspolitik betreiben Gute Schul- und Bildungspolitik betreiben Gute Verkehrspolitik betreiben Altersversorgung langfristig sichern Gute Flüchtlings- und Einwanderungspolitik betreiben Digitalisierung vorantreiben Für eine gute Familienpolitik und Kinderbetreuung sorgen Für angemessene Löhne sorgen Für bezahlbaren Wohnraum sorgen Gute Umwelt- und Klimapolitik betreiben

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Januar 2020 9 7 9 18 20 17 11 23 12

September 2017 16 14 17 29 33 28 / 32 20

8 30

/ 38

30 25 5

41 / 10

Abb. 5   Parteikompetenzen SPD. (Quelle: Infratest Dimap 2020, S. 7 f.)

2.5 Kein populärer Spitzenkandidat in Sicht Als ein zunehmend bedeutsamer Aspekt im Parteienwettbewerb gilt die erfolgreiche Platzierung von wählerwirksamen Personen. Sie sind in der politischen Kommunikation und vor allem im Wahlkampf wichtig, weil sie durch ihr Auftreten Politik für die Wählerinnen und Wähler greifbar machen, ihnen helfen, komplexe politische Sachverhalte einzuordnen und ihnen damit Orientierung geben können. Zentrales Ziel der strategischen Kommunikation ist es, die eigenen Spitzenpolitiker im Wettbewerb um die Gunst der Wählerschaft vorteilhaft zu positionieren, um damit möglichst gute Voraussetzungen zur Erreichung der Parteiziele zu schaffen. Personalisierung ist durch die Attraktivität visualisierender Vermittlung politischer Information bedeutsamer geworden. In diesem Bereich konnte die SPD die oben genannten Defizite im Parteienwettbewerb nicht kompensieren, im Gegenteil: es fehlte ihr an einer auf Bundesebene wählerwirksamen Persönlichkeit. Dass die Bewertung der Spitzenkandidaten und

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deren Beliebtheit erhebliche Auswirkungen auf das Wahlergebnis einer Partei hat und deren Ausschöpfung ihres Wählerpotenzials in erheblichem Maße beeinflusst, ist auch das Ergebnis einer jüngeren Studie, die der SPD hier ebenfalls Defizite zuschreibt (Lichteblau und Wagner 2019). Ihr Spitzenkandidat und Parteivorsitzender im letzten Bundestagswahlkampf 2017 Martin Schulz teilte das Schicksal seiner Vorgänger Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier als SPD-Kanzlerkandidaten: Es gelang den Herausforderern nicht, den Eindruck zu erwecken, sie seien im Vergleich mit Angela Merkel eine ernsthafte Alternative. Nur 18 % der Wähler trauten Schulz zu, dass er als Bundeskanzler besser geeignet sei als die Amtsinhaberin (Forschungsgruppe Wahlen 2017). Auch gerade einmal gut 50 % der Anhänger der SPD und nur 32 % aller Befragten waren der Ansicht, Martin Schulz nütze der Partei im Wahlkampf. Die Werte der Bundeskanzlerin sprachen da eine andere Sprache: 90 % der Unionsanhänger sowie 70 % aller Befragten sahen in der Kandidatur Merkels einen Vorteil für die Union (ebda.). Insgesamt hatte die SPD im Parteienwettbewerb der letzten Jahre den Nachteil, dass weder ihre Spitzenkandidaten noch ihre Parteivorsitzenden sich als überdurchschnittlich populär herausstellten. Das letzte Zugpferd der Partei diesbezüglich war Gerhard Schröder. Andrea Nahles verzeichnete in ihrer kurzen Amtszeit geringe Popularitätswerte in der Gesamtwählerschaft, Sigmar Gabriel kämpfte in seiner Zeit als Parteivorsitzender stets gegen den Ruf der erratischen und in der eigenen Partei auf begrenzte Zustimmung stoßenden Führungspersönlichkeit (vgl. von Alemann und Spier 2015). Letzteres trifft auch auf Vizekanzler Olaf Scholz zu, dem zudem noch der Makel des Technokraten anhängt. Dem im Dezember 2019 neu gewählten Führungsduo Saskia Esken und Norbert ­Walter-Borjans steht die Wählerschaft derzeit auch eher reserviert gegenüber.

3 Stellung der SPD im Parteien- und Regierungssystem In der aktuellen Situation des deutschen Parteiensystems, die einzelne Analysen schon in Richtung des „polarisierten Pluralismus“ im Sinne Giovanni Sartoris interpretieren (vgl. Wagner 2019), ist es für die auf Integration und Kompromiss orientierten Parteien der politischen Mitte in beiden Wettbewerbsdimensionen deutlich schwerer geworden, ihre bisherige Position im deutschen Parteiensystem zu behaupten. Moderate politische Positionen, wie sie SPD und CDU oftmals vertreten, haben es in einer gesellschaftlichen Lage, in der moralische Rechthaberei, Abgrenzung oder gar Abschottung dominieren, naturgemäß nicht

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leicht in Debatten klar erkennbar zu sein oder sich durchzusetzen. Dies erklärt, warum CDU und SPD zuletzt deutlich an Zuspruch verloren haben. Vertrauensverluste betreffen die beiden vom Selbstanspruch als Volkspartei auftretenden Organisationen gleichermaßen. Doch wie kommt es, dass die Unionsparteien ihren Vorsprung gegenüber der SPD seit 2005 von einem Prozentpunkt auf mittlerweile mehr als zwölf Prozentpunkte ausbauen und als eindeutige Führungsparteien den Wettbewerb bestimmen (vgl. auch Probst 2018)? Kann die SPD angesichts von Umfragedaten von 14 bis 16 % überhaupt noch realistisch den Anspruch erheben, CDU und CSU den ersten Rang streitig zu machen? Ist das eilig von Saskia Esken ausgerufene Ziel von 30 % der Wählerstimmen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 5. Dezember 2019) bei der kommenden Bundestagswahl tatsächlich erreichbar? Die Wandlungsfähigkeit gehört zum elementaren Bestandteil des Wesens der sozialdemokratischen Parteienfamilie. Jedoch ist dies kein Alleinstellungsmerkmal der Sozialdemokratie und lässt sich genauso gut über den größten Mitbewerber der SPD im deutschen Parteiensystem sagen. Jüngste Analysen des programmatischen Wandels der deutschen Parteien zeigen spürbare Veränderungsprozesse in der jüngeren Vergangenheit auf. Während die CDU, insbesondere in der sozio-kulturellen Wettbewerbsdimension, sich erheblich modernisiert hat und sich hin zur Mehrheitsfähigkeit in der Wählerschaft orientiert (vgl. Jung 2019), betonte die SPD in den letzten Jahren wieder verstärkt ihre etatistische Tradition. Im Wahlkampf 2017 und in dessen Folgezeit hat sie entsprechend recht einseitig ihren Markenkern der sozialen Gerechtigkeit hervorgehoben und sich auf dem Berliner Parteitag endgültig von der Agenda-Politik Schröders losgesagt. Doch wird sich diese Haltung in mehr Wählerstimmen wiederfinden? Während der nunmehr mit vierjähriger Unterbrechung dauernden zehnjährigen Amtszeit der Großen Koalition lässt sich mit Blick auf die sozio-ökonomische Wettbewerbsdimension eine Linksverschiebung Richtung ­ mehr Staatsinterventionismus sowohl bei der SPD wie (eingeschränkter) den Unionsparteien konstatieren. Dieses Ergebnis wurde durch die Analyse der jeweiligen Wahlprogramme und des Koalitionsvertrags bestätigt (siehe Jakobs und Jun 2018; vgl. auch Decker 2015, S. 146). In der sozio-kulturellen Wettbewerbsdimension lässt sich eine noch deutlichere Verschiebung der CDU beobachten, die autoritäre Werte, wie sie etwa in der Asyl- und Migrations- oder Gesellschaftspolitik am klarsten sichtbar waren, in ihrer Regierungspolitik – zeitweilig zum öffentlich artikulierten Verdruss der CSU und (kaum öffentlich) des konservativen Teils der CDU – links liegen gelassen hat (vgl. Oppelland 2019; siehe zu den Veränderungen in den genannten

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Politikbereichen Laubenthal 2019; Zohlnhöfer 2019). Es lässt sich konstatieren, dass die CDU in der Ära Merkel sich spürbar in Richtung politische Mitte in beiden Wettbewerbsdimensionen orientiert hat, um mehrheitsfähig zu sein. Merkel konnte in der CDU ihre vom Pragmatismus und elektoraler Mehrheitsfähigkeit geprägten programmatischen Vorstellungen durchsetzen, da sich der innerparteiliche Willensbildungsprozess stark auf die Kanzlerin zentriert hatte und bis 2016 von einer Zentralisierung der Entscheidungsfindung hin zur Parteivorsitzenden gesprochen werden konnte (vgl. Zolleis und Schmid 2015, S. 29). In der Ära Merkel ist es der CDU durch strategisches Management sehr erfolgreich gelungen, deren potenziellen Wähler der Mitte erfolgreich anzusprechen und die „Wählbarkeit der CDU in bürgerlich-weltoffenen und linksliberalen Wählerkreisen“ zu erhöhen (Wiesendahl 2017). Die Popularität der Kanzlerin, welche einen pragmatischen Politikstil bevorzugt, begünstigte die CDU des Weiteren im Parteienwettbewerb. Die SPD hat es in der gesamten Regierungszeit seit 2005 dagegen nicht vermocht, diesem Kurs Merkels mit einer bei den Wählern erfolgreichen Gegenstrategie zu begegnen. Sie entwickelte keine kohärenten Gegenmaßnahmen und Konzepte, wie diese verloren gegangenen, disparaten Wählergruppen wieder zur Stimmabgabe zugunsten der SPD zu bewegen sind und wie dem Modernisierungskurs Merkels zu begegnen ist. Weder ist eine einheitliche strategische Linie klar erkennbar (so etwa auch Gaschke 2017), noch wird eine Botschaft übermittelt, welche die SPD in den Augen vieler Wähler wieder attraktiver erscheinen lässt. Die zugegebenermaßen nur noch schwierige Abgrenzung im Parteiensystem funktionierte nur noch eingeschränkt. Der Raum einer Partei der linken Mitte ist zwar sehr eng geworden, wurde aber von der SPD selbst noch weiter verengt, indem sie Öffnungen der Vergangenheit partiell wieder rückgängig machte, frühere Wahlerfolge nicht für sich nutzte und stattdessen längst verloren gegangenen Wählergruppen Avancen machte oder sich auf zunehmend kleiner werdende Gruppen fokussierte. Auch wenn das spürbar geschrumpfte gewerkschaftlich gebundene Arbeitermilieu sich weiterhin mehrheitlich zur Sozialdemokratie bekennt (siehe Wessels 2010) – mit allerdings erkennbar rückläufiger Tendenz (vgl. Jung et al. 2019, S. 40; Spier 2017) – so hatten nahezu alle sozialdemokratischen Parteien dessen quantitativen Rückgang und die geringere Interessenbindung in den letzten vierzig Jahren längst genutzt, um ihre Basis auf andere sozialstrukturelle Gruppen auszudehnen und sich für nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen zu öffnen (vgl. allgemeiner zu den Veränderungen des Verhältnisses der SPD zu den Gewerkschaften Neusser 2013). Zunächst erfolgte dies, wenn auch nicht ausschließlich, im Sinne einer „catch-all“-Strategie, seit den 1990er Jahren um den Wandel zu moderneren Formen der Parteiorganisation, medialen Präsentationen und

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pragmatischem Politikstil zu vollziehen (vgl. Jun 2004). Diese Anpassungsleistungen hatten den Sozialdemokraten zwar Wähler gekostet, indem dieser Modernisierungskurs zu einer Entfremdung einzelner traditioneller Anhängergruppen und zum wohl unwiederbringlichen Verlust dieser Gruppe ehemaliger Stammwähler geführt, ihnen gleichzeitig aber neue Wählergruppen zugeführt und ihr in der Ära des früheren Bundeskanzlers Schröder Wahlerfolge eingebracht hat (vgl. Raschke 2010). Die SPD hat in den letzten Jahren den pragmatischen Kurs der Schröder-Zeit jedoch wieder partiell aufgegeben und sich seit 2009 sukzessive mehr ihrem Kernanliegen der Überwindung der Nachteile sozial schwächerer Gruppen gewidmet. Diese Positionierung ist ihr aber gerade im Wettbewerb mit der Union nicht zugutegekommen. Stattdessen ist zu beobachten, dass der SPD als Partei der linken Mitte angesichts des Wandels der CDU gerade in der soziokulturellen Wettbewerbsdimension und angesichts der weiteren Mitbewerber im linken Spektrum um Wählerstimmen ein relativ geringer programmatischer Spielraum verbleibt. Der Raum nach links in der sozio-ökonomischen Konfliktdimension wird stark von der Linkspartei und in der sozio-kulturellen Konfliktdimension stark von den Grünen begrenzt. Die Grünen sind auch in der sozio-ökonomischen Wettbewerbsdimension als unmittelbarer Nachbar der SPD zu verorten (vgl. Niedermayer in diesem Band) und versuchen zunehmend mit industriepolitischen Vorschlägen im Einklang mit dem Klimawandel der SPD das Wasser abzugraben. Während die Linke als Oppositionspartei vehement den Ausbau des Wohlfahrtsstaates fordert, was aus Sicht der Partei eine Erhöhung nahezu sämtlicher sozialstaatlicher Leistungen beinhaltet und dabei beständig für mehr soziale Gleichheit eintritt, sind der SPD als verantwortlicher Regierungspartei, aber auch als moderater Partei der linken Mitte die Hände gebunden. Sie kann es sich kaum erlauben, einseitig den Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit in den Vordergrund zu rücken, will sie nicht bei mittleren Einkommensgruppen an Zuspruch verlieren, die „eher abschätzig“ (Reckwitz 2019, S. 99) jene betrachten, die ihr Einkommen nicht aus regulärer Erwerbsarbeit bestreiten. Die SPD muss zur Mehrheitsfähigkeit über ihren Markenkern der sozialen Gerechtigkeit hinaus Wirtschaftskompetenz herstellen und in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft anschlussfähig sein, um integrativ wirken zu können. Ausschließlich die Position der in sozialer Hinsicht subjektiv Benachteiligten zu artikulieren und als reine Sozialstaatspartei zugunsten sozial Schwacher aufzutreten, würde ihr nicht nur die Mehrheitsfähigkeit kosten, sondern käme der Selbstaufgabe des Anspruchs der Volkspartei gleich. Hinzu tritt, dass die rechtspopulistische AfD mittlerweile recht erfolgreich nicht wenige Wähler unter den sozial geringer privilegierten Gruppen rekrutiert (Pickel 2019; Bergmann et al. 2018; Niedermayer und Hofrichter 2016; Kroh und Fetz 2016).

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4 Zukunftsoptionen für die SPD Erneuerung heißt seit der Bundestagswahl 2017 das Zauberwort in der SPD. Auf dem Bundesparteitag im Dezember 2019 propagierte die Partei entsprechend einen Aufbruch „in eine neue Zeit“. Doch außer dem Versprechen die Sozialstaatlichkeit zu erhöhen, blieb unklar, welche Richtung denn die Partei dabei konkret nehmen sollte. Durchgesetzt haben sich bei der Wahl der Vorsitzenden 2019 jedenfalls jene, die eine Rückkehr zu traditioneller Sozialdemokratie befürworten, worunter sie primär ein deutliches Mehr an Verteilungsgerechtigkeit verstehen. Die SPD müsse demnach die Rolle des Anwalts der sozial gering Privilegierten (wieder) übernehmen, deren Stimmungen aufnehmen und kanalisieren. Damit einher gehen Forderungen nach höheren Steuern für Bessergestellte sowie nach höheren Löhnen bzw. Renten. An Ratschlägen zugunsten eines solchen Kurses mangelt es auch in der wissenschaftlichen Literatur nicht. Bei einer „linkspopulären Politik“ (Nölke 2017) à la britischen Labour Party seit Jeremy Corbyn misst sich der Erfolg im Kern an einer Verbesserung der Lage der sozial Schwachen, wobei es einigen ihrer Befürworter weniger auf programmatische Aspekte ankommt: „Viel wichtiger wäre es für eine linkspopuläre Partei, auf Stimmungen in den weniger privilegierten Teilen des Volks zu achten und zuzuhören, welche Probleme hier besonders deutlich artikuliert werden“ (Nölke 2017, S. 225), was schon mehr als Anklänge an Populismus erkennbar werden lässt. Dass die SPD, wenn sie weiterhin auf Mehrheitsfähigkeit sein sollte, letztlich konkret den Spagat zwischen Akademiker- und Facharbeiter-Milieus einerseits und den sozial schwächsten und abstiegsbedrohten Gruppen andererseits konkret bewerkstelligen muss, kommt in diesem Ansatz zu kurz. Corbyns Labour Party jedenfalls war bei den letzten Unterhauswahlen im Dezember 2019 kein Erfolg beschieden, weil sie ebenfalls den Spagat zwischen EU-skeptischer Arbeiterschaft und vorwiegend aus der akademischen Mittelschicht stammenden Brexit-Gegnern nicht bewerkstelligte. Eine noch etwas traditionellere Sicht wird etwas konkreter und fordert erhöhte Staatsausgaben für sozialstaatliche Programme: demnach solle dieser Lesart zufolge der traditionelle Wohlfahrtsstaat (wieder) hergestellt werden, das heißt die Abmilderung sozialer Ungleichheiten wird untrennbar mit der Verteilungsfrage im Blick auf Nachschub an öffentlichen Geldern gekoppelt. Die SPD soll demnach soziale Ungleichheiten bekämpfen, indem sie nicht nur als Garant sozialer Sicherheit auftritt, sondern viel aktiver Umverteilung durch sozialstaatliche Maßnahmen in den Vordergrund ihrer Politik stellt (siehe bspw. Mielke 2017), wie wir es zuletzt bei der Einführung der Grundrente oder des Mindestlohns gesehen haben. In dieser Sichtweise war die Einführung der Agenda 2010

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durch Gerhard Schröders Regierung der Sündenfall, der korrigiert werden muss. Kritiker dieser Sichtweise weisen darauf hin, dass das soziale Sicherheitsversprechen des Nationalstaats „von der Wiege bis zur Bahre“ für alle Bereiche des Lebens angesichts der globalen Wettbewerbssituation um Marktanteile ohnehin nicht gewährleisten kann (vgl. Adam 2018). Des Weiteren bleibt bei diesem sehr traditionellen Ansatz zurück zur reinen Sozialstaatspartei unklar, wie damit die Mehrheitsfähigkeit wiederhergestellt werden kann. So formuliert etwa Elmar Wiesendahl (2017) zutreffend, dass „eine Wiederauferstehung“ der SPD als Arbeiterpartei kaum realistisch ist. Einerseits wird die quantitative Größe der Industriearbeiterschaft in Zukunft weiter abnehmen und andererseits lässt sich keine bewusstseinsprägende Identitätsbildung für die politische Haltung dieser Wählergruppe ausmachen. So weist der schon häufig für die SPD tätige Kommunikationsberater Frank Stauss (2018, S. 19) auf wohl unumkehrbare gesellschaftliche Wandlungsprozesse hin: „Irgendwann kam jemand auf die Idee, aus der SPD die Schutzmacht der kleinen Leute zu machen; vielleicht machte das 1960 einmal Sinn, heute nicht mehr. Dafür gibt es zu wenige kleine Leute“. Zwar würde wohl nahezu jeder innerhalb der SPD diese Sichtweise nach außen zurückweisen, weil die Wahrnehmung der Interessen der sozial weniger privilegierten Gruppen im Selbstverständnis der Partei tief verwurzelt ist. Zumindest partiell erhält Stauss immerhin Unterstützung vom Hamburger Kultursenator der SPD Carsten Brosda (2019), der konstatiert: „In der sozialen Gerechtigkeit allein steckt kein Ansatzpunkt zur Revitalisierung der Volkspartei SPD“. Brosda setzt stattdessen auf gesellschaftlichen Zusammenhalt als zentralem Zukunftsthema im Kontext von mehr Gerechtigkeit. Er und Stauss sprechen einen zentralen Punkt an: den der Mehrheitsfähigkeit. Dazu scheint das Konzept des Infrastrukturstaates geeignet, der sich nicht nur auf soziale Sicherheit, sondern auf gesamtstaatliche Infrastrukturbereitstellung etwa in den Bereichen Bildung, Wohnen, Umwelt und innere Sicherheit kapriziert, geeignet. Dazu bedarf es jedoch spürbarer Kompetenzerweiterungen der SPD in den für die Wählerschaft zentralen Politikfeldern. Nach bisherigen historischen Erfahrungen ist es der SPD nur immer dann gelungen der Union elektoral erfolgreich Paroli zu bieten (nur zweimal in der Geschichte der Bundesrepublik lag die SPD bei Bundestagswahlen vor den Unionsparteien, 1972 und 1998), wenn sie den Wählern der politischen Mitte, somit auch Wechselwählern, die potenziell auch die Union, den Bündnisgrünen oder FDP zur Verfügung stehen, für sich gewinnen konnte. Dies impliziert, dass eine sozialdemokratische Agenda neben ökologischer Glaubwürdigkeit auf ein recht hohes Maß ökonomischer Kompetenz nicht verzichten kann, „also soziale Gerechtigkeit und ökonomische Effizienz verbinden“ (Nida-Rümelin 2018, S. 64) sollte, möchte sie

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mehrheitsfähig erscheinen. Die seinerzeitige Parteiführung hat wohl primär aus diesem Grund in der derzeitigen Großen Koalition sowohl das Finanz-, wie das Arbeits- und Sozialministerium für sich beansprucht. Zudem bedarf es in dieser Perspektive einer wettbewerbsfähigen und Arbeitsplätze sichernden Volkswirtschaft mit ausreichend realisierten Wachstumspotenzialen als Basis, um jene Sozialleistungen oder andere Infrastrukturmaßnahmen zu finanzieren, die letztlich für sozialstaatliche (Umverteilungs-)Politik und gesamtstaatliche Infrastrukturbereitstellung gewährleistet werden sollen. Letzterer Aspekt wird von der Parteilinken in seiner Bedeutung gern mal heruntergespielt, während die Parteirechte um den Seeheimer Kreis in dieser Einsicht auch ihre Rechtfertigung der Agenda-Politik in der Regierungszeit Gerhard Schröders sah. Für sie ist ökonomischer Erfolg unverzichtbarer Bestandteil der Politik, was die Notwendigkeit der Schaffung zukunftsfähiger Rahmenbedingungen beinhaltet (siehe bspw. Erklärung des Wirtschaftsforums der SPD 2017). Daher betont dieser Teil der Partei, dass es für die SPD erheblich ist, auch den ressourcenstärkeren Gruppen ein inhaltliches Angebot zu unterbreiten, das die SPD als eine für sie wählbare Partei erscheinen lässt. In dieser Sichtweise sollte die SPD zur Mehrheitsfähigkeit über ihren Markenkern der sozialen Gerechtigkeit hinaus in weitere Kompetenzfelder wirkmächtig vorstoßen und in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft anschlussfähig sein, um integrativ wirken zu können. Ausschließlich die Position der in sozialer Hinsicht subjektiv Benachteiligten zu artikulieren und als reine Sozialstaatspartei zugunsten sozial Schwacher aufzutreten, würde ihr demnach nicht nur die Mehrheitsfähigkeit kosten, sondern käme der Selbstaufgabe des Anspruchs der Volkspartei gleich und würde sie wieder in die 1950er Jahre zurückwerfen. Eine Partei mit Anspruch auf Repräsentation der Mittelschichten sollte also deren Interessen und Werte nicht vernachlässigen. Die Befürworter dieser Position können nicht nur auf die historische Erfolgsgeschichte der Partei, sondern auch auf das derzeitige Umfragehoch der Grünen verweisen, die sie auch ihrer Kompetenzerweiterung und ihrer stärkeren Mitte-Orientierung verdanken (vgl. u. a. Probst in diesem Band). Die SPD war bei Bundestagswahlen immer nur dann erfolgreich, wenn sie auch Zukunftskompetenz versprach, wie etwa paradigmatisch im Jahr 1998 mit dem Slogan „Innovation und Gerechtigkeit“.4 Aber auch schon für die 1960er und 1970er Jahre kommen Peter Lösche und Franz Walter (1992) zu 4So etwa auch Andrew Gamble (2012, S. 45 f.): „They have to develop a credible external economic policy, a credible domestic stabilisation policy and a credible growth policy. This is what successful social democratic parties have done in the past and will need to do again“.

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ähnlichen Ergebnissen. Da die SPD längst Partei der Mittelschichten (zu diesem Begriff genauer Mau 2014) mit überproportionalen Anteilen von gewerkschaftlich organisierten Facharbeitern und Beschäftigten im öffentlichen Dienst ist, läge eine solche Kursbestimmung nahe. Sie sieht sich aber ihrem ideellen Kern der sozialen Gerechtigkeit und ihrem historischen Erbe als ­Arbeitnehmerpartei von ihrem Selbstbild her stark verpflichtet. Dieser Spagat gelingt derzeit wenig überzeugend und hat spürbare elektorale Folgen. Währenddessen die CDU gemäß dem Konzept der Catch-All Party erfolgreicher als die SPD die politische Mitte besetzt und längst auch in ehemalige Wählergruppen der SPD eingedrungen ist, die aufstiegsorientiert waren oder sind, gelingt es der SPD kaum Wähler von der CDU zu gewinnen, weil sie sich zuletzt primär als Partei der benachteiligten Gruppen der Gesellschaft sah. Doch bei diesen Gruppen konkurriert sie wiederum mit anderen Wettbewerbern, die nicht zuletzt aufgrund ihrer Oppositionsrolle Glaubwürdigkeitsvorteile haben. Der Generalsekretär der Partei, Lars Klingbeil, und die neue Parteiführung sind des Weiteren aufgefordert, organisatorische Reformen und inhaltliche Positionsbestimmungen auf den Weg zu bringen. Ob es organisatorisch tatsächlich mal eine innerparteiliche Reform gibt, die diesen Namen auch verdient (siehe zu vorherigen Reformprozessen Jun 2009; Bukow 2013, 2014; Grunden et al. 2017), hängt auch von der Reformbereitschaft der aktiven Mitglieder der Partei ab. Fraglos hat die SPD hier ein Modernitätsdefizit, das es zu beheben gilt. Jedoch reichen einfache Verweise auf eine SPD-App als Zeichen von Modernität nicht aus, so lange sich dahinter wenig partizipativer Mehrwert für die Mitglieder ergibt. Inhaltlich muss die Partei entscheiden, ob sie eher rückwärtsgewandt ausschließlich auf traditionelle Werte setzt, was immerhin partiell angesichts von Wohnungsknappheit in den Großstädten und deren Umfeld oder angesichts zunehmender Sorgen um eine auskömmliche Alterssicherung sogar partiell dem Zeitgeist entspricht, oder dies mit Zukunftsentwürfen verbindet, welche die Mehrheitsfähigkeit wiederherstellen. Vorschläge, dass die SPD auch jenseits ihrer Kernthemen wieder vermehrt Kompetenzen gewinnen muss, gibt es viele, auch aus der Partei selbst, explizit etwa bei den Themen Bildungspolitik, Integration und Digitalisierung (Gaschke 2017, S. 10). Angesichts dessen, dass die Wählerschaft eine schwer zu kalkulierende Größe darstellt, deren Dynamik und Volatilität voraussichtlich noch weiter zunehmen wird, ist es für Parteien erfolgversprechend, Personal, Programm und Politikverständnis den veränderten Rahmen- und Wettbewerbsbedingungen anzupassen. Dazu bedarf es Zukunftsorientierung statt Rückwärtsgewandtheit. Dem ­Eindruck, die Partei strahle „keine Kraft und keinen Mut aus, die Zukunft gestalten zu

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können“ (Stauss 2018, S. 18), sollte die SPD mit Vehemenz begegnen, will sie ihre Position im Parteienwettbewerb wieder verbessern und daraus „eine positive und fortschrittsoptimistische Position“ mit den Instrumenten einer wertegebundenen Emotionalität entwickeln (Brosda 2019). Die Ausgangsposition im Wettbewerb mit der CDU war zu Beginn der derzeitigen Großen Koalition ­angesichts der sich inhaltlich und personell ebenfalls Veränderungsdruck ausgesetzten Unionsparteien und deren personellen Querelen nicht die schlechteste, ist aber von der SPD bislang nicht genutzt worden.

5 Fazit Die SPD befindet sich offenkundig in einer sehr schwierigen Phase in ihrer langjährigen Parteigeschichte. Sie hinterlässt derzeit das öffentliche Bild einer Partei, die ihre besten Zeiten weit hinter sich hat. Im Parteienwettbewerb droht sie spürbar zurückzufallen, nicht nur gegenüber den Unionsparteien, sondern auch gegenüber Bündnis’90/Grüne oder der AfD verliert sie erheblich an Boden. Programmatisch fehlt es ihr – wie vielen ihrer Schwesterparteien in Europa – an einer wählerwirksamen, kohärenten und zukunftsweisenden Vision eines Gesellschaftsentwurfs für die kommenden Jahre und Jahrzehnte, das heißt an einer massenattraktiven, umfassenden sozialdemokratischen Erzählung. Bei der SPD hat sich eine Art Regierungspragmatismus eingestellt, der zwar zur Stabilität des politischen Systems Deutschlands in nicht geringem Maße beiträgt und der Regierungspolitik eine sichtbare sozialdemokratische Handschrift verleiht, was aber der Partei elektoral keinen Nutzen erbracht hat. Im Gegenteil: hier verliert sie zuletzt beschleunigt an Anziehungskraft. Diese elektorale Schwäche wurde primär hervorgerufen durch ein Repräsentations- oder Responsivitätsdefizit gegenüber traditionellen früheren Wählergruppen, durch Glaubwürdigkeitsverluste, strategisch erfolglos geführte Wahlkampagnen, geringe Strategiefähigkeit im Parteienwettbewerb, innerparteiliche Streitigkeiten sowie durch im Vergleich wenig populäre Spitzenkandidaten und Parteivorsitzende. Ihre Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden erfreuten sich seit 2009 relativ geringer Popularität, was der Mobilisierung ihrer potenziellen Wählerschaft entgegenwirkte. Als fatal für die SPD erweist es sich auch, dass sie in den letzten Jahren in den Augen der Wähler erheblich an Wirtschaftskompetenz eingebüßt hat. Nicht zuletzt aufgrund dieser geringen Kompetenzwerte konnte die SPD auch in Folge der ökonomischen Konsequenzen der Corona-Krise bislang kaum Zugewinne verbuchen und musste den Ansehensgewinn der Bundesregierung seit März 2017 fast vollständig den Unionsparteien überlassen.

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Der Wandel des Parteienwettbewerbs bietet der SPD zudem einen in den letzten Jahren zurückgegangenen Handlungsspielraum, da von der einen Seite die CDU der SPD in vielen Politikfeldern trotz unterschiedlicher Angebote als inhaltlich näher wahrgenommen werden, auf der anderen Seite die Linkspartei und Bündnis’ 90/Die Grünen in beiden Wettbewerbsdimensionen einer wirksamen Ausdehnung enge Grenzen setzen. Auf den Modernisierungskurs der CDU in der Ära Merkel hat die SPD bislang keine wirksame Gegenstrategie entwickelt. All diese für die Partei wenig erfreulichen Phänomene lassen die Zustandsbeschreibung als Krise der Sozialdemokratie zutreffend erscheinen. Doch trotz mancher Untergangsprophezeiungen kann die SPD aus der Unstetigkeit der Wählerschaft mit der stärkeren Zunahme von situativen Aspekten und Stimmungen bei der Wahlentscheidung Hoffnung schöpfen. Aber eine erfolgreiche Zukunft kommt selten von selbst. Regierungs-, Handlungs- und Strategiefähigkeit (wieder-)zu erlangen, um in Zukunft weiterhin eine bedeutsame Rolle im deutschen Parteienwettbewerb einnehmen zu können, müssen hergestellt werden. Die Partei steht vor der Aufgabe Zukunftsfähigkeit und Kompetenzgewinne erreichen zu müssen. Die Phase der Parteigeschichte nach der Bundestagswahl 2017 bis zur Wahl der beiden neuen Parteivorsitzenden hat aber die unterschiedlichen Probleme und Schwächen der Partei nochmals jedem aufmerksamen Beobachter in aller Deutlichkeit vor Augen geführt.

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Konkurrenz am rechten Rand: Die Etablierung der AfD im Parteiensystem Oskar Niedermayer

1 Die Position der AfD im Parteiensystem1 Die Alternative für Deutschland (AfD) wird in der öffentlichen Diskussion üblicherweise als rechtspopulistische Partei bezeichnet. Davon abgesehen, dass „rechtspopulistisch“ ein inflationär gebrauchter politischer Kampfbegriff im Parteienwettbewerb geworden ist und es immer noch keine allgemein akzeptierte wissenschaftliche Definition von Rechtspopulismus gibt, macht diese Bezeichnung die Bandbreite von inhaltlichen Positionen nicht deutlich, die von der AfD und ihren Akteuren vertreten werden. Diese Bandbreite kann man nur sinnvoll erfassen, wenn man die AfD auf den beiden zentralen Konfliktlinien verortet, die den deutschen Parteienwettbewerb prägen: dem wirtschaftspolitischen Sozialstaatskonflikt zwischen marktfreiheitlichen, an Leistungsgerechtigkeit ausgerichteten und staatsinterventionistischen, an sozialer Gerechtigkeit im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit ausgerichteten Wertvorstellungen zur Rolle des Staates im wirtschaftlichen Wettbewerb und dem gesellschaftspolitischen Konflikt um die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens zwischen progressiv-libertären, multikulturell und globalorientierten Wertvorstellungen auf der einen und konservativen bis autoritären, die nationale Identität und

1Der Abschnitt

ist eine überarbeitete und erweiterte Version von Niedermayer 2018, S. 5 ff.

O. Niedermayer (*)  Freie Universität Berlin, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Jun und O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29771-8_4

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Kultur betonenden Werten auf der anderen Seite, wobei der äußerste Rand dieses Pols durch ein rechtsextremistisches Weltbild mit kultureller Abschottung und Fremdenfeindlichkeit markiert wird. Die Position der AfD im Sozialstaatskonflikt war zunächst äußerst marktliberal, manche sprachen gar von marktradikal. Ihr ursprünglicher „Markenkern“, d. h. ihre politische Kernkompetenz, mit der sie verbunden und derentwegen sie primär gewählt wurde, war die Kritik an der Eurorettungspolitik, die sie als unzulässige Einmischung der Staatsregierungen in die Marktkräfte ansah. Später kam eine spezifische soziale Komponente hinzu. In ihrem Anfang Juni 2016 beschlossenen Grundsatzprogramm wird ihre wirtschaftspolitische Position mit dem generellen Grundsatz „je mehr Wettbewerb und je geringer die Staatsquote, desto besser für alle“ beschrieben. Sie vertritt aber auch eine neue Konzeption von sozialer Gerechtigkeit. Im Gegensatz zu der traditionellen, mit dem Fokus auf „unten vs. oben“ in Verteilungsfragen allein auf den Sozialstaatskonflikt bezogenen Konzeption verbindet diese Neukonzeption durch den Fokus auf „drinnen vs. draußen“, also Einheimische vs. Flüchtlinge, die ökonomische mit der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie, vor allem mit kulturellen Ängsten und Bedrohungsgefühlen. Die rein programmatische Position der AfD im Rahmen der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie kann als rechtskonservativ bezeichnet werden. Der Rechtskonservatismus setzt sich „für einen starken und möglichst souveränen Nationalstaat und für die Betonung von nationaler, ethnischer und kultureller Identität ein. Er will aus seiner Sicht unerwünschte Demokratisierungs- und Liberalisierungstendenzen in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere Multikulturalität und europäische Integration, eindämmen oder sogar rückgängig machen und verspricht Ruhe, Ordnung und Sicherheit“ (Stöss 2019, S. 7). Der Primat des Nationalen zeigt sich schon in der Präambel des Grundsatzprogramms – wir wollen „Deutsche sein und bleiben“ – und setzt sich in der Position zur Europäischen Union fort, die man „zu einer Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner, lose verbundener Einzelstaaten“ zurückführen will. Rechtskonservative Wertvorstellungen durchziehen die gesellschaftspolitischen Positionen und werden etwa an der Law-and-Order-Orientierung im Bereich der inneren Sicherheit sowie im traditionellen Familien- und Frauenbild deutlich. Die Betonung von nationaler, ethnischer und kultureller Identität wird in den Positionen zur deutschen Kultur, Sprache und Identität, zum Islam und zur Flüchtlingspolitik deutlich. Hier zeigen sich auch Brücken zum

Konkurrenz am rechten Rand: Die …

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­ echtsextremismus2, die verstärkt werden durch das Agieren von Vertretern R des rechten Rands der Partei, die vor allem im 2015 gegründeten und in der Öffentlichkeit primär durch die thüringischen und brandenburgischen Landesund Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke und Andreas Kalbitz repräsentierten „Flügel“ sowie der Jugendorganisation „Junge Alternative“ organisiert sind. Hier finden sich Funktionäre, die völkisch-nationalistische, migrationsfeindliche, rassistische, antisemitische, islamfeindliche und damit eindeutig rechtsextremistische Argumentationsmuster verwenden. Zu nennen sind hier z. B. die als rassistisch einzustufenden Äußerungen von Höcke über das Fortpflanzungsverhalten von Afrikanern und Europäern und seine antisemitischen Bemerkungen zum Holocaust-Mahnmal in seiner Dresdner Rede vom Januar 2017, die antisemitischen Schriften des baden-württembergischen Abgeordneten Wolfgang Gedeon sowie der ethnisch-kulturelle Volksbegriff des sächsischen Landes- und Fraktionsvorsitzenden Jörg Urban und des stellvertretenden ­baden-württembergischen Landesvorsitzenden Marc Jongen.3 Zudem existieren Verbindungen einer Reihe von AfD-Funktionären zu als rechtsextremistisch eingestuften Organisationen wie z. B. der Identitären Bewegung. All dies hat das Bundesamt für Verfassungsschutz Mitte Januar 2019 dazu veranlasst, den „Flügel“ und die „Junge Alternative“ zum „Verdachtsfall“ zu erheben, da nach einer intensiven Vorprüfung „hinreichend gewichtige Anhaltspunkte“ dafür vorlagen, dass es sich bei diesen Teilorganisationen um extremistische Bestrebungen handelt. Für die Gesamtpartei lagen dem BfV „erste tatsächliche Anhaltspunkte für eine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgerichtete Politik“ vor, die aber „nicht hinreichend verdichtet“ waren, „um eine systematische Beobachtung, auch unter Einsatz n­ achrichtendienstlicher

2Dessen

zentrales Kennzeichen ist der völkische Nationalismus: „Sein Ziel ist die ethnisch, kulturell und sozial möglichst homogene Volksgemeinschaft in einem hierarchisch strukturierten und autoritär verfassten Nationalstaat. Die völkische Komponente hebt die unbedingt zu bewahrenden ethnisch-kulturellen Besonderheiten des eigenen Volkes hervor und betont die Unterschiede zu anderen Völkern bzw. Kulturen. Die nationalistische Komponente erklärt nationale Identität zu einem übergeordneten Wert, die Wahrung und Stärkung des souveränen Nationalstaats zu einem übergeordneten politischen Ziel“ (Stöss 2019, S. 6). 3Zu diesen und weiteren Beispielen vgl. das Ende Januar 2019 von der Nachrichten-Webseite „Netzpolitik.org“ veröffentlichte Gutachten des Verfassungsschutzes zur AfD (https:// netzpolitik.org/2019/wir-veroeffentlichen-das-verfassungsschutz-gutachten-zur-afd/).

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Mittel, einzuleiten. Die Partei wird daher zunächst lediglich als Prüffall bearbeitet.“4 Betrachtet man die Entwicklung der Partei seit ihren Anfängen, so lässt sich eindeutig sagen, dass ihre gesellschaftspolitische Positionierung von Anfang an eine wesentliche innerparteiliche Streitfrage war und dass sie mit der Zeit immer weiter nach rechts gerückt ist.

2 Die Ausgangslage vor der Bundestagswahl 2017 Die AfD wurde im Februar 2013 gegründet.5 Sie konnte in weniger als einem halben Jahr alle formalen und organisatorischen Voraussetzungen für die Teilnahme an der Bundestagswahl im September 2013 erfüllen und verfehlte mit 4,7 % der Stimmen nur knapp den Einzug in den Bundestag (vgl. Abb. 1). Ihr „erfolgreiches Scheitern“ (Niedermayer 2015, S. 181), das mit einer gesteigerten Medienaufmerksamkeit einherging, brachte ihr bis zum Jahresende bundesweite Umfragewerte um die 5 %, dann begann die Wählerunterstützung etwas zu bröckeln. Dies änderte sich wieder mit der Europawahl im Mai 2014, wo sich die Partei nicht nur marktliberal orientierten Gegnern der Eurorettung, sondern auch gesellschaftspolitisch nationalkonservativen Gegnern der Zuwanderungspolitik als Wahlalternative anbot und 7,1 % der Wählerstimmen erreichte. Ein deutlicher Aufschwung in den Umfragen auf der Bundesebene erfolgte jedoch erst, als die AfD bei der sächsischen Landtagswahl Ende August 2014 mit 9,7 % in den ersten Landtag einzog und gleich darauf bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Thüringen Mitte September zweistellige Ergebnisse erzielte. Die Hochphase hielt jedoch nicht lange an, und bis zum Frühsommer 2015 blieb sie bei Werten um die 6 %. Danach sackte sie jedoch auf 3 bis 4 % ab. Eigentlich hätte die AfD stark davon profitieren müssen, dass ihr ursprünglicher Markenkern, die Eurorettung, durch die Eskalation des Schuldenstreits nach der Wahl in Griechenland Ende Januar 2015 wieder in den Vordergrund rückte und ihr zweites Hauptthema, die Flüchtlingsproblematik, schon ab dem Herbst 2014 in der Bevölkerung zum wichtigsten Problem wurde. Dass sie diese Themenkonjunktur nicht in eine steigende Wählerunterstützung ummünzen konnte, war vor allem auf die immer heftigeren und schließlich zur Parteispaltung führenden inhaltlichen und personellen Konflikte innerhalb der Partei zurückzuführen.

4BfV-Gutachten:

Ergebnis der Prüfung (vgl. Anm. 3). und zum gesellschaftlichen Umfeld vgl. z. B. Häusler 2013.

5Zur Vorgeschichte

Konkurrenz am rechten Rand: Die …

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30 25 20 15 10 5 0

Abb. 1   Wahlergebnisse der AfD von 2013 bis 2019 (in Prozent). (Quelle: amtliche Wahlstatistik)

Der inhaltliche Streit um die Positionierung der Partei im Rahmen der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie wurde überlagert durch persönliche Animositäten, die 2015 im Bundesvorstand zu einem offenen Machtkampf zwischen zwei der drei Parteisprecher – Bernd Lucke und Frauke Petry – führten. Auf einem Parteitag Anfang Juli 2015 entschieden die radikalen Kräfte die Vorstandswahlen für sich. Bernd Lucke trat daraufhin aus der AfD aus und etwa 20 % der Mitglieder folgten ihm. Nach der Spaltung sackte die weiter nach rechts gerückte AfD unter ihren neuen Vorsitzenden Frauke Petry und Jörg Meuthen in den Umfragen ab. Kurz darauf erhielt sie jedoch wieder deutlichen Auftrieb, als sie sich nach der Entscheidung im Kanzleramt in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015, die in Budapest festsitzenden Flüchtlinge nach Deutschland zu holen, allein auf die Kritik an der Flüchtlingspolitik konzentrierte und sie zum neuen Markenkern machte. Der dramatische Anstieg der Flüchtlingszahlen in den nächsten Monaten führte zu einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft, und da sowohl die Grünen als auch die Linkspartei in der Flüchtlingspolitik auf der Seite der Regierungsparteien standen, hatte die AfD ein Alleinstellungsmerkmal und zog damit diejenigen Wähler an sich, die ihrem Protest gegen diese Politik Ausdruck verleihen wollten.

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Hinzu kamen 2016 eine Reihe von Ereignissen – die Silvesternachtübergriffe in Köln, die Landtagswahlen im März, bei denen die AfD zweistellige Ergebnisse erzielte und in Sachsen-Anhalt sogar zur zweitstärksten Partei wurde, und terroristische Anschläge im In- und europäischen Ausland – die der Partei in den Umfragen weiter Auftrieb verschafften. Weder das Zerbrechen der b­aden-württembergischen Landtagsfraktion an Antisemitismusvorwürfen gegen einen ihrer Abgeordneten, was auch zur Eskalation des schon Monate andauernden neuen Machtkampfes zwischen den beiden Bundesvorsitzenden Petry und Meuthen führte, noch die Aufdeckung einer Reihe von Verbindungen von ­AfD-Funktionären zu als rechtsextrem eingestuften Gruppen und Organisationen schadete der Partei 2016 gravierend: Sie erreichte das ganze Jahr über zweistellige Umfragewerte.

3 Die Bundestagswahl 2017: Wahlkampf und Wahlergebnis6 Am Anfang des Wahljahres 2017 ging die Wählerunterstützung der AfD zurück und erreichte im Frühjahr 2017 nur noch einstellige Werte. Schuld waren – auf dem Hintergrund abnehmender Flüchtlingszahlen und der restriktiveren Flüchtlingspolitik der Bundesregierung – der andauernde innerparteiliche Führungsstreit und vor allem eine Rede des Rechtsaußen der Partei, des thüringischen Landesund Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke, Mitte Januar in Dresden. Diese Rede erhielt eine starke Medienaufmerksamkeit und wurde von Medien und Politik vor allem wegen der Passagen einhellig scharf kritisiert, in denen Höcke – offensichtlich unter Anspielung auf das Holocaustmahnmal in Berlin – von einem „Denkmal der Schande“ sprach, Deutschland eine „dämliche Bewältigungspolitik“ attestierte und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ forderte.7 Aufgrund der Rede beriet der Bundesvorstand am 24. Januar über einen Parteiausschluss Höckes, der einerseits die im Wahlkampfkonzept verabschiedete Linie, sich deutlicher gegen Rechtsaußen abzugrenzen, konterkarierte, andererseits aber der

6Der Abschnitt

ist eine überarbeitete und gekürzte Version von Niedermayer 2018, S. 15 ff. gesamten Rede im Wortlaut vgl. „Höcke-Rede im Wortlaut: ‚Gemütszustand eines total besiegten Volkes‘“, in: Der Tagesspiegel online vom 19. Januar 2017, http://www. tagesspiegel.de/politik/hoecke-rede-im-wortlaut-gemuetszustand-eines-total-besiegtenvolkes/19273518.html (Aufruf am 22.1.2017).

7Zur

Konkurrenz am rechten Rand: Die …

111

Anführer des völkisch-nationalistischen Flügels innerhalb der AfD war, der nach Schätzungen zu dieser Zeit 20 bis 30 Prozent der Parteimitglieder mit Schwerpunkt in den ostdeutschen Landesverbänden hinter sich hatte. Treibende Kraft für einen Ausschluss war die Co-Vorsitzende Frauke Petry, die sich noch Mitte 2015 mit Höcke gegen Bernd Lucke verbündet hatte, sich nun aber immer stärker für eine Abgrenzung der AfD gegenüber dem äußersten rechten Rand einsetzte. Ihre Gegner setzten zunächst durch, dass gegen Höcke nur Ordnungsmaßnahmen eingeleitet werden sollten. Am 13. Februar beschloss der Bundesvorstand jedoch mit Zweidrittel-Mehrheit, einen Antrag auf seinen Parteiausschluss zu stellen, der damit begründet wurde, dass aus der Dresdner Rede eine extremistische, mit Bezügen zum Nationalsozialismus versehene Grundhaltung zu entnehmen sei, die den Zielen der AfD diametral widerspräche. Die Folgen der Rede für die Partei waren nicht nur ein Rückgang der Wählerunterstützung, weil damit für viele bürgerliche (Protest-)Wähler eine rote Linie überschritten war, sondern auch eine Reihe von Mitgliederaustritten und der Verlust vieler gesellschaftlicher Verbindungen und mehrerer Großspender. Zu den Folgen gehörte jedoch auch, dass der innerparteiliche Führungsstreit weiter eskalierte und die innerparteilichen Gegner Petrys massiv gegen sie mobilisierten. Schon am 8. Februar hatte der Bundesvorstand einen gegen Petry gerichteten Grundsatzbeschluss gefasst, dass es keine einzelne Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl geben und durch eine Mitgliederbefragung entschieden werde sollte, welches Team die AfD in den Wahlkampf führt. Da bis zum Ablauf der Bewerbungsfrist am 20. Februar jedoch keine Bewerbungen eingingen, sollte die Entscheidung auf dem Parteitag im April fallen. Der gesamte Februar war durch den heftigen und andauernden innerparteilichen Streit um den Höcke-Ausschluss geprägt und auch in den nächsten Monaten gab die Partei in der Öffentlichkeit ein desolates Bild ab. Anfang März stellte die Partei den Entwurf des Wahlprogramms vor, der in zentralen Punkten den Mitgliedern vorgelegt worden war, wobei in den meisten Fragen eine bemerkenswerte Einigkeit herrschte. Im ökonomischen Teil versuchte man sich dabei am Spagat zwischen den marktliberalen Wurzeln und einem fürsorgenden Staat in der Sozial- und Familienpolitik, in der Außen- und Sicherheitspolitik plädierte man für möglichst viel Eigenständigkeit, in der Gesellschaftspolitik für den Primat der deutschen Leitkultur. Zu kritischen Diskussionen in den Medien führten vor allem Forderungen zu einer negativen Nettozuwanderung und Ausbürgerung von kriminellen Flüchtlingen. Bei den Entscheidungen zur Kandidatenaufstellung setzten sich in einigen Landesverbänden Petrys Gegner durch. In ihrem eigenen Landesverband Sachsen wurde sie zwar zur Spitzenkandidatin gewählt, auf Platz zwei wählte der Landesparteitag aber

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den als ultrarechts geltenden Richter Jens Maier, den Petry eigentlich aus der Partei werfen wollte. Vor dem Parteitag am 22./23. April wollte Petry mit einem Antrag zur strategischen Ausrichtung eine Grundsatzentscheidung über den Kurs der AfD erzwingen. Die Partei sollte sich für den „realpolitischen Weg einer bürgerlichen Volkspartei“ mit dem Ziel, koalitionsfähig zu werden und mitzuregieren, entscheiden und der „fundamentaloppositionelle Strategie“ ihrer Gegner eine Absage erteilen. Ihre Gegner interpretierten dies als konstruiertes, künstliches Auseinanderdividieren von Positionen innerhalb der Partei und eine Telefonkonferenz der Landesvorsitzenden forderte Petry auf, ihren Antrag zurückzuziehen. Diese antwortete mit einem zweiten Antrag zur Ergänzung des Grundsatzprogramms, in das der Satz aufgenommen werden sollte, in der AfD sei für „rassistische, antisemitische, völkische und nationalistische Ideologien kein Platz“. Kurz darauf ging ein Antrag des Landesverbands Bremen ein, in dem dazu aufgefordert wurde, den Antrag des Vorstands auf Ausschluss von Höcke durch Parteitagsbeschluss aufzuheben. Kurz vor dem Parteitag gab Petry bekannt, dass sie für die Spitzenkandidatur nicht zur Verfügung stehe. Auf dem Parteitag selbst, bei dem der Führungsstreit die inhaltlichen Diskussionen über die Verabschiedung des Wahlprogramms überlagerte, entschieden die Delegierten, weder die Anträge Petrys noch den Höcke-Antrag aus Bremen zu diskutieren. Damit folgten sie weiter der Strategie, ein möglichst breites Spektrum von national-konservativ bis rechtsextrem orientierten Wählern anzusprechen, was aber immer weniger gelang, wie die Abwärtsbewegung in den Umfragen bis zur Jahresmitte zeigte. Zu Spitzenkandidaten für den Wahlkampf wurden Alexander Gauland und die bisher vor allem durch ihre marktliberalen Positionen gekennzeichnete Alice Weidel gewählt. Mitte Juni wurde von der Dresdner Staatsanwaltschaft die Aufhebung der Immunität Petrys wegen einer mutmaßlichen Falschaussage im November 2015 als Zeugin vor dem Wahlprüfungsausschuss des sächsischen Landtags beantragt. Anfang Juli geriet ihr Machtkampf mit Meuthen durch gegenseitige Beschuldigungen über Eingriffe in das Privatleben endgültig auf die persönliche Ebene, Petry nahm an Konferenzen des Parteivorstands nicht mehr teil, moderatere AfD-Mitglieder gründeten die Interessengemeinschaft „Alternative Mitte“ zur innerparteiliche Vernetzung der national- bzw. rechtskonservativen Kräfte, es gab interne Querelen über die Ausrichtung der Wahlkampagne, der Wahlkampf lief holprig, die Partei wirkte strategisch unentschlossen und hatte ihr großes Wahlkampfthema noch nicht gefunden. Dies wurde ihr dann von außen geliefert, als das bei den Wählern zwar immer noch sehr relevante aber etwas aus dem Blick geratene Flüchtlingsthema in der Schlussphase des Wahlkampfes

Konkurrenz am rechten Rand: Die …

113

wieder deutlich stärker in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion geriet. Die Zuspitzung der Situation auf der Mittelmeerroute im Juli, der Versuch von Martin Schulz Ende Juli, die Flüchtlingssituation zum Wahlkampfthema für die SPD zu machen, die Hervorhebung des Themas im TV-Duell und den anderen Wahlsendungen: all dies rückte die Flüchtlingsfrage bei den Wählern wieder nach vorne und bescherte der AfD wieder steigende Umfragewerte. Zudem hielten sich beide Spitzenkandidaten an die Wahlkampfstrategie, Medienaufmerksamkeit durch gezielte Provokationen und Grenzüberschreitungen zu erzeugen, wobei die nachfolgende öffentliche Empörung der AfD anscheinend nicht schadete, sondern durch eine Art Solidarisierungseffekt ihrer Anhänger gegen die „Altparteien“ und die „Lügenpresse“ eher nutzte. Bei der Bundestagswahl am 24. September 2017 landete die AfD schließlich mit 12,6 % der Stimmen hinter der Union, die mit 32,9 % das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Geschichte einfuhr, und der SPD, die mit 20,5 Prozent auf das schlechteste Ergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte abstürzte, auf dem dritten Platz und errang im Bundestag 94 der insgesamt 709 Mandate, davon 3 Direktmandate. Der FDP gelang mit 10,7 % ein come back, die Linkspartei und die Grünen konnten sich mit 9,2 bzw. 8,9 % nur geringfügig verbessern. Im Westen der Republik (einschließlich Berlin-West) erhielt die AfD 10,7 Prozent der Zweitstimmen und kam damit auf den 4. Platz, in Ostdeutschland (einschließlich Berlin-Ost) wurde sie mit 21,9 % der Stimmen hinter der CDU (27,6 %) zur zweitstärksten Partei. In Sachsen wurde die AfD mit 27,0 % der Stimmen knapp vor der CDU sogar zur stärksten Partei. In den anderen vier ostdeutschen Bundesländern wurde sie die zweitstärkste Partei. Den geringsten Wählerzuspruch fand die AfD sowohl bei der Bundestags- als auch bei den vorhergegangenen Landtagswahlen (vgl. Abb. 1) in den nordwestlichen Bundesländern Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Die Wahlbeteiligung stieg gegenüber 2013 um 4,7 Prozentpunkte auf 76,2 %. Das war seit 1953 die höchste Steigerung, die es bei Bundestagswahlen gegeben hat. Davon profitierten alle Parteien, jedoch in sehr unterschiedlichem Maße. Mit Abstand am besten gelang die Nichtwählermobilisierung der AfD, die per Saldo 1.200.000 Stimmen hinzugewinnen konnte (vgl. Infratest dimap 2017, S. 67).8 Dies war ein wesentlicher Grund für ihr gutes Abschneiden.

8Die Angaben über die Wählerströme wurden anhand der Daten aus den Wählerwanderungsbilanzen von Infratest dimap berechnet. Zum Verfahren vgl. z. B. Merz und Hofrichter 2013.

114

O. Niedermayer

Tab. 1   Bundestagswahlen: Wahlentscheidung für die AfD nach politischer Herkunft/ Zusammensetzung der AfD-Wählerschaft nach politischer Herkunft (in Prozent) Wahlentscheidung BTW 2013

Zusammensetzung BTW 2017

BTW 2013

BTW 2017

CDU/CSU

2

5

14

18

SPD

2

4

9

9

GRÜNE

2

1

4

1

DIE LINKE

7

11

17

7

FDP

7

2

21

2

AfD 2013



69



24

Sonst. P.

16

25

20

12

Quelle: eigene Berechnungen mit Daten aus den Wählerwanderungsbilanzen von Infratest dimap

Die AfD mobilisierte aber nicht nur in hohem Maße ehemalige Nichtwähler, sie nahm auch allen anderen Parteien Wählerinnen und Wähler weg. In welchem Ausmaß dies für die einzelnen Parteien der Fall war, zeigt die Tab. 1, die zunächst die Wahlentscheidung für die AfD bei den Bundestagswahlen 2013 und 2017 nach der politischen Herkunft ihrer Wählerinnen und Wähler angibt. Dabei wird nicht auf die absoluten Stimmen abgestellt, wie dies in den Kommentaren zu den Wählerwanderungen meist geschieht. Um zu verdeutlichen, wie sehr die AfD einer anderen Partei geschadet hat, sind die absoluten Stimmen aber nicht geeignet. Daher wurde in der Tabelle berechnet, wie viel Prozent der Wählerschaft einer Partei bei der jeweils letzten Wahl diesmal AfD gewählt haben.9 Bei der Bundestagswahl 2013 haben jeweils 7 % der FDP- bzw. Linksparteiwähler von 2009 ihr Kreuz bei der AfD gemacht, während es bei den drei anderen Parteien nur jeweils 2 % waren. Dass die AfD weit überdurchschnittlich frühere Wähler der FDP und der Linken gewinnen konnte, lag primär an ihrer kritischen Haltung zur Eurorettungspolitik, die von vielen Wählern der FDP und der Linken geteilt wurde. Die Linkspartei hatte zwar im Bundestag die Beschlüsse zur Eurorettung abgelehnt, kommunizierte den Wählern im Wahlkampf aber kein schlüssiges Alternativkonzept. Die damalige stellvertretende Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht sah sogar „viele Überschneidungen“ der AfD mit der

9Es ist z. B. ein wesentlicher Unterschied, ob sie z. B. 100.000 Stimmen von einer Partei abzieht, die bei der letzten Wahl 2 Mill. oder nur 200.000 Wählerinnen und Wähler hatte.

Konkurrenz am rechten Rand: Die …

115

Position der Linkspartei, da diese „in vielen Punkten … mit ihrer Kritik an der derzeit praktizierten Eurorettung recht“10 habe. Die damalige Regierungspartei FDP war parteiintern in dieser Frage zeitweise so zerstritten, dass es Ende 2011 sogar zu einem Mitgliederentscheid über die Haltung zum Europäischen Stabilitätsmechanismus kam, der nur knapp wegen Nichterfüllung des notwendigen Quorums scheiterte. Bei der Bundestagswahl 2017 nahm die AfD der Union im Saldo knapp 1 Mill. Stimmen ab, was gut 5 % ihrer Wählerschaft von 2013 entsprach. Die SPD verlor im Saldo gut 4 % ihrer Wählerinnen und Wähler von 2013. Den weitaus höchsten Anteil an Wählern verlor jedoch mit knapp 11 % die Linkspartei an die AfD. Der FDP schadete die AfD diesmal weit weniger als 2013 und die Grünen blieben auch 2017 von einer Wählerwanderung zur AfD weitestgehend verschont. Von den Wählerinnen und Wählern, die 2013 die AfD gewählt hatten, wählten 69 % auch 2017 die AfD. Diese sogenannte Haltequote liegt damit etwas höher als der 66 % betragende Schnitt aller Parteiwähler, was bei einer so jungen Partei, wo eigentlich mit einer relativ großen Fluktuation zu rechnen wäre, erstaunlich ist. Nicht vergessen werden darf, dass die AfD bei allen Bundestags- und Landtagswahlen eine sehr starke Sogwirkung auf diejenigen Wählerinnen und Wähler entwickelte, die bei den jeweils vorhergehenden Wahlen eine der ‚Sonstigen‘, also der in der Regel nicht im Bundestag oder den Landtagen vertretenen Kleinstparteien, gewählt hatten. Bei der Bundestagswahl 2017 wählte im Saldo ein Viertel dieser Wähler die AfD. Neben inhaltlichen Gründen, z. B. bei den Kleinstparteien des rechten Randes, und Protestwahlverhalten hat für die Wählerinnen und Wähler von Kleinstparteien sicherlich auch die Tatsache eine Rolle gespielt, dass mit der AfD eine Partei antrat, der in den Umfragen vor der jeweiligen Wahl das Überschreiten der 5 %-Hürde vorhergesagt wurde, sodass die eigene Stimme diesmal etwas zählte. Neben der bisher behandelten Frage, in welchem Maße die AfD den anderen Parteien geschadet hat, kann mit den Daten der Wählerwanderungsbilanzen auch die Frage beantwortet werden, wie sich die AfD-Wählerschaft zusammensetzt, d. h. wie groß die Anteile der früheren Wähler anderer Parteien, der früheren Nichtwähler und der bei der letzten Wahl im Wahlgebiet nicht Wahlberechtigten sind. Bei der Bundestagswahl 2013 stellten die früheren Wähler der FDP mit 21 % und der „Sonstigen“ mit 20 % die größten Anteile der AfD-Wählerschaft,

10Zit.

n.: „Die AfD hat in vielen Punkten recht“, n-tv-Interview mit Sahra Wagenknecht vom 29. April 2013, http://www.n-tv.de/politik/Die-AfD-hat-in-vielen-Punkten-rechtarticle10546126.html; (Abruf am 4. 5. 2013).

116

O. Niedermayer

gefolgt von Linkspartei und Union, während ehemalige Grünen-Wähler nur 4 % der AfD-Wählerschaft ausmachten (vgl. Tab. 1). Bei der Bundestagswahl 2017 hat sich dies deutlich geändert. Die Wählerinnen und Wähler, die schon 2013 die AfD gewählt haben, und die ehemaligen Nichtwähler stellen jetzt je etwa ein Viertel der AfD-Wählerschaft, gefolgt von ehemaligen Unionswählern mit 18 %. Ehemalige FDP-Wähler stellen nun nur noch einen sehr geringen Anteil der ­AfD-Wählerschaft und auch der Anteil der ehemaligen Linksparteiwähler ist deutlich geringer. Was bringt Wählerinnen und Wähler mit so unterschiedlicher politischer Herkunft dazu, für die AfD zu stimmen? Zunächst einmal erscheint es plausibel, dass eine Partei, die Leute mit völkisch-nationalistischer Gesinnung und rassistisch motivierter Fremdenfeindlichkeit in ihren Reihen hat, natürlich Wähler anzieht, die ein rechtsextremistisches Weltbild haben. Um abzuschätzen, wie groß der Anteil der AfD-Wählerschaft ist, die ein solches Einstellungsmuster aufweist, wurde 2016 im Rahmen einer allgemeinen Bevölkerungsumfrage ein schon 2004 von einer Expertengruppe entwickeltes Messinstrument eingesetzt, das die Dimensionen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Chauvinismus, Befürwortung eines rechtsextremistisch ausgerichteten Diktatur und Verharmlosung des Nationalsozialismus einem rechtsextremistischen Einstellungspotenzial zurechnete.11 Laut dieser Umfrage wiesen 9 % der Gesamtbevölkerung12 ein rechtsextremistisches Einstellungspotenzial auf, bei den AfD-Anhängern waren es dreimal so viele, nämlich 28 %. Einerseits wird somit deutlich, dass die AfD Wähler mit einem rechtsextremistischen Weltbild anzieht, andererseits hatte jedoch zumindest 2016 – neuere Daten existieren nicht – die Mehrheit der AfD-Wählerschaft kein solches Einstellungsmuster und ein beträchtlicher Teil hatte bei den vorhergehenden Wahlen eine üblicherweise als „links“ verortete Partei gewählt. Eine pauschale Charakterisierung der AfD-Wähler als rechtsextreme Gesinnungstäter ist somit nicht gerechtfertigt. Einen plausiblen Ansatz zur Erklärung des Verhaltens eines Großteils der AfD-Wählerschaft bietet dagegen die sogenannte Protestwahlthese (vgl. hierzu schon Falter und Schumann 1993).

11Zur

theoretischen Konzeptualisierung und Operationalisierung des Konzepts sowie zu den empirischen Ergebnissen der Umfrage vgl. Niedermayer und Hofrichter 2016, S. 278 ff. 12Eine Umfrage von 2008 mit dem selben Messinstrument kam auf 10 %, und eine Reihe von Studien von 2002 bis 2012 mit einer etwas abweichenden Operationalisierung kam zu fast identischen Ergebnissen (vgl. Decker et al. 2012, S. 54).

Konkurrenz am rechten Rand: Die …

117

Das gängige Wahlverhaltensmodell geht davon aus, dass das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger durch drei Faktoren geprägt wird: durch zwei kurzfristige Faktoren, die Einstellungen gegenüber den Spitzenkandidaten der Parteien und den relevanten Sachthemen, und einen langfristigen Faktor, die feste, auch gefühlsmäßige Bindung an eine Partei. Diejenigen Wähler, die ihr Wahlverhalten an den inhaltlichen Themen ausrichten, tun dies auf zwei Arten: Entweder sie informieren sich mehr oder minder gründlich über das gesamte Angebot in wichtigen Politikbereichen und geben derjenigen Partei ihre Stimme, die ihnen inhaltlich dann insgesamt am nächsten steht. Oder es gibt für sie ein wesentliches, alles andere überstrahlendes Thema, an dem sie ihr Wahlverhalten ausrichten. Dann wählen sie entweder diejenige Partei, der sie die größte Kompetenz zur Lösung dieses Problems zuschreiben. Oder sie sind mit der Politik der bisher von ihnen gewählten Partei in diesem Bereich nicht einverstanden und verpassen ihr einen Denkzettel, indem sie aus Protest eine andere, die Gegenposition vertretende Partei wählen. Dieses Protestwahlverhalten, also eine Partei nicht zu wählen, weil man von ihr gänzlich überzeugt ist, sondern weil man von anderen Parteien enttäuscht ist und denen einen Denkzettel verpassen will, ist bis zu einem gewissen Grad bei allen Parteien zu beobachten. Unter der AfD-Wählerschaft gibt es aber doppelt so viele Protestwähler wie unter den Parteiwählern insgesamt: Bei den Wahlen auf der Bundes- und Landesebene von der Bundestagwahl 2013 bis zur Bundestagswahl 2017 gaben im Durchschnitt 32 % der Parteiwähler insgesamt und 63 % der AfD-Wähler an, die jeweilige Partei nicht gewählt zu haben, weil sie von ihr überzeugt sind, sondern weil sie von anderen Parteien enttäuscht sind.13 Die Ursache der Enttäuschung ist dabei eindeutig auszumachen: Für die ­AfD-Wählerschaft waren alle Landtagswahlen nach dem Herbst 2015 und auch die Bundestagswahl 2017 so etwas wie Referenden über die Flüchtlingspolitik. Ihre diesbezüglichen Positionen waren eindeutig von Kritik, Ablehnung, Ängsten vor „Überfremdung“ und Benachteiligungsgefühlen geprägt. Dabei gab es unterschiedliche Motivlagen. Für bürgerliche Wähler aus der Mittelschicht kam der Grenzübertritt von hunderttausenden Flüchtlingen und Merkels Kommentar, man sei zur Kontrolle des Zustroms nicht in der Lage, einem Offenbarungseid von Politik gleich, weil zu den konservativen Grundprinzipien die Aufrechterhaltung eines starken Staates gehört, der vor allem der Aufgabe nachkommt, die Sicherheit seines Staatsvolkes nach innen wie nach außen zu gewährleisten, wozu auch die

13Eigene

Berechnungen mit Daten der Infratest dimap Wahltagsbefragungen.

118

O. Niedermayer

Kontrolle darüber gehört, wer über seine Grenzen kommt. Für Wähler aus prekären ökonomischen Verhältnissen, für Wähler mit Abstiegsängsten und für Wähler – vor allem aus Ostdeutschland –, die sich vom Staat benachteiligt und alleingelassen fühlten, produzierte der staatliche Umgang mit den Flüchtlingen das Gefühl einer neuen Form von sozialer Ungerechtigkeit. Diese verband – im Gegensatz zu der traditionellen, mit dem Fokus auf „unten vs. oben“ in Verteilungsfragen allein auf den ökonomischen Sozialstaatskonflikt bezogenen Konzeption – durch den Fokus auf „drinnen vs. draußen“, also Einheimische vs. Flüchtlinge, die ökonomische mit der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie, d. h. vor allem mit soziokulturellen Bedrohungs- und Benachteiligungsgefühlen. Von diesen Wählern wurde argumentiert, dass der Staat für seine eigene Bevölkerung zu wenig getan habe, weil angeblich das Geld dafür fehlte, und nun plötzlich zweistellige Milliardenbeträge für Leute ausgebe, die in Deutschland nichts erwirtschaftet hätten und zudem noch aus anderen Kulturkreisen kämen, sodass man sich zunehmend fremd im eigenen Land fühle. Da half es auch nichts, wenn die Parteien unisono betonten, es gehe durch die Ausgaben für die Flüchtlinge keinem Deutschen schlechter, weil die Leute der Meinung waren, es könnte ihnen ja viel besser gehen, wenn die Flüchtlinge nicht da wären und man das Geld für die eigene Bevölkerung ausgeben würde. Die Tatsache, dass die AfD mittlerweile in allen Landtagen, im Bundestag und im Europäischen Parlament vertreten ist (vgl. Abb. 1), kann daher vor allem auf die schon 2014 beginnende und sich ab dem Herbst 2015 dramatisch verschärfende Flüchtlingskrise und deren gesellschaftliche Folgen zurückgeführt werden. Weder die Union noch die SPD oder die Linkspartei haben auf die beschriebene Kritik eines Teils der eigenen Wählerschaft eine überzeugende Antwort gefunden, was dazu beigetragen hat, dass die AfD Anhänger nicht nur in bürgerlichen Kreisen, sondern in immer stärkerem Maße auch unter der Arbeiterschaft fand, wie die beiden nächsten Tabellen zeigen. Wie bei der politischen Herkunft, so lassen sich auch bei der Sozialstrukturanalyse von Parteiwählerschaften zwei Fragestellungen unterscheiden: Zum einen kann danach gefragt werden, von welchen sozialen Gruppen eine Partei überoder unterdurchschnittlich gewählt wird. Zum anderen stellt sich die Frage, wie die Zusammensetzung der Parteiwählerschaft nach sozialen Gruppen aussieht. Beide Blickwinkel sind notwendig, denn aus der Tatsache, dass eine Partei von einer bestimmten sozialen Gruppe deutlich überdurchschnittlich gewählt wird, lässt sich nicht einfach schließen, dass diese Gruppe die Parteiwählerschaft dominiert, denn dies ist von der Größe der Gruppe in der Gesamtwählerschaft abhängig.

Konkurrenz am rechten Rand: Die …

119

Nach den Landtagswahlen vom März 2016 gerieten diese Fragen vor allem dadurch in die öffentliche Diskussion, dass die AfD bei den Arbeitern und Arbeitslosen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt stärkste Partei wurde. Kommentiert wurde dies in den Medien mit der Aussage, die AfD wandle sich von der „Professoren- zur Prekariats-Partei“14. Wohl auch aufgrund der Landtagswahlergebnisse justierte die Partei im Rahmen ihrer Arbeit am Entwurf des Grundsatzprogramms die wirtschafts- und sozialpolitische Ausrichtung neu. Die Tab. 2 verdeutlicht, dass die Affinität der Arbeiterschaft zur AfD mit der Zeit deutlich zugenommen hat: Im vierten Quartal 2013 bekundeten bundesweit im Durchschnitt 4 % der Gesamtheit der Wahlberechtigten mit Parteipräferenz, für die AfD stimmen zu wollen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre, bei den Arbeitern waren es auch 4 %. Schon ein Jahr später wollten jedoch überdurchschnittlich viele Arbeiter die AfD wählen und bei der Bundestagswahl 2017, wo die AfD insgesamt 12,6 % der Stimmen erreichte, wurde sie von 21 % der Arbeiter gewählt. Was bedeutet dies für die soziale Zusammensetzung der AfD-Wählerschaft? Tab. 3 zeigt, dass bei der Bundestagswahl 2017 bundesweit die Erwerbstätigen zwei Drittel der AfD-Anhänger ausmachten. Unter den erwerbstätigen AfD-Wählern stellten die Arbeiter 29 %, die Angestellten jedoch 52 %. Das ­ bedeutet, dass unter der gesamten AfD-Wählerschaft 19 % von ihrer momentanen beruflichen Stellung her der Arbeiterschaft und 34 % den Angestellten zuzurechnen waren. Natürlich war zu erwarten, dass sich unter den Nichterwerbstätigen, d. h. vor allem den Rentnern/Pensionären und Arbeitslosen, auch frühere Arbeiter befanden. Selbst wenn man unterstellt, dass unter dieser Gruppe dieselbe Verteilung der früheren beruflichen Stellung gegeben war wie bei den Erwerbstätigen, machten die Arbeiter somit nur eine Minderheit der AfD-Wählerschaft aus. Auch zwei weitere Indikatoren sprechen gegen die These von der AfD als Prekariats-Partei bzw. „Partei der kleinen Leute“, wie sie der stellvertretende Parteivorsitzende Alexander Gauland bezeichnete.15 Zum einen äußerten Befragte mit mittlerer Bildung seit Ende 2014 durchweg eine leicht ­überdurchschnittliche

14AfD

wandelt sich von Professoren- zur Prekariats-Partei, in: Die Welt online vom 21. März 2016, http://www.welt.de/153514296 (Abruf am 21. März 2016). 15Zit. n. Köpke, J., AfD will neoliberal sein – und auch für kleine Leute, in: Märkische Allgemeine Zeitung vom 24./25. März 2016, S. 5.

120

O. Niedermayer

Tab. 2   Wahlabsicht bzw. Wahlentscheidung für die AfD nach sozialen Gruppen (%) 4. Qu. 2013

4. Qu. 2014

4. Qu. 2015

4. Qu. 2016

BTW 2017

Gesamt Geschlecht

4

8

8

14

12,6

Männlich

6

10

11

18

15

Weiblich Alter

2

5

4

9

10

18–24 Jahre

4

9

4

6

10

25–34 Jahre

4

7

9

9

14

35–44 Jahre

4

9

9

16

16

45–59 Jahre

4

8

10

18

14

60 Jahre und älter Bildung

4

7

6

14

10

Niedrig

4

7

7

17

14

Mittel

4

9

10

15

17

Hoch Beruf/Tätigkeit (nur Erwerbstätige)

6

7

6

10

9

Arbeiter

4

10

13

24

21

Angestellte

4

7

8

12

12

Beamte

5

9

7

11

10

Selbstständige

5

11

11

16

12

Quellen: 2013–2015: Niedermayer und Hofrichter 2016, S. 271; 2016: Infratest dimap: kumulierte Auswertung des DeutschlandTREND und des MorgenMagazin DeutschlandTREND: N = 8.949; BTW 2017: Infratest dimap: Wahltagsbefragung, N = 91.088 für die Merkmale Alter und Geschlecht, N = 14.177 für die Merkmale Bildung, Tätigkeit und Beruf

­fD-Wahlabsicht, und bei der Bundestagswahl 2017 wählte diese Gruppe A die AfD sogar deutlich überdurchschnittlich und machte knapp die Hälfte der AfD-Wählerschaft aus, während Personen mit niedriger Bildung weniger als ein Viertel stellten. Zum anderen zeigten die kumulierten Auswertungen des DeutschlandTRENDs von Infratest dimap zwischen Herbst 2013 und Frühjahr 2016, dass die ­ AfD-Anhänger verglichen mit allen Wahlberechtigten über ein

Konkurrenz am rechten Rand: Die …

121

Tab. 3   Zusammensetzung der AfD-Anhänger/Wählerschaft nach sozialen Gruppen (%) 4. Qu. 2013

4. Qu. 2014

4. Qu. 2015

4. Qu. 2016

BTW 2017

Männlich

76

71

71

69

62

Weiblich

24

29

29

31

38

18–24 Jahre

10

10

4

3

6

25–34 Jahre

14

13

15

10

15

35–44 Jahre

15

17

16

14

18

45–59 Jahre

26

29

35

35

34

60 Jahre und älter

35

31

30

38

27

Niedrig

27

22

21

29

23

Mittel

35

51

54

49

45

Hoch

38

28

24

22

32

Arbeiter

18

20

23

27

29

Angestellte

63

58

56

53

52

Beamte

6

9

6

6

7

Selbstständige

13

13

15

14

12

Geschlecht

Alter

Bildung

Beruf/Tätigkeit (nur Erwerbstätige)

Quellen: vgl. Tab. 2

leicht überdurchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen verfügten. Auch multivariate Analysen der mit der Prekariatsthese kompatiblen und sehr oft geäußerten „Modernisierungsverliererthese“ kommen zu dem Schluss, dass die für diese Gruppe typischen niedrigen Statuslagen, d. h. geringe Bildung, Tätigkeit als Arbeiter und geringes Einkommen, keine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit der AfD-Wahlabsicht zur Bundestagswahl 2017 begründen (vgl. Lengfeld 2017). Zwei weitere Ergebnisse der Sozialstrukturanalyse sollen noch hervorgehoben werden: Wie auch bei anderen Parteien des rechten Spektrums, wurde die AfD von Anfang an überdurchschnittlich von Männern gewählt. Bei der Bundestagswahl 2017 war dies etwas weniger deutlich der Fall, aber auch hier machten die

122

O. Niedermayer

Männer 62 % und die Frauen nur 38 % der AfD-Wählerschaft aus. In der Altersverteilung hat sich mit der Zeit der Trend herausgebildet, dass die mittleren Altersgruppen überdurchschnittlich zur AfD-Wahl neigen. Die unterschiedlichen sozialstrukturellen Schwerpunkte der AfD-Wählerschaft unterstreichen noch einmal, dass die AfD Wählergruppen mit sehr unterschiedlichen Wahlmotivationen anzieht, die auch mit unterschiedlichen Positionen in der Sozialstruktur verbunden sind.

4 Die Entwicklung nach der Bundestagswahl Der Tag nach der Wahl begann für die AfD mit einem Paukenschlag. In der ersten Pressekonferenz der Partei verkündete die in ihrem sächsischen Wahlkreis direkt gewählte Frauke Petry überraschend, die Fraktion zu verlassen und trat danach auch aus der Partei aus. Im November 2017 trat sie mit dem offenen Bürgerforum „Blaue Wende“ an die Öffentlichkeit, mit dem das gesellschaftliche Umfeld der formal schon am 17. September 2017 von einem langjährigen Vertrauten Petrys gegründeten Partei „Die blaue Partei“ organisiert werden sollte, mit der Petry an zukünftigen Wahlen teilnehmen wollte. Obwohl neben Petry noch ein weiterer Abgeordneter aus der Fraktion aus und in die neue Partei eintrat, ihr Mann Marcus Pretzell als Parteimitglied bis zur Wahl 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments war und die Partei durch Parteiübertritte von Mandatsträgern auch in mehreren Landtagen vertreten ist, kam sie über den Status einer Splitterpartei nicht hinaus. Zur Europawahl 2019 trat sie nicht an, da die dafür erforderlichen Unterstützerstimmen nicht gesammelt werden konnten, und bei der erstmaligen Landtagswahlteilnahme in Sachsen 2019 mit Petry als Spitzenkandidatin kam sie auf 0,4 % der Stimmen. Der Einzug der AfD in den Bundestag, wo sie auch nach den beiden Austritten mit 92 Abgeordneten die drittstärkste Fraktion insgesamt und die stärkste Oppositionsfraktion bildet, sorgte schon vor der konstituierenden Sitzung am 24. Oktober für Kontroversen. Im vorläufig gebildeten Vor-Ältestenrat stritt man sich um die Sitzordnung im Plenarsaal, da keine Partei neben der AfD platziert werden wollte.16 Die zweite Kontroverse entzündete sich an der wenige Monate vor der Wahl vom Bundestag beschlossenen Änderung der Geschäftsordnung,

16Letztendlich

entschied der scheidende Bundestagspräsident Norbert Lammert am 13. Oktober, dass die FDP auf der rechten Seite zwischen AfD und CDU/CSU sitzen soll, und die FDP beugte sich murrend.

Konkurrenz am rechten Rand: Die …

123

wonach nicht – wie bisher üblich – der nach Lebensjahren sondern der nach Dienstjahren älteste Abgeordnete als Alterspräsident die konstituierende Sitzung leitet. Da sich schon damals abzeichnete, dass die AfD wohl mit dem ältesten Abgeordneten in den Bundestag einziehen würde, ließ sich diese Änderung als „Lex AfD“ und Teil einer Ausgrenzungsstrategie verstehen und stieß – nicht nur bei der AfD – auf Kritik. In der konstituierenden Sitzung blieb der von manchen erwartete große Eklat zwar aus, aber die Debatte wurde deutlich heftiger und parteipolitischer geführt als gewohnt, weil die AfD-Fraktion auf Provokation setzte, sich in die Opferrolle begab und die Ausgrenzung durch die anderen Parteien anprangerte. Gelegenheit dazu gab ihr die Wahl der Vizepräsidenten. Jede der Bundestagsparteien soll laut Geschäftsordnung durch mindestens einen Vizepräsidenten vertreten sein. Der vorgeschlagene Kandidat muss aber von der Mehrheit der Abgeordneten gewählt werden. Die von den beiden Bundestagswahlspitzenkandidaten Alexander Gauland und Alice Weidel geführte AfD-Fraktion nominierte Albrecht Glaser, der jedoch vor allem wegen seiner Äußerungen zum Islam in drei aufeinanderfolgenden Abstimmungen keine Mehrheit erhielt. Da die Fronten auch weiterhin verhärtet blieben, erhielten in den nächsten zwei Jahren drei weitere AfD-Kandidaten keine Mehrheit, sodass der Posten des sechsten Vizepräsidenten bisher nicht besetzt wurde.17 Anfang Dezember 2017 hielt die weiterhin stark zerstrittene Partei ihren Bundesparteitag mit der Neuwahl des Parteivorstands ab. Im Vorfeld war geplant worden, dass nach dem Ausscheiden von Frauke Petry neben dem sich zur Wiederwahl stellenden Jörg Meuthen der eine klare Abgrenzung der Partei nach Rechtsaußen fordernde Berliner Fraktionsvorsitzende Georg Pazderski als Vertreter der Rechtskonservativen zum Co-Vorsitzenden gewählt und Vertreter des völkisch-nationalistischen Flügels dafür bei der Vergabe der Stellvertreterposten berücksichtigt werden sollten. Der Flügel wollte Pazderski aber unbedingt verhindern und schickte überraschend die schleswig-holsteinische Landesvorsitzende Doris von Sayn-Wittgenstein ins Rennen. Nachdem auch im zweiten Wahlgang keine/r der beiden die erforderliche Mehrheit erhalten hatte, wurde – um eine Zerreißprobe zu verhindern – ein Deal geschlossen: Die beiden zogen ihre Kandidatur zugunsten von Alexander Gauland, der zunächst nicht antreten wollte, zurück. Die Verhinderung von Pazderski zugunsten von Gauland, der immer seine schützende Hand über Höcke gehalten hatte, war ein Erfolg des

17Gewählt

wurden im Januar 2018 drei Ausschussvorsitzende der AfD. Der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Stephan Brandner, wurde im November 2019 wieder abgewählt.

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Flügels, andererseits konnte er bei den Wahlen zu den sechs Beisitzerposten mit Andreas Kalbitz lediglich einen seiner Vertreter durchbringen. Insgesamt wurde der Parteitag von den Medien als erneuter Rechtsruck interpretiert, was der Partei in den Umfragen jedoch nicht schadete. Sie blieb zunächst in etwa in der Höhe ihres Wahlergebnisses. Ab dem Februar 2018 konnte sie ihre Umfragewerte sogar leicht steigern, obwohl Chatprotokolle die Nähe zwischen AfD-Politikern und Funktionären der Identitären Bewegung belegten, der damalige sachsen-anhaltinische Landes- und Fraktionsvorsitzenden André Poggenburg beim politischen Aschermittwoch eine türkenfeindliche, rassistische Rede hielt18 und in der Partei erneut das Verhältnis zur fremden- und islamfeindlichen PEGIDA-Bewegung aus Sachsen für Zündstoff sorgte, nachdem aus den ostdeutschen Landesverbänden Forderungen nach einer Aufhebung des im Mai 2016 beschlossenen Kooperationsverbots lauter wurden. Die öffentliche Aufmerksamkeit galt im Februar jedoch nicht der AfD, sondern dem Chaos in der SPD-Führung im Rahmen der Koalitionsbildung mit der Union. Mitte März geriet das Flüchtlingsthema, das 2018 den Umfragen gemäß für die Deutschen weiterhin das wichtigste Problem war, wieder stärker in den öffentlichen Fokus als Horst Seehofer – nun Innenminister – erklärte, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, und kurz danach die Aussetzung der Grenzenlosigkeit innerhalb des Schengen-Raumes in der EU befürwortete, was zu erneuten Unstimmigkeiten mit der Kanzlerin führte. Nachdem im Mai der Skandal um die Bremer Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu einer erneuten öffentlichen Diskussion um die Flüchtlingspolitik geführt hatte, eskalierte im Juni der Streit zwischen Seehofer und Merkel: Merkel lehnte die in Seehofers Masterplan Asyl vorgesehene Zurückweisung von aus sicheren Drittstaaten einreisenden und dort schon registrierten Asylsuchenden strikt ab. Die Bevölkerung stand inhaltlich mehrheitlich auf Seehofers Seite, wie die Umfragen zeigten. Dieser überspannte jedoch den Bogen mit Ultimaten, persönlichen Angriffen auf Merkel und einer kurz danach wieder zurückgenommenen

18Poggenburg,

einer der Initiatoren des Flügels, zog sich – nachdem ihm die Fraktion ihr Vertrauen entzogen hatte – im März aus seinen Landesämtern zurück. Nachdem ihn der Bundesvorstand aufgrund der Verwendung des von den Nationalsozialisten geprägten Begriffs „Volksgemeinschaft“ in seiner Neujahrsbotschaft mit einer zweijährigen Ämtersperre belegt hatte, trat er im Januar 2019 aus der Partei aus und gründete die Partei „Aufbruch deutscher Patrioten – Mitteldeutschland“. Die ADPM sollte sich als ostdeutsche Regionalpartei im Parteiensystem verankern, nahm aber bisher nur an der sächsischen Landtagswahl im September 2019 teil und erreichte dort 0,2 % der Stimmen.

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Rücktrittsdrohung, sodass der ausufernde Streit mit einer erst Anfang Juli sehr mühsam gefundenen Einigung seinem Ansehen deutlich schadete. Ende August wurde in Chemnitz ein Deutscher mutmaßlich durch Flüchtlinge getötet. In der Folge kam es zu einer Reihe von Demonstrationen unter Beteiligung von Rechtsextremisten und AfD-Politikern, Gegendemonstrationen von der linken Seite, einem ausufernden Shitstorm in den sozialen Medien und einer Medienberichterstattung, die sich vor allem auf die rechte Seite konzentrierte und bis hin zum Generalverdacht gegen die sächsische Bevölkerung reichte. Kanzlerin Angela Merkel sprach von einer Hetzjagd auf Ausländer während der rechtsextremen Demonstrationen, was der Präsident des Verfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, öffentlich bezweifelte. Vor allem auf Druck des linken SPD-Flügels forderte daraufhin die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles seinen Rücktritt. Die drei Parteivorsitzenden einigten sich schließlich Mitte September auf Vorschlag Seehofers darauf, Maaßen mit deutlich mehr Gehalt ins Innenministerium zu versetzen, was ein hohes Maß an ­strategisch-politischem Unvermögen in der Einschätzung von Wählerreaktionen offenbarte, die persönlichen Beurteilungen aller drei Parteivorsitzenden abstürzen ließ, ihren Parteien in den Umfragen schadete und aufgrund des öffentlichen Drucks kurze Zeit später zurückgenommen wurde. Die AfD hingegen profitierte in diesen Monaten von der gestiegenen gesellschaftlichen Relevanz ihres Markenkerns und der starken gesellschaftlichen Spaltung und Polarisierung in diesem Bereich.19 Nach dem Umfragehöhepunkt im September 2018 fielen ihre Umfragewerte jedoch wieder ab und erreichten im Februar 2019 wieder das Niveau ihres Bundestagswahlergebnisses. Für den Rückgang der Wählerunterstützung waren mehrere Gründe verantwortlich: Wesentlich war, dass nach der Beendigung des unionsinternen Streits und der Maaßenaffäre das Flüchtlingsthema in der öffentlichen Diskussion von anderen Themen abgelöst wurde. Dies zeigte einmal mehr die Abhängigkeit der AfD-Wählerunterstützung von ihrem Markenkern. Der AfD-Führung war dies durchaus bewusst, und man diskutierte daher im Vorfeld der Verabschiedung des Rentenpakets durch die Bundesregierung Ende August darüber, in diesem Bereich eigenen Akzente zu

19Selbst

die Empörung über die Äußerung Gaulands auf dem JA-Kongress am 2. Juni, Hitler und die Nazis seien nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte, entfaltete wegen des kurz darauf eskalierenden Unionsstreits um die Flüchtlingspolitik keine tief greifende Wirkung.

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setzen, um der SPD ihr Kernthema soziale Gerechtigkeit streitig zu machen. Die innerparteiliche Diskussion des Rententhemas zeigte aber schnell die grundlegenden Differenzen, die es in der Partei zur Frage der Positionierung im Rahmen der ökonomischen Konfliktlinie zwischen staatsinterventionistischen und marktfreiheitlichen Auffassungen gibt: Während wirtschaftsliberale Funktionäre wie der Co-Vorsitzende Jörg Meuthen und die Co-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel eine Abkehr vom zwangsfinanzierten Umlagesystem der Rentenversicherung forderten, wollte vor allem Björn Höcke im Rahmen seines Thüringer Rentenkonzepts der „Staatsbürgerrente“ das Umlagesystem nicht abschaffen, sondern durch hohe Staatszuschüsse anstelle von privater Vorsorge und Kapitaldeckung stärken. Um zu einer einheitlichen Position zu finden, wollte man im Frühjahr 2019 einen Bundesparteitag zum Thema Sozialpolitik abhalten, der in der Folge jedoch mehrfach verschoben wurde. Im Oktober 2018 bestimmten die Landtagswahlen zunächst in Bayern und dann in Hessen die Diskussion, wobei das Augenmerk primär auf den krachenden Niederlagen der in Berlin regierenden Parteien und dem guten Abschneiden der Grünen lag. Die AfD schnitt in Bayern mit 10 % deutlich schlechter ab als die von ihr selbst vorgegebene Zielmarke von 15–20 %, konnte ihren Stimmenanteil aber in Hessen von 4 auf 13 % mehr als verdreifachen. Im November trugen zwei Entwicklungen zu einem Abschmelzen der Wählerunterstützung bei. Anfang des Monats wurde bekannt, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz der Frage nachgeht, ob bei der AfD in hinreichendem Maße extremistische, gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen zu erkennen sind, um sie als „Verdachtsfall“ einzustufen und sie mit nachrichtendienstlichen Mittel zu observieren. Die AfD-Spitze fürchtete, dadurch würden Wähler abgeschreckt, und versuchte daher, sich von allzu radikalen Äußerungen und Mitgliedern zu distanzieren. Schon im September war eine Arbeitsgruppe eingesetzt worden, die sich mit dem Thema Verfassungsschutz befassen und Verhaltensregeln aufstellen sollte, die verhindern sollten, dass die Partei tatsächlich ein Fall für den Inlandsnachrichtendienst wird. Zudem beauftragte man einen emeritierten Staatsrechtler mit einem internen Gutachten, das anhand vieler Beispiele – z. B. der Begriffe „Systemparteien“, „Umvolkung“, „Volkstod“ oder die Verunglimpfung von Flüchtlingen als „Invasoren“ – verdeutlichte, welche Äußerungen in der Praxis der Verfassungsschutzbehörden als Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen angesehen werden. Man setzte auch weitere rechte Vereine auf die Unvereinbarkeitsliste und Mitte Dezember beschloss der Bundesvorstand, gegen die schon Anfang Dezember von der schleswig-holsteinischen Landtagsfraktion ausgeschlossene Landesvorsitzende Doris von Sayn-Wittgenstein ein Parteiausschlussverfahren zu

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beantragen. Hintergrund war deren Werbung für den als rechtsextremistisch eingestuften und auf der Unvereinbarkeitsliste stehenden Verein „Gedächtnisstätte“.20 Ins Visier des Bundesvorstands geriet mit der Forderung nach Ausschluss bestimmter Mitglieder auch die ­AfD-Jugendorganisation, die in einigen Bundesländern schon unter Beobachtung der Landesämter für Verfassungsschutz stand. Bei vielen AfD-Mitgliedern sorgt der zunehmende Druck der Parteispitze gegen den rechten Rand für Unmut. Als Gegenbewegung formierte sich eine Gruppe Parteimitglieder, die sich unter dem Dach eines „Stuttgarter Aufrufs“ allen „Denk- und Sprechverboten“ innerhalb der Partei widersetzten. Mitte November geriet dann die Co-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel durch den Vorwurf unter Druck, ihr Kreisverband habe 2017 unter dem Betreff „Wahlkampfspende Alice Weidel“ 130.000 EUR Spenden von einer Schweizer Firma erhalten, was als illegale Parteispende zu werten ist, da Spenden aus Ländern außerhalb der EU grundsätzlich nicht angenommen werden dürfen. Auch wenn sich der Bundesvorstand hinter sie stellte, verlor sie damit in der Fraktion an Autorität und die Zahl ihrer Gegner stieg. Für die Gesamtpartei, die auch in Finanzierungsfragen immer betont hatte, anders als die „Altparteien“ zu sein, bedeutete die Parteispendenaffäre, dass sie sich jetzt auch in den Fallstricken der Parteienfinanzierung verfangen hatte. Ein weiterer Grund für den Rückgang der Wählerunterstützung könnte die Entwicklung bei der CDU gewesen sein: Nach der Wahlniederlage der CDU bei der hessischen Landtagswahl Ende Oktober verkündete Angela Merkel, auf dem Parteitag im Dezember nicht erneut für den CDU-Vorsitz zu kandidieren. Der folgende innerparteiliche Wahlkampf, in dem alle drei Nachfolgekandidaten in der Flüchtlingspolitik deutlich konservativere Töne anschlugen, ließ die Umfragewerte der CDU steigen während die AfD-Werte gleichzeitig sanken. Daher könnte man vermuten, dass in dieser Zeit einige abgewanderte Protestwähler zur CDU zurückgekehrt sein könnten. Nach der Wahl von Annegret ­Kramp-Karrenbauer zur CDU-Vorsitzenden war der Höhenflug der CDU jedoch zu Ende. Ende Januar 2019 wurde das Gutachten des Verfassungsschutzes mit der Einstufung des Flügels und der Jungen Alternative als Verdachtsfall und der Gesamtpartei als Prüffall bekannt und in der Öffentlichkeit diskutiert. Da dies auf die

20Ende

Juni 2019 wurde Sayn-Wittgenstein dennoch erneut zur Landesvorsitzenden gewählt. Ende August schloss sie das Bundesschiedsgericht aus der Partei aus. Nachdem der Landesvorstand das Urteil zunächst ignoriert hatte, ist der Landesvorsitz jetzt offiziell nicht besetzt.

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Umfragen einen – wenn auch geringen – negativen Effekt hatte, gab es innerhalb der Partei erneut Forderungen nach einer stärkeren Abgrenzung nach rechts außen. Die Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch sagte, die AfD müsse zur bürgerlichen Mitte der Gesellschaft Brücken bauen und könne sich keinen „Narrensaum“ leisten, und der Bundesvize Georg Pazderski forderte Björn Höcke auf „aufzuräumen“. Zudem forderte die Alternative Mitte, den Selbstreinigungsprozess ernsthafter voranzutreiben und sich von Exponenten des Flügels zu trennen. Dies hatte aber keine Aussicht auf Erfolg, da der Flügel zu stark war und man sich die Zugpferde am rechten Rand auch im Hinblick auf die ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst nicht nehmen lassen wollte. Dennoch begann es in der Partei wieder stärker zu kriseln, da in einigen westdeutschen Landesverbänden heftige Richtungs- und Machtkämpfe aufbrachen.21 Zudem zog die Spendenaffäre weitere Kreise: Zum einen wurde bekannt, dass die AfD dem Bundestag in der Affäre um umstrittene Wahlkampfspenden für den Kreisverband von Alice Weidel offenbar eine zumindest in Teilen falsche Spenderliste übermittelt hatte. Zum anderen räumte Jörg Meuthen im März gegenüber der Bundestagsverwaltung erstmals ein, dass er während der baden-württembergischen Landtagswahl 2016 Unterstützungsleistungen von der PR-Agentur Goal AG erhalten habe. Über die tatsächlichen Spender wurden widersprüchliche Angaben gemacht, bei mehreren Personen auf einer eingereichten Liste handelte es sich um Strohleute. Zudem beschäftigte sich die Bundestagsverwaltung auch mit den Verbindungen der Goal AG zu dem Bundesvorstandmitglied Guido Reil, dem die AG 2017 im ­nordrhein-westfälischen Wahlkampf geholfen hatte. Mitte April stellte dann die Bundestagsverwaltung zwei Sanktionsbescheide über gut 400.000 EUR aus, gegen die die Partei vor Gericht zog. Die innerparteilichen Entwicklungen in den ersten Monaten des Jahres 2019 lieferten somit keinen Anlass zur Stärkung der Wählerunterstützung. Dies traf auch für die Europawahl Ende Mai zu (vgl. Niedermayer 2019). Die AfD, die

21Ende Februar zwang der Machtkampf in Baden-Württemberg die Bundesspitze zu Interventionen: Parteichef Meuthen sprach von „einigen komplett rücksichtslosen Radikalen“ in den eigenen Reihen und warnte: „Wer hier seine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ausleben möchte, dem sage ich ganz klar: Sucht euch ein anderes Spielfeld für eure Neurosen!“. Der neugewählte Landesvorsitzende grenzte sich dann klar von den Rechtsaußen ab. Mitte des Jahres kam es in Nordrhein-Westfalen zu einem offenen Machtkampf, der Anfang Oktober durch die Wahl eines „Flügel“-freien Landesvorstands beendet wurde. Auch in Bayern tobte ein heftiger Richtungskampf mit einer Schlammschlacht auf einem Sonderparteitag Ende Juli. Mitte September unterlag die Vertreterin des „Flügels“ ihrer Konkurrentin, erster Vize wurde jedoch ein Flügelmann.

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sich „Aus Liebe zu Deutschland: Freiheit statt Brüssel“ auf die Fahne schrieb, thematisierte im Wahlkampf mit provokanten Sprüchen die aus ihrer Sicht grundlegenden Defizite der heutigen EU wie Migration, Euro und Bürokratie und sprach mit „Denkzettel! Jetzt AfD wählen!“ explizit Protestwähler an. Allerdings hatte sie das Problem, dass sie für ein Europa der Nationen eintrat, also für eine Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner Staaten, und bei Nichtverwirklichung ihrer weitreichenden Vorstellungen einen Austritt Deutschlands aus der EU für notwendig hielt. Diese Position traf angesichts des BrexitStreits, der den Deutschen die möglichen negativen Folgen eines ­EU-Austritts vor Augen führte, in der Bevölkerung auf wenig Zustimmung. Zudem spielte in der öffentlichen Wahrnehmung ein Thema eine immer wichtigere Rolle, dessen Brisanz weder von der AfD noch den anderen Parteien erkannt wurde: der Klimawandel. Getragen vor allem von der hohen Medienaufmerksamkeit für die sogenannten ‚Fridays for Future‘-Demonstrationen, sahen im Laufe des Frühjahrs immer mehr Menschen den Klimawandel als wichtigstes Thema an und letztendlich wurde es zum wichtigsten Problem für die Wahlentscheidung.22 Zudem hatte sich die Reputation der AfD unter der Gesamtbevölkerung weiter verschlechtert, ihr Spitzenkandidat wurde sehr schlecht bewertet und mittlerweile waren vier Fünftel der Deutschen der Ansicht, dass rechtsextremes Gedankengut in der Partei (sehr) weit verbreitet ist, was auf bürgerliche Protestwähler abschreckend wirkte. Bei der Wahl blieb die AfD daher auch unter den eigenen Erwartungen: Sie konnte ihr Ergebnis gegenüber der Europawahl von 2014 zwar um 3,9 P ­ rozentpunkte steigern, verlor aber im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 1,6 Prozentpunkte. Allerdings wurde sie im Osten der Republik mit 21,1 % knapp hinter der CDU zur zweitstärksten Partei. In Brandenburg und Sachsen kam sie sogar auf den ersten Platz. In diesen beiden Ländern fanden am 1. September 2019 Landtagswahlen statt, am 27. Oktober folgte Thüringen. Alle drei Wahlkämpfe waren in der Schlussphase von einer starken Polarisierung zwischen der AfD und der Partei des jeweiligen Ministerpräsidenten – SPD in Brandenburg, CDU in Sachsen und Linkspartei in Thüringen – bestimmt, die letztlich das Rennen um Platz 1 für sich entschied. Die AfD wurde mit Ergebnissen zwischen 23,4

22Nach

der Wahl hat sich die Partei des Themas angenommen und Gauland erklärte Ende September den Kampf gegen die Klimaschutzpolitik der anderen Parteien zum Hauptthema.

130

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(Thüringen) und 27,5 (Sachsen) Prozent überall zur zweitstärksten Partei, was ihr auch eine leichte Steigerung ihrer bundesweiten Umfragewerte einbrachte.23 Die Wahlerfolge der drei vom „Flügel“ dominierten ostdeutschen Landesverbände warfen die Frage auf, wie sich dies in der innerparteilichen Machtverteilung auf der Bundesebene niederschlägt. Auf dem Kyffhäusertreffen des „Flügels“ Anfang Juli hatte Björn Höcke den Bundesvorstand scharf kritisiert und angekündigt, bei den auf dem nächsten Parteitag anstehenden Neuwahlen für eine grundlegende Veränderung zu sorgen. Kurz darauf wandten sich mehr als hundert Mandats- und Funktionsträger in einem parteiinternen Aufruf gegen den exzessiv zur Schau gestellten Personenkult um Höcke und dessen bundesweite Machtansprüche. Die stellvertretenden Bundesvorsitzenden Kay Gottschalk und Georg Pazderski riefen ihn zudem auf, sich der Wahl zum Bundesvorsitzenden zu stellen. Die Personalentscheidungen und die inhaltlichen Positionierungen der Vorstandskandidaten auf dem Parteitag am 30. November und 1. Dezember 2019 zeigten dann, dass der Flügel die Partei nicht schon übernommen hat, wie vorher vielfach zu lesen war, aber die Personalpolitik der Partei nun maßgeblich mitbestimmt. Das zeigte sich zunächst an der Auswahl des Kandidaten, der den Co-Vorsitzenden Alexander Gauland, der sich zukünftig auf seine Aufgaben als Co-Fraktionsvorsitzender konzentrieren wollte, ersetzen sollte. In den Vorgesprächen fiel die Wahl auf den sächsischen Bundestagsabgeordneten Tino Chrupalla, der als nicht dem Flügel angehörender aber von ihm wohl gelittener Kompromisskandidat antreten, als Handwerksmeister ein Gegengewicht zu den Akademikern bilden und den Osten vertreten sollte. Obwohl diese Planung durch die Kandidatur des innenpolitischen Sprechers der Fraktion, Gottfried Curio, durcheinandergebracht wurde, konnte sich Chrupalla in einer Stichwahl mit 54,5 % durchsetzen. Als erster Co-Vorsitzender war vorher erneut Jörg Meuthen gewählt worden, gegen den die vom „Flügel“ unterstützte Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst und als krasser Außenseiter der wegen seiner antisemitischen Aussagen aus der Fraktion ausgeschlossene baden-württembergische

23Nach

den Wahlen wurde die Frage diskutiert, inwieweit die ­AfD-Wählerschaft aus ideologischen Überzeugungswählern – bis hin zu Wählern mit einem rechtsextremistischen Weltbild – oder ökonomisch, kulturell und/oder politisch deprivierten Protestwählern besteht, die den anderen Parteien mit der AfD-Wahl einen Denkzettel verpassen wollten. Die Umfragewerte deuteten darauf hin, dass immer noch die Mehrheit der AfD-Wähler zu den Protestwählern zählt: Bei den drei Wahlen 2019 gaben im Schnitt 54 % (bei den Wahlen 2014: 60 %) der AfD-Wähler an, die Partei gewählt zu haben, weil sie von anderen enttäuscht sind, 38 % (2014: 36 %) weil sie von ihr überzeugt sind (vgl. die Wahlreports von Infratest dimap).

Konkurrenz am rechten Rand: Die …

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­andtagsabgeordnete Wolfgang Gedeon antraten. Meuthen erhielt im ersten L Anlauf 69 % der Stimmen, obwohl er – wie schon vor ihm Alexander Gauland – für eine rasche Regierungswilligkeit und -fähigkeit der AfD warb und betonte, er stehe für eine Partei, die in eine schleichende Tolerierung extremistischer Positionen abzurutschen drohe, nicht zur Verfügung. Als Stellvertreter wurden Alice Weidel, Stephan Brandner und Beatrix von Storch gewählt. Nicht mehr im Vorstand vertreten sind mit Kay Gottschalk, Georg Pazderski, Albrecht Glaser und Uwe Junge wichtige Vertreter des rechtskonservativen Teils der Partei, und im Gesamtvorstand werden dem „Flügel“ jetzt 6 von 14 Mitgliedern zugerechnet.

5 Fazit Die AfD konnte seit 2014 auf allen parlamentarischen Ebenen Fuß fassen. Sie ist seit 2014 im Europäischen Parlament, sei 2017 im Bundestag und seit 2018 in allen 16 Landtagen vertreten. In den vier Ländern, die in diesem Zeitraum zwei Wahlen hatten, konnte sie ihr Ergebnis noch deutlich steigern. Zudem schwankten ihre Umfragewerte auf der Bundesebene zwischen 11 und 18 % und zeigen keinen längerfristigen Trend nach unten. Es ist daher davon auszugehen, dass sich die AfD im deutschen Parteiensystem etabliert hat. Ihre Schwachpunkte bestehen einerseits in der Tatsache, dass sie auf der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie in einer permanenten politischen Gradwanderung den Bereich von konservativen Protestwählern bis hin zu rechtsextremistisch orientierten Überzeugungswählern ansprechen muss, und andererseits in ihrer starken Abhängigkeit von den Entwicklungen im Bereich ihres Markenkerns, der Flüchtlingsfrage. Die Partei hat dies erkannt und versucht im Bereich des neuen Zentralthemas der Bevölkerung, des Klimawandels, die Leugner und Skeptiker anzusprechen, um sich erneut ein Alleinstellungsmerkmal im Parteiensystem zu sichern. In dem Maße, wie das Klimawandelthema zu einer erneuten gesellschaftlichen Spaltung und Polarisierung führt, könnte die AfD dadurch ihre Stellung im Parteiensystem weiter festigen.

Literatur Decker, O., Kiess, J., & Brähler, E. (2012). Die Mitte im Umbruch. Bonn: Dietz. Falter, J. W., & Schumann, S. (1993). Nichtwahl und Protestwahl. Zwei Seiten einer Medaille. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 11, 36–49.

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Häusler, A. (2013). Die „Alternative für Deutschland“ – eine neue rechtspopulistische Partei? Materialien und Deutungen zur vertiefenden Auseinandersetzung. Düsseldorf: Heinrich-Böll-Stiftung Nordrhein-Westfalen. Infratest dimap (2017). Wahlreport Bundestagswahl. Eine Analyse der Wahl vom 24. September 2017. Berlin: Infratest dimap. Lengfeld, H. (2017). Die ‚Alternative für Deutschland: eine Partei für Modernisierungsverlierer? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 69, 209–232. Merz, S., & Hofrichter, J. (2013). Wähler auf der Flucht: die Wählerwanderung zur Bundes-tagswahl 2009. In B. Weßels, O. W. Gabriel, & H. Schoen (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2009 (S. 97–117). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Niedermayer, O. (2015). Eine neue Konkurrentin im Parteiensystem? Die Alternative für Deutschland. In O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2013 (S. 175–207). Wiesbaden: Springer VS. Niedermayer, O. (2018). Die Aufsteiger: Die Alternative für Deutschland. Berlin: ­Konrad-Adenauer-Stiftung. Niedermayer, O. (2019). Von der ‚nationalen Nebenwahl‘ zur „europäisierten Wahl“? Die Wahl zum Europäischen Parlament vom 26. Mai 2019. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 50, 691–714. Niedermayer, O., & Hofrichter, J. (2016). Die Wählerschaft der AfD: Wer ist sie, woher kommt sie und wie weit rechts steht sie? Zeitschrift für Parlamentsfragen, 47, 267–284. Stöss, R. (2019). Europa rückt weiter nach rechts. Berlin: Fu-Berlin ­­ (file:///E:/PubKollegen/e-books/Stöss-2019-Rechter-Rand-Europawahlen-2019.pdf).

Die FDP zwischen Wahlerfolgen, Regierungsflucht und Stagnation Benjamin Höhne und Uwe Jun

1 Einleitung: die FDP nach ihrem Comeback zur Bundestagswahl 20171 Bei der Bundestagswahl 2017 glückte der FDP die Rückkehr in den Bundestag, dem sie seit 2013 für eine Legislaturperiode nicht angehört hatte (zu den Ursachen der Wahlniederlage 2013 siehe Jun 2015; vgl. auch Zur 2017). So erhielt der politische Liberalismus seinen angestammten Hort im deutschen Parteiensystem zurück. Macher des Erfolgs war in wesentlichen Teilen Christian Lindner. Er hatte der Partei mit 10,7 % der Zweitstimmen den Wiedereinzug in den Bundestag gesichert. Kontinuierlich hatte er als Vorsitzender des Bundesvorstands, der als „alleiniges Machtzentrum“ (Glock 2017, S. 192) gelten kann, die Partei wiederaufgerichtet und ihr ein frisches Image verschrieben. Unterstützt von

1Dieser

Beitrag basiert auf einem gründlich überarbeiteten, aktualisierten und erweiterten Aufsatz mit dem Titel: „Die Wiederauferstehung der FDP“ im Sammelband von KarlRudolf Korte & Jan Schoofs (Hrsg.): Die Bundestagswahl 2017. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung, 2019 im Verlag Springer VS erschienen.

B. Höhne (*)  Institut für Parlamentarismusforschung, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] U. Jun  Fach Politikwissenschaft, Universität Trier, Trier, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Jun und O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29771-8_5

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B. Höhne und U. Jun

Beratungsfirmen und Agenturen wurden so u. a. das Parteilogo, die ­Parteifarben (magentafarbener Hintergrund ergänzt die alte blau-gelbe Farbgebung), der medienwirksame Auftritt und die Selbstbezeichnung geändert (siehe Lindner 2017, S. 167 f.). Ein „jugendlich-hippes, freches Flair“ (Hilmer und Gagné 2018, S. 384) sollte den Wandel der FDP zur unbequemen und in die Zukunft weisenden Partei der bürgerlichen Modernisierung unterstreichen. Neben dem traditionellen bürgerlichen Mittelstand und Sozialstaatsskeptikern sollten somit jüngere, urbane, den Zukunftstechnologien zugewandte Wähler gewonnen werden. Der Darstellung der Partei wurde in diesem Kontext besondere Aufmerksamkeit im Erneuerungsprozess geschenkt; kommunikative Aspekte erlangten hohe Bedeutung (vgl. Freckmann 2018, S. 26 f.). Doch beließ es die Partei nicht ausschließlich auf Imagekorrekturen, sondern sie nahm auch die in dieser Abhandlung zentral zu behandelnden programmatischen, organisatorischen und personellen Veränderungen vor, die darauf ausgerichtet waren, eine bürgerliche Alternative zu den drei Parteien der Großen Koalition darzustellen. Dazu bot ihr die Modernisierung der Positionen der CDU im Parteienwettbewerb hin zur politischen Mitte in der sozio-ökonomischen wie sozio-kulturellen Wettbewerbsdimension (siehe Näheres zu beiden Wettbewerbsdimensionen Bukow und Jun 2017) eine solche Chance, und diese konnte die FDP entsprechend nutzen. Sie konzentrierte sich folgerichtig weiterhin auf ihre bisherige Domäne der Wirtschafts- und Finanzpolitik mit der Verteidigung marktwirtschaftlicher Prinzipien (siehe Jakobs und Jun 2018), angereichert mit Schwerpunktsetzungen auf den Zukunftsfeldern Digitalisierung und Bildung. In der Migrations- und Flüchtlingspolitik nahm sie eher „eine konservative Position ein, vergleichbar mit der Migrationspolitik der liberal-konservativen niederländischen VVD“ (Franzmann 2018, S. 161). Damit war in beiden Wettbewerbsdimensionen eine Abgrenzung zur CDU für bürgerliche Wähler erkennbar. Wie üblich für eine außerparlamentarische Oppositionspartei begann die FDP ihren Erfolgsweg auf Länderebene, und zwar mit den Regionalwahlen in den beiden Hansestädten Hamburg und Bremen im Jahr 2015, denen weitere in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg im Jahr 2016 und schließlich – ganz wesentlich – in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen im Bundestagswahljahr folgten. In Rheinland-Pfalz gelang gleich der Sprung direkt von der Straße in die Regierung der dortigen Ampelkoalition (mit SPD und Bündnisgrünen); in Nordrhein-Westfalen (mit der CDU) und in Schleswig-Holstein (mit CDU und Bündnisgrünen) kam die FDP aus der Rolle der parlamentarischen Opposition heraus.

Die FDP zwischen Wahlerfolgen, Regierungsflucht …

135

Die Erfolge der personalisierten Wahlkämpfe in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein wie auch steter Rückenwind für den Parteikurs in Bevölkerungsbefragungen seit Anfang 2016 (siehe Abb.  1) bestärkten die Liberalen darin die Kampagne zur Bundestagswahl auf ihren Vorsitzenden zu zentrieren. Der Erfolg gab ihnen recht: Jeder vierte FDP-Wähler votierte wegen des Spitzenkandidaten für die Liberalen – für eine kleinere Partei ein „bemerkenswert hoher Kandidatenfaktor“ (Hilmer und Gagné 2018, S. 401), wie ihn 2017 keine der anderen Wettbewerber unter den kleineren Parteien vorweisen konnte. Neben Lindners Anziehungskraft konnte die FDP bei wahltaktischen Wählern punkten: Jene, die entweder keine Große Koalition bevorzugten und/ oder die FDP im Rennen um Platz 3 hinter den Unionsparteien und der SPD favorisierten, machten ihr Kreuz bei der FDP (siehe Hilmer und Gagné 2018). Nach der Bundestagswahl 2017 fand der Aufwärtstrend der FDP nur noch gebremst oder mit Rückschlägen statt (siehe Tab. 1, zu den Ursachen siehe den folgenden Abschnitt). Bereits bei der drei Wochen danach abgehaltenen Landtagswahl in Niedersachsen erzielte sie nur 7,5 % der Stimmen. Genauso schnitt sie ein Jahr später bei der Wahl des hessischen Landesparlaments ab, lag dort 12

BTW 17 FDP: 10,7%

BTW 13 FDP: 4,8%

10

8

6

4

2

Dez. 19

Mrz. 20

Jun. 19

Sep. 19

Dez. 18

Mrz. 19

Jun. 18

Sep. 18

Dez. 17

Mrz. 18

Jun. 17

Sep. 17

Dez. 16

Mrz. 17

Jun. 16

Sep. 16

Dez. 15

Mrz. 16

Jun. 15

Sep. 15

Dez. 14

Mrz. 15

Jun. 14

Sep. 14

Mrz. 14

Sep. 13

Dez. 13

0

Abb. 1   Demoskopische Zustimmung zur FDP bei der Sonntagsfrage, 2013 bis 2020. (Quelle: eigene Darstellung nach Forschungsgruppe Wahlen/Politbarometer; recherchiert auf: www.wahlrecht.de, Abruf: 16.04.2020)

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B. Höhne und U. Jun

Tab. 1   Wahlergebnissen der FDP nach der Bundestagswahl 2017 Landtagswahl Niedersachsen

Datum

Wahlergebnis der FDP (%)

15.10.2017

7,5

Landtagswahl Bayern

14.10.2018

5,1

Landtagswahl Hessen

28.10.2018

7,5

Europawahl

26.05.2019

5,4

Landtagswahl Bremen

26.05.2019

6,0

Landtagswahl Brandenburg

01.09.2019

4,1

Landtagswahl Sachsen

01.09.2019

4,5

Landtagswahl Thüringen

27.10.2019

5,0

Quelle: Bundeswahlleiter; recherchiert auf www.bundeswahlleiter.de, Abruf: 25.11.2019

aber immerhin noch gut zwei Prozentpunkte über ihrem Ergebnis der Landtagswahl in Bayern (5,1 %), die zwei Wochen zuvor stattgefunden hatte. Bei der Wahl der Bremischen Bürgerschaft und des Europäischen Parlaments im Mai 2019 erzielte sie 6,0 bzw. 5,4 % der Stimmen. Ein vorläufiges Ende des Aufschwungs brachten die Wahlen im Herbst 2019 im Osten der Republik. In Brandenburg und Sachsen scheiterte sie an der Fünf-Prozent-Sperrklausel. In Thüringen gelang ihr die Rückkehr in den Landtag nur äußerst knapp. Nach dem amtlichen Endergebnis übersprang sie die Hürde mit, je nach Berechnungsmethode, zwischen 73 und 77 Stimmen.2 Generell sind die ostdeutschen Bundesländer ein für die FDP schwieriges Pflaster. Beispielsweise war sie im Freistaat Thüringen bisher nur in drei Legislaturperioden parlamentarisch vertreten (1990–1994, 2009–2014 und seit 2019).

2Nach

dem amtlichen endgültigen Wahlergebnis kam die FDP auf 55.493 von 1.108.388 gültigen Listenstimmen. Dies entspricht 5,00664 %. Ausgehend von den 1.108.388 Listenstimmen ist die Fünf-Prozent-Hürde ab 55.420 Stimmen übersprungen. Dementsprechend konnte die FDP 73 Stimmen mehr als nötig auf sich vereinen. Nimmt man jedoch an, dass jeder fiktive FDP-Wähler weniger gar nicht gewählt hätte und somit die Zahl der insgesamt gültigen Listenstimmen gesunken wäre, dann hätte die Mindestanzahl 55.416 Listenstimmen betragen und die FDP 77 Stimmen über der Sperrgrenze erzielt; Quelle: eigene Berechnung nach: Der Landeswahlleiter Thüringen 2019.

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2 Programmatische Neuaufstellung als Programmpartei? Christian Lindner hat sich seit der Übernahme des Parteivorsitzes Ende 2013 darum bemüht, die FDP programmatisch weicher zu zeichnen und inhaltlich zu verbreitern. Der Tenor lautete: Man wollte den Menschen Mut machen, ihre individuellen Chancen betonen und ihnen vermeintliche Angst vor Freiheit und Eigenverantwortung nehmen, auch und gerade angesichts von Unwägbarkeiten der Zukunft (siehe Buschmann o. J., S. 8 f.). Dahinter lässt sich nicht nur eine Strategie zur Wählerstimmenmehrung ausmachen, sondern auch zur koalitionspolitischen Öffnung, um die einseitige Ausrichtung auf die Unionsparteien als Koalitionspartner zu überwinden, wie sie lange Zeit prägend war, aber 2013 zum Wahldesaster beitrug (vgl. Niedermayer 2015, S. 128). Diese Haltung war vor Lindners Amtsübernahme schon partiell spürbar, als die Partei langsam begann, sich von einer einseitigen Fokussierung auf wirtschaftsliberale Themen mehr und mehr zu lösen (vgl. Vorländer 2013, S. 391). So enthält das Grundsatzprogramm von 2012 auch Aussagen zu „eher linksliberalen Prinzipien wie Fairness, Emanzipation oder Toleranz“ (Jun 2015, S. 129). Unbedingt verhindert werden sollte seither eine neuerliche Etikettierung als Partei des Schmalspur-Wirtschaftsliberalismus. Dennoch ist vieles beim Alten geblieben und von Kontinuität gekennzeichnet. Liberale Positionen in den Themenfeldern Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik bilden nach wie vor das Kernprofil der FDP (vgl. Treibel 2014; Anan 2017, 2019; Franzmann 2019). Einzelne Themen aus diesen Politikfeldern werden jedoch nicht mehr einseitig hervorgehoben, sodass gesellschaftspolitische Positionen dafür in den Hintergrund treten oder nicht mehr erkennbar würden. Unter der Führung Lindners sind markt-radikale Stimmen seltener zu vernehmen, ähnlich wie er auch dezidiert EU-skeptische Positionen vermeidet. Im Bereich der Umweltpolitik traf Lindner zuletzt nicht den richtigen Ton als er im Kontext der ­Fridays-For-Future-Bewegung über Twitter empfahl, das Thema „Klimaschutz“ den „Profis“ zu überlassen (siehe Montag 2019a, S. 4). Im 2015 abgeschlossenen Leitbildprozess der FDP wurden klassisch liberale Positionen im Feld der Wirtschaftspolitik immer wieder betont, die aber mit bisher für die Partei eher randständigen bildungs- und gesellschaftspolitischen Positionen verbunden wurden (vgl. Glock 2017, S. 181, 190). Die Ergebnisse des die Partei seither prägenden innerparteilichen Diskurses wurden auf dem 66. Ordentlichen Bundesparteitag im Mai 2015 verabschiedet (siehe Beschluss des 66. Ordentlichen Bundesparteitags der FDP). Gefordert wurde neben ­„weltbester

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B. Höhne und U. Jun

Bildung für jeden“, Selbstbestimmung „in allen Lebenslagen“ oder „Freiheit und Menschenrechte weltweit“ auch eine „Politik, die rechnen kann“, ein „unkomplizierter Staat“ und das „Vorankommen durch eigene Leistung“. Auf dem 67. Ordentlichen Bundesparteitag im April 2016 wurde der Leitantrag zum Thema „Chancen der digitalen Gesellschaft“ verabschiedet. Auch im Bundestagswahlprogramm von 2017 sind diese Schwerpunktsetzungen erkennbar (siehe Freie Demokraten 2017). Zum zeitlosen Wertefundament der FDP gehören das Eintreten für politische Freiheit, Wettbewerb, Leistung, Rechtsstaatlichkeit und Eigenverantwortung des Individuums, ganz wie es für die ideologische Strömung des Liberalismus typisch ist (vgl. von Beyme 2013; Franzmann 2012). Die Liberalen bekennen sich ausdrücklich zur Sozialen Marktwirtschaft (vgl. bspw. Vogel 2017), wobei sie stärker als die Mitglieder der anderen Bundestagsparteien die marktwirtschaftlichen Aspekte in den Vordergrund stellen (siehe Abb. 2). Diese grundsätzlichen Wertvorstellungen spiegelt eine Befragung des Instituts für Parlamentarismusforschung unter aktiven Parteimitgliedern im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 wider (#BuKa2017) (siehe Schüttemeyer/Pyschny 2020). Demnach tendieren die FDP-Positionen auf der sozioökonomischen Konfliktachse des deutschen Parteiensystems am weitesten nach rechts, d. h. in Richtung einer möglichst wenig staatlich regulierten Marktwirtschaft. Auf der soziokulturellen Achse weisen sie nach oben, d. h. zu libertären Werthaltungen, wenngleich ein stück weit weniger ausgeprägt als bei der Linken und den Grünen (siehe Abb. 2). In koalitionspolitischer Hinsicht ist von Bedeutung, dass die FDP bei diesen zentralen politischen Wertvorstellungen ihrer aktiven Mitglieder (zusammen mit der SPD) im Schnitt am wenigsten weit von den anderen Bundestagsparteien entfernt ist (siehe Abb. 4 im Anhang). So betrachtet bringt sie gute Voraussetzungen für die Wahrnehmung einer Scharnierfunktion im Parteiensystem mit. Die innerparteilichen Anstrengungen zur Neujustierung der Programmarbeit können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die FDP bisher als eine Partei wahrgenommen wurde, für die das Streben nach politischer Gestaltung (policy-seeking) nicht immer an erster Stelle stand (vgl. Butzlaff 2017). ­ Mindestens genauso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger, war die Übernahme von Regierungsämtern (office-seeking). Tatsächlich verfügt die FDP nach den beiden Unionsparteien über die längste Regierungserfahrung im Bund. Umso überraschender war deshalb wahrscheinlich für den einen oder anderen Beobachter die Entscheidung des Parteivorsitzenden, aus den Sondierungsgesprächen zur Bildung einer schwarz-gelb-grünen Koalition im November 2017 auszusteigen (siehe dazu Siefken 2018, S. 412‒415).

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Abb. 2   Ideologische Verortung der FDP im Vergleich zu den anderen Bundestagsparteien. (Quelle: Schüttemeyer/Höhne 2019, S. 15, N = 7663, für detaillierte Informationen zum IParl-Projekt #BuKa2017 siehe: www.iparl.de)

Die schon in den Wahlprogrammen zum Ausdruck gekommenen programmatischen Unterschiede finden sich im Sondierungspapier in großer Zahl wieder (vgl. auch Jakobs und Jun 2018): Darin sind die vielfältigen Dissenspunkte zwischen den vier Parteien hervorgehoben; insbesondere in den für deren Identität jeweils zentralen Politikfeldern Umwelt und Energie, Familie, Migration, Verkehr sowie Finanzen stechen die zwischenparteilichen Differenzen hervor (siehe Ergebnis der Sondierungsgespräche 2017). Das Motiv der FDP für den Abbruch der Verhandlungen liegt auf der Hand: Das gerade erst wiedererlangte Vertrauen bei den neu hinzugewonnenen Wählern wollte die Parteiführung nicht zugunsten von Koalitionskompromissen aufs Spiel setzen, von denen nicht klar war, ob sie zustande kommen und wie tragfähig sie im Regierungsalltag sein könnten. Allerdings hatte das Scheitern der Sondierungsgespräche und insbesondere die Art und Weise des Abbruchs zur Folge, dass die

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B. Höhne und U. Jun

FDP gerade bei taktischen Wählern wieder an Boden verlor (siehe Abb. 1; Tab. 1 weiter oben). Aus Sicht Lindners war das Ende der Gespräche folgerichtig. Da er nicht mit Gegenwind aus seiner Partei rechnen musste, folgte anschließend auch keine Zerreißprobe für die Liberalen. Der Stärkung der geläuterten Marke FDP wurde größere Priorität eingeräumt als der Übernahme staatspolitischer Verantwortung mit ungewissem Ausgang. Die Liberalen mussten in der Tat befürchten, dass der mühsame programmatische Regenerationsprozess der vergangenen Jahre bei einem Eintritt in die Bundesregierung ad absurdum geführt, liberale Positionen in Kompromisspaketen von vier Regierungsparteien unkenntlich geworden wären, da entweder die CSU oder die Bündnisgrünen mit ihren Vorstellungen recht weit von der FDP entfernt lagen (siehe Abb. 2 und 4). Tatsächlich wurde der FDP nach koalitionspolitischen Entscheidungen in den Jahren 1969 und 1982 nicht nur Wankelmut bescheinigt. Handfeste Folgen waren Abwanderungen von Wählern und namhaften Mitgliedern, selbst aus den Führungsetagen der Partei, Profilaufweichungen und der Verlust der beiden Flügel, zuerst der nationalliberale und später der sozialliberale Flügel (vgl. Dittberner 2010, S. 228, 277‒296; Schubert 2013, S. 107). In der 2009 gebildeten schwarz-gelben Bundesregierung wurde das programmatische Profil der FDP, nicht zuletzt durch viel eigenes Dazutun, erheblich in Mitleidenschaft gezogen (vgl. Bieber und Roßteutscher 2014, S. 19, 22 f.). Vollmundig im Wahlkampf in Aussicht gestellte Steuererleichterungen und Steuersystemvereinfachungen konnten nicht durchgesetzt werden (vgl. Decker 2015, S. 210; Butzlaff 2017, S. 184 f.). Kompetenzzuweisungen seitens der Bevölkerung bei den Themen Arbeitsmarkt, Wirtschaft und Steuern brachen während ihrer bisher letzten Regierungszeit im Bund drastisch ein (siehe Vorländer 2014, S. 288; Niedermayer 2015, S. 106‒108). Inzwischen haben sich die Werte in diesen Politikfeldern wieder etwas erholt, wobei der Aufwärtstrend am deutlichsten in der Fiskalpolitik erscheint (siehe Tab. 2). So konstatieren die Demoskopen der Forschungsgruppe Wahlen (2017, S. 2) mit Blick auf die Ergebnisse einer Bevölkerungsbefragung unmittelbar vor der Bundestagswahl im September 2017 eine „nie dagewesene Imagekorrektur“. Ein für die FDP noch vorteilhafteres Bild bietet sich bei Bildung/Schule und Digitalisierung. Auf die zu Beginn des Jahres 2017 in einer anderen Befragung gestellte Frage, welcher Partei man am ehesten zutraue, „Deutschland in der Digitalisierung voranzubringen“, votierten 24 % für die FDP. Damit lag sie mit deutlichem Abstand vor allen anderen Parteien.

Die FDP zwischen Wahlerfolgen, Regierungsflucht …

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Tab. 2   Policy-Kompetenzen der FDP aus Sicht der Bevölkerung, 2017 FDP (%)

Andere Parteien im Vergleich

Arbeitsmarkt

6

CDU/CSU: 38 %, SPD: 21 %

Wirtschaft

5

CDU: 46 %, SPD: 21 %

Steuern

11

CDU: 23 %, SPD: 26 %

Bildung/Schule

9

CDU/CSU: 28 %, SPD: 22 %, Grüne: 8 %

Digitalisierung

24

CDU/CSU: 19 %, SPD: 18 %, Grüne: 10 %, AfD: 6 %

Quelle: Arbeitsmarkt-, Wirtschafts-, Fiskal- und Bildungspolitik: Politbarometer (Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen), Befragung im September 2017; Digitalisierung: Meinungsforschungsinstitut Civey, Befragung Ende Januar/Anfang Februar 2017

Die Themen Bildung und Digitales wurden in der Kampagne der FDP zur Bundestagswahl 2017 besonders betont; im Wahlprogramm bilden sie die beiden ersten Schwerpunkte (siehe FDP 2017, S. 20–36). Die Bildungspolitik sollte angesichts eines weltweiten Wettbewerbs um exzellent ausgebildete Menschen grundlegend reformiert werden. Gefordert wurden u. a. mehr Zuständigkeiten für den Bund, was sicherlich mutig war, da ihre Durchsetzung einen schwerwiegenden Eingriff in die institutionelle Architektur des deutschen Bildungsföderalismus bedeutet hätte. Widerstand nicht nur der Bundesländer, sondern auch vonseiten der Unionsparteien, die sich als Garant der Bildungskompetenz der Länder sehen, war vorauszusehen. Aber da sich Lindner und sein Verhandlungsteam gegen eine Regierungsbeteiligung entschieden hatten, konnte daraus keine schwer einlösbare Bringschuld erwachsen. Bei der Profilsuche im Themenfeld Digitales kam ihr veränderte Wettbewerbssituation im Parteiensystem zugute. Schließlich war dieses Thema nach der Marginalisierung der Piratenpartei parteipolitisch zunächst nirgendwo sonst mehr beheimatet (zu den digitalpolitischen Positionen der Parteien im Vergleich siehe König 2018).

3 Organisationsreformen der FDP im Kontext elektoraler Konjunkturen Organisationsreformen begleiten Parteien üblicherweise über ihren ganzen Lebenszyklus hinweg (vgl. Patton 2015, S. 180 f.). Dabei lassen sich Phasen größeren Reformeifers von solchen unterscheiden, in denen dieser weniger

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ausgeprägt ist. Als wichtiges Ereignis für das Initiieren eine Reform gelten existenzielle Krisen wie Wahlniederlagen (vgl. Gauja 2016). Die FDP hatte bereits die Oppositionsphase im Bund zwischen 1998 und 2009 zur Regeneration genutzt und ihren Zweitstimmenanteil bei jeder Bundestagswahl in diesem Zeitraum gesteigert. Jedoch oder gerade deswegen blieb die angestrebte Aufpolierung des Images zu einer „jungen, dynamischen und unverbrauchten Partei“ (Vorländer 2007, S. 277) auf halber Strecke stehen. Weitgehende parteiinterne Strukturveränderungen waren nicht vorgenommen worden. Offenbar hatte der Problemdruck nachgelassen. Der erzwungene Abschied aus dem Bundestag nach der desaströsen Wahl im September 2013 duldete keinen neuerlichen Aufschub für eine grundlegende Organisationsreform. Eine Parteireform, die diesen Namen verdient, war das Gebot der Stunde. Dabei lassen sich neben den bereits erwähnten kosmetischen Marketingmaßnahmen, wie dem gelifteten Logo oder einem leicht veränderten Parteinamen (Freie Demokraten, FDP), zwei Hauptstoßrichtungen ausmachen: erstens die Re-Professionalisierung des durch Wahlniederlagen angezählten Parteiapparats und zweitens die Ausweitung von innerparteilichen Partizipationsinstrumenten. Zunächst musste die Partei lernen, mit weniger bezahltem Personal und einem deutlich eingeengten finanziellen Spielraum auszukommen. Die Anzahl aller liberaler Mandatsträger – im Europäischen Parlament, Bundestag und in den 16 Landesparlamenten zusammengenommen – halbierte sich am 22. September 2013 von 211 auf 104 (siehe Abb. 3). An jenem Schicksalstag gingen nicht nur 93 Bundestagsmandate verloren, sondern zusätzlich 14 Parlamentssitze in Hessen, wo der Landtag neu gewählt worden war. Immerhin hatte die FDP mit 5,0 % gerade noch den Verbleib im Wiesbadener Parlament gesichert. Alsbald darauf mussten ca. 500 Mitarbeiterstellen v. a. der einstigen Bundestagsfraktion und in den Wahlkreisbüros gestrichen werden (siehe Niedermayer 2015, S. 127; Patton 2015, S. 179). Zudem dezimierte sich die Mitgliederzahl der FDP erheblich: Zwischen Ende 2009 und Ende 2015 betrug der Schwund 18.919 Mitglieder (siehe Tab. 3). Somit verlor sie in nur sechs Jahren gut ein Viertel ihrer Mitglieder. Dies führte in Verbindung mit den Wähler- und Mandatsträgerverlusten zu erheblichen finanziellen Einbußen, ist doch die staatliche Parteienfinanzierung an das Abschneiden bei Wahlen sowie das Aufkommen an Spenden, wozu auch die Mandatsträgerbeiträge gezählt werden, und Mitgliedsbeiträgen geknüpft. Die Trendwende begann im Jahr 2016 (zur demoskopischen Aufwärtskurve seit Anfang 2016 siehe Abb. 1 weiter oben). Die Mitgliederzahl stieg in jenem Jahr erstmals wieder an, allerdings nur um 1,3 % gegenüber dem Vorjahr. Im Jahr

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Abb. 3   FDP-Mandatsträger auf Europa-, Bundes- und Landesebene, 2013 bis 2020. (Quelle: eigene Berechnung nach Angaben der Landeswahlleiter und des Bundeswahlleiters)

Tab. 3   Mitgliederentwicklung der FDP, 2008 bis 2018 Jahr

Mitgliederzahl

Entwicklung zum Vorjahr (in %)

2008

65.600



2009

72.116

9,9

2010

68.541

2011

63.123

−5,0

2012

58.675

2013

57.263

2014

54.967

2015

53.197

2016

53.896

2017

63.050

17,0

2018

63.912

1,4

−7,9 −7,0 −2,4 −4,0 −3,2 1,3

Quelle: eigene Darstellung und Berechnung nach Niedermayer 2019, S. 390

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B. Höhne und U. Jun

danach, dem Bundestagswahljahr 2017, legte sie gegenüber dem Vorjahr satte 17 % zu. Mit 63.050 Mitgliedern war die FDP damit wieder ungefähr genauso groß wie im Jahr 2011. Auch die Abgeordnetenzahl erholte sich 2016 spürbar, wobei diese Entwicklung bereits mit der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft im Mai 2015 einsetzte, bei der der FDP der Wiedereinzug gelungen war. Mit der Landtagswahl in Schleswig-Holstein im Mai 2017 wurde die Marke von 100 Mandatsträgern erreicht. Seit der vergangenen Bundestagswahl verantworteten 183 Landtags-, Bundestags- und Europaabgeordnete das parlamentarische Erscheinungsbild der FDP. Zuletzt wuchs die Zahl nach der Landtagswahl in Thüringen im Oktober 2019 auf insgesamt 206 an. Jedoch wurde die Anzahl der Mandatsträger vor der Bundestagswahl 2013 bisher immer noch nicht wieder erreicht (siehe Abb. 3). 1. Re-Professionalisierung des Parteiapparats: Nach der verlorenen Bundestagswahl 2013 wurde eine strenge Rosskur auf den Weg gebracht, gesteuert über die Achse Düsseldorf-Berlin. Lindner war von 2012 bis 2017 Fraktionsvorsitzender der nordrhein-westfälischen FDP, dem zusammen mit Baden-Württemberg mit ca. 17.000 Mitgliedern einflussreichsten Verband innerhalb der Bundespartei (vgl. Korte et al. 2018, S. 100; siehe auch Tab. 4 weiter unten). Für die Wahlkampfkampagne zur Bundestagswahl 2017 wurde auf sein Betreiben hin eine auf drei Jahre befristete Sonderumlage der Landesverbände für den Bundesverband beschlossen, sodass in etwa genauso viel Geld zur Verfügung stand wie zur Bundestagswahl 2013 (siehe Montag 2015, S. 3 f., 8 f., 13). Diese nach einer kontroversen innerparteilichen Debatte beschlossene Maßnahme, wie auch die der Kreisverbände zugunsten der Landesverbände, haben Lindners Autorität in der Partei untermauert. Überhaupt haben sich die Reihen hinter ihm geschlossen. Will man es auf eine griffige Formel bringen, galt zunächst, ‚Not schweißt zusammen‘, anschließend „Erfolg schafft Loyalität“ (Maron 2018, S. 42). Mitarbeiterstellen in der traditionell eher unterfinanzierten Bundesgeschäftsstelle, 2017 in Hans-Dietrich-Genscher-Haus umbenannt, wurden abgebaut (siehe Patton 2015, S. 190). Bei den Landtagswahlkämpfen mussten Einsparpotenziale identifiziert und genutzt werden. Kosten wurden auch bei den Bundesparteitagen reduziert. Seit 2013 fanden sie bei nur einer Ausnahme (2014 in Dresden) alle in einer zu einem Veranstaltungsort umfunktionierten früheren Fabrikhalle in Berlin Kreuzberg statt. Gegenüber teureren Tagungsorten strahlt sie Charme des Unkonventionellen, Ungewöhnlichen und Ursprünglichen aus – fügt sich also gut in die neue Imagelinie der Partei – und senkt zudem die Kosten der Teilnahme für

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Tab. 4   Mitglieder-, Delegierten- und Finanzverteilung nach Landesverbänden Landesverband

Mitglieder (2018)

Delegierte auf dem Bundesparteitag (2019)

Mitgliedsbeiträge (2017)

Absolut

Absolut

In Euro

In %

In %

In %

Baden-Württemberg 7529

11,8

89

13,4

1.040.745,82 13,2

Bayern

10,2

84

12,7

805.375,21

6534

10,2

Berlin

3318

5,2

28

4,2

436.112,55

5,5

Brandenburg

1273

2,0

14

2,1

158.605,33

2,0

Bremen

386

0,6

4

0,6

52.816,72

0,7

Hamburg

1497

2,3

15

2,3

267.483,13

3,4

Hessen

6322

9,9

59

8,8

790.651,95

10,1

Mecklenburg-Vorpommern

685

1,0

7

1,2

79.614,85

1,0

Niedersachsen

5957

9,3

60

9,1

648.195,62

8,2

Nordrhein-Westfalen

17.286

27,0

175

26,4

2.212.285,75 28,2

Rheinland-Pfalz

4411

6,9

39

5,9

434.702,28

5,5

Saarland

1000

1,6

8

1,2

109.608,79

1,4

Sachsen

2064

3,2

24

3,6

207.628,27

2,6

Sachsen-Anhalt

1266

2,0

13

2,0

138.361,36

1,8

Schleswig-Holstein 2652

4,1

28

4,2

283.081,51

3,6

2,0

13

2,0

124.219,41

1,6

474 Auslands-/ bundesunmittelbare Mitglieder

Thüringen

1258

0,7

2

0,3

67.729,16

0,9

Gesamt

100

662

100

7.857.217,71 100

63.912

Anmerkungen: eigene Berechnung der Prozentwerte; Stand der Mitgliedsdaten: 31.12.2018; die Delegiertenstimmen der Landesverbände, gültig für den Zeitraum vom 01.05.2017 bis 30.04.2019, berechnen sich aus der jeweiligen Mitgliederzahl am 31.12.2018 und der Wählerstimmenzahl bei der Bundestagswahl am 24.09.2017 (siehe § 13 Abs. 3 Bundessatzung der FDP); die Mitgliedsbeiträge beinhalten auch die nachgeordneten Gebietsverbände des jeweiligen Landesverbands Quellen: Mitgliedsbeiträge aus der Bekanntmachung von Rechenschaftsberichten politischer Parteien für das Kalenderjahr 2017 (BT-Drucksache 19/7000), Niedermayer 2019

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interessierte ­Hauptstadtjournalisten. Jedoch bricht man mit der Zentralisierung der Bundesparteitage nicht nur die eigene Tradition, diese über die gesamte Bundesrepublik verteilt stattfinden zu lassen, sondern riskiert, unter Abgrenzung zu den anderen Parteien, den Rückgang dezentraler Präsenz.Die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit musste angepasst werden. Mit dem Ausscheiden aus dem Bundestag war die mediale Wahrnehmung der FDP merklich zurückgegangen, selbst in satirischen Formaten. In gewissem Maße gelang es aber durch eine geschickte Medienarbeit mit teils unkonventioneller Wähleransprache, insbesondere in sozialen Netzwerken, eigene Themen in die Öffentlichkeit zu transportieren (vgl. Michal 2017, S. 25). Ausgebaut wurde die OnlineKommunikationskompetenz der selbsterklärten Digitalpartei. Schließlich findet Politische Kommunikation heute fast immer (auch) online statt. Sie ermöglicht es, direkt mit den Wählern in Verbindung zu treten, was angesichts der knappen Medienaufmerksamkeit für eine (von vier) Oppositionspartei(en) im Bundestag von Wert bei der Vermittlung von Politikinhalten ist. Sehr aktiv ist die FDP bei Instagram, einem Micro-Blogging-Dienst mit starker audiovisueller Komponente (siehe Schneider 2019). So kann sie eigene Botschaften unter jungen Menschen verbreiten und in dieser Wählergruppe, die ihr in jüngerer Vergangenheit bei Wahlen oft überproportional zugesprochen hat, Bekanntheit und Aufmerksamkeit genieren. 2. Ausweitung innerparteiliche Partizipationsinstrumente: Der zweite wichtige organisatorische Reformstrang betrifft die angestrebte Profilierung als „Mitmachpartei“ (Höhne und Hellmann 2017, S. 50), v. a. durch den Ausbau von Partizipationsrechten und Binnendemokratie. Er beinhaltet im Wesentlichen folgende Punkte: – Jedes Mitglied kann am Bundesparteitag teilnehmen; Rede- und Stimmrecht haben aber nur die Delegierten (§ 13 Abs. 1 Bundessatzung der FDP). – Der Spitzenkandidat bzw. die Spitzenkandidatin zur Bundestagswahl kann durch einen Mitgliederentscheid gewählt werden (§ 21 Abs. 1 Bundessatzung der FDP). Bei den Wahlbewerbern in den Wahlkreisen und auf den Landeslisten erfolgt die Aufstellung unverändert entweder auf einer Mitglieder- oder einer Delegiertenversammlung wie es auch im Bundeswahlgesetz so nur vorgesehen ist.

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– Auch bei der innerparteilichen Willensbildung zu Sachthemen wurde die direkte Demokratie gestärkt. Erstens wurde die Mindestbeteiligungsquote für Mitgliederentscheide herabgesetzt. Findet ein Antrag eine Mehrheit, muss diese mindestens 15 % der zur Abstimmung berechtigten Mitglieder abdecken (§ 21 Abs. 6 Bundessatzung der FDP). Zweitens kann die Stimmabgabe neben der Briefwahl nun auch online oder durch dezentrale Präsenzwahl bzw. in einer Kombination dieser drei Instrumente erfolgen (§ 21 Abs. 4 Bundessatzung der FDP). – Mitgliederbefragungen und -begehren mit konsultativer Funktion; darüber hinaus können Stimmungsbilder der Parteimitglieder in Umfragen bzw. Online-Abstimmungen gewonnen und direkt gegenüber der Bundesspitze zum Ausdruck gebracht werden. Beispielsweise beteiligten sich an einer Online-Mitgliederbefragung im Jahr  ­ 2016 nach Angaben der Bundesgeschäftsstelle ca. 10.000 Mitglieder. – Bundesfachausschüsse, liberale Foren und Kommissionen wurden als Gremien des parteibezogenen Wissensaustausches und -aufbaus gestärkt. Sie verfügen über ein Antrags- und Entschließungsrecht zum Bundesparteitag (§ 22 Abs. 5 Bundessatzung der FDP). – Ausbau digitaler Formate zur Mitgliedereinbindung, insbesondere über sogenannte Apps auf Mobilgeräten (siehe Montag 2019a, S. 6). Diese Bemühungen zur Stärkung der innerparteilichen Demokratie werden jedoch kaum ausreichen, eine „Mitgliederkleinpartei“ (Wiesendahl 2006, S. 27), die bis heute Züge einer Honoratiorenpartei aufweist, in eine Mitmachpartei, wie sie für Parteien typisch ist, die sozialen Bewegungen nahestehen (vgl. Rucht 1987), zu transformieren. Dagegen sprechen zwei Argumente: Erstens überwiegt deutlich die Zufriedenheit unter den aktiven Mitgliedern mit den etablierten Verfahren der innerparteilichen Mitwirkung. So lässt sich das Ergebnis einer Befragung von FDP-Mitgliedern interpretieren, die sich an der Kandidatenaufstellung zur Bundestagswahl 2017 beteiligt hatten: Auf die Frage, wie zufrieden sie „mit dem Angebot an Beteiligungsmöglichkeiten bei der Kandidatenaufstellung“ in ihrer Partei sind, antworteten 28,8 % „sehr zufrieden“ und 54,8 % „zufrieden“, aber nur 13,8 % „weniger zufrieden“ und 2,7 % „gar nicht zufrieden“.3

3N =  1156,

Basissample; für nähere Informationen zur Studie #BuKa2017 siehe die Quellenangaben in der Abb. 2 weiter oben.

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B. Höhne und U. Jun

Zweitens ist die Mitgliederbasis mit knapp 64.000 Mitgliedern eher dünn (siehe Tab. 3). Hinzu kommt die Überalterung. Während der Anteil der bis 30jährigen bei 15 % liegt, sind die Älteren (ab 61 Jahre) überrepräsentiert, auch im Vergleich zur Bevölkerung (siehe Niedermayer 2019, S. 349). Vielerorts ist man froh über jeden, der sich einbringt und Verantwortung übernimmt. Gerade für kleinere Landesverbände mit weniger oder nur etwas mehr als 1000 Mitgliedern (siehe Tab. 4) stellt der fehlende Nachwuchs zunehmend eine Herausforderung für die Aufrechterhaltung der Parteiarbeit an der Basis dar. In Stadtstaaten, wie z. B. Hamburg, mag dies noch handhabbar sein, in ostdeutschen Flächenländern dagegen wie z.  B. Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt gelten erschwerte Bedingungen. Dort kamen bei den Nominierungen der liberalen Wahlkreiskandidaten zur Bundestagswahl 2017 insgesamt nur 112 von 714 Mitgliedern (in den sechs Wahlkreisen ­Mecklenburg-Vorpommerns) bzw. 224 von 1264 Mitgliedern (in den neun Wahlkreisen Sachsen-Anhalts) auf Mitgliederversammlungen zusammen. Dies entspricht einer Partizipationsquote von 15,7 bei der FDP Mecklenburg-Vorpommern und 17,7 % bei der FDP Sachsen-Anhalt.4

4 Personeller Neuanfang über die Landesverbände Bei Wahlen präsentieren sich Parteien den Wählern nicht nur mit ihrem Programm, sondern auch mit Personen. Neben den für den Wahlerfolg besonders wichtigen Spitzenkandidaten der Parteien, die deren äußeres Erscheinungsbild in besonderer Weise prägen, gehören dazu auch die Kandidaten in den Wahlkreisen und auf den Landeslisten, die durch eigene Wahlkampfaktivitäten zur Wahrnehmung ihrer Partei vor Ort bzw. im Bundesland maßgeblich beitragen. Hält der Personalisierungstrend von Politik unvermindert an (vgl. Kaase 1994, S. 213 f.; Jun und Höhne 2007, S. 93 f.), wovon auszugehen ist, wird auch die Bedeutung der Personalauswahl innerhalb des wahrzunehmenden Katalogs an Funktionen der Parteien (vgl. Jun 2013) weiter zunehmen. Insofern scheint es folgerichtig, dass die FDP zur Bundestagswahl 2017 erhebliche Anstrengungen unternommen hat, sich ihren potenziellen Wählern mit möglichst frisch anmutenden Kandidaten zu präsentieren. Entscheidend für den Sprung vom Kandidaten zum Abgeordneten sind bei der FDP die Listen der 16 Landesverbände. Wahlkreiskandidaten haben keine

4Quelle:

IParl-Projekt #BuKa2017; Angaben auf Basis von Niederschriften und der FDPLandesgeschäftsstellen.

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Chance, gewählt zu werden.5 Allerdings wird, wie im deutschen Rekrutierungssystem typisch, auch bei der FDP für eine Listenplatznominierung üblicherweise eine Aufstellung im Wahlkreis vorausgesetzt (vgl. Höhne 2017). So waren alle 2017 gewählten Bundestagsabgeordneten der FDP auch im Wahlkreis nominiert worden. Fasst man die Ergebnisse einer Analyse der Landeslisten zur Bundestagswahl 2017 zusammen (siehe Höhne und Hellmann 2017, S. 33‒45), zeigt sich, dass sich auf den vorderen Plätzen vor allem Personen wiederfanden, die auf Bundesebene bis dahin zumeist unerfahren waren. Dafür hatten sie aber landespolitische Expertise vorzuweisen, vor allem als Landesvorsitzende, Fraktionschefs oder Landtagsabgeordnete. Zu diesem Personenkreis gehörten neben Christian Lindner ­ (Nordrhein-Westfalen) und Wolfgang Kubicki (SchleswigHolstein), u. a. Nicola Beer (Hessen), die 2019 als FDP-Spitzenkandidatin ins Europäische Parlament wechselte, Katja Suding (Hamburg), Lencke Steiner (Bremen), Christian Dürr (Niedersachsen) und Linda Teuteberg (Brandenburg), die 2019 zur Generalsekretärin gewählt wurde. Für das Argument der gelungenen personellen Neuaufstellung spricht, dass von den 93 Abgeordneten, die nach der Wahl 2013 den Bundestag verlassen mussten, lediglich 17 im September 2017 ein Comeback gelungen ist. Diese gehörten 2013 nicht zum Spitzenpersonal; sie kandidierten eher auf hinteren Listenplätzen für den Bundestag. Insofern stehen sie auch weniger mit der elektoralen Negativ-Performanz ihrer Partei in Verbindung, was innerparteilich als Makel wahrgenommen werden konnte. Die amtierende Bundestagsfraktion wird von Politikern dominiert, die aufgrund ihrer politischen Professionalität nicht lange gebraucht haben dürften, um den Politikbetrieb in der Hauptstadt mitzugestalten. Die zügig hergestellte Arbeitsfähigkeit der Fraktion hat aber auf der Landesebene eine Kehrseite. Dort haben seither Mitglieder das Ruder in der Hand, die bisher kaum bekannt sind. Aufgrund der wiedererlangten liberalen Präsenz im Bund haben sie es nicht gerade leicht, daran etwas zu ändern. Betrachtet man die aktuelle Bundestagsfraktion im Hinblick auf ihre soziostrukturelle Zusammensetzung lässt sich festhalten, dass sie im Vergleich zur zwischen 2009 und 2013 amtierenden zwar nicht weiblicher, dafür aber etwas jünger geworden ist. 2013 betrug der Frauenanteil 24,7 % (23 von 93), 2017 nur noch 23,8 % (19 von 80) (siehe Feldkamp 2018, S. 211). Das Durchschnittsalter

5Während

1949 noch zwölf, 1953 immerhin 14 und 1957 nur noch ein Liberaler ein Direktmandat erringen konnte, wurde 1990 mit Uwe Lühr der bis heute letzte FDP-Kandidat direkt in den Bundestag gewählt.

150

B. Höhne und U. Jun

sank nach Angabe des Parlamentsarchivs des Deutschen Bundestages von 47,6 auf 45,5 Jahre. Damit ist die FDP-Fraktion die im Mittel jüngste im Bundestag. Ihr jüngstes Mitglied wurde 1992 geboren, ihr ältestes 1940. Beim Vergleich der damaligen mit der heutigen Fraktion ist jedoch relativierend einzubeziehen, dass 2009 mit dem Zweitstimmenergebnis von 14,6 % und einer Abgeordnetenstärke von 93 Männern und Frauen ein historischer Rekord erzielt wurde. Demnach konnten wahrscheinlich auch Kandidaten einen Sitz einnehmen, die selbst nicht unbedingt damit gerechnet hätten. Bei der personellen Wahlvorbereitung zur Bundestagswahl 2017 wurde also augenscheinlich verstärkt auf jüngere, nicht aber auf mehr weibliche Kandidaten gesetzt. Der Frauenanteil unter den Abgeordneten liegt ungefähr auf dem Niveau der Mitglieder (Ende 2018 23,7 %, siehe Niedermayer 2019, S. 394). Bedenkt man, dass die FDP nach wie vor keine Frauenquote verabschiedet hat, haben sich in manchen Landesverbänden Frauen auf niedrigem Niveau noch vergleichsweise gut durchgesetzt, zumindest auf den vorderen Listenplätzen. Beispielsweise sind 2 der 4 Abgeordneten aus Rheinland-Pfalz weiblich; in Hessen sind es 2 von 6 oder in Bayern 3 von 12. Schlechter sieht es hingegen vor allem in den ostdeutschen Verbänden aus. Dort wurden nur in Brandenburg weibliche Kandidaten für die aussichtsreichen Plätze nominiert. Die Liste in Mecklenburg-Vorpommern kam nur mit einer Frau aus. Auf dem Bundesparteitag 2019 wurden „freiwillige Zielvereinbarungen“ zur Erhöhung des Frauenanteils nach „harten Auseinandersetzungen“ (Montag 2019a, S. 3) beschlossen. Sie wurden jedoch nicht in der Satzung verankert und müssen ihre Wirksamkeit erst noch unter Beweis stellen. Bei den Berufen der FDP-Abgeordneten lässt sich ein hoher Anteil an Selbstständigen und Freiberuflern ausmachen. 46 Mandatsträger können zu dieser Gruppe gezählt werden.6 Dies entspricht einem hohen Anteil von 57,5 % innerhalb der Fraktion. Freilich sind bei einer Berufsklassifizierung immer Interpretationsspielräume gegeben, besonders, wenn sie auf Selbstangaben beruhen. Dennoch kann summa summarum für die FDP im Parlament eine wirtschaftsnahe Repräsentation konstatiert werden. Sie korrespondiert wiederum mit ihrer typischen Wählerschaft, bei der Selbstständige und leitende Angestellte überproportional stark vertreten sind (siehe für die vergangene Bundestagswahl Hilmer und Gagné 2018, S. 390).

6Eigene

Zählung nach Angaben des Bundeswahlleiters und des Bundestages, Stichtag: 31.07.18.

Die FDP zwischen Wahlerfolgen, Regierungsflucht …

151

5 Fazit Relativ rasch hat sich die FDP nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag 2013 wiederaufgerichtet, Kampagnenfähigkeit zurückerlangt, Imagekorrekturen vorgenommen und sich vor allem sowohl programmatisch wie organisatorisch und personell verändert. Folge davon war eine erfolgreiche Rückkehr 2017 in den Bundestag. Macher des Parteiwandels und des Wahlerfolgs ist Christian Lindner (so auch Patton 2018, S. 138), der seiner Partei eine moderate Reformagenda verschrieben hat, ihr während des Veränderungsprozesses organisationspsychologisch Mut machte, als Spiritus Rector thematisch inspirierte und bei Personalentscheidungen Führung bot. Die Partei folgte ihm bereitwillig, wesentlich auch, weil er die innerparteilichen Aushandlungsmechanismen als ehemaliger Generalsekretär gut kannte und auf dem Reformweg beachtete. Kritische Stimmen aus der Partei wurden so nicht öffentlich vernehmbar. Viele Parteimitglieder fühlten sich in den Reformprozess einbezogen, den Lindner im Hintergrund bestimmte und auf der Vorderbühne präsentierte. Ein langjähriger journalistischer Beobachter formuliert es bildhaft: „Dieses Prinzip zieht sich wie ein roter Faden durch Lindners Wirken: Die Partei tanzt freudig nach seiner Pfeife, weil sie von ihm das Gefühl vermittelt bekommt, an der Melodie mitschreiben zu dürfen“ (Maron 2018). Auch nach den spektakulären Ereignissen rund um den kurzzeitigen thüringischen Ministerpräsidenten Kemmerich im Februar 2020 (vgl. Oppelland in diesem Band) stellte sich die Partei demonstrativ hinter Lindner und sprach ihm seitens des Vorstands das Vertrauen aus, gleichwohl Lindner hier Fehleinschätzungen einräumte. Inhaltlich wurde auf diesem Weg der wirtschaftsliberale Kern der Partei durch Schwerpunktsetzungen in der Bildungspolitik und der Digitalisierung ergänzt; die in der Ära Westwelle realiter einseitige Ausrichtung auf Koalitionsaussagen zugunsten der Union partiell aufgebrochen. Unter Lindners Führung wurden die Bundesspitze gestärkt und zum Teil neues Spitzenpersonal bei den Landtagswahlen, die zwischen 2013 und 2017 stattfanden, sowie auf den Landeslisten zur Bundestagswahl 2017 eingesetzt. Die entschlossene Erneuerung der FDP erfolgte aber nicht nur personell über die Landesverbände, sondern auch finanziell über diese durch die für die traditionellen innerparteilichen Land-Bund-Beziehungen bemerkenswerte

152

B. Höhne und U. Jun

Sonderumlage. Bezüglich der erweiterten Mitspracherechte einfacher Mitglieder in den internen Willensbildungsprozessen wird abzuwarten sein, wie sie in der Praxis genutzt werden. Da auch für die FDP die Tendenz der Mitgliederentwicklung, von der jüngsten Aufwärtsbewegung abgesehen, tendenziell nach unten weist, stößt aber schon heute im Prinzip kaum jemand auf größere Partizipationsbarrieren. Für einige Beobachter überraschend verzichtete die FDP nach der für sie erfolgreichen Bundestagswahl auf den Gang in die Regierung. Aus Lindners Sicht überwogen die Risiken einer Regierungsbeteiligung in einer ­Jamaika-Koalition mit den Unionsparteien und Bündnisgrünen die Chancen, die sich aus einer solchen ergeben hätten (siehe dazu auch schon Höhne und Hellmann 2017, S. 68). Die Parteiführung hat damit jedoch den Teil ihrer Wählerschaft enttäuscht, der auf Durchsetzungsfähigkeit gehofft hatte oder mit seiner Wahl eine Fortsetzung der Koalition aus Union und SPD verhindern wollte. Die Art und Weise des Abbruchs hat Lindner und der FDP zudem Sympathien gekostet (vgl. Höhne und Jun 2019). Diese gilt es nun von den Oppositionsbänken aus zurückzugewinnen und eine innerparteilich klare und nach außen hin möglichst flexible Koalitionsstrategie zu entwerfen, die es vermag auch instrumentelle Wähler zu binden (vgl. Huber 2017). Schließlich wird die FDP nicht dauerhaft in der parlamentarischen Opposition verbleiben oder sich erneut mit Existenzfragen konfrontiert sehen wollen. Nach wie vor plädiert die Mehrheit unter den Parteitagsdelegierten in der FDP für eine Regierungszusammenarbeit mit den Unionsparteien (siehe Glock 2017, S. 196), doch eine absolute Bundestagsmehrheit für ein schwarz-gelbes Bündnis ist derzeit nicht in Reichweite. Ob die Partei ihrem Vorsitzenden auch zu anderen koalitionspolitischen Ufern oder alternativen Mitwirkungsformen, wie zum Beispiel die Unterstützung einer Minderheitsregierung auf der Landesebene (vgl. Franzmann 2019, S. 346), folgen würde, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall würden solche Wege keine leichten sein, zieht man in Betracht, dass der innerparteiliche Druck auf Lindner aufgrund der zuletzt rückläufigen Wahlergebnisse wahrscheinlich zunehmen wird (vgl. dazu erste Hinweise bei Montag 2019b, S. 54‒57) und eine programmatische Erweiterung der koalitionspolitischen Optionen bisher nicht gelungen ist (so Anan 2019, S. 72).

Die FDP zwischen Wahlerfolgen, Regierungsflucht …

sozioökonomische Konfliktachse FDP

153

soziokulturelle Konfliktachse

Abstandsmaß

Summe

CDU

0,89

1,28

1,14

CSU

1,01

1,36

1,37

SPD

1,66

0,18

0,30

Grüne

1,61

0,36

0,58

Linke

2,15

0,41

0,88

AfD

0,37

1,68

0,62

FDP

0,89

1,28

1,14

CSU

0,12

0,08

0,01

SPD

0,77

1,1

0,85

Grüne

0,72

1,64

1,18

Linke

1,26

1,69

2,13

AfD

0,52

0,4

0,21

FDP

1,01

1,36

1,37

CDU

0,12

0,08

0,01

SPD

0,65

1,18

0,77

0,6

1,72

1,03

Linke

1,14

1,77

2,02

AfD

0,64

0,32

0,20

FDP

1,66

0,18

0,30

CDU

0,77

1,1

0,85

CSU

0,65

1,18

0,77

Grüne

0,05

0,54

0,03

Linke

0,49

0,59

0,29

AfD

1,29

1,5

1,94

CDU

0,72

1,64

1,18

CSU

0,6

1,72

1,03

SPD

0,05

0,54

0,03

Linke

0,54

0,05

0,03

FDP

1,61

0,36

0,58

AfD

1,24

2,04

2,53

FDP

2,15

0,41

0,88

CDU

1,26

1,69

2,13

CSU

1,14

1,77

2,02

SPD

0,49

0,59

0,29

Grüne

0,54

0,05

0,03

AfD

1,78

2,09

3,72

FDP

0,37

1,68

0,62

CDU

0,52

0,4

0,21

CSU

0,64

0,32

0,20

SPD

1,29

1,5

1,94

Grüne

1,24

2,04

2,53

Linke

1,78

2,09

3,72

Abstand zu allen CDU

4,89

Abstand zu allen CSU

5,51

Grüne

Abstand zu allen SPD

5,40

Abstand zu allen Grüne

4,16

Abstand zu allen Linke

5,38

Abstand zu allen AfD

Abstand zu allen

9,07

9,22

154

B. Höhne und U. Jun

Abb. 4   Ideologische Distanzen der Bundestagsparteien untereinander. (Quelle: Eigene Berechnungen und Darstellung, IParl-Projekt #BuKa2017. Anmerkung: Die Fragen zur Bestimmung der Position der befragten Parteimitglieder auf der sozioökonomischen und der soziokulturellen Konfliktachse lauteten: Hier sind einige gegensätzliche politische Aussagen angeführt. Bitte geben Sie an, ob Sie eher die eine oder die andere Position teilen – die Kästchen (fünf) dienen Ihnen zur Abstufung: 1. „Die Politik sollte sich aktiv um die Wirtschaft bemühen“ oder „Die Politik sollte sich aus der Wirtschaft heraushalten.“ 2. „Die Politik sollte sich in erster Linie um die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in unserem Land kümmern“ oder „Die Politik sollte ihr Hauptaugenmerk auf die Entfaltung unterschiedlicher Lebensstile richten.“ Zwischen den einzelnen arithmetischen Mittelwerten der Parteien wurden jeweils die beiden Abstände zueinander bestimmt und mittels dieser der Flächeninhalt ermittelt)

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Die Linke zwischen internen Konflikten, der ersten Koalition im Westen, Niederlagen im Osten und dem Ramelow-Effekt Hendrik Träger 1 Einleitung Die ambivalente Situation der Linken im Herbst 2019 – also zwei Jahre nach der Bundestagswahl 2017 – lässt sich anhand von zwei Zitaten verdeutlichen: „Dieser Sieg gibt uns Schwung für die ganze Partei“, sagte die Parteivorsitzende Katja Kipping (zit. nach Locke und Becker 2019, S. 3) nach der Thüringer Landtagswahl im Oktober 2019. Unter Führung von Ministerpräsident Bodo Ramelow war Die Linke erstmals stärkste politische Kraft in einem Bundesland geworden. Lediglich sieben Wochen zuvor hatten Antje Feiks und Thomas Dudzek (zit. nach Debski 2019, S. 1), die damals Vorsitzende und Geschäftsführer des sächsischen Landesverbandes gewesen sind, die „Gesamtpartei […] vor einer existenziellen Herausforderung [gesehen; H.T.]. Es geht um nicht weniger als die Zukunft der Linken insgesamt.“ Im September 2019 hatte Die Linke sowohl in Sachsen als auch in Brandenburg ihren Stimmenanteil fast halbiert und das schlechteste beziehungsweise zweitschlechteste Landtagswahlergebnis seit 1990 verbuchen müssen. Diese elektoralen Abstürze trafen die Partei in einer zwiespältigen Situation: Zum einen war nur wenige Wochen zuvor in Bremen die erste Koalition unter Beteiligung der Linkssozialisten in einem westdeutschen Bundesland gebildet worden, sodass die Partei erstmals gleichzeitig an vier Regierungen beteiligt war. Zum anderen war Die Linke bei der Europawahl im Mai 2019 mit einem Stimmenanteil von 5,5 % auf den niedrigsten Wert seit ihrer Gründung zwölf

H. Träger (*)  Institut für Politikwissenschaft, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Jun und O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29771-8_6

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H. Träger

Jahre zuvor respektive – die PDS mitberücksichtigend – den zweitniedrigsten Wert ihrer Geschichte gerutscht. Außerdem hatte Sahra Wagenknecht (zit. nach Fried 2019a, S. 5)1 im März 2019 bekannt bekanntgegeben, im Herbst nicht wieder für das Amt der Bundestagsfraktionsvorsitzenden zu kandidieren, und ihre Entscheidung mit den gesundheitlichen Problemen als „eine[r] direkte[n] Folge des extremen Stresses, den ich in den letzten Jahren hatte“, begründet. In diesem Statement spiegeln sich die teilweise heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem auch in den eigenen Reihen umstrittenen „Star der Partei“ (Küpper 2016, S. 4) und großen Teilen der Linken wider. Sowohl diese Personalentscheidung als auch die skizzierten Wahlergebnisse sind wichtige Wegmarken bei der Entwicklung der Linken seit der Bundestagswahl am 24. September 2017. Mit diesen Punkten und weiteren Aspekten beschäftigt sich der vorliegende Beitrag und knüpft damit an die ähnlich konzipierten Analysen von Gero Neugebauer und Richard Stöss seit der Bundestagswahl 1998 an (vgl. Neugebauer 2011; Neugebauer und Stöss 1999, 2003, 2007, 2015). Besonders relevant sind hier die Studien seit 2005, bei denen zunächst das Wahlbündnis Linkspartei(.PDS) und danach Die Linke im Mittelpunkt standen. Um die einschlägigen Studien mit der folgenden Analyse zu verknüpfen, werden zunächst wichtige Befunde von Neugebauer und Stöss aufgegriffen und auf dieser Grundlage Leitfragen generiert: • Anlässlich der Bundestagswahl 2005 konstatierten Neugebauer und Stöss (2007, S. 162), dass „die Partei (…) von einer Mehrheit ihrer Wähler als Mittel zum Protest genutzt wurde.“ Acht Jahre später beobachteten die Autoren „eine gewisse Attraktivität auf ethnozentrisch gesinntes Protestpotenzial“ (Neugebauer und Stöss 2015, S. 164). Wurde Die Linke auch im September 2017 vorrangig als Ausdruck des Protestes gewählt? Oder hat sich die Motivlage ihrer Wählerschaft gewandelt? • Nach der Wahl 2009 kritisierte Gero Neugebauer (2011, S. 172) auch, dass Die Linke „entweder neben oder hinter den Debatten her“ trabe und „kein Gesicht [präsentiert; H.T.], das sich in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit mit einem bestimmten Politikfeld verbindet.“ Infolgedessen würde die Partei mit ihren Anliegen weder bei den Medien noch in der Öffentlichkeit Interesse wecken und deshalb in Umfragen verlieren oder zumindest stagnieren. Lässt sich Ähnliches auch gegenwärtig beobachten?

1Ein

Video zur Pressekonferenz von Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch ist abrufbar unter: https://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2851.gemeinsam-streiten-f%C3%BCreinen-linken-aufbruch.html.

Die Linke zwischen internen Konflikten …

161

• Ebenfalls nach der Bundestagswahl 2009 konstatierte Neugebauer (2011, S. 167) – der schon von Robert Michels beobachteten Tendenz in sozialistischen Parteien folgend – eine „Dominanz der Fraktion“, weil „kein strategisches Zentrum in der eigentlichen Parteistruktur“ existiere. Ist Die Linke weiterhin hauptsächlich eine Fraktionspartei? Oder haben sich die Machtverhältnisse zwischen Fraktion und Partei verschoben? • Bei der Bundestagswahl 2013 habe Die Linke, argumentieren Neugebauer und Stöss (2015, S. 170), „den Zenit ihrer Entwicklung bereits überschritten“. Die forcierte Westausdehnung sei nicht wirklich erfolgreich gewesen; bei der Linken handele es sich weiterhin „faktisch um eine Ostpartei mit Brückenköpfen im westlichen Einzugsgebiet“ (ebd., S. 166). Trifft das immer noch zu? Um diese Fragen beantworten zu können, werden zunächst die Situation der Linken vor der Bundestagswahl 2017 skizziert (Abschn. 2), die programmatischen Schwerpunkte und das Personaltableau im Wahlkampf beschrieben sowie die Ergebnisse des Urnengangs analysiert (Abschn. 3). Anschließend richtet sich der Fokus auf die Entwicklung der Partei seit September 2017. Dabei wird sowohl auf die Debatten über die Positionen von Sahra Wagenknecht in der Flüchtlingspolitik und die Sammlungsbewegung ‚aufstehen‘ (Abschn. 4) als auch auf die Ergebnisse der Linken bei den Landtagswahlen und der Europawahl (Abschn. 5) eingegangen. Im Fazit werden die wichtigsten Befunde zusammengefasst und ein Ausblick auf die nächsten Jahre gewagt (Abschn. 6).

2 Die Linke vor der Bundestagswahl 2017: eine ambivalente Ausgangslage Infolge der Bildung einer Großen Koalition nach der Bundestagswahl 2013 stellte Die Linke erstmals die größte Oppositionsfraktion, sodass der damalige Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi die Funktion des Oppositionsführers übernahm. Der „talentierte(…) Rhetoriker und charmante(…) Plauderer“ (Ehrenstein 2015, S. 6) war geradezu die Idealbesetzung, um der Regierung im Parlament – gelegentlich auf unterhaltsame Weise – Paroli zu bieten. Allerdings kündigte er im Juni 2015 seinen Rücktritt zur Mitte der Legislaturperiode an. Mit ihm zog sich die letzte der drei „großen Integrations- und Galionsfiguren der Linken“ (Oppelland und Träger 2014, S. 232) aus der ersten Reihe zurück. Bei der Regelung der Nachfolge entschied sich die Fraktion für „eines der verrückteren Politikexperimente der bundesdeutschen Geschichte“ ­(Wiedmann-Schmidt 2016a, S.  34): Mit Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch wurde eine

162

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­ oppelspitze gebildet, die keineswegs als politisches „Traumpaar“ (Kosfeld 2015, D S. 12) gelten kann, sondern die verschiedenen Strömungen innerhalb von Partei und Fraktion widerspiegelt. Während Wagenknecht, die seit 2014 mit Oskar Lafontaine verheiratet ist, als ehemalige Vertreterin der Kommunistischen Plattform (KPF) dem orthodoxen Lager der Linken zugeordnet werden kann, gehört Bartsch zu den Reformern und den innerparteilichen Kritikern von Lafontaine. Wagenknecht entwickelte sich für Partei und Fraktion als Segen und Fluch zugleich: Einerseits ist die „wortgewandte, zuspitzende Diskutantin“ (Jesse und Lang 2012, S. 361) eine medienwirksame Repräsentantin der Linken, die relativ schnell ähnlich hohe Beliebtheitswerte wie ihr Vorgänger erreichte (vgl. Hilmer und Gagné 2018, S. 399). Andererseits bringt die „Frau, die in kein Schema passt“ (Hujer 2015, S. 40), häufig die eigenen Genossinnen und Genossen gegen sich auf. So kritisierte sie unmittelbar vor den drei Landtagswahlen im März 2016 die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, erklärte, „dass Kapazitäten nicht unbegrenzt sind“ (Wagenknecht 2016), und warnte „vor ‚Parallelwelten‘“ (Wiedmann-Schmidt 2016c, S. 32). Solche Wortmeldungen sind nicht mit den Beschlüssen der Linken kompatibel und verleiteten innerparteiliche Kritikerinnen und Kritiker dazu, Wagenknecht in die Nähe der AfD zu rücken. In diesem Zusammenhang attestierte wiederum Oskar Lafontaine (2016, S. 31) seiner Partei einen „schlechte[n] Stil“. Die Situation eskalierte letztlich so weit, dass auf dem Parteitag im Mai 2016 ein Aktivist Wagenknecht eine Torte ins Gesicht warf; außerdem wurden Flyer mit dem Aufdruck „Torten für Menschenfeinde“ (Wyssuwa 2016, S. 2) verteilt. Im weiteren Verlauf des Jahres nahm auch die Kritik aus den Reihen der Bundestagsfraktion zu; mit Jan van Aken forderte ein Abgeordneter sogar den Rücktritt der Vorsitzenden (vgl. Küpper 2016, S. 4; Wiedmann-Schmidt 2016b, S. 38). Die Diskussionen über die Positionen in der Flüchtlings- und Asylpolitik resultierten insbesondere aus den deutlichen Verlusten der Linken bei einigen Landtagswahlen und dem gleichzeitigen Aufstieg der AfD. Die Rechtspopulisten erhielten in großem Umfang Stimmen von ehemaligen Wählerinnen und Wählern der Linken und entwickelten sich damit zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz um Protestwählerinnen und -wähler (vgl. Träger 2018b, S. 4 f.). Dies ist ein wichtiger Grund dafür, dass Die Linke 2016 in Mecklenburg-Vorpommern „ihr historisch schwächstes Ergebnis“ (Koschkar & Nestler 2017, S. 39) verbuchen musste und bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl „in einigen Stadtrandbereichen von der AfD überholt“ (Niedermayer 2017a, S. 48) wurde. Ein halbes Jahr später war sie im Saarland „[n]eben den Piraten (…) die größte Verliererin der Wahl“ (Winkler 2018, S. 48).

Die Linke zwischen internen Konflikten …

163

Zur elektoralen Bilanz der Linken in den vier Jahren der 18. Legislaturperiode des Bundestages (2013–2017) gehören aber auch einige Erfolge: In Brandenburg konnte 2014 die rot-rote Koalition trotz deutlicher Verluste der Regierungsparteien fortgesetzt werden (vgl. Niedermayer 2015). In Thüringen wurde mit Bodo Ramelow erstmals ein Politiker der Linken zum Ministerpräsidenten eines Bundeslandes gewählt; mit Rot-Rot-Grün gab es ein neues Koalitionsmodell in Deutschland (vgl. Oppelland 2015; Oppelland und Träger 2016). Nach der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2016 verständigten sich SPD, Linke und Grüne auf ein gemeinsames Bündnis, sodass Die Linke zum ersten Mal in ihrer Geschichte gleichzeitig an drei Landesregierungen beteiligt war. In den westdeutschen Bundesländern konnte die Partei – mit Ausnahme des Saarlandes (2017) – ihren Stimmenanteil entweder stabil halten oder ausbauen, schaffte es aber nur in Hessen, den beiden Stadtstaaten und dem Saarland in das Landesparlament. Im Mai 2017 scheiterte sie in Nordrhein-Westfalen – trotz ihrer „Erfolge in den Großstädten“ (Bajohr 2017, S. 626) – mit 4,9 % äußerst knapp an der Fünf-Prozent-Hürde und spielte vor der schleswig-holsteinischen Wahl „in der landespolitischen Auseinandersetzung kaum eine Rolle“ (Knelangen 2017, S. 581). Die anhaltenden Differenzen zwischen Ost und West spiegeln sich nicht nur in den Wahlergebnissen, sondern auch bei den Mitgliedern wider: Bundesweit schwankte die Rekrutierungsfähigkeit der Linken in den Jahren vor der Bundestagswahl 2017 zwischen 0,08 und 0,09 %; der Partei gehörten also acht oder neun von 10.000 parteibeitrittsberechtigten Personen an. In den neuen Ländern entwickelte sich der Wert rückläufig, war aber mit 0,24 bis 0,28 % immer noch um ein Vielfaches höher als im Westen (Abb. 1). Obgleich Die Linke also weiterhin in Ostdeutschland wesentlich stärker verankert ist, sprach Tim Spier (2016, S. 201) zurecht nicht mehr von „einer reinen ‚Regionalpartei Ost‘ (…) sondern vielmehr von einer bundesweiten Partei mit Hochburgen in Ostdeutschland.“ Mit Blick auf die Mitglieder der Linken ist wichtig, dass 2017 ungefähr zwei Drittel Männer waren und knapp ein Sechstel jünger als 35 Jahre alt war. Der letzte Wert hatte sich seit 2009 mehr als verdoppelt. Die Linke hatte inzwischen „proportional die meisten jungen Mitglieder“ (Klein et al. 2019, S. 87). Gleichwohl waren die Rentnerinnen und Rentner, die mehr als die Hälfte der Mitglieder stellten, im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überproportional vertreten. Gleiches ist bei Menschen mit einem (Fach-)Hochschulabschluss, Auszubildenden respektive Studierenden sowie Arbeitslosen zu beobachten. Das Gegenteil traf auf Vollerwerbstätige sowie auf Menschen mit Hauptschulabschluss und mittlerer Reife zu (vgl. ebd., S. 89 f.). Mit 34 % ist „der Anteil

164

H. Träger

Abb. 1   Rekrutierungsfähigkeit der Linken in den Jahren 2013 bis 2017 (in Prozent). Lesebeispiel: Im Jahr 2013 gehörten 0,09 % aller Parteibeitrittsberechtigten der Linken an. (Quelle: Eigene Darstellung nach Daten von Oskar Niedermayer 2016, 2017b, 2018b, 2019)

derjenigen, die sich der Unterschicht oder der unteren Mittelschicht zugehörig fühlten, (…) deutlich höher als bei allen anderen Parteien, aber auch höher als in der Bevölkerung insgesamt“ (ebd., S. 94). Das spiegelt sich letztlich auch im Wahlprogramm wider (s. u.). Obgleich Die Linke die stärkste Oppositionsfraktion im Bundestag war, konnte sie nicht von der Schwäche der Regierungsparteien profitieren, wie angesichts ausgewählter ‚Sonntagsfragen‘ für den ARD-DeutschlandTrend und das ZDF-Politbarometer deutlich wird: Seit Herbst 2013 verharrten die Werte mit acht bis zehn Prozent auf dem Niveau des letzten Wahlergebnisses (8,9 %). Auch in der Zeit, als intensiv über die Asyl- und Integrationspolitik der Bundesregierung diskutiert wurde, gab es keine spürbaren Veränderungen. Selbst der Achtungserfolg ihres Kandidaten Christoph Butterwegge bei der Bundespräsidentenwahl im Februar 20172 wirkte sich für Die Linke nicht positiv aus. Im Frühjahr 2017 rutschte die Partei zeitweise sogar auf sechs beziehungsweise sieben Prozent ab, was vor allem mit dem kurzzeitigen Schulz-Hype bei der SPD erklärt werden kann. Bis zur Bundestagwahl kamen die Linkssozialisten nicht über neun Prozent hinaus (Abb. 2). Die Ausgangssituation vor dem Urnengang war also keineswegs optimal, denn eine rechnerische Mehrheit für eine

2Das

Ergebnis des parteilosen Armutsforschers Christoph Butterwegge lag 33 Stimmen über dem Sitzkontingent der Linken in der Bundesversammlung.

Die Linke zwischen internen Konflikten …

165

Abb. 2   Die Linke in den ‚Sonntagsfragen‘ vor der Bundestagswahl 2017 (in Prozent). Für die Monate mit mehreren ‚Sonntagsfragen‘ ist der Wert der jeweils letzten Umfrage abgebildet. (Quelle: Eigene Darstellung nach Daten von www.wahlrecht.de)

r­ot-rot-grüne Koalition als einzige Machtoption der Linken war – mit Ausnahme weniger Umfragen im Frühjahr 2017 – unrealistisch. Das wirkte sich auch auf den Wahlkampf aus, in dem die Partei „nur noch eine untergeordnete Rolle“ (Hilmer und Gagné 2018, S. 383) spielte.

3 Die Bundestagswahl 2017: Gewinne im Westen und Verluste im Osten In den Wahlkampf zog Die Linke – trotz negativer Erfahrungen der PDS bei der Bundestagswahl 2002 (vgl. Neugebauer und Stöss 2003) – mit dem ungewöhnlichen Modell eines vierköpfigen Spitzenteams, das durch den damaligen Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn unterstützt werden sollte: Als Spitzenkandidaten berief der Parteivorstand im Dezember 2016 Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht. Diesem Duo wurden die wenige Monate zuvor ohne Gegenkandidaten wiedergewählten Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger zur Seite gestellt. Beiden war es seit 2012 gelungen, „die Flügelkämpfe zwischen Fundamentalisten und Reformern zumindest nach außen einzudämmen“ (Niedermayer 2018a, S. 300). Zu dem Vorstandsbeschluss gehörte auch die folgende Regelung: „Die Kommunikationsstrategie wird gemeinsam im Spitzenteam erarbeitet. Die politischen Entscheidungen zum Wahlprogramm sowie die politischen Entscheidungen nach der Wahl werden in enger Absprache mit den Spitzenkandidaten geführt und liegen bei der Partei und ihren Vorsitzenden“ (Die Linke 2016).

166

H. Träger

Dieser Passus und die gesamte Konstruktion des Personaltableaus machen zum einen die Dominanz der Fraktion bei der öffentlichen Wahrnehmung der Linken und zum anderen die angespannte Beziehung zwischen den beteiligten Akteuren, wegen der offenbar eine schriftliche Fixierung der Zuständigkeiten erforderlich war, deutlich. Das sind ungünstige Voraussetzungen für einen harmonischen Wahlkampf aus einem Guss. Auch die Aufstellung der einzelnen Landeslisten war umkämpft und – einer Untersuchung des Berliner Instituts für Parlamentarismusforschung (Schüttemeyer und Höhne 2019, S. 30) zufolge – für „39,0 Prozent der befragten Linke-Mitglieder (…) eher nicht (32,2 Prozent) bzw. gar nicht vorhersehbar (6,8 Prozent)“. Im Durchschnitt bewarben sich 2,3 Personen für einen Listenplatz; nur in der AfD und bei Bündnis 90/Die Grünen waren es noch mehr (vgl. ebd., S. 18). Ob dieser hohe Wert auf ein großes Interesse an einer politischen Karriere im Bundestag oder auf intensive Duelle um die sicheren Listenplätzen zurückzuführen ist, muss an dieser Stelle offen bleiben. Im Juni 2017 verabschiedete Die Linke auf einem Parteitag ihr Wahlprogramm. In dessen Präambel bezeichnete die Partei den bevorstehenden Urnengang als „eine Richtungsentscheidung“ (Die Linke 2017, S. 7), bei der es um „ein sozialeres, nachhaltigeres Land, ein gerechtes Europa und eine friedlichere Welt“ (ebd.) gehe. Angesichts der oben skizzierten sozioökonomischen Struktur der Mitglieder war es zu erwarten, dass sich die Linkssozialisten hauptsächlich für sozialpolitische Projekte wie eine Erhöhung des Mindestlohnes auf zwölf Euro, die Ablösung von Hartz IV durch „eine bedarfsdeckende und sanktionsfreie Mindestsicherung in Höhe von 1050 EUR“ (ebd., S. 10), die Einführung einer solidarischen Mindestrente (1.050,- EUR), eine Vermögensteuer, und eine solidarische Gesundheitsversicherung einsetzten. Eine sofortige, steuerfinanzierte Angleichung der Renten in Ostdeutschland an das Niveau im Westen, das Ende von Auslandseinsätzen der Bundeswehr, das Verbot von Rüstungsexporten und eine Auflösung der NATO waren weitere bereits in früheren Programmen artikulierte Positionen. Mit der Bekämpfung von Fluchtursachen und der Integrationspolitik beschäftigte sich Die Linke (2017, S. 64–67, S. 97 f.) in vergleichsweise kurzen Abschnitten ihres Programmes, was angesichts der politischen Brisanz des Themas seit dem Spätsommer 2015 verwundert. Das lässt sich auch mit den innerparteilichen Differenzen hinsichtlich dieses Politikfeldes erklären. Sowohl die inhaltlichen Positionen in der Außen- und Sicherheitspolitik als auch despektierliche Äußerungen der Spitzenkandidatin à la „Raute oder Zottelbart im Kanzleramt“ (Wagenknecht 2017) mit Blick auf Angela Merkel und Martin Schulz sorgten dafür, dass der Parteitag „der letzte Sargnagel im

Die Linke zwischen internen Konflikten …

167

r­ot-rot-grünen Projekt“ wurde, wie Richard Hilmer und Jérémie Gagné (2018, S. 383) konstatieren. Eine Koalition aus SPD, Linken und Bündnis 90/Die Grünen wurde – einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen (2017, S. 27) zufolge – ohnehin als die schlechteste aller möglichen Kombinationen beurteilt. Die gleiche Erhebung ergab, dass das Ansehen der Linken in der Bevölkerung seit 2013 deutlich gestiegen, aber immer „noch mäßig negativ“ (ebd., S. 22) war. Bei den Spitzenkandidaten rangierte Wagenknecht – Bartsch wurde nicht berücksichtigt – leicht im positiven Bereich. Allerdings wurde ihr Wert bei allen Befragten nur von jenem für Alexander Gauland (AfD) unterboten. Auch die eigene Anhängerschaft stand ihr im Vergleich zu den Kombinationen bei den anderen Parteien reserviert gegenüber (vgl. ebd., S. 32). Hinsichtlich der zugewiesenen Kompetenz lag Die Linke in allen Politikfeldern mit großem Abstand auf dem dritten oder vierten Platz. Lediglich bei der sozialen Gerechtigkeit kam sie mit 15 % relativ nah an die Unionsparteien (21 %) heran, hatte aber weiterhin großen Abstand zur SPD (34 %). Programmatisch konnte die Partei also trotz eines Wahlkampfes mit starker „Policyzentrierung“ (Fitzpatrick 2018, S. 607) nicht überzeugen. Ein erstaunliches Ergebnis der Vorwahlbefragung ist angesichts einer dezidierten „Abgrenzung zur amtierenden Kanzlerin“ (Fitzpatrick 2018, S. 617) im Online-Wahlkampf, dass 74 % der Anhängerschaft der Linken Angela Merkel gute Arbeit attestierten; dieser Wert lag sogar knapp über dem Durchschnitt aller Parteien (vgl. Forschungsgruppe Wahlen 2017, S. 29). Wenn große Teile der Anhängerschaft der größten Oppositionspartei die Kanzlerin so positiv beurteilen, dann zeugt das davon, dass es der Linken nicht einmal im eigenen Lager gelang, sich als ‚Regierung im Wartestand‘ zu präsentieren. Das sind ungünstige Voraussetzungen für einen erfolgreichen Wahlkampf. Vor diesem Hintergrund ist es fast überraschend, dass Die Linke bei der Bundestagswahl 2017 ihren Zweitstimmenanteil von 8,6 auf 9,2 % leicht ausbauen und damit das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte verbuchen konnte. Vor allem aufgrund der deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung verzeichnete die Partei ein Plus von mehr als einer halben Million Wählerinnen und Wählern. Auch bei den gewonnenen Direktmandaten konnte sich die Partei von vier auf fünf geringfügig verbessern, ohne jedoch auch nur ansatzweise in die Nähe des Rekordwertes von 16 erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerbern im Jahr 2009 zu kommen. Trotz des Stimmenzuwachses verlor Die Linke ihre Position als drittstärkste Partei an die AfD und wurde sogar noch von der FDP überholt, sodass sie nunmehr – abermals knapp vor Bündnis 90/Die Grünen – lediglich fünfstärkste Fraktion im Bundestag ist und den Status als Oppositionsführerin verlor.

168

H. Träger

­ ufgrund der Mandatsverteilung im Parlament war ein rot-rot-grünes Bündnis A nicht einmal mehr eine rechnerisch mögliche Option. Infolgedessen spielte Die Linke ebenso wie die AfD keine Rolle bei der Regierungsbildung und ist nur noch eine von vier Oppositionsfraktionen. Das wirkt sich negativ auf das mediale und öffentliche Interesse an der parlamentarischen Arbeit der Linken aus; es besteht gewissermaßen ein „Aufmerksamkeitsdefizit“ (Lang 2018, S. 56). Mit Blick auf die regionale Verteilung der Zweitstimmen lässt sich konstatieren, dass Die Linke keineswegs mehr die „ostdeutsche Regionalpartei mit seltenen Erfolgen im Westen“ (Träger 2015, S. 68; ausführlicher: Oppelland und Träger 2014) wie früher ist. Zwar bilden weiterhin die neuen Länder und Berlin „eine geschlossene Gruppe mit den höchsten Zweitstimmenanteilen“ (Träger 2018a, S.  299); aber in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie in den östlichen Bezirken der Hauptstadt verlor Die Linke sowohl in absoluten Zahlen als auch hinsichtlich des Stimmenanteils erheblich an Wählerinnen und Wählern. Demgegenüber sind für alle westdeutschen Länder Zuwächse zwischen 1,3 und 3,4 Prozentpunkten zu verzeichnen (Tab. 1). Der insgesamt höhere Zweitstimmenanteil ist also ausschließlich auf die größere Unterstützung im Westen zurückzuführen. Dieser Befund ist für eine Partei, die ihre Hochburgen traditionell in Ostdeutschland hat, ein Alarmsignal, denn frühere Wählergruppen gehen verloren. Das resultiert vor allem daraus, dass Die Linke ihren „Status als erste Adresse der Protestwähler“ (Lang 2018, S. 5) einbüßte und infolgedessen „ein stetiger Transfer von der Linken zur AfD“ (ebd., S. 15) stattfand. Diese auf den ersten Blick kurios wirkenden Wählerwanderungen erklärt Eckhard Jesse (2018, S. 241) so: „Die Protestwähler aus den Reihen der Partei Die Linke, die mittlerweile als etabliert gilt, jedenfalls in den neuen Bundesländern, sahen eine Alternative in der AfD.“

In diesem Zusammenhang dürfte es sich negativ ausgewirkt haben, dass Die Linke „den Themenkomplex Flüchtlinge, Integration und Zuwanderung im Wahlkampf schlicht nicht vorgesehen“ habe, wie Jürgen P. Lang (2018, S. 32) beobachtete. Geradezu symbolisch dafür ist die vergleichsweise kurze Abhandlung des Politikfeldes im Wahlprogramm, auf die bereits oben hingewiesen wurde. Hinsichtlich der Sozialstruktur der Wählerschaft fällt auf, dass Frauen (49 %) und Männer (51 %) ungefähr zu gleichen Teilen vertreten sind, mehr als die Hälfte (57 %) berufstätig ist und fast zwei Drittel 45 Jahre oder älter sind (vgl. Forschungsgruppe Wahlen 2017, S.  53  ff.). Gleichwohl ist ein

Die Linke zwischen internen Konflikten …

169

Tab. 1   Die Linke bei der Bundestagswahl 2017 Zweitstimmen

Zweitstimmenanteil

2017

Differenz zu 2013

2017 (%)

Differenz zu 2013

Deutschland

4.297.270

+541.571

9,2

+0,6 %-Pkt.

• Ost (neue Länder u. Berlin-Ost)

1.463.186

−289.599

17,8

−4,9 %-Pkt.

• West (früheres Bundesgebiet)

2.834.084

+830.170

7,4

+1,8 %-Pkt.

BadenWürttemberg

380.727

+108.271

6,4

+1,5 %-Pkt.

Bayern

450.803

+201.883

6,1

+2,3 %-Pkt.

Berlin

351.170

+20.663

18,8

+0,3 %-Pkt.

∙ Ost

204.400

26,1

∙ West

146.770

−12.223 +32.886

13,5

−3,4 %-Pkt.

Brandenburg

255.721

17,2

Bremen

44.629

−55.591 +11.345

13,4

Hamburg

119.076

+40.780

12,2

+3,4 %-Pkt.

Hessen

271.158

+82.504

8,1

+2,1 %-Pkt.

MecklenburgVorpommern

165.368

−21.503

17,8

−3,7 %-Pkt.

Niedersachsen

322.979

+2,7 %-Pkt.

−5.3 %-Pkt. +3,3 %-Pkt.

+99.044

7,0

+1,9 %-Pkt.

Nordrhein-West- 736.904 falen

+153.979

7,5

+1,3 %-Pkt.

Rheinland-Pfalz

160.912

+40.574

6,8

+1,4 %-Pkt.

Saarland

75.448

+19.403

12,9

+2,9 %-Pkt.

Sachsen

398.627

16,1

Sachsen-Anhalt

220.858

−68.418

−3,9 %-Pkt.

SchleswigHolstein

124.678

Thüringen

218.212

−61.461

17,7

+40.501

7,3

−70.403

16,9

−6,2 %-Pkt. +2,1 %-Pkt.

−6,6 %-Pkt.

(Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen nach Daten des Bundeswahlleiters 2013, 2017)

170

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„­ Verjüngungsprozess“ (Hilmer und Gagné 2018, S. 390) zu beobachten, wobei es in den einzelnen Altersgruppen Unterschiede zwischen alten und neuen Ländern gibt. Diese Differenzen können auf „das eher bodenständige Auftreten der Partei im Osten und das deutlich radikalere im Westen, womit sie junge Personen offenbar stärker anspricht“ (Jesse 2018, S. 235), zurückgeführt werden. Aufgrund der gegensätzlichen Entwicklung der Zweitstimmenanteile mit teilweise erheblichen Verlusten im Osten und spürbaren Gewinne im Westen ist Die Linke im Bundestag „keine primär ostdeutsche Partei mehr“, wie Richard Hilmar und Jérémie Gagné (2018, S. 391) feststellen. Den Recherchen von Jürgen P. Lang (2018, S. 22) zufolge stammt „der größere Anteil an Abgeordneten aus den radikal-linken Westverbänden“. Diese Veränderungen dürften sich nachhaltig auf die Arbeit innerhalb der Fraktion und das äußere Erscheinungsbild der gesamten Partei auswirken.

4 Parteiinterner Streit und Wagenknechts Bewegung ‚aufstehen‘ Die unterschiedliche Entwicklung in Ost und West ist nicht nur bei den Zweitstimmenanteilen, sondern auch bei den Parteimitgliedern zu beobachten (Tab. 2): Für die gesamte Partei ist kein einheitlicher Trend erkennbar. Der Mitgliederbestand blieb 2016 bei einem minimalen Rückgang von 79 Personen stabil, stieg ein Jahr später – vor allem wegen der häufig zu beobachtenden Mobilisierung im Kontext von Bundestagswahlen und aufgrund des „Trump-Effekt[s]“ (Niedermayer 2018b, S. 350) – deutlich auf 62.300 Genossinnen und Genossen an, um dann 2018 wieder geringfügig kleiner zu werden. Mit Blick auf die Landesverbände sind jedoch eindeutige Tendenzen zu konstatieren: Während die Gebietsgliederungen im Westen und in Berlin seit 2015 jedes Jahr fast flächendeckend mehr Mitglieder als im Vorjahr verbuchen konnten, ist Die Linke im Osten kontinuierlich mit signifikanten Verlusten konfrontiert. Dadurch verschieben sich die Größenordnungen der Landesverbände. Im Jahr 2018 gab es in Nordrhein-Westfalen die meisten Linkssozialistinnen und Linkssozialisten, sodass erstmals in der Geschichte von PDS, Linkspartei und Die Linke ein westdeutscher Landesverband der größte der Partei ist. Der langjährige Spitzenreiter Sachsen liegt nur noch knapp auf dem zweiten Platz und dürfte auf dieser Position bald von Berlin abgelöst werden. Inwieweit das für das innerparteiliche Kräfteverhältnis relevant ist, wird sich zeigen. Wenn die fünf ostdeutschen Landesverbände deutlich weniger als die Hälfte der Mitglieder stellen, dürfte sich das negativ auf ihren Einfluss auswirken. Daran wird

Die Linke zwischen internen Konflikten …

171

Tab. 2   Die Mitgliederentwicklung der Linken (2015–2018) Deutschland

2015

2016

2017

2018

58.989

58.910

62.300

62.016

Baden-Württemberg

2836

3134

3438

3532

Bayern

2508

2457

3147

3417

Berlin

7447

7508

7961

7861

Brandenburg

6626

6212

6061

5802

Bremen

481

507

579

624

Hamburg

1307

1386

1577

1639

Hessen

2525

2679

3029

3255

Mecklenburg-Vorpommern

4034

3853

3725

3581

Niedersachsen

2552

2742

3078

3112

Nordrhein-Westfalen

6465

6703

7875

8183

Rheinland-Pfalz

1594

1584

1633

1769

Saarland

2114

2395

2465

2124

Sachsen

8677

8284

8261

7988

Sachsen-Anhalt

4044

3878

3776

3596

Schleswig-Holstein

970

1019

1239

1298

Thüringen

4767

4528

4444

4224

(Quelle: Eigene Darstellung nach Daten von Oskar Niedermayer (2016, 2017b, 2018b, 2019))

die Tatsache, dass Die Linke hinsichtlich der Rekrutierungsfähigkeit „immer noch eine ostdeutsche Regionalpartei, die im Westen – mit Ausnahme des Saarlands – eine geringe Organisationsbasis aufweist“ (Niedermayer 2019, S. 387), ist, wahrscheinlich wenig ändern. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass in der Linken nicht nur die Gebietsgliederungen und deren Personalstärke entscheidend, sondern hauptsächlich die ideologischen Strömungen „nach wie vor wesentliche Machtzentren“ (Oppelland und Träger 2012, S. 213) sind. Grundsätzlich lässt sich zwischen den realpolitisch orientierten Reformern (v. a. Forum Demokratischer Sozialismus), dem vielfältig zusammengesetzten Spektrum der Orthodoxen (z. B. Antikapitalistische Linke, Kommunistische Plattform, Sozialistische Linke) und der lagerunabhängigen Emanzipatorischen Linken differenzieren (vgl. Oppelland und Träger 2014, S. 111 ff.). Außerdem kann die Jugendorganisation Linksjugend [’solid] durch

172

H. Träger

öffentlichkeitswirksame Aktionen eine wichtige Rolle im innerparteilichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess spielen. In dieser Gemengelage besteht die „Aufgabe der Parteiführung (…) in erster Linie [darin; H.T.], eine Balance zwischen den Strömungen zu wahren“ (Oppelland und Träger 2012, S. 213). Welche Bedeutung dabei die handelnden Personen haben, lässt sich auch seit der Bundestagswahl 2017 beobachten. Während beispielsweise die Parteivorsitzende Katja Kipping „eine junge, weltoffene und avantgardistische Linke“ (Abé und Deggerich 2017, S. 46) anstrebt, sieht die Sahra Wagenknecht „in der Flüchtlingspolitik (…) die Hauptursache für die Wählerwanderung von links nach rechts“ (ebd.). Dieser Richtungsstreit, der sich hauptsächlich auf die erheblichen Verluste an die AfD zurückführen lässt, bringt Die Linke in ein strategisches Dilemma. Letztlich geht es darum, ob die Partei ihre asyl- und migrationspolitischen Positionen substanziell ändert oder wesentliche Teile ihrer früheren Wählerschaft, die mittlerweile aus Protest gegenüber den etablierten Parteien für die Rechtspopulisten votieren, aufgibt (vgl. Träger 2018b). In diesem Zusammenhang warfen Wagenknecht und der Dramaturg Bernd Stegemann im Juni 2018 der Linken „Doppelmoral“ (Stegemann und Wagenknecht 2018) vor, denn sie blende „offensichtliche Zusammenhänge aus, wenn sie ihr eigenes gutes Gefühl in einer Willkommenskultur pflegt, um dann die realen Verteilungskämpfe in ein Milieu zu verbannen, das sich weit weg vom eigenen Leben befindet.“

Durch diese öffentliche Kritik erhielt der unmittelbar bevorstehende Bundesparteitag besondere Brisanz. Dort wurde ein Leitantrag des Parteivorstandes, in dem unter anderem „sichere, legale Fluchtwege, offene Grenzen und ein menschenwürdiges System der Aufnahme von Geflüchteten und ein Lastenausgleich in Europa“ sowie „eine Initiative zur Legalisierung von illegalisierten Menschen“ (Die Linke 2018) gefordert wurden, diskutiert. Letztlich stimmten die Delegierten mit großer Mehrheit der Vorlage zu, nachdem diese um einen Passus hinsichtlich der dezidierten Ablehnung von Abschiebungen ergänzt worden ist. Die Linke bleibt also bei ihren Positionen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik und ist damit „das Kontrastprogramm zur AfD“, wie es Katja Kipping (2018b) ausdrückte. Im weiteren Verlauf des Parteitages kritisierte Wagenknecht (2018a) den innerparteilichen Umgang mit ihr und verlangte „eine solidarische Diskussion“. Anschließend debattierten die Delegierten – abweichend von der Tagesordnung – eine Stunde lang über die Rede der Fraktionsvorsitzenden. Kritische Stimmen

Die Linke zwischen internen Konflikten …

173

warfen ihrer Genossin vor, „keine Debatten zuzulassen und die Positionen der Partei zu ignorieren“ (WAZ 2018). Neben der inhaltlichen Ausrichtung gab es mit der im August 2018 gegründeten Sammlungsbewegung aufstehen einen weiteren Konfliktpunkt innerhalb der Linken. Auch hier spielte Sahra Wagenknecht (2018b, S. 31) die zentrale Rolle, denn sie dachte bereits wenige Monate nach der Bundestagswahl 2017 über „eine starke linke Volkspartei“ nach. Ein solches Projekt funktioniere allerdings nur, „wenn prominente Persönlichkeiten mitmachen, die den Menschen die Hoffnung zurückgeben, dass sich politisch etwas in ihrem Sinne bewegt“ (ebd.). Dieses Vorhaben stieß in der Partei auf erhebliche Vorbehalte und Widerstand. Die Parteivorsitzende Kipping (2018a, S. 5) warnte vor einer weiteren Spaltung des linken Lagers und schlug vor, „die Linke weiter als Partei in Bewegung auf[zu]stellen.“ Einen entsprechenden Beschluss fassten die Delegierten im Juni 2018 auf dem Parteitag. Dem Leitantrag des Parteivorstandes folgend bezeichnete sich Die Linke (2018) als „Partei in Bewegung“ und erklärte, dass darin „kein Gegensatz“ bestehe. Unabhängig von der Beschlusslage ihrer Partei bereitete Wagenknecht gemeinsam mit einem Unterstützerkreis, zu dem Politikerinnen und Politiker aus den Reihen von SPD, Linken und Grünen,3 Kulturschaffende4 sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler5 gehörten, ihr Projekt weiter vor (vgl. aufstehen 2018b): Anfang August 2018 schaltete die neue Sammlungsbewegung aufstehen ihren Internetauftritt frei, auf dem sich Interessenten registrieren lassen konnten. Diese Möglichkeit wurde bereits innerhalb der ersten Tage intensiv genutzt (vgl. Feldenkirchen 2018, S. 33), obgleich noch nichts Genaueres über die Initiative bekannt war. Wagenknecht (2018b, S. 25) hatte lediglich ein „Angebot für alle, die mit der herrschenden Politik unzufrieden sind und sich eine Erneuerung des Sozialstaates und eine friedliche Außenpolitik wünschen“, angekündigt. Erst am 4. September 2018 wurde der Gründungsaufruf von aufstehen (2018a) vorgestellt; in dem Papier ist unter anderem von einer neuen Friedenspolitik, sicheren Arbeitsplätzen, naturverträglichem Wirtschaften,

3Die

überregional bekanntesten sind die Bundestagsabgeordneten Marco Bülow und Sevim Dagdelen, die Kieler Oberbürgermeisterin Simone Lange, der ehemalige Staatsminister im Auswärtigen Amt Ludger Volmer und die frühere Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer. 4Exemplarisch werden Dramaturg Bernd Stegemann, Liedermacher Konstantin Wecker, Sängerin Nina Hagen und Kabarettistin Lisa Fitz genannt. 5Darunter ist der Soziologe Wolfgang Streeck, der bis zu seiner Emeritierung das renommierte Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung leitete.

174

H. Träger

„[e]xzellente[r] Bildung für alle“ und der Rettung der Demokratie die Rede. Konkrete Positionen sollte ein Arbeitsausschuss erarbeiteten. Die Sammlungsbewegung wurde seitens der Linken kritisiert. Der Parteivorsitzende Bernd Riexinger (zit. nach Abé und Lehmann 2018, S. 43) verwies darauf, dass aufstehen nicht mehr als „140000 Klicks“ sei. Katja Kipping (zit. nach ebd.) erklärte, man könne „nicht aus einer Ehe heraus die nächste Hochzeit planen.“ Dietmar Bartsch (zit. nach FAZ 2018) gab zu bedenken, „dass Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht nicht zwingend für die Zusammenführung von Linken stehen.“ Benjamin Hoff (zit. ebd.), der die Thüringer Staatskanzlei leitet und dem Reformerlager zuordnet werden kann, bezeichnete die Sammlungsbewegung als „antiaufklärerisch“.6 In den folgenden Monaten kam Sahra Wagenknecht immer mehr in die „Bredouille“ (Decker 2018, S. 2). Dem Projekt aufstehen war letztlich kein öffentlich wahrnehmbarer Erfolg beschieden; die Sammlungsbewegung „war viel Sammlung, aber wenig Bewegung“ (Fried 2019b, S. 4). Zeitweise wurde in der Bundestagsfraktion offen über einen Sturz der Vorsitzenden diskutiert. Dazu kam es allerdings nicht, denn auch Vertreterinnen und Vertreter des Reformerlagers hielten es „für gefährlich, Wagenknecht abzuwählen“ (Abé und Hagen 2018, S. 38). Im Januar 2019 legten die stellvertretende Parteivorsitzende Janine Wissler, die auch die hessische Landtagsfraktion leitet, und der Parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, Jan Korte, eine „Strategie gegen die weitere Rechtsverschiebung und gegen die weitere Erosion der Demokratie“ (Wissler und Korte 2019) vor. Das Papier, in dem es unter anderem um den Umgang mit der AfD und die damit verbundenen Herausforderungen für Die Linke geht, wurde „als machtpolitische Kampfansage“ (Abé und Hagen 2019, S. 35) wahrgenommen. Zwei Monate später kündigte Sahra Wagenknecht (zit. nach Fried 2019a, S. 5) an, nicht wieder für das Amt der Fraktionsvorsitzenden zu kandidieren, und begründete ihre Entscheidung mit gesundheitlichen Problemen als „eine[r] direkte[n] Folge des extremen Stresses, den ich in den letzten Jahren hatte.“ Welche Folgen sich durch diesen Rückzug für aufstehen ergeben, wird sich zeigen. Bernd Stegemann (2019, S. 120), der als Vorstand des Trägervereins

6Hoff

schrieb in einem mit der damaligen Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) und dem Bundesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, Michael Kellner, verfassten Beitrag für den Tagesspiegel: „Wer seine ganze Kraft darauf verwendet, sich selbst und dem linken Lager zu beweisen, der oder die bessere Linke zu sein, vernachlässigt die eigentliche politische Kontroverse mit den Neoliberalen, den Konservativen und den ganz Rechten“ (Barley et al. 2018).

Die Linke zwischen internen Konflikten …

175

der Sammlungsbewegung fungiert, gab sich zuversichtlich und sagte: „Wagenknecht ist ja nicht weg, sie hat sich nur aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen.“ Auch für ihre Partei und Fraktion wird die Entscheidung von Wagenknecht, so umstritten sie in den eigenen Reihen ist, nicht folgenlos bleiben, denn sie ist eine der wenigen „Reizfiguren, um überhaupt noch Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen“ (Fried 2019b, S. 4). Als Nachfolgerin wählte die Bundestagsfraktion im November 2019 die weitgehend unbekannte Abgeordnete Amira Mohamed Ali. Diese Personalentscheidung hatte letztlich „weniger mit der Strahlkraft der Frau aus Niedersachsen zu tun als mit den Machtverhältnissen in der seit langem zerstrittenen Fraktion“ (Wehner 2019, S. 8). Ob Dietmar Bartsch, der bisher oft im Schatten seiner Co-Vorsitzenden stand, die Lücke in der öffentlichen und medialen Wahrnehmung alleine schließen kann, ist unwahrscheinlich.

5 Die elektorale Ebene: mehr Rückschläge als Lichtblicke Angesichts der innerparteilichen Kontroversen und des dadurch entstandenen Eindruckes, Die Linke würde sich hauptsächlich mit sich selbst beschäftigen, kann es kaum verwundern, dass die Partei den ‚Sonntagsfragen‘ zufolge nicht von der eklatante Schwäche der SPD als der bisher größten Partei im ­Mitte-Links-Lager profitieren konnte. Seit der Bundestagswahl 2017 oszillierten die Umfragewerte zwischen sieben und elf Prozent. Die Hochphase war jedoch nach einem Jahr vorbei; mittlerweile befindet sich Die Linke allenfalls auf dem Niveau ihres letzten Wahlergebnisses. Zwischenzeitlich sah es so aus, als könnte die Fünf-Prozent-Marke gefährlich nahe kommen (Abb. 3). Wie weit die Linkssozialisten in den Bereich um die Sperrklausel kommen, wurde bei der Europawahl im Mai 2019 deutlich: Damals kämpfte Die Linke (2019, S. 6) – dem ersten Satz ihres Wahlprogrammes zufolge – „für ein soziales Europa, für eine andere Europäische Union, in der alle gut arbeiten und leben können.“ Mit Vorschlägen für ein Verbot von Rüstungsexporten, höhere Löhne, „eine linke Energiepolitik in Europa“ (ebd., S. 33), eine „Mobilität mit weniger Verkehr“ (ebd., S. 34) und einen „Kontinent der Solidarität statt [einer; H.T.] Festung Europa“ (ebd., S. 39) konnte die Partei aber nicht überzeugen. In einer Vorwahlbefragung nannten auf die Frage „Welche Partei vertritt bei ‚Europa‘ eine Politik in Ihrem Sinne?“ (Forschungsgruppe Wahlen 2019, S. 22) lediglich fünf Prozent Die Linke; das ist – gleichauf mit der FDP – der niedrigste Wert für alle im Bundestag vertretenen Parteien. Entsprechend schlecht fiel mit 5,5 % das Wahlergebnis aus. Die Sperrklausel, die bei Europawahlen nicht mehr gilt, ist so

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Abb. 3   Die Linke in den ‚Sonntagsfragen‘ seit der Bundestagswahl 2017 (in Prozent). Für die Monate mit mehreren ‚Sonntagsfragen‘ ist der Wert der jeweils letzten Umfrage abgebildet. (Quelle: Eigene Darstellung nach Daten von www.wahlrecht.de)

nahe wie seit der Bundestagswahl 2002 nicht mehr; das sollte die Alarmglocken der gesamten Partei schrillen lassen. Trotz deutlich gestiegener Wahlbeteiligung entfielen auf die Linkssozialisten 112.406 Stimmen weniger als 2014. In absoluten Zahlen stehen die fast flächendeckenden Zuwächse im Westen den erheblichen Verlusten im Osten gegenüber. Aufgrund der höheren Partizipationsquoten sind jedoch überall niedrigere Stimmenanteile zu verbuchen; das gilt vor allem für die neuen Länder und Berlin. Gleichwohl sollte nicht vernachlässigt werden, dass das Wahlergebnis in Ostdeutschland mit 13,4 % dreieinhalbmal so hoch in Westdeutschland ist. Die Linke hat also ihre Hochburgen immer noch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR (Tab. 3). Ein ambivalentes Bild ergibt sich auch mit Blick auf die sieben Landtagswahlen seit Herbst 2017 (s. Tab. 4): Bei allen vier Abstimmungen im Westen konnte Die Linke deutliche Gewinne verbuchen; gleichwohl blieb sie in Niedersachsen und Bayern außerparlamentarisch (vgl. Meyer und Müller-Rommel 2018; Schultze 2019). In Hessen stellt die Partei trotz der deutlichen Vergrößerung von sechs auf neun Abgeordnete die kleinste der sechs Fraktionen und spielte aufgrund einer fehlenden Mehrheit für Rot-Rot-Grün – genauso wie auf der Bundesebene – keine Rolle bei der Regierungsbildung (vgl. Debus und Faas 2019). Anders gestaltete sich die Situation in Bremen, denn dort konnte Die Linke gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen die Verluste der SPD so weit ausgleichen, dass ein Bündnis der drei Parteien deutlich auf eine parlamentarische Mehrheit kommt. Der rot-grün-rote Senat, in dem die Linkssozialisten mit

Die Linke zwischen internen Konflikten …

177

Tab. 3   Die Linke bei der Europawahl 2019 Wählerstimmen

Stimmenanteil

2019

Differenz zu 2014

Deutschland

2.056.049

• Ost (neue Länder u. Berlin-Ost)

891.384

−112.406

• West (früheres Bundesgebiet)

1.164.665

+94.739

3,8

−0,7 %-Pkt.

BadenWürttemberg

151.619

+9.259

3,1

−0,5 %-Pkt.

Bayern

137.089

+23.175

2,4

Berlin

179.943

11,9

• Ost

113.526

−8.401

−0,6 %-Pkt.

• West

66.417

Brandenburg

147.670

Bremen

22.844

+4.345

7,8

Hamburg

55.375

+7.745

7,0

Hessen

111.582

+8.009

MecklenburgVorpommern

117.297

−14.246

13,9

Niedersachsen

−207.145

2019 (%) 5,5 13,4

−5.359

18,3

−36.057

12,3

−3.042

7,5

4,4

141.841

+23.456

3,8

Nordrhein-West- 337.933 falen

+15.736

4,2

Rheinland-Pfalz 59.835

−3.142

3,1

−85.169

23,0

Saarland

29.785

Sachsen

240.288

Sachsen-Anhalt

140.082

SchleswigHolstein

50.345

Thüringen

144.866

+2.155

6,0

−34.021

14,4

−60.897

13,8

+7.043

3,7

Differenz zu 2014 −1,9 %-Pkt.

−7,2 %-Pkt.

−4,3 %-Pkt.

−8,5 %-Pkt.

−1,8 %-Pkt.

−7,3 %-Pkt.

−1,7 %-Pkt.

−1,7 %-Pkt.

−1,2 %-Pkt.

−5,7 %-Pkt. −0,2 %-Pkt.

−0,5 %-Pkt. −0,6 %-Pkt.

−0,7 %-Pkt.

−11,5 %-Pkt. −7,5 %-Pkt.

−0,7 %-Pkt. −8,7 %-Pkt.

(Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen nach Daten des Bundeswahlleiters (2014, 2019))

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H. Träger

Tab. 4   Die Linke bei den Landtagswahlen zwischen Oktober 2017 und Oktober 2019 Zweitstimmen (oder Äquivalent)

Stimmenanteil

Wählerwanderung mit AfD

Niedersachsen (15. Oktober 2017)

177.118 ( +64.906)

4,6 % ( +1,5 %-Pkt.)

10.000 an AfD

Bayern (14. Oktober 2018)

437.888 ( +186.791)

3,2 % ( +1,1 %-Pkt.)

k. A.

Hessen (28. Oktober 2018)

181.332 ( +19.844)

6,3 % ( +1,1 %-Pkt.)

15.000 an AfD

Bremen (26. Mai 2019)

166.378 ( +54.893)

11,3 % ( +1,8 %-Pkt.)

+/-0 mit AfD (1000 an CDU)

Brandenburg 135.572 (1. September 2019) (−47.606)

10,7 % (−7,9 %-Pkt.)

11.000 an AfD (19.000 an SPD)

Sachsen 224.411 (1. September 2019) (−85.170)

10,4 % (−8,5 %-Pkt.)

26.000 an AfD

Thüringen (27. Oktober 2019)

31,0 % ( +2,8 %-Pkt.)

16.000 an AfD

343.780 ( +78.352)

Anmerkung: Sofern der größte Abwanderungsstrom nicht zur AfD ging, wurde die entsprechende Partei in Klammern verzeichnet. Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen nach Daten der Landeswahlleiter und der Wahltagsbefragungen von infratest dimap (wahl.tagesschau.de)

Claudia Bernhard und Kristina Vogt die Senatorinnen für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz sowie für Wirtschaft, Arbeit und Europa stellen, ist seit August 2019 im Amt. Zwölf Jahre nach ihrer Gründung ist Die Linke erstmals in einem westdeutschen Bundesland an einer Regierung beteiligt. Angesichts der ersten Regierungsbeteiligung der Linken im Westen war es nicht überraschend, dass im Sommer 2019 auch auf Bundesebene wieder über Rot-Rot-Grün (vgl. Bingener 2019; Cleven 2019; Koch 2019) diskutiert wurde. In dieser Situation erlebte die Partei allerdings bei den Wahlen in Brandenburg und Sachsen ein unerwartetes „Desaster“ (Bubrowski 2019, S. 2). Anders als die ‚Sonntagsfragen‘ vermuten ließen, stürzte Die Linke in beiden Ländern auf Stimmenanteile zwischen zehn und elf Prozentpunkten ab, sodass die Fraktionen so klein wie noch nie seit der Wiedervereinigung sind. In Sachsen haben die Linkssozialisten weiterhin keine Machtoption. In Brandenburg verlor die rotrote Regierung ihre Mehrheit; für Rot-Rot-Grün ist der Mandatsvorsprung mit 45 von 88 Abgeordneten so gering, dass sich die SPD von Ministerpräsident Dietmar Woidke für eine ‚Kenia‘-Koalition mit CDU und Bündnis 90/Die Grünen

Die Linke zwischen internen Konflikten …

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e­ ntschied, sodass Die Linke nach zehn Jahren wieder auf die Oppositionsbänke wechseln musste. Wirkte sich in Brandenburg und Sachsen das angesichts der ‚Sonntagsfragen‘ zu erwartende ‚Kopf-an-Kopf-Rennen‘ zwischen der Partei des Ministerpräsidenten und der AfD negativ auf das Wahlergebnis der Linke aus, ist für Thüringen genau das Gegenteil zu beobachten. Der dortige Landesverband konnte „dank eines präsidial-bürgerlichen und bürgernahen Ramelow, der die Koalition aus Linken, SPD und Grünen fünf Jahre lang sicher durch alle Fährnisse der Landespolitik gelotst hat“ (Deckers 2019, S. 1), seinen Stimmenanteil im Vergleich zu 2014 vergrößern und wurde mit 31,0 % erstmals stärkste politische Kraft in einem Bundesland. Allerdings verlor die Koalition ihre parlamentarische Mehrheit; neben einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung könnte Die Linke allenfalls in einem Bündnis mit der AfD oder der CDU regieren. Angesichts der unklaren Mehrheitsverhältnisse im Erfurter Landtag bleibt den Christdemokraten gegenwärtig „im Grunde keine andere Wahl, als mehr oder weniger offiziell“ (Oppelland 2019) die rot-rot-grüne Koalition, deren Ministerpräsident Ramelow im Februar 2020 überraschend dem ­FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich unterlag und vier Wochen später doch wieder zum Regierungschef gewählt wurde, zu tolerieren. Vor diesem Hintergrund wird sich zeigen, ob es zu „eine[r] weitere[n] Öffnung der CDU für die weithin sozialdemokratisch auftretenden Linkspartei in Ostdeutschland“ (Holzhauser 2019, S. 148) kommt. Mit Blick auf die ‚Rote-Socken‘-Kampagne, die der damalige CDU-Generalsekretär Peter Hintze 1994 aus Anlass der von der PDS tolerierten rot-grünen Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt entwickelte (vgl. Träger 2011, S. 363 ff.), ist es eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die CDU eine Regierung unter Führung der Linken tolerieren muss.

6 Fazit: schwierige Zeiten für zweitkleinste Oppositionsfraktion Zum Abschluss des Beitrages werden die vier in der Einleitung herausgearbeiteten Leitfragen aufgegriffen: • Die Linke ist inzwischen nicht mehr die „erste Adresse der Protestwähler“ (Lang 2018, S. 5), denn sie gehört nach mehreren Regierungsbeteiligungen auf Landesebene und kontinuierlicher Zugehörigkeit zum Bundestag mittlerweile zu den etablierten Parteien. Infolgedessen verliert sie große Teile ihrer früheren Wählerschaft an die AfD, die trotz ihrer Verortung am anderen Ende des politischen Spektrums eine ernstzunehmende Konkurrenz für Die Linke ist.

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• Durch das neue Konkurrenzverhältnis entstand ein innerparteilicher Konflikt über die Ausrichtung in der Asyl- und Integrationspolitik, in dem vor allem Sahra Wagenknecht eine zentrale Rolle spielte. Ausweislich der Wahlergebnisse lässt sich konstatieren, dass Die Linke mit ihrem programmatischen Angebot kaum überzeugen kann. In den gegenwärtig besonders virulenten Politikfeldern – der Zuwanderung und Migration einerseits sowie bei Umweltund Klimaschutz andererseits – haben die Linkssozialistinnen und Linkssozialisten kaum eine Chance. Anders als AfD und Bündnis 90/Die Grünen profitieren sie nicht von der eklatanten Schwäche der Regierungsparteien, sondern sind selbst mit niedrigen Umfragewerte und schlechten Wahlergebnissen konfrontiert. Die Partei trabt also ähnlich wie vor einem Jahrzehnt „neben oder hinter den Debatten her“ (Neugebauer 2011, S. 167). • Die öffentliche und mediale Wahrnehmung der Linken wird weiterhin durch die Bundestagsfraktion, die seit 2017 nur noch die zweitkleinste ist und ihren Status als Oppositionsführerin an die AfD verloren hat, geprägt. Das lässt sich insbesondere auf die starke Präsenz von Sahra Wagenknecht zurückführen, die sowohl mit ihren Wortmeldungen als auch mit ihrer Sammlungsbewegung aufstehen das Bild der Partei zeitweise in stärkerem Maße als ihre Vorgänger dominierte. Aber auch nach dem Rückzug Wagenknechts wird die Fraktion eine wichtige Rolle im Kosmos der Linken spielen, denn Dietmar Bartsch ist wesentlich prominierter als die Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger. Die Linke bleibt aller Wahrscheinlichkeit nach eine Fraktionspartei. • Bei der Bundestagswahl 2017 konnte Die Linke ihren Zweitstimmenanteil auf 9,2 % geringfügig verbessern. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Sperrklausel zwischenzeitlich in gefährliche Nähe rückte. Neben den ‚Sonntagsfragen‘, die als Momentaufnahmen ohne längerfristige Aussagekraft ignoriert werden könnten, waren die Europawahl im Mai 2019 sowie die Urnengänge in Brandenburg und Sachsen wenige Monate später ernstzunehmende Alarmsignale für die elektorale Schwäche der Linken. Die Landtagswahl in Thüringen ist wegen des weit über das eigene politische Lager hinaus populären Ministerpräsidenten7 eine Ausnahme vom generellen Trend.

7In

der Wahltagsbefragung von infratest dimap (http://wahl.tagesschau.de/wahlen/201910-27-LT-DE-TH/index.shtml) gaben 70 % aller Befragten in Thüringen an, dass Bodo Ramelow „ein guter Ministerpräsident“ sei. Von den Wählerinnen und Wählern der Linken vertraten 99 % diese Meinung; auch bei den Koalitionspartnern waren die Werte mit 95 % (SPD) und 86 % (Bündnis 90/Die Grünen) deutlich überdurchschnittlich hoch. Sogar in der Wählerschaft der Oppositionspartei CDU attestierten 60 % Ramelow gute Arbeit; bei der AfD traf dies lediglich auf 26 % zu.

Die Linke zwischen internen Konflikten …

181

Ob sich die Partei bis zur regulär im September 2021 stattfindenden Bundestagswahl wieder fangen kann, wird sich zeigen. Gegenwärtig sieht es so aus, als hatten Gero Neugebauer und Richard Stöss (2015, S. 170) Recht, als sie nach der Wahl 2013 davon sprachen, dass Die Linke „den Zenit ihrer Entwicklung bereits überschritten“ habe. In ihrer gegenwärtigen Verfassung muss Die Linke, so kurios das klingen mag, hoffen, dass die Große Koalition möglichst bis zum turnusgemäßen Ende der Legislaturperiode des Bundestages hält. Vorgezogene Neuwahlen würden die Partei in einer ungünstigen Situation treffen, denn sie leidet als zweitkleinste von sechs Parlamentsfraktionen unter einem „Aufmerksamkeitsdefizit“ (Lang 2018, S. 56), muss den Rückzug von Sahra Wagenknecht aus der ersten Reihe kompensieren und sich programmatisch erkennbarer profilieren. Hinzukommt, dass die SPD im Dezember 2019 mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zwei im linken Teil der Sozialdemokratie zu verortende Politiker zu ihren neuen Vorsitzenden wählte und damit in der Linken zumindest kurzzeitig eine Debatte über eine „Fusion mit der SPD“ (Decker 2019) auslöste. Inwieweit die SPD auf der elektoralen Ebene den Linkssozialisten wieder gefährlich werden könnte, wird sich zeigen. Die politischen Akteure der Linken stehen vor einer wahren Herkulesaufgabe, über der das Damoklesschwert einer Bundestagswahl, die – zumindest vor der Covid-19-Pandemie – zwischenzeitlich auch vor dem turnusgemäßen Termin erwartet wurde, schwebt.

Literatur Abé, N., & Deggerich, M. (2017). Souverän geht anders. Der Spiegel, 43, 46. Abé, N., & Hagen, K. (2018). Für das Volk. Der Spiegel, 48, 38. Abé, N., & Hagen, K. (2019). Zeit für den Neustart. Der Spiegel, 28, 34–35. Abé, N., & Lehmann, T. (2018). Frisch geschlüpft. Der Spiegel, 39, 42–43. Aufstehen. (2018a). Gründungsaufruf. https://www.aufstehen.de/gruendungsaufruf/. Zugegriffen: 13. Sept. 2019. Aufstehen. (2018b). Unterstützer. https://www.aufstehen.de/unterstuetzer/. Zugegriffen: 13. Sept. 2019. Bajohr, S. (2017). Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 14. Mai 2017: ­Schwarz-Gelb statt Rot-Grün. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 48, 614–633. https://doi. org/10.5771/0340-1758-2017-3-614. Barley, K., Hoff, B., & Kellner, M. (2018). Wer aufsteht, muss auch vorwärts gehen. https:// causa.tagesspiegel.de/politik/ist-die-zeit-reif-fuer-eine-linke-sammlungsbewegung/weraufsteht-muss-auch-vorwaerts-gehen.html. Zugegriffen: 13. Sept. 2019.

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H. Träger

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Bündnis 90/Die Grünen: Grüne Erfolgswelle nach enttäuschendem Wahlergebnis Lothar Probst 1 Einleitung Aus der Perspektive von Bündnis 90/Die Grünen scheint die Bundestagswahl 2017 Lichtjahre von ihrer heutigen Position im Parteiensystem entfernt zu sein. Mit einem Ergebnis von 8,9 % wurden sie lediglich die kleinste Fraktion im Bundestag und blieben weit hinter ihren ursprünglichen Erwartungen zurück. Nur ein Jahr später begann eine grüne Erfolgswelle, der die Partei in den Umfragen zeitweilig zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten der Unionsparteien gemacht hat. Bei den Landtagswahlen in den westdeutschen Bundesländern, die seit der Bundestagswahl stattgefunden haben, konnten sie Rekordergebnisse eingefahren. Die SPD haben sie in den Umfragen bereits weit hinter sich gelassen, und sie sind im Begriff, sich als zweitstärkste Kraft im Parteiensystem zu etablieren. Wie ist es zu erklären, dass die Grünen einerseits bei der Bundestagswahl 2017 so enttäuschend abgeschnitten haben und andererseits innerhalb von nur zwei Jahren in der Wählergunst so stark gestiegen sind? Ausgehend von dieser Frage geht der folgende Beitrag zunächst auf die Ausgangsituation vor der Bundestagswahl 2017 ein, analysiert dann die Wahlkampfstrategie sowie das Wahlergebnis von Bündnis 90/Die Grünen und skizziert anschließend die Gründe für das schnelle Wachstum der Partei.

L. Probst (*)  Institut für Interkulturelle und Internationale Studien, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Jun und O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29771-8_7

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188

L. Probst

2 Die Situation von Bündnis 90/Die Grünen nach der Bundestagswahl 2013 Bereits die Bundestagswahl 2013 endete für die Grünen mit einer herben Enttäuschung. Mit einer Wahlkampfstrategie, die vor allem auf Steuergerechtigkeit und Umverteilung sowie auf eine klare Koalitionsaussage für Rot-Grün setzte, gelang es nicht, die Wählerinnen und Wähler zu überzeugen, obwohl die Grünen ein Jahr vor der Wahl in den Umfragen noch mit einem guten Ergebnis rechnen konnten. Nach der Wahl gab es zwar kein Tabula rasa in der grünen Partei, aber eine heftige und kritische Kontroverse über die Gründe der Wahlniederlage. Einerseits wurde die Wahlkampfstrategie in Frage gestellt, andererseits einzelnen Personen die Verantwortung für das schlechte Ergebnis angelastet. Bereits wenige Tage nach dem Wahlausgang erfolgten erste Rücktritte. Während Claudia Roth sehr schnell ihren Rückzug aus dem Bundesvorstand ankündigte, erklärte Jürgen Trittin erst unter Druck, dass er seine Funktion im Fraktionsvorstand aufgeben werde (vgl. Probst 2015a, S. 154). Trotz der Wahlniederlage bot sich den Grünen aufgrund des Wahlergebnisses die Chance, mit der Union, die nur knapp die absolute Mehrheit verfehlt hatte, eine gemeinsame Regierung zu bilden. Die Sondierungsgespräche scheiterten allerdings an dem fehlenden Mut einer Mehrheit der grünen Verhandlungskommission, ein solches Bündnis zu wagen. Es wurden vor allem inhaltliche Differenzen zur Union geltend gemacht. Gleichwohl blieb das erneute Scheitern an einer Regierungsbeteiligung nicht folgenlos. Sowohl das steuerpolitische Konzept als auch die Teile des Wahlprogramms, die den Eindruck erweckten, dass die Grünen vor allem auf Verbote setzen, wurden nach der Bundestagswahl kritisch hinterfragt. In einer Beschlussvorlage des Bundesvorstandes auf der Bundesdelegiertenkonferenz im Oktober 2013 hieß es: „[D]ie Debatte um unsere steuerpolitischen Vorschläge hat sich nicht so gestaltet, wie wir es wollten, nicht zuletzt aus unserer eigenen Verantwortung. Sie wurde mit großer Härte, manchmal auch gegen die Fakten geführt.“ Außerdem sollten in Zukunft von den „grünen Kernthemen Brücken zu neuen Feldern“ gebaut werden sowie eine Öffnung von Koalitionsoptionen stattfinden.1 Es deutete sich vor diesem Hintergrund an, dass die Grünen zukünftig wieder stärker ihren ökologischen

1Beschluss

der 36. Bundesdelegiertenkonferenz vom 18.–20. Oktober 2013 in Berlin: Gemeinsam und solidarisch für eine starke grüne Zukunft (online: https://wolke. netzbegruenung.de/s/Pg4EW2RpcY3sCND?path=%2F2013-10-Berlin#pdfviewer, 10.09.2019).

Bündnis 90/Die Grünen: Grüne Erfolgswelle …

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Markenkern herauskehren und bei den nachfolgenden Landtagswahlen ihre Koalitionspräferenzen der jeweiligen politischen Situation anpassen würden – ohne Festlegung auf ein Modell. Bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen ein Jahr nach der Bundestagswahl konnten sie sich immerhin, wenn auch mit schwachen Ergebnissen, behaupten. In Thüringen wurden sie sogar Teil einer rot-rot-grünen Regierung unter Führung der Linkspartei (vgl. Oppelland 2015). Die Bilanz bei den Bürgerschaftswahlen in den beiden Stadtstaaten Bremen und Hamburg war 2015 eher gemischt. In Bremen erlitten die Grünen deutliche Verluste, während sie in Hamburg moderat zulegen konnten. In Hamburg traten sie in eine Koalition mit der SPD ein, die ihre absolute Mehrheit verloren hatte, während es in Bremen trotz der Verluste für die Fortführung der seit acht Jahren amtierenden ­rot-grünen Regierung reichte (vgl. Patrick Horst 2015; sowie Lothar Probst 2015b). Zu einem Triumph, der u. a. der Persönlichkeit des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann geschuldet war, geriet die dortige Landtagswahl im März 2016. Die Grünen wurden vor der CDU stärkste Partei und konnten in einem grün-schwarzen Bündnis erneut den Ministerpräsidenten stellen (vgl. Gabriel und Kornelius 2018). Aber die Ergebnisse weiterer Landtagswahlen im Wahljahr 2016 fielen eher enttäuschend aus. In Sachsen-Anhalt reichte es knapp für das Überspringen der Fünfprozenthürde und – damals noch ein Kuriosum – für eine Funktion als kleines Beiboot einer Koalition aus CDU und SPD, während die Grünen in Mecklenburg-Vorpommern den Einzug in den Landtag verpassten. Geradezu einen Absturz von fast zehn Prozentpunkten erlebten sie in Rheinland-Pfalz. Dort konnten sie sich gerade noch in eine Ampelkoalition ­ retten. Selbst in Berlin, traditionell eine der Hochburgen der Grünen, blieben sie trotz eines guten Ergebnisses von 15,2 % hinter ihren Erwartungen zurück und wurden knapp hinter der Linkspartei nur viertstärkste Kraft im Abgeordnetenhaus. Dennoch erzielten sie auch hier faktisch einen Bedeutungszuwachs, indem sie Teil einer Linkskoalition wurden. Ein schlechtes Omen waren die Landtagswahlen im März 2017 im Saarland und im Mai 2017 in Nordrhein-Westfalen, die beide desaströs für die Grünen ausgingen. Im Saarland schafften sie nicht den Sprung über die Fünfprozenthürde, und in Nordrhein-Westfalen verloren sie fast die Hälfte ihrer Stimmanteile. Der einzige Hoffnungsschimmer war die ebenfalls im Mai stattfindende Landtagswahl in Schleswig-Holstein, wo es der Landespartei mit Robert Habeck an der Spitze gelang, ein gutes Ergebnis von 12,9 % zu erzielen und mit der CDU und FDP eine Jamaika-Koalition zu bilden (vgl. Knelangen 2017). Die Entwicklung der grünen Partei seit der Bundestagswahl 2013 bot insofern ein paradoxes Bild: Auf der einen Seite erzielte sie – von den Ausnahmen Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein abgesehen – nur

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L. Probst

Tab. 1   Zweitstimmenergebnis von Bündnis 90/Die Grünen bei Landtagswahlen zwischen September 2013 und September 2017 (%) Bundesland

Wahljahr

Wahlergebnis

Regierungsbeteiligung

Brandenburg

2014

6,2 (+0,5)

Keine

Sachsen

2014

5,7 (+0,7)

Keine

Thüringen

2014

5,7 (−0,5)

LINKE-SPD-Grüne

Bremen

2015

15,1 (−7,4)

SPD-Grüne

Hamburg

2015

12,3 (+1,1)

SPD-Grüne

Sachsen-Anhalt

2016

5,2 (−1,9)

CDU-SPD-Grüne

Baden-Württemberg

2016

30,3 (+6,1)

Grüne-CDU

Rheinland-Pfalz

2016

5,3 (−10,1)

SPD-FDP-Grüne

Berlin

2016

15,2 (−2,4)

SPD-LINKE-Grüne

Mecklenburg-Vorpommern

2016

4,8 (−3,9)

Keine

Nordrhein-Westfalen

2017

6,4 (−4,9)

Keine

Saarland

2017

4,0 (−1,0)

Keine

Schleswig-Holstein

2017

12,7 (−0,3)

CDU-Grüne-FDP

Datenquelle: Bundes- und Landeswahlleiter

bescheidene Wahlergebnisse oder fuhr sogar deutliche Verluste ein (s. Tab.1), auf der anderen Seite konnte sie die Zahl ihrer Regierungsbeteiligungen in unterschiedlichen Koalitionsformaten deutlich ausbauen und damit zu einem Machtfaktor im Bundesrat werden.

3 Die Diskurslage vor der Bundestagswahl 2017 Zwischen der Bundestagswahl 2013 und 2017 hatte sich die Diskurslage in der Bundesrepublik einschneidend verändert. Die unerwartete Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA im November 2016 sorgte nach seiner Inauguration für Turbulenzen in den transatlantischen Beziehungen. Seine Politik der Nadelstiche gegen Europa und insbesondere Deutschland sowie seine Einschränkungen einer freien Handelspolitik erforderten von allen im Bundestag vertretenen Parteien eine Neupositionierung ihrer Politik. Die Grünen mit ihrem Widerstand gegen Freihandelsabkommen wie TTIP und CETA sahen sich mit einmal in einer ungewollten Allianz mit Trump. Aber nicht nur die außenpolitischen

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Veränderungen drängten die Grünen eher in eine Randrolle, sondern vor allem die innenpolitischen Turbulenzen im Zuge der Flüchtlingszuwanderung. Dieses Thema bestimmte ab 2015 bis zur Bundestagswahl die mediale und politische Debatte und führte zu einer starken Polarisierung der Gesellschaft. Elektoral war vor allem die Alternative für Deutschland (AfD) die Nutznießerin dieser Polarisierung, die sich vorrangig gegen Angela Merkel richtete, aber in deren Schlepptau natürlich auch gegen alle Parteien, die für die Aufnahme der Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Afrika und dem Irak eintraten (vgl. Lees 2018, S. 125). Tatsächlich bestand unter allen damals im Bundestag vertretenen Parteien de facto „ein Konsens über die Ausrichtung der Migrationspolitik“ (Zohlnhöfer 2019, S. 605). Das Eintreten für offene Grenzen und eine Willkommenskultur für Flüchtlinge gehörte seit Gründung der Grünen zu ihrer DNA. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich das radikale Eintreten für ungebremste Zuwanderung zwar abgeschwächt, und im Bundesrat stimmte die baden-württembergische Landesregierung unter Führung der Grünen 2014 sogar mit den Parteien der Großen Koalition für Änderungen am Asylrecht, aber zugleich war die grüne Partei in dieser Frage gespalten. Sowohl der Bundesvorstand als auch die Spitze der Bundestagsfraktion und verschiedene grüne Vertreter anderer Landesregierungen lehnten die Position von Baden-Württemberg ab und kritisierten den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann.2 Hinzu kam, dass namhafte grüne Vertreter die Vorkommnisse in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln relativierten. Die Partei, die ansonsten entschieden für die Rechte von Frauen eintrat, verkannte die Dimension der massenhaften Übergriffe auf Frauen durch Migranten und erklärte diese einfach zu einem Bestandteil des alltäglichen Sexismus in der Bundesrepublik. Claudia Roth verurteilte zwar die Übergriffe, sagte aber zugleich: „Es gibt auch im Karneval oder auf dem Oktoberfest immer wieder sexualisierte Gewalt gegen Frauen. Ein großer Teil der derzeitigen Empörung richtet sich aber nicht gegen sexualisierte Gewalt, sondern auf die Aussagen, dass die potenziellen Täter nordafrikanisch und arabisch aussehen.“3 Auch das Abflauen der zunächst euphorischen Willkommenskultur in der Bundesrepublik

2Vgl.

ZEIT ONLINE vom 19. September 2014: Die Grünen fühlen sich von Kretschmann verkauft (online: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-09/bundesrat-asyl-gruenkretschmann-kritik, 12.10.2019). 3Claudia Roth im Interview mit der Zeitung DIE WELT am 8. Januar 2016 (online: https:// www.welt.de/politik/deutschland/article150753781/Mob-ruft-zur-Jagd-auf-nicht-weisseMenschen-auf.html, 14.09.2019).

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und die von Islamisten begangenen Terrorattentate u. a. in Paris, London, Berlin und Nizza mit hunderten von Toten schufen eine Stimmung, in der es die Grünen mit ihrer migrationsfreundlichen Politik schwer hatten. Als kleinste Fraktion im Deutschen Bundestag hatten sie außerdem nur begrenzte Möglichkeiten, ihre Position der Öffentlichkeit zu vermitteln. Die Rückbesinnung der Grünen auf ihre ökologischen Wurzeln und der Versuch, die Klimapolitik ins Zentrum zu rücken, entfalteten vor dem Hintergrund der veränderten Diskurslage insofern nicht die gewünschte Wirkung. Angesichts der Fokussierung der öffentlichen Debatte auf die Zuwanderungsfrage und auf die Auseinandersetzung zwischen der AfD und Angela Merkel als Symbolfigur für eine nach Ansicht etlicher Wähler gescheiterten Flüchtlingspolitik gelang es den Grünen jedenfalls nicht, mit ihrem auf Ökologie orientierten Wahlkampf durchzudringen. Als weiteres Problem erwies sich das zwischenzeitliche Hoch für die SPD, nachdem diese Anfang des Jahres 2017 Martin Schulz zu ihrem Kanzlerkandidaten erkoren hatte. Die SPD erlebte nach dessen Nominierung ein steiles Stimmungshoch, das auch zulasten der Grünen ging (vgl. Lees 2018, S. 125). Während die Grünen im Dezember 2016 in den Umfragen immerhin noch bei 13 % lagen, fielen sie auf dem Höhepunkt des Hypes um Martin Schulz auf 7 % zurück.4 Das trug zusätzliche Verunsicherung in die Partei, die darüber stritt, ob die von den beiden Spitzenkandidaten eingeschlagene Äquidistanz-Strategie gegenüber Union und SPD richtig ist. Aber auch als der Schulz-Hype längst vorbei war, konnten die Grünen, die am Kurs der Eigenständigkeit festhielten, bis zur Bundestagswahl 2017 ihre Umfragewerte nicht mehr nachhaltig verbessern.

4 Die Wahlkampfstrategie Wahlkämpfe sind ein zentrales Element von Wettbewerbsdemokratien, in denen Parteien sich, ihre Kandidaten und ihre Wahlprogramme den Wählern vorstellen, um sie von einer Stimmabgabe zu überzeugen und die eigenen Stimmenanzahl zu maximieren (vgl. Klingemann und Voltmer 1998, S. 396). Über Erfolg und Misserfolg von Wahlkämpfen entscheiden u. a. die richtige Aufstellung der Spitzenkandidaten, die programmatische Orientierung und Themenauswahl, die

4Vgl.

infratest dimap: Die Sonntagsfrage im Zeitverlauf von September 2013 bis Oktober 2019 (online: https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/sonntagsfrage/, 22.10.2019).

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Koalitionsstrategie und die Wahlkampagne. Diese vier Punkte stehen deshalb im Mittelpunkt der folgenden Analyse.

4.1 Das Vakuum an der Spitze der Partei und die Wahl der Spitzenkandidaten Ein Problem der Grünen nach der Bundestagswahl 2013 war, dass nach dem Rücktritt von Claudia Roth und Jürgen Trittin zunächst ein Vakuum an der Spitze der Partei entstand. Cem Özdemir, seit 2008 mit Claudia Roth Parteivorsitzender, wurde nach der Bundestagswahl 2013 erneut zum Vorsitzenden gekürt. Für den linken Flügel trat Simone Peter, vormalige Ministerin für Umwelt, Energie und Verkehr im Saarland, an. Das Tandem funktionierte aber nicht, weil beide – von verschiedenen Flügeln kommend – sich häufig im Wege standen und öffentlich Konflikte austrugen, bei denen es um persönliche Profilierung, aber auch um inhaltliche Positionen der Grünen ging. Ebenso hatte die neu gewählte Fraktionsspitze mit Kathrin Göring-Eckhardt, der es erstaunlich gut gelang, ihre Mitverantwortung für das schlechte Wahlergebnis bei der Bundestagswahl in den Hintergrund treten zu lassen, und Anton Hofreiter vom linken Flügel große Mühe, sich öffentlich Gehör zu verschaffen – zumal die Grünen als kleinste Fraktion den Bundestag nicht im erhofften Maße als Bühne zur Auseinandersetzung mit der Politik der Großen Koalition nutzen konnten. Die personelle Konstellation an der Spitze von Partei und Fraktion war also alles andere als optimal, und die Dissonanzen in der Außendarstellung waren unüberhörbar. Vor diesem Hintergrund erhielten die Grünen in den Ländern durch die vielen Regierungsbeteiligungen ein stärkeres Gewicht. Zwischen 2013 und 2017 wuchs die Anzahl der Regierungsbeteiligungen zwischenzeitlich auf elf. Erste Ansätze zur Koordination grüner Politik im Bundesrat und im Bund gab es zwar schon seit 2011, aber mit der wachsenden Zahl von Regierungsbeteiligungen professionalisierten die Grünen die sogenannte G-Koordination (vgl. Jungjohann 2018, S. 34; Jungjohann und Switek 2019, S. 626). Der wachsende Einfluss der Länder hatte aber auch Auswirkungen auf die Stellung der Länder und ihrer maßgeblichen Politiker innerhalb der Partei. Vor allem die grüne Regierungszentrale in Baden-Württemberg mit Winfried Kretschmann und dem seinerzeitigen Bevollmächtigten des Landes in Berlin, Volker Ratzmann, nutzte das Vakuum an der Spitze der Partei, um nicht nur die Arbeit der Landesregierungen in der sogenannten großen und kleinen Kaminrunde der ­baden-württembergischen Landesvertretung in Berlin zu koordinieren, sondern auch, um Einfluss auf die Politik der Bundesebene zu nehmen. „Mit der

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G-Koordination“, so Arne Jungjohann und Natascha Spörle (2017, S. 1), „haben die grünen Regierungsakteure der Länder informelle Strukturen etabliert, um sich untereinander und mit den Bundesgrünen abzustimmen“. Dabei ging es einerseits darum, die parteiinterne Koordination bezüglich des Abstimmungsverhaltens im Bundesrat effektiver zu gestalten, andererseits aber sollten dadurch auch die Positionen zwischen Vertretern der Landesregierungen sowie der Partei- und Fraktionsspitze soweit wie möglich harmonisiert werden. Gleichwohl gelang es nur bedingt, die Geschlossenheit der Partei nach außen zu kommunizieren. Vom linken Flügel wurde immer wieder die Politik des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann kritisiert, vor allem, wenn Baden-Württemberg aus dem Reigen der Länder, an deren Regierungen die Grünen beteiligt waren, ausscherte und u. a. in der Asylgesetzgebung mit den Ländern stimmte, in denen die Große Koalition die Mehrheit hatte. Auch seine ablehnende Haltung zur Einführung einer Vermögenssteuer und zu Steuererhöhungen, die er bereits im Wahlkampf 2013 kritisiert hatte, wurde von Vertretern des linken Flügels ins Visier genommen. Die Frage, welches Gespann die Partei unter diesen Voraussetzungen als Spitzenduo in den Wahlkampf führen sollte, war im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 alles andere als klar. Da sich eine einvernehmliche Einigung unter den Spitzenakteuren nicht abzeichnete, griff die Partei auf das bereits bei der Bundestagswahl 2013 erprobte Modell der Urwahl zurück (vgl. Probst 2015a, S. 138). Bezeichnenderweise ging die Entscheidung zur Durchführung einer Urwahl auf einen Beschluss des Länderrates vom Juni 2016 zurück. Mit der Parole „Basis ist Boss“ versuchten die Grünen, aus dem personellen Dilemma eine Tugend zu machen und erneut die grünen Mitglieder über das Spitzentandem entscheiden zu lassen. Ein Kuriosum war, dass Kathrin Göring-Eckhardt als einzige Bewerberin auf dem Stimmzettel stand und damit nach den Statuten der Grünen (Frauenquote) de facto schon gewählt war (vgl. Eith und Meier 2018, S. 7). Simone Peter als Parteivorsitzende hatte vorher erklärt, dass sie nicht antreten werde. Auch andere Frauen vom linken Flügel waren nicht bereit, zu kandidieren. Interessant war deshalb das Duell auf der Männerseite. Mit Cem Özdemir und Anton Hofreiter kandidierten zwei Männer, die Spitzenämter auf Bundesebene innehatten. Als dritter Mann gesellte sich Robert Habeck dazu, der nach seinen Erfolgen in Schleswig-Holstein schon seit längerer Zeit auf die bundespolitische Bühne drängte. Wie schon 2013 gehörte zur Prozedur der Urwahl, dass die vier Kandidaten sich auf ausgewählten Urwahlforen in unterschiedlichen Regionen der Parteibasis präsentierten. Außerdem bot die im November 2016 durchgeführte Bundesdelegiertenkonferenz in Münster die Gelegenheit, sich den Delegierten vorzustellen. 59 % der damals 61.000 Mitglieder der Grünen nahmen schließlich

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an der Urwahl teil. Wie von vielen erwartet wurden zwar Kathrin Göring Eckhardt und Cem Özdemir als Spitzenkandidaten gewählt, aber die eigentliche Überraschung war das Ergebnis für Robert Habeck, der mit 75 Stimmen nur hauchdünn hinter Cem Özdemir lag und mit diesem Ergebnis seine zukünftigen bundespolitischen Ambitionen anmelden konnte.

4.2 Die programmatische Orientierung und thematische Ausrichtung des Wahlkampfes Nicht zuletzt durch die thematische Akzentsetzung auf die Steuerpolitik im Bundestagswahlkampf 2013 war in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, dass in der Programmatik der Grünen „eine Zunahme regulativer Politikpositionen sowie eine stärkere Orientierung an sozialstaatlichen Interventionen“ (Jakobs und Jun 2018, S. 266) zu verzeichnen ist. Auch nach der Bundestagswahl 2013 schwelte der Konflikt um die Ausrichtung in der Steuerpolitik weiter und spitzte sich in einer Kontroverse um die Einführung einer Vermögenssteuer zu. Der Versuch einer von Simone Peter geleiteten Kommission, sich in dieser Frage auf einen Kompromiss zu einigen, scheiterte. Dadurch brachen auf der Münsteraner Bundesdelegiertenkonferenz im November 2016 die Grabenkämpfe zwischen linkem und realpolitischem Flügel in dieser Frage erneut auf. Die Kontroverse wirkte wie ein Nachhutgefecht zur Diskussion um das schlechte Ergebnis bei der Bundestagswahl 2013. Als Antipoden auf dem Parteitag standen sich vor allem Winfried Kretschmann und Jürgen Trittin gegenüber. Kretschmann lehnte eine Politik der Steuererhöhungen und Belastungen des Mittelstandes entschieden ab, während Trittin eine flammende Rede für eine angemessene Besteuerung der Reichen hielt. Um den Konflikt im Vorfeld des Parteitages zu entschärfen, hatte der Fraktionsvorstand einen Kompromissantrag formuliert, der die Einführung einer Vermögenssteuer auf „Superreiche“ begrenzen sollte und letzten Endes die Mehrheit der Delegiertenstimmen erhielt. Gleichwohl vermittelte die Kontroverse den Eindruck, dass die Partei in Fragen ihrer politischen Ausrichtung alles andere als geschlossen war. Erst als nach der Urwahl, Anfang 2017, die Frage der Spitzenkandidatur entschieden war, nahm die Programmdebatte zur Bundestagswahl Fahrt auf. Der Verabschiedung des Wahlprogramms auf dem grünen Parteitag im Juni 2017 ging zunächst ein intensiver Diskussionsprozess an der Basis der Partei voraus, nachdem der Entwurf des Bundesvorstandes im März der Öffentlichkeit vorgestellt worden war. Über die parteiinterne Online-Plattform „Wurzelwerk“ konnten sich die Mitglieder an der Erstellung des Wahlprogramms beteiligen (Schackmann

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2019, S. 42). Zugleich war die Parteiführung mit dem Spitzenduo darum bemüht, nach den Erfahrungen der Bundestagswahl 2013 den ökologischen Markenkern der Grünen wieder stärker ins Zentrum des Wahlprogramms zur rücken. Cem Özdemir sagte bei der Präsentation des Entwurfs: „Öko ist für uns nicht ein Spiel-, sondern ist das Standbein, auf dem wir stehen“.5 Geht man davon aus, dass Wahlprogramme in der Regel „als eine auf vier Jahre begrenzte Erklärung von Handlungsabsichten zu verstehen (sind), die dem Wähler Orientierungshilfen und der einzelnen Partei Selbstvergewisserung über ihre aktuellen inhaltlichen Positionen geben sollen“ (Jakobs und Jun 2018, S. 265), dann sollte die Schwerpunktsetzung des grünen Wahlprogramms auf dem Gebiet der Umwelt-, Energie- und Klimapolitik den Wählern auf jeden Fall signalisieren, dass die Partei die Botschaft von 2013 verstanden hatte. Zu den ambitionierten Zielen gehörten die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens durch die Verabschiedung eines nationalen Klimaschutzgesetzes, der Ausstieg aus der Kohleverstromung, die hundertprozentige Umstellung auf erneuerbare Energien bis 2030, die sofortige Abschaltung der 20 schmutzigsten Kohlekraftwerke und die Einführung einer CO2-Steuer anstelle einer Stromsteuer (vgl. Eith und Meier 2018, S. 8 f.). Außerdem forderten die Grünen ein Ende des fossilen Verbrennungsmotors bis 2030. „Die zweite Säule des grünen Wahlkampfes bildete die klare gesellschaftspolitische Abgrenzung gegen die AfD und, zumindest in der Flüchtlingspolitik, auch gegen die CSU“, so Hilmer und Gagné (2018, S. 384). Die ursprünglich erhoffte Polarisierung gegen die Unionsparteien in der Frage der Homo-Ehe hatte sich dagegen durch deren vorherige Verabschiedung im Bundestag erledigt. Klare Kante zeigten die Grünen im Wahlkampf außerdem in der Flüchtlingspolitik. Das Recht auf volle Wiederherstellung des Familiennachzugs, die Ablehnung der von der CSU geforderten Obergrenze und von Abschiebungen nach Afghanistan (vgl. Hilmer und Gagné 2018) waren weitere Elemente eines Abgrenzungswahlkampfes gegen die AfD und die Unionsparteien. Die sozial- und steuerpolitischen Forderungen wurden dagegen sehr moderat formuliert, um, anders als 2013, bürgerliche Wählerschichten nicht zu verschrecken. Dass die Vermögenssteuer für Superreiche ins Wahlprogramm kam, war nach dem Münsteraner Parteitag, als darum noch heftig gestritten wurde, zwar ein kleiner Schönheitsfehler, der aber keine nachteiligen Folgen hatte.

5Vgl. ZEIT ONLINE vom 10. März 2017: Grüne wollen mehr Geld für Ökologie und Kinder (online https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-03/bundestagswahl-die-gruenen-wahl­ programm, 12.10.2019).

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4.3 Die Koalitionsstrategie Vor der Bundestagswahl 2013 hatten sich die Grünen bis zur Wahl ohne Wenn und Aber auf ein rot-grünes Bündnis festgelegt, obwohl mit jeder Umfrage diese Option immer unwahrscheinlicher geworden war. Diesen Fehler wollten sie nicht noch einmal begehen. In einem Beschlussantrag der 36. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz direkt nach der Bundestagswahl 2013 heißt es in Bezug auf die zukünftige Bündnisstrategie: „Eigenständigkeit bedeutet, auf Grundlage unserer Werte mit allen demokratischen Parteien zusammenzuarbeiten […]. Die SPD mag uns am nächsten stehen, jedoch sind wir nun zum dritten Mal in Folge mit unserem Wahlziel, eine rot-grüne Mehrheit herbeizuführen, gescheitert. […] Andere Koalitionsoptionen müssen grundsätzlich möglich sein – sei es Rot-Grün-Rot oder Schwarz-Grün.“6 Tatsächlich wurden in der Folgezeit die ­ Betonung der Eigenständigkeit der Grünen und die Offenheit für Koalitionen in alle Richtungen zu einem festen Bestandteil ihrer Wahlkampfstrategie. Die Länder wurden in den Landtagswahlen nach der Bundestagswahl zu Laboratorien unterschiedlichster Koalitionen, an denen sich die Grünen beteiligten. Das unterstrich ihre Rolle als neue Multikoalitionspartei. Je näher jedoch die Bundestagswahl 2017 rückte, desto stärker begann parteiintern der Kampf um die Ausrichtung der Koalitionsstrategie. Das hatte auch damit zu tun, dass nach der Wahl von Cem Özdemir und Kathrin Göring-Eckhardt als Spitzenkandidaten die Medien bereits über eine ­ Annäherung der Grünen an die Union spekulierten. Der linke Flügel wollte durch entsprechende inhaltliche Festlegungen zumindest verhindern, dass die Entscheidung automatisch in Richtung einer schwarz-grünen oder sogar schwarz-grün-gelben Koalition läuft. Das war auch der Hintergrund für Auseinandersetzungen um Formulierungen im Wahlprogramm. Die beiden Spitzenkandidaten waren jedoch darauf bedacht, dass Wahlprogramm so geschmeidig wie möglich zu formulieren, um nach der Wahl freie Handlungsmöglichkeiten für Koalitionsgespräche zu haben. In dem Wissen, dass Wählerinnen und Wähler selten lange Wahlprogramme lesen, wurden die wichtigsten Essentials aus dem Wahlprogramm deshalb noch in einer 10-Punkte-Liste verdichtet.7 Das bot den Spitzenkandidaten die Möglichkeit, umstrittene und weniger populäre

6Beschluss

der 36. Bundesdelegiertenkonferenz (siehe Fn. 1). Bündnis 90/Die Grünen (2017): Wofür wir Verantwortung übernehmen wollen. Zehn-Punkte-Plan für Grünes Regieren (online https://cms.gruene.de/uploads/documents/ BDK2017_Wahlprogramm_Bundestagswahl_2017_Schlusskapitel.pdf, 20.10.2019).

7Vgl.

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Forderungen und Ziele unter den Tisch fallen zu lassen. So tauchte die Vermögenssteuer in der 10-Punkte-Liste gar nicht auf. Stattdessen konzentrierte sich die Liste u. a. auf die wichtigsten ökologischen Forderungen, das Verbot von Rüstungsexporten in Krisenregionen, den Ausstieg aus der industriellen Massentierhaltung, die Einstellung von mehr Polizisten und die Einführung einer Bürgerversicherung. Doch die Liste nährte schon vor der endgültigen Verabschiedung des Wahlprogramms bei einigen Vertretern des linken Flügels den Verdacht, dass Cem Özdemir und Kathrin Göring-Eckhardt damit die Tür für Koalitionen mit der Union öffnen wollten. Tatsächlich versuchten beide auf dem Programmparteitag den Eindruck zu vermeiden, dass jede diese Forderungen in Stein gemeißelt sei. Man sollte sie nicht als rote Linien, sondern als essenzielle Punkte für potentielle Koalitionsverhandlungen verstehen. Es war vor diesem Hintergrund klar, dass die Grünen – sollte sich nach der Bundestagswahl die Möglichkeit bieten – anders als nach der Bundestagswahl 2013 auf jeden Fall bereit sein würden, auch in eine lagerübergreifende Bundesregierung einzutreten.

4.4 Die Wahlkampfführung und Wahlkampagne Seit der Bundestagswahl 2005 haben die Grünen ihre Kampagnen- und Kommunikationsfähigkeit nach innen und außen systematisch ausgebaut und professionalisiert. Es gibt eine zentrale Mitgliederverwaltung und die Möglichkeit, die Mitglieder über E-Mail schnell mit Informationen zu versorgen. Außerdem engagieren sie Agenturen, die in die Wahlkampagnen eingebunden werden (vgl. Probst 2015a, S. 147). Für die Dachkampagne der Parteizentrale standen im Bundestagswahlkampf 2017 5,5 Mio. EUR zur Verfügung.8 Der Wahlkampf wird darüber hinaus auch dezentral von den verschiedenen Kreisverbänden und den jeweiligen Bundestagskandidaten geführt, die häufig eigenes Werbematerial und eigene finanzielle Mittel einsetzen (vgl. Giebler und Melcher 2019, S. 52 f.). Michael Kellner, der nach der Bundestagswahl 2013 zum neuen Politischen Bundesgeschäftsführer gewählt worden war, übernahm zum ersten Mal in Zusammenarbeit mit Robert Heinrich die operative Leitung des Bundestagswahlkampfes. Er hatte entschieden, nicht – wie in den Vorjahren – die Werbeagentur „Zum goldenen Hirschen“ zu engagieren, sondern für den Wahlkampf

8Nach Angabe

der Bundesgeschäftsstelle.

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eine eigene Auf-Zeit-Agentur zu gründen, die sich den verheißungsvollen Namen ­„Ziemlich-Beste-Antworten“ (ZBA) gab. In dieser Agentur wirkten Fachleute aus verschiedenen Disziplinen zusammen, die sich um Strategie, Kommunikation und Design der Kampagne kümmerten. Die meisten Mitglieder der ZBA brachten bereits Erfahrungen aus anderen grünen Wahlkämpfen mit. Matthias Riegel z. B. hatte als Geschäftsführer der Agentur Wigwam aus Berlin die Kampagne von Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg 2016 mit verantwortet. Ein weiterer strategischer Kopf der ZBA war Nicolas Schwendemann, der inzwischen die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, Kampagnen und Wahlkämpfe in der Bundesgeschäftsstelle von Bündnis 90/Die Grüne leitet.9 „Uns hat im Pitch die Mischung aus tollen Kreativideen, strategischem Können und Leidenschaft für grüne Politik überzeugt“, sagt Robert Heinrich, damals noch der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und Kampagnen in der Bundesgeschäftsstelle der Partei über die ZBA. „Dieses Agenturmodell wurde auf die Bedürfnisse eines Bundestagswahlkampfes hin maßgeschneidert: Die besten grünennahen Kommunikationsprofis vereint für eine gemeinsame Sache!“10 Als „schlagkräftige Task Force“ war es Aufgabe der ZBA, die Urwahl der Spitzenkandidaten zu begleiten und grüne Themen erfolgreich in der Öffentlichkeit zu platzieren – mit dem erklärten Ziel, das Wahlergebnis von 2013 deutlich zu übertreffen. In der Agentur liefen nicht nur die Fäden für die zentralen Wahlkampfveranstaltungen und die Touren der beiden Spitzenkandidaten zusammen, sondern von hier wurde auch der Online-Wahlkampf gesteuert. Da das Drehbuch für den Wahlkampf sehr stark von der Frage bestimmt war, wer sich bei den Spitzenkandidaten durchsetzt, startete die eigentliche Wahlkampagne erst nach dem Ergebnis der Urwahl im Februar 2017 und steigerte sich langsam bis zum Wahlprogramm-Parteitag im Juni 2017. Die Herausforderungen bei der Planung einer zeitlich gestreckten Wahlkampagne bringt Matthias Riegel von der ZBA folgendermaßen auf den Punkt: „Das Schwierige bei der Planung einer Kampagne ist, manche Festlegungen so hinauszuzögern, dass die Botschaften im Wahlkampf nicht aus der Zeit gefallen wirken. Denn zugleich bestimmen die

9Vgl.

Agenda (Hrsg. Der Tagesspiegel) vom 28. Februar 2017: Grüne Hoffnungen (online https://www.tagesspiegel.de/themen/agenda/kampagne-fuer-die-bundestagswahl-gruenehoffnungen/19448682.html, 22.10.2019). 10Zitiert von Volker Thoms im PR-Journal vom 30. September 2016 (online https:// pr-journal.de/nachrichten/branche/18020-bundestagswahl-2017-gruene-linke-und-fdpsetzen-auf-inhaltlich-starke-agenturpartner.html, 22.10.2019).

200

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Produktionsbedingungen den Zeitplan. Hunderttausende Plakate müssen gedruckt und in 16 Bundesländer geliefert werden.“11 Die heiße Wahlkampfphase des grünen Wahlkampfes begann aufgrund der Terminierung der Bundestagswahl auf Ende September erst nach den Sommerferien mit Straßen- und Haustürwahlkampf, Info-Ständen, Wahlplakaten, Kundgebungen und Veranstaltungen mit den beiden Spitzenkandidaten. Wie bei allen Parteien spielen auch bei den Grünen die Face-to-Face-Aktivitäten im Wahlkampf nach wie vor eine zentrale Rolle (vgl. Podschuweit und Rössler 2019, S. 40), wenngleich der digitale Wahlkampf an Bedeutung zunimmt. Ebenso ist die Plakatierung mit Wahlplakaten ein wichtiges Element der Wahlkampagne. Holtz-Bacha und Lessinger weisen darauf hin, dass Wahlplakate, obwohl sie eher einer vormodernen Form der Wahlkampfführung zugeordnet werden, zu Unrecht in dem Ruf stehen, kaum Wirkung zu entfalten: „[D]er Plakatwahlkampf der Grünen 2017 [konzentrierte sich] auf eine Themenplakate- und eine ­Kandidatenplakate-Serie in einheitlichem Design“ (Holtz-Bacha und Lessinger 2019, S. 145). Die Themenplakate waren vor allem auf die ökologischen Kernbotschaften der Grünen fokussiert. Bei der öffentlichen Vorstellung der Plakate sagte Kathrin Göring-Eckardt: „Wir stellen zur Wahl, dass endlich etwas getan werden muss, damit der Klimaschutz ins Zentrum kommt.“12 Ganz in diesem Sinne war auf einem der Großflächenplakate, die die Grünen im Wahlkampf einsetzten, die wenig originelle Botschaft zu lesen: UMWELT IST NICHT ALLES. ABER OHNE UMWELT IST ALLES NICHTS. Dass die Grünen bemüht waren, möglichst Umwelt- und Wirtschaftskompetenz miteinander zu verbinden, zeigt eins der Kandidatenplakate mit Cem Özdemir auf dem stand: ZWISCHEN UMWELT UND WIRTSCHAFT GEHÖRT KEIN ODER. Angesichts einer internetaffinen Mitglieder- und Wählerschaft legen die Grünen großen Wert auf den Wahlkampf in den sozialen Medien, wenngleich, wie Staudt und Schmitt-Beck am Beispiel der Bundestagswahl 2017 zeigen, die Bedeutung der sozialen Netzwerke im Verhältnis zu traditionellen Medien häufig überschätzt wird (Staudt und Schmitt-Beck 2019, S. 65). In die digitale Wahlkampagne der Grünen floss immerhin ein Drittel ihres zentralen Wahlkampfetats. Besonders das micro targeting, also das gezielte Ansprechen grünnaher Wählergruppen, wurde via Facebook, Twitter, WhatsApp und YouTube

11Vgl. Agenda

(Fn. 9). in ZEIT ONLINE vom 21. Juli 2017 (online https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-07/bundestagswahlkampf-gruene-wahlplakate-kampagne, 24.10.2019). 12Zitiert

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genutzt. Dabei waren die Grünen die einzige unter den im Bundestag vertretenen Parteien, die sich zum micro targeting bekannte und „gleichzeitig Transparenz [schuf], indem sie die entsprechenden Posts auf ihrer Webseite online stellte“ (Holtz-Bacha 2019, S. 19). Über Twitter verfolgten die Grünen auch negative campaigning, vor allem in Richtung FDP. Dort verulkten sie die Wahlplakate des F ­ DP-Spitzenkandidaten Christian Lindner. Experten der digitalen Kommunikation bewerteten den digitalen Wahlkampf der Grünen als frisch und frech und weisen darauf hin, dass grüne Politiker mehr als andere Abgeordnete im Bundestag vertretener Parteien auf den verschiedenen Social-Media-Kanälen aktiv sind.13

5 Das Wahlergebnis Bis kurz vor der Bundestagswahl verharrten die Umfragewerte der Grünen auf einem niedrigen Niveau zwischen sieben und acht Prozent. In einigen Medien wurde sogar in den Monaten vor der Wahl darüber spekuliert, ob die Grünen überhaupt über die Fünfprozenthürde kommen (vgl. Lees 2018, S. 124).14 Daran gemessen lag das Wahlergebnis von 8,9 % bei einer deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung sogar über den Vorhersagen, war aber angesichts des erklärten Wahlziels, drittstärkste Partei zu werden, gleichwohl enttäuschend. Die Grünen belegten sogar knapp hinter der Linkspartei nur den letzten Platz unter allen Parteien, die über die Fünfprozenthürde kamen, und blieben erneut die kleinste Fraktion mit 67 Abgeordneten im Bundestag (darunter zehn Ausgleichsmandate und ein Direktmandat). Stattdessen triumphierte die AfD, die unter den kleineren Parteien auf 12,6 % kam. In der gesamten Wahlkampagne war es den Grünen nicht gelungen, mit ihrem auf ökologische Themen konzentrierten Wahlkampf entscheidende Akzente zu setzen. Mit ihrer polarisierenden Wahlkampfrhetorik und ihrer Kritik an Angela Merkel und der Flüchtlingspolitik vermochte es vielmehr die AfD, dem Wahlkampf ihren Stempel aufzudrücken. Kurz „vor der Wahl nannten 49 % die

13Vgl.

Alexander Koch in politicom vom 29. September 2017 (online https://www. politicom.de/blog/2017/09/der-internet-wahlkampf-zur-bundestagswahl-2017/, 24.10.2019). 14Vgl. auch ZEIT ONLINE vom 16. Februar 2017: Grüne Krise (online https://www. zeit.de/politik/deutschland/2017-02/bundestagswahl-2017-die-gruenen-kandidatenumfragewerte, 24.10.2019).

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Bewältigung der Migration als das wichtigste Problem in Deutschland“ (Hilmer und Gagné 2018, S. 396). Außerdem fehlte den Grünen eine von ihren Wählern akzeptierte Machtperspektive auf der Koalitionsebene. Einerseits war allen klar, dass es keine rot-grüne Mehrheit geben würde, andererseits war innerhalb der Partei und ihrer Wählerschaft die Aussicht auf die Beteiligung an einer ­Jamaika-Koalition im Vorfeld der Wahl wenig populär. Gleichwohl erklärt sich der geringe Zuwachs, den die Grünen gegenüber dem Wahlergebnis von 2013 und im Vergleich mit den ihnen prognostizierten Umfragewerten auf der Zielgeraden noch erringen konnten, sowohl ihrer „Alleinstellung in Sachen Umweltschutz/ Ökologie“ als auch der realistischen Wahrnehmung vor allem SPD-naher Wähler, dass nur eine Jamaika-Koalition unter Einschluss der Grünen eine Koalitionsperspektive jenseits der Großen Koalition sein würde (vgl. Hilmer und Gagné 2018, S. 399). Dafür spricht, dass in den Wählerwanderungsanalysen die Grünen immerhin einen Zustrom von 380.000 SPD-Wählern und 230.000 Nichtwählern zu verzeichnen hatten.15 Erneut bestätigte sich bei dieser Wahl, dass die Grünen vornehmlich eine Westpartei sind. Während sie in den westlichen Bundesländern (ohne Westberlin) ein Gesamtergebnis von 9,6 % der Stimmen erreichen konnten, lagen sie in den ostdeutschen Flächenstaaten mit Ausnahme von Brandenburg überall unter der Fünfprozenthürde (siehe Tab. 2). Die geringen Zuwächse von 0,5 % auf Bundesebene verdankten sich der Tatsache, dass die Partei in Hamburg und in den Bundesländern, in denen die Grünen als tragende und konstruktive Regierungspartei wahrgenommen wurden, zulegen konnte – nämlich in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein (vgl. Dietz & Roßteutscher 2018, S. 129). Das Erststimmenergebnis, welches für die kleineren Parteien in der Regel nachrangig ist, fiel mit 8 % etwas höher aus als 2013. Im Wahlkreis ­Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost konnte Canan Bayram, die Nachfolgerin von Christian Ströbele (der nicht wieder kandidierte), das grüne Direktmandat mit 26,3 % verteidigen. Ein noch besseres Erststimmenergebnis erzielte Cem Özdemir, der im Wahlkreis Stuttgart I mit 29,7 % ein Mandat nur knapp verfehlte (vgl. Eith und Meier 2018, S. 13). Das zeugt von der hohen Popularität, die Özdemir in diesem Wahlkampf in die Waagschale werfen konnte. Mit seinen persönlichen Sympathiewerten „rangierte [er] gleich hinter Kanzlerin Merkel und Außenminister Gabriel“ (Hilmer und Gagné 2018, S. 400). Allerdings zahlte sich

15Vgl.

infratest-dimap WahlREPORT Bundestagswahl. Eine Analyse der Wahl vom 24. September 2017, S. 49 f.; siehe auch Hilmer und Gagné 2018: S. 399 f.

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Tab. 2   Zweitstimmenergebnis von Bündnis 90/Die Grünen bei der Bundestagswahl 2017 und 2013 nach Bundesländern (in %) Bundesland

Bundestagswahl 2017

Bundestagswahl 2013

Baden-Württemberg

13,5

11,0

Bayern

9,8

8,4

Berlin

12,6

12,3

5,0

4,7

Bremen

11,1

12,1

Hamburg

13,9

12,6

Hessen

9,7

9,9

Mecklenburg-Vorpommern

4,3

4,3

Niedersachsen

8,7

8,8

Nordrhein-Westfalen

7,6

8,0

Rheinland-Pfalz

7,6

7,6

Saarland

6,0

5,7

Sachsen

4,6

4,9

Sachsen-Anhalt

3,7

4,0

12,0

9,4

Thüringen

4,1

4,9

Bundesgebiet

8,9

8,4

Brandenburg

Schleswig-Holstein

Datenquelle: Bundeswahlleiter

diese Popularität für das Wahlergebnis der grünen Partei, deren Wählerschaft sich zuvorderst an den programmatischen Inhalten orientiert, kaum aus. Eine Analyse der Wahl nach sozialstrukturellen Gesichtspunkten (s. Tab. 3) bestätigt Merkmale, die bereits in der Vergangenheit für das Wählerprofil der Grünen charakteristisch waren (vgl. Weßels 2019, S. 195). Frauen votierten erneut deutlich stärker für die Grünen als Männer. „Ihren höchsten Zuspruch erfuhren [sie] bei jungen Frauen mit 17,8 Prozent“, wie Hilmer und Gagné feststellen (2018, S. 390). Bei den Tätigkeiten bilden die Mittelschichten aus dem Milieu der Beamten, Angestellten und Selbstständigen sowie Wähler mit einem hohen Bildungsabschluss das Hauptwählerreservoir der Grünen. „Ihr Anteil bei Hochgebildeten lag mit 14 % mehr als dreimal so hoch wie bei Personen mit formal niedriger Bildung (vier Prozent)“ (Hilmer und Gagné (2018, S. 390). In den Altersgruppen ist ihr Ergebnis bei den über 60-Jährigen nach wie vor

204 Tab. 3  Wahlentscheidung für die Grünen bei der Bundestagswahl 2017 nach sozialstrukturellen Merkmalen (in %)

L. Probst Prozent Geschlecht männlich weiblich

8,0 11,0

Alter 18–24

13,0

25–34

10,0

35–44

11,0

45–59

10,0

60–69

7,0

70 und älter

4,0

Berufsgruppen Arbeiter

5,0

Angestellte

11,0

Beamte

16,0

Selbstständige

10,0

Rentner

6,0

Arbeitslose

7,0

Bildung Hoch

14,0

Mittel

9,0

Niedrig

4,0

Datenquelle: Die Angaben beruhen auf den Daten der Wahltagsbefragung von infratest dimap für die ARD

u­ nterproportional (6 %), wenn auch mit gering steigender Tendenz, bei den Erstund Jungwählern (18 bis 24 Jahre) dagegen überproportional (13 %).

6 Die grüne Erfolgswelle nach der Bundestagswahl Im Gegensatz zur Bundestagswahl 2013 gab es im Anschluss an die Bundestagswahl 2017 weder an den Spitzenkandidaten noch an der Wahlkampagne massive Kritik aus den Reihen der eigenen Partei. Trotz des enttäuschenden Wahlergeb-

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205

nisses war man vielmehr froh, unter schwierigen Bedingungen und angesichts schlechter Umfragewerte immerhin das zweitbeste Ergebnis bei einer Bundestagswahl erzielt zu haben.16 Gleichzeitig stellte der Ausgang der Bundestagswahl die Partei vor eine koalitionspolitische Herausforderung. Politisch und arithmetisch blieben unter den möglichen Koalitionsoptionen nur eine Fortsetzung der Großen Koalition oder eine Jamaika-Koalition übrig. Nachdem Martin Schulz für die SPD-Parteiführung noch am Wahlabend erklärte, für eine Fortsetzung der Großen Koalition nicht zur Verfügung zu stehen (vgl. Siefken 2019, S. 409), lag der Ball im Feld der Grünen und der FDP, die sich im Wahlkampf des Öfteren Scharmützel geliefert hatten. Alle parteipolitischen Akteure hielten sich aber zunächst zurück, weil man erst einmal das Ergebnis der Landtagswahl in Niedersachsen am 15. Oktober 2017 abwarten wollte, bevor man endgültige Entscheidungen traf. Immerhin beschloss der grüne Länderrat bereits am 30. September in Berlin, die Einladung der Union zu Sondierungsgesprächen unter der Voraussetzung annehmen, dass am Ende Fortschritte beim ökologischen Umbau und bei der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit erzielt werden.17 Außerdem wurden die Mitglieder der 14-köpfigen grünen Sondierungskommission benannt, unter ihnen die beiden Spitzenkandidaten, Winfried Kretschmann, Robert Habeck und Jürgen Trittin. „Ich habe keine Angst davor, in harte Verhandlungen zu gehen“, sagte Kathrin Göring-Eckardt nach dieser Entscheidung. „Die Grünen hätten eine besondere Verantwortung, der sie nun gerecht werden müssten.“18

6.1 Die Jamaika-Sondierungsgespräche Die Vorbereitung auf die Sondierungsgespräche begann durch bilaterale ‚Kennenlernen-Wochen‘ zwischen den beteiligten Parteien unmittelbar nach ­ der Landtagswahl in Niedersachsen. Offiziell wurden die Gespräche jedoch erst wenige Tage vor der Konstituierung des Bundestages am 20. Oktober 2017 in großer Runde mit den von den Parteien benannten Delegierten aufgenommen. Die Grünen hatten sich wie keine andere der beteiligten Parteien auf die Sondierungsgespräche vorbereitet. Im Vorfeld trafen sie sich mit Umwelt- und 16Vgl. taz vom 24. September 2017: Puh, nochmal gut gegangen (online https://taz.de/ Gruenen-Ergebnis-bei-der-Bundestagswahl/!5449927/, 28.10.2019). 17Vgl. Spiegel-Online vom 30. September 2017 (online https://www.spiegel.de/politik/ deutschland/bundestagswahl-gruene-stimmen-fuer-jamaika-sondierungen-mit-cdu-csu-undfdp-a-1170784.html, 28.10.2019). 18Ebd.

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L. Probst

Sozialverbänden, Kirchen-, Gewerkschafts- und Wirtschaftsvertretern sowie Menschenrechtsorganisationen aus dem Bereich der Migrations- und Integrationspolitik, um sich beraten zu lassen und zu hören, welche Punkte aus der Sicht der Initiativen und Verbände essenziell für die Gespräche sein würden.19 Als kleinster Verhandlungspartner und als Partei, die bei erfolgreichen Verhandlungen in eine lagerübergreifenden Koalition nicht nur mit der CDU und FDP, sondern auch mit der CSU eintreten müsste, wollten sie sich auf jeden Fall Rückendeckung für die absehbar schwierigen Gespräche holen. Tatsächlich waren es häufig die Grünen, die in den verschiedenen Themengruppen, welche im Laufe der Sondierungsgespräche tagten, konkrete und konstruktive Vorschläge einbrachten – obwohl die Policy-Positionen relativ weit auseinanderlagen. So gab es bei den „Themen Klima, Verkehr und Landwirtschaft sowie Migration und Flucht [Konflikte]“ (Siefken 2019, S. 414), die schwierig zu überbrücken waren. Ein Dauerstreitthema war außerdem die Finanzpolitik, insbesondere der Solidaritätszuschlag, den die FDP sofort abschaffen wollte. Neben vielen inhaltlichen Differenzen gab es außerdem atmosphärische Störungen (vgl. Hafkemeyer 2018, S. 6). Kommissionsmitglieder der Grünen und der FDP, aber auch der Grünen und der CSU gerieten immer wieder aneinander, während das Verhältnis zwischen Grünen und CDU relativ entspannt war, da beide Parteien im Laufe der Gespräche immer wieder Kompromisse ausloteten. Es erstaunt nicht, dass nach Ansicht vieler Mitglieder der CDU-Kommission es vor allem die Vertreter der Grünen waren, die, im Gegensatz zu denen der FDP, mit großer Ernsthaftigkeit und Kompromissbereitschaft an den Gesprächen teilnahmen (vgl. Hafkemeyer 2018, S. 11). So akzeptierten sie kurz vor dem Ende der Gespräche die von der CSU geforderte Zahl von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr als sogenannter „atmender Deckel“ unter der Voraussetzung, dass sich die CSU beim Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus bewegen würde (vgl. Hafkemeyer 2018, S. 14). Auch beim vermeintlichen Verbot des bisherigen Verbrennungsmotors bis 2030 bewegten sich die Grünen und wiesen auf den Unterschied zwischen Verbot und Ziel hin. Ziel sei es, bis 2030 durch Technologieoffenheit einen emissionsfreien Verbrennungsmotor mit synthetischen Kraftstoffen herzustellen. Das sei nicht dasselbe wie ein Verbot. Doch trotz aller Kompromissbemühungen und intensiver Sondierungen ließ die FDP nach vier Wochen die Gespräche platzen.

19Vgl.

Merkur.de vom 13. Oktober 2017: Grüne legen vor Sondierungen zur Flüchtlingspolitik Fokus auf Familiennachzug (online https://www.merkur.de/politik/gruene-legenvor-sondierungen-zur-fluechtlingspolitik-fokus-auf-familiennachzug-zr-8770107.html, 28.10.2019).

Bündnis 90/Die Grünen: Grüne Erfolgswelle …

207

Die Grünen gingen dennoch gestärkt aus den Sondierungen hervor. Für ihre Geschlossenheit und ihre Bereitschaft, trotz schwieriger Mehrheitsverhältnisse Verantwortung in einer lagerübergreifenden Koalition zu übernehmen, erhielten sie viel Anerkennung. Dabei kam ihnen zugute, dass die Akzeptanz einer Jamaika-Koalition im Laufe der Sondierungsgespräche unter den Wählerinnen und Wählern, gerade auch der Grünen, gestiegen war. Laut Zahlen des Politbarometers der Forschungsgruppe Wahlen befürworteten 55 % eine Jamaika-Koalition. Unter den Anhängern der Grünen lag die Akzeptanz mit ca. 80 % am höchsten (vgl. Blinzler et al. 2019, S. 360). Vor diesem Hintergrund waren die Sondierungsgespräche, trotz ihres Scheiterns, für die Grünen der erste Baustein der dann folgenden grünen Erfolgswelle.

6.2 Personelle Erneuerung der Parteispitze Der zweite maßgebliche Baustein für die grüne Erfolgsgeschichte war die Neuwahl des Parteivorstandes. Nach den gescheiterten Sondierungsgesprächen für eine Jamaika-Koalition und während der noch laufenden Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD stand bei den Grünen im Januar 2018 die Neuwahl des Parteivorstandes an. Die noch amtierende Parteivorsitzende Simone Peter hatte Anfang des Jahres ihren Rückzug aus ihrem Amt erklärt und damit den Weg für die Kandidatur der dem linken Parteiflügel zugerechneten niedersächsischen Fraktionsvorsitzenden Anja Piel frei gemacht. Auch Cem Özdemir verzichtete auf eine erneute Kandidatur und unterstützte die Bewerbungen von Robert Habeck und Annalena Baerbock, weil es seiner Meinung nach Zeit „für neue Ideen an der Parteispitze“ sei.20 Während sich die Kandidatur von Habeck schon nach seinem Achtungserfolg bei der Urwahl zur Spitzenkandidatur angedeutet hatte, war die eigentliche Überraschung die Bewerbung von Baerbock. Obwohl sie bereits auf eine längere Karriere in verschiedenen grünen Funktionen zurückblicken konnte21, war sie einer größeren Ö ­ ffentlichkeit wenig bekannt. Die Brisanz der

20Vgl.

ZEIT ONLINE vom 6. Januar 2018 (online https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-01/cem-oezdemir-gruenen-fraktionsvorsitz-kandidatur-parteivorsitz-mehrheit, 28.10.2019). 21Annalena Baerbock ist seit 2005 Mitglied der Grünen. U. a. war sie Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Europa, Vorsitzende im Landesverband Brandenburg und Vorstandsmitglied der Europäischen Grünen Partei. Seit 2013 hat sie ein Bundestagsmandat. Außerdem gehörte sie zur 14-köpfigen Kommission der Grünen bei den JamaikaSondierungsgesprächen.

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L. Probst

gemeinsamen Kandidatur bestand darin, dass beide dem realpolitischen Flügel zugerechnet wurden. Aber die Versuche seitens des linken Flügels, ein ähnliches Tandem ins Rennen zu schicken, scheiterten. Als eine Hürde für die Wahl von Robert Habeck stellte sich zudem sein im Vorfeld geäußertes Ansinnen heraus, zunächst sein Amt als Umweltminister in der Jamaika-Koalition von SchleswigHolstein für eine Übergangszeit von bis zu einem halben Jahr weiterzuführen, bevor er sich voll in den Dienst der Bundespartei stellen könnte. Da Landesminister nach den Statuten der Grünen nicht gleichzeitig Parteivorsitzende sein dürfen, musste sogar die Satzung für diesen Sonderfall vor der Abstimmung über den Parteivorsitz noch geändert werden. Vor diesem Hintergrund war die spannende Frage, wie die Delegierten der Bundesdelegiertenkonferenz in Hannover am 27. Januar 2018 die Führungsfrage entscheiden würden. Schon die Vorstellungsreden sowohl von Baerbock als auch von Habeck auf dem Parteitag machten deutlich, dass im Falle ihrer Wahl in Zukunft ein anderer Sound in der Partei herrschen würde. Annalena Baerbock gelang es, in einer kämpferischen und selbstbewussten Rede22, in der sie sich auf Gerechtigkeits- und Klimathemen konzentrierte sowie Akzente in der Zuwanderungs- und Europapolitik setzte, zwei Drittel der Delegierten von sich zu überzeugen. Auch für Robert Habeck wurde es, nachdem die Satzungsänderung schon am Vorabend beschlossen worden war, ein Heimspiel. Nicht Selbstgewissheit, sondern Nachdenklichkeit, nicht pessimistische Kritik an allen Übeln dieser Welt, sondern Aufbruchsstimmung, nicht die übliche Flügelabgrenzung, sondern die Betonung gemeinsame Anstrengungen für soziale Gerechtigkeit, Liberalität und einen institutionellen Republikanismus waren die Ingredienzen seiner Bewerbungsrede, mit der er 81 % der Delegierten hinter sich versammeln konnte. Sowohl Baerbock als auch Habeck machten deutlich, dass sie sich nicht als Flügelrepräsentanten, sondern als gemeinsames Führungsduo verstehen, welches die alten Flügelkämpfe hinter sich lassen und die Grünen in eine offenere Zukunft führen will. Tatsächlich gelang mit ihrer Wahl nicht nur eine Verjüngung und Erneuerung der Parteispitze, sondern auch ein Aufbruch in die Mitte der Gesellschaft. Schon nach kurzer Zeit entwickelte sich das Duo zum Dream-Team der Partei. Als Führungspaar gaben sie der Partei nicht nur ein neues, frisches Gesicht, sondern vermochten es auch innerhalb weniger Monate, die Grünen

22Vgl.

Rede von Analena Baerbock auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen am 27. Januar 2018 (online https://www.annalena-baerbock.de/das-ist-erst-der-anfangbewerbungsrede-auf-der-bdk18-in-hannover/, 28.10.2019).

Bündnis 90/Die Grünen: Grüne Erfolgswelle …

209

aus der sogenannten „Ökonische“ herauszuholen und in der Mitte der Gesellschaft zu verankern. Dabei kam und kommt ihnen zugute, dass sie im Gegensatz zu früheren, nach Strömungen quotierten Parteivorsitzenden nicht miteinander konkurrieren, sondern sich ergänzen und dem jeweils anderen den nötigen Spielraum für die Eigenprofilierung lassen. Ihr unterschiedlicher Habitus und Stil passen dabei kongenial zueinander. Annalena Baerbock repräsentiert eher den analytischen, geerdeten und fachpolitisch versierten Pol des Duos, während der studierte Philosoph und Buchautor Habeck stärker die intellektuelle und visionäre Karte ausspielt. Gemeinsam ist ihnen ein neuer Sound, der anders als der von Jürgen Trittin klingt. Er äußert sich in sachlicher, aber nicht besserwisserischer Kritik an den politischen Mitbewerbern, in nachdenklichen Tönen über die Herausforderungen der Zeit und einer pragmatischen, wenngleich immer noch radikalen Perspektive auf den ökologischen Umbau der Gesellschaft. Mit dieser Mischung haben sich Baerbock und Habeck innerhalb weniger Monate einen Bonus erarbeitet, der sie nicht nur in der Partei, sondern auch in der Gesellschaft zu neuen politischen „Stars“ gemacht hat. In der regelmäßig durch die Forschungsgruppe Wahlen erhobenen Frage nach den wichtigsten Politikern der Bundesrepublik konnte sich Robert Habeck in der Spitzengruppe festsetzen und zeitweise sogar Angela Merkel als beliebteste Politikerin überholen.23 In einer Zeit, in der politische Mitbewerber sich eine monatelange Suche nach geeigneten Führungspersonen oder umstrittene Führungsdebatten leisteten, haben die Grünen mit der Wahl von Annalena Baerbock und Robert Habeck einen Wettbewerbsvorteil erzielt, der sich auch in den Wahlergebnissen und den Mitgliederzahlen niederschlägt. Dabei kam ihnen ein dritter Baustein zugute, der den Grünen zusätzliche Schubkraft verlieh.

6.3 Die Klimafrage als Zentrum gesellschaftlicher Debatten und Bewegungen Während zwischen 2015 und 2017 die Flüchtlingszuwanderung die öffentliche Debatte beherrschte und die Grünen eher in der Defensive gedrängt wurden,

23Vgl.

Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer – Bewertung von Politikern nach Sympathie und Leistung im Zeitverlauf (online https://www.forschungsgruppe.de/ Umfragen/Politbarometer/Langzeitentwicklung_-_Themen_im_Ueberblick/Politik_ II/#Sympathiewerte, 28.10.2019).

210

L. Probst

änderte sich das politische Klima nach der letzten Bundestagswahl. Klimawissenschaftler hatten schon in der Vergangenheit immer wieder vor den Folgen des Klimawandels gewarnt und die Politik, ohne allzu große Resonanz, zum Handeln aufgefordert. Die Situation änderte sich, als durch den heißen und trockenen Sommer 2018 in Deutschland sowie durch Wetterextreme in anderen Weltregionen für viele Menschen erfahrbar wurde, dass der Klimawandel längst vor der eigenen Haustür angekommen ist. In der Folge geriet das Klimathema ins Zentrum der medialen und gesellschaftlichen Debatte. Ausgelöst durch den zunächst stillen Protest der jungen Klimaaktivistin Greta Thunberg in Stockholm, entwickelte sich innerhalb weniger Monate in Schweden, Deutschland und vielen anderen Ländern der Welt eine breite, hauptsächlich von Schülern und Jugendlichen getragene Basisbewegung mit dem Namen Fridays for Future, die die Politiker zum sofortigen Handeln aufforderte. Sie beruft sich dabei auf die Erkenntnisse der Klimaforscher und verlangt radikale Veränderungen der Politik, vor allem ein Stopp des CO2-Ausstoßes. Obwohl sich Fridays for Future auch in Deutschland bewusst unabhängig von allen Parteien positioniert, waren und sind die Grünen die Hauptnutznießer der neuen Bewegung. Wie keine andere Partei stehen sie seit ihrer Gründung für den Schutz des Planeten und die Forderung nach einschneidenden Veränderungen in der Klimapolitik. Das verhilft ihnen zu einer Glaubwürdigkeit, die keiner ihrer Mitbewerber unter den Bundestagsparteien aufbieten kann. Tatsächlich ist die Klimafrage nicht nur ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatte gerückt, sondern auch die politische Mitte hat sich den Klimaschutz als Anliegen mehrheitlich zu Eigen gemacht. Wie tief und wie weit ins bürgerliche und auch konservative Milieu dieses Anliegen vorgedrungen ist, zeigte sich auch bei einem von der Ö ­ kologisch-Demokratischen Partei Bayerns im Mai 2018 initiierten und u. a. von den bayerischen Grünen unterstützten Volksbegehren für den Erhalt der Artenvielfalt (bekannt geworden unter dem Motto „Schützt die Bienen“). Das Volksbegehren zielte auf eine Änderung des Bayerischen Naturschutzgesetzes, um die Artenvielfalt und natürlichen Lebensräume u. a. durch eine andere landwirtschaftliche Bewirtschaftung zu sichern, zu schützen und zu verbessern. Nachdem die Schwelle für die Zulassung des Volksbegehrens durch eine entsprechende Anzahl von Unterschriften schnell überschritten war, startete das eigentliche Volksbegehen Ende Januar 2019. Die Tatsache, dass innerhalb von zwei Wochen ca. 1,7 Mio. Bürgerinnen und Bürger Bayerns das Volksbegehren unterstützten, löste eine politische Lawine in Bayern aus und führte dazu, dass die bayerische Staatsregierung dem Landtag ohne Wenn und Aber die Übernahme des dem Volksbegehren zugrunde liegenden Gesetzent-

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211

wurfes empfahl.24 Inzwischen finden auch in anderen Bundesländern vergleichbare Volksbegehren zum Schutz der Artenvielfalt statt.

7 Die Grünen auf dem Weg zur zweitstärksten Partei im Parteiensystem? Die Verschiebung der öffentlichen Agenda weg von der Flüchtlingszuwanderung hin zu ökologischen Themen verhalf den Grünen im Wahljahr 2018 zu einem doppelten Triumph. In Bayern, Stammland der CSU, konnten sie bei der Landtagswahl am 14. Oktober ein Rekordergebnis von 17,6 % einfahren und wurden damit zweitstärkste Partei hinter der CSU (vgl. Schultze 2019). Nur 14 Tage später waren sie bei der Landtagswahl in Hessen in der Lage, aus einer schwarz-grünen Koalition heraus 8,4 Prozentpunkte zulegen und mit 19,8 % ­ hauchdünn vor der SPD ebenfalls zweitstärkste Kraft im Landtag zu werden (vgl. Debus und Faas 2019). Ihren größten Erfolg erzielten sie jedoch bei der Europawahl im Mai 2019. Das ist deshalb bemerkenswert, weil die Europawahl eine bundesweite Wahl ist, bei der die Grünen nicht allein in ihren regionalen Hochburgen punkten können, um ein gutes Wahlergebnis zu erzielen. Außerdem zeigte die deutlich gestiegene Wahlbeteiligung um fast 13 Prozentpunkte auf 61,4 %, dass die Wähler diese Wahl nicht wie bei früheren Europawahlen als sogenannte „nationale Nebenwahl“ wahrgenommen haben, sondern sich der Bedeutung der Europäischen Union in einer veränderten Weltlage durchaus bewusst waren. Die Stimmung vor der Wahl war vor diesem Hintergrund proeuropäisch ausgerichtet. Dabei spielte auch das Klimathema eine wichtige Rolle. Der BUND gab eine Umfrage in Auftrag, um die Bedeutung des Umweltthemas vor der Europawahl zu erfragen. Dabei sagten 83 % der Befragten, dass dem Umweltschutz eine große bis sehr große Bedeutung für das nächste EU-Parlament zukomme.25 Für 48 % der Wähler war die Umweltpolitik sogar ein wahlentscheidendes Thema.26

24Vgl.

FAZ vom 6. Februar 2019: Schützer aller Kreaturen (online https://www.faz.net/ aktuell/politik/inland/volksbegehren-in-bayern-artenvielfalt-rettet-die-bienen-16026129.html, 28.10.2019). 25Vgl. Pressemitteilung des BUND vom 14. Mai 2019: Kantar Emnid-Umfrage zur Europawahl – Umweltschutz Topthema für die Wählerinnen und Wähler (online https://www. presseportal.de/pm/7666/4269975, 28.10.2019). 26Vgl. infratest dimap: Europatrend Mai 2019 (online https://www.infratest-dimap.de/ umfragen-analysen/bundesweit/europatrend/2019/mai/, 28.10.2019).

212

L. Probst

Mit 20,5 % verdoppelten die Grünen nahezu ihr Wahlergebnis und wurden hinter den Unionsparteien wiederum zweitstärkste Partei. Neben der zentralen Bedeutung des Klimathemas profitierten die Grünen auch von ihrer starken europapolitischen Ausrichtung, die sie im Laufe ihrer Geschichte nach zunächst widersprüchlichen und kritischen Positionen (vgl. Münter 2001) zur Europäischen Union entwickelt haben. Durch die im Wahlkampf herausgestellte proeuropäische Programmatik wurde die Partei automatisch zum Gegenpol der europaskeptischen bis europafeindlichen AfD und mobilisierte damit auch Anhänger anderer Parteien. Dass die Grünen bei der gleichzeitig mit der Europawahl stattfindenden Bürgerschaftswahl in Bremen mit 17,4 % ebenfalls zulegen konnten, geriet dabei fast zur Nebensache. Der Ausgang der Europawahl stellte jedenfalls eine Zäsur im Parteiensystem der Bundesrepublik dar und verstetigte einen Trend, der sich schon bei den vorherigen Landtagswahlen in Bayern und Hessen abgezeichnet hatte. Den Grünen war es gelungen, sich als zweitstärkste Kraft in diesen Wahlen zu etablieren und zum eigentlichen Konkurrenten der Unionsparteien zu werden (vgl. Souris 2019). Bemerkenswert war, dass sie bei der Europawahl nicht nur in den urbanen Zentren stärkste Partei wurden27, sondern ebenso in ländlichen Regionen und mittleren Kommunen zulegen konnten. Auch die Wählerwanderung zu den Grünen zeigt ihre elektorale Stärke bei dieser Wahl: 1,25 Mio. Stimmen von der SPD, 1,1 Mio. von der CDU, 610.000 von der Linken und 480.000 von der FDP.28 Während die Wählerschaft der Volksparteien immer mehr ergraut, schaffen es die Grünen außerdem, Jüngere zu mobilisieren und gleichzeitig Ältere anzusprechen. Die eigentliche Überraschung der Europawahl war, dass sie in allen Altersgruppen bis 60 Jahre stärkste Partei wurden.29 Außerdem stiegen ihre Wahlergebnisse unter den über 60- und 70-Jährigen – eine aufgrund der demografischen Entwicklung stetig wachsende Altersgruppe, die überproportional wählen geht, aber in der Vergangenheit nur unterproportional für die Grünen votiert hat.

27In

neun der zehn größten Städte der Bundesrepublik wurden sie bei dieser Wahl stärkste Partei. 28Vgl. Wählerwanderungsanalyse von infratest-dimap zur Europawahl am 26. Mai 2019 für die ARD (online https://wahl.tagesschau.de/wahlen/2019-05-26-EP-DE/analysewanderung.shtml#13_Wanderung_GRÜNE, 28.10.2019). 29Vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.  V.: Analyse der Europawahl vom 26. Mai 2019 (online https://www.forschungsgruppe.de/Wahlen/Wahlanalysen/Newsl_Euro190527.pdf, 28.10.2019).

Bündnis 90/Die Grünen: Grüne Erfolgswelle …

213

Ihre starke Stellung im Parteiensystem drückt sich auch darin aus, dass sie zum Zeitpunkt der Europawahl auf Landesebene in neun verschiedenen Koalitionen mit einer bunten Farbpalette vertreten waren. Die Grünen unter ihrer neuen Führung reklamieren zwar, dass sie nach wie vor eine Partei der linken Mitte sind, aber de facto repräsentieren sie eine neue Mitte, die sowohl an progressive christliche und liberale Milieus als auch an linke Bündniskonstellationen anschlussfähig ist. 52 % aller Wähler und 58 % der Wähler der CDU erklärten in einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen, dass die Grünen für eine „moderne, bürgerliche Politik“ stehen.30 Trotz dieser Erfolge war die grüne Parteispitze darauf bedacht, nicht abzuheben. Den Spekulationen über die Grünen als neue Volkspartei, die ähnlich wie nach den Wahlerfolgen infolge der Fukushima-Atomkatastrophe sofort in den Medien auftauchten, traten sie zugleich entgegen – eine weise Entscheidung, wie die folgenden Wahlergebnisse bei den noch ausstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland zeigen sollten. Der Parteiführung war bewusst, dass der Höhenflug in den westlichen Bundesländern und bei der Europawahl sich nicht ohne weiteres bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland fortsetzen würde. Gleichwohl war man im Vorfeld dieser Wahlen bemüht, eine „Oststrategie“ zu entwickeln, um ihre traditionelle Schwäche in den ostdeutschen Bundesländern zumindest aufzufangen und dort ebenfalls zuzulegen. Die Organisationsschwäche in der Fläche wurde durch die massive Unterstützung des Wahlkampfes mit Wahlhelfern aus westlichen Bundesländern ausgeglichen. Außerdem widmete sich die Partei in der Wahlkampfvorbereitung stärker als zuvor den Problemen im ländlichen Raum und versuchte, Perspektiven für dessen Entwicklung in die jeweiligen Wahlprogramme zu integrieren. Ein besonderes Anliegen war dabei der ökologische Umbau der Braunkohlegebiete in Sachsen und Brandenburg, der unter der Bevölkerung umstritten war. Trotz der schwierigen Ausgangslage konnten die Grünen im Vorfeld der ostdeutschen Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen aufgrund der Umfragen mit für sie guten Ergebnissen rechnen. So wurden ihnen noch wenige Wochen vor den Wahlen in Sachsen 12 bis 13 % vorhergesagt, in Brandenburg sogar bis zu 16 % und in Thüringen immerhin zwischen 8 und 11 %.31 Umso ernüchternder waren die tatsächlichen Wahlergebnisse. Angesichts einer in der Endphase der jeweiligen Wahlkämpfe stattfindenden Polarisierung, die sich

30Ebd. 31Vgl.

www.wahlrecht.de, Sonntagsfrage Bundesländer.

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Tab. 4   Zweitstimmenergebnis von Bündnis 90/Die Grünen bei den Landtagswahlen und der Europawahl nach der Bundestagswahl 2017 (in %) Bundesland

Wahltermin

Wahlergebnis

Wahlergebnis vorherige Wahl

Bayern

14. Oktober 2018

17,6

8,6

Hessen

28. Oktober 2018

19,8

11,1

Bremen

26. Mai 2019

17,4

15,1

Europawahl

26. Mai 2019

20,5

10,7

Sachsen

1. September 2019

8,6

5,7

Brandenburg

1. September 2019

10,8

6,2

Thüringen

14. Oktober 2019

5,2

5,7

Quelle: Landeswahlleiter und Bundeswahlleiter

auf die amtierenden Ministerpräsidenten und die AfD konzentrierte, fielen die Resultate für die Grünen weitaus bescheidener aus als erwartet. Ein Teil auch ihrer potenziellen Wähler votierte für die Parteien der jeweiligen Ministerpräsidenten, um zu verhindern, dass die AfD stärkste Partei wird. Während das Wahlergebnis in Brandenburg mit 10,8 % noch zweistellig ausfiel und in Sachsen mit 8,6 % immerhin ein Zugewinn von 2,9 % zu verzeichnen war, geriet die Landtagswahl in Thüringen zu einer Zitterpartei. Mit 5,2 % verlor die Partei sogar noch gegenüber dem Wahlergebnis von 2014 und schaffte nur knapp den Sprung über die Fünfprozenthürde (s. Tab. 4). Dieser Dämpfer zum Ausklang des Wahljahres 2019 trübte zwar etwas die Stimmung bei den Grünen und zeigte ihnen ihre Grenzen auf, änderte aber nichts daran, dass sie ihre Position im Parteiensystem seit der Bundestagswahl 2017 deutlich verbessern konnten (vgl. Probst 2018), zumal sie aufgrund der Wahlergebnisse in Brandenburg und Sachsen als Koalitionspartner in einer ­Kenia-Koalition gebraucht wurden und damit ihre starke Stellung im Bundesrat noch ausbauen können. Als Trostpflaster entpuppte sich außerdem die Oberbürgermeisterwahl in Hannover, in der zeitgleich mit der Landtagswahl in Thüringen der grüne Kandidat Belit Onay mit dem besten Ergebnis aller Kandidaten in die Stichwahl kam, die er am 10. November 2019 für sich entschied.

8 Fazit Die Bundestagswahl 2017 endete für die Grünen, gemessen an ihren ursprünglichen Erwartungen, mit einer Enttäuschung. Dennoch gelang es ihnen in der Endphase des Wahlkampfes, mit 8,9 % immerhin noch ihr zweitbestes

Bündnis 90/Die Grünen: Grüne Erfolgswelle …

215

Ergebnis bei einer Bundestagswahl zu erzielen. Innerhalb von zwei Jahren nach der Bundestagswahl sind die Grünen dank einer beispiellosen Erfolgswelle zumindest im Westen und auf Bundesebene zur zweitstärksten Partei im Parteiensystem aufgestiegen. Dieser Erfolg beruht auf drei Säulen: Der Bereitschaft, sich konstruktiv und kompromissbereit in die letzten Endes gescheiterten Jamaika-Sondierungsgespräche einzubringen; der Neuwahl eines kongenialen ­ und kooperativen Führungsduos mit Annalena Baerbock und Robert Habeck, die jenseits der alten Flügelkämpfe einen neuen „Sound“ in die Partei getragen haben, sowie der Konjunktur des Themas „Klimawandel und Umweltschutz“, das seit mehr als ein Jahr nach der Wahl die öffentliche Debatte bestimmt und durch Basisbewegungen wie Fridays for Future befeuert wurde. Zugleich ist in diesen zwei Jahren deutlich geworden, dass die Grünen ihre starke Stellung vor allem ihrer Verankerung in Westdeutschland verdanken, wo sie weit in die Mitte des politischen Spektrums vorgestoßen sind, während sie in Ostdeutschland nach wie vor Schwierigkeiten haben, eine solide Wählerbasis zu finden. Ihr Versuch, mit einer eigenen Oststrategie, der auch den ländlichen und strukturschwachen Raum stärker ins Visier nimmt, bei den letzten Landtagswahlen in Ostdeutschland zu punkten, ist nicht aufgegangen. Gleichwohl konnten sie auch in Ostdeutschland in urbanen Zentren und Universitätsstädten gute Ergebnisse erzielen. Der elektorale Höhepunkt ihrer Erfolgsgeschichte der letzten zwei Jahre war die Europawahl, bei der die Grünen mit einem Ergebnis von 20,5 % nicht nur zweitstärkste Partei nach der Union wurden, sondern auch in allen Altersgruppen bis 60 Jahre sowie in vielen kleineren und mittleren Städten sowie ländlichen Regionen deutliche Zugewinne verzeichnen konnten. Auch ihre Stellung als Großstadtpartei konnten sie dabei ausbauen und in neun der zehn größten Städte stärkste Partei werden. Last but not least löste die Entwicklung der letzten zwei Jahre einen Mitgliederboom mit hohen Zuwachsraten aus. Mit ca. 94.000 Mitgliedern32 haben die Grünen den höchsten Mitgliederbestand ihrer Parteigeschichte erreicht. Die grüne Erfolgswelle hat erneut Diskussionen über den Parteicharakter der Grünen ausgelöst. Das Etikett „neue Volkspartei“ weisen sie jedoch von sich. Die Parteiführung benutzt lieber den Begriff „Bündnispartei“, ohne dass dieser bisher scharfe Konturen bekommen hat. Der Begriff hat nach grüner Diktion zweierlei Bedeutung: Zum einen verstehen die Grünen darunter eine Politik mit und nicht gegen die Gesellschaft. Sie versuchen, bei aller Heterogenität, das Gemeinsame und nicht das Trennende hervorzuheben. Bündnispartei in diesem Sinne heißt,

32Stand

November 2019 nach Angaben der Parteizentrale in Berlin.

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Brücken zu bauen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften und mit ihnen gemeinsam an der Lösung der gesellschaftlichen Herausforderungen zu arbeiten. Das ist eigentlich nichts Neues – neu ist nur, dass in der Aufzählung möglicher Bündnispartner auch Unternehmen und Wirtschaftsvertreter auftauchen. Tatsächlich arbeiten die Grünen seit Längerem daran, ihre Wirtschaftskompetenz auszubauen. Sie haben im Oktober 2018 einen Wirtschaftsbeirat und einen grünen Wirtschaftsdialog bei der Bundestagsfraktion ins Leben gerufen, an dem sich zum Teil hochrangige Vertreter und Manager aus unterschiedlichen Unternehmen beteiligen.33 Sollte es ihnen gelingen, auch auf diesem Gebiet mehr Kompetenzen zu erlangen und diese mit ihrem ­ökologisch-sozialen Ansatz zu verbinden, würden sie der Union auf deren ureigenen Terrain Konkurrenz machen. Bündnispartei bedeutet zum anderen, offen zu sein für parteipolitische Bündnisse unterschiedlicher Farbgebung, wenn die Situation es erfordert. Ganz in diesem Sinne sind die Grünen längst zu einer Multikoalitionspartei geworden, die sich an Koalitionen in unterschiedlichen Farbkombinationen beteiligt. Dazu gehören neuerdings auch sogenannte Kenia-Koalitionen aus CDU, SPD und Grünen, die in Ostdeutschland angesichts der dortigen Stärke der AfD erforderlich sind, um die Regierungsfähigkeit des demokratischen Spektrums sicher zu stellen. Nachdem es auch in Brandenburg und Sachsen zu solchen ­Kenia-Koalitionen gekommen ist, sind die Grünen – einschließlich der geschäftsführenden Landesregierung in Thüringen – gegenwärtig an Regierungen in elf Bundesländern beteiligt. Das verschafft ihnen eine starke Stellung im Bundesrat, die sie bisher aber behutsam und keinesfalls im Sinne einer Blockadepolitik genutzt haben (vgl. Leunig und Träger 2017). Im Gegenteil: Sie haben diese Stellung im Vermittlungsverfahren zwischen Bund und Ländern über das Klimapaket der Bundesregierung geschickt genutzt, um wenigstens bei der CO2-Steuer eine Erhöhung heraus zu handeln. Im Unterschied zu früher ist ihre heutige Stellung im Parteiensystem sehr viel gefestigter als in der Vergangenheit, nicht zuletzt, weil das Thema „Klimapolitik“ einen hohen Stellenwert in der Mitte der Gesellschaft hat und die Grünen daran arbeiten, ihre Kompetenz im Bereich der Sozial- und Wirtschaftspolitik zu erweitern. Ein Garant für die starke Stellung in der Gesellschaft scheint auch

33Vgl.

Wirtschaftswoche vom 19. Oktober 2018: Wie Grünen zeigen, dass sie regieren können (https://www.wiwo.de/politik/deutschland/wirtschaftsbeirat-mit-prominenz-wiedie-gruenen-zeigen-wollen-dass-sie-regieren-koennen/23204394.html, 28.10.2019).

Bündnis 90/Die Grünen: Grüne Erfolgswelle …

217

das Erfolgsduo an der Spitze der Partei zu sein. Mit 97,1 % der Delegiertenstimmen haben die Grünen Annalena Baerbock und mit 90,4 % Robert Habeck auf der Bundesdelegiertenkonferenz am 16. November 2019 in Bielefeld im Amt bestätigt und damit ihrer Parteispitze den Rücken gestärkt.34 Ob sie sich als zweitstärkste Partei im Parteiensystem auch zukünftig behaupten können, bleibt jedoch abzuwarten.

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34Vgl.

Süddeutsche Online (SZ.de) vom 16.11.2019: Große Zustimmung für GrünenVorsitzende Baerbock und Habeck (online https://www.sueddeutsche.de/politik/gruenebaerbock-habeck-1.4684782, 18.11.2019).

218

L. Probst

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Baustelle CSU. Das Experiment einer postmaterialistisch ergänzten Volkspartei Michael Weigl 1 Debakel mit Wirkung Es hätte so schön sein können: 47 % Zustimmung für die CSU verkündeten übereinstimmend die letzten, vor der Bundestagswahl veröffentlichten Umfragen von GMS (21.09.2017) und Infratest dimap (06.09.2017) zur Bundestagswahlabsicht 2017 in Bayern.1 Die Partei wiegte sich in Sicherheit, glaubte sich auf einem Weg, der das Ergebnis von 2013 (49,3 %) als Rückkehr zu alter Stärke bestätigen würde. Umso ungläubiger wie entsetzter fielen die Reaktionen aus, als am Wahlabend (24.09.2017) deutlich wurde, dass sich die Partei hatte täuschen lassen und im Gefühl der Selbstsicherheit selbst getäuscht hatte: Gerade einmal 38,8 % der Zweitstimmen (Bund: 6,2 %, −1,2 Prozentpunkte) hatte die CSU auf sich vereinen können, das schlechteste Bundestagswahlergebnis der Partei seit dem Zweiten Weltkrieg mit Ausnahme 19492. Aus christlich-sozialer Perspektive war das Ergebnis der Bundestagswahl 2017 weit mehr als nur eine Wahlniederlage. Es markierte ein Erdbeben, das die inzwischen baufällige Substanz des einst stolzen Hauses CSU vor Augen führte:

1Vgl.

hierzu die Listung der Umfragedaten unter www.wahlrecht.de. hatte die CSU 29,2 % (Bund: 5,8 %) erzielt.

2Damals

M. Weigl (*)  Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Jun und O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29771-8_8

221

222

M. Weigl

• Der seit den 1980er Jahren anhaltende Abwärtstrends der Partei setzte sich unvermindert fort – bei den Zweit- (−10,5 Prozentpunkte) wie Erststimmen (−9,8). Zwar betrug der Vorsprung der CSU zur SPD als zweitstärksten Partei im Freistaat weiterhin 23,5 Prozentpunkte. Die absoluten Verluste im Längsschnitt aber verdeutlichten, dass der schleichende Abstieg der Partei eine neue Dynamik angenommen hatte (1983: 4.140.865; 2017: 2.869.688). • Die Erosion der einst zementierten, nicht zuletzt auf herausragenden Wahlergebnissen begründeten Sonderstellung der CSU innerhalb der Union hält weiter an.3 Der Partei fällt es so immer schwerer, ihren, für das eigene Selbstverständnis wie die Wählererwartung zentralen bundespolitischen Gestaltungsanspruch mit Leben zu füllen. • Schließlich offenbarte das Bundestagswahlergebnis abermals die nur eingeschränkte Zukunftsfähigkeit der Partei hinsichtlich ihres Elektorates. Die neuerlichen Zustimmungsverluste gerade unter jüngeren Wählerinnen und Wählern (vgl. Tab. 1) sowie in Städten lassen langfristig ein Andauern der noch gegebenen Dominanz der CSU im bayerischen Parteiensystem fraglich erscheinen. Die von der Wahl ausgehenden Erschütterungen brachten das Haus CSU so sehr ins Wanken, dass seine Statik in Mitleidenschaft gezogen wurde. Eine sofortige Generalsanierung aber kam kaum infrage. Nicht nur stand die personelle Frage nach dem künftigen Chef auf der Baustelle CSU weiter unbeantwortet im Raum. Auch erlaubten die unmittelbar nach der Bundestagswahl anstehenden Herausforderungen – die Koalitionsverhandlungen im Bund einerseits und die Landtagswahlen 2018 in Bayern andererseits – keine anhaltende Phase der Nabelschau und Selbstzerfleischung. Die Stabübergabe im Amt des Bayerischen Ministerpräsidenten von Horst Seehofer zu Markus Söder war so eine risikobehaftete Lösung, die die Erneuerung der Partei nur halbherzig einläutete, gleichzeitig aber das zu dieser Zeit in der Partei ‚Machbare‘ widerspiegelte. Alle Lager der Partei konnten dem Kompromiss, der die eigentliche Entscheidung über die machtpolitische Struktur der Partei partiell vertagt hatte, zumindest für die Zeit bis zur Landtagswahl zustimmen. Schließlich blieb auch der für die Partei wichtige Regionalproporz – in diesem Fall Altbayern und Schwaben vs. Franken – gewahrt.

3So

betrug der Abstand der CSU zu den stimmenstärksten Landesergebnissen der CDU (Rheinland-Pfalz: 35,9 %, Niedersachsen 34,9 %, Baden-Württemberg: 34,4 %, SchleswigHolstein: 34 %) nur noch wenige Prozentpunkte.

Baustelle CSU. Das Experiment einer …

223

Tab. 1   Stimmabgabe nach Geschlecht und Altersgruppen zur Bundestagswahl 2017 und zur Landtagswahl 2018 in Bayern BTW 2017 CSUa Altersverteilung

LTW 2018 Referenzb

38,0 (−10.8)

CSUa

Referenzb

35,5 (−11,2)

18−24

28,8 (−10,3)

Grüne: 15,9

24,5 (−12,8)

Grüne: 26

25−34

32,0 (−12,5)

AfD: 12,8

28,3 (−15,3)

Grüne: 22

35−44

35,1 (−12,6)

AfD: 14,7

31,3 (−12,8)

Grüne: 21,7

45−59

34,6 (−10,4)

SPD/AfD: 15,1

32,0 (−10)

Grüne: 20,6

60−69

39,3 (−11,7)

SPD: 18,8

38,8 (−11,1)

Grüne: 15,4

70+

52,1 (−8,5)

SPD: 20,0

52,4 (−7,7)

SPD: 15,5

FDP: 15,1

24,7 (−14,2)

Männer

34,7 (−11,7)

18−24

26,7 (−10,6)

34,4 (−11,7) Grüne: 22,8

25−34

29,0 (−14,1)

AfD: 16,3

27,8 (−15,6)

Grüne: 19,8

35−44

31,9 (−14,4)

AfD: 19,0

31,1 (−14)

Grüne: 19,1

45−59

32,7 (−11)

AfD: 19,1

32,4 (−10)

Grüne: 18,5

60−69

35,6 (−12)

SPD: 19,5

36,7 (−11,2)

Grüne: 14,4

70+

47,7 (−9,4)

SPD: 20,8

49,4 (−8,4)

SPD: 15,9

Grüne: 19,0

24,3 (−13,2)

Frauen

41,2 (−9,9)

18−24

31,0 (−10)

36,6 (−10,8) Grüne: 29,7

25−34

35,0 (−11,1)

Grüne: 15,2

28,8 (−15)

Grüne: 24,4

35−44

38,2 (−10,9)

Grüne: 14,4

31,5 (−11,6)

Grüne: 24,5

45−59

36,6 (−9,7)

SPD: 14,9

31,5 (−10,1)

Grüne: 23

60−69

42,8 (−11,5)

SPD: 18,0

41,0 (−11)

Grüne: 16,4

70+

55,7 (−7,9)

SPD: 19,3

55,1 (−7,1)

SPD: 15,2

aAngabe

in Prozent, Veränderung zu den Wahlen 2013 in Prozentpunkten bErgebnis der zweitstärksten Partei innerhalb der Altersgruppe in Prozent (Quelle: Eigene Darstellung. Datenbasis: Bayerisches Landesamt für Statistik 2018, S. 9 f., 2019, S. 8 f.)

Der auf die Bundestagswahl folgende Landtagswahlkampf des Jahres 2018 offenbarte die Schwächen der gefundenen Konstruktion. Die Partei agierte nicht ‚aus einem Guss‘, der von ihr zu bewältigende Spagat zwischen leidlich inszenierter Stärke und tatsächlicher Schwäche erwies sich ohne eindeutiges strategisches Zentrum als zu herausfordernd. So brauchte es die bayerische

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Landtagswahl vom 14. Oktober 2018, die den Abwärtstrend der Partei nicht nur bestätigte, sondern sogar beschleunigte (CSU: 37,2 %, −10,5 Prozentpunkte), um den gordischen Knoten parteiinterner Individual- und Partikularinteressen, den die CSU an einer konsequenten Neuaufstellung hinderte, zu zerschlagen. Erst seitdem, mit Markus Söder als neuem, alleinigem starken Mann an ihrer Spitze, kann sich die CSU ganz auf ihre Neuaufstellung konzentrieren. Erst jetzt nimmt die Generalsanierung der CSU unter dem Banner einer postmaterialistisch ergänzten Neuinterpretation als bürgerliche Volkspartei Formen an.

2 Die Selbst-Degradierung zur ­„Ein-Themen-Partei“ im Bundestagswahlkampf Horst Seehofer war 2008 als CSU-Parteivorsitzender angetreten, seine Partei in die Moderne zu führen. Ein frischeres Parteiimage, punktuelle Reformen der Parteiorganisation und eine liberalere Programmatik sollten helfen, die CSU von dem ihr anlastenden Image des Verkrusteten und Rückwärtsgewandten zu befreien. (vgl. Weigl 2011, S. 98–101) Mit dem Beginn der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ 2015 aber schienen all diese Bemühungen um mehr Modernität mit einem Schlag vergessen. Im ewigen Streit mit der Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzenden Angela Merkel um die künftige Aufstellung der Unions­ parteien glaubte die CSU endlich den Hebel gefunden zu haben, ihre Vorstellungen von einer Union, die aller Liberalität zum Trotz weiterhin einem konservativen Kompass folgt, gefunden zu haben – und vernachlässigte über ihren neu entfachten konservativen Aktionismus jegliche Bemühungen um ein mehr liberaleres Image. Schon seit der Finanz- und Währungskrise innerhalb der Europäischen Union schwelte die Auseinandersetzung zwischen den Schwesterparteien, wie viel Konservativismus einer modernisierten Union noch zu Gesicht stünde. Während die Kapitänin Merkel das Schiff CDU unbeirrt in Richtung bürgerlich-liberaler Gewässer steuerte, warnte der Erste Offizier aus Bayern beharrlich vor den Untiefen, die einem Unionsschiff außer Sichtweite seiner konservativen Heimatgewässer drohten. Sensibilisiert durch das von Franz Josef Strauß geprägte Credo von 1987 (vgl. Strauß 1991, S. 565), dass es rechts der CSU keine demokratisch legitimierte Partei geben dürfe, befürchtete die CSU schon frühzeitig, dass eine ihres ideologischen Kompasses entledigte Union an Profil und Stammwählern verlieren und das entstehende Repräsentationsdefizit den Raum für eine neue konservative Kraft im Parteienspektrum eröffnen könnte. Mit den Freien Wählern (FW) hatte sich in Bayern bereits 2008 eine bürgerliche Konkurrenz etabliert,

Baustelle CSU. Das Experiment einer …

225

die es einem CSU-Schiff mit Schlagseite zunehmend schwerer macht, ihre Prädominanz im freistaatlichen Parteiensystem zu verteidigen. Noch eine weitere Kraft könnte, so die Überlegung der CSU-Granden, ihr Schiff an den Rand des Kenterns führen (vgl. z. B. Söder 2016, S. 38). Eine Union, die sich konservativ schimpft, aber – so die christlich-soziale Sicht der Dinge – die Sicherung der eigenen Grenzen im Sinne eines handlungsfähigen Staates nicht ernst nimmt, schien der CSU endgültig als konservativer Sündenfall. Ihm zu begegnen, verwendete die CSU fortan all ihre Energie auf. Mit der Migrationskrise verengte sich die CSU in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend auf eine Ein-Themen-Partei, die sich in immer heftigeren Kämpfen mit der Schwesterpartei verzettelte. Der CSU-Parteitag in München am 20. November 2015, bei dem Horst Seehofer Angela Merkel für Minuten wie ein Schulkind auf offener Bühne tadelte, geriet zum negativen Höhepunkt einer beispiellosen Schlammschlacht zwischen den Geschwistern. Das eigentliche Ziel der CSU, einen Mitteruck der Unionsparteien zu verhindern, um so die Repräsentationslücke am nationalkonservativ-demokratischen Rand (vgl. Patzelt 2018, S. 895) zu schließen, ging im Streit der Unionsparteien und den immer aggressiveren Tönen der Parteispitze in migrationspolitischen Fragen zunehmend unter. Positive Akzente, die den Eindruck einer sich verkämpfenden Partei relativieren hätten können, aber blieben gleichzeitig aus. Seit Sommer 2015 fand die CSU in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend nur noch über die Bundespolitik und hier über die für sie negativ konnotierten Themen Migration und – bedingt – Mobilität statt. Alles mediale Interesse konzentrierte sich auf ihren Parteivorsitzenden, dessen Generalsekretär Andreas Scheuer sowie Alexander Dobrindt als Bundesverkehrsminister. Die Partei verengte sich zunehmend selbst – thematisch wie personell. Mit Beginn des Wahljahres 2017 musste sich die CSU entscheiden. Eine Fortsetzung des scharfen Oppositionskurses gegen Bundeskanzlerin Merkel hätte den Wahlkampf massiv belastet und die schon vereinzelt aufgeworfene Frage verschärft, ob unter diesen Bedingungen eine Fortsetzung der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU im Deutschen Bundestag auch über 2017 hinaus noch denkbar gewesen wäre. Da ein solches Szenario, das wiederum die Existenz der eigenen Partei gefährdet hätte, nicht im Interesse der CSU sein konnte, rang sich die Parteispitze letztlich doch zu einem Wahlkampf der inszenierten schwesterparteilichen Harmonie durch. In der „Orientierung geben – Zukunft sichern“ überschriebenen „Münchner Erklärung“, beschlossen von den Führungsgremien beider Parteien am 6. Februar 2017, stellte sich die CSU vorbehaltlos hinter die Person Angela Merkels als neue wie alte Bundeskanzlerin und das Konzept der Schwesternparteien (vgl. CDU und CSU 2017, S. 1).

226

M. Weigl

Kaum kommunikativ vorbereitet, kam diese Solidaritätsbekundung für Merkel, deren Beitrag zu einer „sicher[en] und erfolgreich[en]“ (ebd.) Regierungspolitik ausdrücklich betont wurde, nicht nur sehr plötzlich, sondern wurde von beinahe allen Beobachtern – auch in den eigenen CSU-Reihen – als nur wenig glaubwürdig angesehen. Zwar wurde die fortan in der CSU geltende Sprachregelung, dass Angela Merkel die beste Wahl für das Amt des Bundeskanzlers sei, während des Wahlkampfes „in einer eindrucksvoll disziplinierten Weise“ (Oppelland 2018, S. 20) durchgehalten. Ein Einlenken in der Sache aber war damit nicht verbunden. Während das gemeinsame Regierungsprogramm von CDU und CSU („Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“)4 zu Fragen der Migration nur wenig und wenig Konkretes zu sagen hatte, wurde ihnen im in dem am 17. Juli 2017 vom CSU-Vorstand beschlossenen „Bayernplan“5 in Ergänzung zum gemeinsamen Wahlprogramm ein prominenter Platz eingeräumt. Zwar unterschieden sich die beiden Programme vornehmlich in Sprache und Präsentation, weniger in den Inhalten.6 Mit Forderungen nach einer Obergrenze von 200.000 für den Flüchtlingszuzug, Maßnahmen zur Sicherung der Grenzen und der Inneren Sicherheit sowie dem Bekenntnis zu einer deutschen Leitkultur (vgl. CSU 2017b) aber gab die CSU ihrem konservativen Selbstverständnis deutlich pointierter Ausdruck. Mit ihrer Entscheidung für eine „co-opt policies“-Strategie hoffte die CSU, Themen der AfD selbst besetzen und so Unentschlossene von einer Stimmabgabe für die AfD abhalten zu können (vgl. Oppelland 2018, S. 18 f.). Zwar vergaß die CSU bei all ihren Bemühungen um den rechten demokratischen Rand die Mitte der Gesellschaft nicht. Im Bayernplan festgehaltene Forderungen nach einer Erhöhung des Kindergeldes, einem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung bis zum Ende der Grundschule, nach wirksamen Steuerentlastungen und einer Wohnraum-Offensive adressierten primär liberal orientierte

4Für

eine ausführliche Analyse des Wahlprogramms vgl. Jakobs und Jun (2018). Ausformulierung allein ein Ausrufezeichen setzte, weil eigene Wahlprogramme der CSU zu Bundestagswahlen in der Geschichte der Union, die gemeinsame Wahlprogramme seit 1972 kennt, die Ausnahme, nicht die Regel ist. 1983 hatte die CSU ebenfalls ein ergänzendes eigenes Wahlprogramm veröffentlicht, um Unterschiede zur CDU deutlich zu machen. Zur Bundestagswahl 1990 hatte die Partei dann sogar ein gänzlich eigenes Programm verabschiedet. 6Zu ausführlichen Analysen des gemeinsamen Wahlprogramms beider Unionsparteien sowie des Bayernplanes vgl. Oppelland 2018, S. 21–31, hier bes. S. 28. 5Dessen

Baustelle CSU. Das Experiment einer …

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Wählerinnen und Wähler. In der öffentlichen und veröffentlichten Wahrnehmung aber blieb die Partei jenseits ihres konservativen Politikangebotes blass, was auch Konsequenz gewisser Widersprüchlichkeiten des Wahlkampfes war: • Der Streit zwischen CSU und CDU war zwar offiziell mit der „Münchner Erklärung“ beigelegt worden, schwelte aber dennoch den gesamten Wahlkampf über weiter. Die unterschiedliche Schärfe der Positionierungen gerade in Fragen der Migrationspolitik ließ keinen Glauben an einen Frieden zwischen den Schwesterparteien, nur an einen zweckdienlichen Waffenstillstand aufkommen – ein Umstand, der den Mitbewerbern genügend Angriffsfläche im Wahlkampf bot.7 • Zwar hatte die Partei offiziell den Bayerischen Innenminister Joachim Herrmann zu ihrem Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl gekürt und so ihrem Thema Innere Sicherheit und Grenzschutz nochmals Nachdruck verliehen. Im Wahlkampf selbst aber spielte Herrmann kaum eine Rolle. TV-Spots wie Plakate waren vornehmlich auf Horst Seehofer als Parteivorsitzendem und Ministerpräsidenten ausgerichtet. (vgl. Meyer 2019) • Zwar versuchte sich die Partei im Wahlkampf thematisch weit aufzustellen und so ein breites Spektrum von Wählerinnen und Wählern zu adressieren. Die jahrelange programmatische Verengung auf das Thema Migration und der dabei gepflegte, zugespitzte Politikstil aber wirkten nach und schwächten die Agenda-Setting-Qualität wie Glaubwürdigkeit der CSU (vgl. z. B. Huber 2017) • Mit der programmatischen Ausweitung ihres Politikangebotes bediente die Partei zwar manche, keinesfalls aber alle Themen, die von den Bürgerinnen und Bürgern als besonders wichtig für ihre Wahlentscheidung angesehen wurden. Für die Felder soziale Gerechtigkeit (37 %), Bildung/Schule (14 %) und Umweltschutz (9 %) fehlten pointierte Politik-Angebote. Unter den 56 % der Bürgerinnen und Bürger, die das Thema Migration als für sich besonders wahlentscheidend bezeichneten, befanden sich wiederum auch viele, die im dezidierten Gegensatz zum strikten Kurs der CSU standen. (vgl. Infratest 2017).

7So

beispielsweise im TV-„Fünfkampf“ der kleineren Parteien am 4. Dezember 2017, vgl. hierzu Oppelland (2018, S. 37 f.); Richter et al. (2019).

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Der CSU-Wahlkampf unter dem Motto „Bayern zuerst“8 war so kein Wahlkampf der dramatischen handwerklichen Fehler. Er war in seiner Widersprüchlichkeit aber auch nicht dazu geeignet, Emotionen für die Partei zu entfachen und zu mobilisieren. Gefangen in der Sandwich-Position zwischen der AfD auf der einen und der liberalen Mitte auf der anderen Seite, die beide um die gegensätzlichen Ränder der ­CSU-Wählerschaft buhlten, fand die Partei kein Mittel, den ihr so aufgezwängten Z ­ wei-Fronten-Wahlkampf erfolgreich zu bestreiten. Indem sie zuerst gegen den Kurs Merkel in der Migrationsfrage Front machte, sich dann im Wahljahr in labiler Unterstützung der Kanzlerin übte und schließlich zum Ende des Wahlkampfes, als sich der Anstieg der AfD in Umfragen mit neuer Dynamik abzeichnete,9 wieder einer deutlich aggressiveren Sprache bediente, verspielte sie Glaubwürdigkeit auf beiden Seiten, dem nationalkonservativen Rand wie der liberalen Mitte. Der öffentlich entstandene Eindruck einer polemisierenden Ein-Themen-Partei aber widersprach dem eigenen Selbstverständnis wie den Erwartungen ihrer Wähler, eine breit aufgestellten ‚Volkspartei‘ zu sein, die integriert, statt polarisiert.

3 Die missglückte „Welturaufführung“: Der personelle Übergang von Seehofer zu Söder In der am Wahlabend beginnenden Debatte um Gründe des Wahldebakels verteidigte sich Seehofer gegen seine parteiinternen Kritiker mit dem Hinweis, dass die Eckpunkte der Wahlkampfstrategie in den Führungsgremien abgestimmt gewesen seien, er deshalb keinesfalls der Alleinschuldige sei. (vgl. Deininger und Wittl 2017) Einerseits hatte er mit dieser Auslassung Recht: Die Gründe für die Stimmenverluste der CSU bei der Bundestagswahl waren vielfältiger Natur und nicht allein dem Parteivorsitzenden anzulasten. Andererseits aber war es Seehofer selbst gewesen, welcher der CSU über Jahre hinweg durch einen Führungsstil,

8Seehofer

knüpfte hier dezidiert an den erfolgreich bestrittenen Bundestagswahlkampf 2013 an, als der Parteivorsitzende medienwirksam eine gleichlautende Veranstaltungsreihe mit dem ehemaligen Strauß-Vertrauten und Chefredakteur des Bayernkuriers, Wilfried Scharnagl, und dem ehemaligen bayerischen Innenminister Peter Gauweiler ins Leben gerufen hatte, die im Wahlkampf für eine Rückführung von Kompetenzen der Europäischen Union auf die Ebene der Regionen geworben hatten (vgl. Weigl 2015, S. 91). 9Nach einer ‚Sommerflaute‘ zogen die Werte der AfD in den Sonntagsfragen der Meinungsinstitute in den letzten Wochen vor dem Urnengang 2017 wieder deutlich an.

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der Widerspruch nur selten duldete, seinen Stempel aufgedrückt hatte. Die CSU des Spätsommers 2017 trug zu sehr die Handschrift ihres Vorsitzenden, als das dessen Versuch, die Verantwortung für die Wahlniederlage auf viele Schultern zu verteilen, hätte verfangen können. Das Verhältnis des Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Seehofer zu seiner Partei war immer ein angespanntes gewesen. Niemals hatte sich sein Machtanspruch auf eine breite, netzwerkartige Struktur von Unterstützern innerhalb der Partei gestützt, sondern auf die Beliebtheit an der Basis und seine Erfolge an der Wahlurne 2013, als er die Partei zurück zur alleinigen Regierungsverantwortung geführt hatte. Jetzt, da auch dieser Nimbus des erfolgreichen Wahlkämpfers verloren gegangen war, sich das Wahljahr 2013 als ‚Ausreißer‘ erwies und sich der Abwärtstrend der Partei fortsetzte, wurde es um Seehofer rasch einsam. Lange Zeit konnte Seehofer darauf vertrauen, dass sich keine parteiinterne Mehrheit gegen ihn organisieren lasse. Taktisch geschickt hatte er die verschiedenen Lager seiner möglichen Nachfolger immer wieder gespalten und gegeneinander ausgespielt, um so alternativlos zu bleiben. (vgl. Weigl 2011, S. 88 ff.) Inzwischen aber hatte sich das Blatt gewendet. Von der „Welturaufführung“ eines „organischen Übergang“ (zitiert nach: Münchner Merkur 2012) an der Spitze von Freistaat und Partei, den Seehofer einst selbst hatte organisieren wollen, war längst nicht mehr die Rede. An Markus Söder, seit 2011 bayerischer Finanz- und – seit 2013 zusätzlich – Heimatminister, führte kein Weg mehr vorbei, nachdem seine potenziellen Konkurrentinnen und Konkurrenten ihren Machtanspruch nur zögerlich untermauert hatten. Die Personalspekulationen nach der Bundestagswahl rankten sich so nicht mehr wie häufig zuvor um die Frage, wie Söder verhindert werden hätte können, sondern lediglich noch darum, wie viel Macht ihm zugestanden werden sollte, ob also die CSU eine Personalunion von Ministerpräsidentenamt und Parteivorsitz anstreben oder doch auf eine Doppelspitze setzen sollte. Kaum jemand hegte am Wahlabend Zweifel daran, dass Seehofer angesichts des verheerenden Ergebnisses rasch seinen Rücktritt verkünden würde. Dieser aber überraschte seine Partei ein weiteres Mal, in dem er einen vorzeitigen Rückzug aus seinen Ämtern ausschloss und eine Bilanzierung des Ergebnisses – Personalfragen eingeschlossen – auf den Herbst verschob. (vgl. Wittl 2017a) Nicht von der Hand zu weisen war sein Verweis, dass die CSU in den im Bund anstehenden Koalitionsverhandlungen Stärke und Geschlossenheit zeigen müsse, ein Personalwechsel an ihrer Spitze demnach zu Unzeiten komme. Dass sich der für das Selbstverständnis der Partei und ihre Außendarstellung zentrale Aspekt bundespolitischer Stärke angesichts des schwachen Bundestagswahlergebnisses nur schwer würde durchsetzen lassen und alles unternommen werden musste, die

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Position der CSU innerhalb der Verhandlungen nicht noch weiter zu schwächen, war Konsens. Dass Seehofer derart aber zugleich einen letzten Versuch unternahm, die an Fahrt gewinnende Nachfolgedebatte auszubremsen und unter Führung des Parteivorsitzenden zu kontrollieren, war ebenso offensichtlich. Ein akzeptables Ergebnis der CSU bei den Berliner Koalitionsverhandlungen hätte einen Wechsel an der Parteispitze erschwert bis abermals unmöglich gemacht. Eine offene Rebellion gegen den Parteivorsitzenden war in dieser Situation für viele in der CSU ebenso wenig Option wie eine weitere Verlängerung der Ära Seehofer mit ungewissem Ausgang. Für alle, die eine Erneuerung der Partei anstrebten, galt es den Balanceakt zu meistern, die Bilanz- und Nachfolgedebatte nicht austrocknen zu lassen, gleichzeitig aber auch nicht zu viel Öl ins Feuer zu gießen. Die Wochen nach der Bundestagswahl gerieten so für die Partei zu einem Balanceakt, in dem sie einerseits um die Demonstration von Stärke in den Berliner Koalitionsverhandlungen bemüht war, andererseits das chaotische Bild einer außer Kontrolle geratenen Nachfolgedebatte in der Heimat ebenso die Medien beherrschte. Vor allem aus der Basis heraus schwollen die Stimmen der Orts- und Kreisverbände, die einen Rücktritt Seehofers forderten, immer mehr an. Selbst in seinem heimatlichen CSU-Bezirksverband Oberbayern und dem Münchner Bezirksverband verlor Seehofer an Rückhalt; Stimmen, die seine Demission zumindest als Ministerpräsident forderten, mehrten sich. (vgl. Wittl 2017b) Das Bild von Mitgliederinnen und Mitgliedern der Jungen Union, die auf ihrem Parteitag Anfang November 2017 in Erlangen für den sich ob dieser Aktion überrascht gebenden Söder mit Schildern wie „MP Söder“ oder „Es kann nur einen geben!“ demonstrierten, brannte sich ein. Seehofer war zu dieser Zeit durch die Koalitionsverhandlungen weitgehend in Berlin gebunden, weshalb er selbst der Dynamik im Freistaat nur wenig offensiv entgegenzusetzen wusste. In den Sondierungsverhandlungen zu einer möglichen Jamaika-Koalition im Bund hatte er die Chance gesehen, etwas Neues auf den Weg zu bringen und sich so als Modernisierer neu im parteiinternen Gerangel um seine mögliche Ablösung als Ministerpräsident zu positionieren.10 Dann jedoch, als die FDP in der Nacht des 19. November 2017 die Koalitionsverhandlungen mit CDU, CSU und Grünen für gescheitert erklärte (vgl. Siefken 2018, S. 412 ff.),

10Und

war damit Berichten zufolge in einem gewissen Gegensatz zu dem im Oktober 2017 in Nachfolge von Gerda Hasselfeldt (2011–2017) zum neuen Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag gewählten Alexander Dobrindt gestanden, der eingebunden in die ‚Achse‘ Spahn-Lindner-Dobrindt deutlich konservativere Positionen den Vorzug gegeben hätte. (vgl. Carstens et al. 2017).

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stand er der nunmehr zum Orkan anschwellenden Debatte um die künftige personelle Aufstellung der CSU weitgehend machtlos gegenüber. Ohne den Erfolg eines Verhandlungsergebnisses trat er seinen Kritikern mit leeren Händen entgegen. Gleichzeitig aber hatte sich die personelle Debatte in der CSU mit dem unerwarteten Ende des Berliner Verhandlungspokers weiter verkompliziert. Einer unmittelbaren Zentralisierung beider Machtquellen Ministerpräsident und Parteivorsitz in den Händen Söders begegneten viele in der Partei mit Skepsis – nicht nur angesichts der außerordentlichen Machtfülle einer Personalunion, sondern auch, weil so das Debakel für den oberbayerischen Bezirksverband – der den Ingolstädter Seehofer verloren und die aus Feldkirchen stammende bayerische Wirtschaftsministerin Ilse Aigner nicht durchsetzen hätte können – perfekt gewesen wäre. Es dauerte so bis zum 04. Dezember 2017 – über drei Monate nach der Bundestagswahl –, bis der erste Akt des Dramas der personellen Erneuerung der CSU beendet war. Nach einer CSU-Vorstandssitzung kündigte Seehofer an, das Amt des Bayerischen Ministerpräsidenten „im ersten Quartal 2018“ (vgl. CSU 2017a) an Markus Söder abgeben zu wollen, gleichzeitig aber Parteivorsitzender und Bundesinnenminister bleiben zu wollen. In vielen Geheimgesprächen – auch zwischen Seehofer und Söder selbst – war ein für beide Seiten gesichtswahrender Weg aus dem Dilemma gesucht und gefunden worden. Die Übereinkunft kam für die CSU – trotz des nur partiellen Rückzugs Seehofers – einem Befreiungsschlag gleich. Die Übereinkunft einer Doppelspitze Söder – Seehofer warf zwar die Frage auf, ob die beiden Alphatiere mit ihrer öffentlich zur Schau getragenen, gegenseitigen Abneigungen tatsächlich im Wahlkampf zur bayerischen Landtagswahl 2018 miteinander agieren würden können. Für den Moment aber war der Regionalproporz Franken-Südbayern ebenso gewahrt wie die traditionelle Rollenteilung eines machtvoll in Bayern agierenden Ministerpräsidenten einerseits und eines ebenso versierten Aushängeschildes in Berlin andererseits. Das Duo Seehofer – Söder war, dies war allen Beteiligten bewusst, keine Lösung von Dauer. Für den anstehenden Landtagswahlkampf aber sah sich die CSU – froh, die zum Teil chaotische Nachfolgedebatte der letzten Monate hinter sich gelassen zu haben – den Umständen entsprechend gerüstet. Die Festlegung, den Stabwechsel an der bayerischen Regierungsspitze erst im ersten Quartal 2018 zu vollziehen, erlaubte es der CSU, mit ihrem Parteivorsitzenden in Berlin zu verhandeln und gleichzeitig die im Landtagswahlkampf dringend benötigte Präsenz ihres Spitzenpersonals im Freistaat nicht zu vernachlässigen. Söder gehörte so auch nicht der abermals von Seehofer und Dobrindt geleiteten CSU-Delegation für die am 28. Januar 2018 beginnenden Koalitionsverhandlungen mit der SPD an – einerseits, um sich ganz Bayern

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widmen zu können, andererseits, um nicht im schwierigen bundespolitischen Koalitionspoker beschädigt zu werden. Das am 07. Februar 2018 verkündete Ergebnis der Koalitionsverhandlungen im Bund ließ sich für die CSU sehen und versprach Rückenwind für den Landtagswahlkampf.11 Inhaltlich hatte sie sich mit Forderungen wie einer Obergrenze für den Zuzug Geflüchteter durchsetzen können (vgl. Saalfeld et al. 2019, S. 524 f.; Blinzler et al. 2019, S. 364 ff.). Vor allem das neue Personaltableau aber wurde weithin als großer Erfolg für die Partei gewertet. Mit drei Bundesministern12, zwei parlamentarischen Staatssekretären13 und der erst in letzter Sekunde geschaffenen Konstruktion einer Staatsministerin für Digitalisierung14 hat die CSU auch bei der Postenverteilung deutlich besser abgeschnitten, als angesichts ihres Wahlergebnisses und der Tatsache, der kleinste der drei Koalitionspartner zu sein, erwartet worden war. Mit dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat hatte sich Seehofer selbst ein Schlüsselministerium gesichert, das der CSU wie seiner eigenen Person auch in Zukunft große öffentliche Beachtung versprach. Gerade diese – eigentlich für die Partei günstige – Konstellation aber erwies sich für die kommenden Monate, da eine reibungslose Abstimmung zwischen Berlin und München notwendig gewesen wäre, als Hypothek. Wie erwartet, war die Doppelspitze Seehofer – Söder in der Folgezeit nicht frei von Sticheleien und Merkwürdigkeiten, öffentliche Grabenkämpfe zwischen den beiden Parteigranden aber blieben zunächst weitgehend aus. Erst als in den letzten Wochen vor dem bayerischen Urnengang die Umfragewerte für die CSU Schlimmes versprachen, führt dies zum surreal anmutenden Schauspiel, dass sich Seehofer und Söder schon gegenseitig die Verantwortung für Fehler im Wahlkampf zuschoben, bevor noch überhaupt die Wahl geschlagen war. Das für die Außenwirkung wenig dienliche Bild, das die Partei so abgab, warf schon die

11Weshalb

die Partei das Ergebnis auch innerhalb weniger Tagen absegnete. Vgl. Siefken 2018, S. 428. 12Inneres, Bau und Heimat (Seehofer), Verkehr und digitale Infrastruktur (Andreas Scheuer), Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Gerd Müller). An die CDU abgegeben hat die CSU hingegen das zuvor von ihr zuvor besetzte Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. 13Inneres, Bau und Heimat (Stephan Mayer), Verteidigung (Thomas Silberhorn). 14Dorothee Bär.

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Schatten voraus auf den zweiten Akt der personellen Erneuerung, der nach der Landtagswahl gespielt werden sollte. Der Vorwahl-Zwist zwischen Seehofer und Söder war keine Panikreaktion angesichts von desaströsen Umfrageergebnissen von unter 35  %, sondern die wohlkalkulierte Vorbereitung auf die Debatte, welche angesichts des zu erwartenden katastrophalen Ergebnisses der CSU bei den Landtagswahlen unweigerlich auf die Partei hereinbrechen würden. Mit dem immer wieder schon vor dem Urnengang in verschiedenen Varianten wiederholten Hinweis, dass die schlechte Wahlperformance der CSU vor allem bundespolitischen Gründen – und hier vor allem Seehofers Auftreten in der Asyl- und Migrationspolitik – geschuldet sei, begannen Söder und seine Unterstützer ihr Terrain zu sichern und Seehofer in eine Position zu drängen, aus der sich zu befreien diesem die Mittel fehlten. Rechtskonservative Wähler über einen dezidiert rigiden Kurs in der Migrationspolitik anzusprechen und abzuholen, war durchaus Teil der ­CSU-Strategie zur Landtagswahl. Dass Seehofer anfangs von Landespolitikern – allen voran Markus Söder selbst („Asyltourismus“15) – in seinen schrillen Tönen sekundiert wurde, zeugt hiervon. Je mehr dieser Kurs aber die öffentliche Wahrnehmung der Partei dominierte und andere, auf das liberale Segment der Wählerlandschaft abzielende Akzentsetzungen kein Gehör mehr fanden, erwies sich dies als Hypothek für den bayerischen Urnengang. Mit dem vor allem im Juni und Juli von der Parteispitze gepflegten ‚Polter- und Krawallimage‘16 verschreckte sie auch Teile ihrer gemäßigt-liberalen Klientel und gab den Mitkonkurrenten die von diesen dankbar angenommene Gelegenheit, von der CSU scheinbar unbeachtete Themen zu besetzen und das alte Feindbild der abgehobenen und

15So

verwendet in Interviews mit dem ZDF heute-journal und den ARD-Tagesthemen vom 14.06.2018 sowie in einem Twitter-Post vom gleichen Tag. Bereits Tage zuvor hatte Innenminister Joachim Hermann den Begriff, dessen er bereits 2014 bediente (vgl. Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration 2014), in einem Interview mit dem Handelsblatt verwendet (vgl. Specht 2018). 16Mit Höhepunkt einer CSU-Vorstandssitzung vom 01. Juli 2018, in der Seehofer mit Verweis auf mangelnden Rückhalt durch die eigene Partei seinen Rücktritt als Parteivorsitzender androhte (vgl. Deininger 2020, S. 28–34). Vorausgegangen war eine weitere Eskalation des Streits mit Angela Merkel, nachdem diese ihm die Vorstellung seines „Masterplans Migration“ („Maßnahmen zur Ordnung, Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung“) in einer für den 11. Juni 2018 anberaumten Pressekonferenz untersagt und dabei sogar auf ihre Richtlinienkompetenz verwiesen hatte.

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in der Vergangenheit stehen gebliebenen ‚Hardliner‘-Partei17 zu reaktivieren. Ab Anfang Juli befand sie die Partei so in einem Strudel der öffentlichen Ablehnung, der sie kontinuierlich bis zum Wahltag auf nur noch 33 % der Stimmen in den Umfragen schrumpfen ließ. Erst die in der letzten Wahlkampfwoche unermüdlich wiederholte Warnung Söders, dass eine derart schwache CSU auch die Stabilität Bayerns gefährde, verfing scheinbar bei Teilen der Wählerschaft und rettete die Partei auf immerhin 37,2 % (−10,5 Prozentpunkte)18 der Stimmen. Es hatte eines funktionalen Argumentes gebraucht, um das Desaster der einst so stolzen und mit Bayern symbiotisch verbundenen CSU ein wenig zu mindern. Die Dramatik der Zahlen erlaubte kein ‚weiter so‘, abermals hatte die CSU bei ihrer ehemaligen Kernklientel und in der Altersgruppe der Ü ­ ber-Sechzigjährigen verloren, ohne Boden bei den Zukunftswählern der 18 bis 35jährigen gut zu machen (vgl. Tab. 1).19 Seehofers Versuche nach der Landtagswahl, sich seiner Demontage auch als Parteivorsitzender zu erwehren, waren so und angesichts des Umstandes, dass niemand in der Partei eine neuerliche Debatte um die Person Söder führen oder diesen beschädigen wollte, keine echte Chance beschienen. Seehofers Ankündigung vom 12. November 2018, den Parteivorsitz abgeben und der Partei so auf ihrem Weg der Erneuerung nicht im Wege stehen zu wollen, war die logische Konsequenz dieser Konstellation. Seehofer hatte gewartet, ob mit dem EVP-Fraktionsvorsitzenden Manfred Weber ein CSU-Mann seinen Anspruch auf das Amt des EU-Kommissionspräsidenten würde durchsetzen können. Nachdem dies tatsächlich am 8. November gelungen war,20 schied auch Weber – wie schon zuvor der ­CSU-Landesgruppenvorsitzende Alexander Dobrindt, der seinen Verzicht

17Neben der Positionierung in der Migrationspolitik trugen hierzu auch eine Reihe weiterer kontroverser Maßnahmen und Wordings – so beispielsweise der Kreuzerlass, das PsychiatrieGesetz, das Polizeiaufgabengesetz und die Einrichtung der Grenzpolizei – bei. Auch hatte die unmittelbar vor der Bundestagswahl eskalierende ‚Causa Maaßen‘, in der Seehofer den umstrittenen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-Georg Maaßen, zum Staatssekretär im Bundesinnenministerium ernennen wollte, für weitere Irritationen gesorgt. 18Das schlechteste CSU-Ergebnis bei Landtagswahlen mit Ausnahme 1950, als die Partei lediglich 27,4 % der Stimmen erzielt hatte, die Wahl aber mit der gleichzeitigen Konkurrenz durch Bayernpartei und Gesamtdeutschem Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten unter ganz eigenen Vorzeichen gestanden hatten. 19Für eine ausführliche Analyse der Bayerischen Landtagswahl vgl. Schultze 2019. 20Weber war auf einem EVP-Kongress mit 79,2 % der Delegiertenstimmen zum Spitzenkandidaten seiner Partei für die Europawahl 2019 gekürt worden, wobei er sich gegen seinen Konkurrenten, den ehemaligen finnischen Ministerpräsidenten Alexander Stubb, durchgesetzt hatte.

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auf eine Kandidatur erklärt hatte – aus dem Rennen um die CSU-Spitze aus. Die Hoffnung mancher in der Partei, Söder langfristig in einer Doppelspitze binden zu können, hatte sich mangels weiterer Alternativen erledigt. Hatte sich Söder selbst bis dahin mit einer Aussage zu seiner eigenen Kandidatur zurückgehalten, erklärte er am 18. November seine Bereitschaft zur Übernahme des höchsten Parteiamtes. Am 19. Januar 2019 wurde Söder von einem Sonderparteitag in München mit 87,4 % der Delegiertenstimmen zum neuen Vorsitzenden der CSU gewählt. Zwar amtiert Seehofer weiter als Bundesinnenminister und hinterlässt so seine Spuren in der bundesdeutschen Politik. Eingebunden in die Kabinettsdisziplin und ohne führendes Parteiamt aber ist die ‚Ära Seehofer‘ in der CSU an ein Ende gekommen. Sie war eine Ära des Übergangs, eine Ära, die der 2008 erschöpften und gesellschaftlich zunehmend ausgezerrten Partei Zeit verschafft hat. Sie war aber auch eine Zeit der Widersprüchlichkeit, die Zeit gekostet hat. Stets war Seehofer um neue Akzente in der inhaltlichen wie der organisatorischen Aufstellung der Partei bemüht. Auch sein Credo, die CSU müsse vom hohen Ross der alleinregierenden Macht herabsteigen und die Wünsche wie Ängste der Bürgerinnen und Bürgern ernster nehmen, sollte sich als stilprägend erweisen. Jedoch hatte er diese Ansätze der Erneuerung der CSU mit zu wenig Konsequenz und Nachhaltigkeit verfolgt. Er hatte die Partei gebaut und geführt im Wissen um die neue, aber mit Mitteln der alten Zeit; hatte einen Führungsstil gepflegt, der Macht sicherte, aber Unmut schürte. Dass die ‚Koalition mit den Bürgern‘ niemals durch eine ‚Koalition mit der eigenen Partei‘ ergänzt wurde, der Einzelkämpfer Seehofer wenig Interesse am Spiel im Team zeigte, blieb selbstverschuldete Hypothek seines Handelns. Seehofer ist nicht gescheitert – weder als Parteivorsitzender noch als Ministerpräsident. Er wusste seine Partei wie das Land zu beruhigen, die Zeit der Aufgeregtheit durch betontes Herunterspielen zu überwinden. Debatten um umstrittene Projekte wie den Ausbau der Donau bei Vilshofen wurden von ihm entschärft, mit Weichenstellungen wie einem schuldenfreien bayerischen Staatshaushalt, seinem Eintreten für eine Neuordnung des Länderfinanzausgleiches, die Einrichtung eines bayerischen Heimatministeriums oder seinem Engagement für ein Universitätsklinikum in Augsburg setzte er landespolitischen Akzente. Die Rückgewinnung der absoluten Mandatsmehrheit für die CSU in Bayern 2013 sollte sein größter Triumph werden. Mit seinem Abrücken vom traditionellen Anspruch der CSU, landespolitische Visionen in programmatische Leuchttürme zu verpacken, aber setzte er sich auch dem Vorwurf der Mutlosigkeit aus. Wo Konflikte drohten – so zum Beispiel bei der Realisierung der Energiewende oder dem Bau einer 3. Startbahn am Flughafen München –, blieben Vorhaben halbherzig. Zu erwartenden Widerständen mit Bürgern ging er konsequent aus dem Weg, womit er der CSU zwar einerseits ein demütigeres Antlitz verlieh, ihr aber auch gleichzeitig das Odium des Besonderen raubte.

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Seehofer hat die Zukunft mit seinem „mehr reagierenden als agierenden Politikstil“ weniger gestaltet, denn die Gegenwart verwaltet – oftmals erfolgreich, selten visionär: „Seehofer hat Bayern nicht als Veränderer, sondern als Verhinderer geprägt.“ (Schäffer 2018) Er hat den Übergang der CSU von der Alleinregierungs- zur Koalitionspartei eingeleitet, nicht abgeschlossen. Mit Markus Söder ist ihm ausgerechnet sein größter Widersacher als neuer starker Mann der CSU nachgefolgt. Indem dieser nicht alles neu macht, erkennt er die Leistungen der Ära Seehofer an. Indem er vieles anders macht, versucht er der Partei neues Leben einzuhauchen.

4 Zur Modernisierung gezwungen: Die CSU unter Markus Söder Schon 2008 war der Ruf nach mehr Moderne durch die Partei geschallt, die tatsächlichen Reformen aber glichen eher Schönheitskorrekturen bzw. blieben auf halbem Wege stecken. (vgl. Weigl 2015, S. 76–86) Seehofer hatte nie einen radikalen, sondern einen gemäßigten Wandel der CSU angestrebt. Söder dagegen drückt auf das Tempo, nicht nur, weil der Reformstau groß ist, sondern auch, weil die grundsätzliche Unterstützung in der Partei für einen Wandel 2018 größer ist als noch 2008. Jeder in der Partei – gleichgültig ob Party in Central Office, Party in Public Office oder Party on the Ground – ist sich des Ernstes der Lage bewusst, was den Handlungskorridor Söders deutlich weitet. Söder verlangt nicht nur nach Führung und Gefolgschaft, die Partei steht sie ihm auch zu. Im Sinne eines funktionalen Leader-Follower-Paktes, bei dem beide Seiten gemeinsame politische Ziele zu erreichen suchen, vertraut die Mehrheit innerhalb der CSU darauf, dass Söder und seine Reformen geeignet sind, die Zielerreichung der Partei (vote-, office-, policy-seeking) langfristig zu sichern, weshalb sie ihm „zu diesem Zweck (formal wie informell) Kompetenzen, Legitimität und Akzeptanz“ (Fliegauf et al. 2008, S. 403) verleiht. Das Zugeständnis von Führung entspringt dabei der Erkenntnis, dass die CSU mit einer „adaptive challenge“ (Heifetz 1994, S. 35) konfrontiert ist, die durch Routinen nicht zu lösen ist. So gibt es zwar durchaus parteiinterne Kritik am Kurs Söders21, fundamentale Opposition mit Aussicht auf Mehrheiten aber nicht.

21So

beispielsweise manifestiert in der Anfang des Jahres 2020 erfolgten Konstituierung des „Liberal-konservativen Kreises“, einem gegen eine zu große Nähe von Union und Grünen agierenden Gesprächskreis bestehend aus Bundestagsabgeordneten der CDU, der FDP und auch der CSU. Vgl. Rossmann 2020.

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Leitsatz der Reformen ist zunächst das Bekenntnis, ‚Volkspartei‘ bleiben zu wollen, wobei die Partei hier im Besonderen die Notwendigkeit der integrierenden Kraft des Volksparteienkonzeptes (vgl. Zolleis 2017, S. 9) in Zeiten der Polarisierung des politischen Wettbewerbs in Deutschland betont: „Ich halte das Konzept einer Volkspartei für die ehrlichste Antwort auf die Zerrissenheit der Gesellschaft, auf eine Politisierung und auf das Erstarken der Extreme. Wir führen zusammen. Wir drängen die Positionen der Extreme zurück.“22 Indem die CSU den Extremen – und somit auch ihrem eigenen Kurs zwischen 2015 und 2017/2018, in dessen Mittelpunkt das Ringen um Wähler am rechten demokratischen Rand stand – eine derart deutliche Absage erteilt, reaktiviert sie erstens ihr ideologisches Selbstverständnis, erste Kraft der Ausgleich suchenden ‚politischen Mitte‘ (vgl. Lenk 2009, S. 19) zu sein. Der Hinweis, dass Volkspartei zu sein „kein Geschenk, sondern harte Arbeit“ sei („Um Volkspartei zu bleiben, müssen wir uns erneuern“23), ist zweitens Eingeständnis, dass die CSU den Wandel in der Mitte der Gesellschaft (zu) lange ignoriert habe. Die Reformbemühungen der Söder-CSU bedeuten konkret, das alte, die Partei jahrzehntelang prägende Lagerdenken partiell aufzugeben. Zwar hatte sich auch die CSU stets im Sinne des Volksparteien-Konzeptes in einem situativen MultipolicyPragmatismus (vgl. Hofmann 2004, S. 110) geübt. In Betonung und Pflege ihres „Charakters der ‚Weltanschauungspartei‘“ (Oberreuter 2007, S. 139) aber hatte sie zugleich nie dem idealtypischen Modell der catch-all-party entsprochen. Primär positionierte sich die CSU stets entlang der – den deutschen Parteienwettbewerb maßgeblichen strukturierenden – Arbeit-Kapital-Cleavage (vgl. Inglehart 1977) mit natürlicher Nähe zur Parteien der Ausprägung Kapitel (FDP, FW) und einer ebenso natürlichen Distanz zu Parteien der Ausprägung Arbeit.24 Der sich in den 1980er Jahren neu konstituierende postmaterialistische Gegensatz25 wurde von der Partei dagegen niemals wirklich bearbeitet, sondern lediglich in Positionierung auf der

22So

Generalsekretär Markus Blume auf dem CSU-Parteitag in München am 18./19.10.2019. 23Ebd. 24Die Cleavage Kirche – Staat hat dagegen mit den Jahrzehnten auch in der CSU kontinuierlich an Bedeutung für Policydefinitionen eingebüßt, auch wenn sie noch eingeschränktes Legitimations- und Mobilisierungspotenzial in innerparteilichen Diskursen besitzt. (vgl. Gerngroß 2010). 25Zur Diskussion, ob es sich dabei tatsächlich um eine Konfliktlinie handelt, der Gegensatz also die Merkmale einer Cleavage erfüllt, vgl. z. B. Schoen (2014, S. 186).

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Materialismus-Ausprägung beantwortet. Primäres Ziel der aktuellen Parteireform im Sinne einer ‚­nachholenden Modernisierung‘ ist es demnach, den – vor allem: postmaterialistischen – Wertewandel der Gesellschaft (vgl. et al. Inglehart 2018, S. 30; Schultze 2018, S. 729 f.) in der programmatischen wie organisationalen Aufstellung der CSU nachzuvollziehen und so auch den neuen parteipolitischen Konstellationen gerecht zu werden.26 Rangen früher vor allem CSU und SPD um die neuen Mittelschichten, machte die bayerische Landtagswahl zum wiederholten Male deutlich, dass sich inzwischen mit den Grünen eine dritte Kraft im Kampf um dieses Wählersegment etabliert hat.27 In Repräsentation des postmaterialistisch verstandenen Wandels der Gesellschaft – mit zentralen Werten wie Umwelt und Nachhaltigkeit, Liberalität und Weltoffenheit – besitzen diese einen Markenkern, der bislang keine profilrelevante Entsprechung im Programm der CSU erfahren hat, obwohl auch die eigene CSU-Wählerschaft „ungefähr mittig zwischen Weltoffenheit und Tradition gespalten“ (Faus und Faus 2017, S. 12) ist. Der die Geschichte der Bundesrepublik prägende Wandel von Klassen- und Schichtmilieus hin zu soziokulturellen Lebensstilmilieus (vgl. u. a. Hradil 1996) soll nun auch Ausdruck in der programmatischen wie organisationalen Aufstellung der CSU finden. De facto strebt die Reform damit nach nicht weniger als nach einer Neubestimmung des Konservativismus-Begriffs in post-materialistischer Zeit. Ziel ist es dabei nicht, die Partei einseitig in ­ Richtung ‚Mitte-Links‘ zu verrücken28, sondern ihr Angebot zu verbreitern und traditionelle materialistische Werte wie Ordnung und Sicherheit mit postmaterialistischen Politikangeboten, vor allem im Politikfeld Umwelt, zusammenzuführen. Die Reformbemühungen der CSU unterscheiden sich derart deutlich von den Bemühungen der CDU wie der SPD, der „Krise der Volkspartei“ zu begegnen.29

26Schultze

(2019, S. 223) weist explizit darauf hin, dass auch das Ergebnis der bayerischen Landtagswahl von 2018 „nicht zuletzt das Ergebnis von Globalisierung und Europäisierung und den von ihnen verursachten tief greifenden Prozessen des sozial-ökonomischen wie ökologischen, aber auch kulturellen Wandels“ sei. 27Darauf, dass die Grünen bereits weit ins ‚bürgerliche‘ Lager vorgedrungen sind, weist die einschlägige Forschung bereits seit längerem hin. Vgl. Switek (2015, S. 326); Haas (2005). 28Also genau das nachzuholen, was die CSU stets am Kurs der CDU unter Merkel kritisiert hat. 29Vgl. hierzu die Beiträge von Jun und Oppelland in diesem Band.

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Die Reformbemühungen der CSU betreffen sowohl die innerparteiliche Organisation und Willensbildung wie die programmatische Aufstellung der Partei. Eingeläutet im Januar 2019 mündeten die zahlreichen, auf allen Ebenen der Partei geführten Diskussionen hinsichtlich organisationaler Reformen in einem 75 Punkte umfassenden Leitantrag („Aufbruch in eine neue Zeit. CSU: Die Volkspartei des 21. Jahrhunderts“), der auf einem Parteitag in München am 18./19. Oktober 2019 beschlossen wurde. Dass es dabei – trotz intensiver Vorabstimmungen mit Junger Union und Frauen-Union – nicht gelungen ist, die vom Parteivorstand vorgesehene Frauenquote auch auf Kreisverbandsebene in verbindlicher Form in der CSU-Satzung zu verankern, sondern nach emotionaler Debatte nur eine Kann-Lösung als Kompromiss gefunden wurde, machte deutlich, wie schwierig die Reformen im Detail umzusetzen sind und sich Söder nicht auf ‚blinde Gefolgschaft‘ verlassen kann. Dass aber gleichzeitig eine Vielzahl von Satzungsänderungen mit potenziell weitreichenden Auswirkungen30 angenommen wurden, ist Beleg für die grundsätzliche Bereitschaft auch der Parteibasis, den Weg der Erneuerung der CSU mitzugehen. Inwieweit diese Reformschritte tatsächlich Wirkung in der Praxis zeigen werden, muss sich erst noch erweisen. Im Kern deuten die beschlossenen Satzungsänderungen – gemäß dem Parteityp der „professionalisierten Wählerpartei“ (Panebianco 1988) – auf eine weitere Professionalisierung der Partei und einen verstärkten Einsatz moderner Kommunikationsmittel hin. Eine Schwächung der Mitgliederbasis zugunsten einer weiteren Hierarchisierung der Partei aber ist nur bedingt zu erkennen. Zwar gibt die Parteielite ihren Führungsanspruch keinesfalls auf, viele der Bestrebungen würden – eine entsprechende Umsetzung vorausgesetzt – die Parteizentrale und ihre weiter professionalisierten Strukturen eher stärken denn schwächen (beispielsweise durch einen verbesserten Zugriff auf die Party on the Ground und die gestärkte Kontrolle über die Außendarstellung auf allen Ebenen). Gleichzeitig aber bekennt sich die CSU in ihren neuerlichen Reformanstrengungen abermals ausdrücklich dazu, Mitgliederpartei zu sein.31

30Eckpfeiler

des Reformkonzeptes (vgl. CSU 2019) sind unter anderem die Flexibilisierung der Parteimitgliedschaft, die Stärkung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Basis, der Ausbau der digitalen Schlagkraft der Partei, die Effizienzsteigerung ihrer AußenKommunikation, die Erhöhung des Anteils von Frauen wie auch der Jugend in den Gremien aller politischen Ebenen und die Stärkung des parteiinternen Schulungsangebotes.

31Zur

akademischen Debatte um die Zukunft von Mitgliederparteien vgl. jüngst Wiesendahl et al. (2018).

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Ist die skizzierte Parteistrukturreform mit ihrem Ziel der Effizienzsteigerung innerparteilicher Prozesse auch vornehmlich nach innen gerichtet, soll sie doch zugleich auch ihren Teil dazu beitragen, das Image der Partei nach außen zu verbessern, ihr einen moderneren Anstrich verleihen und sie so für Wähler wie potenzielle Neumitglieder attraktiver machen. Die organisationalen Reformbemühungen sind damit nicht von den programmatischen zu trennen, sondern ergänzen diese – der Idee nach – symbiotisch. An den bereits vor den Landtagswahlen in seinem 10-Punkte-Plan vom 18. Januar (vgl. CSU 2018a), seiner Regierungserklärung vom 18. April 2018 (vgl. Söder 2018; Schultze 2019, S. 226 f.) und im CSU-Landtagswahlprogramm „Ja zu Bayern!“ (vgl. CSU 2018b) skizzierten Vorstellungen zur neuen programmatischen Aufstellung der CSU musste Söder auch nach Konstituierung des neuen, schwarz-orangenen Regierungsbündnisses im Freistaat (12. November 2018) kaum Abstriche machen. Gerade wegen der großen programmatischen Nähe beider Parteien32 hatte sich die CSU für eine solche „minimal connected winning coalition“ (vgl. Axelrod 1970) mit den Freien Wählern entschieden, entsprechend rasch und geräuschlos wurde der Koalitionsvertrag („Für ein bürgernahes Bayern. Menschlich, nachhaltig, modern“; vgl. CSU und FW 2018) verhandelt.33 Seit der Landtagswahl gewandelt hat sich so – im Vergleich zu 2018 – nicht die programmatische Idee der Söder-CSU, sondern nur die Priorisierung und vor allem Akzentuierung der verschiedenen Politikfelder. Idee der programmatischen Erneuerung ist es, die Vorstellung der CSU als Partei des ganzen Volkes, als Partei, die sich um jeden und alles kümmert, wiederzubeleben. Kein Thema bleibt unausgesprochen, keine bayerische Region unbedacht. Die CSU versteht sich, so Söders Rezept mit Anleihen bei Stoiber („Laptop und Lederhosen“) wie auch Seehofer (Empathie gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern), als Kümmerer wie Impulsgeber, als Anwalt von Otto Normalverbraucher ebenso wie von Wirtschaft und Wissenschaft, als Kraft, die

32Die

sich auch in den parteipolitischen Präferenzen der Wählerschaft der Freien Wähler widerspiegelt, vgl. Walther und Angenendt (2018, S. 345). 33Statt 17 Kabinettsposten wie noch bei seiner ersten Kabinettsbildung vom 21. März 2018 (13 Minister, vier Staatsekretäre), konnte Söder nur noch zwölf Ämter (10 Minister, zwei Staatsekretäre) innerhalb der CSU verteilen. Den Grundsätzen seiner ersten Kabinettsbildung vom Frühjahr blieb er dabei treu. Mit fünf Frauen (vier Ministerinnen, eine Staatsekretärin; Kabinett Söder I: fünf Ministerinnen und eine Staatsekretärin) und einem Durchschnittsalter von 47,3 (Söder I: 50,8; jeweils zum Zeitpunkt der Vereidigung) ist die CSU-Riege im Kabinett tatsächlich nochmals „jünger und weiblicher“ geworden.

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die ‚kleinen‘ Herausforderungen des alltäglichen Lebens aller Bürgerinnen und Bürger ebenso ernst nimmt wie die ‚großen‘ Zukunftsherausforderungen, als Garant von Heimatverbundenheit und bayerischer Weltgeltung gleichermaßen. Der schwierigen Sandwich-Situation der CSU im parteipolitischen Wettbewerb begegnete Söder erstens, indem er kein Politikfeld unbearbeitet lässt und so Angebote an alle Wähler – gleich ob nationalkonservativ oder liberal gesinnt, ob mit AfD oder Grüne liebäugelnd – unterbreitet. Initiativen der Bayerischen Staatsregierung im Bereich Familie und Soziales (u. a. Krippengeld und Beitragszuschuss Kindergartenzeit, Landespflegegeld, Familiengeld, Landarztquote) und Wohnen (u. a. Reform bayerische Bauordnung, Aufstockung Baukindergeld, Ausbau Wohnraumförderung) stehen so neben solchen zur Inneren und Sicherheit (Einführung eines Landesamtes für Asyl und Rückführung, Einführung von Ankerzentren und eine Ausweitung der Grenzsicherung). Die Partei versucht darüber hinaus zweitens mithilfe einer neuartigen programmatischen Akzentuierung und Schwerpunktsetzung öffentlich zu punkten, wobei mit den Themen Umwelt einerseits und Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik andererseits eine neuartige Melange aus postmaterialistischen und materialistischen Policyangeboten versucht wird. Auch wenn die Partei auf eine lange umweltpolitische Tradition zurückblickt,34 erlangten Fragen der Umwelt und des Klimas niemals Relevanz für innerparteiliche Policy-Definitionen, die Außendarstellung der Partei und auch ihr Selbstverständnis (vgl. Deininger 2020, S. 278–291). Noch vor der Landtagswahl erlebte die CSU so, wie sie innerhalb kürzester Zeit gleich zwei Mal in umweltpolitischen Fragen vorgeführt werden konnte. Sowohl im Fall des letztlich durch den Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (Vf. 28-IX-18 v. 17.07.2018) gestoppten Volksbegehrens „Damit Bayern Heimat bleibt – Betonflut eindämmen“ („Flächenfraß“) als auch des Volksentscheids „Artenvielfalt & Naturschönheit in Bayern“ („Rettet die Bienen“), beide wesentlich getragen von ödp und Grünen, konnte die CSU keine schlüssigen alternativen oder emotionalisierenden Konzepte in die Debatte einführen, obwohl beide Themen keinesfalls neu und schon seit Jahren immer wieder in den politischen Diskurs in Bayern eingebracht worden waren. Nachdem der Volksentscheid „Rettet die Bienen“ zum erfolgreichsten in der bayerischen Geschichte avanciert war, blieb der CSU-geführten Staatsregierung gar nichts anderes übrig, als das E ­ rgebnis

34Angefangen

mit der Einrichtung des ersten Umweltministeriums in der Bundesrepublik Deutschland unter Ministerpräsident Alfons Goppel 1972.

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nach Gesprächen in Form eines runden Tisches, geleitet vom ehemaligen ­CSU-Fraktionsvorsitzenden Alois Glück, zu akzeptieren und so ihre Machtlosigkeit einzugestehen. Aus der so und aus dem Landtagswahlergebnis gewonnenen Erkenntnis, dass die CSU selbst das Zukunftsthema Umwelt stärker für sich reklamieren müsse, resultierte die von Söder ausgegebene Parole, dass die Partei grüner werden müsse – womit er nahtlos an seinen Vorgänger Horst Seehofer anknüpfte, der gleiches schon 2010 gesagt hatte (vgl. Weigl 2013, S. 278), ohne dass daraus Signifikantes gefolgt wäre. Um erst gar nicht in den Verdacht eines ‚Ankündigungs-Regierungschefs‘ zu geraten, schnürte das Kabinett Söder innerhalb weniger Monate ein Maßnahmenpaket, das von der massiven Aufforstung des bayerischen Staatswaldes über die Einsetzung eines Klimakabinetts – mit der Vorgabe, Bayern zum klimaneutralen Land zu machen – bis hin zur Forderung nach Aufnahme des Klimaschutzes in das Grundgesetz reichte. (vgl. StMUV 2019). Umweltschutz, so die Botschaft Söders, geht auch ohne grüne Regierungsbeteiligung; für erfolgreiches Regieren, so der Subtext, reicht eine umweltpolitische Kompetenz nicht aus. Der postmaterialistischen, umweltpolitischen Profilbildung komplementär zur Seite stellt die Söder-CSU so ein materialistisches Angebot, wobei nicht mehr – wie in den Jahren zuvor – das Thema Innere Sicherheit im Fokus steht, sondern eine Rückbesinnung auf die wirtschaftspolitische Kernkompetenz der Partei. Hatte Söder schon zuvor zahlreiche Digitalisierungs- und Wissenschaftsinitiativen angekündigt, verdichtete er diese in seiner Regierungserklärung vom 10. Oktober 2019, indem er die verschiedenen Vorhaben in expliziter Anknüpfung an Edmund Stoibers Initiativen der 1990er Jahre (vgl. Wörle 2010, S. 201) in einer zwei Milliarden schweren „Hightech-Agenda Bayern“ als Investitionspaket für Forschung und Technologie in Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierungen bündelte. (vgl. Söder 2019) Für die vier Säulen Künstliche Intelligenz und Super-Tech-Programm, Sanierungs- und Beschleunigungsprogramm, Hochschulreform und Mittelstandsoffensive für die bayerische Wirtschaft ist ein Fördervolumen von insgesamt zwei Milliarden Euro vorgesehen, wobei alle bayerischen Regionen gleichermaßen von dem Programm profitieren sollen. Umwelt und Wirtschaftspolitik (Hightech) als neue profilbildende, das alte Lagerdenken überwindende programmatische Leuchttürme, ergänzt um öffentlichkeitswirksamen Initiativen auf allen weiteren Politikfeldern: Das neue Policy-Portfolio der CSU ist nicht nur anspruchsvoll, sondern auch labil. Weder ist der Erfolg der Maßnahmen garantiert, noch ist Söder die fortwährende parteiliche Unterstützung für seinen langfristig angelegten Modernisierungskurs auch angesichts möglicher Rückschläge bei Wahlen gesichert. Wenn zudem

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inzwischen auch die Vorstellungen Söders zum Image der Partei im Allgemeinen und zu ihrem landespolitischen Profil im Speziellen konturiert sind, bleibt mit der bundespolitischen Aufstellung der Partei doch noch ein bislang lediglich punktuell bearbeitetes Feld. Die in der Vergangenheit oft großen Differenzen zwischen der C ­SUEuropagruppe in Brüssel und der Münchner Landesleitung wurden durch die Nominierung Manfred Webers zum EVP-Spitzenkandidaten für die Europawahlen 2019 entschärft. Dass der Traum eines CSU-Kommissionspräsidenten – auch angesichts eines nur wenig überzeugenden Wahlergebnisses35 – letztlich doch geplatzt ist, Weber auch auf keinen der anderen Brüsseler Spitzenposten rücken konnte und sich weiterhin mit dem Vorsitz der EVP-Fraktion begnügen muss, (vgl. Hofmann 2019, S. 110 f.; Weigl 2019, S. 166–168) traf die zerknirschte Partei hart. Das Image einer Europa aktiv gestaltenden, nicht nur destruktiv kritisierenden Partei, das die CSU durch einen Erfolg Webers zu gewinnen versuchte, aber passt zum neu anvisierten Erscheinungsbild einer positiv gestimmten, gestaltenden und zukunftsgewandten Partei. Dass die Korrektur des in den vergangenen Jahren wenig glücklichen Erscheinungsbildes der Partei auf Bundesebene noch aussteht, gilt dagegen als ausgemacht. Rückenwind durch die Bundespolitik erfährt die CSU in Bayern schon seit geraumer Zeit kaum noch. Das Bundesentwicklungshilfeministerium unter Gerd Müller (vgl. Bohnet 2019, S. 217–133) leidet traditionell unter öffentlicher Aufmerksamkeit und auch um Staatsministerin Dorothee Bär – gestartet mit dem Versprechen, „große Dinge in Angriff“36 nehmen zu wollen – ist es in der Folgezeit deutlich ruhiger geworden, auch weil das Zuschnitt ihres Amtes große Sprünge kaum zulässt. Die beiden großen CSU-besetzten Ministerien Inneres und Verkehr schließlich haben sich in den vergangenen Jahren ebenfalls nicht als Ort parteipolitischer Profilierung hervorgetan. Dieselskandal und die am 18. Juni 2019 vom Europäischen Gerichtshof gestoppte Autobahn-Maut (Rechtssache C-591/17, Urteil v. 18.06.2019)

35Das

Ergebnis der Europawahl selbst war für die Partei nur Bestätigung des dringenden Handlungsbedarfs. Zwar erlaubte die erzielten 40,2 % der Stimmen (+0,2 Prozentpunkte) eine positive Interpretation des Ergebnisses. Tatsächlich aber gibt das Ergebnis angesichts der Tatsache, dass die Partei selbst einen der europäischen Spitzenkandidaten stellte, zu Euphorie keinen Anlass. Allein in Webers Heimat Niederbayern (sowie bedingt in der angrenzenden Oberpfalz) erzielte die CSU ein herausragendes Ergebnis, darüber hinaus war der Effekt des eigenen Spitzenkandidaten wenig bemerkenswert bis enttäuschend. 36So im Interview mit Marietta Slomka im ZDF heute journal vom 5. März 2018.

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haben das seit 2009 durchgehend CSU-geführte37 Bundesverkehrsministerium schwer beschädigt. Öffentlich ging Markus Söder – nicht ohne eine Spitze gegen die ‚Mauterfinder‘ Seehofer und Dobrindt – mit aufgesetzter Gelassenheit mit dem Schaden um: Der aktuelle Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer habe die Maut nur „geerbt“ und „sind wir ehrlich, der absolute Segen lag nie ganz auf dem Projekt“ (zitiert nach Schröpf 2019). Auch versicherte er seinem Minister die Rückendeckung der Partei, als der Bundestag am 28. November 2019 einen Untersuchungsausschuss zur Maut-Einführung infolge der vom Bundesrechnungshof erhobenen Vorwürfe von Verstößen des Bundesverkehrsministeriums gegen das Vergaberecht einsetzte. Dass dieser Solidarität aber Grenzen gesetzt sind, machte der Parteivorsitzende ebenso unmissverständlich deutlich: „Die Maut darf nicht zu einer dauerhaften Hypothek werden.“ (zitiert nach: Bild am Sonntag 2020). Horst Seehofer wiederum, seit März 2018 Bundesinnenminister, ist seit der Landtagswahl 2018 zwar von seinem, bis dato gepflegten, offensiv-aggressiven Stil in Fragen von Innerer Sicherheit und Migration abgerückt.38 Als nicht mehr amtierender Parteivorsitzender sieht sich Seehofer seit Januar 2019 stärker als in den Monaten zuvor in die Koalitionsdisziplin in Berlin eingebunden. Auch entspricht seine ‚neue‘ Zurückhaltung dem Stil der ‚neuen‘ CSU. Zwar hat sich an den grundsätzlichen Leitplanken ihrer Migrationspolitik de facto seitdem nur wenig geändert. Zur Söder-CSU aber passt nicht mehr die rhetorische wie inhaltliche Unversöhnlichkeit der Seehofer-Partei. Ungeachtet dieser Entschärfung des Berliner Unruheherdes aber ist der Partei bewusst, dass das bundespolitische Erscheinungsbild der CSU dringend einer Erneuerung bedarf. Längst ist Söder auch bundespolitisch der starke Mann der CSU, der den demonstrativ-versöhnlichen Schulterschluss mit der Vorsitzenden der Schwesterpartei, Annegret Kramp-Karrenbauer, sucht, Vorstöße wie zur Kabinettsumbildung oder zu einer weiteren Föderalismusreform initiiert oder die Leitplanken des Verhältnisses der Union zum Koalitionspartner SPD mitdefiniert. Angesichts der Schwäche von Kramp-Karrenbauer avancierte er in der veröffentlichten Meinung sogar zu einem der „Taktgeber der Union“ (Neumaier 2020),

37Peter

Ramsauer (2009–2013), Alexander Dobrindt (2013–2017), Christian Schmidt (kommissarisch 2017/2018), Andreas Scheuer (seit 2018). 38Tatsächlich ist er im Sommer 2019 sogar wiederholt mit derart versöhnlichen Tönen aufgefallen, dass Kritik aus den eigenen Reihen an dieser ‚Milde‘ zu vernehmen war. (vgl. Deutschländer 2019a) Seehofer hatte zuvor für offenen Häfen in Italien und Malta für Seenotretter von Bootsflüchtlingen plädiert.

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personell aber bildet sich diese auch bundespolitische Hoheit Söders noch nicht in den Schlüsselpositionen in Berlin ab. Noch sind alle führenden Positionen der CSU in der Hauptstadt – Minister wie Fraktionsvorsitzender – mit Personen besetzt, die ihren Aufstieg Seehofer verdanken. Die strategische Fokussierung der ‚neuen‘ CSU auf Markus Söder aber erlaubt keine Machtzentren ohne Zugriff.39 „Das Epizentrum des Machtsystems Söder ist Söder“ (Deutschländer 2019b), der Konzepte und Ideen selbst entwickelt und auch zentrale Reden selbst schreibt. Während aber frühere CSU-Ministerpräsidenten das strategische Zentrum der Partei ganz in die Bayerische Staatskanzlei verlegten (vgl. Kießling 2004, S. 238–243), setzt Söder auf eine auch strategische Arbeitsteilung von Staatskanzlei und Parteileitung bei gleichzeitig enger Abstimmung. (vgl. Deutschländer 2018, 2019b) Kritik und Widerspruch sind dabei nicht nur erlaubt, Söder fordert sie auch ein, so wie er unbedingte Loyalität erwartet, sobald eine Entscheidung getroffen ist. Er selbst ist der Kopf der ‚neuen‘ CSU, dem Führung in einer für die Partei außerordentlich schwierigen Situation in einem außerordentlich hohen Maße zugestanden wird. Er selbst wird den Triumpf für sich reklamieren können, sollte das Experiment einer CSU im neuen, Lager sprengenden wie versöhnenden Gewand gelingen – und die Verantwortung auf sich laden müssen, sollte es scheitern.

5 Fazit Seit der Bundestagswahl 2017 und noch mehr seit der bayerischen Landtagswahl 2018 befindet sich die CSU im weitreichendsten Umbruch seit ihrer Konsolidierung in den 1950er Jahren. So offensichtlich und existenziell sind die Herausforderungen, denen sich die CSU gegenübersieht, dass selbst eine Personalunion aus Parteivorsitz und Ministerpräsident unter dem Banner des protestantischen fränkischen Rechens möglich war. Die traditionellen Konfliktlinien innerhalb der Partei sind damit nicht plötzlich verschwunden. Auch sind die Vorbehalte, die nicht wenige innerhalb der CSU gegen die Person Söder hegen, nicht obsolet geworden. Die Zeiten bleiben unruhig. Das Wissen darum,

39Entsprechend

war der Vorstoß Söders vom Januar 2020 für eine Verjüngung des Bundeskabinetts noch im gleichen Jahr (vgl. Frasch und Lohse 2020), nicht nur gegen die Schwesterpartei, sondern ebenso gegen die eigene CSU-Ministerriege in Berlin gerichtet. Seehofer hatte zuvor bereits selbst angekündigt, nicht mehr für den nächsten Bundestag kandidieren zu wollen.

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dass ein entschiedenes Umsteuern zum jetzigen Zeitpunkt möglicherweise die letzte Chance ist, nicht weiter ‚zu verzwergen‘, aber lässt manche Konfliktlagen in der Partei zumindest für den Moment zurücktreten und gibt Söder einen aktuell außerordentlichen Handlungsspielraum. Das Wissen um die Dramatik und Ernsthaftigkeit der aktuellen Situation ist es, die ein Gelegenheitsfenster geöffnet hat für einen nicht nur angekündigten Wandel der Partei. Inwieweit dieses tatsächlich genutzt wird, bleibt abzuwarten. Indem die Partei versucht, das inhaltliche Angebot der Partei um (vornehmlich postmaterialistisch) Themenfelder zu erweitern, die bislang von ihr vernachlässigt wurden, und sie im Narrativ der Aussöhnung und Mitte mit ihrem traditionellen (vornehmlich materialistischen) Politikangebot zu verbinden sucht, nimmt sie den anfänglichen Vorwurf der Unglaubwürdigkeit ihrer Neupositionierung bewusst in Kauf. Ebenso ist der Verlust manch ehemaliger Stammwähler und Sympathisanten, die die Neuausrichtung der Partei nicht werden mitgehen wollen, einkalkuliert. Als langfristiges Projekt, das einen Umbau auch der Wählerschaft der CSU verfolgt,40 ist die Reform tatsächlich als Strategie im Sinne eines erfolgsorientierten und langfristig angelegten Konstruktes, das „auf situationsübergreifende Ziel-Mittel-Umwelt-Kalkulationen“ (Raschke und Tils 2013, S. 127) beruht, zu charakterisieren. Tatsächlich könnte am Ende dieser Bemühungen eine inhaltlich wie organisatorisch erneuerte CSU stehen, die ihren Platz im bayerischen und bundesdeutschen Parteiensystem neu zu definieren versteht. Eine Garantie dafür, dass die jüngste personelle wie programmatische Erneuerung der Partei die CSU wieder – wie so oft in der Vergangenheit (vgl. Kießling 2004, S. 347) – in die Erfolgsspur zurückführt, aber gibt es nicht. Nicht nur ist die Herausforderung immens. Das ‚Copyright‘ der Grünen auf postmaterialistische Themen und Werte brechen zu wollen, scheint ambitioniert. Auch steht die Partei mit dem Rücken zur Wand, kämpft seit der Bundestagswahl 2017 endgültig nicht mehr um die Rückgewinnung der Alleinregierung in Bayern, sondern nur noch darum, eine Mehrheit gegen die eigene Partei im Freistaat zu verhindern. Ein Verlust der Regierungsbeteiligung

40Einen

Hinweis darauf, dass dieser tatsächlich in Gang gesetzt ist, ist der Umstand, dass die CSU in Umfragen seit der Landtagswahl trotz ihrer programmatischen Neuaufstellung, die manche ehemaligen Anhänger verschreckt hat, kaum an Zustimmung verloren hat (36 % statt 37,2 % bei der Landtagswahl), der fortgesetzte Aufstieg der Grünen (25 %/17,6 %) demnach bislang nicht zulasten der CSU ging. (vgl. Infratest dimap 2020) Gleichzeitig aber erhöht dieses Stagnieren in Umfragen und der weitere Popularitätsgewinn der Grünen den parteiinternen Erwartungsdruck auf Söder, endlich ‚liefern‘ zu müssen.

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in Bayern würde alles verändern – und alles infrage stellen. Schließlich – und vor allem – aber ist es die eigene Partei, die die Reformpläne Söders durchkreuzen könnte. Eine Marke neu zu positionieren, braucht Zeit. Ob die Partei dem strategischen Zentrum um Söder diese Zeit gewähren wird, auch wenn Erfolge an der Wahlurne kurz- bis mittelfristig ausbleiben sollten, ob sie also ihre Gefolgschaft aufrechterhält, auch wenn das Vertrauen auf die Zielerreichung der Bemühungen schwindet, ist ungewiss. Dass sich die strategische Spitze der CSU gezwungen sieht, Korrekturen an ihrer Strategie vorzunehmen, die das Konzept aufweichen und es seiner Kohärenz berauben könnten, ist reale Gefahr. Die aktuelle Schwäche der CDU und ihrer Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer hilft Söder dabei, die CSU von neuer konstruktiv­ gestalterischer Bedeutung auch im Bund und im Verbund mit der Schwesterpartei zu inszenieren. Die aktuellen inneren Verwerfungen der CDU aber sind es auch, die seinem Experiment einer neuen, altes Lagerdenken überwindenden Volkspartei weitergehend gefährlich werden könnten. Solange Rufe nach einem Kanzlerkandidaten Söder Rufe bleiben, zementieren sie die unangefochtene Stellung des Parteivorsitzenden in seiner Partei. Sollten sie aber eine Qualität annehmen, der sich Söder nur noch schwerlich entziehen kann, wäre auch seine bayerische Mission gefährdet. Noch steht die parteiinterne Internalisierung einer postmaterialistisch ergänzten CSU ganz am Anfang, eine nahtlose Fortsetzung des Experimentes einer Materialismus-Postmaterialismus versöhnenden CSU wäre unter neuen personellen Konstellationen keinesfalls gesichert.

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