Adolf Grimme (1889-1963): Eine Biographie 9783412332129, 9783412200251

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Adolf Grimme (1889-1963): Eine Biographie
 9783412332129, 9783412200251

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Adolf Grimme (1889-1963)

VERÖFFENTLICHUNGEN AUS DEN ARCHIVEN PREUSSISCHER KULTURBESITZ Herausgegeben von Jürgen Kloosterhuis und Dieter Heckmann Beiheft 11

Adolf Grimme (1889-1963) Eine Biografie

von

KAI BURKHARDT

§ 2007

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Norddeutschen Rundfunks und des Westdeutschen Rundfunks.

Redaktion: Dieter Heckmann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggabbildung: Schutzumschlag: Adolf Grimme (1889-1963) Foto: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Frontispiz: Adolf Grimme. Zeichnung von Emil Orlik Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

© 2007 by Böhlau Verlag G m b H & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz und Reproduktionen: Peter Kniesche Mediendesign, Tönisvorst Druck und Bindung: Strauss G m b H , Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20025-1

Inhalt

Vorwort Einleitung

IX 1

Erstes Kapitel Bildungsjahre 1. Jugend 2. Die Berufung 3. Das christliche Bekenntnis 4. Studium in Halle und München 5. Studium in Göttingen

11 13 16 17 20

Zweites Kapitel Beruf und Politik 1. Lehrer und Soldat 2. Leer 3. Der Politiker 4. Austritt aus der D D P 5. Hannover 6. Grimme wird Sozialdemokrat 7. Der Bund religiöser Sozialisten

23 25 29 37 40 45 50

Drittes Kapitel In der Schulverwaltung 1. Aufstieg in der Schulverwaltung 2. Berlin 3. Eintritt ins Kultusministerium 4. Vizepräsident des PSK Berlin und Brandenburg

54 62 65 75

VI

Inhalt

Viertes Kapitel Im Kabinett 1. Kultusminister Preußens 2. Reaktionen der Öffentlichkeit 3. Aufgaben im Kultusministerium

86 91 99

Fünftes Kapitel Wege und Entscheidungen des Kultusministers 1. Die Ausgangslage der Kultuspolitik 2. Der Vertrag mit der Evangelischen Kirche 3. Die Preußischen Schulen 4. Schüler, Republik und Radikale 5. Die preußischen Hochschulen 6. Personalpolitik 7. Kunst und Künstler

107 110 114 123 129 134 142

Sechstes Kapitel Aus dem Amt gedrängt 1. Der „Papenschlag" 2. Reichsregierung gegen Staatsregierung 3. Das Ende der Staatsregierung 4. Schikane und Fluchtpläne

156 163 170 173

Siebtes Kapitel Leben unterm Hakenkreuz 1. Rückzug ins Privatleben 2. „Sinn und Widersinn des Christentums" 3. Die „Rote Kapelle" 4. Staatsgefangener 5. Haftanstalten Spandau, Luckau, Fuhlsbüttel

179 186 188 199 214

Achtes Kapitel Besatzungszeit 1. Neuanfang

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Inhalt

2. Im Zonenbeirat 3. Im Parteivorstand 4. Theologie und Kirchenpolitik 5. Das Verhältnis zur britischen Besatzungsmacht

VII

225 231 237 241

Neuntes Kapitel Kultusminister Niedersachsens 1. Voraussetzungen 2. Das Ministerium 3. Die Schulreform 4. Deutsche Kultureinheit 5. Einheit auf Umwegen 6. Der Spionageverdacht 7. Der Ausstieg

245 248 253 257 263 267 273

Zehntes Kapitel Generaldirektor des N W D R 1. Die Organisation 2. Die Amtsübernahme 3. Die Generaldirektion 4. Der Anfang vom Ende 5. Ein Griff nach der Generaldirektion 6. Öffentlichkeit und der N W D R 7. Wiederwahl 8. Die nationale Zuverlässigkeit 9. Politik und Rundfunk 10. Der Zerfall des N W D R 11. Letzte Jahre

280 282 285 290 292 296 301 303 307 310 318

Resümee

323

Exkurs über „Sinn und Widersinn des Christentums"

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Anhang Nr. 1 Kabinettsbeteiligungen Nr. 2 C. H. Becker an Grimme, 16. September 1932 Nr. 3 Schreiben an von Papen, Spätsommer 1932

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VIII

Inhalt

Nr. 4 Bergbohm im Auftrag des Ministerpräsidenten an den Kultusminister, 8. Dezember 1933 Nr. 5 Ministerpräsident Göring an den Kultusminister, 21. Dezember 1934 Nr. 6 Walther Glass an Grimme, 23. November 1940 Nr. 7 Der Generaldirektor des NWDR Grimme an den Bundesfinanzminister, 3. Juli 1951 Nr. 8 Urteilsaufhebung, 27. April 1955 Nr. 9 Ahnentafel

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Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen

347

Quellen- und Literaturverzeichnis

349

Ungedruckte Quellen

349

Gedruckte Quellen

351

Literatur

355

Personenverzeichnis

377

340 341 342

Vorwort Die Arbeit fußt im Wesentlichen auf dem Nachlass Grimmes im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Die darüber hinaus zitierten Quellen und Literatur sind so angegeben, wie in der Reihe „Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz" üblich. Bei erstmaliger Nennung ist der Titel vollständig zitiert, während nachfolgend ein Kurztitel und ein Verweis auf die Erstnennung erfolgen. Lediglich bei besonders häufig zitierten Quellen ist auf den Hinweis der Erstnennung verzichtet. Das gilt besonders für die Sammlung der Briefe, die Dieter Sauberzweig besorgt hat, ferner für das Zentralblatt der Unterrichtsverwaltung, Hagen Schulzes Biografie über Otto Braun, den Sammelband der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zur „Roten Kapelle", die Quellensammlungen zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und dem Zonenbeirat, sowie verschiedener Lebenserinnerungen. In jenen Fällen folgt nach dem Autor oder Herausgeber ein Kurztitel. Im Literaturverzeichnis findet der Leser die vollständigen Angaben. Um die Zahl der Fußnoten zu begrenzen, sind Nachweise gelegentlich zusammengefasst. Es heißt dann entsprechend: Nachfolgende Zitate finden sich in jener bestimmten Quelle. Zum Verständnis der Sigel und Abkürzungen steht ein Verzeichnis zur Verfügung. Der Nachweis „Brief an" bedeutet, dass Grimme selbst der Autor war. Zu danken habe ich zuerst meinem hochverehrten Lehrer Prof. Dr. Gerd Heinrich, der die Biografie angeregt hat. Herr Prof. Dr. Dieter HertzEichenrode hat das Manuskript sehr aufmerksam durchgelesen und Fehler entdeckt, die nur einem erfahrenen Historiker auffallen. Ferner haben die Mitarbeiterinnen des Geheimen Staatsarchives Frau Dr. Iselin Gundermann und Frau Ute Dietsch ihre Kenntnisse großzügig mit mir geteilt. Herr Dr. Sören Schuppan hat mit kritischen Anmerkungen zur Schulgeschichte nicht gespart. Gleiches gilt für Dr. Hans-Ulrich Wagner, der Korrekturen im Abschnitt zum N W D R angeregt hat. Besonders hat es mich gefreut, zwei Kinder Adolf Grimmes kennengelernt zu haben. Sie haben private Erinnerungen mit mir geteilt, was eine willkommene Abwechselung zum Aktenstudium war. Dr. Dieter Sauberzweig danke ich für zahlreiche Hinweise. Den Herren Prof. Dr. Jürgen Kloosterhuis und Dr. Dieter Heckmann danke ich, dass sie die Arbeit in die Reihe „Veröffentlichungen

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Vorwort

aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz" aufgenommen haben. Mir bedeutet gerade dieses Archiv viel, und es freut mich auch deshalb, weil ich meine, Adolf Grimme wäre mit dem Erscheinungsort besonders einverstanden. Gefreut hätte ihn sicher auch, dass die Herren Intendanten Prof. Jobst Plog (NDR) und Fritz Pleitgen (WDR) einen Teil der Druckkosten übernommen haben.

Einleitung Der Name Grimme ist der Öffentlichkeit heute noch bekannt, weil ein Fernsehpreis nach ihm benannt ist. Doch wird sich kaum jemand finden, der Genaueres sagen könnte. Obwohl er zeitweilig dem Vorstand der SPD angehörte, in der Besatzungszeit zu den herausragenden Bildungspolitikern zählte und dem niedersächsischen Kultusministerium vorstand, schenkten ihm weder die Parteigeschichtsschreibung noch die niedersächsische oder die preußische Landesgeschichte besondere Aufmerksamkeit. Geblieben ist ein Name ohne Geschichte. Er war der letzte Kultusminister Preußens. Im Zusammenhang mit dem „Papenschlag" im Sommer 1932 fällt deshalb sein Name in der Literatur als Mitglied der letzten Preußischen Staatsregierung. Fast nichts ist über seine Rolle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus bekannt. Die Geheime Staatspolizei ermittelte gegen seinen Freundeskreis unter dem Arbeitsbegriff „Rote Kapelle", weshalb in der Nachkriegszeit die Legende entstand, er habe für eine sowjetische Spionageorganisation gearbeitet. Mehrfach geriet er in den Mittelpunkt von Kampagnen, die ihn in die Nähe von Hoch- und Landesverrat rückten. Hätte man in den sechziger Jahren die Öffentlichkeit befragt, was ihr zu dem Namen einfiele, hätte der Spionageverdacht nicht gefehlt. Doch auch dies ist mittlerweile vergessen. Ein Gesamtbild der Person will sich aus den Uberlieferungen nicht ergeben und genaueres Hinsehen fördert vor allem Widersprüchliches zutage. Auf den ersten Blick erscheint er als klassischer Aufsteiger. Gleichzeitig entsteht der Eindruck, der Aufstieg habe eigentümliche, zeitgebundene Voraussetzungen. Der Sohn eines Bahnhofvorstehers entwickelte früh den Wunsch, Lehrer zu werden. Der Eintritt in den Schuldienst fiel mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zusammen, an dem er gesundheitsbedingt nicht teilnahm. In den Revolutionsmonaten begann eine politische Laufbahn, die über den Umweg der Deutschen Demokratischen Partei 1923 zu den Sozialdemokraten führte. Über wenige Stationen im höheren Schuldienst gelangte er im Januar 1930 in das Amt des Preußischen Kultusministers und hielt es inne, bis Reichskanzler von Papen das Staatsministerium im Sommer 1932 auflöste. Bis in den März 1933 blieb den republikanischen Politikern Zeit, die Machtübernahme der Nationalsozialisten zu verhindern. Als dies misslang und die ersten Verfolgungswellen einsetzten, geriet Grimme in widerstän-

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Einleitung

dige Kreise. Im Oktober 1942 wurde er verhaftet und vor das Reichskriegsgericht gestellt. Die Anklage forderte Todesstrafe. Durch eine klug inszenierte Verteidigung rettete er sich das Leben und verbrachte den Rest des Krieges in Zuchthäusern. Englische Militärs setzten ihn wenige Wochen nach Kriegsende als Kultusminister in Niedersachsen ein, von wo aus er schließlich 1948 in die Generaldirektion des Nordwestdeutschen Rundfunks wechselte und dort bis 1956 blieb. Mit seinem Abschied entstanden zwei der bis heute größten deutschen Rundfunkhäuser: der N D R und der WDR. Es gibt nicht viele politische Laufbahnen, die vor 1933 ihren Aufschwung nahmen, durch Widerstandsarbeit unterbrochen wurden und sich nach 1945 auf gleichem Niveau fortsetzten. Als Kultusminister Niedersachsens und als Vertreter im Zonenbeirat befand er sich nahe genug an der Bundespolitik, um von seinem Standpunkt aus in die Verhältnisse zu sehen. Hier werden Kontinuitäten sichtbar, die insgesamt noch wenig Beachtung gefunden haben. Die Zeit zwischen 1933 und 1945 bricht auch dieses Leben in drei Teile. Doch knüpfte Grimme nach 1945 an Ideen der Vorkriegszeit an und machte sie zur Grundlage seiner Politik. Durch seine Person ist das preußische Kultusministerium mit dem niedersächsischen und der Verwaltung des Nordwestdeutschen Rundfunks verbunden. Diesen drei Anstalten stand er vor, den beiden letzten gab er ihre Struktur. Als Generaldirektor des Nordwestdeutschen Rundfunks war er maßgeblich am Aufbau des Sendebetriebs beteiligt. Radio und Fernsehen verdanken dieser Ära lange gültige technische und programmatische Prägungen. Ihn richtig einzuordnen fällt schwer, weil er zwar vielen Gruppen angehörte, aus verschiedenen Gründen aber nie in ihr Zentrum gelangte. Diese Randständigkeit ist vermutlich die Ursache, weshalb er bisher durch das Raster der Forschung fiel. Dabei liegt in der Randständigkeit durchaus ein Vorteil. Die Persönlichkeit ist historisch aufschlussreich, gerade weil sie die Bedingungen der Zeit nicht beherrschte, sondern ihnen unterworfen blieb. Was das Sonderdasein verursachte und was es über das vermeintlich N o r male aussagt, kann zum Klären wichtiger Phänomene beitragen oder sie erst sichtbar machen. Er gehörte zu einer Generation, die ihr Leben vor dem Hintergrund einer Weltkrise zu führen hatte. Staat, Religion und Kultur veränderten ihre Eigenarten und ihr Verhältnis zueinander mit revolutionärer Geschwindigkeit. Die Herrschaft wechselte mehrfach Personal, Form und Inhalt. Die Kirchen verschärften ihre eigene Krise mit antimodernistischen Bekenntnissen. Christliche Reformatoren suchten das Heil außerhalb der Kirchen, völkische Ideologien und anderer Aberglaube standen hoch im Kurs. In Kunst und Wissenschaft erlangte die Reflexion die Oberhand, stellte alles in Frage und trug zur Auflösung überkommener Traditionen

Einleitung

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bei. Metaphysische Bedürfnisse lösten sich von den traditionellen Glaubensgemeinschaften, blieben unbefriedigt und lagen zum Missbrauch bereit. Wenn sich jemand als Staatsmann bezeichnete, Kultusminister war und aus religiöser Uberzeugung handelte, die drei großen Kräfte der Geschichte also gleichermaßen Anteil an seinem Leben hatten, verspricht seine Biografie dem späten Verständnis einen Teil der Krise aufzuschließen. Wenn jemand noch dazu dem Jahrgang Hitlers angehörte, erlaubt seine Lebensgeschichte den Blick in die Alternativen zum Untergang. Zwar war von Grimme die Rettung nicht zu erwarten. Doch war er in wichtige Bewegungen verstrickt, die den Gang der Ereignisse beeinflussen konnten. Die Glaubensgemeinschaften und die Arbeiterbewegung hätten über die nötige Macht verfügt. Als Sozialdemokrat gehörte er im entscheidenden Moment der preußischen Regierung an und besaß als Kultusminister Zugang zu wichtigen Stützen der geistigen Welt. Das Versagen der politischen Eliten im Jahr 1932 ist für die deutsche Geschichte und über sie hinaus von zentraler Bedeutung. Welche geistige Strömung verhinderte in der entscheidenden Phase die Geschlossenheit der republikanischen Seite? Um dies zu klären, ist eine Untersuchung der preußischen Verhältnisse wesentlich, denn die Staatsregierung nahm in dieser Situation eine Schlüsselrolle ein. Geführt von Otto Braun, gehörten ihr vier Sozialdemokraten an, von denen Grimme der letzte ist, der noch nicht eingehender betrachtet wurde. Die Schwächen der Biografik sind hinlänglich bekannt. Um sich nicht zu weit vom eigentlichen Gegenstand zu entfernen, darf sie nur diejenigen Teile der allgemeinen Geschichte behandeln, die einen nachweisbaren Einfluss auf das beschriebene Leben hatten. Eine gewisse Verzerrung liegt in der Natur der Sache. Das Gleichgewicht zwischen dem Persönlichen und dem Allgemeinen ist freilich ein Problem der Geschichtsschreibung überhaupt. Geistige Einflüsse sind ohnehin nur schwer zu beweisen und der Historiker bewegt sich immer auf dem schmalen Grad zwischen Empirie und freier Assoziation. Glück und Zufall sind als geschichtliche Kräfte nie ganz auszuschließen. Dennoch ist gerade die Biografik geeignet, Ergebnisse der allgemeinen Ereignisgeschichte zu prüfen und neue Gesichtspunkte einzubringen, die erst dann in größere Zusammenhänge gestellt werden können. Der Streit um den Wert von Biografien, der in den siebziger Jahren aufkam und bis heute gelegentlich nachwirkt, ist in der Sache unergiebig 1 . Die Bio-

Verfolgen lässt sich die Auseinandersetzung zum Beispiel anhand der Rezensionen beim Erscheinen von Lothar Galls Bismarckbiografie oder G o l o Manns „Wallenstein". Siehe etwa Theodor Schieder: Einzelbesprechung v o n Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, G W U 32 (1981), S. 2 5 6 - 2 6 0 ; Ernst Opgenoorth: G o l o

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Einleitung

grafik ist die Grundlage aller Geschichtsschreibung. Diesem Gesetz entziehen sich auch jene nicht, die vorgeben, es zu tun. Lebensgeschichten halten die Bruchstücke der politischen Geschichte zusammen und relativieren jede Periodisierung. Nur mit ihrer Hilfe kann man den Wandel von Begriffen und Ideen untersuchen und ihren Einfluss auf das politische Handeln ergründen. Die vorliegende Studie schlägt einen Bogen vom Wilhelminischen Zeitalter bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist zu Recht das Zeitalter der Ideologien genannt worden. Die Suche nach gesellschaftlichen Großkonzepten ist als Kennzeichen der Zeit nicht zu übersehen, das Bedürfnis Europas nach neuen ethischen und politischen Grundlagen war außerordentlich. Das Folgende erlaubt Einblicke in die Vielseitigkeit der geistigen Prozesse, die nebeneinander herliefen. Für die historische Erkenntnis ist dabei nicht wichtig, ob die Konzepte richtig oder falsch waren, ob einsichtig oder unlogisch. Wichtig ist lediglich, weshalb sie die Zeitgenossen überzeugten, teils begeisterten und welche politischen Prozesse sie in Gang setzten oder verhinderten. Es ist die Biografie eines vielseitig begabten und gebildeten Mannes, der sich selbst als „Sozialisten" bezeichnete, dessen Hauptmerkmal aber in einer tiefen Religiosität bestand, was auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen scheint. Er war Reformpädagoge und Theologe aus Leidenschaft, der den Fortbestand des Christentums in Deutschland von einer Bindung an eine der großen sozialen Bewegungen abhängig machte und die Kirchen scharf kritisierte. Bewegungen dieser Art sind bisher zwar für das konservative, nicht aber für das sozialistische politische Lager untersucht worden. Politik und Weltanschauungen aller Richtungen sollten gegenübergestellt werden, um einen breiteren Überblick darüber zu bekommen, innerhalb welcher Grenzen sich das Denken der Zeit bewegte. Zu dieser Frage liefert das Leben Grimmes vielerlei Hinweise. Gerade die Vielzahl droht freilich wiederum, den Blick auf den Kern der Person zu verwirren. Ausführliche Exkurse erlaubt die Studie nur bedingt. Eine Schwierigkeit der Interpretation ergab sich aus der fehlenden Selbstreflexion Grimmes. Weder über die eigene Entwicklung noch über seine Umwelt hat er Rechenschaft abgelegt. Die letzten Lebensjahre hat er nicht seinen Lebens-

Manns Wallenstein, HPB 20 (1972), S. 129 f.; Hans Ulrich Wehler: Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse, in: Ders.: Geschichte und Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1974; Hagen Schulze: Die Biografik in der „Krise der Geschichtswissenschaft", G W U 29 (1978), S. 508-518; Jürgen Kocka: BismarckBiographien, GG 7 (1981), S. 572-581. Ferner Olaf Hähner: Historische Biografik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellung von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1999.

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erinnerungen gewidmet, sondern einer Phänomenologie des Johannesevangeliums. Motivationen und Anknüpfungspunkte bleiben deshalb im Dunkeln oder lassen sich nur indirekt erschließen. An manchen Stellen blieb nur ein Mutmaßen, das nicht übertrieben werden darf. So ist das Nachfolgende weder eine Geschichte der Sozialdemokratie noch des religiösen Sozialismus, weder des Reformpädagogentums noch der Kulturpolitik der Weimarer Jahre und der Nachkriegszeit, wenngleich sie all dies auch behandelt. Das Nachfolgende dreht sich um die religiöse Krise jener Jahre. Doch im Mittelpunkt steht ein Mensch. Die Studie bleibt auf das Beschreiben eines Lebensweges beschränkt und begibt sich nur soweit in die Interpretation gesellschaftlicher Prozesse, wie der eigentliche Forschungsgegenstand und die Fakten es erlauben. Über Adolf Grimme sind bisher zwei kleine Biografien erschienen. Die erste schrieb Kurt Meissner im Auftrag der Ehefrau 2 . Der Wert des Buches liegt vor allem darin, dass im Kommentar ihr Wissen mit einfloss. Im strengen Sinne kann es nicht als wissenschaftliches Werk gelten, denn es fehlen die Belege. Der Autor des zweiten Buches, Julius Seiters, wollte keine Biografie vorlegen, sondern Reden zusammenstellen, die den „niedersächsischen Bildungspolitiker" kennzeichnen. Diesen Reden fügte er den „Versuch eines Lebensentwurfs" bei. Der Band ist sorgfältig gearbeitet, mit Quellenangaben versehen und wegen der guten Auswahl der Reden der Studie Meissners vorzuziehen 3 . Dieter Sauberzweig veröffentlichte eine Anzahl von Briefen aus dem Nachlass 4 . Ferner verfasste er einen biografischen Abriss für den von Peter Baumgart herausgegebenen Band „Berlinische Lebensbilder" über die Bildungspolitik in Preußen5. Dort findet sich auch über die Vorgänger Einführendes. Grimme selbst hat unermüdlich veröffentlicht - und zwar von früher Jugend an6. Im Selbsturteil bezeichnete er die „Phänomenologie über das Johannesevangelium" als sein wichtigstes Werk 7 Es blieb unvollendet 2

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Kurt Meissner: Zwischen Politik und Religion. Adolf Grimme. Leben, Werk und geistige Gestalt, Berlin 1993 (weiterhin zit.: Meissner Zwischen Politik und Religion, 1993). Julius Seiters: Adolf Grimme. Ein niedersächsischer Bildungspolitiker, Hannover 1990 (weiterhin zit.: Seiters, Bildungspolitiker). Dieter Sauberzweig (Hrsg.): Adolf Grimme. Briefe, Heidelberg 1967 (weiterhin zit.: Sauberzweig, 1967). Wolfgang Treue und Karlfried Gründler: Berlinische Lebensbilder. Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber, Berlin 1987 (weiterhin zit.: Treue und Gründler, Lebensbilder). Darin enthalten ist Dieter Sauberzweig: Adolf Grimme (weiterhin zit.: Sauberzweig, 1987). Ein Schriftenverzeichnis Grimmes ist dem Quellenverzeichnis beigefügt. Eberhard Ave-Lallemant (Hrsg.): Adolf Grimme - Sinn und Widersinn des Christentums, Heidelberg 1969 (weiterhin zit.: Ave-Lallemant, Sinn und Widersinn).

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Einleitung

und wurde erst nach seinem Tod von Eberhard Ave Lallemant als Torso herausgegeben. Ein umfangreiches, wenngleich nicht vollständiges Schriftenverzeichnis, erstellte Walter Oschilewski 8 . Grimme sammelte Material aus allen Stationen seines Lebens, das mit seinem Nachlass in das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz gelangte9. Sein umfangreicher Nachlass beweist, dass es ihm etwas bedeutete, die historische Rekonstruktion seines Handeln zu ermöglichen. Er ging die Papiere, die er überliefern wollte, mehrfach durch, sortierte und vernichtete10. Der Nachlass enthält zu allen Lebensbereichen eine große Menge an Material, obgleich er von sich selbst behauptete, die „delikaten Dinge" meist mündlich besprochen zu haben11. Ohne eine rechtfertigende Absicht wäre diese Form des Uberlieferns nicht denkbar. Die Arbeit des Historikers erkannte er an, wollte sie nur nicht selber leisten. Aus der Art des Überlieferns ergibt sich für den Biografen die Gefahr, zum Erfüllungsgehilfen zu werden. Sie wird durch den Umstand gemildert, dass keine besonders ausgeprägte politische Sendung zugrunde liegt. Grimmes wichtigste Botschaft bestand darin, dass alles politische Handeln nachvollziehbar und einsichtig sein müsse. Eine Reihe anderer Nachlässe ergänzen die Quellen um Einzelheiten12. Einen Sonderfall bildet der Nachlass des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf. Auf „Weisung der Staatskanzlei war die Existenz des Nachlasses gegenüber Nichtbediensteten des Staatsarchivs zu verschweigen". Er ist aus diesem Grund nicht im Mommsenschen Inventar der Nachlässe verzeichnet13. Der Nachlass Erich Wendes, der ein enger Mitarbeiter sowohl im preußischen als auch im niedersächsischen Kultus-

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Walter Oschilewski (Hrsg.): Wirkendes, sorgendes Dasein - Begegnungen mit Adolf Grimme, Berlin 1959 (weiterhin zit.: Oschilewski, Sorgendes Dasein). G S t A P K , VI. H A Familienarchive und Nachlässe, Nachlass Adolf Grimme (weiterhin zit.: N1 Grimme). Im Jahr 1956 berichtete er vom „Hinmorden der entsetzlichen Papiermengen", N o t i z in N1 Grimme N r . 755. Im Dezember des gleichen Jahres berichtete er, die „seit 1945 gehorteten Papiermassen aufs Vernichtet- oder Aufgehobenwerden hin" durchzusehen. Brief an Henny Wolff vom 22. Dezember 1956, Degerndorf, Sauberzweig (1967), S. 219. Brief an Armin T. Wegner vom 26. Januar 1953, Hamburg, Sauberzweig (1967), S. 179. Etwa der Nachlass Greta Kuckhoff im Bundesarchiv Berlin. Ferner enthalten Material zu Grimme folgende Nachlässe im G S t A P K , VI. H A Familienarchive und Nachlässe: C . H . Becker, Otto Braun, Albert Grzesinski, im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD): Kurt Schumacher, Fritz Sänger, Leonard Nelson, Carl Severing, Heinrich Albertz, Ernest Hamburger, H a n s Böckler, Carlo Schmid, Paul Lobe, Walter Auerbach, Erich Ollenhauer. H S t a H a n n W P 6, N1 Hinrich Wilhelm Kopf.

Einleitung

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ministerium war, befindet sich zwar im Bundesarchiv Koblenz (Wende beendete seine Laufbahn als Mitarbeiter der Bundesregierung). Ein umfangreicher Schriftwechsel aus seinen Handakten der Hannoveraner Zeit befindet sich jedoch im Staatsarchiv Hannover 14 . Es gibt drei Personalakten: Die erste befindet sich im Bundesarchiv, Zweigstelle Berlin 15 , zu der eine kleine Anzahl von Blättern aus dem ehemaligen Berlin Document Center gehört. Die zweite liegt im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv Hannover und umfasst Dokumente aus den Jahren 1945 und 1946 16 . Die dritte lagert allen Archivbestimmungen zum Trotz immer noch im Kultusministerium17. Wie Grimme sein Amt als Kultusminister Preußens gestaltete, kann aus dem „Zentralblatt der Unterrichtsverwaltung" ersehen werden18, die neben den Sitzungsprotokollen des Preußischen Landtages die Hauptquelle für diese Zeit bilden19. Er geriet in den dreißiger Jahren in Widerstandskreise der sogenannten „Roten Kapelle". Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand besitzt ein eigenes Archiv, das zwar kaum Originale, dafür aber Kopien sonst weit verstreuter Quellen enthält. Zu dem Anteil an der „Roten Kapelle" können neben den erhaltenen Briefen und den Zeugnissen von Beteiligten die Akten im Prozess gegen Manfred Roeder herangezogen werden, die im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv lagern20. Dort findet sich auch eine Kopie des Abschlussberichtes der Gestapo vom 22. Dezember 1942. Dieser Bericht hat viel Unheil bewirkt, da er in verfälschter und vor allem unvollständiger Form benutzt wurde. Teile sind nach 1989 in Prag entdeckt worden. Der entscheidende Abschnitt über den Verhandlungstermin Grimmes

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HStaHann, Nds. 400 acc. 121/ 81, Nr. 456. Die Personalakte im BA: R4901/PA G 313 und G 314 Grimme, Adolf. Personalakte Grimme HStaHann, Nds. 400 acc. 165/ 94, Nr. 80. Siehe hierzu Seiters, Bildungspolitiker (wie Anm. 3), S. 161. Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung (Hrsg.): Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen, Berlin 73 (1931), (weiterhin zit.: Zentralblatt). Preußischer Landtag (Hrsg.): Verhandlungen des Preußischen Landtags, Sitzungsberichte des Preußischen Landtags. Anlagen, Sammlungen der Drucksachen des Preußischen Landtags, Berlin 1921-1933. Hier besonders die Bde. der 3. Wahlperiode (weiterhin zit.: PrLT, 3. WP, 1928/30). HStaHann, 711 acc. 112/79, Nr. 679 bis Nr. 684. Ermittlungssache gegen den Generalrichter a. D. Dr. Manfred Roeder in Neetze, Landkreis Lüneburg, wegen Aussageerpressung, Körperverletzung im Amt, später auch wegen Bruchs der Amtsverschwiegenheit u. a. (strafbare Handlungen bei der Untersuchungsführung in den Fällen „Rote Kapelle" und „Depositenkasse", bei der Aburteilung des Fabrikanten Johannes Klepper und im Falle Rheindorf). Ermittlungsakten in HStaHann, Nds. 721 acc. 69/76, Bd. I - X V .

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Einleitung

fehlt bis heute21. Das Ministerium für Staatssicherheit der D D R hat einige Akten angelegt, die Materialien zu Grimme enthalten22. Unterlagen zu einem erwähnten „operativen Vorgang" sind bisher nicht aufgefunden worden. Zu der Geschichte der Generaldirektion gibt es keine Vorarbeit. Das Staatsarchiv Hamburg hat die Akten 1999 übernommen und archiviert. Die „Forschungsstelle zur Geschichte des Rundfunks in Norddeutschland", eine Kooperation des N D R mit dem W D R und dem Hans BredowInstitut, hat damals begonnen, die Grundlagen von N D R und W D R zu erforschen 23 und 2005 eine umfassende Studie vorgelegt24. Die Akten der Generaldirektion des N W D R befinden sich ebenfalls im Staatsarchiv Hamburg25. Das Sammeln der Bestände verlief nicht ohne Schwierigkeiten. Weder der „Sender Freies Berlin", noch der „Norddeutsche Rundfunk" oder der „Westdeutsche Rundfunk" stehen in der direkten Rechtsnachfolge des N W D R . Mangels einer zentralen Sammelstelle sind die Akten des N W D R weit verstreut26. In der Praxis bildete der Personalbestand eine Kontinuität zu dem Vorgänger. Mitarbeiter haben wichtige Akten in ihren Privatbesitz übernommen. Als 1956 die Abteilung Hörerforschung des N W D R aufgelöst wurde, gründete ihr Leiter Wolfgang Ernst ein eigenes Institut und übernahm Archivmaterial. Die Akten des Funkhauses Köln und Studio Bonn blieben fast ohne Ausnahme beim W D R . Mitarbeiter nahmen unabgeschlossene Vorgänge von Hamburg mit nach Köln. Helmut Graf, Leiter des Fernseharchivs des N W D R / N W R V , begann 1957 für die Historische Kommission der A R D die Geschichte des Fernsehens zu dokumentieren. In den Jahren 1971 und 1972 sicherte diese Kommission in

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Norbert Haase: Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts. Neue Dokumente zur Militärgerichtsbarkeit im 2. Weltkrieg, VJfZ (1991), S. 379^*11. BSTU Z A MfS SdM, Nr. 1438; BSTU ZA MfS H A I X / 11 FV 98/66, Nr. 99; BSTU Z A MfS ZAIG 22685; BSTU ZA MfS H A IX/11 FV 98/66, Nr. 92; BSTU ZA MfS H A I X / 1 1 FV 98/66, Nr. 93. Begonnen wurde das Projekt von Christoph Rohde (NDR), Hans-Wilhelm Eckardt, Ulf Bollmann vom Staatsarchiv Hamburg und Peter von Rüden, Universität Hamburg. Rainer Hering und Hans-Ulrich Wagner führen das Kooperationsprojekt zwischen dem Hans-Bredow-Institut, dem Norddeutschen Rundfunk, dem Westdeutschen Rundfunk und der Universität Hamburg (Institut für Neuere deutsche Literatur und Medienkultur) fort. Federführend ist die Forschungsstelle zur „Geschichte des Rundfunks in Norddeutschland 1945-1955". Peter vor Rüden und Hans-Ulrich Wagner (Hrsg.): Die Geschichte des Nordwestdeutschen Rundfunks, Hamburg 2005 (weiterhin zit.: Rüden und Wagner, Geschichte). StAHH, NDR. Die Akten verblieben nach dem archivischen Provenienzprinzip dort, wo sie entstanden.

Einleitung

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Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte Aktenbestände auch außerhalb Hamburgs. Das Deutsche Rundfunkarchiv begann Mitte der achtziger Jahre mit einer Dokumentation. Seit 1998 werden Akten vom N D R beim Staatsarchiv Hamburg abgeliefert. Große Teile der Unterlagen sind in einem konservatorisch bedenklichen Zustand. Sämtliche Personalakten wurden offenbar auf Beschluss der Leitungsorgane vernichtet. Das gilt wohl auch für die (streng) vertraulichen Dokumente der Führungskräfte27. Gegliedert ist die Studie nach den großen Zäsuren der allgemeinen Geschichte. Auf die wilhelminische Epoche folgt die Weimarer Zeit, der Nationalsozialismus und schließlich ein Nachkriegskapitel, das Besatzungszeit und frühe Bundesrepublik zusammenfasst. Der erste Teil behandelt die geistigen Grundlagen und Einflüsse, denen der junge Mann ausgesetzt war. Er soll die Eigenarten und Fähigkeiten darlegen, mit denen Grimme ins politische Leben eintrat. Der zweite Teil handelt vom gesellschaftlichen Aufstieg, der im vorliegenden Fall ebenso viel über die Gesellschaft aussagt wie über den Aufsteigenden selbst. Nicht zu vermeiden ist die Frage, weshalb die Republik unterging und Deutschland nichts Besserem als dem Nationalsozialismus in die Hände fiel. Der Lebensabschnitt unter Hitler stellte die entwickelten Muster und Haltungen auf die Probe. Nicht ob, sondern wie der Einzelne vom Nationalsozialismus berührt wurde, ist das historische Problem. Wo musste oder wollte er sich anpassen und an welcher Stelle begann er, die Grenze zum Widerstand zu überschreiten? Der vierte Teil handelt von den Grundlagen der B R D und der Frage, wer eigentlich wem das Programm schrieb und welche Lehren der Nachkriegspolitik zugrunde lagen. Der besondere Schwerpunkt liegt auf der Kulturpolitik. Die neuen Medien Rundfunk und Fernsehen wurden ihr damals noch selbstverständlich zugeschlagen. Der engere Anspruch der Biografie besteht darin, das Typische und Allgemeine im Einzelleben zu finden und dem Namen Grimme seine Geschichte wiederzugeben.

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Konrad Stein im Findbuch des Bestandes StAHH, NDR.

Erstes Kapitel Bildungsjahre

1. Jugend Die Familie Grimme siedelte seit vielen Generationen im Raum zwischen Minden und Hameln. Unter den Vorfahren fanden sich Voll- und Buchmeier, Brinksitzer und Schuhmacher. Ein Urgroßvater gehörte als Grenzaufseher zum niederen Beamtentum. Dessen Sohn, Georg August Adolf, versah als „Königlicher Bahnhofsvorsteher" den mittleren Dienst. Von diesem wurde Adolf Grimme gezeugt. Der Geburtstag in Goslar fiel auf den 31. Dezember 1889. Die Familie der Mutter, eine geborene Sander, siedelte von Sachsen immer weiter nach Westen, bis sie schließlich für einige Generationen um Hildesheim sesshaft blieb. Seit dem achtzehnten Jahrhundert verdienten die Mitglieder ihren Lebensunterhalt vor allem als Musikanten. So auch Louis Sander aus Hildesheim, der Louise Sander zeugte, die Mutter Adolf Grimmes 1 . Seine Schwester Emma wurde sechs Jahre zuvor geboren, am 5. März 1883. Als Adolf 1896 das schulpflichtige Alter erreichte, wurde der Vater angewiesen, die vakante Stelle des Stationsvorstehers von Weferlingen zu besetzen, einem Ort zwischen Wolfsburg und Helmstedt. Dort gab es nur eine Volksschule. Die Eltern beschlossen, ihre Tochter in die Klosterschule Marienberg bei Helmstedt zu geben. Ein „großes Opfer", wie die Mutter schrieb - aber „es musste sein" 2 . An diesem „es musste sein" ist abzulesen, wie wichtig die Eltern es nahmen, ihre Kinder auszubilden. Der Vater besaß ein Abiturzeugnis aus Bückeburg, wusste also um den Wert einer gründlichen Schulbildung und bereitete seinen Sohn auf die Quarta des Gymnasiums vor. Neben den Schulstunden erhielt er Lateinunterricht 3 . Die Gymnasialzeit verbrachte er in Hildesheim und Sangershausen. Als Oberschulrat in Magdeburg4 setzte er sich später für eine höhere Schule in Weferlingen ein; möglicherweise in Gedenken daran, dass das

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Zu den Familienverhältnissen vor allem N1 Grimme, N r . 3286. Die Ahnentafel ist als Anlage zu dieser Arbeit beigefügt.

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Lebenslauf Adolf Grimmes, verfasst von der Mutter, N1 Grimme, N r . 3315. Zitat aus einem Lebenslauf, verfasst 1917, in: Meissner, Zwischen Politik und Religion, S. 8.

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Brief an O t t o Krebs vom 29. Juli 1950 Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 166.

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Bildungsjahre

Fehlen einer höheren Schule ihn zum Verlassen des Ortes zwang 5 . In der Rückschau erschien ihm der Ort als „Heimat" 6 , was bemerkenswert ist. Als Kind eines Reichsbahnbeamten musste er sich regelmäßig auf ein neues Umfeld einstellen. Eine Heimat im engeren Sinne fehlte. Uber den Vater lässt sich kaum etwas sagen. In späteren Briefen wird er nicht erwähnt. Als Georg August Grimme 1906 mit einundfünfzig Jahren starb, war sein Sohn sechzehn Jahre alt. Bis zum Umzug nach Hildesheim wohnte die Familie zusammen im Bahnhofsgebäude von Weferlingen. Die Eltern galten als fromm. Zum Tode des Mannes schrieb Louise Grimme: „Nachdem Gott uns die geliebte Mutter am 12. Februar 1905 genommen, suchte er uns abermals heim und nahm uns am 5. Januar 1906 den herzensguten Mann und Vater meiner Kinder" 7 . „Voll Gottvertrauen" sei der Mann gewesen. „Wie haben wir nur zusammen gebetet und zu Gott gefleht, aber Gott hatte ihn lieb und nahm ihn in sein Reich. Laut hat der Gute jeden Abend gebetet bis zuletzt, da konnte er nichts mehr denken und sagte zu mir, bete du." Einer Liste über die Lieblingsgesänge ihres Mannes fehlte nicht der Hinweis darauf, welchen sie zusammen „in der Sterbestunde" lasen. Ihr Sohn ordnete ihr den Gesangbuchvers zu: „Es kann mir nichts geschehen, als was ER hat ersehen und was mir dienlich ist" 8 . Über die Vergabe des Abendmahls konnte sie mit „ganz großer Freude" berichten9. Die aus diesen Sätzen sprechende Schicksalsergebenheit teilte ihr Sohn nicht. Eltern und Sohn meinten gleichermaßen, ihr Leben in einem christlichen Sinn zu führen, obwohl die zugrunde liegenden Prinzipien kaum Gemeinsamkeiten besaßen. Zu einem offenen Konflikt kam es darüber nicht. Seine religiösen Gedanken breitete er vor seiner Mutter nicht aus. So fand auf einer geistigen Ebene der Ablöseprozess statt, der im Leben auf sich warten ließ. Die Mutter erwartete noch Jahre später täglich einen Brief und bekam ihn. Mit dem Tod ihres Mannes band sie sich noch enger. Sie begleitete ihren Sohn nach Hildesheim und Sangershausen, später in jeden seiner Studienorte: nach Halle, nach München und nach Göttingen. Erst

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Zum Dezernat Grimmes im Provinzialschulkollegium Magdeburg gehörten neben der Aufbauschule Weferlingen die Gymnasien Halberstadt, Neuhaidensleben, Quedlinburg und Wernigerode. D a s Reformgymnasium und die Oberrealschule von Halberstadt, die Realschule Magdeburg und die Freie Schul- und Werkgemeinschaft Hetzlingen, N l Grimme, N r . 2633. Brief an T o t o Bunke vom 12. Februar 1930, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 35. Aufzeichnungen der Mutter, N l Grimme, N r . 3315. Brief an Karl Mohr vom 23. Februar 1953, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 181. Brief an Superintendent Kurt Degener vom 15. November 1951, N l Grimme, N r . 1367.

Die Berufung

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durch die eigene Hochzeit gewann er etwas Abstand10. Der geistige Raum bot den Ausweg, Abstand zu nehmen, ohne zu verletzen. Die Wertvorstellungen der Mutter griff er nicht an, obwohl er sie für falsch hielt. Die geistige Entwicklung fand ohne Anleitung und ohne korrigierenden Widerpart statt. Entscheidende Dinge behielt er für sich. Das Erlebnis, sich den Zugang zu einer Gemeinschaft erarbeiten zu müssen, war ihm bekannt. Er fand schnell Anschluss und galt als guter Schüler. Als er der Grundschulklasse beitrat, hatte sich an erster Stelle als Primus der spätere Zimmermann Emil Kühne festgesetzt. Die Sitzordnung entsprach dem Leistungsstand der Schüler, die verschiedenen Jahrgängen angehörten. Er überflügelte Kühne an Erfolgen, und es schien, als stünde ihm eigentlich der Platz in der ersten Reihe zu. Der Klassenlehrer hatte Kühne aber „ins Herz geschlossen", brachte den Tauschbefehl nicht über sich und griff zu einer ungewöhnlichen Maßnahme: Er ließ die Klasse darüber abstimmen, welcher der beiden Schüler auf die erste Bank gehöre und erhielt die einstimmige Antwort, Grimme solle vorrücken. Der sprang auf und erklärte: „Herr Lehrer, ich nehme die Wahl nicht an! Emil Kühne bleibt Erster" 11 ! Diese Jugendgeschichte entsprach einem Muster: Die Sympathien von Gruppen gewann er schnell. Es bereitete keine Schwierigkeiten, sich einzufügen und zu erfüllen, was gefordert war. Doch ein Abstand blieb bestehen, die vollkommene Identität mit einer Gruppe gelang nicht. Der Vorbehalt lag dabei meist auf seiner Seite. Ihm stand der Sinn nicht danach, eine Gruppe der Form nach anzuführen. Das Anerkenntnis seiner Leistung und eine Art geistige Führerschaft genügten.

2. Die Berufung Ostern 1900 wechselte er an das Gymnasium Andreanum zu Hildesheim. Die Großeltern aus Elze waren dorthin übergesiedelt. Es bestand eine Wohn- und Fürsorgemöglichkeit 12 . Als die Reichsbahn den Vater von Weferlingen nach Mansfeld versetzte, zog er mit seiner Mutter nach Sangershausen. Dort befand sich das von Mansfeld aus nächstgelegene Gymna-

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Gespräch mit der Tochter von Adolf Grimme. Bericht in der „Volksstimme", Wochenzeitung für Kinder im Magdeburger Land vom 16. März 1930, N1 Grimme, Nr. 3308. Der Kultusminister dankte am 20. März 1930, dass ihm der „Kampf um den ersten Platz" auf diese Art noch einmal ins Gedächtnis gerufen wurde, siehe „Volksstimme" vom 30. März 1930, N1 Grimme, Nr. 3308. Lebenslauf Adolf Grimmes, verfasst von der Mutter, Nl Grimme, Nr. 3315.

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Bildungsjahre

sium. Nach dem Tod des Vaters kehrten sie nach Hildesheim zurück. Das Andreanum zu Hildesheim besaß eine lange humanistische Tradition. Als die Schule ihn aufnahm, sah er sich einem Lehrerkollegium gegenüber, dessen Mitglieder „alle bereits Patina angesetzt hatten" 13 . Der Schwerpunkt des Lehrplans lag auf antiker Kultur und deutschem Mittelalter. Niemandem fiel ein, die Schüler in die außergewöhnlichen Kunstschätze der Stadt Hildesheim einzuführen. Aus der Selbstsicherheit eines jungen Studenten heraus verurteilte er die damalige Lehrerschaft als „degeneriert" 14 . Mit dem Begriff „Lehrerpersönlichkeit" unterschied er zwischen geistiger Möglichkeit und pädagogischer Fähigkeit. Der Lehrer Heinrich Goebel sei zwar einer der „geistvollsten" Lehrer gewesen, zugleich aber einer der „miserabelsten", die er während seiner Schülerzeit erlebte15. Die Schüler seien ihm auf der Nase herumgetanzt. Dennoch habe seine „komisch hilflose Art" nicht verhindert, dass die Schüler einen „geheimen Respekt vor der Geistigkeit seiner Person" empfanden. Ahnlich urteilte er über seinen Physiklehrer. Dessen Unterrichtsqualität sei „kaum noch unterbietbar" gewesen; und zwar mit Blick auf wohl tausend Unterrichtsstunden, die er als Oberschulrat der Provinzialschulkollegien in Magdeburg und als Vizepräsident des Kollegiums Berlin gesehen hatte16. Uneingeschränkten Respekt brachte er seinem Klassenlehrer Albert Rauterberg entgegen. Der allgemeinen Tendenz nach war das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern kein freundschaftliches. Das kameradschaftliche Entgegenkommen Rauterbergs bildete eine Ausnahme. Als Abiturient empörte Grimme sich über die Faulheit seiner Lehrer. Nur Rauterberg betreute seine Schüler auch außerhalb der Schulstunden, sofern es ihr „Suchen und Betätigungsdrang" erforderte. Grimme sah in der Rückschau in diesem Lehrer einen „älteren Kameraden". Einen Kameraden, der von der Jugend verlangte, dass sie etwas leiste. Aber gerade darin sah er den Grund, weshalb Rauterberg ungewöhnlich großen Respekt genoss, weshalb er von den Schülern vielleicht sogar geliebt wurde. Unter dem Eindruck dieses Lehrers beschloss er, selbst „Schulmeister" zu werden17. Zu seinen anderen Lehrern

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Brief an H a n s W. Freytag vom 4. September 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 126. Aufzeichnungen mit dem Titel „Erinnerungen aus meinen ersten Lebensjahren", verfasst um das Jahr 1908, N1 Grimme, N r . 3253. Brief an den Regierungspräsidenten Sachse vom 23. Mai 1946, Hannover, N l Grimme, N r . 1596. Göbel hatte sich Verdienste als Ubersetzer von skandinavischer Literatur ins Deutsche erworben. Brief an Welzel vom 28. Dez. 1945. Der Physiklehrer Ewald Gnau unterrichtete Adolf Grimme in Sangershausen, N l Grimme, N r . 1596. Brief an Albert Rauterberg vom 10. Dezember 1930, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 41.

Die Berufung

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schrieb er einem Freund 1908: „Wir wollen andere Schulmeister werden und unser Gewissen möge uns behüten, dass wir nicht so werden wie D. Irex, lieber 'ne Portion Cyankali" 18 . Es stellt sich die Frage, welche politischen Grundlagen die Erziehung vermittelte. Die Schulen des späten Kaiserreichs waren „stramm, nationalkonservativ und monarchisch" ausgerichtet19. Die Monarchie besaß im Lehrkörper eine wichtige Stütze. In den zeitgenössischen Geschichtslehrbüchern fanden sich nationale Tendenzen in verschiedenen Schattierungen, die von Loyalität gegen die staatlich-kaiserliche Oberschicht bis hin zu rassistischem Nationalismus reichte20. Die Lehrerschaft bildete zwar keine Einheit. Doch gaben sich sozialdemokratische Lehrer in der Schule nicht zu erkennen. Das Verteilen sozialdemokratischer Flugblätter konnte noch 1912 dazu führen, wegen „moralischer Unreife" ein Jahr vor dem Abitur zurückgestellt zu werden21. Lehrer, die Wahlaufrufe für liberale Kandidaten unterschrieben, erhielten von der Schulverwaltung einen strengen Tadel22. Sein Denken blieb nicht frei von solchen Vorurteilen. 1908 stand er vor einer Volksbuchhandlung und blätterte in einer sozialdemokratischen Zeitung, als es ihn plötzlich „heiß überlief". Aus der Ferne näherte sich ein Professor, bei dem er hörte. Geschehen wäre wohl nichts. Er befürchtete einen Ansehensverlust und vielleicht die ermahnenden Worte: „Aber Commilitone, Sie wird das Zeugs doch wohl nicht interessieren!" 23 . Da hieß es nun „zu tun >als ob< man sich am Schnürsenkel zu schaffen habe machen müssen, und dann mit markierter Unbefangenheit gemächlich weiterpilgern". Die Vorurteilsfreiheit der preußischen Lehrpläne besaß hier eine Grenze. Dass Grimme davon nicht unbeeindruckt blieb, beweist der Umstand, dass er später zunächst nicht der SPD, sondern der D D P beitrat und auch nach dem Austritt aus der D D P einen Eintritt in die DVP erwog. Dabei war er in der Abschiedszeitung seiner Schule schon als „künftiger Redakteur eines Volksblattes" bezeichnet worden.

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Brief an Bruno Rauterberg vom 6. April 1908, Halle, in: Sauberzweig (1967), S. 13. Werner Peiser, in: Rudolf Pörtner: Kindheit im Kaiserreich, München 1989, S. 68. Frank-Michael Kuhlemann: Tradition und Innovation. Zum Wandel des niederen Bildungssektors in Preußen 1790-1918, in: Historische Kommission der deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (Hrsg.): Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 1, Weinheim usw. 1993, S. 58. Pörtner, Kindheit (wie Anm. 19), S. 69. Folkert Meyer: Schule der Untertanen. Lehrer und Politik in Preußen 1848-1900, Hamburg 1976, S. 276. Brief an Paul Lobe vom 12. Dezember 1955, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 202 ff.

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Bildungsjahre

3. Das christliche Bekenntnis Das Abiturzeugnis vom 24. Februar 1908 weist ihn im Singen und in Religion als „sehr gut" aus. In Deutsch, Geschichte und Erdkunde, Mathematik und in Handschrift erhielt er ein „gut", in Französisch, Turnen, Latein und Englisch immerhin noch ein „genügend". Lediglich in Physik stand er auf „ungenügend" 24 . Er überlegte, Pastor oder Schauspieler zu werden. Den Beruf des Pastors verwarf er aus dem seltsamen Grund, er habe nicht reden können25. Dabei sollte ihn später gerade seine Redekunst auszeichnen. Sie rettete ihm sogar das Leben. Er besetzte den Vorstand eines literarischen Vereins und spielte in einer Theatergruppe26. Die Theaterkritik des Jahres 1910, zwei Jahren nach Verlassen der Schule, meldete seinen Auftritt. Die „theatralische Darbietung von Studiosus Grimme" habe „fröhliche Teilnahme" hervorgerufen27. Doch der Wunsch zur Bühne zu gehen verlor sich. Im Jahr 1908 wurde er erstmalig zum Autor. Gerade das Abitur bestanden, händigte er dem Verlag „Neues Leben" eine Geschichte mit dem Titel „Verstand und Herz auf der Gottsuche" aus28. Der Verlag erklärte sich bereit, den Text in einer Auflage von tausend Exemplaren herauszugeben29. Die Themenwahl ist kennzeichnend für den Autor, weist aber aufs Allgemeine der Zeit. Hier schrieb kein Außenseiter, sondern jemand, der von sich selbst annahm, ein zentrales Problem zu behandeln. Er hoffte, mit dem Text einen Teil seiner Generation anzusprechen und zu erreichen. Ein unerfülltes religiöses Bedürfnis trat zutage, dem das Ziel fehlte. Die Macht religionsverneinender Gesellschaftsphilosophien und das Empfinden, die Kirche erfülle ihre religiöse Aufgabe nicht mehr, stärkten Gegenbewegungen, hier als kleine Schrift eines Schülers, dort als wilhelminisches Kirchenbauprogramm. Dahinter verbarg sich schon das Empfinden, die Gesellschaft zerfalle allmählich in Teile und benötige Zusammenhalt. Es ist die Sehnsucht nach der einenden Macht. Der Inhalt lässt erkennen, dass er sich von der Frömmigkeit seiner Mutter deutlich unterschied, er andererseits Einflüsse der zeitgenössischen Jugendkultur aufnahm. Auf fünfzehn Seiten erzählte er die Geschichte eines Wanderers, der durch unwissenschaftliches Grübeln an der Religion 24 25 26

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Zeugnisse des Gymnasium Andreanum zu Hildesheim, Nl Grimme, Nr. 3255. Brief an Luise Grimme vom 24. Januar 1931, Nl Grimme, Nr. 3335. Brief an Albert Rauterberg vom 10. Dezember 1930, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 41. Aus Schulzeitschriften des Andreanum zu Hildesheim, N l Grimme, Nr. 539. Adolf Grimme: Verstand und Herz auf der Gottsuche, Berlin, Rom 1908 (weiterhin zit.: Grimme, Verstand und Herz). Vertrag mit dem Verlag, Nl Grimme, Nr. 3266.

Studium in Halle und München

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verzweifelt, am Ende aber durch ein Naturerlebnis errettet wird. Die Geschichte richtete sich zu gleichen Teilen gegen die Religion der Kirche wie gegen die modernen Wissenschaften. Am Kirchenglauben bemängelte der Autor den innigen Zusammenhang zwischen dem Erscheinen von Christus und dem Vergeltungsgedanken. Das Christentum sei seiner Ansicht nach keine vergeltende Religion. Außerdem dürfe nicht das Jenseits im Mittelpunkt stehen. Der Hauptakzent des Christentums liege auf dem Diesseits. Ohne Lebenssinn vegetiere der Mensch nur dahin. Ein Mensch ohne ihn gleiche dem Tier. Er dürfe deshalb nicht der Laune und dem Sonnenschein ausgeliefert bleiben. Um den Lebenssinn zu finden, reiche aber weder Kirchenreligion noch Wissenschaft aus. Der überlieferte Glaube stehe in unüberbrückbarem Widerspruch zu den modernen Wissenschaften. An vielen Stellen ergäben sich Zweifel, die durch den überkommenen Glauben nicht mehr zu lösen seien. Die Glaubensfragen den Wissenschaften zu überweisen, funktioniere ebenso wenig, denn die Wissenschaften wollten „von einer unsterblichen Seele gar nichts wissen" 30 . Dabei sei die Seele durch bloßes Empfinden nachweisbar. Wer in Büchern allein das Heil suche, der werde „nur noch unzufriedener, misstrauischer, missmutiger". So blieb für den Studienkandidaten nur der eine Ausweg: dem Glauben und dem Wissen gleichermaßen abzuschwören und sein Heil im reinen Empfinden zu suchen. Das Naturerlebnis stand für eine Alternative zum logischen Beweis. Aus dem Naturerlebnis entstand nach seinem Dafürhalten Erkenntnis, die nicht logisch beweisbar - und dennoch nicht bestreitbar ist. Wer die Natur Gott sein lasse, der müsse den Tod nicht fürchten, denn was solle der Tod „anderes bringen als ein noch innigeres Einssein mit der Natur, mit Gott?!"

4. Studium in Halle und München Es folgte der Umzug mit seiner Mutter nach Halle, wo er sich für das höhere Lehramt einschrieb. Die Fächerkombination lautete: Deutsch, Philosophie, Französisch und Religion. Etwas volkstribunenhaftes lag in seinen Zügen. Die Voraussage seiner Mitschüler, er werde als „Redakteur eines Volksblattes" enden, kam nicht von ungefähr31. Die Berufe Lehrer, Pastor oder Schauspieler haben gemein, dass sie vor einem Publikum ausgeübt werden. Daraus lässt sich Freude am Auftritt und der öffentlichen Rede ableiten. Die Autorenschaft von „Herz und Verstand auf der Gottsuche" zeugt von Selbstwertgefühl und Sendungsdrang. In Halle bestätigte sich 30 31

Folgende Zitate aus Grimme: Verstand und Herz (wie Anm. 28). Brief an Paul Lobe vom 12. Dezember 1955, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 202.

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Bildungsjahre

diese Neigung durch Beiträge in den Studentenzeitungen „Der Freistudent" und „Der Akademiker". Grimme ordnete sich dem liberalen Teil der Studentenschaft zu. Der „Freistudent" war das Organ der Hallischen Freien Studentenschaft 32 . Bereits in der Ausgabe vom 26. November 1908 forderte der neue Student seine Kommilitonen dazu auf, sie sollten sich für die Kinder der Arbeiter interessieren. Er schlug vor, „interkorporative Kommissionen" einzusetzen und sich bei den Lehrern der hiesigen Volksschulen nach äußerst begabten und strebsamen Jungen zu erkundigen. Jungen, die „wohl weiter kommen möchten und auch sicher würden, aus pekuniären Gründen aber in ihrem Niveau geistig dahinsiechen" müssten33. Er bitte darum, sich in eine vorbereitete Liste einzutragen. In seinem Denken mischten sich sozialdemokratische und konservative Elemente. Für den „freiesten und größten Mann unserer Zeit" hielt er ausgerechnet Bismarck 34 . Die historische Größe dieses Mannes ließ es ihm geradezu unverzeihlich erscheinen, dass ein Bismarckdenkmal in Halle den Kanzler in Kleidern zeige, die vor „tausend Jahren einmal Mode waren". Die Kinder müssten ihn ja für einen „Vasallen Karls des Großen" halten35. Gleichzeitig arbeitete er an einem Entwurf eines Theaterstückes mit dem Titel „Fridericus Rex". Sowohl Bismarck als auch Friedrich II. dienten der politischen Rechten als Symbolfigur des Reiches von 1870/71. Die Sozialdemokraten entwickelten erst während der Weimarer Republik ein zumindest „ambivalentes" Verhältnis zu Bismarck, dessen identitätsstiftenden Mythos sie gern für den republikanischen Staat genutzt hätten36. Als Redakteur des „Freistudenten" fiel er erstmals politisch auf. In einem Artikel hatte er der Freien Studentenschaft vorgeworfen, zu tolerant gegen die „Borniertheit und das elende Strebertum unter der gebildeten deutschen Jugend" zu sein37. Der Freie Studentenstand könne seine „grandiosen Ideale" nie und nimmer erreichen, solange es noch „erbärmliche, sklavische Streberseelen" gebe, solche „mark- und saftlosen nichts könnenden Alleswisser und Marineiiinaturen". Der „Brutherd" des „deutschen 32

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Grimme war Schriftleiter bei zwei Studentenzeitschriften. „Der Freistudent" in Halle stand 1908 und 1909 unter seiner Leitung. 1910/11 besorgte er die Schriftleitung der „Göttinger Freistudentischen Wochenschau". „Der Freistudent" vom 26. November 1908, Nl Grimme, Nr. 3106. Bernd Buchner: Um nationale und republikanische Identität. Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole in der Weimarer Republik, Bonn 2001, S. 237 ff. (weiterhin zit.: Buchner, Sozialdemokratie). Aus „Der Freistudent" (ohne Datum), Nl Grimme, Nr. 539. Entwurf zu einem Stück in vier Aufzügen von Adolf Grimme, Nl Grimme, Nr. 3253. Aus „Der Freistudent", ohne Datum, Nl Grimme, Nr. 539.

Studium in Halle und München

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Strebertums" liege in den Korporationen. Ihnen müsse deshalb der Kampf gelten. Dort fänden sich die „prächtigen Streberexemplare", die ihm in der „naivsten Frivolität, ohne dabei zu erröten, gesagt" hätten, dass sie „aktiv würden, weil sie dann später besser weiterkämen". Dieser Ausfall gegen die Korporationsstudenten ging der Universitätsleitung zu weit. Die betreffende Ausgabe des „Freistudenten" durfte nicht erscheinen. Aus den Zeilen spricht eine Lust am Streit. Zu den revolutionären Studenten zählte er nicht. Zwar gab er sich hin und wieder den „reinen Freuden" hin. Bestimmte Trinkgelage prägten sich fest in sein Gedächtnis38. Doch abgesehen von seinen journalistischen Ausfällen, blieb es um ihn ruhig. Seinen Mitstudenten schätzten ihn wegen seines „natürlichen Wesens" 39 . Er studierte fleißig und bemüht, wenngleich zunächst nicht mit dem erwünschten Ergebnis. Ein Tutor schrieb ihm zu einer Arbeit über Gerhart Hauptmann, dass der Professor sie ganz zu Recht „heruntergemacht" habe40. 1909 wechselte er für ein Semester an die Münchner Universität, kehrte kurz nach Halle zurück und studierte ab 1910 an der Universität Göttingen. Noch in Halle machte er die Bekanntschaft Adam Kuckhoffs. Der älteste erhaltene Brief von Kuckhoff datiert auf den 4. April 1910 41 . Die Freundschaft lässt sich bis 1909 belegen42. Kennen gelernt hatten sie sich wahrscheinlich in der Redaktion des „Freistudenten", für den beide schrieben 43 . Nach dem Studium verloren sie sich zunächst aus den Augen und trafen erst 1928 wieder aufeinander. Kuckhoff hatte die Herausgeberfunktion der Avantgardezeitschrift „Tat" übernommen und zur Mitarbeit aufgefordert. Aus diesem Kontakt entwickelte sich eine Freundschaft, die erst endete, als Kuckhoff 1943 am Fleischerhaken in Berlin-Plötzensee hing. Spätestens seit der Ankunft in Halle trat eine Neigung hervor, die mitbedacht werden muss: Er war ein Mann der Frauen. Die erste Liebe scheiterte am Vater der Geliebten. Jedenfalls vermutete Grimme, dass der Vater seine Tochter nicht als „Frau eines Oberlehrers sehen" wollte 44 . Sie heiratete einen anderen. Eine vorgedruckte Karte kündigte die Verbindung mit

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Brief an Friedrich Koch vom 23. September 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 217. Lia Kluth an Josefine Grimme vom November 1975, Bad Schwalbach, Nl Grimme, Nr. 3137. Walther Harich an Grimme vom 4. März 1909, Leipzig, Nl Grimme, Nr. 1663. Korrespondenz mit Adam Kuckhoff, in: Nl Grimme, Nr. 2790. Brief an Hermann Flesche vom 23. Mai 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 113. Adam Kuckhoff an Grimme vom 1. März 1928, Nl Grimme, Nr. 2790. Brief an Käthe Eckleben vom 3. Mai 1910, Nl Grimme, Nr. 3322.

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Bildungsjahre

einem „sozial Höherstehenden" an45. Im Mai 1910 lernte er auf einer Hochzeit in Göttingen eine andere kennen, die seine Liebe nicht erwiderte46. Das zweifache Zurückgewiesenwerden überforderte ihn. Er erlitt einen Zusammenbruch und musste vom 6. März bis zum 13. April 1911 in ein Sanatorium eingeliefert werden47. Im ärztlichen Attest stand, er sei „leicht überarbeitet" gewesen. Dem behandelnden Arzt schien ein Kuraufenthalt dringend geraten. So verbrachte er ein volles Semester auf einer Alm bei Bayerisch Zell, bildete sich durch Lektüre, verstand sich aber auch mit dem „Huberbauern", der jeden Sonntag Morgen in die Kirche verschwand, nach Gebet und Gesang auf jeden Hofbewohner ein Maß trank und sich erst am Montag in aller Früh wieder einfand48. Für einen Zweiundzwanzigj ährigen ist ein halbes Jahr keine unbedeutende Zeitspanne. Während sich die Freundschaften unter den Mitstudenten verfestigten, blieb er außen vor. Die Linie der frühen Jugend setzte sich fort: Die Umstände erzwangen einen Wechsel des privaten Umfelds. Wieder begegnete er keinen Schwierigkeiten, sich auf die neue Situation einzustellen, die sich vom universitären Leben grundlegend unterschied. Ein Gymnasiastendünkel gehörte nicht zu seinen Eigenschaften. Ein echtes Zugehörigkeitsgefühl konnte er aber auch jetzt nicht entwickeln, weder örtlich noch geistig.

5. Studium in Göttingen Rückblickend nahm er an, dass seine äußere Laufbahn ohne den Lehrer Husserl anders verlaufen wäre49. Die von Husserl begründete Phänomenologie ist im eigentlichen Sinne nichts weiter als eine Methode, die das Denken, die wissenschaftliche Arbeit und den Lehrstil Grimmes prägten50. Husserl war selbst von Halle nach Göttingen gewechselt. Möglich wäre also, dass die Berühmtheit des Philosophen in Halle den Wechsel des jungen Studenten nach Göttingen veranlasste. In dem Gutachten zu der Exa-

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Meissner (1993), S. 11. Lia Kluth an Josefine Grimme vom November 1975, Nl Grimme, N r . 3137. Ärztliches Attest vom 12. Mai 1914, Nl Grimme, N r . 3259; ebenfalls in: BA, Personalakte Grimme R 4 9 0 1 / P A G313, Grimme, Adolf. Meissner verweist als Quelle auf ein Tagebuch Grimmes aus jener Zeit, das sich nicht im Nachlass findet, Meissner (1993), S. 12. Brief an Edmund Husserl vom 5. April. 1929, N l Grimme, N r . 2845. Grimme bezieht sich in den Vorworten zu „Sinn und Widersinn des Christentums" ebenso wie in der Studie „Wesen der Romantik" direkt auf Husserl. Siehe etwa den Brief an Hans Schomerus vom Ende August 1918, in: Sauberzweig (1967), S. 17 ff.

Studium in Göttingen

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mensarbeit tadelte Husserl die Form seines Schülers51. Nicht nur, dass der Kandidat es unterlasse, eine „systematische Charakteristik dieser Erkenntnistheorie vorauszuschicken und sich nur damit begnügt, prinzipielle Grundgebrechen durch Zitate herauszuwählen und zu widerlegen: Er kleidet seine Gedanken in einen feuilletonistisch, ja wissenschaftlich oft burlesken Stil." Andererseits zeuge die Arbeit von einer „gründlichen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Philosophie und so mag sie als genügend beurteilt sein". Husserl befasste sich in Übungen und Vorlesungen mit der Konstitution von Natur und Geist 52 . Er versuchte nachzuweisen, dass Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften Teile derselben Wissenschaft seien. Husserl fand, dass die überkommene Philosophie der Welt keinen guten Dienst erwies. Statt zum Klären der menschlichen Existenz beizutragen, stelle sie alles in Frage. Er trat an, um dem Menschen etwas Verlässliches an die Hand zu geben. Es war der bisher letzte große Versuch, noch einmal alles zusammenzubringen. Die Phänomenologie sollte unter anderem einen Beitrag leisten, moralische Werte zu verfestigen. Husserl ging der Frage nach, ob es „allgemeingültige und unbedingt verpflichtende ethische Vorschriften" gebe. Für den Studenten muss dieser Ansatz eine Offenbarung gewesen sein, bot sie doch allem Anschein nach den Lösungsweg für seine eigenen religiösen Zweifel, die er in „Verstand und Herz auf der Gottsuche" nur vermittels des unbefriedigenden Naturerlebens auflösen konnte. Er bewunderte an der Philosophie, dass sie „der religiösen Sehnsucht nach dem Ewigen und dem Sinn des Lebens die Vernünftigkeit zu schenken gewillt" sei53 und hielt Husserl für den „bedeutendsten Philosophen nach Descartes" 54 . Die Phänomenologie bot eine neue, anziehende philosophische Perspektive. Sie war aber erst im Entstehen begriffen. Schriftliches hatte Husserl noch kaum vorgelegt. Um die weiteren Denkschritte des Philosophen verfolgen zu können, bat er das Königliche Provinzialschulkollegium Hannover, sein Seminarjahr in Göttingen ableisten zu dürfen55. Der Verbleib in

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Gutachten Edmund Husserls aus dem Jahr 1914, N1 Grimme, Nr. 3257. Für das Folgende: Peter Prechtl: Edmund Husserl zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg 1998. Grimme über Husserl, „der Falke", 1. Jahrgang 1917 oder 1918, N1 Grimme, Nr. 3192. Brief an Eugen Fink vom 20. Dezember 1954, N1 Grimme, Nr. 1506. Brief an das PSK-Hannover vom 13. Mai 1914, Göttingen, in: Sauberzweig (1967), S. 15. Eine Direktive aus dem Jahr 1826 verpflichtete einen angehenden preußischen Lehrer zu einem Probejahr an einem Gymnasium oder einer Realschule, bevor er sich um Anstellung an einer höheren Lehranstalt bewerben konnte. Johanna Weiser:

22

Bildungsjahre

Göttingen schien noch aus anderer Hinsicht vorteilhaft. Zum einen lebte er mit seiner Mutter in finanziell angespannten Verhältnissen56. Ferner wollte er eine Dissertation bei Geheimrat Edward Schröder in Angriff nehmen, der in Göttingen Germanistik lehrte. Er war der zweite Gutachter des Examenskandidaten und urteilte sehr viel milder als Husserl. Er hielt die Examensarbeit für eine „feinfühlige und scharfsinnige Analyse, an deren Darstellung nur der zu weitgehende Fremdwörtergebrauch zu rügen" sei57. Das Provinzialschulkollegium kam der Bitte nach, den Lehramtskandidaten an eine Göttinger Schule zu überweisen. An Michaelis 1914 trat er dem pädagogischen Seminar an der Königlichen Kaiser-Wilhelm IL-Oberrealschule bei58. Zu der Dissertation kam es nicht. Im auffälligen Gegensatz zu der Zeit nach 1918 besaß er am Ende seiner Ausbildung keine Bindung an größere Gruppen. Verursacht durch die Umzüge der Familie, entwickelte er nur ein schwaches Heimatgefühl. Er spielte Theater und gründete einen Literaturzirkel, stand der Jugendbewegung nah, ohne einem ihrer Vereine beizutreten. Uberhaupt gehörte er keiner Organisation an. An der Universität hielt er sich von den Korporationen fern, bekämpfte sie sogar. Ein halbjähriger Kuraufenthalt verlangsamte zusätzlich den Anschluss an andere Gruppen. Mit dem Tod des Vaters verschwand eine natürliche Autorität, ohne dass eine andere an ihre Stelle getreten wäre. So führte der Mangel an Identifikationsmöglichkeiten zu einer Leerstelle, in die sein Glaube um so machtvoller eintreten konnte. Ein enges Verhältnis zur Mutter und einige mehr oder weniger tiefe Freundschaften sorgten für Anbindung. In einer Zeit, in der alles nach Gemeinschaft und neuen Lebenswegen suchte, reichten diese Privatheit nicht aus. Es ist nicht recht vorstellbar, dass ihm im wilhelminischen Deutschland eine politische Karriere erwartet hätte. Doch in der Zwischenzeit war Krieg ausgebrochen.

Das Preußische Schulwesen im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Quellenbericht aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Köln usw. 1996, S. 21. 56

Die Pension der Mutter belief sich auf 1528 Mark im Jahr. Adolf Grimme konnte studieren, weil die Universität ihm Kolleghonorare erließ. Studenten mit geringen Mitteln wurden lediglich darauf verpflichtet, den Betrag nachzuzahlen, sobald sich ihre Ertragslage verbesserte. Honorarstundenbuch, N1 Grimme, N r . 3257.

57

Zeugnis von Geheimrat Edward Schröder vom 20. November 1913, N1 Grimme, N r . 3257.

58

Der Michaelistag ist der 29. September und gilt als Sommerende und Ernteabschluss. In der Regel begann das neue Schuljahr an diesem Tag.

Zweites Kapitel Beruf und Politik

1. Lehrer und Soldat Die nationale Begeisterung des Spätsommers 1914 ist oft dargestellt und übertrieben worden1. Ein großer Teil der Bevölkerung lehnte den Krieg ab. Zu ihnen gehörte Grimme, in seinem Beruf betroffen, weil besonders Schüler zu den Waffen liefen. Zwei junge Kollegen hatten ihr Seminarjahr an der Oberrealschule gleichzeitig aufgenommen. Einer von ihnen meldete sich sofort als Krankenpfleger im Felde. Der Direktor und drei Lehrer musterten an. Grimme meldete sich nicht. Er hatte gehofft, aus jungen Menschen Persönlichkeiten zu formen. Stattdessen verlor das Leben an Wert. Die Oberrealschule stellte 49 „wackere Streiter dem Vaterlande zur Verfügung, bereit, ihr höchstes irdisches Gut, ihr Leben, für Kaiser und Reich - für uns alle - dahinzugehen"2. Das Lehrerkollegium schrumpfte in den ersten Kriegsmonaten von 27 auf 17 zusammen. Dies hatte erhebliche Folgen für den Lehrplan. Inhaltlich stellte die Schule den Unterricht auf patriotisches Gedankengut um. In ihren Aufsätzen erörterten die Schüler, „worauf wir Deutschen im Anfang dieses Krieges mit Recht stolz sein" könnten oder „was die Zurückgebliebenen für den Sieg des Vaterlandes tun" müssten. Schüler, die der Prima mindestens im dritten Halbjahr angehörten und freiwillig in das Heer eintraten, konnten sich sofort die Reifeprüfung abnehmen lassen. Der Schulleiter war „ohne weiteres ermächtigt, den Unterricht für den Tag zu schließen, an welchem durch glückliche Kriegsereignisse die patriotische Erregung alles andere" zurückdrängte. Der Unterricht fiel aufgrund des Lehrermangels

1

Nial Ferguson: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999, S. 219; Wolfgang Michalka (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg, München 1994; Winfrid Baumgart: Deutschland im Zeitalter des Imperialismus 1 8 9 0 - 1 9 1 4 , 4. Aufl., Stuttgart usw. 1982; Wolfgang Kruse: Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Entstehungszusammenhänge, Grenzen, ideologische Strukturen, in: Marcel von der Linden (Hrsg.): Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, Berlin 1991.

2

Folgende Zitate aus: Städtische Kaiser Wilhelm II. - Oberrealschule. Bericht über das 25. Jahr ihres Bestehens, Göttingen, Schuljahr 1 9 1 3 - 1 9 1 5 , N1 Grimme, N r . 3166.

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Beruf und Politik

ohnehin häufig aus. Die Lehramtskandidaten füllten die Lücken. Eine solche Vakanz führte am 17. November 1914 zu Grimmes Wechsel an das Königliche Gymnasium zu Göttingen. Das Pädagogische Seminar an der Oberrealschule löste sich auf. Die Verhältnisse dort unterschieden sich nicht von denen an der Oberrealschule, denn „alle Schüler, denen es ihr Lebensalter und ihre Körperbeschaffenheit erlaubten", waren „begeistert zu den Fahnen" geeilt. Noch in den ersten Tagen zogen 56 Schüler ins Feld. Die Oberprima gab es nicht mehr, sie hatte sich geschlossen zum freiwilligen Kriegsdienst gemeldet. Die jungen Gefreiten sammelten sich auf einem Feld in Göttingen. Auch das Direktorium nahm an dem feierlichen Gottesdienst teil. Die Lehrer sahen mit an, wie die ihnen anvertrauten Schüler den Fahneneid leisteten. Das Arndtsche Lied vom Gott, der Eisen wachsen ließ und keine Knechte wollte, klang zu den „waldgekrönten Hügeln empor". Die Jungen hörten die „mahnenden und anfeuernden Worte des Geistlichen". Dann marschierten sie ab. Mit „leuchtenden Augen" und dem Lied von der Wacht am Rhein auf den Lippen. Im November erschien in der Schulzeitung die erste Todesanzeige. Ein ehemaliger Schüler war bei einem „Sturmangriff gegen die Engländer westlich von Paschendaele den Heldentod gestorben". Je länger der Krieg dauerte, desto zahlreicher wurden die Traueranzeigen. Die gefallenen Soldaten schürten den Kriegspatriotismus, die Eltern verbanden sich zu einer Schicksalsgemeinschaft. Mitteilungen über Schreckenserlebnisse wurden nicht zurückgehalten, sondern in die Öffentlichkeit getragen. Die meisten Göttinger Schüler trafen sich in dem neu eingerichteten Regiment der Infanterie 234. Einer der ersten Schüler des Göttinger Gymnasiums, der im „großen Krieg den Heldentod fand" war ein junger Mensch, namens Erich Mirow. Ostern 1914 hatte er die Reifeprüfung bestanden. Am 2. August nahm er am Abschiedsgottesdienst teil. Abends gegen 8.30 rückte das 1. Bataillon, zu dem er gehörte, mit „klingendem Spiel" aus, unter dem Jubel der Bevölkerung. Das einzige Andenken, das später in die Hände seiner Angehörigen kam, war sein Soldbuch. Er war durch Belgien nach Lüttich marschiert. Am 5. August schlug in Comblin aux Ponts gegen sechs oder sieben Uhr Alarm. Gegen Mitternacht begann das Gefecht. Gegen zwei Uhr morgens beim Vorgehen auf einen feindlichen Schützengraben traf ihn die sofort tödliche Kugel über der Stirn. Er wurde mit vielen Kameraden des 82. Regiments im Massengrab am Waldrand von Coucelles beigesetzt.

Leer

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2. Leer Weder an eine Dissertation noch an ein tieferes Eindringen der phänomenologischen Philosophie war angesichts dieser Verhältnisse zu denken. Im Mai 1914 hatte Grimme beabsichtigt, sich als Turnlehrer ausbilden zu lassen3. Nun konnte er froh sein, wenn die entscheidenden Stellen in diesem Bestreben nicht eine Kriegsqualifikation sahen. Der Bescheid, sich am 23. Februar 1915 in Leer einzufinden, kam ihm sicher gelegen. Sein „Probejahr" sollte beginnen. Immerhin konnte er sich diesen Auftrag dahin zurechtlegen, fürs Erste zurückgestellt zu sein4. Für wenige Monate hielt diese Aussicht. Am 11. Juli 1915 traf das Telegramm des Deutschen Reiches ein, dessen Inhalt ihn verpflichtete, sich am 14. Juli 1915 nachmittags um drei Uhr in Aurich zu stellen5. Am 16. Juli berief das Heer des Deutschen Reiches ihn als Musketier zur 3. Kompagnie, II. Ersatzbataillon, I. Unterabteilung des Infanterie Regiments 1326. Es ging nach Straßburg. Die Aussichten ließen ihn verzweifeln. Er kritzelte in seinen Taschenkalender: „Schule ο Zukunft, nicht diese Antwort. Liebe nicht tötende" 7 und brach erneut zusammen. Bis zum Ende des Jahres musste er in einem Straßburger Lazarett liegen, am 12. November wurde er schließlich für untauglich erklärt. Dem Krieg war er entgangen. Und mehr noch: In dem Lazarett pflegte ihn die Tochter einer örtlichen Bürgerfamilie. Maria Brachvogel, geboren am 24. Mai 1890 im elsässischen Zabern, Tochter des späteren Oberlandesgerichtsrats Otto Brachvogel, arbeitete als Zeichenlehrerin an höheren Schulen in Straßburg und Mühlhausen. Kurz vor Ausbruch des Krieges hospitierte sie in Paris im Atelier des Post-Impressionisten Edouard Vuillard. Grimme und Brachvogel verliebten sich ineinander und heirateten. Im Februar 1916 kehrte er nach Leer zurück. Das Kriegserlebnis, das seine Generation über die verschiedenen politischen Lager verband, fehlte ihm. Dieser Umstand entfremdete ihn von Teilen der Kollegen und Schülerschaft und drängte ihn in eine vielleicht nicht gleich spürbare Außenseiterrolle. Er trat in ein Lehrerkollegium ein, dessen

3

Brief an das PSK Hannover vom 13. Mai 1914, Göttingen, in: Sauberzweig (1967), S. 15.

4

Bei Sauberzweig (1967) heißt es in Anm. 2 zu Brief N r . 4, Grimme sei im Januar 1916 für das „Probejahr" an das Realgymnasium nach Leer versetzt worden. In Anm. 1 zu demselben Brief steht, er habe bis Juli 1915 als Referendar in Göttingen gearbeitet. Die hier genannten Daten entstammen seiner Personalakte im Bundesarchiv. Durch den Militärdienst und die Krankheit könnten sich die Daten in Sauberzweigs Sinne verschoben haben.

5

Telegramm in: N1 Grimme, N r . 3261.

6

Einberufungsbefehl in: N1 Grimme, N r . 3261.

7

Eintrag unter 1 9 - 2 4 . Juli 1915, N1 Grimme, N r . 3115.

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Beruf und Politik

Mitglieder größtenteils vom alten Schlage waren. Auf tadellosen Anzug mit Krawatte, Kragen und Hut legten sie Wert. Grimmes hutloses Erscheinen nahmen die Leeraner deshalb als kleine, etwas ärgerliche Sensation wahr8. Auch in dieser Schule pflegten die Schüler ihre Lehrer eher für Gegner zu halten, dessen „Wohlwollen oder auch nur gute Noten" sie brauchten9. Grimme hatte vom ersten Augenblick den Eindruck, die Schüler in der Hand zu haben10. Er lehrte nach seinem pädagogischem Vorbild Sokrates. Die Fragen sollten die Neugierde der Schüler wecken, die Schüler zu eigenem „Denken und schnellem Schalten" zwingen11. Er wollte es dahin bringen, dass die Schüler belehrt sein wollten. Der Erfolg war durchschlagend. Seine Stunden waren so interessant, dass selbst Schüler, welche die Schule bereits verlassen hatten, noch in ihrer freien Mittagszeit wiederkamen, um seinen Vortrag zu hören 12 . Besonderes Interesse erregten seine Religionsstunden. Seine Art, die Bergpredigt auszulegen, fand ein breites Echo unter den Jugendlichen. Selbst katholische und jüdische Schüler baten angeblich „spontan um Erlaubnis", an den Religionsstunden teilnehmen zu dürfen13. Nach dem Vorbild seines eigenen Lehrers Rauterberg konnten seine Schülern ihn auch in der Freizeit um Rat bitten 14 . Obwohl er tatsächlich zu einigen Schülern lebenslangen Kontakt hielt15, täuschte er keine kameradschaftliche Gleichberechtigung vor. Er besaß Autorität und nutzte sie. Auf Disziplinarstrafen konnte er weitestgehend verzichten. Ebenso zeigte er sich gegen mangelnde Leistungen unnachsichtig16. Er schrieb seitenlange, anfeuernde Briefe 17 . Wenn sein Anstoß erfolglos blieb, reagierte er ungehalten18. Der Krieg schob neue Fragen in die Öffentlichkeit. Verhindern konnte er nicht, dass Schüler eingezogen wurden. Es blieb nur, ihnen Mut zusprechen. Ohnehin fiel nun in seinen Aufgabenbereich, den Krieg zu rechtfertigen. Alles andere wäre Hochverrat gewesen. Seine Argumente waren 8

Josefine Grimme in einem Manuskript für den W D R , das anlässlich einer Sendung zu Grimmes 80. Geburtstag angefertigt wurde, N l Grimme, N r . 3146.

9 10

Brief eines ehemaligen Schülers, N l Grimme, N r . 329. Brief an O t t o Miller vom 28. Februar 1916, Leer, in: Sauberzweig (1967). S. 15.

"

Ehemaliger Schüler zum 65. Geburtstag Adolf Grimmes, N l Grimme, N r . 329.

12

Brief eines ehemaligen Schülers, N l Grimme, N r . 329.

13

WDR-Manuskript, N l Grimme, N r . 3146.

14

Brief eines ehemaligen Schülers, N l Grimme, N r . 926.

15

Im Findbuch des Nachlasses besteht eine eigene Rubrik unter „Schriftwechsel mit ehemaligen Schülern", siehe ζ. B. Briefwechsel mit Schomerus, N l Grimme, N r . 2787, oder Brief an Günther Wolff vom 10. August 1959, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 256 f.

16

Brief eines ehemaligen Schülers an Grimme, ohne Datum, N l Grimme, N r . 329.

17

Brief an Hans Schomerus von Ende August 1918, in: Sauberzweig (1967), S. 17.

18

Ehemalige Schüler zum 65. Geburtstag, N l Grimme, Nr. 329.

Leer

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kennzeichnend. Allein ein sittlicher Kriegszweck entschuldige den Einsatz von Leben. Ein solcher Zweck könne sein, dass ein Staat der Menschheit ein besonderes Gut zu geben habe. Die eigentliche Aufgabe sei der Sieg und die Macht der „Idee von Gerechtigkeit und Wahrheit". Nackte wirtschaftliche Interessen müssten unterliegen. Ein Narr sei derjenige, der sich für einen bloßen Landgewinn totschießen lasse. Siegen müsse die „preußische Idee", jedem das seine zu geben. Dies bedeutete „uns selbst das Unsrige", aber auch dem Dänen, dem Elsässer, dem Belgier das seine19. Auf den Schlachtfeldern konnten solche Begründungen kaum bestehen. Bei seinen Schülern stieß er gleichwohl mit seinen Reden auf fruchtbaren Boden und der Erfolg bei seinen Schülern mag ihn ermutigt haben, ab 1916 einer breiteren Öffentlichkeit vorzutragen. Er habe, erinnerte er später, die Reden mit Blick auf die „geistigen Nöte" der Zeitgenossen gehalten20. Weithin üblich war, dass Studienräte mit wissenschaftlichen Referaten vor ein nicht schulisches Publikum traten. Der preußische Staat hatte wissenschaftliches Arbeiten seiner Lehrer begünstigt, indem er die Pflichtstundenzahl herabsetzte, sie für Mitarbeit an Forschungsvorhaben renommierter Organisationen freistellte und nicht zuletzt selbstständige Veröffentlichungen aus eigens gebildeten staatlichen Fonds unterstützte. Die Oberschullehrer nutzten die Angebote mit wichtigen Beiträgen meist zur Heimatkunde. Das gesellschaftliche Ansehen der Lehrer stieg und das Kultusministerium belohnte besonders befähigte Lehrer mit einer Universitätsprofessur 21 . Der Anlass der Auftritte war besonderer Natur. Die Welt befand sich im Krieg, Grimme lehrte in der Heimat. Die Vorträge lassen erahnen, wie sehr der Verdacht der nationalen Unzuverlässigkeit auf ihm lastete, dem er durch den fehlenden Kriegseinsatz ausgesetzt war. Gleichzeitig veranschaulichen sie, zu welchem intellektuellen Aufwand er bereit war, um bei aller Kriegsrechtfertigung sein christliches Weltbild nicht aufgeben zu müssen. Doch gingen die geäußerten Gedanken nicht auf ihn selbst zurück. Aus der öffentlichen Propaganda sammelte er sich jene Teile zusammen, die seinem Bedürfnis entsprachen, die Weltsituation sittlich zu begründen und sich selbst hinter den Argumenten zu verstecken. Selten hat ein Philosoph die politischen Programme einer Zeit so beeinflusst, wie Johann Gottlieb Fichte zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts. Die völkische Studentenbewegung ist ohne seinen Einfluss nicht zu denken, das Interesse an ihm erstreckte sich jedoch über weite Kreise bis

19 20

21

Brief an die Schüler, N1 Grimme, Nr. 3198. Brief an Peter Zylmann vom 23. August 1959, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 257. Weiser, Schulwesen (wie Kap. 1, Anm. 55), S. 23.

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Beruf und Politik

hin zur sozialdemokratischen Jugendbewegung 22 . In diesem Zeitstrom befand sich der junge Lehrer. Ein Fichte-Vortrag, den er im November 1916 in Leer hielt, verschaffte ihm sofort lokale Bekanntheit 23 . Es bleibt bemerkenswert, dass ein breites Publikum solchen Vorträgen Gehör schenkte und den Redner feierte. Der Zusammenhang zwischen idealistischer Philosophie und den Grausamkeiten des Ersten Weltkrieges leuchtete zwar kaum ein. Die Bereitschaft in der Bevölkerung war aber hoch genug, sich durch Bezüge zu den Napoleonischen Kriegen darüber hinwegtäuschen zu lassen. Die Arbeit am Werk Fichtes hinterließ deutliche Spuren. Bei ihm fand er die Idee, die Welt sei nur ein Material zur Pflichterfüllung und Arbeit sei Gottesdienst. Das „Weltreich des Geistes" müsse vor allem gegen den Widerstand Englands durchgesetzt werden. England gehöre nämlich zu den Nationen, die Kriege allein aus Machtstreben führten. Die Deutschen seien zum Erschaffen dieses Weltreiches noch vor anderen Völkern berufen. Applaus brandete auf, als er mit den Worten schloss: „Wir wollen den Sieg der wertvollen Idee, sagen wir mit Fichte. Die Idee braucht den Deutschen, sie braucht seine Macht. Macht ist aber nichts Festes, sie entwickelt sich, und darum sind Kriege notwendig. Eine friedliche Entwicklung ist aber ein Unding, wo die Macht des einen mit der eines anderen Staates zusammengerät"24. Dies zu sagen, war er nicht verpflichtet. Gewiss musste der Redner Zugeständnisse an die Zeit machen. Denkbar wäre auch, dass er die nationale Farbe seines Vortrages benutzte, um den Zuhörern die eigentliche Botschaft einzugeben: nämlich die von der Notwendigkeit eines religiösen Aufbruchs. Das damalige Publikum verlangte, so meinte er, „nationale Zuverlässigkeit" 25 . Doch ist kaum anzunehmen, dass die nationalen Töne ihm als rhetorisches Mittel dienten. Den Glauben an Deutschland als die herausragende Kulturnation teilte er mit vielen. Dass daraus die Frage erwuchs, welche Rolle dieser Nation in der Welt zukäme, liegt auf der Hand. Wenn er jedoch annahm, Deutschland werde im Falle eines Sieges ein „Reich des Geistes" errichten, versperrte ihm sein Weltbild den Blick für die Wirklichkeit. Möglicherweise hätte ein anderes politisches Umfeld sein 22

23

24 25

Ulrich Herbert: Best. Biografische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft; 1903-1989, Bonn 1996, S. 53 ff. (weiterhin zit.: Herbert, Best). Gedruckt unter dem Titel: Gedanken vom Beruf des Deutschen in der Welt und vom Sinn des Krieges. Ein Fichte-Vortrag zugunsten der Kriegswohlfahrtspflege am 15. November 1916 zu Leer, Leer 1916. Zu Teilen abgedruckt in: „Allgemeiner Anzeiger für Ostfriesland" vom 17. November 1916, N1 Grimme, Nr. 700. „Allgemeiner Anzeiger für Ostfriesland" vom 17. November 1916. Brief an Ludwig Luckemeyer vom 14. Dezember 1961, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 268 ff. (weiterhin zit.: Brief an Luckemeyer).

Der Politiker

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Denken damals berichtigt. Ein Blick auf die Schlachtfelder hätte es gewiss getan.

3. Der Politiker Seine politische Laufbahn nahm ihren Ausgang in einem überfüllten Saal, der gewöhnlich für Tanz- oder Festveranstaltungen genutzt wurde 26 . Der Kalender zeigte den 17. November 1918. Am 4. November hatten Matrosen in Kiel den nationalen Aufstand ausgelöst, der in wenigen Tagen zur Flucht des Kaisers nach Holland und zur Übergabe der Regierungsgeschäfte durch den Reichskanzler Max von Baden an den SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert geführt hatte. Der Krieg war verloren, die militärische Lage ausweglos. Auch die Landesparlamente funktionierten nur noch eingeschränkt. Sie befanden sich in Konkurrenz zu den spontan entstandenen Arbeiter- und Soldatenräten 27 . Das Entstehen der Räte erinnerte an die Verhältnisse der russischen Oktoberrevolution. Der Erfolg der russischen Revolutionäre wirkte auf Teile der deutschen Arbeiterschaft ermutigend auf den weit größeren Teil der deutschen Bevölkerung beängstigend 28 . Selbst die Arbeiterschaft spaltete sich in solche, die eine vergleichbare Revolution auch auf deutschem Boden durchführen wollten und in andere, die sie in Deutschland für undurchführbar hielten. Der bürgerliche Teil der Bevölkerung und das Militär fürchtete nichts mehr als eine Revolution nach russischem Vorbild. Zudem drohte das Reich an den Rändern auseinanderzufallen und in Anarchie zu versinken 29 . Im Angesicht dieser Umstände hatte der Erste Generalquartiermeister der obersten Heeresleitung,

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Brief an Peter Zylmann vom 23. August 1959, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 257. Diese Räte sind nicht nach dem Vorbild der russischen Revolutionsräte gebildet worden. Vielmehr dienten umgekehrt diese Arbeiterräte, die sich während des Krieges vereinzelt in deutschen Betrieben gebildet hatten, den russischen Revolutionären als Muster. Die russischen Verhältnisse wirkten dann wiederum auf die deutsche Arbeiterschaft zurück. Walter Tormin: Zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie, Düsseldorf 1954. Helmut Neubauer (Hrsg.): Deutschland und die russische Revolution, Stuttgart usw. 1968. Zum Einfluss der Oktoberrevolution auf das Denken des westeuropäischen Bürgertums siehe ζ. B.: Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998, S. 78 ff. Zu den Unruhen in den östlichen Provinzen Preußens: Gerd Heinrich: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, 2. Aufl., Frankfurt a. M. usw. 1984, S. 459 ff. (weiterhin zit.: Heinrich, Preußen).

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Beruf und Politik

General Wilhelm Groener30, gedrängt, Ebert mit den Regierungsgeschäften zu betrauen. Ebert war das vermeintlich kleinere Übel im Vergleich mit einem Umsturz von links oder einem Chaos31. Ebert wiederum musste vor allem eines vermeiden: Bürgerkrieg. Eine Zusammenarbeit zwischen den zwei innenpolitischen Großmächten, der Sozialdemokratie und dem Militär, verkleinerte dieses Risiko erheblich. Dass nun die Stunde der Sozialisten gekommen sei, bezweifelte niemand32. Infolgedessen galt es für die bürgerlichen Parteien, einen Einfluss auf die sozialistischen Parteien und deren Anhänger zu suchen. Dazu gehörte in jenen Tagen der Einfluss auf die zumeist von Sozialdemokraten geführten Arbeiter- und Soldatenräte. In diesen Novembertagen des Jahres 1918 wählten die Einwohner in Leer vier Vertreter für den örtlichen Arbeiter- und Soldatenrat. Ferner war ein großer Ausschuss zur Vorbereitung der Nationalversammlung zu schaffen. Unter den vier Kandidaten befand sich Studienassessor Grimme. Die ersten drei Kandidaten wurden ohne Widerspruch gewählt. Als vierter Abgeordneter schien sich nicht er, sondern ein Volksschullehrer durchzusetzen33. Vorbehalte gegen einen Akademiker wurden geltend gemacht. Hier brach sein Rednertalent vollends durch. Kein gebildetes Publikum stand vor ihm, sondern eine von den revolutionären Ereignissen infizierte Menge. Die Art der Zuhörerschaft beeinträchtigte seine Überzeugungskraft wenig. Die Rede überzeugte, die Wahl wurde gewonnen. Für einen Volksgenossen hielt er sich freilich nicht. Er meinte, in dieser „turbulenten Zeit als sogenannter Gebildeter" politisch nicht alles der „Straße" überlassen zu dürfen34. Wie die Mehrheit der Bevölkerung beabsichtigte er, die revolutionäre Energie einzudämmen. Von konservativen Kreisen unterschied ihn der Ansatz, Bevölkerung und Beamtenschaft am politischen Geschehen zu beteiligen35. Große Teile der Eliten des Kaiserreiches sahen in Parteinahme und im Parteidenken einen spalterischen

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Wilhelm Groener (1887-1939), 1916 Chef des Kriegsamtes, 1918-1919 Erster Generalquartiermeister, 1920-23 Reichsverkehrs-, 1928-32 Reichswehr- und seit 1931 auch Reichsinnenminister. Horst Möller: Weimar. Die unvollendete Demokratie, 5. Aufl., München 1995 (weiterhin zit.: Möller, Weimar). Aussage von Hjalmar Schacht in: Ludwig Luckemeyer: Die D D P von der Revolution bis zur Nationalversammlung 1918-1919, Kassel 1975, S. 38 (weiterhin zit.: Luckemeyer, DDP). Für das Folgende: „Allgemeiner Anzeiger für Ostfriesland" vom 18. November 1918 und „Leerer Anzeigenblatt" vom 18. November 1918, N1 Grimme, Nr. 700. Brief an O t t o Hegenscheidt vom 1. Mai 1958, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 235. Brief an Peter Zylmann vom 23. August 1959, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 257.

Der Politiker

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Vorgang, in dem der Zerfall des deutschen Volkes angelegt wäre. Die „sogenannten gebildeten Schichten", so erinnerte sich später der damalige Reichsminister für den Wiederaufbau, Otto Gessler, „hielten sich zu gut für politische Tätigkeit" 36 . Nach gängiger Ansicht musste der Staat funktionieren, wofür spezialisierte Regierungsbeamte Sorge trugen. Nicht Junker, Industrielle oder bestimmte Klassen regierten das Kaiserreich. Es regierten die Beamten37. Politische Beamte im eigentlichen Sinne hatte es im Kaiserreich nicht gegeben. Wer einen neuen Staat wollte, musste dies grundsätzlich ändern und den Beamtenapparat in die Hand bekommen. Um der Amtsführung eine Richtung zu geben, mussten Parteien Einfluss auf die Behörden erlangen. Das bedeutete, an die entscheidenden Stellen würden Beamte der eigenen Farbe treten müssen. Alles kam darauf an, zügig ein Reservoir von Fachleuten und Mitstreitern aufzubauen. Die Sozialdemokraten erschienen zunächst im Vergleich zu anderen beweglicher. Es herrschte der Eindruck vor, dass es den Konservativen an Führerpersönlichkeiten mangele, um bürgerliche Interessen gegen die sozialistischen Parteien zu vertreten. Das führte zu Regsamkeit gegen die sozialistische Ubermacht. In dieser Situation gründeten einige Berliner Männer am 20. November 1918 die Deutsche Demokratische Partei. Einer von ihnen war der spätere Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht. Aus Furcht vor einer Revolution nach russischem Vorbild wollte er unbedingt eine Mehrheit der beiden sozialistischen Regierungen in der Nationalversammlung verhindern und Ebert in seinem eingeschlagenen Weg zur parlamentarischen Demokratie bestärken38. Um dieses Ziel zu erreichen, mussten die radikalen Kräfte des linken Bürgertums, so glaubte er, eine Alternative zur SPD anbieten, um die linken Kräfte mit traditionelleren Gruppen des bestehenden Staates zu verbinden. Die neue Partei sollte eine radikale, demokratische, aber nicht sozialistische Linkspartei sein. Beabsichtigt war, dem Bürger einen letzten Notanker vor einer sozialistischen Revolution anzubieten. Um eine Alternative zur SPD zu sein, musste die Partei „nach außen hin einen radikalen, linken Habitus haben" 39 . Bei der Gründung der DDP wirkten viele Persönlichkeiten mit, die bis dahin politisch nicht aktiv waren und sich auch zu keinem späteren Zeitpunkt politisch betätigten. Der Verleger Rudolf Mosse gehörte dazu, des-

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Kurt Sendtner (Hrsg.): Otto Gessler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, Stuttgart 1958. Hier zitiert nach Luckemeyer, DDP (wie Anm. 32), S. 19. Georg W. F. Hallgarten: Als die Schatten fielen, Berlin usw. 1969, S. 176. Hier zitiert nach Luckemeyer, DDP (wie Anm. 32), S. 15. Luckemeyer, DDP (wie Anm. 32), S. 23f. Hjalmar Schacht, zitiert nach Luckemeyer, DDP, S. 59.

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Beruf und Politik

sen Neffe Theodor Wolff und der politische Redakteur der „Frankfurter Zeitung", Max Wiessner. Das Zusammenströmen einflussreicher Persönlichkeiten aus der Finanz- und Wirtschaftswelt zeugte von der tief sitzenden Angst vor einem sozialistischen Umbruch. Von der Revolution aufgerüttelt zeigten sich auch Professoren wie Albert Einstein und Hugo Preuß, Ernst Francke, Alfred und Max Weber. All diese Namen standen in den vom Berliner Tageblatt in den folgenden Tagen veröffentlichten Listen. Nun war der Vertrieb von Zeitungen in den Tagen und Wochen der revolutionären Unruhen außerordentlich schwierig. Genaue Informationen über die DDP verbreiteten sich nur spärlich und unzusammenhängend. Dabei vollzog sich die Konstitution der DDP gleichzeitig mit den Vorbereitungen auf die Wahlen zur Nationalversammlung, die im Januar des Jahres 1919 stattfinden sollten. Die DDP befand sich in der schwierigen Lage, zugleich ein Wahlprogramm und ein Parteiprogramm erstellen zu müssen. Bis in den Januar hinein bestand noch keine Klarheit darüber, welche Richtung sich innerhalb der Partei durchsetzen und für welche Inhalte sie stehen würde. Von seinem Wohnort Leer aus meinte der junge Lehrer, in der DDP eine „Partei der Überparteilichkeit" entstehen zu sehen40. Er ging soweit, eine „Partei der Parteilosen" zu erwarten 41 . Mit neuen Männern sollte ein großer gesellschaftlicher Entwurf von ihr ausgehen. Von diesem Entwurf erhoffte er zumindest, über die „bloße Stimmzettelentscheidung" hinauszugehen. Der Wille der Mehrheit dürfe nicht als heilig angesehen werden. Ihm müsse ein Damm vorgebaut werden 42 . Er wandte sich gegen einen „mechanischen Demokratismus". Stattdessen wollte er eine Form von „liberaler Sozialaristokratie" herbeiführen 43 . Im November 1918 glaubte er noch daran, diese Position würde verwirklicht. Dass er mit seinem Hoffen nicht allein stand, zeigte der Besucherstrom zu einer Veranstaltung am 29. November 1918, als in Leer eine Ortsgruppe der DDP gegründet und gleichzeitig ein Vorsitzender gewählt wurde. Ein örtlicher Senator eröffnete die Diskussion, legte dann aber den Vorsitz des Abends nieder. Er glaubte, als bisheriger „Parteimann" diesen nicht weiter führen zu dürfen und trage ihn deshalb einem neutralen Leiter an: Studienrat Grimme 44 . Der neue Vorsitzende erteilte das Wort dem bisherigen Reichstagsabgeordneten Jan Fegter, mit dem sich das Scheitern des

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" 44

„Leerer Anzeigenblatt" vom 6. September 1919, N1 Grimme, Nr. 1919. Brief an Theodor Brodthage vom 25. Mai 1919, Leer, in: Sauberzweig (1967), S. 21. Brief an Albrech Büttner vom 17. Mai 1920, Leer, in: Sauberzweig (1967), S. 22. Brief an Hermann Schuster vom 20. Juli 1920, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 23. „Leerer Anzeigenblatt" vom 30. November 1918, Nl Grimme, Nr. 700.

Der Politiker

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DDP-Gedankens sofort abzeichnete. Jedenfalls das Scheitern all dessen, was Grimme im Stillen von der Partei erwartet hatte. Fegter war ein betagter Mann. Er neigte der Sozialdemokratie zu, hatte im Reichstag aber für die Liberalen gesprochen. Nun wollte er für die neue Partei als Ortsvorsitzender kandidieren. Vielleicht hatten ihn Freunde seiner Verdienste halber auf die Kandidatenliste gesetzt. Dieselben Freunde hofften indes, er würde von sich aus auf die Kandidatur verzichten. Jedenfalls setzten sie den Hinweis auf die Liste: „Im Falle dessen Ablehnung: Herrn Studien-Assessor Grimme" 45 . Fegter zog sich nicht zurück. Die demokratische Partei wolle „Bürger, Bauern, Beamte und überhaupt alle die umfassen, welche nicht zur Sozialdemokratie" gehörten46. Er strebte keine Uberparteilichkeit an, sondern dachte an eine Zweiparteienkoalition mit den Sozialdemokraten. Grimme vermittelte, wie eine Tageszeitung meldete, bei seiner Rede den Eindruck eines „Philosophen, dem der Glaube an eine Besserung der Welt noch nicht ganz verloren gegangen" war, was seinen Charakter tatsächlich gut beschrieb. Spontan einigten sich die Anwesenden auf ihn als Vorsitzenden. Unter dem Vorbehalt, die neue Partei möge einhalten, wozu sie erschaffen, nahm er die Wahl an47. Auch Fegter trat der DDP bei, womit der folgende innerparteiliche Zweikampf unvermeidlich wurde. Grimme forderte nämlich von der DDP, dass sie etwas „radikal Neues für das politische Leben" anbahne48. Er gab Fegter zu verstehen, er könne in ihm keinen Führer für das Neue erblicken und beklagte sich am 3. Januar beim Parteivorstand darüber, dass Fegter, anstatt seiner selbst, die dritte Listenstelle besetzte. Fegter seinerseits hatte erklärt, er würde eine Liste, auf der Grimmes Name stehe, mit allen Mitteln bekämpfen. Als Grund gab er an, jener sei Antisemit und außerdem Mitglied der Vaterlandspartei gewesen. Das Gerücht, Grimme sei Mitglied der „Vaterländischen" hatte ein Unbekannter in die Öffentlichkeit getragen. Fegter nahm es auf und kritisierte an seinem Gegenkandidaten außerdem dessen Position zur Friedensfrage 1917. Im „Leerer Anzeigenblatt" hatte jener im September 1917 gegen die Friedensresolution angeschrieben, die durch Mehrheitsentschluss im Reichstag zustande gekommen war. Fegter meinte, aus dieser Position eine Nähe zur vaterländischen Partei herauszulesen49. Um die Vorwürfe zu widerlegen, war keine Zeit mehr. Die Kandi45

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Offener Brief eines Beamten an die DDP, in: „Leerer Anzeigenblatt" vom 18. November 1918, N1 Grimme, Nr. 700. Folgende Zitate aus: „Leerer Anzeigenblatt" vom 30. November 1918, N1 Grimme, Nr. 700. Brief an Ludwig Luckemeyer (wie Anm. 25). Brief an Zopf, ohne Datum, Nl Grimme, Nr. 3299. Jan Fegter an Grimme am 11. Februar 1919, Leer, Nl Grimme, Nr. 3299.

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datenliste hätte bereits abgegeben werden müssen. Grimme verzichtete im „Interesse des Ganzen sofort" auf seine Kandidatur. Das Band zwischen ihm und Fegter war zerschnitten50. Dass seine Parteiführung statt eines jungen reformwilligen Mannes einen altgedienten und altbekannten Liberalen abordnete, enttäuschte ihn. Schließlich hatte Theodor Wolff gefordert, die D D P solle sich nicht mit „alten Männern" belasten51. Fegter könnte sich seinerseits mit ebenso großem Recht auf eine andere Absprache unter den Parteigründern bezogen haben, nach der Männer, die bis 1918 die Ziele der Vaterlandspartei vertreten hatten, zumindest nicht mehr in vorderster Reihe stehen sollten52. Entmutigen ließ Grimme sich nicht, sondern schaltete sich als Redner für die D D P in den Wahlkampf ein und kämpfte um den Wahlkreis AurichOsnabrück-Oldenburg 53 . Er schlug versöhnliche Töne an54, warb für eine erneuerte Gesellschaft und sprach vom Versagen der Diplomatie und vom Vertrauen des Volkes. Am 17. Mai 1919 nahm er an einer Protestversammlung gegen den „Schmachfrieden" teil. Das Friedensabkommen von Versailles empörte ihn zutiefst. Noch im September des Jahres meinte er, ein Mann wie Erzberger dürfe nicht still geduldet werden, denn er sei ein Mann, der „Schmutz auf sich sitzen" lasse. Wenn solche Männer toleriert würden, könnten die fremden Völker „unseren Willen zur moralischen Reinheit in der Politik" nicht ernst nehmen55. Der „Germane" liebe es nicht, viele Worte zu machen, was in diesem Fall auch nicht nötig sei. Der „Schmachfrieden" müsse einfach verachtet werden. Die Kriegsmächte hätten gar nicht darauf gezielt, Deutschland zu schwächen oder „zeitweise kalt zu stellen, die Feinde wollten uns vernichten, sie wollten nicht unser Land, unsere Bodenschätze, sondern unseren Tod". „England steht als Weltenbeherrscher da, nachdem das edelste Stück Wild beseitigt sei: Deutschland" 56 ! Der Beobachter des „Allgemeinen Anzeiger für Ostfriesland" berichtete über die Rede in einer etwas anderen Farbe. Sie war gemäßigter als es diese Zitate glauben ließen. Doch ist bemerkenswert, dass der Anzeiger ihn als

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Briefwechsel zwischen Fegter und Grimme in: N1 Grimme, Nr. 3299. Zitiert nach Robert Hofmann: Geschichte der deutschen Parteien. Von der Kaiserzeit bis zur Gegenwart, München 1993, S. 125 (weiterhin zit.: Hofmann, Geschichte). Wolff formulierte diesen Satz am 16. November 1918 mit dem Gründungsaufruf zur DDP im Berliner Tageblatt an Stresemann gerichtet, den er für diskreditiert hielt, weil jener für umfangreiche Annexionen eingetreten war. Luckemeyer, DDP (wie Anm. 32), S. 25. Brief an Ludwig Luckemeyer (wie Anm. 25) Redemanuskript für den 7. Januar 1919 in: N1 Grimme, Nr. 700. „Leerer Anzeigenblatt" vom 6. September 1919, N1 Grimme, Nr. 1919. „Leerer Anzeigenblatt" vom 19. Mai 1919, N1 Grimme, Nr. 700.

D e r Politiker

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Politiker mit patriotisch-nationalem Pathos portraitierte. Zwar gab es wohl niemanden in der deutschen Politik, der den Friedensvertrag von Versailles nicht bestürzt und verzweifelt zur Kenntnis genommen hätte. Aber unterdessen lief das Gerücht um, er sei Mitglied der Vaterlandspartei gewesen. Aus dieser Kombination folgt doch eines: Für einen Politiker der Linken hielt ihn offenbar niemand. Als er 1921 aus Hannover für eine Rede nach Leer zurückkam, kündigte das Anzeigenblatt ihn mit den Worten an: „Die Aussicht, den von glühender Volks- und Vaterlandsliebe beseelten Idealisten einmal wieder zu sehen und reden zu hören wird in allen Kreisen und Schichten lebhafte Freude erwecken" 57 . Er entsprach dieser Anzeige durch eine Rede mit nationalem Ton. Das Bürgertum wurde aufgefordert, „aus seinem Schlaf zu erwachen" und endlich den Sozialismus zu bringen (wenn auch „nicht den russischen, der die Persönlichkeit durchstreiche"). Wenn dies geschehe, dann werde die Liebe zu Volk und Heimat wieder erstarken dann werde man in dem Gedanken an die Heimat, an das Kindes- und Vaterland wieder singen können: „Deutschland, Deutschland über alles". Es folgte tosender Beifall. Auf seinen Wink sang die große Festgemeinde stehend alle Strophen des Deutschlandliedes. Selbst wenn er 1921 den Sozialismus für Deutschland forderte, darf niemand in die Irre gehen. Mit dem Ende des Kaiserreiches stieg der Begriff Sozialismus zu einem modischen Schlagwort auf. Keineswegs lag im Verwenden dieses Begriffes ein Bekenntnis zur Sozialdemokratie. Es herrschte unter den Zeitgenossen keine Klarheit darüber, was der Begriff Sozialismus bezeichnete. Völlig zutreffend wurde deshalb geraten, besser von Sozialismen als von Sozialismus zu sprechen 58 . Schon vor der Jahrhundertwende hatten sich verschiedene Weltheilslehren außerhalb der Sozialdemokratie verbreitet, die ganz selbstverständlich mit dem Begriff Sozialismus operierten59. Der Begriff „Nationalsozialismus" erübrigt jeden 57

Die folgenden Zitate aus: „Leerer Anzeigenblatt" v o m 19. Januar 1921, N1 Grimme, N r . 700.

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Franz Focke: Sozialismus aus christlicher Verantwortung. Die Idee eines christlichen Sozialismus in der katholischen Bewegung und in der C D U , Wuppertal 1978, S. 85 ff. (weiterhin zit.: Focke, Sozialismus). „Sozialismus" konnte einen gesellschaftlichen Wandel oder eine Gesinnung mit bestimmten Verhaltensweisen bezeichnen. Ferner konnte ein gesellschaftliches Ordnungsprinzip gemeint sein, das nicht auf einen Wandel der Verhaltens- und Denkformen abzielte. „Sozialisierung" bezeichnete alles, was nicht direkt privat-kapitalistischen Interessen diente. Siehe hierzu Christoph Werth: Sozialismus und Nation. Die deutsche Ideologiediskussion zwischen 1918 und 1945, Opladen 1996.

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Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Weltverbesserungslehren bestanden in einem seit etwa 1900 „popularisiertem Irrationalismus", einer mehr oder weniger diffusen Idee von „Ganzheit", dem Glauben vom „Ausgeliefertsein an Schicksal und N a t u r " , ein Zeitenwendebewusstsein, Elemente der marxistischen Gesellschaftsana-

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weiteren Nachweis dafür, dass ein Sozialist seiner politischen Natur nach nicht links sitzen musste. Am Ende seines Lebens behauptete er zwar, seit seinem „eigenen politischen Erwachen immer links gelegen" zu haben60. Welchen Begriff er aber von diesem „links liegen" 1919 besaß, bleibt ungewiss. Mit dem wirtschaftlichen Programm der SPD stimmte er bis zu einem gewissen Grad überein. Er meinte auch zu erkennen, dass die Mehrheit des Volkes zwar das Erfurter Programm ablehnte - allerdings nicht etwa wegen des wirtschaftlichen als vielmehr wegen des kulturellen Teils. Er folgte wahrscheinlich vor allem dem Namen Friedrich Naumann 61 , von dem sich die Vorstellung von der DDP als „Partei der Parteilosen" ableiten ließe. Dabei gehörte Naumann eigentlich nicht zum engsten Zirkel der DDP-Gründer 62 . Nach dem Ende seines Nationalsozialen Vereins konnte er sich 1918 vernünftigerweise nur zwischen einem Eintritt zur DDP oder einem Ubertritt zur SPD entscheiden. Er ließ über einen Vertrauensmann verdeckt ermitteln, wie sich die Sozialdemokraten zu einem Beitritt der ehemaligen Nationalsozialen verhalten würden. Er fürchtete, dass seine Nationalsozialen innerhalb der SPD nur eine sektiererische Gruppe bilden würden. Der Beitritt zur DDP versprach ein größeres Gewicht für die Positionen seiner Anhänger. Sich auf ihn zu berufen, spräche für den Wunsch nach einer Partei, die der Sozialdemokratie nahestand die sich aber weniger als diese durch Klassencharakter bestimmte. Dass die „marxistische Klassenpartei" SPD sich durch den Eintritt der Nationalsozialen in die SPD ändern ließe, hielt Naumann für eine Illusion. Nicht die Identität mit einem bestimmten Teil der Bevölkerung, sondern eine politische Figur ebneten den Weg in die Politik. Ein Beitritt zur Sozialdemokratie kam für ihn 1919 nicht in Betracht, unter anderem, weil er sie für „kopflos" hielt63.

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lyse, sei es als Reaktion oder bestätigend und ein Reflex auf die ökonomische Verunsicherung, mitunter ein reaktionärer Antikapitalismus. Focke, Sozialismus (wie Anm. 58), S. 86. Brief an Henny Wolff vom 22. Dezember 1956, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 219f. Grimme zum Tod Naumanns, in: „Leerer Anzeigenblatt" vom 6. September 1919, N1 Grimme, Nr. 1919. Folgende Zitate aus Luckemeyer, D D P (wie Anm. 32), S. 122 ff. Naumann hat den Aufruf der D D P am 16. November 1918 nicht selbst unterzeichnet, sondern schickte seinen „engsten politischen Mitarbeiter Wilhelm Heile, dessen Name ausdrücklich der Zusatz >Hilfe< beigefügt war". Grimme in: „Leerer Anzeigenblatt" vom 6. September 1919, N l Grimme, Nr. 1919.

Austritt aus der D D P

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4. Austritt aus der D D P Das Verhältnis zur D D P konnte unter diesen Vorzeichen nicht von Dauer sein. Als er erkannte, dass die Partei weder neue Ideen noch „neue Köpfe" präsentierte, zog er sich zurück. Auch die Wählerschaft wandte sich enttäuscht von der D D P ab. Hatte die Partei auf Reichsebene noch im Januar 1919 zur Nationalversammlung 18,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinen können, musste sie im folgenden Jahr eine verheerende Niederlage hinnehmen. Zu den ersten Reichstagswahlen im Juni 1920 wählten sie nur noch 8,3 Prozent. Im Mai 1924 schrumpfte ihr Anteil auf karge 5,7 Prozent zusammen64. Die Wahlergebnisse als einen Misserfolg zu betrachten, ist gleichwohl nicht ganz gerecht. Das hervorragende Wahlergebnis im Jahre 1919 folgte zum Teil aus der Schwäche der anderen Parteien und einem Mangel an politischen Ausweichmöglichkeiten. Viele konservative Wähler blieben der Wahl aufgrund der ungewissen politischen Umstände fern. Die Sozialdemokraten galten einer Mehrheit noch als unwählbar. Die neugegründete D D P hingegen war historisch unbelastet. Solange es noch keine Verfassung gab, ähnelte die Mehrzahl ihrer Positionen denjenigen der SPD. Nur mithilfe der SPD schien es möglich, eine Revolution nach russischem Vorbild zu verhindern65. Im Jahr 1919 trat die D D P deshalb dafür ein, Kapital partiell zu sozialisieren. Sie wollte gleichzeitig den Fortbestand bürgerlicher Verhältnisse sichern, das Recht auf Privateigentum grundsätzlich unangetastet lassen. Die Mitarbeit der D D P in den Räteorganisationen erfolgte nach taktischen Gesichtspunkten, mit dem Ziel, den „Bolschewismus" zu verhindern66. Dieses Ziel wurde erreicht. Die Existenz der D D P ermöglichte es im Jahr 1918 dem kurzzeitig sprachlosen Mittelstand, seinen Eintritt in den neuen Staat zu finden. Dass sich die Wähler der D D P später wieder anderen Parteien zuwandten, kann nicht allein der D D P angelastet werden. Stattdessen stand der große Erfolg der D D P zu den Wahlen zur Nationalversammlung stellvertretend für eine kurzzeitige Kooperations- und Ubereinkunftsbereitschaft des konservativen Bürgertums mit der Sozialdemokratie. Mit einem wiedererwachten Selbstbewusstsein pendelte die Wählerschaft im folgenden Jahr zu den alten Standpunkten zurück. Weniger auf eine Übereinkunft mit dem Alten als auf etwas „radikal Neues" stand die Hoffnung. Als sich abzeichnete, dass die D D P diese Hoffnung nicht erfüllte, wandte Grimme sich ab. Er hielt den Tod Friedrich Naumanns für den Grund des Scheiterns der DDP-Gründung. Wegen 64 65

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Zahlen nach: Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik, München, Wien 1984, S. 252 f. Siehe hierzu den Abschnitt „Der Politiker". Hofmann, Geschichte (wie Anm. 51), S. 118.

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der gebotenen Eile habe sich Naumann einer herkömmlichen Parteiorganisation bedienen müssen. Dieser Umstand, so urteilte er, habe neue Ansätze von vornherein behindert. Mit dem Tode Naumanns sei die DDP gänzlich zu einer konventionellen Partei geworden. Damit wollte er nicht sagen, sie sei schlechter als andere. Aber die von ihm erhoffte Überpartei war sie nicht. Bemerkenswerterweise hielt er damals überparteiliche Neutralität für notwendig, um die Unpolitischen im Volk zu erreichen67. Der Tod Naumanns war für die DDP sicher ein Unglück und die Partei verlor im ersten Jahr ihres Bestehens nicht nur ihn. Bedingt durch „andere Aufgaben, divergierende politische Auffassungen oder Alter und Tod" schied fast die gesamte eigentliche Führergeneration aus68. Ob sie mit diesen Führern eine Partei neuen Typs geworden wäre, bleibt unbeantwortet. Ihre Anziehungskraft ging, wie sich hier zeigt, sicher nicht ausschließlich von den Namen der Begründer aus. Grimme orientierte sich zwar am Namen Naumann. Die Aussicht auf politische Neutralität und Uberparteilichkeit war gleichwohl nicht unbedeutend. Er hoffte auf eine von Experten betriebene Sachpolitik 69 . Eine Rede Naumanns hatte er nie gehört. Was er über ihn und dessen Ideen wusste, entstammte der „gelegentlichen" Lektüre der von Naumann herausgegebenen Zeitschrift „Hilfe". Den einzigen bedeutenden Liberalen, den er in Leer traf, war Gustav Stresemann. Unter den Mitgliedern der DDP-Ortsgruppe Leer bescheinigte Grimme lediglich einem jungen Schriftführer die Fähigkeit zu „ernsthafter vorurteilsfreier politischer Diskussion" 70 . Die politischen Grundsätze der DDP waren 1919 noch völlig unklar. Den Vorsitz der Ortsgruppe versah er deshalb nur unter inneren Zweifeln und Vorbehalten. Als die Partei sich im Mai 1919 bei den bevorstehenden Arbeiterratswahlen beteiligen wollte, überlegte er, den Vorsitz niederzulegen. Tendenziell standen die meisten Mitglieder dieser Räte der SPD nahe71. Die USPD und die KPD versuchten jedoch bis weit in das Jahr 1919 hinein, die Räte für ihre politischen Ziele einzusetzen. Noch war es unentschieden, ob in Deutschland ein Rätestaat oder eine parlamentarische Demokratie als Staatsform eingerichtet würde. Die radikale Linke, aber durchaus nicht nur diese, sympathisierte mit dem Rätegedanken nach russischem Vorbild. Die Liberalen, Teile der Sozialde67

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Grimme zum Tode Friedrich Naumanns, in: „Leerer Anzeigenblatt" vom 6. September 1919, Nl Grimme, Nr. 1919. Martin Vogt: Die Parteien der Weimarer Republik, in: Karl Dietrich Bracher u. a. (Hrsg.): Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, 2. Aufl., Bonn 1993 (weiterhin zit.: Bracher, Deutschland). Brief an Ludwig Luckemeyer (wie Anm. 25). Brief an Theodor Brodthage vom 25. Mai 1919, Leer, in: Sauberzweig (1967), S. 21f. Karl Dietrich Erdmann: Die Weimarer Republik, 13. Aufl., München 1999, S. 36 (weiterhin zit.: Erdmann, Weimar).

Austritt aus der D D P

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mokratie und die Konservativen befürworteten hingegen eine parlamentarische Demokratie 72 . Die DDP-Führung sprach sich mit ihrem ersten Parteiprogramm 1920 gegen das Rätesystem aus. Während der Revolution hatte sie aber in vielen Räten mitgearbeitet, die vielerorts die lokale Verwaltung bestimmten. Im Januar 1919 wurde die Nationalversammlung, in den Wochen darauf die Landtage gewählt. Damit sollte die Exekutive wieder auf die Staatsgewalt übergehen. Viele Arbeiter und Soldaten betrachteten die Räteorganisation als ein wesentliches Ergebnis der Revolution. Die Räte sollten nicht beseitigt, sondern in das Staatssystem eingebaut werden. Es herrschte in der Folge Unklarheit, ob die Räte als legal oder illegal zu betrachten seien, und zwar noch lange nach der Wahl zur verfassungsgebenden Nationalversammlung73. Die DDP-Ortsgruppe Leer reichte nach Majoritätsbeschluß eine politische Liste zur Wahl des örtlichen Arbeiterrates ein. Grimme, der Mitglied des Rates gewesen war, konnte darin nichts anderes erkennen als das Fördern einer undemokratischen Institution. Er zweifelte nicht, dass die Räte keine staatliche Legitimation mehr besaßen, und sah keinen Ausweg als vom Vorsitz zurückzutreten. Eine undemokratische Handlung wollte er mit seinem Namen nicht decken74. Kurzzeitig ließ er sich dazu bewegen, den Vorsitz weiterzuführen75. Im folgenden Jahr gab er auf. Er sah keine Anzeichen für den Versuch, den „Sachverstand" im demokratischen Staat voranzubringen76. Darin aber lag für ihn das Entscheidende des demokratischen Systems. Die „Verständnishalbheit des demokratischen Prinzips" vonseiten der DDP-Politiker würde am Ende den „ganzen demokratischen Gedanken in Misskredit" bringen. Die Partei sei - zumindest in Ostfriesland - „nichts als der alte scheuklappige parteifanatische und egoistische Freisinn" 77 . Am 17. Mai 1920 trat er aus der D D P aus78. Resigniert stellte er fest, in der „Formaldemokratie", könnten gesellschaftliche Prozesse nur schwer beeinflusst werden. „Neue und ursprüngliche Gedanken" bräuchten zu lange,

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Erich Matthias u. Rudolf Morsey (Hrsg.): Das Ende der Parteien, Düsseldorf 1960; Erich Kittel: Novembersturz 1918. Bemerkungen zu einer vergleichenden Revolutionsgeschichte der deutschen Länder, Blätter für deutsche Landesgeschichte 104 (1968), S. 42. Möller, Weimar (wie Anm. 31), S. 87. Brief an Gegemann vom 3. Mai. 1919, Leer, N1 Grimme, Nr. 3299. Brief an Theodor Brodthage vom 25. Mai 1919, Leer, in: Sauberzweig (1967), S. 21f. Brief an Albrecht Büttner vom 17. Mai 1920, Leer, in: Sauberzweig (1967), S. 22f. Brief an Theodor Brodthage vom 25. Mai 1919, Leer, in: Sauberzweig (1967), S. 21f. Der Brief an Büttner vom 17. Mai vollzog den Austritt, in: Sauberzweig (1967), S. 23.

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um Einfluss zu gewinnen79. Noch war er ganz Idealist, der von der Politik erwartete, ein Prinzip zu verweltlichen. Erst ein Mord brachte ihn drei Jahre später zurück.

5. Hannover Am 23. September 1919 erhielt er das Angebot, an der Oberrealschule Clevertor in Hannover eine Probelektion zu erteilen. Die Vorträge in der Unter- und Obersekunda gelangen „ideal", sodass die Schule den Dienstantritt zum ersten Oktober in Aussicht stellte80. Der Magistrat Hannover berief ihn zum Oberlehrer am Clevertor 81 . Sein Reformwille trug ihm schnell Bekanntheit ein. Zunächst unter den Schülern, dann im Provinzialschulkollegium, wo reformfreudige Lehrer in hohem Ansehen standen, denn wer vermochte republikanisches Bewusstsein besser zu fördern als republikanische Lehrer? Als er der SPD beitrat, war er der einzige organisierte Sozialist des Kollegiums 82 . Im Rest des Raumes „herrschten die Teutschen, die stramm Deutschnationalen; bewährte Stützen von Thron und Altar", wie ein ehemaliger Kollege erinnerte83. Grimme sprach von „standesbewussten" Kollegen, denen „gutes Benehmen wichtiger war als echtes Menschentum" 84 . Zwei oder drei Lehrer erinnerte er als Lichtblicke. Unter ihnen befand sich der Direktor, der mit Wohlwollen die zunehmende Beliebtheit bei den Schülern am Clevertor zur Kenntnis nahm. Der Deutsch- und Religionsunterricht muss bemerkenswert gewesen sein. Wie schon in Leer veranstaltete er außerhalb der Schulzeit „Lese- und Ausspracheabende" und, um sich mit anderen Lehrern auszutauschen, gründete er in Hannover eine Gruppe der „Entschiedenen Schulreformer" 85 .

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Adolf Grimme: Politik und die Intellektuellen, Wissenschaft und Wirtschaft. Zeitschrift des Akademikerbundes Hannover e.V. Hannover, 10. Oktober 1920, N1 Grimme, Nr. 5157. Telegramme vom 23. September 1919 und 24. September 1919, N1 Grimme, Nr. 3260. Schreiben des Magistrats Hannover vom 10. Oktober 1919, N1 Grimme, Nr. 3260. Brief an die Ortsgruppe SPD Hannover vom 29. November 1922, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 24. Hans Wittkopp an Grimme vom 29. Januar 1962, N1 Grimme, Nr. 2700. Brief an Heinrich Wanner, ehemaliger Direktor am Clevertor vom 9. August 1957, N1 Grimme, Nr. 2646. Ingrid Neuner: Der Bund entschiedener Schulreformer 1919-1933, Bad Heilbrunn 1980 (weiterhin zit.: Neuner, Schulreformer); Wolfgang Scheibe: Die Reformpädagogische Bewegung 1900-1932, Weinheim 1969.

Hannover

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Der Bund der „Entschiedenen Schulreformer" war das Ergebnis einiger Zusammenkünfte reformwilliger Pädagogen im Spätsommer 1919. Am 18. September 1919 konstituierte er sich zunächst unter akademisch gebildeten Lehrern und Lehrerinnen an deutschen Schulen. Ein Jahr später öffnete er sich für seminaristisch gebildete Lehrer und Interessierte86. Die Minimalziele des Bundes umfassten einen sozialen, einen institutionellen und einen individuellen Bereich. Sie erstrebten eine Einheitsschule mit „elastischem Oberbau". Ein Unterricht nach Fachgruppen sollte den herkömmlichen Klassenverband ersetzen. Der Besuch dieser Schule sollte unbedingt frei von wirtschaftlichen Vorbedingtheiten sein, an die Stelle der „Lernschule" eine „Arbeitsschule" treten. Unter diesem Begriff verstand man eine Anstalt, die das Leben selbst abbildet, wo die Schüler also die wichtigsten Phänomene sozialer aber auch naturwissenschaftlicher Art anträfen. Aus „praktischen Notwendigkeiten" ergäben sich die Lernerfordernisse von allein. Es sei weiter ein neues Verhältnis von Schülern und Lehrern herzustellen. Der Lehrer könne nicht länger als Vorgesetzter des Schülers auftreten. Die Reformer bekannten sich zu einer Erziehungsgemeinschaft, bestehend aus Eltern, Schülern und Lehrern mit wechselwirksamen Einfluss. Die Unterrichtsministerien müssten ganz umgestellt und die leitenden Stellen nur noch mit praxiserfahrenen Pädagogen besetzt werden. Religionsunterricht habe zwar als Sonderfach keine Daseinsberechtigung mehr. Es bestand aber doch die Absicht, in jedes Fach einen religiösen Bezug zu bringen; dies nun wiederum nicht in Ubereinstimmung mit den Kirchen, die der Bund zwar nicht bekämpfte, aber doch scharf kritisierte. Der Bund erreichte schnell Aufsehen in der Öffentlichkeit. Am 4. und 5. Oktober versammelten sich die wenigen Mitglieder im ehemaligen „Herrenhaus" zu Berlin. Der preußische Minister für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung, der gerade neu eingesetzte Konrad Haenisch 87 , nahm die Gelegenheit wahr, Grundsätzliches zu den gegenwärtigen Erfordernissen seines Zuständigkeitsbereiches vorzutragen. Die alle anderen erdrückende Figur der „Entschiedenen Schulreformer" führte den Bund von Berlin aus und hieß Paul Oestreich. Er verfügte über beste Kontakte im Berliner politischen Leben und verschaffte den Schulreformern durch agitatorisches Geschick sofort den Ruf einer avantgardistischen Gruppe. Als im Juni 1920

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Paul Oestreich, zitiert nach Bernhard Reintges: Paul Oestreich und der Bund Entschiedener Schulreformer, Rheinstetten 1975, S. 60 (weiterhin zit.: Reintges, Oestreich). Konrad Haenisch (1876-1925), SPD-Politiker, Redakteur und Publizist, von 1918 bis 1925 preußischer Kultusminister, von 1923 bis 1925 Regierungspräsident in Wiesbaden.

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die schon im Kriege geplante Reichsschulkonferenz zusammentrat, gewannen die Vertreter des Bundes mit ihren Vorschlägen das Gehör der gesamten schulpolitischen Elite des Reiches. Schon in Leer bestand eine kleine Gruppe Schulreformer 88 . Die Zahl möglicher Kandidaten war gering. Das dortige Kollegium zeichnete in der Mehrzahl mit konservativer Handschrift. Aus dem Umkreis Hannover konnte Grimme eine größere Zahl Mitstreiter um sich sammeln. Er rief einen Landesverband der „Entschiedenen Schulreformer" ins Leben, der sich in die zwei Ortsgruppen Hannover und Hameln untergliederte. Zwischen ihm und Oestreich gab es einige Parallelen. Der 1878 in Kolberg an der Ostsee geborene Oestreich war ausgebildet zum höheren Lehramt. Unter seinen Lehramtsstationen befand sich neben Köln, Iiifeld im Harz und Wuppertal-Barmen ausgerechnet die ostfriesische Stadt Leer89. Er zog zwar bereits 1905 nach Berlin, in Leer wird der leidenschaftliche und wortgewaltige Oestreich aber dem einen oder anderen beim Eintreffen Grimmes noch im Gedächtnis gestanden haben. Beide waren Anhänger von Friedrich Naumann. Oestreich stieß in den neunziger Jahren in Berlin noch persönlich auf ihn und erwarb 1897 die Mitgliedschaft im „Nationalsozialen Verein". Das Verhältnis trübte sich schnell ein. Oestreich wechselte in die von Abtrünnigen gegründete „Demokratische Vereinigung" und wechselte dann zu den Sozialdemokraten. Wenig überraschend ist beider Bezug auf Fichte, dessen Werk überhaupt die wichtigste geistige Quelle der „Entschiedenen Schulreformer" war. Oestreich wirkte für den Bund verhängnisvoll. Einesteils gehörte der außerordentlich streitbare Geist zu den populärsten Rednern der zwanziger Jahre. Andernteils blieb er gegen Kritik von außen verschlossen. Wenn es trotzdem jemand wagte, konnte er ein Feuerwerk von Schimpfworten über ihm abbrennen. Er wollte eine unverbogene Generation erziehen. Um dies zu erreichen, hielt er Ehrlichkeit bis zur Brutalität für erforderlich. Eine Selbststilisierung zum „einzigen Vorkämpfer in Schulangelegenheiten" und unterschiedliche Ansätze im Vorgehen führten zu einem unüberwindlichen Gegensatz zwischen ihm und Grimme 90 . Während dieser darauf hielt, die Ideen der Reformer persönlich im Lehrbetrieb zu erproben91, setzte Oestreich auf politischen Druck. Weder eine Bewegung, noch eine Gesamtreform sei zu erreichen, wenn „sich ein 88

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„Schüler, Student und Pädagoge", Otto Koch über Adolf Grimme, in: Sauberzweig (1967), S. l l f . Die folgenden Zitate stammen aus: Reintges, Oestreich (wie Anm. 86). Paul Oestreich: Offener Brief an Adolf Grimme, in: Neue Erziehung (1930), S. 161 f. Siehe ders. u. Helmut Koenig (Hrsg.): Entschiedene Schulreform, Berlin 1978. Die folgenden Zitate stammen aus: Briefwechsel mit Paul Oestreich vom Oktober 1921, N1 Grimme, Nr. 3087.

Hannover

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Einzelner in irgendeine Schule" zurückziehe. Er war überzeugt, dass sich mit den Schulbehörden keine Reform durchsetzen ließe. Die Beamten mit der entsprechenden Gesinnung hatten die Kaiserzeit überdauert. Er verachtete alle, die im Schuldienst Karriere machten, betrachtete sie als „Abtrünnige". Nachdem sie der Versuchung einer Beförderung erlegen seien, hätten die „Aufsteiger" nämlich ihn, Oestreich, „beschämt gemieden". Schnell müssten sie feststellen, dass „sie in ihren Positionen nichts für die Sache tun könnten", sodass alle Arbeit an ihm hängen bliebe. Wie reformiert man ein Schulsystem? Entweder sind die Beamten einsichtig und veranlassen das Nötige oder der Druck der Öffentlichkeit muss so groß sein, dass sie zu Reaktionen gezwungen sind. Je geringer die Einsicht, desto größer ist der Bedarf nach Druck. Oestreich lag nicht falsch in der Annahme, möglichst viele Mitstreiter zu sammeln. Grimme fasste die Arbeit an der Reform anders auf. Obschon die tägliche Arbeit Oestreichs These bestätigte, hielt er den schriftlichen Austausch für wichtiger als kämpferische Reden. Als Oestreich einen Programmentwurf der Ortsgruppe Hannover las, der in Einzelheiten vom Bundesprogramm abwich92, gestand er eine „gewisse Angst" vor diesen „Programm-Ziselierungen". Beim Lesen langer Programme keime in ihm „sofort der Zweifel auf, ob seine Verfasser aktiv" seien. Der aktive Mensch formuliere nicht - „er prägt, schleudert, presst, treibt". Wenn diese Meinung weniger auf Weitsicht als auf Ungeduld beruhte, wies Oestreich auf einen wahren Kern. Die Schulverwaltung würde sich gegen weitreichende Reformen zur Wehr setzen. Von innen heraus ließ sich kaum etwas bewirken. Die Wahrscheinlichkeit von Reformen nahm ab, je länger sie sich verzögerten93. Die eigene Berufung ins Ministerium lehnte er ab. Allein das Amt des Kultusministers wäre akzeptabel gewesen, weil er dann den Apparat von oben umstrukturieren konnte. Einen anderen als sich selbst hielt er für diese Aufgabe nicht geeignet. Als Grimme Kultusminister wurde, verweigerte er selbst ein „gemeinsames Lunch". Er sei kein Mann, der sich durch „Wein und Mittagessen zu Konzessionen breitschlagen" lasse94. Diese Haltung führte verständlicherweise zu Vorbehalten auf Behördenseite und behinderten den Austausch zwischen ihr und dem Bund. Grimme teilte die Abneigung gegen die Beamtenschaft nicht, weshalb Oestreich ihm vorwarf, dann habe er mit seiner vorgesetzten Behörde noch keine Zusammenstöße gehabt. Wenn dies der Fall sei, dann müsse er „kühl und dürr sagen, sind Sie also kein wirklicher Kämpfer".

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Reintges, Oestreich (wie Anm. 86), S. 65. Die folgenden Zitate stammen aus: Schriftwechsel Paul Oestreich mit Grimme, Dezember 1921 bis Februar 1923, N l Grimme, N r . 3087. Notizen Grimmes über Oestreich, N l Grimme, N r . 586.

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Grimme ließ sich nicht beirren. Nach 1922 hatte er für die Ortsgruppe Hannover des Bundes ein Programm entworfen, in dessen Mitte die religiösen Gedanken seiner Jugend standen. Der Einzelne, die Wirtschaftsordnung und die Volksgemeinschaft, all das sollte ihren Sinn von Gott erhalten95. Er beabsichtigte, seinen religiösen Ansatz auf ein logisch durchdachtes Fundament zu stellen und hatte deshalb begonnen, die Methode Husserls auf die Evangelien anzuwenden. Bereits in Leer war er mit einem auf der Phänomenologie fußenden Vortrag an die Öffentlichkeit getreten96. Im Bund waren pantheistische Gedanken zwar verbreitet. Als sicheres Zeichen dafür, dass die herrschende Religion die metaphysischen Bedürfnisse nicht mehr befriedigte, entstanden Heräsien aller Art. Grimme war nur einer unter vielen. Das Gefühl, die Nation sei im Zerfall begriffen, setzte dem Treiben gleichwohl Grenzen. Der Abstand zur Uberlieferung durfte nicht zu groß sein. Er geriet mit seiner Sicht ins Abseits. 1921 regte er eine Tagung zum Religionsunterricht an, die nicht zustande kam. Oestreich fand die Gedanken nicht anziehend genug. Die Veranstaltung wäre „unerträglich langweilig geworden", schrieb er 97 .1922 veröffentlichte Grimme ein Buch mit dem Titel „Der religiöse Mensch" 98 . Ob Oestreich es las, ist unwahrscheinlich. Doch zeigt es eine gewisse Ubereinkunft, dass er in dem Buch zumindest eine „glänzende Propaganda" für die Gedankengänge des Autors sah99. Nur hielt er die Ausführungen für schwache Theorie und konnte sich nicht vorstellen, mit ihnen die Kirche zu überwinden. Der Religionsunterricht in den Schulen sei hierzu wohl kaum ausreichend. Und dass ausgerechnet Grimme die Kirchen mit Gewalt niederwerfen wolle, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Da Oestreich der Ansicht war, dass bloßes Schrifttum die Zustände nicht ändere, mahnte er von Berlin aus, die Ortsgruppe kämpferischer auszurichten. „Nur bei Hannover" habe er den Eindruck, dass dort ein „Philologenverein ein wenig hochmütig die Aktivität und das Gedankenreich, das wir im Bund erobert haben, ablehnt, sich seiner fast schämt". Daran war Wahres. Für die spaltende Polemik eignete sich die auf Ausgleich gerichtete Natur Grimmes weniger. Mit seinen religiösen Zielen stimmte weder Oestreich noch die Mehrheit der Schulreformer überein. 95

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Programmentwurf der Ortsgruppe Hannover des Bundes „Entschiedener Schulreformer", N1 Grimme, Nr. 322. Vortrag gedruckt unter dem Titel: Arbeit und Lebensfreude. Eine Laienpredigt als Weg zur Philosophie, Leer 1918. Paul Oestreich an Grimme vom 16. Dezember 1921, N1 Grimme, Nr. 3087. Adolf Grimme: Der religiöse Mensch. Eine Zielsetzung für die neue Schule, Berlin 1922. Paul Oestreich an Grimme vom 25. April 1922, N1 Grimme, Nr. 3087.

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Im Oktober 1923 hielt der Vorsitzende der Ortsgruppe Hannover eine Rede in Berlin über das Verhältnis von Schule und Religion. Obwohl er auf dieselbe Rede einige Monate zuvor in Leer große Resonanz erhielt, blieb sie in Berlin ohne Echo 100 . Der religiöse Bezug wirkte dort nicht in gleicher Weise wie in Leer, wo die Rede als Beitrag zu einer im Schwange befindlichen Streitsituation verstanden wurde101. Im Bund galt er fortan als Vertreter einer „ganz bestimmten Färbung der Reformen". Mehr noch: Die Schulreformer empfanden ihn, wie Oestreich offen gestand, als „Belastung" 102 . Daraufhin zog er sich 1924 aus dem aktiven Bundesleben zurück. In einer Organisation zu arbeiten, die ihn als Fremdkörper empfand, hielt er für unzumutbar. Hätte er nicht die Existenz des Bundes für eine Notwendigkeit gehalten, wäre er ausgetreten. Sein Bedürfnis nach Anerkennung war noch zu groß, der gestalterische Wille genügte nicht, um seine Fähigkeiten in vollem Umfang einzubringen. Oestreich sah an den Qualitäten des Hannoveraners nicht vorbei. Er empfahl ihn 1923 an das thüringische Ministerium für Volksbildung 103 , als die dortige Koalition aus SPD und K P D eine entschiedene sozialistische Schulreform in Angriff nahm. Ein entsprechendes Angebot erging, blieb aber ohne Folgen 104 . Mit Grimmes Aufstieg im höheren Schuldienst betrachtete Oestreich ihn trotz aller Wertschätzung als „Abtrünnigen" und vermutete noch 1947, jener wolle ihm von Hannover aus den Weg verstellen105.

6. Grimme wird Sozialdemokrat Innerhalb des Bundes der „Entschiedenen Schulreformer" isolierte er sich aufgrund seines religiösen Standpunktes. Da er der Sozialdemokratie aus-

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„Leerer Anzeigenblatt" vom 26. März 1923, N1 Grimme, Nr. 699. Rede gedruckt unter dem Titel: Die Religiöse Schule. Rede, gehalten auf den Tagungen des Bundes Entschiedener Schulreformer zu Leer in Ostfriesland und in der Berliner Universität, 28. Juli und 3. Oktober 1923. Mit einem Geleitwort von Paul Oestreich, Berlin 1923 (weiterhin zit.: Grimme, Religiöse Schule). Die Lokalpresse hatte einige Wochen lang das Verhältnis von Schule und Religion diskutiert. Brief Grimmes an Siegfried Kawerau vom 20. Februar 1924, N1 Grimme, Nr. 3089. Brief vom Thüringischen Ministerium für Volksbildung an Grimme vom 31. August 1923, Weimar, N1 Grimme, Nr. 3262. Wolfgang W. Wittwer: Die sozialdemokratische Schulpolitik in der Weimarer Republik, Berlin 1980, S. 218 (weiterhin zit.: Wittwer, Schulpolitik). Paul Oestreich an Grimme, ohne Datum, N1 Grimme, Nr. 3086.

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Beruf und Politik

drücklich aus religiösen Gründen beitrat 106 und auch dort bald ob seines Verständnisses vom Zusammenspiel zwischen Politik und Religion ein Sonderdasein führte, muss man fragen: Was war das für ein Religionsverständnis 107 ? Es unterschied zwischen Gott, Logos, Christus und Jesus. Gott ist in dieser Kette der Ursprung, der Stifter des Logos. Der vom Evangelisten Johannes eingeführte Begriff des Logos wäre vielleicht zu übersetzen als Weltgeist, oder, wie Karl Jaspers vorschlug, als Weltvernunft 108 . Dieser Geist ist unsterblich und uneinschränkbar. Da der Geist uneinschränkbar ist, wird auch der Mensch seiner teilhaftig. Der Mensch kann frei entscheiden, ob er den Geist in sich aufnimmt oder nicht. Tut er es, wird er zum Christus. U m den Geist in sich aufzunehmen, muss der Mensch „in der Liebe leben". Die Aufnahme dieses Geistes - der Weltvernunft - ermöglicht Erkenntnis. Der Mensch soll den Willen Gottes vollstrecken und die Welt ihrem Sinn zuführen. Er erkenne den Willen Gottes, indem er liebt. Christ sei, wer liebt. Der Verweis auf Husserl zeugt davon, wie ernst es ihm war. Keinesfalls wollte er als Mystiker oder Esoteriker gelten. Es liegt auf der Hand, dass traditionelle Kirchenvertreter diese Philosophie ablehnten. Die Gegensätze beginnen mit der Uneinschränkbarkeit des Logos, denn nach der kirchlichen Lehre sind bestimmte Gegenstände besonders zu ehren. Dazu gehört Jesus, dazu gehören auch Sakramente wie Brot und Wein. Im Umkehrschluss achtet die Kirche alle anderen Gegenstände weniger. Sie trennt zwischen kirchlichem, für sie also heiligem Raum und der Außenwelt - dem Weltlichen. N u n argumentierte er: Wer so unterscheide, verkenne das Haupthindernis eines christlichen Lebens109. Der Mensch lebe in einer Wirtschaftsordnung, die ein Leben nach dem Vorbild Jesu nahezu ausschließe. Die Kirche überlasse alles Weltliche sich selbst. Sie finde sich mit einer Gegenwelt ab, die nach eigenen Gesetzen funktioniere. N u r lebe der Mensch nicht vom Geist. Das Seelenleben sei nur ein Teil des Menschseins. Vor allem und zuerst müsse der Mensch leben. Die Kirche habe diese Einsicht beiseiteschieben können, da sie das Reich Gottes erst nach dem Tod erwarte. Damit werde das Christentum der Kirche zu einem „trügerischen Spiritualismus". Die Kirche dürfe nicht so tun, als sei das Innere des Menschen von den äußeren Umständen getrennt. Mit

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Brief an Wilhelm Hess (Vorsitzender der SPD-Ortsgruppe Hannover-Laatzen) vom 29. November 1922, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 24. 107 Zu den religiösen Ansichten siehe: Adolf Grimme, religiöse Schule (wie Anm. 100). Vor allem aber: Eberhard Ave-Lallemant, „Sinn und Widersinn" (wie Einleitung, Anm. 7). Die maßgebenden Gedanken dieses Buches zu Religion und Kirche entstammen der Zeit zwischen 1915 und 1920. 108 Karl Jaspers: Die großen Philosophen, 6. Aufl., München und Zürich 1991, S. 211. 10 ' Hierzu: Ave-Lallemant, Sinn und Widersinn, S. 281.

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diesem Vorgehen werde der Mensch den Dingen geradezu ausgeliefert. Der Sieg derjenigen Weltanschauung, die nur Materie gelten lässt, werde so erst möglich. Wer das Innere des Menschen sichern will, der müsse dessen Umwelt gestalten. Die Kirche unterschätze die Materie als Quelle der Verführung. Ohne Kenntnis des religiösen Fundaments bliebe die Wende zur Sozialdemokratie vollkommen überraschend. Obwohl die sozialdemokratischen Gesellschaftsreformpläne nicht auf religiöser Grundlage fußten, lag ihr Kurs im selben Fahrwasser110. Andererseits verstand sich die Sozialdemokratie als rein weltliche Bewegung und bestritt jeden Sinn außerhalb des Materiellen. Ein Gottesreich überwies sie in die Welt der Fantasie. Nach Herkunft, Ausbildung und den bisher vertretenen Ansichten stand er der SPD nicht nahe. Es war auch nicht sein Ziel, materielle Gleichheit für alle herzustellen. Er hielt es für entscheidend, dass ein sinnerfülltes Leben „materielle Sicherheit" zwar voraussetze111; mit ihrem Erreichen beginne aber erst die eigentliche Arbeit: Den Menschen seiner religiösen Bestimmung zuzuführen. Als „Religiöser Sozialist" nehme er im Gegensatz zur Kirche das Materielle ernst, bleibe aber im Gegensatz zum Marxismus nicht darauf beschränkt. Zunächst sah es so aus, als lehne er sich von der D D P aus weiter an die politisch konservativen Parteien an. In Emden, Aurich und Leer meldete die Presse 1920 bereits den Ubertritt zur DVP 112 . Anlass für dieses Gerücht boten zwei seiner Artikel im „Hannover Kurier" im Juni und September des Jahres. Der Kurier stand der DVP nah. Mitglied der DVP ist Grimme jedoch nie gewesen. Zwar wollte er sich wieder einer Partei anschließen, prüfte auch, ob die DVP diese sein könnte. Die Hemmnisse schienen ihm aber am Ende unüberwindbar. Dass die DVP sich nicht uneingeschränkt zu der neuen Verfassung bekannte, störte ihn nicht. Auch er wollte das bestehende System nicht um jeden Preis erhalten, den „mechanischen Demokratismus" durch eine „Sozialaristokratie" ersetzen. Ihm missfiel die unbestimmte Position der DVP zur Monarchie, die er ohne Umschweife ablehnte. Ein Bekenntnis der DVP zur Monarchie hätte die Partei seiner Ansicht nach weit von der Sozialdemokratie entfernt. Er hielt es für notwendig, die SPD einzubeziehen, was nicht bedeutete, dass er ihr beitreten wollte. Er beabsichtigte, durch eine Parteizugehörigkeit mit seiner „politi-

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Brief an Otto Hegenscheid vom 11. Mai 1958, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 235 ff. Ave-Lallemant, Sinn und Widersinn, (wie Einleitung, Anm. 7), S. 293. Für das Folgende: Brief an Hermann Schuster vom 20. Juli 1920, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 24.

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sehen Auffassung in die Masse hinein zu wirken". Das „Wirken in die Masse" war ihm wichtiger als politische Programme. Am 24. Juni 1922 bestieg der Reichsaußenminister Walter Rathenau113 in Berlin den Wagen und verließ seinen Wohnsitz, um in sein Ministerium zu fahren. Auf der Fahrt fiel er einem Anschlag zum Opfer. Der Mord erschütterte die Deutschen in ungewöhnlichem Maß, was zum einen in der Brutalität der Tat begründet lag: Aus einem überholenden Kraftwagen hatten die Mörder ihre Pistolen abgefeuert und eine Handgranate in den Wagen des Ministers geschleudert. Zum anderen fügte sich der Mord in eine ganze Kette von Attentaten. Es verging kaum eine Woche, in der nicht irgendwo in Deutschland ein Mensch aus politischen Gründen ermordet wurde. Kurz zuvor war ein Anschlag auf den ehemaligen Ministerpräsidenten Philipp Scheidemann fehlgeschlagen. Der Mord an Matthias Erzberger 1921 und das skandalöse Versagen der Justiz lag der Bevölkerung noch im Gedächtnis. Der Mord an Rathenau, erfolgreicher Unternehmer und Wirtschaftspolitiker, Republikaner und Jude, besaß eine bisher nicht gekannte Erschütterungsmacht. Grimme reagierte tief entsetzt und betroffen. Im November schrieb er an den Vorsitzenden der SPD-Ortsgruppe Laatzen, seinem damaligen Wohnbezirk. Der „volkszerstörerische Mord an Rathenau" zwinge ihn, nun auch „formell zu zeigen, dass ich meinem Wesen nach Sozialist bin. In welcher Partei ich für die Gedanken arbeite, die sich mir seit nun bald vier Jahren in unablässigem inneren Ringen als richtungsweisend aufgedrängt haben, ist an sich eine reine Zweckmäßigkeit". Die Jungsozialisten, vor allem aber die „Religiösen Sozialisten" betrachtete er als Ausdruck für einen neuen Parteigeist. Am ersten Juli 1922 erwarb er mit seiner Frau die SPDMitgliedschaft 114 . Wo stand er innerhalb der Partei? Ein Grund für den Betritt zur SPD bestand kennzeichnenderweise darin, die Partei zum „Schutzwall" gegen den Kommunismus auszubauen. Den „russischen Sozialismus" lehnte er ab115. Eine Volksgemeinschaft müsse sich aus freien Persönlichkeiten zusammensetzen, die in Russland unterdrückt würden. Außerdem verbände

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Zu Rathenau: Tilmann Buddensieg u. a.: Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne, Berlin 1990; Harry Graf Kessler: Walther Rathenau, Berlin 1928 (Neuausgabe Frankfurt a. M. 1988); Ernst Schulin: Walther Rathenau, Göttingen 1992; Hans Wilderotter (Hrsg.): Die Extreme berühren sich. Walther Rathenau 1867-1922, Berlin 1993. Mitgliedsbücher Adolf und Maria Grimmes in: N1 Grimme, Nr. 3258. Rede zur 50. Wiederkehr der Reichsgründungsfeier in Leer, 19. Januar 1921, abgedruckt in: „Leerer Anzeigenblatt" vom 19. Januar 1921, Nl Grimme, Nr. 700.

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sich dort Kommunismus mit imperialistischen Gedanken 116 . Es sei eine Form von „Seelenimperialismus", dem der nur auf das Materielle ausgehende Wirtschaftsimperialismus der westlichen Mächte gegenüberstehe. Der Deutsche neige mit dem Kopf nach Westen. Dort finde er Ordnung. Seele und Herz blickten nach Osten, denn dort gebe es die „opferbereite Hingabe an eine Idee". Der Deutsche könne nur die Botschaft in die Welt tragen, dass jeder die „ihm eigene Besonderheit" entfalten dürfe. Das waren weniger sozialistische als humanistische Gedanken. Jede Zivilisationskritik der Zeit enthielt ähnliche Schlagworte. Die Sehnsucht nach Ordnung und das Ablehnen westeuropäischer Gesellschaftsprinzipien fanden sich allenthalben. Die Konstruktion einer Mentalitätsverwandtschaft zu den Völkern des Ostens folgte daraus. Dass die Russen in der Lage wären, durch ihre „opferbereite Hingabe" Kommunismus und Chaos in Europa zu verbreiten, fürchteten viele. Allein das Festhalten am Wert der Einzelpersönlichkeit und an dem Vernunftbegriff aufgeklärter Philosophie unterschied das Weltbild von der zeitgenössischen Antizivilisationskritik. Dass jeder seine eigene Besonderheit entfalten solle, deckte sich weder mit den Hauptzielen der sozialistischen noch mit denen der christlichen Lehre und entsprach gerade nicht dem Bedürfnis der näheren Zukunft. In Berliner Nachtlokalen hätte man vielleicht zugestimmt. Die großen Strömungen zielten alle auf Gemeinschaft und Einheit. Sei es aus Überzeugung, sei es aus machttaktischen Gründen. Wäre er unter anderen Umständen vielleicht der DVP beigetreten? Hätte der Mord an Rathenau ihn nicht zum Wiedereintritt in die DDP, der Partei des Ermordeten, bewegen müssen? Eine Mitgliedschaft bei den Deutschen Demokraten hätte doch dem Anspruch genügt, ein Bekenntnis zur Republik abzulegen. Zwar stimmte er mit Punkten des SPD-Programms überein. Die aus Arbeiterbildungsvereinen entstandene Organisation betrachtete die ständige Fortbildung ihrer Mitglieder als ein Hauptziel, das Herausbilden der Persönlichkeit stand dazu nicht im Widerspruch. Der gesellschaftliche Teil, besonders die angestrebte Trennung von Welt und Kirche unterschied sich hingegen sehr von seinen Gesellschaftsvorstellungen. Entscheidend aber war, dass er der SPD nicht beitrat, um deren Programm zu vertreten, sondern um seine eigene Programmatik in die der Partei einzubringen. Die SPD hatte ihr streng marxistisches Programm in der politischen Praxis nie besonders beachtet. Spätestens mit der Wahl Friedrich Eberts bestimmte der revisionistische Teil der Partei die Außendarstellung. Indem radikales Potenzial an die KPD und die USPD abfloss, öffnete sie sich ideologisch nach verschiedenen Seiten. Der Beitritt zeugt von diesem Wandel 116

Für das Folgende: Artikel in „Hannoverscher Kurier" vom 12. und 14. September 1920, N1 Grimme, Nr. 3524.

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oder doch zumindest ihres Bildes in der Öffentlichkeit. Die D D P hielt er für überparteilich. Nicht die Partei zog ihn an. Es war die Bewegung, die ihn ergriff. Sie unterschied die SPD von den Parteien, die ihm inhaltlich näherstanden. Die Bewegung band Reformer an die SPD, die ursprünglich mit ihr nichts zu schaffen hatten. Längst war es keine „Arbeiterbewegung" mehr. Sie ergriff weite Schichten, verschiedene Ideologien wirkten auf den Wesenskern der Partei. Die Macht der Arbeiterschaft blieb freilich ungefährdet. Das Randdasein Grimmes erklärt sich aus diesem Umstand. Nur wäre es falsch, ihn als Einzelgänger missverstehen. Er suchte Gemeinschaft, je größer desto besser - nicht um sich anzuschließen, sondern um zu führen und eigene Pläne zu verwirklichen. Seine Absicht lautete: In den marxistischen Reihen Verständnis für die religiösen Wurzeln des Sozialismus zu wecken 117 .

7. Der Bund religiöser Sozialisten In einer Gesellschaft manifestieren sich zu bestimmten Zeiten bestimmte Ansichten über die eigene Gegenwart. Es ist nicht entscheidend, ob solche Theorien richtig oder falsch sind. Sie beeinflussen so oder so das Denken der Zeitgenossen und in der Folge das Zeitgeschehen. Wo ihr Ursprung liegt, ist schwer festzustellen. Oft bleibt nur, sie als eine ideelle Tatsächlichkeit festzuhalten. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte sich in Deutschland die Annahme verfestigt, dass das Volk in Gruppen auseinanderfalle. Dementsprechend fanden sich überall Besorgte, die den Verlust der Einheit aufhalten wollten. Diese Gruppen suchten nach Mitteln, wie das in Klassen zerfallende Volk wieder zusammenzubringen sei. Dass der christliche Glaube als etwas Verbindendes wirken könnte, war eine nahe liegende Idee. Die Arbeiterschaft war durch die marxistische Ideologie im Begriff, sich von der Religion zu entfremden. Nicht wenige meinten, dass die Kirche sich gleichzeitig von den Arbeitern entfernt habe. Wer also den christlichen Glauben als gesellschaftliches Bindeglied einsetzten wollte, musste einerseits die Arbeiterklasse für christliches Gedankengut öffnen. Auf der anderen Seite musste innerhalb der Kirche ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass das Christentum und die Ideologie der Arbeiterbewegung Verwandtschaften aufwiesen. Genau diesen Doppelstoß nahm sich Grimme vor. 1911 hatte sich in Berlin die „Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost" gebildet. Sie erdachte und realisierte Wohnprojekte von Studenten und Arbeitern mit dem Hin117

Brief an Peter Zylmann vom 23. August 1959, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 257 f.

D e r B u n d religiöser Sozialisten

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tergedanken, Klassengegensätze aufzuheben118. Zu Beginn des Jahres 1919 entstand bei einem Berliner Pfarrer ein besonderer Gesprächskreis. Unter den Teilnehmern befanden sich Paul Tillich 119 , Carl Mennicke und Günther Dehn. Im Dezember 1919 schlossen sich unter ihrem Mitwirken die Vorgängervereine zum Bund religiöser Sozialisten zusammen120. Grimme lernte sowohl Dehn als auch Mennicke auf einer Tagung der Religiösen Sozialisten in Hannover kennen121. Mit Paul Tillich verband ihn eine lebenslange Freundschaft. Ihm fühlte er sich „wesensmäßig" verbunden122. In den dreißiger Jahren überlegten beide, ob Grimme nicht zu ihm nach New York emigrieren könnte123. Nach 1945 folgte der umgekehrte Versuch, den Theologen für Deutschland zurückzugewinnen124 und 1961 schlug er ihn für den Goethepreis vor125. Tillich war ein reiner Theoretiker. Kirchenpolitisch trat er kaum an die Öffentlichkeit. Er beschränkte sich auf die theoretische Aufklärung des Problems „Religiöser Sozialismus" 126 . Ein Ziel des Bundes bestand darin, die Masse der Arbeiter für die Kirche zurückzugewinnen. Tillich zielte auf eine Kirchenreform. Grimme folgte ihm auf diesem Weg. Es galt der Satz: Ein Sozialist muss nicht notwendigerweise auch Christ - ein Christ aber kann nur Sozialist sein. Dies hieß mit anderen Worten: Die richtige Lebensweise ist dem Glauben an eine Lehre vorzuziehen. Beispiel für die richtige Lebensweise blieb Jesus von Nazareth. Allein, bedeutend sei nicht das Wissen um die Lebensweise Jesu, sondern so zu leben wie er127. Der Bund betrachtete sich als Brücke zwi118

Renate Breipohl: Religiöser Sozialismus und bürgerliches Geschichtsbewusstsein zur Zeit der Weimarer Republik, Zürich 1971 (weiterhin zit.: Breipohl, Sozialismus). Für die Zeit bis 1933 vorzüglich: Ulrich Peter: Der „Bund der religiösen Sozialisten" in Berlin von 1919 bis 1933. Geschichte, Struktur, Theologie und Politik, Frankfurt a. M. usw. 1995 (weiterhin zit.: Peter, religiöse Sozialisten). Einen knappen Uberblick bieten Renate Albrecht und Werner Schüssler: Paul Tillich: Sein Leben, Frankfurt a. M. usw. 1993.

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Es handelte sich um den von Karl Aner gegründeten Bund „Neue Kirche" und den von Günther Dehn im März 1919 gegründeten „Bund sozialistischer Kirchenfreunde". Breipohl, Sozialismus (wie Anm. 118), S. 16.

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Brief an Emil Fuchs vom 4. Mai 1959 Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 252. Dehn und Grimme lernten sich auf einer Tagung für „Sozialistische Lebensgestaltung" in Hannover kennen. Dehn wohnte damals bei Grimme. Günther Dehn: Die alte Zeit - die vorigen Jahre, München 1962, S. 264.

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Brief an Paul Tillich vom 8. Juli 1948, N l Grimme, N r . 2593.

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Brief Tillich an Grimme vom 13. Juli 1934, N l Grimme, N r . 3056.

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N a c h 1945 gab Grimme zusammen mit Tillich und Klabunde die „Blätter für den Sozialismus" heraus. Zu Grimmes Plan, Tillich für die Universität Göttingen zu gewinnen, siehe Brief an Eduard Heimann vom 10. Januar 1947, N l Grimme, N r . 1692.

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Schreiben Grimmes vom 3. März 1961, Nl Grimme, N r . 669. Breipohl, Sozialismus (wie Anm. 118), S. 2 5 und Anm. 50. Ave-Lallemant, Sinn und Widersinn (wie Einleitung, Anm. 7), S. 267.

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Beruf und Politik

sehen Marxismus und Christentum. Den Mitgliedern war freigestellt, ob sie sich in einer sozialistischen Partei organisierten. Deshalb fanden sich unterschiedliche Positionen wieder, die auch innerhalb der SPD und der K P D eine Rolle spielten. Der Bund war politisch heterogen. Beiträge zu bestimmten Sachdiskussionen lieferte er, ohne sich zu einer bestimmten Partei zu bekennen. Dem Nationalsozialismus wandten sich nur sehr vereinzelt einige Mitglieder zu. Offiziell engagierte sich der Bund geschlossen gegen die nationalsozialistische Ideologie 128 . Er verstand sich wohl am ehesten darauf, die Begrifflichkeit des Sozialismus und ihre politische Umsetzbarkeit zu erörtern und wollte nach allen Seiten hin möglichst allen Argumenten gegenüber offen bleiben. Die Mitgliedschaft im Bund religiöser Sozialisten spielte für das Selbstverständnis Grimmes eine entscheidende Rolle. Wo immer er in ein politisches Amt gewählt wurde, meinte er auch als religiöser Sozialist gewählt worden zu sein. Es bleibt fraglich, ob die Öffentlichkeit überhaupt Notiz davon nahm. Die Mitgliederzahl des Bundes blieb gering. Er selbst gab zu, dass die religiösen Sozialisten innerhalb der SPD einen „von den eigenen Parteifreunden belächeltes, ja sektiererhaft genommenes kleines Häuflein" bildeten129. Auch trat er nicht aktiv für den Bund ein. Das Bekenntnis zu Organisation und Philosophie des religiösen Sozialismus mündete nicht in öffentliche Auftritte. Als er 1930 zum Kultusminister Preußens aufstieg, zeigte sich der Schriftleiter der Zeitschrift für Religion und Sozialismus, Georg Wünsch, von der Mitgliedschaft im Bund völlig überrascht. Er sorgte zwar sofort dafür, die Nachricht innerhalb des Bundes zu verbreiten. Ebenso las und rezensierte er die Schriften der „religiöse Mensch" und die „religiöse Schule" 130 . Dies bedeutete aber doch umgekehrt, dass die Anstöße nicht einmal in den Zirkeln der religiösen Sozialisten bekannt waren. Grimme begrüßte das Wiedererstehen des Bundes nach 1945131, erneuerte noch 1960 seine Mitgliedschaft132, spielte aber im Leben des Bundes keine

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Renate Breipohl, Sozialismus (wie Anm. 118), S. 31. Die spektakulärste Auseinandersetzung zwischen dem Nationalsozialismus und den religiösen Sozialisten war der Fall Eckert, der wegen seiner Kritik an militärischen Symbolen in Kirchengebäuden 1930 sein Amt verlor. Demonstrationen mit achttausend Teilnehmern in Mannheim und Karlsruhe konnten den Vorgang nicht rückgängig machen. Ebd., S. 40 ff.

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Brief an Erich Wende vom 10. Oktober 1958, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 242 ff. Georg Wünsch an Grimme vom 17. März 1930, Marburg, N1 Grimme, Nr. 2791 Schriftwechsel mit Gerhard Kunze, Superintendent von Hannover und Mitbegründer des Bundes nach dem Zweiten Weltkrieg, N1 Grimme, Nr. 1984. Brief der Gemeinschaft für Christentum und Sozialismus, Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands an Grimme vom 12. April 1960, N1 Grimme, Nr. 2411.

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Der Bund religiöser Sozialisten

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Rolle. Er wird nicht geglaubt haben, dass der Bund der religiösen Sozialisten in die Breite wirken könnte, und ist vielleicht deshalb im Bundesleben nicht hervorgetreten. Tatsächlich gelang es zumindest bis 1945 kaum, Sozialisten und kirchliche Protestanten miteinander auszusöhnen. Die Kirchenleitungen bekämpften den Bund und in den sozialistischen Parteien löste sich nur sehr langsam das Misstrauen gegen christliches Gedankengut. Aber es löste sich. In der Langzeitwirkung rückten Politik und Religion zumindest in Deutschland in ein neues Verhältnis. Dies war sicher nicht den religiösen Sozialisten allein zu danken. Ihren Beitrag haben sie gleichwohl geleistet.

Drittes Kapitel Aufstieg im Schuldienst

1. Aufstieg in der Schulverwaltung Der SPD war Grimme beigetreten, um „in die Masse hineinzuwirken" und weil ihr Wirtschaftsprogramm seinen Zielen entsprach. Eine sozialistische Wirtschaftsordnung sollte nicht das Ziel sein, sondern die Grundlage für etwas Höheres bilden. Sein Handeln war gebunden an einen christlichen Glauben, was er durch die Mitgliedschaft bei den religiösen Sozialisten unterstrich. Die Schulreformer unterstützte er, weil er zum Erreichen seiner Ziele einen Mentalitätswechsel in der Bevölkerung vorbereiten musste. Mit dem Unverständnis der Umstehenden muss er gerechnet haben und Unverständnis begegnete ihm allenthalben. Sein Religionsverständnis empfanden die meisten als Gotteslästerung. Einen Auftritt auf der Pädagogischen Woche in Bielefeld im September 1922 kommentierte das christliche Tageblatt „Aufwärts" mit großem Schrecken: „Wir haben hier eine klare, deutliche Kampfansage eines Vertreters der weltlichen Schule an die konfessionelle Schule." Grimme forderte in geradezu brutaler und nicht sonderlich kluger Art und Weise alle christusgläubigen Erzieher heraus. Er hatte in seiner Rede gefordert, dem „größten homo religiosus Jesus Christus" in den Kampf gegen den alten Glauben zu folgen und der alte Glaube bestünde im Anbeten „Christi als Götzen" 1 . Jesus war für ihn nicht mehr als der Mensch Jesus von Nazareth, eine zu bewundernde Persönlichkeit, aber keine anzubetende. Ein Christ dürfe keinen Götzendienst leisten. Das Anbeten von Dingen widersprach seinem Ansatz von der Gleichwertigkeit aller Materie. Wie viele konnten ihm auf diesem Weg folgen? Traditionalisten hielten ihn für einen „notorischen Religionskämpfer von jugendlicher Maßlosigkeit" 2 . Das Einmischen eines Laien in theologische Fragen wirkte besonders provokativ. Kaum einer hörte so genau hin, wie es nötig gewesen wäre, weshalb Grimme sich über die Verstocktheit der Menge empörte. Die Ansicht eines Zuhörers, dass in

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„Aufwärts" vom 29. September 1922, N1 Grimme, Nr. 322. Die Pädagogische Woche fand vom 25. bis 30. September in Bielefeld statt. Zitat aus der „Tag" vom 26. Juli 1925, N l Grimme, Nr. 322.

Aufstieg in der Schulverwaltung

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religiösen Dingen „Zurückhaltung" geboten sei, teilte er nicht3. Gerade das Gegenteil hielt er für richtig. Er sah Handlungsbedarf und entrüstete sich einem Dritten gegenüber über die „Dummdreistigkeit" des Kritikers. Immerhin zeugt es von geistiger Reife, dass er nicht davor zurückschreckte, religiöse Dogmen gegen den Widerstand der Traditionalisten zu hinterfragen. Die zahlreichen Auftritte und Publikationen verschafften ihm die Aufmerksamkeit der Provinzialschulbehörde. Als Oberpräsident der Provinz Hannover und damit als Präsident des Provinzialschulkollegiums (PSK) in Hannover amtierte 1923 der Sozialdemokrat Gustav Noske 4 . Dieser beförderte ihn zu Ostern 1923 als Hilfsarbeiter in den höheren Schuldienst. 1924 folgte ein Wechsel an das Schulkollegium Magdeburg. Auch dieses unterstand einem Genossen. Es stellt sich also die Frage, ob der Aufstieg in der Schulverwaltung sich seiner SPD-Mitgliedschaft verdankte. Die Hannoveraner Konservativen sahen dies naturgemäß so und protestierten sofort gegen die Berufung. Für sie gab es keinen Zweifel, dass die Eltern der höheren Schulen Hannovers „ganz überwiegend rechtsgerichtet" waren5. Ebenso verhielt es sich ihrer Ansicht nach mit den Philologen der Stadt Hannover. Der Gegensatz zwischen konservativer Beamtenschaft und republikanischer Verwaltungspolitik trat offen zutage. In der Philologenschaft gab es im Wesentlichen zwei Richtungen. Die erste Gruppe sammelte sich hinter dem „Bismarckprogramm". Diese Gruppe war parteipolitisch neutral, jedoch national und konservativ. Ihr standen die Fortschrittlichen gegenüber, repräsentiert hauptsächlich von den „Entschiedenen Schulreformern". Das Verhältnis von Konservativen zu Fortschrittlichen stand in Hannover im Verhältnis sechs zu eins. In der Provinz besaßen die Konservativen eher noch einen größeren Vorsprung. Nach dem Rücktritt des „vornovemberlichen" PSK-Vorsitzenden erwarteten die Konservativen, dass diesen Verhältnissen entsprochen würde. Sie erwarteten einen konservativen Vertreter. Statt dessen wurde Grimme ernannt. Sein Eintritt in das Provinzialschulkollegium Hannover führte zu neuen Verhältnissen: Bisher hatten drei Konservative drei Fortschrittliche ausbalanciert. Nun stand das Verhältnis zwei zu vier. Die Konservativen mussten die Berufung zwangsläufig als politischen Fingerzeig deuten, denn für drei

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Brief ohne Datum, N1 Grimme, N r . 322.

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Gustav Noske ( 1 8 6 8 - 1 9 4 6 ) . 1 8 9 7 - 1 9 0 2 Redakteur in Königsberg, 1 9 0 6 - 1 9 1 8 M d R (SPD), 1 9 1 9 - 2 0 Reichswehrminister, 1 9 2 0 - 1 9 3 3 Oberpräsident der Provinz Hannover. Gustav Noske: Erlebtes aus Aufstieg und Niedergang einer Demokratie, Offenbach a. M. 1947; Wolfram Wette: Gustav Noske. Eine politische Biografie, Düsseldorf 1987.

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„Niederdeutsche Zeitung" vom 18. April 1923, N l Grimme, N r . 322.

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In der Schulverwaltung

der fortschrittlichen Dezernenten wurde eine bis dahin gültige Regel durchbrochen: Sie waren nicht Direktoren einer Schule gewesen. Obwohl auch er nie eine Direktorenstelle besetzt hatte, beförderte das Ministerium ihn am 1. April 1923 zum Studienrat. Am 23. Oktober 1923 erfolgte die Ernennung zum Oberstudienrat. Die Direktorenvereinigung der Provinz Hannover zeigte sich verständlicherweise nicht bereit, den Verstoß gegen die klassischen Regeln einer Schullaufbahn hinzunehmen. Am 3. Mai erging eine Protestnote an den Kultusminister. Die Sprecher der Direktorenvereinigung wiesen den Minister darauf hin, dass der Kandidat im Verwaltungsdienst völlig unerfahren sei und sein Dienstalter den schnellen Aufstieg keineswegs rechtfertige 6 . Ein höheres Schulamt könne nur jemand ausüben, der vorher praktische Erfahrungen im Schulalltag gesammelt habe. Das Ministeramt wurde von dem politisch rechts orientierten Otto Boelitz versehen. Es war also kein Sozialdemokrat, der den Direktoren antwortete. Ein Hilfsarbeiter, schrieb Boelitz, habe von jeher auch Aufsichtsbefugnisse. Die Zeitspanne, in der er verantwortlich gearbeitet habe, sei also durchaus hinreichend. Auch hielt er die Erfahrung im praktischen Schuldienst nicht für allein ausschlaggebend. Die Qualifikation für eine Aufsichtsfunktion sei nicht durch Praxis im Schulalltag bedingt. Was nun den Studienrat anbetreffe, schrieb er, werde dessen Jugend durch „anerkannte Tüchtigkeit und geistige Bedeutung" aufgewogen. Die Direktoren der höheren Knaben- und Mädchenschulen der Provinz Hannover würden sich hoffentlich bald davon überzeugen, dass ihre Befürchtungen unbegründet seien. An Fürsprache fehlte es nicht: Der Direktor vom Realgymnasium Leer und ein weiterer von der Realschule Emden bescheinigten, dass er ihnen als „tüchtiger Schulmann und sachkundiger Vertreter besonnener Reformen" bekannt sei7. Der PSK-Präsident Hannovers schrieb an den Präsidenten des PSK Magdeburg, der Kandidat werde ihm trotz seines „entschiedenen Protestes weggenommen". Der Kollege erhalte einen „sehr wertvollen Mitarbeiter", auf den er sich verlassen könne und mit dem möglichst „dauernd Fühlung" zu halten sei8. Ferner sei der Kandidat der einzige Sozialdemokrat im PSK Hannover. Auch darin könnte also ein Grund für den Wert des Mitarbeiters gelegen haben. Welche Rolle die Mitgliedschaft in der Partei für den raschen Aufstieg spielte, ist nicht zu klären. Für die Sozialdemokraten in den Schulkollegien Hannover und Magdeburg bedeutete sie

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Der Brief der Direktorenvereinigung an Boelitz vom 3. Mai 1924 ist identisch mit einer Protestnote an das PSK Hannover vom 13. Juni 1924, N1 Grimme, Nr. 322. Brief in N1 Grimme, Nr. 322. Noske an Hörsing vom 29. November 1924, Hannover, N1 Grimme, Nr. 322.

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gewiss ein Qualitätsmerkmal. Die Parteinahme des Ministers Boelitz deutet indes darauf hin, dass Reformqualitäten den Ausschlag gaben. Wie er seine Pflichten wahrnahm, können folgende Ereignisse zeigen: Am 15. November 1923 erschien er mit einem Kollegen vor der täglichen Morgenandacht in der Marienschule zu Bückeburg. Er nahm an der Andacht teil, die um 9 Uhr begann. Gleich darauf inspizierte er sämtliche Klassen und Lehrkräfte. Der Direktor der Schule begleitete ihn. Der Klassenbesuch dauerte etwa zehn bis fünfzehn Minuten. In den Unterricht griff er nicht ein. Um elf Uhr erklärte er seine Revision für beendet. Dem Direktor gegenüber schwieg er, abgesehen von „kurzen en passant gegebenen Bemerkungen" 9 . Eine Konferenz mit dem Lehrerkollegium fand nicht statt. Am 1. Dezember erhielt der Direktor der Schule den Bericht zugestellt. Ein derartig ungünstiges Urteil hatte er in seiner vierunddreißig Jahre währenden Amtszeit noch nicht zu Gesicht bekommen. Der Direktor meinte nun seinerseits, eine Verteidigungsschrift aufsetzen zu müssen. Der Bericht fand so großes Echo, dass in der Folge „Hinz und Kunz in der Stadtbevölkerung ohne jede Sachkunde" die Lage erörterte10. Am Ende fand die Debatte in der Gestalt einer „Großen Anfrage" seinen Weg in den Landtag zu Schaumburg-Lippe, der Grimme sofort vorwarf, parteilich geurteilt zu haben und zwar in seiner Eigenschaft als Sozialdemokrat. Das Provinzialschulkollegium hatte einen Vertreter in den Landtag entsandt, der die Vorwürfe für eine „Beleidigung eines preußischen Beamten von ganz hervorragenden Eigenschaften" hielt. Als mildernden Umstand ließ er gelten, dass die Lehrer „bisher an völlig farblose Berichte gewöhnt" waren. Wer richtig lese, würde außerdem in dem Bericht ein Anerkenntnis für die Schulleitung finden. Aus den Akten gehe hervor, dass die Marienschule noch im Jahr 1909 so heruntergekommen war, dass „ein Direktor in reiferen Lebensjahren nicht mehr die Kraft in sich fühlte, die Schule aus diesem Tiefstand zu erheben". Der Schule sei immerhin die „durchschnittliche Leistung" einer preußischen Anstalt zugebilligt. Im Übrigen habe das Provinzialschulkollegium „unbedingtes Vertrauen zu den geradezu glänzenden, überragenden geistigen Eigenschaften" seines Referenten. „Und dieses Vertrauen sei allein maßgebend beim Ausüben der Schulaufsicht". Noch im Jahr 1924 traf ein Schreiben von Walter Lande ein, Ministerialrat im Preußischen Kultusministerium. Lande eröffnete eine „etatmäßige Sachlage", die den Umzug Grimmes nach Magdeburg erforderte. Das Provinzialschulkollegium Hannover besaß einen Personalüberhang. Die in ' 10

Bericht des Direktors der Marienschule vom 10. Dezember 1923, N1 Grimme, Nr. 928. Beilage zur „Schaumburg-Lippischen Landeszeitung" vom 5. April 1924, Nl Grimme, Nr. 928.

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Hannover „entbehrliche schultechnische Stelle" werde nun für ein anderes Kollegium benötigt. Grimmes Position werde formal nach Magdeburg transferiert. Wenn er in Hannover bleiben wolle, würde ihm ein Direktorenposten übertragen. Seine Stelle würde dann in Magdeburg neu besetzt. Alternativ schlug Lande vor, nach Magdeburg überzusiedeln. Lande hatte sich im Kultusministerium besonders eingesetzt. Er hielt Grimme für einen der „wenigen fortschrittlich eingestellten Schulverwaltungsbeamten". Zehn Jahre lang hatte Lande im Provinzialschulkollegium Magdeburg gearbeitet und empfahl den Wechsel, obschon er zugab, dass Magdeburg in kultureller Hinsicht Hannover nicht gleichkam11. Grimme nahm das Angebot an. Lande gratulierte und empfahl bei Unklarheiten, den Ministerialrat Richert zu konsultieren 12 . Hans Richert galt als der Vater der preußischen Reformen an höheren Schulen13 und war Provinzialreferent im Kultusministerium sowohl für die Provinz Hannover als auch für die Provinz Sachsen14. Im Jahr 1922 legte Richert eine Denkschrift vor, die das preußische Kultusministerium herausgab 15 . Im folgenden Jahr erschienen seine „Richtlinien für einen Lehrplan der Deutschen Oberschule und der Aufbauschulen". Diese Richtlinien bildeten die Grundlage der preußischen Schulreform des Jahres 1924. Auf Reichsebene konnte seit 1919 keine Einigkeit über eine Gesamtreform erreicht werden, sodass die Schulangelegenheiten im Aufgabenbereich der Länder verblieben. An Absichtserklärungen fehlte es nicht, diesen Zustand zu ändern und eine Konzentration auf Reichsebene herbeizuführen. Eine

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Walter Lande an Grimme vom 21. Mai 1924, N1 Grimme, Nr. 1997. Walter Lande an Grimme vom 5. Juni 1924, N1 Grimme, Nr. 1997. Zur Schulpolitik in Preußen während der Weimarer Republik: Gerhart Giese: Quellen zur deutschen Schulgeschichte seit 1800, Quellensammlung zur Kulturgeschichte, Bd. 15, hrsg. von Wilhelm Treue, Göttingen usw. 1961; Christoph Führ: Zur Schulpolitik der Weimarer Republik. Die Zusammenarbeit von Reich und Ländern im Reichsschulausschuss (1919-1923) und im Ausschuss für das Unterrichtswesen (1924-1933). Darstellung und Quellen, 2. Aufl., Weinheim usw. 1972 (weiterhin zit.: Führ, Schulpolitik); Wolfgang Zorn: Hochschule und höhere Schule in der deutschen Sozialgeschichte der Neuzeit, in: Spiegel der Geschichte. Festgabe für Max Braubach zum 10. April 1964, hrsg. von Konrad Repgen und Stephan Skalweit, Münster 1964, S. 321-339; Wilhelm Flitner und Gerhard Kudritzki (Hrsg.): Die deutsche Reformpädagogik, 2. Aufl., Düsseldorf 1967. Mit Richert existiert ein sachlicher und eher unpersönlicher Schriftwechsel in dem Zeitraum 1925-1933, Nl Grimme, Nr. 2295. Richert veröffentlichte in den zwanziger Jahren eine Reihe von Denkschriften, darunter die Denkschrift über die grundständige deutsche Oberschule vom 18. Februar, in: Sonderbeilage in ZBI 6 (1922). Vor allem aber die Denkschrift des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung: Die „Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens", Berlin 1924.

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Reichsschulkonferenz tagte 192016. Ein Bildungsausschuss trat von 1919 bis in den Mai 1924 zusammen. Einige die Schule betreffende Gesetzesartikel fanden den Weg in die Reichsverfassung17. Vor allem der schnelle Wechsel der politischen Konstellationen auf Reichsebene ließ einen mehrheitsfähigen Kompromiss aber nicht entstehen. Darüber hinaus verminderte sich mit zunehmendem zeitlichen Abstand von dem politischen Umbruch des Jahres 1919 auch die Bereitschaft der Länder, Kompetenzen an das Reich abzutreten. Die Kultusminister der einzelnen Länder begannen sich untereinander zu verständigen, ohne eine Reichsinstanz zwischenzuschalten. Die von keiner deutschen Verfassung je vorgesehene Kultusministerkonferenz war begründet. Als sich 1924 das Scheitern einer reichseinheitlichen Lösung abzeichnete, beschloss Preußen eine eigene Schulreform. Im Kultusministerium hofften einige, mit einer preußischen Reform doch noch ein Reichsschulgesetz anstoßen zu können 18 . Die deutschen Reichsländer versperrten sich traditionell einem Einheitsgesetz mit dem Hinweis auf dynastische, stammesgeschichtliche und vor allem religiöse Sonderheiten ihres Zuständigkeitsbereiches. Diese Sonderheiten existierten allesamt in dieser oder jener Form in Preußen. Wenn also innerhalb Preußens ein Reformwerk gelang, konnte mit einigem Recht auf eine Übernahme auf Reichsebene gehofft werden. Uber den Bedarf, die Schulen zu erneuern, bestand nirgendwo Zweifel. Die preußischen Reformen besaßen ein inneres und ein äußeres Moment. Die Organisation der Schultypen und einzelner Unterrichtsfächer sollte neu gestaltet, ferner aber auch der Inhalt der Lehrpläne und die Art des Unterrichts in eine neue Epoche überführt werden. Eine Einheitsschule einzurichten, konnte sich das Kultusministerium nicht entschließen, möglicherweise auch aus Rücksicht auf die langfristige Absicht, das Schulsystem auf Reichsebene zu vereinheitlichen. Dieses Ziel konnte um so weniger erreicht werden, je radikaler die Eingriffe ausfielen. Richert setzte auf die bewährten Schultypen: Gymnasium, Oberrealschule und Realgymnasium. Diesen drei Grundgestalten gab er noch eine vierte hinzu: die Deutsche

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Die Reichsschulkonferenz 1920. Ihre Vorgeschichte und Vorbereitung und ihre Verhandlungen. Amtlicher Bericht, erstattet vom Reichsministerium des Innern, Leipzig 1921.

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Die einzelnen Artikel der Reichsverfassung abgedruckt bei Führ, Schulpolitik (wie Anm. 13), S. 157 ff.

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Brief Richerts an Becker vom 25. Januar 1925, Berlin, abgedruckt in: Dieter Margies: Das höhere Schulwesen zwischen Reform und Restauration. Die Biografie Hans Richerts als Beitrag zur Bildungspolitik in der Weimarer Republik, Rheinstetten 1972, S. 95 ff. (weiterhin zit.: Margies, Richert).

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In der Schulverwaltung

Oberschule. Anstatt zu vereinheitlichen, differenzierte die Reform das Bildungssystem weiter aus. Hinter diesem Schritt stand Richert mit seinen persönlichen Ansichten. Sein Ausgangspunkt bestand in der Annahme, dass sich die deutsche Kultur aus wenigen „Quellbezirken" entwickelt habe. Hierzu zählte er die Antike, das Christentum, den modernen Europäismus und den deutschen Idealismus. Diesen Quellbezirken folgten die Schultypen. Das Gymnasium lehrte um den Schwerpunkt des Christentums und der Antike, was den Unterricht in alten Sprachen erforderte. Auf dem Realgymnasium spielten Latein und Griechisch eine weitaus geringere Rolle. Dieser Typ sollte sich stärker auf den modernen Europäismus beziehen. Die von Richert neu begründete Deutsche Oberschule umkreiste mit den einzelnen Schulfächern vor allem den deutschen Idealismus. Der deutsche Idealismus aber sollte allen vier Typen, auch der mathematisch und naturwissenschaftlich ausgerichteten Oberrealschule, als verbindende Mitte dienen19. Die „elastische Einheitsschule" mit ihren vielfältigen, den Interessen der Schüler folgenden Wahlmöglichkeiten lehnte er ab und zwar mit dem Argument, dass Wahlfreiheit die Leistungen vermindere. Dieser Schultyp stelle auf keinem Gebiet „wirklich erhöhte Anforderungen" und enthalte auf der anderen Seite die „Gefahr einer Zersplitterung der Kräfte" 20 und „Tendenzen der Gleichmacherei". Konfessionelle und soziale Herkunft wollte er berücksichtigen, noch bevor auf die individuelle Begabung des Schülers gesehen und der Einzelne gefördert würde21. Die äußere Reform bestand im Zusammenlegen verschiedener Schulen und Schultypen. Unter anderem wurden Jungen und Mädchengymnasien zusammengelegt. Dass beide Geschlechter in einem Gebäudekomplex unterrichtet wurden, war nicht gleichbedeutend mit einem Unterricht im selben Raum. Die Koedukation galt noch als Experiment, wenn auch als ein vielversprechendes. Mit der Rückkehr zu einem im neunzehnten Jahrhundert klassisch gewordenem Fächerkanon verschwanden neu eingerichtete Fächer wieder vom Lehrplan. Die Reformen verdankten sich nicht zum kleinsten Teil dem Sparzwang der Regierung, den der Versailler Vertrag verursachte. Die innere Reform befasste sich vor allem mit den Lehrplänen und der Art des Unterrichts. Richert wollte die preußische Schule von starren "

Benno Schmoldl: Die Bedeutung der „Richertschen" Schulreform für die Entwicklung des höheren Schulwesens im deutschen Kaiserreich und nach 1945, in: Reinhard Dithmar u. Jörg Willer (Hrsg.): Schule zwischen Kaiserreich und Faschismus, Darmstadt 1981, S. 161 (weiterhin zit.: Dithmar u. Willer, Schule).

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Erlaß des Preußischen Kultusministeriums vom 14. Februar 1923, zitiert nach Margies, Richert (wie Anm. 18), S. 106. In Strasburg/Westpreußen und Dresden wurde erstmals 1 9 0 5 / 1 9 0 6 mit Wahlmöglichkeiten experimentiert.

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Margies, Richert (wie Anm. 18), S. 98.

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Lehrmethoden befreien. Er beabsichtigte, dem Arbeitsunterricht größeres Gewicht beizumessen, dem Vortrag des Lehrers weniger, der Mitarbeit der Schüler mehr Bedeutung zu geben. Darin lag ein Zugeständnis an die zeitgenössische Pädagogik. Richert selbst war von dem Arbeitsunterricht angeblich nicht überzeugt und unterrichtete in strenger Disziplin 22 . Die Methoden der Lehrer mussten freilich erst auf die neue Form des Unterrichts umgestellt werden. Das Ministerium erschuf aus diesem Grund unter der maßgeblichen Arbeit des Staatssekretärs und zweifachen Kultusministers C. H. Becker die pädagogischen Akademien, die die herkömmlichen Lehrerseminare ersetzten. Insgesamt hatte Richert vor, die preußischen Schulen in den Dienst an einer „deutschen Nationalbildung" zu stellen. Der Schulbesuch sollte nicht mehr die Persönlichkeitsbildung als Endziel haben, sondern das Aufgehen des Einzelnen in der deutschen Volksgemeinschaft. Die Schlagworte des Programms waren in ihrer Aussagekraft freilich begrenzt, denn was sollte unter „Deutschtum", unter „Antike", unter „Europäismus" oder „Christentum" verstanden werden? Tatsächlich hat sich Richert über den eigentlichen Sinn seiner Begriffe keine letzte Klarheit verschafft. Hieran mag es gelegen haben, dass Grimme mit den Reformplänen „verzweifelte Schwierigkeiten" hatte23. Er warf ihnen vor, in einem vergangenen Zeitalter zu wurzeln und meinte, Richert habe die alte „wundervolle humanistische Idee" missverstanden. Diese Idee sei „kulturunbedingt" und nicht an bestimmte Epochen gebunden. Eine gute Schule dürfe keinem bestimmten Abschnitt der Geistesgeschichte verpflichtet sein. Allein schon deshalb nicht, weil die Definition einer vergangenen Kultur immer nur konstruiert bleibe. Aus der Konstruktion entstehe immer etwas Künstliches. Da der kulturelle Inhalt einer vergangenen Zeit nicht zu bestimmen sei, könne sie auch nicht Vorbild einer Schulreform sein. Eine Bildungsanstalt müsse sich unbedingt durch „allen Kulturwandel" hindurch halten. Sie dürfe deshalb nie in der Konstruktion oder im Nacherleben ihren Sinn sehen. Das Fundament der neuen Schule sei die „pädagogische Intuition" 24 . Damit war wohl gemeint, dass sich die Fähigkeit zum Denken ebenso gut an der eigenen Zeit und dem Unmittelbaren schulen lässt. Sowohl die Forderung nach „Originärschöpferischem", als auch seine sokratische Unterrichtsmethode legen diesen Schluss nahe. Er wollte als Ausgang eines Unterrichts die Gegenstände nutzen, die bereits in den Köpfen der Schüler

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Jauernig an G r i m m e am 14. Juni 1961, N1 Grimme, N r . 1798. Jauernig hatte bei Richert oft im Unterricht hospitiert. Er sei ein glänzender Lehrer gewesen, urteilte Jauernig, aber „er nahm seine Schüler fest in die H a n d " . Brief an Pflug vom 26. November 1930, N1 Grimme, N r . 1115. Grimme über Richert und die Schulreform, in: Sauberzweig (1967), S. 30 f.

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vorhanden waren, wobei Grimme die Grenzen dieses Ansatzes sehr weit zog: 1926 dozierte er an einer Mädchenschule, dass bei der Nadelarbeit über die Stoffe, also beispielsweise Leinwand, Seide oder Spitzen eine „Verbindung zur Kulturkunde" hergestellt werden könne und müsse25. Er lehnte die Reformpläne nicht rundweg ab. Dafür enthielten sie zu viele Punkte, mit denen er übereinstimmte. Letztlich rechnete er Richert an, dass dieser überhaupt eine Reform anstieß. Dass sie noch zu vollenden war, stand auf einem anderen Blatt. Richert, lobte er, wage einen „kühnen Schritt" 26 .

2. Berlin Die Zeitumstände förderten den weiteren beruflichen Aufstieg. Die Erfahrung teilte die Weimarer Republik mit den Nationalsozialisten und den Nachkriegsgesellschaften: Es standen nicht genügend Fachkräfte zur Verfügung, die sich zum neuen Staat bekannten und gleichzeitig ihre Aufgaben erfüllten. Die alten Beamten blieben im Dienst und hielten die Stellen besetzt. Der nachrückenden Generation, zum Träger des neuen Staatsgedankens besser geeignet, fehlte die Existenzgrundlage, wogegen sie sich empörte. Weil die politische Zugehörigkeit den Ausschlag gab, kannten Karrieristen die Schlagworte aus Parteiprogrammen besser als ihr Fachgebiet. Ein Mann wie Grimme bildete einen Glücksfall für die Schulbehörde. Er war jung, motiviert, gehörte der richtigen Partei an und konnte überdurchschnittliche Arbeitserfolge vorweisen. Seine Position bot ferner die Möglichkeit, Staatstreue und Reformeifer täglich neu zu belegen. Zu seinen Aufgaben im PSK gehörten neben Schulinspektionen vor allem Personalfragen und Organisatorisches. Auf einer von ihm vorbereiteten Direktorenkonferenz nahm er ein Anliegen aus Studententagen wieder auf. Er verwies auf die Notwendigkeit von Begabtenförderung 27 , die er für eine dringende Aufgabe hielt, da das geltende Berechtigungswesen nur bestimmte Schüler fördere. Nicht die Fähigkeiten der Schüler, sondern der Geldbeutel der Eltern bestimme weitestgehend den Abschluss der Kinder28. Seine Kritik richtete sich gegen Schüler, deren fehlende geistige Leis-

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Aktennotiz vom 24. Juni 1926, N l Grimme, Nr. 693. In einem Brief an O t t o Hörsing schrieb Grimme, dass er Richerts „Handbuch für den evangelischen Religionsunterricht" kannte und „sehr davon angetan" war. Von den „Richtlinien" zeigte er sich gerade deshalb „herbe enttäuscht", N l Grimme, Nr. 1752. Protokoll der Konferenz vom 3. Oktober 1928, N l Grimme, N r . 2633. Hierzu ζ. B. Grimme: Vom Verhängnis der Schulbildung, in: „Preußische LehrerZeitung", 28. Februar 1929.

Berlin

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tung mit Rücksicht auf das Ansehen der Eltern wohlwollend übersehen wurde. Es ging ihm nicht darum, die unteren Schichten als solche zu fördern. Lediglich für die begabten Kinder dieser Volksgruppe beabsichtigte er, größere Möglichkeiten zu schaffen. Dieser Plan deckte sich zwar nicht mit der sozialdemokratischen Absicht, möglichst viele Arbeiterkinder an die hohen Schulen zu bringen. Trotzdem nahm die Umwelt ihn offenbar in der Hauptsache als Parteipolitiker wahr. Anders ist kaum zu erklären, weshalb ihm am 12. März 1926 das Amt des Oberstadtschulrates von Berlin angeboten wurde. Seit dem Groß-Berlin-Gesetz vom 27. April 1920 setzte sich die Reichshauptstadt aus vierzehn Außenbezirken und sechs Innenbezirken zusammen. Jeder Außenbezirk besaß eine Bezirksschuldeputation, die vor allem Gebäude verwaltete. Die sechs Innenbezirke, die Alt-Berlin entsprachen, hatten sich auf eine einheitliche Deputation geeinigt. Die einzige inhaltliche Aufgabe lag darin, Lehrkräfte zu wählen und auf die einzelnen Schulen zu verteilen. Den Vorsitz über alle Bezirksdeputationen führte der Stadtschulrat, der damit an der Spitze der städtischen Schulverwaltung stand29. Inhaltlich bestimmte das Provinzialschulkollegium Berlin-Brandenburg in Lichterfelde den Unterricht. Der Oberpräsident der Provinz Sachsen, Otto Hörsing, hatte die Absicht der SPD und der KPD übermittelt. Beide Linksparteien wollten die freigewordene Stelle mit einem ihn nahestehenden Kandidaten besetzen. Grimme hielt es für unwahrscheinlich, dass die SPD ihn nominieren würde. Seiner „ganzen Einstellung nach" hielt er sich nämlich für ganz „parteiundogmatisch" 30 . Er wollte weder Marionette noch „bloßer Mandater" der SPD sein und seine Kraft nicht im „Kleinkrieg gegen die Rechte" aufopfern. Am 13. März 1926 schrieb er an seinen Vorgesetzten und Vertrauten, Ministerialrat Walter Lande 31 , und offenbarte seine Bedenken schriftlich dem Präsidenten des Kollegiums Berlin Brandenburg, Otto Hüttebäuker. Er fürchtete, dass er mit seiner Person und seiner Arbeitsweise der politischen Zugrichtung des Vorhabens kaum gerecht würde. Er sei ein sachlich arbeitender Mann. Er verbinde Gegensätze und suche keine Konflikte.

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Jens Nydahl (Hrsg.): Das Berliner Schulwesen, Berlin 1928 (weiterhin zit.: Nydahl, Schulwesen). Brief an Hüttebäuker vom 13. März 1926, Nl Grimme, Nr. 1777. Walter Lande war Ministerialrat in der Unterrichtsabteilung II. des Kultusministeriums. Die Abteilung U II. war für das höhere Schulwesen Preußens zuständig. Namen und Positionen lassen sich anhand des Handbuchs über den Preußischen Staat, hrsg. vom Preußischen Staatsministerium, ermitteln. Zu den Aufgaben der einzelnen Unterabteilungen des Preußischen Kultusministeriums wurden die Vorbemerkungen in der Aktenregistratur des Ministeriums herangezogen.

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In der Schulverwaltung

Lande und Hüttebäuker antworteten schnell und widersprüchlich. Lande riet dringend von dem Angebot ab32. Der Stadtschulrat sei zwar verantwortlich für die städtischen Schulen aller Grade und berate den Magistrat. Andererseits könne er aber seiner Funktion nach immer nur bestätigen oder verhindern, wegen der Abhängigkeit vom Magistrat jedoch nie wirklich entscheiden. Der Spielraum in organisatorischen Dingen sei eng, da die meisten Probleme nur auf Staatsebene, niemals aber auf Stadtebene zu lösen wären. Nicht einmal Lehrer könne der Stadtschulrat einsetzen, denn deren Wahl vollziehe sich auf Bezirksebene. Hüttebäuker erteilte den genau entgegengesetzten Rat. Er riet „dringend zu", das Amt zu übernehmen. Nicht allein deshalb, weil die Position des Stadtschulrates eine „einflussreiche" und „gut bezahlte Stellung" sei. Auch nicht aus Eigennutz, etwa weil das Zusammenspiel zwischen ihm und Grimme ein gutes Arbeitsverhältnis zwischen der Stadt Berlin und dem Staat Preußen gewissermaßen garantiere. Er müsse vielmehr „um der Sache willen" zusagen. Begeistert schrieb Hüttebäuker, er könne sich überhaupt keinen besseren Kandidaten vorstellen. Grimme verfüge sowohl über die „geistige Potenz", als auch über die „für interne Verwaltung unentbehrliche Gründlichkeit". Alle anderen von der SPD in Aussicht genommenen Kandidaten besäßen nicht die für das Amt erforderlichen Eigenschaften33. In seiner Rückschrift an Hörsing übernahm er zunächst die Bedenken Landes34. Er bat darum, doch einen anderen Kandidaten zu suchen. Nur wenn kein anderer gefunden würde, wenn ferner die Berliner Genossen trotz seiner Schriften, die bei den „Entschiedenen Schulreformern" erschienen waren, mit ihm als Kandidaten einverstanden wären, lasse er sie nicht im Stich. Er befürchtete, dass die Genossen einer sachliche Schulpolitik nicht immer zustimmen würden35. Auf der anderen Seite hielt er es für möglich, als Kandidat einen Teil der Konservativen für sich zu gewinnen36. Er nannte die Übernahme des Postens eine moralische Pflicht. Erstens wusste er aus eigener Erfahrung von den Schwierigkeiten, geeignete Kandidaten für Sonderaufgaben zu finden37' und gerade im linken Lager glaubte er, einen Mangel an Führungspersönlichkeiten ausgemacht zu haben38. Zweitens hoffte er, einen größeren Einfluss für das Amt auszuhandeln.

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Brief Walter Lande an Grimme vom 16. März 1926, N1 Grimme, Nr. 1997. Brief Hüttebäuker an Grimme vom 17. März 1926, Berlin, N1 Grimme, Nr. 1777. Brief an Otto Hörsing vom 20. März 1926, Magdeburg, in: Sauberzweig (1967), S. 26. Brief an Walter Lande' vom 25. April 1926, N1 Grimme, Nr. 1997. Brief an Otto Hörsing vom 20. März 1926, Magdeburg, in: Sauberzweig (1967), S. 27. Brief an Martin Luserke vom 13. Juli 1926, Magdeburg, in: Sauberzweig (1967), S. 27. Brief an Walter Lande' vom 25. April 1926, Nl Grimme, Nr. 1997.

Eintritt ins Kultusministerium

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Wenn die verhandelnden Parteien ihn wirklich nominieren wollten, hätte er Bedingungen stellen können. Für die „Idee des Sozialismus" stellte er seine persönlichen Bedenken zurück 39 Mit der Kandidatur beabsichtigte Grimme eine bestimmte Richtung innerhalb der Sozialdemokratie zu stärken und zwar die des religiösen Sozialismus. Er glaubte, sein religiöser Standpunkt würde gemeinhin beachtet. Innerhalb der SPD könne dies ein Beitrag zum Durchbruch seines eigenen Sozialismusbegriffes bedeuten. Außerhalb der Partei werde ein Stadtschulrat Grimme gewiss als eine Abkehr von der „absoluten Vorherrschaft der traditionell marxistischen Kultuspolitik der SPD gewertet" 40 . Zwar sah er sich als „Träger sozialistischer Gedanken", als „Funktionär einer häufig genug sehr wenig sozialistischen Partei" würde er sich aber nicht fühlen41.

3. Eintritt ins Kultusministerium Bis auf die Unterabteilung IV, in der Richtlinien zur Pflege der Kunst, der Theater, Schlösser und Gärten entstanden, bearbeitete das Ministerium ausschließlich Fragen des Bildungssystems42. Die Provinzinstitutionen hatten die Richtlinien umzusetzen. Die Präsidentschaft des Provinzialschulkollegiums lag von Rechts wegen beim Oberpräsidenten. Ihr faktischer Leiter trug den Titel eines Vizepräsidenten43. In Berlin gab es einen verwaltungstechnischen Sonderfall. Die Stadt mit ihren vier Millionen Einwohnern war ein von der Provinz Brandenburg abgesonderter Kommunalbe-

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Brief an Otto Hörsing vom 20. März 1926, Magdeburg, in: Sauberzweig (1967), S. 26. Brief an Walter Lande vom 13. März 1926, Magdeburg, N1 Grimme, Nr. 1997. Brief an Walter Lande vom 25. April 1926, N1 Grimme, Nr. 1777. Gerd Heinrich: Wissenschaftsverwaltung, Bildungswesen und Kulturaustausch, in: Ders. u. a. (Hrsg.): Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815-1945. OrganisationAufgaben-Leistungen der Verwaltung, Stuttgart usw. 1993; Kurt A. Jeserich (Hrsg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, Stuttgart 1985; Wolfgang Neugebauer: Das Bildungswesen in Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Handbuch der preußischen Geschichte, bearb. u. hrsg. v. Otto Büsch u. Wolfgang Neugebauer, Berlin u. New York 1981; S. 605-792. Zu den Abteilungen des Kultusministeriums: Handbuch über den Preußischen Staat, hrsg. vom Preußischen Staatsministerium, Berlin. Außerdem: Marlene Meyer-Gebel: Zur Entwicklung der zentralen preußischen Kultusverwaltung (1817-1934) im Spiegel ihrer Aktenüberlieferung im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, in: Aus der Arbeit des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, hrsg. von Jürgen Kloosterhuis, Berlin 1996; Weiser, Schulwesen (wie Kap. 1, Anm. 55). Horst Möller: Die preußischen Oberpräsidenten der Weimarer Republik als Verwaltungselite, VJfZ 30 (1982), S. 1-26.

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In der Schulverwaltung

zirk. Der Magistrat bildete die oberste Behörde und unterstand direkt dem Staatsministerium. Die Schulen unterstanden dagegen dem Provinzialschulkollegium Berlin-Brandenburg. Somit nahm die Stadt mit einer Einwohnerzahl eines Reichslandes die gleiche Stellung gegenüber der Schulverwaltung ein wie die kleinste Dorfgemeinde. Der Magistrat leistete sich eine kleine Anzahl von Schulräten, deren Aufgabengebiet jedoch unbestimmt blieb. Er beabsichtigte, seinen Einfluss auf die Unterrichtsinhalte auszudehnen. Ein Zuwachs an Einfluss musste den einzelnen Stadtbezirken, vor allem aber dem Schulkollegium Berlin-Brandenburg abgerungen werden44. Das Amt des Schulrates übernahm Grimme nicht. Der Vorgang hatte aber Aufmerksamkeit auf den Magdeburger Hilfsarbeiter gelenkt. Neben der Möglichkeit, in die Position des Berliner Schulrates aufzurücken, eröffneten sich nun weitere. Hüttebäuker beabsichtigte, eine vakante Stelle in dem Provinzialschulkollegium Berlin-Brandenburg mit ihm zu besetzen45. Dem Anschein nach machte aber nun Lande seinen Einfluss geltend. Lande kannte ihn seit dessen Eintritt ins Schulkollegium Hannover und war von dessen Fähigkeiten überzeugt. In das Verhältnis zwischen Hüttebäuker und Lande hatten sich zum Zeitpunkt des Berliner Angebotes Missklänge gemischt. Nun führte Hüttebäuker am 17. März 1926 ein Gespräch mit Minister Becker. Bei dieser Gelegenheit verhandelten die beiden vermutlich die Zukunft ihres Mitarbeiters. Das ist allein deshalb wahrscheinlich, weil dieser weder das Amt des Schulrates übernahm, noch in das Schulkollegium Berlin-Brandenburg wechselte. Statt dessen trat Grimme in das Kultusministerium ein und zwar in die Abteilung U II, in der Lande selbst als Ministerialrat wirkte. Vom Oberschulrat in Magdeburg zum Ministerialrat im Kultusministerium befördert zu werden, bedeutete einen beachtlichen Aufstieg, der sich mit einer neuen Gehaltslage verband. Wenn die Gehaltsfrage nicht den Ausschlag für die Annahme des Postens im Ministerium gab, so wird sie den Entscheid für einen Umzug nach Berlin doch erleichtert haben, denn die Familie zählte mittlerweile fünf Mitglieder. Aus der 1916 geschlossenen Ehe mit Maria Brachvogel waren drei Kinder hervorgegangen. Im Jahr 1917 wurde die älteste Tochter Liselotte geboren, gefolgt von den Söhnen Eckart 1918 und Peter 1921 46 . Drei Kinder können auf ein intaktes Verhältnis hinweisen. Unglücklich war die Ehe nicht. Gleichwohl erfüllte sie sich nicht ins Alter hinein. Maria Grimme,

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Nydahl, Schulwesen (wie Anm. 29), S. 6, bezeichnete den Grad der Selbstverwaltung Berlins bezüglich der Schulen als „auf die Dauer untragbar". Brief Hüttebäuker an Grimme vom 17. März 1926, Berlin, N1 Grimme, Nr. 1777. Lieselotte wurde am 4. März 1917, Eckard am 23. November 1918 und Peter am 11. April 1921 geboren.

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genannt Mascha, stand der politischen Welt ihres Mannes fern. Der geistige Austausch zwischen den Ehepartnern fand nicht auf gleicher Augenhöhe statt. Während der Kanzlerschaft Hitlers versammelten sich im Hause politische Freunde zu Gesprächsrunden. Er bat seine Frau in solchen Fällen, den Raum zu verlassen47. Dies geschah zu ihrem Schutz und bewahrte sie vor einer Gefängnisstrafe. Trotzdem lag hier ein Unterschied zu anderen Frauen im Umfeld der Gruppe, für die eine Sondergruppe der Gestapo den Namen „Rote Kapelle" erfand. Innerhalb der Familie übernahm er die Rolle des strengen Versorgers. Möglich, dass er sie selbst suchte. Möglich wäre auch, dass die viel sanftere Natur seiner Frau ihn in diese Rolle hineingedrängte. Sie entwickelte nicht den erzieherischen Ehrgeiz ihres Mannes. Vielmehr ließ sie Unentschiedenheiten ihrer Kinder sorglos durchgehen. Als sich Sohn Peter nach mehreren Orientierungsversuchen noch immer nicht für einen festen Beruf entscheiden konnte, schrieb der Vater erbost: „Liebe Mascha, ich muss schon sagen, dass ich kein Verständnis dafür habe, dass Du diese erschütternde Aussicht, wie es scheint, so einfach hinnimmst." Peter solle endlich aufhören, der immer „wiederkehrenden Unlust" nachzugeben. Er diagnostizierte, dass er selbst der „seelischen Belastung nun auch noch von Peter her" nicht mehr länger gewachsen sei. Nun müsse mit „Härte" vorgegangen werden. Er hielt es für völlig verfehlt, Peter nun auch noch zu bemitleiden, weil er so „schwierige Berichte" zu schreiben habe. Peter solle „zum Donnerwetter schließlich auch einmal an seine Eltern denken". Von seinem Sohn verlangte er, das Leben „wie ein Mann anzupacken" und alle „Widerwärtigkeiten mit Energie zu überwinden". Gern hätte er seinen Sohn als Lehrer gesehen. Dieser Beruf böte wie wenige andere „viel freie Zeit, viel Urlaub und eine bei gutem Verdienst abgesicherte Existenz"48. Zu Hause zog er sich meist in seine Bibliothek zurück, lag auf dem Bett und las oder saß an der Schreibmaschine und schrieb. Im Kultusministerium kamen die Unterhändler erst im August 1927 zu einem Abschluss. Becker teilte dem Präsidenten des Schulkollegiums Magdeburg mit, dass er gedenke, den Magdeburger vom 1. Oktober des Jahres als Hilfsarbeiter in seinem Ministerium zu beschäftigen. Der Kandidat solle sich am 21. September des Jahres bei ihm zum Dienstantritt melden49. Im September 1927 siedelte er mit den Seinen nach Berlin über. Wie schon in Hannover bedauerten seine Mitarbeiter den Wechsel. Das Arbeitsverhältnis war, den wenigen Zeugnissen nach, unkonventionell. Er versuchte, 47 48 49

Gespräch mit Peter Grimme im April 2002. Brief an Peter Grimme vom 18. Dezember 1948, N1 Grimme, Nr. 3324. C. H. Becker an den Präsidenten des PSK Magdeburg vom 24. August 1927, N1 Grimme, Nr. 3265.

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„Freund und helfender Berater" zu sein50 und bot den Studienassessoren an, sich in besonderen Fällen unter „Ausschaltung des Dienstweges" an ihn direkt zu wenden51. In Magdeburg hatte er sich besonders der weiblichen Belegschaft versichert. Nicht zuletzt durch einen Bericht an das Kultusministerium, in dem er empfahl, den Anteil der Frauen in der Schulverwaltung dem der Männer gleichwertig zu gestalten52. Die weiblichen Mitarbeiter lobten, dass er „die Arbeit der Frauen verstand und in ihrer Besonderheit zu schätzen wusste" 53 . Magdeburger Mitarbeiterinnen hinterbrachten ihm in Berlin noch gelegentlich Naschwerk 54 . Der eigentlich Verantwortliche für die Schulpolitik war die gesamte Weimarer Zeit hindurch Carl Heinrich Becker. Schon Haenisch hatte sich auf ihn gestützt. Der sozialdemokratische Widerstand gegen Boelitz konnte vor allem wegen der weithin bekannten Schattenmacht Beckers im Zaum gehalten werden. Er wusste geschickt zu den Sozialdemokraten hin zu vermitteln. Die von ihm vorbereitete Schulreform in der Ära Boelitz kam ohne große Eingriffe weitgehend zum Abschluss. Ab 1925 führte er selbst ununterbrochen bis 1930 das Kultusministerium. Es gelang ihm nach einem Wort Grimmes jederzeit, seinem „Gesprächspartner die Befangenheit gegenüber dem Amtsträger" zu nehmen55. „Auch die strengste Materie verlor, wenn er sich über sie verbreitete, jeden Anflug von Trockenheit, weil sie ihm selbst so klar war, dass sein Gespräch darüber einem Plaudern gleich kam, ohne deshalb das Geringste von ihrem Gewicht zu verlieren." Er schien immer Zeit zu haben. Als Grimme eines Tages die Presseeingänge des Ministers durchging, betrat ein „alter Schiffer" das Vorzimmer, „misstrauische blaue Augen, schütterer Backenbart, derber blauer Anzug, dicke Schuhe. Der Schiffer war Ernst Barlach. O b er den Minister sprechen könne? Er sei aber nicht angemeldet. Antwort des Referenten: Für ihn sei der Minister immer zu sprechen; die Sitzung, die jetzt stattfinde, sei bald beendet. Der Referent war verlegen vor dem großen Künstler und arbeitete weiter. Barlach sah sich das Zimmer an, fand einen Nolde und einen Orlik, betrachtete den Referenten wohlwollend und begann ein Gespräch. Er kannte Becker noch

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Elisabeth Blochmann an Grimme, ohne Datum, Nl Grimme, Nr. 3325. Georg Günther an Grimme vom 4. Juni 1928, Nl Grimme, Nr. 1624. Bericht an das Kultusministerium vom 4. November 1926, erwähnt in Brief an Hörsing vom 31. August 1931, Nl Grimme, Nr. 1752. Elisabeth Blochmann an Grimme, ohne Datum, Nl Grimme, Nr. 3325. Erinnerung von Frau Dr. Gundermann, GStA PK, an ihre Mutter, mitgeteilt im Mai 2002. Folgende Zitate aus: Adolf Grimme: Der Botschafter des Deutschen Geistes, in: Carl Heinrich Becker. Ein Gedenkbuch, hrsg. von Hans Heinrich Schräder, Göttingen 1950, S. 65 ff.

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nicht. >ich will Ihnen was sagen: Minister zu sein, ist eine schlechte Sache. Entweder ist man ein Kerl, dann ist man nicht Minister, oder man ist Minister, dann ist man kein Kerl. < Nach einiger Zeit war der Minister frei, und Barlach ging hinein. Nach einer Stunde kam er zurück. Schweigend nahm er Hut und Mantel, schweigend und ohne Abschied ging er zur Tür. Dann blieb er stehen, drehte sich um und sagt: >Das ist ein Herr und ... Mensch!< Sprach's und ging." Becker gehörte keiner Partei an. Gemeinhin galt er als Nationalliberaler, obwohl er innerhalb der DDP-Fraktion nicht unbedingt einen Rückhalt besaß. Vielmehr hielten ihn Politiker der D D P für eigenwillig und unabhängig. Wahrscheinlich stützten sie ihn nur, weil sie selbst keinen Besseren hatten56. Es gab keine Partei, die nicht etwas an Becker auszusetzen hatte. Gerade deshalb genoss er aber eine gewisse Unantastbarkeit. Er selbst beschrieb sich als „unpolitischen Minister" als „Treuhänder sämtlicher Parteien" 57 . Tatsächlich stützte er sich in der Hauptsache auf zwei Pfeiler. Einerseits galt er als Repräsentant eines geistigen Deutschlands, das nie den Weg zu einer politischen Partei gefunden hatte. Diese Gruppe war weltanschaulich heterogen, ihre Mitglieder tendierten dazu, nicht Repräsentanten einer bestimmten Regierungs- oder Parteiauffassung sein zu wollen, sondern Träger einer eigenen Idee58. Die Lehrstühle seines Zuständigkeitsbereiches besetzte er hauptsächlich mit konservativen und „nationalen" Kandidaten. In seinem persönlichem Umfeld sammelte er andererseits eine Anzahl junger Sozialisten. Erich Wende gehörte dazu und als Grimme ausschied, wurde Adolf Reichwein als Nachfolger berufen59. Insgesamt achtete Becker auf ein politisches Gleichge56

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Dies meint Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biografie, Frankfurt a. M. usw. 1977, S. 479 (weiterhin zit.: Schulze, Braun). Tatsächlich spielte Becker 1925 noch einmal mit dem Gedanken, der DDP beizutreten. Die DDP aber wollte ihn nicht, denn wahrscheinlich hätte sie einen ihrer Ministerposten abgeben müssen. Begnügte sich doch die SPD selbst mit zwei Ministerien, obgleich sie einen viel höheren Stimmenanteil besaß. Es war sicherer, es bei Beckers „innerer Zugehörigkeit" zu belassen. Erich Wende: C. H. Becker - Ein biografischer Beitrag zur Kulturgeschichte der Weimarer Republik, Stuttgart 1959, S. 182 (weiterhin zit.: Wende, Becker). Schulze, Braun, S. 479. Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, 4. Aufl., München 1978, S. 304. Adolf Reichwein wurde am 1. April 1929 persönlicher Referent Beckers. Brief Adolf Reichwein an Wilfrid Schüler vom 3. März 1929, Friedenau, in: Gabriele C. Pallat u. a. (Hrsg.): Adolf Reichwein: Pädagoge und Widerstandskämpfer. Ein Lebensbild in Briefen und Dokumenten (1914-1944), Paderborn usw. 1999, S. 105. Einen raschen Uberblick über Reichwein bietet Ullrich Amlung: „in der Entscheidung gibt es keine Umwege": Adolf Reichwein 1898-1944. Reformpädagoge, Sozialist, Widerstandskämpfer, 2. Aufl., Schüren 1999.

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wicht in seiner Personalpolitik. Der stärkere Beamte erhielt den Vorzug, selbst wenn er kein Demokrat oder Sozialist war60. Er besaß eine Vorliebe für junge, motivierte Mitarbeiter. Hans Richert befand, im Ministerium gelte niemand etwas, der älter als vierzig sei61. Den stärksten Rückhalt fand er in Otto Braun, der ihn gegen den Willen seiner eigenen Partei lange nicht aufgeben wollte. Wer den Minister also politisch einzuordnen wünscht, könnte ihn einen nach links blickenden Unparteiischen nennen. Ein Republikaner aus Leidenschaft war er nicht. Er selbst bekannte, die Republik sei doch eine Notlösung. „Make the best of it - ist unsere Aufgabe" 62 . Ein starker Eindruck ging von ihm aus. Die Zeiterfordernisse beurteilten beide, wie Grimme meinte, übereinstimmend aus der „gleichen Werteschau" 63 . Bei allem Unterschied muss Becker ebenfalls eine geistige Verwandtschaft zu dem knapp dreizehn Jahre jüngeren Mitarbeiter gespürt haben. Anders ist nicht verständlich, weshalb er ihn zunächst als Vizepräsident des PSK Berlin einsetzte und dann als seinen eigenen Nachfolger vorschlug. Im Sommer 1927 begann er als Pressereferent im Ministerium, Unter den Linden 4. Er war der Abteilung U II. zugeteilt, die der Ministerialdirektor Jahnke leitete. Der eigentliche, geistige Kopf der Abteilung war aber nicht Jahnke, sondern Richert 64 . Schon Boelitz hätte Jahnke gern gegen Richert eingetauscht. Die DVP, der Richert angehörte, hatte sogar kurzfristig die Möglichkeit erwogen, Richert zum Kultusminister zu befördern. Boelitz erhielt den Vorzug, da er parteipolitisch enger gebunden schien. Doch obwohl Richert die Arbeit der Abteilung U II bestimmte, führte er innerhalb der Abteilung eine Art Einzeldasein. Er stammte aus Köslin, studierte zwar in Heidelberg, Greifswald, Kiel und Halle-Wittenberg, kehrte aber in die Ostprovinzen zurück. Bis zum Ende des Weltkrieges prägte ein Phänomen sein Denken, dass Preußen sich

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Wende, Becker (wie Anm. 56), S. 184. Margies, Richert (wie Anm. 18), S. 130. Brief C. H. Becker an Erich Wende vom 15. März 1925, in: N1 Erich Wende, hier zitiert nach Margies, Richert (wie Anm. 18), S. 59. Brief an Erich Wende vom 12. Dezember 1959, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 259 f. Wie sehr dies der Fall war, empfand Grimme rückschauend „erst jetzt nach einem ganzen Menschenalter". C. H. Becker schrieb an Erich Wende am 17. Februar 1924, der Minister habe mit ihm ganz offen über Jahnke gesprochen. „Er sagte wörtlich: Wenn ich tun könnte, was ich wollte, würde ich Jahnke und Kästner abbauen." Margies, Richert (wie Anm. 18), S. 158. Am 11. Januar 1925 schrieb Becker an Erich Wende, dass er mit Braun übereingekommen sei, die Posten von Jahnke und Klotzsch dem Zentrum anzubieten. Becker dazu: „Beide können ohne Schaden leicht ersetzt werden". Das Zentrum drohte damals, die Schulreform zu verhindern.

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im achtzehnten Jahrhundert durch die gewaltsame Teilung des Nachbarlandes aufgeladen hatte: das Streben der Preußen polnischer Nationalität nach einem eigenen Nationalstaat 65 . Wie geschickt die polnischen Gruppen untereinander Allianzen bildeten, hatte schon Bismarck beunruhigt. Solange die Polen keinen eigenen Staat besaßen und nicht in der deutschen Gesellschaft aufgingen, war mit polnischen Aufständen jederzeit zu rechnen. Das Nationalstreben der Polen förderte Richerts Patriotismus. O b er daraus eine „völkische Überheblichkeit" gegenüber den Polen entwickelte, wie sein Biograf schreibt66, oder nicht eher einen gewissen Respekt, gerade weil er das polnische Nationalgefühl für überlegen hielt und einen Erfolg der Separatisten nicht ausschloss, sei dahingestellt. Für die Schulreform wurde dieser persönliche Eindruck maßgebend. Er gab an, seine kulturpolitische Tätigkeit sei zunächst ein Beitrag für das Deutschtum gegen das polnische Unabhängigkeitsstreben gewesen. Den Kampf gegen das Polentum konnte Preußen nämlich seiner Ansicht nach nur über eine „groß angelegte Wirtschaftspolitik und zweitens durch überlegene germanische Bildung" gewinnen. Er behauptete, ein polnischer Schüler sei nicht zu einem „deutschen Jüngling" zu erziehen. Die deutschen Gymnasien würden umgekehrt aber einer wachsenden Zahl polnischer Schüler Grundfähigkeiten vermitteln, mit denen die Polen immer mehr Schlüsselpositionen in der lokalen Verwaltung besetzten. Er plädierte deshalb dafür, polnische Kinder möglichst von der deutschen Bildung auszuschließen67. Auch dies spricht dafür, dass er die geistigen Fähigkeiten der Polen keineswegs gering schätzte. Im Gegenteil, er wähnte sich inmitten eines Kulturkampfes zwischen „Slawen und Germanen", was er nicht zuletzt als eine Frage der Konfessionszugehörigkeit betrachtete. Dass er die höhere Schule so vehement zu einer besonders der deutschen Kultur verpflichteten Institution reformieren wollte, ist nur in diesen Zusammenhängen zu verstehen. Grimme und Richert teilten die Absicht, die einzelnen Fächer untereinander stärker zu verbinden und den Unterricht insgesamt in die christliche Religion einzubetten. Richert wollte die Brücke von Fach zu Fach über einen Philosophieunterricht und durch Lehrerarbeitsgemeinschaften schla-

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Hans Richert: Die Polonisierung Oberschlesiens, Akademische Blätter, Verbandsorgan der Vereine Deutscher Studenten 16 (1895), S. 203. Margies, Richert (wie Anra. 18). S. 160. Folgende Zitate aus: Margies, Richert (wie Anm. 18), S. 44 ff. Tatsächlich ordnete das P S K Posen 1907 in Einzelfällen an, dass Schüler höherer Lehranstalten, die sich an Agitation oder Widerstand gegen den preußischen Staat beteiligt hatten, inklusive ihrer Geschwister von den höheren Schulen zu relegieren seien.

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gen68. Die Lehrer sollten in neuer Weise ausgebildet werden. An die Stelle der alten Lehrerseminare sollten nach einer Idee Beckers Pädagogische Hochschulen treten. Damit erschöpften sich aber die Gemeinsamkeiten. Grimme und die „Entschiedenen Schulreformer" wollten weit über Richerts Reformen hinaus. Die von den Reformern geforderte „elastische Einheitsschule" lehnte Richert jedoch ab. Er ging sogar soweit, alle schon bestehenden Reformsysteme, wie etwa das Reform- und Realgymnasium, wieder abzubauen. Er ging weit hinter Versuche zurück, wie sie an der Oberrealschule zum Dom in Lübeck mit beachtlichem Erfolg betrieben wurden" und widersetzte sich damit sogar dem Wunsch des Kultusministers Boelitz 70 . Ein Bekenntnis zur republikanischen Staatsform enthielt seine Schule nicht. Weder seine Denkschriften, noch die Richtlinien behandelten diese Frage 71 . Die Nation sollte durch Kenntnis der gemeinsamen Vergangenheit zusammenwachsen. Grimme teilte die Ansicht, dass der Zweck der Schule in einem höheren Ideal als dem Vollenden der Einzelpersönlichkeit liegen müsse. Das Entwickeln der Einzelperson diene der Menschheit. Die Erziehung zum Staatsbürger besaß in seinem Denken 1929 einen festen Platz. Ein schlüssiges Konzept hat er auffälligerweise nicht erarbeitet. Er wurde in der Abteilung nicht gehört, wie er meinte. Vorschläge anderer Reformer nahm Richert kaum auf. Seine Richtlinien gingen fast ausschließlich auf eigene Gedanken zurück 72 . Möglicherweise lag aber gerade darin eine Qualität. Richert versuchte das Mögliche. Die Geschichte der Kadettenanstalt Berlin-Lichterfelde zeigt, dass er über das Erreichte kaum hinausgehen konnte. An der Kadettenanstalt waren in einer langen Tradition die preußischen Militäreliten ausgebildet worden und nicht nur fortschrittliche Schulreformer glaubten, dort würden reaktionäre Persönlichkeiten erzogen. Die Alliierten hatten eigentlich verlangt, Anstalten dieser Art zu schließen. Preußen zögerte jedoch, diesen Teil der Verträge zu erfüllen und setzte lie-

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Richert wollte, dass sich die einzelnen Fächer zur Philosophie erweitern. In der zusätzlichen Stunde sollten Philosophen gelesen werden, die ihr Zeitalter oft klarer deuten würden, als Dichter oder Künstler. Margies, Richert (wie Anm. 18), S. 113 f. Vergleichbare Versuche unternahmen die höheren Schulen in Breslau, Berlin, Herne, Wanne, Dortmund und Frankfurt. Die ersten Schulen experimentierten bereits 1905/06 in Strasburg (Westpreußen) und in Dresden mit einer beweglichen Fächerkombination. In Sachsen wurden diese Versuche 1920 zum allgemeinen Standard erhoben. Margies, Richert (wie Anm. 18), S. 107. Ebd., S. 126. Richert hatte zwar eine Kommission begründet. Er ließ sich aber offenbar durch Einwände nicht von seinen Ursprungsgedanken abbringen.

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ber auf Reformen. Bevor Richert das Institut übernahm, wirkte dort der von Haenisch eingesetzte „Entschiedene Schulreformer" Fritz Karsen 73 , der kläglich scheiterte. Schüler und Ehemalige wollten sich nicht von einem linken Schulreformer anweisen lassen und sorgten für eine Reihe von Schulskandalen, die am Ende vor dem Preußischen Landtag besprochen werden mussten74. Als der konservative Richert die Schule übernahm, gelang ihm in kürzester Zeit eine kaum noch für möglich gehaltene Reform, und zwar unter Aufnahme von Schülern aus allen sozialen Schichten. Die fast 250 neu aufgenommenen Schüler waren fast ausnahmslos Notfälle. Kriegswaisen, Söhne von Vertriebenen, von Auslands- und Kolonialdeutschen, Kinder vom flachen Lande und aus der schullosen Kleinstadt, Kinder aus trostlosen Wohnverhältnissen der Großstadt und aus zerrütteten Familien fanden an der Kadettenanstalt eine neue Unterrichtsstätte 75 . Der Fall Lichterfelde offenbarte gleichwohl, welchen Widerständen eine weiter reichende Reform zum damaligen Zeitpunkt begegnet wäre. Richerts Plänen standen nicht nur die „Entschiedenen Schulreformer" entgegen. Vertreter der Kirchen beider Konfessionen wandten sich gegen das Vorhaben einer philosophischen Grundbildung. Im Provinzialschulkollegium hielten maßgebende Männer die „Entschiedenen Schulreformer" für Kommunisten und wahrten deshalb weiten Abstand zu deren Ideen. Eine radikalere Reform, als die von Richert angegriffene, hätte sich gegen die konservativeren Kräfte der Gesellschaft nicht durchsetzen lassen76. Grimme erkannte es und lobte die Reformen als Ausgangspunkt für weiterführende, spätere Eingriffe in das Schulsystem. Er verteidigte sie als Oberschulrat und trat als Aufsichtsbeamter mit persönlicher Überzeugung für sie ein77. Gleichzeitig ließ er keinen Zweifel daran, dass die Hauptarbeit noch zu verrichten sei. Richert erkannte im Gegenzug, dass die jüngeren Kollegen seine Arbeit nur als einen Ausgangspunkt betrachteten. Dieser

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Karsen gehörte dem engeren Kreis um Paul Oestreich an und hatte für die „Entschiedenen Schulreformer" auf der Reichsschulkonferenz gesprochen. Eigentlich hieß Karsen, der Jude war, Krakauer. Er hatte den Namen gegen Karsen getauscht. Gerd Radde: Fritz Karsen. Ein Berliner Schulreformer der Weimarer Zeit, Berlin 1973.

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Otto Boelitz: Der Aufbau des preußischen Bildungswesens nach der Staatsumwälzung, 2. Aufl., Leipzig 1925. Margies, Richert (wie Anm. 18), S. 83. Lagebericht des PSK Brandenburg und Berlin vom 7. Oktober 1922, abgedruckt bei Margies als Dokument Nr. 24, S. 229. In dem Bericht wird ein Kommentar der kommunistischen Zeitung „Rote Fahne" als Beweis der Verbindung betrachtet. Adolf Grimme: Die Reform der höheren Schulen und die Mitarbeit der Städte. Rede gehalten am 10. September 1927 in Nordhausen vor dem Städtetag der Provinz Sachsen und dem Freistaat Anhalt, Magdeburg 1927.

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Umstand wirkte auf das Verhältnis belastend. Ein geistiger Austausch zwischen den jüngeren Mitgliedern der Abteilung und Richert fand auch deshalb kaum statt. Richert teilte seine Gedanken eher mit Menschen, die nicht dem Kultusministerium angehörten. Zu seinem sechzigstem Geburtstag gab Grimme eine Festschrift heraus78. Spätestens mit ihrer Ubergabe am 21. Dezember 1929 konnte Richert nicht mehr an den zukünftigen Bestand seiner Reformen glauben. Sie standen und fielen mit seiner Person. Die nachrückende Generation würde tiefe, verändernde Eingriffe in sein Werk vornehmen. Die Autoren der Festschrift gehörten zur überwiegenden Zahl der sozialistischen Gruppe an. Nur wenige bürgerliche Vertreter hatten einen Beitrag eingereicht. Vielleicht hatte der Herausgeber sie auch nicht dazu aufgefordert. In der Regel besaßen seine Schriften weniger historischen Charakter als einen propagandistischen Zweck, dem sich in diesem Fall die Auswahl der Autoren verdanken könnte. Richert selbst musste die Schrift als einen Affront auffassen. Er fühlte sich, als solle sein Werk von der Linken „vereinnahmt" werden. „So weit links" stehe er doch nicht, wie die Auswahl der Mitarbeiter es erscheinen ließe. „Es seien ja sogar Männer wie dieser Karsen zu Worte gekommen" 79 . Die Ministerialräte der Abteilung U II. waren den Referenten vorgesetzt. Richert und die anderen Ministerialräte waren Vorgesetzte. Nach den Worten Beckers gewann Grimme jedoch in der Abteilung „sehr schnell eine geistige Führerschaft". Dass er als Herausgeber der Festschrift für Richert auftrat, scheint dies zu bestätigen. Becker jedenfalls hielt es für berechtigt, ihn bereits im darauffolgenden Jahr in den Stand der Ministerialräte zu erheben und zu seinem persönlichen Referenten zu ernennen80. Nach eigener Aussage nahm er „starken Anteil an der Einrichtung" von Prüfstellen für das Begabtenabitur 81 , das Schülern ohne herkömmliches Abiturzeugnis ermöglichte, sich Zugang zu einer preußischen Universität zu verschaffen. Die Pressearbeit des Ministeriums ging weiterhin durch seine Hände, wobei ihm noch die Öffentlichkeitsarbeit der Abteilung G zugeschlagen wurde, die sich mit den Angelegenheiten der christlichen Kirchen, der Juden und Sekten befasste82. Dieses Amt verlangte gerade zum damaligen 78

Adolf Grimme: Universitäts-Krise? Berlin 1930.

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Erich Jauernig an Grimme vom 10. Juli 1961, Nl Grimme, hier zitiert nach Margies, Richert (wie Anm. 18), S. 57.

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Adolf Grimme übernahm dieses A m t von O t t o Benecke, Meissner, Zwischen Politik und Religion (wie Einleitung, Anm. 2), S. 19.

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Seiters, Bildungspolitiker (wie Einleitung Anm. 3), S. 16 f. Seiters Quelle ist ein L e benslauf Grimmes aus den Akten M K Hannover.

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Zu den einzelnen Positionen: Handbuch über den Preußischen Staat, hrsg. vom Preußischen Staatsministerium für das Jahr 1929, Berlin 1929.

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Zeitpunkt Sensibilität, denn das Kultusministerium war soeben im Begriff, ein Konkordat mit der Kurie auszuhandeln. Ein entsprechendes Abkommen mit der Evangelischen Kirche stand bevor. Das war eine große Zahl von Aufgaben, die aber nicht befriedigten. Er empfand es als Nachteil, im Ministerium „der Schule ferngerückt" zu sein83. Als Pressereferent trat genau das ein, was er schon Lande gegenüber befürchtet hatte: Er verlor den Kontakt zum praktischen Schuldienst. Der Pressedienst war angewiesen, auf politische Angriffe gegen die Staatsregierung schnell und schlagfertig zu reagieren. Braun fand die Ressortreferenten im Ministerium zu langsam und unkreativ. Er richtete eine zentrale Pressestelle ein. Die einzelnen Referenten hatten ihre Arbeit strikt mit dieser Zentrale abzustimmen84. Der Pressereferent des Kultusministers war zu einer gewissen Passivität verdammt, was nicht behagte. Die Verwaltungsarbeit drohte „den Pädagogen in ihm" vollends aufzuzehren, sodass er bei Becker vorstellig wurde und um die Rückversetzung an ein PSK bat unter dem einschränkenden Zusatz, „sofort eine Anzahl Anstalten zur Betreuung zu erhalten" 85 . Die neue Stelle sollte mit Machtbefugnissen ausgestattet sein.

4. Vizepräsident des PSK Berlin und Brandenburg Der amtierende Vizepräsident des Provinzialschulkollegiums Berlin-Brandenburg, Hüttebäuker, der nur wenige Monate vorher auf ein Kommen gehofft hatte, schied auf eigenen Wunsch gesundheitsbedingt vorzeitig aus dem Amt. Damit ergab sich für Grimme die Möglichkeit, in verantwortlicher Position der Schule wieder näherzurücken. Becker führte ihn am 6. April 1929 in das Amt des Vizepräsidenten ein. In seiner Ansprache bekannte er eine „besondere Wertschätzung" gegen den Kandidaten und verteidigte ihn gegen Glossen, die erneut dessen Jugend gegen ihn ins Feld führten. Es sei ihm ein „Herzensbedürfnis" vor dem Kreise der Mitarbeiter auszusprechen, dass Grimme „der Mann meiner Wahl und der Mann meines vollen persönlichen Vertrauens auf diesem Posten ist". Er habe sich an all seinen Wirkstätten größtes Vertrauen erworben und selbst politisch Andersdenkende für sich gewonnen. Während der gemeinsamen Arbeit

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Becker in der Einführungsrede, gehalten für Grimme, N l Grimme, N r . 3265.

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Schulze, Braun, S. 382. Eine Pressepolitik im heutigen Sinne gab es erst seit dem Ersten Weltkrieg.

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Zitiert nach Meissner, Zwischen Politik und Religion (wie Einleitung, Anm. 2), S. 20.

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habe Becker sich immer an der Tiefe der Bildung, der Sachlichkeit seiner Urteile und an seinem Humor erfreut86. Innerhalb des Provinzialschulkollegiums war er beliebt. Gerade im Vergleich mit seinem „etwas steifen" Vorgänger dankten ihm die Mitarbeiter eine „menschliche, gesunde Atmosphäre, in der sogar eine gemeinsame Tanzstunde gedieh" 87 Das Provinzialschulkollegium Berlin-Brandenburg unterschied sich von den Kollegien der Provinzen durch eine besondere Nähe zum Ministerium. Durch die Zwischeninstanz der Oberpräsidenten gelang es in den Provinzen oft, politische Wellen klein zu halten. In Berlin hingegen rief beinahe jede Krise die Berliner Öffentlichkeit auf den Plan. Hatte diese von Vorgängen Notiz genommen, musste sich das Ministerium beinahe zwangsläufig einschalten. Becker hatte vor dieser Besonderheit gewarnt, konnte jedoch nicht verhindern, dass Grimme bald eigene Erfahrungen sammelte. Das Staatliche Viktoria-Gymnasium zu Potsdam galt als eine der besten Schulen des Dezernates. Es gab an der Qualität des dort erteilten Unterrichts nichts auszusetzen. Im Gegenteil: Die Schule gehörte zu den besten, die Grimme kannte88. Die Potsdamer Elternschaft zählte freilich in der Mehrzahl nicht zu dem republikanischen Teil der preußischen Bevölkerung. Die Stadt galt als Heimstadt monarchischen Denkens. Im Zuge der staatlich verordneten Verfassungsfeier vom 11. August 1929 bestätigte sich dieses Bild nachhaltig. An jenem Tag hatten Schüler auf dem Marsch zu den Festplätzen das Ehrhardt-Lied gepfiffen, ein Lied mit eindeutig rechtsradikalem, staatsfeindlichem Inhalt 89 . Der Vorfall veranlasste eine Revision und erinnerte die Potsdamer Lehrerschaft daran, dass eine Aufgabe der preußischen Schule das Vermitteln republikanischer Staatstreue war. Der Direktor der Schule räumte ein, die Schüler hätten den Unterschied zwischen dem Eintreten für eine Verfassung und für eine Partei noch nicht verinnerlicht. An die Lehrer gerichtet, forderte Grimme erhöhte Aufmerksamkeit. Ihnen müsse in jeder Phase gegenwärtig sein, dass sie der Republik dienten. Nur wenn alle erdenklichen erzieherischen und organisatorischen Sicherungen gegen eine Wiederholung der Vorfälle des

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Rede Beckers in N1 Grimme, Nr. 3265. Hartke an Grimme vom 16. September 1959, Nl Grimme, Nr. 1666. Grimme und Hartke arbeiteten zusammen im PSK Berlin-Brandenburg. Der zehn Jahre ältere Hartke übernahm die Vizepräsidentschaft von Grimme 1930 und wurde später von ihm in besonders schwierigen Gebieten eingesetzt. Protokoll über die am 26. November 1929 stattgefundene Konferenz am Staatlichen Viktoria-Gymnasium Potsdam, Nl Grimme, Nr. 693. Marinekapitän Hermann Ehrhardt war Führer einer Freikorpstruppe, die schon 1919 gegen die Münchner Räterepublik eingesetzt worden war. Im März 1920 beteiligte sich die Brigade unter dem Befehl des General Walter von Lüttwitz am KappPutsch.

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letzten Verfassungstages getroffen würden, könne sich das PSK bei Angriffen schützend vor die Schule und ihre Lehrer stellen, was „diesmal zu unserem eigenen Bedauern nicht möglich" sei90. Er ordnete an, die Schulbibliothek noch einmal durchzusehen und alles auszusortieren, „was die Erziehung zum republikanischen Staatsbürger hindern könnte". Diese Maßnahme entsprach alter preußischer Tradition. Die Schulbibliotheken waren einst eingerichtet worden, um die Privatlektüre der Schüler in die rechte Bahn zu lenken91. Ursprünglich diente das Mittel ironischerweise dem Sichern monarchischer Macht, sodass die Bibliotheken entsprechend viele nun bedenklich erscheinende Titel enthielten. Davon abgesehen war das politische Instrumentarium in sich selbst richtungslos und abhängig von den Personen, die es bedienten. Diese Eigenheit bildete im vorliegenden Fall die Auftriebskraft einer Karriere. Je glaubwürdiger und lautstärker Grimme republikanisches Gedankengut förderte, desto größer die Wahrscheinlichkeit eines raschen Aufstiegs. Der aus der Angelegenheit erwachsende Lärm konnte ihm nur recht sein. Doch war dies nur ein Nebeneffekt. Ein unbedingter Aufstiegswille ist nicht zu erkennen, vielmehr fügte er sich in die Pläne seiner Vorgesetzten. Zweifellos war es ihm ernst mit dem Gedanken, die Republik zu verteidigen. Am nächsten Tag konnte er scharfe Vorwürfe gegen seine Person aus der Potsdamer Tagespresse entnehmen. Die Lokalblätter bezeichneten ihn als „Inquisitor" und „Demagogenverfolger". Die „Potsdamer Tageszeitung" meinte eine „rollende Guillotine" gesehen zu haben92. Die Konservativen lehnten sein Vorgehen empört ab. Republikaner hingegen sahen endlich einen seit Monaten ungeduldig erwarteten Streich gegen die Feinde der Republik geführt. Seit dem Tode Friedrich Eberts und der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten entstand in demokratischen Kreisen der Eindruck, das republikanische Aufbauwerk würde Stück für Stück zurückgenommen. Der Kampf um die Republik hatte sich spätestens seit 1927 noch einmal zugespitzt. In jenem Jahr hatte der Reichsinnenminister Walther von Keudell den letzten hohen sozialdemokratischen Beamten der Reichsregierung in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Es handelte sich um den Staatssekretär Heinrich Schulz, Leiter der Schul- und Kulturabteilung93. Damit war das politische Gefecht auf das Feld der Bildungspolitik gelegt. Die Republikaner warfen Becker erneut vor, ihm fehle trotz hoher fachlicher Kompetenz der kämpferische Wille für die Republik. Becker

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Folgende Zitate aus: Protokoll über die am 26. November 1929 stattgefundene Konferenz am Staatlichen Viktoria-Gymnasium Potsdam, N1 Grimme, Nr. 693. Weiser, Schulwesen (wie Kap. 1, Anm. 55), S. 26. Brief an Hartke vom 16. September 1959, N1 Grimme, Nr. 1666. Schulze, Braun, S. 522.

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wollte vor allem den sozialen Frieden in Schulen und Hochschulen wahren und sie aus den tagespolitischen Auseinandersetzungen möglichst heraushalten. Die Lehrstühle besetzte er deshalb hauptsächlich mit nationalen und konservativen Kräften. Er wusste um den Aufruhr, den ein sozialistischer Kandidat im traditionsverhafteten universitären Umfeld auslösen würde. Sozialistische oder engagiert demokratische Hochschullehrer konnten in der Ära Becker nicht berufen werden94. Damit zog sich das Kultusministerium den Unmut der Sozialisten zu, die Personalpolitik Beckers belastete zunehmend die Koalitionspolitik. Je weiter sich die Lage zuspitzte, desto weniger Verständnis konnte Braun erwarten. Becker sollte endlich gegen einen Sozialdemokraten ausgetauscht werden. Braun hingegen schätzte an seinem Minister gerade, dass er republikanisches Denken in geistig einflussreiche Kreise hineintrug, die der Politik und der Republik ansonsten völlig gleichgültig gegenüberstanden. Wohlwollend betrachtet, trug die Personalpolitik zum Sichern der Republik bei. Es hätte wenig genützt, wenn sich die bisher neutral verhaltene Professorenschaft feindlich in die Tagespolitik gemischt hätte. Becker wusste, dass die Konservativen nur langfristig zu überzeugen waren. Während des „Flaggenstreites" 1927 hatte er deutlich gezeigt, dass er keinesfalls bereit war, völkische Tendenzen in seinem Zuständigkeitsbereich zu dulden. Sein Vorgehen gegen die sich radikalisierenden Studentenverbände zeugte von Engagement für die republikanische Sache95. Am 23. Mai 1929 erließ das Ministerium 14 Punkte, die bei Verfassungsfeiern der Schulen in jedem Fall beachtet werden müssten. Als Goslarer Schüler auf reichsfarbenen Siegerkränzen herumtrampelten, verschärfte Becker nach eingehendem Prüfen des Falles die Maßnahmen des zuständigen Provinzialschulkollegiums erheblich. Den beiden betroffenen Schulen wurde bis auf Weiteres verboten, das Abitur abzunehmen. Becker kündigte an, den Lehrkörper der Schule wirksam umzugestalten. Sein Nachfolger milderte später den Beschluss ab96. Es konnte also keine Rede von einer Untätigkeit Beckers gegenüber antirepublikanischen Kräften sein. Seit 1928 kam aber zu den ohnehin schon vorhandenen Vorbehalten der Sozialdemokraten gegen Becker noch etwas anderes hinzu:

94

Diese Ansicht, vertreten von Schulze, Braun (S. 479), lässt sich durch mehrere Hinweise in der Briefliteratur Grimmes stützen.

95

Im Landtag hatte Becker 1926 daran erinnert, dass die gesetzmäßige F o r m des deutschen Vaterlandes die Republik sei. U n d im selben Jahr, wiederum im Landtag, eine Erziehung „im Geist des deutschen Volkstums" zum „heutigen republikanischen Staat" versprochen. Zitiert nach Wende, Becker (wie Anm. 56), S. 209.

96

Grimme erlaubte, dass die Reifeprüfung vor O r t abgenommen werden durfte, wenn auch nicht vom Lehrkörper allein, Wende, Becker (wie Anm. 56), S. 211 ff.

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In den Maiwahlen des Jahres 1928 errang die SPD einen klaren Sieg. Ministerpräsident Braun stand plötzlich vor der Möglichkeit, Kanzler des Reiches und Ministerpräsident Preußens in Personalunion zu werden; eine Tradition, die mit dem Ende des Kaiserreiches zu Grabe getragen worden war. Gegen den Willen Hindenburgs, des Zentrums und dem der DVP war dies aber nicht durchzusetzen. Die SPD begeisterte sich auch nicht für ein solches Manöver, denn Brauns Unabhängigkeit gegenüber dem Parteivorstand war geradezu sprichwörtlich 97 . Braun entschied sich unter den obwaltenden Widerständen gegen die Personalunion und zog es vor, Ministerpräsident Preußens zu bleiben. Mit dem ausgezeichneten Wahlergebnis im Rücken hoffte er, ein Kabinett ganz nach den eigenen Absichten zusammenstellen zu können. Außerdem bestand nun die Möglichkeit, auf Reichsebene und in dem mit Abstand größten Bundesland des Reiches die gleiche Regierungskoalition zu bilden. Wichtige Reformvorhaben schienen durchsetzbar zu werden. Da nahm der zum Kanzler berufene Hermann Müller die DVP in seine Koalition auf. Braun war seit 1925 überzeugt, dass mit der DVP keine zuverlässige und vor allem keine langfristige demokratische Reformpolitik zu betreiben war. Er entschied sich nach monatelangem Zögern, die DVP nicht in die Koalition zu nehmen. Dies allein wäre sicher durchgegangen. Mit seinem neuen Kabinett geriet Braun aber sofort in Erklärungsnot gegenüber den eigenen Genossen, denn außer ihm selbst und dem Innenminister Grzesinski gehörte kein Regierungsmitglied der SPD an. Drei Minister stellte das Zentrum, zwei die DDP 9 8 . Braun konnte dem Fordern der sozialdemokratischen Basis nach mindestens einem weiteren Ministerposten kein Argument entgegensetzen; jedenfalls keines, dass von seiner eigenen Partei akzeptiert worden wäre. Um die Zusammenarbeit mit der Reichsregierung nicht zu gefährden und die Koalition überhaupt zusammenzuhalten, war die Ablösung Beckers der vermeintlich einfachste Ausweg. Becker gehörte nun einmal keiner Partei an. Widerspruch war deshalb nur von außerparlamentarischer Seite zu erwarten. Noch aber konnte und wollte Braun seinen Kultusminister nicht aufgeben. Dieser war nämlich im Begriff, die Verhandlungen mit der empfindlichen Kurie zu führen. Der Ausschluss der DVP aus der Regierung zeigte, wie wichtig Braun dieses Konkordat war. Unter den preußischen Konservativen fanden sich Junker, deren Politik traditionell einen antikatholischen Einschlag besaß. Wie weit die DVP den bismarckschen Positionen immer noch nahestand, zeigte ihr Stimmverhalten im Juni 1929, als sie den Kirchenvertrag ablehnte.

97

Schulze, Braun, S. 542.

98

Zusammensetzung des 3. Kabinetts O t t o Braun, siehe Anhang.

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In der Schulverwaltung

Braun hatte unterdessen genug damit zu tun, seine eigene Partei von der Richtigkeit des Abschlusses zu überzeugen. Sollte der Vertrag Angelegenheiten in Schulfragen auch nur erwähnen, so wollten die Sozialdemokraten dem Werk nicht zustimmen". Ein gewichtiger Grund der Verhandlungen bestand nun gerade darin, in Fragen des Religionsunterrichtes größere Klarheit zu erlangen. Das Misstrauen der Sozialdemokraten gegen den Kirchenvertrag war groß. Weltanschauliche Reflexe sorgten innerhalb der Partei für Unruhe. Am Ende befand sich mit der Kurie nicht gerade ein zu allen Kompromissen bereiter Verhandlungspartner am Tisch. Es bestand ganz fraglos ein Risiko darin, die von Becker begonnenen Vorgespräche von einem Sozialdemokraten weiterführen zu lassen. Braun hielt gegen alle Widerstände an Becker fest. Der Erfolg gab ihm zumindest in Kirchenangelegenheiten Recht. Als Preußen und die Kurie die Verträge am 14. Juni 1929 unterzeichneten, entfiel dieser Vorwand. Trotzdem deutete nichts darauf hin, dass der Nachfolger Grimme heißen könnte. Ungewollt empfahl er sich durch die Art und Weise, mit der er das Amt des Vizepräsidenten des Provinzialschulkollegiums Berlin-Brandenburg ausübte. Sein Einsatz für den republikanischen Gedanken sprach sich herum. Gleichzeitig stellte er zufrieden fest, aus den Richtlinien seines Schulkollegiums spreche ein „Geist von Freiheit", wie es ihn in Preußen noch nicht gegeben habe100. Aus eigener Erfahrung wusste er, wie schwer einem Großteil der Lehrerschaft der Schritt in die neuen Verhältnisse gefallen war. Er verstand die Skrupel der staatsloyalen Lehrer, die ihre Selbstachtung daranzugeben glaubten, weil sie statt gestern „Hosianna" heute „kreuzige ihn" rufen sollten101. Es stand zu befürchten, dass die Lehrerschaft sich in verschiedene Lager aufspaltete. Das musste er verhindern, denn niemand konnte daran interessiert sein, die preußischen Schüler einem Wirrwarr pädagogischer Zielvorgaben und Praktiken auszusetzen. Grimme versuchte, über eine pädagogische Ubereinkunft, den Zerfall des Lehrerstandes zu verhindern102. Dafür zeigte er sich in Fragen der Staatssymbolik unnachgiebig.

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Schulze, Braun, S. 554. Braun ersetzte das Wort „Erwähnung" heimlich durch das Wort „Regelung" und ließ dann über den Vertrag in dieser neuen Form abstimmen. Grimme auf einer Direktorenkonferenz am 10. Mai 1929, Protokoll in: Nl Grimme, Nr. 693. Rede Grimmes zu einer Verfassungsfeier, unvollständig erhalten, Nl Grimme, Nr. 551. Ansprache am 14. Mai 1929 vor der Lehrerkammer, abgedruckt in: „Berliner Lehrerzeitung" 10 (1929), in Auszügen: Nl Grimme, Nr. 5157.

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Seit Bestehen der Republik entzündete sich immer von Neuem Streit um die republikanische Symbolik, namentlich in der Flaggenfrage103. Reichskanzler Hans Luther104 stürzte über diese Frage und wurde von Wilhelm Marx105 ersetzt. Die preußische Staatsregierung bemühte sich vergeblich, die republikanische Flagge durchzusetzen. Sie scheute selbst vor einer Notverordnung nicht zurück, die einem Urteil des preußischen Oberverwaltungsgerichtes widersprach. Braun wollte in jedem Fall die Verfassung einhalten, die seit April 1921 mit Ausnahme der Handelsflaggen die Farben Schwarz-Rot-Gold vorschrieb. Es ging dabei nicht um Farben, sondern um den Schutz der Verfassung. Republikfeinde nutzten die Empfindlichkeit der Sozialdemokraten in diesem Punkt weidlich aus. Im Zuständigkeitsbereich Kultus kam es immer wieder zu Hintergängen. Im Oktober 1929 trugen Schüler auf einem Schul- und Sportfest in Berlin-Lichterfelde eine Fahne in den alten Reichsfarben Schwarz-WeißRot. Grimme verlangte eine sofortige Stellungnahme des Direktors. Dieser versuchte, sich herauszureden. Es habe sich nicht um eine Dienstfahne, sondern um eine der Schule vor 45 Jahren verehrtes Privatbanner gehandelt. Das Lehrerkollegium habe niemals irgendwelche Bedenken gegen die Flagge geäußert und außerdem sei der Metallglanz Gold auf Fahnen und Grenzpfählen ohnehin nicht darzustellen. Er müsse durch Gelb ersetzt werden. Der Direktor reklamierte deshalb für sich das Recht, lediglich von „schwarz-rot-gelben Grenzpfählen" zu sprechen. Wenn er von dieser kunstwissenschaftlichen Farbenlehre in der Öffentlichkeit keinen Gebrauch mache, so nur deshalb, um nicht die „Empfindsamkeit Andersdenkender herauszufordern". Er sei sich nämlich im Klaren darüber, dass die „Anhänger der neuen Reichsfarben in diesem Punkte etwas empfindlich seien"106. Ob es sich um ein Privatbanner handele und wie die Lehrerschaft gegen die mitgeführte Fahne eingestellt sei, fand Grimme begreiflicherweise ganz unerheblich. Der Direktor habe „mindestens fahrlässig" seine Pflicht miss-

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Zu der Flaggenfrage und politischer Symbolik in der Weimarer Republik grundlegend: Buchner, Sozialdemokratie (wie Kap. 1, Anm. 34). Hans Luther (1879-1962) war von 1918-1922 Oberbürgermeister von Essen, anschließend für ein Jahr Reichsernährungsminister, von 1923-25 Reichsfinanzminister und dann für ein Jahr, von Januar 1925 bis zum Mai 1926 Reichskanzler. Anschließend war er Vorsitzender des „Bunds zur Erneuerung des Reichs", von 1930-33 Reichsbankpräsident. Luther gehörte keiner Partei an, galt aber als Anhänger der DVP. Wilhelm Marx (1863-1946), Zentrumspolitiker, war seit 1920 Vorsitzender der Zentrumsfraktion im Reichstag und Parteivorsitzender. Von November 1923 bis zum Januar 1925, dann wieder von Juli 1926 bis zum Juni 1928 war er Reichskanzler, von November 1925 bis Juli 1926 Reichsjustizminister. Von Februar bis März 1925 war er preußischer Ministerpräsident. Vorgang zu ersehen aus Aktennotizen in: N1 Grimme, Nr. 3288.

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achtet, die ihm „anvertrauten Schüler positiv zur Mitarbeit am Volksstaat heranzuziehen". Die Schüler sollten entschieden dazu erzogen werden, die „Alleingültigkeit der verfassungsmäßigen Reichsfarben" anzuerkennen. Diesem Erziehungsziel laufe es zuwider, wenn die Schüler bei dem öffentlichen Auftreten der Schule mit der Billigung des Direktors einem Symbol folgten, das von Teilen der Bevölkerung als Ausdruck einer Gegnerschaft zur Republik angesehen würde. Als Staatsbeamter sei der Direktor in der Öffentlichkeit dringend verpflichtet, den Eindruck irgendwelcher Zweifel an der Verbundenheit einer staatlichen höheren Schule mit der deutschen Republik zu vermeiden107. Grimme hatte bereits im Sommer 1929 alle Schulen angewiesen, sich bis spätestens zum 10. August eine solche Fahne zu besorgen. Auch er sah die Frage der Reichssymbolik nicht als Nebensache an. Die Nationalfahne als „schwarz-rot-gelb" zu verunglimpfen, folgte höchstem Beispiel. Reichspräsident Hindenburg ließ keine Gelegenheit aus, seine Vorliebe für die Farben schwarz, weiß und rot zu bekennen. Bei einer Kriegergedenkfeier im März 1930 betrat er den Saal und monierte beim sozialdemokratischen Reichsinnenminister Severing, der neben ihm ging: „Nun haben Sie doch wieder schwarz-rot-gelb angebracht" 108 . Im Jahr 1929 lag keine rechtliche Eindeutigkeit in der Frage vor. Zwar hatte die preußische Regierung mit ihrer Notverordnung das Urteil des Oberverwaltungsgerichtes aufgehoben, der Leipziger Staatsgerichtshof erklärte jedoch in einem Urteil diese Notverordnung für verfassungswidrig 109 . Auf dieses Urteil reagierte die preußische Regierung, indem sie ein Flaggengesetz für die Landesverwaltung schuf, das dazu verpflichtete, öffentliche Gebäude nur mit vom Staatsministerium zugelassenen Fahnen zu schmücken110. Ein weiterer Erlass regelte Einzelheiten der Verfassungsfeier. Als Zeichen republikanischer Stärke sollte sie in Berlin nicht in den einzelnen Gebäuden, sondern an einem zentralen Ort begangen werden. Klassen sollten geschlossen hin und zurückmarschieren. Dieser Erlass bot auch republikanisch gesinnten Eltern allen Grund, ihre Kinder von den Feierlichkeiten

107 108 109

110

Aktennotizen, N1 Grimme, Nr. 3288. Carl Severing: Mein Lebensweg. Bd. 1. u. 2., Köln 1950, Bd. 2., S. 91. Der Staatsgerichtshof hielt es für unhaltbar, in jenem Fall den Paragrafen 55 der Preußischen Landesverfassung anzuwenden. Dieser Paragraf erlaubte eine Notverordnung, wenn die öffentliche Sicherheit gefährdet war. Dies, meinte der Staatsgerichtshof, sei nicht der Fall. Buchner, Sozialdemokratie (wie Kap. 1, Anm. 34), S. 120. Siehe auch: Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie 1929, S. 275.

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auszunehmen111. O b ein solcher Marsch aller Schüler quer durch Berlin nicht in Tumult endete, konnte kaum jemand garantieren. Der Vizepräsident des PSK wollte gleichwohl auf den spektakulären Umzug nicht verzichten. Von zentraler Stelle aus übermittelte er allen Klassenleitern seines Zuständigkeitsbereiches ein Schuldiktat, dessen Inhalt den Eltern vorgelegt werden und gegengezeichnet werden musste. Er lautete, kurz gefasst: Schüler, die bei den Verfassungsfeiern fehlen, würden vom Unterricht ausgeschlossen. Die Berliner Börsenzeitung bemerkte zu diesem Vorgang: Man werde den Verdacht nicht los, dass „Herr Grimme die Absicht hat, die Eltern auf dem Umweg über die Kinder zu erziehen" 112 . Um nun nicht unnötig einen Skandal zu provozieren, zog er in diesem Punkt zurück. An die Leiter und Leiterinnen der höheren Lehranstalten seines Amtsbereiches gab er die Richtlinie aus, die bei den Verfassungsfeierlichkeiten abwesenden Schüler nicht zu bestrafen. Den Eltern aber sei noch einmal mitzuteilen, dass „unsere Schulen die Schüler und Schülerinnen zu Bürgern der Republik" erzögen. Das Fehlen von Kindern bei Feiern zu Ehren der Republik sei inakzeptabel. Er sehe sich deshalb in Zukunft gezwungen, solche Kinder im „Verwaltungswege" von den Lehranstalten zu entlassen113. Mit Macht ging er als Vizepräsident daran, jeden Versuch antirepublikanischer Kräfte zu verhindern, in den Schulen politisch Einfluss zu nehmen. Im Oktober 1929 verwarnte er einen Beamten, der während der Dienststunden den Versuch gemacht hatte, Unterschriften für die Einleitung eines Volksbegehrens zu sammeln. „Ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam", schrieb er, „dass ich gegen jeden Fall parteipolitischer Betätigung innerhalb der Behörde mit den schärfsten mir zu Gebote stehenden Mitteln vorgehen werde" 114 . Das Volksbegehren richtete sich gegen den Young-Plan. Der Verleger Alfred Hugenberg hatte es zusammen mit dem Stahlhelm-Verband und den Nationalsozialisten angestoßen und die Bevölkerung Preußens aufgerufen, sich vom 16. bis zum 29. Oktober in bereitliegende Listen einzutragen. Unter dem Titel „Gesetz gegen die Versklavung des deutschen Volkes" sollte alles vorbereitet werden, um den Reichskanzler und denjenigen Reichsminister ins Zuchthaus zu bringen, der den Young-Plan unterzeichnete. Die Unterschrift eines Beamten in die Liste des Volksbegehrens bedeutete also, dass dieser seine eigenen, obersten Vorgesetzten als Landes-

111

„Deutsche Allgemeine Zeitung" vom 27. August 1929, N1 Grimme, N r . 699. Gegen dieses Vorgehen richtete sich auch die Volkspartei. Wende, Becker (wie Anm. 56), S. 211.

112

„Berliner Börsenzeitung" vom 25. August 1929, N l Grimme, N r . 699.

113

Schreiben vom 22. August 1929, Nl Grimme, N r . 3288. Schreiben vom 3. Oktober 1929, Nl Grimme, N r . 3288.

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Verräter verurteilt sehen wollte. Braun hielt dies für den „denkbar infamsten Angriff, der überhaupt gegen eine Regierung geführt werden" könne 115 . Das Vorgehen des Vizepräsidenten des PSK lag folglich auf der Linie der preußischen Staatsregierung. Sie ging mit großem propagandistischem Aufwand gegen das Volksbegehren vor. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sich reichsweit 30.000 Beamte in die Listen eintrugen. Nach den Kommunalwahlen im November 1929 verständigte sich das Staatsministerium darauf, Angehörige staatsfeindlicher Organisationen nicht mehr als Beamte einzustellen oder die bereits im Amt befindlichen nicht mehr zu befördern. Ab Juni 1930 durften preußische Beamte nicht mehr Mitglied der K P D oder der N S D A P sein. Und mehr noch: Jedes Eintreten für die Ziele der radikalen Parteien konnte disziplinarische Strafen nach sich ziehen. In der entscheidenden Staatsministerialsitzung am 25. Juni 1930 setzten die drei sozialdemokratischen Minister Braun, Waentig und Grimme ihren Standpunkt gegen alle Bedenken durch. Wie schwierig es werden würde, den Erlass praktisch umzusetzen, ließen aber im Jahr 1929 schon die alarmierenden Töne etwa aus der Ecke des „Berufsvereins der höheren Beamtenschaft Preußens" erahnen. Der Verein empfahl seinen Mitgliedern, im Streit um das Volksbegehren neutral zu bleiben. Ein aktives Eintreten für die Republik hielten sie mit der Amtspflicht eines preußischen Beamten für unvereinbar. Wer im preußischen Innenministerium noch eine Mitgliedschaft im „Berufsverein der höheren Beamtenschaft Preußens" besaß, erklärte daraufhin seinen Austritt. Die Maßnahmen gegen das Volksbegehren werden kaum geeignet gewesen sein, den konservativeren und vor allem den nationalen Teil der Lehrerschaft einzunehmen. Überdies tendierte Grimme zum Bruch mit dem Herkömmlichen und experimentierte entgegen den Gewohnheiten des Schulpersonals. Für das laufende Schuljahr 1929 ordnete er den Wegfall des Weihnachtszeugnisses an. Er hielt den Zusammenfall des Weihnachtsfestes mit den versetzungswichtigen Schulnoten für unsozial 116 . Teile des Schulpersonals gingen dazu über, Kritik an solchen behördlichen Maßnahmen nicht mehr auf dem Dienstwege zu formulieren. Stattdessen bedienten sie sich der örtlichen Tagespresse; und zwar unter dem Vorwand, dass auf diese Weise „am schnellsten" die Aufmerksamkeit der Behörde auf die Bedenken der Direktoren gelenkt würde 117 . Solche Beamte erhielten einen strengen Verweis.

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Folgende Zitate aus: Thomas Albrecht: Für eine wehrhafte Demokratie. Albert Grzesinski und die preußische Politik in der Weimarer Republik, Bonn 1999, S. 271 ff. (weiterhin zit.: Albrecht, Grzesinski). Aktennotiz vom 22. August 1929, N1 Grimme, Nr. 3288. Die Anordnung war am 7. Juni 1929 erlassen worden. Aktennotiz über zwei Lehrer, N1 Grimme, Nr. 3288.

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Außerhalb des Schulkollegiums entstand auf diese Weise eine ganze Zahl von Gegnern. Das strikte Beharren in der Flaggenfrage erschwerte einem Teil der Konservativen die Akzeptanz der Republik. Die Sozialdemokratie war nicht in der Lage, in dieser Frage nachzugeben. Da sie mittlerweile die einzige Partei von Gewicht stellte, die vorbehaltlos für die Republik eintrat, traf ein Angriff auf die Republik die SPD in ihrem Wesenskern. Grimme, der zwar Demokrat mit Vorbehalt, immer aber Republikaner gewesen war, entwickelte über diese Identität ein engeres Verhältnis zur Partei. Umgekehrt galt er innerhalb und außerhalb der Partei wegen seines harten Durchgreifens für die Republik als überzeugter Sozialdemokrat. Die Unterschiede zwischen Grimme und der SPD fielen nicht auf, solange weder die Partei noch Grimme ein bildungspolitisches Konzept vorlegten.

Viertes Kapitel Im Ministerium

1. Kultusminister Preußens Am Vormittag des 30. Januars 1930 klingelte im PSK-Gebäude in Lichterfelde das Telefon1. Der Anrufer aus dem Staatsministerium verlangte nach Grimme und bat ihn dringend, sich um 12 Uhr im Ministerium beim Ministerpräsidenten einzufinden. Ob mitgeteilt wurde, worum es ging, wird nicht gemeldet. Er war Otto Braun bis dahin nicht begegnet2. Es ist unwahrscheinlich, dass er den Inhalt des Gespräches vorausahnte. Zwar wird ihm nicht entgangen sein, dass Becker seit einigen Wochen erneut in der öffentlichen Kritik stand. Dass Braun aber ausgerechnet ihn als Nachfolger Beckers vorschlagen würde, muss doch erstaunt haben. Seine erste Frage jedenfalls lautete, ob denn „mit dem Rücktritt Beckers als ein >fait acc o m p l i zu rechnen sei". Keineswegs wolle er eine Zusage aussprechen, bevor der Rücktritt Beckers nicht vollzogen sei; vor allem nicht, solange noch eine Aussicht bestehe, den Wechsel zu verhindern. Eigentlich müsse er mit Rücksicht auf das hohe Ansehen Beckers in der Öffentlichkeit von dem Vorhaben abraten. Braun antwortete, Becker habe seinen Rücktritt bereits eingereicht. Becker war folglich vor 12 Uhr mittags des 30. Januar 1930 im Ministerium gewesen und hatte sich mit Braun besprochen. Die Sozialdemokraten warfen Becker vor, er sei in der Abwehr antidemokratischer Umtriebe an den preußischen Universitäten nicht energisch genug vorgegangen. Der Kultusminister sollte ein Sozialdemokrat sein. Auf Beckers Amt reflektierte aber auch eine andere Partei. Im Januar 1930 interessierte sich die DVP noch einmal für einen Eintritt in die Regierung, die in Preußen aus SPD, D D P und dem Zentrum bestand. Hätte Braun die DVP an der Regierung beteiligen wollen, hätte das Angebot des Kultusministeriums nahe gelegen. Einen sozialdemokratischen Ministerposten konnte Braun unmöglich abgeben. Die DDP, die sich jetzt Deutsche Staatspartei nannte, konnte auf-

Die folgenden Zitate aus: Brief an Erich Wende vom 10. Oktober 1958, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 242 ff. Brief an Rudolf Amelunxen v o m 13. Dezember 1955, N1 Grimme, N r . 1211.

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grund des schwachen Wahlergebnisses keinen weiteren Posten für sich beanspruchen, ihr einziges Ministerium konnte er ihnen nicht entziehen. Das Zentrum musste weiter gefügig gehalten werden und konnte ebenfalls nicht dazu bewegt werden, einen Ministerposten zu räumen. Wenn die Zentrumspartei mit dem allgemeinen Rechtstrend der Öffentlichkeit abtrieb, hätte Braun keine regierungsfähige Mehrheit mehr zusammenbekommen. Zentrum und Sozialdemokratie verband die alte gemeinsame Feindschaft gegen das Junkertum im alten Kaiserreich, das politisch teils von der DVP, stärker noch von der DNVP vertreten wurde 3 . Die DVP schlug nach dem Tode ihres Vorsitzenden Stresemann im Oktober 1929 scharf nach rechts und näherte sich der DNVP an4. So betrachtet, wäre das Zentrum von einem Zusammengehen mit den Konservativen abzuhalten gewesen. Der Unterschied und ewige Streitpunkt zwischen Zentrum und Sozialdemokratie lag in religiösen Fragen. Die Anhängerschaft des Zentrums gehörte größtenteils zur katholischen Konfession. Die rechten Parteien vertraten zwar beinahe ausnahmslos evangelische Wähler, ein Verbindungspunkt zwischen den konservativen Parteien und dem Zentrum lag aber in dem gemeinsamen Anliegen, die christliche Religion zu fördern. Braun musste mit Bedacht vorgehen, denn seine eigene Partei vertrat traditionell ein atheistisches Weltbild. Nun hatte das Zentrum signalisiert, dass es einen sozialdemokratischen Kultusminister unter der Bedingung eines Vertragsabschlusses zwischen Preußen und der Kurie akzeptieren würde 5 . Dieses Abkommen war unter Becker zustande gekommen, die SPD hatte den Verträgen im Landtag zugestimmt. Angeführt durch ihren Vorsitzenden Ernst Heilmann 6 bestand die Fraktion der Sozialdemokraten nun auf einer Gegenleistung. Als Kandidaten schlugen sie den Oberschulrat Christoph König vor. Das Problem der Sozialdemokraten lag jetzt in der Person Beckers. Der amtierende Kultusminister erfreute sich allseitiger Beliebtheit und genoss das persönliche Vertrauen des Ministerpräsidenten.

3

Schulze, Braun, S. 557. Schulzes Quelle ist Herbert Christ: Politischer Protestantismus in der Weimarer Republik. Eine Studie über die politische Meinungsbildung durch die evangelischen Kirchen im Spiegel der Literatur und der Presse, phil. Diss. Bonn 1967.

4

Dietrich Orlow: Weimar Prussia, Pittsburgh 1991, S. 63 (weiterhin zit.: O r l o w , Prussia). Schulze, Braun, S. 558. Ernst Heilmann ( 1 8 8 1 - 1 9 4 0 ) leitete zwischen 1924 und 1933 die SPD-Fraktion im Preußischen Landtag. 1933 wurde er verhaftet und 1940 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet. Peter Lösche: Ernst Heilmann (1881-1940), in: Ders. (Hrsg.): Vor dem Vergessen bewahren. Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten, Berlin 1988, S. 9 9 - 1 2 0 ; Horst Möller: Ernst Heilmann, Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte (1982), S. 2 6 1 - 2 9 4 .

5 6

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Im Kabinett

Die SPD-Fraktion übte Druck aus. Als die rechten Flügelparteien am 11. November 1929 einen Misstrauensantrag gegen Becker einbrachten, blieben vierzehn Genossen der Abstimmung fern. Heilmann erklärte, die Fraktion werde ab sofort nicht mehr mit Becker zusammenarbeiten. Am 28. Januar 1930 folgte der zweite Zwischenfall dieser Art. In Flensburg sollte eine Pädagogische Akademie entstehen. Der Preußische Landtag musste das Vorhaben genehmigen - Ressortzuständigkeit: Becker. Wieder blieben zwölf Abgeordnete der SPD außer Haus. Braun musste reagieren. Becker selbst befand sich in Wien auf einer Vortragsreise. Noch im Zug nach Berlin muss er erfahren haben, wie die Dinge in der Hauptstadt lagen. Auf dem letzten Teil der Reise entschloss er sich zum Rücktritt 7 , oder besser gesagt: er war zum Rücktritt bereit. Zunächst wollte er ein Gespräch mit Braun führen. Der wollte verhindern, dass der Nachfolger vor Vollzug des Rücktritts bekannt wurde. In einem ersten Gespräch versicherte Braun sich zunächst Beckers Bereitschaft zum Rücktritt. Als dies geklärt war, erörterten die beiden eine Nachfolge. Der Kandidat der SPD-Fraktion, König, kam für Braun nicht in Betracht. König war vom katholischen Glauben in den Stand eines Dissidenten gewechselt, gehörte also keiner Konfession an8. Dieser Umstand hätte das Verhältnis innerhalb der Koalition belastet. Außerdem hielt Braun nicht viel von Königs Qualifikation. Seiner Ansicht nach beschränkte sich dessen Horizont auf das Volksschulwesen. Am Ende lag der Name König bereits so weit in der Öffentlichkeit, dass der Vorgang als ein „Zurückweichen vor der SPD-Fraktion" aufgefasst worden wäre 9 . Braun konnte sich auf den Vorsitzenden der DDPFraktion, Bernhard Falk, berufen. Dieser hatte ihm mitgeteilt, dass ein neuer Kultusminister dem protestantischen Milieu entstammen müsse. Schon der Staatssekretär im Kultusministerium war schließlich Katholik 10 . 7

8

' 10

Brief an Erich Wende vom 10. Oktober 1958, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 242. Rolf Gardiner berichtete von einem nächtlichen Gespräch mit Becker, in dem dieser sich zum Rücktritt bereit erklärte; siehe auch Wende, Becker (wie Kap. 3, Anm. 56), S. 237. Orlow, Prussia (wie Anm. 4.), S. 63. Schulze, Braun, S. 560. 1925 gab es im Kultusministerium noch keinen Katholiken an leitender Stelle. Becker änderte dies. Ein katholischer Kultusminister wäre im damaligen Preußen wohl nicht denkbar gewesen. Das Zentrum avisierte deshalb den Posten des Staatssekretärs. Becker hing politisch von den Stimmen des Zentrums ab. Sich dem Ansinnen zu widersetzen, hätte seine Position geschwächt. Staatssekretär wurde deshalb der Zentrumspolitiker Albert Lauscher. Dem Zentrum diese Position wieder zu nehmen, schien kaum möglich. Becker verzichtete mit diesem Zug gleichzeitig darauf, bei veränderter politischer Konstellation als Staatssekretariat sein Werk zu vollenden. Wollte er seine Reform zu Ende bringen, musste er Minister bleiben. Guido Müller: Weltpolitische Bildung und akademische Reform. Carl Heinrich Beckers

Kultusminister Preußens

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Die DVP folgte dieser Argumentation11. Offenbar spielte Braun mit dem Gedanken, den Oberpräsidenten der Provinz Sachsen und Hallenser Universitätsprofessor, Heinrich Waentig, in den Rang des Kultusministers zu erheben12. Becker schlug einen anderen vor: den Vizepräsidenten des PSK Berlin Brandenburg, Adolf Grimme. Braun mag den Namen schon einmal gehört haben. Er wird aber kaum in der Lage gewesen sein, dem Namen ein Gesicht zuzuordnen. Grimme zum Kultusminister zu befördern war ein starkes Stück, da er in der Öffentlichkeit ganz unbekannt war. Ein kleines Spezialpublikum wird sich seiner Auftritte als Schulinspektor erinnert haben. Ein anderes vielleicht seinen Namen mit dem Fahnenstreit verbunden haben. Die breite Öffentlichkeit kannte den Mann nicht, der sie am nächsten Morgen von den Titelseiten anblickte. Für Braun hingegen schien er ein idealer Kandidat. Er war Sozialdemokrat mit einiger Erfahrung als Kulturpolitiker und als Pädagoge. Er konnte als ein Mann präsentiert werden, der im evangelischem Kirchenleben aktiv war. Dass er den religiösen Sozialisten angehörte, wird Braun kaum interessiert haben. Wahrscheinlich wird er über diese Untergruppe der Sozialdemokraten ohnehin nur wenig Kenntnis besessen haben. Der Landtagsfraktion gehörte Grimme nicht an. Seine Unbekanntheit konnte der Reputation Brauns nur förderlich sein. Schon einmal hatte er entgegen aller Vorschläge einen Kandidaten durchgesetzt: den preußischen Innenminister Grzesinski. Dieses Machtexempels wird sich Braun, soweit das politische Manöver gemeint war, gern erinnert haben. Die Person Grzesinski stand damals im Blick der Öffentlichkeit, weil er sich mit einer Frau in der Öffentlichkeit zeigte, mit der er nicht verheiratet war. Grzesinski lebte von seiner Ehefrau getrennt, hatte sich aber offiziell nicht scheiden lassen13. Dies genügte der konservativen Opposition, um Grzesinski schließlich im Februar 1930 zum Rückzug zu zwingen, besonders, weil das Zentrum nicht bereit war, Grzesinski zu decken. Gleichzeitig hatte die Berliner Presse einen großen Korruptionsskandal aufgedeckt, in

Wissenschafts- und Hochschulpolitik 1908-1930, Köln 1991; Wolfgang W . Wittwer: Carl Heinrich Becker, in: Treue u. Gründer, Lebensbilder (wie Einleitung Anm. 5); Wende, Becker (wie Kap. 3, Anm. 56), S. 186. "

Schulze, Braun, S. 560.

12

So bei Gerhard Schulz: Von Brüning zu Hitler. Der Wandel des politischen Systems in Deutschland 1 9 3 0 - 1 9 3 3 , Berlin u. N e w Y o r k 1992, Bd. 2., S. 317, Anm. 85, leider ohne Beleg. Da Waentig wenig später Grzesinski als Innenminister ersetzte, ist der Schluss zulässig. Waentigs Persönlichkeit wäre sicher für das A m t des Kultusministers besser geeignet gewesen als für das des Innenministers, w o er nach einer kurzen Amtszeit erneut ersetzt wurde.

"

Albrecht, Grzesinski (wie Kap. 3, Anm. 115), S. 281 ff.

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den mehrere prominente SPD-Politiker verwickelt waren 14 . Als Hauptzielscheibe in diesem Finanzskandal diente der rechten, vor allem aber der kommunistischen Presse der Oberbürgermeister der Stadt Berlin, Gustav Böß 15 . Er selbst gehörte zwar nicht zur SPD, sondern zur DDP. Die Presse entwarf aus den Vorkommnissen aber schnell das Bild eines verderblichen politischen Systems. Die Affäre entwickelte sich, wie es in einem Bericht des stellvertretenden Bürgermeisters hieß, zu einer „die ganze Öffentlichkeit erfassende Psychose". Grimme schien über eine absolut integre Persönlichkeit zu verfügen, so dass er auch in dieser Hinsicht ein geeigneter Kandidat war. Tatsächlich konnte angenommen werden, dass er Heilmann zufrieden stellen könnte. Der Gegenkandidat König kannte und schätzte Grimme und sogar die Nationalsozialisten lobten ihn ob seines „germanischen Enthusiasmus" 16 . Braun brauchte nichts weiter zu wissen. Auf den Rat Beckers verließ er sich in diesem Fall mehr oder weniger blind. N u n galt es lediglich noch, den Kandidaten zu überzeugen. Naturgemäß hatte der Vorbehalte. Was Braun als Vorteil erachtete, ließ Grimme zögern. Er sei doch einem größeren Kreis von Abgeordneten ebenso unbekannt wie den Spitzen der SPD oder einem weiteren politischen Kreis. Braun entgegnete: „Lassen Sie das meine Sorge sein." Trotzdem schien ihm eine Bedenkzeit unerlässlich. Braun drängte, auf diese Bedenkzeit zu verzichten, der Wechsel im Kultusministerium müsse sofort vollzogen werden. Die Vorgänge an den Hochschulen 17 würden der eigenen Partei zunehmend und völlig zu Unrecht angelastet. Braun wollte in der eigenen Fraktion und innerhalb der Koalition Ruhe schaffen. Das ständig wiederkehrende Gezänk um den Posten des Kultusministers sollte ein Ende finden. Das Angebot Beckers zum Rücktritt veranlasste Braun zum sofortigen Handeln. Grimme willigte ein. Daraufhin wurde Becker informiert, der seinen Rücktrittsgesuch schriftlich und persönlich einreichte. Grimme musste noch einmal im Staatsministerium vorsprechen, um seine Ernennungsurkunde entgegenzunehmen. Anschließend suchte er Becker im Kultusministerium auf, fuhr mit ihm nach Steglitz in Beckers Wohnung und wartete 18 .

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Orlow, Prussia (wie Anm. 4.), S. 63. Zu den Zusammenhängen Christian Engeli: Gustav Böß. Oberbürgermeister von Berlin 1921-1930, Berlin 1971, S. 226 ff. Orlow, Prussia (wie Anm. 4.), S. 64. Siehe den Abschnitt „Aufgaben im Kultusministerium". Brief an Erich Wende vom 10. Oktober 1958, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 242.

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2. Reaktionen der Öffentlichkeit Es zeigte sich, dass Braun richtig gerechnet hatte. Die Präsentation eines unbekannten Kandidaten ließ eine substanzielle Kritik nicht zu. Die Plötzlichkeit der Operation verschaffte dem Wechsel noch zusätzlich etwas Sensationelles. Dies um so mehr, als nun alle Spekulationen über die Aufnahme der DVP in die Regierung beendet waren. Die Presse konnte nicht anders, als den Wechsel groß aufgemacht zu melden, ohne gegen Grimme etwas vorbringen zu können. Die Redakteure der politischen Feuilletons benötigten Zeit, die Braun zum Beruhigen des politischen Umfeldes nutzen konnte. Gewiss, die oppositionelle Presse berichtete kritisch: Grimme sei ein „Parteibuchsozialist", auch das Kultusministerium sei zu einem der „zahllosen Debetposten" geworden19, spätestens mit dieser Beförderung sei offensichtlich, dass unter dem Deckmantel des Staatswohles lediglich nach dem Parteiwohl gesucht werde20. Aber das waren Schlagworte, die Braun kaum trafen. Insgesamt stimmte doch die überwiegende Zahl der Beobachter einem Wechsel im Kultusministerium zu. Nicht so sehr aus politischer Notwendigkeit, als vielmehr wegen der anhaltenden Unruhen an Schulen und Universitäten. Die Berliner Morgenpost meinte, Becker habe in seinem Zuständigkeitsbereich versagt. Er hätte ebenso wie Severing im Innenministerium für einen republikanischen Geist eintreten müssen, die Demokratie und die Verfassung im Volke verwurzeln. Der Geist an den Schulen und Universitäten zeige deutlich, dass es Becker auf diesem Feld an der nötigen „Entschlusskraft" mangele21. In diesem Punkt stimmte auch die konservative Presse zu. Die viel gelobte „reine Geistigkeit" Beckers habe im Ergebnis dazu geführt, dass „Zwölfjährige in den Berliner westlichen Schulen ihre Lehrer verprügeln" und Polizeibeamten Studenten verprügelten, weil sie noch an so „alberne Dinge" glaubten wie „Großdeutsche Geistigkeit" anstelle der „reinen Geistigkeit" des Herrn Becker 22 . Die erste Rede vor dem Hauptausschuss des Landtages wurde mit Spannung erwartet. Grimme wollte eine gehaltvolle Rede halten, die einerseits den Unterschied zu seinem Vorgänger verdeutlichen, den Vorwurf des Parteischachers entkräften und trotzdem die SPD für ihn einnehmen sollte. Der „Exponentenrede" folgte eine explosionsartige öffentliche Reaktion. Eine Passage der Rede vom 10. Februar 1930 lautete: „Der eigentliche Grund des Umstrittenseins liegt überhaupt nicht, glaube ich, in Angriffspunkten gegen die Persönlichkeit des Herrn Becker, sondern in der

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„Märkische Zeitung" vom 4. Februar 1930, in: N1 Grimme, Nr. 1083. „Der Tag" vom 22. Februar 1930, in: N1 Grimme, Nr. 1083. „Berliner Morgenpost" vom 31. Januar 1930, N1 Grimme, Nr. 3338. „Märkische Zeitung" vom 4. Februar 1930, N1 Grimme, Nr. 1083.

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geschichtlichen Situation des Typus Becker. Seine weltanschauliche Blickrichtung ging auf die Persönlichkeit. Aber er stellte doch wohl nicht genügend die fundamentale Tatsache in seine politische Rechnung ein, dass zwar in keinem politischen System der Welt, die an die Idee gebundene Persönlichkeit entbehrt werden kann, dass diese Persönlichkeit als politische aber wirken kann nur als Exponent einer Machtgruppe. Auch die stärkste Persönlichkeit begibt sich in der Politik ihres Einflusses, wenn sie sich nicht von Entscheidung zu Entscheidung auf eine feste Machtgruppe mit unbedingter Verlässlichkeit stützen kann" 23 . Eigentlich bezweckte die Rede, die Öffentlichkeit darauf vorzubereiten, dass er gerade nicht vorhatte, als „Funktionär oder bloße Marionette" seiner Partei aufzutreten24. Becker habe einen Teil seiner Vorhaben nicht durchsetzen können, weil ihm der politische Rückhalt einer Partei fehlte. Er beabsichtigte, Beckers Politik fortzusetzen und wollte mit der Rede herausstellen, dass ihm als Parteimann zusätzliche Möglichkeiten zum Verwirklichen von Reformen offenstanden. Der Exponentenbegriff sollte gleichzeitig die SPD-Fraktion beruhigen, deren Wunschkandidaten er verhindert hatte. Da über seine politische Haltung nichts bekannt war, behandelte die Presse verständlicherweise nur den zweiten Aspekt der Rede und deutete sie dahin, dass Braun mit ihm eine streng sozialistische Schulpolitik angehen würde. Die kurzfristige Starre der Opposition löste sich in Entsetzen. Der Wechsel im Kultusministerium führte in der Landtagssitzung am 19. Februar 1930 zu einem Misstrauensantrag gegen Braun 25 . Carl Ladendorff, Abgeordneter der Wirtschaftspartei, war außer sich. Er sprach von einem „brutalen Machtmissbrauch" zum Schaden der gesamten christlichen Bevölkerung. Der Hinweis, Grimme sei ein religiöser Sozialdemokrat, müsse geradezu als „Verhöhnung der christlichen Bevölkerung" empfunden werden, denn natürlich sei die SPD auch heute noch eine antireligiöse Partei. Der Minister habe sich im Hauptausschuss als Exponent der Partei erklärt, deren Erziehungsbegriff denen des Christentums diametral entgegenstünden. Braun antwortete, ihm sei immer daran gelegen gewesen, eine gewisse Kontinuität der Politik zu erhalten. Er habe deshalb Becker um Rat gefragt, „wen er mir nach seiner Personenkenntnis als geeigneten Nachfolger

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Brief an Gerhard Weiser vom 5. Oktober 1960, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 265. Zitat aus stenografischem Bericht des PrLT, abgedruckt in: Sauberzweig (1967), S. 333. Brief an Gerhard Weiser vom 5. Oktober 1960, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 265. Folgende Zitate aus: PrLT, 3. W P (1928/30), Sp. 10907 ff., Drucksache Nr. 4030.

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auf seinem Posten vorschlagen könnte. Herr Minister Becker hat mir als den einzigen, den er als geeignet ansah, ihn auf seinem Posten zu ersetzen und seine Politik fortzuführen, den Herrn Grimme vorgeschlagen". Es sei ihm bisher nicht zu Ohren gekommen, dass die christliche Bevölkerung sich über den Kandidaten erregt habe. Dazu bestehe auch kein Anlass, da die „Ausübung der christlichen Religion" durch die Verfassung, durch Verträge und Verordnungen geregelt und „vom Staate zu schützen" sei. Der Minister habe dies natürlich zu beachten. Der Preußische Kultusminister habe sich außerdem nicht nur mit den Konfessionen zu beschäftigen, sondern vor allem auch die Gebiete der Wissenschaft und Kunst und Volksbildung zu bearbeiten. Der neue Kultusminister sei ein Beweis dafür, dass man ein guter Sozialist und ein guter Christ sein könne. Sozialistische Grundsätze stünden ohnehin mit dem Christentum im Einklang. Der Misstrauensantrag fand keine Mehrheit. Unwille entzündete sich nicht nur am Exponentenbegriff. Der neue Kultusminister sah sich selbst in erster Linie als Repräsentant des religiösen Sozialismus. In seiner ersten Landtagsrede beabsichtigte er, ohne Rücksicht auf Braun, diese geistige Herkunft zu unterstreichen. Die Arbeit jedes Kultusministers vollziehe sich vor dem Hintergrund einer erschütterten Kultur. Die herkömmlichen Werte seien bis an den „Rand des Leugnens geistiger Werte überhaupt" gerückt. Die Volksgenossen erwarteten deshalb ein Angebot auf die Frage nach dem „Sinn des Daseins" 26 . Diese Antwort könne zwar das Kultusministerium nicht geben. Der Staat ermögliche Kultur - er mache sie nicht. Aber es obliege ihm, die Vielfalt der Antworten so groß wie möglich zu halten. Deshalb dürfe weder Minister noch Staat eine bestimmte Kulturauffassung zu der absolut gültigen machen, oder zwischen religiösen und weltanschaulichen Strömungen werten. Jede Denkrichtung genieße die staatliche Toleranz. Doch „jede Toleranz findet ihre natürliche Grenze an einer Intoleranz, die darauf ausgeht, das Fundamt zu unterhöhlen, auf dem die Ausübung der Tugend der Toleranz allein möglich ist, den demokratischen Staat". Nach wenigen Wochen im Amt hatte er einen nicht geringen Teil der Öffentlichkeit gegen sich aufgebracht. Er erörterte das Verhältnis von Christentum und Sozialismus und formulierte folgenden Satz: „Bei aller Unantastbarkeit des privaten Eigentums seien Sie sich darüber klar: Besitz ist Schuld." Die Verstimmtheit weitete sich nun auf Kirchenkreise aus. Otto Dibelius ergriff sofort die Feder und kommentierte, im neuen Testament stehe nichts von „Besitz ist Schuld". Paulus rede völlig unbefangen vom Privateigentum der Christen. Die Rolle des Eigentums im Christentum sei

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Folgende Zitate aus: PrLT, 3. W P (1928/30), Sp. 12989 f.

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immer mit Verantwortung verknüpft. „Besitz ist nicht Schuld. Aber er kann zur Schuld werden" 27 . In der Koalitionspartei des Zentrums regte sich Unmut. Der Abgeordnete Albert Lauscher 28 versicherte, der Gegensatz zwischen Christentum und Sozialismus werde stets bestehen bleiben. Einige Abgeordnete in konservativen Parteien stimmten der Rede dagegen zu. Der Abgeordnete Friedrich Oelze von der DNVP meinte: „Wenn man's hört, möchte's leidlich scheinen". Der neue Minister schien zu garantieren, dass Preußen nicht der „Kultuspolitik des Moskowitertums" verfalle. Gleichzeitig erlebte eine Schrift Grimmes aus dem Jahr 1923 eine nie gekannte Aufmerksamkeit: „Die religiöse Schule". Es handelte sich um die Publikation der Rede, die er sowohl in Leer als auch in Berlin gehalten und die damals so unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen hatte. Als Herausgeber trat Paul Oestreich auf, von dem auch das Geleitwort stammte. Als Sprecher des Bundes der „Entschiedenen Schulreformer" meinte er, den Leser warnen zu müssen. Er glaube, schrieb er, dass „Adolf Grimme diesmal in die Irre führt! Er lockt zu neuem Bilderglauben" 29 ! Oestreich stieß sich besonders daran, dass der „Sieg der neuen Liebe" hier vermeintlich unter dem „Banner der Vergangenheit erfochten" werden sollte. Wer aus kirchlichen Kreisen die Rede 1930 las, wird sich wohl über etwas ganz anderes gewundert haben: Der Autor forderte eine „Christusschule". Sie solle an die Stelle der Gemeinschaftsschule treten, die auf Religion ganz verzichtete. Aber auch an die Stelle der Konfessionsschulen, mit ihrem „angeklebten" Religionsunterricht. Die „Christusschule" sollte Wissenschaft und Religion miteinander verbinden. Grimme hielt Religion für ein fortgesetztes wissenschaftliches Denken. Der gotterfüllte Mensch fürchte keine Wissenschaft, sondern suche sie. Die Lehre ende nicht mit Moses, nicht mit Jesus und erst recht nicht mit Luther. Wenn die Einsicht es verlange, müsse „lieb gewonnene Wahrheit einem reiferen Gedanken weichen". An dieser Stelle klagte er die Kirchen an. Sie sei im Dogma verfangen und arbeite entgegen ihres Daseinssinnes. Mit der Teilung in ein Reich der Wirtschaft und ein Gottesreich fühle sie, „die so viel von Sünde spricht, die Sünde unserer Zeit nicht mehr". Den Mensch in dieser Wirtschaftswelt allein zu lassen, sei „Verrat und Schuld". Die geltende Wirtschaftsordnung zwinge oder verleite den Menschen, mehr an sich als an die anderen und Gott zu denken.

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Otto Dibelius in: „Der Tag" vom 6. April 1930, N1 Grimme, Nr. 1071. Albert Lauscher (1872-1947), Theologe, Professor an der Universität Bonn, päpstlicher Hausprälat, MdR 1 9 2 0 - 2 4 und MdPrLT 1 9 1 9 - 3 3 . Kulturpolitischer Sprecher der Zentrumsfraktion. Folgende Zitate aus: Grimme, Religiöse Schule (wie Kap. 2, Anm. 100).

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Dieser religiöse Ansatzpunkt unterschied ihn gehörig von Richert. Zwar galt jener als tief religiös, im vertrauten Gespräch soll er aber „niemals vom religiösen oder gar vom kirchlichen Standpunkt aus geurteilt haben" 30 . Grimme urteilte immer vom religiösen Standpunkt, allein schon deshalb, weil es zwischen Religion und Wissenschaft für ihn keinen Unterschied gab. Mitstreiter für eine solche Schule hätten sich im Ministerium kaum gefunden. Mit der Übernahme des Ministeramtes entwickelten bestimmte Kreise plötzlich ein reges Interesse an seiner Mitgliedschaft im „Bund der religiösen Sozialisten". Zu diesen Kreisen zählten zunächst die „religiösen Sozialisten" selbst. Der Präsident des Bundes, Georg Wünsch 31 , informierte die Mitglieder in der Bundeszeitschrift. Es sei zu lesen gewesen, schrieb er, der Kultusminister sei religiöser Sozialist. Er sei zunächst misstrauisch gewesen, denn „was nennt sich nicht alles religiöser Sozialist". Uber Grimme habe er bis zum damaligen Zeitpunkt noch nie etwas gehört, sich aber sogleich zwei Bücher verschafft und sich sehr gewundert, dass er erst jetzt auf „so feine und mit der Gesamtbewegung so übereinstimmende Gedanken" aufmerksam würde32. Dieses Urteil bezog er nicht zuletzt aus der „Religiösen Schule" von 1923. Die „Königsberger Hartungsche Zeitung" referierte ganz zutreffend, dass Grimme die religiösen Defizite an der modernen Schulreform kritisierte. Es reiche ihm nicht aus, dem Religionsunterricht eine Sonderposition einzuräumen. Vielmehr wolle er Lehrer und Schüler weltanschaulich vereinen. Um dies zu erreichen forderte er nicht nur, dass Lehrer die Republik bejahen müssten, sie dürften vor allem zweierlei nicht sein: Materialist und Atheist. Ein Atheist würde nämlich stets zwischen Bildung und Religion trennen. Für ihn gehörte beides zusammen33. Die „Germania", Zeitung des Zentrums, hielt seine Religion für nichts anderes als „Humanitätsschwärmerei mit einem religiösen Mäntelchen", seine Ziele für übertrieben und unmöglich zu verwirklichen34. 30

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Jauernig an Grimme vom 14. Juni 1961, N1 Grimme, Nr. 1798. Richert, schrieb Jauernig, habe seine Ansichten rein philosophisch begründet. Gott müsse als ein „Grenzbegriff" gesehen werden, habe Richert gefordert, sonst verliere man sich im „Gestrüpp der Worte". Mit Unsterblichkeit brauche man nicht zu rechnen. Vielmehr erwarte er, wenn seine Stunde gekommen sei, in dem „großen Schweigen unterzutauchen". Georg Wünsch (1887-1964) war Professor in Marburg, später Vorsitzender des Bundes der Religiösen Sozialisten. Zitiert aus: Zeitschrift für Religion und Sozialismus 2 (1930), hrsg. für den Bund Religiöser Sozialisten Deutschlands von Prof. Dr. Georg Wünsch (Marburg), S. 121, N1 Grimme, Nr. 324. „Königsberger Hartungsche Zeitung" vom 17. Dezember 1930, N1 Grimme, Nr. 1081.

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„Germania" vom 10. Mai 1930, N1 Grimme, Nr. 1081.

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Innerhalb der evangelischen Kirche führte die Lektüre des Buches zu ganz anderen Reaktionen. Im März 1930 hob der Generalsuperintendent der Kurmark, Otto Dibelius, auf einer Generalsynode noch die Zugehörigkeit des neuen Kultusministers zur evangelischen Kirche hervor35. Nach dem Studium einiger Reden und Aufsätze änderte er seine Sicht. Als die Brandenburger Synode den kirchenfeindlichen Standpunkt der religiösen Sozialisten erörterte, wollte sie den Kultusminister aus der evangelischen Kirche ausschließen. O b tatsächlich Dibelius dies vereitelte, wie er nach 1945 behauptete, sei dahingestellt36. Ihm wird klar gewesen sein, dass die Machtgruppe die Sozialdemokraten waren, nicht die religiösen Sozialisten. Und dies wusste auch der Kultusminister. Innerhalb der Landtagsfraktion konnte er kaum damit rechnen, in seinen religiösen Ansätzen unterstützt zu werden. Von den 136 Abgeordneten der SPD besaßen nur neunzehn eine Kirchenmitgliedschaft, und zwar die der evangelischen Kirche, fünfundachtzig bezeichneten sich als Dissidenten oder als freireligiös, zwanzig Abgeordnete konnten unter der Frage überhaupt nichts angeben37. Den Kultusminister zu exkommunizieren, schien in Anbetracht dieses Umstandes als unverhältnismäßig. Gleichwohl wird die evangelische Kirche darüber gewacht haben, ob er nicht doch die Sache der religiösen Sozialisten zu fördern versuchte. Innerhalb der SPD stellten die religiösen Sozialisten zwar nur eine kleine Gruppe. In der evangelischen Kirche besaßen sie hingegen einen gewichtigen und wachsenden Einfluss. Der fehlende Widerhall innerhalb der SPD wurde außerdem dadurch gemindert, dass die religiösen Sozialisten politisch auch in den Liberalen Parteien beheimatet waren und von dort unterstützt wurden38. Zu den Dissidenten im Landtag gehörte Otto Braun, der 1894 aus der Kirche ausgetreten war39. Er empfand es als „inneren Verlust", dass ihm der Glaube an Gott verloren gegangen war. Nach dem Tod seines Sohns gab er einmal zu, er beneide diejenigen, „die noch an ein Weiterleben nach dem Tode und an ein Wiedersehen in einem

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„Die Landeskirche", evangelisch-lutherische Kirchenzeitung für Schleswig-HolsteinLauenburg vom 9. März 1930, N1 Grimme, Nr. 1081. Brief an Otto Hegenscheid vom 11. Mai 1958, N1 Grimme, Nr. 3333, abgedruckt in: Sauberzweig (1967), S. 235 ff. Dibelius war 1930 Generalsuperintendent der Kurmark. PrLT, 3. W P (1928), S. 492. Siehe dazu die Aussagen der Abgeordneten Meyer und Grave (DDP), PrLT, 3. W P (1928/30), 2. April 1930, Sp. 13189 und Sp. 13198. Meyer fand die Sichtweise der „religiösen Sozialisten" vom „idealen Standpunkt" aus begreiflich und unterstützenswert. Grave hoffte, die Toleranz, welche die Kirche den „religiösen Sozialisten" gegenüber zeigte, würde sich nun auch in der SPD durchsetzen. Schulze, Braun, S. 74.

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fantastischen Jenseits glauben könnten" 40 . Kennen lernten sie sich erst, als dessen körperliche und geistige Belastbarkeit sich bedenklich erschöpfte. O b sie sich je über religiöse Fragen austauschten, ist nicht überliefert und wohl wenig wahrscheinlich. Es ist aber anzunehmen, dass beide in einigen Punkten übereinstimmten. Die bloße metaphysische Spekulation erschien ihnen verdächtig, wenn sie nicht auf Vernunft, Rationalität und Logik beruhte. Ihr Glaube reichte nur bis zu Punkten, bis zu denen Vernunft mitgehen konnte. Braun notierte im Alter zustimmend einen Spruch des Philosophen Kant, der lautete: „Nichts ist göttlich, als was vernünftig ist". Dem wäre Grimme vorbehaltlos gefolgt. Die religiöse Qualität, die er einst aus dem Naturerlebnis herleitete, hätte auf der anderen Seite wohl auch den naturbegeisterten Braun überzeugt. Er beobachtete an dem Ministerpräsidenten, dass dieser keineswegs blind gegenüber „rational schwer Fassbarem" war und höchstens dazu neigte, die „Imponderabilien beim Entscheiden zu gering zu veranschlagen". Er schätzte das im „Gewicht Bestimmbare" höher ein41. Braun besaß einige anthroposophische Bücher 42 und es ist anzunehmen, dass er hinter der rationalen Fassade über Jenseitsfragen nachdachte. Der religiöse Zug in Grimmes Wesen dürfte ihn nicht geschreckt haben. An Braun erkannte und schätzte er die Fähigkeit, auf andere Menschen einzugehen und ihnen Mut zuzusprechen. Der Leiter der Hochschulabteilung des Kultusministeriums bat ihn nach einigen unruhigen Wochen in seinem Ressort, sich bei Braun für eine Aussprache zu verwenden. Er bestärkte Braun, diesem Wunsch zu entsprechen und den Mitarbeiter zu empfangen, wenngleich es sich dabei „weniger um ein Politikon, als um ein Seelenstündchen" handele43. Braun gehörte zum Jahrgang 1872, war also fast zwei Jahrzehnte älter. Zu seinen Fähigkeiten gehörte es, solche Unterschiede zu überdecken und seine Untergebenen zu eigenem Handeln zu ermutigen. In Personalfragen etwa ließ er „völlig freie Hand" 44 . Sie teilten das tragische Erlebnis, früh ein Kind verloren zu haben. Im März 1931 hängte sich Grimmes vierzehnjähriger Sohn Eckart mit einem Fahrrad an einen Laster, um sich einige Meter mitziehen zu lassen. Als der Wagen abbog geriet er unter die Räder und verletzte sich tödlich. Braun

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Tagebuchaufzeichnung Brauns vom 24. Dezember 1915, zitiert nach Schulze, Braun, S. 75. Brief an Erich Wende vom 22. Oktober 1958, Degerndorf, Sauberzweig (1967), S. 247. Schulze, Braun, S. 75. Brief an Otto Braun, ohne Datum, N1 Grimme, Nr. 2946. Brief an Erich Wende vom 22. Oktober 1958, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 247.

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fühlte sich besonders in das Schicksal des Vaters ein45. Er hatte den eigenen Sohn auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges verloren und sich 1915 auf eine Irrfahrt durch das ostpreußische Kriegsgebiet begeben, um sich wenigstens der Leiche des Sohnes zu versichern. Mit eigenen Händen grub er den Sarg aus, der dann auf der Eisenbahnfahrt nach Berlin verloren ging und tagelang gesucht werden musste46. Er dachte daran, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Der Tod Eckart Grimmes wird diese Situation wieder heraufbeschworen haben. Gerade die Brauns empfanden „aus eigenem schmerzvollen Erleben heraus die Tiefe eines solchen Verlustes mit" 47 . Die Gemeinsamkeiten dürfen freilich nicht überzogen werden. Gegen eine politische Wiederkehr Brauns nach dem Kriege meldete Grimme „unüberwindliche Bedenken" an48. So sehr er ihn verehre, Braun wäre „für die SPD von heute nun einmal eine schwere Belastung", hieß es in einem Schreiben an Herbert Weichmann 49 . Er hielt ihn für abgearbeitet und nach dem unrühmlichen Ende der preußischen Regierung im Juli 1932 für eine tragische Symbolfigur. Er erhielt von der SPD-Führung im Sommer 1932 den Auftrag, Braun zur Rückkehr nach Berlin zu bewegen und erlebte einen resignierten Ministerpräsidenten, der nicht mehr die Kraft aufbrachte, sich den Feinden entgegenzustemmen und die Ehre der Partei mit der eigenen aufs Spiel setzte. Als Mitglied der Regierung fiel auf seine Biografie ein Makel, für den er den Ministerpräsidenten belastete. Braun stand als Typus für einen Funktionär alten Schlages. Die möglichen Gemeinsamkeiten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Grimme, der „in die Masse" und in die Partei hineinwirken wollte, in Braun ein Hemmnis programmatischen Wandels sah. Unter der jüngeren Generation der Nachkriegsführung genoss er sicher größeres Ansehen, als er es unter Braun je erreicht hätte. Es gab keinen Zweifel, das Braun den Finanzminister für den wichtigsten Mann in seiner Regierung hielt und die Kultuspolitik dahinter zurückstand. Für Politiker wie Braun und Severing, die den „Schienenstrang der Weimarer Zeit zurückfahren" wollten, sah Grimme in der jungen Demokratie nach 1945 keinen Platz mehr.

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Antwort Grimmes auf Kondolenzschreiben Brauns vom 11. April 1931, N1 Grimme, Nr. 2886. Schulze, Braun, S. 189. Brief an Otto Braun vom 11. April 1931, N1 Grimme, Nr. 2946. Brief an Peiser (1930 stellvertretender Pressechef der preußischen Staatsregierung) vom 19. Juni 1947, N1 Grimme, Nr. 2215. Schulze, Braun, S. 838.

Aufgaben im Kultusministerium

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3. Aufgaben im Kultusministerium Vor allem zwei Aufgaben wollte Braun im Ressort Kultus gelöst haben. Erstens sollte dem Konkordat mit der Kurie ein staatsvertraglicher Abschluss mit der Evangelischen Kirche folgen. Und zweitens sollte die akademische Jugend in engeren Kontakt zum demokratischen Staat kommen 50 . Bei einer der ersten Gelegenheiten bedauerte er noch einmal, dass Becker die Verträge mit der evangelischen Kirche nicht mehr abschließen konnte. Es wäre ihm „lieber gewesen", wie er sagte. Spätestens ab jener Minute gab es keine Zweifel mehr, dass Braun ihn in der Hauptsache um der Hochschulen Willen ins Amt geholt hatte. Nicht nur die Universitäten, auch die Schulen und der gesamte Beamtenapparat des Kultusministeriums mussten möglichst zügig zum Werkzeug der Republik umgeformt werden. Um dies zu erreichen, hatte der Kultusminister sowohl strukturelle Reformen, vornehmlich aber personalpolitische Stränge anzugreifen. Die staatstragende Beamtenschaft erneuerte sich aus den Abgangsjahrgängen der Universitäten. Im Kaiserreich kam es so gut wie nicht vor, dass ein bekennender Republikaner für eine Professur vorgeschlagen wurde. Da sich der Lehrkörper in der Regel selbst ergänzte, blieb die konservative Grundstimmung innerhalb der Professorenschaft nach 1918 erhalten51. Unter Becker gelangte die Republik zu keinem festen Einfluss auf die akademische Welt. Die staatsskeptische Haltung der Studentenschaft verstärkte sich noch, als sich in ihren Reihen völkisches Gedankengut ausbreitete52. Romantische und idealistische Ordnungsvorstellungen gewannen immer mehr an Popularität, zunehmend auch Antisemitismus. Die Gegensätze zwischen Republikanern und den Anhängern der völkischen Ideen trugen die Studentengruppen immer häufiger gewaltsam aus. Die Preußische Regierung trug durch ungeschicktes Verhalten das ihre dazu bei, dass sich die Studentenschaft spaltete und eine Mehrheit unter ihnen sich von der Republik entfernte. Die Fälle der Professoren Emil Julius Gumbel 53 , Hans Nawiasky54 und Theodor Lessing55 bildeten die Höhepunkte der Auseinandersetzung.

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Brief an Erich Wende vom 22. Oktober 1958, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 247 f.

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N u r sehr selten machte der Staat von seinem Recht Gebrauch, die Posten zu „okt-

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Jürgen Schwarz : Studenten in der Weimarer Republik. Die deutsche Studentenschaft

royieren", d. h. die Professoren selbst zu berufen, so etwa im Fall Adolf Harnack. in der Zeit von 1918 bis 1923 und ihre Stellung zur Politik, Berlin 1971, S. 396 ff. 53

Möller, Weimar (wie Kap. 2, Anm. 31), S. 177 ff.

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Hans Nawiasky ( 1 8 8 0 - 1 9 6 1 ) emigrierte nach einem Uberfall in seiner Wohnung in den ersten Tagen der nationalsozialistischen Herrschaft 1933 in die Schweiz. Siehe auch den Abschnitt über die preußischen Hochschulen.

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1919 entstand der Plan, alle deutschen Studenten in einem Bund zusammenzufassen. Ein Plan, den das Ministerium begrüßte56. Unstimmigkeiten ergaben sich allein aus dem Verständnis, wer mit „deutsch" gemeint war. Keine Schwierigkeiten besaß Becker mit dem Vorsatz, neben Reichsstudenten auch solche aus Danzig, Osterreich und den Sudetengebieten in der „Deutschen Studentenschaft" zusammenzufassen. In Österreich setzte sich eine Fraktion durch, die nach dem „Rasseprinzip" organisieren wollte und zwar mit der Absicht, Juden nicht in die Studentenschaft aufnehmen zu müssen. Boelitz und Becker widersetzten sich dem Vorhaben vehement. Becker bestätigte im September 1927 ausdrücklich die Bestimmung aus dem Jahre 1920, nach der Studenten als „deutsch" galten, wenn ihre Zugehörigkeit zur deutschen Kulturgemeinschaft durch „Sprache, Bildung und Bekenntnis" nachweisbar sei. Der nationalsozialistische Studentenverband, der 1926 gegründet wurde, wuchs rasch zum größten aller Studentenverbände an. Unter seinem maßgeblichen Einfluss konnten sich die Reichsstudenten nicht entschließen, auf eine Koalition mit den österreichischen Verbänden zu verzichten. Nur der Druck des Ministeriums verhinderte, dass auch in Deutschland die antisemitischen Kriterien durchgesetzt wurden57. Becker entzog den Studenten an den preußischen Universitäten daraufhin die Möglichkeit zur Selbstverwaltung. Durch eine Vielzahl von Einzelkonflikten trübte sich die Stimmung von Universitäten und Ministerium im Laufe der zwanziger Jahre immer weiter ein. Als Grimme das Amt des Kultusministers übernahm, stand die republikanische Staatsidee bei großen Teilen der Studenten- und Professorenschaft nicht in hohem Ansehen und das Verhältnis zum Kultusministerium war nachhaltig gestört. Der zweite Teil der Aufgaben, die in seine Zuständigkeit fielen, bestand im Staatsvertrag mit der Evangelischen Kirche. Das nicht zu Stande gekommene Reichsschulgesetz hätte Fragen behandeln müssen, die den Religionsunterricht betrafen, und wahrscheinlich ein Konkordat auf Reichsebene nach sich gezogen. Ohne Reichskonkordat blieb ungeklärt, ob eine Schule sich katholisch oder evangelisch nennen und das Lehrpersonal nach Bekenntnis zusammengesetzt werden durfte. Inhalt und Umfang des Religionsunterrichtes harrten ebenfalls einer klaren Regel. Mit dem Zusammentritt der Nationalversammlung war ein neuer Staat entstanden, der

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Rainer Marwedel: Philosophenheimat. Theodor Lessing und Hannover, HannGbll N . F. 38 (1984), S. 177-215. Folgende Zitate aus: Wende, Becker (wie Kap. 3. Anm. 56). Wendes Biografie Beckers ist im tieferen Sinne kein wissenschaftliches Werk, da der Autor auf Belege weitestgehend verzichtet. Wende war mit Becker befreundet und selbst Mitarbeiter im Kultusministerium. D a s Werk hat deshalb autobiografischen Charakter. Siehe hierzu Herbert, Best (wie Kap. 2, Anm. 22).

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außenpolitisch handeln musste. Die Staatsverträge des Kaiserreiches bedurften einer Revision, mussten bestätigt oder neu verhandelt werden. Allein der konfessionelle Frieden im Land erforderte Eindeutigkeit der kirchlichen Angelegenheiten. Darüber hinaus lag es im Interesse des Staates, beim Besetzen hoher Kirchenämter ein Mitspracherecht zu besitzen. Die Aufsicht über theologische Fakultäten musste ebenso neu geordnet werden wie die finanziellen Beiträge des Staates zum Kirchenleben. Im Unterschied zum Kaiserreich besaß die Republik eine religiös neutrale Verfassung. Sie war laizistisch, die Dotation an die Kirche infolgedessen nicht selbstverständlich. Damit trat neben das rechtliche Problem ein politisches, denn es schien nicht abzusehen, wie sich die Evangelischen Kirchen dem neuen Staat gegenüber verhalten würden. Auf der anderen Seite lag eine ebenso große Unbekannte im Vorgehen der sozialistischen Parteien gegen die Kirche. Innerhalb der SPD galt der vom Staat finanzierte kirchliche Neuaufbau als großes Entgegenkommen 58 . Viele Republikaner hofften mit diesem Beitrag, Republik und evangelische Kirche und mit ihr die stark kirchlich interessierten, politisch überwiegend rechtsgerichteten Kreise einander anzunähern. Im Interesse der Kirchen lag es, statt einer gesetzlichen Regelung einen Staatsvertrag abzuschließen. Ein Gesetz hätte jederzeit einseitig vom Staat aufgehoben werden können. Dass Becker seit März 1926 mit der katholischen Kirche verhandelte, schuf auf evangelischer Seite Begehrlichkeiten nach einem eigenen Abkommen. Das Fordern blieb zunächst noch verhalten. Als aber die Tagespresse im Oktober 1928 einen Vertrag zwischen Preußen und der katholischen Kirche meldete, entwickelte die Evangelische Kirche ihrerseits Aktivitäten59. Das Konkordat weckte bei bestimmten Kirchenmitgliedern einen antikatholischen Affekt und näherte den Verdacht, die katholische Kirche wolle auf Kosten der Protestanten ihre Machtsphäre ausweiten. Anlass zu dieser Sorge bot vor allem das geplante katholische Bistum in Berlin. Am 9. Juli 1929 verabschiedete der Landtag das Konkordat mit der katholischen Kirche. Evangelische Kirchenvertreter verhandelten bereits mit dem Ministerpräsidenten, der im November 1928 ein gleichrangiges Abkommen zwischen Preußen und den protestantischen Landeskirchen in Aussicht stellte. Am 11. Juli begann das Kultusministerium mit den evangelischen Kirchen zu verhandeln. Er stieg mitten in eine fortgeschrittene Diskussion. 58 59

Wende, Becker (wie Kap. 3 Anm. 56), S. 285. Dibelius berichtete, das angeblich kurz vor Abschluss stehende Konkordat mit der katholischen Kirche schlug „ein wie eine Bombe, nachdem es so lange still gewesen sei". Wende, Becker, S. 288.

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Im Kabinett

Die Kirchenvertreter begegneten dem Personalwechsel mit Skepsis, da ihnen nunmehr ein religiöser Sozialist gegenüber saß. Innerhalb der Schulverwaltung wird die Partei Hans Richerts wenig erfreut gewesen sein, einen „Entschiedenen Schulreformer" auf dem Stuhl des Ministers zu wissen. Wenn das Verhältnis zwischen Richert und Becker auch nicht zum besten stand, wenn Becker sich auch mehr für die Hochschulreformen interessierte als für die der höheren Schulen, so stand er doch, wie im Übrigen auch Boelitz, auf der Seite Richerts60. Becker hielt die Reform der höheren Schulen für den „vollendeten Ausdruck eines liberalen Zeitalters" 61 und stimmte mit Richert darin überein, dass es auf den Geist der Schule ankomme und nicht auf die Organisation 62 . Beide mögen auch davon überzeugt gewesen sein, dass nur der Bezug auf die gemeinsame deutsche Geschichte die unzähligen Lokalidentitäten innerhalb des Reiches verbinden und ein Nationalbewusstsein erzeugen könne. Für Becker bestand kein Anlass, die Schultypen weiter zu vereinheitlichen. Die Begrifflichkeit der Reform ließ die Möglichkeit offen, den Unterricht ganz nach dem persönlichen Verständnis des unterrichtenden Lehrers von Nation und Deutschtum zu gestalten. Grimme missfiel besonders der unbestimmte Kulturbegriff des Schulplanes. Hinzu kam noch, dass die Richtlinien Richerts keine Lehrpläne im herkömmlichen Sinne waren. Richert wollte den Lehrern lediglich einen Auswahlstoff bieten. Schule sollte anregen und in Wissensgebiete einführen, das zugrunde liegende Geschichtsbild nicht dogmatisch verstanden werden63. Diesem Grundsatz konnten sowohl Becker als auch Grimme zustimmen. Grimme hatte die Freiheit der Lehrpläne verschiedentlich lobend hervorgehoben. Die Freiheit barg allerdings die Gefahr des Missbrauchs. Insbesondere wenn die Freiheit im Verbund mit so vielschichtig deutbaren Begriffen wie „deutsch", „Nation" oder „Volkstum" stand. Die Reformen Richerts stärkten die Eigeninitiative an den Schulen. Infolgedessen hing ihr Erfolg auch sehr von der Bildung und Weltoffenheit der Lehrer ab. Stundenprotokolle der Zeit belegen eine zum Teil verheerende Praxis. Aus dem Vergleich dreier Nationalhymnen, der deutschen, der französischen und der englischen folgte an einer Schule das Unterrichtsergebnis: die Franzosen seien weibisch, munter und eitel. Ihr politi-

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Ebd., S. 172. Benno Schmoldt: Die Bedeutung der richertschen Schulreform für die Entwicklung des höheren Schulwesens im Deutschen Reich und nach 1945, in: Dithmar u. Willer, Schule (wie Kap. 3, Anm. 19), S. 156. Wende, Becker (wie Kap. 3, Anm. 56), S. 165. So rechtfertigte Richert 1929 seine Reformen gegen Kritik. Siehe Schmoldt, Schulreform (wie Anm. 61), S. 164.

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scher Hauptbegriff sei „Freiheit". Der Engländer sei seinem Wesen nach kalt, hochmütig und davon überzeugt, auserwählt zu sein. Die englische, politische Kultur stütze sich auf die Freiheit des Individuums. Immerhin sei der Engländer Germane und handele eher als zu reden, im Unterschied zu dem Franzosen. Der Deutsche sei „männlich und treu". Zu seinem Vaterland verhalte er sich in „reiner Liebe". Der politische Schlüsselbegriff laute „Partikularismus der Stämme" 64 . Es ist kaum anzunehmen, dass Richert oder gar Becker ihr Reformwerk in einem solchen Unterricht wiedererkannt hätten. Tatsächlich lag aber der tiefere Anspruch der Richtlinien, etwa an den Fremdsprachenunterricht, nicht in dem ungebunden Zweck, Kenntnisse über eine fremde Kultur und Gesellschaft zu vermitteln. Die „Englandkunde" diente dazu, den deutschen Kaufmann, den deutschen Techniker und nicht zuletzt den deutschen Soldaten zum überlegenen internationalen Wettbewerb zu befähigen65. Im Unterrichtsergebnis sollte das Wesen des Deutschen erkennbar werden, wobei maßgebliche Unterrichtsgestalter feststellten, dass etwa an den weltpolitischen Erfolgen der Engländer ursächlich auch das deutsche Element beteiligt war. Der Engländer sei „seinem Charakter nach im Wesentlichen ein niedersächsisch-friesischer Bauer, der in der Abgeschlossenheit seines Inselreiches die Eigenschaften seiner Rasse zäh bewahrt" habe. Dies stand nicht in einem Nischenblatt, sondern im Standardwerk des Fachs Englandkunde zu lesen66. Das hatte nichts zu tun mit Beckers Bezug auf Hegel, der in fremden Welten und Sprachen einen hohen Erkenntnisgewinn für die eigene Kultur erkannte67. Als weitgereister Orientforscher gehörte Becker zu jenen Vertretern, die sich für eine volksversöhnende Europa-Idee einsetzten, für einen geistigen Austausch mit den Nachbarvölkern. Diese Position setzte sich nicht mehr durch. Weithin werteten Lehrer fremde Kulturen gegen die eigene ab. Den Kern des Faches „Deutschkunde" bildeten die Fächer Geschichte, Erdkunde, Religion und Deutsch 68 .

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Jürgen Trabant: Xenophobie als Unterrichtsfach. Das kulturkundliche Prinzip im Fremdsprachenunterricht und seine Folgen für das Fach Französisch, in: Dithmar u. Willer, Schule (wie Kap. 3, Anm. 19), S. 33 f. Walter Apelt: Englandkunde - von der Realienkunde zur Kulturkunde, in: Reinhard Dithmar: Schule und Unterricht in der Endphase der Weimarer Republik. Auf dem Weg in die Diktatur, Neuwied usw. 1993, S. 136 ff. (weiterhin zit.: Dithmar, Endphase). Wilhelm Dibelius: England, 6. Aufl., Leipzig 1931. Hier zitiert nach Volker Raddatz: Englandkunde im Spannungsfeld von Schule und Gesellschaft, in: Dithmar, Endphase (wie Anm. 65), S. 145 f. Jürgen Trabant, in Dithmar u. Willer, Schule (wie Kap. 3, Anm. 19), S. 37. Walther Hofstaetter u. Friedrich Panzer (Hrsg.): Grundzüge der Deutschkunde, Leipzig 1925.

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Im Kabinett

Nach den Richtlinien Richerts sollte die Deutschkunde Elemente einführen, welche für die „Einsicht und Bewertung des nationalen Lebens" wichtig waren69. Hierin setzten die Reformen eine Tradition des Kaiserreiches fort. Nach einem Wort Wilhelm II. sollte die deutsche Schule nicht mehr junge Griechen und Römer hervorbringen, sondern vielmehr „nationale junge Deutsche". Dies folgte aus dem Wandel des deutschen Nationalbewusstsein ebenso wie aus den Ergebnissen der Altertumswissenschaften am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Das Bild einer politischen und moralischen Vorbildfunktion der Antike ließ sich nicht länger in gleicher Weise aufrechterhalten. An die Stelle des auf die Antike bezogenen Humanismus trat ein auf die deutsche Geschichte bezogener Germanismus. Das Lernziel blieb identisch. Die jungen Deutschen sollten zu „edler Einfalt und stiller Größe" erzogen werden. Der Unterschied zum Unterricht, der sich auf Rom oder Athen bezog, bestand lediglich darin, dass nicht mehr der antike Mensch diese Tugenden verkörperte. Die Vorbilder entstammten nun der deutschen Geschichte. Als britische Zensoren im Jahre 1945 hunderte von Lesebüchern der Weimarer Republik auf ihre Brauchbarkeit zum Erziehen der deutschen Nachkriegsjugend durchsahen, glaubten sie auf die Ursache des Irrweges der Deutschen gestoßen zu sein. Gewalt-, Macht- und Rachegedanken fänden sich verhältnismäßig unverhüllt in morbiden Lesegeschichten verherrlicht. Kriegs- und Schlachtenberichte standen neben blutigen, den Einzelheiten viel Raum gebenden Erzählungen von gefolterten Männern und „abgehauenen Köpfen", die mit todesergebener, zerstörerischer Grundstimmung erzählt würden70. Für die Unterstufe der Volksschule erhielten ganze acht Exemplare das Prädikat einer vorübergehenden Einsetzbarkeit. Dem steht zwar entgegen, dass die Briten aus einem Lehrbuch für Französisch den Hinweis auf die „Bevölkerungsabnahme Frankreichs" entfernen ließen, aus einem Sprachbuch den Satz „Fritz hat ihm die Nase blutig geschlagen" und an einer Lateinfibel beanstandeten, jemand habe „sechs kampfbereite Legionen geführt" 71 - dass die Revisoren also ihre Bedenken überaus weit fassten. Völkisches Gedankengut fand sich gleichwohl, wie

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Folgende Zitate aus: Reinhard Dithmar: Der Deutschunterricht in der Weimarer Republik als Wegbereiter des Faschismus, in: Ders. u. Willer, Schule (wie Kap. 3, Anm. 19), S. 4 ff.

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Folgende Zitate aus: Günter Pakschies: Umerziehung in der britischen Zone 19451949. Untersuchungen zur britischen Re-Education-Politik. Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, Köln u. Wien 1984, S. 173 ff. (weiterhin zit.: Pakschies, Umerziehung). Aktennotiz in: N1 Grimme, Nr. 777.

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Aufgaben im Kultusministerium

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ein Engländer feststellte, bis in die „entlegensten Stellen eines Übungsbuches für Arithmetik" 72 . Die „Entschiedenen Schulreformer" gehörten zu den strengsten Kritikern der Unterrichtsinhalte. Nach ihrem Dafürhalten sollten die Lehrstoffe nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Gegenwart entnommen werden. Ein Grundsatz, mit dem Grimme übereinstimmte. Ebenso mit der aus den Reihen der Reformer erhobenen Kritik an der zu Grunde gelegten Begrifflichkeit. Ein Studienrat aus Berlin Schmargendorf erregte viel Aufsehen, weil er in einer Rede auf das verfehlte Ziel der Reform hinwies. „Deutschheit" könne schon allein deshalb nicht Ziel der Bildungsarbeit sein, weil sie begrifflich nicht festlegbar sei73. Georg Kerschensteiner und Theodor Litt spotteten, das Ziel sollte mehr „Deutschkönnen" und weniger „Deutschkunde" sein. Der Bund „Entschiedener Schulreformer" protestierte bereits 1923 gegen Völkerverhetzung und Rassenhass, denen die Deutschkunde Vorschub leiste74. Dass nun einer der ihren das Ministeramt innehatte, ließ einiges erhoffen. Dies galt von republikanischer Seite sicher noch für ein weiteres Unterrichtsfach: die Staatsbürgerkunde. Der Artikel 148 der Reichsverfassung verpflichtete die Schulen, eine „staatsbürgerliche Gesinnung" zu fördern. Auch dieser Begriff bot verschiedenste Interpretationsmöglichkeiten. Paul Rühlmann verstand darunter die Aufgabe, zu politischem Denken und politischer Urteilsfähigkeit zu erziehen. Nach Kerschensteiner sollten vor allem die Pflichten, erst in zweiter Linie auch die Rechte des Bürgers gegen den Staat vermittelt werden. Die Richtlinien von 1923 gaben als Ziel vor, die „Opferwilligkeit" für den Staat zu fördern. Die D N V P deutete die staatsbürgerliche Gesinnung nach der Tradition unter Wilhelm II.: Die Schule habe sozialistische und kommunistische Ideen einzudämmen75. Erstaunlicherweise forderte keine Seite, durch Staatsbürgerkunde das Bekenntnis zur Republik zu fördern. Der Dienst an der Nation, am Volk oder am Staat wurde allgemein anerkannt und angestrebt. Kultusminister Boelitz hatte ein Bekenntnis zum Staat und zur Staatsgesinnung gefordert. Von keiner Seite kam der Vorschlag, die Staatsbürgerkunde solle zur wachsamen Kontrolle und politischen Gesprächskultur erziehen. Stattdessen forderten nicht wenige eine 72

Urteil des britischen Revisors der Schulbücher der britischen Armee, Major Leonhard aus dem Jahre 1961, in: Pakschies, Umerziehung (wie Anm. 70), S. 173.

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Dithmar, Endphase (wie Anm. 65), S. 21. E r forderte stattdessen, was nicht wirklich präziser ist, das Fördern des „Guten, Wahren und Schönen."

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Nachzuvollziehen ist die Kritik der „Entschiedenen Schulreformer" etwa in der Zeitschrift: Die neue Erziehung 1 9 1 9 - 3 3 . Allerhöchster Erlass vom 1. Mai 1889, zitiert nach: Wolfram Geiger: Staatsbürgerkunde in der Weimarer Republik, in: Dithmar u. Willer, Schule (wie Kap. 3, Anm. 19), S. 52 ff.

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Im Kabinett

Identifikation mit dem Staat, mit der Nation oder aber mit dem Volk. Jede Partei achtete darauf, dass der politische Einfluss der jeweils anderen in der Schule möglichst gering blieb. In der Konsequenz war Staatsbürgerkunde ein unbedeutendes Schulfach. Wenn nun noch der jüngste Zuständigkeitsbereich des Kultusministeriums hinzugenommen wird, liegt ein ungefähres Bild der Aufgaben vor, das sich 1930 ausbreitete: der Bereich der Kunstpolitik. Vor dem Jahr 1918 betrieb keine preußische Behörde eine aktive Kunstpolitik. Eine Ausnahme bildete der Verwaltungsapparat der staatlichen Museen. Theaterangelegenheiten lagen beim Innenministerium. Nicht um die Kunst zu fördern, sondern weil das Innenministerium das Zensurwesen überwachte. Staatliche Theater existierten nicht. In Berlin, Kassel und Wiesbaden gab es lediglich „königliche Theater", was bedeutete, dass der König mit seinem höchstpersönlichen Kunstgeschmack für die Qualität des Dargebotenen einstand. Die künstlerischen Leiter der Orchester und Museen schuldeten dem König, nicht aber der Öffentlichkeit Rechenschaft. Die Öffentlichkeit hielt sich mit Kritik deshalb zurück, da Kritik gegen das Kunstleben das königliche Wort berührte. Dagegen handelte das preußische Kultusministerium nach 1918 nun als künstlerischer Unternehmer. Die Politik musste vor dem Landtag verantwortet werden, und die Kritik konnte sich frei und offen gegen alles wenden. Dass die Kunstkritik der Weimarer Republik in manchen Teilen eine bis dahin nicht gekannte Qualität erreichte, darf nicht über die Kehrseite hinwegtäuschen; nämlich über die schlecht informierte, polemische Kritik, die stets geneigt war, aus einem „Vorfall einen Fall zu machen" 76 . Braun hatte ein besonderes Augenmerk auf die Verhandlungen mit der evangelischen Kirche und auf die Situation der Hochschulen gelegt. Die republikanische Öffentlichkeit forderte, die radikalen und staatsfeindlichen Ströme einzudämmen. Und eine empfindsame Kunstgemeinde erwartete den Erhalt der Theater und Museen, der Opern und Musikhäusern, ungeachtet der wirtschaftlichen Lage 77 .

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Wende, Becker (wie Kap. 3, Anm. 56), S. 239. Siehe auch Kurt Düwell: Staat und Wissenschaft in der Weimarer Epoche. Zur Kulturpolitik des Ministers C . H . Becker, in: HZ-Beiheft zur Geschichte der Weimarer Republik, hrsg. von Theodor Schieder, München 1971.

Fünftes Kapitel Wege und Entscheidungen des Kultusministers

1. Die Ausgangslage Die Weltwirtschaftskrise wirkte sich verheerend auf den preußischen Haushalt aus. Im September 1931 teilte der Finanzminister Preußens, Hermann Höpker-Aschoff, dem Ministerpräsidenten mit, die Guthaben der Finanzverwaltung seien erschöpft. Die laufenden Ausgaben würden durch „schärfste Kontingentierung mit den laufenden Einnahmen in Einklang gebracht, der Haushaltsplan ist in Wahrheit außer Kraft gesetzt" 1 . Preußen komme ohne Hilfe des Reiches nicht mehr durch. Am 23. November 1931 wurde Braun bei Brüning vorstellig und teilte dem Reichskanzler mit, Preußen könne nicht einmal mehr die zum 1. Dezember fälligen Beamtengehälter zahlen. Brüning lehnte jede Reichshilfe ab. Das Reich stand selbst kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Das Kultusministerium litt besonders unter den Sparzwängen. Denn von den 2,1 Milliarden Mark des preußischen Gesamtetats entfielen 740 Millionen Mark, also ein glattes Drittel, auf das Ressort. 630 Millionen Mark mussten allein für die Personalkosten aufgewandt werden2. Bei steigender Arbeitslosigkeit und einer zunehmend radikalisierten politischen Atmosphäre schmerzten Einschnitte in diesem Bereich besonders. Eine Generation von jungen Lehrern drohte auf der Straße zu bleiben. Zwar setzte das Kultusministerium im Dezember 1931 das Pensionsalter für preußische Lehrer auf 62 Jahre herab und senkte allgemein die Bezüge der Staatsbeamten. Die Staatsminister und der Ministerpräsident erhielten ab Februar 1931 um zwanzig Prozent verminderte Dienstbezüge 3 . Doch 1931 vermochte die Staatsregierung trotz allen Sparens lediglich 1600 Junglehrer im Dienst zu halten4. Lehrer einzustellen schien ganz unmöglich. Grimme gestand vor dem Landtag: „Ich verstehe die Enttäuschung, die die jungen

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Schreiben Höpker-Aschoffs an Braun vom 18. September 1931, N1 Grimme, Nr. 1751. Rede Grimmes vor dem PrLT, 16. Oktober 1931, N1 Grimme, Nr. 1091. Aktennotiz in N1 Grimme, Nr. 308. Rede Grimmes im PrLT, 16. Oktober 1931, N1 Grimme, Nr. 1073.

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Wege und Entscheidungen des Kultusministeriums

Lehrer empfinden müssen und das gesamte Staatsministerium hat die Verärgerung, die Verbitterung, ja die Verzweiflung dieser jungen Menschen in keinem Augenblick der Verhandlung leicht genommen. Aber wie groß muss die Not des Staates sein, wenn das Staatsministerium trotzdem diesen Weg beschreiten muss!" Ein Gegenmittel stand nicht zu Gebot. Der Zuschussfonds für die städtischen höheren Schulen musste 1932 von sechs auf drei Millionen Mark halbiert werden5. In kleineren Gemeinden bedeutete dies das Ende ihrer höheren Schulen. Ihre Schülerzahlen sanken seit 1926 - unter anderem deshalb, weil der preußische Staat die Beihilfen für weniger wohlhabende Eltern immer weiter zusammenstreichen musste. Das schließliche Ausbleiben der Beihilfen bewirkte, dass vielen Familien die geforderten Schulgelder nicht mehr aufbrachten. In der Wirtschaftskrise sahen sich gerade ärmere Familien auf den Zuverdienst der Kinder angewiesen - besonders dann, wenn der Vater selbst den Arbeitsplatz verlor oder sich Familien ihre Angestellten nicht mehr leisten konnten. Wo an Schulen aber die Schülerzahlen der oberen Klassen unter die vom Staat vorgesehene Mindestzahl fielen, schlossen sich die Türen. Kleine Klassen akzeptierte der Staat aus Kostengründen nicht 6 . Ein vorläufiges Ende nahmen die Pädagogischen Akademien. Waren 1930 noch sechs neue eröffnet, zwangen im darauf folgenden Jahr die Umstände dazu, die Hälfte aller Akademien wieder zu schließen7 Sie blieben zwar der Form nach bestehen, ab Ostern 1932 wurden aber keine neuen Schüler mehr aufgenommen. Cottbus, Erfurt, Stettin, Altona und Kassel gingen „auf unbestimmte Zeit außer Betrieb" 8 . Solche Maßnahmen gössen Wasser auf die Mühlen der Opposition. Die Lehrer sperrten sich gegen die Sparmaßnahmen. Dabei fiel ihm zu allem Überfluss der Abgeordnete Theodor Bohner (DDP) in den Rücken, indem er vor der Lehrerschaft erklärte, der Finanzminister halte die Sparmaßnahmen im Kultusministerium für übertrieben 9 . Finanzminister Höpker-Aschoff hatte die Gerüchte dementiert, tatsächlich aber die Notverordnung zum Anlass genommen, gegen die SPD

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„Vossische Zeitung" vom 14. Januar 1932. Lothar Kunz: Reformerische und restaurative Tendenzen der schulpolitischen Auseinandersetzungen zur Zeit der Weimarer Republik, in: Dithmar, Schule (wie Kap. 3, Anm. 19), S. 146 ff. Wende, Becker (wie Kap. 3, Anm. 56), S. 230. Brief an C. H. Becker vom 20. November 1931, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 44 ff. Heinrich Dieckmann an Ministerialrat Gaede, 1. Dezember 1931, Nl Grimme, Nr. 306.

Die Ausgangslage der Kultuspolitik

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und da wieder speziell gegen den Kultusminister zu intrigieren10. Vertretern der Lehrerverbände gegenüber erklärte er, jener hätte sich gegen die Maßnahmen „wehren können". Er habe ihn darauf aufmerksam gemacht, soweit wie er brauche „man ja nicht gerade zu gehen". So entstand der Eindruck, dass der Finanzminister die Lehrerschaft vor dem Kultusminister schützte. Die Sozialdemokraten unter den Lehrern gerieten in eine unhaltbare Lage, weshalb Grimme den Ministerpräsidenten zum Einschreiten drängte. Braun stellte seinen Finanzminister in der Öffentlichkeit jedoch als unentbehrlich dar. Dies erschwerte den einzelnen Ressortministern, sich mit Höpker-Aschoff zu verständigen. Über ein sachliches Verhältnis kamen die beiden Minister danach nicht mehr hinaus. Das Finanzministerium legte nicht nur den Umfang der Sparmaßnahmen fest, sondern „zunehmend auch den Weg". Obwohl keineswegs „auch nur den Anschein" entstehen sollte, sich selbst von der Verantwortung freizumachen, fühlte er sich vom Finanzministerium genötigt11. Mit der sich verschlechternden Lage nahm die Kritik der Opposition zu. Im Oktober 1931 reichte die K P D einen Misstrauensantrag gegen das Staatsministerium, den Minister des Innern und gegen den Kultusminister ein12. Die Kommunisten begründeten den Antrag mit dem „katastrophalen Abbau aller Schul- und Bildungseinrichtungen, insbesondere der Volksschulen" und behaupteten ferner, dass ihre Lehrer und Schülerorganisationen behindert, „kulturreaktionäre und faschistische Tendenzen in Wissenschaft, Kunst und Volksbildung" hingegen gefördert würden. Die Kinder des Landes würden durch die Sparmaßnahmen sozial, hygienisch und pädagogisch schwer geschädigt. Der Kultusminister sei mitverantwortlich, wenn alle öffentlichen Schul- und Bildungseinrichtungen zu Stützpunkten und Drillanstalten der faschistischen Diktatur würden13. Die DVP unterstützte zumindest den ersten Teil des Antrags. Ihr ehemaliger Kultusminister Boelitz empörte sich, die Sparmaßnahmen des Kultusministeriums griffen so stark in die Substanz der Schulen, dass „eigentlich der gesamte Landtag Mann für Mann im Kampf und in der Abwehr gegen diese Maßnahmen dastehen müsste". Immerhin sei dem Minister anzumerken, rief Boelitz, dass er „gefangen und gefesselt durch die Maßnahmen des Finanzministeriums" sei. Er komme dem Finanzminister aber in „nicht mehr zu rechtfertigendem Maße" entgegen. Die Abgeordneten des

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Folgende Zitate aus: Brief an Otto Braun, ohne Datum, N1 Grimme, Nr. 2946. Brief an Braun vom 7. November 1931; siehe auch Brief an Dieckmann vom 8. Dezember 1931, beide in N1 Grimme, Nr. 306. Drucksache Nr. 7541, 7547, 7602. Der Misstrauensantrag gegen Grimme lief unter Drucksache Nr. 7588, in: PrLT, 3. WP. (1928/30), 16. Oktober 1931, Sp. 22238. Folgende Zitate aus: ebd. vom Sp. 21980 f.; Sp. 22346; Sp. 22347.

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Wege und Entscheidungen des Kultusministeriums

Landtages wiesen den Misstrauensantrag am 16. Oktober 1931 mit 192 gegen 225 Stimmen zurück. Doch schon am 25. November erfolgte ein neuer, dieses Mal von der DNVP. Die Konservativen sahen als Folge der Sparmaßnahmen ein „verhängnisvolles Absinken unserer christlichen Kultur". Es entstand der Verdacht, unter dem Deckmantel der Sparmaßnahmen würden organisatorische Maßnahmen durchgeführt, ohne den Landtag zu informieren. Dieser Verdacht werde durch die einseitige Personalpolitik, durch das öffentliche Auftreten des Ministers, unzureichendes Wahrnehmen der deutschen Belange in den Schulen und „anderen bedenklichen Maßnahmen" gestärkt14. Auch diesem Antrag entging er mit 173 Ja gegen 218 Nein-Simmen 15 . Doch die Kultuspolitik blieb nach einem Wort des Zentrumsabgeordneten Lauscher, „nach der sachlichen, wie nach der personellen Seite jederzeit die Achillesferse der Koalition" 16 . Kommunisten und Sozialdemokraten erwarteten, konservative Einflüsse in den Schulen einzudämmen. Die übrigen Parteien wollten das System möglichst unangetastet lassen und da Braun seine Koalition gefährdet sah, befürwortete er ein Stillhalten. Die finanzielle Lage zwang zum Abbau, die politische verhinderte jeden reformerischen Ansatz. Die gleichzeitigen Verhandlungen mit den evangelischen Kirchen förderten die ohnehin vorhandene Nervosität.

2. Der Vertrag mit den Evangelischen Kirchen Der strittige Punkt des in Aussicht genommenen Staatsvertrages mit den Evangelischen Kirchen war die „politische Klausel", ein seit karolingischen Zeiten strittiger Punkt aller Herrschaft. Durch diese Klausel behielt sich Preußen ein Einspruchsrecht beim Besetzen von höchsten kirchlichen Stellen vor. Sofern der Staat politische Bedenken gegen „kirchlich hervorragende Persönlichkeiten" anmeldete, sollten die kirchlichen Interessen zurücktreten. Persönlichkeiten, von denen ein Handeln gegen die Interessen des Staates erwartet werden konnte, sollten zu hohen kirchlichen Stellen keinen Zutritt erhalten17. Die Vertreter der Evangelischen Kirchen wollten die Aufnahme dieser Klausel in die Verträge verhindern. Zwar war eine ähnliche Klausel auch in die Verträge mit der Katholischen Kirche einge-

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Drucksache N r . 7823, in: P r L T 3. WP. (1928/30), Sp. 22853. Abstimmungsergebnis vom 27. November 1031 in: P r L T 3. WP. (1928/30), Sp. 23056. Brief Lauscher an Grimme vom 17. Juli 1931, N1 Grimme, N r . 2003. Folgende Zitate aus: Protokoll über die Ministerialsitzung vom 3. März 1931, N l Grimme, N r . 304.

Der Vertrag mit der Evangelischen Kirche

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gangen. Die Protestanten meinten aber, unter dem Hinweis auf ihre andere organisatorische Struktur einen Einspruch des Staates nicht akzeptieren zu können. Mit dem Kultusminister verhandelte der Präsident des Evangelischen Oberkirchenrates Hermann Kapler. Er argumentierte, seine Kirche befinde sich als „Territorialkirche in einer ganz anderen Lage, als die Weltorganisation der Katholischen Kirche. Den Protestanten stünden nicht die politischen und diplomatischen Machtmittel zur Verfügung wie der Kurie. Ein Appell an das Gewissen der Völker sei ihnen nicht möglich. Uber eine parlamentarische Vertretung verfüge sie nicht. " Außerdem sei keineswegs gesichert, dass die Klausel nicht parteipolitisch missbraucht würde. Die Kirchen forderten als Kompromiss deshalb ein Schiedsgericht, das zwischen staatlichen und kirchlichen Interessen vermitteln sollte. Gegenüber der verhältnismäßig komfortablen Situation der wilhelminischen Ära fielen die Kirchen staatsrechtlich zurück. Die Forderung eines Schiedsgerichts zeugt von den Schwierigkeiten, die neuen Verhältnisse anzuerkennen. Die Preußische Regierung musste den Vorschlag ablehnen, da das Verhältnis zwischen Staat und den Kirchen nicht das zweier gleichberechtigter Partner war. Die Abhängigkeit war einseitig und ließ den Kirchen keine andere Wahl als zuzustimmen. Nach den Verträgen konnte niemand in ein höheres kirchliches Amt gelangen, „von dem nicht die zuständige kirchliche Stelle durch Anfrage bei der Staatsregierung festgestellt hat, dass Bedenken politischer Art gegen ihn nicht bestehen". Diese Klausel barg in sich die Gefahr, die Kirche aus staatlichen Machtmotiven nach politischen Gesichtspunkten zu gestalten. Nach 1933 ist sie auch dahingehend missbraucht worden. Vor 1918 besaßen jedoch sowohl die Landesherren als auch der preußische König in der Praxis genau dieses Einspruchsrecht 18 . Die Klausel stellte eine Kontinuität mit der Vorkriegszeit her und hatte in der Zwischenzeit nie aufgehört zu bestehen. Seit einer Absprache im Jahr 1918 besaßen drei Staatsminister Evangelischer Konfession Einspruchsrecht 19 . Da ehemals die Landesherren gleichzeitig oberste Kirchenherren waren und der deutsche Kaiser die oberste Kirchengewalt trug, herrschte in vielerlei Hinsicht ein Geflecht der Zuständigkeiten. Dieses Geflecht zwischen Staat und Kirche musste auf vertraglichem Wege entwirrt werden. Lang18

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Robert Stupperich: V o n der Staatskirche zur freien Volkskirche. Konservatismus, Kirchenentfremdung und Reformströmungen ( 1 9 1 8 - 1 9 3 2 ) , in: Gerd Heinrich (Hrsg.): Tausend Jahre Kirche in Berlin-Brandenburg, Berlin 1999, S. 613. Diese Staatsminister waren Rudolf Oeser, Wolfgang Heine und Albert Südekam. Niemand schien mit dieser Ubergangsregelung recht zufrieden, wie Stupperich schreibt. Die Staatsminister trachteten danach, von ihrem A m t wieder gelöst zu werden. Die Kirchen hatten gehofft, der Staat würde die Rechte den Kirchen selbst übertragen.

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Wege und Entscheidungen des Kultusministeriums

fristig beabsichtigte die Regierung zwar, Staat und Kirche vollkommen voneinander zu trennen. Auch die Reichsverfassung sah dies vor. Die Kirche hätte in solchem Fall aber einer finanziellen Transfusion bedurft. Bei der Finanzlage des Staates um 1930 blieb das Ablösen der Kirchenrechte ein Zukunftsvorhaben 20 . Am 8. Juni 1931 besiegelte Grimme vor dem Landtag den Bruch mit einer Kulturtradition, die tausend Jahre gegolten hatte. Er verkündete das Ende der Staatsaufgabe als Schützer und Förderer der christlichen Kirchen. „Die Kirche im neuen republikanischen Staat", so seine Worte, „wird also frei sein; aber diese Freiheit der Kirche findet eine Grenze da, wo sie die Freiheit des Staates gefährden könnte. Mit diesem Vertrag endet endgültig die Identifizierung des Staates mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft. Der Staat will künftig sämtlichen Religionen und, wie ich ausdrücklich hinzufüge, Weltanschauungen mit voller Parität gegenüberstehen" 21 . Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche war seit 1924 ungeklärt. Mit dem Gesetz vom Oktober 1924 kam der preußische Staat für die Verwaltungskosten der Evangelischen Kirche auf, ohne dass im Gegenzug eine Pflicht auf Rücksichtnahme gegen die Interessen des Staates bestand. Der republikanische Staat wollte keine antirepublikanische Agitation von der Kanzel dulden. Und er wollte ebenso wenig dulden, dass aus den Evangelischen Kirchen eine Gegenmacht zum Staat erwuchs. Mit den nun ausgehandelten Verträgen erkannten die Kirchen nicht nur den Staat, sondern auch den Republikschutz an. Auf der anderen Seite gewannen sie den Status einer öffentlich-rechtlichen Institution, den sie vorher nicht besessen hatten. Eine autonome Kirche im Rechtssinn hatte es in den lutherischen Territorialstaaten Deutschlands nicht gegeben. Die neu gewonnene Autonomie nahmen zumindest Teile der evangelischen Repräsentanten als begrüßenswerten Fortschritt auf. In den Theologischen Blättern erinnerte der Kirchenjurist Johannes Heckel 22 an die Generalsynode von 1846, als schon einmal - von kirchlicher Seite - versucht wurde, Kirche und Staat voneinander zu trennen. Die Gegner solcher Verträge wies er darauf hin, dass die Kirchen dem Staat gegenüber in Konfliktfällen durch die Verträge eine viel günstigere Ausgangsposition erlangten23. Außerdem schlössen sich eine ganze Reihe ande20

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Protokoll über Sitzg. des P r L T zu Kirchenfragen vom 8. Juni 1931, N1 Grimme, N r . 372. Auszug aus der Rede Grimmes vor dem P r L T vom 8. Juni 1931, N1 Grimme, N r . 1098. Johannes Heckel (1889-1963), Professor für Kirchen- und Staatsrecht an den Universitäten Bonn und München. Johannes Heckel: Der Vertrag des Freistaates Preußen mit den evangelischen Landeskirchen, Theologische Blätter 7 (1932), S. 196-203.

Der Vertrag mit der Evangelischen Kirche

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rer Vorteile an: Dem Kultusminister mussten nun nicht mehr alle neuen Kirchengesetzte vorgelegt werden, sondern lediglich solche vermögensrechtlicher Natur. Die Dotationen seien gesichert. Ebenso könne den Kirchen das Nutzrecht staatlicher Räume nicht mehr streitig gemacht werden, zu denen immerhin bedeutende Bauten wie die Dome von Brandenburg, Merseburg und Naumburg zählten. Der Staat sei nun verpflichtet, an den theologischen Fakultäten Kirchenbeamte auszubilden. Umgekehrt bestehe aber für die Kirchen keine Pflicht, diese Beamten auch anzustellen. Sie könnten vielmehr in voller Selbstständigkeit die Geistlichen ausbilden. Dies stärke die Kirchen insofern, als sie vordem lediglich beratenden Einfluss beim Besetzen von Professorenstellen besaßen. Wer am Ende auf eine Professur berufen wurde, bestimmte der Staat24. Ein anderes empfindliches Sachgebiet umgingen die Vertragspartner, indem sie es - anders als etwa im bayerischen Konkordat - aus dem Vertragsrahmen herauslösten: die Schulangelegenheiten. Der Plan hatte durchaus bestanden, auch die Einsichtnahme in den evangelischen Religionsunterricht zu regeln. Aus dreierlei Gründen beschloss Grimme jedoch, diese Fragen aus dem Beschlusskatalog zu streichen. Der Evangelische Oberkirchenrat25 hatte im Vorfeld der Gespräche zwischen Staatsministerium und Kirchenleitung die preußische Lehrerschaft herabgewürdigt. Offenbar hatte der Rat zumindest dem preußischen Lehrerverein kein Mitspracherecht beim Verhandeln über den Religionsunterricht zugebilligt26. Gleichzeitig trugen die Unterhändler der Kirche die Konfliktpunkte in die Presse. Besonders die Blätter der Hugenbergpresse eröffneten daraufhin eine Kampagne gegen das Kultusministerium. Und schließlich schienen die Verhandlungsführer der Kirche einen bestimmten Veröffentlichungstermin „erpressen" zu wollen. So verlor er das Interesse, die Fragen zu behandeln. Während er mit den Kirchen verhandelte, musste er den „widerstrebenden Privatmann" in sich selbst ständig zurückdrängen. Er verstand unter dem Wesen des Protestantismus etwas anderes als die Kirchenvertreter und meinte, die Kirche stehe den „seelischen Bedürfnissen der organisierten Proletariermasse bedauerlicherweise völlig fremd" gegenüber27. Ferner glaubte er, der Evangelische Oberkirchenrat vertrete nicht das evangelische Gewissen, sondern lediglich die Organisation der Kirche. Sein Amt ver-

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Ebd., S. 200. Der E O K war seit 1850 oberste Kirchenbehörde der Landeskirche Preußen. Brief an Johannes Heckel vom 5. August 1932, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 47. Auch in: N1 Grimme, N r . 3335. Der Brief wurde nicht abgeschickt. Folgende Zitate aus: Brief an Johannes Heckel vom 5. August 1932, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 47, N1 Grimme, N r . 3335.

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pflichtete ihn, wie er fand, zum staatsmännischen Denken und damit zu Neutralität in weltanschaulichen Dingen. Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Kirche Zeit ihres Bestehens das Christentum zu gleich förderte und verriet und das eine nicht ohne das andere tun konnte. Nicht ohne Grund gehören reformatorische Gedanken seit der ersten Stunde zur Kirche. Sie wäre kaum zu ihrem Einfluss gelangt, hätte sie sich in ihrer Frühphase nicht der Reste antiker Staatlichkeit bedient. Ohne Institution hätte die Idee des Christentums nicht überlebt. Für religiös begabte Menschen mag das ein Ärgernis sein. Gerade die Zeit des Nationalsozialismus bewies jedoch den Wert der Organisationsform. Trotz aller Irrläufer blieben die Kirchen eine Quelle sittlicher Kraft. Ein Staatsmann hätte gerade dies zu schätzen gewusst. Viele Sozialisten hielten die Verträge für unzulänglich, wenngleich aus anderen Gründen. In der Hauptsache ging es ihnen um den bleibenden Einfluss von Religion und Konfession auf die Schulpolitik. Um die Parteigenossen von dem Kirchenvertrag zu überzeugen, bedurfte es großer Mühen. Die Staatsregierung begegnete Widerständen von nahezu allen „tragenden parteipolitischen Seiten". Diese Widerstände mussten in vielen inoffiziellen Einzelgesprächen Stück für Stück abgetragen werden. Die Gespräche hinter vorgehaltener Hand hörte kein Protokollant und sie entziehen sich deshalb der Rekonstruktion. Am 11. Mai 1931 unterzeichneten Vertreter Preußens und der acht Landeskirchen das Abkommen. Am 13. Juni nahm der Landtag den Staatsvertrag mit 202 gegen 56 Stimmen an. Die SPD enthielt sich. Zu mehr als dieser Neutralität konnten weder Grimme noch Braun die Sozialdemokraten bewegen. Der erste Auftrag war erfüllt.

3. Die Preußischen Schulen Das Amt des Kultusministers war nicht irgendein politischer Posten. Es war eine der wichtigsten und vielleicht auch würdevollsten politischen Positionen im deutschen Sprachraum des Neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhunderts überhaupt. Die preußische Tradition wirkte weiter, unabhängig von der politischen und wirtschaftlichen Krise und die Schulpolitik war mit Abstand das wichtigste Feld der Kulturpolitik. Mit dem Eröffnen von Museen und dem Fördern von Kunst und Gelehrsamkeit konnte man in der Öffentlichkeit Ansehen erwerben. Jeder Kultusminister und besonders ein ausgebildeter Pädagoge musste den Kern seiner Arbeit aber in der Bestellung und der Hegung des Schulwesens sehen. Wenn der Kultusminister mit dem Zusammenbruch des Systems rechnete, hätte er wohl keine langfristig angelegten Reformen mehr vorgelegt. Tat er dies aber doch, so muss man fragen, an welchen Kriterien er seine

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Politik ausrichtete: Orientierte er sich an der politischen Situation, an den sozialdemokratischen Bedürfnissen oder besaß er eigene Wertvorstellungen, die er seiner Politik zu Grunde legte? Wie schon mehrfach ausgeführt, kam der Erziehung eine wichtige politische Funktion zu. Wenn es der Sozialdemokratie nicht gelänge, die soziale Situation ihrer politischen Klientel zu verbessern und wichtige Positionen im Staatswesen und in der Wirtschaft mit ihren Anhängern zu besetzen, würde die Republik scheitern. Es gab vonseiten des Staates ein hohes Maß an Eigeninteresse, eine Politik für bildungswillige Arbeiter zu betreiben. Es gab auf der anderen Seite hohe Erwartungen der Wähler, die möglichst befriedigt werden mussten. Andernfalls hätte der Wechsel im Kultusministerium für Braun und den preußischen Staat keinen Vorteil gebracht. Das Schulwesen musste den Anforderungen entsprechen. Dafür waren Maßnahmen erforderlich, die über die Reformen Beckers hinausgingen. Der Anfang misslang gründlich, da eine der ersten Vorschläge des neuen Ministers darin bestand, die Schulzeit um ein Jahr zu verkürzen. Der Plan belastete das Verhältnis zu den Philologenverbänden nachhaltig. Aus standespolitischen Gründen leisteten sie erheblichen Widerstand. Den Philologen gelang es, dieselben Verbände, die schon 1923 gegen eine Einheitsschule aufgetreten waren, zu einem Aufruf gegen die geplante Maßnahme zu bewegen28. Grimme handelte aus eigenen gesellschaftspolitischen Motiven 29 , entsprach aber gleichzeitig einer Sparverordnung des Finanzministeriums. Der Plan fiel, als er die Macht des Protestes erkannte. Es konnte ihm nicht recht sein, eine verkürzte Dauer der Schulbildung als eine reine Sparmaßnahme erscheinen zu lassen. Ebenso wenig durfte er die Philologenverbände weiter gegen sich aufbringen. Er wusste, dass nur eine enge Zusammenarbeit mit der Lehrerschaft tief greifende Folgen der Finanzkrise für die preußischen Schulen verhindern könnte. Am 12. September 1931 hatte das Finanzministerium eine Sparverordnung herausgegeben, die alles bisher Abverlangte überbot. Preußen drohte die Zahlungsunfähigkeit. Die Finanzpolitik der Staatsregierung wäre an das Reich gefallen, jeder politische Spielraum verloren. Deshalb versuchte Braun noch einmal, letzte Sparmaßnahmen durchzusetzen30. Höpker-Aschoff trat zurück, worüber Grimme sich erleichtert zeigte31. Braun bot Reichskanzler Brüning in einer Verzweiflungstat das Amt des Preußischen Ministerpräsidenten an. Doch scheiterte das Vorhaben am Widerstand Hindenburgs.

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Hans-Christoph Laubach: Die Politik des Philologenverbandes im Deutschen Reich und in Preußen während der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. usw. 1985, S. 64 ff.

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Deutsches Philologenblatt (1930), S. 721 ff.

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Schulze, Braun, S. 694 ff. Brief an Braun vom 17. Oktober 1931, zitiert bei Schulze, Braun, S. 703.

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Braun konnte kein Interesse daran haben, einen Reichsbeamten als Finanzminister in seine Regierung gesetzt zu bekommen. Er ernannte den Präsidenten der Preußenkasse, Otto Klepper, zum Nachfolger HöpkerAschoffs. Der Sparzwang blieb bestehen. Als erste Maßnahme setzte das Ministerium die Stundenzahl der Lehrer um eine, die der Direktoren um zwei herauf. Lehramtsbewerber von außerhalb des preußischen Staatsgebietes durften nicht mehr eingestellt werden32. Die Gehälter der Lehrer wurden gekürzt, die Wochenstunden für die Schüler herabgesetzt. Dadurch wurden Lehrer frei, die an andere Schulen versetzt wurden. Der Bedarf verringerte sich durch diese Maßnahme um 1700 Positionen. Nach einer erneuten Sparverordnung des Finanzministeriums vom 23. Dezember 1931 gingen acht Pädagogische Akademien vorübergehend außer Betrieb33. Bereits aus dem Februar stammte die Verordnung, Klassen zusammenzulegen und Teilnehmerzahlen zu erhöhen34. Gleichzeitig begann der Versuch, der Arbeitslosigkeit von Junglehrern entgegenzuwirken, die durch den Einstellungsstopp drohte. Von 1700 Anwärtern des Jahres 1931 erhielten 1200 achtzig Prozent ihrer Bezüge vom Staat, wodurch die Kommunen sofort entlastet wurden. Mit den angestellten Lehrern setzte sich die Unterrichtsverwaltung ins Einvernehmen, an die Junglehrer Privatstunden und Nebenverdienste abzutreten. Unterricht an Polizei- und Berufsschulen übertrug das Ministerium ebenfalls den Neueinsteigern 35 . Den Junglehrern wurden ohne feste Stelle einzelnen Schulen zugewiesen, damit sie ein „Heimatrecht und Berufsgemeinschaft" bekämen. Lehrer, die sich der wissenschaftlichen Forschung zuwenden wollten, stellte das Ministerium frei, wenn sie einen Gehaltsverlust in Kauf nahmen. Andere durften mit dem Eintritt ins sechzigste Lebensjahr bei achtzigprozentigem Gehalt sofort in den Ruhestand übertreten36. Diese Maßnahmen linderten Not, wenngleich immer noch fünfhundert Junglehrer ohne Hilfe blieben. Sie teilten das Schicksal von mittlerweile mehr als fünf Millionen Arbeitslosen. Immerhin musste man die jungen Lehrer, die für eine Reform des Unterrichts so wichtig waren und die in der Zukunft die Repu-

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Erlass N r . 330 vom 14. September 1931, abgedruckt in: Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung (Hrsg.): Zentralblatt 73 (1931), S. 263. Erlass N r . 94 vom 11. Februar 1932, Zentralblatt (1932), S. 84. Ursprünglich sollten neun Akademien geschlossen werden. Im Gegensatz zu Cottbus, Frankfurt a. O., Stettin, Breslau, Erfurt, Altona, Hannover und Kassel entging Kiel dem Verlust des Standortes. Siehe auch Erlass N r . 141, Zentralblatt (1932), S. 121. Erlass N r . 103, vom 26. Februar 1931, Zentralblatt (1931), S. 84. Rundfunkvortrag des Ministerialrates Hans Richert, gehalten am 25. September 1931, abgedruckt in Zentralblatt (1931), S. 290 ff. Erlass N r . 385 vom 4. November 1931, Zentralblatt (1931), S. 301.

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blik tragen sollten, nicht ganz verloren geben. Die Sozialdemokraten unter ihnen hatten aber noch ein anderes Problem. Die Kirchenverträge klammerten am Ende Fragen zur Schulaufsicht und Unterrichtsgestalt aus. Damit ersparte Grimme sich schwieriges Verhandeln sowohl mit der Kirche als auch mit der Lehrerschaft. Er ersparte sich auch Proteste einer erregten, kirchlich empfindenden Öffentlichkeit. Andererseits bestand hoher Klärungsbedarf, da immer noch das Volksschulunterhaltungsgesetz von 1906 die Grundlage allen Verhandeins bildete. Dieses Gesetz kannte nur die Bekenntnisschule oder ausnahmsweise die christliche Simultanschule. Dies bedeutete, dass ein preußischer Lehrer einer Religionsgemeinschaft angehören musste. Gleichviel ob er Protestant, Katholik oder Jude war - dissidentische Lehrer sah die preußische Landesverfassung nicht vor. Der Artikel 174 der Reichsverfassung verbot überdies, die Landesverfassungen in diesem Punkt zu verändern. Als die Reichsverfassung verabschiedet wurde, hofften die Abgeordneten nämlich noch auf ein Reichsschulgesetz, das alle Einzelfragen regeln sollte. Becker fand die Regel unerträglich, denn die Zahl der Dissidenten stieg derart, dass auf ihre Mitarbeit in Zukunft kaum verzichtet werden konnte. Außerdem entsprach es der allgemeinen Toleranz und Parität der Reichsverfassung, wenn ein Lehrer sich keiner Glaubensgemeinschaft zurechnete. Nach geltendem Recht hätte ein Lehrer bei Kirchenaustritt den Schuldienst quittieren müssen. Die Kirchen besaßen den konfessionslosen Lehrern gegenüber einen gesetzlichen Vorteil. Konservative Kreise nutzten die Gesetzeslage, um Vertreter der eigenen Richtung eine Stellung zu verschaffen. Dabei hätte eine Verfassungsänderung nur das Mittel gegen alltäglichen Missbrauch gebildet. Ob dieses Mittel genügt hätte, um einen Herrschaftsanspruch durchzusetzen, ist eine andere Frage. Besonders in den Ostgebieten gab es in manchen Regionen traditionelle Herrschaftsansprüche, gegen die sich die legale Herrschaft der Staatsregierung nicht immer durchsetzen konnte. In dem oberschlesischen Ort Hindenburg verschwor sich die Gemeinde gegen einen dissidentischen, sozialdemokratischen Lehrer unter Aufgebot des Landesbischofs und entzog zwei sozialdemokratischen Lehrern den Lehrauftrag. Dem Genossen Pohl, örtlicher Parteivorsitzender der SPD und Stadtrat von Hindenburg, verbot der Bischof zunächst den Religionsunterricht, später dann die „Gesinnungsfächer", worunter er vor allem Deutsch und Geschichte verstand37. Der Pfarradministrator von Hindenburg warf dem Lehrer vor, in „vollem Bewusstsein der Gegensätzlichkeit zu den Grundsätzen der katholischen Kirche öffentlich der sozialdemokratischen Partei beigetreten" zu sein und „sogar eine Art führende Stellung in 37

Schriftwechsel in N1 Grimme, Nr. 1562.

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derselben eingenommen" zu haben. Er eröffnete dem Lehrer „im Auftrag des Hochwürdigsten Herrn Fürstbischof von Breslau, dass Ihnen die missio canonica zur Erteilung des Religionsunterrichts entzogen wird". Bemerkenswerterweise fügte der Administrator hinzu, dass die Verfügung keinerlei politische Tendenz habe, sondern in Ausführung der Grundsätze erfolge, welche die Fuldaer Bischofskonferenz am 25. August 1921 für die Beurteilung der Anhänger von kirchlich verbotenen Vereinigungen aufgestellt habe. Beinahe schadenfroh schloss er: „Dass Sie vom Empfang der heiligen Sakramente ausgeschlossen sind, versteht sich gemäß den zitierten bischöflichen Anweisungen von selbst" 38 . Solches Anmaßen von weltlicher Macht hätte Grimme keinesfalls dulden dürfen, denn die Kirchen besaßen keine Grundlage mehr, den Schulalltag zu gestalten. Erst nach dem „Preußenschlag" erhielten sie das Recht zurück, sich in den Schulen davon zu überzeugen, ob der Unterricht nach ihren Grundsätzen abgehalten wurde39. Dieser Vorgang war kein Einzelfall und zeigt eine weitere Schwierigkeit, der die Reformbestrebungen begegnete. Das Ministerium handelte nicht nach diesem Gesichtspunkt, sondern kam der Kirche entgegen, indem es konfessionelle Lehrer gegenüber konfessionslosen bevorzugt einstellte. Dies genügte den Kirchen jedoch nicht. Durch Zusammenarbeit mit höchsten Regierungskreisen mischten sie sich in die Personalangelegenheiten des Staates. Der Regierungspräsident von Marienwerder hatte die Proteste evangelischer Kreise gegen einen sozialdemokratischen, dissidentischen Lehrer aufgenommen und den Reichskanzler Brüning angeschrieben. Auf dem Dienstwege sei leider nichts zu machen, da der Regierungsschulrat „der Linken" angehöre. Reichskanzler und Reichspräsidialamt setzten sich ins Benehmen. Der Staatssekretär des Kultusministeriums, Lammers (Zentrum), versetzte den Beamten im April 1932, ohne den Kultusminister mit der Angelegenheit befasst zu haben40. Dieser Fall ist ein Zeichen dafür, dass zumindest Teile der Regierungsarbeit lange vor dem Sommer 1932 an den sozialdemokratischen Ministern vorbei geregelt wurden. Den Bund Entschiedener Schulreformer störte es, dass „in ihrer Existenz bedrohte Junglehrer den Gesinnungswechsel formal" vollzogen und dafür mit der festen Anstellung zu Ostern 1931 „belohnt" worden seien41.

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Brief des Katholischen Pfarramtes St. Andreas an Pohl vom 22. Februar 1930, Hindenburg, N1 Grimme, Nr. 1564. Erlass Nr. 286 vom 2. August 1932, Zentralblatt (1932), S. 233. Wittwer, Schulpolitik (wie Kap. 2, Anm. 104), S. 297. Schreiben an Grimme vom 11. September 1931, unterzeichnet u.a. von Paul Oestreich, Margarete Mars, Alwine Reinold, Gustav Heckmann, Rudolf Küchemann, Willi Eichler, in AdsD, Nl Leonard Nelson, Nr. 1 / L N A A 0 0 0 4 9 3 .

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Für einen überzeugten Christen und Sozialdemokraten wie Grimme war diese Situation eine starke Belastung, zumal er noch unter den Konfessionen zu vermitteln hatte. Wie empfindlich die auf staatliche Schulsouveränität haltenden Machtgruppen bei kirchlicher Einflussnahme mitunter reagierten, zeigte die Unzufriedenheit über den konfessionellen Charakter pädagogischer Akademien 42 . Als in Berlin eine katholische Akademie in den Bau ging, aus finanziellen Gründen aber eine geplante evangelische in Potsdam Projekt blieb, trafen den Kultusminister scharfe Angriffe von protestantischer Seite. Von den fünfzehn Akademien Preußens waren zwei katholisch, eine weitere simultan, während sich zwölf nach dem evangelischen Glauben ausrichteten. Von einem Vorteil der katholischen Kirche konnte keine Rede sein. Nur durch das Zurückstellen des Potsdamer Bauvorhabens konnte in Königsberg der Bau einer evangelischen Akademie angegangen werden. Dies sei vernünftig, wie Grimme dem Landtag darlegte, da Berlin seinen Bedarf an Lehrern jeder Glaubensrichtung im Umland ausbilden konnte. In Ostpreußen hingegen bestanden Engpässe43. Die Sozialdemokraten, unter denen sich naturgemäß viele Dissidenten befanden, erlitten kaum zu rechtfertigende Nachteile, solange die Lehrer eine Konfession vorzuweisen hatten. Es war nicht gelungen, in dem Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg eine Schulreform durchzusetzen, die den Sozialdemokraten genützt hätte. Neunzig Prozent der Deutschen besaßen 1921 lediglich den Volksschulabschluss. Hinter dieser Zahl schien sich ein Reservoir von sozialdemokratischen Wählern und Mitstreitern aufzuschließen, das zu den kühnsten Träumen berechtigte. Führende Sozialdemokraten forderten vehement, die Zahl der Abiturienten durch stärkeres Heranziehen der Arbeiterkinder zu erhöhen44 und so einen größeren Anteil der Arbeiterklasse an Wohlstand und Macht des Staates zu gewährleisten. Die absolute Zahl der Abiturienten hatte sich seit 1913 in manchen Ländern mehr als verdreifacht 45 . Trotz allen Bemühens überstieg bis 1931 der Anteil der Studenten mit Arbeitereltern jedoch nicht die drei Prozent. Arbeiterfamilien kamen den Angeboten des Staates bei weitem nicht in dem Maße nach, wie es das Kleinbürgertum und die Mittelschicht taten. 42

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Rede Grimmes vom 13. November 1930 zur Frage der Berliner Pädagogischen Akademien, Nl Grimme, Nr. 361. PrLT, 3. W P (1928/30), Sp. 15861 f. 1921 waren lediglich 14 Prozent der Jungen und etwa neun Prozent der Mädchen an den Oberschulen Kinder von Arbeitern. Zahlen nach Heinrich Küppers: Weimarer Schulpolitik in der Wirtschafts- und Staatskrise der Republik, V J f Z 28 (1980), S. 27 (weiterhin zit.: Küppers, Schulpolitik). Küppers, Schulpolitik, S. 27.

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Die Zeitgenossen empfanden die steigende Zahl der Abiturienten als eine Art Sintflut, was sich aus späterer Sicht kaum nachvollziehen lässt. Im Reichsdurchschnitt erhielten nicht mehr als neun Prozent eines Jahrganges ein Abiturzeugnis. Nur fügten sich zumindest die städtischen Abiturienten ins Heer der Arbeitslosen. Viele versuchten daraufhin, die Wirtschaftskrise an einer Universität einigermaßen sinnvoll zu überwintern. Die Hochschulen überfüllten sich mit Studenten. Je mehr sich der Arbeitsmarkt verengte, desto mehr Abiturienten bewarben sich auf Stellen, die in früheren Zeiten keinen hohen Abschluss verlangt hatten. Auf zwölf freiwerdende Positionen bei der Eisenbahnbehörde bewarben sich 1930 fünfhundert Abiturienten46. Der preußische Staat förderte den Prozess, indem er immer häufiger das Abiturzeugnis zum Eintritt in die Beamtenlaufbahn verlangte. Am 15. April 1929 kritisierte C. H. Becker vor dem preußischen Landtag, für den Eintritt in die mittlere oder höhere Beamtenlaufbahn habe 1891 noch die Obersekundarreife ausgereicht. Im Jahr 1929 besaß nur mehr ein Abiturient eine tatsächliche Chance, eingestellt zu werden47. Auf die sozialdemokratische Bildungspolitik wirkte sich dieser Prozess in zweifacher Weise nachteilig aus. Der untere Teil der Bevölkerung achtete den Wert von Schulbildung weitaus geringer als der bürgerliche. In manchen Landstrichen beendete nicht einmal die Hälfte die Volksschule tatsächlich mit einem Abschlusszeugnis 48 . In den Städten fürchteten viele proletarische Familien, ihre Kinder durch höhere Bildung von der eigenen Herkunft zu entfremden. Längst hatte sich aus diesem Grund ein sozialdemokratisches Bildungssystem herausgebildet, das spezifische Arbeiterbildung neben die staatlichen Angebote stellte. Da der Anteil der Arbeiterschaft an den Abiturienten gering war, konnte sich das Beamtenwesen freizügig aus dem konservativen Bürgertum ergänzen. Gleichzeitig vermochte der Staat seine alten Beamten nicht einmal von der Spitze her mit überzeugten Republikanern zu ersetzen und einen neuen Geist in die Verwaltung zu bringen. Der Anstieg der Abiturientenzahl führte also nicht dazu, dass mehr Arbeiterkinder in höhere Positionen gelangen konnten. Die Entwicklung erschwerte ganz im Gegenteil den Aufstieg von Arbeiterkindern noch zusätzlich und führte dazu, dass Vertreter der klassischen Bildungseliten die Entwicklung nicht günstig beurteilten. Der ehemalige Kultusminister Boelitz

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Küppers, Schulpolitik (wie Anm. 44). Ebd., S. 31, Anm. 38. Achim Leschinsky: Volksschule zwischen Ausbau und Auszehrung. Schwierigkeiten bei der Steuerung der Schulentwicklung seit den zwanziger Jahren, V J f Z 30 (1982), S. 27-81.

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sprach eine weit verbreitete Befürchtung aus, als er 1930 den Verfall der Ansprüche und Leistungen beklagte. Die Studenten seien unzulänglich vorgebildet, was daran liege, dass die Zahl der zum Studium berechtigten Schüler enorm angestiegen sei. Ein Ergebnis, das seiner Ansicht nach allein durch abgesenkte Ansprüche an die Leistung der Kandidaten erklärt werden könne49. Auch Grimme gehörte zu den Vertretern der traditionellen Bildungselite, die den Leistungsgedanken für einen zentralen Punkt in der Schulbildung hielt. Bereits während seines Universitätsstudiums hatte er begonnen, über geeignete Maßnahmen nachzudenken, begabte, aber finanziell schlecht gestellte Schüler zu fördern. Er bedauerte, dass sich in der Berufswelt der Wert von Zeugnissen und Diplomen „in gefährlichem Grad verabsolutierte" und ihnen weitaus mehr Wert beigemessen werde als den tatsächlichen Fähigkeiten50. Finanzkraft der Eltern verhelfe Kindern nicht selten trotz fehlender Begabung zur Hochschulreife. Da das Abiturzeugnis in der Gesellschaft insgesamt an Gewicht gewann, die Begabung der Schüler bei der Vergabe aber nicht allein maßgebend war, erwartete er eine nachteilige Leistungsentwicklung und eine Gefahr für die soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft. Das Fördern von Begabten geriet in engen Zusammenhang mit dem Phänomen des Berechtigungssystems, das über gesellschaftliche Aufstiegschancen entschied. Gleich die erste Rede vor dem Preußischen Landtag behandelte dieses Thema. Er beabsichtigte, den Eintritt in die Universität zu erleichtern. Es müsse eine erfolgreiche Mitarbeit gewährleistet sein - gleichgültig, auf welchem Weg die Qualifikation erreicht wurde51. Lernen müsse unabhängig von der wirtschaftlichen Lage sein. Zu diesem Zweck erhöhte er den Anteil der Mittel, die für die Begabtenförderung vorgesehen waren52. Als zu Ostern 1931 in Folge der Arbeitsmarktsituation und des demografischen Faktors ein größerer Andrang an den höheren Schulen zu erwarten war, mahnte er in seinem Ressort eine verstärkte Auslese an, da die Schulen andernfalls ihren Auftrag verfehlen würden. Auf besondere Aufnahmeprüfungen sollte zwar weitestgehend verzichtet werden. Höhere Schulen durften jedoch bei zu großer Schülerzahl Sonderprüfungen abhaken. Er erklärte die Zeugnisse der Grundschulzeit gemeinsam mit einem ausführlichen Gutachten des letzten Klassenlehrers für entscheidend. Das Schulgeld sollte im Sinne einer

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Reden von Boelitz und Lauscher (Zentrum), PrLT, 3. WP (1928/30), Hauptausschuss, 187. Sitzung Montag, den 9. Februar 1931. Besonders deutlich spricht Grimme sich vor dem Niedersächsischen Landtag am 29. Januar 1948 darüber aus, Seiters, S. 108 ff. PrLT, 3. WP (1928/30), 31. März 1930, Sp. 12994 ff. PrLT, 3. WP (1928/30), Sp. 14516 und 14770.

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„planmäßigen Begabtenauslese" vergeben werden. Besonders minderbemittelte Schüler hoffte er durch die Auslese zu bevorteilen. Doch wer in zwei aufeinanderfolgenden Klassen der höheren Schule nicht versetzt wurde, musste die Schule verlassen 53 . Eine kurzfristige Klientelpolitik betrieb das Kultusministerium nicht. Vielmehr blieb die Politik an dem Prinzip der Leistung orientiert. Sie steigerte dieses Verfahren sogar noch. Grimme wies die „Studienstiftung des Deutschen Volkes" an, ihr Auswahlverfahren zu verfeinern. Die Zahl der Fehlurteile sei in der jüngeren Vergangenheit zu hoch gewesen, was unter anderem darauf zurückzuführen sei, dass viele Schulleiter über die Vergabekriterien falsch oder ungenügend unterrichtet seien. Die Stiftung durfte nur solche Schüler fördern, welche aus eigenen Mitteln oder mit Hilfe ihrer Familie nicht studieren konnten 54 . Das waren Ziele, deren Umrisse sich in den ersten Semestern seines eigenen Studiums abgezeichnet hatten und die nun seiner Politik eine eigene N o t e gaben. Die Begabtenförderung scheiterte vornehmlich am Unwillen der unteren Schichten, an den Angeboten auch teilzunehmen. Die Zahl der Begabten wurde wohl auch überschätzt. Jedenfalls erhielten die Förderkurse für Begabte nur wenig Zuspruch. 1926 nahmen in ganz Preußen 505 Volksschüler an einem freiwilligen Fremdsprachenunterricht teil. Einen viel größeren Erfolg verzeichneten die Förderkurse für leistungsschwächere Kinder 55 . Ihnen galt der Versuch, eine „Mittlere Reife" zu befestigen. Die Bedeutung des Abiturzeugnisses ergab sich zwangsläufig dadurch, dass der Volksschulabschluss die einzige Alternative bildete. Mit dem Wegfall des „Einjährigen" entstand eine Lücke, die in der Folge nicht mehr gefüllt werden konnte 56 . Wertvolle Zeit verstrich, weil eine mittlere Reife den sozialistischen Plänen nach einer Einheitsschule zuwiderlief. Die breite Akzeptanz einer Mittleren Reife hätte den Status Q u o auf Reichsebene gefestigt und somit dem Einheitsschulgedanken geschadet. Erst 1926/27 setzten Preußen, Württemberg und einige kleiner Länder die Mittlere Reife im Alleingang um. Immer mehr Volksschüler wechselten nach der Schulzeit nicht direkt ins Berufsleben, sondern versuchten sich weiter zu qualifizie-

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Erlass N r . 72 vom 10. Februar 1931, Zentralblatt (1931), S. 67f. Erlass N r . 288 vom 23. Juni 1930, Zentralblatt (1930), S. 234. Achim Leschinsky, Volksschule (wie Anm. 50), S. 61f. D a s „Einjährige" berechtigte zum einjährigen Heeresdienst und trug deshalb im Volksmund auch diesen Namen. Es war auf dreifache Weise erreichbar. Wer sich nicht von einer Militärbehörde prüfen lassen wollte, konnte die Obersekundarreife oder Abschluss einer sechsklassigen höheren Lehranstalt stattdessen vorlegen. Seit dem Versailler Vertrag gab es in Deutschland keine allgemeine Wehrpflicht mehr. Die Berechtigung war nicht mehr erforderlich und wurde auch nicht mehr ausgestellt.

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ren57. Es stand zur Debatte, ob die Dauer des Volksschulbesuches statt acht, nicht neun Jahre betragen solle. Eine verlängerte Schulpflicht hätte die Absolventen ein Jahr länger vom Arbeitsmarkt ferngehalten und so die Arbeitslosenstatistik entlastet58. Nach Grimmes Uberzeugung durfte Bildung keinem Zweck als dem der Bildung selbst dienen. Er hielt deshalb auch nichts davon, die Dauer der Schulpflicht aus politischen Gründen neu zu erörtern. Den höheren Schulen mangele es nicht an Jahren, sondern an geeigneten Schülern. Er plädierte entgegen allen egalitären Tendenzen für eine verschärfte Auslese59. Der Kultusminister betrieb eine langfristig ausgerichtete Bildungspolitik, die vielmehr an der preußischen Tradition als an kurzfristigen politischen Vorteilen orientiert war. Was unternahm er aber, um einer politischen Radikalisierung der Schülerschaft entgegenzuwirken?

4. Schüler, Republik und Radikale Das Vorgehen gegen die Aktivitäten radikaler Parteien an den Schulen war ein zentraler Punkt der Schulpolitik. Kein Staat, der auf Ehre und Ansehen halte, so Grimme vor dem Landtag, könne Schüler ausbilden, deren politische Aktivität sich am Ende gegen ihn richten60. Die Pflicht der Schüler zur Teilnahme an den Verfassungsfeiern setzte er notfalls gerichtlich durch. Ein Vater hatte seinen Sohn nicht dazu bewegt, an den Feiern teilzunehmend. Als ein Amtsgericht ihn freisprach, ging das Ministerium in die Revision und ließ einen Rechtsirrtum feststellen61. Das strenge Vorgehen in Einzelfällen reichte nicht aus, um die SPD-Anhängerschaft zufrieden zu stellen. Im Dezember 1930 schrieb Hörsing, Grimme werde nach zehn Monaten Amtszeit in diesen Fragen schlechter beurteilt als sein Amtsvorgänger. Zwar halte er „wertvolle Reden", ginge aber „zu wenig energisch gegen rechtsstehende Elemente" vor und unterlasse es, im Ministerium „Unzuverlässige gegen Zuverlässige" auszutauschen62. Der Kritisierte bedauerte, dass die Genossen die Macht eines Kultusministers überschätzten. Personalpolitik betreibe er „zäh und konsequent", nur dürften die Erfolge nicht „auf den Markt hinausgeschrien werden". Die Koalition mit dem Zentrum 57 58

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Leschinsky, Volksschule (wie Anm. 50), S. 74. Ebd., S. 27 ff. Das Verlängern der Schulpflicht wurde ausdrücklich mit dem Argument des Arbeitsmarktes verbunden. Siehe PrLT, 3. W P (1928/30), Sp. 18787 ff.; PrLT, 3. WP (1928/30), Sp. 19599. 267; PrLT, 3. W P (1928/30), Sp. 23533 ff. Grimme im Hauptausschuss, 190. Sitzung, Donnerstag, 12. Februar 1931, Protokoll in: N1 Grimme, Nr. 372. PrLT, 3. W P (1928/30), 17. März 1931, Sp. 18795 ff. Erlass Nr. 160 vom 12. Februar 1932, Zentralblatt (1932), S. 130. Hörsing an Grimme vom 8. Dezember 1930, N1 Grimme, Nr. 1752.

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und der „unselige Weimarer Schulkompromiss" ließen nichts anderes als eine „zielbewusste, stetige Arbeit" zu63. Beamten und damit auch Lehrern hatte das Staatsministerium Aktivitäten in der NSDAP und in der K P D untersagt64. Die radikalen Parteien nutzten deshalb indirekte Wege, um Schüler für ihre Parteien zu werben. Besonders der nationalsozialistische Schülerbund war Grimme ein Dorn im Auge. Es sei an der Zeit, dass das „moralisch intakt gebliebene Deutschland aus seinem Hitlertraum" erwache. „Staat und Schule, sie haben beide die Pflicht, vor dieser Schwächlingsethik die deutsche Jugend zu bewahren und alles zu tun, um unsere Jugend vor einem Rückfall in eine solche primitive Ethik zu schützen, sie auch dadurch zu schützen, dass man sie bewusst fernhält von Veranstaltungen, in denen die Erziehung zur Verantwortung damit begonnen und zugleich beendet wird, dass die Hörer aufgefordert werden, mit dem Willen zur eigenen Verantwortung durch blindes Unterstellen unter einen fremden Willen Schluss zu machen" 65 . Thüringen und Braunschweig besaßen seit 1930 Regierungen, an denen die N S D A P beteiligt war. Die Kultuspolitik dieser Länder ließ bereits erahnen, was Deutschland unter einem nationalsozialistischen Kanzler zu erwarten hätte. Die Schulgebete riefen wenig verkleidet zu Antisemitismus und Sozialdemokratenhass auf66. Bereits im ersten Amtsjahr erfolgte der Versuch, Mitglieder radikaler Parteien vom Lehrbetrieb per Erlass auszuschließen. Am 17. April 1930 erließ Grimme „Maßnahmen gegen die politische Verhetzung". Vom Vizepräsidenten des Provinzialschulkollegiums Berlin-Brandenburg, Christoph König, erfuhr er, dass ein Ministerialdirektor sich auf einer Tagung des Schulkollegiums im November 1930 herablassend über dieses Vorgehen geäußert hatte. Noch am gleichen Tag eilte er zu einer groß angelegten Verteidigungsrede auf die Tagung und zwang den Ministerialdirektor zum Rücktritt 67 . Dies blieb insgesamt gesehen ein seltener Vorgang in der im Untergang befindlichen Weimarer Republik. Im Landtag führte das Vor-

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Brief an Hörsing, ohne Datum, Nl Grimme, Nr. 1752. Zu den Abwehrmaßnahmen der Staatsregierung gegen radikale Parteien Sabine Höner: Der nationalsozialistische Zugriff auf Preußen. Preußischer Staat und nationalsozialistische Machteroberungsstrategie 1928-1934, Bochum 1984 (weiterhin zit.: Höner, Zugriff). Grimme im Hauptausschuss, 216. Sitzg., 17. März 1931, Protokoll in Nl Grimme, Nr. 372. Führ, Schulpolitik (wie Kap. 3, Anm. 13), S. 208. Schriftwechsel Nl Grimme, Nr. 363. König an Grimme vom 18. November 1930, Berlin.

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gehen zu einer „Großen Anfrage"68. Die DNVP wollte erklärt haben, aus welchen Beweggründen er den Schülern verbot, sich politisch zu betätigen und löste damit eine allgemeine Diskussion über politische Gegenstände im Unterricht aus. Im Prinzip erneuerten die Verordnungen eine bereits unter Haenisch betriebene Politik. Ein Erlass vom 25. Oktober 1919 war 1923 von Boelitz bestätigt und von Becker 1929 noch einmal ergänzt worden69. Er knüpfte vor allem an die Politik der Boelitz-Ära an, die 1922 als Reaktion auf den Mord an Reichsaußenminister Rathenau betrieben worden war. Denn ähnlich der damaligen Situation sah sich das Kultusministerium zur Abwehr radikaler Umtriebe genötigt. Boelitz hatte damals Schülern die Mitgliedschaft in Vereinen verboten, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgten oder Mitglieder der Regierung verächtlich machten. Ende 1930 saß derselbe Boelitz im Landtag und protestierte gegen diese Sicht. Die aktuelle Politik gehe über die Ansätze von 1922 hinaus und damit zu weit. Den preußischen Schülern sei seinerzeit nämlich keineswegs die bloße Teilnahme an politischen Wahlveranstaltungen verwehrt worden70. Grimme wies diesen Einwand mit einem verfassungsrechtlichen Hinweis zurück. Die Verfassung garantiere zwar das Wahlrecht. „Ob und in welcher Weise" der Schüler sich aber informiere, sei durch die Verfassung nicht geregelt71. Gleichwohl begegnete er den Einwänden, indem er Ausnahmen von den Verboten für „wahlmündige Schüler" immerhin in Betracht zog, obwohl er den Informationswert von nationalsozialistischen Wahlkampfveranstaltungen überhaupt anzweifelte. Er sei durch Berichte der Schulkollegien dahin informiert, dass nur eine zu vernachlässigende Zahl von Schülern überhaupt Wahlkampfveranstaltungen besuche. Ausnahmeregeln meinte er deshalb den Schulkollegien gestatten zu können. Als im Januar 1932 der neue Reichsinnenminister Groener um einen persönlichen Kontakt bat, um unter anderem die Frage der „Entpolitisierung der Schule" zu erörtern, erhielt er vom Kultusminister eine klärende Antwort. Es sei in Preußen von jeher das Ziel gewesen, die Schule vom politischen Tagesstreit freizuhalten. Dieses Ziel gelte weiterhin. Deshalb habe das Kultusministerium das Abzeichenverbot in den Schulen „rigoros" durchführen lassen und das parteipolitische Werben innerhalb der Schulen „streng untersagt". Die Lehrer seien zu politischer Neutralität angehalten.

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Große Anfrage der DNVP, Drucksache Nr. 206. PrLT, 3. WP (1928/30), Sp. 18808. Protokoll des Hauptausschusses, 216. Sitzg., 17. März 1931, N1 Grimme, Nr. 372. Artikel von Boelitz in der „Kölnischen Zeitung" vom 1. März 1931. Grimme im Hauptausschuss, 216. Sitzg., 17. März 1931, Protokoll in: NI Grimme, Nr. 372.

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Neutralität sei zum Behandeln des Unvermeidbaren unerlässlich: Politik im Unterricht 72 . Grimme gab sich nicht der Illusion hin, dass Schule einen politikfreien Raum innerhalb der Gesellschaft bilden könne. Im Gegenteil, eine solche Schule hätte seinem Ideal einer erziehenden Anstalt von Grund auf widersprochen. Der politische Einfluss des Elternhauses, der Presse, der Bünde und der verschiedenen Kameradschaften sei nun einmal vorhanden. Dieser Umstand zwinge die Lehrer geradezu, mit diesen politischen Einflüssen umzugehen. Er unterschied, ob Schüler politisch gebildet, oder ob sie politisch gesteuert würden. Der Unterricht müsse die politische Urteilsfähigkeit fördern 73 . Der Lehrer habe dabei die Pflicht zu beachten, dem Schüler die verschiedenen Seiten eines politischen Gegenstandes von allen Seiten unparteiisch vorzuführen 74 . Daran schloss er warnend, dass die Jugend durch das ständige Gerede der Zeitgenossen über eine Heilserwartung zu einer gefährlichen, das eigene Können überschätzenden Selbstsicht verführt würde. Niemand solle ihr einreden, sie sei unsere letzte Hoffnung. Jugend sei nichts als ein Zustand. Wer gelten wolle, müsse etwas leisten. Am 3. Juni 1930 erschien ein Erlass, der den Umgang mit politischen Themen im Unterricht verdeutlichte. Er bezog sich auf die Kolonialfragen. Es sei selbstverständlich, dass die Kolonialfrage im Unterricht behandelt würde. Ausdrücklich sei aber untersagt, die Problematik zu einer „irgendwie gearteten Propaganda zu missbrauchen". Politische Fragen sollten den Schülern vor Augen geführt werden, „ohne sie für eine bestimmte politische Auffassung gewinnen zu wollen" 75 . Der Kolonialerlass wurde in einer der ersten Amtshandlungen unter dem Reichskommissar Papen zurückgenommen, was ihm eine gewisse Bedeutung verleiht. Am 29. September 1932 änderte der mit den Geschäften beauftragte Lammers den Wortlaut dahingehend, dass in der „heranwachsenden Jugend der koloniale Gedanke gepflegt und das Verständnis für die Bedeutung überseeischen Besitzes geweckt und vertieft wird". Die Schulkollegien wurden ersucht, den Kolonialgedanken zu fördern 76 . In diesen Zusammenhang gehört das Vorgehen gegen die Arbeit des Vereins für das Deutschtum im Ausland. Es stellt sich nämlich die Frage, in 72

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Notizen zum Antwortbrief an Groener befinden sich ohne Datum in N1 Grimme, Nr. 400. Rede Grimmes am 13. Mai 1931 in Berlin, abgedruckt in: Adolf Grimme: Das neue Volk - Der neue Staat - Sieben Ansprachen, Berlin 1932. S. 21 ff., hier zitiert nach Seiters, Bildungspolitiker (wie in Einleitung, Anm. 3), S. 97. Grimme folgt in diesem Abschnitt den Formulierungen Boelitz\ Seiters, Bildungspolitiker, S. 98. Erlass Nr. 231 vom 3. Juni 1930, Zentralblatt (1931), S. 189. Erlass Nr. 318 vom 29. September 1932, Zentralblatt (1932), S. 260.

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welcher Weise sich im Weltbild des Kultusministers das Verhältnis zu Vaterland und Nation seit 1919 gewandelt hatte. Im Juni 1930 war Grimme mit einem Erlass hervorgetreten, der Aktionen des Vereins für das Deutschtum in Schulen verbot 77 . Dies geschah nicht, wie er ausdrücklich betonte, aus Gegnerschaft zum Verein, sondern weil man es im Kultusministerium für eine „pädagogisch gefährliche Hypothek" hielt, wenn Schüler von Schülern Geld einsammelten78. Die Feder dieses Verbotes führte Hans Richert, der selbst mit dem Ostmarkenverein sympathisierte und Vorstandsvorsitzender der Vaterlandspartei gewesen war; der sich also mit den Zielen des Vereins für das Deutschtum im Ausland in gewissem Einklang befand. Grimme erklärte wiederholt, dass er das eigentliche Anliegen des Bundes, nämlich die kulturelle Verbundenheit mit Deutschen im Ausland zu pflegen, wärmstens unterstütze. Das Werben für den Bund und das Tragen von VDA-Uniformen an Schulen verbot er, um zu verhindern, dass Schüler sich zum Beitritt zum Bund verpflichtet fühlten. Nur eine Teilnahme aus „völliger Freiwilligkeit" besitze Wert 79 . Das Werbeverbot galt deshalb allgemein und verhinderte selbst das Sammeln zugunsten des Goethehauses in Frankfurt am Main80. Nach seiner Uberzeugung gehörte Politik also unbedingt in die Schule. Allerdings lediglich als Gegenstand eines neutral abwägenden Unterrichtes zum Schärfen der Urteilsfähigkeit. Nicht in den Unterricht gehörten Parteipolitik und das Betreiben einseitiger Propaganda in einzelnen Sachfragen. Der Kolonialerlass zeigt, wie schwierig das eine vom anderen zu trennen war. Richert wies wohl mit Recht darauf hin, dass das von ihm erdachte System in Notzeiten besonders flexibel gehandhabt werden konnte 81 . Das Herabsetzen von Stundenzahlen wurde durch die begrenzten Lehrstoffe und die Besonderheiten der Lehrpläne, ebenso wie durch das Verhältnis der Fächer zueinander begünstigt. Aus der Reform ergab sich für verschiedene Fächer ein gemeinsames Lernziel, wodurch der Ausfall von Schulstunden ausgeglichen werden konnte. Grimme hatte einige kleinere Reformen durchgesetzt, Französisch zum Beispiel zur verbindlichen ersten Fremdsprache gemacht82. Die jüdische Religionslehre ließ er als Prüfungs-

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Erlass Nr. 232 vom 3. Juni 1930, Zentralblatt (1930), S. 189. Brief an Martin Broszat vom 27. März I960, Degerndorf, N1 Grimme, Nr. 2977. Erlass Nr. 232 vom 3. Juni 1930 und Nr. 332, vom 23. August 1930, Zentralblatt (1930), S. 189 undS. 279. Erlass Nr. 326 vom 3. September 1931, Zentralblatt (1931), S. 263. Rundfunkvortrag Richerts vom 25. September 1931, abgedruckt in: Zentralblatt (1931), S. 290. Erlass Nr. 417 vom 27. November 1931, Zentralblatt (1931), S. 341.

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fach für das Lehramt an höheren Schulen zu83. Darüber hinaus setzte er aber keine größeren Vorhaben ins Werk. Selbst das „Züchtigungsrecht" ließ er unangetastet, obwohl er zu den Gegnern der Prügelstrafe zählte84, und obwohl sowohl die religiösen Sozialisten als auch der Bund der entschiedenen Schulreformer die Prügelstrafe ablehnte85. Der Schwerpunkt seiner Aufmerksamkeit lag auf zwei Gegenständen: den Begabten und den Radikalen. Andere Sachgebiete erschienen ihm weniger dringlich oder nicht durchsetzbar. Im Prinzip entsprach das seinem Gesellschaftsbild. In seinen tieferen Denkschichten hielt er die Einzelpersönlichkeit für wichtiger als die Volksgemeinschaft 86 . Dies schützte ihn vor Ideologien, machte ihn aber in gewisser Weise blind gegen die Potenz von Gruppen und Schichten. Richert meinte im September 1931, die „letzten Bildungsziele" seiner Reform seien nicht angetastet. Tatsächlich blieben die Unterrichtsinhalte unverändert, obwohl die Vorbehalte gegen Richert Einschnitte erwarten ließen. Gewiss, die Sparzwänge erschwerten eine Reform. Aber darin lag nicht der einzige Grund. Das Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Lerninhalten, völkischem Denken und Nationalsozialismus war nicht im ausreichenden Maß vorhanden. Die Bildungspolitiker dachten alle in Begriffen wie Volk, Nation und Deutschtum. Das Ministerium erkannte nicht, dass die Gesellschaft sich inmitten eines Kampfes um weltanschauliche Fragen befand. Grimmes Maßnahmen richteten sich gegen den direkten Einfluss radikaler Parteien in den Schulen. Es ging ihm darum, die Extremisten von der Macht fernzuhalten. Wäre ihm klar gewesen, wie leicht sich Ziele der Nationalsozialisten mit der alltäglichen Begriffswelt der Schüler verbinden ließen, er hätte zumindest die Lehrbücher eingehend überarbeiten lassen müssen. Als Schulaufsichtsbeamter wandte er das Mittel an, Schulbüchereien auf republikfeindliche Inhalte durchzusehen. Die Gefahr einer inhaltslosen Begrifflichkeit, die im Denken und in der Alltagssprache der Deutschen großen Raum einnahm und missbraucht werden konnte, blieb unerkannt. Die Handelnden übertrugen die eigene Sittlichkeit auf breite Schichten. Ihnen fehlte die Vorstellung dessen, was sich erst im weiteren Verlauf der Geschichte offenbarte.

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Erlass 152 v o m 5. April 1930, Zentralblatt (1930), S. 112. Erlass N r . 227b vom 22. Juli 1931 und N r . 422 v o m 8. Dezember 1931, Zentralblatt (1931) S. 225 u n d S . 346. Z u m Verhältnis des B R S D und der Schulreform siehe Peter, religiöse Sozialisten (wie Kap. 2, Anm. 118), S. 338 ff. Siehe das 2. Kapitel dieser Arbeit über die Gründe zum Beitritt zur Sozialdemokratie.

Die preußischen Hochschulen

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5. Die preußischen Hochschulen Otto Braun hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass eine Hauptaufgabe im Befrieden der Hochschulen bestand. Die Unruhen weiteten sich freilich einfach von der Straße in die Universitätsgebäude aus. Der Kultusminister konnte kaum den Stillstand der Kämpfe bewirken, solange Politik in Gewalt umschlug. Doch ein Versuch musste unternommen werden. Er beabsichtigte, die Disziplinargesetze der Universitäten zu reformieren und sprach harte Strafen gegen beugsame Rektoren und Universitätssenate aus. Ferner nutzte er sein Recht, die Selbstverwaltungen der Universitäten einzuschränken, eigene bildungspolitische Reformvorhaben zu beginnen und die staatstreuen Verbände finanziell besser auszustatten. Die Lage schien aber zu ernst, um es bei internen Disziplinarstrafen zu belassen. Er ging zur Vorsicht seinen Freund und preußischen Polizeipräsidenten Albert Grzesinski um Hilfe an. Es lag zum Teil an den inhaltlichen und organisatorischen Ungelöstheiten an den Universitäten, weshalb sich die politischen Spannungen dort in besonders aufgeheizter Form entluden. Die Anzahl der Studenten hatte sich von etwa 70.000 vor dem Ersten Weltkrieg auf 137.000 im Jahre 1931 beinahe verdoppelt. Dabei hatten schon 1914 nicht wenige die Zahl der Studenten als viel zu hoch eingestuft. Mit der einsetzenden Massenarbeitslosigkeit musste umso mehr der Eindruck entstehen, dass für das Angebot von Akademikern keine Nachfrage bestehe87. Diese Aussicht schürte unter Studenten die Sorge um Zukunft und Existenz. Dieselben Kritiker meinten, der rapide Anstieg der Studentenzahl sei mit einer nachlassenden Qualität der Leistungen sowohl der Studenten, wie der Professoren erkauft worden. Bernard von Brentano fragte im „Berliner Tageblatt", wie es angehen könne, dass „ausgerechnet die Gebildetesten der Jugend der dümmsten Partei nachlaufen". Dies kritisierte auch die „Vossische Zeitung". Zwar sei keine Gruppe im Volk stärker von der Wirtschaftskrise belastet als gerade die studentische Jugend. Aber damit lasse sich das Versagen der Studentenschaft vor den Problemen der Zeit trotzdem nicht rechtfertigen. Mit der Flucht in eine „unwirklich gewordene Scheinromantik des alten Korporationswesens" sei es jedenfalls nicht getan. Nicht zu akzeptieren seien die Verhaltensweisen jener, die sich an der „hysterischen Ideologie des politischen Radikalismus" berauschten von den Gleichgültigen und Berufsstrebern ganz zu schweigen88. Um gegen Unruhen an den Hochschulen vorzugehen, fehlten wirksame Rechtsmittel. Das Gesetzeswerk wurde zu spät angegangen, um dem Trei87 88

Bernard von Brentano in: Berliner Tageblatt vom 1. Mai 1931, N l Grimme, Nr. 302. „Vossische Zeitung" vom 31. Dezember 1930, Nl Grimme, Nr. 302.

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ben radikaler Verbände noch Einhalt zu gebieten89. Einige Vorfälle erlangten breite Aufmerksamkeit. Als in Halle der praktische Theologe Günther Dehn 1931 einen Lehrstuhl erhielt, protestierte die nationalsozialistische Studentenschaft. Sie skandierten gegen Dehn als „oktroyierten Sozialisten" und störten dessen Seminare. Der damalige Rektor der Universität Halle, Gustav Aubin, verteidigte Dehn zwar vor der Studentenschaft90 An Grimme aber schrieb er, dass die „Oktroyierung eines Professors in unserer Theologischen Fakultät, besonders, wenn dieser etwa noch ausgesprochener Sozialist wäre, für die ganze Universität untragbar" sei91. In Heidelberg behandelten Studenten und Teile der Professorenschaft Professor Gumbel aufgrund dessen politischen Standpunktes wie einen „Aussätzigen". Man warf ihm vor, Landesverrat begangen zu haben, weil er in Frankreich Reden zur Kriegsschuldfrage gehalten und Deutschland die Alleinschuld zugewiesen habe. Zwei Landesverrats-Prozesse musste er über sich ergehen lassen. In keinem konnte er verurteilt werden92. Es war damals der Physiknobelpreisträger Albert Einstein, der Gumbel stützte. Auf einem „Abend gegen die Hochschulreaktion", veranstaltet von der Liga für Menschenrechte, stand er auf und sagte, er habe die Bücher des Herrn Gumbel, und zwar die politischen, mit Interesse gelesen und etwas aus ihnen gelernt. Folglich empfehle er sie auch den Anwesenden zur Lektüre 93 . In Kiel verteilte die Hochschulgruppe des nationalsozialistischen Studentenbundes während eines Bach-Festes Flugblätter als Protest gegen den Redner Otto Baumgarten, der den Festgottesdienst abhalten sollte. Baumgarten sei ein „Landesverräter, ein Philosemit, ein Pazifist und ein Verräter am Nationalismus" 94 . An der Technischen Hochschule Berlin spielten sich während der Antrittsvorlesung des Chemikers Ernst Terres am 14. November Lärmszenen ab. Ausgelöst wurden sie auch dort vom nationalsozialistischen Studentenbund. Entgegen den Gesetzen trugen die Nationalsozialisten an den Universitäten Uniformen und Abzeichen, die ihre Zugehörigkeit zur NSDAP erkennen ließen. Eine andere Flugblattaktion führte an den Berliner Universitäten im November zu lautstarken Auseinandersetzungen unter den Studenten. Der Rektor hielt selbst eine An-

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Zu den Disziplinargesetzen ein Kommentar in N1 Grimme, N r . 402.

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Brief an C . H . Becker vom 20. November 1931, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 45 und Anm. 6 auf S. 302. Aubin war Professor für wirtschaftliche Staatswissenschaft. N a c h 1933 wurde er wegen des Falls publizistisch angegriffen und verlor sein Amt.

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Aubin an Grimme, ohne Datum, N1 Grimme, N r . 300. Aubin verweist in dem Schreiben auf einen ersten, gleichlautenden Einwand aus dem Oktober.

92

Rede Grimmes zur Großen Anfrage 1818 im Preußischen Landtag, N1 Grimme, N r . 300.

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N o t i z in N1 Grimme, N r . 302.

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P r L T , 3. W P (1928/30), 2. März 1932, Sp. 2 4 4 4 2 ff.

Die preußischen Hochschulen

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spräche und alarmierte den Kommandeur der Schutzpolizei, der umgehend selbst erschien. Hier fielen bereits Schüsse. In Königsberg legten Studenten einen Kranz zum Gedenken der Helden von Langemarck nieder. Trotz Einspruchs des Rektors verwandten sie dabei eine schwarz-weiß-rote Fahne. Republikanische Studenten reagierten mit einem Protestmarsch vor der Universität. Als die Polizei eintraf, forderten die Studenten deren Abzug. Im Innern der Universität versammelte sich der Senat. Die Studenten schickten Vertreter in das Gebäude zum Verhandeln. Der Senat versprach, den Kranz in alter Form wieder zuzulassen. Überdies beteuerten die Senatoren, die Polizei nicht gerufen zu haben und bedauerten die Ubergriffe. Diese Vorgänge sorgten begreiflicherweise für Unruhe im Ministerium und im Abgeordnetenhaus. Auf eine Große Anfrage hin musste Grimme sich rechtfertigen und das Vorgehen seines Ressorts erläutern. Er referierte, dass in Kiel der verantwortliche Studentenführer der Universität verwiesen worden sei. An der Technischen Universität Berlin wurde dem nationalsozialistischen Studentenbund das wiederholt für verbotene Propaganda benutzte Anschlagbrett auf ein Jahr entzogen. Das Tragen von Kleidung und Abzeichen, die eine Zugehörigkeit zur NSDAP erkennen ließen, zog disziplinarische Strafen nach sich. Die Rektoren der Berliner und der Königsberger Universität hatte Grimme zu sich einbestellt. Sie hätten sich, so begründeten sie ihr Vorgehen, der Gewalt beugen müssen. Sonst „säßen wir mit verbundenen Köpfen hier"95. Der Rektor der Berliner Universität legte am 24. November sein Amt nieder. An den Senat der Universität Königsberg erging ein Erlass, der starke Bedenken des Ministeriums gegen das Vorgehen des Senats ausdrückte. Von „bedauerlichen Vorgängen" und „beschämenden Szenen" war die Rede. Das Ansehen der Wissenschaft und der Hochschule Königsberg sei im Inund Ausland zu Schaden gekommen. Der Rektor und der Senat der Universität Königsberg mussten sich einem Disziplinarverfahren unterziehen. Die Rechte der universitären Selbstverwaltung drohte das Ministerium empfindlich zu schmälern, wozu die neuen Satzungen der Universitäten aus den Jahren 1930 und 1931 berechtigten. Die Universitäten unterstanden dem Minister direkt 96 . Doch ließ er die Satzungen unangetastet. Erst ab Oktober 1933 hieß es: „Der Beschluss der Fakultät auf Erteilung der Lehrbefugnis bedarf der Genehmigung des Ministers 97 . 95 96

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Rede Grimmes zur Großen Anfrage Nr. 1818 im PrLT, N1 Grimme, Nr. 300. Erlass Nr. 166: Satzung der Universität Berlin, Zentralblatt (1930), S. 132. Der amtliche Verkehr und alle persönlichen Angelegenheiten der Universitätsdozenten liefen über den Minister. Außerhalb Berlins ließ sich der Minister durch einen Kurator vertreten. Vgl. hierzu die Satzungen der Universitäten Göttingen und Marburg, ebd., S. 151 und S. 122. Erlass Nr. 340 vom 18. Oktober 1933, Zentralblatt (1933), S. 277.

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Wege und Entscheidungen des Kultusministeriums

Grimme übernahm 1930 das Erbe einer Politik, der es nicht gelungen war, den republikanischen Gedanken an den Universitäten durchzusetzen. Wie die Reichswehr bildeten die Hochschulen einen „Staat im Staate", in dem sich das Personal nach anderen Gesichtspunkten ergänzte als im übrigen Beamtenapparat. Hier wie dort bestand Mangel an geeigneten Kandidaten. Da die konservative Professorenschaft ihre Assistenten selten aus republikanischen Kreisen auswählte, ließ sich dieses Problem kaum beheben. Die Möglichkeit bestand, wie das Gesetz von 1933 zeigt, jungen Wissenschaftlern mit antirepublikanischer Gesinnung den Zugang zu Lehraufträgen zu verschließen. Da die Sympathisanten der Nationalsozialisten an den Hochschulen Ende der zwanziger Jahre eine Mehrheit stellten, kann über die Folge einer solchen Maßnahme kein Zweifel bestehen: Sie hätte zu noch größerer Unruhe unter den Studenten geführt. Um dies zu verhindern, verzichtete er auf die letzten Mittel. Zwar forderte der Kultusminister ein neues Disziplinargesetz, das im Zweifelsfall mit der Notverordnung nach Artikel 55 der preußischen Verfassung durchzusetzen sei und verlangte nach größeren Kontroll- und Strafrechten. Das Staatsministerium kam aber zu dem Ergebnis, es sei „unzweckmäßig, ohne zwingende Gründe an der Formulierung des Gesetzes von 1879 etwas zu ändern" 98 . Ausführlichere Verfahrensvorschriften hätten dem alten Gesetz ohne Nachteil gefehlt. Die Regierung räumte aber ein, dass die Disziplinarstrafen überarbeitet werden müssten. In einem neuen Entwurf erhielt der Kultusminister das Recht, Verweise zu erteilen, das laufende Semester nicht anzurechnen und den Studenten von der Hochschule zu entfernen - ihn sogar vom Hochschulstudium auszuschließen. Dieses neue Gesetz galt für alle preußischen staatlichen Hochschulen. Der Staatsrat verabschiedete es am 27. November 1931". Zu einem umfassenden neuen Disziplinarrecht kam es jedoch nicht mehr. Das Ressort Kultus hatte Vorschläge ausgearbeitet, die am 2. März 1932 dem Landtag vorlagen. Der Minister hätte umfangreiche Eingriffsmöglichkeiten erhalten und von sich aus Disziplinarverfahren einleiten können 100 . Die Gesetzesvorlage überwies der Landtag an einen zuständigen Ausschuss für das Unterrichtswesen. Dort wurde er nicht mehr bearbeitet.

98

„Denkschrift zu aktuellen wissenschaftlichen Aufgaben in Deutschland", N1 Grimme, Nr. 301.

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Zentralblatt (1932), S. 208. Erlass N r . 257 vom 7. Juli 1932. Grimme übertrug das Recht, gegen Beamte ein förmliches Dienststrafverfahren einzuleiten dem Rektor der Universität Berlin und den Kuratoren der übrigen preußischen Universitäten. „Das Recht, gegen alle meiner Verwaltung angehörenden Beamten ... selbst das förmliche Dienststrafverfahren einzuleiten", behielt Grimme sich vor.

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P r L T , 3. W P (1928/30), Sp. 2442 ff.

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Solange brauchbare Gesetze nicht vorhanden waren, musste Grimme andere Mittel anwenden, um das universitäre Leben zu beruhigen. Die um ihre Zukunft besorgte Studentenschaft befand sich unter Einfluss einer konservativen Professorenschaft, ihrer Korporationen und einer aktiven Propaganda der radikalen Parteien, besonders der nationalsozialistischen. Der Führer der Ortsgruppe Berlin des Deutschen republikanischen Studentenbundes, Hubertus Prinz zu Löwenstein, mahnte zu erhöhter Aufmerksamkeit. Die Rechtsradikalen hätten erkannt, dass die Jugend heute in der „bündischen Form" erfasst werden wolle. Besonders in Kleinstädten verstiegen sich die NSDAP-Gruppen zu unerhörter Aktivität. Sie stellten schon zu Schülerkreisen Kontakt her und bedienten deren „Bedürfnis nach Freundschaft und Anlehnung". Dies führe dann zu einer völlig kritiklosen Übernahme aller politischen Ansichten. Die republikanischen Studenten würden sich zu wenig um die Jugend kümmern. Nur ein auch menschlich und kameradschaftlich gefügter republikanischer Studentenbund könne den Erfolg der Nationalsozialisten aufhalten101. Als Gegengewicht zu den Nationalsozialisten hatte sich 1928 der „Deutsche Studentenverband" gegründet, der die alte akademische Tradition der Lehr- und Lernfreiheit vertrat. Grimme bemühte sich, die republikanische Studentenschaft zu stützen. Noch im November 1932, nach dem „Preußenschlag", versuchte er vergeblich, den finanziellen Ruin des Verbandes aufzuhalten. Nach seinem Scheitern schrieb er, es sei ein „um so größeres Verhängnis", als „gerade jetzt die nationalsozialistische Welle auf den Hochschulen im Abflauen begriffen" sei. Er sah die „dringendste Aufgabe, hier energisch nachzufassen" 102 . Doch fiel eine republikanische Position nach der anderen. Polizeipräsident Grzesinski musste über die nationalsozialistische Gefahr nicht erst belehrt werden. Der ehemalige Innenminister Preußens hatte vielmehr das Amt übernommen, um zusammen mit Severing eine republikanische Bastion gegen die radikalen Parteien zu errichten. Auf die Provokationen der Radikalen müsse mit polizeilichem Druck reagiert werden, meinte Grzesinski. Wie sich die Lage zuspitzte, zeigten die studentischen Umtriebe an der Berliner Universität. Unablässig trat Grimme vor republikanisches Publikum und forderte es auf, gegen den „Terror an den Hochschulen" aufzustehen103. „Lehrfreiheit plus Hakenkreuzgesinnung" ergebe

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Hubertus Prinz zu Löwenstein: Wir wollen studieren, in: „Berliner Börsenkurier" vom 7. Juni 1931, N1 Grimme, Nr. 302. Brief an Fritz Demuth vom 15. November 1932, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 51. Eine Veranstaltung im ehemaligen preußischen Herrenhaus lief unter dem Titel: „Kundgebung gegen den Hochschulterror", N1 Grimme, Nr. 3338.

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keinen Sinn. Denn die Idee der Forschung liege gerade im Prüfen der Gegensicht. Wer das Gegenargument im Vorwege für unwürdig erklärt, gefährde die Idee der Universität selbst. Für diese Idee, nicht zum Schutze dieses oder jenes Standpunktes, werde er die preußische Polizei einsetzen, erklärte er im März 1931 vor dem Landtag104. Im August hielt er zum Verfassungstag eine vielbeachtete Rede an der Berliner Universität. Zusammen mit dem Historiker Friedrich Meinecke ergriff er energisch Partei für die Hochschulfreiheit. Meinecke legte ein Bekenntnis zur Demokratie ab. Sie sei die einzige Staatsform, die Einheit und innere Freiheit zugleich verbürge. Doch alles Reden half nichts. Als die Berliner Universität am 30. Juni wegen Unruhen für einige Tage geschlossen werden musste, schrieb Grzesinski, er halte die Weisungen Grimmes nicht für ausreichend. Er hatte im Januar des Jahres durchgesetzt, dass „Polizeibeamte in Zivil sich ständig in der Universität aufhalten, um polizeilich beobachtend und Unruhen vorbeugend tätig zu sein" 105 . Es war bekannt, dass der „Druck auf den Klingelknopf" genügte, um „ausreichend polizeiliche Verstärkung im Falle größerer Störungen der Ruhe, Ordnung und Sicherheit herbeizurufen" 106 . Die Maßnahmen hätten sich bewährt, so Grzesinski. Auf Betreiben des Rektors und der NSDAP-Landtagsfraktion zog sich die Polizei im April 1932 gleichwohl wieder aus der Universität zurück. Verständlicherweise hielt der Rektor Polizeipräsenz an der Universität auf Dauer nicht für wünschenswert, was Grzesinski sehr erregte. Der Rektor habe auf den Abzug gedrängt, ohne ihn zu konsultieren und wie er vermutete - auch ohne Grimme um dessen ausdrückliche Zustimmung zu bitten. Grzesinski legte den Finger in die Wunde. Denn wie die Beispiele zeigen, bildeten sich innerhalb des Amtsbereiches Gruppen, die sich den Weisungen des Ministers entzogen und zu eigenmächtigem Handeln übergingen. Um darauf mit angemessener Schärfe zu reagieren, fehlten gesetzliche Grundlagen und personelle Alternativen.

6. Personalpolitik Es war nicht einfach, den Mitarbeiterstab im Ministerium neu zu ordnen. Um einen Sozialdemokraten in eine leitende Stelle der Hochschulabteilung

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PrLT, 3. W P (1928/30), 17. März 1931, Sp. 18824 ff. Grzesinski an Grimme vom 13. Juli 1932, N1 Grimme, Berlin, Nr. 1622. Albert Grzesinski: Im Kampf um die deutsche Republik. Erinnerungen eines Sozialdemokraten, hrsg. v. Eberhard Kolb, München 2001, S. 236. Grzesinski an Grimme vom 13. Juli 1933, Berlin, N1 Grimme, Nr. 1622.

Personalpolitik

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des Ministeriums zu bringen, sollte die SPD zugunsten des Zentrums auf zwei Stellen in der Volksschulabteilung verzichten. Dieser Tausch, der wegen des Staatsstreichs vom 20. Juli 1932 nicht mehr vollzogen wurde, zeugt von der Rücksicht auf die Koalitionspartner. Grimme versuchte, den sozialdemokratischen Einfluss in der Ministerialbürokratie zu vergrößern. Der Berliner Schulrat Max Kreuziger erhielt das Junglehrerreferat in der Volksschulabteilung. Der Sozialdemokrat Heinrich Becker wurde als Ministerialrat für Volksbildung und Volkshochschule zuständig, und der persönliche Referent Wilhelm Gaede galt als überzeugter Sozialist107. Die Personalpolitik folgte stärker politischen Gesichtspunkten als die Beckers und stieß deshalb auf Widerstand. Unter den Professoren, so urteilte der „Berliner Börsenkurier", gebe es zunehmend Arrivisten und Karrieristen. Der sachliche, wissenschaftliche Wettkampf werde dabei mehr und mehr von persönlichen Seilschaften verdrängt. Manche Disziplinen seien dadurch „geradezu zerstört worden, dass irgendein Ordinarius, der nicht durch seine Leistung legitimiert, aber durch seinen Einfluss gefürchtet war, die Lehrstühle mit Kreaturen besetzte, die von ihm abhängig waren" 108 . Diese Kritik zielte auf die Selbstverwaltung der Universitäten. Dass sie für den Staat schwerwiegende Nachteile hatte, zeigte deutlich das Beispiel der Rechtswissenschaften. Privatdozenten konnten nur von Ordinarien habilitiert werden. Da die rechtswissenschaftliche Professorenschaft beinahe ausnahmslos konservativ dachte, gab es nach 12 Jahren sozialistischer Herrschaft kaum Sozialisten auf den Lehrstühlen. Nach einem Manuskript über politische Bildung gab es in Preußen überhaupt keinen109. Entgegen der üblichen Berufungspraxis konnte der Kultusminister Lehrstühle oktroyieren und mit ihm genehmen Dozenten besetzen. Grimme gebrauchte dieses Mittel ein ums andere Mal. Von Oktober 1930 bis zum N o vember 1931 berief er zwanzig Professoren auf juristische Lehrstühle und hatte durch „einiges Hin und Her" noch zwölf weitere freigeräumt. Zudem wollte er noch neue personelle Vorschläge einfordern, sobald der Etat für das nächste Studienjahr verabschiedet wäre110. Allerdings hätte, wie er C. H . Becker im November 1931 eingestand, „ein wenig mehr Aktivität in dieser Richtung nicht schaden" können 111 .

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Wittwer, Schulpolitik (wie Kap. 2, Anm. 104), S. 296. Albert Malte Wagner im „Berliner Börsenkurier" vom 27. März 1930, N l Grimme, Nr. 302. "" Manuskript über die „politische Bildung", Nl Grimme, Nr. 302. 110 Brief an Heller vom 23. November 1931, N l Grimme, Nr. 309. 111 Folgende Zitate aus: Brief an C. H. Becker vom 20. November 1931, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 44. 108

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Günther Dehn hatte seinen Lehrstuhl einem solchen Eingriff zu verdanken. Grimme wunderte sich, dass die Kritik das Ministerium eigentümlicherweise gar nicht traf. Obgleich doch alle wissen mussten, dass der Theologe Dehn sein Kandidat war, der nicht einmal innerhalb der Sozialdemokratie mit ungeteilter Zustimmung rechnen durfte, da er zehn Jahre zuvor aus der SPD ausgetreten war. Der eigene Lebenslauf schien zu beweisen, dass gerade die „Leute, die einmal zu einer Partei gehört, ihr dann aber den Rücken gekehrt haben, mit besonderem Soup^on betrachtet" würden. Dass die Studentenschaft nicht einfach die charakterliche und fachliche Stärke Dehns anerkenne, sei natürlich „deprimierend". Dass die Hallenser Professorenschaft sich offenbar stärker von der nationalen Presse beeinflussen ließ, als von fachlicher Qualifikation, deprimierte nicht weniger112. Der Fall besaß aber noch eine dritte Seite. Die Sozialisten misstrauten dem Professor als Renegaten, während die Hallenser Studenten ihn als Sozialisten beschimpften. Scheinbar unerwähnt, vielleicht auch unbemerkt, blieb das möglicherweise Entscheidende: Er war religiöser Sozialist113. Dass diese Eigenschaft den Ausschlag gab, lässt sich aus den weiteren Kandidaten ersehen. Zunächst schlug der Minister der Hallenser Fakultät Emil Fuchs vor, dann Paul Piechowski. Erst als die Fakultät beide ablehnte, fiel der Name Dehn, und zwar neben dem Kandidaten Siegfried. Alle vier bezeichneten sich als religiöse Sozialisten114. Es finden sich einige Versuche, Lehrämter mit religiösen Sozialisten zu besetzen. Dehn gehörte dazu. Auch Friedrich Gogarten115 passt in das Schema. Der Vorsitzende des Bundes der religiösen Sozialisten, Georg Wünsch, sollte ebenfalls einen Lehrstuhl erhalten. Ihm schrieb Grimme im März 1931, er habe alles „in Bewegung gesetzt, die Professur doch noch durch den Etat für 1930 zu erlangen". Der Finanzminister sei noch einmal mit „aller Dringlichkeit" an112

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Friedrich Hertz an Wenzlau vom 12. Dezember 1931, Halle, Nl Grimme, Nr. 1962. Hertz schrieb über die Professorenschaft der Universität Halle, sie sei zwar nicht unbedingt reaktionär, „aber ihre Sympathien gehen doch ganz überwiegend nach rechts". Siehe den oberen Abschnitt über den Bund religiöser Sozialisten. Peter, Religiöse Sozialisten (wie Kap. 2, Anm. 118), S. 401 und Anm. S. 675 ff. Zu dem Hallenser Universitätsskandal: E. Bizer: Der Fall Dehn, in: Wilhelm Schneemelcher (Hrsg.): Festschrift für Günther Dehn zum 75. Geburtstag, in: Standpunkt. Beilage zur Evangelischen Monatsschrift, 1 (1983); Günther Dehn: Kirche und Völkerversöhnung. Dokumente zum Hallischen Universitätskonflikt, Berlin 1931, und Ders.: Die alte Zeit - die vorigen Jahre, München 1962, S. 263 ff. Friedrich Gogarten, Professor für systematische Theologie an der Universität Göttingen. Die 1926 gehaltene Rede Gogartens „Der protestantische Mensch" wies mit Grimmes Auffassungen nahe Verwandtschaften auf. Abgedruckt in: Karl Kupisch: Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus 1871-1945, Göttingen usw. 1960, S. 201 ff.

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gegangen worden. Er versicherte Wünsch, dass ihm gerade an dieser Professur „besonders viel gelegen" sei116. Dehn allerdings galt bei den religiösen Sozialisten nicht viel. Er habe sich vom Bund getrennt und vertrete heute nichts anderes als die „Glaubensgehorsam fordernde Offenbarungstheologie in der neumodischen Barthsprache", meinte etwa der Kieler Professor Karl Aner117. Das Abrücken vom Bund wird für Dehn taktische Ursachen gehabt haben. Um den Lehrstuhl in Halle zu erhalten, schien dies ebenso geboten, wie aus den dann folgenden Umständen des „Hallenser Universitätsskandals". Er hatte mit einem Bekenntnis zum Pazifismus die Hallenser Öffentlichkeit erschüttert. Der Bund der religiösen Sozialisten bekannte sich sofort zu ihm, was ihm nicht unbedingt gelegen kam. Nationalsozialistische Studenten störten seine Vorlesungen und bedrohten den Professor. Der Senat der Universität tat nichts Entscheidendes, um ihn zu schützen. Wenn sein Verhalten auch unter anderen von Karl Barth als peinlich empfunden wurde118, begrüßten die religiösen Sozialisten insgesamt den Ruf an einen der ihren und hielten Eile für geboten. Denn wenn das Konkordat erst Wirklichkeit sei, würde sich kaum noch ein religiöser Sozialist an einer preußischen Universität durchsetzen lassen119. Die ministeriellen Rechte in personalpolitischen Fragen wurden also mit Freimut gebraucht. Der Oberpräsident der Provinz Sachsen wies Grimme in einem Fall darauf hin, dass ein eingesetzter Beamter seiner Dienstzeit nach nicht „an der Reihenfolge" sei. Eine Randnotiz überliefert das Verwundern darüber, dass ein Wort des Kultusministers offenbar nicht genüge120. Zu Wünsch ging er nach dem März wieder auf Distanz. Entweder vermochte dieser im persönlichen Gespräch nicht zu überzeugen121 oder erwies sich zu sehr als Dogmatiker. Als Ordinarius wollte jener Hebräisch als Pflichtfach abschaffen, Sozialethik als neues Prüfungsfach einführen und theologische Lehrstühle mit „tüchtigen Sozialisten" besetzen. In Acht nehmen solle der Minister sich vor den „falschen religiösen Sozialisten", warnte Wünsch. Der Ruf Gogartens nach Breslau sei für ihn völlig überraschend. Er kenne dessen Arbeiten aus dem gemeinsamen Stu116 117

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Brief an Georg Wünsch vom 24. März 1930, N1 Grimme, N r . 2791. Karl Aner: „Brief an die Bruderschaft sozialistischer Theologen Deutschlands" vom 21. November 1930, N1 Grimme, N r . 2228. Karl Aner (1879-1933), Professor für Theologie. Ausgesprochen liberaler Theologe, seit 1923 Privatdozent für historische Theologie in Halle, ab 1930 in Kiel. Peter, religiöse Sozialisten (wie Kap. 2, Anm. 118), S. 677. Paul Piechowski an Grimme vom 24. Januar 1931, N1 Grimme, N r . 2228. Oberpräsident der Provinz Sachsen, Carl Falck. 24. April 1931, N1 Grimme, Nr. 1492. Mindestens ein Gespräch ist aus dem März 1931 belegbar, N1 Grimme, N r . 2791.

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dium122. Für die Sache des religiösen Sozialismus sei der Ruf nicht förderlich123. Grimme wusste freilich, dass ein fachlich schwächerer Kandidat der Sache eher schadete. Nicht ohne Stolz resümierte er, dass er in keinem einzigen Fall „infolge parteipolitischer Pression eine Null berufen" habe124. Karl Aner, Professor in Kiel, hatte ihn um ein stützendes Wort für einen Kollegen gebeten, überzeugt, dass ein Wort des Ministers trotz des „tobenden Nazisturmes" auf die liberale Majorität an der Universität Kiel günstig wirken würde. Das Wort blieb aus. Und das, obwohl der betreffende Kandidat religiöser Sozialist war125. In diesem Punkt setzte er den Weg Beckers fort. Wenn fachliche Kompetenz und Persönlichkeit stimmten, sahen beide im Zweifelsfall über fehlende Formalien hinweg. Der Professor für Kunstgeschichte Wilhelm Worringer war solch ein Fall. Ebenso Theodor Litt, Professor für Philosophie und Pädagogik, und der schon genannte Theologe Friedrich Gogarten. Der Erste wurde aus seinem Journalistendasein heraus berufen, Litt amtierte als Oberlehrer und Gogarten als Landpfarrer 126 . Geistige Qualitäten standen ungeachtet des politischen Standpunktes in hohem Ansehen. Eine der ersten Amtshandlungen war der Ruf Martin Heideggers auf den lange verwaisten Lehrstuhl von Ernst Troeltsch. Heidegger stand in der geistigen Nachfolge Edmund Husserls und war schon deshalb interessant. Der „Abend" meinte hierzu, der Ruf nach Heidegger sei eine „kühne, ja im wissenschaftlichen Sinne eine revolutionäre Tat unseres neuen Kultusministers" 127 und die „Vossische Zeitung" schrieb, die überraschende und erfreuliche Berufung sei eine „Tat des neues Kultusministers, die von Willen zu rein geistig-sachlicher Zielsetzung und von Unabhängigkeit" zeuge128. Allein, der Philosoph kam nicht. Umgekehrt duldete er bei Dozenten mit unbestrittenem Sachverstand keine politische Unsicherheit. Von der Pädagogischen Akademie in Frankfurt am Main versetzte er einen Professor nach Dortmund, weil jener eine Rede vor Studenten mit den Worten beschlossen hatte: „Heil dem dritten Reich". Der Professor beteuerte zwar, der Ausspruch sei nicht politisch gemeint, doch half es nichts. Der „wiederholte Gebrauch eines im politischen Tageskampf unmissverständlich gegen den jetzigen Staat verwende122 123 124 125

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Gogarten und Wünsch studierten beide bei Ernst Troeltsch in Berlin. Georg Wünsch an Grimme vom 2. Juli 1930, Marburg, N1 Grimme, N r . 2791. Brief an C . H . Becker vom 20. November 1931, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 45. Paul Piechowski an Grimme vom 10. März 1931. Mit diesem Brief leitete Piechowski das Schreiben Aners an Grimme weiter, N1 Grimme, N r . 2228. Brief an Paul Luchtenberg v o m 11. Juni 1957, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 182. Der „ A b e n d " vom 28. März 1930, N l Grimme, N r . 1089. „Vossische Zeitung" vom 28. März 1930, N l Grimme, N r . 1089.

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ten Wortes" stelle einen Verstoß gegen die Amtspflicht dar. Als Staatsbeamter und Erzieher sei er doppelt veranlasst, keine derartigen Symbolworte zu gebrauchen129. Die Absicht war nicht, um jeden Preis Sozialdemokraten in Ämtern zu bringen. Zum Direktor des gesamten Volksschul- und Mittelschulwesens im PSK Berlin-Brandenburg beförderte er nicht den Sozialdemokraten König, sondern den demokratischen Oberregierungsrat Erich Kummerow. Diese Personalie besaß Brisanz, da König der Gegenkandidat auf das Amt des Ministers selbst gewesen und ihm der Direktorposten kurz zuvor von Becker übertragen worden war130. Erst als König die Vizepräsidentschaft des PSK Berlin-Brandenburg erhielt, kehrte Friede ein. Zum ersten Mal in der mehr als hundertjährigen Geschichte der PSK trat ein Volksschullehrer an die Spitze dieser Behörde. Von einer sozialistischen Beförderungswelle kann man gleichwohl nicht sprechen. Walther Lande tadelte, Grimme befördere nur Freunde131. Ein Brief seines Freundes Otto Koch scheint das auf den ersten Blick zu stützen. Er wisse wohl, dass nicht der Verdacht aufkommen dürfe, nur enge Vertraute würden mit verantwortungsvollen Positionen versorgt. „Nachdem", meuterte Koch, „alle anderen trotzdem befördert worden"" seien, stelle er nun schon seit Jahren das „Gegenbeispiel des nicht beförderten Freundes" 132 . Die Bekanntschaft bestand seit 1919. Koch war religiöser Sozialist und ging mit einigem Abstand in den Fußstapfen des Freundes. Aus Hannover gelangte er Ende der zwanziger Jahre an das PSK Magdeburg. Als Grimme zum Kultusminister aufstieg, hoffte er auf die Vizepräsidentschaft des PSK. Doch schlug dieser den Gefallen aus. Seine Referenten hätten ihm einhellig zu verstehen gegeben, dass die „Verhältnisse im PSK Magdeburg eine Lösung in meinem Sinne" ein „äußerst fragwürdiges" Endergebnis erbrächte und statt Koch den Kandidaten Lamla vorgeschlagen133. Die Vizepräsidentschaft im PSK Schleswig bekam er ebenso wenig, erhielt jedoch bei gesteigertem Gehalt eine Stelle in Berlin. Die Macht des Kultusministers genügte ohnehin nicht, um die Vizepräsidenten zu besetzen. Der Minister besaß lediglich Vorschlagsrecht. Bestätigt wurden die Kandidaten durch Kabinettsbeschluss. Dass aus reiner Freundschaft jemand einen Posten erhielt, wird deshalb kaum nachzuwei-

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Amtl. Preuß. Pressedienst vom 12. August 1931, Nl Grimme, Nr. 1068. „Volksblatt für Spandau" vom 6. März 1930, Nl Grimme, Nr. 3428. Dies schrieb Grimme jedenfalls an Otto Koch vor dem 24. Februar 1932. Möglicherweise benutzte er Lande, um Ansprüche zu dämpfen. Otto Koch an Grimme vom 24. Februar 1932, Nl Grimme, Nr. 2785. Otto Koch an Grimme vom 24. Februar 1932, Nl Grimme, Nr. 2785. Brief an Otto Koch vom 23. Februar 1932, Nl Grimme, Nr. 2785.

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sen sein. Eine solche Praxis konnte er sich bei seiner schwachen Position innerhalb des Kabinetts nicht erlauben. Vielleicht hätte auf unteren Ebenen die Möglichkeit bestanden, überzeugte Sozialdemokraten und politische Kämpfer zu befestigen. Nur meinte er, bei der fachlichen Kompetenz keine Abstriche machen zu dürfen. Grzesinski hatte einen ehemaligen Kanzleiassistenten empfohlen und gebeten, diesen im Kultusministerium anzustellen. Der Kandidat sei aus politischen Gründen am weiteren Fortkommen gehindert worden. Grimme prüfte die Akten, kam aber zu dem Schluss, dass der Kandidat nicht angestellt werden könne. Die Leistungen des Empfohlenen seien doch „betrüblich unerfreulich". Es liege in diesem Fall also „nun einmal nachprüfbar so, dass ihm nicht aus seiner politischen Gesinnung ein Strick gedreht" wurde134. Wo sich Sachverstand mit Freundschaft verband, setzte er sich mit Vorliebe ein. Ein solcher Fall lag vor mit dem Eintritt Adam Kuckhoffs in das Amt des Chefdramaturgen am Staatstheater Berlin, den er gegen den Konkurrenten Legal unterstützte. Der Freund aus Hallenser Tagen war über Jahre aus dem Blickfeld verschwunden. Wie berichtet, hatte Kuckhoff 1928 den Kontakt gesucht, als er die Zeitschrift „Tat" herausgab. Die Freundschaft belebte sich von neuem135. Kuckhoff beabsichtigte als Dramaturg, das „wahre deutsche Nationaltheater" zu gründen. Mit dem Aufkommen des Tonfilms könne endlich die „Vergnügungsfunktion" vom Theater gelöst werden. Wie Max Reinhardt hoffte er, dass der Film dem Startum am Theater ein Ende bereiten würde und dies den Aufbau von erstklassigen Ensembles ermögliche136. Spätestens nach dem Juli 1932 gehörte Kuckhoff zum engeren Freundeskreis. Seinen Amtsvorgänger C. H. Becker hätte er gern mit einem ehrenvollen Amt versorgt. Becker hatte seinem Nachfolger die „Exponentenrede" vor dem Landtag nicht verübelt. Im Prinzip stimmte er dem Gedanken zu, dass ohne den Rückhalt einer Partei keine durchschlagende Politik möglich sei. Auch rückblickend sah er allerdings keine Partei, der er sich hätte anschließen können, „ohne aus dem Stil zu fallen" 137 . Er habe sich deshalb auch nicht gewundert, dass seine Zeit zu Ende sei. Zwar hätte er seinen Abgang gern noch „einige Jahre hinausgezögert. Doch sei schon erstaunlich, wie lange er überdauert habe. „Ein Grimme wird nun dafür sorgen müssen, dass, bis einmal ein König, ein sozialistischer oder volksparteilicher kommt, all das gefestigt wird, was ich begonnen habe."

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Brief an Grzesinski vom 15. Juli 1932, N1 Grimme, Nr. 1622. Schriftwechsel in N1 Grimme, Nr. 2790. Adam Kuckhoff an Grimme vom 21. September 1930, N1 Grimme, Nr. 2790. Becker an Grimme vom 12. Februar 1930, Nl Grimme, Nr. 930.

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Hatte Becker vergessen, dass er einen Sozialdemokraten als Nachfolger vorgeschlagen hatte? Offenbar kam es ihm nicht in den Sinn, seinen ehemaligen Referenten für einen Sozialisten zu halten. Tatsächlich blieb das Gesamtwerk zunächst unberührt, wenn man von der Marotte der religiösen Sozialisten auf Lehrstühlen und finanzbedingten Eingriffen einmal absieht. Braun hatte nach einem Kandidaten gesucht, der die Kultuspolitik fortsetze. Der Designierte war schon aus Dankbarkeit zu bedachtsamem Umgang mit dem Erbe verpflichtet. Denn nicht den Sozialdemokraten verdankte sich der Ministerposten, sondern dem Vorgänger. So war die Amtsführung nicht nur eingeschränkt durch fehlende Finanzen und politische Rücksicht auf die Partei. Weder die Öffentlichkeit durfte beunruhigt werden, noch Becker. Der Mangel an Souveränität, der einem Unbekannten ohnehin als Problem anhängt, verstärkte die Pflicht zu Dankbarkeit und Rücksicht. Der Nachfolger beabsichtigte, Becker die Präsidentschaft der Kaiser Wilhelm Gesellschaft zu übertragen. Mit dem Tode Harnacks war diese herausragende Position der deutschen Wissenschaften neu zu besetzen. Sondierung beim Reichsinnenminister Wirth 138 waren ebenso viel versprechend wie die Resonanz des Parteivorstandes 139 und des Ministerpräsidenten140. Braun sah in ihm einen idealen Kandidaten, durch dessen persönliches Prestige sich außerdem sachlich ungeeignete oder kulturpolitisch bedenkliche Gegenkandidaten verhindern ließen. Harnack hatte ein Jahr zuvor darauf hingewiesen, dass Becker wegen seiner Eingriffe in die Etatgestalt und seiner Kritik an der politischen Position der Gesellschaft nicht auf den Wahlsieg hoffen durfte. Das sah Becker ähnlich und lehnte weiteres Bemühen ab. Nach dem Rücktritt vom Amt war er zu einer längeren Forschungsreise nach China aufgebrochen und sandte in unregelmäßigen Abständen Postkarten aus Honolulu, Grand Canyon, Budapest und Palermo, aus Genf und Marienbad. Die übernommene Professur befriedige ihn beruflich zurzeit vollkommen und er sei frei von „politischen Begehrlichkeiten nach irgendeiner Seite hin". Das Angebot eines Reichstagsmandates vom Vorsitzenden der DDP, Koch-Weser141, habe er sofort abgelehnt142.

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Joseph Wirth (1879-1956), Zentrumspolitiker, 1920-21 Reichsfinanzminister, 1 9 2 1 22 Reichskanzler, 1930/31 Reichsinnenminister, 1933 erst nach Frankreich, dann in die Schweiz emigriert. Brief an Hilferding vom 3. Juli 1930, N1 Grimme, Nr. 932. Brief an Wirth vom 16. Juni 1930, N1 Grimme, Nr. 932. Erich Koch-Weser (1875-1944), Oberbürgermeister von Kassel, 1919-30 MdR (DDP). 1924-30 Vorsitzender der DDP, 1919-21 Reichsinnen-, 1928-29 Reichsjustizminister. Becker an Grimme vom 28. Juli 1930, Nl Grimme, Nr. 930.

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Die vermittelnden Eigenschaften Beckers für die Republik weiterhin nutzbar zu halten, scheiterte zum Bedauern von Braun und Grimme am Unwillen des Kandidaten. Es war ein bedrohliches Zeichen, dass sich ein Mann wie er aus der Politik zurückzog. Sein Verhalten verdeutlicht das Dilemma, in der sich der Nachfolger befand. Das Aufbauwerk blieb zum überwiegenden Teil auf die Mitarbeit republikfeindlicher Kräfte angewiesen. Während sozialistischer Nachwuchs nicht im ausreichenden Maß zu Gebot stand und gleichgültige Lehrkräfte unbeteiligt verfolgten, wie sich die Studentenschaft politisch radikalisierte, baute die nationalsozialistische Studentenschaft viel entschiedener ihre Positionen aus. Die Personalpolitik bestand im Sinne Beckers fort und räumte der fachlichen Qualifikation bedingten Vorrang ein. Die antirepublikanischen Kräfte nahmen auf die Qualifikation nicht die gleiche Rücksicht, obschon das Reservoir an geeigneten Kräften ungleich größer war. Wenn auch keine Rede davon sein kann, dass die Professorenschaft in tieferem Sinne nationalsozialistisch war, so bildeten sie für den weiteren Aufstieg der radikalen Rechten zumindest kein Hindernis. In politischer Neutralität lag kein ausreichender Grund, Professoren auszutauschen. Es scheint, als habe Grimme das Mögliche versucht, indem er besonders in den juristischen Fakultäten Eingriffe vornahm. Die Versäumnisse der vergangenen Dekade konnte er aber nicht mit einem Federstrich ausgleichen. Es ist nicht klar erkannt worden, dass die politische Mitte nicht mehr im republikanischen Lager stand. Der überwältigende Erfolg der nationalsozialistischen Studentenschaft ließ erkennen, wohin die Hochschulen trieben. Dennoch hätte er mit einer streng politischen Personalpolitik in Hochschulkreisen sein Ansehen aufs Spiel gesetzt und wäre vermutlich nicht im Amt zu halten gewesen. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass er seinen Ruf zusätzlich riskierte, indem er religiöse Sozialisten an theologischen Fakultäten durchsetzte, obwohl er von keiner Seite Rückhalt zu erwarten hatte. Hierin lag ein persönliches Moment seiner Politik, die nicht dazu angetan war, den republikanischen Einfluss zu fördern.

7. Kunst und Künstler Braun hat den Wechsel von Becker zu Grimme später als Fehler betrachtet. „Dieser Ministerwechsel hatte für mich", schrieb er, „doch einen etwas bitteren Nachgeschmack. Durch die politische Entwicklung war er zwangsläufig unvermeidlich geworden; politisch-psychologisch war er ein Fehler, der dem demokratischen-republikanischen Gedanken in geistig einflussreichen Kreisen Abbruch getan hat, was auch durch die Befriedung, die er in

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manchen Schulkreisen auslöste, nicht hinreichend aufgewogen wurde" 143 . Zu den von Braun genannten „geistig einflussreichen Kreisen" gehörten jene Künstler, die beim Abgang Beckers großen Protest losgeschlagen hatten144. Thomas Mann zählte zu ihnen; ebenso Gerhart Hauptmann. Mithin also mindestens zwei, die sich als Wiedergänger Goethes fühlten und wünschten, entsprechend behandelt zu werden145. Aber auch so unterschiedliche Naturen wie Nolde, Kollwitz, Döblin und der alte Max Liebermann hatten den Abgang des Ministers bedauert und beobachteten nun misstrauisch die ersten Wochen des neuen. Die Kultuspolitik war längst zum Objekt des Parteienzanks geworden. Grimme konnte gar nicht anders, als durch den Eintritt für eine bestimmte Kunstauffassung gleichzeitig ein politisches Bekenntnis abzuliefern. Daraus folgte beinahe zwangsläufig die Gegnerschaft der politischen Opposition. Besonders zeigte sich dies an kriegskritischen Kunstwerken oder dem Gesellschaftstheater, wie Berthold Brecht es betrieb. Hinzu kam die Schwierigkeit, dass die Finanzlage des Staates zum Schließen einiger Häuser zwang. Diese Maßnahmen waren kaum geeignet, die Popularität in Künstlerkreisen zu steigern. Dennoch gelang es, den Respekt eines Teils der Künstlerschaft zu erlangen und sie zum Teil sogar in den Kampf gegen den politischen Radikalismus an seine Seite zu bringen. Nach den ersten Auftritten wusste jeder, dass in den kommenden Jahren mit einer finanziellen Dürre in der Kulturwelt zu rechnen war. Das neue Pergamonmuseum konnte als letzte Grußbotschaft einer besseren Zeit im Jahr 1930 eröffnet werden. Zu diesem Anlass versammelten sich die angesehensten Mitarbeiter der Berliner Museen, Universitäten und Hochschulen146. Ein Redner nach dem anderen pries die Wichtigkeit der Kunst für die Gesellschaft und forderte in Anbetracht des neuen Museums das Aufstocken der Berliner Sammlungen. Gleich zu Beginn seiner Rede verwies Grimme die Vorschläge und Pläne der Vorredner in den Bereich des Unmöglichen 147 , denn der Winter werde wahrscheinlich vier Millionen Arbeitslose bringen. Solange die Museen kein anderes Ziel sehen als sammeln und sammeln, könne es der Staat nicht länger verantworten, Geld für sie

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O t t o Braun (1940), hier zitiert nach Wende, Becker (wie Kap. 3 Anm. 56), S. 299.

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Eine Sammelakte der Beschwerdebriefe befindet sich im Nl Becker.

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In einem Brief an Josef Winckler vom 5. Juli 1961, Degerndorf, schrieb Grimme: „Gerhart Hauptmann ζ. B. feierte seinen 70sten sogar fast ein volles Jahr, zuletzt noch in Amerika, w o er damals - es war 1932 - (wie er mir erklärte:) >Goethe vertreten< musste", in: Sauberzweig (1967), S. 267.

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„Die Weltbühne" vom 14. Oktober 1930, S. 584. Ansprache „Museumspflege im Volksstaat", Hundertjahrfeier der Museen in Berlin am 1. Oktober 1930, abgedruckt in: Adolf Grimme: Das neue Volk - der neue Staat Sieben Ansprachen, Berlin 1932, S. 2 9 ff.

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auszuwerfen. Dem Volk gegenüber sei es nicht zu rechtfertigen, Geld für Kunst auszugeben, wenn es nur um den Wert der Kunst selbst ginge. Kunst sei ein Instrument, um die „Sehnsucht der Massen zu befriedigen, teilhaben zu können an der Welt des Geistes und der Werke". Kunst solle die „geistige Volkwerdung" fördern 148 . Ahnliche Vorträge ließ er folgen. In einem Rundfunkvortrag mit dem Titel „Kultur in Not" empfahl er im Januar 1932, das Kulturinstitutionelle nicht überzubewerten. Das Kulturelle liege in einem seelisch-geistigen Verhältnis und lasse sich im Institutionellen nicht restlos auffangen. Die Sparzwänge könnten zur Tugend werden, wenn sie zum Wesenhaften zurückdrängten149. Er stellte in Aussicht, dass im Jahr 1932 zwei Drittel der preußischen Staatstheater geschlossen würden. Die Finanzlage ließ keinen weiteren Betrieb zu. Die Zuschüsse für die staatlichen Museen seien von sechs Millionen im Jahre 1913 über vier Millionen im Jahre 1929 auf drei Millionen im Jahre 1932 zusammengeschmolzen. Zuschüsse für Volksbüchereien, Volkshochschulen und ähnliches entfielen. Das private Mäzenatentum sei fast vollständig zum Erliegen gekommen. Durch die Arbeitslosigkeit seien Millionen Menschen von der Kultur abgeschnitten150. Das hier skizzierte Kunstverständnis fand sich bald in der Praxis auf die Probe gestellt. Im Jahre 1912 hatte die deutsche Orientgesellschaft im ägyptischen El Amarna eine weibliche Portraitbüste ausgegraben, die fortan im Berliner Neuen Museum ausgestellt war: die Nofretete. Die ägyptische Regierung bot 1930 der deutschen Reichsregierung eine Anzahl wertvollster Skulpturen zum Tausch gegen die Nofretete an. Der Plan wurde in der Öffentlichkeit ruchbar, als der Berliner Mäzen James Simon in einem offenen Brief den Tausch befürwortete. Simons Wort besaß insofern Gewicht, als seine finanzielle Freigebigkeit die Ausgrabungen in Ägypten erst ermöglicht hatte. Die angebotenen Gegenstände, so Simon, seien künstlerisch weit wertvoller als die Nofretetebüste. Allein das Standbild Ranofer wöge den Verlust auf. Dieses Standbild könne nur mit vier oder fünf anderen verglichen werden, die sich alle in Ägypten befänden. Der hockende Schreiber im Louvre und der Dorfschulze in Kairo müssten geringer als der Ranofer eingeschätzt werden, da sie unter Lebensgröße seien. Dem Geschmack des Publikums dürfe bei einem solch günstigen Angebot nicht allzu viel Rücksicht eingeräumt werden151.

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„Die Weltbühne" vom 14. Oktober 1930. S. 584. Vortrag „Kultur in Not", gehalten am 10. Januar 1932. Siehe Notizen in N1 Grimme, Nr. 398, abgedruckt in: Zentralblatt (1932), S. 46f. Notizen N1 Grimme, Nr. 1067. James Simon und der Leiter der ägyptischen Sammlung Berlin, Schäfer, an Grimme, in N1 Grimme, Nr. 759.

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Die Einwohnerschaft Berlins zeigte sich über den Vorschlag entsetzt. Sie bekundete ihre Sympathie für die Büste, indem sie hundertfach Blumen und Kränze niederlegte. Grimme antwortete Simon in einem offenen Gegenbrief. Er bedauerte, gerade in dieser Angelegenheit mit ihm nicht übereinzustimmen. Die Kenner mögen sich davor hüten, ein Kunstwerk geringer einzustufen, weil es für das Publikum auf den ersten Blick ansprechend und verständlich ist152. An den Generaldirektor der Staatlichen Museen, Waetzold, schrieb er, die Plastik solle Deutschland erhalten bleiben. Gegen den Rat der Fachleute und ohne den Kunstwert der Berliner Sammlung in Betracht zu ziehen, nahm er für das Publikum Partei. Hitler hat sich später diese Argumentation zu eigen gemacht. Mit dem Regierungswechsel trat die ägyptische Regierung nämlich erneut an die deutschen Museumsleiter heran. Hitler meinte den vorgeschlagenen Tausch nicht annehmen zu können, weil die Nofretete ein Liebling des deutschen Publikums geworden sei153. 1954 schlug die ägyptische Regierung noch einmal einen Tausch vor. Diesmal allerdings zu sehr viel ungünstigeren Konditionen. Das Tauschobjekt sollte der Marschallsstab des Feldmarschalls von Brauchitsch sein154. Das Antikriegsbuch „Im Westen nichts Neues" von Remarque hatte bei Erscheinen einen Skandal ausgelöst. Die konservative Öffentlichkeit sah die Ehre der Armee verletzt. Als Ende 1930 der Film zum Buch in die Kinos kam, kochte die Atmosphäre erneut hoch. Das Reichswehrministerium trat gegen den Film auf - zum Schutze der Ehre und des Ansehens der alten Armee, wie es hieß. Der Kyffhäuserbund sprach im Namen seiner drei Millionen ehemaliger Soldaten in einem offenen Brief Groener seinen Dank aus und erwartete, dass nunmehr endlich auch das Buch aus den Schulbüchereien entfernt würde. Dem Reichswehrministerium riet der Bund, seinen ganzen Einfluss gegen die Auffassung des Preußischen Kultusministers geltend zu machen. Dieser betrachtete das Buch Remarques als ein vorzügliches Unterrichtsbuch für die deutsche Jugend 155 . Der Schriftleiter der „Vossischen Zeitung" unterstützte Grimme und fand, dass die Republik der „Remarque-Hetze mit allen Mitteln entgegenwirken sollte" 156 . Nationalsozialisten schüchterten Kinobesucher im Dunkel der Vorführung

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Offener Brief Grimmes in: „Berliner Tageblatt" vom 28. Juni 1930, N1 Grimme, Nr. 759. Arnold Brecht: Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen zweite Hälfte. 19271967, Stuttgart 1967, S. 275f (weiterhin zit.: Brecht, Kraft des Geistes). „FAZ" vom 20. Februar 1954. „Berliner Börsenzeitung" vom 13. Dezember 1930, N1 Grimme, Nr. 1048. Schreiben abgedruckt in der „Deutschen Zeitung" vom 14. März 1931, N1 Grimme, Nr. 1048.

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mit allerlei Tricks ein. Stinkbomben und losgelassene Mäuse gehörten dazu. Die Filmoberprüfstelle verbot schließlich den Film157. Direkt im Anschluss an dieses Verbot reichte der Leiter der Bildstelle, Lampe, seinen Rücktritt ein. Sofort trat Reichswehrminister Groener an den Innenminister heran und erklärte den Rücktritt als unerwünscht. Ihm sei bekannt, dass „Lampe des Öfteren in der Presse vor allem wegen seiner Urteile über militärische Filme angegriffen wurde". Es wäre aber sehr bedauerlich, falls diese Presseangriffe für das Rücktrittsgesuch entscheidend seien. Groener drängte darauf, Lampe entweder wieder einzusetzen, oder aber durch eine dem „Wehr- und Staatsgedanken" verständnisvoll gegenüber stehende Person zu ersetzen. Er erwarte, dass der neue Leiter „keinesfalls aus dem Kreise der zur Genüge bekannten pazifistisch und wehrfeindlich eingestellten, parteipolitisch abhängigen Persönlichkeiten ausgewählt wird" 158 . Der Wehrminister fand es „unerträglichen", dass „ausgesprochen kulturbolschewistische" Filmwerke von staatlicher Seite Steuererleichterung erhalten, weil sie angeblich künstlerische oder volksbildende Qualitäten besäßen. Auch der Film „Im Westen nichts Neues" hätte, so seine Befürchtung, ein Prädikat erhalten, wenn er nicht mittlerweile verboten wäre. Die „Deutsche Zeitung" kritisierte, dass unter dem Generalintendanten und Theaterreferenten Tietjen die Krolloper und das Schillertheater geschlossen wurden, was freilich nicht jenem, sondern dem Preußischen Landtages anzulasten war, der aus finanziellen Notwendigkeiten immer neue Sparmaßnahmen anordnete 159 . Die allernächste Zukunft der Theater konnte niemand absehen160. Die Staatsoper am Platz der Republik sah mit dem Auslaufen der Spielzeit des Jahres 1931 ihrem Ende entgegen. Die staatliche Schauspielschule schloss ihre Tore161 und die Beamten an den Staatstheatern in Wiesbaden und Kassel verpflichtete Grimme im Mai 1932, im Kommunaldienst Amter zu übernehmen 162 . Das Berliner Staatstheater, die „bedeutendste Staatsbühne des Reiches", wie die „Deutsche Zeitung" meinte, hielt sich und sorgte mit seinem Betrieb für einen weiteren Eklat. Brechts Stück „Mann ist Mann" musste dort nach vierzehn Tagen wegen andauernder Tumulte abgesetzt werden und der Intendant des Staatsthea-

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Brecht, Kraft des Geistes, S. 142. Groener an Wirth vom 29. Dezember 1930, Berlin, N1 Severing, Nr. 180. Bl. 7 ff. Zur Schließung der Krolloper und dem Schillertheater: PrLT, 3. W P (1928/30), Sp. 1647 f. Brief an Stefan Grossmann vom 11. Dezember 1931, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 46. Zur Schließung der Schauspielschule: PrLT, 3. W P (1928/30), Sp. 21358. Zur Schließung der Staatsoper, ebd., Sp. 19608. Erlass N r . 232 vom 24. Mai 1932, Zentralblatt (1932), S. 194.

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ters, Legal, seinen Hut nehmen 163 . Grimme interessierte sich für dieses Theater im Besonderen, da sein Freund Adam Kuckhoff den Posten des Dramaturgen bekleidete 164 . D e m Theater insgesamt wies er die allgemeine Aufgabe zu, die Idee eines Dichters durchzusetzen. D a jeder Staat seinem Wesen nach den „erreichten Stand der geschichtlichen Entwicklung zu konservieren" trachte, gerieten Staat und revolutionäre Kunst zwangsläufig in ein Spannungsverhältnis. Der Staat müsse die „selbstsichere Kraft und die moralische Größe aufbringen, ein Hort der Freiheit für die Kunst zu sein, ein Hort der Freiheit auch der Kunst, die diesem Staate selbst ins Gewissen redet und ihm einen Spiegel vorhält, der kein Adonisbild zurückwirft" 1 6 5 . Die Künstler der Weimarer Republik neigten dazu, ihre Kunstauffassungen in Schulen zum Ausdruck zu bringen. In der Hauptstadt nannte sich eine gegen die akademischen Lehrformen gewandte Gruppe von Malern „Berliner Sezession". Die Mitgliederschaft setzte sich vor allem aus Männern zusammen. Vielleicht deshalb entsandte die Gruppe aus ihrem Vorstand eine Frau zu dem Bankett, das zu Ehren des neuen Kultusministers abgehalten wurde. Charlotte Berend-Corinth erhielt die Rolle der Tischdame Grimmes. Sie befürchtete einen langweiligen Abend, da sie einige Tage zuvor seine formelle Amtsantrittsrede in der Akademie der Künste mit angehört hatte. Doch es zeigte sich, dass der Minister „unprätentiös und einfach" sprach. „Er war geistreich und warmherzig, er verstand die Künstler, er war einer von uns" 1 6 6 . A m Ende dieser „Plauderei" forderte er die Künstlerin auf: „ N u n bringen sie mal alles das, was wir soeben sprachen, auf einen Nenner". Er betrieb Kultuspolitik als Bildungspolitik und sah in ihr eine wichtige Gegenmacht zum Staat. Den Pädagogen in sich konnte er nicht zurückdrängen. Der Privatmann stand hinter dem Lehrer und wird nur in Ansätzen erkennbar. Er saß Behrend-Corinth nach diesem Gespräch Modell für ein Portrait. Als in jenen Wochen sein Sohn tödlich verunglückte, erschien er wenige Tage später im Atelier der Künstlerin und bat, das Bild fertigzustellen. Eine ungeheure Kraft zum Verdrängen und Weiterleben spricht aus diesem Verhalten. Was war das für ein Mensch, der in dieser Situation nicht zusammenbrach? Pflicht und Dienst gehörten zu seinem Ethos wie die Uberzeugung, einer höheren Sache zu dienen und sich selbst zurück-

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„Deutsche Zeitung" vom 3. März 1932, N l Grimme, N r . 1087. „Vorwärts" vom 6. März 1932, N l Grimme, N r . 1086. Rede bei der Volksbühne Berlin, 21. September 1930, abgedruckt bei Seiters, S. 137f. Erstdruck in: Das neue Volk - Der neue Staat, Berlin 1932. S. 27 ff. Charlotte Berend-Corinth in: Oschilewski, Sorgendes Dasein (wie Einleitung, Anm. 8), S. 15 ff.

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stellen zu müssen. Zu Hause gelang es nicht leicht, die öffentliche Rolle abzulegen. Seine Vorliebe für Künstler wie Nolde, Kollwitz und Brecht deutet an, dass sein Geschmack sich Künstlern zuneigte, die avantgardistisch arbeiteten, die ihrer politischen Gesinnung nach sozialistisch und pazifistisch waren. Es entsprach seiner Überzeugung, dass Kunst politisch zu sein habe, dass andererseits die Politik der Kunst keine Grenzen setzen dürfe. Sein Einsatz für „Im Westen nichts Neues" folgte seinem Toleranzverständnis ebenso wie seiner politischen Gesinnung. Kunst hatte zu experimentieren, die Gesellschaft zu reflektieren und voranzubringen. Bei der jüngeren Künstlergeneration brachte ihm sein Einsatz Respekt. „Es ist doch ein Zusammengehörigkeitsgefühl, da für die Menschen >von vorherc" 1 6 7 , schrieb ihm Käthe Kollwitz 1938. Um die anerkannten Traditionalisten bemühte er sich deshalb nicht weniger. Satzungswidrig verlängerte er die Präsidentschaft Liebermanns bei der Akademie der Künste und überredete Otto Braun, der als besonders scheu galt, zum Portraitsitzen. Zumindest versuchte er, Künstler und Intellektuelle für die republikanische Sache zu gewinnen und den Schaden, der durch Beckers Abgang entstand, möglichst gering zu halten. Einzelne bezog er in unmittelbar ein. Persönlichkeiten wie Gerhart Hauptmann schienen ihm als Vermittler zwischen den politischen Parteien geeignet, da alle Seiten sie gleichermaßen anerkannten. Die rechtsradikale „Allgemeinen Studentenschaft" hatte den Dichter um einen Vortrag gebeten. Hauptmann wollte von Grimme wissen, ob die Annahme einer solchen Einladung ratsam wäre. Dieser riet zu168. Zwar treffe es zu, schrieb er, dass die „Allgemeine Studentenschaft" in der Richtung ihres Handelns vom „braunen Hause" 169 her bestimmt werde. „Aber ich möchte meinen, das alles liegt auf einer ganz anderen Ebene als die ist, die ein Dichter zur Basis seiner Entschlüsse machen wird, wenn eine solche oder irgendeine Gruppe ihn einlädt. Sicher: er muss wissen mit wem er es zu tun hat, aber doch ebenso sicher nur, damit er weiß, was gerade an dieser Stelle zu sagen nötig ist. Wenn eine Gruppe Sie einlädt, liegt doch wohl schon in der bloßen Tatsache der Einladung ein gewisses Bekenntnis, ein Bekenntnis der Gruppe zu dem Eingeladenen, keineswegs darum auch umgekehrt ein Bekenntnis des Eingeladenen zu der Gesamtheit der Ziele dieser Gruppe: das normgebende Prinzip in einem solchen Verhältnis liegt

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Käthe Kollwitz an Grimme vom 5. August 1938, Nl Grimme, Nr. 2810. Brief an Gerhart Hauptmann vom 17. November 1932, Berlin, Nl Grimme, Nr. 2838. Die Parteizentrale der NSDAP in der Münchener Brienner Straße, wo sie sich seit Januar 1931 befand, wurde als das „Braune Haus" bezeichnet.

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in dem, den man anruft, und der, der ruft, bringt damit seine Zustimmung zu dem fast einzigen Überbrückungskredit für die Gesamtheit des Volkes zum Ausdruck, den wir noch besitzen, zum Repräsentanten des Geistes in der Nation." Der geistige Deutsche bilde die einzige noch vorhandene Brücke zwischen den unvereinbaren Gruppen. Der Künstler dürfe radikaler sprechen als der Politiker, „denn ihm ist es gegeben, an Schichten der menschlichen Seele zu rühren, denen die Welt der Kompromisse noch fremd ist und in denen sich die eigentlichen Wandlungen der Geschichte vollziehen und die großen und letzten Entscheidungen des Schicksals vorbereiten: in der Gesinnung. Und an diese Schichten im Menschen zu rühren, ist das, verehrter Herr Gerhart Hauptmann, nicht gerade die metaphysische Sendung des geheimen Politikers in jedem Dichter? Aus dieser hohen, ja heiligen Verantwortung heraus, die Ihnen Ihr Amt als deutscher Dichter auferlegt, hätten Sie, wenn anders meine Auffassung von der nationalpolitischen Mission des Dichters in dieser Welt der Unergiebigkeit und des Haders richtig ist, gar nicht anders als zusagen können, auch wenn Sie sofort gewusst hätten, dass die >Allgemeine Studentenschaft< nur den rechtsradikalen Teil der akademischen Jugend umfasst." Kann diese Sicht überzeugen? Die nationalsozialistische Studentenschaft trug die völkische Weltanschauung in besonderem Maße mit. Gerade unter ihnen fanden sich viele Fanatiker, auf deren Überzeugung niemand mehr Zugriff besaß. Die „Allgemeine Studentenschaft" wollte sich von Hauptmann nicht belehren lassen. Sie wollten den Namen des Dichters, der für besonders „national" galt, mit ihrer Bewegung verbinden. Ist es vorstellbar, dass eine geistige Autorität wie Hauptmann, die Gefühle dieser Studenten erreichen konnte? Kann derselbe Mensch Hitler und Hauptmann verehren? Doch nur, wenn er einen von beiden nicht versteht. Die Annahme, Hauptmann könne die jungen Nationalsozialisten beeinflussen, war zumindest optimistisch. Das Risiko seines Ratschlags lag auf der Hand. Hinterher konnten die Studenten sagen: Er war bei uns und hat uns anerkannt. Einen höheren Effekt hätte die Absage des Dichters erzielt, verbunden mit einem Auftritt vor einer republikanischen Studentenschaft. Vorstellbar wäre immerhin, Hauptmann oder einen klugen Philologen vor Schüler und Studenten treten zu lassen, um etwa Hitlers „Mein Kampf" auseinanderzunehmen. Dass Hauptmann bei Grimme um Rat nachsuchte, ist um so bemerkenswerter, als der Brief auf den 17. November 1932 datierte. Einem Tag also, an dem bereits ein Reichskommissar das Kultusministerium versah. Seit dem 20. Juli 1932 gab es den preußischen Minister für Volksbildung, Wissenschaft und Kunst nurmehr als Schimäre. An jenem Tag hatte die Reichsregierung die Geschäfte Preußens an sich gerissen. Dem siebzehnten

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November vorausgegangen war der fünfzehnte, an dem Gerhart Hauptmann seinen siebzigsten Geburtstag feierte. Reichskanzler von Papen und der Reichsinnenminister Bracht luden Hauptmann am Abend zu einer staatlichen Feier, wo ihm Bracht die preußische Goldene Staatsmedaille überreichte. Schon am Vormittag hatte sich Grimme mit Arnold Brecht, der das Land Preußen vor dem Staatsgerichtshof vertrat, in das Hotel Adlon begeben, um eine Glückwunschadresse der „legitimen preußischen Staatsregierung" zu übergeben. Es werde Hauptmann, toasteten sie, auf den „Geist dieser Huldigung für seinen Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit mehr ankommen als auf das Große Staatssiegel", dass ihnen der Reichskommissar unrechtmäßig vorenthalte170. An das Siegel konnten sie nicht mehr gelangen, da es ihnen seit dem „Preußenschlag" untersagt blieb, ihre Diensträume zu nutzen. Das Telefonat Hauptmanns zwei Tage später zeigt, dass dieser Akt einen gewissen Eindruck hinterließ. Dass Grimme zu den „geistig einflussreichen Kreisen" keinen Zugang fand, kann also nur behauptet werden, wenn Liebermann, Kollwitz, Nolde, Brecht oder Hauptmann nicht zu diesen Kreisen gezählt werden. Und auch Thomas Mann müsste übergangen werden. Thomas Mann hatte sich in jenen Jahren nach langem Schwanken zu einem politischen Bekenntnis durchgerungen. Ein frühes Zeugnis für die Bereitschaft, die Sozialisten in ihrem Abwehrkampf gegen den Nationalsozialismus zu unterstützen, bot ein Beitrag Manns zu der von Otto Grautoff herausgegebenen Zeitschrift „Deutsch-Französische Rundschau". Für eine Ausgabe des Januar 1931 hatten sowohl Mann, als auch Grimme einen Artikel verfasst171. Die Ausgabe richtete sich insbesondere an das über die Vorkommnisse in Deutschland beunruhigte Ausland. Grimmes Beitrag bestand in einem Lagebericht, der einerseits den Fortbestand von Stresemanns Deutschland versprach, gleichzeitig aber davor warnte, die Gefahr der Flügelparteien zu unterschätzen. Die Ziele der Nationalsozialisten seien zwar unklar, verworren und nicht klar greifbar. Trotzdem gebe es das Anwachsen einer Stimmung, der „mit bloßer Vernunft nicht beizukommen" sei. Die Gefahrenquelle werde versiegen, meinte er, sobald sich die wirtschaftliche Lage bessere. Die Franzosen mögen vor dem Recht zu diesem Standpunkt nicht die Augen verschließen172. Die Einsicht lag vor: Vernunft reichte nicht. Der Gebrauch der Einsicht war freilich unzulänglich. Die wirtschaftliche Lage besserte sich nicht und das politische Gleichgewicht kippte weiter zugunsten der Nationalsozialis170 171 172

Brecht, Kraft des Geistes, S. 248. Otto Grautoff: (Hrsg.): Deutsch Französische Rundschau, Januar 1931. Adolf Grimme: Ist es mit dem Deutschland Stresemanns vorbei? Otto Grautoff, ebd.

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ten. Als am 20. Juli 1932 das rechtskonservative Kabinett um Papen die Macht übernahm, schien eine Kanzlerschaft Hitlers wahrscheinlicher als ein sozialdemokratischer Wahlgewinn. Am 17. Oktober 1930 sprach Thomas Mann in Berlin und warnte vor der aufsteigenden Gefahr des Nationalsozialismus. Der politische Platz des Bürgertums sei an der Seite der Sozialdemokratie 173 . Unter den Zuhörern im Beethovensaal befand sich der Kultusminister und erlebte, wie nationalsozialistische Randalierer den Vortrag störten. Das Bekenntnis Thomas Manns versuchte er für seine Zwecke auszumünzen. Er trug dem Dichter die Bitte vor, doch einmal vor dem Deutschen Studentenverband zu sprechen174, in dem sich die republikanischen Gruppen der Studierenden zusammengeschlossen hatten175. Thomas Mann lehnte ab. Ende 1932 bekleidete Grimme den Vorsitz des „Sozialistischen Kulturbundes" 176 ebenso wie den Vorsitz des parteioffiziellen „Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit" 177 . Diese Ehrenämter nutzte er statt des nur noch formal gehaltenen des Kultusministers, um Mann zu dessen Wiener Konfession zu gratulieren 178 . In Wien hatte jener am 22. Oktober 1932 vor Arbeitern gesprochen und sein Bekenntnis zum Sozialismus noch einmal erneuert. Gleichzeitig hatte er eine geistige Trennlinie zwischen Sozialismus und Marxismus gezogen, die keinesfalls zu überschreiten sei179. Es gab also Gemeinsamkeiten in der Uberzeugung und Anlass zu hoffen, gemeinsam gegen die radikalen Parteien auftreten zu können. Grimme lud Mann ein, zu Beginn des Jahres 1933 bei einer großen Kulturkundgebung

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Rede als „Deutsche Ansprachen. Ein Appell an die Vernunft", abgedruckt in: Stockholmer Gesamtausgabe, Reden und Aufsätze II, 1965, S. 6 1 - 8 2 . Brief an Thomas Mann vom 5. November 1930, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 40. Ihm gehörten unter anderem an: Der Reichsverband der deutschen ZentrumsStudenten, die Sozialistische Studentenschaft Deutschlands und Österreichs, der Reichsbund deutscher demokratischer Studenten, der Deutsche Republikanische Studentenbund, der Bund freiheitlicher wissenschaftlicher Vereinigungen, der Kartell-Konvent und die Verbindungen deutscher Studenten jüdischen Glaubens. Der Sozialistische Kulturbund war 1923 gegründet worden. Er war als Dachverband aller kulturell tätigen Verbände der Arbeiterbewegung gedacht. Der „Reichsausschuss f ü r sozialistische Bildungsarbeit" war eine Unterabteilung des SPD-Parteivorstandes. Er sollte die Arbeit der örtlichen Bildungsausschüsse koordinieren. Diese Ausschüsse existierten seit dem Mannheimer Parteitag 1906. Ihre Aufgabe bestand in theoretischer Erkenntnis und praktischer Anwendung des Sozialismus. Brief an Thomas Mann vom 8. November 1932, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 49f. Thomas Mann: Rede vor Arbeitern in Wien, in: Stockholmer Gesamtausgabe, Reden und Aufsätze II, 1965, S. 82 ff.

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an der Berliner Volksbühne mitzuwirken. Als Termine nannte er den 15. oder 22. Januar 1933. Mann hatte zugesagt und die gesamte Veranstaltung war mit ihm als Höhepunkt entworfen worden. Am 12. Januar zog er seine Teilnahme aus „gesundheitlichen Gründen" zurück 180 . Er bedauerte, dass er sich nun nicht persönlich erneut bekennen könne zur sozialen Republik und zu der Uberzeugung, dass der geistige Mensch bürgerlicher Herkunft heute auf die Seite des Arbeiters und der sozialen Demokratie gehöre181. Mann hatte sein Schreiben für den Februar 1933 so verfasst, dass an seiner Stelle Grimme die Worte verlesen konnte. Der Dichter erklärte es für unerlaubt, den Sozialismus als „unfromm, unheilig, materialistisch, als ein Wille zum Termitenglück" hinzustellen. „Wenn hier die philosophischmodischen Begriffe des Blutes, des Instinktes, des Triebes und der Gewalt eingesetzt werden gegen die angeblich abgetanen und abgestorbenen Gedanken der Freiheit und der Demokratie, so stellt jene verabscheuungswürdige Mischung aus Revolution und Reaktion sich her, die wir heute so vielfach am Werke sehen, der romantische Dienst am Vergangenen, der sich die Miene des Jugendlich-Zukünftigen gibt und dadurch verführerisch zu wirken versteht. Das ist es, wogegen mein Demokratismus sich empört, weil ich heruntergekommene und missbrauchte Geistigkeit darin sehe." Er fuhr fort, gegen „diese Naturrevolution" zu reden, die nicht so tun könne, als ob die im „achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert aufgestellten Forderungen der Humanität längst verwirklicht wären" und als ob man „Völkervereinigung und wirtschaftlich-politische Zusammenfassung" durch völkische Bindung und Nationalismus ersetzen dürfe. Zuzugeben sei: „Große Teile der Jungen zeigen sich stimmungsmäßig bereit, solche Gedankengänge anzunehmen. Aber sie sind ja falsch." „Die Bindung an Heimat, Scholle, Vaterland und Volkskultur ist eine natürliche Gegebenheit, die in diesem Sinne heilig und unzerstörbar bleibt." Die nationale Idee könne nicht mehr die „Führung, die Zukunft" für sich in Anspruch nehmen. Der Kampf des neunzehnten sei ausgefochten und nun komme es darauf an, „zu größeren

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Thomas Mann an Grimme vom 12. Januar 1933, München, N1 Grimme, Nr. 3414. Seit dem 11. Februar hielt der Dichter sich im Ausland auf. Nichts deutete darauf hin, dass die langen Jahre des Exils begonnen hatten. In seinem Tagebuch notierte er erst Monate später, dass ihm eine Rückkehr nach Deutschland nichf mehr empfohlen werde, da nun offenbar über seine politischen Äußerungen seit dem Jahre 1925 eine „genaue Kartothek geführt" werde und mit einer „wenn auch nur vorübergehenden Verhaftung zu rechnen wäre". „Leider wird immer noch weiter geforscht und verhandelt, was zu inhibieren ist, weil es die ganz falsche Auffassung hervorruft, als bemühte ich mich um Rückkehr, während nicht Furcht vor Verhaftung mich zurückhält, sondern Abscheu. Thomas Mann, Tagebücher, unter dem 20. August 1933 und 21. Juli 1933, S. 155f.

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Zusammenfassungen, die das Leben fordert, zu gelangen". Zum Schluss wagte Mann die Prognose, dass die „gegenwärtige Konstellation nur vorübergehend" sei und die Zukunft, trotz allem dem sozialen und demokratischen Deutschland gehöre. Das Schriftstück konnte zunächst nicht verlesen werden. Die Organisatoren beschlossen aus zwei Gründen einen vorübergehenden Aufschub. Erstens habe Manns Absage eine „außerordentliche Enttäuschung" hervorgerufen. Wie vorauszusehen, war die Veranstaltung nämlich „ganz wesentlich als eine Thomas Mann-Kundgebung" gewertet worden. Ohne ihn sähe es doch sehr nach einer Parteiveranstaltung aus und gerade diesen Eindruck wollten die Einladenden vermeiden. Der Leitgedanke bestand darin, der Öffentlichkeit die Weite des Sozialismusbegriffes vorzuführen und nicht nur die parteimäßige Auffassung des Sozialismus. Vorgesehen war zunächst der 5. März 1933 als Ersatztermin 182 . Unter dem Eindruck der Januarereignisse, die Hitler als Kanzler hervorbrachten, entschieden sich die Veranstalter für den 19. Februar. Der Ort des Geschehens sollte die Berliner Volksbühne sein. Unweit der Volksbühne, am Bülowplatz, war SA aufmarschiert und erschütterte die Luft mit Marschmusik 183 . Die SA hielt eine Übung ab. Gäste hatten Mühe, durch die engen SA-Reihen zur Volksbühne zu gelangen184. Die Regierung Papen löste die Kundgebung des Kulturbundes mit Polizeigewalt auf. Noch am selben Abend saß Harry Graf Kessler im großen Festsaal der Krolloper. In dem voll besetzten Saal fand ein Kongress unter dem Titel „Das freie Wort" statt. Wie Kessler notierte, verlief die Versammlung zunächst ruhig. Bewegter wurde es erst, als der preußische Kultusminister außerhalb des Programms auf der Rednerbühne erschien und mitteilte, dass die Kundgebung des „Kulturbundes" in der Volksbühne vom Polizeipräsidium unterbrochen worden sei, indem er zur gleichen Zeit ein Platzkonzert der SA auf dem Bülowplatz genehmigte. Das Publikum reagierte mit laut geäußertem Unmut über die Regierung. Dann verlas Grimme im Festsaal der Krolloper den Brief Thomas Manns, den das Publikum applaudierend aufnahm. Am stärksten beklatscht wurde der Vorwurf, die Republik habe durch ihre Gutmütigkeit den jetzigen Zustand herbeigeführt185. Kessler notierte, dass dann der „alte Tönnies" 186 als Redner nachfolgte und die von

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Brief an Thomas Mann vom 11. Januar 1933, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 55 f. „Vorwärts" Abendausgabe 98 (1933), B. 44, N1 Grimme, Nr. 935. Vorwort zu einem Brief von Thomas Mann vom 12. Januar 1933. Grimme druckte den Brief ab in: Die Schule (1947), S. 1-2. Harry Graf Kessler: Tagebücher 1918-1937, hrsg. v. Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt a. M. usw. 1970. Ferdinand Toennies (1855-1936), Professor für Soziologie in Kiel.

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Grimme aufgeweckte Zuhörerschaft wieder einschläferte. Dann ergriff der ehemalige preußische Justiz- und Innenminister Wolfgang Heine 187 das Wort und legte gleich mit den schärfsten Ausdrücken los, mit beißendem H o h n und ätzender Ironie. Grimmes Nachfolger Rust 188 , kommentierte Heine, dürfe im Leben kein „Nachfolger" heißen. Der Ministersessel sei illegal usurpiert 189 . Kessler flüsterte seinem Nachbarn zu, dass jetzt die Versammlung aufgelöst würde. Und richtig: Als Heine davon sprach, dass die neuerliche Bekehrung der Nationalsozialisten zum Christentum vielleicht darauf zurückzuführen sei, dass in Palästina in einem zweitausend Jahre alten Grab kürzlich ein Hakenkreuz gefunden worden sei, trat ein Polizeioffizier heran und erklärte die Versammlung für aufgelöst. Laute Rufe: „Weiterreden, weiterreden! ertönten, aber Lange löste unter großem Lärm auf. Dann wurde allerseits „Freiheit" und von einigen „Rot Front" gerufen, und ein großer Teil der Versammlung sang die „Internationale" und „Brüder, zur Freiheit". Die Ereignisse zeigen, was ein klarer Standpunkt und eine deutlich formulierte Abneigung in Gang setzen konnte. Das Verbot der Volksbühnenveranstaltung sei beispielhaft für die Zeit, wie Grimme eine Woche später festhielt. „Einer der repräsentativsten geistigen Menschen Deutschlands, Thomas Mann und eine Straßenmusik standen für die Regierenden zur Wahl. Man wählte die Straßenmusik und warf dem Geist die Tür zu" 190 . Er dankte Mann für dessen Mut, fragte aber gleich darauf, weshalb niemand sonst Bekennermut aufbrächte. „Warum schweigen die Historiker und korrigieren nicht die Irrtümer der Regierenden? Wo sind die anderen Künstler? Gibt es keine Männer mehr? Wir fragen Ricarda Huch, Alfred Döblin, Ludwig Fulda und Leonhard Frank: Wo seid ihr? Es geht um lebenswichtige Dinge und wir sagen euch: Ein bloßer Dank ist ein gar zu billiges Bekenntnis." Als er im Mai 1947 die „Tagung Sozialistischer Autoren" in Celle mit einer Ansprache eröffnete, wiederholte er die schweren Vorwürfe gegen die Dichter der Weimarer Republik vom März 1933. Den Dichtern habe es

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Wolfgang Heine (1861-1944), 1898-1918 MdR, November 1918 Vorsitzender des Ministerrats von Anhalt, November 1918 bis März 1919 preußischer Justizminister, März 1919 bis März 1920 preußischer Innenminister, 1933 in die Schweiz emigriert. Studienrat Bernhard Rust wurde 1933 Preußischer Kultusminister und 1934 Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Horst Möllen Wissensdienst für die Volksgemeinschaft. Bemerkungen zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, in: Treue u. Gründler, Lebensbilder (wie Einleitung, Anm. 5). Brief an Max Stefl vom 4. Februar 1962, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 277. Adolf Grimme in: „Vorwärts" 98 (1933), B. 44, N1 Grimme, N r . 935.

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an der „letzten Zielsicht" gefehlt. Der „wahre Dichter weiß, dass es neben dem Ästhetischen auch ein Ethisches gibt" 191 . In seinen Augen konnte die Gesellschaft ihren Dichtern den Rückzug ins Private nicht durchgehen lassen. Er verlas den Brief Thomas Manns noch einmal und erklärte, der Dichter habe sein Nichtkommen damit begründet, dass er gesundheitlich nicht im Stande sei, nach Deutschland zu kommen. Ein gewisser Groll blieb vierzehn Jahre erhalten. Thomas Mann habe nicht gegen den Nationalsozialismus sprechen können, da er „erkältet" gewesen sei.

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Manuskript der Rede in Celle vom 15. Mai 1947 in N1 Grimme, N r . 442.

Sechstes Kapitel Aus dem Amt gedrängt 1. Der „Preußenschlag" Theodor Eschenburg hielt Franz von Papen für den unvorbereitetsten Kanzler der neueren deutschen Geschichte, der in keiner Weise über die nötige politische und sachliche Überschau verfügte 1 . Zwar lobte er gesellschaftliche Gewandtheit und elegante Redeweise, allein die Memoiren 2 offenbarten jedoch einen kennzeichnenden Mangel an Gründlichkeit. Papen hatte, bevor er das Amt übernahm, nie in einer leitenden politischen Position gewirkt. Seine Unerfahrenheit milderte er dabei nicht durch das Heranziehen Fachkundiger, sondern verließ sich auf seinen Instinkt und Charme. Von der Praxis der preußischen Exekutive besaß er nicht einmal Grundlagenwissen. Er überschätzte seine eigenen Fähigkeiten und wurde Opfer eines beinahe kindlichen Geltenwollens und persönlicher Rachsucht. Die Kanzlerschaft Hitlers betrachtete er als Triumph, weil es gleichzeitig Schleichers Niederlage war3. Grimme beglückwünschte Eschenburg zu diesen Anmerkungen4. Er hielt Papen für einen „politischen Charlatan" und eine politisch wie schriftstellerisch „mediocre und makabre Erscheinung" 5 . Vor allem stimmte er mit dem Politologen darin überein, dass die Entlassung der Preußischen Staatsregierung nicht ausreichend begründet war. Die Reichsregierung hatte fehlende Sicherheit und Ordnung in Preußen zum Anlass für den „Preußenschlag" genommen. „Tatsächlich", schrieb er, „konnte von einer Gefährdung gar keine Rede sein. Diese existierte ja nur im Propagandavokabular der Gegner der Weimarer Republik."

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Theodor Eschenburg: Franz von Papen, in: Theodor Eschenburg: Die Republik von Weimar. Beiträge zur Geschichte einer improvisierten Demokratie, München und Zürich 1984, S. 293ff, erstmalig erschienen in V j f Z (1953). Franz von Papen: Der Wahrheit eine Gasse, München 1952. Eschenburg berichtet von einer Rede auf dem Jahresessen im Herrenklub am 16. Dezember 1932, in der von Papen sich entsprechend äußerte (wie Anm. 1, S. 305). Brief an Theodor Eschenburg vom 26. Mai 1953, N1 Grimme, N r . 1477. Brief an Carl Misch vom 15. Dezember 1952, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 178 f.

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So konnte die Gefahr der öffentlichen Ordnung im Jahr 1932 nicht von der Hand gewiesen werden. Allein das eigene Ressort lieferte genügend Beispiele dafür, wie sehr sich die politische Atmosphäre in Gewalt entlud. Kurz nachdem er mit den Rektoren der preußischen Universitäten über die zunehmende Eskalation konferiert hatte6, musste er die Berliner Anstalt im Juni und Anfang Juli wegen Unruhen für Tage schließen7. Im Landtag fand am 26. Mai 1932 eine Massenschlägerei statt, als sich die Nationalsozialisten von einer Rede des Kommunistenführeres Wilhelm Pieck provoziert fühlten8. Goebbels notierte triumphierend die acht Schwerverletzten aus verschiedenen Parteien in seinem Tagebuch und meinte, so allein könne man sich Respekt verschaffen9. Zwar ergriff die preußische Regierung immer wieder Maßnahmen, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten und setzte sich im Großen und Ganzen durch. Doch die aggressive Hartnäckigkeit nahm zu, mit der die radikalen Parteien die öffentliche Sicherheit immer wieder gefährdeten. Im April 1932 unternahm Grimme im Vorfeld der Preußenwahl vom 24. April 1932 eine Rundreise mit leidenschaftlichen Auftritten gegen Hitler. Am 11. April sprach er in Hannover 10 , am zwölften in Königsberg 11 und am vierzehnten in Halle 12 . Am 21. April warnte er die Berliner Beamtenschaft vor Abenteuern13 und bezeichnete Hitler am 22. als die „Katastrophe Deutschlands" 14 . Weitere Reden folgten, als sich im Sommer Reichstagswahlen anschlossen. Er legte dem Volk die Frage vor, ob die Zuhörer einen Volksstaat oder Diktatur wünschten15. Hitler sei der „Totengräber der Nation", ein „Volksfeind" und ein „Psychopath". In Hannover betrat er am Abend des 12. April unter den Klängen der Reichsbannerkapelle den mit Fahnen geschmückten, völlig überfüllten Volksheimsaal. Stürmischer Beifall erhob sich, als er an das Rednerpult trat. „Der Kampf um Preußen ist der Kampf um Deutschlands Schicksal", begann er. „Es geht um Leben und Tod der Nation, es geht um unser aller Zukunft. Macht dem Phrasenspuk um Hitler ein Ende und damit den Weg

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Siehe den Abschnitt dieser Arbeit über die preußischen Universitäten. Grzesinski an Grimme vom 13. Juli 1932, Berlin, N1 Grimme, Nr. 1622. Der „Abend" vom 26. Mai 1932, N1 Grimme, Nr. 1079. Schulze, Braun, S. 729 f. Adolf Grimme: Hitler ein Fall für den Psychiater, in: „Volkswille" Hannover vom 13. April 1932. Bericht im „Vorwärts" vom 13. April 1932. Der Hitlerismus - eine Deutsche Kulturschande, in: „Volksblatt" Halle vom 15. April 1932. „Vorwärts" vom 22. April 1932. Das „Reichsbanner" Magdeburg vom 22. April 1932. Reden in Städten des Ruhrgebiets im Juli 1932, in: „Großbochumer Rundschau" vom 25. Juli 1932.

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Aus dem Amt gedrängt

wieder frei für den Aufbau, für das Land der Zukunft, das wir ersehnen. Der Kampf um Preußen ist der Endkampf zwischen politischer Vernunft und Hitler," der vor einer klaren Stellungnahme desertiere und dessen Versprechen mit dem Publikum wechsele. „Noch nie ist in der Geschichte des deutschen Volkes der ehrliche Glaube weiter Kreise so missbraucht worden wie von diesem Manne. Bei den Nazis ist die Gewissenlosigkeit und Unwahrhaftigkeit zum System geworden." Anstatt die Jugend zum Gebrauch der Vernunft zu erziehen, bestehe der einzige Anspruch an sie in einem unerschütterlichen Fanatismus. Dies habe mit Erziehung nichts zu tun. Vor drei Jahren habe Hitler auf dem Parteitag in Nürnberg gefordert, dass von einer Million Kinder, die im Jahre geboren werden, 800.000 der schwächsten umgebracht werden sollen. „Ist so etwas die Äußerung eines normalen Hirnes? Kann die Partei dieses Mannes noch von Frauen gewählt werden?" Hier beginne das Arbeitsfeld des Psychiaters. Rosenberg rechne die Frau zu den „unterwertigen" Menschen und empfehle die „orientalische Vielweiberei". Die Ehe verkomme bei den Nazis zu einem reinen Gestüt. Das „Christentum bewerte nicht die Menschen nach ihrer Zugehörigkeit zu einer Rasse oder einer Nation. Wenn von einer Kanzel herab Hakenkreuzfahnen hängen, dann hat der Pfarrer entweder nicht erfasst, was Nationalsozialismus ist, oder er weiß nicht, was Christentum heißt." Dies waren klare und geradezu prophetische Worte. Fehlte der Glaube an das Eintreffen dieser Vorhersage? Oder wie ist zu erklären, dass er bereits in der Gewissheit sprach, dass die Republik untergehen würde. „Erst spätere Generationen werden die Großtat des Staates von Weimar ermessen können, der es ermöglicht hat, die Volksgenossen durch die Notzeit zu retten!" Beim Verlassen des Saales kurz nach 9 Uhr, „durchschritt er eine stehende Masse, die ihn wieder begeistert feierte. Das Band zwischen Führer und Mann ist bei uns so eng, wie seit je", meldete der Volkswille Hannover 16 . Völlig unbegreiflich erschien es, dass die Seestadt Rostock einen Tag vor der erwähnten Saalschlacht im Landtag am 25. Mai 1932 einen öffentlichen Auftritt untersagte, um zu erwartende Kampfszenen in ihrer Stadt zu verhindern. Am Sonntagvormittag wollte der Kultusminister im Saal des Gewerkschaftshauses sprechen. Am Nachmittag um fünf Uhr war Hitler in einer Vorstadt Rostocks angekündigt. Der Rat der Stadt bedauerte, dass er die NSDAP-Kundgebung bereits vor dem entsprechenden Antrag der SPD genehmigt habe. Die in der Stadt befindlichen Anhänger der Nationalsozialisten drohten zur Gefahr zu werden, sollte am Vormittag eine Gegenveranstaltung in der Stadt stattfinden 17 .

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Beilage im „Volkswille" Hannover vom 13. April 1932. „Der Abend" vom 26. Mai 1932, N1 Grimme, Nr. 1079.

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Die Regierung Braun hatte unterdessen Maßnahmen ergriffen, um wenigstens die Kampfverbände der radikalen Parteien außer Gefecht zu setzen. Die Verfassungsfeindlichkeit der NSDAP wurde von der politischen Polizei dokumentiert und das Material der Reichsregierung am 4. März 1932 zugestellt. Da Brüning dem geforderten Verbot der NSDAP nicht nachkam, ging die preußische Regierung allein gegen die Partei vor und erreichte am 13. April 1932, dass auch die Reichsregierung ein Verbot der NS-Kampfverbände durchsetzte. Obwohl der preußische Innenminister Carl Severing kommunistische Veranstaltungen ebenfalls untersagte, blieb ihm der Vorwurf des einseitigen Vorgehens nicht erspart. Brüning vernichtete das von Braun übergebene Dossier und setzte sich dafür ein, das SA-Verbot aufzuheben. Am 30. Mai löste Papen Brüning als Kanzler ab. Am 16. Juni fiel das SA-Verbot, vermutlich als Ergebnis einer Absprache zwischen Papen, Schleicher und Hitler 18 . Die Gewalt stieg wieder an. Bis zum 20. Juli 1932 waren 99 Tote und eine Vielzahl Verletzter zu beklagen19. Den Umzug der Nationalsozialisten durch die Arbeiterviertel von Altona hätte Severing unbedingt untersagen müssen. Doch fühlte er sich dem Reichserlass verpflichtet, der nicht nur das SA-Verbot aufhob, sondern am 28. Juni den Ländern per Erlass verbot, die Sturmabteilungen auf der Rechtsebene der Länder erneut aufzulösen20. Damit nicht genug: Bis dato konnte die preußische Regierung nationalsozialistische Demonstrationen im Vorwege untersagen. Diese Möglichkeit fiel nun weg. Die NSDAP musste ihre Umzüge auf Anordnung der Reichsregierung nicht mehr behördlich anmelden. Die Finanzquellen der rechtsradikalen Partei öffneten sich und das Tragen von Uniformen war wieder gestattet. Statt die SA-Truppen zu bekämpfen, musste die preußische Polizei ihnen Geleitschutz bieten, was aber den tragischen 17. Juli 1932 nicht verhinderte. Auf den Dächern Altonas saßen kommunistische Heckenschützen, die in die Menge schössen. Der „Altonaer Blutsonntag" bot der Reichsregierung unter Papen den Anlass, die Regierung Braun aufzulösen. Auch dieses Vorgehen schien mit den Nationalsozialisten abgesprochen, von denen sich Papen und Schleicher Unterstützung erhofften. Jedenfalls war der Grund offenkundig hergesucht, denn um die öffentliche Ordnung und Sicherheit

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" 20

Der Tag, an dem das SA-Verbot aufgehoben wurde, wird in der Literatur verschieden genannt. Bei Möller, Weimar, S. 281, ist es der 16 Juni, bei Brecht, Kraft des Geistes, der 14. Juni, bei Erdmann, Weimarer Republik, S. 297, gar erst der 29. Juni. Bei Karl Dietrich Bracher u. a. (Hrsg.), Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, Köln u. Opladen 1960, steht der 16. Juni 1932. Schulze, Braun, S. 739. Folgende Zitate aus: Brecht, Kraft des Geistes, S. 184 f.

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wiederherzustellen, wäre die Übernahme der preußischen Polizeigewalt und im äußersten Fall der Justiz hinreichend gewesen. Papen aber entließ die gesamte Regierung und ließ sich selbst von Hindenburg als Reichskommissar für Preußen einsetzen. Über Berlin verhängte er am 20. Juli den Ausnahmezustand. Die preußischen Ministern Hirtsiefer, Severing und Klepper erhielten ihre Demission am Morgen ohne nähere Gründe. Erst siebzehn Tage nach dem 20. Juli informierte Papen die preußischen Minister über die näheren Gründe seines Schrittes. Als diese sich gegen Mittag des 20. Juli im preußischen Innenministerium versammelten, erwogen sie unter anderem eine gewaltsame Reaktion. Grimme gab später zu, dass bei einem Kampf der „moralische Abgang ein anderer gewesen wäre" 21 . An jenem Tag konnte sich niemand zu einem entsprechenden Aufruf durchringen. Die Argumente überzeugten nicht: Der Aufruf an die Arbeiterschaft zum Generalstreik oder zum gewaltsamen Widerstand hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Bürgerkrieg und eine Militärdiktatur nach sich gezogen. Die Gewerkschaften konnten sich bei sechs Millionen Arbeitslosen kaum auf das Wagnis eines Generalstreiks einlassen. Davon abgesehen liefen viele Arbeiter bereits zu den radikalen Parteien über, weil diese ihnen Arbeit versprachen. Die Polizei war in sich ebenso gespalten wie die Gewerkschaften. Niemand konnte sicher darauf rechnen, dass sie für die Sache der Sozialdemokratie eintrat. Und schließlich können taktische Motive vorgebracht werden. Die preußischen Wähler hatten am 24. April 1932 in der Mehrheit gegen die Demokratie gestimmt. Kommunisten und Nationalsozialisten verfügten zusammen über 219 Sitze, die Parteien der bisherigen Koalition lediglich über 163. Die übrigen Parteien verharrten in Neutralität. Da die von Braun geführte Regierung die Geschäftsordnung des preußischen Landtags kurz vor der Wahl unter großem Protest der Radikalen dahingehend änderte, dass der Ministerpräsident eine absolute Mehrheit hinter sich sammeln musste, blieb die Koalition zunächst geschäftsführend im Amt 22 . Der Preußische Landtag befand sich in einer Pattsituation. Weder die antidemokratische Rechte, noch die demokratischen Parteien der Weimarer Koalition konnten eine absolute Mehrheit zusammenbringen. Als mit Papen eine weit rechts liegende Regierung die Geschäfte des Reiches übernahm, konnte niemand an einen langen Fortbestand dieser Situation glauben. Dass der Kanzler versuchen würde, in Preußen ebenfalls eine Rechtsregierung zu etablieren oder die Herrschaft gleich selbst zu übernehmen, lag in der Luft. Allein bot sich bei gleichzeitigem Beachten der

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Brief an Herbert Weichmann v o m 9. September 1957, in: Sauberzweig (1967), S. 231. Brecht, Kraft des Geistes, S. 172.

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Verfassung keine Gelegenheit zur Übernahme. Möglicherweise haben Papen und Schleicher am 20. Juli 1932 auf gewaltsamen Widerstand gehofft, um über einen rechtmäßigen Vorwand zu verfügen. Jedenfalls wunderten sie sich, als er ausblieb. Aber weder Schleicher noch Papen fühlten sich durch die Verfassung in ihrem Handeln behindert. Schleicher meinte, es müsse nur jemand den Mut zum Handeln finden. Gründe ließen sich schon finden - im Nachhinein23. Die Staatsregierung zwang Papen durch ihr Verhalten aber doch zunächst, sich im Rahmen der Reichsverfassung zu bewegen24' Es sah danach aus, als könne sich die Reichsregierung mit der preußischen auf friedlichem Wege einigen. In den wesentlichen Punkten stimmten sie überein. Erstens ging es allen Beteiligten darum, eine Kanzlerschaft Hitlers zu verhindern. Zweitens löste der „Preußenschlag" den Dualismus zwischen Reich und Preußen auf. Dieses Ziel verfolgte Braun seit Langem und mit dem Endergebnis wäre er nicht unzufrieden gewesen. Allerdings gab es zwei Hindernisse, die gegen ein Nachgeben der preußischen Regierung sprachen. Das eine bestand in der Figur von Papen, dem niemand so recht eine solide Politik zutraute. Das andere lag in der entehrenden Weise, mit der die preußische Regierung aus dem Amt gejagt werden sollte. Insofern erscheint aus damaliger Sicht der Prozess vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig als folgerichtiger Zug 25 . Dies um so mehr, als die Reichsregierung ihren Coup rechtlich unzureichend abgesichert hatte. Auf diese Weise konnte Blutvergießen vermieden werden, und die Republikaner durften auf einen günstigen Ausgang des Verfahrens hoffen. Im besten Fall löste der Gerichtshof das preußische Patt auf und sorgte für eine Regierung, an der die Republikaner weiter beteiligt blieben. Im schlimmsten Fall musste mit einer Übernahme der preußischen Regierung durch die Reichsregierung gerechnet werden. Hitler aber würde in beiden Fällen außen vorbleiben. In ruhigeren Zeiten durften die Republikaner mit einigem Recht ein Wiedererstarken der eigenen Macht erwarten. Die Minister signalisierten Gesprächsbereitschaft, die Papen nicht nutzte. Er düpierte sie aufs Neue. Während der Ministerbesprechung am 20. Juli traf ein Schreiben ein. Papen rief eine Kabinettssitzung zur „inneren Lage" ein und unterzeichnete mit: „der preußische Ministerpräsident" 26 . Die empör23 24 25

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Schulze, Braun, S. 760. Brecht, Kraft des Geistes, S. 214. Die historische Forschung vertrat und vertritt immer noch häufig die Ansicht, die preußische Regierung hätte sich nicht kampflos ergeben dürfen. Mit einem Generalstreik sei zumindest zu drohen gewesen. Siehe stellvertretend für viele: Erich Matthias: Die Sozialdemokratie und die Macht im Staate, in: Theodor Eschenburg: Amterpatronage, Stuttgart 1961, S. 71 ff. Folgende Zitate aus: Brecht, Kraft des Geistes, S. 192.

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ten Minister antworteten, sie könnten dieser Einladung nicht Folge leisten. Der Reichskommissar sei nämlich keinesfalls identisch mit dem „preußischen Ministerpräsidenten". Die Staatsregierung wolle eine einstweilige Verfügung erwirken und bis zum Entscheid des Staatsgerichtshofes den Eingriff als „ungültig und nicht vorhanden" ansehen27. Daraufhin entließ die Reichsregierung die Minister Preußens, da sie nicht zum Zusammenarbeiten mit der Reichsregierung Willens sei28. Das Staatsministerium schrieb zurück, es werde jederzeit mit der Reichsregierung oder dem Reichskommissar verhandeln. Die Einladung zur Sitzung sei lediglich verweigert worden, weil sich der Einladende als „Ministerpräsident Preußens" bezeichnet habe. Der Staatsgerichtshof wies die einstweilige Verfügung am 25. Juli zurück. Das Staatsministerium geriet in Rückstand. Wahrscheinlich wurden die verschiedenen Varianten zum Handeln schon seit einigen Tagen überdacht. Severing hatte den Parteivorstand der SPD gebeten, die mit dem 20. Juli dann eingetretene Lage durchzuspielen29. Seit der Umzug in Altona genehmigt war, bestand aller Anlass strategisch vorauszurechnen. Grzesinski eilte am Morgen des 20. Juli ins Innenministerium, um Severing vorzuschlagen, den Ausnahmezustand über Preußen zu verhängen und damit der Reichsregierung den „Vorwand zu einem reichsrechtlichen Ausnahmezustand" zu nehmen. Severing, gerade im Begriff eine Rechtsverwahrung für die „Mittagszeitung" zu diktieren, ließ Grzesinski mitteilen, er befinde sich in einer wichtigen Sitzung und könne nichts entscheiden30. Kein Ausweg kam wirklich in Betracht. Die Ehre der Regierung ließ nicht zu, der Reichsregierung das Feld zu überlassen. Innerhalb Preußens konnte keine handlungsfähige Regierung mehr hergestellt werden. Die Mehrheit der Wähler hatte gegen die Republik gestimmt. Eine sozialdemokratische Politik in Preußen war - das hatte sich schon unter Brüning gezeigt - unter einer konservativen Reichsregierung schwer bis unmöglich. Die Finanzlage bot keine Möglichkeit, eine Politik ohne den Reichskanzler zu betreiben. Die radikale Rechte drohte einen Verbund gegen die Repu-

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Brief des Staatsministeriums an die Reichskanzlei vom 20. Juli 1932, in: Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Kabinett Papen. Juni-Dezember 1932, S. 263 (weiterhin zit.: Akten der Reichskanzlei (1932).

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Brief des Staatsministeriums an Papen vom 21. Juli 1932, abgedruckt in: Akten der Reichskanzlei (1932), S. 289. E m m y Menzel, geborene Severing, an Grimme vom 28. August 1952, Düsseldorf, N1 Grimme, N r . 2347; Erich Matthias und Rudolf Morsey (Hrsg.): D a s Ende der Parteien, Düsseldorf 1960, S. 134 f. Diese Version geht auf Grimme zurück. Sie wird zitiert bei Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, 5. Aufl., Villingen 1971, S. 585, Anm. 137.

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blik herzustellen und den Nationalsozialisten die Herrschaft über den Staat, möglicherweise sogar über das Reich auf legalem Weg zu ermöglichen. Mit der kommunistischen Linken gab es kein Einvernehmen, ein Gegengewicht herzustellen. Der Staatssekretär im preußischen Innenministerium, Wilhelm Abegg, versuchte auf eigene Faust, mit der KPD doch noch eine Ubereinkunft herzustellen 31 , blieb aber ohne Erfolg. Der gebotene Schritt über ideologische Grenzen hinweg überforderte die Partei. Die KPD betrachtete die SPD als den zu bekämpfenden Feind - nicht die Nationalsozialisten, mit denen die KPD im Jahr 1932 gemeinsam den Streik der öffentlichen Verkehrsbetriebe BVG organisierte. So blieb nichts als der damals vernünftig erscheinende Schritt vor den Staatsgerichtshof in Leipzig. Spätere Generationen haben der Sozialdemokratie vorgeworfen, dass sie die Macht der Arbeiterbewegung nicht einmal demonstrierten. Ein Aufmarsch der Massen hätte der Sozialdemokratie ein Alibi für die Geschichtsschreibung verschaffen können. Sie besitzt keines. Der Staatsstreich kam ohne Zwischenfall zum Ziel und mag, wie Karl Dietrich Bracher behauptete, die antidemokratischen Kräfte zum letzten Sturm auf die Republik herausgefordert haben32·

2. Reichsregierung gegen Staatsregierung Preußen ließ sich vor dem Staatsgerichtshof durch den Ministerialdirektor Arnold Brecht vertreten. Er konnte nachweisen, dass die gestörte öffentliche Ordnung nicht der preußischen Regierung, sondern vielmehr der Reichsregierung anzulasten war, da Preußen seit Jahren mit Verboten gegen radikale Umtriebe arbeitete. Es war die Reichsregierung gewesen, die alle Maßnahmen gegen die nationalsozialistischen Kampfverbände aufhob. Die Gewalt wurde dadurch nicht verhindert, sondern erreichte einen neuen Höhepunkt und die Lage beruhigte sich nach dem 20. Juli 1932 keineswegs. Die Gewalttaten nahmen zu, sodass die Verbote, die in Preußen vor der Rücknahme durch den Reichskommissar gegolten hatten, nach und nach erneut erlassen werden mussten. Die Reichsregierung konnte die Landesregierung nicht ernsthaft anklagen, die öffentliche Ordnung gefähr-

Brief an Carl Misch vom 15. Dezember 1952, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 178. Siehe hierzu die Diskussion zwischen Arnold Brecht und Karl Dietrich Bracher, Zeitschrift für Politik 2 (1955), S. 291 ff. und Zeitschrift für Politik 3 (1956), S. 243 ff.; auch Walter Menzel: Carl Severing und der 20. Juli 1932, Die Gegenwart 7 (1952), S. 734 ff.

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det zu haben. Wenn die eigentliche Klage nicht ausreichend begründet war, hätte der Reichskommissar wieder zurückgezogen werden müssen. Doch dies ist nur die nüchtern betrachtete Seite. Die Verfassung gestattete dem Reichspräsidenten, in einem Land einen Reichskommissar einzusetzen, ohne diesen Schritt einleuchtend zu begründen. Keinesfalls hätten die preußischen Minister abgesetzt werden dürfen. Dafür fehlte jede verfassungsgemäße Grundlage. Die Reichsregierung legte daraufhin bisher nicht erhobene Anklagepunkte vor. Die Staatsregierung sei nicht entschieden genug gegen die Kommunisten vorgegangen, befände sich in einer parlamentarischen Abhängigkeit von der „taktischen Haltung der Kommunisten" und könne nicht unabhängig von der kommunistischen Haltung handeln, wozu der Vermittlungsversuch Abeggs als Beweis genommen wurde33. Abegg habe kommunistische Führer zum Verschleiern von Terrorakten veranlasst und der preußische Polizeipräsident Grzesinski seine Parteigenossen aufgefordert, die kommunistischen Kreise nicht zu stören34. Der Unsinn der Vorwürfe lag eigentlich auf der Hand, denn die Staatsregierung hatte mit gleicher Kraft gegen kommunistischen Terror gekämpft, wie sie es gegen nationalsozialistischen getan hatte. Abegg hatte auch nicht zum Verschleiern von kommunistischen Terrorakten ermutigt, sondern die Führer der K P D zum gänzlichen Verzicht aufgerufen. Der Regierungsrat Rudolf Diels, der spätere Chef der Gestapo, hatte in diesem Fall der Reichsregierung als falsch informierender Zwischenträger gedient. Schließlich führte die Reichsregierung für das Vorgehen am 20. Juli noch folgende Gründe an: die Änderung der Geschäftsordnung hinsichtlich der Wahl des Ministerpräsidenten, die unzweckmäßige Ausgabe von Waffenscheinen durch den Berliner Polizeipräsidenten und die angebliche Ausgabe von Etats-Geldern für Parteizwecke. Gebündelt lautete der Vorwurf, die Landesregierung habe ihre Treuepflicht gegen die Reichsregierung verletzt. Der Staatsgerichtshof entschied am 25. Oktober 1932, dass die Verordnung vom 20. Juli 1932 in zwei Punkten mit der Verfassung in Einklang stand: Der Reichskanzler konnte zum Reichskommissar für das Land Preußen bestellt werden und die preußischen Minister ihrer Amtsbefugnisse vorübergehend entheben, diese selbst übernehmen oder anderen Kommissaren übertragen. Den Ministern blieben aber weiter die Vertreter des Landes Preußen „im Reichstag, im Reichsrat oder sonst gegenüber dem Reich oder gegenüber dem Landtag, dem Staatsrat oder gegenüber den anderen Ländern". Obwohl also das Vorgehen Papens am 20. Juli äußerst

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Akten der Reichskanzlei (1932), S. X L V und Dok Nr. 40 (wie Anm. 27). Folgende Zitate aus: Brecht, Kraft des Geistes, S. 193 ff.

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schwach begründet blieb, erklärte der Staatsgerichtshof den Schritt für verfassungskonform. Auf eine schlüssige Beweislage zu bestehen, ließ die Weimarer Verfassung nicht zu. In Preußen musste man mit diesem Urteil also zufrieden sein und war es auch, denn der Staatsgerichtshof erklärte alle Vorwürfe der Reichsregierung gegen die Staatsregierung für unrichtig. Den gesunden Menschenverstand muss dieses Urteil enttäuschen. Einen solchen, staatsverändernden Schritt nicht ausreichend begründen zu müssen, erscheint ungeheuerlich. Aber die Justiz kann keinen Verstand in Gesetzestexte hineinlesen, der nicht vorher hineingeschrieben wurde. Grimme war der Jüngste und politisch Unerfahrenste unter den preußischen Ministern. Die Frage, ob er einen eigenen Vorschlag zu der Vorgehensweise der Staatsregierung anbot, ist nicht zweifelsfrei zu beantworten. In der entscheidenden Sitzung am 20. Juli hatte er sich offenbar wie alle anderen von den vorgetragenen Argumenten überzeugen lassen und gegen eine Gewaltaktion gestimmt35. Dies bedeutet nicht, dass er mit der Ubergabe der Amtsgeschäfte an die Reichsregierung einverstanden war. Papen habe seinen Schritt „absolut lügnerisch begründet", schrieb er in der Rückschau36. Doch nicht einmal Grzesinski, mit dem er privat verkehrte, plädierte für einen Aufstand. Der Polizeipräsident Berlins hatte zwar vor dem 20. Juli stets Kampfbereitschaft für die Republik eingefordert, um die Verfassung zu verteidigen. Nach jahrelangem Eintreten für Gesetzmäßigkeit und zivilen Umgang im politischen Tagesgeschäft hätte ein Gewaltakt die eigene Politik jedoch ad absurdum geführt. Diesen Standpunkt machte sich am 20. Juli Grzesinski und mit ihm wohl Grimme zu eigen37. Die Gefahr eines Bürgerkrieges stand allen vor Augen. Ein gemeinsames Vorgehen von Reichswehr und Nationalsozialisten schien wahrscheinlich. Grimme wollte deshalb unbedingt vermeiden, das „Blut von braven Volksgenossen nutzlos zu opfern" 38 Für nutzlos hielt er einen Gewaltakt, weil dann „Hitler rechts und links der Wilhelmstraße fest im Sattel säße". Noch gab er nicht auf - im Gegensatz zum Ministerpräsidenten Otto Braun, der an einer schweren Krankheit litt und nur darauf wartete, von seinen Amtspflichten entbunden zu werden. Braun glaubte schon seit dem Herbst 1931 nicht mehr an eine demokratische Zukunft 39 . Während des 20. Juli blieb er in seinem Haus. Seine Kräfte gingen zu Ende. Am 15. Au-

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Brief an Herbert Weichmann vom 9. September 1957, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 231. Brief an Wilhelm Stapel vom 16. Mai 1945, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 110 f. Albrecht, Grzesinski (wie Kap. 3, Anm. 115), S. 321. Entwurf eines Schreibens an Franz von Papen, ohne Datum, N1 Grimme, Nr. 935. Schulze, Braun, S. 709. Zur Amtsmüdigkeit Brauns s. ebd., S. 715.

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gust fuhr er zur Kur nach Bad Gastein. Am 13. September reiste er weiter ins schweizerische Ascona. U m ihn von einer Klage vor dem Staatsgerichtshof zu überzeugen, mussten die Minister einige Mühe aufwenden40. Severing erwog, ein Rumpfkabinett unter Hirtsiefer ganz aus Zentrumspolitikern zu bilden. Er wollte dann gemeinsam mit Grimme aus diesem Kabinett ausscheiden. Doch dies konnte er weder beim Parteivorsitzenden Wels, noch im Vorstand der SPD durchsetzen41. Der frühere Finanzminister Höpker-Aschoff wartete als Erster mit einer Vergleichsidee auf. Die Reichsregierung solle die Maßnahmen des 20. Juli zurücknehmen. Die preußische Regierung könne dann in einem zweiten Schritt die Geschäfte dem Reichspräsidenten übergeben. Dieser Weg bot einen ehrenvollen Ausweg, da sich das Auflösen des Dualismus zwischen Preußen und Reich als eine Idee Brauns darstellen ließ42. Jener ließ Bereitschaft zu einem solchen Vergleich erkennen. Es müsse jedoch von seiner Regierung das Odium genommen werden, sie habe Ruhe und Ordnung in Preußen nicht gesichert und ihre Pflicht gegen das Reich vernachlässigt43. Der Plan scheiterte, weil er die Macht des Usurpators gesichert hätte und weil bemerkenswerterweise vor allem die preußischen Zentrumspolitiker dagegen waren, denen Papen doch angehörte. Daraufhin entstand die Idee, den Reichspräsidenten zur Rücknahme der Vorwürfe zu bewegen. Die Minister beschlossen in einer Sitzung am 21. September, Braun um eine Reise nach Berlin und ein Gespräch mit Hindenburg anzugehen. Grimme setzte noch am selben Tag ein Schreiben auf. Er bot an, Braun in Basel zu treffen oder auch nach Ascona zu kommen 44 . Die Minister vermuteten, schrieb er, Hindenburg sei vielleicht jetzt anderen Argumenten gegenüber offener. Schleicher und Papen hatten ihn auf seinem Gut in Neudeck aufgesucht, wo ihn seine konservative Entourage umgab. In der Zwischenzeit war der Reichspräsident nach Berlin zurückgekehrt. Hindenburg hatte Braun in früheren Jahren einige Sympathien entgegengebracht, und es schien nicht ausgeschlossen, dass er für Braun, der vor allem seine Ehre verletzt sah,

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Ebd., S. 756. Gerhard Schulz: Deutschland am Vorabend der großen Krise, Berlin usw. 1987, Bd. 1., S. 893. Brecht hatte am 21. August in der „Vossischen Zeitung" einen Artikel über die Stationen der Reichsreform veröffentlicht. Schulze, Braun, S. 758. In dem Brief heißt es: „Ascona, das nach so kurzer Zeit schon wiederzusehen für mich zugleich noch einen besonderen Genuss abwerfen würde". Er hatte seinen U r laub genommen und sich im September 1932 in Lugano aufgehalten. Dass er von dort aus einen Abstecher nach Ascona unternommen hat, scheint hier belegt. Was dort besprochen worden ist, lässt sich nicht ermitteln. Brief Becker an Grimme vom 16. September 1932.

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Verständnis aufbrachte. Braun wollte jedoch nicht nach Berlin kommen. Er könne seinen Aufenthalt in Ascona nicht unterbrechen, „wenn anders ich die Wirkung meiner Gasteiner Kur nicht erheblich beeinträchtigen will". Die Sorge um seine Gesundheit war nur ein Vorwand. Ihn verbitterte das Vorgehen des Reichspräsidenten, ihn „wie einen ungetreuen Dienstboten aus dem Amt" gejagt zu haben. Hindenburg könne sich ja jederzeit mit ihm ins Benehmen setzen, sollte ihm danach verlangen. Anstehen auf Empfang werde er nicht. Das überlasse er Hitler und anderen „aufbauwilligen nationalen Kräften", wie er sarkastisch hinzusetzte. Im Übrigen stimmte Braun mit Schleicher darin überein, dass es um politische Macht und nicht um Rechtsstreiterei ging. Die „Paragrafenreiter in Leipzig" jedenfalls würden diesen Fall nicht entscheiden45. Darin lag eine stimmige und ahnungsvolle Voraussage. Wenn auch Braun und die preußischen Minister an die Wirksamkeit des Leipziger Urteils nicht glauben mochten. Eine andere Möglichkeit als von diesem Boden aus Politik zu betreiben, erwogen sie nicht. Ganz anders hielt es die Reichsregierung. Die Staatsminister blieben von ihren Amtsräumen abgeschlossen und damit von wichtigen Informationen, ohne die keine Politik zu betreiben war. Der Reichskommissar hatte veranlasst, der Regierung Braun demütigend kleine Räume in der Leipziger Straße anzuweisen46. Um jede Akte und jeden Beamten musste fortan ein aufreibender Handel betrieben werden. Braun meinte, um die Vertreter Preußens im Reichsrat anzuweisen, sei es nötig, über die laufende Arbeit der kommissarischen Regierung informiert zu sein, wozu die Reichsregierung sich außerstande sah47. Währenddessen erhielten sozialdemokratische Beamte ihre Entlassung, die öffentliche Verwaltungsstruktur erlebte erhebliche strukturelle Eingriffe. Im September löste Papen den Reichstag auf, der einen Misstrauensantrag gegen ihn mit überwältigender Mehrheit unterstützt hatte. Erneut nötigte man die Bevölkerung zu den Wahlurnen. Als Folge des einseitigen Einhaltens des Leipziger Urteils durch Braun entstand in der republikanischen Öffentlichkeit ein Bild der Schwäche, das den Ausgang der Reichstagswahlen vom 6. November gegen die Sozialdemokraten ungünstig beeinflusste. Für die erlittenen Verluste gab die eigene Anhängerschaft dann auch Braun und Severing die Schuld48. Der Ministerpräsident wollte mit

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O t t o Braun an Grimme vom 23. September 1932, Ascona, N1 Grimme, N r . 2886. Akten der Reichskanzlei (1932), S. 816. Hindenburg bestätigte am 18. November 1932, außer den Räumen im Volkswohlfahrtsministerium stünden die Amtsgebäude des Staatsministeriums mit „allem Zubehör" ausschließlich den Kommissaren des Reiches zu, ebd., S. 982. Schulze, Braun, S. 768.

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seiner Regierung überdauern, bis mit Papen das größte Hindernis eines Übereinkommens mit der Reichsregierung beseitigt war. Grimme neigte nicht dazu, das Urteil des Staatsgerichtshofes für entscheidend zu halten. Seine Aufmerksamkeit galt vielmehr der Geisteslage in der deutschen Bevölkerung. Bei gesundem, sittlichem Empfinden, meinte er, hätte das deutsche Volk Hitler spätestens nach dessen Telegramm an die Mörder von Potempa „abschütteln" müssen49. Hitler hatte Mitgliedern der SA, die in der Nacht zum 10. August in dem schlesischen Dorf Potempa einen kommunistischen Arbeiter vor den Augen seiner Mutter zertrampelten, ein Glückwunschtelegramm gesandt50. Der Fall ging durch alle Zeitungen der Republik. Bis zu diesem Vorfall hatte Hitler durchaus noch damit rechnen können, nach Brüning und Papen als dritter Kanzler des Drahtziehers Schleicher eingesetzt zu werden51. Doch die Gewaltwelle im Reich stärkte Hindenburgs Abneigung gegen Hitler. Hitler jedoch schämte sich nicht, in aller Öffentlichkeit für die Mörder von Potempa einzutreten. Die N S D A P startete eine Kampagne, an deren Ende, am 2. September, Papen die Todesurteile gegen die Mörder aufhob. Wenngleich die deutsche Bevölkerung Hitler nicht „abschüttelte", so verlor die N S D A P doch bei den Reichstagswahlen vom 6. November zwei Millionen Stimmen. „Hitlers Sterne", schrieb Grimme damals, seien „im Verbleichen" 52 . Diese Ansicht teilte er mit Braun, der noch am 6. Dezember Schleicher gegenüber davon sprach, den Nationalsozialisten eine vernichtende Niederlage beibringen zu können53. Der Zeitpunkt schien gekommen, in dem die Reichsreform vorangetrieben werden konnte. Am 16. September hatte C. H. Becker einen Brief geschrieben, der die kennzeichnende Sicht vieler widerspiegelte. Auf der einen Seite wussten alle, dass mit Hitler ein Verbrecher unmittelbar vor der Machtübernahme stand, auf der anderen Seite erwarteten sie ein großes politisches Ereignis, das viele Dinge von selbst lösen würde. „Im Interesse des Ganzen läge jetzt zweifellos", schrieb Becker, „dass der böse Anfang ein gutes Ende nähme, das heißt, dass endlich einmal eine großzügige Reichsreform gemacht würde; dann wären Sie vielleicht der letzte preußische Kultusminister gewesen. Wenn ich nämlich Diktator wäre, würde ich mit dem ganzen preußischen Ministerium aufräumen, jedenfalls aber eine enge Verbindung zwischen dem Reichsinnenministerium und dem Kultusministerium herstellen. Auch

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Brief an Wilhelm Stapel v o m 16. Mai 1945, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 111. Joachim Fest: Hitler. Der Aufstieg, Frankfurt a. M. usw. 1973, S. 475. Schleicher hatte bei Hitler am 5. August sondiert, ebd., S. 473. Briefentwurf an Franz von Papen, ohne Datum, N1 Grimme, N r . 935. Schulze, Braun, S. 774.

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sollte jetzt, wenn man schon ohne Parteien regiert, sauberer Tisch gemacht werden. Die Schulverwaltung des Handelsministeriums müsste mit der des Kultusministeriums verbunden werden, U II und U III müssten zusammengelegt werden und wie so die alten Desiderate heißen, die sinnvoll sind, aber immer zurückgestellt wurden, weil mit den Parteien vernünftige Reformen ja doch nicht gemacht werden können"54. Den Sozialdemokraten musste der Wechsel zu General Schleicher am 2. Dezember schon als Lichtblick gelten. Doch auch er lehnte eine Zusammenarbeit mit Braun am 6. Januar 1933 ab und leitete damit die letzten Entwicklungen ein. Aus späterer Sicht scheint es unbegreiflich, dass keiner der möglichen Wege genutzt wurde, die nationalsozialistische Herrschaft zu verhindern. Ebenso ratlos liegt der Blick auf dem beinahe teuflischen Glück Hitlers. Der letzte sozialdemokratische Kanzler, Hermann Müller, hätte im Jahr 1930 nicht leichtfertig seine Regierung auflösen müssen und damit Brüning zum Amt verhelfen. Das viertel Prozent, um das die Arbeitslosenversicherung angehoben werden sollte und das den Sturz veranlasste, überbot Brüning im Folgejahr deutlich. Brüning wiederum hätte seinen Finanzplan sicher mit wenigen Abstrichen auch mit dem Reichstag durchsetzen können. Ohne das Auflösen des Reichstages hätte es keine Neuwahlen gegeben. Zwei Jahre hätte er mit einem Reichstag zusammenarbeiten können, in dem zwölf Nationalsozialisten saßen. Die Neuwahlen brachten den spektakulären Erfolg der NSDAP mit 107 Sitzen. Brüning hätte im Oktober 1930 das Angebot annehmen können, die Ministerpräsidentschaft Preußens zusätzlich zur Kanzlerschaft zu übernehmen. Es wären dann Widerstände zu brechen gewesen, die aus dem Gegensatz zwischen Preußen und Reich entsprangen und die es der Sozialdemokratie erschwerten, Brünings Kurs zu folgen. Brüning hätte auch durch einen Mann ersetzt werden können, der das Vertrauen einer parlamentarischen Mehrheit besaß, oder wenigstens durch einen Mann mit einem weniger starken Affekt gegen die Sozialdemokratie. Womöglich hätte schon ein Mann ohne die Franz von Papen eigene höfische Gebärde dafür gesorgt, dass sich die Dinge anders entwickeln, waren es doch seine Umgangsformen, die ihm die Sympathie des Reichspräsidenten einbrachte. Wären die polemischen Angriffe gegen die SPD unterblieben, wäre diese vielleicht gesprächsbereit geblieben und hätte sich mit Schleicher geeinigt. Ohne den günstigen Eindruck Papens auf Hindenburg hätte Hitler die vielleicht entscheidende Fürsprache gefehlt. Darüber hinaus hätte Papen ein Mann sein können, der größeren Respekt gegen die Verfassung aufbrachte. Der „Preußenschlag" vom 20. Juli wäre in dieser Form nicht er-

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Becker an Grimme vom 16. September 1932, Berlin, N1 Grimme, Nr. 930.

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Aus dem Amt gedrängt

folgt und wenn doch, hätte das Urteil des Staatsgerichtshofes umgesetzt werden können. Weitere Provokationen gegen die preußische Regierung wären unterblieben und eine Zusammenarbeit der Parteien weiter möglich geblieben. Der Plan einer Personalunion zwischen Reichskanzler und preußischem Ministerpräsidenten wäre möglich geworden. Die Sozialdemokraten versäumten andererseits, zur rechten Zeit einen Nachfolger für den abgearbeiteten Braun zu suchen und ebenso rechtzeitig einen aussichtsreichen Gegenkandidaten zu Hindenburg für die Reichspräsidentschaftswahlen im April 1932. Hindenburg hätte sterben können und ein vorteilhafterer Kandidat nachfolgen. Weshalb blieb er nicht dabei, Hitler als Kanzler abzulehnen? Der Reichspräsident hätte jemand sein können, der sich auf berufene Berater verließ und nicht auf unberufene, wie etwa seinen Sohn. Selbst dieser Sohn, Oskar von Hindenburg, und Otto Meißner mussten ihre Apathie gegen Hitler nach dem 22. Januar schließlich nicht überspringen. Die Weimarer Verfassung hätte nicht die Lücke aufweisen brauchen, nach der ein in Osterreich Geborener, Kanzler des Deutschen Reiches werden könne. Das Berliner Verbot der NSDAP musste nicht aufgehoben werden, ebenso wenig das Redeverbot Hitlers in Preußen. Schließlich hätten die preußischen Minister gewaltsamen Widerstand gegen Papen und auch gegen Hitler provozieren können. Das Volk hätte sich für die parlamentarische Demokratie einsetzen, Hitler dem linken Flügel der N S D A P zum Opfer fallen können. Weshalb ergriff Schleicher zu guter Letzt den Strohhalm nicht, den Braun ihm am 6. Januar bot und den Brecht Ende Januar noch einmal anreichte? Wenn dann noch bedacht wird, dass Hitler den hohen Anteil nationalsozialistischer Abgeordneter im Reichstag den Eigenheiten des deutschen Wahlsystems verdankte, muss sich eigentlich immer noch ungläubiges Staunen darüber einstellen, dass Hindenburg ihn am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte.

3. Das Ende der preußischen Staatsregierung Einen Tag später löste Hindenburg den Reichstag auf und verordnete Neuwahlen für den 5. März. Besonders Papen, als Reichskommissar in Preußen weiter im Amt, drängte darauf, die Staatsregierung zu beseitigen55. Am 31. Januar beantragte die nationalsozialistische Fraktion im Landtag, das Parlament aufzulösen, was abgelehnt wurde. Daraufhin übertrug Hindenburg dem Reichskommissar die Hoheitsrechte, die der Staatsgerichtshof der Preußenregierung belassen hatte. Der Staatsgerichtshof hatte am 25. Oktober 1932 festgestellt, dass Preußen seine Pflicht gegenüber dem 55

Folgende Zitate aus: Schulze, Braun, S. 778 ff.

Das Ende der Staatsregierung

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Reich nicht verletzt hatte. Wenn nun die Regierung Braun erneut abgesetzt wurde, hätte sie diese Pflicht nach dem 25. Oktober gebrochen haben müssen. Braun hatte aber mit seiner äußerst defensiven Strategie darauf geachtet, dass ihm in dieser Hinsicht nichts vorzuwerfen war. Die Reichsregierung konnte den Schritt deshalb nur mit dem Argument begründen, der preußische Ministerpräsident habe „entscheidend dazu mitgewirkt, dass die Auflösung des Landtages unterblieb". Am 6. Februar rief die preußische Regierung erneut den Staatsgerichtshof an. In der Zwischenzeit sperrte Papen ihnen die Ersatzbüros, vor allem schnitt er die legale preußische Regierung von allen staatlichen Geldquellen ab. Grimme erhielt unter dem 6. Februar ein Schreiben des Inhalts, durch das „Verhalten des Landes Preußen gegenüber dem Urteil des Staatsgerichtshofes für das Deutsche Reich vom 25. Oktober 1932 ist eine Verwirrung im Staatsleben eingetreten, die das Staatswohl gefährdet." Der Reichspräsident übertrage deshalb „bis auf Weiteres dem Reichskommissar für das Land Preußen und seinen Beauftragten die Befugnisse, die nach dem erwähnten Urteil dem preußischen Staatsministerium und seinen Mitgliedern zustehen" 56 . Neben Hindenburg hatte nicht der neue Reichskanzler Hitler unterzeichnet, sondern dessen Stellvertreter Papen. Dieser schrieb am gleichen Tag in seiner Eigenschaft als Reichskommissar, er habe nun auf höchsten Befehl die Geschäfte des Staatsministeriums übernommen. Er bitte „ergebenst, sich fortan jeder Diensthandlung enthalten zu wollen" 57 . Vier Tage später lag erneut ein Brief im Kasten. Der Reichskommissar teilte mit, dass die bisher gezahlte Aufwandsentschädigung entfiele und ein Dienstkraftwagen nicht länger zur Verfügung gestellt werden könne. Am 5. März ersuchte der Polizei-Präsident den amtierenden Kultusminister, seinen Pass in den nächsten 24 Stunden zur „Uberprüfung" vorzulegen58. Grimme antwortete zwei Tage später, er habe seinen Personalausweis dem Herrn Reichspräsidenten „zu treuen Händen übersandt" 59 . An Hindenburg ergingen folgende Worte: „Dieses Schreiben ist vom 5. März datiert. Ich erwähne dieses Datum, weil es dasselbe ist, an dem durch den Rundfunk amtlich zu wiederholten Malen die Meldung verbreitet worden ist, dass Ministerpräsident Braun das Deutsche Staatsgebiet verlassen habe. Bekanntlich ist dadurch der Eindruck geweckt worden, als sei Herr Braun aus Deutschland geflohen, während er in Wirklichkeit am 4. März seinen selbstgesteuerten Kleinwagen bei Friedrichshafen hat übersetzen lassen, um ihn zu seiner schwer gelähmten Frau nach Ascona zu

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Verordnung des Reichspräsidenten vom 6. Februar 1933, N1 Grimme, N r . 3271.

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Franz von Papen an Grimme vom 6. Februar 1933, N l Grimme, N r . 3271.

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Schreiben des Berliner Polizeipräsidenten vom 5. März 1933, Nl Grimme, N r . 3271.

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Brief an den Polizeipräsidenten vom 7. März 1933, Nl Grimme, Nr. 3271.

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Aus dem Amt gedrängt

bringen. Er war bereits am 5. März wieder in Deutschland, um sein Wahlrecht auszuüben und wird nächste Woche wieder in Berlin erwartet. Diesen Vorgang muss ich deswegen erwähnen, weil ich nach dem zeitlichen Zusammentreffen Grund zu der Annahme habe, dass die Einforderung meines Passes keineswegs nur zu irgendeinem formellen vorübergehenden Zweck unter sofortiger Rückgabe geschieht, sondern um mir den Pass zu entziehen. Sollte ich darin recht vermuten, dann lassen Sie mich bitte aussprechen, dass ich der Auffassung bin, es könne unmöglich auch Ihrer Ansicht entsprechen, hochverehrter Herr Reichspräsident, wenn die von Ihnen eingesetzten Reichskommissare und deren nachgeordneten Stellen einem Preußischen Staatsminister den Pass entziehen und so durch diesen Akt über alle aus politischen Überlegungen gegen sie gerichteten Maßnahmen hinaus nun auch noch Schritte ergreifen, die ein Misstrauen gegen sie als Person einschließen. Ich habe zurzeit weder Veranlassung noch Absicht Deutschland zu verlassen, würde aber, wenn ich es täte, jederzeit zurückkommen, falls in einem Verfahren vor den ordentlichen Gerichten meine Anwesenheit in Deutschland gefordert würde. Dagegen betrachte ich es als unwürdig, mir als Staatsminister meinen Pass auf diese Weise entziehen zu lassen. Bei dieser Sachlage habe ich mich dazu entschlossen meinen Pass hiermit Ihnen, Herr Reichspräsidenten, zu treuen Händen zu übersenden. Ich bin sicher, dass Sie, nachdem Sie von dem Sachverhalt Kenntnis genommen haben, mir den Pass zurückgeben werden" 60 . Hindenburg ließ das Schreiben von seinem Staatssekretär Meissner quittieren und teilte mit, Schreiben und Ausweis seien an den „Herrn Reichskommissar für das Land Preußen" weitergeleitet worden. Wahrscheinlich kam der Brief Hindenburg nie unter die Augen. Am 24. März teilte der Landeswahlleiter mit, Grimme sei zum Abgeordneten gewählt worden 61 . Einen Tag später lösten die Staatsminister in einem gemeinsamen Schreiben das Spannungsverhältnis zwischen Reich und Preußen endgültig auf. Sie hätten wiederholt erklärt, dass sie nach ihrem Rücktritt im Mai 1932 die Geschäfte nur deshalb weitergeführt haben, weil ihnen dies die Vorschrift des Artikels 59 Abs. 2 der Preußischen Verfassung solange zur Pflicht macht, bis der Landtag einen neuen Ministerpräsidenten gewählt hat. Diese verfassungsrechtliche Verpflichtung war auch nach den Verordnungen des Reichspräsidenten vom 20. Juli 1932 und vom 6. Februar 1933 maßgebend dafür, dass die Staatsminister glaubten, ihre Ämter nicht endgültig niederlegen zu dürfen. Nachdem sich jedoch der am 5. März 1933 gewählte Landtag durch ausdrücklichen Beschluss vom 22. März damit einverstanden erklärt hat, dass die Geschäfte der Preußischen Landesregie60 61

Brief an Hindenburg vom 5. März 1933, N1 Grimme, Nr. 3271. Mitteilung des Landeswahlhelfers vom 24. März 1933, N1 Grimme, Nr. 3271.

Schikane und Fluchtpläne

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rung vorläufig durch die vom Herrn Reichspräsidenten eingesetzten Reichskommissare wahrgenommen werden, sind die unterzeichneten Staatsminister der Auffassung, dass sie für die Zukunft von der Verpflichtung aus der Vorschrift der Preußischen Verfassung entbunden sind. Sie legten ihre Ämter und Geschäfte als Staatsminister auch formell nieder und baten den Reichskommissar um Einverständnis. Gezeichnet wurde das Schreiben vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Hirtsiefer, dem Minister für Handel und Gewerbe, Schreiber, vom Justizminister Schmidt, dem Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, Steiger und von Grimme 62 . Papen nahm den Rücktritt sofort an. Wegen der „Zahlung des Ubergangsgeldes und der Versorgungsbezüge nach Maßgabe des Ministerpensionsgesetzes" versprach er das Erforderliche zu veranlassen63. Doch es geschah nichts. Am 5. April meldete sich der Direktor des Landtages und gab bekannt, der Landtagspräsident habe auf Ersuchen des Herrn Reichskommissars und des Ministers des Innern, Hermann Göring, angeordnet, dass die Zahlung der Aufwandsentschädigung und der Fahrkostenerstattungen an die Abgeordneten Severing, Grzesinski, Schreiber und Grimme gesperrt würden 64 .

4. Schikane und Fluchtpläne Am Ende wurden die Regierungsmitglieder „Opfer der eigenen Anständigkeit, die man bei dem Gegner gleichfalls voraussetzte", wie Grimme einräumte 65 . Die Staatsregierung hatte den Kampf gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus zwar entschlossen geführt. Doch die Grundlage ihres Handelns bestand in Gewaltlosigkeit und Verfassungstreue. Werte wie Toleranz und Unversehrtheit von Personen und Eigentum beachteten sie auch dort, wo die andere Seite ihre Rücksichtslosigkeit bereits bewiesen hatte. Weil sie sich aufgrund der „eigenen Anständigkeit" nicht vorstellen konnten, dass die Demagogie der Nationalsozialisten mehr als Worte war, sahen sie am Kern der Situation vorbei: Es ging in erster Linie darum, eine rassistische, menschenverachtende Weltanschauung durchzusetzen. Die Annahme Brünings, Hitler verlöre alles Ansehen, sobald er an der Regierung beteiligt und zum Lösen praktischer Probleme gezwungen war,

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Schreiben vom 25. März 1933, in: BstU R4901/PA G 313 Grimme, Adolf. Brief Papen an die Staatsminister vom 27. März 1933, Berlin, in: BstU R4901/PA G 313 Bl. 86. Schreiben Direktor beim PrLT an Grimme vom 5. April 1933, N1 Grimme, Nr. 3271. Brief an Otto Hegenscheidt vom 11. Mai 1958, Degerndorf, N1 Grimme, Nr. 3333.

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Aus dem Amt gedrängt

übersah den revolutionären Kern des Nationalsozialismus. Auch Grimme, der sich aus christlicher Sicht mit weltanschaulichen Fragen befasste, sah diesen Punkt nicht klar. Nationalsozialismus bestand in seinen Augen aus Hitler, den er für einen „Psychopathen" hielt und den Schlägern der SA. Die ideologische Anfälligkeit breiter Bevölkerungsschichten unterschätzte er. Die zukünftige Elite des Dritten Reiches war für ihn zwar noch nicht erkennbar, die Laufbahnen junger SS-Männer hatten in den lokalen Verbänden der N S D A P erst begonnen. Die breitere Öffentlichkeit ahnte jedoch nicht, dass sich ein Mitarbeiterstab von völkischen Technokraten formierte, der Hitlers Wahnideen nicht nur teilte, sondern weiterdachte. Die Bereitschaft, ihre Ideen in die Tat umzusetzen, fehlte nicht. Als Kultusminister schöpfte er seine gesetzlichen Möglichkeiten aus, um einen politischen Erfolg der N S D A P zu verhindern. Von der traditionellen Toleranzpolitik löste er sich aber nicht rechtzeitig. Von den eingefahrenen Bahnen der preußischen Kultuspolitik entfernte er sich nur wenig, was in diesem Fall nicht ausreichte. Obwohl er mit seinem Einsatz für die Republik aus der Masse der Gleichgültigen herausragte, ging möglicher Einfluss auf das Denken von Schülern und Studenten verloren, weil er sich parteipolitisch zurückhielt. Im März 1933 erschienen an einem Abend zwei Männer der Geheimen Staatspolizei und der Ortspolizist von Klein Machnow an der Haustür und verlangten nach dem Kultusminister. Eine Hausangestellte befand sich mit den Kindern allein und eröffnete den Polizisten, der Minister nehme an einer Fraktionssitzung der SPD im Preußischen Landtag teil. Die Beamten nutzten das im Haus befindliche Telefon, um sich die Anwesenheit im Landtag bestätigen zu lassen. Sie durchsuchten das Arbeitszimmer, beschlagnahmten einen Aktendeckel und verließen das Haus. Als der Hausherr aus dem Autobus stieg, folgten ihm die Polizisten, nahmen ihn fest und brachten ihn nach Berlin, wo er vier Stunden verhört wurde. Hauptsächlich ging es um zwei Millionen Mark aus der Preußischen Staatskasse, die Ministerpräsident Braun und seine Minister gestohlen hätten. Auf die Frage, wofür diese Gelder verwendet worden seien, antwortete er: „zur Bekämpfung der radikalen Parteien". Frage des Verhörers: „Nur der von Links?" Antwort: „Nein, auch der von rechts" 66 ! In den frühen Morgenstunden wurde er entlassen, allerdings mit der Auflage, am nächsten Tag um zwölf Uhr mittags im Polizeigefängnis am Alexanderplatz zu erscheinen. Er erschien, wartete einige Stunden und wurde dann - ohne erneutes Verhör nach Hause entlassen. U m Hindenburg 1932 in den Präsidentschaftswahlen zu unterstützen, war ein von Privatleuten gespeister Wahlfonds gegründet worden. Aus die66

Brief von Mascha Grimme, ohne Datum, N1 Grimme, N r . 3344.

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sem Fonds flössen zwei Millionen Mark an die preußische Polizei, die während der Wahlkampfzeit verstärkt werden sollte. Da sich in dem Fonds nicht genug Mittel befanden, beschloss der Landtag, den Etat zu überziehen. Die Polizei erhielt also zwei Millionen teils aus dem Fonds teils aus der Staatskasse. Fast ein Jahr später klebten an den Berliner Anschlagsäulen weiße Plakate mit der Aufschrift: „Zwei Millionen gestohlen". Wenige Tage später folgte dann ein weiteres Plakat mit zwei Namen: von Braun und Severing. Die Plakate waren Teil eines nationalsozialistischen Intrigenplanes, mit deren Hilfe der Wahlausgang im März beeinflusst werden sollte. Die nationalsozialistische Presse warf der Preußischen Staatsregierung vor, das Geld veruntreut und die Akten über die Vorgänge vernichtet zu haben. Der Ubertrag der Summe an die Polizei war allerdings rechtens und die Protokolle befanden sich bei den Akten 67 . Innerhalb der Behörden hätte jeder über die Vorgänge Bescheid wissen müssen, da die Presse schon vor den Wahlen im Juli 1932 über die Gelder berichtet hatte und Papen über die Verfügbarkeit der Protokolle von Brecht ins Bild gesetzt worden war. Wenn trotzdem in dieser Sache eine Verhaftung erfolgte, musste dies als ernster Hinweis auf eine neue Machtkonstellation in der Polizeibehörde gelten. Es mehrten sich Berichte und Gerüchte über Misshandlungen von Kommunisten durch SA-Leute und wer dem nicht Glauben schenkte, wurde am 27. Februar, dem Tag des Reichstagsbrandes, noch einmal durch die Reaktionen der Regierung belehrt. In Kiel hatte die SA eine Wahlveranstaltung mit Grimme, Otto Baumgarten 68 und Ferdinand Tönnies69 mit Tränenbomben gestört und aufgelöst 70 . Das Leben war nicht mehr sicher. In den nächsten Tagen stellte Grimme auf der Bank fest, dass keinerlei Bezüge überwiesen waren 71 . Ohne Einkommen, ohne Pass und ohne Zukunftsaussicht saß er in seiner Klein Machnower Wohnung. Da spielte es keine Rolle mehr, dass der neue Kultusminister72 sich genötigt sah, der Familie das „seinerzeit aus dienstlichen Gründen überlassene Rundfunkgerät" abzunehmen73. Gerade solche kleinen Schikanen verdeutlichten, wieweit die neue Staatsmacht ins Private hineinzuregieren gedachte. Widerstand war von nun ab nur unter Lebensgefahr zu leisten. Braun floh in der ersten Märzwoche in die Schweiz. Wilhelm Abegg, Rudolf Breitscheid, Wolfgang 67 68 69 70 71 72

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Schulze, Braun, S. 782 f. Otto Baumgarten (1858-1934), Professor für praktische Theologie in Jena und Kiel. Ferdinand Tönnies (1855-1936), Professor für Soziologie in Kiel. Brief an Toni Jensen vom 1. Juni 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 1 1 5 f. Brief von Mascha Grimme, ohne Datum, N1 Grimme, Nr. 3344. Papen hatte am 30. Oktober 1932 den Universitätsprofessor Kaehler aus Greifswald zum kommissarischen Kultusminister ernannt. Schreiben des Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 24. Juni 1933, Berlin, N1 Grimme, Nr. 3271.

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Heine und Robert Weismann folgten ihm dorthin. Grzesinski entkam nach Frankreich, wie auch Ernst Hamburger, Rudolf Hilferding und Hugo Simon, der Chefredakteur des „Vorwärts" Friedrich Stampfer, Staatssekretär Hans Staudinger und Brauns persönlicher Referent, Herbert Weichmann. Die erste Fluchtwelle des Jahres 1933 setzte sich fort, erfasste fast alle Parteien und führte in alle Nachbarländer. Auch Grimme reiste an die Schweizer Grenze am Bodensee, wo er zusammen mit seinem ehemaligen zweiten persönlichen Referenten, Rudolf Hommes, die Möglichkeiten zum Ubertritt sondierte. Hommes wollte seinem ehemaligen Vorgesetzten den Weg in die sichere Schweiz ebnen74. Im letzten Augenblick schreckte der zurück. Seine Familie ohne finanzielle Mittel in Deutschland zurückzulassen, schien ihm Verrat in eigener Sache zu sein75. Auch von anderer Seite versuchten bereits Emigrierte, ihn in die Schweiz zu bringen. Der spätere Leiter der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland, Fritz Demuth, bemühte sich aus dem Alpenland heraus um Hilfe 76 . Sein alter Lehrer Husserl bot ihm an, im Ausland zu vermitteln. Im November 1933 lehnte er das Exil mit der Begründung ab, das „Fortgehen der Männer, die an sichtbarer Stelle gestanden haben", sei ein „Verhängnis" 77 . Jeder Tag bestärke ihn in dieser Auffassung. Es sei auch nicht gleichgültig, von welchem geografischen Standpunkt aus der Einzelne der Zeit und dem Schicksal begegne. Der Standpunkt sei nie nur geografisch. „Man missachtet nicht folgenlos den Kairos. Man kann ihm nicht x-beliebig-wo begegnen." Er wollte dem Tyrannen nicht weichen, solange nicht die nackte Existenz doch noch das Exil erfordere. Die späteren Fluchtwellen endeten notgedrungen im entfernteren Ausland. So entstanden Briefkontakte nach China und Südamerika. Rudolf Hommes floh in die kolumbianische Hauptstadt Bogota. Von dort erfolgte ein erneuter Versuch, Grimme aus Deutschland herauszubringen. Demuth hatte sich erneut eingeschaltet. Der Präsident der Republik Kolumbien hatte 1935 über den Völkerbund Kontakt zu Deutschen Gelehrten und Bildungsexperten aufzunehmen versucht. Sie sollten in der kolumbianischen Verwaltung beratend eingesetzt werden. Ein Posten als Experte des Ministers für das Erziehungswesen stand zur Verfügung78. Es wäre, wie er schrieb, 74

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Brief an Walter Griess vom 30. Januar 1946, N1 Grimme, Nr. 1764. Brief an Richard Voigt vom 18. Juni 1951, N1 Grimme, Nr. 1764. Mündliche Mitteilung von Peter Grimme an den Autor. Schreiben an Fritz Heine, ohne Datum (1946), N1 Grimme, Nr. 1408. Brief an Edmund Husserl vom 26. November 1933, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 62 ff. Fritz Demuth an Grimme vom 11. Oktober 1935, N1 Grimme, Nr. 3268. Demuth hatte beim Völkerbund und in Paris mit Minister Gabriel Turby verhandelt. Die Ausreise Grimmes sollte spätestens Anfang Januar 1936 erfolgen.

Schikane und Fluchtpläne

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eine Stelle gewesen, die „eigens für meine Neigung und Vorbildung" gestellt schien79. Er prüfte über noch verbleibende Kontakte inoffiziell und vorsichtig die Chancen eines solchen Vorhabens und stellte die Pläne dann zurück. Für einen solchen Wechsel hätten die zuständigen deutschen Stellen zustimmen müssen. Die Mittelsmänner gaben aber zu verstehen, dass damit nicht zu rechnen sei. Es sähe andernfalls so aus, als könne er seine Politik mit dem Einverständnis der deutschen Staatsregierung andernorts weiter vertreten80. Zur gleichen Zeit hatte auch die Regierung Chinas begonnen, „abgebaute marxistische oder jüdische Verwaltungsbeamte" aus Deutschland nach Asien zu bringen. Das Innenministerium forderte daraufhin vom Auswärtigen Amt, den Chinesen deutlich zu machen, dass eine „Anstellung solcher Elemente auch dem eigenen Interesse Chinas" widerspreche81. Grimme gehörte mit Grzesinski, dem ehemaligen Polizeipräsidenten von Brandenburg, Bärensprung, Finanzminister Klepper, dem frühere Oberbürgermeister von Altona, Max Brauer, der Schriftsteller Otto Katz 82 und offenbar auch Ernst Bloch zu jenen, für die in China der ehemalige Polizeivizepräsident Bernhard Weiß vermittelte83. Das Auswärtige Amt verlangte nach „sachdienlichen Angaben", mit denen China der Widerspruch zu den eigenen Interessen vor Augen geführt werden könne. Im Kultusministerium fand man schnell heraus, dass schon die Seminararbeit aus dem Juli 1915 und ein „Bericht über das abgeleistete Probejahr" jegliches „tiefe Verständnis für die Bedeutung der damaligen Zeit vermissen" ließ. Es nehme nicht Wunder, dass er bereits am 3. Januar 1919 als Kandidat der D D P zur Preußischen Nationalversammlung aufgestellt worden sei. Weitere Berufungen habe er wohl seinem Ubertritt zur SPD zu verdanken. Ehrenrühriges könne aus seinem Vorleben nicht angegeben werden. Uber seine „dem deutschen Volke abträgliche Tätigkeit als sozialdemokratischer Schulmann und Minister" glaubte der neue Kultusminister sich nicht weiter auslassen zu müssen, da dieses „zur Genüge bekannt sei. „Ob er für das chinesische Volk in seinem schweren Kampfe um die Erringung

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Brief an Fritz Derauth vom 19. Oktober 1935, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 65. Brief an Fritz Demuth vom 6. Juli 1935, Berlin, N1 Grimme, Nr. 3268. Kühlborn (im Auftrag des Innenministers) an das Auswärtige Amt und an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 8. Dezember 1933, Berlin, in: BstU R4901/PA G 313, Grimme, Adolf Bl. 101. Otto Katz (1895-1952) war ein enger Vertrauter des Berliner Verlegers Willi Münzenberg. Der Jude und Kommunist Österreich-tschecheslowakischer Herkunft ging 1933 ins Exil nach Frankreich, später nach Mexiko und nannte sich Andre Simone. 1952 wurde er in der CSSR zum Tode verurteilt. Auswärtiges Amt in einem Rundschreiben an das Staatsministerium vom 17. Januar 1934, in: BstU R4901/PA G 313 Grimme, Adolf Bl. 103.

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A u s dem A m t gedrängt

seiner Selbständigkeit die geeignete Kraft bedeutet, muss nach seiner verhängnisvollen Tätigkeit in Deutschland und seiner volklich abholden Einstellung als ausgeschlossen bezeichnet werden" 84 . Die deutsche Regierung ließ über das Auswärtige Amt erklären, die Anfrage befremde und man erhebe „schärfsten Einspruch" gegen das Einstellen der genannten Personen85. Der deutsche Gesandte in China wurde aufgefordert, sich um die Rücknahme der bereits ausgestellten Arbeitsverträge von Klepper, Brauer, Katz und Bloch zu bemühen. Ein Exil in Kolumbien oder China hätte die Lebensverhältnisse sichern und Grimme aus einer ersten Gefahr befreien können. Allerdings hätte er seine Familie zurücklassen müssen. Zudem war die politische Zukunft der weit entfernten Länder kaum absehbar. Auch dort konnte jederzeit eine neue politische Situation entstehen, die ein Verbleiben unmöglich machte. Der Einspruch der deutschen Regierung machte alle Gedankenspiele hinfällig86. Von diesem Zeitpunkt an galt es endgültig, sich im nationalsozialistischen Deutschland einzurichten87.

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Staatssekretär D u w e an den Ministerpräsidenten vom 3. Januar 1934, Berlin, in: B s t U R 4 9 0 1 / P A G 313 Grimme, Adolf Bl. 102. Auswärtiges A m t in einem Rundschreiben (wie Anm. 83), Bl. 104. Rundschreiben des Auswärtigen Amtes vom 29. März 1934, Berlin. Zur NS-Außenpolitik gegenüber China siehe Manfred Funke (Hrsg.): Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, Nachdruck, Düsseldorf 1978.

Siebtes Kapitel Leben unterm Hakenkreuz

1. Rückzug ins Privatleben Bis zum 1. November 1933 blieben Einkünfte aus. Wider alles Erwarten brachte ein Postbote im Jahre 1932 eine überzahlte Steuer zurück, womit sich die ersten Monate finanziell überbrücken ließen1. Im August oder zu Beginn des Septembers 1933 bot Herbert Cram 2 , Chef des Verlages „Walter de Gruyter", dem ehemaligen Minister eine Lektorenstelle an und schon am 29. September kamen die ersten Manuskripte zur Durchsicht 3 . Für Cram und seinen Verlag barg das Verhältnis ein beträchtliches Risiko, weshalb der Kontakt geheim blieb. Morgens um sechs Uhr radelte der neue Lektor knapp über eine Stunde zum Bahnhof Teltow, wo er von einem Überbringer das Material in Empfang nahm4. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln war der Bahnhof zu der Zeit der Botendurchfahrt nicht erreichbar5. Am nächsten Morgen bekam der Überbringer das Bearbeitete zurück. Der Verlag bezahlte „schwarz" 6 . So dankbar er sich Cram gegenüber zeigte, so klar brachte die Tätigkeit ihm die Ausweglosigkeit seiner Lage zu Bewusstsein. An Husserl schrieb er, es sei eine „nicht eben geistbildende, sogar recht mechanische Tätigkeit und ich bin ja auch fast der Meinung, dass es zu ihrer anständigen Erledigung nicht unbedingt meines bisherigen beruflichen Vorbildungsweges bedurft hätte" 7 . Am 1. November 1933 hielt er seine erste Lohntüte in der Hand, wodurch der Eintritt in die neue Zeit vollzogen war. Das Schicksal ehemaliger Kollegen und Genossen, die seit dem Machtwechsel in Kon-

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Brief an Edmund Husserl vom 26. November 1933, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 63. Herbert Cram (1890-1967) war geschäftsführender und persönlich haftender Gesellschafter des Verlages de Gruyter, verheiratet mit Clara de Gruyter. Brief an Herbert Cram vom 2. Oktober 1933, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 61. Brief an Herbert Cram vom 20. Juni 1934, N1 Grimme, Nr. 1358. Brief an Herbert Cram vom 2. Oktober 1933, in: Sauberzweig (1967), S. 61. Brief an Herbert Cram vom 13. September 1948, N1 Grimme, Nr. 1358. Brief an Edmund Husserl vom 26. November 1933, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 62.

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Leben unterm Hakenkreuz

zentrationslagern verschwunden waren, stand ihm vor Augen 8 . Die zurückgehaltenen Bezüge förderten den Zwang, sich unauffällig zu verhalten. Schreiben an die zuständigen Ämter blieben unbeachtet, Gründe für die Maßnahmen nannte niemand 9 . Es war eine Lebenssituation, die politisches Handeln kaum erwarten ließ: Existenzsorgen und seelischer Druck minderten die Risikobereitschaft. Der Weg aus dieser Lage in den aktiven Widerstand folgte einem Muster, das ähnlich in vielen Biografien wiederzufinden ist: Dem Januar 1933 folgte ein Rückzug ins Private. Sodann die Umschau nach verbliebenen Mitstreitern und Unzufriedenen, die sich in großer Zahl fanden. Es hing von verschiedenen Faktoren ab, ob entstehender Widerstand seiner Natur nach romantisch blieb oder ernsthafte Aussicht auf einen politischen Umsturz besaß. Neben der erforderlichen Zivilcourage lag der wichtigste darin, nah genug an Hitler heranzukommen. Ohne ihn zu beseitigen, konnte kein Staatsstreich erfolgreich sein. Entscheidend war, sich Zugang zum Behördenapparat zu verschaffen und über Personal zu verfügen, das diesen bedienen konnte. Es musste eine Autorität vorhanden sein, die nach erfolgtem Umsturz den Ehrgeiz der Einzelnen zügelte und den Respekt weiter Bevölkerungskreise genoss. Ohne Verschwiegenheit konnte keine Opposition ihr Ziel erreichen. Diplomaten und Wehrmachtsangehörige, von Berufs wegen darauf verpflichtet, verfügten über besondere Voraussetzungen. Für traditionelle Verbindungen unter adligen Familien galt es auch. Aus technischer Sicht eignete Grimme sich weniger zum Mittelpunkt einer Bewegung. Weder zu höheren Regierungsstellen noch zu ehemaligen Führern der Sozialdemokratie bestanden ausbaufähige Kontakte. In die Arbeiterkultur reichten die Wurzeln nicht tief genug, um etwa die Auslandsbüros mit Berichten zu versorgen oder sich am Schriftenschmuggel zu beteiligen. Als ehemaliger Minister musste er zudem damit rechnen, überwacht zu werden. Seine Charaktereigenschaften boten hingegen gute Voraussetzungen. Ehrgeiz, Machthunger und revolutionäre Energie gingen ihm ab. Dafür besaß er ein sittliches Gewissen, eine patriotische Gesinnung und lehnte die bloße Restauration alter Zustände ab. Als Christ und Sozialdemokrat hätte er in den Plänen des bürgerlichen Widerstandes eine wichtige Rolle spielen können. Weshalb er dort keinen Eingang fand, bleibt eine nur halb zu klärende Frage. Es entsprach einem allgemeinen Verhalten, Männer der eigenen politischen Richtung zu versammeln. Der im Süden Berlins entstehende Kreis bildete keine Ausnahme. Der ehemalige Herausgeber des „Sozialistischen 8

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Von Ernst Heilmann hat sich ein Brief vom 13. Februar 1938 erhalten, N1 Grimme, Nr. 2833. Brief an Finanzminister vom 4. September 1933, N1 Grimme, Nr. 3270.

Rückzug ins Privatleben

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Korrespondenten", Erik Nölting, gehörte dazu. Über ihn verhängten die Behörden ein Aufenthaltsverbot für die Städte Frankfurt und Bielefeld. Ein SA-Sturm zerstörte das Verlagsgebäude. Nach der ersten Haft zog er sich ins Sauerland zurück, um 1934 nach Berlin überzusiedeln, wo er unter falschem Namen publizistisch tätig war10. Die beiden kannten sich seit den frühen zwanziger Jahren". Zusammen mit dem Verleger Arthur Seiffhart12 und Ladislaus Somogyi 13 trafen sie sich entweder zu Hause oder in einer kleinen „charmanten Weinstube" 14 . Es waren die „bleibenden Weggefährten", die zwischen „Vermassung" und „Vereinsamung" einen dritten Weg suchten - den der „Selbstbewahrung" 15 . Es handelte sich bei den Gästen nicht notwendigerweise um Freunde, eher um Schicksalsgenossen. Die Analyse der politischen Lage nahm in den Gesprächen einen breiten Raum ein, war jedoch zunächst nicht die Hauptsache. Vorträge wurden gehalten, von denen Grimme nach dem Krieg einen unter dem Titel „das Wesen der Romantik" veröffentlichte. Er versuchte nachzuweisen, dass die Romantik als eine rein dem Gefühl verbundene Geistesbewegung missverstanden sei. Dichter, die der Romantik zugerechnet werden, hätten sich zwar gegen die von populären Aufklärern vertretene einseitige Verstandesgläubigkeit gewandt. Nicht jedoch durch ein völliges Verneinen des Verstandesmäßigen, sondern indem sie auf das Wechselwirken von Gefühl und Verstand hinwiesen. In solchen Gedanken lag ein, vielleicht gar nicht bewusst betriebener Versuch, gegen die einsetzende Propaganda resistent zu bleiben. Denn die ganz eigene Begriffswelt der Nationalsozialisten transportierte verhängnisvolles Gedankengut in die entlegensten Winkel des Reiches 16 . Joachim Fest schrieb, Hitler sei immer darauf bedacht gewesen, dass seine „Deutungen ins Schlagwort umsetzbar waren und viele grelle, haftende Begriffe hergab, die noch lange nach seinen Auftritten, in den unkontrollierten Bewusstseinsschichten selbsttätig ihre Wirkung entfalteten" 17 .

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Manfred Asendorf u. Rolf Bockel von (Hrsg.): Demokratische Wege. Deutsche Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten, Stuttgart usw. 1997, S. 455 ff. Frühestes erhaltenes Zeugnis der Bekanntschaft ist ein Brief vom 9. Februar 1923, Nl Grimme Nr. 3302. Arthur Seiffhart (1889-1959), Verleger im Axel Juncker-Verlag in Berlin. Ladislaus Somogyi (1906), Verleger, später Mitarbeiter beim SFB. Brief an Arthur Seiffhart vom 13. September 1948, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 143. Das Folgende in Adolf Grimme: Das Wesen der Romantik, Heidelberg 1947, S. 79 ff. Victor Klemperer: LTI, Berlin 1947, auch Helmut Elbers: Intention, Entstehungsprozeß und Wirkung von Victor Klemperers LTI, bearb. Diplomarbeit, Duisburg 1998. Joachim Fest: Der Führer, Frankfurt a. M. usw., S. 389.

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Leben unterm Hakenkreuz

In der Sprache des Nationalsozialismus spiegelt sich der ideologische Wesenskern, den Grimme sich bis zum Preußenschlag nicht vollständig erschlossen hatte. Ein nicht unwesentlicher Teil der spezifisch nationalsozialistischen Sprache entstammte einer Begriffswelt des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Schlagworte wie Natur und Instinkt standen gegen den Gebrauch von Verstand und Vernunft. Die Argumentation der Propaganda war verworren. Um sie zu widerlegen, benötigte man Kenntnisse. Ob dem Vortrag eine solche Klarsicht zugrunde lag, ist fraglich. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Studie als politischer Beitrag entstand. Der literarische Gesichtspunkt spricht eher für die Absicht der „Selbstbewahrung" und für einen Bedarf, intellektuelle Fragen unideologisch zu erörtern. In einer Öffentlichkeit, die zusehends mit nationalsozialistischer Propaganda durchsetzt wurde, war dies ein verständlicher Wunsch. Gleichzeitig begann er, das Johannesevangelium einer eingehenden Analyse zu unterziehen. Er vergewisserte sich herkömmlicher Grundwerte und prüfte sie auf ihre Allgemeingültigkeit. Darin sah er eine nützliche Arbeit für die Zeit nach dem Nationalsozialismus. Für den Moment bedeutete sie eine unangemessene Wirklichkeitsflucht. Er hielt verschiedene Gesprächskreise nach den, wie er rückschauend überlieferte, „Gesetzen der illegalen Taktik" miteinander verbunden18. Vom Personalstamm des Staatsministeriums nahmen einige teil, etwa der ehemalige Staatssekretär Hans Krüger19, der schon erwähnte Erik Nölting, der frühere Ministerialdirektor im Reichsministerium des Innern, Hans Menzel und der Oberstudiendirektor Heinrich Deiters. Wenn Männer wie Severing oder Noske nach Berlin kamen, sprachen sie vor20. Auch der Architekt Max Taut21, den Grimme aus Magdeburg kannte, kam zu Besuch22. Der ehemalige Minister und Rechtsanwalt Walther Schreiber, der ihn später vor dem Reichskriegsgericht verteidigen wollte, verkehrte freundschaftlich mit ihm23. Noch als Kultusminister hatte er Ernst und Arvid Harnack kennengelernt. Der Kontakt bestand seit einer Veranstaltung der „KaiserWilhelm-Gesellschaft", die dem Theologen Adolf von Harnack gewidmet

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Adolf Grimme, Romantik (wie Anm. 15), S. 81. Hans Krüger war von 1923 bis 1927 Regierungspräsident in Lüneburg, 1 9 2 8 - 3 2 Staatssekretär im preußischen Landwirtschaftsministerium und Mitglied der SPD. Hans Menzel an Grimme vom 11. Juli 1955, N1 Grimme, Nr. 3365. Max Taut (1884—1967) war der jüngere Bruder des bekannteren Architekten Bruno Taut, mit dem er seit 1912 ein gemeinsames Büro betrieb. Wegen ihres modernen Architekturverständnisses erhielten die Brüder seit der Machtübernahme der N S D A P keine öffentlichen Aufträge mehr. Nach dem Krieg war er Dozent an der H d K in Berlin. Brief an Max Taut vom 30. August 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 123. Siehe den Abschnitt „Staatsgefangener".

Rückzug ins Privatleben

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und auf der er als Redner aufgetreten war24. Arvid Harnack und Adam Kuckhoff besuchten ihn regelmäßig in seinem Haus, wo sie Probleme verschiedenster Art erörterten. Diese beiden bezeichnete er als die „nächsten politischen Freunde" 25 . Menzel schrieb über diese verschiedenen Kreise, es seien bei einer Tasse Tee Vorträge gehalten und anschließend die politische Lage erörtert worden. Die Zusammenkünfte hätten zur Information gedient und dem Zweck, alte Partei- und Gesinnungsfreunde zusammenzuhalten. Solche Kreise habe es viele gegeben. „Einige mögen sich, ohne mehr als wir getan zu haben, als Widerstandskämpfer gefühlt haben, uns lag das fern" 26 . Für die Ungezwungenheit der Runden sprach der Umstand, dass Sympathisanten des nationalsozialistischen Staates nicht streng ausgegrenzt wurden. So konnte Grimme während einer Stunde im Haus des Verlegers Somogyi, einem „weiblichen SA-Mann" 1940 oder 1941 entgegenhalten, der Krieg sei bereits hundert prozentig verloren27. Es gehört zu den Besonderheiten der „Roten Kapelle", dass ihre Mitglieder die militärische Niederlage früh voraussahen. Andere Gruppen brauchten dafür länger und ließen sich durch zwischenzeitliche Erfolge verhängnisvollerweise immer wieder blenden. Gegen Treffen dieser Art gingen die neuen Machthaber auf verschiedenen Ebenen vor. Noch im März 1933 wurde das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" erlassen. Es diente dazu, „Parteibuchbeamte", „nichtarische" oder einfach „politische unzuverlässige" Beamte aus dem Staatsdienst zu entfernen. Die „Nichtarier" bevorzugte das Gesetz zunächst noch insofern, als sie die vollen Ruhegehaltsbezüge erwarten durften. Die wegen „politischer Unzuverlässigkeit" Entlassenen erhielten nur drei Viertel ihrer Bezüge 28 . Neben dem politischen Druck versuchten die Nationalsozialisten, möglichen Widerstand über äußerlich harmlos erscheinende Methoden zu brechen. Die gedrückte wirtschaftliche Lage der Ruhegeldempfänger flankierten Angebote zum Uberlaufen. Im Wiederherstellungsgesetz hieß es: Habe sich der Betroffene „vorübergehend in einem den Grundsätzen der nationalen Erhebung zuwiderlaufenden Sinne betä-

24

Verteidigungsschreiben im Prozess gegen Westarp vom 21. März 1952, N1 Grimme, N r . 320.

25

Brief an Marie Luise Schulze vom 22. August 1945, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 97 f.; siehe auch Brief an Friedrich Lenz vom 27. November 1946, N1 Grimme, N r . 2023.

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Hans Menzel an Grimme vom 11. Juli 1955, N1 Grimme, Nr. 3365. Brief an Ladislaus Somogyi vom 16. Mai 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 112.

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Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung (Hrsg.): Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen, Berlin 1933 (weiterhin zit.: Zentralblatt 1933).

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tigt", so sei zukünftig zu erwarten, dass der ehemalige Beamte „dem nationalen Staate in Treue ergeben sein wird" 29 . Denn nur „von außen an ihn herantretende Einflüsse" könnten sein Verhalten veranlasst haben und diese Einflüsse seien beseitigt. In ein „Formblatt" waren die näheren Umstände der Beamtenlaufbahn einzutragen. Für Beamte, die zum Teil auf einen jahrzehntelangen Dienst in der Verwaltung zurückblickten, bildete das Blatt eine beabsichtigte Demütigung. Ein weiteres Gesetz bestimmte, dass der Bezug von Wartegeld, Rente und Hinterbliebenenbezüge ruhe, wenn der „Bezugsberechtigte nach Feststellung der obersten Reichs- oder Landesbehörde sich in marxistischem Sinne betätigt. Wie lange die Versorgungsbezüge aus diesem Grunde ruhen, entscheidet die oberste Reichs- oder Landesbehörde" 30 . Im Ministerrat wurde über die Zahlungssperre am 17. März 1934 außerhalb der Tagesordnung verhandelt. Die Mitglieder des Rates erzielten Einigkeit darüber, dass die Sperren gegenüber Braun, Hirtsiefer, Klepper und Grimme aufrechterhalten bleiben müssten31. Sie bedauerten, dass der Witwe des mittlerweile verstorbenen C. H. Becker die Hinterbliebenenbezüge nicht gekürzt werden könnten, da dieser bereits 1930 aus dem Amt geschieden war und das Gesetz sich nur auf Beamte anwenden ließ, die nach dem 31. Mai 1932 in den Ruhestand getreten seien32. Das Gehalt blieb eingefroren, da Grimme „ab 1. Juli 1922 bis zum Erlöschen seines Mandates im Preußischen Landtag der SPD angehört hat und in diesen Jahren als Exponent der Partei" in der Öffentlichkeit in erhöhtem Maße im Kampf gegen die nationale Bewegung hervorgetreten" sei33. Die finanzielle Lage der Familie spitzte sich zu. Zu Beginn des Jahres 1935 musste er die „Frankfurter Zeitung" abbestellen. Dem kaufmännischen Vertreter der Zeitung gab er zu verstehen, dass die „gelegentliche emphatische Gefühlsüberbetontheit gerade in den nicht-kritisch gehaltenen Teilen" für sein und vieler seiner Bekannten Empfinden ein Ärgernis sei und es

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Beilage zur „Preußischen Lehrerzeitung" mit dem Titel „Schulrecht" vom 12. August 1933. Darin: Durchführungsbestimmungen für Beamte im Ruhestand und Hinterbliebene zum Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933. Gesetz über die Änderung versorgungsrechtlicher Vorschriften. Beilage zur „Preußischen Lehrerzeitung" mit dem Titel „Schulrecht", vom 12. August 1933, N1 Grimme, Nr. 308. Bergbohm in einer Aktennotiz, BA, Personalakte Grimme, R 4901/17697, Bl. 109. Körner (in Vertretung für den Ministerpräsidenten) an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 27. Oktober 1933, Berlin, BA, Personalakte Grimme, R 4901/17697. Brief Stuckart an den Preußischen Ministerpräsidenten vom 30. September 1933, Berlin, BA, Personalakte Grimme, R 4901/17697, Bl. 100.

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deshalb etwas leichter falle, auf die Lektüre zu verzichten34. Solange er im Stande war, durch das Korrekturlesen von seiner Familie das Äußerste abzuwenden, wollte er zumindest die Lebensversicherung nicht antasten. Diese Sicherheit glaubte er Frau und Kindern zuschulden, da niemand wissen könne, „was einem plötzlich widerfährt" 35 . Es ist denkbar, dass man ihn für einen möglichen Uberläufer hielt. Dafür sprächen gelegentliche Anrufe von lokalen NSDAP-Funktionären, die ihn dazu überreden wollten. Die Geldnot der Familie wurde als Druckmittel eingesetzt. Doch für ein Linsengericht wollte er seine Gesinnung nicht verkaufen36; und musste es auch nicht. Am 27. Februar 1935 erhielt er Post vom Finanzminister. Für die Zeit vom 1. April 1933 bis zum 31. Januar 1935 stellte die Staatskasse eine Schuld von 29925,25 Reichsmark fest, die nach Abzug von Steuern auf sein Konto überwiesen wurde. Er konnte bald darauf mit einem regelmäßigen Wechsel in Höhe von drei Vierteln des errechneten Ruhegehaltes von 9952 Reichsmark jährlich rechnen37. Die Generalstaatskasse, hieß es, sei von Hermann Göring angewiesen, diesen Betrag zu zahlen38 Die Regierung hielt die Macht für gefestigt, den inneren Widerstand für gebrochen. Nun wurde vor dem Ausland eine Fassade errichtet, um den Anschein von Normalität zu erwecken. Heydrich unternahm 1937 einen Versuch, Otto Braun zu einem Besuch in Deutschland zu bewegen, was eine gewaltige Symbolkraft besessen hätte. Als Braun es empört ablehnte, sich durch einen solchen Besuch „vom Emigrantentum zu lösen", erhielt er umgehend Bescheid, in seiner Pensionssache könne nichts veranlasst werden39. Dass ein ehemaliges Mitglied der preußischen Regierung unbehelligt und mit einer staatlichen Pension ausgestattet im Reich leben konnte, bot im In- und Ausland ein vorzügliches Tarnbild. Gleichzeitig war der Pensionsempfänger zu einer gewissen Akzeptanz der Regierung gezwungen und für eine eventuelle Zusammenarbeit gefügig. Der Begünstigte zögerte nicht, die eingetroffene Summe einzusetzen. Den Lektorposten bei de Gruyter gab er auf und bat den Verlag, den letzten republikanischen Reichstagspräsidenten, Paul Löbe, mit der Aufgabe zu betrauen40. Uber das Verhältnis zu Löbe ist nichts Näheres überliefert.

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Brief an Otto Ullmann vom 4. Februar 1935, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 64 f. Brief an Edwin Neruda vom 28. Mai 1934, Berlin, N1 Grimme, Nr. 2177. Mündliche Mitteilung an den Autor von Peter Grimme. Schriftwechsel zwischen Grimme und dem Finanzministerium, N1 Grimme, Nr. 3270. Göring an den Preußischen Finanzminister vom 21. Dezember 1934, Berlin, BA, Personalakte Grimme, R 4901/17697, Bl. 115. Als Anlage beigefügt. Hagen Schulze, Braun, S. 798. Brief an Paul Löbe vom 12. Dezember 1955, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 202.

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Es ist aber nicht unwesentlich, dass er ausgerechnet an ihn dachte. Innerhalb der Sozialdemokratie gab es nach dem Verbot der Partei verschiedene Reaktion auf die neue Lage. Lobe gehörte zu jenen, die das Abtauchen in die Illegalität und Untergrundarbeit ablehnten. Zu Kurt Schumacher bestand hingegen keine Verbindung. Max Taut erhielt den Auftrag, in Klein Machnow ein Haus zu bauen. Das benachbarte Grundstück bewohnte der Bürgermeister von Klein Machnow, ein Nationalsozialist der ersten Stunde, der auch Sonntags seinen Garten in Uniform bestellte. Zur Vorsicht erfüllte die Familie deshalb einige Formalien. Nachdem Sohn Peter in der Schule eine Vier im Deutschen drohte, weil er der letzte nicht uniformierte Schüler seiner Klasse war, meldete der Vater ihn zur Hitlerjugend an. An nationalen Feiertagen hisste er die Hakenkreuzfahne, wenn auch im kleinsten Format und aus dem Toilettenfenster. Der Nachbar kam seiner Pflicht nach und grüßte mit ausgestrecktem Arm über den Zaun. Am 22. Juli hatte die neue Regierung per Erlass mitgeteilt, dass es angebracht sei, den von Adolf Hitler eingeführten Gruß allgemein als deutschen Gruß anzuwenden. Die Beamtenschaft müsse dem deutschen Volke vorangehen, weshalb von ihr auch außerhalb des Dienstes der Gruß erwartet würde41. Es war außerdem „allgemein Übung geworden, beim Singen des Liedes der Deutschen und des Horst-Wessel-Liedes den Hitlergruß zu erweisen, ohne Rücksicht darauf, ob der Grüßende Mitglied der NSDAP ist oder nicht. Wer nicht in den Verdacht kommen will, sich bewusst ablehnend zu verhalten, wird daher den Hitlergruß erweisen". Ein junger Handwerksgeselle, der im Hause Grimme mit seinem Meister anrückte, stand stramm vor dem ehemaligen Minister und reckte den Arm zum Gruß. Sein Meister besänftigte den Jungen und beschied: „Lass man, Paule, hier brauchste nich'" 4 2 !

2. Sinn und Widersinn des Christentums Der Rückzug ins Privatleben erlaubte es, private Kontakte sorgfältiger zu pflegen. Als Minister bestand dazu kaum die Möglichkeit. Seit 1929 korrespondierte Grimme mit seinem Universitätslehrer Husserl und an einen Besuch des Philosophen in Berlin 1931 knüpfte sich eine Art Freund-

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Folgende Zitate aus: Erlass N r . 241 und 242, in: Zentralblatt 1933 (wie Anm. 28), S. 203 f.

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Mündliche Mitteilung von Peter Grimme an den Autor.

,Sinn und Widersinn des Christentums"

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schaft43. Husserl verlor als sogenannter „Nicht-Arier" seine Professur und bekam von seinem eigenen wissenschaftlichen Zögling, Martin Heidegger, Hausverbot an der Universität erteilt44. Zu Weihnachten 1933 trafen die Familien zusammen 45 und im April 1937 folgte ein Besuch in Freiburg. Es ist anzunehmen, dass Husserl sowohl die kleinere Studie über das Wesen der Romantik kennenlernte, als auch das seit 1935 entstehende Groß werk über das Johannesevangelium46. Die theologische Arbeit fußte auf Gedanken des Gelehrten. Mit „einigen jungen Geisteswissenschaftlern" hatte Grimme Mitte der dreißiger Jahre einen Aufsatz Husserls über den „Logos bei Johannes" gelesen und beinahe noch für aktueller befunden als seinerzeit an der Universität 47 . Der „Logos" galt beiden als das entscheidende Phänomen des vierten Evangeliums und sei das Halt gebende des Christentums. Grimme unternahm es nun, das Wesen des Logos bei Johannes zu klären und die verschiedenen, ineinander verwobenen Phänomene und Begriffe des Johannesevangeliums auseinanderzuziehen. Aus der theologischen Arbeit erwuchs eine Bekenntnisschrift, die einen tiefen Einblick in sein Denken gestattet und Motive seines Handelns offenlegt. Dem Werk lagen unideologische, aufklärerische, der Vernunft verpflichtete Gedanken und jahrzehntelange Arbeit zugrunde. Es besteht aus einem theologischen und einem philosophischen Teil, wobei der zweite nicht überzeugt. Das Scheitern in diesem Bereich verantwortete, dass erst nach Grimmes Tod ein Torso erschien. Die Philosophie sollte den Beweis bringen, dass Vernunft der wesentliche Bestandteil des Christentums ist. An Scharfsinn und Präzision mangelt es dem Werk nicht, doch Vernunft ist nur ein Mittel zum Zweck, eine Grundfähigkeit, die zur Erkenntnis führt, an sich aber ohne Richtung bleibt. Eine Gesellschaft ist auf Vernunft nicht aufzubauen. Es muss Werte geben, die durch vernünftiges Denken und Handeln erst erreicht werden. Dieselbe Schwierigkeit ergibt sich für den Liebesbegriff. Wer die Welt liebt, den Geist für uneinschränkbar hält, kann der völkischen Ideologie nicht erliegen. Nur: Wer allem den gleichen Wert beimisst, wird die Welt nicht ordnen. Zu einer Ordnung gehört, bestimmte Dinge höher als andere einzuschätzen. Mit der völkischen Ideologie teilte der Autor den Ansatz, auf die Produktivkräfte der Natur angewiesen zu bleiben. Nach den Nationalsozialisten setzte sich das Stärkere durch, nach

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Brief an Edmund Husserl vom April 1929 und Husserl an Grimme vom 22. Juni 1931, N1 Grimme, Nr. 2845. Christian Jansen: Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914-1935, Göttingen 1992. Konzept eines Briefes vom 6. April 1934, N1 Grimme, Nr. 2845. Vom Besuch in: Brief an Husserl vom 19. Dezember 1937, N1 Grimme, Nr. 2845. Brief an Husserl vom 6. April 1937, N1 Grimme, Nr. 2845.

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Grimme die Idee, die von einer „sehenden" Mehrheit als richtig erkannt wird. Der Inhalt vertrug sich nicht mit der offiziellen Ideologie. Eine rassische Politik ließ sich durch sie nicht rechtfertigen, das Gewicht der Einzelperson kehrte die Idee von Führerschaft geradezu um. Es war Grimme nicht fremd, in Begriffen wie Elite, Volk oder Nation zu denken. Es zeigte sich gleichwohl, weshalb er an die völkische Idee nirgendwo anknüpfen konnte. Das Fehlen von Dogma und Kult bedeutete, Gemeinschaften aufzulösen und Hierarchien zu verflachen. Die Nähe zu Gott bestimmte jeder durch seinen eigenen Willen, ohne von fremden Mächten abzuhängen. Die entscheidende Grenze lag im Liebesgedanken. Er schloss Rassenhygienisches ebenso aus wie das Stilisieren von Krieg. Die beschriebenen Werte waren pazifistisch und kannten keine nationale oder völkische Schranke. Jemand, der solche Werte vertrat und verbreitete, konnte sich in Schwierigkeiten bringen. Wäre er verhaftet worden, wenn ein Gestapo-Beamter bei einer Haussuchung die Schrift gefunden hätte? Wenn er dem Autor übelwollte, gewiss. Wenn er wohlwollend, ohne Lust und Kenntnis vorgegangen wäre, hätte in seinem Bericht vermutlich gestanden, der Autor fantasiere über theologische Fragen und bedeute für den neuen Staat keine Gefahr. Man fragt sich, weshalb Grimme sich einer linken, politischen Gruppe anschloss. Denkbar und naheliegend wäre eine Mitarbeit in den umliegenden Kirchengemeinden gewesen. Gerade die südlichen Berliner Pastorenkreise erwiesen sich als verhältnismäßig resistent und mutig. Bei planvollem Vorgehen hätte er diese Möglichkeit vielleicht erwogen. Doch wurde er in den Widerstand hineingezogen, bedingungslos angeschlossen hat er sich nicht.

3. Die „Rote Kapelle" Unter dem Begriff „Rote Kapelle" fasste die Gestapo vier unterschiedliche Gruppen zu einer in Wirklichkeit nicht vorhandenen Einheit zusammen. Ein Mitglied der Berliner Gruppe um Schulze-Boysen, der spätere D D R Historiker Heinrich Scheel, fand den Namen „klangvoll" und als „Ehrenname" brauchbar48. Obgleich der Begriff von der Gestapo eingeführt und unzulässig verallgemeinert wurde, scheint er mit dieser Zustimmung gerechtfertigt. Literarisch lässt sich der Name „Rote Kapelle" leichter handhaben als andere, erst zu schaffende Titel für die eigentlich vier verschiedenen Widerstandsphänomene: Die erste der genannten Gruppen war ein nachrichtendienstlicher Stützpunkt in Belgien und Frankreich, der mithilfe 48

Heinrich Scheel: Vor den Schranken des Reichskriegsgerichts. Mein W e g in den W i derstand, Berlin 1993, S. 264 (weiterhin zit.: Scheel, Mein Weg).

Die „Rote Kapelle"

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der sowjetischen Militäraufklärung betrieben wurde und wo Kontakte zur französischen und belgischen Resistance bestanden. Eine zweite Gruppe setzte sich aus KPD-Mitgliedern zusammen, die in ihren Betrieben illegale politische Strukturen aufbauten und über diesen Weg ebenfalls mit sowjetischen Geheimdiensten zusammenarbeiteten. Im Auswärtigen Amt hatte sich ein Kreis um Rudolf von Scheliha49 gebildet. Als viertes Glied der „Roten Kapelle" galt schließlich die Gruppe um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen, zu der Grimme gehörte50. Der Wirtschaftswissenschaftler Arvid Harnack, Mitglied einer großen Gelehrtenfamilie, studierte von 1926 bis 1929 in den Vereinigten Staaten, wo er die Englisch-Dozentin Mildred Fish 51 heiratete. Zurück in Berlin begann er, sich mit der sowjetischen Planwirtschaft zu befassen, ohne zu beabsichtigen, sie auf Deutschland zu übertragen. Er suchte überall nach Elementen für ein eigenes System. Seit Mitte der dreißiger Jahre arbeitete er als Reichsregierungsrat im Wirtschaftsministerium und hatte damit Zugang zu wichtigen Informationen. Die Kontakte nach Amerika und nach Russland pflegte er weiter 52 Dies entsprach seinem Verständnis davon, wie ein künftiges Deutschland außenpolitisch auszurichten wäre. Deutschland, so meinte er, müsse die großen Seitenmächte gegeneinander ausbalancieren. Zu Grimme sagte er, sie bräuchten eine „Faust, um nicht moskauhörig zu werden". Verleger, Autoren, Kritiker und Akademiker aller Richtungen versammelten sich in Harnacks Haus. Der Anspruch an die Gästeliste änderte sich mit der neuen politischen Konstellation nach dem Januar 1933. Die Harnacks bemühten sich, Gegner des nationalsozialistischen Regimes auszumitteln und zwar hauptsächlich zu dem Zweck, in Deutschland nun schwer zugängliche Informationen zu verbreiten. Die amerikanische Botschaft in Berlin, zu der Harnack von Amts wegen ohne Gefahr Fühlung hielt, nahm

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Rudolf von Scheliha (1897-1942) war seit Mitte der zwanziger Jahre im diplomatischen Dienst und seit 1933 Mitglied der NSDAP. Er pflegte Kontakte zu polnischen Intellektuellen, die er nach der Besetzung des Landes durch die Wehrmacht zu schützen versuchte und gab Informationen des Auswärtigen Amtes über deutsche Gewaltverbrechen und Pläne zur „Endlösung der Judenfrage" weiter. Am 22. Dezember 1942 wurde er als Widerstandskämpfer in Berlin-Plötzensee erhängt.

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Grundlegend für die „Rote Kapelle": Hans Coppi u. a.: Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 1994 (weiterhin zit.: Coppi, Rote Kapelle). Mildred Harnack, geb. Fish (1902-1943), wuchs in Milwaukee als Tochter eines Kaufmannes auf. Sie unterrichtete an der Madison University Literaturwissenschaften, später auch in Berlin. Folgende Zitate aus: Shareen Brysac: Mildred und Arvid Harnack, The American Connection, in: Coppi, Rote Kapelle (wie Anm. 50), S. 180 ff.

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Leben unterm Hakenkreuz

eine Schlüsselposition ein. Zu den Kollegen seiner Forschungsgemeinschaft stießen Bekannte Kuckhoffs und eine Gruppe von Schülern des Städtischen Abendgymnasiums53. Diese Schüler meinte Grimme vermutlich, als er von „jungen Geisteswissenschaftlern" sprach, mit denen er die Eigentümlichkeiten des Johannesevangeliums durchsprach. Harnack hatte sich vorgenommen, Jugendliche nach streng wissenschaftlichen Methoden zu unterrichten. Bis zum Kriegsbeginn rechnete er damit, dass sich in Deutschland die Massen erheben und das Regime stürzen würden. Für diesen Fall sollten Menschen bereitstehen, die vom Nationalsozialismus unbelastet und mit einigen Vorkenntnissen ausgestattet, wichtige Positionen im dann entstehenden Staat übernehmen könnten. Als der Massenaufstand ausblieb, verschob er die Ziele hin zu politischer Aufklärung. Er rekrutierte Menschen für seinen Kreis, indem er eine einzige Frage stellte: „Wenn wir dagegen sind, sollten wir dann nicht etwas dagegen tun"54? Harro Schulze-Boysen, in den dreißiger Jahren im Reichsluftfahrtsministerium aufgestiegen, fühlte sich ebenso wie seine Frau eine gewisse Zeit vom Nationalsozialismus angezogen55. Er erwachte nach der Lektüre von Hitlers „Mein Kampf", den er für eine „literarische Zumutung" hielt und bekehrte Libertas, die gleichwohl bis 1937 offiziell Mitglied der NSDAP blieb. Ebenso offen wie Harnack gingen die Schulze-Boysens auf mögliche Helfer zu. Frau Weisenborn sah sich mit Libertas beiläufiger Frage konfrontiert, wie das denn mit ihr „so wäre, man müsse doch was gegen Hitler tun". Weder Harnack noch Schulze-Boysen führten ihre Gruppen in einem militärischen Sinne an. Vielmehr bildeten sie durch ihre Person ein Zentrum, in dem Informationen zusammen- und wieder auseinanderliefen. Ihre berufliche Position ermächtigte sie, ein solches Zentrum auszufüllen. Beide besaßen Zugang zu hohen Amtsträgern und damit zu wichtigen militärischen Kenntnissen. Als Schulze-Boysen vom Einfall der Wehrmacht in die Sowjetunion erfuhr, vermittelte Harnack zwischen ihm und einem Mitarbeiter des sowjetischen Nachrichtendienstes56, an den die Information weitergegeben wurde. Die Arbeit gegen die nationalsozialistische Herrschaft fand aber hauptsächlich auf einer anderen Ebene statt. Flugblätter mussten 53

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Jürgen Danyel: Die „Rote Kapelle" innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, in: Coppi, Rote Kapelle, S. 23. Günther Weisenborn benutzt dieses Zitat, mit dem Harnack ihn für den Kreis gewann in seinem Stück über die „Rote Kapelle". Günther Weisenborn: Zwei nachgelassene Stücke, hrsg. v. Heinz Dieter Tschörtner. (Ost-) Berlin 1982, S. 88; Günther Weisenborn: Der lautlose Aufstand, Hamburg 1954, S. 14 (weiterhin zit.: Weisenborn, Aufstand). Folgende Zitate aus: Coppi: Harro und Libertas Schulze-Boysen, in: Ders., Rote Kapelle, S. 195 ff. Scheel, Mein Weg, S. 242 f.

Die „Rote Kapelle"

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verfasst, Material über die Verbrechen der Nationalsozialisten und Wehrmachtsangehörige gesammelt und die Kontakte unter Widerständigen vervielfältigt werden. Außerdem erstellten die Freundeskreise Pläne für die Zeit nach einem erfolgreichen Umsturz. Die Verbindung zwischen Harnack, Schulze-Boysen und Grimme bestand über Kuckhoff. Er kannte Harnack, weil die Ehefrauen Greta und Mildred in den zwanziger Jahren gemeinsam in den USA studierten57. Kuckhoff, Harnack und Schulze-Boysen hatten in der Weimarer Republik jeweils eine Zeitschrift herausgegeben und kannten sich untereinander schon in der Spätphase der Republik zumindest den Namen nach. Kuckhoff geriet über Ernst Niekisch 58 in den Kreis der Gemeinschaft, die sowjetische Wirtschaftsmechanismen erforschte 59 . Um die Jahreswende 1939/40 lernte Schulze-Boysen Kuckhoff kennen, der ihn mit Harnack zusammenführte. Dieser hatte ihn offen gefragt, ob er zu Widerstandsarbeit bereit sei60. Schulze-Boysen und Harnack kannten sich persönlich seit 1935 61 , pflegten aber keinen regelmäßigen Austausch. Erst mit dem Ausbruch des Krieges und einer damit beginnenden neuen Phase des Widerstandes begann eine Zusammenarbeit der beiden Gruppen. Die Studentenfreundschaft zwischen Grimme und Kuckhoff hatte sich zu Beginn der dreißiger Jahre erneuert. Grimme war 1937 Kuckhoffs Trauzeuge62. Zwei tragische Ereignisse festigten ihr Verhältnis. Das erste war der Tod des jungen Sohnes 63 , das zweite der Tod des Schauspielers 57

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Marlies Coburger: Die Frauen der Berliner Roten Kapelle, in: Coppi, Rote Kapelle, S. 95. Ernst Niekisch (1889-1967) war Volksschullehrer in Augsburg, seit 1917 SPDMitglied und bis 1923 Mitglied des Bayerischen Landtages. Seit 1923 lebte er in Berlin und gab von 1926-28 die Zeitschrift „Widerstand" heraus; bereits 1937 wurde er wegen Vorbereitung zum Hochverrat und Fortführung einer politischen Partei zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Von 1948-54 war Niekisch Professor für Politik und soziale Probleme an der Ostberliner Humboldt-Universität. Wegen des Engagements für die SED überwarf Grimme sich nach dem Krieg mit ihm; siehe hierzu: Sauberzweig (1967), S. 188. Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 legte Niekisch 1954 alle Ämter nieder. Beatrix Herlemann: Die „Rote Kapelle" und der kommunistische Widerstand, in: Coppi, Rote Kapelle, S. 84. Niekisch begleitete Harnack im September 1932 auf eine Studienreise des Arplan in die Sowjetunion, ebd., S. 87. Greta Kuckhoff: Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle. Ein Lebensbericht, Berlin 1972, S. 116. Das MfS hat das Buch Wort für Wort lektoriert. Der Quellenwert ist dadurch eingeschränkt (weiterhin zit.: Kuckhoff, Rosenkranz). Jan Foitzik: Gruppenbildung im Widerstand, in: Coppi, Rote Kapelle, S. 71. Kuckhoff, Rosenkranz, S. 186. Ein Gedicht Kuckhoffs ist überliefert in einem Manuskript des W D R zu einer Rundfunksendung anlässlich des achtzigsten Geburtstages Grimmes, N1 Grimme, Nr. 3146.

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Hans Otto, ein Schwager Kuckhoffs aus erster Ehe64. In den Abendgesellschaften der frühen dreißiger Jahren sahen einige in Otto einen neuen Stern am Theaterhimmel65. Kurz nach dem Regierungsantritt Hitlers war das KPD-Mitglied verhaftet worden und lag wenig später tot im Hof einer SSKaserne. Er habe sich, so die offizielle Lesart, in einem unbewachten Augenblick aus dem Fenster des vierten Stocks gestürzt. Kuckhoff und Otto hatten in der KPD zusammengearbeitet und ihren Freund John Sieg66, der auch zu dem Kreis um Grimme gehörte, 1929 davon überzeugt, ebenfalls der Partei beizutreten67. In dem neuen Haus in Klein Machnow, teils auch in der Wohnung der Kuckhoffs und in einer „von Harnack zur Verfügung gestellten Wohnung"68 besprachen die Männer Tagesereignisse. Greta Kuckhoff erinnerte später neben ihrem Mann die Teilnehmer Grimme und Harnack69. Das Reichskriegsgericht stellte fest, Kuckhoff habe sich besonders um Grimme bemüht und sich von dessen „wissenschaftlicher Mitarbeit besonders viel" versprochen. Kuckhoff, Harnack, Grimme und Sieg bezeichnete das Gericht aufgrund der Ermittlungen als „Viererkreis" und „Arbeitsgemeinschaft"70. Zumindest gelegentlich nahm Wilhelm Guddorf 71 und Wolfram Schottelius72 an den Gesprächen teil73. Sophie Sieg nannte auch die Namen

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Kuckhoff, Rosenkranz, S. 142. Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Erinnerungen 1914-1933, Stuttgart u. München 2000, S. 182. John Sieg (1903-1942), zwischen 1919 und 1923 in Westpreußen zum Lehrer ausgebildet, 1924-1928 in den USA, danach in Berlin lebend, wo er Reportagen für die „Tat" schrieb. Nach 1933 überlebte er als Bauarbeiter und Reichsbahnmitarbeiter. Sieg beging in Gestapohaft 1942 Selbstmord. Kopie vom Protokoll über die Befragung von Sophie Sieg vom 18. Juli 1967 mit einem dazugehörigen Vermerk vom 4. August 1967, GDW, RK 41/98. Kopie vom Protokoll über die Befragung von Sophie Sieg vom 18. Juli 1967 mit einem dazugehörigen Vermerk vom 4. August 1967, GDW, RK 41/98. Kuckhoff, Rosenkranz, S. 242. Feldurteil gegen Margarethe Kuckhoff, Reichskriegsgericht 2. Senat vom 20. Oktober 1943, Kopie in GDW, N1 Kuckhoff, RK 29/42. Wilhelm Guddorf (1902-1943) war seit 1922 KPD-Mitglied, seit 1924 Redakteur bei der „Roten Fahne" und wurde 1934 verhaftet. 1939 aus dem KZ entlassen, stieß er über Elfriede Paul zu Harro Schulze-Boysen. Justus Wolfram Schottelius (1892-1941), Autor von Theaterstücken und Erzählungen, beschäftigte sich mit allgemeineren Studien zur Kolonialgeschichte Südamerikas und zur Archäologie Mexikos. 1938 gezwungen, Deutschland zu verlassen, ging er nach Kolumbien, wo er bis zu seinem Tod am Archäologischen Museum in Bogota arbeitete und Studien zur Archäologie und Ethnologie Kolumbiens verfasste. Kopie vom Protokoll über die Befragung von Sophie Sieg vom 18. Juli 1967 mit einem dazugehörigen Vermerk vom 4. August 1967, GDW, RK 41/98. John Sieg habe

Die „Rote Kapelle"

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Karl Hellborn, Hess, Ernst Sieber, Werner Hendelsohn 74 . Greta Kuckhoff überliefert ein Gespräch nach dem Münchner Abkommen, an dem Grimme, Harnack, Kuckhoff und wohl auch Sieg teilnahmen. An jenem Abend habe Harnack den Widerstand auf „breiter Volksfront" gefordert. Von jenem Zeitpunkt an sollte innerhalb der NSDAP nach Verbündeten gesucht werden. Die Frauen blieben ausgeschlossen, wie Greta Kuckhoff später berichtete, und können deshalb nicht als Zeugen ersten Ranges gelten. Adam Kuckhoff kam oft allein nach Klein Machnow - nicht immer aus politischen Absichten. Sohn Peter lernte von ihm das Schachspielen75. Schulze-Boysen begegnete Grimme erst im Gebäude des GestapoGefäng-nissses in der Prinz-Albrecht-Straße 76 . Er hat über seine Aktivitäten innerhalb der Gruppe keine umfassende Rechenschaft abgelegt, sein Mitwirken lediglich angedeutet und dies auch nur in widersprüchlicher Weise. Nach dem Kriege neigte er dazu, seine Rolle am Widerstand herunterzuspielen und den Eindruck zu vermitteln, er habe nur „am Rande" mitgewirkt77. Im privateren Verkehr sprach er davon, mit Harnack bis „zu unserer gemeinsamen Verhaftung politisch" 78 und mit Kuckhoff sogar „intensiv politisch" und „illegal"79 zusammengearbeitet zu haben. Wahrscheinlich stimmte in seinen Augen beides. Harnack, Kuckhoff und SchulzeBoysen verloren im Widerstand das Leben. Er überlebte. Selbst wenn sie dasselbe Risiko eingegangen waren, ließ der Verlust des Lebens den Einsatz der Hingerichteten größer erscheinen. Der zweite Grund für die widersprüchliche Uberlieferung lag in der politischen Atmosphäre der Nachkriegszeit. Wenig nach dem Kriege entstand das Gerücht, er habe für die Sowjetunion spioniert und dadurch tausenden deutschen Soldaten den Tod gebracht. In diesem politischen Klima galt es zu beachten, den Anteil am Widerstand zu verkleinern. Glaubwürdig erscheint die von Greta Kuckhoff erinnerte Qualität als „geschickter Formulierer". Er habe Flugblätter entworfen, mit denen er sich hauptsächlich an Intellektuelle wandte, die Interessen und Grenzen

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Guddorf und Schotelius in den Kreis um Harnack eingeführt. Ihr sei „mit Sicherheit eine Zusammenkunft bei Grimme" bekannt, an der Schotelius teilnahm. BSTU ZA Mfs H A IX/11 FV 98/66 Nr. 99. Mitteilung Peter Grimmes an den Autor. Brief an Marie Luise Schulze vom 22. August 1945, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 97. Schulze-Boysen berichtete in einem Brief an seinen Vater, Grimme 1930 auf einer Versammlung getroffen zu haben. Hans Coppi u. Geertje Andresen (Hrsg.): Dieser Tod passt zu mir. Harro Schulze-Boysen. Grenzgänger im Widerstand. Briefe 1915-1942, Berlin 1999, S. 96. Brief an Hans Friedrich, Mitte 1951, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 159 ff. Brief an Friedrich Lenz vom 27. November 1946, N1 Grimme, Nr. 2023. Brief an Hermann Flesche vom 29. Juli 1946, N1 Grimme, Nr. 1521.

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dieser Menschengruppe wie kein anderer in der Gruppe gekannt80. Als an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität der Lehrstuhl für Germanistik mit einem in seinen Augen unwürdigen Kandidaten besetzt wurde, verfaßte er einen offenen, anonymen Brief mit der Uberschrift „Kritik und Protest"81 Nach den Erinnerungen von Sophie Sieg bemühte er sich, die Hochschullehrerkreise in seinem Sinne zu beeinflussen. Er habe mehrere Schriften verfasst - vor allem dann, wenn er fürchtete, die Qualität im Hochschulwesen verschlechtere sich außerordentlich. Weiter erinnerte sie, dass er Flugschriften anderer, besonders aus den Kreisen der Bekennenden Kirche an Arvid Harnack übergab und seine Beziehungen aus der Zeit als Kultusministers nutzte. Zusammen mit Sieg, Otto und Max Grabowski druckte er angeblich die illegale Wochenzeitung „die innere Front" 82 . Außerhalb der DDR-Geschichtsschreibung finden sich dafür jedoch keine Beweise. Einen Briefwechsel führte er mit Walther Glass, der 1938 aus Deutschland floh, weil er nicht „für Hitler in den Krieg ziehen" wollte 83 . Im Jahr 1939 meldete er sich aus China. Die Briefe bedienten sich einer verklausulierten Sprache, die eine eindeutige Analyse nicht zulässt. Bei Entdecken wären sie gleichwohl schwer zu erklären gewesen. Offenbar hatten die Genossen in China, zu denen Grimme selbst beinahe gehört hätte, einen eigenen Kreis gebildet, der versuchte, die Widerstandsarbeit der Verbliebenen zu unterstützen und der möglicherweise mit ausländischen Mächten zusammenarbeitete. Wie anders wäre Glass Bericht zu verstehen, er habe nun auch einen Garten, der aber „laut Polizeivorschrift nicht begossen werden dürfe". Auch „private Feuerlöschübungen dürften nicht abgehalten werden, wegen Wasserknappheit". Beachtenswert scheint der Hinweis, Grimme solle einmal herüberkommen, wenn er genug russisch könne, um „Herrn Smirnow, meinem ersten Buchhalter, der leider keine lebende Sprache spricht", zu erklären, warum er seine „monatliche Aufstellung pünktlich" haben wolle. Russische Sprachkenntnisse hatte Grimme nicht. Zwar begann er später im Zuchthaus, sich der Sprache zu bemächtigen 84 , doch 1940 muss Glass auf etwas anderes angespielt haben. Ist es möglich, dass Grimme

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Kuckhoff, Rosenkranz, S. 165. Folgende Zitate aus: Kopie einer Abschrift von Tonbandaufnahmen, gefertigt in der Zeit von November 1968 bis Februar 1969, N1 Kuckhoff, R K 21/30. BSTU Z A Mfs H A IX/11 F V 98/66 Nr. 99. Schriftwechsel von 1939 bis 1941 in N1 Grimme, Nr. 2762. Die Identität von Walther Glass und die Beziehung zu Grimme lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Dem Gefängnisgenossen Heinrich Scheel war es in Spandau gelungen, eine russische Sprachlehre mit in die Zelle zu schmuggeln. Er überließ dieses Buch Grimme. Scheel, Mein Weg, S. 351. Brief an die Familie vom 25. März 1943, in: Sauberzweig (1967), S. 69.

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selbst Kontakt zu russischen Stellen hatte, oder doch mehr darüber wusste, als er später zugab? Bis 1941 bestand zwischen ihm und dem russischen Geheimdienst keine Verbindung. Der sowjetische Auslandsnachrichtendienst NKGB nahm ihn erst ein Jahr später ins Visier. Die Berliner Residentur wurde aufgefordert, „Starik" die interessierenden Fragen „offen und direkt" zu stellen und die „Bedingungen der Zusammenarbeit" zu klären. Hinter dem Decknamen „Starik" verbarg sich Kuckhoff 85 . Er sollte von den Sowjets Geld erhalten, damit er seine Zeit nicht in täglicher Arbeit vergeuden müsse und sich ganz auf das Sammeln von Informationen konzentrieren könne. Die Zentrale schrieb am 5. Mai 1941, sie sei „äußerst an A. Grimme interessiert", der im Weiteren unter dem Decknamen „Novi" lief86. „Starik" solle sich ihm nähern und zu den Geheimdiensten verbinden. Am 6. April 1941 erledigte „Korsikanez" seinen Auftrag, ihm „auf den Zahn zu fühlen"87. Wäre er schon 1940 mit den Sowjetstellen verbunden gewesen, hätten sie sich ihm nicht annähern brauchen. Der Auslandsdienst versprach sich von ihm Informationen über die Gruppe Carl Goerdeler88, die Ferdinand Friedensburg89 nicht liefern konnte90. Zwischen Goerdeler und Grimme führte eine Brücke über Ernst von Harnack, den er später als „lieben Freund" bezeichnete91. Wie nah er Ernst von Harnack wirklich stand, lässt sich nicht ermitteln. Unter die Verschwörer des 20. Juli 1944 zählte er „viele Bekannte", sodass der russische Geheimdienst vielleicht nicht ganz vergebens 85

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Dokument Nr. 24. Auftrag des NKGB-Auslandsnachrichtendienstes an die Berliner Residentur, Alexander Korotkow, vom 12. April 1941, abgedruckt bei Coppi, Rote Kapelle, S. 126. Die Schreibweise variierte zu „Nowyi". Die Berichte der Berliner Residentur über den Freundeskreis waren sehr fehlerhaft und es entsteht der Eindruck, dass die Agenten ihre Informationen nicht aus erster Hand erhielten. Brief aus der Berliner Residentur vom 7. April 1941, Kopie in GDW, RK Russische Quellen. Carl Friedrich Goerdeler (1884-1945), nach Jurastudium Soldat, ab 1920 Mitglied der DNVP, zweiter Bürgermeister von Königsberg, einflussreiche Amter in Kommunal- und Arbeitgeberverbänden. Von 1930-37 war er Oberbürgermeister Leipzigs und 1931/32 Reichskommissar für Preisbildung. Wegen seiner Beiteiligung am Staatsstreich vom 20. Juli 1944 wurde er verhaftet und hingerichtet. Ferdinand Friedensburg (1886-1972) war 1925 Vizepräsident der Berliner Polizei und von 1927 bis zu seiner Amtsenthebung 1933 Regierungspräsident in Kassel. Als Mitglied der DDP zählte er nach 1945 zu den Mitbegründern der C D U in Berlin und war dort von 1946-1951 Oberbürgermeister: 1952-68 vertrat er Berlin im Bundestag. Ferdinand Friedensburg: Lebenserinnerungen, Frankfurt a. M. usw. 1969. Auftrag des NKGB-Auslandsnachrichtendienstes an die Berliner Residentur, Alexander Korotkow, vom 5. Mai 1941, abgedruckt bei Coppi, Rote Kapelle, S. 130. Brief an Gustav Adolf von Harnack vom 20. September 1945, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 99 f.

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hoffte. Vermutlich kam der Kontakt zu sowjetischen Geheimdienststellen nicht zustande. Der N K G B zahlte an Schulze-Boysen zehntausend Mark und an Harnack achttausend. Zweitausend Mark kamen über Kuckhoff in Grimmes Haus und wären ihm beinahe zum Verhängnis geworden. Er hatte das Geld bei seiner Festnahme auf die Frage nach seinen Barbeständen aus dem Wäscheschrank geholt und den Beamten übergeben92. Zwei Ausreden dienten dazu, die Geldsumme in seinem Haus zu erklären. Die eine festigt die Annahme, er habe eine wichtigere Position in der Gruppe eingenommen. Mit der anderen ließe sich sein Anteil an den Aktivitäten der Gruppe eher verringern. Er habe das Geld für die Gruppe verwandt, behauptete er 1948 in einer Zeitschrift. Wie, fragte er dort, solle wohl Widerstandsarbeit geleistet werden ohne Geldmittel 93 ? Auch der Bericht des Chefs der Sicherheitspolizei verzeichnete, dass Grimme durch einen Mittelsmann von Moskau zweitausend Reichsmark erhalten habe94. Unter Eid sagte er aus, das Geld „für Kuckhoff und die Organisation verwahrt" zu haben95. Anderthalb Jahre habe es unangetastet bei ihm gelegen. Die Ubergabe des Geldes muss also zu Beginn 1941 erfolgt sein, was mit dem Geldfluss vom sowjetischen Geheimdienst übereinstimmen könnte. Nach einer zweiten offiziellen Version, die dem Reichskriegsgericht vorgetragen wurde, handelte es sich bei der Summe um ein privates Darlehen. Grimme habe sich das Geld von seinem Freund Kuckhoff geliehen, um seine Tochter anlässlich ihrer Hochzeit aussteuern zu können 96 . In den vorlaufenden Jahren hatte er Kuckhoff mehrmals für kürzere Zeit Geld geliehen, sodass ein Darlehen in der Gegenrichtung völlig unverfänglich erschien97. Mit ihm habe er oft erörtert, „wie dieses unheilvollste Regime der Weltgeschichte beseitigt werden könne" 98 . Er führte aus, falls unter dem Begriff „Rote Kapelle" der Komplex von Prozessen verstanden werde, den das Reichskriegsgericht 1942/43 wegen Landesverrat und Spionage behandelte, dann habe er der „Roten Kapelle" nicht angehört. Er habe aber in-

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Schreiben des Verteidigers im Fall Grimme gegen Keller vom 21. März 1952, N1 Grimme, Nr. 320. Grimme in: „Unser Apell" vom 1. Januar 1948, N1 Grimme, Nr. 3394. Untersuchungsbericht des Chefs der Sicherheitspolizei vom 22. Dezember 1942, hier zitiert nach einem Schreiben des CDU-Kreisverbandes Bremerhaven vom 18. Mai 1951, N1 Grimme, Nr. 320. Verhörprotokoll Grimmes vom 8. Dezember 1948, Röderprozess, N1 Grimme, Nr. 3395. Schreiben des Verteidigers im Fall Grimme gegen Keller vom 21. März 1952, N1 Grimme, Nr. 320. Siehe auch Brief an Henri Nannen vom 8. Mai 1951, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 167. Mascha Grimme an Grimme vom 30. Mai 1951. Grimme in: „Lüneburger Landeszeitung" vom 30. April 1951, N1 Grimme, Nr. 1168.

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nerhalb der „Roten Kapelle" einer „Hochverratsgruppe" angehört, die sich mit innerem Widerstand befasste, allerdings nichts von den Bestrebungen der „Roten Kapelle" gewusst habe". Für ihn und seine Freunde sei klar gewesen: „Hitler und die Männer seiner Umgebung waren Verbrecher; sie waren Meineidige, Lügner und Mörder, bar jeder Moral und aus eigenem Wollen außerhalb jeder menschlichen Rechtsordnung stehend. Und es ist eine geschichtliche Tatsache, dass Hitler diesen Krieg bewusst gewollt und willkürlich vom Zaun gebrochen hat, obwohl es jedem Denkenden, der die Lehren des Ersten Weltkrieges verstanden hatte, vom ersten Tage klar sein musste, dass dieses Unternehmen zum gleichen Ziel und zu einer noch größeren Katastrophe führen würde. Ihn galt es von Anfang an zu bekämpfen und zu vernichten, um Europa vor dem Chaos zu bewahren" 100 . Die Zusammenkünfte unter Freunden, die zu Beginn lediglich einem geistigen Klima galten, veränderten sich mit der Zeit. Es scheint Harnack gewesen zu sein, der vorbereitende Maßnahmen für den Fall eines RegimeSturzes vorschlug. Dazu zählte der Unterricht junger Menschen und der politische Meinungsaustausch Erwachsener. Als sich abzeichnete, dass Hitler nicht stürzen und der vorausgeahnte Krieg beginnen würde, veränderte sich das Wesen der Versammlungen ein zweites Mal. Kontakte ins Ausland wurden hergestellt und die Bevölkerung durch Flugblätter direkt zum Widerstand aufgefordert. Wenigstens die Spitzen der Bewegung, Harnack, Schulze-Boysen und Kuckhoff, arbeiteten mit dem sowjetischen Geheimdienst zusammen und lieferten brisantes militärisches Material. Der Geheimdienst stellte Harnack Funkgeräte zur Verfügung, die zwar nie eingesetzt wurden. Die Bereitschaft zu nachrichtendienstlichen Tätigkeiten war gleichwohl vorhanden. Die Widerstandsarbeit juristisch zu bewerten, ist, wie sich nach dem Krieg zeigte, außerordentlich schwierig. Da die Arbeit sich gegen eine legal zur Macht gelangten Regierung richtete, lag ein Hochverratsversuch vor. Daran kann kein Zweifel bestehen. In Anbetracht der nationalsozialistischen Verbrechen kann ein Urteil jedoch nicht ausreichen, das sich nur an Gesetzesbuchstaben orientiert. Hans Mommsen schrieb, der Schritt in den Widerstand würde nicht ohne eine Perspektive erfolgen101. Die Männer und Frauen, mit denen Grimme sich traf, besaßen keine Aussicht auf einen Umsturz des Systems. War ihr Verhalten deshalb illusorisch? Brachten sie 99 100

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Grimme in: „Unser Apell" vom 1. Januar 1948, N1 Grimme, N r . 3394. Brief an Hans Friedrich, H a m b u r g 1951 (wahrscheinlich im Mai geschrieben), in: Sauberzweig (1967), S. 159 f. H a n s Mommsen: Der Widerstand gegen Hitler und die deutsche Gesellschaft, in: Jürgen Schmädeke u. Peter Steinbach (Hrsg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, 3. Aufl., München u. Zürich 1994, S. 5.

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sich und ihre Familie unnötigerweise in Gefahr? Und was wäre geschehen, wenn Hitler tatsächlich gestürzt wäre? Harnack besaß durch familiäre Beziehungen und seinen Namen ein gewisses politisches Gewicht. In einer Gesellschaft nach Hitler hätte er eine moralische Vorbildfunktion ausüben können. Zu einer wichtigen politischen Funktion hätte es vermutlich nicht gereicht. Grimme hielt lose Kontakte zu ehemaligen sozialdemokratischen Funktionären. Seine Position innerhalb der SPD hätte aber kaum ausgereicht, der Gruppe zu politischer Bedeutung zu verhelfen. Sobald die Sozialdemokraten in Deutschland politische Macht zurück erhielten, würden Parteimitglieder die entscheidenden Positionen besetzten. Die einzelnen Mitglieder wussten nicht, wie viele Deutsche sich auf den Sturz Hitlers vorbereiteten. Insofern lag nichts Anmaßendes in dem Gedanken, einen politischen Neubeginn entscheidend mitzubestimmen. Die historischen Kenntnisse werden ausgereicht haben, um zu wissen, dass eine kleine Zahl von Menschen die Geschicke einer Nation bestimmt, wenn die Masse zumindest kurzfristig auf ihre Seite tritt. Bei einer Revolte der Wehrmacht gegen Hitler, der noch wahrscheinlichsten Umsturzvariante, hätten sie in das zweite Glied der politisch Verantwortlichen zurücktreten müssen. Eine Militärdiktatur, so konnte mit einigem Recht angenommen werden, würde aber nur vorübergehend sein, politische Gruppen schnell Mitsprache gewinnen. Roeder warf Harnack und Schulze-B oysen nach dem Krieg vor, ihr Streben habe allein der Macht gegolten, da sie in einem neu zu ordnenden Deutschland Ministerposten einnehmen wollten. Von einem bloßen Machtstreben können Harnack, Schulze-Boysen jedoch freigesprochen werden. Die Treffen der Kreise galten einer politischen Programmatik, die ein neues System begründete. Deutschland sollte eine westliche Demokratie mit planwirtschaftlichen Elementen werden und mit diesem System außenpolitisch neutral zwischen den USA und der Sowjetunion stehen. Bei einem Sturz des Regimes hätte die Gruppe mit ihrem Programm eine große Wirkung erzielen können. Eine Alternative zur ungeliebten Ordnung der Weimarer Republik anzubieten, gleichzeitig auf rechtsstaatliche, demokratische und sozialistische Elemente zu setzen, entsprach den Zeiterfordernissen. Es entsprach ferner den Möglichkeiten der Gruppe, über persönliche Ansprache und Flugblattaktionen, die Loyalität der Bevölkerung gegen das Regime zu untergraben. Roeder behauptete später, vor dem Reichskriegsgericht hätten Zeugen ausgesagt, Grimme habe eine führende Position im Kreis abgelehnt und lieber „im Hintergrund bleiben" wollen102. Diese Aussage scheint einseh102

Aussage Roeders in Nürnberg, zitiert nach: „Niederdeutsche Stimmen", Wochenzeitung vom 4. Mai 1952, N1 Grimme, N r . 320.

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bar, denn Harnack und Schulze-Boysen versuchten, Familienväter und Mütter aus dem höchsten Risikobereich herauszuhalten. Der Verdacht, überwachte zu werden, erschien nicht unbegründet. Der Direktor der Klein Machnower Schule trat im Juli 1938 an ihn heran und erbat sich eine Gefälligkeit. Er solle ihm bescheinigen, dass das „soeben zwischen Ihnen und mir geführte Telefongespräch" weder auf ein persönliches noch politisches Verhältnis schließen lasse und dass der Direktor ihn lediglich ein einziges Mal im Sommer 1932 aufgesucht habe103. Solche Vorfälle eigneten sich gewiss, Wachsamkeit zu erwecken. Das Verbleiben im Hintergrund könnte jedenfalls aus Vorsicht erfolgt sein. Wenn es einen Beschluss gegeben haben sollte, ihn in zweiter Reihe zu halten, könnten Harnack und Kuckhoff über manches geschwiegen haben. Denn mit Festnahmen und Verhören unter Folter mussten die Freunde rechnen. Hinsichtlich der sowjetischen Kontakte scheint es gelungen zu sein. Jedenfalls wird nirgends überliefert, dass Grimme um die Kontakte zum Geheimdienst wusste. Den Entwurf eines Flugblattes ließ er am Abend des 10. Oktober 1942 achtlos in seinem Haus herumliegen. Seine Frau fand und verbrannte ihn104. Die ersten Mitglieder des Freundeskreises befanden sich schon in Polizeigewahrsam. Die Gestapo hatte Harnack und Kuckhoff mit dem Kopf nach unten aufgehängt. Der Kopf war mit einem Sack bedeckt. In der Stalinkammer legten Folterknechte Kuckhoff Wadenklammern an. Sein Kopf wurde eingewickelt und sein Körper erst auseinandergezogen, dann „krumm geschlossen"105. Mit der Knute prügelte die Gestapo Namen aus ihm heraus106. Am Morgen des 11. Oktobers 1942 wurde Grimme verhaf-

4. Staatsgefangener Ende August 1941 meldete ein Agent aus Brüssel der Zentrale in Moskau die Adressen von Kuckhoff und Schulze-Boysen. Die bereitgestellten Funkgeräte wurden zum Erstaunen der Russen nicht mehr eingesetzt. Die 103 104 105

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Grimme an Walewicz, Schuldirektor von Klein Machnow, N1 Grimme, Nr. 923. Mündliche Mitteilung von Peter Grimme an den Autor. Greta Kuckhoff an Grimme vom 3. April 1947, in: GDW, RK 10/14 Bd. I, N1 Kuckhoff. Bericht von Greta Kuckhoff vom 1. Februar 1947, GDW, RK 10/14 Bd. I, N1 Kuckhoff. Sophie Sieg am 18. Juli 1967, GDW, RK 41/98 und eidesstattlicher Bericht von Maria Grimme vom 4. Juni 1947, Kleinmachnow, zitiert nach einer Kopie in BSTU ZA Mfs H A IX/11 FV 98/66, Nr. 99. Mancherorts datiert die Festnahme auf den 12. Oktober, ζ. B. in: Eidesstattlicher Bericht von Maria Grimme (wie Anm. 106).

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Nachrichtendienstler wollten wissen, weshalb keiner Kontakt mit ihnen herstellte108. Die Funkabwehr der Wehrmacht fing den Funkspruch ab. Das Entschlüsseln des Textes nahm fast ein Jahr in Anspruch. Erst Ende Juli 1942 lag der Wortlaut vor109. Kuckhoff und Schulze-Boysen wurden daraufhin überwacht, ihre Telefone abgehört. Der Schriftsteller Weisenborn, der zum Umfeld von Schulze-Boysen gehörte, traf im August 1942 auf einen Bekannten. Dieser fragte ihn, ob er sich nicht einen Koffer mit politischen Schriften, Broschüren und Manuskripten ansehen könne. Weisenborn wusste, dass eine illegale Gruppe bei Gefahr ihr Material bei angesehenen und unpolitischen Bürgern unterstellte. Er öffnete den Koffer und fühlte sich, als „stürze ein Haus über ihm" zusammen. Es war das Material der eigenen Gruppe 110 . Um einer möglichen Flucht vorzubeugen, verhaftete die Gestapo Schulze-Boysen als vermeintlichen Anführer am 31. August 1942. Es muss einige Versuche gegeben haben, die Mitglieder untereinander zu warnen und Material zu vernichten. Die Flucht gelang nur wenigen. Der Einzelne konnte nur hoffen, dass der unwahrscheinliche Fall eintreten und sein Name durch das Netz der Ermittler fallen würde. Am 7. September nahm die Gestapo Mildred und Arvid Harnack fest, die sich im Urlaub auf der Kurischen Nehrung befanden. Am 8. September folgte die Festnahme Libertas Schulze-Boysens, die in einem Zug der Reichsbahn zu fliehen versuchte. Zwischen dem 12. und dem 16. September verbrachten Beamte fünfunddreißig Mitglieder der Freundeskreise in das Hauptquartier der Gestapo-Sonderkommission in der Prinz-Albrecht-Straße, in das Gefängnis am Alexanderplatz oder in andere Vollzugsanstalten111. Grimme musste mit jedem Tag die eigene Festnahme befürchten. Bis Ende September stieg die Zahl der Verhafteten auf mindestens siebzig, im Oktober auf über hundert. Zu der letzten Gruppe der Festgenommenen gehörte die Frau Grimmes, Mascha, die mit anderen Frauen am Alexanderplatz inhaftiert blieb. Er selbst wurde in das Gestapo-Gebäude in der Prinz-Albrecht-Straße eingeliefert und zunächst eingeschlossen. Ein Aufseher wachte über jede

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Auftrag des militärischen Nachrichtendienstes (GRU) vom 26. August 1941, abgedruckt in: Coppi, Rote Kapelle, S. 138. Johannes Tuchel: Die Gestapo-Sonderkommission „Rote Kapelle", in: Coppi, Rote Kapelle, S. 145 ff. (weiterhin zit.: Tuchel, Gestapo). Weisenborn, Aufstand (wie Anm. 54), S. 24. Wahrscheinlich hat es sich bei dem Unverdächtigen um die Eltern des Pianisten Helmut Roloff gehandelt, die in der Berliner Trautenaustraße 10 wohnten. Johannes Tuchel: Maria Terwiel und Helmut Himpel: Christen in der Roten Kapelle, in: Coppi, Rote Kapelle, S. 217. Der Sohn Roloffs stellte 2002 eine Filmdokumentation zur Roten Kapelle fertig und legte dazu ein Buch vor, das zwar neue Einsichten bot, zu Grimme aber nichts bietet und leider ohne Belege arbeitet. Stefan Roloff: Die Rote Kapelle, Berlin 2002. Tuchel, Gestapo (wie Anm. 109), S. 148 ff.

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Notdurft vor der türlosen Toilette. Mahlzeiten und Essensvergaben wurden streng überwacht. Uber einer Klappe in der Zellentür, durch die das Essen gereicht wurde, befand sich ein Spion. Die Gefangenen konnten keines unbeobachteten Momentes sicher sein. In einem von diesen Umständen verursachten seelischen Tiefstand wurde er einem „kleinen Gestapobeamten" vorgeführt 112 . Zum Verhör ging es mit dem Fahrstuhl, der kaum drei Personen Platz bot, aus dem Keller in das zweite Stockwerk. Im Fahrstuhl befand sich noch ein zweiter Verhafteter113. Wächter achteten darauf, dass die Gefangenen kein Wort miteinander sprachen. Der Blick des anderen traf ihn und prägte sich in sein Gedächtnis; „Menschliches" lag darin, „Gläubiges und Suggestives" 114 . Es war der Blick Schulze-Boysens. Im Gegensatz zu anderen wurde Grimme weder gefesselt noch verschärft verhört oder misshandelt. Auch drohte ihm niemand damit, falls er die Aussage verweigere, sich seiner Kinder oder anderen Nahestehenden zu bemächtigen und zu misshandeln115. Als er darauf bestand, bestimmte Verhalte zu Protokoll zu geben, wies ihn der diensthabende Beamte darauf hin, dass das Verhör nur einen informellen Charakter habe. Er könne dem Untersuchungsrichter später alles noch „in extenso angeben". Die Aussagen des Verhörs wurden nicht mitgeschrieben116. Der Vernehmer diktierte dem Protokollanten eine Zusammenfassung in die Maschine117. Mascha Grimme saß im Frauengefängnis am Alexanderplatz, in der Dunkelhaft einer ungeheizten Zelle, ohne an die Luft zu kommen. Roeder gab nach dem Krieg zu Protokoll, er habe sie zwischen dem 15. und 17. November im Gebäude der Gestapo vernommen. Die Geheimpolizei hatte ihre Verhöre beendet und dem Ankläger einen Abschlussbericht vorgelegt, woraufhin er sich einige Zeugen noch einmal in die Prinz-Albrecht-Straße kommen ließ. Frau Grimme habe auf ihn einen „geistig stumpfen Eindruck" gemacht. Obgleich die Gestapo keinerlei Angaben in dieser Richtung gemacht hatte118, zweifelte er bei der „Unterhaltung", ob die „nötige strafrechtliche Einsicht vorhanden" sei. Sie war „sehr stark uninteressiert". Er habe diesen Eindruck zu Protokoll gegeben. Dennoch glaubte er, sie

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Aussage Grimmes im Röderprozess, Kopien in N1 Grimme, N r . 3380, Bl. 392. Scheel, Mein Weg, S. 277. Scheel führte während seiner Zeit in Spandau eine Art Tagebuch, das er im April mithilfe eines Angehörigen aus dem Gefängnis herausbrachte und das die Verlässlichkeit seiner Zeugnisse aufwertet, ebd., S. 293. Brief an Marie Luise Schulze vom 22. August 1945, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 97. Folgende Zitate aus: Verhörprotokoll Grimmes vom 8. Dezember 1948, N1 Grimme, N r . 3395. Aussage Grimmes im Röderprozess, Kopien in N1 Grimme, N r . 3380, Bl. 392. Tuchel, Gestapo (wie Anm. 109), S. 150. Aussage Roeder laut Protokoll vom 16. September 1948, N l Grimme, N r . 3361.

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darauf hinweisen zu müssen, dass ihr Sohn Peter im Felde stehe und durch die Aktivitäten der Gruppe nun in Gefahr sei119. Für ihn war dies ein Hinweis auf die Folgen der Widerstandsarbeit für die deutschen Soldaten. Für sie einer darauf, dass die Gestapo ihren Sohn verhaften würde, wenn sie nicht aussagte. Sie passte nicht in das Bild, das sich während der Verhöre von den aktiven weiblichen Mitgliedern der Roten Kapelle abzeichnete, die beinahe die Hälfte der Gruppe stellte120. Von den über vierzig verhafteten, weiblichen Verdächtigen waren nur vier ohne Beruf. Die Mehrzahl befand sich im Lebensalter zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Jede Dritte von ihnen war während der Weimarer Jahre politisch aktiv, viele gehörten einer Partei an. Der engere Kreis um Harnack und Schulze-Boysen ließ größtenteils nach der Hinrichtung keine Kinder zurück. Auffallend viele unter ihnen waren ohne Vater aufgewachsen. An den Aktionen der Berliner Gruppen beteiligten sich Frauen mit eigenen Gedanken und durch eigenes Handeln 121 . Auf Mascha Grimme traf lediglich zu, dass sie Mitglied der SPD war. Ihr Mann hatte versucht, sie ahnungslos zu halten. Wenn Roeder richtig überlieferte, schien das gelungen. Sie wusste nichts und konnte deshalb auch niemanden verraten. Der Umfang des Freundeskreises und die Vielseitigkeit des widerständigen Verhaltens ging ihr erst während der Haft auf. Nur über die Gesprächskreise im eigenen Hause und über Flugblattentwürfe ihres Mannes konnte sie Kenntnis haben. Trotzdem beantragte Roeder eine mehrjährige Haftstrafe. Der Zellentrakt des Gebäudes in der Prinz-Albrecht-Straße konnte nicht unbegrenzt Häftlinge aufnehmen. Am 24. November fand deshalb eine Verlegung in das Gefängnis Spandau statt, das die Gestapo für die Dauer der Prozesse räumen ließ. Offiziell hatte die Untersuchungshaft begonnen122. Ein Gitter unterteilte das Transportauto der Polizei in eine Fahrer· und eine Gefangenenzone. Den Raum für die Gefangenen durchlief eine Bank. Hinter dem Fahrer waren zwei kleine Käfige montiert, die je einen Gefangenen aufnehmen konnten. Auf der Bank neben Grimme saß Johannes Graudenz, der flüsternd von üblen Misshandlungen berichtete. Er selbst war gefoltert worden 123 . Graudenz hatte im April 1920 einen 119

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Oberstaatsanwalt Tropf an Grimme vom 12. November 1951, Lüneburg, Nl Grimme, Nr. 3394. Regina Griebel u. a. (Hrsg.): Erfasst? Das Gestapo-Album zur Roten Kapelle. Eine Fotodokumentation, Halle 1992. Marlies Coburger: Die Frauen der Berliner Roten Kapelle, in: Coppi, Rote Kapelle, S. 91 ff. Formular mit Haftdaten in Nl Grimme, Nr. 3378. Verhörprotokoll Grimmes vom 8. Dezember 1948, Nl Grimme, Nr. 3395.

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Abspalt der KPD mitbegründet, der sich gegen die leninsche Parteitheorie und jede Form von Autorität richtete124. Er verfügte über Kontakte zum kommunistischen Widerstand125. Dies mag der Grund dafür gewesen sein, weshalb der Leiter der Gestapo-Sonderkommission „Rote Kapelle", Horst Kopkow, persönlich das Verhör leitete126. Graudenz gehörte zu der ersten Gruppe der Hingerichteten. Am 19. Dezember 1942 sprach ihn der 2. Senat des Reichskriegsgerichtes der Anklage für schuldig. Am 22. Dezember 1942 starb er in Berlin Plötzensee 127 . Bis zum 1. Februar 1943 blieben Adolf und Mascha Grimme in Haft, ohne eine Anklageschrift zu sehen. Vom ersten bis zum dritten Februar fand der sechste Teilprozeß vor dem Reichskriegsgericht in der Berliner Witzlebenstraße statt. Vorgeführt wurden Adolf und Mascha Grimme, Adam und Greta Kuckhoff, Wilhelm Guddorf und seine Freundin Eva Maria Buch, Heinz Verleih und Heinrich Schräder. Das Gericht hatte bis dahin keinen Angeklagten freigesprochen. Eine günstige Aussicht bestand in einer hohen Zuchthausstrafe. Die meisten der Teilprozesse des Dezembers und Januars mündeten in Todesurteilen, was den Häftlingen bekannt war. Gerüchte und Informationen verbreiteten sich rasch. Durch Klopfzeichen ließ sich jede Information über das Heizungsrohr verbreiten. Der erste Teilprozeß fand vom 15. bis zum 19. Dezember 1942 statt. Er endete mit zehn Todesurteilen. Fünf der Todeskandidaten saßen in Spandau ein. Am 20. und 21. Dezember muss Grimme ihnen beim Rundgang im Gefängnishof begegnet sein. Am 22. Dezember „erschienen um die Mittagszeit überfallartig Gestapoleute". Sie brachten Schulze-Boysen, Harnack, den Bildhauer Schumacher und Graudenz nach Berlin Plötzensee. Noch am selben Tag wurden sie erhängt. Im Abstand von fünf Minuten

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Beatrix Herlemann: Die „Rote Kapelle" und der kommunistische Widerstand, in: Coppi, Rote Kapelle, S. 84.

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Hans Coppi: H a r r o und Libertas Schulze-Boysen, in: Coppi, Rote Kapelle, S. 200. Johannes Graudenz, geboren am 12. November 1884, war über seinen Zahnarzt Helmut Himpel in die Gruppe um Schulze-Boysen geraten. Johannes Tuchel: Maria Terwiel und Helmut Himpel, Christen in der Roten Kapelle, in: Coppi, Rote Kapelle, S. 215.

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Tuchel, Gestapo (wie Anm. 109), S. 147. Nach dem Krieg arbeitete Kopkow für den britischen Geheimdienst. (Roloff, S. 316), ein anderer, Strübing, für das deutsche Innenministerium (HStaHann, Nds. Acc. 112/79, N r . 684).

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Die Namen und Geburtsdaten der Angeklagten sind mit Prozessterminen und U r teilen zu finden bei: Norbert Haase: Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft. Katalog zur Sonderausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Zusammenarbeit mit der Neuen Richtervereinigung, hrsg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 1993, S. 133 ff. (weiterhin zit.: Haase, Reichskriegsgericht).

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richteten die Henker einen nach dem anderen. An den Wänden waren Fleischerhaken angebracht. Daran hingen sie. Nach einer kurzen Pause beseitigten Henker die Leichen. Dann enthaupteten sie Horst Heilmann, Hans Coppi, Kurt Schulze, Liberias Schulze-Boysen und Elisabeth Schumacher. Alle drei Minuten durchschnitt die Guillotine einen Hals. Hitler hatte sich persönlich vorbehalten, die Urteile zu bestätigen und die Art des Todes zu bestimmen. Die vermeintlichen Anführer wurden gehängt. Den Tod durch das Fallbeil betrachtete er bereits als Gnade. Als „ehrenhaft" galt in Gerichtskreisen der Tod durch ein Erschießungskommando der Wehrmacht. Lediglich der Oberleutnant der Luftwaffe, Herbert Gollnow, erhielt diese „Ehrenstrafe" 128 . Mildred Harnack und Erika von Brockdorff hatten im ersten Teilprozeß Zuchthausstrafen bekommen. Hitler kassierte die Urteile noch am 21. Dezember 1942 und ließ sie umbringen. Der Gefangenentransport ging von Spandau zum Alexanderplatz und von dort in die Witzlebenstraße. Mascha Grimme und Greta Kuckhoff saßen ebenfalls auf den Bänken. Grimme und Kuckhoff waren in den Käfigen innerhalb des Wagens weggeschlossen. Wärter öffneten die Käfige des Wageninnern im Hof des Reichskriegsgerichts. Grimme sah seine Frau, Kuckhoff die Seine. Die Männer waren gefesselt. Im Warteraum durften sich die Freunde kurz begrüßen. Ob dabei eine Absprache möglich war, bleibt ungewiss129. Die gefundene Summe von 2000 Reichsmark belastete schwer. Bei Kuckhoff war ebenfalls eine größere Summe Geld gefunden worden 130 . Die Gestapo hatte begonnen, dem Geldfluss nachzuspüren und war auf die sowjetische Quelle gestoßen. Hätte das Gericht nachweisen können, dass wissentlich Geld aus diesem Fonds angenommen wurde, wäre ein Todesurteil kaum abzuwenden gewesen. Dass Kuckhoff unter der Folter wichtige Einzelheiten preisgegeben hatte, war anzunehmen. Er war in „sadistischer Weise in der Stalinkammer" gequält worden 131 . An seinem Körper waren Striemen deutlich zu erkennen132 Er wurde als Erster in den Gerichtssaal geführt.

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Herbert Gollnow (1911-1943) war Konsulatssekretär und Oberleutnant der Luftwaffe. Er wurde auf dem Schießplatz Berlin-Tegel erschossen. Haase, Reichskriegsgericht (wie Anm. 127), S. 133. Greta Kuckhoff behauptete, sie habe die Anklage gegen ihren Mann gelesen und ihn aufgefordert eine Aussage zu ändern, um Grimme zu retten (Vom Rosenkranz, S. 339). Dass ihr die Anklageschrift vorlag, ist allerdings wenig glaubwürdig. Scheel, Mein Weg, S. 324. Brief an Hermann Flesche vom 23. Mai 1946, Nl Grimme, Nr. 1521, abgedruckt in Sauberzweig (1967), S. 113. Verhörprotokoll Grimmes vom 8. Dezember 1948, Nl Grimme, Nr. 3395.

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An jenem 1. Februar stellte sich ein Verteidiger des Namens Kurt Valentin vor. Er gehörte seit Mai 1933 der N S D A P an133. Sein Honorar verlangte er im Voraus 134 . „Er habe", sagte er, „leider keine Zeit zum eingehenden Studium der Akten" gefunden135, doch sei hierfür ja während des Verhörs der vorher Aufgerufenen durchaus noch Gelegenheit136. Während der abschließenden Vernehmung in der Prinz-Albrecht-Straße hatte ein Gestapo-Beamter nach einem Wunschverteidiger gefragt137. Grimme hatte daraufhin versucht, den Anwalt Walther Schreiber für sich zu gewinnen, der in Preußen zwischen 1925 und 1932 Minister für Handel und Gewerbe war und als ausgezeichneter Jurist galt138. Schreiber zeigte sich sofort bereit, obwohl dieser Auftrag Gefahren barg. In der fragwürdigen Zeit hatte er mit dem Angeklagten verkehrt und konnte um dessen politische Arbeit gewusst haben139. Kriegsgerichtsrat Roeder behauptete nach dem Krieg, Schreiber sei damals im Visier der Ermittler gewesen. Die Gestapo habe gewusst, dass er kommunistische Flugblätter erhalten hatte, und hätte ihn damals leicht verhaften lassen können140. Offenbar ist Schreiber auch mit dem Entzug der Lizenz gedroht worden141. Er schrieb trotz dieser Gefahr an das Reichskriegsgericht. Von dort erhielt er die abschlägige Nachricht, Wahlverteidiger würden voraussichtlich nicht zugelassen142, was dann tatsächlich eintrat. Ihm wurde bedeutete, er gehöre nicht zu den vom Reichskriegsgericht zugelassenen Anwälten143. Weisenborn begegnete seinem Offizialverteidiger ebenfalls erst bei Prozessbeginn. „Ich kenne ihre

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Kurt Ludwig Valentin, geboren 1890 in Breslau, studierte in Berlin, Heidelberg und Göttingen Rechtswissenschaften, im Ersten Weltkrieg wurde er als „Freiwilliger" schwer verwundet. 1925 ließ er sich als Strafverteidiger in Berlin nieder und war seit 1935 Notar. Als Strafverteidiger plädierte er beim Volksgerichtshof, Reichskriegsgericht und anderen Militärgerichten. Lebenslauf in N1 Grimme, N r . 3363.

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Bericht von Jan Bontjes van Beek vom 20. Januar 1947, B S T U Z A M f S H A I X / 1 1 F V 98/66 N r . 92. Grimme in: „Lüneburger Landeszeitung" vom 30. April 1951, N l Grimme, N r . 1168. Notizen über Zellenerlebnisse, N l Grimme, N r . 3358. Brief an Walther Schreiber vom 29. November 1942, N l Grimme 3348. Walther Schreiber, (1884-1958), Rechtsanwalt und Notar. Von 1919-1933 Mitglied des Preußischen Landtages für die D D P . N a c h 1945 gehörte er der C D U an und regierte als Bürgermeister von Berlin zwischen 1951-55. Siehe den Abschnitt „Rückzug ins Privatleben". Vernehmung Roeders durch Barr am 9. Dezember 1947, Auszüge in: N l Grimme, N r . 3380. Aussage Grimme im Lüneburger „Röderprozess" vom 9. Dezember 1947, N l Grimme, N r . 3380. Waither Schreiber an Grimme vom 28. Dezember 1942, N l Grimme, N r . 3348. Waither Schreiber an Grimme vom 20. Juni 1951, N l Grimme, N r . 3395.

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Akten", sagte er, „machen Sie sich keine unnötigen Sorgen. Sie wissen, dass Sie im Höchstfall mit der Todesstrafe rechnen können. Wir sehen uns ja nachher" 144 . Das Gericht ließ sich jeweils einen Angeklagten vorführen. Die Vernommenen blieben nach Abschluss des Verhörs im Saal. Dann wurde der nächste Gefangene vorgeführt 145 . Während also im Gerichtssaal der Fall Kuckhoff aufgerollt und wichtige Einzelheiten über ein straffähiges Verhalten zu Protokoll gegeben wurden, saß Grimme mit seiner Frau im Warteraum, betreut von einem Anwalt, der über das nun Bevorstehende ebenso ahnungslos war wie er selbst. Denn die Anklageschrift blieb Grimme vorenthalten. Er wurde erst hineingerufen, als der Senat Kuckhoff abschließend vernommen hatte146. Roeder verbreitete eine niederziehende Stimmung. Jeder Gefangene sei froh gewesen, so Grimme, „aus dieser Hölle wieder heraus" zu sein147. Sein Ton war „barsch, zynisch und eiskalt". Ohne das Verhörprotokoll der Gestapo vorzulesen oder auch nur dessen Inhalt sinngemäß wiederzugeben, fragte er im scharfen Ton, ob noch etwas zu bemerken sei. Der Ton verschlug alles Gegenwärtige. Nur eine kleine Nebensächlichkeit fiel ihm ein, die Roeder zu Protokoll gab. Ob er noch etwas zu sagen habe, fragte Roeder. „Nein", antwortete Grimme. „Das reicht ja auch", entgegnete Roeder. Kuckhoff wollte einen entlastenden Einwand vorbringen. Roeder fragte ihn, weshalb er damit „erst jetzt käme", woraufhin Kuckhoff auf das durch Folter erpresste Entstehen seiner Aussagen hinweisen wollte. Roeder erklärte dem Gericht, dies „tue doch nichts zur Sache, wir können wohl darüber hinweggehen". Kuckhoff wurde nicht mehr gehört, Roeder beantragte für Mascha Grimme drei Jahre Zuchthaus, für Greta und Adam Kuckhoff ebenso wie für Grimme die Todesstrafe. Die Anklage führte nicht ohne Grund ein Jurist, dem ein fragwürdiger Ruf vorauseilte. Roeder verdankte sowohl seinen beruflichen Aufstieg, als auch sein Amt in diesem Prozess dem Einfluss Görings. Durch besonders harte Urteile hatte er sich empfohlen. Im Jahre 1940 gehörte er zum Stab der Luftverteidigung im Frankreichfeldzug. Sein Zuständigkeitsbereich fiel 14,1

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Günther Weisenborn: Rede über die deutsche Widerstandsbewegung, Aufbau 6 (1946), S. 578, hier zitiert nach Haase, Reichskriegsgericht, S. 131. Marta Husemann sprach ebenfalls erst „5 Minuten vor Beginn des Prozesses" mit ihrem Anwalt. Haftaufzeichnungen, Berlin, Polizeigefängnis Alexanderplatz, Januar 1943, in: Haase, Reichskriegsgericht, S. 126. Greta Kuckhoff: Haftaufzeichnungen aus dem Februar 1943; Haase, Reichskriegsgericht, S. 127. Schreiben, ohne Datum, N1 Grimme, Nr. 3391. Folgende Zitate aus: Verhörprotokoll Grimmes vom 8. Dezember 1948, Nl Grimme, Nr. 3395.

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durch eine besonders hohe Zahl von Selbstmorden auf. Junge Soldaten verliehen ihm den Beinamen „Blutrichter" 148 . Einer der Pflichtverteidiger beschrieb seine Natur später als eine Mixtur aus „beruflichem Ehrgeiz und angeborenem Sadismus", angereichert mit „Zynismus und Brutalität" 149 . Seine militärischen Formen waren hingegen ohne Tadel und er verfügte über ein organisierendes Geschick. Er bezeichnete sich als unpolitisch, war Karrierist und kein überzeugter Nationalsozialist, was sein berufliches Fonkommen nicht behinderte. Seine Examina waren relativ schlecht und seine rasche Laufbahn bis zum Kriegsgerichtsrat wäre ohne Protektion nicht möglich gewesen. Göring wurde auf einer Eisenbahnfahrt zwischen München und Stuttgart über die Ermittlungen „Rote Kapelle" informiert. Er kannte den Komplex, hatte auch schon mit Hitler darüber gesprochen und war vom Reichskanzler mit allen Vollmachten ausgestattet worden. Göring lehnte es zunächst ab, den Fall vor das Reichskriegsgericht zu bringen. Das Gericht sei zu langsam und nach Ansicht Hitlers auch nicht scharf genug. Bei Verdacht auf Verrat reagierte Hitler äußerst erregt. Gegenüber Keitel soll er wiederholt geäußert haben, „wer auch nur in den Schatten des Landesverrats gerät", habe sein Leben verwirkt150. Göring erinnerte sich an den jungen Richter, den er seit dem Fall Udet kannte, und beauftragte ihn mit der Anklageführung. Das Reichskriegsgericht bekam den Fall aufgrund einer Kriegsstrafverfahrensordnung vom 26. August 1939 überwiesen. Danach mussten bei allen Fällen von Hoch- und Landesverrat, Kriegsverrat, von Spionage und „Zersetzung der Wehrkraft" das Personal in der Witzlebenstraße an die Arbeit gehen151. Traditionell nahm sich das Gericht aller Strafvorwürfe gegen höhere Militärs an. Eine spezielle Militärgerichtsbarkeit hatte während der Weimarer Jahre nicht bestanden. Vielmehr waren Vorgänge, die strafbare Vergehen innerhalb des Heerwesens zur Grundlage hatten, der zivilen Gerichtsbarkeit zugeschlagen worden. Am 12. Mai 1933 belebten die Nationalsozialisten diese juristische Sonderheit neu. Seit November 1941 gliederte sich das Reichskriegsgericht in vier Senate. Den Vorsitz des 2. Senats am Reichskriegsgericht führte Alexander Kraell152. Ihm zur Seite standen ein Reichskriegsgerichtsrat und drei Offi148

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Kurt Rheindorf an Grimme vom 3. September 1947, Detmold, Kopie in GDW, RK 10/14 Bd. I, N1 Kuckhoff. Protokoll des Pflichtverteidigers Behse, N1 Grimme, Nr. 3392. Aussage von Rudolf Lehmann in Nürnberg, Nl Grimme, Nr. 3379. Haase, Reichskriegsgericht, S. 11. Alexander Kraell, (1894-1964), Oberreichskriegsanwalt 1943-45. Siehe hierzu das Verhör von Alexander Kraell durch Erhard Heinke, Nürnberg am 24. September 1948, HStaHann Nds. 711. Acc. 112/79. Nr. 684, Microfiche Nr. 14 f.

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ziere, die zusammen mit dem Senatspräsidenten über das Urteil entschieden. Per „Führererlass" versetzte Hitler am 26. September 1942 eine Reihe von Richtern in den Ruhestand. Am selben Tag beförderte er Kraell in den Stand eines „Oberreichskriegsanwalt". Keitel teilte dem Chef des Heeresjustizwesens mit, der Führer fordere zur „Erfüllung der Aufgaben des Großdeutschen Reiches" eine „starke Rechtspflege" 153 . Der Diktator erwartete ein hartes Durchgreifen. Kraell gehörte ebenso wie Valentin der N S D A P und anderen nationalsozialistischen Körperschaften an. Roeder stand im nationalsozialistischen Bund der Juristen. Die Richter erschienen mit dem Deutschen Gruß, der den Angeklagten verboten blieb154· Die Identität von Staat und Nationalsozialismus fand darin einen sichtbaren Ausdruck. Doch ganz gelang sie nicht. Es kann zwar keine Rede davon sein, dass dieses Verfahren in „einwandfreier Form" durchgeführt wurde. Dies gehört zu den verhängnisvollen Legenden der Nachkriegszeit 155 . Doch ließ sich das juristische Gewissen selbst durch Hitler nicht ganz ersticken. Im Vergleich mit dem Volksgerichtshof gab es rechtstaatliche Reste. Für Grimme standen die Zeichen schlecht. Als ehemaliger sozialdemokratischer Minister, der lange gegen den Aufstieg der N S D A P gekämpft hatte, konnte er nicht auf Nachsicht rechnen156. Andererseits ist bereits der Verdacht vorgebracht worden, dass es in der N S D A P Fürsprecher gab157. Roeder hatte sich die Personalakte aus dem Kultusministerium zukommen lassen, die nach seinem Erinnern das „Beste unterstellte"158. Er habe dies auch in sein Plädoyer einfließen lassen und mit dem Satz geschlossen: „Trotzdem muss ich die Todesstrafe beantragen." Damit meinte Roeder dem Verhandlungsleiter Kraell darauf hingewiesen zu haben, dass der Antrag auf Todesstrafe einer „Weisung" entsprach. Eine solche Weisung, falls sie wirklich ergangen war, konnte nur von Göring oder Hitler kommen. Roeder stützte seine Anklage in der Hauptsache auf die von Kuckhoff stammende Summe Geldes. Außerdem habe der Angeklagte „flugschriftartige Briefe an ihm bekannte Universitätsprofessoren geschrieben und Maß-

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Hier zitiert nach: Haase, Reichskriegsgericht, S. 16. Haftaufzeichnungen von Greta Kuckhoff aus dem Februar 1943, in: Haase, Reichskriegsgericht, S. 127. Gerhard Ritter täuschte sich, indem er diese Ansicht von Roeder, Schlabrendorff und Sack übernahm, Gerhard Ritter: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1955 (weiterhin zit.: Ritter, Goerdeler). Verhängnisvollerweise hat seine Autorität diese Legende im öffentlichen Bewusstsein fest verankert. So empfand es Scheel, Mein Weg, S. 324. Siehe den Abschnitt „Reaktionen der Öffentlichkeit" und auch „Ein H a u s in Klein Machnow". Folgende Zitate aus: Aussage Roeder im September 1948, N l Grimme, N r . 3380.

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nahmen seines Nachfolgers im Amt" scharf kritisiert159. Ein illegales Flugblatt zur Kenntnis genommen zu haben, ohne dies der Polizei anzuzeigen, hatte er bereits zugegeben. Diesen Umstand zu leugnen war schlechterdings nicht möglich, da ein solches Flugblatt bei der Festnahme in seinem Haus gefunden worden war. Auf seinen Verteidiger konnte er nicht rechnen. Es kam nun darauf an, dass er in seinem Schlusswort den Senat für sich einnahm. Im Nachlass finden sich Notizen, die der gesamten Anlage nach vor dem Gerichtstermin entworfen wurden. Wie die vielen selbst verfassten Anmerkungen und Varianten in die vorgetragene Rede einflossen, lässt sich nicht sagen. Die Augenzeugin Greta Kuckhoff erinnerte das letzte Wort als eine „forensische Leistung" 160 und einer der Pflichtverteidiger behielt im Gedächtnis, dass das Schlusswort auf ihn und „erkennbar auch auf das Gericht einen tiefen Eindruck machte" 161 . „Wer wie ich", begann er, „1933 seine alten Uberzeugungen nicht einfach über Bord werfen konnte und daher bei allem Respekt vor den großen sichtbaren Leistungen, bei aller praktischen Loyalität dem neuen System gefühlsmäßig neutral gegenübersteht, auch der kann unmöglich wünschen, dass wir den Krieg verlieren" 162 . Dies sei auch die Auffassung Harnacks gewesen, der gemeint habe, wer den Sozialismus wolle, gerade der dürfe einen für Deutschland „unglücklichen Ausgang" des Krieges nicht wünschen. Harnack habe deshalb, jedenfalls in seiner Gegenwart, nie Vorschläge vorgebracht, wie eine Niederlage herbeizuführen sei. Dies hätte auch der von ihm „einmal hingeworfenen Auffassung" widersprochen, dass es ein „nationalgeistiges Verhängnis sein würde, wenn im Falle eines unglücklich auslaufenden Krieges sich sofort wieder zwei Deutschland" gegenüberstünden. Ein „gesunder Sozialstaat" wäre unter Weimarer Verhältnissen nicht herzustellen. Der Wunsch einer Kriegsniederlage hätte auch der „Selbstverständlichkeit" widersprochen, dass Deutschland überhaupt erhalten bleiben müsse, wenn dort ein Sozialstaat entstehen solle. Harnack habe eine „deutsche Form des Sozialstaates" gewollt und deshalb unter „allen Umständen" für eine Fortexistenz Deutschlands streiten müssen. Deutschland müsste mindestens noch soviel Macht verbleiben, um „über seine eigene Daseinsform" mitzusprechen. Er wollte die Version vorbringen, „dass man lieber auch auf die Gefahr von Kompromissen hin, solange das Heer intakt stehe, zu Verhandlungen kommen solle, als dass eines zu späten Tages die Grenzen für das Herein-

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Scheel, Mein Weg, S. 324. Kuckhoff, Rosenkranz, S. 350. Aussage Dr. Behse, Rechtsanwalt, im Strafprozess Keller. Auszug aus den Strafakten der Oberstaatsanwaltschaft vom 18. April 1952, N1 Grimme, Nr. 320. Die Notizen der Verteidigungsrede in: N1 Grimme, N r . 3359.

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fluten östlicher Massen geöffnet dalägen und kein Deutscher mehr ein Wort mitzusprechen" habe. Harnack habe ihm in diesem Punkte zugestimmt. „Wir sahen freilich alle die Schwierigkeit, in einem solchen Falle die Gegner an den Verhandlungstisch mit Hitler zu bringen." Alle Gerüchte aber, die zeitweilig umliefen, Hitler halte „den Generälen gegenüber das Heft nicht fest in Händen", es sei gar ein Auflehnen zu erwarten, hielten die Freunde aus eigener Kenntnis des Offizierskorps für „dilettantisches Gewäsch". Harnack glaubte nicht, den Sozialstaat von „heute auf morgen" verwirklichen zu können. Er sei sich darüber im Klaren gewesen, dass er mit den kapitalistischen Mächten zusammenarbeiten müsse. Grimme habe er für die Aufgabe im Auge gehabt, diese Gruppe zu beeinflussen. Das „Leitziel" Harnacks sei immer der Sozialstaat gewesen. „Mögen deshalb die letzten Motive, uns über die deutsche Zukunft Gedanken zu machen, verschieden gewesen sein - in der Sorge um diese Zukunft für den Fall eines unglücklichen Kriegsausganges habe ich die gemeinsame Basis unseres Gespräches gesehen." Den Unterschied zwischen seiner und Harnacks Position wollte er dann auf die Formel bringen: Harnack wollte die Nation nutzen, um den Sozialstaat zu erreichen. Für ihn sei die Nation das Wichtigere. Der Sozialstaat müsse um der Nation willen geschaffen werden. Er sei einst zur SPD gegangen, um die Sehnsucht der Arbeiter nach dem Sozialstaat zu erfüllen. „Ob wir den unglücklichen Ausgang für unvermeidbar gehalten haben, ist nicht mit Ja oder Nein zu beantworten. Der jeweilige Stand der Ereignisse hat da den Ausschlag gegeben." Die Gespräche seien mehr informierend als diskutierend gewesen. Er erweckte den Eindruck, die Gruppe habe sich hauptsächlich über außenpolitische Gegenstände ausgetauscht: über die Kohleversorgung in Italien, die Zustände in Rumänien, europäische Erzvorkommen, die Transportlage in Russland und der Ukraine, über die innerfranzösischen Kräfteverhältnisse, den Zustrom aus Rumänien, die Schweizer Neutralität, über Indien und die militärische Gesamtlage. Ferner sei erörtert worden, was im Falle einer Niederlage zu geschehen habe. Ein Programm, geschweige denn ein Aktionsprogramm habe niemals bestanden. Die Freunde kamen zusammen, um persönliche Ansichten auszutauschen. Er habe bei diesen Treffen von Harnacks „Analysen" erfahren. Dass er diese Blätter nicht zur Anzeige brachte, sei ihm natürlich anzulasten. Er übernehme dafür die volle Verantwortung. Nur: Er habe nicht geglaubt, dass die Analysen auf eine breite Leserschaft gewirkt haben würden. Sie seien zu theoretisch und „in ihrer mangelnden Volkhaftigkeit" eine schwierige Lektüre. Als Leser seien höchstens kritische Köpfe in Betracht gekommen, die Harnacks Schriften ihrerseits einer Kritik unterzogen und damit noch weiter abgeschwächt hätten. Es scheine sehr billig, wenn er heute behaupte, bei der letzten Zusammenkunft die Absicht gefasst zu haben, Harnack von

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weiteren „Analysen" abzubringen. Zu dieser Begegnung sei es dann nicht mehr gekommen. „Ich muss es der Gesamtbeurteilung meiner Person überlassen, ob mir diese Vorgabe geglaubt wird." Um das Gesamturteil zu seinen Gunsten zu beeinflussen, bezog er sich auf die Feststellung des Gerichts, der Inhalt der Schriften sei „offensichtlich kommunistischen Inhalts" gewesen. Als religiöser Sozialist bekämpfe er den Kommunismus. Was Russland anbetreffe, könne er nicht mit Sicherheit die Standpunkte der Einzelnen wiedergeben. Er selbst sei nicht immer dabei gewesen sei. Kuckhoff habe Russland wohl tatsächlich als Lösung vor Augen gestanden. Die dortige Gesellschaft lebe bei wirtschaftlicher Zentralisierung in einer gleichzeitigen kulturellen Autonomie. Der Dichter habe in Russland ein großes, fortschrittliches Land gesehen. Aber er sei eben eine Künstlernatur, die von politischen Dingen nicht genug verstand. Mit Harnack stimmten letztlich alle überein, dass der Sozialstaat ein deutsches Gewächs sein müsse und nicht von einem anderen Land auf Deutschland übertragen werden könne. Der Senatspräsident Kraell fragte ihn daraufhin: „Was ist Ihnen denn eigentlich eingefallen, sich darüber Gedanken zu machen; sitzen Sie etwa in der Regierung? Was ging denn Sie das an?" Es trat ein „betretenes Schweigen ein", als er antwortete: „Herr Präsident! Der Staat sind wir, jeder Einzelne von uns. Nicht bloß die Regierung sollte sich für die Geschicke des deutschen Volkes verantwortlich wissen, sondern jeder von uns" 163 . Er zielte drauf ab, sich unter allen Umständen als Staatsmann und nicht als der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung darzustellen. Dazu passt, dass er einfließen ließ, aus den Händen des Reichspräsidenten Hindenburg die Goethemedaille entgegengenommen zu haben164. Am dritten Verhandlungstag wurden die Urteile verkündet. Greta und Adam Kuckhoff, Wilhelm Guddorf und Eva-Maria Buch wurden zum Tode verurteilt. Heinrich Schräder und Heinz Verleih bekamen Zuchthausstrafen. Maria Grimme erhielt den ersten Freispruch der Prozesskette. Nach weiteren vierzig Tagen in dunkler Einzelhaft, ohne Heizung im Berliner Februar, ohne je an die Luft geführt zu werden, kam sie am 15. März 1943 frei165. An die Stelle der Todesstrafe für ihren Mann trat eine dreijährige Zuchthausstrafe. Das Gericht sah es lediglich als erwiesen an, dass er das Vorhaben zum Hochverrat nicht angezeigt hatte. Ihm sei keine Teilnahme an widerständiger Arbeit nachzuweisen.

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Landtagsrede vom 29. Januar 1948, Kopie in A d s D Personalia Grimme. Diese Illustration, wie Kuckhoff sie überliefert, sahen die Notizen nicht vor. Eidesstattlicher Bericht von Maria Grimme vom 4. Juni 1947, zitiert nach einer Kopie in B S T U Z A Mfs H A I X / 1 1 F V 98/66, N r . 99.

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Weshalb er mit dem Leben davon kam, ist nicht leicht zu beantworten. Dass die Beweislage nicht den Ausschlag gab, lehrt der Blick auf die anderen Verfahren. Die Ausgangslage war eher schlechter als in anderen Fällen. Im Feldurteil gegen Greta Kuckhoff hieß es, der „Ehemann Kuckhoff und seine politischen Freunde haben es insbesondere durch die Abfassung und die Verbreitung der Hetzschrift bewusst unternommen, der Kriegsmacht des Reiches einen Nachteil zuzufügen und andererseits die feindliche Macht, nämlich Sowjet-Russland, günstiger zu stellen"166. Unter die politischen Freunde rechnete das Gericht ausdrücklich auch Grimme. Roeder behauptete später, Göring habe dem ehemaligen Minister „gewisse Sympathien" entgegengebracht. Hilfe kam wohl auch von Militäroberrichter Karl Sack, der versuchte, „wertvolle Persönlichkeiten" aus dem Kreis zu retten, aufgrund der landesverräterischen Haltung aber schwere Bedingungen vorfand167. Es bliebe die Möglichkeit, dass er den Nationalsozialisten als Tarnbild nach außen dienen sollte, für ein nach den Prinzipien der Legalität urteilendes Gerichtswesen. Sein Name war der Öffentlichkeit von allen Verhafteten wahrscheinlich der geläufigste. Ein Freispruch an prominenter Stelle hätte den Eindruck einer politischen Justiz hemmen können. Hierfür sprächen die verhältnismäßig milden Haftumstände. Als Roeder sich 1951 gegen den Verdacht einer Rechtsbeugung verteidigte, fragte er: „Wissen Sie, wie wir es gedreht haben, dass es bei Ihnen nicht zum Todesurteil kam" 168 ? Der Staatsanwalt unterbrach ihn, die Antwort blieb ungegeben. Die Rückfahrt ging über Spandau zur Prinz-Albrecht-Straße und von dort zum Alexanderplatz, wo die Frauen einsaßen. Die zum Tode Verurteilten trugen Fesseln. Greta Kuckhoff konnte nicht wissen, dass sie im September 1943 selbst begnadigt und statt zu sterben eine Zuchthausstrafe verbüßen würde. Grimme konnte hoffen, zu überleben. Er musste damit rechnen, seinen Freund zum letzten Mal zu sehen. Dass sie sich über die Zukunft des „marxistisch fundierten Sozialismus" austauschten, wie Greta Kuckhoff schrieb, ist kaum anzunehmen 169 . Glaubwürdiger erscheint, dass er das Unvollendete des Kuckhoffschen Werkes beklagte. Auch anderen gegenüber hat er später versichert, dass der Dichter zu den Naturen zählte, deren literarischer Erfolg „erst spät gekommen sein würde" 170 . Daraus habe

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Feldurteil gegen Margaretha Kuckhoff, Reichskriegsgericht 2. Senat vom 20. Oktober 1943, N1 Kuckhoff, Kopie in GDW, RK 29/42. Ritter: Goerdeler (wie Anm. 155), S. 481. Protokoll der Vernehmung Roeders im Prozess vor dem Lüneburger Landgericht, Kopie in GDW, RK 10/14 Bd. I., Nl Kuckhoff. Kuckhoff, Rosenkranz, S. 352. Brief an Hermann Flesche vom 23. Mai 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 113 f.

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sich dann die Bitte ergeben, der Gruppe die Gedenkrede zu halten171. Als sie sich trennen mussten, bemerkte Kuckhoff mit bitterem Spott, dass wenigstens die Leichen der Gehängten zu Lehr- und Forschungszwecken dienen würden172. „Siehst du", sagte er, „so lernen sie noch nach unserem Tode" 173 Die Geschichte der „Roten Kapelle" ist von tiefer Tragik. Spionage in Kriegszeiten zu betreiben, gehört zu den verwerflichen Widerstandsaktionen. Die verbrecherische Natur des Hitler-Krieges schien zwar außergewöhnliche Mittel zu gestatten. Soldaten in Lebensgefahr zu bringen, gilt gleichwohl zu Recht als unehrenhaft und strafbar. Das gilt unabhängig von der Nationalität der Soldaten. Besonders da die Folgen von Geheimnisverrat kaum abzusehen waren. Als Bürde lastete auf der Gruppe, dass sie mit der Sowjetunion zusammenarbeitete. Ein genaues Hinsehen verbietet jedoch, von einer „kommunistischen" oder „sowjetischen" Spionageorganisation zu sprechen. Der sowjetische Geheimdienst hielt nur zu wenigen Männern Kontakt. Da es sich bei der Gruppe nicht um eine Organisation im militärischen Sinne handelte, müssen die ahnungslosen Teilnehmer vom Spionageverdacht bis zum Gegenbeweis freigesprochen werden. Das Reichskriegsgericht ist diesem individuellen Schuldprinzip teilweise gefolgt und beugte sich Hitler nicht vollständig, der bei „Schatten von Landesverrats" den Tod forderte. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die internationalen Tendenzen der sozialistischen Grundeinstellung die Bereitschaft förderten, mit Russland zusammenzuarbeiten. Eine besondere Tragik lag darin, dass Arbeiter gegen Arbeiter kämpften. Nur sagt es wenig aus, die Einzelnen als Kommunisten zu bezeichnen. Solche Begriffe verstellen den Blick auf die intellektuelle Vielseitigkeit. Der Bund mit Stalin erfolgte, um das Kriegsglück zu wenden, nicht um Deutschland den Alliierten auszuliefern. Die Mächte sollten gegeneinander ausgespielt werden. Man muss daran erinnern, dass die Verschworenen des 20. Juli 1944 Hitler über Jahre gewähren ließen. Zu wenigen war in der Tiefe bewusst, was über Jahrhunderte im Reich gegolten hatte: „Die Treue hat ihre Grenze an Sitte und Recht" 174 . Unter nationalen Gesichtspunkten war der Bund mit Stalin zwar eine 171 172

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Schreiben an Hans Menzel, Nl Grimme, Nr. 3365. Schreiben des Präsidenten des Reichskriegsgerichtes vom 30. April 1943, Verfahren bei Vollstreckung von Todesurteilen, abgedruckt bei: Haase, Reichskriegsgericht (wie Anm. 127), S. 141. Unter Punkt 11 hieß es, falls die Angehörigen nicht die Herausgabe der Leichnamen beantragt hätten, würden die in Berlin Hingerichteten dem Anatomischen Institut der Universität Berlin zu Lehr- und Forschungszwecken zur Verfügung gestellt. Brief an Hans Menzel, ohne Datum, Nl Grimme, Nr. 3365. Otto Brunner: Land und Herrschaft, 4. Aufl., Wien 1959, S. 262.

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Schuld. Doch ob bei Hitler nationale Gesichtspunkte nicht zurücktreten mussten? Die Gruppe verfügte im Gegensatz zum „20. Juli" über keine militärischen Mittel. Es war zunächst ehrenhaft, über das Entwerfen von Flugblättern und das Aufklären der Bevölkerung hinauszugehen. Einen Attentatsplan legte gleichwohl keiner der Freunde vor. Die Beseitigung Hitlers sollte von andern Mächten besorgt werden. Freilich besaß niemand in der Gruppe direkten Zugang zu Hitler. So fehlt der Nachweis für die Einsicht in die Notwendigkeit und für die Bereitschaft, Hitler zu töten. Was bleibt, ist das Bekenntnis zum Selbstopfer für eine höhere Sache.

5. Spandau, Luckau und Fuhlsbüttel Die quälende Ungewissheit legte sich auch nach dem Urteil nicht. Denn es war bekannt, dass Freisprüche kassiert und in Todesurteile geändert wurden. Ende Januar 1943 erschien es als „Wohltat", dass der Tag des Gerichtes nicht mehr fern sein konnte175. Grimme floh ins Neue Testament, das auch dieser Lage „standhielt", wie er fand. Am letzten Januartag schrieb er seinen Kindern und seiner Mutter. „Ihr meine Lieben! Wenn Ihr diese Zeilen habt, ist über unser Schicksal entschieden: Morgen ist Termin" 176 . Die Tochter erfuhr, dass er weder einen Verteidiger, noch eine Anklageschrift zu Gesicht bekommen hatte und selbst nur ahnte, was ihm zur Last gelegt würde. Am 4. Februar folgte ein erleichtertes „Dem Leben neu geschenkt"177. In der Nachbarzelle wartete unterdessen der junge Soldat Heinrich Scheel auf seinen Prozess. In nächtlichen Gesprächen durch einen Heizungsschlitz erörterten die beiden den Erfolg des Schlussplädoyers und versuchten, ein Schlusswort für Scheel zu erarbeiten178. Scheel war über den Kontakt ehemaliger Klassenkameraden in die Kreise von Schulze-Boysen geraten. Durch seinen Zellennachbarn erfuhr er, dass das Schlusswort vor dem Gericht eine freie, von niemandem unterbrochene Rede sei, die sich zu einer eindrucksvollen Selbstdarstellung eigne. Außerdem erfuhr er, dass Ausführungen über sein Verhältnis zum Staate entscheidend seien. Grimme glaubte, das Gericht habe ihm, dem Minister, abgenommen, dass er den Staat als höchste Autorität achte. Auf ähnliche Weise seien die Richter zu denken gewohnt. Auf diese Weise habe er sie für andere Argumente geöffnet. Beide einigten sich schnell, dass Scheel sich selbst dem Gericht nicht

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Gedanken aus Spandau vom 22. Januar 1943, Berlin, in: Sauberzweig (1967), S. 67. Schreiben vom 31. Januar 1943, Nl Grimme, Nr. 3345. Schreiben vom 4. Februar 1943, in: Sauberzweig (1967), S. 68. Folgende Zitate aus: Scheel, Mein Weg.

Haftanstalten Spandau, Luckau und Fuhlsbüttel

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als Verehrer Hitlers präsentieren konnte. Er könne aber eine „auf historische Erkenntnisse und andere Erfahrungen" gestützte Loyalität gegenüber dem Staate glaubwürdig zum Ausdruck bringen. Scheel ging daran, sein „letztes Wort" zu entwerfen und es sich so tief einzuprägen, dass er es jederzeit abrufen konnte. Das Gericht informierte die Angeklagten nicht im Voraus über den Prozesstermin. Die Gefangenen ahnten nicht, wann Scheel seine Rede vorbringen könnte. Als er am 16. Februar 1943 vor das Reichskriegsgericht gerufen wurde, brach er zusammen. Der Verteidiger Valentin, wie schon in Grimmes Verfahren keine große Hilfe, zeigte mit dem Finger auf den blonden, außerordentlich sportlichen jungen Mann und rief: „Sieht so ein Verbrecher aus?" Nachdem jener sich wieder gesammelt hatte, zog er seine Konzentration an den wichtigsten Punkten der Anklage zusammen. Es gelang ihm, das Stigma eines notorischen Kommunisten von sich abzuwenden. Roeder beantragte die Todesstrafe. Doch auch für den jungen Angeklagten ging der Plan auf. Das Gericht erkannte ihn für nicht schuldig des Landesverrats, sondern lediglich der Nichtanzeige einer Vorbereitung zum Hoch- und Landesverrat. Er erhielt eine Strafe von fünf Jahren Zuchthaus. Von den sechsunddreißig Männern im Spandauer Gefängnis überlebten sechs. Horst Heilmann 179 , Scheel und Hans Henniger waren die Zellennachbarn Grimmes 180 . Heilmann wurde enthauptet, Hans Henninger erhielt die Möglichkeit, sich an der Front zu bewähren. Er kehrte nicht zurück. Die „Frontbewährung" war ein Einsatz mit beträchtlichem Risiko. Im Vergleich hierzu erschienen die Zuchthäuser als sichere Orte. Die Gefangenen wussten, dass „irgendwo ein Krieg sein muss, der anscheinend nie aufhört, dass die Nazis siegen und dass unser Leben anscheinend kürzer ist als der Krieg" 181 . Darin lag angedeutet, dass das Überleben im Zuchthaus durchaus keine Selbstverständlichkeit bedeutete. Die hygienischen Zustände waren miserabel und die Häftlinge wurden nur unzureichend mit Lebensmitteln versorgt. Grimmes Körpergewicht fiel im Juli 1943 auf 59 Kilogramm, um sich im folgenden Jahr noch einmal zu vermindern. Wenn er seine Strafe vollständig verbüßen musste, näherte er sich dem sechzigsten Lebensjahr. Er hoffte, körperlich imstande zu bleiben, noch einmal eine Existenz aufzubauen. Der spärliche Schriftverkehr beförderte eine größere Unruhe, als Ende des Jahres 1944 eine Verlegung nach Hamburg Fuhlsbüttel erfolgte. Bereits Ende Oktober 1944 ging ein Transport

Günther Weisenborn über Spandau, Ausschnitt aus „Memorial", N1 Grimme, N r . 926. 180

Brief an Maria Luise Henniger vom 21. Dezember 1955, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 206.

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Weisenborn, Aufstand (wie Anm. 54), S. 72.

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Leben unterm Hakenkreuz

mit ihm von Luckau zum Gefängnis am Berliner Alexanderplatz. Nach einem einwöchigen Aufenthalt wurde die Maßnahme rückgängig gemacht. Erst dann folgte der Abtransport nach Fuhlsbüttel182. Die Familie wusste nicht, weshalb dies angeordnet wurde. Die Furcht vor einem Willkürakt spannte sich gerade nach dem 20. Juli 1944. Der Zuchthauswechsel erwies sich jedoch als Glücksfall. Die Gefängnisleitung erlaubte Ausnahmen für Besucher und wies ihm Arbeit in der Zuchthausbibliothek an183. Gleich nachdem das Leben gerettet schien, erwachte die Leidenschaft für die Literatur. Scheel erhielt durch die Zellenwand eine Lehrstunde über das Werk Kuckhoffs und ein mehrtägiges Gespräch über „Pyramus und Tisbe" 184 . Mit der Themenfrage vom „Sinn und Widersinn des Christentums" glaubte er die entscheidende der kommenden Jahrzehnte bearbeitet zu haben185 und führte seinen Nachbarn vermittels der vorhandenen Evangelien durch das Heizungsrohr in Probleme ein. Es bekümmerte ihn, dass er zu wenig Lektüre erhielt. Statt mit Büchern verbrachte er die Zeit damit, Tüten zu kleben oder Achselklappen zu nähen186. Die Arbeit in der Bibliothek der Hamburger Anstalt erschien ihm deshalb als ein Vorgeschmack der Freiheit. Die Zahl der in der Gefängnisbibliothek lagernden Bücher soll sich auf 18.000 Exemplare belaufen haben187 und es findet sich im Nachlass eine Liste von nicht weniger als sechshundert Titeln, die er zumindest einsah188. In Luckau gelangte er über einen Zellengenossen in den Besitz des kleinen Knaur-Lexikons 189 . Nach dem Krieg verblüffte er manchen Gesprächspartner mit Spezialwissen aus der täglichen Lektüre des Nachschlagewerkes. Das Spandauer Gefängnis war von der Gestapo für den Prozess zur Roten Kapelle geräumt worden und mit den politischen Häftlingen belegt. In Luckau mischte sich diese Sorte Gefangener mit Halb- und Schwerstkriminellen190. Während die Männer in Spandau in strenger Einzelhaft lagen,

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Brief an die Angehörigen vom 26. November 1944, Fuhlsbüttel, N1 Grimme, N r . 3351. Peter Zylmann an die Familie Grimme vom 2. Dezember 1944, N l Grimme, N r . 3353. Brief an Oberschulrat Heinrich Deiters vom 30. Juli 1946, N l Grimme, N r . 3363. Brief an Erich Jauernig vom 31. Mai 1946, in: Sauberzweig (1967), S. 114. Brief an N i c o l o s o Giuseppe v o m 22. Juli 1946, in: Sauberzweig (1967), S. 119. Günther Weisenborn in: Walter Oschilewski (Hrsg.): Wirkendes, sorgendes Dasein Begegnungen mit Adolf Grimme, Berlin 1959, S. 139. Peter Zylmann an Mascha Grimme vom 17. Januar 1945, N l Grimme, N r . 3353. Liste zu gelesenen Büchern, N l Grimme, N r . 3350. N o t i z über Zellenerlebnisse, N l Grimme, N r . 3358. Brief an Albrecht Bürkle vom 28. Oktober 1958, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 149.

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gelangte er in Luckau zu dem „Vorteil von zwei Zellenkameraden" 191 . Einer der Zellengenossen war der zum Freundeskreis Berthold Brechts gehörende Weisenborn, der ihm dem Anblick nach aus Spandau bekannt war. Als Dramaturg eines Berliner Theaters war er im Jahr 1937 in den Kreis um Schulze-Boysen geraten192. Die Anklage hatte sich mit einem Todesurteil nicht durchsetzen können. Aus Gerüchten und „Kassibern" und seltenen Besuchen mussten sich die Häftlinge ein Bild der Außenwelt zusammenstellen193. Auf Heimaturlaub besuchte der Sohn den Vater und gab ihm mit ironischem Augenzwinkern zu verstehen, dass der „Endsieg" nun bald errungen sei194. Seit Mascha Grimme im März 1943 entlassen war, kam auch sie zu den wenigen erlaubten Besuchsterminen. Er dachte viel über die berufliche Zukunft seines Sohnes nach195 und sorgte sich um die finanzielle Sicherheit der Familie. Gelegentlich schien er zu vergessen, dass die Zeit vorangeschritten war und die Welt verändert hatte. Wie sonst hätte er an seinen Sohn schreiben können: „Peter, ich fege jeden Morgen den Linoleumboden meiner Zelle aus. Dann sehe ich meinen Jungen, wie er zu Haus sein Zimmer auf die gleiche Weise sauber hält" 196 .

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Brief an die Angehörigen vom 4. Juli 1943, N1 Grimme, Nr. 3351. Weisenborn, Aufstand (wie Anm. 54), S. 14. Brief an Lindner vom 24. August 1948, N1 Grimme, Nr. 3362. Mitteilung Peter Grimmes an den Autor. Peter Zylmann an Mascha Grimme vom 17. Januar 1945, N1 Grimme, Nr. 3353. Brief an die Angehörigen vom 29. Oktober 1942, N1 Grimme, Nr. 3345.

Achtes Kapitel Staat und Partei

1. Neuanfang Als britische Truppen Hamburg besetzten, bediente sich der spätere Kultursenator Heinrich Landahl1 des intakten Fernsprechsystems und überzeugte zuständige Stellen davon, dass Grimme zu Unrecht inhaftiert sei2. Als das Ausgehverbot am 25. Mai 1945 gelockert wurde, begab sich ein Freund aus Leeraner Tagen, Peter Zylmann, zum Zuchthaus Fuhlsbüttel um die Freiheit zu erwirken. Ein britischer Offizier führte ihn vor das Gebäude, wo ein Lastwagen auf den Abtransport von Häftlingen in ein Militärlager wartete und gab den ehemaligen preußischen Kultusminister frei3. Es bot sich zunächst ein Bild des Elends. Auf neunzig Pfund abgemagert4 und blass, sich schwerfällig bewegend, entstieg er dem Transporter. Um seine Gesundheit einigermaßen wiederherzustellen, zog er sich in das Haus des Freundes in Hamburg-Rahlstedt zurück. Die britischen und amerikanischen Militärs hatten in den letzten Kriegsjahren Listen erstellt, auf denen etwa 1500 Namen von politisch zuverlässigen Personen standen5. Es ist anzunehmen, dass eine solche Liste den Namen Grimme verzeichnete. Die britischen Truppen mussten in ihm einen idealen Kandidaten sehen. Zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft hinterließen nicht mehr viele unbelastete, aufbauwillige Menschen. Exilanten genossen in der deutschen Bevölkerung kein hohes Ansehen. Viele der aktiven Gegner der Nationalsozialisten waren hingerichtet. Er konnte als Gegner des Regimes gelten, war

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Heinrich Landahl (1895-1971), sozialdemokratischer Politiker und Lehrer, amtierte als Studienrat bis 1933 und wurde dann entlassen. Von 1945-53 und von 1957-61 war er Senator und Präses der Schulbehörde in Hamburg; 1949-53 auch Präses der Kulturbehörde, von 1924-33 und von 1946-1966 war er Mitglied der Hamburger Bürgerschaft. Heinrich Landahl, in: Oschilewski, Sorgendes Dasein, S. 68. Peter Zylmann, in: ebd. S. 143. Manuskript des W D R . Radiosendung zu Grimmes 80. Geburtstag, N l Grimme, N r . 3146. Hermann Glaser: Kulturgeschichte der B R D . Zwischen Kapitulation u. Währungsreform 1 9 4 5 ^ 8 , München usw. 1985, Bd. 1, S. 26.

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durch seine Zuchthaushaft unverdächtig und hatte bereits ein hohes politisches Amt bekleidet. Die britische Militärregierung übergab ihm im Sommer einen Ausweis, dessen Träger für einen „wichtigen Posten in der Administration der Provinz Hannover" vorbestimmt sei6. Er habe Order, am 27. Juli 1945 nach Hannover zurückzukehren. Ferner erhielt er einen Pass, der ihm das Überqueren der Elbe nach Hildesheim erlaubte 7 . Jeden Montagmorgen um zehn Uhr musste er in den folgenden Wochen bei dem Verbindungsoffizier Al Beattie vorstellig werden, der ihn anwies, nicht mit einem untergeordneten Offizier zu verhandeln 8 . Möglicherweise verdankte sich die Aufmerksamkeit der Militärregierung auch den Sozialdemokraten Hannovers. Der schwerkranke Schumacher durfte nach zehn Jahren Haft das Konzentrationslager Dachau 1943 mit der Auflage verlassen, sich in der für ihn fremden Stadt Hannover aufzuhalten. Die Nationalsozialisten versprachen sich davon, ihn von Widerstandsaktivitäten abzuhalten, was aufgrund seines miserablen Gesundheitszustandes zunächst gelang9. Achtundachtzig flächendeckende Bombardements hatten die Hälfte des Hausbestandes Hannovers vernichtet10. Darunter war die Wohnung Schumachers, was seine Aktivitäten weiter einschränkte. Erst im Lager Neuengamme, wo er nach dem 20. Juli 1944 einige Monate Haft verbüßte, lernte er zahlreiche Sozialdemokraten des Umlandes kennen. Am 10. April 1945 erreichten amerikanische Truppen Hannover. Noch am selben Tag begaben sich drei Sozialdemokraten aus dem Untergrund zum amerikanischen Stadtkommandanten und verhandelten darüber, mit welchen Persönlichkeiten die Spitzenämter der Provinz besetzt werden könnten 11 . Dort fiel möglicherweise auch der Name Grimme. Falls nicht

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Ausweis in N1 Grimme, Nr. 3366. Ein Eintrag vom 18. Juli 1945 lautete: „to whom it may concern. The bearer of this note, Herr Adolf Grimme, Hamburg-Rahlstedt, Hindenburgweg 7, is designated to occupy an important post in the administration of Hannover Province. He has orders to return to Hannover on 27. July 1945." Pass ausgestellt am 27. Juni 1945, Nl Grimme, Nr. 3366. Schreiben vom 16. Oktober 1945, Nl Grimme, Nr. 897. Willy Albrecht (Hrsg.): Kurt Schumacher. Reden, Schriften, Korrespondenzen 1995-1952. Berlin u. Bonn 1985 (weiterhin zit.: Albrecht, Schumacher); Lewis J. Edingen Kurt Schumacher. Α study in personality and political behavior, Stanford 1965; Peter Merseburger: Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher, Stuttgart 1995. Hermann Glaser u. a. (Hrsg.): So viel Anfang war nie. Deutsche Städte 1945—49, Berlin 1989. Albrecht, Schumacher, S. 89. Es handelte sich um den ehemaligen Polizeipräsidenten Erwin Barth und die Gewerkschaftler Albin Karl und Heinrich Möhle. Waldemar R. Röhrbein: Hannover nach 1945. Landeshauptstadt und Messestadt, in: Klaus Mlynek u. Waldemar R. Röhrbein: Geschichte der Stadt Hannover, Bd. 2: Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, Hannover 1994, S. 652 (weiterhin zit.: Mlynek u. Röhrbein, Hannover).

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gleich an jenem 10. April, so vielleicht in einer späteren Zusammenkunft mit den dann eingesetzten britischen Militärs. Ursprünglich hatten die Amerikaner den Nordwesten des Reiches besetzen wollen, die Zone aber mit Ausnahme von Bremen den Briten überlassen12. Schumacher versuchte zu verhindern, dass sozialdemokratische Spitzenpolitiker aus der Zeit vor dem Machtantritt Hitlers erneut an die Spitze der Partei zurückkehrten 13 . Im Oktober 1945 sprach er, den Begriff des „Wiederaufbaus" vermeidend, vom „Neuaufbau" der SPD 14 . Er hielt alle für parteischädlich, die nach seiner Ansicht nicht energisch genug gegen Hitler vorgegangen waren. Dies galt in seinen Augen für Braun und Severing. Grzesinski hätte er gern in der neuen SPD gesehen. Doch verstarb dieser vor der Rückkehr aus der Emigration. Es zeichnete sich schnell ab, dass aus Berlin heraus keine nationale Parteistruktur aufgebaut werden konnte. Die Stadt lag inmitten der russischen Besatzungszone und die Transportbedingungen waren schlecht. Der Aufbau in der Amerikanischen Zone vollzog sich durch die dortigen besonderen Verhältnisse langsamer als in der Britischen 15 ' Es gelang Schumacher zwischen Juni und August 1945 schriftliche Mandate seiner westdeutschen Parteigenossen einzusammeln, mit denen sein „Büro" als Parteizentrale anerkannt wurde16. Die Berliner Sozialdemokraten richteten einen „Zentralausschuss" ein, der in der Folgezeit mit dem „Büro Schumacher" um die nationale Vorherrschaft innerhalb der SPD konkurrierte. Unterdessen errichteten die britischen Militärs notdürftige Verwaltungseinheiten. Die deutschen Behörden funktionierten nicht mehr reibungslos, da sie unter der nationalsozialistischen Herrschaft eng mit der Parteistruktur der NSDAP verzahnt waren und die Partei nicht mehr existierte. Der Oberbefehlshaber der amerikanischen Besatzungstruppen, Eisenhower, befahl am 3. Mai 1945, alle ehemaligen Parteimitglieder der NSDAP von der Arbeit in den Verwaltungen auszuschließen. Der Stadtkommandant Hannovers unterlief den Befehl, weil er meinte, den Zusammenbruch der Verwaltung mit Blick auf die zerstörte Stadt und die sich abzeichnende Le-

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Endgültig regelten die westlichen Besatzungsmächte die geografische Aufteilung und den Status Bremens am 26. Juli 1945. Erdmann, Weimar (wie Kap. 2, Anm. 71), S. 41. Albrecht, Schumacher (wie Anm. 9), S. 107. Zitat aus einer Kieler Rede am 27. Oktober 1945, Albrecht, Schumacher, S. 109. Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1: September 1945-Dezember 1946, bearbeitet von Walter Vogel u. Christoph Weisz, München u. Wien 1976, S. 28 (weiterhin zit.: Akten zur Vorgeschichte). Albrecht Kaden: Einheit oder Freiheit. Die Wiederbegründung der SPD 1945/46, 2. Aufl., Berlin u. Bonn 1980; Konrad Franke: Die niedersächsische SPD-Führung im Wandel der Partei nach 1945, Hildesheim 1980.

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bensmittelknappheit nicht verantworten zu können 17 . Die Briten übernahmen also von den Amerikanern eine deutsche Verwaltung, die von NSDAP Mitgliedern mitgetragen wurde. Sie griffen zunächst auf die Landes- und Provinzbehörden der Vorkriegszeit zurück, ohne die personelle Struktur in der Tiefe zu verändern. Lediglich die Spitzenpositionen besetzten sie neu. Die ehemaligen preußischen Provinzen Schleswig-Holstein und Hannover erhielten die gleichen Zuständigkeiten und Befugnisse wie die ehemaligen Reichsländer Braunschweig, Oldenburg und Hamburg. Da das Reich keine Regierung mehr besaß, übernahmen diese Verwaltungen auch Aufgaben, die vordem Reichsministerien oblagen. Diese Bereiche mussten später an die „Zentralämter" abgegeben werden, welche die Briten als provisorischen Ersatz für die Reichsministerien einrichteten. Deutsche Beamte besaßen zunächst kein Mitspracherecht. Die Provinzmilitärregierungen, die ihrerseits der britischen Kontrollkommission für Deutschland unterstanden, wiesen die Behörden der länderähnlichen Einheiten an18. Um die Informationswege abzukürzen, unterstellten die Briten im Juni 1945 die Provinzmilitärregierungen Braunschweig und Oldenburg der Militärregierung in Hannover 19 . Dementsprechend öffneten die Verwaltungschefs der Gebiete Hannover, Braunschweig und Oldenburg ab Oktober ein gemeinsames Büro in Hannover 20 . Am 20. Oktober 1945 wurde der „Gebietsrat Niedersachsen" eingesetzt, der die behördliche Grundlage für das 1946 geschaffene Land Niedersachsen bildete. Als „stellvertretender Oberpräsident" der ehemaligen preußischen Provinz Hannover war zunächst Eberhard Hagemann eingesetzt worden21. Im September 1945 ersetzte ihn Hinrich Wilhelm Kopf 2 . Als ehemaliger Jour17 18

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Mlynek u. Röhrbein, Hannover (wie Anm. 11), S. 652. Dieter Brosius: Landes- und Demokratiegründung nach 1945, in: Bernd Ulrich Hucker (1997), S. 602 ff. (weiterhin zit.: Brosius, Demokratiegründung). Mlynek u. Röhrbein, Hannover (wie Anm. 11), S. 668 f. Akten zur Vorgeschichte, Bd. 1, S. 46. Der Befehl vom 20. Oktober 1945 war auf einen Vorschlag Kopfs zustande gekommen. Brosius, Demokratiegründung (wie Anm. 18), S. 609. Hinrich Wilhelm Kopf (1893-1961), verlor 1955 die Landtagswahlen gegen eine C D U - F D P Koalition, wurde 1957 aber Innenminister Niedersachsens und amtierte schließlich noch einmal von 1959 bis zu seinem Tode als Ministerpräsident. Folgende Zitate aus: Thilo Vogelsang: Hinrich Kopf und Niedersachsen, Hannover 1963; siehe zu Kopf auch Ulrich Schneider: Hinrich Wilhelm Kopf, in: Walter Mühlhausen u. Cornelia Regin: Treuhänder des deutschen Volkes. Die Ministerpräsidenten der westlichen Besatzungszonen nach den ersten freien Landtagswahlen. Politische Portraits, Melsungen 1991, S. 229-254. Heiko Messerschmidt (Magisterarbeit): Hinrich Wilhelm Kopf und die niedersächsische SPD in der Nachkriegszeit, Göttingen 2002.

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nalist, Kaufmann, Immobilien- und Versicherungsmakler verfügte er über profunde Kenntnisse in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Er hatte gleichzeitig eine politische Laufbahn vorzuweisen: Referent des SPD-Reichsinnenministers Eduard David23, Regierungsrat in Weimar und Landrat in Hameln. Die britische Militärregierung ergriff verschiedene Maßnahmen, um auf die herrschende Mentalität der deutschen Bevölkerung Einfluss zu nehmen. In diesen Zusammenhang gehören die Spruchgerichte, die über den Grad der „Nazifizierung" bestimmen sollten. In den ersten Monaten der Besatzung leiteten Angehörige des britischen Heeres die Prozesse zur „Entnazifizierung". Als die oberen Positionen der deutschen Verwaltung mit unbelasteten Personen besetzt waren, gingen die Spruchgerichte in deutsche Hände über. Die britischen Regierungsstellen waren nachsichtig mit Parteimitgliedern umgegangen und hatten, wo spontan gebildete deutsche Ausschüsse Nationalsozialisten aus öffentlichen Ämtern gedrängt hatten, diese Maßnahmen nicht selten rückgängig gemacht. Grimme wurde einem „Entnazifizierungsausschuss für Kulturschaffende" zugeteilt. Wer vor 1937 der N S D A P beigetreten war, blieb in Niedersachsen vom Staatsdienst zunächst ausgeschlossen, ohne dass der individuelle Lebenslauf noch einmal überprüft wurde. Gegenüber Bewerbern, die nach 1937 der N S D A P beigetreten waren, verhielt sich die Staatsregierung zurückhaltend 24 . Diese Praxis führte zu einem schmerzhaften Mangel an Personal. Für alle Ressorts richtete die Regierung deshalb „politische Überprüfungsausschüsse" ein, die über die Schwere der Vorlast befinden sollten. Grimme betrachtete diese Aufgabe als eine Bürde, der er sich schnell wieder entledigen wollte. Wenn Bekannte wie Nölting oder der Carlo Schmid eine „eindeutig nicht-faschistische Einstellung" garantierten, folgte ein Freispruch. Er befand, dass jeder Fall individuell zu behandeln sei und Ausnahmen von der Datumsregel gestattet seien25. Wie weit ein günstiges Urteil reichen konnte, verdeutlicht der Fall Henri Nannen. Die Kontrollkommission hatte am 12. Dezember 1947 beschlossen, deutschen Behörden die Lizenzierung und Materialverteilung zu übertragen. Da gegen Nannen nichts vorlag, erhielt er die Lizenz zu einer Zeitung ohne Bedenken 26 . Die meisten Urteile waren weniger bedeutend. Ohne ausreichendes Material, nach bloßem Augenschein, urteilte der Ausschuss zumeist über Künstler, die ein Auftrittsverbot erhalten hatten. Der Prozess nahm nur wenige Minuten in Anspruch und die Urteile fielen in der Regel sehr milde

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Eduard David (1863-1930) war von 1919 bis Juni 1920 Reichsinnenminister bzw. Reichsminister ohne Geschäftsbereich, 1903-1930 MdR. Denkschrift vom 21. April 1948, N l Grimme, Nr. 900. Protokoll der 14. Sitzung, N l Grimme, Nr. 900. Protokoll der Sitzung vom Mai 1946, N l Grimme, Nr. 900.

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aus. Ein Urteil erging überhaupt nur dort, wo schriftliche Beweise vorlagen. Ein Verleger hatte 1938 einen Almanach zum hundertjährigen Bestehen der Firma Westermann herausgegeben, der eine „eindeutig nationalsozialistische und nationalistische Haltung" verriet27. Einen Solopianisten hielt der Ausschuss nicht weiter für würdig, in einem staatlichen Orchester zu spielen, da die Mitglieder des Gremiums den Pianisten für einen „politischen Opportunisten" hielten. Grimme fühlte sich nicht wohl dabei, derart über das Schicksal anderer Menschen Gericht zu sitzen. Ab der achten Sitzung ließ er sich vertreten, erschien nur noch zweimal persönlich. Er beabsichtigte nicht, den Ausschuss durch seine Anwesenheit aufzuwerten. Niemand konnte wissen, welche Rolle solche halbstaatlichen Gremien in der neu entstehenden Verwaltung spielen würden. Er hielt es für vorteilhafter, so viel Macht wie möglich auf der Ministerebene zu bündeln28. Als das Militärgericht in Nürnberg im Oktober 1946 Papen und Schacht als unbelastet freisprach29, schlugen die deutschen Gemüter hoch. Schumacher bezeichnete Papen als „den Schuldigsten aller lebenden Deutschen". Es zeuge von der Unvollständigkeit des Verstehens, meinte er, wenn der Gefahr einer nationalsozialistischen Reaktion mit formalen Rechtsmitteln begegnet würde. Grimme vertrat einen anderen Standpunkt: Recht müsse über politischen Urteilswünschen stehen. Er nutzte die Gelegenheit, um auf die Tragweite des Papenurteils hinzuweisen. Wenn das Oberkommando der Wehrmacht, das Reichskabinett und sogar die SA als Organisationen neben Personen wie von Papen und Schacht freigesprochen würden, dann bedeute dies nicht weniger, als dass „die Weltjustiz das deutsche Volk von der Anklage einer Kollektivschuld freigesprochen" habe30. Im Übrigen meinte er, sei Papen „moralisch längst gerichtet". Damit setzte er eine Linie fort, die seiner Arbeit im Entnazifizierungsausschuss zugrunde lag und mit der er auch einer Flut von Bittbriefen begegnete, deren Absender ihre korrekte Haltung im Nationalsozialismus bescheinigt haben wollten. Einem Kriminal-Angestellten des Reichssicherheitshauptamtes versicherte er eines „ehrlichen Charakters, der auch nicht die Spur einer kriminellen Natur an sich" habe. Einem Aufseher des Zucht17 28

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Protokoll der Sitzung vom 25. April 1946, N1 Grimme, Nr. 900. Zonenbeirat, Zonal Advisory Council 1946-1948. Protokolle und Anlagen l . - l l . Sitzung 1946 u. 47, bearbeitet von Gabriele Stüber, 2 Halbde., Düsseldorf 1993 und 1994, hier 2. Bd., Düsseldorf 1994. S. 1717f. und S. 1792 (weiterhin zit.: Zonenbeirat). Zu den abenteuerlichen Umständen bei der Festnahme Papens, Schachts sowie Fritzsches siehe die „Zeit" vom 24. Oktober 1946. Die Amerikaner hatten Papen, Schacht und Fritzsche vor dem Zugriff deutscher Behörden schützen wollen, was ihnen am Ende nicht gelang. Zitat aus „Hannoversche Presse" vom 17. Oktober 1947, N1 Grimme, Nr. 3367.

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hauses Fuhlsbüttel bescheinigte er, „wie wohl es mir getan hat, von Ihnen betreut zu werden" 31 und einem Beamten, der „unfreiwillig" der Gestapo angehört und in der Prinz Albrecht-Straße darüber zu wachen hatte, dass „Sie, verehrter Herr Minister, keinen Selbstmord begehen", bestätigte er, der Wächter habe ihn im Herbst 1942 im Kellergeschoss der Gestapo „menschlich völlig einwandfrei betreut" 32 . Selbst der Frau des nationalsozialistischen Staatssekretärs im Kultusministerium Rust 33 vermittelte er einen Termin bei KopP 4 . Er fand, dass - „selbst wenn es sich um den größten Gegner handelte - seine Frau" doch angehört werden müsse. Frau Rust sei ohne Bleibe und dürfe nicht in den Selbstmord getrieben werden35. Mitunter urteilte er etwas leichtfertig. Der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrates der Gefängnisbehörde in Hamburg wunderte sich über ein Zeugnis, das einem ehemaligen Oberlehrer ausgestellt wurde. Dieser sei ein Schläger gewesen und seine Verdienste beschränkten sich darauf, die SA auf der Insel Hahnöfersund organisiert zu haben36. Wenn die zu vergebende Position bedeutend war, prüfte er sorgfältiger. Eine Professur in Köln wollte er nicht mit dem vorgesehenen Kandidaten besetzen. Theodor Heuss hatte sich aus der Ferne ablehnend geäußert und Grimme zweifelte, ob das Wissen des Kandidaten „professorabel" sei. Einem Mitgefangenen aus Fuhlsbüttel hatte er zu einer Stelle als Kurdirektor in Bad Harzburg verholfen. Ein „direktes Leumundszeugnis" schien jedoch „zu gewagt" 37 . Ganz ans Ende seines Humors gelangte er, als sein Strafverteidiger vor dem Reichskriegsgerichtshof, Valentin, sich bei ihm um „irgendeine Stelle" zum Aufbau unseres deutschen Vaterlandes bewarb38. Für ihn sah er „keine Möglichkeit zum Einbau" 39 . Es erscheint sonderbar, dass jemand, der dem Tod nur knapp entkommen war und enge Freunde verloren hatte, weil das nationalsozialistische System von einem großen Teil der Bevölkerung unterstütz wurde, insge-

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Leumundszeugnisse aus dem Jahr 1949, Nl Grimme, Nr. 3362. Schreiben an Volkmann vom September 1947, Nl Grimme, Nr. 3363. Zum Ministerium Rust siehe Horst Möller: Wissensdienst für die Volksgemeinschaft. Bemerkungen zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, in: Treue u. Gründer, Lebensbilder (wie Einleitung, Anm. 5), S. 307-324. Rust (1883-1945) hatte die Geschäfte des Kultusministeriums am 6. Februar 1933 von Grimme übernommen. Am 3. Februar hatte ihn der Reichskommissar zum Stellvertreter ernannt. Zentralblatt (1933), S. 43. Briefwechsel mit Anasofia Rust in Nl Grimme, Nr. 2326. Brief an Hinrich Kopf vom 25. September 1945, Nl Grimme, Nr. 3366. Robert Schütt an Grimme vom 2. Dezember 1947, Nl Grimme, Nr. 3363. Brief an Regierungsrat Heuer vom 4. September 1946, Nl Grimme, Nr. 3363. Valentin an Grimme vom 22. Dezember 1945, Nl Grimme, Nr. 3363. Brief an Valentin, ohne Datum, Nl Grimme, Nr. 3363.

Im Zonenbeirat

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samt frei von Vergeltungsgedanken war. Der Chef der „Psychological Warfare Division" kam zu dem Ergebnis, die Deutschen scheinen „ganz einfach kein politisches Gewissen zu haben". Der Dichter Hermann Hesse berichtete etwa zur gleichen Zeit aus seinem Schweizer Exil, er habe hunderte von Briefen aus Deutschland erhalten. Nicht einer von ihnen schreibe, er bereue, er sehe die Dinge jetzt anders, er sei verblendet gewesen. Und auch nicht einer schreibe, er sei Nazi gewesen und werde es bleiben, er bereue nichts, er stehe zu seiner Sache40. Das zurückhaltende Verhalten verwundert deshalb um so mehr. Es spricht einiges dafür, dass Grimme sich tief in sein Inneres zurückzog und versuchte, die frischen Erinnerungen an die Zeit des Dritten Reiches so weit es ging zu verdrängen. Die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Herrschaft griff ihn mehr an, als er sich eingestand. Der Wunsch nach Vergeltung saß in ihm und brach mit Macht hervor.

2. Im Zonenbeirat Die Arbeit stützte sich zunächst auf die Restbestände der erhaltenen Verwaltungsbehörde der ehemaligen Provinz Hannover. Am 1. August 1945 erhielt er das Amt eines „kommissarischen Regierungsdirektors" übertragen, am 15. Dezember wurde das „kommissarisch" in „leitender" umgewandelt, am 20. August die Hauptabteilung Kultus neu ins Leben gerufen41. Ab 1. November 1946 lautete der Titel, den er ab 23. des Monats offiziell trug, schließlich „Niedersächsischer Minister für Volksbildung, Kunst und Wissenschaft" 42 . Am 18. Dezember wurde der Name letztgültig in „Niedersächsischer Kultusminister" geändert. Der Begriffswandel spiegelte die sich verfestigende Struktur des Verwaltungsbezirkes. Am 23. August 1946 beendete die Britische Militärregierung die Geschichte des Oberpräsidiums Hannover, indem sie die preußischen Provinzen in ihrer Zone auflösten und die Verwaltungseinheiten „Länder" schufen. Am 1. November 1946 ging die Provinz Hannover im Land Niedersachsen auf. Grimme erhielt den Ruf in das damals wichtigste beratende Gremium der Britischen Zone: den im März 1946 berufenen Zonenbeirat 43 . Durch den Zusammenbruch des Reiches und das Ende der NSDAP war ein

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Zitiert nach Glaser, Kulturgeschichte (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 98. Otto Merker (Hrsg.): Ubergang und Neubeginn, Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archiwerwaltung, hrsg. vom Niedersächsischen Landesarchiv, Heft 52, Göttingen 1997, S. 128 (weiterhin zit.: Merker, Neubeginn). Ebd., S. 128. Zonenbeirat (wie Anm. 28).

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Besatzungszeit

Machtvakuum entstanden, von dem niemand glaubte, es würde lange bestehen. Es ging nun um die Frage, wer Deutschland nach außen und innen vertreten würde 44 ' Noch lag die höchste Regierungsverantwortung bei den Ländern, die zukünftig möglichst wenig Macht an höhere Stellen abgeben wollten. Ein länderübergreifendes Gremium mit den Befugnissen der ehemaligen Reichsregierung würde kommen. Schließlich konnte Deutschland nicht auf ewig von England aus durch Briten verwaltet werden. Parteipolitische Interessen standen gegen staatliche, wobei dieser Konflikt in der Persönlichkeit des Amtsträgers zum Austrag kommen konnte. Der Zonenbeirat in Hamburg ersetzte die informellen Treffen der Länderregierungschefs und diente den Briten als beratendes Gremium 45 . Die Ministerpräsidenten der Länder Westfalen, Nordrhein, Hamburg, SchleswigHolstein und Hannover nahmen an jeder Sitzung teil, während die zunächst noch bestehenden Länder Braunschweig, Bremen und Lippe im Wechsel jeweils einen Vertreter entsandten. Neben den Regierungsoberhäuptern erhielten zehn Fachvertreter im Rat eine Stimme. Die Parteien SPD, C D U , FDP, KPD (ab August 1946 die N L P und ab Oktober das Zentrum) stellten jeweils einen Abgesandten. Der Zonenbeirat erhielt keine Macht, um etwa die Zentralämter anzuweisen. Das erledigten weiterhin die Briten. Grimme saß als Vertreter des Fachgebietes Erziehung im Zonenbeirat 46 . Ihm fiel die Aufgabe zu, für die gesamte Zone den Aufbau des Erziehungswesens vorzubereiten und die Interessen dieses Bereiches zu vertreten. Er vertrat die Unterrichtsbelange zunächst allein. Erst ab der vierten Sitzung wurde zwischenzeitlich Katharina Petersen 47 zusätzlich für das Sachgebiet der Erziehung herangezogen 48 . Ein Zentralamt für Kultur hat nie bestanden. Als die Minister am 8. September 1946 in Bremen auf eigene Faust ein Zonenerziehungsrat ins Leben riefen und ihm eine Verfassung gaben, protestierte die Kontrollkommission und löste ihn im Dezember wieder auf. Als Grund gab sie an, dass parlamentarisch nicht legitimierten Persönlichkeiten nur unter Mitwirken der Militärregierung politische Strukturen schaffen dürften 49 . Dies zeigte zwar die Grenzen des Handlungsspielraums. Solange die Deutschen aber darauf verzichteten, ihre Politik zu institutionalisieren, konnten sie auf dem Gebiet Kultur und Unterricht mit 44 45

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Akten zur Vorgeschichte, Bd. 1, (1976), S. 59 ff. Die Konferenzen der Länderchefs wurden ab dem 22. März 1946 von den Briten als abgewickelt betrachtet. Ein Vertreter wurde nicht mehr entsandt. Akten zur Vorgeschichte, Bd. 1, S. 47. Sitzungsprotokoll des Zonenbeirates vom 6. März 1946 in Hamburg, abgedruckt in: Akten zur Vorgeschichte, Bd. 1, S. 338. Biografische Angaben zu Katharina Petersen im folgenden Kapitel. Akten zur Vorgeschichte, Bd. 1, S. 516. Pakschies, Umerziehung (wie Kap. 4, Anm. 70), S. 210.

Im Zonenbeirat

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bemerkenswerter Unabhängigkeit arbeiten50. Mitten in dieser Unabhängigkeit galt Grimme als graue Eminenz. Er befand sich, wie er selber rückblickend meinte, in einer „gewissen Schlüsselstellung"51. In der zweiten Sitzung des Zonenbeirates (26. März 1946) begründeten die Versammelten einen Kulturausschuss. Ihm traten bei: die Regierungschefs Theodor Stelzer52, Rudolf Amelunxen53 und Hubert Schlebusch54, Grimme, der KPD-Chef Reimann55, Konrad Adenauer und der Gewerkschafter Fritz Henßler56, ferner als Berater der Arzt Rudolf Degkwitz 57 . Den Vorsitz des Kulturpolitischen Ausschusses führte Grimme selbst. Er genoss allgemeinen Respekt58. Im April 1946 gehörte er zu den Vertretern, die mit Abgeordneten des Länderrates in Stuttgart verhandelten59. In einem fachübergreifenden Gremium bekleidete er den Vorsitz60. Ebenso wurde er

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Zentralämter existierten für Ernährung und Landwirtschaft, Flüchtlinge, Wirtschaft, Wohnungswirtschaft und Justiz. Auch die Zentralbank könnte hinzugerechnet werden. Brief an Günther Rönnebeck vom 13. Juli 1953, in: Sauberzweig (1967), S. 183. Theodor Stelzer (1880-1967), Wirtschaftswissenschaftler, war seit 1920 Landrat, nach 1933 amtsenthoben, 1939 einberufen, schloss er sich dem Kreisauer Kreis an und wurde 1945 zum Tode verurteilt, durch die Rote Armee im April 1945 befreit. Stelzer war Mitbegründer der C D U , 1945/46 Oberpräsident und 1946/47 Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Rudolf Amelunxen (1888-1969), Jurist und Historiker, war seit 1919 Regierungsrat im preußischen Wohlfahrtsministerium, 1921 Ober-, 1923 Ministerialrat im preußischen Staatsministerium. 1932 verlor er sein Amt als Regierungspräsident in Münster. 1945 wurde er Oberpräsident der Provinz Westfalen, 1946/47 Ministerpräsident und Kultusminister, 1947-50 Sozialminister und 1950-58 Justizminister des Landes NRW. Hubert Schlebusch (1893-1955), Lehrer, war damals Ministerpräsident des Landes Braunschweig. Seit 1919 gehörte er der SPD an, wurde 1933 aus dem Staatsdienst entlassen und war zeitweilig inhaftiert. Nach der Bildung des Landes Niedersachsen wurde er Präsident des Verwaltungsbezirkes Braunschweig. Max Reimann (1898-1977) arbeitete seit 1933 im Widerstand, wurde 1939 verhaftet und im Konzentrationslager Sachsenhausen eingesperrt. Nach 1945 beteiligte er sich am Aufbau der KPD erst in Brandenburg, dann im Ruhrgebiet. 1948 wurde er Vorsitzender der KPD. 1954 übersiedelte Reimann in die DDR, kehrte aber 1969 in die BRD zurück und engagierte sich in der DKP. Fritz Henßler (1886-1953), Buchdrucker, war seit 1930 Mitglied des RT. Nach 1933, erwerbslos und mehrfach verhaftet, verbrachte er mehr als neun Jahre im KZ Sachsenhausen. Nach 1945 war er besonders mit der Neugründung der Gewerkschaften befasst, bis zu seinem Tod dann Oberbürgermeister von Dortmund. Akten zur Vorgeschichte, Bd. 1, S. 359. Siehe die respektvollen Berichte der Tagespresse in N1 Grimme. Akten zur Vorgeschichte, Bd. 1, S. 375; Bericht über die Stuttgarter Tagung in: Zonenbeirat (wie Anm. 28), S. 242 ff. Akten zur Vorgeschichte, Bd. 1, S. 843. Die Zusammenkünfte hatten erst formlos, ohne Wissen der Militärregierung stattgefunden. Die Absicht, die Fachvertreterversammlung auch auf bizonaler Ebene zu etablieren scheiterte. Zonenbeirat, S. 1068.

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Besatzungszeit

als einer der Sachverständigen vorgeschlagen, die sich mit der Größe und inneren Gestalt der Länder in der britischen Zone befassen sollten61. Das Bestehen der Länder Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und die beiden Hansestädte Hamburg und Bremen Niedersachsen geht auf einen Plan von ihm und Kopf zurück 62 . Die Universität Göttingen verlieh ihm 1948 die Würde eines Ehrendoktors 63 . Aus der Amtszeit des Preußischen Kultusministers allein erklärt sich diese Wertschätzung nicht. Er profitierte von einem Bedarf der deutschen Nachkriegsgesellschaft an im Kern vom Nationalsozialismus unberührt gebliebenen Männern. Der Zonenbeirat maß kulturellen Themen wenig Gewicht bei. Der betreffende Ausschuss war zwar prominent besetzt, doch lag gerade darin seine Untätigkeit begründet. Der Wiederaufbau der Wirtschaft, des politischen Lebens und außenpolitische Fragen besaßen Vorrang. Die Mitglieder des Kulturausschusses befassten sich alle mit den vermeintlich wichtigeren Aufgaben. Die Memoiren Adenauers behandeln die Schulpolitik kennzeichnenderweise kaum. Gleichzeitig verhinderten parteipolitische Vorstellungen weiterführende Maßnahmen in der Schulpolitik. Ein längeres Referat hielt Grimme nur einmal. Es enthielt zahlreiche praktische Vorschläge über die zukünftige Zusammensetzung des studentischen Nachwuchses und der Art und Weise, wie er zu fördern sei64. Er forderte Schulgeldfreiheit, eine Begabtenförderung65 und eine Amnestie für Jugendliche, die am 30. Januar 1933 das 18. Lebensjahr noch nicht überschritten hatten66. Der Ausschuss stimmte prinzipiell zu67. Wenig einzuwenden war gegen den Vorschlag, ein Studentenhilfswerk einzurichten, die „Studienstiftung des Deutschen Volkes" 68 neu zu begründen, die Zahl der Lehrer zu erhöhen und in besonders zerbomb-

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Zonenbeirat (wie Anm. 28), S. 701. Der Vorschlag zur Neuordnung der Länder, den neben Grimme noch acht weitere Mitglieder zeichneten, wurde in der siebten Sitzung am 18-20. September vorgelegt und beschlossen. Akten zur Vorgeschichte, Bd. 1, S. 829 ff. Zum Antrag Kopf: Zonenbeirat, S. 885. Die Urkunde verlieh die Universität am 24. November 1948. Einladung in N1 Grimme, Nr. 3276; in: Sauberzweig (1967), S. 315, steht als Datum der 3. November. Nach den Protokollen des Zonenbeirates wird Grimme dort bereits mit dem Doktortitel angesprochen. Akten zur Vorgeschichte, Bd. 1, S. 468. Manuskript Grimmes in BA Ζ Anh./4, Bl. 30-37. Wortprotokoll der Sitzung des Kulturausschusses, in der über das Referat debattiert wurde in: BT PA 1/274,1. Sitzg., Bl. 8-50. Zur Entschließung des Kulturausschusses des Zonenbeirats im Anschluss an das Grimmesche Referat vom 3. Mai 1946, Zonenbeirat, S. 344 f. Akten zur Vorgeschichte, Bd. 1, S. 609. Der vom Hauptausschuss einstimmig angenommene Antrag abgedruckt in: Zonenbeirat, S. 639. Folgende Zitate aus: Akten zur Vorgeschichte, Bd. 1, S. 528 f. Zonenbeirat (wie Anm. 28), S. 405.

Im Zonenbeirat

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ten Gebieten zusätzliches Baumaterialien bereit zu stellen. Ein Abendgymnasium für junge Menschen, die durch die Kriegswirren nicht das Abitur ablegen konnten, wurde auf seinen Vorschlag hin geschaffen69. Ein „allgemeines praktisches Arbeitsdienst)ahr für die männliche und weibliche Jugend bis zum Alter von 25 Jahren" 70 lehnte die Besatzungsmacht ab, weil es sie zu sehr an das Arbeitsdienstsystem der Nationalsozialisten erinnerte71. Der Vorschlag war mit den Arbeitsämtern, den Gewerkschaften, den Berufsorganisationen und auch mit den Kulturverwaltungen in der amerikanischen Zone abgestimmt, um den Andrang an den Universitäten zu mindern. Die Kriegsheimkehrer und die grausame Vertreibung aus den Ostgebieten erhöhten den Druck auf die Hochschulen erheblich. Eine zentrale Kommission der Britischen Zone zur Förderung von Hochbegabten wurde nicht verwirklicht. Ebenso wenig setzte sich die Idee einer Leitstelle durch, die besonders begabte und charakterlich wertvolle Kinder finden und fördern sollte. Dies fiel bereits in das Gebiet von Glaube und Gesinnung, auf dem Adenauer zurückhaltend taktierte. Zwar teilte Grimme mit Adenauer die Absicht, die geistigen Überlieferungen des Nationalsozialismus zu beseitigen. Die Ansichten über das zu begründende Schulsystem unterschieden sich jedoch erheblich. Adenauer hielt es „prinzipiell für falsch", die westdeutschen Schulen nach den Plänen Niedersachsens zu gestalten. Von den „falschen Grimme'schen Ansichten" dürfe sich niemand verleiten lassen. Es liege „nicht im allgemeinen deutschen Interesse, wenn wir uns durch Herrn Grimme vom richtigen Wege abdrängen lassen" 72 . Dem Kanzler ging es darum, die öffentliche Wirksamkeit des Niedersächsischen Kultusministers einzuschränken, weshalb er nicht begriff, wie man jenen auf den Kölner Kulturtagen im Oktober 1946 sprechen lassen konnte. Für einen in etwa politisch denkenden Menschen sei das „geradezu unfassbar. Derartige Dinge schaden unserer Arbeit außerordentlich" und beeinträchtigten stark den Ruf Kölns als „Vorort rheinischer und christlicher Kultur" 73 . Nicht zum ersten Mal wird Grimme als das Verderben der christlichen Kultur bezeichnet. Dabei wird Adenauer nicht verborgen geblieben sein, " 70

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Zonenbeirat (wie Anm. 28), S. 346. Antrag Grimme, Ableistung eines praktischen Arbeitsjahres als Bedingung für das Hochschulstudium vom 11. Juni 1946, abgedruckt in: Zonenbeirat, S. 468. Folgende Zitate aus: Akten zur Vorgeschichte, Bd. 1, S. 592 f. Akten zur Vorgeschichte, Bd. 1, S. 985. Adenauer an Aloys Lammers, 21. Oktober 1946, in: Rudolf Morsey u. Hans-Peter Schwarz (Hrsg.): Adenauer. Briefe 1945-1947, bearb. v. Hans Peter Mensing, Berlin 1983, S. 346 f. (weiterhin zit.: Morsey, Adenauer). Adenauer an den Vorstand der CDU-Fraktion der Kölner Stadtverordnetenversammlung vom 25. Oktober 1946, in: Morsey, Adenauer, S. 352 f.

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Besatzungszeit

dass er einen überzeugten Christen vor sich hatte, dessen Ansichten einer auf die Kirche gestützten Machtpolitik freilich nicht zuträglich waren. Da der Zonenbeirat ein geeignetes Forum bot, das Profil der Parteien nach innen wie nach außen zu schärfen, gehörte politische Polemik zum Tagesgeschäft. Einvernehmliches Handeln erschwerte dies. Grimme bildete keine Ausnahme und sprach „vielen Jugendlichen" aus „bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kreisen" jede Wandlungsfähigkeit ab, da sie in der Hitlerjugend erzogen und ohne die nötige Reife zu besitzen als Offiziere mit der Macht über Leben und Tod ausgestattet wurden. Die Aussicht, Arbeiterkinder wieder in eine neue Gesellschaft einfügen zu können, beurteilte er „wesentlich günstiger"74. Solche Behauptungen, die jeder Grundlage entbehrten, eigneten sich nicht, ein freundschaftliches Verhältnis zu Adenauer aufzubauen. Kopf, Henßler und Grimme brachten den Antrag ein, der Kontrollkommission vorzuschlagen, Kriegsgefangene gegen „schwerer belastete Parteiangehörige aus Deutschland" auszutauschen und in England zur Arbeit einzusetzen75. Das war ein Vorschlag, der alle rechtsstaatlichen Prinzipien missachtete. Er zeigt, wie wenig die Betroffenen in der Lage waren, ihre verständlichen Vergeltungsgedanken zurückzudrängen. Das Wort „schwerer" hatte Adenauer sich ausgebeten. Er war entschlossen, ehemalige Nationalsozialisten in die politische Arbeit einzubinden, während Grimme darauf drang, wichtiges Quellenmaterial der Nationalsozialisten für spätere Gerichtsprozesse zu sichern. Darin lag der Unterschied: Der eine war ein kühler Pragmatiker, ein durch und durch politischer Mann, der überall nach machtpolitischem Vorteil suchte. Der andere betrieb eine Politik nach zwischenmenschlichen Maßstäben, emotional und moralisch, manchmal das Ziel aus den Augen verlierend. Die Sozialdemokraten gaben zu erkennen, dass sie nicht bereit waren, den Nationalsozialisten einen Teil der Schuld abzunehmen. O b Adenauer an seine eigene, verhängnisvolle Rolle am Ende der Weimarer Republik dachte, ist freilich eine andere Frage. Im Zonenbeirat lernte Adenauer die Positionen seines Gegenübers kennen und setzte fortan alles daran, einen Kompromiss zu vermeiden. Für die Kulturpolitik folgte aus dieser Konstellation eine Niederlage. Eine zentrale Stelle für eine zonale, geschweige denn für eine Zonen übergreifende Kultuspolitik zeichnete sich nicht ab. Die politische Führung der Sozialdemokraten machte keine Anstalten, das Gewicht der Kultuspolitik zu vergrößern und von der Besatzungsmacht konnte kein großer Wurf erwartet werden. Andere Aufgaben erschienen ihnen weit wichtiger. Im Zonen74 75

Brief an Aitken Davies vom 23. April 1946, N1 Grimme, Nr. 918. Akten zur Vorgeschichte, Bd.l, S. 685. Antrag von Grimme, Kopf und Henßler abgedruckt in: Zonenbeirat (wie Anm. 28), S. 515 f. und S. 1792 f.

Im Parteivorstand

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beirat erreichte der Erziehungsbeauftragte für die nationale Schulpolitik nichts Wegweisendes. Es war abzusehen, dass der Zonenbeirat bald über bizonale Amter umgangen werden könnte 76 Nach der Moskauer Außenministerkonferenz genehmigte die Militärregierung weder eine Ministerpräsidentenkonferenz noch einen besonderen Ausschuss der Fachvertreter. Beide führten ihre bereits vorher durchgeführten informellen Treffen fort und erwirkten damit in der Praxis ein abgestimmtes Vorgehen. Der Austritt der Länderchefs und die Gründung des bizonalen Wirtschaftsrates in Frankfurt verringerten den Einfluss des Zonenbeirates. Auch der Umstand, dass er weder gesetzgebende noch ausführende Funktionen besaß und damit mit dem Länderrat der amerikanischen Zone kaum harmonierte, ließ ihn an Ansehen einbüßen. Zu allem Überfluss ließ der Winter des Jahreswechsels 1946/47 eine Zusammenkunft des Zonenbeirates nicht zu. Er tagte deshalb im ersten Halbjahr 1947 lediglich dreimal77. Ab Juni 1947 nahmen die Führer der großen Parteien, die Länderchefs und die Fachvertreter nicht mehr teil78.

3. Im Parteivorstand Die Delegierten des ersten Nachkriegsparteitages wählten den Niedersächsischen Kultusminister im Mai 1946 mit 193 von 245 möglichen Stimmen in den Vorstand der SPD 79 . Drei Landesminister80 und der Bremer Bürgermeister Kaisen teilten mit ihm die Situation, zugleich Partei- und Staatsmann zu sein. Von ihnen hing die Wechselwirkung zwischen politischer Praxis und Programmatik in besonderem Maß ab. Es stand außer Frage, dass dem personellen Schnitt nach dem Krieg programmatisch entsprochen werden musste. Grimme erhielt Mitte 1945 den Auftrag, eine 76 77 78

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Akten zur Vorgeschichte, Bd. 2, S. 22. Akten zur Vorgeschichte, Bd. 2, S. 52. Akten zur Vorgeschichte, Bd. 2, S. 593. Die letzte Sitzung in alter Besetzung war die vorangehende vom 30. April 1947. Kurt Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945-1965, Bonn 1996, S. 81 (weiterhin zit.: Klotzbach, Weg zur Staatspartei). Neben Grimme: Walter Menzel, Innenminister aus Nordrhein-Westfalen und Hermann Veit, Wirtschaftsminister aus Württemberg-Baden. Nölting trat Anfang 1947 wegen angeblicher Vergehen als Besatzungsoffizier zurück. Erik Nölting (18921953), Nationalökonom und vor 1933 Direktor der staatlichen Fachschule für Wirtschaft und Verwaltung in Berlin. 1928-32 Generalreferent für Wirtschaft bei der Regierung von Westfalen. Nach 1933 amtsenthoben, kehrte er 1945 in seine Position zurück, war seit 1946 Wirtschaftsminister von N R W und seit 1949 Bundestagsabgeordneter.

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Besatzungszeit

Denkschrift zu einem neuen Kulturprogramm der SPD auszuarbeiten81. Offenbar stellte er die angeforderten „kulturpolitischen Richtlinien" jedoch nicht fertig82, obgleich er von verschiedenen Seiten Anregendes erbeten hatte83. Diese vergebene Chance ist schwer begreiflich. Möglicherweise glaubte er, einer Einigung zwischen den verschiedenen Ländern entgegenzuwirken, wenn seine Linien zum offiziellen Kulturprogramm der Partei würden. Der Preis des Zuwartens erscheint jedoch hoch. Als Teil des Parteiprogramms wäre sein Schulplan über Jahre verbindlich geblieben. Die Gefahr einer kulturpolitischen Wende wäre vermindert, seine Arbeit dadurch abgesichert worden. Das Versäumnis war nicht zufällig, sondern kennzeichnend. Ein Programm hätte die ohnehin gegen ihn bestehenden Vorbehalte verstärkt. Es ist eine Sache, Gesinnungspolitik gegen Realpolitik zu stellen. Eine ganz andere ist es, Gesinnungs- mit Gesinnungspolitik in Einklang zu bringen. Ein Teil der Genossen betrachtete den Wandel der Arbeiter- zur Volkspartei mit Skepsis und reagierte entsprechend emotional. Intellektuelle, besonders wenn sie keine Marxisten waren, Religiöse Sozialisten und Menschen aus bürgerlichen Familien bekamen das Misstrauen offen zu spüren. Eine religiöse Begründung von Kultur hätte Befremden hervorgerufen. Innerhalb der SPD leitete seit November 194684 Arno Hennig85 die „sozialistische Kulturzentrale". Sie war federführend für die sozialdemokratische Kulturpolitik. Hennig legte auf dem Parteitag 1947 in einer Grundsatzrede die Hauptziele der sozialdemokratischen Kulturpolitik dar86. Da die Partei sowohl in der Verwaltung als auch in der Wirtschaftspolitik jeglichen Einfluss verloren habe, dränge sich das Feld der Kulturpolitik als letztes 81

Rundschreiben an die Bezirksvorstände der S P D in den drei westlichen Besatzungszonen von Mitte Oktober 1945, abgedruckt bei Albrecht, Kurt Schumacher, S. 321 ff., siehe auch Brief an Hermann Nohl, der bereits am 5. September 1945 von dem Auftrag spricht, in: Sauberzweig (1967), S. 98 f. Erich Ollenhauer hatte Grimme am 16. Oktober 1946 in einem Brief um Vorschläge zu kulturpolitischen Richtlinien für den verfassungspolitischen Ausschuss gebeten. Brief in AdsD, N1 Kurt Schumacher, Mappe 109.

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Albrecht, Schumacher (wie Anm. 9), S. 283. Brief an Nohl vom 5. September 1945, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 98 f. Zu den Aufgaben der Kulturzentrale: Jahrbuch der S P D (1946), S. 62. Arno Hennig (1887-1963), Lehrer, war seit 1920 SPD-Mitglied, bis 1933 politischer Sekretär der Partei und wurde nach 1933 mehrfach verhaftet. Nach 1945 war Kulturdezernent und Oberbürgermeister im sächsischen Freital, nach der Vereinigung von SPD und K P D floh er in den Westen und wurde 1953 Kultusminister von Hessen. Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 29. Juni bis 2. Juli 1947 in Nürnberg, Hamburg 1947, S. 167 ff.

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Im Parteivorstand

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verbleibendes souveräne Gebiet für die Arbeit der Partei geradezu auf. Es sei keine Zeit zu verlieren. Der politische Wille des Volkes, der sich gerade in jenen Monaten neu auszurichten schien, sei nämlich überhaupt nur über die Kulturpolitik zu beeinflussen. Vertreter des Fachgebietes hatten kurz zuvor auf einer kulturpolitischen Tagung in Erlangen nicht weniger als eine „vollständige Umerziehung" des deutschen Volkes verlangt. Zu diesem Zweck wollte Hennig einen Kulturausschuß einberufen, dessen Mitglieder nach „persönlichen Qualitäten, Leistungen und Fähigkeiten" ausgewählt und für die Partei ein Schul- und ein Erziehungsprogramm erarbeiten würden. Sofort regte sich Widerstand. Ginge es nur um „Leistungen und Fähigkeiten", so ein Redner, gewönnen erfahrungsgemäß „diejenigen Genossen eine Mehrheit, die lediglich kulturpolitisch interessiert sind, an den übrigen Bestrebungen der SPD" aber sehr wenig Anteil nähmen87. Der Bezug zu den Arbeitermassen und deren Gesinnung müsse bei den Teilnehmern eines Parteiausschusses vorausgesetzt werden, um nicht die kulturpolitischen Veranstaltungen einer „intellektuellen Oberschicht" allein zu überlassen. Es entstehe heute durch das Übergewicht der religiösen Sozialisten leicht der Eindruck, dass der „religiöse Sozialismus die einzig offiziell anerkannte kulturpolitische Richtung der Sozialdemokratie" sei88. Auf einer Kulturtagung in Erlangen sei das Wort „Schule" erst nach einer Stunde und fünf Minuten Konferenzdauer gefallen. Die Zeit davor habe der Referent ausschließlich über religiösen Sozialismus gesprochen. Der zweite Tag sei ob dieser Vorrede in einer gewissen Einseitigkeit verlaufen. Der Referent, der erst so spät das Wort „Schule" fallen ließ, war Grimme89. Er hatte über Kirchen und Sozialismus gesprochen und dabei das Problem der Schulaufsicht behandelt. Die konfessionelle Schule stand dem Gedanken einer Einheitsschule entgegen, die viele Sozialdemokraten im Interesse der zukünftigen klassenlosen Gesellschaft forderten90. Unübersehbar wirkten wirtschaftspolitische Vorstellungen in die Erziehungspolitik hinein. Überkommene Privilegien sollten möglichst per Gesetz erledigt werden. In seine Zukunftsvorstellungen spielte die „klassenlose Gesell87

Rede des Genossen Berger, Niederrhein abgedruckt in: S P D - P T 1947, S. 169. Paul Friedrich Berger kam selbst aus dem höheren Schuldienst und leitete eine Schule in Krefeld. Berger griff Grimme auf einer Eschweger Studententagung im Februar 1948 erneut scharf an und wurde vom Parteivorstand kritisiert. Siehe Albrecht: Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). V o m parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken, Bonn 1994, S. 126. Auch ders.: Die S P D , S. L I und dort das D o k . 21. Sitzg. vom 28./29. Mai 1948.

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Protokoll des SPD-Parteitages 1947, S. 170. Zu der Tagung auch Klotzbach, Weg zur Staatspartei (wie Anm. 79), S. 127-129. Protokoll des S P D - P T 1947, S. 170.

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schaft" nur eine untergeordnete Rolle. Er befürwortete eine über Leistung und Charakter definierte „Sozialaristokratie". Sein Augenmerk lag auf dem Bemühen des Einzelnen. Er hielt die Schule nicht einmal für den entscheidenden Erziehungsfaktor. Wichtiger schien ihm die „häusliche und öffentliche Atmosphäre, in der ein Kind aufwachse" 91 . Konfessionsgebundene Schulen lehnte er aus religiösen und praktischen Gründen ab. Die Idee der sozialistischen Arbeiterbildung unterschied sich von diesem Ansatz. Zwar zeigte ein Begriffswandel an, dass man über die Arbeiterschaft hinaus neue Gruppen erreichen wollte: „Arbeiterbildung" hieß jetzt „sozialistische Schulung". Eine Selbstverständlichkeit war das jedoch nicht. Ein Redner des Parteitages 1947 mahnte, dass der große Zustrom an Lehrern, den die Partei nach 1919, aber auch jetzt zu verzeichnen habe, die proletarische Bewegung verwässere. Ihnen fehle die sozialistische Erziehung und sie brächten „Bildungsideale und Erziehungsziele" rein bürgerlicher Art in die Parteiprogramme ein92. Angriffe solcher Art richteten sich unverhohlen gegen Grimme, der als prominentester Vertreter des religiösen Sozialismus galt, ursprünglich zum Lehrer ausgebildet und der SPD nach 1919 beigetreten war. Dennoch wurde er auf dem besagten Parteitag mit 315 von 344 Stimmen als Vorstandsmitglied bestätigt. Die Fürsprache Ollenhauers hatte geholfen 93 . Der Parteivorstand des Jahres 1947 setzte sich zusammen aus den Vorsitzenden Schumacher, Ollenhauer und aus fünf besoldeten und zweiundzwanzig unbesoldeten Mitgliedern. Grimme gehörte der unbesoldeten Gruppe an. Der Parteivorstand beschloss am 19. Dezember 1947, einen kulturpolitischen Ausschuss einzurichten 94 , der als Organ des Parteivorstandes 1948 zusammentrat 95 . Ein solcher Ausschuss musste sich zwangsläufig mit der Frage beschäftigen, wie die Schulangelegenheiten zukünftig gesetzlich geregelt werden könnten und damit in Konkurrenz zum niedersächsischen Kultusministerium geraten. Der Konflikt, ob eine sozialdemokratische Schulpolitik sich an den Interessen der Arbeiterschaft auszurichten habe, hätte sich ohne Zweifel in einem solchen Gremium fortgesetzt. Da Grimme selbst Mitglied war, standen ideologische Grabenkämpfe und innere Zerreißproben bevor. Doch dazu kam es nicht. 91

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Brief vom 7. Juli 1947, in: AdsD Personalia Grimme. Der Empfänger war wahrscheinlich der Pressedienst D E N A , der Grimmes Rede falsch zitiert hatte, was für Unruhe in kirchlichen Kreisen gesorgt hatte. Rede des Genossen Schult, Hamburg, Protokoll des SPD-Parteitages 1947, S. 172. Ollenhauer am 28. Juni 1947, Willy Albrecht, (Hrsg.): Die SPD unter Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer von 1946 bis 1963. Sitzungsprotokolle der Spitzengremien, Bonn 2000, S. 239 (weiterhin zit.: Albrecht, Die SPD). Albrecht, Die SPD, S. 303. Siehe dort Liste der Mitglieder des Ausschusses. Jb. SPD (1948/49), S. 168.

Im Parteivorstand

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Die Vorsitzenden der SPD behandelten den Ausschuss als zweitrangiges Gremium, wie sie überhaupt Kultuspolitik nicht in erster Linie betrieben. Den Vorschlag Carlo Schmids96, einen Kulturpolitiker als achtes Mitglied ins „Büro" zu nehmen, wies Ollenhauer mit dem Hinweis zurück, Gewerkschaftspolitik sei jetzt „primär", weshalb der Vorstand aus Gewerkschaftskreisen ergänzt werden müsse97. Grimme bat die Vorstandsmitglieder, auf dem Parteitag des Jahres 1948 die Kulturpolitik zu behandeln. Ollenhauer lehnte ab. Die Zeit reiche nicht aus, um dieses Thema noch aufzunehmen. Es könne höchstens ein Kurzreferat über die Ergebnisse der kulturpolitischen Tagung in Lübeck gehalten werden 98 . Mit weiteren Vorschlägen hielt Grimme sich daraufhin zurück. Als Ende August 1947 ein Ausschuss über das kulturpolitische Programm der SPD in Ziegenhain zusammengerufen wurde, hielt er weder ein Referat, noch wurde eine Denkschrift aus seiner Feder dem Programm zugrunde gelegt99. Die Erlanger und Bad Gandersheimer kulturpolitischen Tagungen bilden mit der Ziegenhainer eine Einheit100. Sein Beitrag bestand also allein in der Rede über Kirchen und Sozialismus. Im August 1947 erschien eine sehr allgemein gehaltene Resolution, die der Ausschuss dem Parteivorstand zuleitete101. Carlo Schmid galt als ihr geistiger Urheber, sodass die interessierte Öffentlichkeit Ansätze eines programmatischen Wandels herauslesen durfte. Die Ergebnisse der marxistischen Methode blieben zwar, so hieß es, eine „unverzichtbare Quelle politischer Einsicht", sie seien jedoch nicht mehr „alleinige und absolute Grundlage aller Erkenntnis". Eine mit dem Begriff

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Carlo Schmid (1896-1979), Jurist, beteiligte sich nach 1933 am verdeckten Widerstand, wurde 1940 als Kriegsverwaltungsrat nach Lille einberufen und bekam 1941 Kontakte zu Helmuth James Graf von Moltke, der ihn in die Widerstandsvorhaben vom 20. Juli 1944 einweihte. Im Juni 1945 übernahm er die Landesdirektion Kult in Stuttgart und war kurzzeitig Regierungschef von Württemberg-Hohenzollern, dort 1946 zum Vorsitzenden der SPD gewählt. Schmid war Professor in Tübingen und Frankfurt a. M. für Rechts- und politische Wissenschaften und von 1949 bis 1972 Mitgl. des Bundestages. Petra Weber: Carlo Schmid 1896-1979. Eine Biografie, München 1996 (weiterhin zit.: Weber, Schmid). Ollenhauer auf der Sitzg. des PV und der KK am 28.6.1947. Zitiert nach Albrecht: Die SPD (wie Anm. 93), S. 245. Die Konferenz fand am 29. und 30. Juli in Lübeck statt. Paul Tillich war einer der Referenten. Albrecht: Die SPD, S. XLVIII, auch Dok. 22 A. S. 395. Siehe Jb. SPD 1948/49, S. 168 f. Zur Tagung siehe Klotzbach, Weg zur Staatspartei (wie Anm. 79), S. 181-183. Georg Eckert: Die Kulturkonferenz der SPD 1947 in Bad Gandersheim, in: Braunschweigisches Jb., Bd. 55, 1974, S. 215-223. Albrecht, Die SPD (wie Anm. 93), S. C X X f., die Entschließung ist abgedruckt in: Jb. SPD 1947, S. 113 f. Dieter Dowe (Hrsg.): Partei und soziale Bewegung. Kritische Beiträge zur Entwicklung der SPD seit 1945, Bonn 1993, S. 282-285.

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„marxistisch" verknüpfte Schulreform, das wusste Grimme, war in konservativeren Kreisen nicht durchsetzbar. Auf der entscheidenden Kultusministerkonferenz begründeten die Vertreter ihre Reformvorschläge nicht ideologisch, sondern mit den Lehren, die aus der jüngsten Vergangenheit gezogen werden müssten. Es ist bemerkenswert, dass es aufsehen der SPD keine auf den Nationalsozialismus direkt bezogene kulturpolitische Forderungen gab. Grimme hätte dafür eintreten können, die Schüler konsequent über die Verbrechen Hitlers aufzuklären. Es wäre ein verständlicher Anspruch gewesen, nationalsozialistische Lehrer vom Unterricht auszuschließen, eine Kommission einzusetzen, die sich mit den Zusammenhängen von Schulbildung und Ideologie befasst. Historiker hätten beauftragt, Filmschaffende angeregt werden können, die jüngste Vergangenheit aufzuarbeiten. Nichts davon geschah. Selbst seine eigenen Erlebnisse trug er nicht in die Öffentlichkeit. Es ist nicht erkennbar, auf welche Weise die vorausgegangenen zwölf Jahre Nationalsozialismus sein Denken beeinflussten. Seine Weltanschauung hielt der neuen Situation stand. Vernunft und Liebe einzufordern, blieb richtig. Was sich unterhalb der höchsten Fragen ausbreitete, blieb davon freilich unberührt. Der Parteivorstand bot die Möglichkeit, sich als einer der führenden Parteimänner zu etablieren. Zusammen mit Ollenhauer und Lotte Lemke vertrat er die deutsche Sozialdemokratie in Holland 102 und mit Landahl reiste er nach England. Eine führende Rolle innerhalb der Sozialdemokratie strebte er aber offenbar nicht an. Im Gegenteil: Er pflegte den Abstand. Als der Vorstand sich dagegen aussprach, dass führende Genossinnen sich in überparteilichen Frauenorganisationen beteiligten, widersprach er als einziger103. In den Jahren 1946 und 1947 nahm er an weniger als der Hälfte der Parteivorstandssitzungen teil. Ebenso unregelmäßig erschien er bei Ausschusssitzungen104. Die Arbeit innerhalb der Partei besaß für ihn keinen Vorrang. Einen Wechsel zum Rundfunk hätte er ansonsten wohl vermieden. Im Mai 1950 gab Grimme schließlich alle Amter im Parteivorstand auf105. An Ollenhauer schrieb er, es habe keinen Zweck noch weiter dem Vorstand anzugehören, da er aus zeitlichen Gründen kaum an Sitzungen teilnehmen könne 106 .

102 103 104 105 106

Albrecht, Die SPD (wie Anm. 93), S. 192, 268 und 282. Weber, Schmid (wie Anm. 96), S. 394. Anwesenheitslisten in Albrecht, Die SPD (wie Anm. 93), S. 498 ff. Protokoll des SPD-PT in Hamburg vom 21.-25. Mai 1950. Brief an Ollenhauer vom 13. Juli 1949, N1 Grimme, Nr. 2199.

Theologie und Kirchenpolitik

237

Damit war die engere Mitarbeit innerhalb der SPD beendet. Das Verhältnis zwischen ihm und der Partei war schwierig. Die kulturpolitischen Fragen, die ihn interessierten, fanden in der SPD keine echte Heimat. Da Schulpolitik Landesangelegenheit blieb, machte es keinen Sinn, sich parteipolitisch zu betätigen. Die SPD hatte Reformgruppen wie die „Entschiedenen Schulreformer" integriert, ohne deren Anliegen nachhaltig zu vertreten. Die Programmatik der Partei erwies sich insgesamt als rückständig, die Schulpolitik bildete keine Ausnahme. Innerhalb der Partei hätte er sich mit ideologischem Ballast befassen müssen. Eine moderne Schulpolitik ließ sich aus dem niedersächsischen Kultusministerium besser betreiben. Der „religiöse Sozialismus" gelangte zu einem neuen Gewicht innerhalb der Partei. Er bestimmte zeitweilig sogar die Kulturpolitik. Diese Entwicklung hätte Grimme triumphierend zur Kenntnis nehmen können. Dass er sich gerade in diesem Moment abwandte, ließe sich auf zwei Weisen erklären: Sein einziges Ziel bestand darin, Sozialismus und Religion miteinander zu verbinden. Er äußerte sich nicht dazu, welche Inhalte die Sozialdemokratie vertreten müsste, wenn sie den religiösen Teil der Bevölkerung in sich aufgenommen hätte. Das Zentrum seines Denkens lag in einem religiös begründeten Aufklärertum. Den praktischen Erfordernissen der Schulpolitik konnte er sich widmen, ohne an die Grenzen seiner Weltanschauung zu stoßen. Sie blieben ihm unbekannt und so konnte er am Ende seines Lebens annehmen, er sei bestimmt zu einem theologischen Wissenschaftler, obwohl er in erster Linie ein Schulpolitiker war. Die theologischen Fragen für dringender gehalten zu haben als die politischen, gibt diesem Leben eine beinahe tragische Note, weil vielversprechende Eigenschaften nicht zur vollen Blüte kamen.

3. Theologie und Kirchenpolitik Wie stark theologische Überzeugungen sein politisches Handeln beeinträchtigte, zeigen die Gespräche zwischen Sozialdemokratie und den Kirchen. Mit der katholischen Seite klärten Schumacher und Grimme 1946 einige Grundsatzfragen 107 . Im Januar 1946 tagten Sozialdemokraten mit evangelischen Kirchenvertretern. Grimmes Rede handelte von der „Möglichkeit einer christlichen Begründung des Sozialismus" und legte seine Ansichten zu Kirche und Wirtschaftsordnung dar. Nach der Lektüre des von Kirchen-

107

Briefe an Eberhard Welty, Hannover, 26. August 1946, in: Sauberzweig (1967), S. 122 f.; Brief an Kurt Schumacher vom 21. März 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 106.

238

Besatzungszeit

Vertretern formulierten Tagungsberichtes zeigte er sich verstört 108 , da der Eindruck entstehe, die Staatsvertreter seien gleichsam vor „ein kirchliches Forum hinzitiert worden". Besonders erregte ihn die Schlussformel von einer „unverbindlichen Christlichkeit", denn gerade das Unverbindliche wollte er überwinden. Als er lesen musste, die Kirchenleitung wolle sich mit den Staatsvertretern in „Geduld" üben und sie gelinde behandeln, schrieb er an Hans Iwand, ob denn nicht die Staatsvertreter ebenso die Kirche ausmachten, wie die Kirchenleitung. Es sei doch vielmehr so, dass „umgekehrt gerade den Kirchenleitungen und einer Unsumme von Pastoren gegenüber Geduld geübt werden" müsse und deren „erstarrter Haltung gegenüber eine gelinde Hand am Platze" sei109. Als ihn der Vorschlag erreichte, Parteiführer und Leiter der Kirche noch einmal in kleinerem Kreise zusammenzuführen und selbst einem engeren Arbeitskreis der Evangelischen Akademie beizutreten110, ließ die Antwort nicht lange auf sich warten. Er gebe zu bedenken, ob die Kirche ihn nicht „von vornherein als einen völlig unkirchlichen Ketzer" empfinden müsse, wenn „ich bekenne, dass sich mir im Verlauf des Ringens um dieses größte Problem der Geschichte immer stärker die Einsicht aufgedrängt hat, dass, und nun wieder gerade nicht von der liberalen Theologie, sondern vom Johannesevangelium her, der Weg der offiziellen Kirche vom reinen Jesutum her gesehen, ein Irrweg gewesen ist". Es handele sich im Grunde stets um die alte Frage: Religion oder Spekulation. Er schlug das Angebot einer Akademietätigkeit aus; allerdings, wie er erläuterte, aus taktischen Gründen. Ein Beitritt zu einer Akademie, die im Namen das Wort „evangelisch" trägt, könne in der Öffentlichkeit missverstanden werden. Gerade er stehe ja - und zwar aus religiösen Gründen - gegen die konfessionelle Schule. In der Tatsache, dass die SPD gerade ihn in ihren Parteivorstand erhoben habe, zeige sich ein bedeutungsvoller Wandel innerhalb der ursprünglich exklusiv marxistischen Partei und eine positive Wende in religiösen Belangen111. Ein Jahr später, im Juli 1947, kam es zu einem erneuten Treffen zwischen Parteidelegierten und Kirchenvertretern 112 . Schumacher besaß klare Ansichten zur gesellschaftlichen Funktion der Kirchen. Die SPD solle ih108

109

110 111 112

Tagungsbericht in: Oskar Hammelsbeck: Die kulturpolitische Verantwortung der Kirche, München 1946. Brief an Hans Joachim Iwand vom 23. März 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 107. Oskar Hammelsbeck an Grimme vom 26. April 1946, Nl Grimme, Nr. 2760. Brief an Oskar Hammelsbeck vom 12. Mai 1946, Nl Grimme, Nr. 2760. Albrecht, Die SPD (wie Anm. 93), S. C X I X und S. 252; Martin Möller: Evangelische Kirche und Sozialdemokratische Partei in den Jahren 1945-1950, Göttingen 1984 (weiterhin zit.: Möller, Kirche).

Theologie und Kirchenpolitik

239

nen den „notwendigen Respekt" erweisen, „soweit sie sich nicht in das politische Leben einmischen. Im anderen Falle müssen wir jedoch alle Mittel anwenden, um dafür zu sorgen, dass die kirchlichen Institutionen ihren tatsächlichen Aufgaben nachkommen" 113 . Eine andere Ansicht vertrat Grimme. Als Kultusminister führte er den Landesbischof Lilje ins Amt ein, indem er ihn an die besondere Pflicht der Kirchen gegen das Proletariat erinnerte und mahnte, die Kirche solle sich nicht „ausschließlich auf die Erfüllung weitabgewandter Wünsche und Ziele beschränken" 114 . Während Schumacher fürchtete, die Kirchen könnten einen eigenen Herrschaftsanspruch entwickeln, bestand seine Sorge darin, sie könnten dies nicht tun. Zu der Aussprache mit der evangelischen Kirche ließ Schumacher sich von Grimme, dem Pastoren Heinrich Albertz 115 , Arno Hennig, Ludwig Metzger 116 (Vorsitzender des von Grimme wiederbegründeten Bundes der religiösen Sozialisten) 117 Carlo Schmid und Ollenhauer begleiten. Mit Metzger, Albertz und Grimme bot die Sozialdemokratie gleich drei religiöse Sozialisten auf, die den Kirchen sicher nicht wohlgesonnener gegenüberstanden als Schumacher oder Ollenhauer - ein deutliches Zeichen dafür, dass man sich als Wettbewerber, nicht als Partner der Kirchen verstand. Die Evangelischen Kirchen waren nicht weniger schwergewichtig vertreten. Die Landesbischöfe Lilje 118 und Wurm 1 1 9 wurden ebenso aufgeboten, wie Professor Iwand 120 , der Oberkirchenrat Held 121 und Niemöller 122 . Ein-

113

Kurt Schumacher am 22. August 1946, Protokoll der Sitzg. in Albrecht, Die SPD (wie Anm. 93), S. 69. Zum Religionsverständnis und dem Kirchenbegriff Schumachers: Möller, Kirche (wie Anm. 112), S. 111 ff.

1.4

„Freie Presse" vom 29. Mai 1947, N1 Grimme, Nr. 3367. Heinrich Albertz (1915-1993) war 1939 Pfarrer der Bekennenden Kirche in Breslau, seit 1941 an der Front und wurde 1943 wegen eines Gebets für Martin Niemöller zu Gefängnis verurteilt. 1946 erneuerte er seine SPD-Mitgliedschaft wurde 1947 niedersächsischer Landtagsabgeordneter und war seit 1955 Senatsdirektor beim Senator für Volksbildung in West-Berlin. 1961 übernahm er dort das Innenministerium und folgte 1966 Willy Brandt als Regierender Bürgermeister Berlins. 1967 trat er zurück und übernahm eine Pfarrstelle in Berlin-Schlachtensee.

1.5

116

Ludwig Metzger (1902-1993), Jurist, erwarb 1933 die SPD-Mitgliedschaft, wurde im selben Jahr aus dem Staatsdienst als Gerichtsassessor entlassen und mehrfach verhaftet. 1945 wurde er Oberbürgermeister von Darmstadt und leitete von 1951-53 das Kultusministerium in Hessen.

117

Schriftwechsel mit Gerhard Kunze, Superintendent und Stadtsuperintendent von Hannover, N1 Grimme, Nr. 1984. Hanns Lilje (1899-1977) war von 1947-1971 Landesbischof der Evangelisch Lutherischen Landeskirche Hannover. Theophil Wurm (1868-1953) war 1929 Kirchenpräsident, 1933 Landesbischof der Württembergischen Landeskirche und 1945—49 Vorsitzender des Rates der E K D . Hans-Joachim Iwand (1899-1960) war seit 1946 Professor für Systematische Theologie in Göttingen, 1952 in Bonn.

118

119

120

240

Besatzungszeit

geladen hatte die oberste Kirchenleitung, der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Kirchen beabsichtigten, von ihrem „überpolitischen" Standpunkt als Vermittler zwischen den verschiedenen politischen Gruppen aufzutreten. Ursprünglich sollten sowohl Politiker der C D U als auch der SPD erscheinen, was den Kirchen in der Öffentlichkeit den Anschein einer gewichtigen gesellschaftlichen Rolle verschafft hätte. Die Parteien lehnten eine gemeinsame Konferenz mit den Kirchen ab und schlugen stattdessen zwei voneinander getrennte Gespräche vor 123 . Das Ergebnis der Aussprache war zweigeteilt. Zwar erklärten die Teilnehmer abschließend, in den Angelegenheiten der Bodenreform, der Sozialisierung, dem Lastenausgleich und dem Prinzip der Gemeinschaftsschule stimmten die Kirchen und die SPD durchaus überein. Grimme bezeichnete die Gemeinsamkeit als „gemeinsame Front gegen den Kollektivismus und für die Freiheit der Person". Der weltanschauliche Wettstreit zwischen der Sozialdemokratie und den Kirchen konnte aber nicht beigelegt werden. Schumacher forderte von den Kirchen, „endlich ihre einseitigen Bindungen an das Bürgertum" abzustreifen. Die Kirchen ihrerseits reflektierten darauf, den „sogenannten nicht christlichen" Teil der Gesellschaft für ihre Sache zu gewinnen. Grimme hielt sich auffällig zurück. Ein religiöser Eiferer war er nicht. Ebenso wenig wie den Genossen konnte er sich den Kirchenvertretern zu erkennen geben. Um sein Verständnis des Evangeliums zu vermitteln, hätte er weit ausholen müssen. Auf ein Buch konnte er nicht verweisen, da es sich noch in seinem Schreibtisch befand. Als bloße Vokabeln würden seine Ergebnisse nur Befremden hervorrufen. So musste er, wie schon als Kultusminister Preußens, seine innersten Uberzeugungen zurückdrängen. Als kirchlicher Laie wollte er nicht gelten. Seine theologischen Kenntnisse ließ er gelegentlich anklingen. Er ging aber nicht soweit, den Kirchen ihre Daseinsberechtigung abzusprechen, obgleich dies seiner privaten Ansicht entsprochen hätte. Zu einem solchen Schritt fehlten ihm revolutionärer Geist und Naivität.

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Heinrich Karl Held (1897-1957) war seit 1948 Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland. Martin Niemöller (1892-1984) war seit 1928 Pfarrer in Berlin-Dahlem. Zwischen 1 9 3 7 ^ 5 war er im Konzentrationslager Sachsenhausen und Dachau inhaftiert. 1946 leitete er das kirchliche Außenamt der DKD. Zwischen 1947 und 1964 war er Präsident der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau in Darmstadt. Dietmar Schmidt: Martin Niemöller. Eine Biografie, Stuttgart 1983. Möller, Kirche (wie Anm. 112), S. 144 ff.

Das Verhältnis zur britischen Besatzungsmacht

241

5. Das Verhältnis zur Besatzungsmacht Nach britischem Brauch schlossen sich an die Sitzungen des Zonenbeirates regelmäßige Cocktailpartys, die als inoffizieller Austausch zwischen den Militärs und den deutschen Politikern dienten124. Die Deutschen brachten so wenig Körpergewicht auf die Waage, dass der ausgeschenkte Alkohol ihnen kräftig zusetzte. Die Briten, so mutmaßte der Generalsekretär des Zonenbeirates, hätten die Deutschen ganz bewusst dem Rausch ausgesetzt, um auf diese Weise deren unverstellte Ansichten auszuhorchen125. Uberliefert sind auch Zusammenkünfte bei dem britischen „Educational Adviser" Robert Birley 126 , in dessen Haus „zwanglose Diskussionen" über aktuelle Fragen stattfanden127· Den Briten ging es dabei um politische Fragen. Ebenso interessierten sie sich für die Eigenarten der deutschen Mentalität, die sie beeinflussen wollten. Die englische Regierung hatte den Begriff „Reeducation" eingeführt, der in sich schon besagte, dass die Deutschen in einen früheren Zustand zurückgesetzt werden sollten. Die Verantwortlichen rechneten mit einem sehr langen Prozess, in dessen Verlauf die verheerenden, nationalsozialistischen Lehren aus dem Bewusstsein der Deutschen zurückgedrängt werden sollten. Die Briten beabsichtigten, die Deutschen selbst an dem Werk zu beteiligen, das Land zu einem verständigungsbereiten Partner heranzuziehen. Neben den Schlüsselpositionen in Militär und Politik galt die Aufmerksamkeit deshalb der Zukunft, vor allem dem Schulwesen128. In einem Gutachten der britischen Regierung hieß es, auf keinen Fall dürfe die leitende Übernahme des gesamten deutschen Erziehungswesens durch Briten erwogen werden. Eine Zensur über Presse, Rundfunk und Schulliteratur sei zunächst aufrechtzuerhalten, bis das Personal, die Lehrpläne und das Lehrmaterial von der nationalsozialistischen Ideologie befreit wären. Da die Briten alle deutschen Parteien nationalsozialistischer Tendenzen verdächtigten, lag das Hauptaugenmerk auf Einzelpersonen, die des Mitläufertums unverdächtig geblieben waren129. Den Briten ging es

124 125

126

127 128

129

Zonenbeirat (wie Anm. 28), S. 98. Erinnerungen von Generalsekretär Weisser, zitiert in: Akten zur Vorgeschichte, Bd. 2, S. 52. Konrad Adenauer: Erinnerungen 1945-1953, Stuttgart 1965, S. 68 ff. Adenauer beschränkt sich in seiner Erzählung fast ausschließlich auf die Wirtschafts- und Ernährungslage, streift die Frage der Erziehung, ohne in die Tiefe zu gehen. Sir Robert Birley (1903-1982) gehörte zu den Mitbegründern der „DeutschBritischen Gesellschaft", und war später „Headmaster of Eton". Einladung Birley an Grimme für den 15. und 16. Januar 1949, Nl Grimme, Nr. 315. Pakschies, Umerziehung (wie Kap. 4, Anm. 70); Maria Halbritter: Schulreformpolitik in der britischen Zone von 1945-49, Weinheim-Basel 1979. Pakschies, Umerziehung (wie Kap. 4, Anm. 70), S. 39 ff.

242

Besatzungszeit

bei der Reform des Unterrichtswesens um Inhalte, weniger um Strukturen. Obwohl im England der vierziger Jahre eine rege Diskussion um die Reform des eigenen Schulsystems in Gang gekommen war, wurde das deutsche Schulsystem von der Struktur her als erhaltenswert erachtet. Wenn das übertriebene Ausmaß des Sportunterrichtes zugunsten anderer Fächer ersetzt würde, glaubten sie über ein funktionsfähiges Schulsystem zu verfügen. In England hatte sich in den letzten Kriegsjahren bereits eine Gruppe Deutscher Exilanten mit dem Problem der deutschen Schulen befasst und die Organisation „German Educational Reconstruction" (G.E.R.) ins Leben gerufen 130 . Die Mitglieder dieser Organisation hofften ihrerseits, im besetzten Deutschland zum Zuge zu kommen. Sie entstammten verschiedenen politischen Lagern, was eine klare Linie für die Arbeit in Deutschland verhinderte. Der Nutzen für Deutschland beschränkte sich zunächst darauf, dass die G.E.R. Kontakte zwischen Deutschen und Engländern herstellte. Neben einem Schüler- und Studentenaustausch ermöglichte sie den Besuch Grimmes und des Hamburger Senators Heinrich Landahl in London 131 . Als erste deutsche Politiker nach dem Kriege reisten sie im Sommer 1946 für drei Wochen nach England. Allgemein beeindruckte die freie, öffentliche Diskussion. In Oxford und Cambridge befanden sich unter den Zuhörern sowohl Engländer als auch deutsche Emigranten. Auf „antideutsche" Gefühle trafen sie nirgends132. Engländer, vor allem aber deutsche Emigranten verfügten kaum über Informationen aus der Heimat und gerieten um so leichter in den Bann der deutschen Kulturpolitiker. Sie sprachen vor Vertretern der Controll Commission, der G.E.R, trafen auf britische Vertreter des religiösen Sozialismus und besuchten Wilton Park, wo eine Art Kriegsgefangenen-Universität eingerichtet war133. Überrascht zeigte sich Grimme, als er mit den Reformen des englischen Schulsystems aus dem Jahr 1942 bekannt gemacht wurde. Sie stimmte nämlich, wie er fand, in „großen Teilen mit der von ihm vorbereiteten überein" 134 . Mit dem Butler Act von 1944 entstand in England ein dreigliedriger Mittelbau, der dem preußischen ähnelte. Die Zuständigkeit für den auf die Elementarschule folgenden Bildungsgang lag nicht beim Erziehungsminister, sondern bei den örtlichen Autoritäten. Der Bruch mit der klassengebundenen Erzie130 131 132

133 134

Ebd., S. 81 ff. Fritz Borinski, in: Oschilewski, Sorgendes Dasein, S. 24 ff. Ausführlicher Reisebericht des dreiwöchigen Aufenthalts vom G.E.R. im Juli/August 1946, in: AdsD, Nl Auerbach, Mappe 126. Bericht über die Englandreise vom 13. Juli 1946, N l Grimme, Nr. 428. Interview des „Manchester Guardian" vom 28. Juni 1946. Auszüge in AdsD, Nl Auerbach, Mappe 126.

Das Verhältnis zur britischen Besatzungsmacht

243

hung und ein Kompromiss mit den Kirchen bildeten die Grundlage135. Nicht zuletzt die Ideen deutscher Schulreformer hatten die Reform angeregt, die nun auf deutschen Boden zurückwirkte 136 . Seit Mai 1947 bildete der Educational Branch in der Britischen Besatzungszone einen selbstständigen Bereich 137 . Die Militärregierung wies die deutschen Länder an, ihr Erziehungswesen selbst zu verwalten. Den deutschen Behörden stand lediglich ein Adviser zur Seite, der die höchste Verantwortung für alle Erziehungsfragen in der Britischen Zone trug. Er erließ die Richtlinien für die britische Unterrichtspolitik und unterstand direkt dem Militärgouverneur. Im Sommer 1948 erhielt der Education Branch noch einen zweiten, zusätzlichen Leiter. Es gab neun Unterabteilungen. Jeweils einer oblag die Arbeit für folgende Institute: Universitäten, Erwachsenenbildung, Lehrerbildung, höhere Schulen, Volksschulen, Jugend, Sport, Schulbücher und Information. Die Briten wollten lediglich die nationalsozialistischen Lehrer aus dem Schuldienst entfernen, um den Deutsch-, Geschichts- und Geografieunterricht von ideologischen Inhalten wie Rassenlehre oder „Pan-Germanismus" zu befreien. In eine von den Deutschen selbst umgesetzte Schulreform wollten die Briten nicht eingreifen138. Ihr Plan bestand darin, die Schulen in Deutschland kurzzeitig zu schließen, das Lehrpersonal und das Lehrmaterial auszutauschen, die Schulen in alter Form wieder zu eröffnen und den deutschen Behörden den weiteren Gang zu überlassen. Auf die rückwärtsgewandten Kräfte des Lehrkörpers ließ sich auch im Schulwesen nicht ganz verzichten, sodass erhebliche Gegensätze zwischen den Leitern der Unterrichtsbehörden und den Lehrern entstanden. Auch zwischen den Ministerien der Länder konnte es zu Unstimmigkeiten kommen. Robert Birley stellte erstaunt fest, dass Grimme in Nordrhein-Westfalen als eine „gefährliche Person" galt139. Im Ansehen der Engländer hätte er kaum höher stehen können. Die Briten schätzten ihn als Ausnahme von einer niederdrückenden Regel. Major Beattie, der 1946 als Professor nach Cambridge wechselte, schrieb von einer enttäuschenden Fahrt durch Nordwestdeutschland. Die Bedingungen 135

Deborah Thom: The 1944 Education Act, in: Harold L. Smith (Hrsg.): W a r and social change. British society in the Second World War, Manchester 1986.

136

Brief an Günter Rönnebeck vom 13. Juli 1953, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 183, in einem Bericht über den Englandaufenthalt schrieb Grimme am 13. Juli 1946, er sei überrascht, wie unsere Schulreform der englischen von 1942 weitgehend entspreche, N1 Grimme, Nr. 428; Siehe hierzu Gabriele Clemens (Hrsg.): Kulturpolitik im besetzten Deutschland 1 9 4 5 - 4 9 , Stuttgart 1994.

137

Pakschies, Umerziehung (wie Kap. 4, Anm. 70), S. 140 f.

138

Ebd., S. 157.

139

Birley an W o o d vom 6. März. 1947, zitiert nach ebd., S. 168 f.

244

Besatzungszeit

für die „Reorganisation und Wiedergeburt der deutschen Erziehung" im Sommer 1946 fielen schlechter aus als im Herbst 1945. Bei den besten Männern habe er Zweifel und Furcht entdeckt. Es gebe in der Britischen Zone nicht viele andere Stimmen, schrieb er an Grimme, die mit „solcher Klarheit und Autorität wie Sie über Erziehungsangelegenheiten sprechen" 140 . Ein Jahr später schrieb ein anderer Beobachter von seinem Eindruck, die Dinge in Deutschland seien seit dem vorigen Jahr „bedenklich ärger geworden und vor allem die psychologische Situation habe sich verschlechtert141. 1949 schrieb Grimme dann schließlich selbst, die Entwicklung im hannoverschen Kultusministerium sei „oft zum Verzweifeln" und es gehöre schon „sehr viel Gläubigkeit dazu, um nicht passivisch zu resignieren" 142 . Beattie meinte, den Stillstand mit dem Mangel an geeignetem Personal erklären zu können. Die Umstände zwangen dazu, auch alte Lehrer einzusetzen, deren Glaube noch tief in der Zeit vor 1933 „oder gar im neunzehnten Jahrhundert" wurzelte. Die meisten Menschen über dreißig fand er tief verbunden mit einer „melancholischen und unfruchtbaren Vergangenheit". Diese Menschen würden zum Aufbau eines neuen deutschen Staates nicht mehr viel beitragen können. Er wollte „lieber einen jungen Akademiker ohne berufsmäßige Erfahrung, aber mit liberalen Ideen und Vorstellungskraft in einem Verwaltungsposten beschäftigt sehen, als irgendjemand, der hilflos Zeuge der Vergangenheit war, wie groß auch immer seine geistigen Verdienste sein mögen und wie tapfer er auch immer seine Rolle als Nazi Gegner gespielt haben mag." An den Universitäten stimme ein recht großer Teil der Studenten für die Zukunft immerhin optimistisch143. Die britischen Spezialisten verfolgten eine ähnliche Linie wie das Kultusministerium: Besondere Programme in den Lehrplänen, die über die nationalsozialistischen Verbrechen aufklärten, gab es nicht. Die falschen Bilder, die durch rassische Propaganda in die Köpfe der Schüler gelangt waren, blieben unbekämpft. In den ersten Monaten nach dem Krieg veröffentlichte die Militärregierung Filmaufnahmen aus Konzentrationslagern und zwang deutsche Bürger, die Filme anzusehen. Sie erhoffte sich einen erzieherischen Effekt, der jedoch ausblieb144. In der Folge unterließ die Militärregierung solche Sonderaktionen, was das Beschweigen begünstigte. Keiner der hohen Verantwortlichen erhob Einwände gegen eine Rückkehr zum Schulsystem der Weimarer Republik. Die deutsche Kulturpolitik blieb von Eingriffen der Militärregierung frei.

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Beattie an Grimme vom 29. August 1946, Nl Grimme, Nr. 315. Kingsley an Grimme vom 26. März 1947, Nl Grimme, Nr. 315. Brief an Erich Hirsch vom 21. Februar 1949, Nl Grimme, Nr. 315. Beattie an Grimme vom 29. August 1946, Nl Grimme, Nr. 315. Brewster S. Chamberlin: Todesmühlen. Ein früher Versuch zur Massen-„Umerziehung" im besetzten Deutschland 1945-1946, VJfZ 29 (1981), S. 422 ff.

Neuntes Kapitel Kultusminister Niedersachsens

1. Voraussetzungen Die Gesundheit war seit der Haftzeit angeschlagen. Während der Zeit als Kultusminister nahm er bei seinem eigenen Körper Kredit, den er als Generaldirektor des N W D R zurückzuzahlen hatte. Der Elan, der auch über ihn noch einmal gekommen war, drängte jedes Ruhebedürfnis zurück. Er zeigte sich „selbst erstaunt, dass es unsereins überhaupt möglich ist und noch dazu mit mehr Schwung, als ich je noch von mir erwartet hätte, die unterbrochene Arbeit weiterzuführen"1. In Hannover fanden sich kaum geeignete Räume, um ein funktionsfähiges Ministerium unterzubringen. Es „residierte in einem notdürftig hergerichteten Privathaus in der Hohenzollernstraße in Hannover hinter einer Art Verschlag. Kurzzeitig überlegten die Verantwortlichen, das Ministerium nach Braunschweig zu verlegen, da die Mauern der ehemaligen Reichsjugendakademie den Bombardements standgehalten hatten2. Die Beamten lebten oft von ihren Familien getrennt, nicht selten in kleinen Mansardenzimmern von sechs Quadratmetern oder im Büro selbst. Auswärtige Personen konnten aufgrund des Quartiermangels nicht angestellt werden3. Um die meisten Schulgebäude war es nicht besser bestellt. Der Unterricht begann ohne Bücher, Hefte oder andere Lehrmittel. Hinzu kam der eisige Winter 1946/47 und ein plötzlich auftretender Mangel an Heizmaterial. Erst nach Ernährungsbetrieben, Krankenhäusern, Telegrafen- und Telefonämtern, Flüchtlingslagern und Internierungslagern wurden die Schulen mit Kohlen beliefert. Die Braunschweiger Schulen erhielten in jenem Winter überhaupt keine Kohlen4. Die anderthalb Bücher5, die jeder niedersächsische Schüler durchschnittlich besitzen sollte, schienen noch viel, 1

2 3 4

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Brief an Werner Richter vom 26. August 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 121. Brief an Hans Alfken vom 31. Juli 1957, N1 Grimme, Nr. 1209. Brief an Kopf vom 17. Februar 1948, N1 Grimme, Nr. 897. Antwort auf die Landtagsdrucksache Nr. 37 vom 22. März 1947, N1 Grimme, Nr. 921. Wende teilt in der Landtagsdrucksache Nr. 266 diese Zahl mit.

246

Kultusminister Niedersachsens

denn im Januar 1947 war kein Papier mehr zu bekommen und alle Vorräte an Bindematerialien waren erschöpft. In einer Schule Niedersachsens unterrichtete ein Lehrer 141 Schüler mit einem einzigen Buch, das er sich von einem Freund geliehen hatte6. Elektrischer Strom floss nur gelegentlich. Es mangelte vor allem an Glas, Dachziegeln und Holz, sodass an den Schulgebäuden nicht einmal die nötigsten Reparaturen durchgeführt werden konnten. Die Fraktion der F D P brachte in größter Sorge noch im November 1947 den Antrag vor den Landtag, gegen die Verwahrlosung der Jugend zügig etwas zu unternehmen7. Im Rheinland blieben zehn Prozent der Jugend der Schule fern, weil sie über kein Schuhwerk verfügten. Im Kreis Hildesheim besaßen beinahe die Hälfte der Kinder keine Winterschuhe 8 . An den höheren Schulen der Stadt Hannover wurden noch 1948 an den Volksschulen dreiunddreißig Prozent des Unterrichtssolls nicht erteilt9. Der Kreis Weener meldete Anfang Januar durchschnittlich 77 Kinder je Lehrer. Im Bezirk Aurich hatten 220 Lehrer je 70 bis 100 Kinder zu unterrichten10. Die britische Besatzungsmacht bemühte sich, Notmahlzeiten einzuführen, verbot jedoch den Lehrern, daran teilzunehmen. Grimme wollte diese Maßgabe unter keinen Umständen weiterleiten. Die Lehrer stünden erschreckend nahe vor dem körperlichen Zusammenbruch und dürften nicht in die Lage gebracht werden, von ihren Schülern Almosen zu erbetteln11. In der Schule eines ländlichen Bezirkes waren innerhalb eines kurzen Zeitraumes vier von zwölf Lehrkräften unterernährt vor ihren Klassen zusammengebrochen12. Das Ministerium konnte keine zusätzlichen Mittel aufbringen. Es herrschte, wie der Kultusminister einen journalistischen Beitrag überschrieb, die „Diktatur der leeren Kassen" 13 . Wenn überhaupt etwas die Not zu lindern versprach, war es Selbsthilfe. Seine alte Schule, das Andreanum, war zerstört. Er rief ehemalige Schüler zu einer Spendenaktion auf 4 . Einen ähnlichen Aufruf richtete er in der Tageszeitung die „Welt" an die Bevölkerung 15 . Nachdrücklich

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12 13 14 15

Aus der „Times" vom 4. Februar 1947, N1 Grimme, Nr. 765. Landtagsdrucksache Nr. 353 vom 4. November 1947, N1 Grimme, Nr. 921. Aus der „Times" vom 4. Februar 1947, N1 Grimme, Nr. 765. Bericht eines Gymnasialdirektors, Nl Grimme, Nr. 647. Schreiben an Finanzminister Georg Stickrodt vom Juni 1948, Nl Grimme, Nr. 647. An den Ministerpräsidenten vom 28. Mai 1948, Nl Grimme, Nr. 647. Schreiben an die Zweizonen-Verwaltung für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vom 28. November 1947, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 139 f. Pressebericht vom 6. August 1946, Nl Grimme, Nr. 3368. „Die Zeit" vom 12. August 1948. Friedrich Koch an Grimme vom 19. August 1946, Nl Grimme, Nr. 1899. Brief an Luise Schroeder vom 19. November 1948 Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 144.

Voraussetzungen

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warb er bei der niedersächsischen Lehrerschaft darum, eine gemeinsame Hilfsaktion für die Masse von Flüchtlingslehrern zu begründen. Im August 1945 tagten die Schuldezernenten der britischen Besatzungszone und erörterten, wie mit der Masse von Lehrern aus den deutschen Ostgebieten zu verfahren sei. Direkt danach rief Grimme eine Stelle ins Leben, um die Flüchtlingslehrer zu betreuen und die Schulbehörden der britischen Zone zu entlasten. Auf der Suche nach dem Leiter einer solchen Stelle stieß er auf Maximilian von Radecki, der sich kurz zuvor im Oberpräsidium Hannover gemeldet hatte16. Aus der Zeit als preußischer Kultusminister erinnerte er sich Radeckis als Vortragender des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA). Jener hatte in Riga unter fünf verschiedenen Verwaltungsnationen gearbeitet: der zaristisch-russischen, der reichsdeutschen, der bolschewistischen, der lettländischen und der nationalsozialistischen. Als die Deutsch-Balten 1939 ins Reich zwangsevakuiert wurden, erhielt er den Posten eines „Sonderbeauftragten des Reichsstatthalters im Warthegau". Als solcher hatte er alle zugewanderten und „umgesiedelten" Lehrkräfte zu erfassen und einzugliedern. Kurt Schumacher zeigte sich mit Radecki nicht einverstanden. Er lebe „ausschließlich in seiner gesellschaftlichen Sphäre" und vergebe demzufolge „auch die Stellen, die er zu vergeben hat, unter diesen Gesichtspunkten". Er schlug vor, Radecki durch den „verdienten Genossen" Heuer zu ersetzen, der „in jeder Beziehung die stärkere und moralisch zu bevorzugende Persönlichkeit sein" dürfte. Der Komplex der Flüchtlingslehrer sei eine eminent politische Angelegenheit. „Die kann man nicht verhandeln im Sinne und mit den Methoden eines verflossenen Regimes." „Ich würde mich nicht an Dich wenden", schrieb er, „wenn die Angelegenheit nicht doch so außerordentlich wichtig wäre, und wenn ich nicht wüsste, dass Du im Grunde derselben Ansicht und nur durch die Fülle der Geschäfte an der notwendigen Änderung der Verhältnisse gehindert bist" 17 . Es war anders. Die Personalpolitik des Kultusministeriums bestand darin, ehemalige Mitarbeiter des preußischen Ministeriums zu bevorzugen. Aus sozialdemokratischer Sicht verstrich die Möglichkeit, die niedersächsische Lehrerschaft für die Partei günstig aufzustellen. Radecki erfüllte jedoch seine Aufgabe und dämpfte Kritik aus Parteikreisen. Aus der Arbeit der „Zentralstelle für Flüchtlingslehrer" ergaben sich zwei Nebenerfolge, die ursprünglich nicht beabsichtigt waren. Bis in den September 1946 wurden dort knapp 30.000 geflohene Lehrer erfasst. Dank dieser Quelle konnte in den nächsten Jahren jede freie Lehrerstelle des Amtsbereiches besetzt werden. Zum Zweiten wandten sich die Flüchtlinge aus der amerikani" 17

Biografische Angaben zu Radecki in Nl Grimme, Nr. 650. Schumacher an Grimme vom 5. Nov. 1945, in: AdsD, Nl Kurt Schumacher, Nr. 102.

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sehen oder französischen Zone mangels einer entsprechenden Einrichtung ebenfalls an die Zentralstelle in Niedersachsen. Sie w u r d e auf diese Weise zu einer, sehr bald auch v o n der K o n f e r e n z der Kultusminister, anerkannten westdeutschen Behörde 1 8 .

2. Das Ministerium A m 1. N o v e m b e r 1946 begründete die Verordnung N r . 55 der Militärregierung das Land Niedersachsen. A u f das Kultusministerium wirkte sich der neue Status zunächst nicht aus. Die Aufgaben, die zum Teil aus dem O b e r präsidium Hannover, teils aus denen der ehemaligen Reichsministerien auf das Kultusministerium kamen, blieben die gleichen. G r i m m e alterte in jenen Jahren auf sein sechzigstes Lebensjahr zu und besaß genug Lebenskunde, um das Personal der Behörde mit alten Weggefährten zu besetzen. Wende 1 9 , Hubrich 2 0 , Zierold 2 1 , Schaefer, wahrscheinlich Pleister 22 und v o r allem Schauer kannte er aus dem preußischen Behördenapparat. Rönnebeck 2 3 ,

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Maximilian v. Radecki: Bericht über die Tätigkeit der Zentralstelle für Flüchtlingslehrer und des Referats I 5 der Bundesausgleichsstelle, N1 Grimme, Nr. 650. Erich Wende (1884-1966), Jurist, war 1917-1933 im Preußischen Kultusministerium tätig. Zwischen 1923-1926 war er Kurator der Universität Kiel und war am Aufbau der Pädagogischen Akademien in Preußen beteiligt. 1933 ging er in den einstweiligen Ruhestand. Ab Januar 1947 Staatssekretär und ständiger Vertreter Grimmes. Georg Hubrich (1890-?), Jurist, war seit 1922 Hilfsarbeiter im Kultusministerium und wechselte 1941 ins Reichsinnenministerium. Zierold und Grimme, der in Hubrich einen neuen Lande erkennen wollte, bürgten für ihn vor dem Entnazifizierungsausschuss. Hubrich war Mitglied der NSDAP. Kurt Zierold (1899-1989). Nach dem Jurastudium war er ab 1925 Referent im Preußischen Kultusministerium, 1931 berief ihn Grimme in die Kunstabteilung. Nach 1933 blieb er im Kultusministerium und leitete 1934 die Reichsanstalt für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (RWU), deren Filme nach 1945 von der Militärregierung zu 84 Prozent weiter zugelassen wurden. Ab 1. September 1945 war er Leiter der Abteilung für Wissenschaft und Kunst. Ab 1949 Geschäftsführer der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Werner Pleister (1904-1982). Nach Lehrtätigkeit arbeitete er ab 1932 beim Deutschen Rundfunk. Ab 1936 leitete er die Abteilung Kunst beim Reichssender Berlin, 1937 Wechsel zur RWU. Von 1934 bis 1945 war er außerordentliche Lehrkraft für Musikerziehung und Kirchenmusik in Berlin, ab 21. September 1945 Referent in der Kunstabteilung. Im Mai 1950 holte Grimme ihn zum NWDR. Günther Rönnebeck (1901-1986) war Lehrer an höheren Schulen für Deutsch, Geschichte und Sport, 1924-1929 Leiter eines Lietzschen Landerziehungsheim, ab 1929 Studienrat in Hannover, ab 30. November 1945 Referent für die Schulreform und unter Otto Haase Leiter der Untergruppe für Höheres Schulwesen.

Das Ministerium

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Haase 24 , Petersen 25 und Alfken 26 waren ihm in seiner Zeit als Schulaufsichtsbeamter begegnet 27 . Er wusste um die Schwierigkeiten, politische Reformen durchzusetzen und so konnte es wenig überraschen, dass sich um ihn ein Personenkreis aus Reformpädagogen bildete. Er versuchte auf diese Weise, wenigstens innerhalb des Ministeriums den Widerstand gering zu halten. Der Nachteil der Politik lag darin, dass kaum einer der Mitarbeiter über die in Behörden üblichen Verfahrensweisen Kenntnisse besaß. Die Parteizugehörigkeit der Mitarbeiter spielte keine Rolle, wohl aber ihr Verhalten während der nationalsozialistischen Herrschaft. Schließlich musste die Militärregierung jeden einzelnen seiner Personalwünsche genehmigen. E r befand sich in der für ihn günstigen Lage, dass die SPD noch nicht über ein Konzept zur Schulpolitik verfügte. Er selbst war ja beauftragt, ein solches zu entwerfen. Die Partei folgte in diesem Fall ihm, und nicht umgekehrt. Mit welchen Mitarbeitern er auf welche Weise zusammenarbeitete, belegt, wie überzeugt er im Grunde vom Funktionieren des Preußischen Kultusministeriums war. Was fehlte, waren feste Richtlinien. Wende schrieb, die Mitglieder des Ministeriums seien ausgesprochen arbeitsfreudig gewesen, hätten aber eher nebeneinander als miteinander gearbeitet, da kein einheitliches Ziel vorlag 28 . Fehlende Richtlinien können Mitarbeiter verunsichern, gleichzeitig jedoch Kreativität und Experimentierfreudigkeit fördern. Das Hoffen auf ein einheitliches Schulsystem auf

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Otto Haase (1893-1961), nach Studium der Philologie, Geschichte, evangelische Theologie und Philosophie war er dekorierter Jagdflieger im Ersten Weltkrieg, Direktor der Pädagogischen Akademie Frankfurt/Oder, später nach Elbing berufen. Nach 1933 war er Volksschullehrer in Hannover, ab 30. September 1946 Leiter der Abteilung IV Allgemeinbildende Schulen. Katharina Petersen (1889-1970) war Volksschullehrerin, später Schulrätin und Lehrbeauftragte an der Pädagogischen Akademie Kiel. Im Herbst 1933 wurde sie in den Ruhestand versetzt. Petersen war Mitherausgeberin der Zeitschrift „Die Neue Deutsche Schule". Von 1934 bis 1937 baute sie eine Quäkerschule in den Niederlanden auf. Unter Haase leitete sie die Abteilung für Volks- und Sonderschulen, später für Volks- und Mittelschulwesen. Mit Grimme saß sie im Vorstand der HermannLietz-Stiftung. Hans Alfken (1899-1994), Lehrer an einer Reformschule für begabte Arbeiterkinder in Berlin Neukölln, KPD-Mitglied, 1933 aus Staatsdienst entlassen, 1939 wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu 15 Monaten Haft verurteilt, 1940-1945 Kriegsdienst, ab 1. Oktober 1946 persönlicher Referent Grimmes, ab 1947 Leiter der Abteilung für Jugendwohlfahrt, Erwachsenenbildung und Sport. Folgende Zitate aus: Horst Leski: Schulreformprogramme des Niedersächsischen Kultusministeriums 1945-1970, Hannover 1991, S. 19 ff. (weiterhin zit.: Leski, Schulreformprogramme); siehe auch Erich Wende: Aufzeichnungen über seine Tätigkeit als Staatssekretär in Niedersachsen, B A Kl. Erw. 116, S. 24 (weiterhin zit.: Wende, Aufzeichnungen). Zitiert nach Leski, Schulreformprogramme (wie Anm. 27), S. 20.

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Reichsebene, das schon in der Weimarer Republik ein stringentes Landesschulsystem verhinderte, rechtfertigte zunächst das Zuwarten des Ministers. Nach Möglichkeit beabsichtigte er, alte Bekannte für Niedersachsen zu werben: Werner Richter 29 , ehemaliger Ministerialdirektor und Leiter der Hochschulabteilung im Preußischen Kultusministerium, der 1933 nach Amerika emigrierten war, sowie Robert Tillmanns 30 , der damals Leiter des Zentralbüros Ost des Hilfswerks der Evangelischen Kirche in Deutschland war und später stellvertretender Vorsitzender der CDU wurde, sollten nach Niedersachsen kommen 31 ; ebenso die Schriftsteller Frank Thiess32 und Julius Bab33. Für die Universität Göttingen warb er um Eduard Heimann, der damals eine Professur für „political and social science" in New York innehatte und er hoffte, dass Paul Tillich einem Ruf folgen würde. Doch beide lehnten ab. Heimann bedauerte, er könne „unmöglich wieder ein politischer Lehrer der deutschen Jugend werden" 34 . Daraus klang die verbitterte Stimme vieler Vertriebener mit der auch Ernst Hamburger sprach. Die Mehrheit der Emigranten in Amerika, schrieb jener, wolle nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Die Enttäuschung sei zu tief und die „Abneigung inmitten einer Nation zu wirken, aus der unter Zustimmung oder Gleichgültigkeit ihrer großen Mehrheit die abscheulichsten Verbrechen gegen die Menschheit begangen wurden," sei zu groß35. In den Amtern saßen fast überall Menschen zwischen 50 und 70 Jahren 36 . Die kommende Generation drohte, wie zu Beginn der dreißiger Jahre, „vor der Tür stehen zu bleiben37. Das zerschundene Land befinde sich, wie Grimme glaubte, auch was die Bega-

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Werner Richter (1887-1960) war Professor für ältere Germanistik in Greifswald und Bonn. Von 1954 bis 1959 war er Präsident des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes. Robert Tillmanns (1896-1955), Wirtschaftswissenschaftler, war 1953 Bundesminister für besondere Aufgaben. Brief an Robert Tillmanns vom 7. Januar 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 104. Brief an Frank Thiess vom 22. November 1945, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 102. Brief an Julius Bab vom 7. August 1947, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 137. Eduard Heimann an Grimme vom 10. Januar 1947, New York, N1 Grimme, Nr. 1692. Darin findet sich auch ein Hinweis auf den Ruf an Tillich. Ernst Hamburger an Grimme vom 31. August (wohl 1946), Nl Grimme, Nr. 1656. Brief an Ernst Hamburger vom 11. Oktober 1946, Nl Grimme, Nr. 1656. Brief an Heinrich David vom 1. Oktober 1945, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 101.

Das Ministerium

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bungen betreffe, in einem „ausgesprochenen Erschöpfungszustand" 38 . Nicht einmal die entscheidenden Stellen seien mit Menschen „unserer Linie" zu besetzen. Jedes Mal, wenn ein Mann gebraucht werde, „entsteht Fehlanzeige" 39 . Die innere Struktur des Kultusministeriums blieb im Gegensatz zu seiner Namensgebung weitestgehend unverändert40. Es übernahm zunächst die Zuständigkeiten dreier ehemaliger Reichsministerien: für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, für Volksaufklärung und Propaganda und drittens für kirchliche Angelegenheiten. Die Geschäfte innerhalb des Ministeriums verteilte Grimme folgendermaßen: Die Gruppe 1 verarbeitete die Angelegenheiten der Kirchen, die Gruppe 2 kümmerte sich um Wissenschaft und Kunst. Die Gruppe 3, welche er selbst leitete, arbeitete am Wiederaufbau der höheren Schulen, während die Geschäftsgruppe 4 die Volksund Mittelschulen, sowie die Arbeit an Pädagogischen Hochschulen umfasste. Die Geschäftsgruppe 5 sorgte schließlich für die Obliegenheiten der Berufs- und Erwachsenenbildung. Dieser Geschäftsplan, der am 1 März 1946 in Kraft trat, wurde am 1. August 1946 noch einmal verändert. Die Gruppe 2 zerfiel in eine für Wissenschaft und eine weitere für Kunst, wohingegen die Gruppen 3 und 4 zusammengelegt wurden. Dann gab er die Direktion über die Gruppe 3 an seinen Mitarbeiter Haase ab41. Es lassen sich sofort zwei Gründe denken, weshalb Grimme glaubte, sich zu diesem Schritt entschließen zu müssen. Ihm blieb nicht mehr genug Zeit, um sich persönlich noch den Belangen der höheren Schulen im Bezirk Hannover zu widmen. Seine Arbeitskraft musste für die noch bestehende Möglichkeit bereitstehen, über den Zonenrat und den Parteivorstand eine reichsweite Schularchitektur zu erreichen. Der Verein der Abteilungen für Volks-, Mittel- und höhere Schulen erinnert an jenen Brief, den C. H. Becker im Sommer 1932 schrieb. Der Papenschlag, frohlockte Becker damals, müsse genutzt werden, um die Unterabteilungen für höheres und niederes Schulwesen zusammenzulegen42. Dieses Vorhaben wurde in Hannover umgesetzt. Das preußische Vorbild drang allenthalben durch. So kann es nur wenig überraschen, dass die Reformvorschläge aus dem Ideenreich der preußischen Schulgeschichte stammten43. Grimme glaubte an Begabung, 38

Brief an Werner Richter vom 26, August 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 121.

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Brief an Ernst Hamburger vom 13. März 1947, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 133.

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Siehe den Abschnitt im 8. Kapitel über den „Zonenbeirat".

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Merker, Neubeginn (wie Kap. 8, Anm. 41).

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Siehe den Abschnitt „Preußenschlag".

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Gerd Heinrich, in: Kurt A. Jeserich (Hrsg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, Stuttgart 1985, S. 119 ff.

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Charakter und Persönlichkeit als etwas, was die Erziehung nur zutage fördern könne, das aber bereits in der menschlichen Natur angelegt sei. Obgleich er als Fachmann in der Erwachsenenbildung galt, hielt er es kaum für möglich, Erwachsene noch einmal „umzuprägen" 44 . Das hielt ihn nicht davon ab, die Volkshochschulen wiederzueröffnen. Im Januar 1946 begann das erste Semester. Grimme setzte das niedersächsische Kultusministerium nicht nur in die direkte Nachfolge des preußischen, er identifizierte die beiden Ministerien geradezu miteinander. Im Jahre 1947 berichtete er von einer „unvorstellbaren Chance, ein Ministerium ganz auf mein eigenes Wollen hin zusammenstellen zu können. Ich glaube, dass es das in der Geschichte der Preußischen Ministerien nie zuvor gegeben hat". Auch seien die Aufgaben nahezu dieselben: die Frage des Religionsunterrichts, Lehrerbildung, der Kampf gegen die braunen Studenten und der Kampf gegen die politische Opposition 45 . Es gab freilich einen wesentlichen Unterschied: Als preußischer Kultusminister hatte er - auf eine funktionierende Verwaltung gestützt - an eine hundertjährige Tradition von Kultuspolitik anknüpfen können. In Niedersachsen mussten elementare Dinge erst wiedererschaffen werden. An vorderster Stelle stand die grundlegende Herausforderung, Schulgebäude in einen nutzbaren Zustand zu versetzten. Es ging unter anderem darum, welche Zeugnisse anerkannt, wie die Lehrer ausgebildet und wie der Zugang zu den höheren Anstalten geregelt werden sollte. Eine Rechtsgrundlage für Studienreferendare und -assessoren musste ins Werk gesetzt werden. Der unerschöpfliche Strom von Flüchtlingen und die bittere Notlage der Lehrer harrte einer Lösung 46 . Die Dauer der Schulzeit, der Fremdsprachenunterricht und die Form der politischen Bildung waren zu klären47. Abgesehen davon musste der Betrieb anderer Kultureinrichtungen wie die der Bibliotheken, Orchester und Theater eingeleitet werden. Künstlergemeinschaften und der Literaturbetrieb warteten auf Anstöße. Der Aufgabenbereich überspannte bei weitem jenen des preußischen Ministeriums der Jahre 1930 bis 1933. Grimme gedachte deshalb des preußischen Minis-

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Zonenbeirat, Bd. 1., Düsseldorf 1993 (wie Kap. 8, Anm. 28), S. 294. Brief an Ernst Hamburger vom 13. März 1947, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 133 ff. Doris von der Brelie-Lewien und Helga Grebing: Flüchtlinge in Niedersachsen, in: Bernd Ulrich Hucker, Ernst Schubert, Bernd Weisbrod: Niedersächsische Geschichte, Göttingen 1997. Präsidentenberichte über die Arbeit des Kultusministeriums seit 1945, Nl Grimme, Nr. 648.

Die Schulreform

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teriums Unter den Linden selbst an dessen angespanntesten Tagen als einer Art „vita contemplativa" 48 . Kein preußischer Kultusminister hatte sich hingegen je in einer komfortableren Ausgangslage befunden. Die Opposition war noch zerfallen und musste sich neu formieren. Neben der SPD stand keine größere Partei. Das Ansehen in den eigenen Reihen war groß. Ein preußisches Ministerium geführt zu haben, warf immer noch einen gewissen Glanz ab. Der Ruf, im Widerstand gearbeitet zu haben, förderte das Ansehen nur zu Beginn der Amtszeit. Im weiteren Verlauf erwuchsen daraus nur Nachteile. Rückhalt in der Militärregierung zu besitzen, bot dagegen einen großen Vorteil, zumal auf Reichsebene keine Widerstände zu erwarten waren, aus dem einfachen Grund, weil es keine Reichsebene gab. Finanzmittel fehlten zwar weiterhin. Allgemeine Armut stellt gleichwohl eine gute Voraussetzung für sozialistische Reformen. Rücksichten auf eine konservative Geisteselite, auf parlamentarische Taktik und traditionelle Vorrechte innerhalb und außerhalb der Behörden entfielen. Zu einer weitreichenden Schulreform verhielt sich vieles günstig.

3. Die Schulreform Seit dem Beschluss, Lehrer zu werden, dachte Grimme über eine Reform der Schule nach. In Preußen kam es nicht dazu. Jetzt eröffnete sich die einmalige Möglichkeit, ein Schulsystem neu zu begründen. Ein Großteil des niedersächsischen Unterrichtswesens ging auf preußische Vorbilder zurück: Als geistige Grundlagen jeder deutschen Schulbildung nannte er die Antike, das Christentum, die Welt der Mathematik, der Naturwissenschaften, sowie die deutsche Kultur49. Eine der ersten Maßnahmen bestand im Eröffnen Pädagogischer Akademien, unter dem Namen „Pädagogische Hochschulen". Die Schultypen blieben die preußischen: Volksschule, Berufsschule, Mittel- oder Oberschule und Gymnasien, deren Zahl er von acht im Jahre 1945 auf über fünfzig im Jahre 1948 anhob50. Die Freiheit preußischer Lehrpläne erhielt sich. Der Staat sollte nur Richtlinien geben, die Lernziele und wenige verpflichtende Lernstoffe auf einzelne Jahrgänge verteilen. Die Unterrichtsinhalte wurden gestrafft. Die Gestalt des Unter-

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Brief an Wilhelm Gaede vom 28. Oktober 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 131. Rede Grimmes zum Niedersächsischen Landtag am 29. Januar 1948, zitiert nach einem Manuskript in AdsD, Personalia Grimme. Brief an den Bischoff von Osnabrück vom 25. April 1946, N1 Grimme, Nr. 647.

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richts im Einzelnen blieb den Schulen überlassen 51 . Abendschulen, Volkshochschulen, Berufs- und Fachhochschulen ergänzten die Grundtypen. Das Schulaufsichtswesen behielt seine wesentlichen Formen, nur dass die Volksschulen enger mit ihren Träger-Gemeinden verknüpft sein sollten. Die Gemeinden bestimmten, wo die Gebäude liegen, wie sie aussehen und auf welchen Raum sich ihr Einzugsgebiet erstrecken sollte52. Sie durfte der Schulaufsicht eigene Vorschläge unterbreiten, um die Lehrerkollegien zu ergänzen. Das letzte Wort in dieser Frage musste jedoch beim Staat liegen, da sonst eine einheitliche Personalpolitik unmöglich sei und der Staat das alles entscheidende Mittel zum Eingriff in das Innenleben einer Schule aus der Hand gäbe. Der Staat müsse deshalb auch alleiniger Zahlmeister aller Lehrer sein und diese möglichst verbeamten, um jedem personalpolitischen Streit im Vorfeld zu begegnen. Die Vorschläge der Gemeinden möge der Staat beachten, besonders bei Erfordernissen des örtlichen Kommunalwesens. Das musikalische Leben des Ortes, das Volksbüchereiwesen und auch örtliche Wirtschaftsbedürfnisse könnten Schulen und Gemeinden gemeinsam beleben. Nach einer allgemeinen Tendenz sollte möglichst viel Verantwortung nach unten verlagert werden. Der Plan sah vor, die Grundstufe vom Leben in der Gemeinde ausgehen zu lassen. Der Schulrat des Kreises nahm sich nach den Vorstellungen nur derjenigen Angelegenheiten an, die auf Gemeindeebene in kein vernünftiges Regelverhältnis gebracht werden konnten. Der Schulrat sicherte die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden und dem Staat, repräsentierte und leitete das Schulamt und hielt engsten Kontakt mit den Schulen, den Bürgermeistern und Schulbeauftragten seines Aufsichtskreises. Auf Kreisebene lief das Betreffende für die Berufs-, Fach-, Mittel- und höheren Schulen zusammen. Aus den Abgängerjahrgängen dieser Schulen würden vor allem die Wirtschaft und Kultur des Kreises schöpfen. Diese Schulen mussten untereinander möglichst in ihren Leistungen vergleichbar sein, sich gegenseitig anregen und austauschen. Eine Stelle auf Bezirksebene koordinierte höhere Schulen und Sonderschulen, etwa für Blinden- und Gehörlosenschulen. Der Aufbau verband preußische Tradition mit Ideen der „Entschiedenen Schulreformer", von denen er praktische Berufsausbildung in der Schule ebenso wie den Gedanken von Wohn- und Arbeitsgemeinschaften übernahm 53 . Anstelle des neunten Schuljahres wünschte der Kultusminister ein Gemeinschaftsjahr, in dem ausgewählte Abiturienten mit früheren

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Gutachten Grimmes zum Schulwesen, in: Zonenbeirat, Bd. 2, Düsseldorf 1994, S. 827 ff. Gutachten Grimmes zum Schulwesen, Zonenbeirat, Bd. 2, S. 827 ff. Zonenbeirat (wie Kap. 8, Anm. 28), Bd. 1, S. 300.

Die Schulreform

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Volksschülern, die sich über praktische Berufe für ein Studium qualifiziert hatten, in geistiger und praktischer Arbeit zusammenleben würden. Selbst vor Siedlungsgedanken schreckte er nicht zurück. Mit Blick auf die Flüchtlinge und die Vielzahl der ausgebombten Familien schien der Schul- und Landheimgedanke doppelt reizvoll. Mit der Wiederkehr der preußischen Schule verkündete er gleichzeitig ihre langsame Auflösung. Den Hauptakzent legten die Reformer auf die Mittelschule, um die herum sich Volksschule und Gymnasium gruppierten54. Neu war die erhöhte Einheitlichkeit und die damit zusammenhängende vermehrte Möglichkeit des Uberganges von einer zur anderen Schulform 55 . Um ihn zu gewährleisten, führte er in allen Schulen das Englische als erste verpflichtende Fremdsprache ein. Eine sechsjährige Grundschule sollte die unteren Klassen aller Schultypen bereits zusammenführen und langfristig die grundständigen Formen beseitigen56. Das Fernziel hieß „elastische Einheitsschule". Seiner persönlichen Handschrift entsprach ein starker moralischer und religiöser Bezug 57 . Vor der Immatrikulation an einer Universität stand ein „Philosophikum", worunter er einen achtzehnmonatigen Arbeits- und Studienaufenthalt in einem Landjugendheim verstand, wo sich die geistige und soziale Eignung des angehenden Studenten erweisen müsse58. Die Begriffe „Leistung" 59 , „Begabung" und „Wettbewerb" fielen auffällig oft, verknüpft mit der Annahme, in der Arbeiterschaft befände sich ein großes Reservoir ungenutzter Fähigkeit. Der eigentliche Kern des Planes lag in einem ausgeprägten Elitenbewusstsein. Ein erster Uberblick über die Zustände in der Provinz Hannover hatte ergeben, dass ein einziger Jahrgang nicht mehr als zweihundert Hochbegabte „im strengen Sinne" hervorbringe60. Bei einer Studiendauer von fünf Jahren seien etwa tausend Studenten zu fördern. Diese Zahl genügte seiner Ansicht nach, um das „Gesicht des deutschen Akademikers" zu verändern. An der Universität Göttingen konnten 1946 von 20.000 Bewerbern 4.000 immatrikuliert werden. In diesem Verhältnis

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Rönnebeck (im Auftrag) an das Braunschweiger Staatsministerium vom 15. November 1946. Abgedruckt bei Leski, Schulreformprogramme (wie Anm. 27), S. 109 f. Brief des Bischofs von Osnabrück vom 4. März 1946. Antwort auf Grimmes Schrift über den „Neubau des Schulwesens", N1 Grimme, Nr. 647. Der Niedersächsische Kultusminister an die Militärregierung des Landes Niedersachsen vom 6. Februar 1948, Hannover, abgedruckt bei: Horst Leski, Schulreformprogramme (wie Anm. 27), S. 116. Rede Grimmes zum Landtag am 29. Januar 1948, in: AdsD, Personalia Grimme. Gunter Pakschies, Umerziehung (wie Kap. 4, Anm. 72), S. 192. Zonenbeirat, Bd. 1, Düsseldorf 1993, S. 305. Folgende Zitate aus: Zonenbeirat, Bd. 1., Düsseldorf 1993, S. 300 ff.

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sah er die Möglichkeit eines Qualitätsstandards, wie er „nie zuvor in der Geschichte des deutschen Universitätswesens" möglich gewesen sei. Seine Idee von der „Christusschule" trug Grimme nur zögernd vor. Seinem religiösen Verständnis entsprechend, hätte er auf den Religionsunterricht verzichtet, dafür aber in jedes Fach einen christlichen Bezug eingebaut61. Mit solchen Spitzfindigkeiten war die Bevölkerung überfordert. Es ging um die Frage, ob Religion überhaupt in der Schule unterrichtet würde. Auf der ersten Vertreterversammlung des Lehrerverbandes Niedersachsen in Eddigehausen bei Göttingen am 14. September 1947 wurde eine Resolution für die christliche Gemeinschaftsschule mit 59 gegen 21 Stimmen abgelehnt, gleichzeitig aber erklärt, die Schüler sollten die wichtigen Glaubensrichtungen und Weltanschauungen kennenlernen. Das Christentum stehe dabei an erster Stelle62. Die Mehrheit der Eltern lehnte selbst eine simultane Schulform ab, also ein Kollegium mit katholischen und evangelischen Lehrern. Favorisiert wurde die konfessionsgebundene Schule. Auf eine Umfrage hin errichtete die Schulverwaltung 1797 Bekenntnisschulen. 1510 Schulen blieben Gemeinschaftsschulen, von denen nur zwei neu eingerichtet wurden63. Grimme bedauerte das Abstimmungsergebnis und hoffte, bald wieder zu einem einheitlichen Volksschultypus zurückkehren zu können 64 . Ein umfangreiches und anspruchsvolles Reformprogramm lag auf dem Tisch. Die Unterschiede zu der Preußischen Schule, auf der das Konzept fußte, waren erheblich: Die einzelnen Teile rückten insgesamt näher zusammen und wurden durchlässiger. Der Bildungsstandard der Bevölkerung erhöhte sich. Soziale und „moralische" Fähigkeiten, die der Staat kontrollierte, trugen zum Erfolg oder Misserfolg bei. Große didaktische Freiheit förderte Wettbewerb und Leistung. Der Unterricht fand nicht nur in der Schule statt und wurde nicht nur von staatlich geprüften Lehrern geleitet. Finden und Fördern von Begabungen gehörten zu den Hauptaufgaben. Untere soziale Schichten wurden besonders gefördert. In manchen Punkten nahm das Programm Forderungen der Entschiedenen Schulreformer auf. Gleichzeitig geht es darüber hinaus, indem Grimme auf das zivile Versagen der deutschen Bevölkerung reagierte und auf ethische Erziehung Wert legte. Wie die Schulen Preußens im Einzelnen für den Aufstieg des Nationalsozialismus verantwortlich waren, wusste er nicht. „Irgendetwas", hieß es, habe nicht gestimmt. Er forderte weder eine Untersuchung, noch

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Pakschies, Umerziehung, S. 193. G. Heckmann (Vorsitzender des Lehrerverbandes Niedersachsen) vom 20. September 1947, N1 Grimme, Nr. 647. Zahlen nach Aktennotiz in: Nl Grimme, Nr. 690. Brief an Fritz Heine, ohne Datum, Nl Grimme, Nr. 3432.

Deutsche Kultureinheit

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verlangte er im Unterricht die Konfrontation mit den Verbrechen Hitlers. Er meinte eine Antwort zu geben, indem er Persönlichkeit, Charakter und Gemeinschaftsgefühl stärkte. Manches, wie die Idee der Wohngemeinschaften, war eine zeitgebundene Forderung. Aufs Ganze gesehen enthielt der Plan eine Reihe vielversprechender Ansätze. Bemerkenswert ist, dass Grimme darauf verzichtete, konservative Kreise vor vollendete Tatsachen zu stellen. Der Ausgangspunkt ließ einen Richtungswechsel zu, da vieles aus der Zeit vor 1933 zunächst wieder hergestellt wurde. Neue politische Verhältnisse mussten sofort zum Scheitern führen. Das Umsetzen erforderte einen langen Atem und erhebliche politische Durchschlagskraft. Die Frage war nun, ob er selbst oder ein anderer diese Energie aufbrachte.

4. Deutsche Kultureinheit Ungewollt geriet der Hannoversche Schulplan zu einer Art Mittellösung zwischen den westlichen und östlichen Vorhaben. In der sowjetisch besetzten Zone führten die neuen Machthaber zügig eine Schulform ein. Die Einheitsschule kappte jede noch bestehende Verbindung zwischen Kirchen und Schulen. Grimme ließ sich über die Zustände in der Ostzone täuschen. Er glaubte, dort bestehe die Bereitschaft, „nichts zum Dogma zu machen, was der kulturellen Einheit Deutschlands im Wege" stehe. Er hielt es nicht für richtig, dass nun alle nach dem Westen flohen und bat den Niedersächsischen Landtag inständig, keine Reform von ihm zu verlangen, von der er sehe, dass sie keinesfalls mit den „anderen Ländern unter dieselbe Plattform zu bringen" sei. Das Schulsystem dürfe nicht nur von der höheren Schule aus gesehen werde, „wenn wir vom Osten nicht auch schulpolitisch völlig überrannt werden wollen" 65 . Er übermittelte der maßgebenden Person des östlichen Schulaufbaus, Paul Wandel, seinen Eindruck, dass sich die dortigen Pläne „gar nicht so weit im Grundsätzlichen" von den seinen unterschieden66. Noch im September 1946 gelang es Wandel, der ansonsten als „linientreuer Stalinist" galt, die westdeutschen Kultusminister in den Glauben zu setzen, in ihm einen „fairen und gescheiten Partner zu finden" 67 . Erst im Oktober 1947 setzte sich die Erkenntnis durch, dass „man sich nicht mehr verstand".

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Brief an Friedrich Teichert vom 23. Februar 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 105. Brief an Paul Wandel vom 31. Juli 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 120. Erinnerungen an den Wiederaufbau des Schulwesens nach 1945, N1 Grimme, Nr. 3369.

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Die Berichte aus den sowjetisch besetzten Gebieten drangen vielleicht zu spärlich an sein Ohr, um die Lage besser einzuschätzen. Bemerkenswert ist dabei, dass Hannover die Hauptstadt aller Vorbehalte gegen die Ostzone war. Von der Arbeit des Büros Schumacher blieb der Kultusminister unberührt. Die östliche Seite signalisierte Bereitschaft, mit ihm über ein einheitliches Schulsystem in Deutschland zu verhandeln. Er gab zu erkennen, dass er seinen Schulplan ausdrücklich als Diskussionsbeitrag betrachtete und keineswegs gedenke, „an ihm als Ganzem oder in einzelnen Punkten wie ein Kirchenfürst dogmatisch" festzuhalten 68 . Er hoffte auf einen gesamtdeutschen, zentralen Kulturzuständigen, einen Mittels- und Verbindungsmann, durch dessen Funktion die historisch bewährte Landeshoheit in Kulturfragen unangetastet bliebe. Lediglich in gewissen Einzelfragen sei ein Ausgleich und gemeinsames Lenken nicht zu entbehren 69 . Die Stelle eines Zonenerziehungsrates musste fallen gelassen werden, da die Deutschen sich nicht mit den Militärbehörden abgestimmt hatten 70 . Die Idee lebte aber weiter. Dem Frankfurter Wirtschaftsrat lag 1947 der Antrag vor, einen „Generalsekretär für Kulturfragen" zu ernennen. In seiner Zuständigkeit hätte es gelegen, kulturelle Gesichtspunkte gegenüber anderen Ressorts zu vertreten, Auskunfts- und Ausgleichstelle für die Kultusministerien der Länder zu sein oder ehemalige Reichsinstitute wie das MaxPlanck-Institut zu bestellen. Statistische Fragen und solche zur Hochschulpolitik hätten einem solchen Generalsekretariat vorgelegt werden und mit den Kirchen hätte der Staat von dieser zentralen Stelle aus verhandeln können 71 . Solange es eine über den Ländern stehende Behörde nicht gab, versuchte Grimme von Hannover aus zwischen den verschiedenen Kultusministerien zu vermitteln. An der Spitze einer westdeutschen Gesandtschaft reiste er am 5. und 6. Mai 1947 zu einer Pädagogentagung nach Berlin. Als einziger Tagesordnungspunkt stand auf dem Programm, die Grundsätze eines Erziehungsprogramms der deutschen demokratischen Schule zu erörtern. Paul Wandel eröffnete die Tagung mit dem Hinweis, dass die Einheit Deutschlands, eines „neuen, demokratischen Deutschlands", nur über die Schule gewährleistet werden könne. Im Anschluss trat der alter Schulreformer Paul Oestreich auf, der eine seiner letzten Versammlungen bestritt. Er forderte den „kulturellen Schnitt". Die Ostzone dürfe nicht verzichten, den Fortschritt voranzutreiben. Rücksicht auf andere Zonen führe nur da-

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Brief an Paul Wandel vom 31. Juli 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 120. Grimme am 5. September 1946, N l Grimme, Nr. 779. Darin auch Gutachten über Zuständigkeiten der Gemeinde, Kreise und Länder. Siehe den Abschnitt „Im Zonenbeirat" weiter oben. Grimme am 5. September 1946, Nl Grimme, Nr. 779.

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zu, dass diese sich „um so reaktionärer" entwickelten. Übrigens, meinte Oestreich, seien die Kirchen nirgends freier als in der Ostzone, nirgends seien sie mehr „begönnert" worden als hier, nirgends könnten sie sich ungehinderter ausbreiten. Es herrsche „absolute Toleranz" 72 . Über den Stand und die Zukunft des östlichen Unterrichts täuschte sich Oestreich ebenso wie die westlichen Kulturpolitiker. Einer der wichtigsten Mitarbeiter Grimmes, Günther Rönnebeck, warnte in seiner anschließenden Rede davor, im Osten das System des Westens zu übernehmen. „Tun sie es um Gottes Willen nicht. Führen sie hier Ihren Plan durch, fühlen sie sich weiter als Vortrupp und lassen sie uns im Westen sehen, dass der Abstand zwischen ihnen und uns immer größer wird. Vielleicht wird dann der Wille bei uns lebhafter, aus dem neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert herüberzugehen." Unter strukturellen Gesichtspunkten lehnte sich das in Hannover erdachte Prinzip in der Tat näher an das der Ostzone an als jenes der übrigen westlichen Zonen. Die Konzentration auf einen Mittelbau, die damit verbundene Absicht der Wechselmöglichkeiten von einem zum anderen Unterrichtsniveau und der hohe Wert, der handwerklichen Fähigkeiten zugemessen wurde, wiesen auf verwandte Vorbilder hin. Rönnebeck beneidete die Schuladministratoren um ihre politische Rückendeckung. Es hatte nach Außen den Anschein, als müssten politische Widerstände in der SBZ nicht gebrochen werden. In den folgenden Jahren konnten die westlichen Beobachter verfolgen, wie die gesamte Schulbildung „radikal auf kommunistische Schlagworte" umgestellt wurde, wie ein Mitarbeiter der Magdeburger Schulbehörde meldete73. Nur dem Aufbau nach ähnelten sich die Ansätze. Die von Grimme vertretene Wahrheits- und Wahrhaftigkeitspflicht, die freie Welterkenntnis, galt in der sozialistischen Einheitsschule nicht mehr. Die neuen „Sozialisten" drängten Männer wie Oestreich, die an die freie Persönlichkeit glaubten und deren Rechte unablässig öffentlich einforderten, an den Rand und strichen ihnen die Pensionsansprüche 74 . Doch die Verwandtschaft war nun einmal betont worden. Die Sozialistische Einheitspartei bot den westlichen Konservativen die Möglichkeit, die ostzonale Schule in die Nähe stalinistischer Methoden zu rücken und dies öffentlichkeitswirksam gegen den Hannoverschen Schulplan einzusetzen. So galt er bald vom „östlichen Winde" angeweht 75 . 1946 wagte Grimme noch zu hoffen, wenigstens in der Protokoll der Berliner Pädagogentagung vom 5. und 6. Mai 1947, N1 Grimme, Nr. 651. Böhner an Grimme vom 6. März 1950, N1 Grimme, Nr. 11. Siehe hierzu den fünften Abschnitt des zweiten Kapitels („Hannover"). Grimme versuchte von Hannover aus, Oestreichs Rentenansprüche durchzusetzen. Zitat Rönnebeck aus dem Protokoll der Berliner Pädagogentagung vom 5. und 6. Mai 1947, N1 Grimme, Nr. 651.

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britischen Zone und „vielleicht darüber hinaus" eine einheitliche Schulgestalt herstellen zu können 76 und ermutigte alle Parallelminister Deutschlands, „sich in jeder Weise zu informieren und zu unterstützen" 77 . Seine größten Gegner befanden sich in Nordrhein-Westfalen, vor allem Adenauer und in Bayern in der Person des dortigen Kultusministers Alois Hundhammer 78 . In Nordrhein-Westfalen galt er als „Totengräber des humanistischen Gymnasiums und damit der abendländischen Kultur", wie in einer katholischen Rundfunksendung der B B C formuliert wurde79· Das konservative Lager argumentierte, die Nationalsozialisten hätten nicht ohne Grund die deutsche Oberschule einseitig gegen das Gymnasium bevorzugt. Sie empörten sich gegen die Aufgabe von Latein, Mathematik und vor allem Geschichte als Pflichtfächer. In einem Wahlfach, vermuteten sie, würde nicht mit ausreichendem Druck gelernt. In Niedersachsen regten sich die Parteien gegenseitig an und gingen aufeinander zu. Die C D U lehnte zwar ein Philosophikum ab und plädierte stattdessen für ein weiteres Schuljahr. Doch erklärte sie sich aus „sozialen Gründen" damit einverstanden, Latein erst in Klasse sieben einsetzen zu lassen. Das niedersächsische Kultusministerium war auf der anderen Seite weit davon entfernt, eine Reform gegen den Willen der „Mehrzahl der Lehrer" durchzuführen80 und dass eine Mehrheit die Reformpläne ablehnte, galt im Kultusministerium als ausgemacht. Während der Einfluss Adenauers von Amelunxen zum Teil ausgeglichen wurde, führte Grimme mit dem bayerischen Kultusminister Alois Hundhammer einen monatelangen Privatkampf über die Presse. Trotz der auch von ihm wahrgenommenen Unterschiede in der Kulturpolitik der Länder ging er die Minister um ein Ubereinkommen an. In Hannover erschien als Diskussionsforum die erste pädagogische Zeitschrift unter dem Titel „die Schule". Neben allen Vorhaben unternahm das Blatt den Versuch einer Rechtschreibreform, die sich allerdings nicht durchsetzte:

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Brief an Friedrich Teichert vom 23. Februar 1946 Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 105. Brief an Johannes R. Becher, Präsident des Kulturbundes der DDR, N1 Grimme, Nr. 1270. Alois Hundhammer (1900-1974), Volkswirt und MdL (BVP); 1946-1970 MdL (CSU), 1946-1950 Kultusminister, 1951-1954 Landtagspräsident, 1957-1969 Landwirtschaftsminister. Paul Hussarek: Hundhammer: Wege des Menschen und Staatsmannes, München 1951. Die Rundfunksendung vom 16. März 1947 hier zitiert nach Pakschies, Umerziehung (wie Kap. 4, Anm. 70), S. 195. Bericht über schulpolitische Diskussion im Club zu Hannover vom 26. August 1946, Hannover. Gezeichnet von Rönnebeck. Abgedruckt bei Leski, Schulreformprogramme (wie Anm. 27), S. 106 ff.

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Das erste Jahr hindurch erschien es in Kleinschrift. Grimme besuchte mehrfach die Ostzone und lud die Betreffenden ein, nach Hannover zu kommen. Mit allen anderen Kultusministern tauschte er sich regelmäßig aus und brachte schließlich eine gesamtdeutsche Konferenz aller Kultusminister in Stuttgart zu Stande81. Zum letzten Male in der deutschen Geschichte bis ins Jahr 1990 kamen alle verantwortlichen Kulturpolitiker zusammen. Die Gründung der SED am 21. und 22. April 1946 und der Abbruch aller Reparationslieferungen aus den Westzonen an die Sowjetunion musste für alle Anhänger eines einheitlichen Deutschlands ein Weckruf sein. Im Februar 82 und September 1946 hatten sich schon einmal Vertreter aus Ost und West getroffen. In Grimmes Terminkalender findet sich unter den 12. Oktober noch der Eintrag über ein letztes Treffen in kleinem Kreise 83 . Eine letzte Zusammenkunft zwischen Ministerpräsidenten westlicher und östlicher Zonen fiel auf einige wenige Abendstunden am 5. Juni 1947. Allein der 19. und 20. Februar 1948 versammelte die Gesamtheit aller deutschen Kultusminister und bildete gleichzeitig die höchste politischnationale Ebene einer Nachkriegskonferenz. Sie war ursprünglich auf den Dezember 1947 gelegt, wegen der Moskauer Außenministerkonferenz aber noch einmal verschoben worden 84 . Die Minister reisten ohne Referate an. Alliierte Beauftragte fehlten. Niemand schien mit aufsehenerregenden Ergebnissen zu rechnen. In den einzelnen Zonen hatten die Verantwortlichen seit drei Jahren daran gearbeitet, ein Schulprinzip umzusetzen und zeigten kaum noch Bereitschaft, das Begonnene abzubrechen. Für ein gemeinsames Bildungsziel konnten sich die Minister gerade noch auf die dünne Formel einigen, „in bewusster Abkehr von der zurückliegenden Zeit muss das Ziel der Erziehung die Heranbildung des selbstständig urteilenden, verantwortungsbewusst handelnden und guten Menschen für Beruf und Leben sein". Ganz unvermeidbar schien es, die ländlichen Regionen besonders zu fördern, das Niveau insgesamt zu steigern und Schulgeld allgemein abzulehnen. Die Schüler sollten Träger des demokratischen Geistes werden und dem Frieden und der Völkerverständigung dienen.

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Grimme empörte sich darüber, dass das Verdienst hierfür später den Stuttgartern angerechnet wurde. Der Anstoß sei von Hannover aus ergangen. Brief an Günther Rönnebeck vom 13. Juli 1953, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 183. Bei der Tagung in Lippe Detmold am 2. und 3. Februar trafen sich die meisten westdeutschen Ländervertreter mit zwei der fünf ostzonalen und debattierten über Aufbau und Planung der Lehrerbildung. Erinnerungen an den Wiederaufbau des Schulwesens nach 1945, N l Grimme, Nr. 3369. Die Stuttgarter Tagung ist inklusive des Tagungsprotokolls von Manfred Overesch dokumentiert: Die Gesamtdeutsche Konferenz der Erziehungsminister in Stuttgart am 19. und 20. Februar 1948, V J f Z (1980), S. 248 ff.

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An diese Allgemeinheiten schlossen sich die Referate der einzelnen Minister, aus denen die bereits bestehenden Unterschiede in den Ländern deutlich wurden. Ganz verschieden behandelten die Länder ihre Gymnasien und ihren Unterbau, die Grundschulen. Uneinigkeit herrschte auch in der Frage, welche Schuld das Schulsystem am Aufkommen des Nationalsozialismus trage und wie darauf zu reagieren sei. Obwohl die Schuld kaum zu berechnen war, diente die jeweils persönliche Auffassung als ideologische Grundlage des eigenen Planes. Hundhammer hielt es für richtig, vor allem das Gymnasium zu schützen, da der größte Widerstand gegen die Nationalsozialisten aus den Kreisen der humanistisch Gebildeten erwachsen sei. Ärzte- und Richterschaft seien „nicht geistig erlegen", sondern aus „mangelnder menschlichen Charakterfestigkeit". Der Kultusminister des Landes Württemberg-Hohenzollern, Albert Sauer, und die nordrheinwestfälische Christine Teusch85 nahmen diese Vorlage auf und behaupteten, es seien besonders die Halbgebildeten gewesen, auf die sich der Nationalsozialismus habe stützen können. Teusch erklärte: Wo sich ein Minderwertigkeitskomplex mit Halbbildung vereine, entstehe jener „Hauptschultypus Hitler". Das Schlusswort der Konferenz behielt sich Grimme selbst vor. Der Inhalt der Rede unterschied sich grundlegend von jenen Ansichten, die er als preußischer Minister vertreten hatte. Damals folgte er einem Toleranzbegriff, der es nicht erlaubte, Schüler politisch zu beeinflussen. Jetzt erkannte er die Notwendigkeit, diesen Einfluss zu nutzen. Gegen eine formalisierte Gesellschaft, die den Wert von Zeugnissen zu hoch ansetze, hatte er schon vor 1933 gesprochen. Dass er wie seine Kollegen auf Charakter und politische Standhaftigkeit abhob, war ein Zugeständnis an den politischen Zeitgeist, der freilich an der Komplexität des Nationalsozialismus vorbeisah. Dass er moderne Sprachen förderte, darunter völlig unideologisch Russisch, um kulturellen Austausch zu ermöglichen, zeugte von neuen Einsichten. Doch blieb es in Stuttgart insgesamt bei Lippenbekenntnissen. Wie aus einem Menschen mehr Charakter herauszuholen sei, konnte niemand beantworten. Der Eindruck, niemand sei bereit, von sei-

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Christine Teusch ( 1 8 8 8 - 1 9 6 8 ) , Lehrerin, war seit 1918 in der Zentrumspartei engagiert und gehörte 1919 der verfassungsgebenden Nationalversammlung an. Sie entschied sich 1920 für eine Laufbahn als Berufspolitikerin. N a c h 1933 ging sie zurück in den Schuldienst, wurde strafversetzt und 1936 in den vorzeitigen Ruhestand entlassen. N a c h 1945 war sie Mitbegründerin und Vorstandsmitglied der N R W - C D U , bis 1966 im Landtag N R W und unter Karl Arnold 1947 Kultusministerin von N R W . Sie half, den zweiten Bildungsweg durchzusetzen und die Studienstiftung mitzubegründen. Ihre Schulpolitik mit obligatorischem Religionsunterricht galt als rückständig, sodass Arnold sie in sein drittes Kabinett 1954 nicht mehr aufnahm.

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nem einmal gefassten Plan Abstand zu nehmen, bestätigte sich. Das deutsche Schulsystem blieb uneinheitlich. Auffällig ist eines: Im Mittelpunkt des Denkens stand nicht mehr die Religion. Stattdessen fällt immer wieder ein anderer Begriff: Einheit. N u r im direkten Kontakt mit Kirchenvertretern wird eine religiöse Argumentation sichtbar. Zwar gründet Grimme den „Bund religiöser Sozialisten" neu und der Versuch, Paul Tillich nach Göttingen zu holen, beweist die Lebendigkeit der Überzeugung. Das alles wurde aber nicht nachhaltig verfolgt und wirkt wie das Rudiment einer nicht mehr zeitgemäßen Geisteshaltung. Der religiöse Antrieb entstand nicht aus einem mystischen Erlebnis, sondern als Reaktion auf intellektuelle Probleme. Ausgangspunkt war der Widerspruch zwischen Religion und Wissenschaft. Der religiösen Weltanschauung lag immer der Einheitsgedanke zugrunde. Die Frage ist allgemein zu stellen, ob Religion ihr Daseinsrecht nicht daraus bezieht, dass sie Gemeinschaft begründet. Hier jedenfalls erhält man einen Schlüsselbegriff an die Hand. Das Ziel allen Strebens bestand nicht darin, eine bestimmte Religionsauffassung zu verbreiten, sondern Widersprüche aufzulösen und Einheit herzustellen.

5. Einheit auf Umwegen Von der interzonalen, kulturministeriellen Ebene ließ sich nichts mehr erhoffen. Doch wurde das Streben nach Einheit über die Länderpolitik ausgedehnt. Gleich nach Übernahme des hannoverschen Amtes verband Grimme sich mit den für die Kulturpolitik verantwortlichen Stellen. Dass wissenschaftliche Institute und Universitäten Länderangelegenheit blieben, schien ihm nicht einleuchtend. Schließlich würden dort Kräfte ausgebildet, deren Fähigkeiten in ganz Deutschland eingesetzt würden. U m so mehr gewannen überregionale Organisationen wie das Max-Planck-Institut 86 , die Hermann-Lietz-Schulen 87 , vor allem aber die Studienstiftungen an Ge-

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Eckart Hennig: Chronik der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften unter der Präsidentschaft Otto Hahns (1946-1960), Berlin 1992; Ders.: Wissenschaftliche Mitglieder der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften im Bild, Berlin 1998; Sigrid Deutschmann (Red.): Max Planck (1858-1947). Zum Gedenken an seinen Todestag am 4. Oktober 1997, München 1997; Ulrike Emrich (Red.): Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin, München 1988; Petra Hauke: Literatur über Max Planck. Bestandverzeichnis, Berlin 2001. Hermann Lietz (1868-1919), Gymnasiallehrer und Reformpädagoge. Ein Aufenthalt in England brachte ihn auf die Idee einer eigenen Schulbildung in Landerziehungsheimen. Ralf Koerrenz (Hrsg.): Die Religion der Reformpädagogen. Ein Arbeits-

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wicht. Die „Studienstiftung des deutschen Volkes" verdankte unter anderen ihm ihr Wiedererstehen, ebenso das Max-Planck-Institut und die Hermann-Lietz-Schulen. Die Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft konnten nur beschränkt arbeiten, weil sie Personal, Räumlichkeiten und Material verloren hatten. Es gelang, die Militärregierung davon zu überzeugen, wenigstens in ihrer Zone die einzelnen Institute wieder herzustellen und zusammenzuführen. Am 11. September 1946 fand in Bad Driburg die Gründungssitzung statt, bei der Grimme den Vorsitz führte. Auf Drängen der Briten änderte die Gesellschaft ihren Namen. Am 26. Februar 1948 brach der amerikanische Widerstand. Die Institute der französisch besetzten Zone wurden ein Jahr später angeschlossen, womit ein trizonales Institut entstand. Im Jahre 1953 schlossen sich die verbliebenen Institute West-Berlins der „Max-PlanckGesellschaft" an. Grimme und Landahl halfen, ein unabhängiges Finanzsystem für die Gesellschaft zu etablieren, gegen das sich viel Widerstand erhob. Dem Senat der „Max-Planck-Gesellschaft" gehörte er bis zu seinem Lebensende an88. Die „Studienstiftung des Deutschen Volkes", die er mitbegründete, lag ihm „besonders am Herzen" 89 . Die Studienstiftung war 1924 als nationales Anliegen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und der Industrie eingerichtet worden. Unter den Gründern befand sich C. H. Becker. Unter Protest griffen die Nationalsozialisten gleich im Jahre 1933 in das Wesen der Studienstiftung ein und richteten die Auswahl- und Förderkriterien nach völkischen und rassischen Gesichtspunkten aus. Eine ganze Reihe von Hochbegabten, die kurz vor dem Examen standen, wurde aufgrund ihrer jüdischen Abstammung nicht mehr zugelassen. Günstigenfalls emigrierten sie und trugen die wissenschaftlichen Früchte einer deutschen Begabtenförderung ins Ausland90. Wenige fanden sich in das neue politische

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buch. Weinheim 1994; Alfred Andreesens: Funktionsbestimmung der HermannLietz-Schulen im Kontext der Jahre von 1919 bis 1933, Frankfurt a. M. usw. 1992; Herbert Bauer : Zur Theorie und Praxis der ersten deutschen Landerziehungsheime. Erfahrungen zur Internats- und Ganztagseinrichtung aus den Hermann-LietzSchulen, Berlin 1961. Biografische Skizzen der Gründer der Landerziehungsheime Lietz, Wyneken, Geheeb und Hahn in: Scheuerl (Hrsg.): Klassiker der Pädagogik, Bd. 2: Von Karl Marx bis Jean Piaget, 2. Aufl., München 1990. Bernhard vom Brocke: Die Kaiser-Wilhelm-, Max-Planck-Gesellschaft und ihre Institute. Studien zu ihrer Geschichte. Das Harnack-Prinzip, Berlin 1996. Brief an Otto Dodegge vom 13. Februar 1963, Degerndorf, N1 Grimme, Nr. 1421. Mitchel G. Ash (Hrsg.): Forced migration and scientific change: emigre germanspeaking scientists and schoolars after 1944, Cambridge/NY 1996; Konrad H. Jarausch: Die Vertreibung der jüdischen Studenten und Professoren von der Berliner Universität unter dem NS-Regime, Jahrbuch für Universitätsgeschichte 1 (1998), S. 112-133.

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Umfeld ein. Ein Jahr später wurde die Studienstiftung, deren Hauptträger das Reich war, auch formal in eine nun „Reichsförderung" genannte Organisation eingegliedert, die weder dem Selbstverständnis noch dem Auswahlverfahren nach der alten Stiftung entsprach91. Kurz nach dem Kriege reiste aus Köln der Studienrat Heinz Haerten 92 nach Hannover, um mit dem Kultusminister über die Studienstiftung des Deutschen Volkes zu sprechen93. Vermutlich hatte jener ihn nach Hannover bestellt, um die in Aussicht genommene Übernahme der Geschäfte durch Haerten zu besprechen94. Haerten erwartete einige Schwierigkeiten, seine Wünsche für den Aufbau einer Geschäftsführung durchzubringen. Dessen Ansichten unterschieden sich jedoch kaum von den seinen: Die Stiftung dürfe keine „karitative Hilfe" sein, sondern solle auf die „strenge Auslese hervorragend Qualifizierter" ausgerichtet werden. Mit ihrer Hilfe solle geistige Leistung, nicht aber traditionelles Vorrecht gefördert werden. Von einer anderen Seite arbeitete Peter van Aubel, der in den zwanziger Jahren eng mit der Studienstiftung verbunden war, dem gleichen Ziel zu95. Finanziell und politisch sorgte der Kultusminister für eine feste Bindung zwischen Stiftung und Bundesrepublik96. Die „Studienstiftung des deutschen Volkes" begann am 6. März 1948 mit der Arbeit, wobei sie sich von der gleichnamigen Stiftung der Vorkriegszeit nicht unerheblich unterschied. Dass die Schreibweise mit einem kleinen „deutschen" auf ein im Vergleich bescheideneres Selbstbewusstsein hinwies, war nur eine Formalie97. Sie gab eines ihrer Hauptkennzeichen auf: Die zu fördernden Studenten mussten nicht mehr mittellos sein, sondern durften aus allen sozialen

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Sekretariat der Studienstiftung (Hrsg.): Studienstiftung des Deutschen Volkes. Tätigkeitsbericht, Bad Godesberg, ohne Datum. Heinz Haerten (1908—?) Studien der Germanistik und Geschichte in Bonn und Frankfurt a. M.; 1942-1945 Kriegsdienst mit anschließender Gefangenschaft. Nach dem Krieg Studienrat in Bad Godesberg, dann Geschäftsführer der Studienstiftung, seit 1977 in den Niederlanden. Heinz Haerten, in: Oschilewski, Sorgendes Dasein (wie Einleitung, Anm. 8), S. 51 f. Rolf-Ulrich Kunze: Studienstiftung des deutschen Volkes seit 1925. Zur Geschichte der Hochbegabtenförderung in Deutschland, Berlin 2001, S. 274. Kunze berichtet, dass Landahl, Grimme und Aubel bei einer Schuldezernententagung im Bonner Museum König im Juli 1946 auf Haerten aufmerksam wurden, wo er mit Schülern ein Theaterstück aufführte. Dies würde den Termin der Reise nach Hannover auf einen späteren Zeitpunkt als den Sommer 1946 legen. Im Sommer 1946 ist zum ersten Male eine Aktivität zugunsten einer wiederbelebten Studienstiftung nachweisbar, sodass Haertens Rolle nicht begründend, sondern vielmehr sondierend gewesen sein muss. Rüdiger R. Beer: Peter van Aubel, 1894-1964, Stuttgart 1964. So Dieter Sauberzweig, langjähriger Geschäftsführer der Studienstiftung, im Gespräch mit dem Autor im September 2002. Kunze, Studienstiftung (wie Anm. 94), S. 279.

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Schichten stammen. Auch ein Student aus begütertem Hause erhielt die Möglichkeit, sich fördern zu lassen. In den ersten Nachkriegsjahren war die Armut unter den Studenten eine so allgemeine, dass Bedürftigkeit ohnehin als selbstverständlich vorauszusetzen war. Zum Präsidenten der Stiftung wählten die Kuratoriumsmitglieder Grimme. Ein Amt, das er bis zu seinem Tod ausübte. Drei für ihn sehr kennzeichnende Besonderheiten drängen ins Blickfeld: Ein schriftlich festgelegtes Programm über den Aufbau der Stiftung legte er nicht vor. Diese sonderbare Weigerung, seine Gedanken schriftlich zu fixieren, zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben. Er äußerte Wünsche und regte an, verstand sich aber weder als Vordenker noch als Vollender. Zweitens weigerte er sich, die Studienstiftung in einem sozialdemokratischen Sinne zu politisieren. Allein der Aufbau der Stiftung, der neben dem Sozialdemokraten Grimme, die Christdemokratin Teusch und einen Freidemokraten im Präsidium vorsah, stand für einen politischen Ausgleich. Die gründlichen Auswahlverfahren der Stipendiaten verhinderten einen Tendenzbetrieb 98 . Oberstes Gebot aller Auswahlverfahren blieb eine zu erwartende, hoch über dem Durchschnitt liegende, wissenschaftliche Fähigkeit. Neben der Leistung wünschte er eine demokratische Gesinnung der Kandidaten zum Auswahl- und Förderkriterium zu erheben und durch der Stiftung die Republik zu festigen". Diesen Weg hatte er bereits als Schulaufsichtsbeamter beschritten. Den Bestand einer republikanischen Staatsform ordnete er dem Ziel unter, gefestigte Persönlichkeiten zu erziehen, wenn er auch glaubte, dass aus einer Mehrzahl mündiger, vernunftbegabter Bürger eine republikanische Staatsform zwangsläufig entstehen würde. Wenn dies alles schon früher zu seinen Überzeugungen gehörte, stellt sich die Frage, welche Einsicht er eigentlich aus der jüngsten Vergangenheit zog. Wie schwer eine Antwort auch zu finden war, ein Kultusminister musste den Versuch wagen, des Übels Wurzel zu benennen. Zwar ist es zu allen Zeiten richtig, mündige, leistungsbereite Bürger mit Charakter zu fordern. N u r auf welche Weise bekommt man sie? Der hier vorgeschlagene Weg ist die Vervielfältigung von Vorbildern. Eine ausgewählte Gruppe von Hochgebildeten soll durch

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Aufgenommen wurden nur Stipendiaten, zu deren Gunsten mindestens zwei Gutachten vorgelegt werden konnten. Weder Schüler noch Studenten konnten sich selbst bewerben. Vorschlagsrecht besaßen Schulrektoren und Universitätsprofessoren, später auch ehemalige Studienstiftler. Die Vorschläge mussten durch mindestens drei Gremien bestätigt werden. In diesen Gremien saßen anerkannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die ausdrücklich nicht nach politischer Einstellung ausgesucht wurden. Kunze, Studienstiftung (wie Anm. 94).

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Wissen und Charakter auf ihre Umgebung ausstrahlen. Zugrunde liegt ein Elitenbewusstsein, ein messianischer Gedanke von Wissenden. Es wäre widersinnig gewesen, die Studienstiftung für sozialdemokratische Zwecke einzusetzen, da gleichzeitig die sozialdemokratische „Friedrich-Ebert-Stiftung" entstand. Eine mögliche Folge aus dem Untergang der Republik hätte sein können, die Sozialdemokratie nicht aus sozialen, sondern aus politischen Gründen zu unterstützen. Gerade die politische Indifferenz entscheidender Staatsmänner trug erheblich zum Ende bei. Doch verharrte er auch hier auf dem Standpunkt der Überparteilichkeit, den er seit je vertrat. Die Studienstiftung entsprach einem Anliegen, das sich in seinem Denken schon nachweisen ließ, bevor er Sozialdemokrat wurde: der Begabtenförderung 100 . Er meinte, ein Talent müsse frühzeitiger entdeckt und gefördert werden, als beim Schulabschluss oder zu Beginn des Studiums. Viele Begabungen, fürchtete er, gelangten „durch den Druck der wirtschaftlichen Situation gar nicht mehr zu der Chance der Auswahl" 101 . Die Landerziehungsheime zu begünstigen, war insofern folgerichtig. Das Ziel der Heime lautete, „Schüler aller Stände" zu fördern. Sie finanzierten sich zu einem nicht geringen Teil über das Schulgeld vermögender Eltern, ohne dass sie jedoch vom „Reichtum, geschweige denn vom Neureichtum" abhingen, wie Grimme sorgfältig hervorhob. 1951 verfolgte er mit Interesse die Diskussion, ob nicht hochbegabte Schüler in Internaten untergebracht und gefördert werden könnten 102 . Er beabsichtigte, die Landerziehungsheime für dieses Vorhaben zu öffnen. Die Heime haben sich einem elitären Anspruch jedoch nie gefügt. Die Präsidentschaft über den Verband übernahm er nach dem Kriege. So übte er drei anspruchsvolle Ehrenämter aus, die ihn von seiner eigentlichen Aufgabe abhielten: den Schulplan durchzusetzen.

6. Der Spionageverdacht Der anfängliche Schwung, mit dem er sich in Niedersachsen an die Arbeit begeben hatte, wich zunehmend einer gewissen Resignation. Er glaubte, nur ein kleiner Kreis schlage sich „den Weg durch das Gestrüpp" und versuche etwas Neues aufzurichten. Die Ernährungssituation und Wohnungsnot behinderten die Arbeit und die Bevölkerung zeigte eine ihn stö-

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Siehe den Abschnitt des ersten Kapitels „Studium in Halle und München". Brief an Günther Rönnebeck vom 9. August 1951, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 172. Lexikon der Pädagogik der Gegenwart, Bd. 2, hrsg. vom Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik, Münster u. Freiburg 1932, S. 134 ff.

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rende nationalistische Beharrlichkeit 103 . Dass in Düsseldorf Aloys Lammers104 die Kultusabteilung leitete, schockierte ihn. Er glaubte nämlich, Lammers habe als kurzzeitiger Leiter des preußischen Kultusministeriums alle Erlasse gegen die Mitgliedschaft von Beamten und Schülern in der NSDAP aufgehoben105. Dies waren nicht die Maßstäbe, nach denen sich die Gesellschaft neu formierte. Im November 1945 hatte er auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf eine Rede zu Ehren der „Opfer des Faschismus" und wenig später in Kuckhoffs Geburtsstadt Aachen eine Ansprache auf den Freund gehalten. Neun Jahre später schlug er die Mitgliedschaft im „Arbeitskreis Deutscher Widerstand" mit der Begründung aus, es sei nicht ratsam, „in der jetzigen Situation einem solchen Verein beizutreten" 106 . In dieser Zeitspanne vollzog die öffentliche Meinung eine Wende, die sich auf die Würdigung des deutschen Widerstandes auswirkte. Eine undifferenzierte und ideologieverseuchte Argumentation förderte eine bisher nicht vorgetretene Schicht seiner Persönlichkeit zutage: Rache und Hass. Den Leiter der Hauptvernehmungen in der Gestapo-Zentrale, Walter Habecker, suchte er im Gefängnis auf und empfand vermutlich Genugtuung, als sich jener vier Jahre später das Leben nahm107. Zusammen mit Greta Kuckhoff, Weisenborn und Scheel strengte er eine Klage vor dem Nürnberger Militärtribunal gegen Kriegsgerichtsrat a. D. Manfred Roeder an108. Schon im Sommer 1945 meldete er der amerikanischen Militärregierung verschiedene mögliche Aufenthaltsorte Roeders 109 . Am 1. Mai 1947 wurde dieser verhaftet und in das 26. Internierungs-Gefängnis nach Nürn-

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Brief an Herbert Weichmann vom 4. Januar 1948, in: Sauberzweig (1967), S. 140. Aloys Lammers (1877-1966), Jurist und Nationalökonom. Lammers stand seit 1921 der Hochschulabteilung vor, seit 1925 war er Staatssekretär und an den Konkordatsverhandlungen und dem Aufbau der Sektion Dichtkunst bei der Akademie der Wissenschaften beteiligt. Nach 1933 arbeitete er als Gutachter über Konkordatsverletzungen für den Heiligen Stuhl. Nach Kriegsende leitete er die Kultusabteilung im Oberpräsidium Düsseldorf und war Mitglied des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken. Brief an Wilhelm Gaede vom 28. Oktober 1946, Hannover, in: Sauberzweig (1967), S. 131. Alexander Maass an Walter Hammer vom 17. April 1954, N1 Grimme, Nr. 2761. Maas riet dringend vom Beitritt ab. Die Formulierung geht also wohl auf jenen, nicht auf Grimme zurück. Alfken (im Auftrag Grimmes) an Hoericke vom 13. Juni 1945, N1 Grimme, Nr. 3394. Am 25. Januar 1949 beging Habecker Selbstmord. Berichte Christine Dohnanyis in BA, Nl Hans und Christine von Dohnanyi und N1 Dietrich Bonhoeffer. Brief an Captain Jackson vom 15. September 1945, Hannover, Nl Grimme, Nr. 3394.

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berg gebracht110. Kurz vor der Entlassung standen sich beide gegenüber. Ein Aufenthalt in Nürnberg bot die Gelegenheit, an einem Verhörtermin teilzunehmen111. Noch im selben Monat erfuhr er von der ermittelnden Behörde, eine Anklage vor einem alliierten Gericht werde nicht erhoben. Das Material reiche nicht aus, um Roeder wegen Verbrechen gegen das internationale Recht anzuklagen. Nun trug Grimme selbst belastendes Material zusammen, Gerüchte zumeist112, und bat die „Legal Division" 113 , Roeder zumindest vor ein deutsches Gericht zu stellen. „Es ist unmöglich, dass Menschen von seiner inneren Verworfenheit freigelassen werden. Das Material aus unserem Prozess allein genügt, um zu verhindern, dass er völlig frei ausgeht" 114 . An den Kultusminister Hessens, Erwin Stein, schrieb er, er fühle sich von Rachegelüsten gegenüber Anhängern des verflossenen Systems frei. Dieser Mensch aber dürfe nicht frei herumlaufen115. Nach der aufwühlenden Lektüre eines Briefes von Christine Dohnanyi gab er zu, er könnte gegen Roeder mit „völliger Kälte und bestem Gewissen" ein Todesurteil unterschreiben116. In den Prozessen gegen Juristen des NS-Systems gelangte keine Anklage zum Ziel 117 , da die Beschuldigten sich auf das zur Zeit der Urteile geltende Recht beriefen. Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, hatten die Alliierten neue Tatbestände in die Rechtssprache eingeführt, die den Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz" in einen übergesetzlichen Raum erweiterte: Die „Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit". Es erwies sich jedoch, dass den NS-Juristen mit den vorgefassten Anklagemöglichkeiten nicht beizukommen war. In Nürnberg wurden nur wenige Exzesstäter be-

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Schreiben der Sekretärin des Kultusministers mit Sitz in Wiesbaden, Erwin Stein, N1 Grimme, Nr. 3394. Brief an Diekmann (Legal-Division) vom 7. Juli 1947, Berlin, N1 Grimme, Nr. 3394. Bromberg (polnisch Bydgoszcz) kam 1919 an Polen und wurde im 2. Weltkrieg stark zerstört. Beim Einmarsch der Wehrmacht kam es zu Ubergriffen polnischer Bürger auf deutschstämmige Einheimische mit Todesfolgen. Die Engländer besaßen eine „Legal-Devision" als Unterabteilung der „ControlCommission Germany/British Element", an der seit 1944 Oberstleutnant Dunbar in London gearbeitet hatte. Dunbar war Chef der Abteilung, bis er im Oktober 1945 von Macaskie, einem Ziviljuristen abgelöst wurde. Hauptsitz der „Legal-Division" war Berlin, mit Unterabteilung in Lübbecke, ab 1946 Herford. Brief an Diekmann vom 7. Juli 1947, Berlin, N1 Grimme, Nr. 3394. Brief an Stein vom 17. Mai 1947, N1 Grimme, Nr. 3394. Brief an Christine Dohnanyi vom 31. Juli 1946, Nl Grimme, Nr. 3394. Gerd. R. Ueberschär (Hrsg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943-1952, Frankfurt a. M. 1999 (weiterhin zit.: Ueberschär, Nationalsozialismus).

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straft118. Jede Besatzungsmacht richtete ihre eigene Zentrale ein, um im Anschluss an die Nürnberger Prozesse Kriegsverbrechen verfolgen zu können119. Das britische Militärgericht hatte seinen Hauptsitz in Lüneburg. So ist zu erklären, weshalb das Verfahren gegen Roeder nicht in Nürnberg, sondern vor einer deutschen Strafkammer in Lüneburg stattfand120. Die Mitglieder der Lüneburger Staatsanwaltschaft besaßen ausnahmslos eine nationalsozialistische Vergangenheit. Die Handakten der Ermittlungen wurden als brisantes Material später unter Verschluss gehalten und lagerten am Ende des Jahrhunderts nicht im Staatsarchiv, sondern in den seinerzeit zuständigen Dienststellen121. Ein unvoreingenommener Prozess war nicht zu erwarten, da die zuständigen Juristen indirekt ihre eigenen Laufbahnen verhandelten. Ein Staatsanwalt namens Hans Jürgen Finck 122 begann zäh und schleppend mit der Beweisaufnahme. Grimme gewann den Eindruck, Finck sei „voreingenommen und nicht der richtige Mann" für das Verfahren123. In der Zwischenzeit hatte Roeder der damals als seriös geltenden Zeitschrift „Stern" einen etwa achtzig Seiten langen Schlussbericht des Sicherheitsdienstes der Gestapo übergeben124, den er nach neueren Erkenntnissen vorher gefälscht hatte125. Im Bewusstsein darüber, welchen Wert der Abschlussbericht für ihn bot, übergab er seine Kopien sowohl den im Nürnberger Verfahren zuständigen Staatsanwalt, der gegen ihn wegen „Aussageerpressung" ermittelte, als auch der Staatsanwaltschaft Lüneburg.

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Rudolf Wassermann: Der Nürnberger Juristenprozess, in: Ueberschär, Nationalsozialismus (wie Anm. 117), S. 99 ff. Albrecht Götz: Bilanz der Verfolgung von NSStraftaten, Köln 1986. Adalbert Rücker: NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Heidelberg 1982. Martin Broszat: Siegerjustiz oder Strafrechtliche „Selbstreinigung". Aspekte der Vergangenheitsbewältigung der deutschen Justiz während der Besatzungszeit 1945— 49, VJfZ 29 (1981). Schreiben vom "office of chief of councel for war crimes" vom 9. Juni 1949, N1 Grimme, Nr. 3395. Die Akten befinden sich heute im HStaHann 711 Acc. 112/79, Nr. 679 bis Nr. 684. Wilfried Knauer von der Gedenkstätte Wolfenbüttel bereitet eine Veröffentlichung zu diesem Thema vor, die hier noch nicht einbezogen werden konnte. In den Briefen Grimmes und einiger anderer ehemaliger Ankläger findet sich der Name Finck in der Schreibweise Fink, was aber offenbar ein Irrtum ist. Der Staatsanwalt hieß Hans Jürgen Finck. Erich Kummerow an Grimme, ohne Datum, Nl Grimme, Nr. 3395. Hans-Adolf Jacobsen und Werner Jochmann (Hrsg.): Ausgewählte Dokumente zur Geschichte des Nationalsozialismus 1933-1945, Bielefeld 1961. Im Stern erschien die Serie unter dem Titel: Geheimnis und Ende der „Roten Kapelle", Stern (1951), Heft 18-26. Coppi, Rote Kapelle, S. 34, Anm. 11.

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Gleichzeitig arbeitete er an einer eigenständigen Monografie über den „Komplex der Roten Kapelle", die 1952 erschien126. Zunehmend gewann er an Sicherheit, aus dieser Angelegenheit nicht nur straffrei, sondern gestärkt hervorzugehen. Er schien zu dieser Selbstsicherheit mehr als berechtigt, da er von zwei Seiten Rückendeckung erhielt. Neben Roeder veröffentlichten eine ganze Reihe Beteiligter Rechtfertigungsbücher, welche seine Berichte stützten127. Außerdem beschäftigte ihn der amerikanische Geheimdienst C I C unter dem Decknamen „Othello" als Informant 128 . Deutsche Nachrichtenbeschaffer der Organisation Gehlen, damals noch unter amerikanischer Aufsicht, zeigten sich diensteifrig interessiert an den Informationen über das „unter dem Namen Rote Kapelle während des letzten Krieges bekannt gewordenen Agentennetz" und baten den C I C um Material129. Je glaubhafter Roeder vermochte, die „Rote Kapelle" als eine immer noch funktionierende, sowjetische Nachrichtenagentur darzustellen, desto stärker wuchs ihm das Vertrauen der Geheimdienste zu. Die Presse der Nachkriegszeit stützte sich immer wieder grundlegend auf seine Angaben und auf den Gestapoabschlussbericht, die für seriöser gehalten wurden als die Gegenberichte der Opfer 130 . Die Akten über den Prozess des Reichskriegsgerichtes konnten nur in Teilabschriften zu dem Prozess in Lüneburg herangezogen werden. Erst nach der politischen Wende des Jahres 1990 wurde ein Großteil der Protokolle in einem Prager Militärarchiv aufgefunden131. Der Abschnitt zu Grimmes Verfahren fehlt bis heute. O b die Akten vernichtet wurden oder sich im Privatbesitz eines Beteiligten verloren, bleibt zu diesem Zeitpunkt ungeklärt. Im November 1951 teilte der Lüneburger Oberstaatsanwalt schriftlich mit, das Verfahren werde eingestellt132. Die Aussage Grimmes stehe gegen jene der Gegenseite. Der Vorwurf, es seien „kriegswichtige Nachrichten" gesammelt und in die 126

Manfred Roeder: Die Rote Kapelle. Aufzeichnungen. Hamburg 1952.

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Fabian von Schlabrendorff: Offiziere gegen Hitler, München 1957; Gerhard Ritter: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1956; Das Geheimnis der Roten Kapelle, in: Fortschritt (1950), Heft 4 5 - 5 1 ; Die Katze im Kreml, in: Kristal (1950), Heft 1—4. Wilhelm Flicke: Spionagegruppe Rote Kapelle, Vaduz 1957.

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Jürgen Danyel: Die Rote Kapelle innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, in: Coppi, Rote Kapelle (wie Kap. 7, Anm. 50), S. 18.

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Ebd., S. 34, Anm. 11. Der Verfassungsschutz wurde Anfang der fünfziger Jahre aktiv und beobachtete einige Angestellte des N W D R . Der Fall John, N o t i z in: N1 Grimme, Nr. 944.

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Peter Steinbach: Die Rote Kapelle. 50 Jahre danach, in: Coppi, Rote Kapelle, S. 54 ff.

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Norbert Haase: Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts. Neue Dokumente zur Militärgerichtsbarkeit im 2. Weltkrieg, VjfZ (1991), S. 379 ff.

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Folgende Zitate aus: Oberstaatsanwalt Tropf an Grimme vom 12. November 1951, Lüneburg, N1 Grimme, N r . 3394.

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UdSSR - sogar noch nach Beginn des Krieges zwischen Deutschland und der UdSSR - übermittelt worden, seien nicht zu widerlegen. Er könne in den Urteilen keine „Verbrechen gegen die Menschlichkeit" erblicken. Schließlich würden auch in anderen Ländern des westlichen Kulturkreises schwerere Fälle von Landesverrat, besonders während eines Krieges, mit dem Tode bestraft. Eine Rechtsbeugung könne in keinem einzigen Fall festgestellt werden. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg ließ keinen Zweifel daran, dass sie den Freispruch des Jahres 1942 für ein Fehlurteil hielt. Der Kläger könne sich glücklich schätzen, dass die Funkabwehr und die Geheime Staatspolizei durch unglückliche Zufälle gezwungen waren, übereilt zuzugreifen und die Gruppe Schulze-Boysen auszuheben, ehe die wirklichen Hintermänner der Organisation entlarvt waren. Das Gericht sei einer Todesstrafe bewusst und unter großem Aufwand ausgewichen, indem es nicht weiter ermittelte. Bis heute sei Grimme in „juristischer als auch in politischer Hinsicht" umstritten und nicht wenige hielten ihn für einen überzeugten Kommunisten. Die Zeugen der Anklage hätten sich in einen „maßlosen Hass gegen den nationalsozialistischen Staat hineingesteigert" und könnten deshalb das Geschehen nicht objektiv würdigen. Sie sähen in Roeder nicht den Kriegsrichter, sondern den Exponenten der Herrschaft. Sie glaubten, das „Amt und die seinerzeit hinter ihm stehende Macht zu treffen, wenn sie den Menschen schlagen, der dieses Amt seinerzeit ausübte. Das ist falsch- und deshalb musste dieses Verfahren mit einem völligen Misserfolg enden" 133 . Von den 51 Einzelvorwürfen sprach das Lüneburger Landgericht Roeder vollständig frei. Aus historischer Sicht lag ein Fehler der Kläger darin, Roeder als Person anzugreifen. Das Lüneburger Strafverfahren hätte, klug aufgebaut, die ganze Willkür der NS-Justiz aufdecken können. Das Verfahren gegen die „Rote Kapelle" bot alle hierfür nötigen Züge, gerade weil es wegen der Spionagetätigkeit Einzelner nicht als „politisches" Verfahren zu betrachten ist. Nachfolgende Juristengenerationen überprüften, ob eine Wiederaufnahme nicht möglich sei, kamen aber zu keinem anderen Ergebnis134. Gleichzeitig nutzten verschiedene Stellen die Akten des Lüneburger Verfahrens zu eigenen Zwecken. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hoffte, aus den Akten neue Erkenntnisse zu Aktivitäten der „Roten Kapelle"

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Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft, HStaHann Nds. 711, Acc. 112/79, Nr. 680, S. 157. Im Januar 1961 richtete sich die Oberstaatsanwaltschaft in Lüneburg an den Landesjustizminister mit einer entsprechenden Anfrage. Oberstaatsanwalt an den Justizminister des Landes Niedersachsen vom 17. April 1961, Lüneburg, HStaHann Nds., Acc. 112/79, Nr. 684.

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in der Bundesrepublik gewinnen zu können135. Der Oberbundesanwalt in Karlsruhe ließ sich aus Lüneburg den Staatsanwalt Finck kommen, um zu erfahren, ob es möglich sei, Otto John aus den Ermittlungsakten eine Verbindung zur „Roten Kapelle" nachzuweisen. Die „Rote Kapelle" bot ohnehin bereits die Projektionsfläche abenteuerlicher Fantasien. Der C I C berichtete 1949, Martin Bormann sei von der Komintern zum Chef der „Roten Kapelle" ernannt worden und der Spion Richard Sorge leite die „Rote Kapelle" in Japan 136 . Grimme aber wurde die Ehre, im deutschen Widerstand gestanden zu haben, nie zuteil. Der Pädagoge Adolf Reichwein, dessen Lebensweg viele Ähnlichkeiten aufwies, ist in dieser Hinsicht umfangreich gewürdigt137. Reichwein hatte sich mit einem für die Nachwelt annehmbaren Widerstand verbunden.

7. Der Ausstieg Trotz dieses tiefen Rückschlages zweifelte niemand daran, dass Grimme soeben den Höhepunkt seines Lebenswerkes erklomm. Er konnte mit einigem Recht als einer der maßgebenden Kultuspolitiker Deutschlands gelten. Als Vertrauensmann der britischen Besatzungsmacht hatte er begonnen, ohne größere politische Hemmnisse ein Schulsystem aufzubauen, das seinen Uberzeugungen nahekam. Als Persönlichkeit in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen anerkannt, konnte er seine Pläne mit Nachdruck in die Diskussion bringen. Ganz ausgeschlossen schien es nicht, dass in der zu gründenden Bundesrepublik ein zentraler Kulturbeauftragter eingesetzt würde. Er wäre in diesem Amt möglich gewesen. Die SPD zeigte Bereitschaft, von überkommenen Werten abzurücken und ihr Kulturprogramm an seine Pläne anzulehnen. Sein Ministerium in Niedersachsen hatte er sich ganz nach eigenen Vorstellungen zusammenstellen können. Die finanziellen Engpässe ließen ihn zwar verzweifeln, doch dieser Zustand galt für alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Es musste die Zeitgenossen über-

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Die folgenden Zitate stammen aus: Generalstaatsanwalt Celle an den niedersächsischen Minister der Justiz vom 30. März 1953, Lüneburg, HStaHann Nds. 711, Acc. 112/79, Nr. 679. C I C Bericht vom 4. März 1949, zitiert bei Stefan Roloff: Die Rote Kapelle, Berlin 2002, S. 314. Gabriele C. Pallat (Hrsg): Adolf Reichwein. Pädagoge und Widerstandskämpfer. Ein Lebensbild in Briefen und Dokumenten (1914-1944), Paderborn 1999; Roland Reichwein (Hrsg.): Wir sind die lebendige Brücke von gestern zu morgen. Pädagogik und Politik im Leben und Werk Adolf Reichweins, Weinheim u. München 2000; Ders.: Ein Pädagoge im Widerstand. Erinnerung an Adolf Reichwein zum 50. Todestag, Weinheim u. München 1996.

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raschen, dass er sein angestammtes Gebiet der Schulpolitik aufgab und zum Nordwestdeutschen Rundfunk nach Hamburg wechselte. Ein Wagnis lag in dem Schritt, zumal er den Rundfunk insgesamt als „fraglich" empfand138. Er glaubte aber, der Föderalismus werde einer landeseigenen Kulturpolitik so enge Grenzen setzen, dass jeder sie führen könne 139 . Eine übergreifende Vergleichbarkeit der Schulsysteme konnte nur erreicht werden, wenn die christdemokratisch geführten Länder sich mit den sozialdemokratisch regierten abstimmten. Schumacher gegenüber rechtfertigte er seinen Wechsel damit, dass der „überspitzte Föderalismus" zu verhängnisvollen Rückschlägen in der Kulturpolitik der Länder führe. Der Rundfunk sei „von Anfang an ein überregionales Instrument", wenngleich sich auch dort schon die Gefahr zur „Wellendemontage und Regionalisierung" abzeichne140. Er wusste, dass seine Politik nicht ohne Widerstände durchzusetzen wäre. Mehr als einmal hatte er darauf hingewiesen, dass seine Schulpläne nur Grundlage einer Diskussion sein sollten und nicht als absolut zu nehmen seien. Widerstände blieben nicht aus. Doch hatte er sich auf eine Mannschaft im Kultusministerium gestützt, von der er glaubte, sich grundlegend auf sie verlassen zu können. Aus dieser Umgebung drangen nun Beschwerden zum britischen Militärbeauftragten Aitken-Davis, ihr Minister sei zu sehr mit sonstigen Dingen beansprucht und der Referentenstab bilde deshalb keine Einheit mehr. Grimme empfand dies als „Verrat" 141 , obwohl die Vorwürfe nicht ganz von der Hand zu weisen waren. Sein Hang, Ehrenämter anzuhäufen und auszufüllen, erreichte Ende der vierziger Jahre einen Höhepunkt. Er führte den Vorsitz der „Barlach Gesellschaft", der Studienstiftung und der Lietzschen Landerziehungsheime. Er saß im Vorstand der „Deutschen Shakespearegesellschaft", der „Kantgesellschaft", des „Deutschen Bühnenvereins", war Senator der „Max-Planck-Gesellschaft" und wurde Beiratsmitglied der „Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung" in Darmstadt. Außerdem war er korrespondierendes Mitglied des „Deutschen Rates der Europäischen Bewegung", Mitglied des „Deutschen Ausschusses für UNESCO-Arbeit", der „Deutschen U N E S C O Kommission" und des P.E.N. Die Mehrzahl der Ehrenämter übte er pro forma aus. Aber er musste an Sitzungen teilnehmen, Briefe verfassen und Kontakte pflegen. Er glaubte berechtigterweise nicht, den Wiederaufstieg deutscher Kultur allein mit staatlichen Mitteln erreichen zu können. Um

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Brief an Rönnebeck vom 7. Oktober 1948, N1 Grimme, Nr. 3369. Abgedruckt in: Sauberzweig (1967), S. 150. Brief an Alfken vom 3. Oktober 1948, Badenweiler, N1 Grimme, Nr. 3369. Brief an Kurt Schumacher vom 9. Oktober 19948, N1 Grimme, Nr. 2517. Brief an Alfken vom 3. Oktober 1948, Badenweiler, N1 Grimme, Nr. 3369.

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Kultur auf ein breites Fundament zu stellen, unterstützte er Stiftungen. Im Gegenzug verzichtete er darauf, aus der Vielzahl von Aufgaben eine einzelne herauszugreifen und ihr alles andere unterzuordnen. Ein leidenschaftlich verfolgtes Ziel fehlte zu diesem Zeitpunkt. Die Öffentlichkeit betrachtete den Wechsel vom Kultusministerium Niedersachsens in die Generaldirektion des N W D R wohl als gesellschaftlichen Abstieg 142 . Er schwankte und war „buchstäblich hin und hergerissen" 143 . Seine Ziele hatten sich nicht verändert. Er glaubte - oder gab doch vor, zu glauben, dass er sie auch von „einem anderen Boden aus" erreichen könnte 144 . Den Rundfunk betrachtete er als „volksbildnerische Möglichkeit" 145 . In Niedersachsen wurde es in seinen Augen immer unwahrscheinlicher, seine Pläne noch auszugestalten. Die Regierungskoalition in Niedersachsen drohte auseinanderzufallen und er fürchtete, über „kurz oder lang" das Ministerium ohnehin aus den Händen geben zu müssen146. Die wenig wahrscheinliche Aussicht, bei Finanzminister Georg Stickrodt 147 Kulturverständnis zu erwarten, verdarb ihm die Lust am Bleiben 148 . 1947 verfügte er im Parlament noch über eine gesicherte „Pro-mehrheit" 149 . Gegen seine Pläne begann sich aber eine mächtige Koalition aus den Reihen der C D U und der N L P zu erheben. Er wisse nicht, schrieb er, wozu er im Falle des Scheiterns seiner Reformen noch weiterarbeiten solle. Zum „bloßen Verwalten" habe er keine Lust 150 . Nach dem Scheitern der ersten, aus allen Parteien bestehende Regierung, trat am 9. Juni 1948 die zweite zusammen: eine Koalition aus SPD, C D U und dem Zentrum. Aus verschiedenen Gründen brachten die Konservativen keine Mehrheit rechts der Sozialdemokratie zustande. Nur

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Otto Hahn schrieb wohl nicht nur tröstend gemeint, der Wechsel sei ein „Verlust für die amtliche Kulturverwaltung von Niedersachsen und, ich füge hinzu, für Deutschland." Otto Hahn an Grimme, ohne Datum, Nl Grimme, Nr. 1652. Brief an Richard Borowski vom 16. Dezember 1948, Nl Grimme, Nr. 2931. Brief an Hermann Heimpel vom 27. November 1948, in: Sauberzweig (1967), S. 152. Zeitungsnotiz vom 24. November 1948, Nl Grimme, Nr. 325. Brief an Günther Rönnebeck vom 7. Oktober 1948, Nl Grimme, Nr. 3369. Georg Strickrodt (1902-1989), Jurist, war in der DDP aktiv (später Staatspartei), seit 1929 Regierungsassessor in Ostpreußen und Westfalen. 1936 wurde er aus politischen Gründen aus dem Staatsdienst entlassen. Strickrodt arbeitete in der Industrie und erlebte das Ende des Krieges als Leiter der Reichswerke-Gesellschaften, trat der C D U bei und wurde Minister für Wirtschaft des Landes Braunschweig und Niedersächsischer Finanzminister von 1946-1950. Brief an Günther Rönnebeck vom 1. Juni 1963, Nl Grimme Nr. 2309. Das Allparteienkabinett setzte sich zusammen aus SPD (43,4%), C D U (19,9%), N L P / D P (17,9%), FDP (8,8%), KPD (5,7%), Zentrum (4,1%). Brief an Ministerialdirektor Theodor Bäuerle vom 17. Februar 1947, Nl Grimme, Nr. 1261.

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missmutig traten sie dem Kabinett unter Ausschluss der Deutschen Partei bei151. Die C D U und das Zentrum konkurrierten um die katholische Wählerschaft. Dies führte zu einer anfälligen Koalition, die auf religiöse Angelegenheiten besonders empfindsam reagierte. In der Schulreform hatte man sich daher auf ein Stillhalteabkommen in Bekenntnisschulfragen geeinigt. Ministerpräsident Kopf stellte alle weiteren Schulpläne zurück. Nur mit den anderen Ländern gemeinsam wolle er sich auf weitere Schritte einlassen152. Der Kultusminister fühlte sich naturgemäß zurückgesetzt. In dem eigentlich recht herzlich angelegten Verhältnis zwischen Kopf und Grimme war dies nicht der einzige Missklang. Mascha Grimme lebte noch in Klein Machnow und ihr Mann machte keine Anstalten, sie nach Hannover zu bringen (später zog sie gleich ihm nach Hamburg). Erst im Mai 1947 sah er Berlin, nach fünf Jahren Abwesenheit, für einen kurzen Besuch wieder153. Die Postverbindungen zwischen den einzelnen Landesteilen, die bis in die letzten Kriegstage noch überraschend gut funktionierten, brachen nach dem Ende der Kampfhandlungen endgültig zusammen. Seine Ehe, die während der Haft nur noch schwach zusammengehalten hatte, neigte sich dem Ende zu. Das Haus in Klein Machnow ging verloren, denn die Sowjets schlugen den Bezirk ihrer Besatzungszone zu. Er zögerte, sich offiziell scheiden zu lassen, da er um seine „Ausstrahlungskraft" in der Öffentlichkeit bangte154. Im Herbst 1947 jedoch ließ sich der Schritt nicht länger aufschieben, denn eine „häusliche Kraftquelle" trat in sein Leben. Er kam, wie er tief zufrieden feststellte, nun „auch als Mann zur Ruhe"155. Das Glück trug den Namen Josefine Kopf, die eine „heftige und nach ihrer immer wiederholten Versicherung unüberwindliche Zuneigung" zu ihm fasste156. Die Frau des Ministerpräsidenten verliebte sich in den Kultusminister. Die geborene Baronesse Freiherrin Josefine von Behr hatte zwischen 1926 und 1929 als persönliche Sekretärin von Goebbels gearbeitet und auch 151

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Günter J. Trittel: Die „verzögerte Normalisierung". Zur Entwicklung des niedersächsischen Parteiensystems in der Nachkriegszeit, in: Bernd Ulrich Hucker (Hrsg.): Niedersächsische Geschichte, Göttingen 1997, S. 635 ff.; Arnold Fratzscher: Die C D U in Niedersachsen. Demokratie der ersten Stunde, Hannover 1971. Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Kopf in der Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 9. Juni 1948. Siehe Texte zur „Kalten Schulreform", Dok 20, in: Leski, Schulreformprogramme (wie Anm. 27), S. 118. Erst 1955 nahm Kopf die Pläne zur Schulreform zum Teil wieder auf. Heiko Messerschmidt: Hinrich Wilhelm Kopf und die niedersächsische SPD in der Nachkriegszeit, Magisterarbeit, Göttingen 2002, S. 89 ff. Brief an Wilhelm Gaede vom 19. Mai 1947, in: AdsD N1 Emst Hamburger 1/ EHAF000007. Brief an Lina Mayer-Kuhlenkampf vom Oktober 1947, Nl Grimme, Nr. 3331. Brief an Lina Mayer-Kuhlenkampf vom 23. Februar 1947, Nl Grimme, Nr. 3331. Landgericht Hannover vom 12. September 1947, HStaHann W P 6 Nl Kopf Nr. 8.

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an dessen Privatleben teilgenommen157. Nicht nur, dass sie die Ehefrau von Kopf war. Auch dass sie Goebbels, Göring und Hitler aus der Nähe kannte158, machte die Hochzeit zu einer Pikanterie ersten Ranges. In der Umgebung erwachten sofort „große Widerstände" 159 . Weniger von Kopf, der sich in sein Schicksal fügte, seine erste Frau zum zweiten Male heiratete und an Grimme schrieb: „Dir war ich Freund, Adolf, das möchte ich bleiben" 160 . Doch von der Presse und der Opposition drohten unausgesetzt Angriffe. Er stellte daher sein Amt als Niedersächsischer Staatsminister mit Ablauf des 14. November des laufenden Jahres zur Verfügung. Das Ausscheiden aus dem Kabinett falle um so schwerer, schrieb er, „als mich mit Ihnen persönlich freundschaftliche Beziehungen verknüpfen" 161 . Kopf erwiderte, er sehe ihn unter diesen Umständen „nur mit tiefstem Bedauern" aus dem Amt scheiden162. Das Mandat im Niedersächsischen Landtag legte der neue Generaldirektor nieder, „da es ihm in der neuen Stellung nicht mehr möglich sein wird, sich politisch zu betätigen." Doch mahnte er noch einmal, er werde nur auf einer „anderen Ebene dieselbe Aufgabe übernehmen, der ich von Niedersachsen aus gedient habe: dem kulturellen Wiederaufbau Gesamtdeutschlands" 163 . Die preußische und hannoversche zusammmengerechnet, kam er auf eine einzige vollständige Amtszeit. Unter diesen Umständen ist es erstaunlich, dass seine Jahre als Kultusminister so wohlmeinend beurteilt wurden. In Preußen hielt er sich nur zweieinhalb Jahre vom Januar 1930 bis in den Juli 1932. In der Hauptsache bestimmte die Abwehr der Nationalsozialisten und das Eindämmen studentischer Unruhen an den preußischen Universitäten diese Periode. In Hannover amtierte er von September 1945 bis in den Oktober 1948. Das erste Jahr dieser Ministerschaft konnte im Grunde von einer selbstständigen Kulturpolitik keine Rede sein. Vielmehr verwaltete er

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Elke Fröhlich (Hrsg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Aufzeichnungen 1923-1941, 14 Bde., München, 1997-2005. Josefine Grimme wechselte 1931 die Stelle und arbeitete für Walter Stennes, der als Hauptmann und Mitglied der „schwarzen Reichswehr" für die OSAF-Ost Aufgaben übernahm und nach dem „Stennes-Putsch" 1931 mit Hitler brach.

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Unter dem 16. Juni 1930 und dem 20. Juni 1931 erwähnt das Tagebuch Ausfahrten mit Görings. Josefine Grimme an Gerhard Kunze vom 28. Oktober 1954, N1 Grimme, Nr. 1984. Hinrich Kopf an Grimme und Josephine vom 13. Oktober 1947, Hannover, N1 Grimme Nr. 3440. Brief an Kopf vom 31. Oktober 1948, N1 Grimme, Nr. 3279. Kopf an Grimme (offizielles Schreiben) vom 15. November 1948, N1 Grimme, Nr. 3279. Brief an Karl Olfers (Präsidenten des Niedersächsischen Landtages) vom 31. Oktober 1948, N1 Grimme, Nr. 3279.

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den allgemeinen Mangel. In Preußen mag es ihm genutzt haben, mit seinem Vorgänger C. H. Becker zusammengesehen zu werden, der die Geschicke der preußischen Kultur beinahe zwölf Jahre maßgeblich beeinflusste und dessen Arbeit er nicht antastete. Zwar besetzte er einige Lehrstühle neu. Die Öffentlichkeit nahm davon aber kaum Notiz. Sein Bekenntnis zur Republik und zur Vernunft, sein Einsatz gegen die radikalen Parteien könnte vielen noch nach dem Kriege im Gedächtnis geblieben sein. Darin lag aber doch keine Kultuspolitik im eigentlichen Sinne. Die letzten Jahre des preußischen Ministeriums bestimmte die wirtschaftliche Not. Die preußischen Jahre können bei genauem Hinsehen unmöglich einen Ruf als hervorragenden Kulturpolitiker begründet haben. Dennoch eilte ihm dieser Ruf voraus, noch bevor er in Hannover eintraf. Das ist nur zu erklären, wenn die Hilfe der britischen Militärregierung bedacht wird, die ihn wegen seines Verhaltens im Dritten Reich als wertvollen Mitarbeiter betrachtete. Mussten die Zeitgenossen die Hannoveraner Epoche nicht als ein Scheitern an den Ansprüchen bewerten? Die Unterschiede in der Schulpolitik der Länder schliffen sich zwar auf lange Sicht ab (wenngleich sie beträchtlich blieben). Zu seiner Zeit trieben die einzelnen Länder weiter auseinander. Der Erfolg, die Mittelschule als Standard durchzusetzen, kam erst sehr viel später. Das Gymnasium blieb weiter bestehen und bildete nach wie vor den Höhepunkt einer Schülerlaufbahn. Die konfessionslose Schule, die er so gern eingeführt hätte, ist heute verbreitet, aber damals? Die Zeitgenossen konnten eigentlich nur wahrnehmen, dass er die zeitbedingten Aufgaben befriedigend, zum Teil hervorragend löste. Die „Selbsthilfe der Lehrerschaft" bildet ein gelungenes Beispiel. Die Schulen und Universitäten wiederzueröffnen und geeignetes Lehrpersonal herbeizuschaffen, war keine geringe Leistung. Und doch überließ er sein begonnenes Werk sich selbst und gab damit zu erkennen, dass er nicht damit rechnete, sein Weg würde fortgesetzt. Er glaubte zum Zeitpunkt seines Rücktritts nicht an den Bestand seiner Politik. Er sah, dass die Kultur weiterhin zugunsten anderer Politikfelder an den Rand geriet und vom Finanzministerium abhängig blieb. Er konnte nicht wissen, dass Englisch als erste Fremdsprache ein großer Erfolg würde. Ebenso wenig zeichnete sich ab, dass der Gedanke der vielfältigen Wechselmöglichkeiten zwischen den Schulformen nicht mehr aus der Welt verschwände. Diese Ergebnisse standen im Einvernehmen mit der preußischen Schultradition. Die Mittelschule, die Begabtenförderung, die Zugangsberechtigungen und die Einheitsschule, das Abendgymnasium und die Volkshochschule - wie die Reihe auch fortgesetzt wird, allenthalben finden sich Bezüge zu Ideen der preußischen Schulreformer. Auch das Kernstück der Beckerschen Reformen, die Pädagogischen Akademien, entwickelte er fort.

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Die gesamte Anlage seiner Arbeit war preußisch. Doch gibt es einen Unterschied: Die preußische Schulreform Richerts war fast gleichbedeutend mit einer Reform der höheren Anstalten, nicht des gesamten Schulwesens. Hier betrat der hannoversche Plan Neuland, indem er das gesamte Bildungssystem als eine einzige Volksschule betrachtete164. Ein Politiker zeichnet sich freilich nicht durch Pläne aus, sondern durch das, was er umsetzt. Das Versäumnis bestand darin, nicht alle Kräfte zusammenzuziehen und das Werk zu sichern. Der Leiter des Bildungspolitischen Ausschusses der SPD, Arno Hennig, schrieb zum Abschied: „ich habe von Dir als Kultusminister nicht viel gehabt, und auch Deine Mitarbeiter haben den Kulturreferenten durch übermäßiges Entgegenkommen nicht gerade verwöhnt" 165 . Man blickt auf ein Paradoxon: Auf einer Seite stand der Vorwurf an die Partei, keine nachhaltige Kulturpolitik zu betreiben. Gleichzeitig fühlte die kulturpolitische Abteilung sich von ihm zu wenig beachtet. Verbarg sich am Ende dahinter Absicht? Denkbar ist Folgendes: Er rechnete sich aus, eine Programmschrift aus seiner Feder würde sein intellektuelles Außenseiterdasein enthüllen und seine Position gefährden. Ein Politiker im eigentlichen Sinne war er ebenso wenig wie ein Programmatiker. Vielleicht lag darin ein weiterer Grund für den Rückzug aus der aktiven Politik. Wenn er jedoch glaubte, im Rundfunk dem Parteienkampf zu entkommen, täuschte er sich gründlich.

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Das Bildungsziel der Volksschule. Das neue Volk - Der neue Staat - Sieben Ansprachen, Berlin 1932, S. 21 ff., abgedruckt bei Julius Seiters: Adolf Grimme. Ein niedersächsischer Bildungspolitiker, Hannover 1990, S. 100 ff.

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A r n o Hennig an Grimme vom 12. November 1948, N1 Grimme, N r . 1702.

Zehntes Kapitel Generaldirektor des N W D R

1. Die Organisation Die Verwaltung des NWDR bestand aus drei Einheiten, die eine Richtung vorgeben konnten: dem Hauptausschuss dem Verwaltungsrat und der Generaldirektion. Bis zur Ernennung Grimmes zum Generaldirektor lag die Entscheidung bei den Briten. Vor dem Gesetz besaß der Hauptausschuss das größte Gewicht. Er genehmigte die Jahresendabrechnungen und die Haushaltspläne. Er besaß ferner das Recht, Mitglieder des Verwaltungsrates zu berufen und zu entlassen1. Der Verwaltungsrat wählte seinerseits den Generaldirektor und legte dessen Amtszeit fest. Der englische Generaldirektor Hugh Carleton Greene beabsichtigte, den Hauptausschuss aus den vier Regierungschefs der britischen Zone, den Rektoren der Universität Bonn, Göttingen, Kiel und Hamburg, dem Erzbischof von Köln und den Landesbischof von Hannover zusammenzustellen. Des Weiteren sollten die Vorsitzenden des Zeitungsverlegerverbandes, der Verleger- und Buchhändler-Vereinigung und des Gewerkschaftsbundes ein Stimmrecht erhalten. Die deutsche Seite protestierte gegen diesen Plan und erreichte, dass der Zonenbeirat die Mitglieder des Ausschusses bestimmte. An die Stelle der Universitätsrektoren traten die Kultusminister der Länder, während die Kirchen nicht Bischöfe, sondern lediglich Bevollmächtigte in den Hauptausschuss entsandten. Der Vorsitzende des Journalistenverbandes ersetzte den Vertreter der Zeitungsverleger, ein Theaterintendant den Repräsentanten der Verleger und Buchhändler und neben dem Präsidenten der Musikhochschule Köln wurde nun der Präsident des zentralen Justizamtes Mitglied des Hauptausschusses 2 . Dass statt der Universitätsrektoren die Kultusminister

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Rolf Geserick: Vom NWDR zum NDR. Der Hörfunk und seine Programme 19481980, in: Wolfram Köhler (Hrsg.): Der NDR. Zwischen Programm und Politik, Hannover 1991, S. 149 ff. (weiterhin zit.: Köhler, Programm u. Politik). Hans Bausch: Rundfunk in Deutschland, 3 Bd., Rundfunkpolitik nach 1945, München 1980, S. 57 (weiterhin zit.: Bausch, Rundfunk).

Die Organisation

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auftraten, ging direkt auf einen Vorschlag Grimmes zurück 3 . Bemerkenswert ist dabei, dass er Länder- und nicht Parteivertreter vorschlug. Unter bestimmten Umständen hätte ein deutliches Ubergewicht einer Partei entstehen können, denn mit einem entsprechenden Wahlergebnis konnte sich die Zahl der Ländervertreter, die an eine Partei gebunden waren, bis zur Alleinherrschaft erhöhen. Das verhängnisvolle Gleichgewicht, das schließlich im Verwaltungsrat zwischen Mitgliedern von C D U und SPD eintrat, war dagegen abgesprochen. Kleinere Parteien oder andere gesellschaftliche Einrichtungen besaßen keine Einflussmöglichkeiten. Die Hälfte der Mitglieder gehörte zugleich einer Landesregierung an, womit Greenes Ideal eines unabhängigen, von Staatsgewalt und Parteieinfluss befreiten Rundfunks" verloren war4. Warum er seine Macht als Vertreter der britischen Militärregierung nicht zugunsten dieses Ideals ausspielte, bleibt unklar. Im Ergebnis saßen vier Mitglieder der SPD und drei der C D U im Verwaltungsrat. Greene blieb Generaldirektor, betrachtete sich aber von nun ab als „unter die Aufsicht des Verwaltungsrates" gestellt5. Die Verordnung Nr. 118 vom 1. Januar 1948 legte die öffentlich-rechtliche Grundlage des N W D R . Die Anstalt erhielt damit volle Souveränität von der Besatzungsmacht und den Organen des deutschen Behördenwesens 6 . Die Dauer der Amtszeit eines Generaldirektors betrug zunächst vier Jahre. Eine Wiederwahl war möglich. Die folgende Legislaturperiode konnte länger als vier, höchstens aber zehn Jahre dauern7. In grundsätzlichen und finanziellen Angelegenheiten hatte die Generaldirektion die Zustimmung des Verwaltungsrates einzuholen. Trat der Verwaltungsrat mit eigenen Vorschlägen zur Gestalt des Programms hervor, hatte die Generaldirektion diesen Vorschlägen zu folgen. Der Verwaltungsrat konnte den Generaldirektor aus „wichtigen Gründen" vor Ablauf seiner Amtszeit kündigen. Der Verwaltungsrat war der „wesentliche Teil" des NWDR 8 . In der täglichen Arbeit des Rundfunks stellten sich die Befugnisse jedoch an-

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Dierk-Ludwig Schaaf: Politik und Proporz im N W D R - Rundfunkpolitik in Nordund Westdeutschland 1945-1955, Hamburg 1971, S. 33 (weiterhin zit.: Schaaf, Politik und Proporz). Bausch, Rundfunk (wie Anm. 2), S. 57. Hugh Carleton Greene: Entscheidung und Verantwortung, Hamburg 1970, S. 57 (weiterhin zit.: Greene, Entscheidung). Im ersten Artikel der Verordnung Nr.118 heißt es: „Eine Beaufsichtigung ihrer Tätigkeit nach den Vorschriften, betreffend die Aufsicht über öffentlich rechtliche Körperschaften durch Organe der Behörden des Staates, der Länder oder anderer Körperschaften, findet nicht statt". Folgende Zitate aus: §§ 9 , 1 0 und 16 der Verordnung 118. Hugh C. Greene in einer Schrift vom 9. Juli 1948, N1 Grimme, Nr. 608.

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Generaldirektor des N W D R

ders dar. Der Verwaltungsrat durfte keinem Angestellten des N W D R eine Arbeit anweisen9. Hierfür war allein der Generaldirektor zuständig. Er repräsentierte den N W D R nach innen und außen. In der alltäglichen Arbeit des Rundfunks erschien die Generaldirektion als der mächtigere Apparat.

2. Die Amtsübernahme Greene beabsichtigte, Nationalsozialisten und Kommunisten wenigstens von den Spitzenpositionen fernzuhalten. Der erste deutsche Intendant des Kölner Funkhauses, Max Burghardt, musste als Kommunist im März 1947 seinen Schreibtisch räumen10. Durch Karl Eduard von Schnitzler, den Greene von Köln nach Hamburg geholt hatte, und der sich überraschend in die Ostzone absetzte, fühlte er sich bestätigt11. Greene war überzeugt, dass an der Spitze des Rundfunks ein Mann von Charakter stehen müsse und befand, nachdem er andere Kandidaturen geprüft hatte, dass Grimme der richtige Mann für diesen Posten sei. In seiner Eigenschaft als Kultusminister saß er im Hauptausschuss des N W D R . Als im März 1948 der Hauptausschuss den ersten Verwaltungsrat wählte, bestimmte er ihn zum Vorsitzenden. In dieser Funktion arbeitete er mit Greene eng zusammen. Der Engländer schätzte vor allem die „Integrität" des Ministers 12 , der dann gleichwohl erst „überredet" werden musste, den Posten des Generaldirektors zu übernehmen13. Am 8. September 1948 wählte der Verwaltungsrat des N W D R in seiner fünften Sitzung Grimme einstimmig zum ersten deutschen Generaldirektor 14 . Eine Selbstverständlichkeit war das nicht. Unter den ersten fünf Vorschlägen, die Greene dem Verwaltungsrat vorlegte, fehlte der Name des Kultusministers. Greene hatte an den nach London emigrierten Schriftsteller Paul Marcuse gedacht, den westfälischen Zeitungsverleger Werner Jacobi,

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Beschluss des Verwaltungsrates vom 22. Januar 1950, der auf Grimmes Wunsch diesen Umstand ausdrücklich bestätigt. Bericht über die Sitzung vom 24. Januar 1950, N1 Grimme, N r . 608.

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Bausch, Rundfunk, S. 49. Wolfgang Jacobmeyer: Politischer Kommentar und Rundfunkpolitik. Zur

Ge-

schichte des N W D R , 1 9 4 5 - 1 9 5 1 , in: Winfried B. Lerg u. Rolf Steininger (Hrsg.): Rundfunk und Politik 1 9 2 3 - 7 3 . Beiträge zur Rundfunkforschung, Berlin

1975,

S. 3 1 1 - 3 3 9 und H o r s t O . Halefeld: Die Knolle allen Übels, Mitteilungen StRuG 2 (1977), S. 6 - 9 (mit einer Stellungnahme von Hugh Carleton Greene). 12

Greene, Entscheidung (wie Anm. 5), S. 57.

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Siehe den Abschnitt des vorangehenden Kapitels „Der Ausstieg".

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Bausch, Rundfunk (wie Anm. 2), S. 15.

Die Amtsübernahme

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den Vizepräsidenten der Landeszentralbank von Nordrhein-Westfalen, Erich Leist, den Intendanten des Kölner Funkhauses, Hanns Hartmann und an Schütz, den Programmdirektor des N W D R . Im Gespräch waren auch der 1933 entlassene Geschäftsführer und Direktor der Reichsrundfunkgesellschaft, Kurt Magnus und der Chefredakteur der „Welt", Curt Bley 15 . Vermutlich kam Greene erst auf den Kultusminister, als er die Undurchsetzbarkeit seiner Kandidaten erkannte. Die Wahl des ersten deutschen Generaldirektors war ein politisches Ereignis ersten Ranges. Alle Parteien versuchten, einen Kandidaten ihrer Farbe durchzubringen. Die SPD hatte im März 1948 den Intendanten des Kölner N W D R Senders, Hanns Hartmann, vorgeschlagen, der auch auf Greenes Liste stand. Der ehemalige Intendant des Stadttheaters von Chemnitz sei ein Mann von Kultur, auf den jederzeit Verlass sei. Zwar sei Hartmann kein SPD-Mitglied, dafür aber ein „unerbittlicher Gegner aller Parteien, die rechts von uns stehen" und durch persönliche Erfahrungen mit allen Parteien „links von uns nicht zu versöhnen", schrieb der Parteivorstand16. Die Sozialdemokraten konnten zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wissen, dass der Kultusminister Niedersachsens für eine Kandidatur zur Verfügung stand. Am 15. November 1948 übergab Greene seinem Nachfolger das Amt und verließ Deutschland vier Tage später. Greene gab ihm in seiner Abschiedsrede die Worte mit auf den Weg, er vertraue fest darauf, dass der Generaldirektor und die Mitglieder des gegenwärtigen Verwaltungsrates die Uberparteilichkeit des N W D R zu wahren wüssten17. Grimme erklärte in seiner Antwort, den Rundfunk zu einem überparteilichen Organ von anspruchsvollem Inhalt zu machen. Der „Wille zum Niveau" werde „nicht stets den Majoritätsgeschmack auf seiner Seite haben", der Rundfunk dürfe aber nicht der „verführerischen Jagd nach Popularität verfallen. Wer gewillt ist, das Beste im Menschen anzusprechen, muss nun einmal zugleich den Mut zur Unpopularität besitzen." Der Rundfunk sei ein Instrument des „ganzen Volkes", in allen Schichten und allen Gruppen. Religiöse und politische Richtungen sollten gleichermaßen zu Wort kommen. Die Aufgabe sei, das Volk zu formen und damit das öffentliche Leben zu gestalten18. Die Fachwelt stimmte lange darin überein, dass Grimme als Generaldirektor versagt habe. Der 15. November 1948, der Tag an dem er die Geschäfte von Hugh Greene übernahm, sei das Datum der Wende zum

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Schaaf, Politik und Proporz, S. 37. Guntram Prüfer an Grimme vom 22. März 1948, N1 Grimme, Nr. 605. Abschiedsrede von Greene zitiert nach Bausch, Rundfunk (wie Anm. 2), S. 61. Antrittsrede Grimmes, gehalten am 25. November 1948. Auszüge in AdsD, Personalia Grimme.

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Generaldirektor des N W D R

Schlechteren gewesen, schrieb etwa Rolf Geserick und übernahm mit der nötigen Vorsicht das Urteil: Dem „verdienten preußischen Beamten und sozialdemokratischen Kulturpolitiker sei das Medium Rundfunk bis zum Ende seiner Amtszeit fremd geblieben" 19 . Ein solches Urteil ist zu allgemein, um richtig zu sein20. Kenntnisse von der Arbeit des Rundfunks besaß Grimme schon vor 1933. Als Preußischer Kultusminister hatte er verschiedene Aufsichtsfunktionen ausgeübt21. Unter anderem hielt er die oberste Instanz des deutschen Langwellensenders in Königswusterhausen, der damals den Namen „Deutsche Welle" trug22. Als zeitweiliger Vorsitzender des „Sozialistischen Kulturbundes" organisierte er kurz vor Weihnachten 1932 die Proteste gegen die Rundfunkpolitik Papens. Mit den politischen Möglichkeiten einer Rundfunkpropaganda hatte er sich also verhältnismäßig früh auseinandergesetzt. Nach dem Krieg und der nationalsozialistischen Propaganda haftete dem Rundfunk eine schwere Erblast an. Für die kommenden Aufgaben gab es kein Beispiel. Klaus-Peter Schulz meinte, selten sei jemand mit so viel „Hoffnungen, Sehnsüchten, um nicht zu sagen, mit so kritikloser Begeisterung begrüßt worden wie Adolf Grimme von allen Verantwortlichen des N W D R mit deren gesamten Stab" 23 . Leider habe sich bald herausgestellt, dass er sich völlig überfordert in meist unerklärlichen Widersprüchen seines Verhaltens und seiner Maßnahmen verloren habe. Zwar sei er frei von Heimtücke oder Täuschungsabsichten gewesen, es müsse ihm aber „totales Unvermögen" bescheinigt werden, selbst wenn er ein „noch so hoher und erfahrener Ministerialbürokrat" gewesen sei. Grimme habe das „geistige Leben" des N W D R restlos und unwiederbringlich zerstört. Die eigentlich gestaltenden Kräfte seien durch „teilweise chaotische, teilweise brutale, teilweise hinterhältige Maßnahmen in alle Winde zersprengt". Er habe das Amt des Gene-

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Rolf Geserick, in: Köhler, Programm u. Politik (wie Anm. 1), S. 152. Bausch, Rundfunk (wie Anm. 2), S. 440. Für einen raschen Überblick eignet sich: Walter Forst: Rundfunk, in: Kurt G. A. Jeserich, Deutsche Verwaltungsgeschichte (wie Kap. 9, Anm. 43), S. 474 ff.; Winfried B. Lerg: Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland. Beiträge zur Geschichte des deutschen Rundfunks, hrsg. von der Historischen Kommission der ARD, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1970; Rudolf Lang Rundfunkgeschichte. Ein Literaturverzeichnis. Köln 1989; Heinz-Günther Deister: Fenster zur Welt. 50 Jahre Rundfunk in Norddeutschland, Hamburg 1973. Bausch, Rundfunk, S. 394 und S. 399. H. F. G. Starke, Intendant des Deutschlandfunks, am 27. August 1963 im Deutschlandfunk. Notiz, N1 Grimme, Nr. 3314. Folgende Zitate aus: Klaus-Peter Schulz: Authentische Spuren. Begegnungen mit Personen der Zeitgeschichte, Boppard am Rhein 1993, darin: Adolf Grimme. Demontage einer Legende, S. 241 ff.

Die Generaldirektion

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raldirektors vollkommen missverstanden, indem er nach „sturen Regeln regierte", wo er hätte „inspirieren" müssen. Schaffenskraft und Geist ließen sich nun einmal nicht verwalten und reglementieren." Zwischen den hohen Erwartungen und den überwiegend negativen Urteilen besteht ein Zusammenhang. Zu wenig wird beachtet, was er bei seinem Amtsantritt vorfand: eine ungeordnete Institution, in der Tür und Tor offenstanden für Hintergänge und Selbstbereicherung. Wer die Amtsführung gerechter bewerten will, muss sie in drei Felder teilen: die Verwaltung, das Programm und die Personalpolitik. Bei Amtsübergabe nicht abzusehen war der Grad des Politischen in seiner Arbeit. Er deutete sich an, als der Hamburger Bürgermeister, Max Brauer, Greenes Forderung nach Überparteilichkeit mit den Worten kommentierte: „Es wird Ihnen nicht gelingen, Mr. Greene. Es wird Ihnen nicht gelingen"24.

3. Die Generaldirektion Von kritikloser Begeisterung konnte bei Amtsübernahme keine Rede sein. Auf beiden Seiten belasteten Vorurteile das Verhältnis zwischen Grimme und der Belegschaft. Er sei „auf sich allein gestellt", befand der Generaldirektor, und müsse erst Mitarbeiter seines Vertrauens finden25. So wie er in Hannover seinen Personalbestand aus dem ehemaligen preußischen Kultusministerium zusammengesetzt hatte, zog er nun aus diesem Stamm bewährte Mitarbeiter zum N W D R . Sein leidgeprüfter Mitarbeiter Wende beschwerte sich über einen „Schlag, den Sie, Ihren eigenen Fortgang eingerechnet, gegen das Niedersächsische Kultusministerium geführt haben". Der Fortgang von Hubrich eigne sich „in Verbindung mit den Plänen Zierolds, auch dem abgehärtetsten Staatssekretär das Gruseln beizubringen26. Die Verstimmung Wendes fand Grimme begreiflich, klagte ihm jedoch, dass er den N W D R ohne sofortige Hilfe weder „organisatorisch noch nach der etatlichen Seite hin" so führen könne, wie es erwartet werde. Er brauche eine entsprechende Kraft unter allen Umständen sofort, weil nicht nur die Vorbereitung des Etats 1949 drängt, für deren ordnungsmä-

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Interview mit Sir Hugh Carlton Greene, N D R II, „Kurier am Morgen" vom 7. Dezember 1977. Manuskript, StaHH, NDR, Nr. 1258. Zitiert nach einem Resümee Grimmes über den N W D R , N1 Grimme, Nr. 895. Eine Studie über die Struktur und Wirkung der Generaldirektion existiert noch nicht und kann hier aufgrund des großen Aufwandes, den ein solcher Beitrag bedeuten würde, nicht geleistet werden. Wende an Grimme vom 17. Januar 1949, Hannover, HStaHann Nds. 400 acc. 121/81, Nr. 456.

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Generaldirektor des N W D R

ßige Durchführung ich schlechterdings hier im Hause niemand auftreiben kann, sondern weil auch noch der Restetat seit dem Währungsschnitt aufgestellt werden muss." Wende solle sich vorstellen, dass im N W D R bisher „ohne jeden genehmigten Etat gearbeitet worden" sei27. Im engsten Umfeld arbeitete 1951 sein Stellvertreter und Erster Direktor Franz Schmidt 28 , dem er als besonderes Aufgabenfeld das „finanzielle Uberprüfen des Fernsehens" übertrug29. An Schmidt adressierten die Intendanten der einzelnen Funkhäuser ihre Tätigkeitsberichte, die Grimme einführte. Werner Nestel 30 als Technischer Direktor und Leiter der Zentraltechnik, Hans Brack 31 als Justiziar, der Programmdirektor Werner Pleister32, sowie der Finanzdirektor Georg Hubrich nahmen neben Schmidt an den „Chefbesprechungen" teil33. Pleister betreute als Programmdirektor die Position „Fernsehen und Fernsehversuche", die seit dem Frühjahr 1949 das Abteil „Planung und Ausbildung" ersetzte34. Fast alle Vorgänge gingen über den Schreibtisch des persönlichen Referenten des Generaldirektors: Friedrich Wenzlau. Bis auf den Finanzdirektor Hubrich waren sämtliche Direktoren mehr als zehn Jahre jünger als er selbst. Der Jurist Hans Brack, das jüngste Mitglied der Generaldirektion, war vierzig Jahre alt. Auf noch Jüngere griff der Generaldirektor nicht zurück. Alle entstammten der öffentlichen Verwaltung. Wenzlau und Pleister wechselten aus dem Niedersächsischen Kultusministerium nach Hamburg, Schmidt hatte als Kommunalbeamter in Dortmund und als Oberstadtdirektor in Bochum sein Handwerk erlernt. Eine Ausnahme bildete Nestel, der bei „Telefunken" für den Großsenderbau zuständig war, bevor er beim N W D R die Arbeit aufnahm35. Die Generaldirektion stockte ihren Finanzbedarf von Jahr zu Jahr auf. Allein zwischen 1951 und 1952 stiegen die ausgegebenen Mittel um sech-

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Brief an Wende vom 15. Januar 1949, HStaHann, Nds. 400 acc. 121/81, Nr. 456. Franz Schmidt (1899-1973), 1951 stellvertretender Vorsitzender des Verwaltungsrates. Siehe den achten Abschnitt dieses Kapitels Protokoll der Chefbesprechung vom 19. Oktober 1951, StaHH, NDR, Nr. 1302. Werner Nestel (1904-1974) war 1937-1946 Abteilungsleiter und Prokurist bei Telefunken, 1951 Honorarprofessor an der T U Hannover, ab 1956 dann Vorstandsmitglied für Forschung und Entwicklung bei der Telefunken. Hans Brack (1907-1977) war Jurist und Kaufmann. Nach dem Studium war er in der Reichsfinanzverwaltung tätig und stieg dort zum Ministerialrat auf. Nach 1956 war er Verwaltungsdirektor und Justiziar des W D R und Honorarprofessor in Köln, ferner Hauptgeschäftsführer des Westdeutschen Werbefernsehens GmbH. Werner Pleister, siehe biografische Angaben im neunten Kapitel. Georg Hubrich (1890-?), siehe biografische Angaben im neunten Kapitel. Besprechung beim Generaldirektor am 4. März 1949, StaHH, NDR, Nr. 1290. Über das Vorleben von Georg Hubrich ist bisher nichts bekannt.

Die Generaldirektion

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zehn Prozent 36 . Die Personalstärke erhöhte sich bis 1952 auf mindestens 183 Mitarbeiter 37 . Die Generaldirektion setzte sich aus sechs Hauptabteilungen zusammen. Neben dem Generaldirektor nahm dessen Stellvertreter und die Direktoren der Abteilungen Technik, Finanzen, Programm und Justiz an den Sitzungen teil. Das Hauptstadtstudio des N W D R in Bonn und die Nachrichten-Hauptredaktion unterstanden dem Generaldirektor direkt, ebenso die Intendanten der Funkhäuser. Alle anderen Zuständigkeiten delegierte Grimme über die Schreibtische eines Direktors der jeweiligen Hauptabteilungen. Zu den übergeordneten Aufgaben zählten Programmfragen, Verwaltungsangelegenheiten und eine Pressestelle. Die mit Abstand größte Zahl von Mitarbeitern befasste sich mit Verwaltungsaufgaben, die insgesamt neun Gebiete umschlossen. Für das Personal der Generaldirektion bestand eine eigene Einheit. Die Abteilung Verwaltung war untergliedert in ein zentrales Baubüro, ein Haushaltsbüro, eine Hauptbuchhaltung, den Zentraleinkauf, eine Liegenschaftsverwaltung, einen Reisedienst und den mit einer Person vertretenen Betriebsrat 38 . Alle Fragen von grundsätzlicher Bedeutung klärte im Zweifelsfall die Generaldirektion. Sie erließ Richtlinien, kontrollierte sie und bestimmte die Personalpolitik. Seit Februar 1949 überprüften britische Kontrolloffiziere zusammen mit den Intendanten die politische Eignung der Mitarbeiter. Grimme selbst wolle über jeden Fall unterrichtet werden und jene Vorgänge an sich ziehen, in denen der Kontrolloffizier und der Intendant nicht übereinstimmten39.

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Bericht des Prälaten Marschall über Etatfragen der Generaldirektion. Protokoll der 15. Sitzg. des Hauptausschusses vom 10. März 1951 in Hamburg, N1 Grimme, Nr. 896. Stellungnahme des N W D R zu den Prüfungsfeststellungen in der Niederschrift des Bundesrechnungshofes über die Ergebnisse der Prüfung der Abrechnung des N W D R für die Zeit vom 1. April 1949 bis zum 31. März 1952, in: StaHH, NDR, Nr. 256. Siehe auch die Personalbögen der Generaldirektion, StaHH, NDR, Nr. 458 und Nr. 861. Stellungnahme des N W D R zu den Prüfungsfeststellungen in der Niederschrift des Bundesrechnungshofes über die Ergebnisse der Prüfung der Abrechnung des N W D R für die Zeit vom 1. April 1949 bis zum 31. März 1952, StaHH, NDR, Nr. 256. Besprechung beim Generaldirektor vom 25. Februar 1949, StaHH, NDR, Nr. 1290. Die letzten Kontrolloffiziere wurden im Herbst 1948 abgezogen. Die Briten behielten sich ein Einspruchsrecht vor, ohne jedoch davon Gebrauch zu machen. Die Einflussnahme ging über beratende Gespräche mit dem Generaldirektor nicht mehr hinaus. In der abgeänderten Fassung der Verordnung Nr. 118 vom 6. August 1949 fiel die Bestätigungsklausel weg. Siehe hierzu Rüden und Wagner, Geschichte (wie Einleitung Anm. 24), S. 73.

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Generaldirektor des NWDR

Es mag sein, dass der NWDR wie ein Ministerium geführt wurde, wie Rüdiger Steinmetz anlässlich der hundertsten Wiederkehr des Geburtstages von Grimme behauptete40. Nur was bedeutet eine solche Aussage? Sie erweckt das Bild einer trägen Anstalt, die mit festen Arbeitsvorschriften und Vorgangsnummern die Freiheit der Mitarbeiter einschränkt und dem Erfindungsreichtum Grenzen setzt. Gewiss kann ein Apparat sich ab einer bestimmten Größe zu einem in sich selbst verstrickten Organismus entwickeln. Nur ist die Behörde in ihrer Ursprungsidee der Versuch, durch bestimmte Regeln von der begabten Einzelperson unabhängig zu werden. Eine Institution wie der NWDR war ohne Regeln nicht zu führen. Dies gab auch Peter von Zahn zu, der sonst überliefert, den Männern der ersten Stunde sei es vorgekommen, als ziehe mit Grimme eine „wuchernde Bürokratie" ein. Der Charme des NWDR habe in der „majestätischen Gleichgültigkeit bestanden gegenüber den eingefahrenen Gleisen und Richtlinien der Verwaltung"41. Offenbar bestand im NWDR kein Verständnis dafür, gegen diese Gleichgültigkeit anzugehen, weshalb der neue Generaldirektor in seine unmittelbare Umgebung fast ausschließlich Personal aus der öffentlichen Verwaltung setzte. Die besondere Aufmerksamkeit, die er der Rundfunkschule zuteilwerden ließ, spricht ebenfalls dafür, dass er sich nicht auf die zufällige Könnerschaft Einzelner verlassen wollte. Wer freilich den Aufstieg seiner Mitarbeiter durch rundfunkfremdes Personal blockiert, nimmt eine Reformresistenz der ganzen Anstalt in Kauf. Doch die Zeit drängte, ihm blieb kaum eine Wahl. In der Öffentlichkeit erschien der Generaldirektor des NWDR als Verantwortlicher für das Radio- und Fernsehprogramm. Dies war nicht richtig. Das Programm verantwortete nicht er, sondern die Intendanten der einzelnen Funkhäuser, denen er freie Hand ließ. Die Generaldirektion unterhielt ein Außenreferat und erforschte die Hörermeinung, unterstützte also die Programmgestalt indirekt durch Rückfragen beim Publikum. Doch kein Mitarbeiter der Direktion erstellte Inhalte. Der Programmdirektor der Generaldirektion referierte lediglich über betreffende Angelegenheiten. Er habe, schrieb der Amtsinhaber Alexander Maass 1951, „keinen Einfluss auf die Programme der einzelnen Häuser des NWDR und ebenso wenig auf die personelle Frage"42. Die Durchführung des Programms liege bei den einzelnen Häusern Hamburg, Köln und Berlin43.

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Rüdiger Steinmetz: Im Dienst des Ganzen, Medium 4 (1989), S. 46, zitiert nach Geserick, Vom NWDR zum NDR (wie Anm. 1), S. 152. Peter von Zahn: Stimme der ersten Stunde. Erinnerungen 1913-1951, Stuttgart 1991, S. 345. Alexander Maass an Heinz Bartmann vom 30. Oktober 1950, StaHH, NDR, Nr. 505. Alexander Maass an Käthe Arndt vom 14. Mai 1951, StaHH, NDR, Nr. 505.

Die Generaldirektion

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Eines der wenigen Zeugnisse dafür, dass Grimme überhaupt in die Programmgestalt eingriff, lag kennzeichnenderweise bei den Schulfunksendungen. Er beabsichtige, die Sendungen auszuweiten und erbat von der Nordrhein-Westfälischen Kultusministerin Christine Teusch Personalvorschläge, um den Plan zu verwirklichen44. Der Schulfunk unterstützte die Arbeit der Lehrer seit die Briten „Radio Hamburg" übernommen hatten45. Trotz dieses Beispiels ist festzustellen: Kulturpolitik betrieb die Generaldirektion nicht. Es kann keine Rede davon sein, Grimme habe seine Ideen nunmehr vom Rundfunk aus vorangebracht. Die Zuständigkeit für inhaltliche Fragen gab er vielmehr an andere Stellen ab. Der Zuschnitt der Generaldirektion spricht eher dafür, dass er in der Kontrolle der Politik die Hauptaufgabe sah. Das einzige von der Generaldirektion verantwortete Programm waren die Nachrichten. Daneben befassten sich ihre Mitglieder mit den Finanzen, der Justiz und den Anliegen der einzelnen Länder. Nicht zuletzt koordinierte sie das Erforschen neuer Techniken. Da der N W D R als größte Sendeanstalt der Westzonen über die weitreichendsten finanziellen Möglichkeiten verfügte, übernahm er wichtige Forschungsarbeiten wie etwa zur Fernsehtechnik fast im Alleingang46. Es ist wahr: Grimme erscheint in der Hauptsache als Verwaltungsmann. Doch wäre eine andere Amtsführung kaum möglich gewesen. Vom ersten Tag an sah er sich der Aufgabe ausgesetzt, den Zerfall der Anstalt zu verhindern. Die Länderparlamente konnten sich nur schwer damit abfinden, dass der N W D R länderübergreifend sendete. Hätte er sein Amt politischer ausgeübt, als er es tat, wären der Druck nicht zu ertragen gewesen. Das oben erwähnte Außenreferat, von wo aus die Programminhalte bei Bedarf verteidigt wurden, hielt wichtige Kontakte zu Regierungskreisen, den Parteien und führte Verhandlungen für die Generaldirektion. Der Leiter des Außenreferates, Walter D. Schultz, unterhielt ferner Verbindungen zu anderen Sendeanstalten der A R D und des Auslandes, vor allem zur BBC. Er vertrat die Interessen des N W D R , wenn Gesetze vorbereitet wurden, die den Rundfunk betrafen, organisierte den Programmaustausch und war An-

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Brief an Christine Teusch vom 6. Dezember 1950, StaHH, NDR, Nr. 1503. Arnulf Kutsch: Unter britischer Kontrolle. Der Zonensender 1945-1948, in: Köhler, Programm u. Politik (wie Anm. 1), S. 91. Der Verwaltungsrat beauftragte die Generaldirektion noch 1955, die Forschungen im Interesse des Rundfunks weiterzuführen, bis das Ziel eines gemeinsamen Instituts der Rundfunkanstalten der BRD für diese Aufgabe erreicht sei. Protokoll der 84. Sitzg. des Verwaltungsrates des N W D R vom 25. Juni 1955 in Eutin, N1 Grimme, Nr. 909.

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Generaldirektor des N W D R

Sprechpartner für ausländische Anfragen verschiedenster Art 47 . Die Rundfunkreferenten der Parteien richteten ihre Programmkritik zumeist an Schultz, was für Grimme entlastend war. Uber das Außenreferat rechtfertigte die Generaldirektion das Programm, auf das sie keinen Einfluss nahm. Die Produktion verantworteten die Intendanten. Nur auf lange Sicht versuchte Grimme die Programmgestalt zu bestimmen, indem er die Zuständigkeit für die Rundfunkschule an sich zog, also den Nachwuchs ausbildete und mit Alexander Maass einen seiner engsten Mitarbeiter mit der Leitung der Schule beauftragte.

4. Der Anfang vom Ende Das Sendegebiet des N W D R erstreckte sich über Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Berlin. Jedes Land verfügte über eine eigene von einem Intendanten geleitete Sendestation. Die Intendanten unterstanden direkt der Generaldirektion. In Köln und Hamburg lagen die logistischen Zentren. Die Verordnung Nr. 118 der Militärregierung hatte als Standort der Leitung Hamburg genannt. Der Verwaltungsrat erhielt die Möglichkeit, auf Antrag des Generaldirektors einen anderen Hauptsitz zu bestimmen48, und die bevorzugte Position Hamburgs weckte allenthalben politische Begehrlichkeiten. Berlin besaß eine vergleichsweise Vielfalt von Sendern, da jede Besatzungsmacht ihr eigenes Programm herstellte. Nachdem ein ursprünglich ins Auge gefasstes gemeinsames Programm an sowjetischem Widerstand gescheitert war, herrschte eine Art Funkwettkampf um die Hörergunst. Berliner Politiker forderten einen neutralen, eigenen Sender. Dass der N W D R diese Aufgabe von Hamburg aus übernehmen wollte, entsprach nicht dem politischen Selbstbewusstsein der Berliner. Wenn die Generaldirektion in die Stadt verlegt werde, so der Rundfunkbeauftragte des Senats, sei ein eigener Sender nicht nötig. Berlin sei aber nicht der Ort für „kulturelle Filialen", wie ein Bildungsexperte der C D U hinzufügte49. Ähnlich argumentierten die Regierenden Nordrhein-Westfalens. Das bevölkerungs47

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So etwa die Bitte, Rundfunkempfänger für deutsche Schulen im Ausland bereitzustellen, StaHH, NDR, Nr. 1320. Zu Walter D. Schultz (1910-1964) und dem Außenreferat des N W D R siehe Hans Ulrich Wagner in: Hamburgische Biographien, herausgegeben von Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke, Hamburg 2003. Das Außenreferat war von Greene eigens für Schultz geschaffen worden. Greene überzeugte den Emigranten im Februar 1948, aus London nach Deutschland zurück zu kehren. Der Sozialdemokrat Schultz übernahm das Außenreferat im Mai 1948. Bausch, Rundfunk (wie Anm. 2), S. 63. Ebd., S. 190.

Der Anfang vom Ende

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reichste Bundesland fühlte sich zu einem eigenen Sender berechtigt, zumindest aber als das natürliche Zentrum des Sendegebietes. Bremen bot einen Sonderfall, da die Stadt zur amerikanischen Besatzungszone gehörte und deshalb über einen eigenen Sender verfügte. Da die Beiträge der Bremer Hörerschaft für ein solides finanzielles Fundament nicht ausreichten, wurde er an das Finanzsystem des N W D R angeschlossen, was zu jahrelangem Streit der beiden Anstalten führte. Der empfindlichste Bereich des Programms lag im politischen Nachrichtenwesen. Misstrauisch blickten die politisch Verantwortlichen der nordrhein-westfälischen, aber auch der Bundesregierung auf den norddeutschen Sender. Die Adenauer-Regierung fühlte sich ebenso wie die Landesregierung des CDU-Ministerpräsidenten Karl Arnold unter sozialdemokratische Presseaufsicht gestellt. Grimme konnte mit keinem Zugeständnis das Misstrauen mildern und das Bestreben nach einem eigenen Sender aufhalten, das seit der Wiederaufnahme des Kölner Sendebetriebes im September 1946 immer neue Blüten trieb. Am 1. Dezember 1949 schloss er ein Abkommen mit Arnold, nach dem die Interessen des Landes ausreichend beachtet würden. Anlässlich der Düsseldorfer Funkausstellung forderte Arnold im August 1950 für sein Land trotzdem eine eigene Sendeanstalt. Der N W D R drohte auseinanderzufallen, seit die Briten ihn in deutsche Verantwortlichkeit übergeben hatten. Hinter den separatistischen Tendenzen verbargen sich nicht zuletzt finanzielle Gründe. Durch die Hörergelder galt der N W D R als gut ausgestattetes Unternehmen. Die Anstalt hatte sich bereits verpflichtet, einen Teil der Einnahmen in einen „Kulturfond der Länder" einzuzahlen und auf diese Weise die Kultuspolitik der Länder mitfinanziert. Zwar bedeutete jeder neue Sender zusätzliche Verwaltungskosten, da organisatorische Einheiten sich vervielfachten. Die verantwortlichen Politiker meinten gleichwohl, ein landeseigener Sender trüge zu einem wirtschaftlichen Aufschwung im Land bei. U m die Einheit des Senders zu erhalten, kämpfte Grimme ein verzweifeltes, am Ende nicht zu gewinnendes Gefecht. Die Geschichte bestimmte ihn zum ersten und zugleich letzten deutschen Generaldirektor. Die Hörerschaft besaß keinen direkten Einfluss auf die Programme. Indirekt konnten sie auf dreierlei Weise einwirken: Erstens erforschte der N W D R die Hörermeinung und berücksichtigte sie. Zweitens meldeten sich die Politiker der verschiedenen Parlamente zu Wort und drittens besaßen alle Tageszeitungen eine Medienrubrik, ganz zu schweigen von den speziellen Programmzeitschriften. So geriet Grimme ohne ausreichenden Rückhalt in ein Kreuzfeuer der Kritik. Nach seinem Empfinden standen ihm die meisten der Mitarbeiter abwartend und, wie sich bald herausstellte, ablehnend gegenüber. Zwangsläufig musste er die Spielräume vieler Mitarbeiter beschneiden und Reglements einführen. „Infolgedessen war die Ein-

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Stellung zu mir: Wir brauchen ihn nicht, sondern er braucht uns. Wir bringen von uns aus nichts an ihn heran. Er mag aus uns herausholen, was er will" - so stieß er „lange Zeit auf viele Dinge, die sich in der Folgezeit als durchaus gravierend herausstellten, nur durch Zufall" 50 .

5. Ein Griff nach der Generaldirektion Als bekannt wurde, dass Herbert Blank in Hamburg Intendant würde, stiegen aus allen Richtungen Gerüchte auf, er sei ein Anhänger Otto Strassers gewesen und habe in dessen Verlag Schriften nationalsozialistischer Ideologie veröffentlicht 51 . Der Betriebsrat berief eine Versammlung ein, auf der Eberhard Schütz 52 , den Grimme im Februar 1949 vom Intendanten des Hamburger Hauses zum Programmchef herabgestuft hatte53, von Abhöranlagen im N W D R sprach und die Generaldirektion der Spitzelei beschuldigte54. Wegen „illoyalen Verhaltens" erhielt er eine fristlose Kündigung. Trotz der Proteste hielt Grimme zunächst an Blank fest. Der Beschluss der Betriebsversammlung sei für seine Maßnahmen nicht „rechtsbindend" 55 . Gleichzeitig verhandelte er mit Walter Dirks über dessen Bereitschaft zur Übernahme der Intendanz. Als Mitherausgeber der „Frankfurter Hefte", durfte er Zuspruch erwarten, war als Ersatzmann jedoch nicht leicht durchzusetzen. Vor der Wahl Blanks wären seine Chancen größer gewesen. Unter den gegebenen Umständen sagte er verständlicherweise ab. Der Intendant müsse „praktisch in alle Richtungen kämpfen". Es sei ein „Kampf mit dem Dämon", dessen Verlauf nicht abzusehen sei. Der Intendant müsse „das Herz in beide Hände nehmen und ein Stoßgebet auf den Lippen, in den Kampf stürzen. Das kann er nicht, wenn er zugleich andere wesentliche Pflichten hat" 56 .

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Resümee Grimmes vom 5. September 1950, Nl Grimme, Nr. 895. Schaaf, Politik und Proporz, S. 59. Eberhard Schütz studierte Jura in Deutschland, emigrierte nach Frankreich, in die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und schließlich nach England. Mitarbeiter des „German Service" der BBC, am 1. September 1946 von Greene zum Programmdirektor berufen. Schaaf, Politik und Proporz, S. 59. Die Personalangelegenheit Schütz wurde auf der Verwaltungsratssitzung vom 26. Juni 1949 besprochen. Notiz in StaHH, NDR, Nr. 1290. Schütz war schon unter Greene Programmleiter und wenige Monate des Jahres 1949 Intendant des Hamburger Hauses. Der „Spiegel" vom 26. Mai 1949, S. 5. Schaaf, Politik und Proporz, S. 61. "Walter Dirks an Grimme vom 25. Mai 1949, Nl Grimme, Nr. 1419.

Ein Griff nach der Generaldirektion

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Weshalb Grimme ihn nicht früher berücksichtigte, ist erklärungsbedürftig. Die britischen Verantwortlichen hatten überwiegend junge, politisch unbelastete Männer angestellt, deren Auftrag lautete, die Bevölkerung zu demokratisieren, die Politik zu überwachen und einen Wiederaufstieg des Nationalsozialismus zu verhindern. Dieser Auftrag war innerhalb der Belegschaft bei Amtsantritt verinnerlicht. Die Mitarbeiter verfügten über ein Selbstverständnis, dem die Entwicklung zuwiderlief: Deutsche Politiker, die vom Rundfunk eigentlich kontrolliert werden sollten, setzten einen der ihren als Generaldirektor ein, der wiederum einen ehemaligen Nationalsozialisten zum Intendanten beförderte. Ihre Vorurteile gegen den „Parteipolitiker" schienen sich zu bestätigen. Der hielt dagegen, die Belegschaft repräsentiere die Bevölkerung und ehemalige Nationalsozialisten müssten eingebunden werden. Doch gab es weitere Gründe: Innerhalb eines Monats den zweiten Intendanten abzusetzen, erschien nicht ratsam. Ferner glaubte er, auf die Mitarbeit Blanks für die Reorganisation des N W D R nicht verzichten zu können. Der schwierige Auftrag lautete, den Mitarbeiterstab zu verkleinern und in höherem Maße auf freie Journalisten zu setzen. Im Vergleich zum Bayerischen Rundfunk mit 750 Mitarbeitern oder zum Süd-Westfunk, der mit 460 Angestellten auskam, war der N W D R mit 2100 Mitarbeitern ohne Zweifel überbesetzt 57 . Obgleich die Hörerschaft des N W D R diejenigen der anderen deutschen Sender bei weitem überstieg, musste doch nicht mehr Programm hergestellt werden als etwa in Bayern. Die Generaldirektion errechnete einen Personalüberhang von 1279 Menschen. Selbst wenn dem N W D R eine fünfzigprozentig höhere Belegschaft zugebilligt werde, seien 790 Personen überflüssig. Der Personalabbau seit Amtsantritt betrug lediglich 0,917 Prozent. Von einundfünfzig Kündigungen mussten auf Druck des Betriebsrates einunddreißig wieder zurückgenommen werden58. Die Belegschaft, hieß es, ziehe ihr anfängliches Vertrauen „mehr und mehr zurück" 59 . Der Verwaltungsrat und der Hauptausschuss stützten ihn, indem sie geschlossen für den Verbleib Blanks stimmten. Dieser zeigte sich wenig dankbar. Im Januar 1950 veröffentlichte er in verschiedenen Zeitungen schwere Anschuldigungen60 und schlug indirekt vor, den Vorsitzenden des Verwaltungsrates, Heinrich Raskop, zum Generaldirektor zu machen. Das Ham-

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Personalstärke des Funkhauses Hamburg, StaHH, NDR, Nr. 10. Das Studio Flensburg hatte 20, Oldenburg 14 und Hannover 119 Mitarbeiter. In Berlin bezahlte der N W D R noch 4 Personen. Schaaf, Politik und Proporz, S. 63. Protokoll der Betriebsratsversammlung vom 17. Mai 1949, N1 Grimme Nr. 895. Aussage des Reporters Köhler vor dem Landesarbeitsgericht vom 8. Juni 1950. Protokoll in N1 Grimme, Nr. 882.

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burger Haus sei kommunistisch unterwandert, unter ihm sitze das „Politbüro" 61 . Die darauf erfolgende fristlose Kündigung mobilisierte Raskop, der von einem Skandal sprach und bedauerte, dass der Verdacht einer kommunistischen Unterwanderung nicht geprüft werde62. Das Band zwischen Verwaltungsratsvorsitzendem und Generaldirektor war zerschnitten. Raskop ließ es auf eine offene Machtprobe ankommen. Dass ihn der Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens unterstützte, war kein Geheimnis. Überraschter zeigten sich Beobachter über den Eingriff der Bundesregierung. Als Raskop im Januar 1950 für die Auflösung des N W D R eintrat 63 , schlug Grimme dem Verwaltungsrat vor, auf der nächsten Sitzung einen neuen Vorsitzenden zu bestimmen. Als dieser Punkt auf der Tagesordnung erschien, schrieb Bundeskanzler Adenauer, er lege „das größte Gewicht darauf, Herrn Professor Raskop in seinem Amte bestätigt zu sehen". Grimme antwortete, dies sei leider nicht möglich64. Drei Tage später meldete die deutsche Presseagentur, Raskop sei zum Rundfunkberater der Bundesregierung ernannt. Er könne sein Amt im Verwaltungsrat beibehalten oder sich der neuen Aufgabe widmen. Der Vorgang sorgte für Aufsehen, weil zu Recht ein politisches Ausgreifen der Bundesregierung vermutet wurde, die nach dem Grundgesetz keine Befugnis besaß, sich in Rundfunkangelegenheiten einzumischen. Im Bundestag wiederholte ein Abgeordneter der Deutschen Partei, die Generaldirektion des N W D R verfüge über ein „organisiertes politisches Bespitzelungssystem" 65 . Dies traf nicht zu. Doch hatte die Generaldirektion Detektive beauftragt, Blank und den Vorsitzenden des Verwaltungsrates zu überwachen. Den Hintergrund bildete ein geheimes Memorandum, dass zu Beginn des Jahres 1950 während eines Empfangs des N W D R von einem Bundestagsabgeordneten gefunden wurde66. Es handelte sich um achtzehn eng beschriebene Schreibmaschinenseiten, deren Inhalt sich vor allem aus biografischen Angaben wichtiger Mitarbeiter zusammensetzte. Die Vorwürfe ähnelten denen Blanks: Der Rundfunk sei eine „Domäne der SPD" und werde von „ehemaligen kommunistischen Funktionären" beherrscht 67 . Der N W D R bedeute eine Gefahr für die Entwicklung zu einer „gesunden

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Aussage des Reporters Tichatchek vor dem Landesarbeitsgericht vom 8. Juni 1950, Protokoll in Nl Grimme, Nr. 882. Aktenvermerk Brack vom 31. Januar 1950, Hannover, Nl Grimme, Nr. 882. Bausch, Rundfunk (wie Anm. 2), S. 313. Brief Adenauers vom 14. März 1950, Antwort vom 24. Mai 1950, Nl Grimme, Nr. 883. Der „Spiegel" vom 30. Mai 1951, S. 7. Hauptverhandlung der Strafkammer in Hannover vom 3. August 1951, Nl Grimme, Nr. 803. Kopie des Memorandums in Nl Grimme, Nr. 806.

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westlichen Demokratie". Ferner erhob der Autor Korruptionsvorwürfe gegen einzelne Mitarbeiter und nannte den Generaldirektor einen Landesverräter 68 . Grimme schaltete die Kriminalpolizei ein und ließ sich von einem Beamten zu dem verhängnisvollen Schritt verleiten, eine Privatdetektei heranzuziehen 69 . Im Oktober des folgenden Jahres legte er dem Verwaltungsrat Material vor, um die Wiederwahl Raskops zu verhindern. Er bediente sich unter anderem der Detektivberichte. Der Verwaltungsrat folgte ihm, weil Raskop falsche Tatsachen über den NWDR verbreitet habe und für einen eigenen Sender in Nordrhein-Westfalen eingetreten sei. Mit einem solchen Standpunkt sei eine Mitgliedschaft im Verwaltungsrat nicht zu vereinbaren 70 . Die amerikanische Hohe Kommission begrüßte das Urteil. Sie werde einem Bundesrundfunk nicht zustimmen. Die Berufung Raskops zum Berater der Bundesregierung löse allenfalls „gemischte Gefühle" aus71. Die Bundesregierung erlitt zwar eine Niederlage. Doch war der Ansehensverlust Grimmes beträchtlich 72 . Um Blank durchzusetzen, verspielte er die Gunst der Belegschaft, die er für einen Personalabbau dringend benötigte. Zudem konnte er politischen Gegnern ohne den Rückhalt des eigenen Hauses kaum begegnen. Ihm ging es nicht mehr um eine Personalie, sondern um die eigene Entscheidungsfähigkeit. Eine Rücknahme hätte ihn weiter geschwächt. Er hätte sorgfältiger vorgehen und mit einem Mann wie Dirks vorher verhandeln müssen. Nach außen entstand der verheerende Eindruck, dass der NWDR seine Mitarbeiter mit Hilfe von Detektiven überwachte. Dies hätte in jedem Fall unterbleiben müssen. Das geheime Memorandum enthielt verletzende Einzelheiten gegen seine Frau, sodass sein Verhalten verständlich ist. Nur ging es den Verfassern des Memorandums erst in zweiter Linie um seine Person. In erster Linie ging es darum, die Generaldirektion zu beseitigen. Denn sie stand im Weg, wenn aus dem NWDR drei Landessender entstehen sollten. Ein hohes Ansehen des Generaldirektors behinderte das Vorhaben. Anständigkeit allein half nicht weiter. Hier wäre ein politischer Instinkt für Machtgruppen erforderlich gewesen, der aber fehlte.

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„Spiegel" vom 26. Januar 1950. Grimme in der „Welt" vom 12. Mai 1951, N1 Grimme, Nr. 926. Bericht des Verwaltungsrates für den Hauptausschuss des NWDR in Nl Grimme, Nr. 890. Bericht aus dem NWDR-Studio Bonn vom 13. April 1950, StaHH, NDR, Nr. 1493. Schreiben des Verwaltungsrates an Grimme, ohne Datum, Nl Grimme, Nr. 890. Erich Kuby zitiert nach Schaaf, Politik und Proporz, S. 57.

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6. Öffentlichkeit und der N W D R Ein Blick auf die zeitgenössische Presse erklärt, weshalb die Gegner mit seinem Sturz rechneten. In seiner ersten Amtszeit verdichteten sich eine Reihe von Fehlleistungen, die er zwar nicht verursachte, vor der Öffentlichkeit jedoch verantwortete: Zum Nachfolger des ausgeschiedenen Blank, ernannte er den Intendanten des Hauses Berlin, Willy Troester. Die Intendanz scheiterte an Unregelmäßigkeiten im Finanzverkehr. Als Konsequenz musste der dritte Intendant innerhalb des dritten Amtsjahres seinen Abschied nehmen. Er übernahm Troester in die Generaldirektion, verlangte aber gleichzeitig von allen leitenden Angestellten einen LebenslauP. Schon der Vorgänger hatte die Erwartungen als Intendant in Berlin nicht erfüllt. Hans Erwin Haberfeld scheiterte auf gleiche Weise wie später Troester. Beide hatten sich aus der Kasse des N W D R höhere Summen auszahlen lassen, die sie nicht zurückzahlten. Über die Geschichte hätte sich vermutlich ein Mantel des Schweigens gelegt, wenn nicht Haberfeld im geheimen Memorandum der „schweren Korruption" angeklagt worden wäre. Das Nachrichtenblatt „Spiegel" zitierte diese Stelle. Haberfeld prozessierte daraufhin gegen den zuständigen Redakteur. Grimme wurde als Zeuge geladen und sagte aus, der Beschuldigte sei nicht wegen Korruption, sondern auf eigenen Wunsch, wegen schlechter Gesundheit, aus dem Amt geschieden. Der „Spiegel" warf ihm daraufhin Meineid vor. Bei der zweiten Gerichtsverhandlung kamen die finanziellen Unregelmäßigkeiten ans Licht, zumal der N W D R gegen beide in einem anderen Fall Strafanzeige wegen Untreue erlassen hatte74. Es erwies sich, dass Haberfeld wegen „finanzieller Unkorrektheit" entlassen wurde, Grimme nachträglich eine „Prämienzahlung" aus den Kursgewinnen an fünf verschiedenen Mitarbeiter billigte75 und den Sachverhalt verschleierte. Verständlicherweise hoffte er, diese Angelegenheit intern zu regeln und negative Presse zu vermeiden. Mit dem Herausgeber des „Spiegel" wäre eine Absprache möglich gewesen. Der betreffende Artikel zielte ursprünglich auf die Verfasser und Motive des Memorandums. Als Leiter einer Anstalt des öffentlichen Rechts war er fraglos verpflichtet, den Sachverhalt von ei-

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Grimme schrieb an alle leitenden Angestellten am 7. Juli und am 8. August 1950, Aktenvermerk vom 16. Oktober 1950, N1 Grimme, Nr. 830. Prozess vor Strafkammer Hannover, Juni 1955, Auszüge in Nl Grimme, Nr. 803. Aktennotiz Herzog im Frühjahr 1952 über eine am 20. April 1949 stattgefundene Unterredung mit Grimme, in der Herzog von dem Vorgang der Verteilung von 8000 Deutsche Mark und der Zahlung der 2233,25 Deutsche Mark an Haberfeld berichtete.

Öffentlichkeit und der N W D R

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ner Staatsanwaltschaft überprüfen zu lassen, zumal es sich um öffentliche Gelder in beträchtlicher Höhe handelte. Sein Misstrauen gegen die Presse verwundert nicht. Die Berichterstattung über den Rundfunk war oft fragwürdig und unausgewogen; erst recht galt das für die Berichterstattung über die „Rote Kapelle". Erstaunlich war jedoch, dass er die Mitarbeiter weiter deckte, einen sogar in der Generaldirektion beschäftigte. Wenn er sich einmal für einen Menschen entschied, hielt er an ihm fest. Darin lag zugleich Großmut wie politische Torheit. Er überlegte, die Intendanz des Berliner Funkhauses nicht mehr zu besetzen. Die erforderlichen Maßnahmen sollten die Direktoren des Funkhauses selbstständig einleiten. Bei strittigen Fragen, besonders in Etatangelegenheiten werde er selbst das Nötige veranlassen76. In Hamburg scheiterte unterdessen der nächste Versuch, die Intendanz endlich auf längere Zeit zu besetzen. Als bekannt wurde, dass Pleister aus dem Niedersächsischen Kultusministerium die Stelle übernehmen würde, meldeten sich alte Kollegen von der „Deutschen Welle" mit Hinweisen auf die nationalsozialistische Vergangenheit des Kandidaten77. Grimme argumentierte, Pleister sei von den Engländern auf seine Vergangenheit hin überprüft und für unbedenklich eingestuft worden. Er verschwieg, dass die Personalie bei den Briten auf Widerstand stieß78. Da er Pleister aus Hannover kannte, verstand er die Kritik, wies aber darauf hin, dass er „faute de mieux" nehmen musste, was sich ihm als „sachkennerische Kandidatur bot". War diese Erklärung ausreichend? Fand sich unter den zweitausend Mitarbeitern des N W D R kein unbelasteter, loyaler Kandidat? Im niedersächsischen Kultusministerium setzte er auf Mitarbeiter, die sich in Berlin bewährt hatte. Dort machte es Sinn, denn die Beamten besaßen unverzichtbare Fachkunde. Im Unterschied dazu gab es beim Rundfunk bereits eine mehr oder weniger gefestigte Personalstruktur mit eigenen Vorstellungen. Das Anwerben von Mitarbeitern aus Hannover konnte in der Belegschaft, die unter britischer Führung ein besonderes Selbstverständnis entwickelt hatte, nicht Zustimmung stoßen. Vielmehr entstand die Furcht, der Rundfunk werde parteipolitisch vereinnahmt. Obwohl Grimmes Verhältnis zu seiner Partei zwiespältig war, erschien er Außenstehenden als Parteipolitiker ersten Ranges, schließlich hatte er dem Vorstand der SPD angehört. Seine Personalpolitik, leitende Positionen

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Brief an Mischke, Blässer und Herzog vom 22. November 1949, StaHH, NDR, Nr. 565. Arthur Lange an Grimme (wahrscheinlich vom Spätsommer 1958), N1 Grimme, Nr. 2680. Werner Pfeifer: Bild und Ton - Das Fernsehen. Aufbau und Pioniertätigkeit des N W D R 1945-1954, in: Köhler, Programm u. Politik (wie Anm. 1), S. 227 ff.

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mit rundfunkfremden Männern zu besetzen, erweckte den Eindruck, er misstraue den Mitarbeitern, was nach den Fehlschlägen der ersten Jahre wohl zutraf. Doch die ohnehin bestehenden Vorbehalte verstärkten sich dadurch. Eine Nachwuchsförderung, wie sie Becker im preußischen Kultusministerium erfolgreich betrieben hatte, konnte so kurzfristig noch nicht greifen. Dass ehemalige Nationalsozialisten in öffentliche Ämter zurückkehrten, gehörte zum alltäglichen Geschäft. Doch hatte Grimme unter Hitler Freunde verloren und selbst unter dem Regime gelitten. Hätte er nicht gerade mit Rücksicht auf die Stimmung innerhalb der Belegschaft ein deutlicheres Zeichen setzen müssen? Vermutlich fand er es unter seinem Niveau, Menschen wegen ihrer politischen Vergangenheit zu übergehen. Es war versöhnlich gemeint. N u r ist dabei folgendes zu bedenken: Wenn ein Mann mit seiner Biografie ehemalige Nationalsozialisten beförderte, entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck, Mitläufer und Schreibtischtäter trügen nur eine geringe Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen. Die Engländer hatten versucht, den Rundfunk von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP zu befreien. Anstatt dieser Linie zu folgen, hielt er es mit der preußischen Tradition, Mitarbeiter nicht nach ihrer politischen Gesinnung, sondern nach ihren beruflichen Fähigkeiten einzustellen. Der Unterschied bestand darin, dass der Rundfunk den Wiederaufstieg nationalsozialistischen Gedankengutes verhindern und demokratisches Gedankengut fördern sollte. Mit Männern, die wenige Jahre vorher völkische Ideen vertreten hatten, war das schwerlich zu bewerkstelligen. Die größte Angriffsfläche bot die Finanzpolitik des N W D R . Wirtschaftsberichte offenbarten erschreckende Mängel. Von einer „zielbewussten und wirtschaftlichen Betriebsführung" konnte man nur bedingt reden. Die Freiheiten, die unter den Engländern geherrscht hatten, führten zu keinen guten Ergebnissen 79 . Vor der Währungsreform hatte sich die Geschäftsführung in gewissem Umfang an halblegalem Handel beteiligen müssen. Auf den Lohnlisten befanden sich Männer, die bereit waren, ein „gewisses Risiko" einzugehen 80 . In Köln hinterging ein solcher Mann den N W D R um 50.000 Mark. Schwarzmärkte, Armut und Hunger förderten semikriminelles Verhalten. Das fehlende Finanzsystem begünstigte Korruption. Kennzeichnenderweise nahmen diese Fälle ab, je weiter die Struk-

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Brief an Pleister vom 15. September 1954, hier zitiert nach Werner Pfeifer, Die Entstehung des Fernsehens beim N W D R (1945 bis 1954), Magisterarbeit, Hamburg 1986, S. 249. Aktenvermerk, betreff des Funkhauses Köln, N1 Grimme, Nr. 605.

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tur gefestigt war. Doch noch 1960 schrieb Grimmes Referent Wenzlau bezüglich der Organisation, die Anstalt sei ein „sehr unfähiger Verein" 81 . Klaus Besser notierte 1953, die Kompetenzen seien nicht klar, es herrsche „Verwirrung". „Es müsste doch möglich sein, klare Richtlinien für Honorare und Spesen zu schaffen." Das journalistische Wirken werde durch „allgemeine" und spezielle „Tabus" eingeschränkt. Die Kompetenzen verteilten sich so, dass „vor lauter Chefs kein Verantwortlicher mehr zu entdecken ist" 82 . Besser glaubte, dass „neunzig Prozent aller Diskussionen im Hause von Kompetenzfragen, Papierkrieg und Verwaltungsschwierigkeiten handeln, höchstens zehn Prozent beträfen den Aufbau des Programms" 83 Diese unklar geregelten Zuständigkeiten mögen dafür verantwortlich gewesen sein, dass in Köln an repräsentativer Stelle bereits sieben Millionen Mark verbaut waren, als den Rundfunkern auffiel, dass die Glocken des benachbarten Kölner Domes einen ungestörten Radiobetrieb nicht ermöglichten84. Der Baubeginn fiel noch in Greenes Amtszeit. Doch Grimme hatte den Standort seinerzeit als Vorsitzender des Verwaltungsrates gebilligt, hielt auch an dem Bau fest und ließ Bauabschnitt für Bauabschnitt fertig stellen. Als er 1953 das neue Fernsehstudio in Hamburg-Lokstedt einweihte, war es in vielerlei Hinsicht bereits unzureichend: Rund 50 Fernsehmänner mussten im Bunker am Heiligengeistfeld bleiben. „Maßgebende FernsehExperten" hielten in Aktennotizen vorsorglich fest, dass sie „für den Studiobau nicht verantwortlich seien". Abgesehen davon, dass das Gelände unerweiterbar in der Flughafenschneise lag, gehörte das Grundstück teilweise dem Schwiegervater von Fernseh-Intendant Pleister. Ein Rundfunkmoderator hatte sich im N W D R Köln unter verschiedenen Pseudonymen einen sechzehnprozentigen Anteil an der insgesamt gespielten Musik gesichert85. Dem Hamburger Künstlerklub die „Insel" gewährte der Rundfunk ein Darlehen von 60.000 Deutsche Mark. Eine private Produktionsgesellschaft finanzierte einen Film mit einer Bürgschaft des N W D R , die fällig wurde, als der Film seine Kosten nicht einspielte86. Dem Leiter des Studio Hannovers wurde vorgeworfen, seine Dienstaufsicht vernachlässigt zu haben. Es waren Honorare für Programme gezahlt worden, die gar nicht produziert wurden. Ferner wurden in der ersten

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Wenzlau an Grimme vom 15. April I960, N1 Grimme, Nr. 2680. Klaus Besser an Werner Pleister vom 20. Dezember 1953, Nl Grimme, Nr. 949. Klaus Besser an Werner Pleister vom 8. Januar 1953, Nl Grimme, Nr. 949. Folgende Zitate aus: „Spiegel" vom 20. Juli 1950, S. 35 und vom 28. Oktober 1953, S. 30. Chefbesprechung vom 14. Februar 1950, StaHH, NDR, Nr. 1302. Der „Spiegel" vom 26. Januar 1950. S. 5 f.

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Amtsperiode Grimmes falsch abgerechnete Dienstreisen, Unterschlagungen und persönliche Bereicherung aufgedeckt87. Die Annahme, hier zeige sich nur die Spitze des Eisberges, lag nahe. Die Ursprünge dieser Verhältnisse lagen großen Teils vor dem Amtsantritt. Trotzdem verdichteten sich zu viele skandalähnliche Umstände in der ersten Legislaturperiode. Notwendig geriet der Generaldirektor in die Kritik. Die öffentliche Meinung wendete sich gegen ihn. Im Sommer 1951 erschien in der Wochenzeitung die „Zeit" eine kritische Serie und die „Deutsche Presseagentur" meldete bereits, eine „Palastrevolution" stehe bevor, der Schlag werde vorbereitet von der obersten Parteileitung der SPD88. Innerhalb des Rundfunks verstärkte sich der Unmut. In einem „streng vertraulichen Schreiben" richtete von der Gablentz im Dezember 1950 das Wort an Grimme. Die einzige befriedigend gelöste Aufgabe sei die technische. Eine „saubere und übersichtliche Verwaltung sei zwar geschaffen, die Korruption beseitigt. „Aber es ist nicht gelungen, die Verwaltung der Funkhäuser und die Generaldirektion zu einer in sich abgestimmten Mannschaft mit gleichen Zielen und mit der Fähigkeit zu guter und elastischer Kooperation zu gestalten. Und es ist kein befriedigender Weg für die Verwendung der vorübergehend entstandenen Uberschüsse gefunden worden" 89 . Gablentz spielte hier auf die Zahlungen des NWDR in die Kulturfonds der Länder an, die satzungswidrig einen festen Posten im Etatplan der Länder bildeten. Die Intendanten, so meinte er, seien langfristig zu ersetzen, da sie nicht vorbehaltlos hinter der Einheit des Senders stünden. Dem Generaldirektor warf er vor, durch „unangebrachte Nachgiebigkeit und durch Zögern" dem unheilvollen Wirken Raskops Vorschub geleistet und damit den Ruf des NWDR beschädigt zu haben. „Es war von vornherein falsch, einen Anspruch Kölns auf Gleichberechtigung mit Hamburg in allen Punkten anzuerkennen." Gablentz hoffte, mit dem Magistrat Berlins das Muster einer „echten Dezentralisierung" zu finden, nach dem später auch die „Stellung Kölns" so geregelt werden könne, dass dieses Haus bei weitgehender Selbstständigkeit ein Interesse daran behalte, im „Verband des NWDR als des Vorläufers für eine spätere gesamtdeutsche Genossenschaft der Rundfunkanstalten zu bleiben." Der Generaldirektor müsse häufiger in eigener Sache das Wort ergreifen. Ausgerechnet in dieser Phase, in der die Repräsentanten des NWDR um ihren Ruf fürchteten, kam heraus, ein Mitarbeiter sei in der kommunis

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Siehe: Rüden und Wagner, Geschichte (wie Einleitung Anm. 24), S. 106-110. dpa-Meldung vom 26. Mai 1951, AdsD, N1 Fritz Sänger, Mappe 252. Folgende Zitate aus: Gablentz an Grimme vom 2. Dezember 1950, N1 Grimme, Nr. 3371. Außer Grimme erhielten die Verwaltungsratmitglieder Kuhnt und Dovifat eine Abschrift.

Wiederwahl

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tischen Partei, arbeite gleichzeitig für den N W D R sowie für eine Zeitung der DDR 9 0 . Der Präsident des Bundesverfassungsschutzes Otto John wurde eingeschaltet. Er übermittelte eine Stellungnahme seines Hauses und empfahl, den Mitarbeiter nicht weiter zu beschäftigen91. Dem Mitarbeiter wurde daraufhin mitgeteilt, die Untersuchungen seien im Ergebnis „leider negativ" und der Sender müsse ihn von der weiteren Mitarbeit ausschließen92. Die Presselandschaft der junge Republik zeichnete sich durch kritikfreudige Journalisten und eine der Kritik entwöhnte Leserschaft aus. Unregelmäßigkeiten gerieten schnell in die Nähe eines Skandals. Die Mitarbeiter des Rundfunks lieferten reichlich Material. Teils aus Unfähigkeit, zum größeren Teil jedoch, weil die bestehenden Strukturen den Aufgaben nicht genügten. An diesem Umstand trug Grimme keine Schuld. Ebenso wenig verantwortete er, dass Rundfunkfragen politisiert wurden. Solange der Generaldirektor ein Engländer war, hielten sich die Kritiker zurück und der Kampf um Macht und Einfluss in Grenzen. Mit der Amtsübernahme durch einen deutschen Politiker änderten sich die Vorzeichen. Die Lage des Generaldirektors ähnelte der Position C. H. Beckers Ende der dreißiger Jahre: Er stand allen gleichermaßen im Weg. Die Bundesregierung hielt ihn für einen überzeugten Sozialdemokraten, der seine Mittel gegen sie einsetzte. Die SPD hätte ihn gern ersetzt, weil sie genau das vermisste. Die Landespolitik drängte auf eigene Sender, die Belegschaft auf mehr Einfluss. Solange etwas zu verteilen war, konnte die Generaldirektion weiter bestehen und die Einheit der Anstalt garantieren. Ein Wechsel in der Spitze hätte Machtkämpfe ausgelöst, deren wahrscheinliche Folge der Zerfall gewesen wäre. Die Einheit des N W D R hing an Grimme.

7. Wiederwahl Im Dezember 1949 riet der Hausarzt dringend zu einer mehrwöchigen Kur. Die Haftfolgen und mangelnde Ernährung forderten zunehmend Tri-

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"

n

Brief von Czeranowski an die Politische Redaktion des N W D R vom 7. Juli 1951, StaHH, NDR, Nr. 505; Alexander Maass an das Landesamt für Verfassungsschutz vom 20. September 1951, StaHH, NDR, Nr. 505; Naher an Jackson vom 8. November 1951, Kiel, StaHH, NDR, Nr. 505. Aktennotiz vom 19. Dezember 1951, StaHH, NDR, Nr. 505. Das Schreiben von Otto John an Maass vom 30. November 1951 befindet sich ebendort. Die als Anlage verzeichneten 21 Blatt sind nicht beigefügt. Drei Jahre später floh John aus Protest gegen die ungleiche Behandlung von Nationalsozialisten und Kommunisten in die DDR. Siehe hierzu Bernd Stöver: Der Fall Otto John. Neue Dokumente zu den Aussagen des deutschen Geheimdienstes gegenüber MfS und KGB, VJfZ 1 (1999), S. 103 ff. Ernst Schnabel an Manfred Jackson vom 4. Dezember 1951, StaHH, NDR, Nr. 505.

302

Generaldirektor des N W D R

but 93 . Zwar trat Grimme nach einem Herzanfall einen Urlaub an94, die angeratene Kur schob er jedoch hinaus. Er glaubte in Anbetracht der ungezählten Aufgaben, keine Zeit zu haben, seine Gesundheit vollständig wiederherzustellen. 1951 unterbrach er eine Kur für drei Konferenzen. An den restlichen 27 Tagen hielt er an 19 Tagen „mehrstündige Besprechungen" in seinem Privathaus ab, welches er mittlerweile in Hamburg Volksdorf mit seiner zweiten Frau bezogen hatte95. Grimme war ein gesundheitlich angeschlagener Mann. Ohne Rücksicht darauf fällt ein Urteil über seine Amtsführung nicht gerecht aus. Als er im Juli 1952 für eine zweite Amtszeit von diesmal fünf Jahren wiedergewählt wurde, glaubte er nicht, die gesamte Amtszeit durchzustehen96. Möglicherweise lag darin ein Grund, weshalb er bei der Wahl keinem großen Widerstand begegnete. Bei einer Enthaltung konnte er die übrigen sechs Stimmen des Verwaltungsrates auf sich vereinen. Er hatte gebeten, unter strengster Diskretion nach einem Nachfolger Ausschau zu halten97. Ein solcher stand aber noch nicht bereit. Gelegentlich hatte die Presse gemeldet, die SPD sähe lieber einen Mann auf dem Posten, der die Parteiinteressen nachdrücklicher vertrete98. Die Öffentlichkeit und die Parteien hielten, wie der Hamburger Bürgermeister Brauer schrieb, das Amt des Generaldirektors „für eine echte Machtposition" und es sei kein Wunder, dass „um diese Position auch Machtkämpfe entbrennen". Auch deshalb sei „die Aufgabe eine der schwierigsten, die wir in der Bundesrepublik zu vergeben haben" 99 . Grimme erwog „sehr ernsthaft ein vorzeitiges Ausscheiden", sagte jedoch voraus, dass die „dunklen Kräfte" erst recht obsiegten, wenn die Anständigen das Feld räumen100. Auf ähnliche Weise fasste der bedeutendere Teil der Öffentlichkeit seine Arbeit auf. Der persönliche Kredit war nicht erschöpft. Die Presse hatte den Generaldirektor von direkten Angriffen meist ausgenommen und ihn teils als „ahnungslosen Engel" bezeichnet 101 . Trotz aller Missstände wurde doch auch der Erfolg wahrgenommen. Den größten Kraftakt der ersten Legislaturperiode bedeuteten die Investitionen in die neuen, durch Demontage dezimierten Sender und Wellen. Die Mittelwellensender wurden zunächst von elf auf siebzehn erhöht, bis auf einer internationalen Konfe93 94 95 96 97 98 99 100 101

Schreiben Dr. Decorum vom 10. Dezember 1949, N1 Grimme, Nr. 3277. Brief an Raskop vom 11. Dezember 1949, N1 Grimme, Nr. 890. Brief an Gablentz vom 15. Juni 1951, N1 Grimme, Nr. 3372. Vertraulicher Rundbrief der fff-Press/Hamburg/Postscheck, N1 Grimme, Nr. 617. Brief an Dovifat vom 25. Mai 1951, Nl Grimme Nr. 3372. Vertraulicher Rundbrief der fff-Press/Hamburg/Postscheck, Nl Grimme, Nr. 617. Max Brauer an Grimme vom 7. Juli 1952, Nl Grimme, Nr. 617. Brief an Gablentz vom 15. Juni 1951, Nl Grimme, Nr. 3372. „Neue Zeitung München" vom 7. Februar 1950, Kopie in Nl Grimme, Nr. 3371.

Die nationale Zuverlässigkeit

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renz in Kopenhagen Deutschland fast alle Mittelwellensender mit klarem Empfang verloren gingen. Der N W D R verfügte lediglich über zwei Mittelwellensender von Qualität 102 . Der Verwaltungsrat genehmigte daraufhin den Bau von zwölf UKW-Sendern, mit denen die B R D schnell als das Land mit der am weitest fortgeschrittenen technologischen Entwicklung galt103. Die eingeschränkte Reichweite der Ultrakurzwellensender führte dazu, dass in Köln und Hamburg gleichwertige Sendezentren entstanden. Aus Köln kam ein Kurzwellen-Programm für Nordrhein-Westfalen, aus Hamburg eines für den Stadtstaat, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Die Kurzwellensender begünstigten die spätere Teilung des N W D R und erregten das Misstrauen der amerikanischen Besatzungsmacht. Die Amerikaner meinten, der Hörer einer Ultrakurzwellen-Station sei ausschließlich auf diese angewiesen und könne nicht auf andere Sender ausweichen104. Dennoch: In der ersten Amtsperiode hatte sich die Sendeleistung des N W D R mehr als verdoppelt105. Die Kosten für eine Sendeminute sanken zwischen 1948 und 1951 von 42,10 auf 18 Deutsche Mark. Die Gesamtbetriebskosten verminderten sich deutlich. Seit dem August 1948 experimentierte der N W D R mit einem Fernsehversuchsbetrieb, der trotz eines noch sehr schmalen Programms zu großen Hoffnungen berechtigte. Es gab einen Etat, eine gestraffte Verwaltung und die gröbsten Fälle von Korruption waren geahndet. Mit den regelmäßigen Berichten der Generaldirektion vor dem Hauptausschuss reifte der N W D R zu einem durchsichtigeren, demokratischen Apparat. Das Programm missfiel zwar vielen. Gerade die Allseitigkeit der Beschwerden bewies aber den Erfolg des Grundsatzes, dem Hörer möglichst die Wahl zwischen „entspannender Unterhaltung, der Information und der Bildung" zu überlassen106.

8. Die nationale Zuverlässigkeit Nach der Wiederwahl holte Grimme die Vergangenheit ein. Seit Roeder 1952 sein Buch über die „Rote Kapelle" veröffentlicht hatte, erörterte eine 102

Schaaf, Politik und Proporz, S. 97.

103

Adolf Grimme: Die Sendungen der Sendungen des Rundfunks. Auswahl und Zusammenstellung der Ansprachen und Reden aus den Jahren 1948 bis 1954 von Guntram Prüfer, Frankfurt a. M. 1955, S. 9.

104

Bericht aus dem N W D R - S t u d i o Bonn vom 13. April 1950, StaHH, N D R , N r . 1493.

105

Bericht von Prälat Marschall über Etatfragen auf der 15. Hauptausschusssitzung vom 10. März 1951, N1 Grimme, N r . 896.

106

Beschluss des Verwaltungsrates v o m 27. März 1949, zitiert nach Schaaf, Politik und Proporz, S. 98.

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Generaldirektor des N W D R

breite Öffentlichkeit die Umstände der Haftstrafe107. Mehrere große Tageszeitungen und Zeitschriften, allen voran der „Stern" stützten sich entweder auf Roeders Informationen oder auf die aufgetauchten Reste des Berichtes des Gestapoabschlussberichtes, die ebenfalls jener in die Öffentlichkeit lancierte. 1951 erschienen lange Serien über die „sowjetische Spionageorganisation" 108 . Es dürfe, schrieb Grimme an den stellvertretenden Vorsitzenden des Verwaltungsrates, Emil Dovifat, bei der Suche nach einem Nachfolger keinesfalls der Eindruck entstehen, dass ein „Kausalnexus mit den Angriffen gegen mich in Sachen der sogenannten >Roten Kapellec" bestehe109. Fabian von Schlabrendorff verankerte mit einem etwa gleichzeitig erschienenen Buch den Widerstand vom 20. Juli 1944 als Ehrentat im öffentlichen Bewusstsein. Als Autor der nicht nationalsozialistisch belasteten Seite bezeichnete er die „Rote Kapelle" als Spionageabteilung und stützte sich auf den Abschlussbericht der Gestapo. In einem öffentlichen Prozess gab er zu Protokoll, er lehne Widerstand nach dem Vorbild der „Roten Kapelle" ab, unter anderem, weil sie im Gegensatz zu den Widerständigen des 20. Juli keine „idealistischen Ziele" verfolgt hätten110. Als der Historiker Ritter diese Ansicht ohne Abstriche übernahm, galt sie in der westdeutschen Geschichtswissenschaft als unumstritten111. Die Historiografie der D D R vereinnahmte die „Rote Kapelle" für den kommunistischen Widerstand112. Ein Buch mit dem Titel „Sowjetmarschälle haben das Wort" rühmte sie als Nachrichtenorganisation der Russen 113 . Grimme verteidigte sich und erklärte, Landesverrat im Dritten Reich „voll und ganz zu bejahen". Wenn ein Mann wie Schlabrendorff den Landesverrat ablehne, obgleich er wusste, dass die „Weiterführung des Krieges mit der Niederlage enden und Millionen Deutscher das Leben kosten würde", so halte er das „für ein kleinbürgerliches Zurückschrecken vor der letzten Konsequenz. Man musste die Beendigung des Krieges mit allen Mitteln herbeizuführen versuchen. Man gebe sich doch auch nicht der Illusion hin, dass in Zeiten einer Diktatur Hoch- und Landesverrat zu trennen

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Manfred Roeder: Die Rote Kapelle. Aufzeichnungen, Hamburg 1952. Siehe auch „Lüneburger Landeszeitung" vom 30. April 1951. Die Serie mit dem Titel „Rote Agenten unter uns" erschien ab Mai 1951 in der Zeitschrift „Stern". Siehe hierzu den Brief an Henri Nannen vom 8. Mai 1951, in: Sauberzweig (1967), S. 167. Brief an Dovifat vom 25. Mai 1951, N1 Grimme, Nr. 3372. Notiz zu einer Äußerung v. Schlabrendorffs im Braunschweiger Beleidigungsprozess gegen General a. D. Rehmer, N1 Grimme, Nr. 3386. Ritter, Carl Goerdeler (wie Kap. 7 Anm. 167). Alexander S. Blank und Julius Mader Blank: Rote Kapelle gegen Hitler, (Ost-)Berlin 1979. Fritz Heine an Grimme vom 5. Mai 1951, N1 Grimme, Nr. 3387.

Die nationale Zuverlässigkeit

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sind, da eine Hochverratshandlung, zum Beispiel ein Attentat, dieselben Konsequenzen nach sich zieht, wie Landesverrat, nämlich die militärische Schädigung. Ich jedenfalls bin derselben Meinung wie Niemöller, dass die maßgebenden Vertreter des Schulze-Boysen Komplexes nicht Verrat an ihrem Volk geübt, sondern dem besseren Deutschland die Treue gehalten haben" 114 . Er wisse, dass diese Ansicht heute immer noch wenig „populär" sei. Im Dezember 1950 gelangte Roeders Material an einen Abgeordneten der Sozialistischen Reichspartei (SRP) 115 , die im Oktober 1949 von ehemaligen Soldaten und Nationalsozialisten gegründet worden war. Das Land Niedersachsen bot den Rechtsradikalen einen politischen Nährboden. Es war nicht schwer, in der Bevölkerung unzufriedene Menschen anzusprechen. Viele hatte dem Nationalsozialismus im öffentlichen Leben abgeschworen, gestanden ihm aber hinter vorgehaltener Hand manch gute Eigenschaft zu. Andere kämpften mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten und waren durch ein ungünstiges Urteil einer „Entnazifizierungskammer" im beruflichen Fortkommen behindert. Schließlich gab es solche, die immer noch unter der Hypnose Hitlers standen. Die Taktik der Rechtsradikalen bestand darin, die vermeintlich Mächtigen mit scharfen Parolen anzugreifen. Darin lag mehr Kalkül als Überzeugung. Der Vorsitzende der SRP, Wolf Graf von Westarp, meinte im Frühjahr 1952, ihm sei klar, dass Grimme integer sei. Die Angriffe zielten darauf, den Prozess zur „Roten Kapelle" wieder in Gang zu bringen116. Monatelange Haftstrafen nahmen die Redner billigend in Kauf. Im Juni 1951 liefen nicht weniger als fünfundzwanzig Verfahren wegen übler Nachrede oder Beleidigung gegen ihre Vertreter 117 . Westarp nannte Grimme einen „bezahlten Landesverräter" und drohte, er werde diesen Vorwurf solange wiederholen, bis der Beschuldigte ihn verklage. Er sehe dem Prozess gelassen entgegen, da er über „reichlich Mate-

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Brief an Walter Bauer vom Sommer 1951, N1 Grimme, Nr. 3386. Fritz Heine an Grimme vom 20. Dezember 1950, Nl Grimme, Nr. 3387. Aktennotiz vom 25. April 1952, Nl Grimme, Nr. 320. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NSVergangenheit, München 1996, S. 341 (weiterhin zit.: Frei, Vergangenheitspolitik); Bernd Weisbrod (Hrsg.): Rechtsradikalismus in der politischen Kultur der Nachkriegszeit. Die verzögerte Normalisierung in Niedersachsen, Hannover 1995; Horst W. Schmollinger: Die SRP, in: Richard Stoß (Hrsg.): Parteien-Handbuch, Bd. 2, Opladen 1984, S. 2274-2336; Otto Büsch und Peter Furth: Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland. Studien über die „SRP", Berlin u. Frankfurt a. M. 1957. Dirk Geile: Der Remer-Mythos in der frühen BRD. Ein Beitrag zum organisierten Rechtsextremismus in Niedersachsen, Magisterarbeit, Göttingen 1993.

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rial" verfüge 118 . Die Lage verlangte nach Maßnahmen. Die Deutsche Partei, die mit der C D U ein Wahlbündnis in Niedersachsen eingegangen war, plakatierte für eine Veranstaltung im Hamburg: „280.000 deutsche Soldaten starben durch Landesverrat der Roten Kapelle. Was dürfen die Opfer heute vom NWDR erwarten" 119 ? Der Vorwurf des Landesverrats drang aus der Sonderecke der Rechtsradikalen in die bürgerliche Mitte. In einem Schreiben des CDU-Vorstandes Bremerhaven hieß es, die „Rote Kapelle" gehöre nicht zum inneren Widerstand, sondern die führenden Beteiligten hätten alles zum „Sieg des Moskauer Kommunismus tun wollen" 120 . Grimme sei in dem Untersuchungsbericht des Chefs der Sicherheitspolizei „wegen Feindbegünstigung" zu drei Jahren Haft verurteilt worden und habe von Moskau 2000 Reichsmark erhalten. Adenauer sondierte zunächst eine politische Strategie. Sein Verkehrsminister Seebohm interessierte sich als Vorsitzender der Deutschen Partei für die SRP, da mit ihr zusammen in Niedersachsen eine Regierungsmehrheit möglich war. Die „Niederdeutsche Union", ein aus CDU und DP zusammengesetztes Wahlbündnis, hätte mit dem Einschluss der SRP Aussichten auf einen Wahlsieg gehabt121. Es war außenpolitische Rücksicht, die diese Koalition verhinderte: Als die SRP bei den Niedersächsischen Landtagswahl im Mai 1951 elf Prozent der Stimmen, in Bremen bei der Wahl zur Bürgerschaft im Oktober 1951 beinahe acht Prozent erhielt, musste Adenauer sich von den Besatzungsmächten vorhalten lassen, er habe gegen deren Aufstieg nicht genug getan. Adenauer, Grimme, Ollenhauer und Waldemar Knoeringen, Abgeordnete des Münchner Landtages, verabredeten sich zu einer gemeinsamen Klage. Grimme und Adenauer prozessierten gegen Herbert Münchow. Vor einem Braunschweiger Gericht klagten bereits die Bundesregierung und mehrere Mitglieder des 20. Juli gegen Remer122. Gegen die Gesamtpartei lief ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Der ehemalige preußische Minister Höpker-Aschoff, jetzt Vorsitzender des Bundesverfassungs-

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Aktennotiz der NWDR-Pressestelle vom 21. April 1952 zu einem Interview in der „Landeszeitung Lüneburg", Nl Grimme, Nr. 320. Notiz in Nl Grimme, Nr. 320. Schreiben des CDU-Vorstandes Bremerhaven vom 18. Mai 1951, Nl Grimme, Nr. 320. Folgende Zitate aus: Frei, Vergangenheitspolitik (wie Anm. 117), S. 335. Rudolf Wassermann: Zur juristischen Bewertung des 20. Juli 1944. Der Braunschweiger Remer-Prozess als Meilenstein der Nachkriegsgeschichte, in: Recht und Politik 2 (1984), S. 68-80; Rainer Eisfeld u. Ingo Müller (Hrsg.): Gegen Barbarei. Essays, Robert M . W . Kempner zu Ehren, Frankfurt a. M. 1989; Herbert Kraus (Hrsg.): Die im Braunschweiger Remerprozess erstatteten moraltheologischen und historischen Gutachten nebst Urteil, Hamburg 1953.

Politik und Rundfunk

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gerichtes, verfügte im Sommer 1952 in einem vorläufigen Entscheid, dass die SRP jegliche „Propaganda und öffentliche Werbung in Wort, Ton, Bild und Schrift" zu unterlassen habe123. Damit betrachtete Grimme die Angelegenheit als erledigt124. Er begnügte sich wie Adenauer mit einer Ehrenerklärung125. Kurz darauf erfolgte das Verbot der Partei. Die Kampagne bewirkte zweierlei: Die Führer der SRP waren so leicht als Demagogen zu erkennen, dass ihre Angriffe das Gegenteil ihrer Absicht bewirkten und Grimmes Ansehen förderten. Andererseits blieb das Stigma eines Landesverräters haften und er tat nichts, um es zu zerstreuen. Er hätte gleich Schlabrendorff einen Augenzeugenbericht verfassen können, um sich und die toten Freunde freizusprechen. Zwar schrieb er an Nannen einen Brief und erklärte, er sei nicht wegen Landesverrat, sondern wegen Nichtanzeige eines hochverräterischen Unternehmens verurteilt. Uber den Gesamtkomplex der „Roten Kapelle" schwieg er sich gleichwohl aus. Eine Verteidigungsstrategie war freilich nicht leicht zu finden: Dass Mitglieder der Gruppe Nachrichten in die Sowjetunion übermittelten und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit ausländischen Mächten bestand, konnte er nicht leugnen. Er hätte die schwierige Frage erörtern müssen, ob Spionage unter Hitler eine Ehrentat war. Die Mitglieder des 20. Juli handelten zum großen Teil im vollen Bewusstsein, dass sie wahrscheinlich als Verräter in die Geschichte eingehen würden. Sie suchten einen direkten Weg, Hitler zu beseitigen. Auch dort hatte es freilich Pläne gegeben, mit Stalin zu verhandeln, und aus dem Generalstab sind Informationen ins Ausland getragen worden. Wenn Grimme glaubte, 1952 diese Fragen nicht in der Öffentlichkeit erörtern zu können, hatte er vermutlich Recht. Doch er tat es ebenso wenig im Stillen, für sich. Ob ihm der Konflikt nicht einleuchtete oder er ihn für unberechtigt hielt, bleibt unbeantwortet.

9. Politik und Rundfunk Von den Sozialdemokraten hätte sich der Generaldirektor einen stärkeren Rückhalt gewünscht, zumal er sich ständig dem Vorwurf ausgesetzt sah, der N W D R sei geradezu identisch mit der Sozialdemokratie 126 . Einfluss-

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Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, S. 349 ff., zitiert nach Frei, Vergangenheitspolitik (wie Anm. 117), S. 355.

124

Wenzlau an Kriminalkommissar Kort Alfeld vom 18. Mai 1952, Nl Grimme, Nr. 320.

125

„Die Welt", die „Kieler Nachrichten", die „Morgenpost" und das „Hamburger E c h o " vom 23. Juni 1953. Siehe den Abschnitt über das „geheime Memorandum", in dem von einer „Domäne der S P D " gesprochen wurde.

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Generaldirektor des N W D R

möglichkeiten waren in großer Zahl vorhanden. Die SPD schlug einen Kandidaten vor, wenn eine wichtige Stelle besetzt werden musste127. Generaldirektion und Parteivorstand erörterten wichtige Fragen, bevor der Verwaltungsrat darüber verhandelte. Die Genossen, die im N W D R arbeiteten, sollten im häufigen und engen Kontakt miteinander stehen. Dies sei „nützlich und sogar nötig", fand Grimme 128 . Ein Genösse verfolgte alle Sendungen mit möglicher politischer Wirkung und referierte der Partei. Der Kontakt mit verantwortlichen Mitarbeitern sollte helfen, eine der „überparteilichen Haltung des Rundfunks widersprechende antisozialistische Tendenz gewisser Sendungen zu verhindern"129. Offene Kritik wurde vermieden, um nicht den „schlechten Eindruck zu geben, mit dem Generaldirektor der eigenen Farbe öffentlich in Meinungsverschiedenheiten zu geraten"130. Zudem sollte Adenauer möglichst keinen Grund zu eigener Aktivität erhalten131. Eine reibungslose Zusammenarbeit gab es gleichwohl nicht: Er sei, schrieb Grimme, „mit der Art, wie unsere Genossen mindestens im Hauptausschuss des N W D R auftreten (von zusammenarbeiten kann ja gar keine Rede sein) keineswegs zufrieden und bedauere es oft, dass alle möglichen Interessen denen vorgezogen werden, die wir als Sozialdemokraten gegenüber diesem wichtigen Institut haben" 132 . Sein Vertrag erlaubte ihm zwar, einer zugelassenen Partei anzugehören. Öffentlich politisch betätigen durfte er sich aber nicht133 Aus dem Vorstand der SPD schied er mit dem Wechsel zum N W D R aus und seine Tätigkeit im Kulturpolitischen Ausschuss ruhte, bis er nicht wieder hineingewählt wurde134. Als ihm der Journalist Erich Kuby „Parteitreue" vorwarf, widersprach er erregt. Innerhalb der SPD hielten die Genossen die Behauptung, er sei „linientreu", ohnehin für eine „parteiverleumderische"135. Als ein Verwaltungsratsmitglied ihn aufforderte, sich zwischen der SPD und einer „verantwortlichen Mitarbeit an Deutschland" zu entscheiden, zeigte er sich „aufs schwerste getroffen". Er habe „unbekümmert um die Odeonstraße 136

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Briefwechsel mit Fritz Heine und Ollenhauer in N1 Grimme, Nr. 950. Brief an Fritz Heine vom 26. September 1951, N1 Grimme, Nr. 724. Karl Brunner an Kurt Schumacher vom 7. September 1950, Nl Grimme, Nr. 724. Willi Eichler an Grimme vom 26. März 1953, Nl Grimme, Nr. 724. Willi Eichler an Grimme vom 21. November 1952, Nl Grimme, Nr. 724. Grimme an Fritz Heine vom 26. November 1951, Nl Grimme, Nr. 724. § 5 des Vertrages, Text in Nl Grimme, Nr. 3281. Erich Ollenhauer an Grimme vom 29. Februar 1952, Nl Grimme, Nr. 724. Grimme an Erich Kuby vom 29. März 1954, in: Sauberzweig (1967), S. 186. Der Anlass des Briefes beruhte auf einem Druckfehler der Süddeutschen Zeitung, die statt „parteiintern" das Wort „parteitreu" gedruckt hatte. Brief an ein nicht namentlich genanntes Mitglied des Verwaltungsrates des N W D R vom 28. Mai 1951, Hamburg, vermutlich nicht abgeschickt, in: Sauberzweig (1967), S. 169.

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stets und das nicht erst beim Funk" einen eigenen Weg beschritten. Dass ihm unterstellt werde, er sei seiner Partei gegenüber nicht ebenso souverän wie gegenüber allen anderen, empfand er als „ungeheuerlich"137. Die Tragik seiner Situation bestand darin, ohne den Rückhalt der SPD nicht arbeiten zu können, mit einem Bekenntnis aber ebenso wenig. Die Folge war eine starre Neutralität. Minutenlisten gaben darüber Auskunft, wie viel Sendezeit eine bestimmte Partei erhielt138. Die Regierung durfte seit 1951 eine Liste mit Kommentatoren- und Themenwünschen einreichen139. Trotzdem behaupteten beide Seiten, benachteiligt zu werden. Die SPD meinte, nach einer „planmäßigen" Tendenz unterstütze der Nachrichtendienst des N W D R die Regierung und die „bürgerlichen Kreise" 140 . Die C D U sah das naturgemäß anders141. Vor allem die Rundfunkkommentare zu tagespolitischen Geschehnissen gaben immer wieder Anlass zu Empörung. Die Kommentare entsprachen nicht der Position der Generaldirektion, sondern einer persönlichen der Sprecher142. Der Staatssekretär im Bundeskanzleramt Lenz 143 hielt sie immerhin für bedeutend genug, das außenpolitische Verhältnis zu Großbritannien und auch zu den Vereinigten Staaten zu stören" 144 . Grimme schlug einen „Ehrenrat" vor, eine Art „Selbstkontrolle der Rundfunkkommentare 145 . Die Mitarbeiter ermutigte er zu Kritik und befand, dass immer noch zu viel Initiative von oben erwartet werde146. In der Regel fielen nur wenige Kommentatoren durch besondere Schärfe auf. Der Rest bot einen so harmlosen Ton, dass im Bundestag der F D P Politiker Mende vermutete, die Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes müsse erst beseitigt werden, um die Schärfe der Kommentare zu stärken147. Ein anderer Kritiker schrieb in der „Welt", die Kommentare weckten Besin-

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Starke an Alexander Maass vom 2. November 1951, N1 Grimme, Nr. 724. Eine Zusammenstellung der Sendezeiten der letzten Parteitage der SPD und de C D U forderte Grimme auch in der Chefbesprechung vom 25. Oktober 1952, StaHH, NDR, Nr.1302. Bausch, Rundfunk (wie Anm. 2), S. 328. Jürgen F. Warner an Grimme vom 31. August 1951, N1 Grimme, Nr. 724. Grimme an Jürgen F. Warner, ohne Datum, N1 Grimme, Nr. 724. Richtlinien vom 13. November 1950, N1 Grimme, Nr. 725. Otto Lenz (1903-1957), Jurist, war wegen Kontakten zur Widerstandsbewegung nach dem 20. Juli 1944 zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach dem 2. Weltkrieg gehörte er zu den Mitbegründern der C D U in Berlin und war von 1951 bis 1953 Staatssekretär im Bundeskanzleramt. Lenz an Grimme vom 3. Juli 1953, N1 Grimme, Nr. 725. Schaaf, Politik und Proporz, S. 73. Grimme in „Neue Zeitung" vom 27. September 1951, hier zitiert nach Schaaf, Politik und Proporz, S. 76. Schaaf, Politik und Proporz, S. 74 f.

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nung, Verständnisbereitschaft und Einsicht. Der N W D R bemühe sich, den Hörer für die Politik zu gewinnen, ohne gefährliche Leidenschaften anzustacheln148. Grimme war seit drei Jahrzehnten im politischen Geschäft. Der Grad des Illusionsverlustes war hoch. In das politische Tagesgeschäft mit seinen vorübergehenden Lösungen und den stets aufs neue zu beschaffenden Mehrheiten, hatte er sich gleichwohl nicht hineingefunden. Das Amt des Generaldirektors eignete sich nicht, diese Fähigkeit zu entwickeln. Sein Anspruch von Uberparteilichkeit bestand fort und nutzte so wenig wie je. In geradezu „abgestimmter Einmütigkeit", warfen ihm die Parteien unaufhörlich „alberne Beschwerden" auf den Tisch, wie er schrieb, „einmütig wenigstens in diesem Punkte ihrer Beckmesserei, die in Deutschland Politik heißt" 149 . Es ist fraglich, ob ein anderer die Einheit des Senders erhalten hätte. Jemand, der die entscheidenden Machtgruppen nicht auf seiner Seite hatte, besaß auf lange Sicht keine Aussicht; besonders nicht in einer Zeit, in der diese Machtgruppen an ihrer Profilierung und der Abgrenzung zu anderen arbeiteten.

10. Der Zerfall des N W D R Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold 150 , ernannte den aus dem Verwaltungsrat ausgeschiedenen Raskop zu seinem „Rundfunkberater" 151 . Gleichzeitig beriet Raskop im Auftrag Adenauers die Bundesregierung. Unverstellt trat er für einen unabhängigen Kölner Sender ein. Arnold teilte diese Position ebenso wie Adenauer. Der Kanzler fürchtete einen Rundfunk, der von einer linken Mehrheit geführt, eine außerparlamentarische Opposition bilden könnte. Er ließ Pläne für einen Regierungssender entwerfen und fasste ein eigenes Presseforum ins Auge. Kurzzeitig dachte er daran, die Anteile Augsteins am „Spiegel" zu kaufen152. Dahinter stand die Absicht, Kritik an der Regierung einzudämmen,

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Peter Coulmas in der „Welt" vom 19. Mai 1950, N1 Grimme, N r . 608. Brief an August Brink vom 21. August 1953, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 185. Karl Arnold (1901-1958) war von 1920-1933 in der christlichen Arbeiterbewegung tätig und von 1925-33 stellvertretender Vorsitzender der Zentrumspartei. Nach 1933 arbeitete Arnold als Kaufmann und wurde nach dem 20. Juli 1944 verhaftet. Er gehörte zu den Mitbegründern der C D U und war einer der führenden Politiker ihres linken Flügels, 1946 Oberbürgermeister von Düsseldorf und 1946-56 Ministerpräsident von N R W . Schaaf, Politik und Proporz, S. 68. Die „Zeit" vom 14. Dezember 2000. S. 27.

Der Zerfall des NWDR

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oder zumindest die eigene Position zügig und gezielt in die Öffentlichkeit zu bringen. Dem offenen Zerwürfnis vorbeugend, stimmte der Verwaltungsrat dem Vorschlag Arnolds zu, den stellvertretenden Leiter der Düsseldorfer Staatskanzlei, Karl Mohr, als „beratendes Mitglied" aufzunehmen, obwohl die Satzung ein „beratendes Mitglied" nicht vorsah153 Wenig später ersetzte Mohr den ausgeschiedenen Raskop als Mitglied des Verwaltungsrates. Als der Sitz des Berliner Vertreters frei wurde, gestand Grimme den Düsseldorfern einen weiteren Vertreter zu154. Noch sah es so aus, als könnte der Zerfall verhindert werden, indem deren Befürworter im Verwaltungsrat größeres Gewicht erhielten. In Berlin einen Stadtsender zu betreiben, stellte ein kostspieliges Unternehmen dar. Da die Sender der Alliierten den Informationsbedarf der Stadt abdeckten, erwogen die Verantwortlichen des NWDR, die Rundfunkarbeit in Berlin einzustellen. Die Bundesregierung und der Magistrat Berlins drangen jedoch darauf, die Arbeit im „gesamtdeutschen Interesse" zu erhalten155. Der NWDR war der einzige Westdeutsche Sender, der in der DDR störungsfrei zu empfangen war. Durch sachliche Berichterstattung band er in der DDR mehr Hörer als der im Westen beliebtere und mit einem stärkeren Sender ausgestattete amerikanische RIAS156. Die kommunistischen Landessender sendeten umgekehrt „nahezu pausenlos die Stimme eines östlichen Agitators gegen Westen" 157 . Den sowjetischen Sender empfingen Rundfunkhörer in Norddeutschland mit bemerkenswerter Klarheit, was für den NWDR schon unter britischer Leitung herausfordernd gewesen war 158 . Ein entsprechendes Programm, eine Stimme „für Ostdeutschland", existierte ein Jahr nach Amtsantritt nicht. Im August 1949 gestaltete der NWDR sein Nachtprogramm in neu und schnitt es vor allem auf die „Hörerbedürfnisse der Ostzone" zu159' Menschenrechtliche Gründe verpflichteten die westlichen publizistischen Organe ohnehin dazu, die Vorgänge jenseits der Elbe aufmerksamen zu verfolgen. Die Generaldirektion musste über das nationale Anliegen nicht erst belehrt werden. Der NWDR belieferte den deutsch-

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Schaaf, Politik und Proporz, S. 69. Bausch, Rundfunk (wie Anm. 2), S. 208. Grimme an den Bundesfinanzminister vom 3. Juli 1951, AdsD, Personalia Grimme. Geserick, Vom NWDR zum NDR (wie Anm. 1), S. 164. Wenzlau an Rinne vom 21. Juli 1949, Hamburg, StaHH, NDR, Nr. 565. Arnulf Kutsch: Unter britischer Kontrolle. Der Zonensender 1945-1948, in: Köhler, Programm u. Politik (wie Anm. 1), S. 114. Backhaus an Mischke, Rothweiler, Koch, Rinne, Wagner vom 9. August 1949, StaHH, NDR, Nr. 565.

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Generaldirektor des N W D R

sprachigen Funk im Saarland mit Programmen des N W D R unentgeltlich160. Anfang Mai 1950 traf Grimme mit Ernst Reuter, damals regierender Bürgermeister von Berlin und dem Volksbildungsdezernenten Walter May zusammen. Am 1. November nahm der Magistrat den CDU-Antrag nach einem eigenen Sender an161. Der Senat forderte Unannehmbares, sodass Grimme die Gespräche zunächst abbrach. Die Berliner wollten den N W D R dazu verpflichten, Programmteile zu übernehmen und damit den Betrieb des Berliner Senders zu finanzieren. Am 12. Mai hielt der Generaldirektor eine Rede gegen das Bestreben, einen eigenen Sender in der ehemaligen Hauptstadt zu gründen162. Die Berliner gaben ihren Wunsch jedoch nicht auf. Der Magistrat begann, die von der Post eingezogenen Rundfunkgebühren nicht mehr an den N W D R abzuführen. Mit dem Hinweis auf ein „allgemeines Defizit", erklärte die Stadtregierung, auf die Summe nicht verzichten zu können und behielt das Geld „in vollem Umfang ein". Grimme war dem Magistrat entgegengekommen und hatte zunächst nicht darauf bestanden, den finanziellen Anspruch durchzusetzen. Durch „überraschend erhobene Steuerforderungen", Preis- und Lohnerhöhungen sowie einem bleibenden Investitionszwang geriet der N W D R nun seinerseits in finanzielle Schwierigkeiten163. Anfang des Jahres 1952 folgte die zweite Verhandlungsrunde. Im Dezember 1953 trat dann der Rundfunkrat des „Senders Freies Berlin" (SFB) zusammen. Am 1. Juni 1954 nahm der SFB als siebte deutsche Rundfunkanstalt der Nachkriegszeit den Betrieb auf164. Der N W D R verpflichtete sich zur Abnahme Berliner Programmproduktionen und blieb damit eine der wichtigsten finanziellen Stützen. Er überließ dem neuen Sender Personal, Funkhaus und Vermögen, ohne dafür entschädigt zu werden165. Am 31. Mai 1954 hielt Grimme in Berlin eine Abschiedsrede, die er wenig feierlich gestaltete. Er akzeptiere die „politische Entscheidung", den Sender Berlin vom N W D R zu lösen. Er erhebe nicht den Anspruch, dass sein Wille zur Einheit ein „Absolutum, die letzte Wahrheit" sei. Er zitierte aber aus einer Zuschrift, die er kurz zuvor erhalten hatte. Eine Berliner Lehrerin bedauerte, dass der N W D R in Zukunft in Berlin nicht mehr zu hören sein werde. Er sei doch ein „Stück Bundesrepublik" in der Stadt ge-

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Chefbesprechung vom 28. November 1952, StaHH, NDR, Nr. 1302. Bausch, Rundfunk (wie Anm. 2), S. 191. Manuskript der Rede in Nl Grimme, Nr. 490. Grimme an den Bundesfinanzminister vom 3. Juli 1951, AdsD, Personalia Grimme. Bausch, Rundfunk, S. 199. Geserick, Vom N W D R zum N D R (wie Anm. 1), S. 165.

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wesen. Dass der Sender ganz aus der Rundfunklandschaft verschwinde, sei, vermutete Grimme, vielen Berlinern gar nicht klar gewesen. Sie hatten auf einen zusätzlichen Sender gehofft166. Umgekehrt hatte der N W D R mit der täglichen Sendung „Berliner Mikrofon" zu der außerordentlich günstigen Sendezeit zwischen sieben und acht Uhr am Abend die Sorgen Berlins und nicht zuletzt die Vorgänge in der SBZ auch in Westdeutschland im Gespräch gehalten. Die Beziehung zwischen dem Gebiet der D D R , einschließlich West-Berlins und den Ländern der B R D wurde mit dem eigenen Berliner Sender schwächer. Gleichzeitig gab es nun das Muster, dem die Düsseldorfer Regierung folgen konnte. Arnold stieß innerhalb des Rundfunks auf eine starke Opposition. Die Landes Vertreter Nordrhein-Westfalens bildeten keine Einheit und die Befürworter eines Landessenders waren zunächst in der Minderheit. Von den sechzehn Mitgliedern des Hauptausschusses unterstützten 1954 nur zwei das Bestreben nach einem eigenen Sender. Sieben Mitglieder kamen aus Nordrhein-Westfalen. Die Berliner Position im Verwaltungsrat wurde nicht mit dem Kandidaten Arnolds, sondern mit Klaus von Bismarck besetzt. Christine Teusch und Anne Franken, damals stellvertretendes Mitglied des Hauptausschusses, missbilligten die Pläne sogar ausdrücklich167. Nicht einmal der Vorwurf, Nordrhein-Westfalen werde im N W D R benachteiligt, wurde innerhalb des Rundfunks geteilt. Grimme schrieb, niemand in den Gremien des N W D R habe sich je bei ihm darüber beklagt, spezielle Interessen nicht vorbringen zu dürfen168. Nordrhein-Westfalen werde, wie er nachzuweisen versprach, weder finanziell noch programmmäßig benachteiligt169. Gleichzeitig machte er Zugeständnisse. Der Vorsitzende des Verwaltungsrates war mit einem Vertrauten Arnolds besetzt. In den Wochen, die Grimme krankheitsbedingt dem Dienst fernblieb, vertrat ihn ebenfalls ein Mann aus dem politischen Umkreis der Landesregierung170. Der Ministerpräsident ließ sich nicht beirren und hielt beharrlich an seinem Vorhaben fest. Im August 1950 nutzte er die Düsseldorfer Funkausstellung, um seinen Plan der Öffentlichkeit zu präsentieren. Grimme vermutete, die Düsseldorfer Regierung wolle den Intendanten des Kölner Hauses soweit stärken, bis dessen Gewicht den Abfall Kölns nach sich zog.

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Abschiedsrede in Berlin vom 31. Mai 1954, N1 Grimme, Nr. 3124. Brief an Grimme vom 14. November 1954, in: Schaaf, Politik und Proporz, S. 173, Anm. 3. Brief an Karl Arnold vom 21. Januar 1954, N1 Grimme, Nr. 606. Brief an Karl Arnold vom 24. Februar 1954, N1 Grimme, Nr. 606. Der stellvertretende Generaldirektor war Franz Schmidt. Siehe den ersten Abschnitt dieses Kapitels.

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Vielleicht trifft es zu, dass Grimme dem Kölner Intendanten Hartmann am liebsten gekündigt hätte171. Jedenfalls versuchte er, ihn für die Position des leitenden Direktors der Fernsehabteilung zu werben. Hartmann sah richtig, dass dieses Angebot vor allem dazu diente, ihn aus seiner Intendanz herauszubringen 172 . Ein solches Unternehmen wäre aber gegen seinen Willen ganz aussichtslos gewesen. Nicht nur, dass Hartmann sein Amt ordnungsgemäß führte und kaum Angriffsfläche bot. Drei abgesetzte Intendanten verstellten dem Generaldirektor auf diesem Flügel jeden Spielraum. Andererseits war erhebliches politisches Geschick notwendig, die Voraussetzungen für den Zerfall des Senders zu schaffen. Abgesehen von Personalfragen, bestand in der Verordnung 118, dem juristischen Kern der Anstalt, ein bedeutendes Hindernis. Sie besaß als Bestimmung der Militärregierung Gesetzeskraft und legte als solche fest, dass auch die Rundfunksatzung als Gesetz zu werten sei. Sie legte weiter fest, dass Organe und Behörden des Staates keine Aufsicht über den Rundfunk führten 173 . Eine Verordnung der Militärregierung aufzuheben, fiel in den Bereich der Außenpolitik und konnte nur von der Bundesregierung betrieben werden. Der N W D R forderte, in diesem Punkte vorab gehört zu werden. Dennoch gelang es Arnold, die norddeutschen Länder für sich zu gewinnen. Die Länderchefs beabsichtigten zunächst, den N W D R „kulturell" zu dezentralisieren. Das Rechtliche, die Verwaltungsfragen und die Technik sollten weiter von einem gemeinsamen Zentrum gesteuert werden. Die Intendanten der Funkhäuser sollten gegenüber dem Direktor der Zentrale aufgewertet, ein geschäftsführendes Organ aus den Intendanten und dem Direktor zusammengesetzt werden. Für das Programm würden die Intendanten allein verantwortlich sein174. Am 31. Dezember 1954 schrieb der britische High Commissioner Hoyer Miliar an Adenauer: Die Verordnung 118 könne für Nordrhein-Westfalen aufgehoben werden 175 . Grimme verfasste ein ungewöhnlich freimütiges und persönliches Bekenntnis 176 . An Staatssekretär Mohr schrieb er, es sei seinen engeren Mitarbeitern und ihm persönlich gelungen, in den „letzten sechs Jahren aus dem N W D R ein Instrument zu schaffen, das nicht nur in kultureller, in technischer und in wirtschaftlicher Hinsicht allen Anforderungen entspricht,

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173 174 175 176

Dies behauptet Geserick, Vom N W D R zum N D R (wie Anm. 1), S. 167. Walter Steigner: Hier ist der N W D R Köln. Erinnerungen an ein gescheitertes Experiment, in: Walter Forst (Hrsg.): Annalen des W D R , Bd. 2: Beiträge zur Rundfunkgeschichte, Köln 1974. S. 161f. Satzung des N W D R in N1 Grimme, Nr. 606. Brack an Grimme vom 18. August 1953, N l Grimme, Nr. 606. Schaaf, Politik und Proporz, S. 175. Brief an Karl Mohr, Spätsommer 1954, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 190.

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sondern das gerade durch den großen Raum, den er umfasst, einen Brückenschlag zwischen Stämmen und Konfessionen ermöglicht, das aber auch im Ausland durch seine an der Spitze der europäischen Rundfunkanstalten liegende Technik und durch seine Sendungen dem deutschen Ansehen stärkste Geltung verschafft hat, - nachdem also dies alles gelungen ist, habe ich an die Verwirklichung der Zerschlagung dieses Instrumentes lange nicht glauben wollen, Um so weniger als die Zerschlagung von Männern angestrebt wird, die auf einer anderen Ebene für große Zusammenfassung eintreten. In meinem bald 40jährigen Wirken in der Öffentlichkeit habe ich immer meine ganze Aufgabe darin gesehen, das scheinbar Gegensätzliche zu verbinden, das Getrennte zu vereinen, ich habe nie anders als für das eintreten können, was der Gesamtheit des deutschen Volkes zugutekommt. Und ich darf heute zurückblickend mit Stolz sagen, dass diesem meinem Wirken der Erfolg beschieden gewesen ist." Mit all seiner in jahrzehntelangem politischen Wirken erworbenen Urteilsfähigkeit vermöge er sich „allen wie auch immer dargelegten Gründen für die Zerschlagung des NWDR nicht anzuschließen." Er habe in ihm ein Instrument gesehen, „das der unheilvollen innerdeutschen Zersplitterung entgegenwirken konnte. Der deutschen Jugend glaubte ich schuldig zu sein, wenigstens auf diesem Sektor ein großes deutsches verbindendes Organ zu verwalten. Die Aufgabe, die mir im NWDR jetzt noch bleibe, wäre keinem ideellen Werten mehr gewidmet, vielmehr ließe sich das, woran ich jetzt noch mitzuarbeiten hätte, - ich darf es freimütig sagen - mit dem, was ich für die deutsche Zukunft für notwendig halte, nicht vereinigen. Ich habe meine Uberzeugung nicht durchsetzen können, nicht einmal im eigenen politischen Lager, wie Sie wissen. Aber vor dem Forum der Geschichte möchte ich einmal nicht zu denen gehören, die wider ihre Einsicht etwas niederrissen, anstatt aufzubauen. Es liefe meiner menschlichen und politischen Haltung zuwider, wollte ich meine Kraft, die seit je, wie auch immer, dem Aufbau gedient hat, nun dieser Zerschlagung leihen. Ich darf sie daher bitten, mich zum 1. April 1955 von meinem Posten zu entbinden." Den Brief, in resigniertem Zustand geschrieben, hielt er zurück. Noch war es nicht so weit. Der Wegfall der gesetzlichen Bestimmung bedeutete nicht das Ende. Doch näherte es sich Schritt für Schritt: Die Bundesregierung plante seit 1949 ein Bundesrundfunkgesetz. Um einen eigenen Regierungssender zu verhindern, erhielt Adenauer eigene Sendezeit zugesichert. Zwischen einer Rede des Kanzlers und der Entgegnung des Oppositionsführers sollten vierundzwanzig Stunden liegen. Die Bundesregierung durfte die ihr zugestandene Sendezeit durch eigene Redakteure gestalten177. Ein Beirat ent177

Bausch, Rundfunk (wie Anm. 2), S. 328.

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stand, bestehend aus je einem Vertreter der Bundesregierung, einem des NWDR und einem neutralen Mitglied. Aus diesen Anfängen entstand später die „Deutsche Welle". Der NWDR übernahm alle Kosten, um den Mitbewerber Radio Bremen nicht zum Zug kommen zu lassen. Das Vorgehen bestätigt die Reihenfolge der Prinzipien: Das Erste war die Einheit. Erst auf dem zweiten Rang folgte politische Neutralität. Grimme war bereit, Teile der Souveränität und Neutralität zugunsten der Einheit preiszugeben. Doch es zeigte sich, dass mit einem Regierungssender der Zerfall nicht mehr aufzuhalten war. Vor der Bundestagswahl 1953 erhoben die Christdemokraten die Frage zum Wahlkampfthema. Der Rundfunk sei ein Instrument der Opposition. Die „einzige Möglichkeit", die Bundestagswahlen zu gewinnen, sei ein eigener Sender. Die Wahlkampfstrategen arbeiteten mit einem konfessionell geprägten Gegensatz. Das Misstrauen einer überwiegend katholischen Bevölkerung gegen einen vermeintlich sozialistischen und damit atheistischen Rundfunk speiste sich aus dieser Quelle. Das Versprechen lautete: In einer neuen Anstalt könnten „endlich auch christliche" Kräfte mitwirken 178 . Die vier westlichen Diözesen der katholischen Kirche Deutschlands planten einen eigenen Sender, ebenso die evangelischen179. Wollte man die Kirchen als Bundesgenossen für die eigenen Pläne gewinnen, galt es, zügig zu handeln. Als Nachfolger des scheidenden Verwaltungsratsmitglieds Dovifat beabsichtigte Arnold zu Beginn des Jahres 1954, einen Kandidaten der katholischen Kirche durchzubringen. Mit Kardinal Frings traf er entsprechende Absprachen. Streng vertraulich schrieb Hans Brack an Grimme, der stellvertretende Generaldirektor Schmidt, ein Vertrauter Arnolds, habe ihm wiederholt mitgeteilt, die frühere Nicht-Wahl des Kandidaten Dufhues in den Verwaltungsrat sei der eigentliche Grund für die spalterischen Versuche Nordrhein-Westfalens 180 . Dufhues gehörte freilich zu den Befürwortern eines Landessenders und kam deshalb für den Verwaltungsrat kaum in Betracht. Außerdem erweckte er keinen neutralen Eindruck. Er nahm Anstoß daran181, dass über denselben Sender katholische und evangelische Gottesdienste liefen, und traf damit einen empfindlichen Punkt. „Interkonfessionalismus", hieß es im Düsseldorfer Landtag, sei das „schlimmste Übel unserer Zeit" - „schlimmer noch als Bolschewismus" 182 . 178

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Raskop in den „Ruhr-Nachrichten" vom 7. Februar 1952, Ausschnitt in N1 Grimme, Nr. 890. Der bischöfliche Rundfunkreferent Prälat Bernhard Marschall an Grimme vom 16. März 1953, Nl Grimme, Nr. 948. Brack an Grimme vom 19. Februar 1954, Nl Grimme, Nr. 606. Protokolle der 99. Sitzung des Landtages von NRW vom 2. Februar 1954, S. 3648, Kopie in Nl Grimme, Nr. 606. Ebd., S. 3655.

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Grimme, in dessen Selbstverständnis die christliche Religiosität einen so großen Raum einnahm, musste diese Vorwürfe hinnehmen. Der Rundfunk übertrug kirchliche Veranstaltungen ebenso wie das junge Fernsehen. Jeden Sonntag fand sich im Programm ein Gottesdienst. Die Konfessionen wechselten wöchentlich. Die Neutralität blieb gewahrt. Ein Rückhalt für den Zusammenhalt des N W D R ergab sich daraus nicht. Die Kirchen unterschieden sich nicht von den politischen Parteien: Der Anteil der anderen war der interessantere. Dass der Generaldirektor eine eigene Auffassung der Evangelien besaß, war in kirchlichen Kreisen bekannt. So durfte er allenfalls Respekt, keine Zuneigung erwarten. Zwar versuchte er nicht, sein Religionsverständnis über das Medium zu verbreiten. Wer hätte ihm auch zuarbeiten können? Der Vorwurf, christliche Kräfte kämen nicht zum Zug, traf ihn gleichwohl tief. Die letzten Gründe für den Zerfall des N W D R werden sich kaum endgültig klären lassen. Es hieß, die große Zahl der nordrhein-westfälischen Einwohnerschaft könne in einem gemeinsamen Rundfunk mit den norddeutschen Ländern nicht befriedigend vertreten werden. Aus Köln erging regelmäßig ein Hinweis darauf, dass ihr Sendegebiet zweiundfünfzig Prozent der Hörerschaft des N W D R versorge. Die Antwort aus Hamburg erinnerte ebenso regelmäßig daran, dass die Einwohnerschaft NordrheinWestfalens keinesfalls als Gesinnungsgemeinschaft missverstanden werden dürfe183. Ohne Zweifel ging es im Kern kaum darum, inhaltlich nicht genügend berücksichtigt zu werden. Dem hätte ein zweites und drittes Programm, wie unter Greene bereits erdacht, leicht abhelfen können 184 . In Nordrhein-Westfalen hielt ein Teil der C D U den Rundfunk für „rot" und damit für eine nicht zu kontrollierende Opposition. Als der N W D R in den N D R und den W D R zerfiel, fiel noch ein anderes Argument ins Auge. Köln konnte einen finanziellen Uberschuss an Hörerbeiträgen von über elf Millionen Deutscher Mark verzeichnen, während Hamburg und Hannover einen Fehlbetrag von über drei Millionen Deutsche Mark verzeichneten. Der Bitte um einen Finanzausgleich verschlossen sich die Düsseldorfer. Es schien zu verlockend, die zusätzlichen Mittel in Nordrhein-Westfalen auszugeben. Bis 1960 gab der W D R dreißig Millio-

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Besprechung beim Generaldirektor am 19. März 1949, StaHH, N D R , N r . 1290.

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Arnulf Kutsch, Unter britischer Kontrolle, in: Köhler, Programm u. Politik (wie Anm. 1), S. 131. In einem Positionspapier aus dem April 1948 hieß es: Ein erstes Programm solle das Ruhr-Gebiet versorgen, um „kommunistischen Offensiven" entgegenzuwirken, ein zweites den überwiegend agrarischen und protestantischen Norden und ein drittes Berlin, von w o aus auch die sowjetische Zone versorgt werden solle.

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nen Deutsche Mark aus Gebühreneinnahmen für kulturelle Zwecke in dem Bundesland aus185. Der Zerfall des Senders war für Grimme eine bittere Niederlage, zumal die Vorzeichen nicht danach standen. Befürworter und Gegner eines Westdeutschen Rundfunks fanden sich verstreut in allen Lagern. Um sie für die eigene Partei zu gewinnen, bedurfte es eines beachtlichen politischen Geschicks. Die Befürworter besaßen den Vorteil, die Bundesregierung hinter sich zu wissen, auf deren außenpolitische Aktivität sie angewiesen blieben. Erst als die Briten zustimmten, konnte das Werk gelingen. Eine vergleichbare Verbindung stand Grimme nicht zu Gebot. Ein echtes Bestreben, die Entwicklung aufzuhalten, ist jedoch nicht zu erkennen. Er gab in öffentlichen Reden zu erkennen, dass er gegen die Spaltung war. Doch von den kleineren Machtkämpfen zermürbt, ließ er den Dingen seinen Lauf.

11. Die letzten Jahre Peter von Zahn urteilte, jene Gegenwart habe tiefgreifende Kontroversen erfordert, die dem „christlichen Sozialisten ein Gräuel" gewesen seien186. Er sei ein Mann guter Wünsche und Absichten gewesen, dem die herrscherliche Energie Hartmanns oder die Schläue, seine Absichten im Labyrinth des N W D R durchzusetzen, gefehlt habe. „Er wollte einen Rundfunk ohne Ecken und Kanten, ohne unbequeme Fragen oder anstößige Antworten." Dem ist nur zum Teil zuzustimmen: Grimme war sechzig, als er seine Aufgabe beim Rundfunk übernahm. Nach der Haftzeit und den aufreibenden Jahren in Niedersachsen fehlte die letzte Energie. Doch setzte er alles daran, ein Finanzsystem zu errichten. Soviel hatte er in seiner Laufbahn gelernt, dass er wusste, politische Träume müssen behördlich bewältigt werden. Eine Programmatik allein, darüber konnte kein Zweifel bestehen, trug nicht weit. Wenn er eine Lehre in den Rundfunk einbrachte, dann die, dass die Kulturpolitik, in seinen Augen das Kernstück aller Staatsaufgaben, von den Finanzministern abhing. Den preußischen Behörden kann man vorwerfen, dass sie politisch und moralisch versagt haben. Der Vorwurf trifft sie jedoch gerade deshalb so hart, weil sie unabhängig von der Herrschaftsform glänzend funktionierten. Persönliche Vorteilnahme oder finanzielle Unregelmäßigkeiten gehörten nachweislich zu den Ausnahmen. Einen Mann, der in diesen Behörden seine Berufsauffassung und seine Arbeitsweise erlernt hatte, versetzten die 185 186

Bausch, Rundfunk (wie Anm. 2), S. 211. Peter von Zahn, Erinnerungen 1913-1951 (wie Anm. 41), S. 344f.

Die letzten Jahre

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Verhältnisse im N W D R naturgemäß in Alarmbereitschaft. Es ist Grimme hoch anzurechnen, dass er gegen die schöngeistigen, politisch naiven Argumente wie die von Zahn das Wesentliche seiner Aufgabe nicht aus den Augen verlor. Die Aufgabe war undankbar, weil die Öffentlichkeit sie kaum würdigte und die Mitarbeiter die ungewohnte Kontrolle als Einschränkung empfanden. Das Misstrauen gegen die Belegschaft war aber keine charakterliche Schwäche Grimmes. Vielmehr hat das Tagesgeschäft das Misstrauen begründet und es ist kein Zufall, dass der Generaldirektor möglichst viele preußische Beamte in seine Umgebung holte. Erst ein funktionierendes Kontrollsystem ermöglichte größere Freiheiten für die Produzenten. Als Grimme Ernst Schnabels zum Intendanten des Funkhauses Hamburg ernannte und gleichzeitig verschiedene interne Strukturreformen zu Ende brachte, sprach die Presse von einer „Aufbruchstimmung" und konstatierte einen Schub in der Programmqualität187. Der liberale Führungsstil Schnabels wurde aber erst möglich, nachdem die Strukturen in eine neue Ordnung überführt waren, drei Jahre nach Amtsantritt des Generaldirektors. Nicht richtig ist der Vorwurf, Grimme habe einen gleichförmigen Rundfunk haben wollen. Es gehört zu den Konstanten dieses Lebenslaufes, dass er nicht davor zurückschreckte, sich mit seinen Gegnern auseinanderzusetzen. Vielmehr ermunterte er seine Mitarbeiter dazu, ihr Umfeld zu kritisieren und weiterzubringen. Gerade die Belegschaft des N W D R fand er zu müde, sie erwarte „zu viel Initiative von oben". Es war schließlich die Generaldirektion, die eine satirische Sendung des Kabarettisten Werner Finck anregte188. Der scharfe und zum Teil schwarze Humor dieser Sendung entsprach durchaus dem des Generaldirektors. Das Projekt vergrößerte jedoch die ohnehin schon vorhandenen politischen Spannungen. Als Finck in der Sylvesternacht des Jahres 1951 die Bundesregierung zum Gegenstand seines Spotts machte, musste die Sendung eingestellt werden. Das Bundeskabinett erörterte die Sendung im Januar 1952. Der Regierungssprecher kritisierte, dass der N W D R durch solche Sendungen politische Werbung für die Opposition betreibe, was auch innerhalb des Rundfunks so gesehen wurde. Grimme musste Finck aufgeben, um das Verhältnis zum Verwaltungsrat und zu wichtigen politischen Machtgruppen nicht noch mehr zu belasten. Hemmend auf Unabhängigkeit und Kritik wirkte die bedrohte Einheit der Anstalt. Kritik an der Regierung förderte die Gefahr des Auseinanderfallens.

187 188

Rüden und Wagner, Geschichte (wie Einleitung Anm. 24), S. 123 ff. Ebd., S. 130-155.

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„Seine Bekenntnisse zur Freiheit des Rundfunks", erkannte Rüdiger Steinmetz, „waren und blieben mutig" 189 . Abgesehen von der politischen Rücksicht, die zum Fortbestand des N W D R nötig waren, wurde die Arbeit der ersten Journalistengeneration nicht gehemmt. Die Gründergeneration blieb dem Rundfunk erhalten und niemand hinderte sie, weiterhin frei zu experimentieren. Der Mangel der Amtszeit lag vielmehr darin, dass er sich auf ein Bekenntnis zur Einheit beschränkte und seine Forderung nicht durchsetzte. Einheit erhielt den Vorrang vor Unabhängigkeit. Der zunehmende Einfluss der Parteien auf die Verwaltung des Rundfunks resultierte aus dieser Rangfolge. Die Ursache dieser Fehlentwicklung lag aber in der Konstitution des Senders, den die britische Besatzungsmacht verantwortete. Am 16. Februar 1955 unterschrieben die Länderchefs von Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein einen „Staatsvertrag über die Liquidation des N W D R und die Neuordnung des Rundfunks im bisherigen Sendegebiet des NWDR" 1 9 0 . Am 31. März hörte der N W D R auf zu existieren. Der Norddeutsche und der Westdeutsche Rundfunk waren Neugründungen, die nicht in der Rechtsnachfolge des N W D R stehen. Immerhin gelang es, die drei nördlichen Bundesländer Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein im Verbund zu halten, obwohl Anträge im Niedersächsischen Landtag vorlagen, von Hannover aus einen unabhängigen Sender zu betreiben 191 . Grimme unterrichtete Mohr, dass er ab 1. April 1956 seine Tätigkeit als beendet betrachte192. Eine Ansprache hielt er nicht. Ihm stand der Sinn nicht danach. Der Föderalismus habe nach der Marschroute „cuius regio eius radio" über die Vernunft obsiegt193. Wenn nun noch etwas „aus ihm werden solle", müsse er sich zurückziehen 194 . Wer über München hinaus Richtung Rosenheim fährt und dort den Inn ein Stück nach Kufstein folgt, passiert auf seiner rechten Seite Degerndorf. Dorthin verlegte er seinen Wohnsitz. Dass die Wahl ausgerechnet auf Degerndorf fiel, war der schwer kranken Mutter seiner Frau geschuldet, die in der Region wohnte und gepflegt werden musste195. Ein abseitiger Wohnort 189

190 191

1,2 193

194 195

Rüdiger Steinmetz: Im Dienst des Ganzen, Medium 4 (1989), S. 46, zitiert nach Rolf Geserick, Vom N W D R zum N D R (wie Anm. 1), S. 152. Verschiedene Entwürfe in StaHH, NDR, Nr. 1273. Arnulf Kutsch, Unter britischer Kontrolle, in: Köhler, Programm u. Politik (wie Anm. 1), S. 126. Brief an Karl Mohr vom 19. März 1956, N1 Grimme, Nr. 3281. Brief an Heinrich Becker vom 29. Oktober 1956, Degerndorf, in: Sauberzweig (1967), S. 219. Brief an Otto Haase vom 18. Januar 1956, N1 Grimme, Nr. 1632. Briefwechsel Josefine Grimme und Katharina Petersen, Nl Grimme Nr. 2220.

Die letzten Jahre

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wäre aber wohl auch ohne diesen familiären Umstand gewählt worden. Nicht etwa nur, um die „Einsamkeit und Stille zu genießen", sondern um noch etwas zu leisten. Für die „innere Sammlung" bedürfe es bei seiner Natur der „äußeren Abgeschlossenheit" 196 . Endlich wollte er wieder zu der Arbeit kommen, auf die er die „ganzen Jahre" habe „verzichten" müssen197. Am Ende seines Berufslebens schien ihm als eigentliche Aufgabe seines Lebens die „wissenschaftliche Arbeit" 198 . Er wollte die letzten verbleibenden Jahre nutzen, um seine Gedanken über das Johannesevangelium in Reinschrift zu bringen und der Welt zu übergeben. Es werde kommen das „wahre Christentum, das kein anderes ist als das des realen Humanismus" 199 . Mitte der sechziger Jahre war die Zeit über solche Gedanken hinweggegangen. Das metaphysische Bedürfnis der Gesellschaft war unmerklich dem Erwerbssinn zum Opfer gefallen. Am Ende seines Lebens stellte Grimme fest, dass er sich von Teilen seiner Generation „entfremde" 200 . Viel Hausbesuch und Sitzungen, welche die verbliebenen Ehrenämter verlangten, hielten ihn in den folgenden Jahren von seiner Arbeit ab. Im Sommer stand er um halb sechs auf und fuhr mit Josefine zum Baden an einen nahegelegenen See, frühstückte auf der Terrasse201 und stieg dann in seine Dachkammer hinauf. Dort lag das Manuskript seit seiner Festnahme im Jahre 1942 unberührt: Sinn und Widersinn des Christentums. Er brachte es nicht mehr fertig. Immer wieder quälten ihn Krankheiten. Im Januar 1963 ließen seine Kräfte plötzlich nach, sodass er täglich immer weniger arbeiten konnte. Eines Tages musste er ganz aufhören. Angstvoll fragte er seine Frau, ob er sein Buch noch zu Ende bringen würde. Sie täuschte ihn jeden Tag von neuem und hielt ihm im Glauben an seine Gesundheit202. Er starb am 27. August 1963.

1.6

1.7 1.8 1.9 200 201 202

Brief an Max Buchheim vom 17. Februar 1956, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 210. Brief an Fritz Sänger vom 3. Januar 1956, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 207. Brief an Karl Mohr, Spätsommer 1954, in: Sauberzweig (1967), S. 190. Brief an Otto Haase vom 18. Januar 1956, Hamburg, N1 Grimme, Nr. 3377. Brief an Ernst Niekisch vom 24. Mai 1954, Hamburg, in: Sauberzweig (1967), S. 188. Brief an Peter Zylmann vom 23. August 1959, N1 Grimme, Nr. 3329. Josefine Grimme an Walther G. Oschilewski vom 7. November 1963, N1 Grimme, Nr. 2202.

Resümee Soziale Pflichten, selbst Krankheiten dürften jemanden nicht abhalten, der von der Dringlichkeit seiner Arbeit überzeugt ist. Die Emphase der ersten Lebenshälfte war erloschen. Das religiöse Bedürfnis, das dieses Leben so lange vorantrieb, wirkte nach dem Krieg nicht mehr mit gleicher Macht. Dies gilt allgemein. Wer nach dem grauenhaften Missbrauch des guten Glaubens nicht ernüchtert war, hat nie ein Herz besessen. Der von der Philosophie abhängige Gottesbegriff und das in der Aufklärung wurzelnde, große Zutrauen in die Kraft der Vernunft waren den Erfordernissen der betrachteten Zeit indes nie angemessen. Dem aufgeklärten Weltbild fehlte der letzte Glaube an die Kraft des Bösen und an die bestialische Natur des Menschen. Im humanistischen Denken besitzt der Einzelmensch gegenüber der Masse den Vorzug. Besonders der Begabte erhält viel Aufmerksamkeit. Eine Ansammlung von Einzelpersönlichkeiten ist das Ideal. Dem Aufstieg einer auf einen einzigen Willen ausgerichteten Masse setzten seine Vertreter nicht genug entgegen. Die an sich löbliche Toleranz gegen den anderen und das Festhalten an Rechtstaatlichkeit behinderten den Willen, sich durchzusetzen. Ein Sinn für vorhandene Machtmittel und deren Gebrauch fehlte. Dies galt für Grimme wie für eine große Zahl seiner Zeitgenossen, die wenn schon Diktatur - auf diese oder jene Weise Vorteil daraus ziehen wollten. Mangelnder Respekt vor Althergebrachtem und schreckliches Vereinfachen des Weltgeschehens führten zum Auflösen alter Formen und Maßstäbe. Das wirkte zusätzlich verhängnisvoll. Das Heil allein vom Johannesevangelium zu erwarten, ist eine religiöse Ubertreibung. Auch liegt kein Wunder vor, wenn sich im Evangelium Verweise in die Philosophie finden. Es entstand für eine griechische, mit antiker Philosophie vertraute Leserschaft. Dass die Schrift bei halbem Verständnis mystische Bedürfnisse bediente, verantwortete ihren Erfolg. Einer theologisch gerechtfertigten Politik sind naturgemäß enge Grenzen gesteckt. Das war auch bei Grimme nicht anders, dessen Politik sich deshalb nicht zufällig viel mehr an preußischer Tradition als an theologischen Grundsätzen ausrichtete. Was es eigentlich bedeutete, dass Millionen von Menschen mit dem Ende Preußens den Tod eines großen Ideals miterlebten und den Bezugspunkt für die eigene geistige Lebensarbeit einbüßten, kann an dieser Stelle nicht erschöpfend beantwortet werden. O b ein preu-

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Resümee

ßischer Kultusminister ebenso zum Rundfunk gewechselt wäre, wie es der niedersächsische tat, erscheint jedenfalls fraglich. Ins Allgemeine verweist der Umstand, dass sich ein vernunftsgläubiger Mensch des späten neunzehnten Jahrhunderts überhaupt religiösen Fragen zuwandte. In einem allmählichen Prozess verschwand die Volksfrömmigkeit, beschleunigt durch das Gebaren der Kirchen, die den Bedürfnissen nicht mehr genügten. Ihre Parteinahme im Ersten Weltkrieg für die alten Herrschaftsformen und die damit verbundenen Kriegsziele schadete ihrer Glaubwürdigkeit in weiten Kreisen. Vermutlich steht der betrachtete Fall für ein allgemeines Muster: Zwar war die Generation noch willens zu Religiosität. Die überkommene Frömmigkeit der Eltern hielt dem vermeintlich höheren Anspruch aber nicht mehr stand. Während die Kirchen viele Anhänger verloren, war das Bemühen um die Restauration religiöser Gedanken weit verbreitet. Neben der Tendenz, Dinge von ihrer weltlichen Seite zu nehmen, entstand eine nicht immer als solche zu erkennende religiöse Gegenbewegung. Das Bedürfnis nach metaphysischem Halt barg erhebliches Potenzial für Bewegungen mit religiösem Anstrich. Die Arbeiterbewegung nutzte die Möglichkeit nur unzureichend und betrachtete den religiösen Sozialismus als eine Häresie innerhalb der eigenen Weltanschauung. Seit die SPD an der Herrschaft teilhatte, gab sie in verschiedene Richtungen Kräfte ab. Die Einheit der Sozialdemokratie litt an Parteien und Fraktionen, deren Sozialismusbegriff vom Hauptstrom abwich. Der Zugewinn an religiösen Sozialisten war zweifelhaft, weil solche intellektuellen Gruppen das Selbstverständnis der Partei veränderten, Traditionalisten sich in der Partei nicht mehr wiederfanden und ihr den Rücken kehrten. Ein Verlust an Kampf- und Streikbereitschaft war die Folge. Der Durchschlagskraft der Arbeiterbewegung war damit nicht geholfen. Von einem allzu umfassenden demokratischen Verständnis bereits überwältigt, ließ sich die Anhängerschaft von Einzelnen kaum noch führen. Ein Leitmotiv des Lebens von Grimme war das Streben nach kultureller „Einheit", woraus ein nicht nachlassendes Ablehnen von Parteilichkeit folgte. Von Interesse war auch hier der Gewinn eines Maßstabes, an dem sich Kultur ausrichten sollte. War es in der ersten Lebenshälfte der preußische Staat mit seiner Geschichte, gab es nach dem Krieg kein Land vergleichbarer Größe. Der Partikularismus überlebte den Krieg. Vielleicht ist er das Fluidum der deutschen Geschichte überhaupt. Der Rundfunk bot die Möglichkeit, größeren Volksgruppen eine Eigenidentität zu verschaffen und die Suche nach kulturellen Wurzeln zu erleichtern. Kann man sagen, in Preußen habe ein stärkerer Wille zur Kultur bestanden als in den Nachfolgestaaten? Immerhin wollte der letzte Preußische Minister, Finanzminister Johannes Popitz, im Falle eines Erfolges des Staatsstreiches gegen

Resümee

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Hitler Kultusminister werden. Und wo fand sich nach dem Krieg ein Kultusminister mit dem Empfinden, dass alle Dinge ein gutes Stück in die jenseitige Welt hineinragen? Der Nachkriegsföderalismus konnte über ihm Stehendes schwer ertragen. Der nationale Zusammenhalt wurde zu Gunsten des Regionalen geschwächt. Ob ein anderer Generaldirektor den Nordwestdeutschen Rundfunk gegen diese Kräfte verteidigt hätte, bleibt eine offene Frage. Grimme konnte keinen Erfolg haben, weil er für die ständigen tagespolitischen Kämpfe ungeeignet war. Das Gefühl für die Beschaffenheit und E r s e t z barkeit der Machtmittel fehlte. Ausgeprägten Parteinaturen wie Adenauer oder Schumacher war er nicht gewachsen. So wurde der Rundfunk als kulturelles Instrument der Politik ausgeliefert und von ihr aufgeteilt. Eine eindeutige geistige Zuordnung kann nicht erfolgen. Dies lag zum einen an den Gruppen selbst, die wenig klare Richtung besaßen. Für ihn bedeutete die Mitgliedschaft bei den Sozialdemokraten, den religiösen Sozialisten und den entschiedenen Schulreformern ein Gesinnungsbekenntnis und war weniger als Absicht zu verstehen, bestimmte politische Ziele zu verfolgen. Er selbst war weder besonders religiös, noch sozialistisch. Man kann nicht einmal sagen, er sei in der Tiefe politisch gewesen. Im Vergleich mit den „letzten Fragen" erschienen ihm die politischen Erfordernisse des Tages gering. Sein hoher Standpunkt trennte ihn von seinen Zeitgenossen. Die Tragödie bestand darin, dies selbst nicht erkannt zu haben. So entstand am Ende eines tapfer gelebten Lebens keine fulminante Kritik an Gesellschaft und Staat, sondern eine Phänomenologie des Johannesevangeliums. Bei Erscheinen des Buches hatte sich die Welt noch einmal tiefgreifend verändert. Ein Paradigmenwechsel am Ende der sechziger Jahre trug dazu bei, dass religiöse Schriften wie diese keine Aufmerksamkeit mehr erhielten (sofern ihr Gegenstand sich nicht auf Fernöstliches bezog). Ob dem Werk zu einer anderen Zeit mehr Erfolg beschieden wäre, weiß freilich niemand. Grimmes Verständnis des Evangeliums bot nichts als Mühsal. Den Sinn der Welt entdecke nicht ein Einzelner, sondern es sei die Gesamtaufgabe der Menschheit. Der Mensch muss selber Werke tun, selbst Richter sein, darf ungeprüft nichts übernehmen. Am Ende hat er seine Werke vorzulegen, auf dass die anderen sie prüfen und vielleicht feststellen: Es ist vorbeigesehen worden. Der Tod bedeutet nichts als Ende, keine Hölle als Strafe und kein Himmel als Lohn stellt sich ein. Das ist keine Religion mehr, sondern Philosophie, die als Korrelat der Ewigkeit bedarf. Und wer wollte die mit Sicherheit voraussagen?

Exkurs über „Sinn und "Widersinn des Christentums" Der Mensch muss nicht denken, um religiös zu sein, meinte Grimme. Wo sich aber Zweifel ergeben, müssten sie bis zur Glaubensgewissheit zu Ende gedacht werden. Die Auseinandersetzung mit dem Glauben seiner Eltern hatte unauslöschliche Zweifel in seinem Denken verankert und lebenslang versuchte er, über diese Zweifel hinwegzukommen. Die Gedankenlinien einer frühen Jugendschrift, die noch stark von der romantischen Schule beeinflusst war, erreichten durch seinen Universitätslehrer Edmund Husserl eine andere Qualität. Als er sich während der Herrschaft der Nationalsozilisten notgedrungen aus der Politik zurückzog, begann er, diese Gedanken weiter zu entwickeln. Da ohne das Verständnis des religiösen Hintergrundes weder die Persönlichkeit Grimmes noch sein persönlicher Politikstil zu verstehen sind, werden im Folgenden die grundlegenden Gedanken hierzu zusammengefasst. Interessierte mögen in „Sinn und Widersinn des Christentums" nachlesen, wie er sie in extenso begründete und versuchte, sie in eine Lebensphilosophie einzubetten. Sein Ausgangspunkt, der Unterschied zwischen Jesus und Christus, ist schon verschiedentlich angeklungen1. Grimme ging es zunächst um den Nachweis, dass alle Evangelisten annahmen, Jesus sei bei Geburt ein Mensch gewesen, woraus sich die Frage ergebe, was Jesus von anderen Menschen unterscheide und auf welche Weise dieser Unterschied entstand. In einer syrischen Bibelübersetzung aus dem 3. Jahrhundert fand sich die Lesart, „Joseph, dem Maria die Jungfrau verlobt war, erzeugte Jesus, der Messias genannt wird". Johannes spreche vom Vater und von der Mutter Jesu (Joh. 6,42) 2 . Selbst Paulus nannte Jesus einen „vom Weibe geborenen". Frühe Zeugnisse nahmen also an, Jesus sei menschlich gezeugt und folglich auch als Mensch auf die Welt gekommen. Die Evangelien des Markus und Johannes schweigen sich über die Geburtsszene aus. Allein bei Matthäus und Lukas finde sich der Umstand einer Jungfrauengeburt. Lukas und Matthäus seien aller Wahrscheinlichkeit nach dem Fehler eines Übersetzers der Prophetentexte Jesaj as erlegen. Dessen Voraussage, der Welt werde ein Messias Siehe den Abschnitt „Grimme wird Sozialdemokrat". Alle im Folgenden Angeführten Bibelstellen sind der Argumentation Grimmes entnommen.

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geboren, hätten die beiden Evangelisten entsprechen wollen. Im hebräischen Grundtext Jesajas werde der Messias nicht von einer Jungfrau, sondern lediglich von einer „jungen Frau" geboren3, was gleichfalls auf eine natürliche Geburt hindeute. Bei den Synoptikern erscheine Jesus als jemand, der sich als Beispiel anbot, dem man folgen könne. Bei Markus trete dem Leser ein ganz „unidealisierter und damit menschlicher Jesus" entgegen. Die Eltern des jungen Jesus brachten kein Verständnis für dessen Anwandlungen auf, hielten ihn gar für einen Verrückten. Wenn aber Maria wusste, dass Jesus ein Gottessohn sei, hätte sie sich kaum über sein Handeln wundern dürfen. Der Jesus im Markus-Evangelium konnte auf eine „verstockte Menge" treffen, die beim besten Willen nicht begreifen wollte, worum es ihm ging. Auch dies hätte einem Gott kaum widerfahren dürfen. Jesus verweigerte den Pharisäern ausdrücklich, sich „durch ein Beglaubigungswunder als Messias auszuweisen" (Mark. 8,12). Daraus folgte der Schluss, dass er geradezu fürchtete, als Gott missverstanden zu werden. Auch sei diesem Jesus durchaus nicht jedes Wunder gelungen. Von den zu ihm gebrachten Kranken habe er nur „viele" anstatt - wie etwa bei Lukas - „alle" heilen können. Und auch dies sei ihm nur vermittels komplizierter Techniken und nicht durch bloßes Handauflegen gelungen. Jesus fährt bei Markus nach seinem Tode nicht in den Himmel auf, sondern hinterlässt lediglich sein Grab leer. Heiliger Geist, versöhnendes Blut und ein auf sich selbst verweisender Jesus seien diesem Evangelium völlig fremd. Bei Johannes sei Jesus auf den ersten Blick eine Gottfigur. Er werde nicht versucht, kenne keine Todesangst und bete lediglich, um der herumstehenden Menge seine Göttlichkeit zu beweisen. „Vater", sagt Jesus dort, „ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich wusste ja, dass du mich allezeit erhörst. Aber um der herumstehenden Menge Willen sage ich es: damit sie glauben, dass du mich gesandt hast" (Joh. 11,42). Bei allen sich bietenden Gelegenheiten vollbringe Jesus die wunderbarsten Taten, um den Jüngern oder der umstehenden Menge den Glauben beizubringen. Der Jesus des Johannes unterscheide nach Rassen und Bekenntnisgruppen. Für den Jesus der Synoptiker sei der Mensch gut, wenn er in Güte lebt. Bei Johannes sei er gut, wenn er Jesus liebt. Dieser erste Blick auf die Schrift des Johannes täusche aber über das Wesentliche dieses vierten Evangeliums hinweg. Johannes sei missverstanden worden, weil er sich in einer höheren Abstraktion und einem intellektuelle Paradoxon verliere. Auch für Johannes sei Jesus ein Mensch. Nur spreche er in seinem Evangelium nicht von dem Menschen Jesus von Nazareth, sondern vom Christus. „Das Fleisch ist ohne 3

Die nicht biblischen Zitate entstammen Ave-Lallemant, Sinn und Widersinn (wie Einleitung, Anm. 7).

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Wert", schreibt Johannes (Joh. 6,63) und etwas weiter unten heißt es, „nur noch eine kurze Frist: da sieht mich die Welt nicht mehr, ihr aber seht mich, denn ich lebe" (Joh. 14,19). Der Tod Jesu bedeute demnach nicht viel. Es verschwände nur der Leib, nicht aber das Wesentliche. Das Wesentliche sei das, was jeder Mensch in sich aufnehmen könne: der Logos. Und dieser Logos verschwinde nicht mit Jesu Tod. Wenn Jesus sagt, „ohne mich könnt ihr gar nichts tun", beziehe sich dies nicht auf ihn selbst als Person. Vielmehr meine Jesus damit, wer nicht an seine Art des Lebens glaube, wer den Logos nicht verinnerliche, könne kein Christ und kein Gotteskind sein. „Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat", erklärt Jesus (Joh. 12,44). Dies sei nur so zu verstehen, dass Jesus von seiner Person ablenken wolle. Wenn Jesus sage, er sei „eins mit Gott", bedeute das nur, dass er mit Gott angefüllt sei. Jesus selbst setze sich nirgendwo im Johannesevangelium mit Gott gleich. Es ist Thomas, der zu Jesus sagt, „mein Herr und mein Gott" (Joh. 20,28). Jesus hingegen sagt: „Der Vater ist größer als ich" (Joh. 12,28).

Nichts kann größer als etwas sein, womit es gleichzeitig identisch ist. Jesus und Gott waren für Johannes also voneinander verschieden. Damit scheint für Johannes nachgewiesen, dass er die Person Jesus von Nazareth nicht für das Entscheidende hielt. Johannes verwirre den Leser lediglich dadurch, dass er dort, wo er Christus meine, Jesus sagt, an wenigen Stellen aber doch wieder auf Jesus menschliches Dasein Bezug nehme, etwa auf den müden oder den durstigen. Der Mensch Jesus von Nazareth löse sich bei Johannes bis auf diese wenigen Stellen vollkommen im Christus auf. Bei Johannes sei Jesus gleich Christus, der Mensch aber nur ein Gleichnis für den Geist. Einzig auf den Geist komme es Johannes an. „Ehe Abraham war, bin ich", erklärt Jesus (Joh. 8,58). Dies könne schlechterdings kein Mensch von sich behaupten und deshalb nur eines bedeuten: der „Logos" war immer schon in der Welt, lange vor dem Menschen Jesus von Nazareth. Wenn dieser Unterschied nicht bedacht werde, führe Johannes direkt in ein Paradoxon, denn Jesus-Logos-Gott könnten keine Einheit sein. Wenn Gott Mensch würde, wäre der Rest der Welt entgöttert. Nur eine Lesart sei zulässig: Gott kann im Menschen sein. Aber Gott ist größer als der Mensch, größer als alles. Wie ein Schwamm im Wasser sich mit Wasser vollsaugt, ohne selbst zum Wasser zu werden. Jesus sei ein Mensch, der wie „Gott von Art" werde. Doch werde er nicht zu Gott, sondern könne nur Teil, nur „Gottes Widerschein" werden. Auch für Johannes sei Jesus von Nazareth ein Mensch, dessen Wert in einer besonderen Art zu leben zu suchen sei. Alle vier Evangelien stimmten damit in diesem Punkt überein: Jesus als Mensch komme ein Wert nicht als Gott, sondern als Entdecker und Sicht-

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barmacher zu. Gott habe „ihm Vollmacht gegeben zu sehen" (Joh. 5,27) und, was er „gesehen und gehört hat, zu verkünden" (Joh. 3,32). Das Bedeutende an Jesu liege darin, dass er wusste, was er tat und dass er die Art seines Lebens in eine Lehre zu fassen vermochte. Nach dem Tod Jesu sei die christliche Gesinnung nicht verschwunden, sondern bestand fort. Da das Beispiel in der Welt stand, habe der Mensch sich nun frei entscheiden können, ob er Jesus nachfolgen wolle. Von einer Amnestie der Menschheit durch den Kreuzestod sei bei den Synoptikern nichts zu finden. Der Tod eines Unschuldigen habe das Innere der Menschen aufwühlen sollen und den Weg zur rechten Gesinnung freilegen. Die Kreuzigung sei für die Evangelisten ein Ärgernis gewesen, durch das der Wert Jesus von Nazareths in keiner Weise gesteigert worden sei. Wie wurde nun aus dem menschlichem Jesus der göttliche JesusChristus? Gleich eingangs heißt es bei Johannes: „Die ihn aber aufnahmen, ihnen allen gab er Anrecht, Gottes Kinder zu werden." (Joh. 1,12). Der Mensch kann durch die Aufnahme des Logos selbst göttlich werden. Der Logos sei das Sinnverleihende, behauptete er und meinte damit, dass erst der Logos dem Menschen ermögliche zu erkennen, wie die Welt ist und daraus abzuleiten, wie sie sein sollte. Mit dem Logos sei der Liebeswert verbunden, der zum positiven Schaffen verpflichte. „Das aber ist das ewige Leben", lehrt Jesus, „dass sie dich erkennen, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus" (Joh. 17,3). Da Johannes mit Jesus stets Christus meine, interpretierte Grimme diese Stelle dahin, dass das Wesentliche im Anerkenntnis des Logos, der Weltvernunft bestehe. „Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt" (Joh. 20,29). Den Begriff des Sehens verstehe Johannes als Fähigkeit des Erkennens. „Sehen" sei die „letzte Ausweisquelle", die einzige Instanz, Kraft derer ein Fehler aufgedeckt, ein Getäuschter enttäuscht oder ein Vorbeisehen am Wesentlichen korrigiert werden könne. „Ich vermag nichts zu tun aus mir selbst; so wie ich höre, richte ich, und mein Gericht ist gerecht; denn ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat" (Joh. 5,30). Er fand es berechtigt, aus diesem Spruch Jesu Folgendes zu schließen: Das Heil hänge daran, den Willen Gottes zu erkennen. Wenn dies gelinge, sei gerechtes Handeln gewährleistet, denn die Welt sei nach Gottes Plan angelegt. Wer nur aus sich selbst heraus handele, gehe falsch. Das Christentum sei nicht das Anerkenntnis von Dogmen, sondern eine Art Erkenntnisphilosophie. Christus stehe bei Johannes für die Fähigkeit zur Erkenntnis. Und Christus sagt über seine Herkunft, er sei „nicht von mir selbst gekommen" (Joh. 7,28). Die Fähigkeit zum Sehen komme nach Johannes also von Gott, folgerte er. Es sei, nach Johannes, die „Gabe, die Gott gibt" (Joh. 4,10). Der Lebenssinn, das Heil und der Frieden seien nach Johannes „nicht von der Welt her zu erwarten" (Joh. 17,14). Der Gebrauch des Er-

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kennens sei von Jesu erklärt: „Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe, so wie auch ich meines Vater Gebote gehalten habe und in seiner Liebe bleibe" (Joh. 15,10). Derjenige, der die Welt liebt, werde zum Erkennen des göttlichen Willens ermächtigt. Indem der Mensch in der Liebe lebe, nehme er den Geist in sein wertloses Fleisch auf und diene damit „Geist und Wahrheit". Wahrheit bedeute, dass es nur einen einzigen möglichen Weg gebe, der dem Menschen von der Natur, von Gott, vorgegeben sei. Durch die Aufnahme des Geistes werde der Mensch zum Christus. Nur als Christus könne der Mensch Gott dienen, denn nur mit dem verinnerlichten Logos könne er den Weg Gottes ergründen. Wer den Logos liebt, liebe die Welt als Beispiel dieses Geistes. „Wir wissen nicht, wohin du gehst", beschwert Thomas sich bei Jesus, „wie sollen wir dann den Weg dorthin kennen?" (Joh. 14,5). Darauf bedeutete ihm Jesus: „ich bin der Weg, und das Ziel bin ich auch, denn in mir habt ihr die Wahrheit und das Leben." (Joh. 14,6). Nur die Fähigkeit zur Einsicht könne Quelle des Glaubens sein. Mit Sehen meine Johannes aber nicht „Denken". Der Mensch könne religiös sein, ohne gedacht zu haben. Nur wo sich Zweifel regt, müsse er bis zur Glaubensgewissheit zu Ende gedacht werden. Dass man überhaupt denke, sei eine Gabe Gottes. Das Bewusstsein sei Teil des Logos und der Logos komme nach Johannes von Gott. So wirke etwas Göttliches im Menschen, mit dessen Hilfe der Mensch das Ziel des Handelns erkennen könne. Bei Johannes sei die Liebe Gottes zur Welt das Zentrum des Glaubens. Die Schrankenlosigkeit des Geistes bedeute, dass er auch im Hässlichen und Niedrigen zu finden sei. Griechen wie Juden sei die Welt „gegeben", dem Christen aber sei sie „aufgegeben" (Joh. 17,4). Den Logos in sich aufzunehmen sei nach Johannes wünschenswert. Eine Pflicht sei es nicht. Dies hielt Grimme für den revolutionärsten Akt der christlichen Theologie. Wenn der Mensch nach dem Willen Gottes handeln müßte, lebte er gewissermaßen in einer „Diktatur Gottes". Mit der Möglichkeit zum freien Entscheid, sei dem Menschen indes eine nie dagewesene religiöse Würde verliehen. Gott habe die Menschen aus dem Paradies der Unmündigkeit nicht aus Boshaftigkeit vertrieben, sondern um ihnen Würde zu verleihen. Die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, als das der Sündenfall gemeinhin gelesen wird, habe den Menschen von Gott emanzipiert. Von dem Augenblick an, in dem die Erkenntnis an den Menschen verliehen werde, habe es allein im Ermessen des Menschen gelegen, für oder wider Gottes Willen zu handeln. Das Paradies Adams und Evas sei ein unwürdiger Ort. Wer Freiheit fordere, könne nicht Verantwortung ablehnen. Im Paradies könne die Schuld für alles Böse Gott zugeschoben werden. Weil für Gott die Würde des Menschen unantastbar sei, müsse der Mensch für das Böse in der Welt auch selbst verantwortlich zeichnen. Der Zustand der Vollkommenheit läge in

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der Zukunft und könne nur durch die Mitarbeit des Menschen zu Stande kommen. Kein anderer Gedanke als der „Entwicklungsgedanke" sei dem Johannesevangelium gemäßer. Uber den Stiftungsakt der Kirche, das Abendmahl, steht bei Johannes nichts zu lesen. Den Grund hierfür läge im Folgenden: Jesus habe gewusst, dass er sterben würde. „Noch eine kurze Frist, da sieht die Welt mich nicht mehr", prophezeite er (Joh. 14,19). Der Abschied wäre Grund genug gewesen, die Jünger noch einmal auf die wichtigsten Lehren einzuschwören. Jesus aber sagte nicht, durch seinen Tod würde die Menschheit rein von Sünde. Stattdessen stellte er fest, die Jünger seien „bereits rein" (Joh. 13,10), „Rein und selig" (Joh. 13,17). Es sei kein Zufall, dass Johannes Jesus „seid" sagen lasse und nicht etwa, „werdet sein". Hinter diesem Tempusunterschied verberge sich eine der größten Denkrevolutionen der Menschheitsgeschichte. Bis zu Jesus habe eine tiefe Kluft die Menschheit von der Gottheit getrennt. Allenfalls nach dem Tode sei der Mensch erlöst worden. Für Christen entscheide das Hier und Jetzt über Heil und Unheil. Wer Christus nicht „erkennt", wer da nicht glaubt, „ist (!) schon (!) gerichtet" (Joh. 3,18). Wer aber die Welt „überwunden" (Joh. 8,29) habe, der stehe in Gemeinschaft mit dem Geist. „Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben." (Joh, 20,23) Mit diesen Worten unterweist Jesus seine Jünger im rechten Glauben. Der Tod des Messias sei demnach unnötig. Ein Gott, der den Kreuzestod eines Menschen fordert, um sich mit dem Rest der Art zu versöhnen, liefe dem Wesen des Christentums vollständig entgegen. Johannes habe keine erzürnte Gottheit vor Augen gehabt. Infolgedessen habe Gott auch nicht durch ein Blutwunder oder eine Heilsgeschichte besänftigt werden müssen. Eines der tiefsten Missverständnisse der Theologie sei die Annahme gewesen, Johannes habe mit dem Tod Jesu ein Sühneopfer gemeint. Matthäus berichtet von dem Brauchtum, dass zum Passahfest ein Lamm als Sühneopfer verspiesen wurde (Mat. 26,17). Das Lamm trägt keine Schuld und wird dennoch geopfert, um Schuld von den Sündern zu nehmen. Der Jude Paulus kannte diesen Brauch und habe deshalb die Geschichte des Johannes missdeutet. Goethe sagte einst über das Lamm, es stehe als „Lehrund Musterbild, Vorbild erhabener Duldung" in der Welt des Johannes. Dies sei das richtige Verständnis, denn auffälligerweise sagt Johannes, das Lamm sei „vor dem Passahfest" (Joh. 13,1) gegessen worden. Das aufgetischte Lamm ist nicht als Symbol des Sühneerlasses gemeint, sondern als Symbol der Schuldlosigkeit und der Duldung. Wie Johannes den überkommenen Religionen personifiziert durch Nikodemus und Philippus entgegentreten wolle, so habe er auch hier ein Gegenstück zur Sakramentgläubigkeit der eigenen Zeit entworfen. Das Missverständnis eines Stiftungsaktes sei schon bei der Niederschrift des Evangeliums verbreitet gewesen. Johannes habe das Bild vom Wein

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und vom Brot aufgenommen, um einer umgehenden Legende zu widersprechen. Wo nämlich bei Paulus stehe, „Das Brot bin ich" (Heb. 10,19), überliefere Johannes den Satz „Ich bin das Brot" (Joh. 6,35). Bei Paulus bedeute der Spruch, das Brot symbolisiere Jesus. Johannes hingegen lasse Christus sagen, ich bin das Wesentliche, das „Brot des Lebens". Das Brot sei für Johannes die Speise, die „ins ewige Leben reicht" (Joh. 6,27). Die Evangelisten wollten nicht den Sinngehalt des Todes bestimmen, sondern den Sinngehalt des Lebens. Bei Johannes fänden sich Menschen, die „von unten leben" und andere, die von Gott inspiriert seien. Zu welcher Gruppe der Mensch sich zählen wolle, habe er selbst in der Hand. „Jeder kann die Werke, die ich tue, auch tun, ja größere als sie" (Joh. 14,12), verkündet Jesus. Der Mensch müsse nur den Logos in sich aufnehmen, zum Christus werden und in der Liebe leben. Dies sei gleichbedeutend mit einem Leben in Dauerkrise. Jeder Tag sei Gerichtstag, Tag des Herrn, die letzte Stunde. Johannes bringe die Botschaft der mit Sinn erfüllten Zeit, die sich von der bloß ablaufenden Zeit unterscheide. Das Johannesevangelium verkünde nach seiner Interpretation einen dogmenfreien, kultlosen Glauben. Es verlange den Gebrauch des Verstandes, ohne von einem Zweiten angeleitet zu werden. „Kommt und seht" (Joh. 1,39), ermutigt Jesus die Jünger und meint damit nach Grimme, sie sollen sich die Dinge selbst ansehen. Der Mensch sei ein gleichberechtigter „Mitarbeiter Gottes".

Anhang Nr. 1 Kabinettsbeteiligungen

Drittes Kabinett Otto Braun (Ministerpräsident) vom 4. April 1925 bis 25. März 1933, gebildet aus einer Koalition der Parteien SPD, Zentrum und DDP: Innenminister: Carl Severing (SPD) bis 6. Oktober 1926, dann ersetzt durch Albert Grzesinski (SPD). Am 28. Februar 1930 ersetzt durch Heinrich Waentig (SPD). Am 22. Oktober 1930 ersetzt durch Carl Severing. Justizminister: Hugo von Zehnhoff (Zentrum). Am 5. März 1927 ersetzt durch Hermann Schmidt (Zentrum). Finanzminister: Hermann Höpker-Aschoff (DDP). Am 12. Oktober 1931 ersetzt durch Otto Klepper (parteilos). Kultusminister: C.H. Becker (parteilos). Am 30. Januar 1930 ersetzt durch Adolf Grimme (SPD). Handelsminister: Walther Schreiber (DDP/Staatspartei). Minister für Wohlfahrt: Heinrich Hirtsiefer (Zentrum).

Erstes Kabinett der niedersächsischen Regierung vom 11. Juni 1947 bis zum 9. Juni 1948, gebildet aus einer Koalition der Parteien SPD, C D U , NLP, FDP, KPD, DZP: Ministerpräsident: Hinrich Wilhelm Kopf (SPD) Minister des Innern: Hinrich Wilhelm Kopf (SPD) Minister der Finanzen: Dr. Georg Strickrodt (CDU) Minister für Arbeit, Aufbau und Gesundheit: Dr. Hans Christoph Seebohm (NLP/DP) Kultusminister: Adolf Grimme (SPD) Minister für Wirtschaft und Verkehr: Alfred Kübel (SPD) Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: August Block (NLP/DP) Minister der Justiz: Dr. Werner Hofmeister (CDU) Minister für die Entnazifizierung: Dr. Werner Hofmeister (CDU)

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Anhang

Minister ohne Geschäftsbereich: Richard Borowski: (SPD) Johann Albers (FDP) Georg Kassenbrock (DZP) Karl Abel (KPD), am 5. Februar 1948 zurückgetreten.

Zweites Kabinett der niedersächsischen Regierung vom 9. Juni 1948 bis zum 18. September 1950 (nach Umbildung), gebildet aus einer Koalition der Parteien SPD, C D U , DZP: Ministerpräsident: Hinrich Wilhelm Kopf (SPD) Minister des Innern: Richard Borowski (CDU) Minister der Finanzen: Dr. Georg Strickrodt (CDU), am 23. August 1950 durch Hinrich W. Kopf abgelöst. Minister für Arbeit, Aufbau und Gesundheit: Dr. Otto Fricke, seit dem 23. August 1950 Alfred Kübel (SPD). Kultusminister: Adolf Grimme (SPD), am 15. November 1948 abgelöst durch Hinrich Kopf, am 10. Dezember 1948 abgelöst durch Minister für Wirtschaft und Verkehr: Alfred Kübel (SPD) Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: August Block (NLP/DP) Minister der Justiz: Dr. Werner Hofmeister (CDU) Minister für die Entnazifizierung: Dr. Werner Hofmeister (CDU) Minister ohne Geschäftsbereich: Richard Borowski: (SPD) Johann Albers (FDP) Georg Kassenbrock (DZP) Karl ABel (KPD), am 5. Februar 1948 zurückgetreten. Minister für Flüchtlingsangelegenheiten, für Vertriebene, Sozialund Gesundheitsangelegenheiten (ab 18. September 1950) Minister für Sonderaufgaben: Georg Kassenbrock (DZP), ab 7. Juni 1950 Otto Krapp (DZP).

Becker an Grimme

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Nr. 2 C. H. Becker an Grimme vom 16. September 1932.

Quelle: GStA PK, VI. HA Familienarchive und Nachlässe, Nl Becker, Nr. 515.

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Anhang

dea Abgeordnet on nach B e r l i n z u r ü c k k e h r e n . loh h o f f e , daaa S i e mXA dann b a l d e i r m e l a n r u f e n , und das« wir g e n u t l i a h e i n s a l a l l e s besprechen k ö r n e n . Beute ausr d i e s e wenigen Z e i l e n a l s Denk ftlr I h r e f r e u n d H o h e T e i l nah im on der Verlobung a e i n e s Sohnes, Ungefähr g l e i c h z e i t i g haben w i r uns auch e i n k l e i n e s Auto a n g e s c h a f f t , und s e i n e Frau i s t h e u t e a l t aeirjea Sohn H e l l a u t ohne C h a u f f e u r nach SUddeut schlaad a b g e f a h r e n . I c h b i n a l l m ä h l i c h der e i n z i g e , i n der F a a i l i e , der noch nicht Auto f a h r e n kann.

Φ

Uit h e r z l i c h e n S r ü s s e n von Haus zu Haue und a l l e n guten JUnachen Ihr getreuer

H'erra S t e n t a e i n i e t e r Adolf Gr i n ® L u Λ a'° ? r posrte r e e t a n t e .

B r i e f e n t w u r f an F r a n z v o n Papen

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Nr. 3 Briefentwurf an Franz von Papen, Spätsommer 1932.

Quelle: GStA PK, VI. HA Familienarchive und Nachlässe, N1 Grimme Nr. 935.

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