Immanuel Kant: Eine Biographie
 9783110855524, 9783110106343

Table of contents :
Vorrede
Einleitung
Erstes Buch: Die Laufbahn
C. I. Die „angenehmsten“ Jahre
§ 1. Lehrtätigkeit
§ 2. Autorschaft
§ 3. Um das vierzigste Jahr
C. II. Immanuel Kant, Professor in Königsberg
§ 1. Weltkenntnis. A. „Natur“
§ 2. Die Logik-Vorlesungen der frühen 70er Jahre
§ 3. Praktische Philosophie
§ 4. Metaphysik
§ 5. Weltkenntnis. B. Anthropologie
Zweites Buch: Das kritische Geschäft
Einleitung: Der Problemhorizont
C. I. Das Erkenntnisproblem
§ 1. „Hier gibts zu unterscheiden“
§ 2. Selbsterkenntnis. A. Sinnlichkleit
§ 3. Selbsterkenntnis. B. Verstand und Erfahrung
§ 4. Wissenschaft
§ 5. Selbsterkenntnis. C. Vernunft
§ 6. Metaphysik von der Metaphysik
C. II. Praktische Vernunft
§ 1. Vorlesungen über Praktische Philosophie 1784 und 1785
§ 2. Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
§ 3. Die Transzendentale Deduktion der Kategorie (1787)
§ 4. Die Kritik der praktischen Vernunft
C. III. Der Übergang
C. III./A. Ästhetik
§ 1. Die Analytik des Schönen
§ 2. Schöne Kunst ist Kunst des Genies
§ 3. Die Dialektik der vernünftelnden ästhetischen Urteilskraft
§ 4. Die Analytik des Erhabenen
C. III./B. Teleologie
§ 1. Naturzwecke
§ 2. Dialektik
§ 3. Zum Anhang. Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft
Drittes Buch: Das Doktrinale Geschäft
Einleitung: Widersacher – Weggenossen – Schützlinge
C. I. Die „Menschengeschichte“ und das „Recht des Menschen“
§ 1. Anfang und Endzweck der Geschichte
§ 2. Die Rechtslehre
C. II. Tugendlehre und Religionsphilosophie
§ 1. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre
§ 2. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
C. III. Der Streit der Fakultäten
§ 1. Der Streit der Philosophischen Fakultät mit der Theologischen und mit der Juristischen
§ 2. Leib und Seele
C. IV. Das Opus postumum
Schluß
Nachweise
Register

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Wolfgang Ritzel · Immanuel Kant

Wolfgang Ritzel

Immanuel Kant Eine Biographie

W DE G 1985 Walter de Gruyter · Berlin · New York

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen Bibliothek

Ritzel, Wolfgang: Immanuel Kant : e. Biographie / Wolfgang Ritzel. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1985. ISBN 3-11-010634-5

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei - pH 7, neutral) © 1985 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbespndere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Saladruck, Köpenicker Str. 18-20, 1000 Berlin 36 Einband: Lüderitz & Bauer, 1000 Berlin 61

HERWIG BLANKERTZ * 22. September 1927 t 26. August 1983 num laude virum musa vetat mori

Vorrede Das ist unser schönster und süßester Wahn, den wir nicht aufgeben dürfen, ob es uns gleich viel Pein im Leben verursacht, daß wir das, was wir schätzen und verehren, uns auch wo möglich zueignen, ja aus uns selbst hervorbringen und darstellen möchten. Goethe Dichtung und Wahrheit 13. Buch

In seinen Bemerkungen zu Schön und erhaben schreibt Kant, „nur unter Freunden" dürfe man „von sich selber reden", niemals aber „unter Leuten und Freunden nach der Mode", also „auch nicht in Büchern". Wir Heutigen sind weniger streng: nicht zwar im Buchtext selbst, aber in der Vorrede erlauben wir uns die Ichrede bzw. lassen sie uns gefallen. Als ich vor etwas über einem halben Jahrhundert die Vernunftkritik zu verstehen suchte und noch als ich einige Semester darnach von meinem Lehrer Bruno Bauch in Jena als Doktorand angenommen wurde, stand das Erscheinen des Opus postumum bevor; der „Vorlesungskant" - den Gerhard Lehmann dem Schriftsteller Kant gegenüberstellt - war so gut wie unbekannt. Die Philosophie Kants, die uns Studenten ex cathedra und allen Interessierten in literarischer Form dargestellt wurde, erschöpfte sich im corpus criticum, und wurde vom „Verstand" gesprochen, so war das Instrumentarium der Kategorien und der Grundsätze gemeint, mit dem alle, die Menschenantlitz tragen, in gleicher Weise ausgestattet sind, ohne sich seiner freilich in gleicher Weise zu bedienen. Noch in meinen Anfängen als akademischer Lehrer - in den mittleren 50er Jahren - hielt ich an dieser Einschätzung fest. Indessen nötigte das Studium des Op. post, dazu, den Streit der Fakultäten nicht mehr als Kants letztes Wort zu betrachten, aber auch dazu, in der Dissertation von 1770 nicht länger sein erstes zu erblicken: da Kant in seinem letzten produktiven Jahrfünft — nach Abschluß des „kritischen Geschäfts" - Themen und Fragen wieder aufgenommen hatte, durch die er vor Beginn desselben beunruhigt worden war, galt es, der ungeachtet aller „Umkippungen" stetigen Genese seines Denkens nachzugehen. Mit diesem Interesse verband sich in meinem Fall das an der Individualität des Denkers, dem ich vorwarf, von Individualität nichts zu wissen und wissen zu wollen. Als aber in der zweiten Hälfte der 60er Jahre die Vorlesungsnachschriften erschienen, entdeckte ich in der Logik Blomberg Sätze wie diese: „ein rechtschaffenes Lehrgebäude muß nur ein einziger bauen" ; „meine Philosophie muß in mir selbst und nicht in dem Verstand anderer gegründet seyn". Ist der Verstand hiernach nicht mehr die unterschiedslose Mitgift unser

Vili

Vorrede

aller, und ist, was den Namen Philosophie verdient, im ausgezeichneten, eigentümlichen Ingenium des Philosophen gegründet, so wird die Idee Individualität bestätigt, wenn auch das Wort keine Verwendung findet. Es schien mir erlaubt - und Kant selbst gegenüber vertretbar - , nicht allein die Genese von Kants Denken darzustellen, sondern sein Werk als Lebenswerk zu reproduzieren, d. h. seine Biographie zu schreiben. Ich begann 1971 mit der Frage Wie ist eine Kant-Biographie überhaupt möglich? (KANT-STUDIEN Jg.62 98ff.) Ich muß hier noch weitere seither erschienene Aufsätze anführen, die entweder als Vorarbeiten zu meiner Kant-Biographie konzipiert wurden oder in der Folge als solche genutzt werden konnten, so daß, wer sie gelesen hat, in manchen der folgenden Kapitel auf Vertrautes stoßen wird: Kant und das Problem der Individualität (KANT-STUDIEN Jg. 65 Sonderheft 229ff.); Kants Opus postumum (in Karl Vorländer Immanuel Kant/Der Mann und das Werk, 2. Aufl. 1977); Von den Schwierigkeiten einer Kant-Biographie (in Perspektiven der Philosophie, Neues Jahrbuch Bd. 5 1979 93 ff.); Der „Unterschied vom Jure und von der Ethik" (in Philosophische Elemente der Tradition des politischen Denkens 1979 119ff.); „Verhältniß und Zusammenhang" von Naturphilosophie und Naturwissenschaft in Kants Spätwerk (Philosophia naturalis Bd. 18 1981 286ff.); Bemerkungen zur Transzendentalen Methodenlehre (Akten des 5. Internationalen Kant-Kongresses/Teil II Vorträge 1981 114 ff.); Die Transzendentale Deduktion der Kategorien 1781 und 1787 (in Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft 1981 126 ff.). Außerdem greife ich im folgenden auf mein Buch Fichtes Religionsphilosophie (1966) zurück, dessen erstes Kapitel Die Religionslehren der kritischen Denker darstellt; vollends dient mir als Vorarbeit mein Büchlein Immanuel Kant — zur Person (1975). Ich bekenne doch, daß der Einbau des vordem Erarbeiteten und Formulierten in das, was ich nun vorlege, mit Schwierigkeiten verbunden war, denen ich nur durch Änderungen, Streichungen und Ergänzungen begegnen konnte. Es ist schon richtig: wo Tauben sind, fliegen Tauben zu, oder unbildlich: je mehr man entdeckt hat, desto mehr vermag man zu entdecken (und zu begreifen). Man muß nur das Wort vom „hermeneutischen Zirkel" hinzunehmen: durch jede neue Entdeckung wird der Wert der vormaligen Entdeckungen modifiziert. Wer Kant studiert, ohne diese Erfahrung zu machen, geht nicht zwar leer aus, kommt aber um den Vollgewinn seines Studiums. Ratsuchenden Studenten empfehle ich, mit der Vernunftkritik zu beginnen, dann das Frühwerk durchzuarbeiten und anschließend ein zweites Mal die Vernunftkritik vorzunehmen; denen, die sich an den Rat halten, bleibt besagte Erfahrung nicht erspart, der Vollgewinn nicht versagt. Noch ein Wort zum Thema Individualität. „Individuell" nenne ich ein Singuläres, das Wertschätzung erfährt, jedoch nicht um dessentwillen, was es als Exemplar und Fall seines genus proximum mit anderen Exemplaren

Vorrede

IX

und Fällen desselben gemein hat (wie meine Uhr das goldene Gehäuse und den genauen Gang), sondern bei Berücksichtigung dessen, was es ihnen allen voraushat (wie meine Uhr dies, daß ich sie von lieber Hand erhielt). Das insofern i n d i v i d u e l l e Singuläre ist zugleich einzig, ohne Äquivalent. Individualität, so verstanden, gestehen wir auch dem Jahrhunderte alten knorrigen Eichbaum zu, der eine von Unwettern heimgesuchte Kuppe in einsamer Herrlichkeit krönt. Von seiner Individualität und von der der ihrem Besitzer unersetzlichen Taschenuhr ist p e r s o n a l e Individualität durch ein zusätzliches Merkmal unterschieden: die Wertschätzung gilt Leistungen oder Hervorbringungen, durch welche die Welt produktiv verändert worden ist, und die ihrem Urheber zugerechnet werden müssen. Die moralische Voraussetzung solcher Leistungen oder Hervorbringungen wird durch das Motto der Vernunftkritik angegeben: von uns selbst schweigen wir, um die Sache geht es. Daher der dialektische Charakter personaler Individualität: nur wer sich selbst um eines Objektiven willen verleugnet, bildet dieselbe aus, nicht aber, wer es darauf anlegt, sie auszubilden (man darf an das Gleichnis vom Weizenkorn im vierten Evangelium - 12, 24 erinnern). U n d nur wer personale Individualität ausbildet, qualifiziert sich als biographischer Held. Wohl ihm, wenn er selbstvergessen und naiv nur den Anspruch des Objektiven vernimmt, um Geist und Gaben aufzubieten ohne einen Gedanken an das, was er zugleich in eigener Person verwirklicht! - N u n habe ich in einem Exkurs über die Möglichkeit einer KantBiographie (in Kapitel III des Zweiten Buches) mein Vorhaben mit Kantschen Denkmitteln gerechtfertigt und zugleich gezeigt, daß auch die KantBiographie und die Biographie überhaupt individuell, daß ihre Individualität aber nicht von der ihres Helden abgeleitet ist, sondern von der des Biographen. Dieselbe Dialektik auch hier: indem der Biograph sich selbst verleugnet, um etwas zustandezubringen, das strengen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, und dessen Objektivität keinen Zweifel leidet, zeigt er unabsichtlich, was an ihm ist, und in der Biographie, die er vorlegt, wird sich das verraten. N u r daß der Biograph sich über die Voraussetzungen seiner Arbeit Rechenschaft ablegen muß, also die Dialektik im Begriff Individualität erfassen wird: die naive Selbstvergessenheit, die für die produktive Existenz manches biographischen Helden charakteristisch ist, ist nicht mehr Sache des Biographen. Daher die Versuchung, zu posieren, die eigene Individualität, die verleugnet werden muß, um offenbar zu werden, vielmehr zu affektieren, aber eben dadurch zu verzerren gleich dem Kleistschen Knaben, der nicht etwa einen Dorn aus der Fußsohle ziehen, sondern - den Blick auf den Spiegel gerichtet - Stellung und Haltung des Dornausziehers einnehmen will, und dem das mißlingen muß. - Individualität der Biographie, so auch meiner Kant-Biographie, das bedeutet, daß unterschiedliche Kant-Biographien denkbar sind, deren keine die andern Lügen straft; an einer jeden wird, wenn sie überhaupt etwas

χ

Vorrede

taugt, etwas Wahres sein, aber „das Wahre ist das Ganze" - insgesamt erst werden sie die Wahrheit über die produktive Existenz Immanuel Kants ausmachen, wie zwar jede Monade auf ihre unverwechselbare Weise das Universum repräsentiert, wie dieses aber erst im Inbegriff monadischer Repräsentationen besteht. - Die vielen einer und derselben produktiven Existenz gewidmeten Biographien werden sich unter anderem durch die Auswahl aus dem einschlägigen Material unterscheiden, welche sie treffen, und in noch auffälligerer Weise darnach, was sie nicht nutzen (ohne es für unerheblich zu erklären). Mehrere Vorlesungsnachschriften Kants, einige kleinere Arbeiten, sodann etwa seine Korrespondenz mit dem Berliner Juristen Ernst Ferdinand Klein sind sämtlich des Interesses wert. D o c h weil, was diese Texte und Briefe enthalten, auch in anderen zu finden ist, die mir im Rahmen meines Vorhabens ergiebiger erscheinen, gehe ich nicht auf sie ein. Die Tugend einer erschöpfenden, nichts Wesentliches übergehenden Darstellung wird zur Marotte, wenn sie nicht mit der Kunst des Weglassens gepaart ist. Ich zitiere nach der Akademie-Ausgabe und - im Ersten Buch, C . II, § 3 - nach der von Paul Menzer herausgegebenen Vorlesung Kants über Ethik. Aber in Zitaten nach Kants Veröffentlichungen folge ich der heutigen Schreibweise; nur handschriftlich Überliefertes gebe ich in der Originalschreibweise wieder. Die Auslassung von einzelnen Wörtern und von Satzteilen in einem Zitat markiere ich nicht.

Bonn-Röttgen, Advent 1984

W . R.

Inhaltsverzeichnis Vorrede

VII

Einleitung 1. Herkunft; Kindheit und Jugend; die „wahre Schätzung" . . 2. Der „Philosoph für die Welt" 3. Specimina eruditionis

1 7 14 29

Erstes Buch: Die Laufbahn C. I. Die „angenehmsten" Jahre § 1. Lehrtätigkeit 1. Metaphysik 2. Praktische Philosophie § 2 . Autorschaft 1. Zum Erkenntnisproblem 2. Natürliche Theologie und Moral 3. Die Welt des Gefühls und das Reich der Träume § 3. Um das vierzigste Jahr 1. Das andere Geschlecht 2. Selbstberichtigungen 3. Briefwechsel

47 53 57 70 76 81 86 94 111 113 117 125

C. II. Immanuel Kant, Professor in Königsberg §1. Weltkenntnis. A. „Natur" 1. Physische Geographie 2. Das Problem der Menschenrassen §2. Die Logik-Vorlesungen der frühen 70er Jahre § 3 . Praktische Philosophie 1. Allgemeine praktische Philosophie 2. Ethik 3. Pädagogik §4. Metaphysik 1. Kant und die philosophische Überlieferung 2. Die Vorlesung §5. Weltkenntnis. B. Anthropologie

132 139 140 146 151 162 163 169 178 189 190 196 205

Zweites Buch: Das kritische Geschäft Einleitung: Der Problemhorizont C. I. Das Erkenntnisproblem §1. „Hier gibts zu unterscheiden"

219 233 242

XII

Inhaltsverzeichnis

§2. Selbsterkenntnis. A. Sinnlichkleit § 3. Selbsterkenntnis. B. Verstand und Erfahrung 1. Die Entdeckung der Kategorien 2. Die Transzendentale Deduktion §4. Wissenschaft 1. Die Schemata 2. Die Grundsätze 3. Phänomena, Noumena und transzendentaler Gegenstand . . § 5. Selbsterkenntnis. C. Vernunft §6. Metaphysik von der Metaphysik 1. Der Kanon 2. Die Architektonik 3. Die Prolegomena

253 259 259 263 273 275 280 290 295 313 314 319 321

C. II. Praktische Vernunft § 1. Vorlesungen über Praktische Philosophie 1784 und 1785 . . . . 1. Allgemeine Praktische Philosophie 2. Jus naturale und jus publicum 3. Ethica 4. Bemerkungen §2. Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 1. „Gemeine" und „philosophische sittliche Vernunfterkenntnis" 2. Der Übergang zur Kritik der praktischen Vernunft 3. Bemerkungen §3. Die Transzendentale Deduktion der Kategorie (1787) 1. „Der Anfang der Deduktion" 2. Der „Abschluß" der Deduktion § 4. Die Kritik der praktischen Vernunft 1. Die Analytik 2. Das höchste Gut 3. Bemerkungen

331 337 338 345 349 355 358 360 367 375 378 379 384 390 393 402 408

C. III. Der Übergang

418

C. III./A. Ästhetik 430 §1. Die Analytik des Schönen 432 1. Das Naturschöne 432 2. Kant und Schiller 438 3. Die „Allgemeingültigkeit dieser Lust" und das „Interesse am Schönen" 443 § 2. Schöne Kunst ist Kunst des Genies 447 1. Darstellung eines ästhetisch erweiterten Begriffs 450 2. Der Konflikt von Genie und Geschmack 458 3. „Ausdruck ästhetischer Ideen" 464

Inhaltsverzeichnis

XIII

§3. Die Dialektik der vernünftelnden ästhetischen Urteilskraft . . . Exkurs I: „Was vergnügt (in der Empfindung gefällt)" Exkurs II: Wie ist eine Kant-Biographie überhaupt möglich?.. §4. Die Analytik des Erhabenen

467 471 473 478

C. III./B. Teleologie §1. Naturzwecke §2. Dialektik §3. Zum Anhang. Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft .

483 485 492 502

Die Verschiebung der Gewichte

510

Drittes Buch: Das Doktrinale Geschäft Einleitung : Widersacher - Weggenossen - Schützlinge 519 C. I. Die „Menschengeschichte" und das „Recht des Menschen" . . . . 541 § 1. Anfang und Endzweck der Geschichte 545 §2. Die Rechtslehre 560 1. Das Privatrecht 568 2. Das öffentliche Recht 575 C. II. Tugendlehre und Religionsphilosophie 592 § 1. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre 592 1. Die Einleitung zur Tugendlehre 593 2. „Praktische Philosophie als Pflichtenlehre" 601 §2. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft . . . . 615 C. III. Der Streit der Fakultäten 631 § 1. Der Streit der Philosophischen Fakultät mit der Theologischen und mit der Juristischen 635 §2. Leib und Seele 639 C. IV. Das Opus postumum 651 1. Was ist Materie? (IV. Convolut) 656 2. Die Einheit der Erfahrung (V. und XII. Convolut) 662 3. Physik und Erfahrung; Selbstaffektion (Convolute X und XI) 667 4. Subjektstheorie (VII. Convolut) 673 5. „Transzendentaler Idealismus" (Convolut I) 679 Schluß

687 1. „Als Greis leichtsinnig und grillig" 687 2. Ein alter, nicht kranker, aber doch invalider, für Amtspflichten ausgedienter Mann 691

Nachweise Register

699 725

Einleitung Die Kapitel und Artikel über einen großen Denker in den verbreiteten Darstellungen der Philosophiegeschichte und in Nachschlagewerken sowie viele einschlägige Monographien stimmen in der Anlage weitgehend überein: sie beginnen mit einer knappen, die Hauptdaten verzeichnenden Vita; durch Angabe des Sterbetages besiegeln sie die zeitliche Existenz des Denkers; dann erst gehen sie zu dem Wichtigen und Wesentlichen über, reproduzieren und würdigen also das überdauernde Werk. Nur weil dieses vorliegt, wird von seinem Urheber gehandelt - aber doch bei weitem nicht gleich eingehend. Liegt das Werk oder das eine und andere Teilwerk in mehreren Fassungen vor, so gilt das Hauptinteresse der spätesten als dem letzten Wort des Denkers; die früheren Fassungen werden als Entwürfe und Vorarbeiten eingestuft, obwohl jener zur Zeit der Niederschrift überzeugt sein mochte, eine endgültige Aussage zu machen. Eilige Leser unterrichten sich über das Werk, wohl gar nur über die Endfassung, ohne die knappe Vita zur Kenntnis zu nehmen; doch bemerkt, wer zunächst sie gelesen hat, gewisse Koinzidenzen der Lebensgeschichte des Denkers und der Genese seines Werkes. Mit der Schrift Über Form und Prinzipien der sinnlichen und der intelligiblen Welt stellte Kant sich bei Antritt seines Ordinariats im Jahre 1770 der akademischen Welt vor; derselbe Titel markiert nach dem Urteil vieler Kenner die Wende von der „vorkritischen" zur „kritischen" Philosophie. Hätte Kant sich aber als ordentlicher Professor der gelehrten Zunft nicht auch mit einer ganz anderen Arbeit empfehlen können? Die Frage liegt nahe, so lange jene Koinzidenz zwar konstatiert, nicht aber begriffen ist, bzw. so lange die beiden Reihen - die Lebensgeschichte des Denkers und die Ausbildung seiner Philosophie - unvermittelt nebeneinander herlaufen. Ob und wieweit das, was er erlebte und erlitt, von Bedeutung war für seine produktive Leistung, welche schicksalhaften Rückwirkungen von seinem Werk auf sein Leben ausgingen, das bleibt offen. Da Leben und Werk nicht als Glieder eines Ganzen dargestellt werden, mutet es zufällig an, daß just diese Philosophie die Frucht just dieses Menschenlebens vorstellt; i h r Urheber könnte ein ganz anderes Leben geführt haben - d i e s e m Leben ist nicht anzumerken, welches überdauernde Werk die Welt ihm verdankt. - All das spricht nicht gegen die charakterisierte Darstellungsweise; diese ist wissenschaftlich legitim, und wenn überhaupt eine kritische Frage erlaubt ist, dann wird sie sich weniger auf die Kürze der einleitenden Vita beziehen als darauf, warum der Darstellung, deren ganzes Interesse dem Werk des Denkers gilt, überhaupt dessen Vita vorausgeschickt wird.

2

Einleitung

Dieselbe Frage drängte sich auf, wenn unter dem Titel einer Philosophenbiographie zum einen eine Philosophie reproduziert, zum andern die Lebensgeschichte ihres Urhebers eingehend und mit viel Liebe zum Detail erzählt würde, wenn sich also die Deckel eines Buches um zwei Zusammenhänge schlössen, deren keiner den andern notwendig macht. In der Tat hat der Biograph nur e i n e n Gegenstand: die produktive Existenz, die durch ihr Werk die Welt auf unerhörte Art verändert, bereichert hat, ohne sich in diesem Werk zu erschöpfen; vielmehr schließt dieses sich als e i n Moment mit dem a n d e r n , der Lebensgeschichte des biographischen Helden, zu seiner produktiven Existenz zusammen. Die inhaltsreichste und belehrendste aller vorliegenden Kant-Biographien trägt den Untertitel Der Mann und das Werk, und wirklich dürfte jede Biographie denselben führen, wenn nur das Wörtlein „und" recht verstanden wird: nicht im bloß additiven Sinne, sondern in dem einer dialektischen Konjunktion. Der Biograph verknüpft die singuläre, für sich genommen gleichgültige Lebensgeschichte mit dem durch eine allgemeine Bedeutung und Wahrheit ausgezeichneten Werk so, daß in einer einzigen unverwechselbaren Gestalt das Singuläre aller belanglosen Zufälligkeit ledig, das Allgemeine aber individuell erscheint. Als Moment der einen Existenz bleibt ein jedes, was es war: auch der geschichtsmächtige Denker erlitt die teils moralisch, teils physisch, teils wirtschaftlich bedingten Beeinträchtigungen, die zum Menschenleben gehören, seinen Glanz trüben und seine Lust schmälern; das darf nicht unterschlagen oder beschönigt werden. Doch zugleich muß herauskommen, warum gerade dieses Menschenleben zum Unterschied von ungezählten anderen der Vergessenheit entrissen wird: weil es zusammengehört mit dem Werk, dem monumentum aere perennius, das in einer diesen anspruchsvollen Titel rechtfertigenden Weise vergegenwärtigt wird, und zwar im Sinne jener Zusammengehörigkeit als L e b e n s w e r k . Der Kant-Biograph darf daher in den Kapiteln, die er diesem Lebenswerk widmet, hinter den Autoren jener ausschließlich auf die authentischen Texte verpflichteten Arbeiten und Monographien nicht zurückbleiben: nur wenn er den Wahrheitsgehalt dieser Texte bestimmt und zugleich bestätigt, daß sie die gekennzeichnete monographische Betrachtung wert sind, entgeht er selbst dem Vorwurf, ein müßiges Geschäft zu betreiben. - Vergegenwärtigung des Werkes als Lebenswerk, d. h. vor allem, daß das Augenmerk nun nicht vorzugsweise dem letzten Wort des Denkers gilt - als Teile eines Lebenswerks verdienen die frühen Entwürfe die nämliche Beachtung wie die endgültigen Formulierungen. Der Biograph ist nämlich im gleichen Fall wie - nach dem von Kant so verehrten Rousseau - der Pädagoge, der Kindheit und Jugend des Zöglings nicht um des Erwachsenenlebens willen mediatisiert, sondern beiden ihren Eigenwert und ihr Eigenrecht zubilligt; oder: auch der Biograph schätzt „jede Epoche" als „unmittelbar zu Gott". Dem Leser der Biographie eines Frühvollendeten drängt sich die Frage auf,

Einleitung

3

was dieser noch geschaffen hätte, wenn er zu hohen Jahren gekommen wäre. Gilt das biographische Interesse aber einem bis ins Greisenalter produktiven Geist, so tut man gut, in der Beschäftigung mit dessen Werdezeit und ihrer Ausbeute von dem abzusehen, was erst die Folge gezeitigt hat, um freilich hernach, wenn hiervon die Rede ist, an die frühen Bemühungen zu erinnern und die Beziehungen dessen, was sich ihnen ergab, zu dem endgültigen, zu ihrer Zeit noch gar nicht absehbaren Ertrag zu bemerken. - Daß sich die Lebensgeschichte und das Lebenswerk des biographischen Helden zur Einheit seiner produktiven Existenz zusammenschließen, muß dem verständnisvollen Leser evident werden; d.h. nicht, daß der Biograph diese Einheit auf einen Begriff zu bringen und denselben unmißverständlich zu formulieren hat. Individuum est ineffabile. In dem Maße, in dem die Lebensgeschichte erzählt und das Werk reproduziert wird, häufen sich die Materialien zu einer persönlichen Charakteristik des biographischen Helden, welche sich nicht damit bescheidet, „wie er sich räuspert und wie er spuckt". Auch diese Charakteristik ist nicht das Fazit der Lebensgeschichte zum einen und der hermeneutisch-kritischen Vergegenwärtigung des Lebenswerkes zum andern, sondern ihrerseits Moment. Kurz: die produktive Existenz, der der Biograph gerecht zu werden strebt, ist die I d e e , auf die sich die Erzählung aus dem Leben des Helden, die Wiedergabe des Bildes, das er selbst von sich hatte, und dessen, das andere sich von ihm machten, und die Darstellung seines Werkes beziehen - jedoch ohne die Gewähr, ihrem Anspruch durchaus zu genügen. Übrigens weckt das Vorhaben Bedenken. „Von uns selbst schweigen wir; um die Sache ist es zu tun!" Das Bacon-Wort, das Kant als Motto der Vernunftkritik wählte, wurde von seinen Erben oft genug in dem Sinn zitiert, daß nur der eine Philosophie in angemessener Einstellung und mit Gewinn studiere, der keinen Gedanken an ihren Urheber verschwende. Die Möglichkeit einer Philosophen-Biographie, insbesondere einer Kant-Biographie (im kritischen Sinne von „Möglichkeit") wird bezweifelt - abermals unter Berufung auf Kant selbst: was nach dem Vorigen verknüpft werden soll, erscheint als unverknüpfbar. „Im F o r t g a n g e einer Geschichte Mutmaßungen e i n z u s t r e u e n , um Lücken der Nachrichten auszufüllen, ist wohl erlaubt: weil das Vorhergehende als entfernte Ursache und das Nachfolgende als Wirkung eine ziemlich sichere Leitung zur Entdeckung der Mittelursachen abgeben kann, um den Ubergang begreiflich zu machen" 1 . Aber das Urteil der „von aller Erfahrung abgesonderten Vernunft ist niemals Meinung, sondern entweder Enthaltung von allem Urteile oder apodiktische Gewißheit". Wer aus Kants Leben erzählt, darf „mutmaßen", muß es zuweilen auch (wenn er seine Mußmaßungen nur nicht als Gewißheiten ausgibt); erlaubte er sich das aber auch im Nachvollzug der kritischen Argumentation, so wäre dies „eben so als wenn man einen Satz der Geometrie bloß wahrscheinlich zu beweisen gedächte" 2 . Läßt sich also

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Einleitung

das, was in der Zeit anhob, verlief und endete, mit dem, was aus der Vernunft entsprungen ist, in einem und demselben literarischen Vorhaben verknüpfen - in einem solchen, dessen Möglichkeit Kant selbst bestätigen müßte? Das wird zunächst vorausgesetzt; auf Grund von Kants Ästhetik wird es positiv entschieden, das biographische Vorhaben also gerechtfertigt werden. Was im kritischen Sinn möglich ist, muß darum nicht gelingen; das Gelingen der Biographie hängt insbesondere von der Quellenlage ab. Der Biograph hat dreierlei Quellen. Das Gesamtwerk seines Helden bildet die eine Klasse. Die zweite umfaßt alles, was außer dem Werk aktenkundig ist, entstamme es nun der Feder des Helden oder der Dritter: seine Aufzeichnungen in eigener Sache, die sich aber auf lange Zurückliegendes beziehen und daher der Unmittelbarkeit des Erlebnisberichts und Bekenntnisses ermangeln - sodann das, was Freunde und Schüler berichtet haben, im Falle Kants die drei frühesten Biographen Borowski, Jachmann und Wasianski. Es mag aus vertraulichen Eröffnungen geschöpft sein, die er ihnen machte, hat aber nicht den Wert des Selbstzeugnisses. Hinzu kommen Tauf- und Sterberegister, Universitätsmatrikeln, Schriftwechsel staatlicher, kommunaler, kirchlicher, akademischer Stellen. Erst Selbstzeugnisse im strengen Sinne bilden die dritte Klasse: Aufzeichnungen des Helden in eigener Sache, nämlich in einer ihn noch zur Zeit der Niederschrift bewegenden. Sie erst haben die Unmittelbarkeit, welche die Jugenderinnerungen eines alten Mannes vermissen lassen. Vor allem der Briefwechsel kommt in Frage, sodann der handschriftliche Nachlaß; auch Kants Werke enthalten manches, was zur Quelle in diesem Sinne taugt. - Und nun kommt kein Biograph allein mit dem Werk und dem einschlägigen aktenkundigen Material aus. „Sprich, damit ich dich sehe" - so sagt er zu seinem Helden, und erst wenn dieser spricht, nämlich in gegenwärtig eigener Sache, wenn also die an dritter Stelle bezeichnete Quelle strömt, erlangt auch dasjenige biographischen Wert, was die beiden erstgenannten hergeben. Es dient dazu, die lebensgeschichtlichen Bezüge der Selbstzeugnisse zu verdeutlichen und diese selbst zu kommentieren, zu ergänzen, in manchen Fällen zu berichtigen. Doch wenn keine Selbstzeugnisse vorliegen, ist es für den Biographen wertlos. Das gilt in einer die Arbeit des Kant-Biographen empfindlich erschwerenden Weise von dem gesamten Material über Kindheit, Jugend und Studentenzeit des Denkers, dann aber auch noch von dem über die Hauslehrerjahre. Die Aufzeichnungen über seine ersten dreißig Lebensjahre stammen, wenn überhaupt aus seiner Feder, so aus viel späterer Zeit. Es gibt keinen Brief, keine tagèbuchartige Notiz des Knaben, des Jünglings, kein Zeugnis der Erschütterungen, die jeder junge Mensch erleidet, die auch ihm nicht erspart geblieben sein dürften. Er war zierlich, von sehr

Einleitung

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kleinem Wuchs und von geringen Körperkräften; bei Unternehmungen mit Gleichaltrigen wird er oftmals ins Hintertreffen geraten sein - wie fand er sich damit ab? Mit seiner dürftigen Körperlichkeit und seiner schlichten Garderobe wird er beim andern Geschlecht kein sehr lebhaftes Interesse geweckt haben - wie ertrug er das? Das ist nirgendwo belegt. Gäbe es wenigstens Aufzeichnungen der Mutter oder naher Verwandter, die ein Bild des Kindes, des Knaben Immanuel festhielten, und wenn schon kein Bild, so Einzelzüge zu einem solchen! Was aber Jachmann über Zerstreutheit und Geistesgegenwart des jungen Kant notiert, das hat er nicht mit den Augen der Liebe wahrgenommen, sondern mit dem aufmerksamen Ohr des Schülers und Vertrauten vernommen. Das Mosaik, das sich aus den spärlichen Belegen zusammenstellen läßt, wird nie zum anschaulichen, die Sympathie und Teilnahme des Lesers weckenden Portrait eines jungen Menschen, wie Dilthey eines von Schleichermacher zeichnen konnte. Erst seit seinen mittleren Dreißiger Jahren äußert Kant sich - brieflich - in einer Weise, die den Entwurf eines Portraits erlaubt, so zurückhaltend er übrigens lebenslang mit Konfessionen ist, und so ergebnislos die Fahndung nach Herzensergießungen Kants verläuft. Fortan gerät er dem Interessierten nicht aus den Augen, ja die Vertrautheit mit ihm nimmt zu von Jahrfünft zu Jahrfünft. N u r wird das biographische Vorhaben auch hierdurch erschwert. Von den acht Briefen, die aus dem Jahr 1759 erhalten sind, stammt nur einer von Kant selbst: der vom 28. Oktober an Johann Gotthelf Lindner - ein erstes rares Selbstzeugnis von hohem Wert; die übrigen sieben sind an Kant gerichtet. N o c h auf Jahre bleibt die Ausbeute spärlich. Zwar sind aus den Jahren 1765/66 und 1768 die wichtigen Korrespondenzen mit Lambert, Mendelssohn und Herder erhalten; aus dem Jahr 1767 aber liegt gar nichts vor. 1770 - als Kant Professor wurde - wechselte er insgesamt 15 Briefe; abermals erhielt er mehr, als er schrieb, und von den erhaltenen Briefen von seiner Hand sagen lediglich die drei Privatschreiben an Marcus H e r z und Lambert etwas über den Schreiber selbst aus. Erst für die späten 70er sowie für die 80er und 90er Jahre ist eine dichtere Korrespondenz belegt, wenn auch nicht alles Belegte vorliegt, und wenn auch die Mehrzahl des Vorliegenden in Briefen an Kant besteht, nicht in solchen von ihm. An diesem stetigen Anwachsen des aussagehaltigen Materials ist es gelegen, daß die Nachwelt den 46jährigen Ordinarius schon viel besser kennt als den 32jährigen Magister legens, und daß vollends der 70er leibhaftig vor ihr steht - sieht sie ihn doch mit den Augen derjenigen, die sich aus der Nähe und Ferne bewundernd und dankbar zu dem Weltberühmten drängen. Läßt sich also über den Kant, der die drei Kritiken geschrieben und wegen seiner Religionsphilosophie Verdruß mit der preußischen Zensur bekommen hat, viel mehr beibringen als über den „eleganten Magister" und Schriftsteller, der in einer und derselben Abhandlung die gängige Metaphysik und den Geisterseher Swedenborg satirisch abfertigt,

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so läuft der Biograph Gefahr, die Frühzeit und ihren Ertrag zugunsten der Reife- und Spätzeit abzuwerten. Nichtbriefliche Selbstzeugnisse verstärken die Gefahr. Bald nach dem Erscheinen der Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) hat Kant Bemerkungen zu dieser Schrift notiert (aber für kein fremdes Auge bestimmt). Hier und im III. Abschnitt des Streits der Fakultäten (1798) mit dem Titel Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein, spricht er von Berichtigungen, denen er sich selbst unterzogen hat. Er stellt dar, was im ersten Fall wenige Jahre, im zweiten viele Jahrzehnte zurückliegt, und läßt das, was der Selbstberichtigung vorausging, als etwas derselben Bedürftiges, nicht zu Billigendes erscheinen - „das Alte ist vergangen, siehe: es ist alles neu geworden!" Man wüßte aber doch gern, wie sich dieses nun Vergangene zu seiner Zeit dargestellt hat, wie Kant sich also zu sich selbst und zur Mitwelt verhielt, ehe er sich durch Rousseau hatte zurechtbringen lassen, und ehe er seine krankhaften Gefühle durch den bloßen Vorsatz zu meistern vermochte. - Auch Jachmann erzählt im siebten seiner biographischen Briefe von einer Reform der Lebensführung, zu der Kant sich in früheren oder mittleren Jahren gezwungen habe, nachdem er - „immer dem ersten Eindruck" folgend - zu Schaden gekommen sei. Das weiß Jachmann doch nur aus dem Munde des alternden Kant; den aus natürlicher Neigung Nachgiebigen zu beobachten hatte er keine Gelegenheit. Mit der Versicherung, jede Lebensstufe und -phase verdiene das gleiche biographische Interesse, ist jener Gefahr nicht zu begegnen; es gilt, den Zeugnissen aus den früheren Jahren bisher noch nicht bemerkte Aufschlüsse abzugewinnen und in den Veröffentlichungen aus derselben Zeit (einschließlich der Vorlesungsnachschriften) wenigstens zwischen den Zeilen Entdeckungen zu machen, die zur Charakteristik des Verfassers und zur Ergänzung seiner Lebensgeschichte taugen. - Selbst wenn das gelingt, ist der b i o g r a p h i s c h e Charakter der Darstellung doch nur gesichert, soweit sie sich auf die Zeit ab - ungefähr - 1759 bezieht. Die Einzelheiten aus Kants Kindheits- und Jugendgeschichte, die zunächst ganz knapp wiedergegeben werden, sind nicht aus Selbstzeugnissen geschöpft. Die Charakteristik des 23jährigen Verfassers der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte hat nur diesen seinen Erstling zum Anhalt, und noch das Urteil über den 32jährigen Privatdozenten stützt sich allein auf die Veröffentlichungen, in denen er sich als Forscher, Denker, Schriftsteller profiliert hat. Daher gehört das hier Folgende, gehören insbesondere die Ausführungen über die literarische Ausbeute der späten 40er und noch der mittleren 50er Jahre nicht in die Kant-Biographie, sondern in deren Einleitung.

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Die wahre Schätzung

1. Herkunft,

Kindheit und Jugend; die wahre

Schätzung

Die Angabe, Immanuel Kant sei - am 22. April 1724 - in K ö n i g s b e r g / Ρ r . zur Welt gekommen, ist nicht ganz korrekt. An diesem Tage hatte der Stadtname offizielle Geltung nur für die Burg samt Burgbezirk, die im Jahre 1255 durch den Deutschen Orden errichtet und nach dem König Ottokar II. von Böhmen benannt worden war. In ihrem Schutz waren im 13. und frühen 14.Jahrhundert drei Städte entstanden: südlich der Burg und bis zum nördlichen Pregelarm reichend die Altstadt; östlich der Burg und also nordöstlich der Altstadt Löbenicht; südlich der Altstadt auf der trapezförmigen Insel, die durch die beiden Pregelarme gebildet wird, Kneiphof. Zu Kneiphof gehörte die Vorstadt auf dem linken Ufer des südlichen Flußarms, das man über die „grüne Brücke" erreichte. In der Sattlergasse der Vorstadt - unweit der Brücke - stand Kants Elternhaus. Kant wurde also als Kneiphofer Kind geboren aber schon am l.Juni desselben Jahres zum Königsberger: an diesem Tag faßte Friedrich Wilhelm I. den Burgbezirk und die drei Städte zu einer kommunalen Einheit zusammen: zur Haupt- und Residenzstadt Königsberg. - Wie dem Kinde die Kleine-Leute-Umwelt erschien, in der es aufwuchs und die Hospitalschule besuchte, welchen Eindruck ihm die Lastkähne und die stattlichen Handelsschiffe machten, die pregelauf und pregelab fuhren, und wie sich ihm die große Handelsstadt darstellte, in die es über die grüne Brücke gelangte - das ist nicht festgehalten. Doch ergibt eine Anmerkung zur Vorrede der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), wie der greise Kant die Vaterstadt einschätzte: „Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Kultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl, als auch mit angrenzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt - eine solche Stadt, wie etwa K ö n i g s b e r g am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann". 3 Kants Vater Johann Georg war Riemermeister - da der Beruf des Riemers, Riemenschneiders aus dem Sattlerberuf hervorgegangen ist, war die Sattlergasse in der Vorstadt der rechte Ort für seine Werkstatt. Er stammte aus Memel; die Mutter - Anna Regina geb. Reuter - hatte einen eingewanderten Nürnberger zum Vater. Sie leitete Hauswesen und Kindererziehung in pietistischem Geiste; wenn Kant ihrer noch im Alter verehrend und liebevoll gedenkt, versäumt er es nicht, auch die strenge Redlichkeit des Vaters anzuerkennen. - Kant überlebte außer den im frühen Kindesalter verstorbenen Geschwistern einen Bruder und zwei Schwestern,

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die nach ihm geboren waren, und wurde von der jüngsten Schwester überlebt. - Der theologische Leiter des Collegium Fridericianum - des Gymnasiums mit dem Beinamen „Pietistenwinkel" - , der Konsistorialrat Franz Albert Schulz, hatte das Vertrauen von Kants Mutter und beriet sie und die ganze Familie in geistlichen und weltlichen Angelegenheiten. Dank seiner Verwendung bekam der körperlich zarte, für einen handwerklichen Beruf nicht geeignete Immanuel im Alter von acht Jahren einen Freiplatz am Fridericianum. Es lag im Stadtteil Löbenicht; so hatte er täglich wenigstens zweimal den weiten Weg über die grüne Brücke, durch die Altstadt und durch den Burgbezirk zurückzulegen und gute Gelegenheit, seine Vaterstadt kennen zu lernen. Wie es im Fridericianum zuging, ist einem Brief zu entnehmen, den er dreißig Jahre später von seinem inzwischen auch zu akademischen Würden gelangten Mitschüler David Ruhnken erhielt: da ist die - lateinische - Rede von der „zwar pedantisch finsteren, aber doch nützlichen und nicht verwerflichen Zucht der Fanatiker", unter der sie beide ehedem geseufzt hätten.4 Der Pietismus, der dem Familienleben ein gemütvolles Gepräge gegeben haben mag, wirkte in der Schule mit einem Ubermaß „erwecklicher" Veranstaltungen weniger gewinnend auf den Heranwachsenden ein; doch als Inhaber eines Freiplatzes tat der kleine Kant gut daran, die inneren Widerstände nicht zu äußern. Daß die Schulbuben sich ihre Pausen und Freistunden mit munteren Spielen vertrieben, belegt eine Notiz, die Kant im höchsten Alter bei schon nachlassenden Kräften einem Manuskript einfügte: ein Abzählvers mit lateinischen Vokabeln und vertauschten deutschen Bedeutungen.5 Erst 13 Jahre zählte Kant, als ihm die Mutter starb; alles deutet darauf, daß damit die häusliche Erziehung ein Ende nahm. Mit 16 Jahren bezog er die Albertina, die 1544 gegründete Königsberger Universität, die ebenso wie der Dom im Nordostteil von Kneiphof ihren Standort hatte; da die Professoren in der Regel nicht im Hauptgebäude dozierten, sondern in ihren Wohnungen bzw. in zu denselben gehörigen Hörsälen, mußte der Student Kant nicht weniger auf den Beinen sein als vordem der Gymnasiast. Noch während des Studiums verlor er auch den Vater und war nun ganz auf sich gestellt - bis auf die materielle Unterstützung durch einen mütterlichen Verwandten, den in behaglichen Verhältnissen lebenden Schuhmachermeister Richter. Durch Privatunterricht und als Vorlesungsrepetitor bestritt Kant seinen bescheidenen Unterhalt. Als sein wichtigster Universitätslehrer wird der um elf Jahre ältere Extraordinarius Martin Knutzen genannt; durch ihn sei Kants Interesse für Mathematik und Philosophie geweckt worden; ihm verdanke er die Vertrautheit mit Newton, mit Leibniz, mit der englischen Philosophie. Kant selbst erwähnt Knutzen doch nur ein einziges Mal, und ohne ihn seinen Lehrer zu nennen.6 - 1746 beendete er sein 6jähriges Studium ohne Examen; die Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (ff.: wahre Schätzung), die er vor der

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Veröffentlichung die Zensur der Philosophischen Fakultät passieren ließ, dienten doch nicht als Dissertation zur Erlangung eines akademischen Grades. Ihr Druck (den jener Onkel Richter finanzierte oder doch mitfinanzierte) verzögerte sich; als sie 1749 vorlagen (irreführenderweise mit der Jahreszahl 1746), verdiente der Verfasser sich sein Brot als Hauslehrer auf dem Lande. Erst stand er im Dienst des Pfarrers Andersch in Judtschen bei Gumbinnen; dann unterrichtete er die jungen Herren von Hülsen in GroßArnsdorf (südlich von Königsberg). O b er auch auf einem Besitztum der gräflichen Familie von Keyserling tätig war, ist ungewiß. Darüber hinaus fehlen alle Unterlagen, nach denen man sich eine Vorstellung von seiner Hauslehrerexistenz und -tätigkeit machen könnte. Ein kurzer Brief, den er am 10. August 1754 - wieder in Königsberg und in der Vorbereitung auf Promotion und Habilitation begriffen - an den Herrn v. Hülsen richtete, enthält freundliche Bestellungen an dessen Söhne und beweist das persönliche Interesse des Schreibers an den vormaligen Zöglingen und Schülern. Der Jüngste, Georg Friedrich v. Hülsen, muß Kant in gutem Gedächtnis behalten haben, da er sich dreißig Jahre später an ihn wandte, um sich einen Hofmeister für die eigenen Kinder empfehlen zu lassen. Schließlich hätten der Pfarrer Andersch und der Herr v.Hülsen Kant nicht durch Jahre gehalten, wenn sie nicht mit ihm zufrieden gewesen wären. Doch hielt er selbst nicht viel von seinen pädagogischen Gaben und Leistungen: die große Kunst, „sich zweckmäßig mit Kindern zu beschäftigen und sich zu ihren Begriffen herabzustimmen", habe er nicht erlernt - vielleicht habe die Welt nie einen schlechteren Hofmeister gesehen! 7 Widmung und Vorrede der wahren Schätzung sowie der Brief vom 23. August 1749 an einen ungenannten, als Rezensent derselben ins Auge gefaßten Gelehrten enthalten erste Äußerungen Kants in eigner Sache; auch Formulierungen und Gedankengänge der Abhandlung selbst dienen zur Charakteristik des Verfassers. - Er hat es auf eine Verbesserung des „Leibnizischen Kräftemaßes" abgesehen: Leibniz erfährt im Prinzip (gegen Descartes) Zustimmung, wird aber im einzelnen kritisiert. Descartes hat den Körper durch Ausdehnung definiert; an seiner „res extensa" läßt sich eine Krafteinwirkung feststellen, so lange sie anhält, aber keine Sekunde länger; dem prinzipiell kraftlosen Raumstück wird die einwirkende Kraft nicht zu eigen. Leibniz aber bezog sich auf den „Körper der Natur", dessen Ausdehnung Funktion seiner primären Bestimmung sei: der „wesentlichen Kraft". Diese macht sich nach Leibniz als „lebendige" und als „tote" geltend; um lebendig zu wirken, bedarf sie der Lebendigmachung oder „Vivification". Kant spricht vom „Erwecken" und der „Anreizung" und legt die Vorstellung auslösender Energien nah, deren Maß ein Minimum der ausgelösten ist. Doch meint er - z. B. - das Anschieben eines Wagens, das Schleudern eines Steins. 8 Die äußere Schub- und Schleuderkraft belebt die innere und wesentliche Kraft: aus eigener, nun lebendiger Kraft rollt der

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Wagen und fliegt der Stein. - So viel zur Neubegründung der D y n a m i k , von der die K i n e t i k unterschieden wird. Die wesentliche Kraft ist etwas anderes als „Bewegungskraft". Die „wirkliche" Bewegung, in deren Verlauf „eine Zeit verflossen" ist, bildet das „äußerliche Phänomenon" der lebendigen Kraft; 9 die verflossene Zeit qualifiziert die wirkende Kraft als lebendig. Umgekehrt qualifiziert der dauerlose Augenblick, in welchem der rollende Wagen aufprallt, die wirkende Kraft des Prellbocks als tot. Doch erschöpft sich die wesentliche Kraft weder im lebendigen noch im toten Wirken, sondern in der ursprünglichen Bestrebung, „den Zustand in sich zu erhalten", auch „Basis der Aktivität" und „Intension" genannt (mit kritischer Anspielung auf Descartes, der nur die Extension gelten läßt).10 - Von den Beobachtungen (des angeschobenen oder geworfenen und aufprallenden Wagens oder Steins) ist zu Erklärungen des Beobachteten nur unter der Voraussetzung zu gelangen, „daß keine Bewegung in der Natur entstehe, als vermittelst einer Materie, die auch in wirklicher Bewegung ist". Erst daraufhin gibt es kontrollierte Wirkungszusammenhänge zwischen Bewegungen; beobachten wir das Einsetzen von Bewegung, so haben wir Anlaß, nach der verursachenden bewegten Materie zu forschen. Indessen stößt Kant auf die Frage, wie „die allerersten Bewegungen in diesem Weltgebäude hervorgebracht" wurden. Ist die Annahme einer unmittelbaren Einwirkung Gottes verwehrt, so muß die „Wirkung einer Materie, welche im Ruhestand ist", angenommen werden. Wer sich dem anschließt, wird nicht bezweifeln, daß die Kraft der unbewegten Materie seit den allerersten Bewegungen im Weltgebäude weiterwirkt. N u r streitet die Annahme mit der zuvor formulierten Voraussetzung einer schlüssigen Erklärung beobachteter Bewegungen. Und da weder Leibniz noch ein anderer neuerer Dynamiker die Hypothese akzeptiert, kehrt Kant auf den Boden gemeinsamer Voraussetzungen zurück. Die Annahme ist übrigens ein „Vorwurf der Metaphysik" 1 1 , d.h. einmal: nur ein anderer Ausdruck für den aristotelischen Gedanken des unbewegten Bewegers; zum andern: denknotwendig, wenn überhaupt ein Beginn der Bewegung unterstellt wird, aber nicht verifizierbar. Die Cartesianer haben das Kraftmaß mv - Masse mal Geschwindigkeit aufgestellt, ein Ergebnis der Berechnung; ließe Masse sich auf Ausdehnung reduzieren, so käme die Dynamik mit der Berechnung aus. Leibniz aber setzte jenen s e i n Kraftmaß mv 2 - Produkt der Masse und des Quadrats der Geschwindigkeit - „absolut und ohne Einschränkung" entgegen. 12 Kant vermittelt kritisch: das Kraftmaß mv bleibt in Geltung, so weit mathematische Berechnungen reichen; es ist falsch, sobald der Masse eine wirkende Kraft eignet, welche sich mathematischem Zugriff entzieht. Auch insofern ging Leibniz in die Irre, als er zur Schätzung der lebendigen Kräfte die Mathematik aufbot; das meint Kants Vorwurf „Verwirrung der Quadratschätzung mit der Mathematik"." Hing diese Verwirrung am Ende zusam-

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men mit Leibniz' Bemühung um eine Mathematik des Unendlichen, eine nicht-cartesische Mathematik also? Da Kant sich Leibniz für das „vortreffliche Gesetz der Kontinuität" verpflichtet weiß, welches ihm zum Leitfaden spezieller Untersuchungen diene, hätte er auf die Frage kommen können. Doch ist es kaum Zufall, daß er dem Denker des Ubergangs von der Mathematik zur Natur nicht gerecht wird: insistiert er doch mehrfach auf dem Unterschied des mathematischen Körpers vom natürlichen. N u r ist er nicht eindeutig. Nach § 129 ist die Ausdehnung der Körper Inhalt einer ewigen und Vernunftwahrheit; daß Naturkörper lebendige Kraft besitzen, ist Tatsachen Wahrheit; unter dem Gesetz für alle Körper, welche die Mathematik aufstellt, stehen auch die Naturkörper. Anders nach § 114: die Axiome sollen am mathematischen Körper „gewisse Eigenschaften nicht erlauben und ausschließen, die an dem Körper der Natur doch notwendig anzutreffen sind"; „es kann daher etwas bei jenem wahr sein, was doch auf diesen nicht zu ziehen ist". „Körper" bedeutet hiernach in „Naturkörper" etwas anderes als in „geometrischer Körper"; der e i n e Begriff „Körper" ist preisgegeben. Kant bezieht sich bald auf die Cartesianer und auf die „Leibnizische Partei", bald auf Descartes und auf Leibniz selbst, ohne das geistige Eigentum der Schulen von dem ihrer Häupter zu unterscheiden; seine Modifikation Leibnizischen Gedankengutes legt die Frage nah, ob er dasselbe streng in Leibniz' Sinn auffaßt. - Nach § 7 „können Substanzen existieren und dennoch gar keine äußerliche Relation gegen andere haben oder in einer wirklichen Verbindung mit ihnen stehen" - will sagen: in k e i n e r Verbindung. Das sind - in Leibniz' Bild - die fensterlosen Monaden. Doch schon nach §6 triumphiert der „physische Einfluß über die vorherbestimmte Harmonie" : weil die Seele „in einem Orte" ist, steht sie in Wechselwirkung mit „draußen"; ihr „innerlicher Zustand" ist die „Zusammenfassung aller ihrer Vorstellungen und Begriffe". Daß sie selbst zusammenfaßt (nicht bloß vorstellt, sondern urteilt), wird nicht bemerkt. Die Schranke ihres Vermögens wird aus der ihr mit allem Innerweltlichen gemeinsamen Determination durch den dreidimensionalen Raum erklärt: einen Raum von mehr als drei Abmessungen kann sie sich nicht vorstellen. N u n weist die Dreidimensionalität zurück auf die Willkür Gottes, der zwischen „vielerlei Raumesarten" wählen konnte. Daher faßt Kant die „Wissenschaft von allen diesen möglichen Raumesarten" als höchste Geometrie ins Auge, welche „ein endlicher Verstand unternehmen könnte". 14 Wird dieser Verstand ohne die Vorstellung (3 + n)-dimensionaler Räume auskommen, welche die Seele ihm nach dem Gesagten nicht liefern kann? Vor allem darum drängt sich die Frage nach dem Verhältnis von Verstand und Seele auf, weil Kant wohl den Dynamismus Leibniz' teilt, weil er die Seele aber nur als lokalisierbare physische Kraft denkt, nicht als Subjekt.

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Viele Paragraphen geben erkenntnistheoretische und methodologische Hinweise. Leibniz' Anhänger verteidigen sich mit „solchen Waffen, die von der Natur ihrer Sache weit entfernt sind"; doch die Cartesianer verlieren den Streit durch Fehlschlüsse, nicht „durch die Schwäche ihrer Sache. Sie würden allemal die Oberhand behalten, wenn sie die rechten Waffen ergreifen möchten, die ihnen die Natur der Sache eigentlich darbietet" (§§28, 33). Ist es doch „notwendig, die der Sache, welche das Subjekt des Beweises ist, notwendig anhängende Begriffe zum voraus zu erwägen und hernach zu untersuchen, ob die Bedingungen des Beweises auch die gehörige Bestimmungen in sich schließen, die auf die Festsetzung dieser Begriffe abzielen" (§ 128). - Es geht Kant weniger um den Gegenstand des wissenschaftlichen Streits zwischen Descartes und Leibniz als um den „modum cognoscendi". In dieser Absicht bemerkt er die Antinomie, die aus einer Position Leibniz' folgt. Leibniz legt „den Körpern, die sich überhaupt eine Zeit lang bewegt haben, ohne Unterschied eine lebendige Kraft bei, diese Zeit mag nun so kurz oder so lang sein, wie man wolle"; indessen ist ihre Verkürzung ein „Grund, woraus verstanden werden kann, daß, wenn man sie fortsetzte, der Körper endlich werde im Anfangspunkte sein, wo die lebendige Kraft sich wirklich verliert und dagegen die Bedingung zur toten einfindet". Mithin ist die „Verkleinerung der Zeit kein Grund, der der Bedingung der lebendigen Kraft etwas entzieht, und ist doch ein Grund hiezu: welches sich widerspricht" (§§50, 25 Anm.). Nur dient das Kant weniger zur kritischen Abfertigung von Leibniz als zur Wahrheitsfindung gemeinsam mit ihm. Entsprechendes gilt vom Widerspruch eines gründlichen Denkers gegen einen andern: die Logik der Wahrscheinlichkeit empfiehlt einen „gewissen Mittelsatz, der beiden Parteien in gewisser Weise Recht läßt". Man verteidigt die Ehre der menschlichen Vernunft, indem man sie „in den verschiedenen Personen scharfsinniger Männer mit sich selbst vereinigt und die Wahrheit, welche dieser ihre Gründlichkeit niemals ganz verfehlt, auch alsdann herausfindet, wenn sie sich gerade widersprechen" (§§20, 125). - Und der „modus cognoscendi" der wahren Schätzung selbst? Wie - wenn nicht rechnerisch - wird das Kraftmaß mv2 bestätigt? Kant bedenkt Wesen und Maß lebendiger Kräfte, experimentiert aber nicht - wenigstens nicht so, wie er es vierzig Jahre hernach in der Vorrede zur Zweitfassung der Vernunftkritik vorschreiben wird. Das, was schon die vorwissenschaftliche Erfahrung lehrt, bestätigt er, z.B. „daß ein frei und gleichförmig bewegter Körper in dem Anfange seiner Bewegung noch nicht die größte Kraft habe". Man kann sich Kant, den schmächtigen, flachbrüstigen Gelehrten, der keine 160 cm maß, schwer im Umgang mit Schußwaffen vorstellen. Doch hat er das eben Bemerkte erhärtet, indem er mit einer Flinte aus unterschiedlichen Entfernungen auf ein Holz schoß: die Kugel drang bei größerer Entfernung tiefer in den Widerstand ein als bei sehr geringer.15 Auf welche Forschungen er es übrigens absah mit dem Nachden-

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ken über die Kraft frei und gleichförmig bewegter Körper, ergibt der Hinweis auf die „freie und immerwährende Bewegung der Planeten". 16 Die Widmung der wahren Schätzung an Dr. med. Bohlius, der sich um die Familie Kant verdient gemacht hat,17 wirkt befremdlich devot. Kant erklärt, seine „unvollkommenen Gedanken" dürften „durch die Niedrigkeit ihres Verfassers allen Wert verlieren" - eine Probe der durch die Topik seit Cicero legitimierten und tradierten „affektierten Bescheidenheit" 18 ; zugleich eine Probe d e r Vorurteile, die sich nach Kants Vorrede auf Ruhm bzw. Namenlosigkeit eines Autors gründen, aber auf den Wert seiner Arbeit beziehen und der „Bequemlichkeit und der Eigenliebe Vorschub" leisten. Und doch will Kant, frei von Vorurteilen, „keinen anderen Überredungen als dem Zuge des Verstandes gehorchen" und die Gedanken der Berühmtesten prüfen und notfalls verwerfen. Darum achtet er die großen Denker und Forscher nicht geringer; er bekennt das mit der „Höflichkeit dieses Jahrhunderts", dem er doch die vormalige „Zeit der Unterscheidungen, welche auch die Zeit der Rauhigkeit der Sitten war", vorzieht. Man beurteile die „Sätze von allen persönlichen Vorzügen ihrer Urheber abgesondert" ! " - Daß Kant seiner Sache sicherer war, als die überbescheidene Widmung vermuten läßt, geht gleichfalls aus der Vorrede hervor: er will dem „vermessenen" Anspruch nicht gern entsagen: „die Wahrheit, um die sich die größten Meister der menschlichen Erkenntnis vergeblich beworben haben, hat sich meinem Verstände zuerst dargestellt"! Das entspricht der Empfehlung eines „edlen Vertrauens in die eigenen Kräfte", welches das Erkenntnisstreben beleben soll.20 Daß Kant in Schätzung der lebendigen Kräfte die eigenen Kräfte freilich überschätzt hat, besagt ein bekannter Spottvers Lessings. 21 In dem schon erwähnten Brief vom 23. August 1749 bittet Kant den Empfänger, die beigefügte wahre Schätzung anzukündigen und das Publikum zur unparteiischen Prüfung ihrer Beweisgründe zu ermuntern. Eine Fortsetzung der hier angestellten Überlegungen werde nach Drucklegung folgen (die Ankündigung hat Kant nicht wahrgemacht). Nun wurde die

Schrift in der Göttingischen Zeitung von Gelehrten Sachen, Nr. 37 vom

13. April 1750, rezensiert; Herausgeber war Albrecht von Haller, der Schweizer Dichter, Arzt und Naturforscher - 1749/1750 bereits eine Berühmtheit. Ihn schlicht mit „mein H e r r " anzureden, stand dem namenlosen 25jährigen Kant nicht zu, wird ihm auch (trotz der Spitze gegen die Höflichkeit des Jahrhunderts) nicht in den Sinn gekommen sein. Ist also die Annahme, jener Brief sei an Haller gerichtet, zu bezweifeln, so kann der Adressat doch nicht ermittelt werden. Es liegt nah, an Kants Frühwerk vor allem zu bemerken, was wie Vorwegnahme kritischer Motive anmutet. Der „modus cognoscendi" ist dem Verfasser wichtiger als der Gegenstand, über den Cartesianer und Leibnizianer sich nicht verständigen können - insbesondere der Modus der

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Metaphysik, deren Sätze denknotwendig, aber nicht nachprüfbar sind. Die aus einem Theorem folgende Antinomie dient als Argument gegen dasselbe. Andererseits haben Versuche noch nicht den Charakter planmäßig „gemachter" wissenschaftlicher Erfahrung (zum Unterschied von der zufällig sich ergebenden Alltagserfahrung); sie bestätigen nur, was sich schon der letzteren und der an sie anknüpfenden Berechnung und Kombination ergeben hat. Kurz: Kants Erstling findet Beachtung als Vorarbeit der Schriften seiner reifen Jahre, durch die er „Epoche" gemacht hat (wie er sich selbst gerne ausdrückt), so daß es angezeigt ist, sein Lebenswerk in Gestalt einer Biographie zu reproduzieren. Dem Biographen aber wird die Werdezeit seines Helden samt ihrem Ertrag um ihrer selbst und nicht erst um dessentwillen wichtig, was die Reifezeit erbracht hat. So bemerkt er jedenfalls auch, daß 4er etwa 23jährige Verfasser der wahren Schätzung Denker und Schulen in recht großzügiger Weise auf spezifische wissenschaftliche und philosophische Positionen festlegt. Nur in s y s t e m a t i s c h e r Absicht stellt der junge Denker dieselben und die mit ihnen streitenden dar - geht es ihm doch allein um die Sache, „welche das Subjekt des Beweises ist", und wenn schon um Ehre, so um die der allgemeinen Vernunft, nicht um die eines Autors. Die Unbedenklichkeit, welche er den historisch verfochtenen Lehren und ihren Urhebern gegenüber an den Tag legt, bezeugt seine Selbstsicherheit, zu der die Genugtuung erster Autorschaft beitragen mag, und die durch die Vorrede bestätigt wird. Auch seine Bereitschaft, zu streiten und sich zu exponieren, verrät sein Selbstwertgefühl; interessant, daß er