Max Kommerell: Eine intellektuelle Biographie 9783110237535, 9783110237528

this study represents the first fundamental work on the literary scholar Max Kommerell (1902‑1944), a representative of

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Max Kommerell: Eine intellektuelle Biographie
 9783110237535, 9783110237528

Table of contents :
Inhalt
I. Einleitung
I.1 Fragestellung
I.2 Forschungsstand
I.3 Bemerkungen zur Biographie als wissenschaftliches Genre
I.4 Ansätze zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik
I.5 Aufbau der Arbeit
II. Max Kommerells Schulzeit, Studium und Promotion (1908–1929).
II.1 Jugendbewegung
II.1.1 Der erste Mentor: Ernst Kayka Das erste Dichtervorbild: Carl Spitteler
II.1.2 Frühe Vordenker: Gustav Wyneken und Hans Blüher
II.1.3 Das Debüt als Autor: Über August Halm
II.2 George-Kreis
III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Karl Reinhardt und Walter F. Otto (1930–1934).
III.1 Wissenschaftsverständnis in Dissertation und Habilitationsschrift
III.2 Im Frankfurter Kreis mit den klassischen Philologen Reinhardt und Otto
III.3 „Trilogie der Wissenschaft“
III.3.1 Jean Paul
III.3.2 Sophokles
III.3.3 Dionysos
III.3.4 Vergleich der Metaphernfelder in Jean Paul und Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik
III.4 Das Frankfurter Umfeld
III.4.1 Walter Benjamins Kommerell-Kritik
III.4.2 Die Philosophen Kurt Riezler und Karl Schlechta
IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Heinrich Zimmer (1930–1940)
IV.1 Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede
IV.2 Nachlese der Gedichte
IV.3 Das kaiserliche Blut
IV.3.1 Der Weg von Hofmannsthal zu Calderón
IV.3.2 Calderóns En esta vida todo es verdad todo mentira als Vorlage
IV.3.3 Hofmannsthals Kaiser Phokas und Der Turm
IV.4 Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern
V. Die Goethe- und Kleist-Rezeption im Dialog mit Heinrich Zimmer (1931–1943)
V.1 Die Kleist-Rezeption
V.2 Kommerells Goethe
V.2.1 Die Lyrik-Rezeption
V.2.2 Die Rezeption der Wilhelm Meister-Romane
V.2.3 Die Faust-Rezeption
i) Faust und die Sorge
ii) Faust II. Teil. Zum Verständnis der Form
iii) Die letzte Szene der Faustdichtung. Ein Interpretationsversuch
VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘ im Dialog mit Ernst Robert Curtius, Fritz Schalk und Werner Krauss (1934–1944)
VI.1 Kommerell als Übersetzer
VI.1.1 Der übersetzungstheoretische Ansatz
VI.1.2 Übersetzungspraxis am Beispiel Calderóns
VI.1.3 Kommerells Übersetzungen auf der Bühne
VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten
VI.2.1 Der Streit um den Artikel
VI.2.2 Gemeinsame Lektüren „angezettelt“
VI.2.3 Ernst Robert Curtius und Kommerells Stilforschung in Etwas über die Kunst Calderons
i) Der Briefwechsel zwischen Kommerell und Curtius über Calderón
ii) Curtius’ Calderón-Forschungen
iii) Kommerells Stilforschung in Etwas über die Kunst Calderons Der Begriff „Vorrat“
iv) „Zeichen“, „barockes Zeigen“ und die Bühnentechnik in der Interpretation Kommerells
VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur
VI.3.1 Die Cervantes-Studien
VI.3.2 Italienische, französische und englische Literatur.
VI.3.3 Dame Dichterin und die ‚Weltliteratur‘
VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944
VII.1 Kommerells Karriere bis 1939
VII.1.1 Habilitation in Frankfurt 1930
VII.1.2 Sommer 1934: Vertretung in Bonn, auf den Berufungslisten in Kiel und Würzburg
VII.1.3 Vertretung in Gießen WS 1935/36 und die Ernennung zum außerordentlichen Professor 1939
VII.1.4 Vertretung in Köln SoSe 1938 und WS 1938/39, Bewerbung für Lissabon
VII.2 Lessing und Aristoteles, Geist und Buchstabe der Dichtung und die Berufung nach Marburg 1939–1941
VII.2.1 Die erste Berufungsrunde 1939
VII.2.2 Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie 1940
VII.2.3 Geist und Buchstabe der Dichtung 1940
i) Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Geist und Buchstabe
ii) Die Schiller-Studien
iii) Kommerells Interpretationsverfahren
VII.2.4 Die zweite Berufungsrunde 1940/41
VII.3 ‚Gemeinschaftswerke‘ und Auslandsvorträge 1941–1943
VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer (1941–1943)
VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger über Dichten und Denken
VIII.1.1 Vorsichtige Annäherungen
VIII.1.2 Die Briefkontroverse
VIII.2 Kommerells und Gadamers Hölderlin-Austausch
VIII.3 Kommerell, Heidegger und Gadamer als ‚Wissenschaftsdreieck‘
IX. Die Rilke-Rezeption im Dialog mit Julius Ebbinghaus, Kurt Reidemeister und Rudolf Bultmann (1941–1944)
IX.1 Philosophie und Vernunftkritik
IX.2 Mathematik zwischen Mallarmé und Rilke
IX.2.1 Natur- und Geisteswissenschaften bei Reidemeister
IX.2.2 Reidemeisters Kommerell-Auslegung
IX.3 Theologie und Fragen der Hermeneutik
IX.3.1 Bultmanns Entmythologisierungsprogramm und die existentiale Interpretation
IX.3.2 Kommerells Rilke-Rezeption
IX.3.3 Der Marburger Graeca-Lesekreis: Hermeneutische Lektüren
X. Ausblick
Anhang
A.1 Abkürzungsverzeichnis
A.2 Siglenverzeichnis
A.3 Bibliographie
A.3.1 Primärliteratur
A.3.1.1 Primärliteratur
A.3.1.1.1 Archivquellen
A.3.1.1.2 Editionen
A.3.1.1.3 Veröffentlichte Primärliteratur
A.3.1.2 Primärliteratur anderer Autoren
A.3.2 Sekundärliteratur
A.3.3 Internetquellen
A.4 Personenregister

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Christian Weber Max Kommerell

Christian Weber

Max Kommerell Eine intellektuelle Biographie

De Gruyter

Dem Licht in meinem Leben

ISBN 978-3-11-023752-8 e-ISBN 978-978-3-11-023753-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Weber, Christian, 1979Max Kommerell : eine intellektuelle biographie / Christian Weber. p. cm. Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-023752-8 (acid-free paper) 1. Kommerell, Max, 1902-1944. 2. Authors, German--20th century-Biography. 3. Critics--Germany--Biography. 4. Germany--Intellectual life--20th century. I. Title. PT2621.O73Z89 2011 831‘.912--dc22 [B] 2011006897

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandabbildung: Porträt Max Kommerell (DLA Marbach) Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I.1 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 I.2 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 I.3 Bemerkungen zur Biographie als wissenschaftliches Genre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 I.4 Ansätze zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik . . . . 19 I.5 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

II.

Max Kommerells Schulzeit, Studium und Promotion (1908–1929). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1 Jugendbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.1 Der erste Mentor: Ernst Kayka – Das erste Dichtervorbild: Carl Spitteler . . . . . . . . II.1.2 Frühe Vordenker: Gustav Wyneken und Hans Blüher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.3 Das Debüt als Autor: Über August Halm . . . . . . . II.2 George-Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III.

Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Karl Reinhardt und Walter F. Otto (1930–1934). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1 Wissenschaftsverständnis in Dissertation und Habilitationsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2 Im Frankfurter Kreis mit den klassischen Philologen Reinhardt und Otto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3 „Trilogie der Wissenschaft“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.1 Max Kommerell: Jean Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.2 Karl Reinhardt: Sophokles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.3 Walter F. Otto: Dionysos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.4 Vergleich der Metaphernfelder in Jean Paul und Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4 Das Frankfurter Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.1 Walter Benjamins Kommerell-Kritik. . . . . . . . . . . III.4.2 Die Philosophen Kurt Riezler und Karl Schlechta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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105 114 114 122

VI IV.

V.

VI.

Inhalt

Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Heinrich Zimmer (1930–1940) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1 Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2 Nachlese der Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3 Das kaiserliche Blut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3.1 Der Weg von Hofmannsthal zu Calderón . . . . . . IV.3.2 Calderóns En esta vida todo es verdad y todo mentira als Vorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3.3 Hofmannsthals Kaiser Phokas und Der Turm . . . . IV.4 Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern . . . . . . . . . Die Goethe- und Kleist-Rezeption im Dialog mit Heinrich Zimmer (1931–1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1 Die Kleist-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2 Kommerells Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2.1 Die Lyrik-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2.2 Die Rezeption der Wilhelm Meister-Romane. . . . . V.2.3 Die Faust-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Faust und die Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Faust II. Teil. Zum Verständnis der Form . . . iii) Die letzte Szene der Faustdichtung. Ein Interpretationsversuch . . . . . . . . . . . . . . . Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘ im Dialog mit Ernst Robert Curtius, Fritz Schalk und Werner Krauss (1934–1944) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.1 Kommerell als Übersetzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.1.1 Der übersetzungstheoretische Ansatz . . . . . . . . . . VI.1.2 Übersetzungspraxis am Beispiel Calderóns . . . . . . VI.1.3 Kommerells Übersetzungen auf der Bühne . . . . . . VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.2.1 Werner Krauss: Der Streit um den Artikel . . . . . . VI.2.2 Fritz Schalk: Gemeinsame Lektüren „angezettelt“ . . VI.2.3 Ernst Robert Curtius und Kommerells Stilforschung in Etwas über die Kunst Calderons . . i) Der Briefwechsel zwischen Kommerell und Curtius über Calderón. . . . . . . . . . . . . . ii) Curtius’ Calderón-Forschungen . . . . . . . . . . iii) Kommerells Stilforschung in Etwas über die Kunst Calderons – Der Begriff „Vorrat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

„Zeichen“, „barockes Zeigen“ und die Bühnentechnik in der Interpretation Kommerells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur . . . . . . . . . . . VI.3.1 Die Cervantes-Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.3.2 Italienische, französische und englische Literatur VI.3.3 Dame Dichterin und die ‚Weltliteratur‘ . . . . . . . . .

VII

iv)

VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944 . . . . . . . . . . . . . . . VII.1 Kommerells Karriere bis 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII.1.1 Habilitation in Frankfurt 1930 . . . . . . . . . . . . . . . VII.1.2 Sommer 1934: Vertretung in Bonn, auf den Berufungslisten in Kiel und Würzburg . . VII.1.3 Vertretung in Gießen WS 1935/36 und die Ernennung zum außerordentlichen Professor 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII.1.4 Vertretung in Köln SoSe 1938 und WS 1938/39, Bewerbung für Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII.2 Lessing und Aristoteles, Geist und Buchstabe der Dichtung und die Berufung nach Marburg 1939–1941 . . . . . . . . . . . VII.2.1 Die erste Berufungsrunde 1939 . . . . . . . . . . . . . . . VII.2.2 Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie 1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII.2.3 Geist und Buchstabe der Dichtung 1940 . . . . . . . . . i) Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Geist und Buchstabe . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Die Schiller-Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . iii) Kommerells Interpretationsverfahren . . . . . . VII.2.4 Die zweite Berufungsrunde 1940/41 . . . . . . . . . . . VII.3 ‚Gemeinschaftswerke‘ und Auslandsvorträge 1941–1943 . . VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer (1941–1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger über Dichten und Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII.1.1 Vorsichtige Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII.1.2 Die Briefkontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII.2 Kommerells und Gadamers Hölderlin-Austausch. . . . . . . . VIII.3 Kommerell, Heidegger und Gadamer als ‚Wissenschaftsdreieck‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297 305 305 313 323 337 338 339 347

353 361 364 364 372 394 395 403 407 412 426

437 438 439 448 462 468

VIII IX.

X.

Inhalt

Die Rilke-Rezeption im Dialog mit Julius Ebbinghaus, Kurt Reidemeister und Rudolf Bultmann (1941–1944) . . . . . . . . IX.1 Julius Ebbinghaus: Philosophie und Vernunftkritik . . . . . . IX.2 Kurt Reidemeister: Mathematik zwischen Mallarmé und Rilke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX.2.1 Natur- und Geisteswissenschaften bei Reidemeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX.2.2 Reidemeisters Kommerell-Auslegung . . . . . . . . . . IX.3 Rudolf Bultmann: Theologie und Fragen der Hermeneutik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX.3.1 Bultmanns Entmythologisierungsprogramm und die existentiale Interpretation. . . . . . . . . . . . . IX.3.2 Kommerells Rilke-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . IX.3.3 Der Marburger Graeca-Lesekreis: Hermeneutische Lektüren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.1 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.2 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.3 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.3.1 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.3.1.1 Primärliteratur von Max Kommerell . . . . . . . . . . . A.3.1.1.1 Archivquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.3.1.1.2 Editionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.3.1.1.3 Veröffentlichte Primärliteratur . . . . . . . A.3.1.2 Primärliteratur anderer Autoren . . . . . . . . . . . . . . A.3.2 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.3.3 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.4 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie dem Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin vorgelegt. Zu großem Dank verpflichtet bin ich meinem Doktorvater Peter-André Alt, der mich stets hilfsbereit betreut und produktiv begleitet hat. Für die intensiven und anregenden Diskussionen danke ich herzlich meinem Zweitgutachter Ralf Klausnitzer, Marcel Lepper und Christian Barth. Vielfältige Förderung erfuhr die Arbeit durch Wolfgang Braungart, Lutz Danneberg, Walter Erhart, Wolfgang Hardtwig, Frank-Rutger Hausmann, Gerhard Lauer, Norbert Miller und Ulrich Raulff. Für die zahlreichen Hinweise möchte ich mich ferner bedanken bei Jan Andres, Petra Boden, Markus Bodler, Jost Klenner, Kai Köhler, Joseph Lemberg, Michael Lück, Alexander Nebrig, Johannes Rößler, Jan Schleusener, Philipp Scholz, Dirk Werle, Ma Yan und dem Zentrum für Biographik. Ich danke der KAS und dem DLA für das Marbach Stipendium. Mein Dank gilt nicht zuletzt Manuela Gerlof und Susanne Rade vom Verlag Walter de Gruyter, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staatsbibliothek zu Berlin und des Handschriftenlesesaals vom DLA, besonders Hildegard Dieke, Heidrun Fink und Thomas Kemme, die mir unermüdlich geholfen haben, die Berge von Archivmaterial leichter zu erklimmen. Berlin, im August 2010

I. Einleitung „Die Fachgenossen sehen in mir mit völligem Recht ihren natürlichen Todfeind“,1 schreibt der Germanist Max Kommerell in einem Brief am 7. Juni 1944 kurz vor seinem Tod an den befreundeten Theologen Rudolf Bultmann. Aus dieser Einschätzung ergeben sich verschiedene Hypothesen für die vorliegende Arbeit. Wenn Kommerell sich einem Fach zurechnet, drückt er aus, daß eine Grenze zwischen den Disziplinen vorhanden ist. Er begibt sich in Opposition zu den Fachkollegen und meint, daß er durch sein Verhalten als „Todfeind“ die Existenz des Faches bedrohe. Die Gefahr, die von ihm zurecht ausgehe, sei nicht inszeniert, sondern per se gegeben. Wer so seine Stellung im Wissenschaftssystem beschreibt, kann, ja muß als komplexe Person wahrgenommen werden. Damit ergibt sich für diese Untersuchung die Frage, was dazu führte, daß Kommerell am Ende seines Lebens eine derart radikale Aussage über sein Fach und sich treffen kann. Die vorliegende Arbeit interessiert sich besonders dafür, wie Kommerell sein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen im Umgang mit Texten entwickelt, wie er durch die Sprachmächtigkeit, mit der er seinen detaillierten Beobachtungen Ausdruck verleiht, schöpferisch tätig wird und wie der für ihn konstitutive Vorgang des Lesens seinen Lebensweg bestimmt. Ungelöste Fragen, denen im Laufe der Arbeit nachgegangen wird, sind Kommerells Doppelbegabung als Schriftsteller und Wissenschaftler, sein ambivalentes politisches Verhalten und der Zusammenhang zwischen privatem Gedankenaustausch im Brief und öffentlicher Präsentation der Gedanken in der Publikation. Hier geht es um die Disziplinengeschichte der Germanistik am Beispiel des Frankfurter Privatdozenten und Marburger Ordinarius Max Kommerell, der 1902 im schwäbischen Münsingen geboren wurde und 1944 in Marburg starb.2 Dabei wird die Frage verfolgt, wie wissenschaftliche Ideen entwickelt und verbreitet werden. Aus dem Eingangszitat geht anschaulich hervor, wel-

1 2

Kommerell, Max: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, aus dem Nachlaß hrsg. v. Inge Jens, Olten 1967, S. 450. Fortan zitiert als Sigle BA. Kommerell wird am 25. Februar 1902 in Münsingen geboren, wächst in Cannstatt bei Stuttgart auf und stirbt am 25. Juli 1944 in Marburg an der Lahn. Zu Einzelheiten der Chronologie siehe Storck, Joachim W.: Max Kommerell 1902–1944, Marbach/N 1985, S. 2ff.

2

I. Einleitung

che Stellung Kommerell sich selbst im Wissenschaftssystem zuschreibt. Wie kommt er zu dieser Selbstwahrnehmung, wo ist er in der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik zu verorten und welche interdisziplinären Kontakte hat er zu anderen Wissenschaftlern unterhalten? Gegenstand dieser Untersuchung ist die intellektuelle Biographie Kommerells. Der Titel „Max Kommerell. Eine intellektuelle Biographie“ zielt nicht darauf ab, die Biographie eines Intellektuellen zu präsentieren, sondern verweist auf das intellektuelle, das wissenschaftliche und wissenschaftsgeschichtliche Profil von Kommerells Biographie. Es wird nicht das gesamte Leben von Kommerell behandelt, sondern nur sein wissenschaftliches Leben. Seit Ernst Gombrichs Aby-Warburg-Biographie von 1970, die eine Verbindung von Leben und Werk herstellt, wird bewußt für Biographien über Wissenschaftler der Terminus „Intellektuelle Biographie“ benutzt.3 Allgemein ist die Ansicht verbreitet, daß ein Intellektueller in das öffentliche Geschehen eingreife. Laut der Definition Joseph Schumpeters, nach der ein Intellektueller die Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes handhabe und sich durch das Fehlen von Kenntnissen aus erster Hand sowie durch eine kritische Haltung bei gleichzeitigem Fehlen einer direkten Verantwortlichkeit für praktische Dinge auszeichne, könnte Kommerell durchaus als Intellektueller angesehen werden.4 Weniger hingegen unter Schumpeters Kriterium, daß ein Intellektueller sich über Gegenstände außerhalb seiner beruflichen Zuständigkeit äußere.5 Es gibt nur zwei Vorträge von Kommerell, Jugend ohne Goethe von 1931 und Goethe und die europäische Jugend von 1942, die einen direkten Gesellschaftsbezug aufweisen, aber in ihnen dominieren die Aussagen über Goethe, die auf Diskussionen im Fach bezogen sind. Ebenso ist Kommerells Wert als Störfaktor, wie ihn Schumpeter zur Bedingung macht, zu bezweifeln.6 Gemäß den Ausführungen von M. Rainer Lepsius, nach denen eine Person zum Intellektuellen werden kann, wenn sie auf der Ebene der Vermittlung eines Programms mit gesamtgesellschaftlichen Zielvorstellungen arbeitet und seine Kompetenz überschreitet, ist Kommerell ebensowenig als Intellektueller einzuschätzen.7 Auch im Sinne Pierre Bourdieus ist Kommerell weder als ‚totaler‘ noch als ‚spezialisierter‘ Intellektueller, der seine Intervention auf ein bestimmtes Gebiet mit öffentlicher Geltung

3 4 5 6 7

Vgl. Gombrich, Ernst: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie [1970], Frankfurt/M 1984, S. 18–20. Vgl. Schumpeter, Joseph A.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, mit einer Einf. v. Eberhard K. Seifert, 7. erw. Aufl., Tübingen/Basel 1993, S. 237. Vgl. ebd. S. 236. Vgl. ebd. S. 237. Vgl. Lepsius, M. Rainer: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: ders.: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1988, S. 270–285, hier: S. 278–283.

I.1 Fragestellung

3

beschränke, anzusehen.8 Wenn in dieser Arbeit von einer „intellektuellen Biographie“ die Rede ist, wird also nicht die Vorstellung eines öffentlichkeitswirksamen, politischen Aktivisten vertreten. Intellektuell meint hier geistig. Dazu gehören Fragen nach den ideengeschichtlichen Prägungen, nach Lektüreerlebnissen, Einflüssen von Lehrern, der Entwicklung von Ideen sowie der Produktion von Dichtung und Wissenschaft. Wissenschaftsgeschichte wird, wie später noch ausgeführt wird, verstanden als Disziplinengeschichte. Eine solche Wissenschaftsgeschichte untersucht vornehmlich drei Felder, die sich um die Komponenten Institution, Erkenntnisproduktion und Akteur ansiedeln. Zum ersten gehören Aspekte der Institutionalisierung: die Einrichtung von Instituten, Lehrstühlen und Forschungszentren. Darüber hinaus geht es um den Bereich der Erkenntnisproduktion: Aufkommen, Durchsetzung und Ablösung von neuen Konzepten, Programmen und Methoden. Hinzu kommen noch die Akteure, die Wissenschaftler, die durch ihre Ideen und Produktionen den Wissenschaftsfluß in Gang bringen und am Laufen halten.

I.1 Fragestellung In dieser Untersuchung wird danach gefragt, wie die Kategorien Person, Institution und Konzept fruchtbar gemacht werden können für die Rekonstruktion der Erkenntnisproduktion in der Wissenschaftsgeschichte. In diesem Zusammenhang ist das Verhältnis von Biographie als Darstellungsart und Wissenschaftsgeschichtsschreibung zu erörtern. Die Praxis der Wissenschaftsgesellschaft mit ihren Formen und Normen des wissenschaftlichen Austauschs ist darzustellen. Die Ausführungen der vorliegenden Arbeit untersuchen also Aspekte von Wissenschaftsproduktion und Wissenschaftsaustausch, Wissenschaftsverständnis und Wissenschaftspraxis, Wissenschaftssprache und Wissenschaftsstil, um Prozesse in der Wissenschaftsgeschichte zu erörtern. Darüber hinaus soll Kommerells Individualität herausgearbeitet werden. Welche Position nimmt er in der germanistischen und interdisziplinären Wissenschaftsgeschichte ein? Dazu werden seine Kontakte zu anderen Wissenschaftlern dargestellt, die anhand des Briefwechsels aufgearbeitet werden. Es wird untersucht, wie seine Korrespondenzpartner Einfluß auf seine Schriften nehmen. Dabei wird die Hypothese verfolgt, daß sich Kommerells Wissenschaftsproduktion vom Brief zum Werk vollzieht.

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Vgl. Bourdieu, Pierre: Der Korporativismus des Universellen. Die Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt, in: ders.: Die Intellektuellen und die Macht, hrsg. v. Irene Dölling, Hamburg 1991, S. 41–66, hier: S. 61.

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I. Einleitung

Kommerell hat sich in den Bereichen von Wissenschaft und Dichtung betätigt. Wo sind sie voneinander abgegrenzt, wo vermischen sie sich? Wie besetzt er die beiden Bereiche, und wie profiliert er sich auf ihnen? Dies ist vor dem Hintergrund der Spezialisierungs- und Ausdifferenzierungstendenzen der Germanistik seit dem 19. Jahrhundert zu betrachten. Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit Krisenwahrnehmungen und Ganzheitsentwürfen in der Moderne. Der Brief bildet bei Kommerell die Nahtstelle zwischen Literatur und Wissenschaft. Wie ist insgesamt seine Doppelbegabung als Schriftsteller und Wissenschaftler einzuschätzen? Kommerells Leben fällt in die Zeit des Nationalsozialismus – dies ist dem Verfasser bewußt, wird aber nicht an jeder Stelle erneut thematisiert. Kommerell hegt von 1930 bis Mitte 1933 Sympathien für den Nationalsozialismus, setzt sich zwischen Ende 1933 und Mitte 1934 für einen abgesetzten Universitätskurator ein und bekommt danach – als Privatdozent ist er nicht abgesichert – Schwierigkeiten, eine Anstellung zu finden. 1939 tritt er aus Karrieregründen in die NSDAP ein, verändert aber seine geistige Haltung und den Stil seiner Publikationen nicht (vgl. Kap. VIII). In der Rezeption seiner Schriften nach 1945 fallen zwei Tendenzen auf, die für diese Arbeit von Bedeutung sind. Die eine Richtung trat im Zuge der 1968er-Proteste dafür ein, daß Kommerells Texte aufgrund seiner Parteimitgliedschaft nicht mehr gelesen werden sollten. Beispielhaft dafür steht ein Aufsatz von Erich Kleinschmidt.9 Die andere Richtung wandte sich radikal gegen diese Anschuldigungen und erklärte Teile von Kommerells Werk zur Widerstandsliteratur.10 Diese Arbeit wendet sich entschieden gegen beide Richtungen und beabsichtigt nicht, den Streit zwischen den beiden Positionen zu klären. Hier wird generell davon ausgegangen, daß sich politische Ereignisse nicht unmittelbar auf Texte auswirken. Deshalb wird Kommerells politisches Verhalten im Nationalsozialismus keine zentrale Rolle spielen. Es wird nur thematisiert, wenn es Aufschluß über seine wissenschaftlichen Strategien und Verhaltensweisen liefern kann. Ziel ist also nicht eine (post-)ideologiekritische, moralische

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Vgl. Kleinschmidt, Erich: Der vereinnahmte Goethe. Irrwege im Umgang mit einem Klassiker 1932–1949, in: JbDSG 28 (1984), S. 461–482. Vgl. Hölscher-Lohmeyer, Dorothea: Max Kommerell: ‚Die Gefangenen‘. Ein Widerstandsdrama, in: Romantik und Exil. Fs. für Konrad Feilchenfeldt, hrsg. v. Claudia Christophersen u. Ursula Hudson-Wiedenmann, Würzburg 2004, S. 449–455. Siehe auch dies.: Der vereinnahmte Kommerell. Zu dem Aufsatz von Erich Kleinschmidt „Der vereinnahmte Goethe“, in: JbDSG 29 (1985), S. 536–538; und: dies.: Max Kommerell, der Lehrer, in: JbDSG 29 (1985), S. 558–571. Siehe außerdem dies.: Lehrer in beschädigter Zeit. Max Kommerell in den dreißiger Jahren, in: SZ, Nr. 47 vom 26./27.02.1977; und: Hölscher, Dorothea: Mit einem Streichholz angezündet. Gedenkblatt für Max Kommerell, in: FAZ, Nr. 46 vom 23.02.1962.

I.2 Forschungsstand

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Bewertung seiner politischen Einstellung, sondern die Frage, inwiefern die Rahmenbedingungen der Diktatur auf seine wissenschaftlichen Produktionsstrategien einwirken und Kompromisse im Karriereweg notwendig machen. Ein weiteres verbreitetes Vorgehen ist es, Kommerell in erster Linie mit dem George-Kreis zu verbinden. Diese Arbeit wendet sich gegen die vorschnelle Annahme, daß Kommerell nur mit detaillierter Kenntnis des George-Kreises zu verstehen sei. Aufgrund der verfolgten wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellung muß die Zeit im Dichterkreis um Stefan George hier knapp gehalten werden. Die Prägungen durch den Kreis werden jedoch nicht außer acht gelassen. Schwerpunkt dieser Untersuchung ist Kommerells Austausch mit Wissenschaftlern. Aus der hier vertretenen Behauptung, daß Kommerell auch ohne George betrachtet werden kann, ergibt sich als zweite These, daß sich Kommerells Schriften nur dann gewinnbringend erschließen lassen, wenn man seine Kontakte zu anderen Wissenschaftlern betrachtet. Hier soll ebenfalls nicht eine effekthaschende Verbindung zwischen Kommerell und dem Hitler-Attentäter Claus von Stauffenberg hergestellt werden. Auch Kommerells Hölderlin-Interpretationen aus den frühen 1940er Jahren sind nur im Hinblick auf die Wechselwirkungen mit anderen Wissenschaftlern zu untersuchen. Um der Edition der Briefe zwischen Max Kommerell und Karl Schlechta, die von Michael Assmann für die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung vorbereitet wird, nicht vorzugreifen, wird der Kontakt zu Schlechta nur anhand der bereits veröffentlichten Briefe dargestellt. Diese Arbeit verfolgt nicht das Ziel, eine umfassende Deutung von Kommerells Schriften vorzulegen, sondern das Material zu sammeln und auszustellen, um dadurch erst die vielfältigen Perspektiven der Wissenschafts-, Bildungs-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte zu eröffnen und neue Forschungen anzustoßen.

I.2 Forschungsstand Kommerell wurde in der literaturwissenschaftlichen Diskussion in Deutschland lange kaum wahrgenommen.11 Hochgeschätzt, aber wenig verstan11

Zur ebenfalls begrenzten internationalen Beachtung siehe Wellek, René: Max Kommerell as Critic of Literature, in: Teilnahme und Spiegelung. Fs. für Horst Rüdiger, hrsg. v. Beda Allemann u. Erwin Koppen, Berlin/New York 1975, S. 485–498; ders./ Warren, Austin: Theorie der Literatur, Neuaufl., Königstein/T 1985, S. 345; dies.: Theorie der Literatur. Mit einer Einführung von Heinz Ickstadt, durchges. Neuaufl., Weinheim 1995, S. 362; Le Buhan, Dominique/ Rubercy, Erick de: Avant-propos sur Max Kommerell, in: Kommerell, Max: Commémoration de Hölderlin: pour le centenaire de sa mort en juin 1943. Traduit et préfacé par Dominique Le Buhan et Erick de Rubercy, Paris 1983, S. 7–17; und: dies.: Max Kommerell: Le Chemin poétique de Hölderlin. Traduit et avant-propos

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I. Einleitung

den,12 befand er sich schon zu Lebzeiten in einer ‚exklusiven Randposition‘, und auch nach dem Zweiten Weltkrieg unterblieb eine Neubewertung seiner Schriften.13 Trotz der fragmentarischen, vorwiegend am Gedenken orientierten Rezeption durch frühere Freunde und Schüler in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg – die als erste Phase einer Kommerell-Rezeption bezeichnet werden kann,14 und für die z. B. Hans-Georg Gadamers Edition Max Kommerell: Dichterische Welterfahrung. Essays (DW)15 von 1952 steht – war er als Literaturwissenschaftler allgemein nicht anerkannt. Häufig pauschal dem werkimmanenten Interpretationsverfahren zugerechnet, wurde ihm als ‚Geisteswissenschaftler‘ der Innovationsgrad für methodische Erneuerungen des Faches abgesprochen.16 Als ehemaliger Vertrauter von Stefan George wurde er oft als reaktionär qualifiziert und seine Schriften mit Hinweis auf den Titel Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (1928) und einige pronationalsozialistische Äußerungen vor 1933 tabuisiert.17 Abgesehen davon entsprach Kommerells literarisch orientierter Darstellungsstil nicht den verbreiteten Erwartungen von analytischer Prägnanz.18

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sur l’auteur par Dominique Le Buhan et Erick de Rubercy, Paris 1989, S. I–XII. Siehe auch mit einem eigenen Kapitel zu Kommerell Gutiérrez Girardot, Rafael: En torno a la literatura alemana contemporanea, Madrid 1959, S. 32–39. Dafür siehe beispielsweise die Aussage von Ernst Beutler, dem Herausgeber des GoetheKalenders: „Ich verstehe ihn nicht, aber ich drucke ihn natürlich“, zitiert nach Mandelkow, Karl Robert: Das Goethe-Bild Ernst Beutlers, in: Ernst Beutler 1885–1960, hrsg. v. Christoph Perels, Frankfurt/M 1985, S. 73–96, hier: S. 75. Zur Werkbibliographie siehe Alquist, Peter (d. i. Helmut Strebel): Synoptische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Max Kommerell. Auf der Grundlage des Erreichbaren Ende 1966 zusammengestellt von Peter Alquist, in: BA, S. 470–491; Frank, Peter R.: [Bio-Bibliographie], in: Neuere deutsche Essays II, hrsg. v. Ludwig Rohner, Neuwied/ Berlin 1972, S. 484–486; Dambacher, Eva: Max Kommerell-Bibliographie, in: Storck, Kommerell, S. 96–111; dies.: Bibliographie, in: Max Kommerell – Spurensuche. Mit einem Beitrag v. Gert Mattenklott, hrsg. v. Blanche Kommerell, Gießen 1993, S. 171–190; und: Weichelt, Matthias: Max Kommerell, in: IGL 2, S. 984f. Dazu siehe vor allem die in der Bibliographie aufgeführten Veröffentlichungen von Arthur Henkel, Dorothea Hölscher-Lohmeyer, Rudolf Krämer-Badoni, Günter Schulz und Helmut Strebel. Vgl. Kommerell, Max: Dichterische Welterfahrung. Essays, hrsg. v. Hans-Georg Gadamer, Frankfurt/M 1952. Fortan zitiert als Sigle DW. Vgl. Busch, Walter/ Pickerodt, Gerhart (Hgg.): Max Kommerell. Leben, Werk, Aktualität, Göttingen 2003, S. 8. Dazu siehe die Kontroverse zwischen Kleinschmidt und Hölscher-Lohmeyer/Storck. Vgl. Kleinschmidt, Irrwege, S. 461–482 und die Repliken Hölscher-Lohmeyer, vereinnahmte Kommerell, S. 536–538 sowie Storck, Joachim W.: Nochmals Kommerell und Goethe, in: JbDSG 29 (1985), S. 539–540. Siehe auch Rüdiger, Horst: Emigration in die Weltliteratur. Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: FAZ, Nr. 197 vom 26.08.1967. Vgl. Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 8.

I.2 Forschungsstand

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Seit 1955 befindet sich der Nachlaß von Kommerell im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar (DLA Marbach).19 Bis Mitte der 1980er Jahre erschienen nur vereinzelt Aufsätze über Kommerell. 1958 betonte Hans Egon Holthusen in der ersten ausführlichen Untersuchung vor allem die essayistischen Schriften, deren fragmentarischer Charakter von hoher literarischer Suggestivität sei.20 In einer zweiten Rezeptionsphase Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre wurde ein weiterer Zugang durch die dreibändige Edition der Nachlaßmaterialien von Inge Jens eröffnet. Der erste Band aus dem Jahr 1967 versammelt Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944 (BA).21 Band 2, der 1969 erschien, stellt Essays, Notizen, Poetische Fragmenten (EN) zusammen.22 Der 19

Vgl. Doster, Ute: Der Nachlaß von Max Kommerell im Deutschen Literaturarchiv, in: Mitteilungen. Marbacher Arbeitskreis für Geschichte der Germanistik 7/8 (1994), S. 34– 36. 20 Vgl. Holthusen, Hans Egon: Max Kommerell und die deutsche Klassik, in: ders.: Das Schöne und das Wahre. Neue Studien zur modernen Literatur, München 1958, S. 38– 182. 21 Vgl. Kommerell, Briefe, 1967 (BA). Zur Rezeption siehe Blöcker, Günter: Die Lust der Erfahrung. Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: SZ, Nr. 143/144 vom 16.–18.6.1967; Cronheim, Fritz G.: Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: The Modern Language Review 64 (1969), S. 471–473; Holthusen, Hans Egon: Max Kommerell in seinen Briefen. Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: Merkur 22 (1968), H. 1/2, S. 168–172; Mayer, Hans: Die Innenwelt und ihr Preis. Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: Der Spiegel 21 (1967), Nr. 49, S. 186–188; H., O.: Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: NZZ, Fernausgabe, Nr. 287 vom 19.10.1967; Pulver, Elisabeth: Rückblick auf zwei Briefbände. Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: Schweizer Monatshefte 50 (1970/71), S. 447–451; H., R.: Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: Berner Tagblatt, Nr. 298 vom 31.10.1970; Ross, Werner: Dichter-Diktatur. Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: Die Zeit, Nr. 45 vom 10.11.1967; Schonauer, Franz: Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: Neue deutsche Hefte 15 (1968), H. 2, S. 182–187; Storck, Joachim W.: Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: Germanistik 10 (1969), S. 8–9; Straub, Dieter: Die Mühe der Reinigung. Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: Paian (1968), H. 5/6, S. 48–49; Terry, Thomas: Charakterisierung einer Persönlichkeit. Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: Tages-Anzeiger (Zürich), Nr. 272 vom 02.12.1967; und: Wallmann, Jürgen P.: Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: Der Monat 19 (1967), H. 228, S. 66–69. 22 Vgl. Kommerell, Max: Essays, Notizen, Poetische Fragmente, aus dem Nachlaß hrsg. v. Inge Jens, Freiburg/B 1969. Fortan zitiert als Sigle EN. Dazu siehe Heuschele, Otto: Aus Max Kommerells Nachlaß. Rez. zu Kommerell: Essays, Notizen, Poetische Fragmente, in: Die Tat (Zürich), Nr. 44 vom 21.02.1970; Pesch, Ludwig: Wissenschaft und Intuition. Rez. zu Kommerell: Essays, Notizen, Poetische Fragmente, in: Tages-Anzeiger (Zürich), Nr. 183 vom 17.07.1970; Schonauer, Franz: Freude am Übermut. Rez. zu Kommerell: Essays, Notizen, Poetische Fragmente, in: Christ und Welt (Stuttgart), Nr. 21 vom 22.05.1970; und: Storck, Joachim W.: Rez. zu Kommerell: Essays, Notizen, Poetische Fragmente, in: Germanistik 12 (1971), S. 206–207.

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I. Einleitung

dritte Band von 1971 druckt Gedichte, Gespräche, Übertragungen (GÜ) ab.23 Die 85 veröffentlichten der etwa 1500 erhaltenen Briefe zeigen eine repräsentative Auswahl der Korrespondenz mit herausragenden Persönlichkeiten des geistigen Lebens wie Rudolf Bultmann, Hans Carossa, Ernst Robert Curtius, Gräfin Marion Dönhoff,24 Hans-Georg Gadamer, Stefan George, Martin Heidegger, Werner Krauss, Karl Reinhardt, Walter F. Otto, Rudolf Alexander Schröder, Peter Suhrkamp und Heinrich Zimmer. Etwa zur gleichen Zeit gab Arthur Henkel die Sammlung Dame Dichterin und andere Essays (DD) heraus, die unter anderem Schillers Dramen, Goethes Faust und den höfischen Roman in Japan behandelt.25 1975 würdigte René Wellek Kommerells Gesamtwerk und hob dessen Wert für die Literaturkritik hervor.26 Heinz Schlaffer untersuchte 1979 Kommerells Jean Paul auf methodische Gesichtspunkte.27 Eine dritte Phase der Forschung ergab sich mit einer Kommerell-Ausstellung, die das DLA Marbach 1985 nach Erweiterung des Nachlasses veranstaltete. Im Rahmen der Ausstellung erschienen Vorträge von Joachim W. Storck und Gert Mattenklott28 sowie ein Band in der Reihe Marbacher Magazin mit vielen Briefzitaten zu Kommerells Leben und Schriften.29 Trotz

23 Vgl. Kommerell, Max: Gedichte, Gespräche, Übertragungen, aus dem Nachlaß hrsg. v. Inge Jens, Olten/Freiburg/B 1973. Fortan zitiert als Sigle GÜ. Dazu siehe Demetz, Peter: Rez. zu Kommerell: Gedichte, Gespräche, Übertragungen, in: Die Zeit, Nr. 38 vom 13.09.1974; Heuschele, Otto: Max Kommerell als Lyriker. Rez. zu Kommerell: Gedichte, Gespräche, Übertragungen, in: Kultur und Leben 12 (1974), Nr. 3, S. 36–37; Lenz, Hermann: Bös sein ist doch schön. Rez. zu Kommerell: Gedichte, Gespräche, Übertragungen, in: SZ, Nr. 298 vom 27.12.1974; B., O.: Dichter und Gelehrter. Rez. zu Kommerell: Gedichte, Gespräche, Übertragungen, in: Der Bund (Bern), Nr. 204 vom 02.09.2973; Storck, Joachim W.: Rez. zu Kommerell: Gedichte, Gespräche, Übertragungen, in: Germanistik 17 (1976), S. 330–331; und: Wallmann, Jürgen P.: Rez. zu Kommerell: Gedichte, Gespräche, Übertragungen, in: Die Tat (Zürich), Nr. 244 vom 20.10.1973. 24 Vgl. Harpprecht, Klaus: Die Gräfin Marion Dönhoff. Eine Biographie, Reinbek/H 2008, S. 131–148 u. 171–185. 25 Vgl. Max Kommerell: Dame Dichterin und andere Essays, hrsg. u. mit einem Nachwort v. Arthur Henkel, München 1967. Fortan zitiert als Sigle DD. 26 Vgl. Wellek, Critic, S. 485–498. 27 Vgl. Schlaffer, Heinz: Die Methode von Max Kommerells ‚Jean Paul‘. Mit drei Exkursen zu gegenwärtigen Interpretationstheorien, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 14 (1979), S. 22–50. 28 Vgl. Storck, Joachim W.: Max Kommerell. Der Gelehrte – der Essayist – der Dichter, in: Storck, Joachim W./ Mattenklott, Gert: Über Max Kommerell. Zwei Vorträge, Marburg 1986, S. 3–9 und Mattenklott, Gert: Max Kommerell. Versuch eines Portraits, in: Storck/ Mattenklott, Zwei Vorträge, S. 11–27 [in abgeänderte Form wieder in: Merkur 40 (1986), S. 541–554 und in: Blanche Kommerell (Hg.): Max Kommerell: Spurensuche, Gießen 1993, S. 9–35]. 29 Vgl. Storck, Kommerell, 1985.

I.2 Forschungsstand

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dieser verschiedenen Versuche blieb Kommerell im Wissenschaftsdiskurs wenig präsent. In den letzten Jahren ist es zu einer neuen Auseinandersetzung mit den Arbeiten Kommerells gekommen, bei der seine Doppelbegabung als Dichter und Wissenschaftler zunehmend an Wertschätzung gewinnt. Das ist auf mehrere Gründe zurückzuführen: Zum einen auf die steigende Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik (siehe Kap. I.4). Zum anderen auf die Rephilologisierung, die seit einigen Jahren im Fach eingesetzt hat.30 Außerdem führte das gegenwärtige Verständnis von sprachlicher und künstlerischer Performanz – stellvertretend dafür ist Erika Fischer-Lichte zu nennen31 – zu einem neuen Interesse an Kommerells Konzept der Sprachgebärde. Im Zentrum steht seine Verwendung von Bildformeln, Zeremoniellem, Theatralität und Inszenatorischem. Seine originäre Position erscheint in der Bestimmung von Reflexionsmomenten des künstlerischen Mediums in Form von Sprachgebärden, Formen und Zeichen.32 Das nun aufkeimende Interesse an Kommerell, das als neue, vierte Phase der Kommerell-Forschung bezeichnet werden kann, wurde Anfang der 1990er Jahre auch von Giorgio Agamben geweckt. Agamben, der eine Sammlung von Kommerells Schriften in Italien herausgegeben hat, sieht Kommerell als den vielleicht letzten noch unentdeckten herausragenden Literaturwissenschaftler der Zwischenkriegszeit an.33 Darüber hinaus sind neuere Arbeiten erschienen von Ralf Klausnitzer, der vor dem Hintergrund des George-Kreises Kommerells Einstellung zur Wissenschaft beleuchtete,34 von Karl Robert Mandelkow, der sich mit der Goethe-Rezeption im Nationalsozialismus auseinandersetzte,35 von Ralf Simon, der die Interdependenz von

30 Vgl. u. a. Erhart, Walter (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung?, Stuttgart/Weimar 2004; Gumbrecht, Hans-Ulrich: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt/M 2003; ders.: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt/M 2004; und: Alt, Peter-André: Die Verheißungen der Philologie, Göttingen 2007, S. 8f. 31 Vgl. u. a. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M 2004. 32 Vgl. Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 8f. 33 Vgl. Agamben, Giorgio: Kommerell, or On Gesture, in: ders.: Potentialities. Collected Essays in Philosophy, übers. und hrsg. v. Daniel Heller-Roazen, Stanford 1999, S. 77– 85, hier: S. 77 [erstmals als ders.: Kommerell, o del gesto, in: ders. (Hg.): Il poeta e l’indicibile. Saggi di letteratura tedesca a cura di Giorgio Agamben, Genova 1991, S. VII– XV]. 34 Vgl. Klausnitzer, Ralf: Mit gleichsam chinesischem Pinsel. Max Kommerell zwischen Kunst und Wissenschaft, in: Spielräume des einzelnen. Deutsche Literatur in der Weimarer Republik im Dritten Reich, hrsg. v. Walter Delabar u. a., Berlin 1999, S. 71–104. 35 Vgl. Mandelkow, Karl Robert: Verweigerte Anpassung. Konstanten und Wandlungen des Klassik-Bildes im literaturwissenschaftlichen Werk Max Kommerells, in: ders.: Gesammelte Aufsätze und Vorträge zur Klassik- und Romantikrezeption in Deutschland, Frankfurt/M 2001, S. 303–314.

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I. Einleitung

National- und Weltliteratur untersuchte,36 und von Walter Müller-Seidel, der Kommerells politische Einstellung mit Blick auf seine Schiller-Studien erörterte.37 Mittlerweile gewinnt Kommerell als Literaturwissenschaftler zunehmend an Bedeutung. Daß seine Untersuchungen gegenwärtig als vorbildhafte Textanalysen angeführt werden, verweist auf seinen Modernitätsgehalt.38 Eine intensive Auseinandersetzung wurde anläßlich des 100. Geburtstags auf dem internationalen Kommerell-Kongreß in Marburg im Oktober 2001 geführt. Dabei standen Fragen nach dem literaturkritischen Diskurs, der Verwendung der Gebärde und dem zeitgeschichtlichen Aspekt seiner Schriften im Mittelpunkt. Der aus dem Kongreß hervorgegangene Tagungsband39 bietet einen hilfreichen Überblick zur Kommerell-Forschung und eine nützliche Bibliographie der Forschungsliteratur.40 Kommerells Bibliothek ging im Jahr 2006 als Schenkung der Nachfahren an die Marburger Universitätsbibliothek.41 Im gleichen Jahr veröffentlichte Matthias Weichelt die erste Dissertation über Kommerell, in der er dessen lyriktheoretischen Ansatz rekonstruiert.42

36 Vgl. Simon, Ralf: Die Reflexion der Weltliteratur in der Nationalliteratur. Überlegungen zu Max Kommerell, in: Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposium 1993, hrsg. v. Hendrik Birus, Stuttgart 1995, S. 72–91. 37 Vgl. Müller-Seidel, Walter: Schiller im Verständnis Max Kommerells. Nachtrag zum Thema „Klassiker in finsteren Zeiten“, in: Prägnanter Moment. Fs. für Hans-Jürgen Schings, hrsg. v. Peter-André Alt u. a., Würzburg 2002, S. 275–308. 38 Vgl. Mattenklott, Gert: Max Kommerell [Einleitung zum Text „Faust Zweiter Teil: zum Verständnis der Form“ (1937)], in: Grundlagen der Literaturwissenschaft. Exemplarische Texte, hrsg. v. Bernhard J. Dotzler, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 137–139. 39 Vgl. Busch/Pickerodt, Aktualität, 2003. Dazu siehe Boden, Petra: Rez. zu Busch/Pikkerodt, Aktualität, in: Arbitrium 22 (2004), H. 3, S. 359–362; Kilcher, Andreas: Rez. zu Busch/Pickerodt, Aktualität, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 14 (2004), H. 2, S. 431–433; Osterkamp, Ernst: Rez. zu Busch/Pickerodt, Aktualität, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 257 (2005), H. 1/2, S. 115–131; Pirro, Maurizio: Rez. zu Busch/Pikkerodt, Aktualität, in: Osservatoiro critico della germanistica 7 (2004), H. 19, S. 9–12; und: Püllmann, Dennis: Rez. zu Busch/Pickerodt, Aktualität, in: Das Argument 46 (2004), H. 6, S. 897–898. 40 Vgl. Müller, Alexander: Forschungsbibliographie zu Max Kommerell, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 391–402. 41 Die in der sog. Kommerell-Bibliothek präsentierten Bände sind mit Vorsicht zu betrachten: Zum einen befinden sich dort zahlreiche Titel, die nach Kommerells Tod erschienen sind, zum anderen fehlen viele Bücher, die Kommerell nach eigener Auskunft in seinen Briefen besessen hat. Die Kommerell-Bibliothek kann online eingesehen werden unter http://www.uni-marburg.de/bis/ueber_uns/ub_sondsam/kommerell [14.08.2010]. 42 Weichelt, Matthias: Gewaltsame Horizontbildungen. Max Kommerells lyriktheoretischer Ansatz und die Krisen der Moderne, Heidelberg 2006. Dazu siehe Weber, Christian: Rez. zu Weichelt, Horizontbildungen, in: Poetica 38 (2006), H. 3/4, S. 483–486; Pirro, Maurizio: Rez. zu Weichelt, Horizontbildungen, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 17 (2007), H. 1, S. 237–238; und: Monhoff, Sascha: Rez. zu Weichelt, Horizontbildungen, in: George-Jahrbuch 7 (2008/09), S. 214–216.

I.2 Forschungsstand

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Außerdem wurden weitere Briefe von Max Kommerell an Hans-Georg Gadamer entdeckt und von Ulrich von Bülow 2005 in der Zeitschrift Geschichte der Germanistik präsentiert.43 Neuere Aufsätze von Wolfgang Adam und Anna Maria Arrighetti beschäftigen sich mit Kommerells Winckelmann- und Goethe-Rezeption.44 Seit dem Erscheinen von Thomas Karlaufs Biographie Stefan George. Die Entdeckung des Charisma im Herbst 200745 und von Ulrich Raulffs Studie Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben im Herbst 200946 ist das öffentliche Interesse am George-Kreis immens gestiegen. Fragestellungen zu George und seinem Kreis, die schon seit einigen Jahren vermehrt in der Wissenschaft thematisiert wurden, werden nun auch in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen, in öffentlichen Vorträgen und Ausstellungen aufgegriffen. Die stärkere öffentliche Resonanz befördern die Archive ihrerseits, indem sie ihre Bestände zur Schau stellen, wie z. B. in der Ausstellung Das geheime Deutschland. Eine Ausgrabung. Köpfe aus dem George-Kreis des DLA Marbachs im Frühjahr 2008.47 Eine Biographie über Kommerell liegt bisher nicht vor. Joachim W. Storcks Band in der Reihe Marbacher Magazin bietet lediglich viele Werkund Briefzitate. Der Tagungsband von Walter Busch und Gerhart Pickerodt, der programmatisch Max Kommerell. Leben – Werk – Aktualität genannt wurde, gibt sehr wenige Auskünfte zum Leben. Erst die hier vorliegende Biographie eröffnet die Möglichkeit, Kommerells Briefe zu kontextualisieren, seine Einbindung in wissenschaftsgeschichtliche Strömungen in einer breite-

43 Vgl. Bülow, Ulrich von: Gadamers Leipziger Karton, in: GeGe 27/28 (2005), S. 67–84. Dazu siehe Kaube, Jürgen: Die kurze und die lange Frist. Blick in die Leipziger Kiste: Der Nachlaß des Philosophen Hans-Georg Gadamer wurde in Marbach präsentiert, in: FAZ, Nr. 71 vom 26.03.2005 und Asal, Sonja: Der Leipziger Karton. Das Marbacher Literaturarchiv präsentiert neu entdeckte Briefe an Hans-Georg Gadamer, in: SZ, Nr. 74 vom 29.03.2005. 44 Vgl. Adam, Wolfgang: Winckelmann in Triest. Max Kommerells Winckelmann-Mythos in den ‚Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt‘, in: GeGe 31/32 (2007), S. 51–63; Arrighetti, Anna Maria: Friedrich Gundolf, Max Kommerell und die Verbindlichkeit des dichterischen Wortes bei Goethe, in: Goethe-Jahrbuch 125 (2008), S. 80–94. 45 Karlauf, Thomas: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie, München 2007. Dazu siehe Weber, Christian: Rez. zu Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdekkung des Charisma, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 18 (2008), H. 2, 435–436 und Koch, Manfred: Rez. zu Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, in: George-Jahrbuch 7 (2008/09), S. 167–179. 46 Raulff, Ulrich: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. Eine abgründige Geschichte, München 2009. Die Untersuchung erschien nach Fertigstellung dieser Arbeit und konnte daher nicht mehr berücksichtigt werden. Als Auszug daraus siehe Raulff, Ulrich: Stefan Georges Tod und Begräbnis, in: Sinn und Form (2009), H. 4, S. 529–540. 47 Dazu siehe Raulff, Ulrich/ Näfelt, Lutz (Hgg.): Das geheime Deutschland. Eine Ausgrabung. Köpfe aus dem George-Kreis, Marbach/N 2008.

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I. Einleitung

ren Perspektive zu untersuchen und die Vielfältigkeit seiner Persönlichkeit in vollem Umfang aufzuzeigen.48

I.3 Bemerkungen zur Biographie als wissenschaftliches Genre Im folgenden werden einige Ausführungen zur Biographie als wissenschaftliches Genre unternommen, um die Motivationen, aus denen diese KommerellBiographie entstand, zu veranschaulichen. Die Annahme, daß das Genre der Biographie in der deutschen Literaturwissenschaft wenig erforscht sei, ist ein Irrtum.49 Schon seit Anfang der 1970er Jahre50 erschienen in regelmäßigen 48 Vgl. Weber, Christian: Max Kommerell. Eine Biographie im Kontext der Wissenschaftsgeschichte, in: GeGe 29/30 (2006), S. 101–102. 49 Die erste grundlegende Studie zur Problematik der Biographie hat Jan Romein 1948 vorgelegt, in der er Methodik, Technik und Geschichte der Biographie seit der Antike untersucht. Vgl. Romein, Jan: Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und Problematik, Bern 1948. In einer frühen Untersuchung aus den 1960er Jahren verortete Günter Blöcker die Biographie zwischen Kunst und Wissenschaft. Vgl. Blöcker, Günter: Biographie – Kunst oder Wissenschaft?, in: Definitionen. Essays zur Literatur, hrsg. v. Adolf Frisé, Frankfurt/M 1963, S. 58–84. Das Genre der Biographie war immer wieder einer grundsätzlichen Kritik ausgesetzt. Siegfried Kracauer unterstellte 1930, daß die Biographie über die Auflösungserscheinungen des Bürgertums in der Moderne hinwegzutäuschen versuche. Vgl. Kracauer, Siegfried: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform [1930], in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M 1977, S. 75–80. Leo Löwenthal bezeichnete die Überschwemmung des Marktes mit Populärbiographien als „biographische Mode“. Vgl. Löwenthal, Leo: Die biographische Mode, in: ders.: Schriften, hrsg. v. Helmut Dubiel, Bd. 1: Literatur und Massenkultur, Frankfurt/M 1980, S. 231–257. Pierre Bourdieu bezweifelte, daß man aus der Zusammenstellung disparater Ereignisse die Kohärenz eines Lebenslaufes erzeugen könne. Vgl. Bourdieu, Pierre: Die biographische Illusion, in: BIOS 3 (1990), S. 75–81 [wieder in: ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt/M 1998, S. 75–83]. 50 1979 legte Helmut Scheuer eine Gesamtdarstellung zur Geschichte der Biographie vor, die bis heute als Standardwerk dient. Vgl. Scheuer, Helmut: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979. In den 1980er Jahren erschienen einzelne Untersuchungen von Hans-Ulrich Gumbrecht und Helmut Koopmann sowie ein Sammelband von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Vgl. Gumbrecht, Hans-Ulrich: Lebensläufe, Literatur, Alltagswelten, in: Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive, hrsg. v. Joachim Matthes, Arno Pfeifenberger u. Manfred Stosberg, Nürnberg 21983, S. 231–250; Koopmann, Helmut: Die Biographie, in: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fi ktionalen Kunstprosa, hrsg. v. Klaus Weissenberger, Tübingen 1985, S. 45–65; und: Grimm, Reinhold/ Hermand, Jost (Hgg.): Vom Anderen und vom Selbst. Beiträge zu Fragen der Biographie und Autobiographie, Königsstein/T 1982. Auch in Jürgen Fohrmanns und Wilhelm Voßkamps Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert beschäftigt sich ein Kapitel mit der Geschichte der Biographie. Vgl. Kruckis, Hans-Martin: Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhundert, in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp, Stuttgart 1994, S. 550–575. Aus dem englischspra-

I.3 Bemerkungen zur Biographie als wissenschaftliches Genre

13

Abständen Untersuchungen zur Biographie.51 In jüngster Zeit ist noch eine Vielzahl neuerer Forschungen hinzugekommen.52 Christian Klein legte neben dem

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chigen Bereich, in dem die Tradition der Biographieforschung noch ausgeprägter ist als in Deutschland, sind stellvertretend das Standardwerk von Ira Bruce Nadel zu Fiktion, Fakt und Form der Biographie und die Biographiegeschichte von Nigel Hamilton aus dem Jahr 2007 anzuführen. Vgl. Nadel, Ira Bruce: Biography. Fiction, Fact and Form, London/Basingstoke 1984 und Hamilton, Nigel: Biography. A brief history, Cambridge/ Mass. 2007 [mit Bibliographie]. Das bedeutet, daß es selbst in Zeiten, in denen der Tod des Autors proklamiert wurde, auf dem Gebiet der Biographik vielfältige Interessen, methodische Weiterentwicklungen und verschiedene Anregungen gab, auf die sich noch diese Kommerell-Arbeit stützen kann. War die Biographie als wissenschaftliches Genre in den 1970er Jahren diskreditiert, so ist heute eine „Rückkehr der Biographie“ zu konstatieren. Vgl. Gumbrecht, Hans-Ulrich: Die Rückkehr des totgesagten Subjekts, in: FAZ, Nr. 106 vom 07.05.2008. Dabei waren es postmoderne Denker, wie Michel Foucault, die diese Rückkehr einleiteten. Vgl. Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen, in: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 4 (1982), S. 41–57. Dazu siehe Raulff, Ulrich: Wäre ich Schriftsteller und tot ... Vorläufige Gedanken über Biographik und Existenz, in: Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, hrsg. v. Hartmut Böhme u. Klaus R. Scherpe, Reinbek/H 1996, S. 187–204, hier: S. 187ff. Auch der französische Historiker Jacques Le Goff rehabilitierte die Biographie. Er ist ein Vertreter der Annales-Schule, die traditionell einen strukturgeschichtlichen Ansatz verfolgt und Lebensdarstellungen von Einzelpersonen kritisch gegenübersteht. Doch Le Goff unternahm eine Neuorientierung, rückte das Individuum wieder ins Zentrum und legte eine Biographie über Ludwig den Heiligen vor. Vgl. Le Goff, Jacques: Ludwig der Heilige, Stuttgart 2000. Seine Biographie begründete Le Goff programmatisch damit, daß „das Kollektive seinerseits [...] zum Individuellen führe[]“, vgl. Le Goff, Jacques: Wie schreibt man eine Biographie? [1989], in: Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers, hrsg. v. Fernand Braudel u. a., Berlin 1990, S. 103–112, hier: S. 105 [wieder in: Wie Geschichte geschrieben wird, hrsg. v. Fernand Braudel u. a., Berlin 1998, S. 103–112]. Vgl. auch Le Goff, Jacques: Vorwort, in: ders.: Ludwig, S. 3–16. Dieser Wandel der Annales-Schule ist symptomatisch für die Abkehr von strukturalistischen und formalistischen Theorieansätzen und der Hinwendung zum Individuum in der heutigen Wissenschaftslandschaft. Es ist also nur eine Konsequenz der methodischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte, nun wieder verstärkt Biographien vorzulegen. Etwa seit Mitte der 1990er Jahre kann von einer neuen Phase der Biographieforschung gesprochen werden. Verschiedene Untersuchungen wurden beigesteuert von Ulrich Raulff, Oliver Sill und Michael Maurer. Vgl. Raulff, Schriftsteller, S. 187–204; Sill, Oliver: „Über den Zaun geblickt“. Literaturwissenschaftliche Anmerkungen zur soziologischen Biographieforschung, in: BIOS 8 (1995), H. 1, S. 28–42; und: Maurer, Michael: Die Biographie – Tradition, Gattung, Formen, in: ders.: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815), Göttingen 1996, S. 67–120. Siehe auch Raulff, Ulrich: ‚Inter lineas‘ oder Geschriebene Leben, in: ders.: Der unsichtbare Augenblick. Zeitkonzepte in der Geschichte, Göttingen 1999, S. 118–142 und ders.: Das Leben – buchstäblich. Über neuere Biographik und Geschichtswissenschaft, wieder in: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, hrsg. v. Christian Klein, Stuttgart/Weimar 2002, S. 55–68. Olaf Hähner entwickelte in seiner Historischen Biographik die Unterscheidung zwischen paradigmatischer, d. h. rein historischer, und syntagmatischer, d. h. bildungsgeschichtlich integrativer, Biographie. Vgl. Hähner, Olaf: Historische Biographik. Die Entwicklung

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I. Einleitung

Handbuch Biographie53 einen Sammelband über die Grundlagen der Biographik vor, der neben theoretischen Auseinandersetzungen und einer Forschungsbibliographie auch praktische und rechtliche Anleitungen zum Verfassen einer Biographie bietet.54 Im Jahr 2003 spricht Hans Erich Bödeker davon, daß die Zahl der Biographieforschungen bereits die „kritische Masse“ erreicht habe.55 Von einem vernachlässigten Forschungszweig kann also nicht die Rede sein.56 Die

einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt/M 1999. Seit dem Jahr 2000 wurden mehrere Tagungsbände von Thomas Winkelbauer, Christian von Zimmermann, Andreas Schüle, Irmela von der Lühe und Anita Runge herausgegeben. Vgl. Winkelbauer, Thomas (Hg.): Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik, Horn 2000; Zimmermann, Christian von (Hg.): Fakten und Fiktionen. Strategien fi ktionalbiographischer Dichterdarstellungen im Roman, Drama und Film seit 1970, Tübingen 2000; Schüle, Andreas (Hg.): Biographie als religiöser und kultureller Text, Münster 2002; und: Lühe, Irmela von der/ Runge, Anita (Hgg.): Biographisches Erzählen, Stuttgart 2001. Letztere begründen den Aufschwung der Biographie mit einer „neuen Lust am Erzählen“, ebd. S. 13. 53 Vgl. Klein, Christian (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart/Weimar 2009. Das Handbuch erschien nach Fertigstellung dieser Arbeit und konnte daher nicht mehr berücksichtigt werden, ebenso Fetz, Bernhard (Hg.): Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin/New York 2009 und Hemecker, Wilhelm (Hg.): Die Biographie. Beiträge zu ihrer Geschichte, Berlin/New York 2009. 54 Vgl. Klein, Christian (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart/Weimar 2002. Dazu siehe auch Zimmermann, Christian von: Rez. zu Irmela von der Lühe/ Anita Runge (Hgg.): Biographisches Erzählen, und zu Christian Klein, Christian (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 13 (2003), H. 3, S. 736–740; sowie Steger, Florian: Rez. zu Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, in: BIOS 16 (2003), H. 1, S. 161–163. Die Biographie-Konjunktur geht über den wissenschaftlichen Bereich hinaus: So erschien 2001 in Literaturen ein Doppelheft zur Biographie; 2002 widmete das Kursbuch einen Band zur Rückkehr der Biographien. Vgl. Löffler, Sigrid: Biographie. Ein Spiel. Warum die Engländer Weltmeister in einem so populären wie verrufenen Genre sind, in: Literaturen (2001), H. 7/8, S. 14–17 und Hartwig, Ina/ Karsunke, Ingrid/ Spengler, Tilman (Hgg.): Die Rückkehr der Biographien, Berlin 2002 (Kursbuch 148). Für den englischsprachigen Bereich, der auf diesem Gebiet als Innovationspool gesehen werden kann, ist der Sammelband von Michael Shortland ebenso zu nennen wie das biographische Lexikon von Margaretta Jolly. Vgl. Shortland, Michael (Hg.): Telling lives in science. Essays on scientific biography, Cambridge 1996 und Jolly, Margaretta (Hg.): Encyclopedia of life writing. Autobiographical and biographical forms, 2 Bde, London 2001. 55 Bödeker, Hans Erich (Hg.): Biographie schreiben, Göttingen 2003, S. 18. 56 Zudem legte Christian von Zimmermann 2006 eine Habilitationsschrift über das Verhältnis Biographie und Anthropologie vor, nachdem er in den Jahren zuvor schon zwei Sammelbände zur Biographieforschung herausgegeben hatte. Vgl. Zimmermann, Christian von: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830–1940), Berlin/New York 2006. Dazu siehe Klein, Christian: Zwischen Held und Otto Normalverbraucher. Das Bild vom Menschen in biographischen Texten. Rez. zu Christian von Zimmermann: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830–1940), in: http://www.iaslonline.de/index.

I.3 Bemerkungen zur Biographie als wissenschaftliches Genre

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Ergebnisse dieser reichhaltigen Forschungen ermöglichen es, heute methodisch avancierte Biographien zu entwerfen.57 Biographisches Schreiben ist mit einigen grundsätzlichen Problemen verbunden, für die nun in Bezug auf die vorliegende Untersuchung Lösungsansätze diskutiert werden.58 Im Hinblick auf die narratologische Struktur von Biographien ist zwischen dem Erzählen äußerer Ereignisse als Narration und der Darstellung des Charakterporträts als Deskription zu unterscheiden. Die Erzählstruktur hängt von der Entwicklung des Bezugssystems und des historischen Kontextes ab. Der Bezugsrahmen z. B. dieser Arbeit ist die Wissenschaftsgeschichte. Die Darstellung zielt auf Wahrscheinlichkeit. Dabei werden Fakten aufgrund von Annahmen, die einem Plausibilitätskriterium folgen, miteinander verknüpft. Biographien nehmen empirisch gestützte und dadurch intersubjektiv verhandelbare Konstruktion einer historischen Wirklichkeit vor. Wert und Nutzen von Biographien liegen in der ‚Wahrheitsintention‘, die durch eine Plausibilisierung von Fakten abgesichert wird. Die Briefe, die in dieser Arbeit zur Faktualisierung herangezogen werden, sind aufgrund standardisierter Plausibilitätskriterien ausgewählt worden. Die Aussagefähigkeit von Fakten, das Verhältnis von Privatsphäre und Öffentlichkeit sowie die Autorität des Biographen, die aus einem Authentizitätsanspruch abgeleitet wird, unterliegen einem historischen Wandlungsprozeß, bei dem der Grad der Wissenschaftlichkeit zugenommen hat. Der Biograph nimmt eine Sichtung, Auswahl und Interpretation der Quellen vor. Der Hinweis auf Quellenarbeit fungiert häufig auch als argumentative Funktion zum Nachweis der Verfasserautorität des Biographen. Das Genre der Biographie ist an die Geschichte der Individualität gebunden. Die Stilisierungsstrategien, die einer biographischen Konstruktion unterliegen, werden durch die Subjektivität des Biographen sowie die literarischen, historiographi-

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php?vorgang_id=2596 [14.08.2010]. Vgl. auch Zimmermann, Christian von (Hg.): (Auto)Biographik in der Wissenschafts- und Technikgeschichte, Heidelberg 2004 und Zimmermann, Christian von/ Zimmermann, Nina von (Hgg.): Frauenbiographik. Lebensbeschreibungen und Porträts, Tübingen 2005. Für eine produktive Fortsetzung der Biographieforschung sprechen auch die institutionellen Verankerungen, die sich in der Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen (BIOS), dem Center for Biographical Research der Universität Hawaii mit der dazugehörigen Zeitschrift Biography. An interdisciplinary quarterly, dem Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Theorie der Biographie und dem Zentrum für Biographik (ZetBi) zeigen. Vgl. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen (BIOS), hrsg. v. Charlotte Heinz, Johannes Huinink, Albrecht Lehmann, Lutz Niethammer und Alexander von Plato, Opladen 1987ff.; http://www. hawaii.edu/biograph/ [14.08.2010]; http://gtb.lbg.ac.at/ [14.08.2010]; und: http://www. zentrum-fuer-biographik.de/ [14.08.2010]. Zum folgenden siehe u. a. Zimmermann, Christian von: Grundlagen der Biographik, in: ders.: Anthropologie, S. 10–53.

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I. Einleitung

schen und wissenschaftlichen Kontexte beeinflußt. Dabei entscheiden soziokulturelle Rahmenbedingungen über die Auswahl der biographierten Person. Die Wahl des Biographierten kann über Identifikationsmodelle funktionieren. Außerdem muß die Darstellung den diskursiven Erwartungen der Rezipienten entsprechen, so daß der Adressatenkreis Aufschluß über die Strategie des Biographen geben kann. Die Tatsache, daß der lange unpräsente Germanist Max Kommerell Gegenstand dieser Biographie wurde, spricht für das gegenwärtige Interesse an der Wissenschaftsgeschichte, das der Verfasser teilt, und für die Bedeutung dieses Themas in der heutigen Wissenschaftslandschaft. Die Biographie ist das Medium, das ein Subjekt zum biographiewürdigen Objekt macht. Da biographische Texte die Probleme von Menschen behandeln, sind anthropologische Konzepte grundlegend für die Konstituierung des Genres. Dabei wirken sich historisch-diachrone Wandlungen und synchrone Differenzierungen der Menschenbilder auf die biographische Praxis aus. Mit den Implikationen, die aus anthropologischen Vorstellungen abgeleitet sind, ist oftmals eine didaktische Intention verknüpft, die wiederum mit dem Interesse der Wirkung auf die Gegenwart zusammenhängt. In der Biographik zeichnen sich zugleich Individualitätskonzepte der Moderne ab. Ein grundsätzliches Problem liegt darin, daß jede Biographie auf Material beruht und deshalb notwendigerweise bruchstückhaft ist. So gibt es auch im Kommerells Nachlaß Lücken, etwa im Briefwechsel mit seiner ersten Frau Eva Otto. Hier wird jedoch nicht angestrebt, allen Aspekten von Kommerells Leben Vollständigkeit zu verleihen. Der Biograph entscheidet sich immer in spezifischen diskursiven Kontexten für die Wahl seines Gegenstandes: Hier bilden Mentalitäts- und Bildungsgeschichte, Sozialgeschichte des Bürgertums und Wissenschaftsgeschichte der Germanistik die Kontexte. Betrachtet man die Geschichte der Biographie seit dem 19. Jahrhundert, so ist festzustellen, daß sich anhand von Biographien zu allen Zeiten Rückschlüsse auf den Stand der methodischen Diskussionen im Fach ziehen lassen. Die Art, wie Biographien geschrieben werden, erweist sich als ein Indikator dafür, welche methodischen Diskussionen gerade in einem Fach ablaufen. In der vorliegenden Arbeit wird das Genre der Biographie theoretisch reflektiert benutzt, um Wissenschaftsgeschichte zu schreiben. Dabei ergibt sich für die gegenwärtige Literaturwissenschaft die Möglichkeit, mit Hilfe von biographischen Untersuchungen methodisch innovativ eine Aufarbeitung der eigenen Fachgeschichte zu leisten. Darin liegt der Modellcharakter dieser Arbeit für weitere Forschungen. In dieser wissenschaftsgeschichtlich ausgerichteten Biographie wird bei der Darstellung von Kommerells Leben auf eine Spannung erzeugende Form der Erzählung verzichtet.59 Hier wird nicht erzählt werden, wie er aufge-

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Zum folgenden siehe Alt, Peter-André: Mode ohne Methode? Überlegungen zu einer

I.3 Bemerkungen zur Biographie als wissenschaftliches Genre

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wachsen ist und welchem Ablauf sein Leben folgte. Die Nacherzählung wird durch die Rekonstruktion der produktiven Interdependenzen zwischen Leben, Werk und Zeit ersetzt. Kommerells Leben wird vor dem Hintergrund seiner Schriften, die im Austausch mit Wissenschaftlern der Zeit entstehen, untersucht. Anhand dieser Biographie können wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen qua Konkretion verdeutlicht werden. Deswegen wird hier ein besonderer Fachvertreter gewählt, und an seinem Beispiel werden mitunter allgemeine Tendenzen des Faches beschrieben. Die Biographik kann wichtige Beiträge zum Herausarbeiten sowohl individueller Verhaltensmuster als auch überindividueller, gruppen- oder gesellschaftstypischer Entwicklungen leisten. Ein überindividuelles Verhaltensmuster zeigt sich bei Kommerell, wie später ausgeführt wird, in der Zugehörigkeit zu Lesekreisen. Im Zuge der ‚Rückkehr des Autors‘60 hat sich ein neues Interesse an der Verwendung der Biographie ergeben. Durch revidierte Bestimmungen der Begriffe ‚Autor‘ und ‚Werk‘ und durch ihre Verbindung mit der diffizilen Kategorie des ‚Lebens‘ wird eine Rekonstruktion der vielfältigen Beziehungen von Fiktion, Identität und gesellschaftlicher Ordnung ermöglicht. Es werden also Kommerells Selbststilisierungen thematisiert, die in Abgrenzung zur gesellschaftlichen Ordnung entstehen, aber zugleich durch sie wiederum verstärkt werden. Hier wird Autorschaft als Geflecht von heterogenen Faktoren verstanden, die durch Interpretation produktiv gemacht werden können, indem historische und systematische Bedingungen genau reflektiert werden. Deswegen werden die Zirkulation von Ideen und die Entstehungsgeschichte von Kommerells Texten hervorgehoben. Verschiedene Konzeptionen von Autorschaft sind zu berücksichtigen. Die jeweilige Autorschaft ist nicht als metaphysische Einheit zu betrachten, sondern aus den gesellschaftlichen Verflechtungen abzuleiten. Kommerell schreibt nicht im luftleeren Raum, sondern wird von Zeitgenossen beeinflußt. Es geht nicht darum, einen Personenkult des Autors Kommerell aufzubauen, sondern einen solchen durch geschichtliche und methodische Kriterien zu überwinden. Ziel ist es, Kommerells Individualität herauszuarbeiten und die Diversität in seinem Leben aufzuzeigen. Er stellt eine so vielfältige Gestalt dar, daß sich daraus zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Zeit bieten. Der Wissenschaftler Kommerell wird somit als Referenzobjekt angesehen, das sowohl mit Prozessen der Zeit unmittelbar verbunden ist, als auch durch eigene Impulse qualitative Veränderungen bewirken kann.

Theorie der literaturwissenschaftlichen Biographik, in: Klein, Grundlagen, S. 23–39. Vgl. auch Alt, Peter-André: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Eine Biographie, München 2005, S. 13–19. 60 Vgl. Klein, Christian: Einleitung, in: ders., Grundlagen, S. 5.

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I. Einleitung

In dieser Biographie wird das Werk über den Status eines Elements, welches das Leben chronologisch dokumentiert, erhoben und als Interpretationsobjekt in die Untersuchung einbezogen. Deshalb wirkt sich das Werk in dieser Arbeit stark auf die Einteilung der Kapitel aus. Die Beziehung von Leben und Werk ist allerdings nicht in einem Ableitungsverhältnis, in dem das Werk einfach dem Leben entspringt, aufzufassen, sondern als Interferenz strukturverwandter Felder. So wird für Kommerells Werk ein eigener Bereich reklamiert, der sich biographischen Einflüssen entziehen kann. Die Prozesse, in denen das Werk im Leben entsteht, sind als Leitlinien, Grundstrukturen und Organisationsprinzipien zu entschlüsseln. So kann die Schriftsteller- und Wissenschaftlerexistenz als ein ‚Lebensprojekt‘ erfaßt und das identitätsstiftende Selbstverständnis als Autor herausgestellt werden. Kommerells eigene Inszenierung spielt für ihn eine große Rolle. Durch die Rekonstruktion des Dialogs von Leben und Werk, der ohne Determinationen vollzogen wird, werden in dieser Biographie komplexe Zusammenhänge von Lebensentwurf, Autorkonzept und Werkökonomie analysiert, indem Lebensereignisse, Briefe und Publikationen herangezogen werden. Diese Arbeit zeigt nicht den detaillierten Ablauf von Kommerells Leben vom Anfang bis zum Ende, sondern ist bewußt situationsbezogen verfaßt. Diese Situationsbezogenheit zeigt sich in den Lesekreisen, an denen Kommerell vorübergehend teilnimmt. Anstatt Kommerells wissenschaftliche Schriften streng chronologisch zu behandeln, werden Verdichtungen vorgenommen. Die thematische Zusammengehörigkeit der Schriften ist für diese Arbeit wichtiger als die chronologische Abfolge der Publikationen. Formale, inhaltliche und gattungsthematische Zusammengehörigkeiten von Kommerells Schriften bedingen also die Einteilung der Kapitel. Die Kategorie der Zeit bleibt freilich als Ordnungsmaßstab notwendigerweise vorhanden. Kommerells Hölderlin-Rezeption findet z. B. zeitlich später statt als die Jean Paul-Rezeption, daher wird das Hölderlin-Kapitel weiter hinten angeordnet. Zwischen den Kapiteln wird es und soll es jedoch zu Überlappungen kommen. Dadurch entsteht eine distinktive Abstufung der Zeitstruktur. So sie ergeben sich Reflexionsräume, die Legendenbildungen und teleologische Entwicklungsdarstellungen gleichermaßen ausschließen. Durch Distanz und Reflexion erfolgt die Analyse von Kommerells Leben und Schriften mit einem kritisch differenzierten Blick, wie sich bei seiner anfänglichen politischen Einstellung, seinem opportunistischen Verhalten im Nationalsozialismus und seinem teilweise autoreferentiellen Darstellungsstil zeigen wird.

I.4 Ansätze zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik

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I.4 Ansätze zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik Die folgenden Ausführungen sollen klären, was in dieser Arbeit unter Wissenschaftsgeschichte verstanden wird und welche Forschungstendenzen der hier vertretene Ansatz ablehnt bzw. befürwortet. Die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik stellt zur Zeit ein zentrales Forschungsfeld des Faches dar. Das zeigt sich in vielen einzelnen Publikationen der letzten Jahre,61 ebenso wie in der Einrichtung der „Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik“ im DLA Marbach,62 dem Ausbau der Mitteilungen zur Zeitschrift Geschichte der Germanistik (GeGe) und in bedeutenden Nachschlagewerken wie dem Internationalen Germanistenlexikon. Dort heißt es zu den Aufgaben einer Wissenschaftsgeschichte als Disziplinengeschichte: Die Geschichte der eigenen Forschung zu analysieren, gehört gerade in den Philologien zur Wissenschaft selbst. Die philologische Praxis unterliegt vielfältigen Einflüssen. Folgen die Gelehrten in der Regel einem Wahrheitsanspruch, so sind die eignen Wertvorstellungen doch gegenwärtig, und auch Macht- und Karriereziele verliert man ungern aus den Augen. Viele Kräfte wirken aufeinander und bilden in Zusammenspiel und Zwist feste historische Traditionen. Wer diese zu erkennen vermag, schafft für die eigene Gegenwart ein kritisches Potential – eine Aktualität, die nicht selbstverständlich ist. Oft haben – durchaus auch selbstauferlegte – Zwänge die Germanisten daran gehindert, ihr Tun historisch zu reflektieren und so ihrer Wissenschaft gerecht zu werden.63

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Zur Geschichte der Germanistik im 19. und 20. Jahrhundert allgemein siehe u. a. Fohrmann, Jürgen/ Voßkamp, Wilhelm (Hgg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994; Weimar, Klaus: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989; Rosenberg, Rainer: Literaturwissenschaftliche Germanistik. Zur Geschichte ihrer Probleme und Begriffe, Berlin 1989; Fohrmann, Jürgen: Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989; und speziell: König, Christoph/ Lämmert, Eberhard (Hgg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, Frankfurt/M 1993; Barner, Wilfried/ König, Christoph (Hgg.): Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt/M 1996; Boden, Petra/ Dainat, Holger (Hgg.): Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, Berlin 1997; König, Christoph/ Müller, Hans-Harald/ Röcke, Werner (Hgg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, Berlin/New York 2000. Siehe außerdem Hausmann, Frank-Rutger: Wozu Fachgeschichte der Geisteswissenschaften im ‚Dritten Reich‘?, in: Kunstgeschichte im ‚Dritten Reich‘. Theorien, Methoden, Praktiken, hrsg. v. Ruth Heftrig, Olaf Peters u. Barbara Schellewald, Berlin 2008, S. 3–24. Dazu siehe die Schriftenreihe: Marbacher Wissenschaftsgeschichte. Eine Schriftenreihe der Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik im Deutschen Literaturarchiv in Marbach/N, Göttingen 2001ff. König, Christoph (Hg.): Internationales Germanistenlexikon: 1800–1950, Bd. 1: Berlin/ New York 2003, S. IX.

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I. Einleitung

Wissenschaftsgeschichte als Disziplinengeschichte beschäftigt sich mit Personen, Institutionen und Konzepten des Faches. Im Fokus stehen die Wissenschaftler als Akteure, die die Erkenntnisproduktion fördern. Durch Berufungen auf Lehrstühle und in einflußreiche Kommissionen vermehrt sich ihr Gestaltungsspielraum. Wissenschaft wird ausgeübt im Rahmen der Universität, die auf der einen Seite Einfluß auf die Institutionalisierung nimmt und auf der anderen Seite die Etablierung neuer Fächer bestätigt. Die Leistungsfähigkeit der institutionalisierten Wissenschaft wird in der Abfolge von wissenschaftlichen Programmen deutlich, an denen sich Innovationsschübe und Beharrungsversuche aufzeigen lassen. Dabei geht es um die Spezifik des disziplinären Wissens und die Ausbildung disziplinärer Identitäten und Grenzen. Am einzelnen Wissenschaftsakteur werden Differenzierungen nach innen und Leistungsbeziehungen nach außen deutlich. Die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik wird verstärkt seit den 1960er Jahren untersucht.64 Dabei sind drei methodische Ansätze, die zeitlich aufeinanderfolgen und sich gegeneinander richten, zu unterscheiden: 1. der ideologiekritische, 2. der systemtheoretische und 3. der feldtheoretische Ansatz. Ideologiekritische Deutungen der Wissenschaftsgeschichte wurden vor allem von Autoren in den 1970er Jahren verfolgt, z. B. von Franz Greß, Bernd Peschken und Jörg Jochen Müller.65 Für den systemtheoretischen Ansatz stehen besonders Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp.66 Der feldtheoretische Ansatz wurde partiell bei Rainer Kolk67 und umfassend bei Gerhard Kaiser verfolgt.68 Die ideologiekritischen Studien untersuchten wis-

64 Zum Forschungsstand bis 1996 siehe Hempel-Küter, Christa: Germanistik zwischen 1925 und 1955. Studien zur Welt der Wissenschaft am Beispiel von Hans Pyritz, Berlin 2000, S. 1–17. Vgl. auch ebd. S. IX. 65 Vgl. Greß, Franz: Germanistik und Politik. Kritische Beiträge zur Geschichte einer nationalen Wissenschaft, Bad Cannstatt 1971; Peschken, Bernd: Versuch einer germanistischen Ideologiekritik. Goethe, Lessing, Novalis, Tieck, Hölderlin, Heine in Wilhelm Diltheys und Julian Schmidts Vorstellungen, Stuttgart 1972; und: Müller, Jörg Jochen (Hg.): Germanistik und deutsche Nation, 1806–1848. Zur Konstitution bürgerlichen Bewußtseins, Stuttgart 1974. 66 Vgl. Fohrmann, Jürgen/ Voßkamp, Wilhelm (Hgg.): Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft, Stuttgart 1987 (DVjs-Sonderheft 1987); Fohrmann, Jürgen/ Voßkamp, Wilhelm (Hgg.): Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München 1991; Fohrmann/Voßkamp, Wissenschaftsgeschichte, 1994. Ebenfalls systemtheoretisch angelegt, aber nicht der Richtung Fohrmanns folgend, siehe Sturm, Peter: Literaturwissenschaft im Dritten Reich. Germanistische Wissenschaftsformation und politisches System, Wien 1995. 67 Vgl. Kolk, Rainer: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890– 1945, Tübingen 1998, S. 7, 50, 113, 118, 122, 250f. u. 496f. 68 Vgl. Kaiser, Gerhard: Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus, Berlin 2008. Siehe dazu auch Bollenbeck, Georg/ Knobloch, Clemens (Hgg.): Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945, Heidelberg 2001.

I.4 Ansätze zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik

21

senschaftliche Schriften auf bestimmte Ideologeme, um diese einer Kritik zu unterziehen. Sie verfolgten die Prämisse, daß sich in einem Text der weltanschauliche Charakter des Autors ausdrücke. Dagegen wandte sich der systemtheoretische Ansatz und schlug eine Öffnung der Perspektive vor.69 Er vertrat die Ansicht, daß die Geschichte des Faches Germanistik eine Geschichte der Ausdifferenzierung von Subsystemen sei. Deswegen veranschlagte er die Rolle des Individuums niedrig. Der feldtheoretische Ansatz wertete gegenüber der Systemtheorie die Rolle des Akteurs deutlich auf. Er ging davon aus, daß das Feld der Wissenschaft eine relative Autonomie gegenüber anderen Feldern, z. B. der Politik, behaupten könne. Die vorliegende Arbeit wird sich, wie im folgenden gezeigt wird, von diesen drei methodischen Richtungen abgrenzen. Das Fach Germanistik zeichnete sich lange Zeit durch eine Anfälligkeit für Theorieansätze aus, die zum Teil einfach modischen Konjunkturen folgten. Seit einigen Jahren ist eine Abkehr von der Theorieanfälligkeit zu konstatieren, wie u. a. Moritz Basler feststellt: „In der germanistischen Literaturwissenschaft ist gegenwärtig ein gewisser Überdruß an ‚harter‘ Theorie zu registrieren“.70 Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, ältere Ansätze der Wissenschaftshistoriographie fortzuführen, ohne in den Fehler zu verfallen, voreilig neue Theorien aufzustellen und zu verabsolutieren. Wilhelm Voßkamp hat den Begriff ‚Mehrfachperspektivierung‘ eingeführt,71 der von Wolfgang Höppner und im Sammelband von Petra Boden und Holger Dainat wieder angewendet worden ist.72 Auch andere Autoren sprechen sich gegen einlinige Darstellungen aus: Lutz Danneberg und Jörg Schönert setzen sich mit der Verbindung von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie auseinander und stellen fest, „daß es indes mehr denn je unklar erscheint, wie 69

70

71 72

Vgl. Fohrmann, Jürgen: Organisation, Wissen, Leistung. Konzeptuelle Überlegungen zu einer Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, in: IASL 16 (1991), H. 1, S. 110–125 und Voßkamp, Wilhelm: Für eine systematische Erforschung der Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, in: Fohrmann/Voßkamp, Gemeinschaft, S. 1–6. Baßler, Moritz: Rez. zu Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, in: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/bassl2.html [14.08.2010]. Zu weiteren, ähnlich lautenden Urteilen siehe Lepper, Marcel: Wissenschaftsgeschichte im Deutschen Literaturarchiv Marbach, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 53 (2006), H. 1, S. 111–121, hier: S. 111ff. und ders.: Wissenschaftsgeschichte als Theoriegeschichte. Ein Arbeitsprogramm, in: GeGe 29/30 (2006), S. 33–40, hier: S. 33ff. Siehe auch Wegmann, Nikolaus: ‚Wer von der Sache nichts versteht, macht Theorie‘: Ein Topos der philologischen ‚Curiositas‘, in: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, hrsg. v. Jörg Schönert, Stuttgart/Weimar 2001, S. 509–528. Vgl. Voßkamp, Systematische Erforschung, S. 1–6. Vgl. Höppner, Wolfgang: Mehrfachperspektivierung versus Ideologiekritik. Ein Diskussionsbeitrag zur Methodik der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 5 (1995), H. 3, S. 624–633 und Boden/Dainat, Selbstbesichtigungen, S. XV.

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I. Einleitung

beide (etwa zum gegenseitigen Nutzen) miteinander verkehren können“.73 Dirk Werle fordert am Beispiel des Stilbegriffes einen komplexeren und flexibleren Umgang mit wissenschaftsgeschichtlichen Kategorien als bisher.74 Ebenso tritt Rüdiger vom Bruch dafür ein, in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung zugleich Strukturen und Inhalte zu verhandeln, also Institution und Erkenntnisproduktion gemeinsam zu untersuchen.75 Marcel Lepper hat das vielfach angesprochene Problem, wie Erkenntnisproduktion und Institution aufeinander bezogen werden können, systematisch aufgegriffen.76 Seine Ausführungen werden zuerst resümiert, um anschließend die hier vertretene Position deutlich machen zu können. Lepper hat die Verbindung von Denkstrategien und institutionelle Strukturen problematisiert und die Fragen aufgeworfen, wie Konzepte schrittweise in Institutionen verankert werden und wie Institutionen modifizierend auf Konzepte wirken. Des weiteren sei zu untersuchen, wie Forschungsprogramme gezielt in institutionelle Rahmenbedingungen umgegossen werden und wie die Rahmenbedingungen auf die Programme rückwirken. Außerdem sei zu fragen, wie die Praxis Institutionen konstituiert und Institutionen die Praxis regulieren. Nach der Diskussion verschiedener, auch für Lepper unzureichender Lösungsansätze77 betont er, daß eine gekoppelte Beschreibung von Institution und Erkenntnisprozeß, der sich in Konzepten niederschlägt, fallbasiert

73

Danneberg, Lutz/ Schönert, Jörg: Belehrt und verführt durch Wissenschaftsgeschichte, in: Boden/Dainat, Selbstbesichtigungen, S. 13–58, hier: S. 50. 74 Vgl. Werle, Dirk: Stil, Denkstil, Wissenschaftsstil. Vorschläge zur Bestimmung und Verwendung eines Begriffs in der Wissenschaftsgeschichte der Geistes- und Kulturwissenschaften, in: Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), hrsg. v. Lutz Danneberg, Wolfgang Höppner u. Ralf Klausnitzer, Frankfurt/M u. a. 2005, S. 3–30, hier: S. 21 u. 29f. 75 Vgl. Bruch, Rüdiger vom: Wissenschaft im Gehäuse: Vom Nutzen und Nachteil institutionengeschichtlicher Perspektiven, in: Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), H. 1, S. 37–49. 76 Zum folgenden siehe Lepper, Marcel: ‚Gehäuse‘ und ‚Füllung‘. Zum Verhältnis von Institutionen und Erkenntnisprozessen, in: Der Dezennien-Dissens. Die deutsche HochschulReform-Kontroverse als Verlaufsform, hrsg. v. Hansgünter Meyer, Berlin 2006, S. 379– 387. Vgl. auch Lepper, Theoriegeschichte, S. 36 und ders., Wissenschaftsgeschichte, S. 119. 77 Es werden sieben Lösungsvorschläge zur Kopplung von Erkenntnisproduktion und Institutionen geliefert: (1.) Epistemologische Modelle Michael Polanyis und die Abgrenzung von ‚explicit knowledge‘ und ‚tacit knowledge‘. (2.) Wissenssoziologische Konzepte von Ludwik Fleck und Thomas S. Kuhn (Vgl. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv, mit einer Einl. hrsg. v. Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle, Frankfurt/M 31994 und Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M 111991). (3.) Modelle wissenschaftlicher Praxis in Anlehnung an Pierre Bourdieu und Anthony Giddens. (4.) Raumkonzepte der Lokalität von Wissenschaft und des ‚spatial turns‘. (5.) Infrastrukturelle Bedingungen und die ‚Akteur-Netzwerk-Theorie‘. (6.) Hier-

I.4 Ansätze zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik

23

sein müsse, von einzelnen Zentren ausgehen und korrespondierende Zentren einbeziehen solle. Er solle nicht im bipolaren Gegensatz angeordnet werden, sondern könne nur im triadischen Schritt aufgelöst werden. Um diesen triadischen Schritt zu leisten und die Pole Erkenntnisproduktion bzw. Konzept und Institution zu verbinden, setzt die vorliegende Arbeit die ‚Person‘ als entscheidende Schaltstelle ein. Die Person fungiert als Träger- und Bezugsinstitution für die Lieferung von Wissen. Sie ist zugleich Erzeugnis und Katalysator, Rezipient und Produzent von spezifisch modellierten Problemen und wissenschaftlichen Problemlösungsverfahren. Daraus ergibt sich die Aufgabe, die drei Komponenten Person, Institution und Konzept zu verbinden. Durch ihre Verbindung entstehen drei Ebenen: die Personen-, Institutionen- und Konzeptebene der Wissenschaftsgeschichte. Diese drei Ebenen sind in der Form der Darstellung zu berücksichtigen und zu integrieren. Daher ist eine zusammenführende, also eine integrierende Perspektive nötig. Die Form, in der dies am sinnvollsten gesehen kann, ist das Genre der Biographie, da bei der Darstellung eines wissenschaftlichen und intellektuellen Lebens persönliche Motivationen, institutionelle Anbindungen und konzeptuelle Einordnungen produktiv zusammengeführt und aufgrund konkret dargestellter Situationen angemessen gewichtet werden können.78 Deshalb entscheidet sich die vorliegende Studie für eine integrierende Perspektive und untersucht die Wissenschaftsgeschichte auf der Personen-, Institutionen- und Konzeptebene am Fallbeispiel Max Kommerell. Dabei wird der Frage nachgegangen, wie Ideen entwickelt, verbreitet und durchgesetzt werden. Stehen in der Wissenschaft die Probleme und offenen Fragen von vornherein im Raum, und anschließend gehen die Forscher daran, sie zu bearbeiten? Oder entwickeln die Wissenschaftler zuerst die Probleme, die dann in den Wissenschaftsdiskurs gelangen? Wie wirken Institutionen, vornehmlich die Universitäten, auf die Produktion von Ideen? In Bezug auf Kommerell ist dies zuzuspitzen auf die Frage, inwieweit die Probleme aus dem Dialog mit anderen Wissenschaftlern entstehen. Bei der angestrebten Untersuchung auf den drei Ebenen Personen-, Institutionen- und Konzeptgeschichte ist in Bezug auf die Personengeschichte danach zu fragen, was Kommerells persönliche Motivationen für die Teilhabe

78

archie-, Rollen- und Funktionsmodelle auf der Basis von Organigrammen. (7.) Modelle der System-Umwelt-Beziehungen. Vgl. Rohlfes, Joachim: Ein Herz für Personengeschichte. Strukturen und Persönlichkeiten in Wissenschaft und Unterricht, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994), S. 305–320; Szöllösi-Janze, Margit: Lebens-Geschichte – Wissenschafts-Geschichte. Vom Nutzen der Biographie für Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), H. 1, S. 17–35; und: Kaube, Jürgen: Soziologische Anmerkungen zur Biographie in der Wissenschaftsgeschichte, in: GeGe 27/28 (2005), S. 5–12.

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I. Einleitung

am Wissenschaftsdiskurs sind. Aus welchen Sozialisationen geht seine spezifische Form der Wissenschaft hervor? Inwiefern wirken seine persönlichen, außerwissenschaftlichen – also politischen, ethischen und religiösen – Einstellungen auf sein Wissenschaftskonzept ein? Außerdem ist zu untersuchen, in welches institutionelle Umfeld Kommerells wissenschaftliches Wirken fällt und wie wiederum die Institutionen durch politische Rahmenbedingungen bestimmt werden. Was die Konzeptgeschichte betrifft, ist auf die Einführung, Durchsetzung und Ablösung von wissenschaftlichen Methoden und Programmen einzugehen, um Kommerells Texte, die im Zentrum dieser Untersuchung stehen, auf die Teilhabe an diesen Programmen hin zu untersuchen.

I.5 Aufbau der Arbeit Aus dem skizzierten Forschungsstand ergibt sich für die vorliegende Arbeit folgender Aufbau: Diese intellektuelle Biographie untersucht Kommerells wissenschaftliche Schriften, deren Entstehen durch Kontakte zu anderen Wissenschaftlern bedingt ist. Dabei läßt sich beobachten, daß seine Dialogpartner meist die Rolle von väterlichen Freunden einnehmen. Sein Austausch mit ihnen läßt sich anhand der Briefwechsel rekonstruieren. Die Einteilung der Kapitel hat deshalb diese Grundstruktur: Kommerells wissenschaftliche Rezeption eines Dichters wird dargestellt zusammen mit den Briefaussagen über diesen Dichter, die er gegenüber einem oder mehreren befreundeten Wissenschaftlern formuliert. Diese Struktur kann freilich, jeweils dem Gegenstand angemessen, Variationen erfahren. In erster Linie wird in dieser Arbeit Kommerells Rezeption folgender Dichter untersucht: Jean Paul, Hofmannsthal, Goethe, Calderón, Hölderlin und Rilke. Nach dieser inhaltlichen Grundstruktur ergibt sich die Einteilung der Kapitel. Dabei entstehen drei Teile, die thematisch enger zusammenhängen: erstens Kap. I–III, zweitens Kap. IV–VI und drittens Kap. VII–X. Die Zeitangaben, die in Klammern hinter die Kapitelüberschriften gesetzt sind, sollen dem Leser nur eine erste, ungefähre Orientierung geben. Kommerells Zeit in Jugendbewegung und George-Kreis wird aufgrund des wissenschaftsgeschichtlichen Schwerpunktes dieser Arbeit nur mit einleitendem Charakter dargestellt (Kap. II). Dabei werden die Auseinandersetzungen mit Carl Spitteler, Gustav Wyneken, Hans Blüher, August Halm und dem ersten Mentor Ernst Kayka herausgestellt. Demgemäß wird es kein eigenes Kapitel zu Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik geben und dabei die Gefahr bewußt in Kauf genommen, George-Adepten zu enttäuschen. Kommerells intellektuelle Biographie beginnt, mit der Habilitation 1930 vielfältiger und facettenreicher zu werden. In Frankfurt am Main un-

I.5 Aufbau der Arbeit

25

terhält er einen Freundeskreis mit Karl Reinhardt und Walter F. Otto. In diesem Umfeld entsteht seine Studie Jean Paul, die mit Reinhardts Sophokles und Ottos Dionysos verglichen wird (Kap. III). Über Heinrich Zimmer wird die Hofmannsthal-Rezeption vermittelt, zu der Kommerells Antrittsvorlesung Hugo von Hofmannsthal, sein Nachwort zur Gedichtausgabe Nachlese der Gedichte, sein Drama Das kaiserliche Blut und sein Roman Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern gehören (Kap. IV). Zimmer steht ebenfalls im Zusammenhang mit der Kleist- und Goethe-Rezeption. Ein zentrales Gebiet von Kommerells Forschungen in den 1930er und 1940er Jahren sind die Studien über Goethe, die das lyrische, das epische – besonders Wilhelm Meisters Lehrjahre – und das dramatische Werk – vor allem Faust – umfassen (Kap. V). Kommerells Rezeption der ‚Weltliteratur‘ findet im Austausch mit den Romanisten Ernst Robert Curtius, Fritz Schalk und Werner Krauss statt. Mit Calderón de la Barca setzt er sich am intensivsten auseinander, außerdem rezipiert er Cervantes, die Commedia dell’arte und den höfischen Roman Japans (Kap. VI). Seine Berufung an die Universität Marburg ist vor dem Hintergrund der Studien Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie und Geist und Buchstabe der Dichtung (beide 1940) zu beleuchten. Dabei wird auf die Entwicklung seiner Karriere und der sich daraus ergebenden Publikationsstrategien eingegangen (Kap. VII). Der Kontakt mit Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer fließt in Kommerells Auseinandersetzung mit Hölderlin ein, die sich in Abgrenzung von der NSGermanistik vollzieht (Kap. VIII). Die Rilke-Rezeption ist verbunden mit dem Austausch im interdisziplinären Marburger Kreis, der aus dem Philosophen Julius Ebbinghaus, dem Mathematiker Kurt Reidemeister und dem Theologen Rudolf Bultmann besteht (Kap. IX). Ein Ausblick schließt die vorliegende Studie ab (Kap. X). Auf der begrifflichen Ebene stellt sich die Frage, wie Kommerells Verhältnisse zu anderen Wissenschaftlern bezeichnet werden sollten. Rainer Kolk hat versucht, den Begriff ‚Kreis‘ durch den der ‚Gruppe‘ zu ersetzen,79 ohne dabei letztlich zu überzeugen, weil Kommerell und die anderen Wissenschaftler zu homogen sind, um als Gruppe bezeichnet zu werden. Der zur Zeit verbreitete Begriff ‚Netzwerk‘ ist hier ebenfalls wenig passend, weil er Kommerells Kontakten eine Ausdehnung beimessen würde, die sie nicht hatten.80 Auch der Begriff ‚Konstellation‘ ist für Kommerell nicht zutreffend, da Konstellation nicht eine Freundschaft Gleichgesinnter bezeichnet, sondern

79 Vgl. Kolk, Gruppenbildung, S. 61 u. 111–154. 80 Zur Abgrenzung vgl. Lenger, Friedrich: Netzwerkanalyse und Biographieforschung – einige Überlegungen, in: BIOS 18 (2005), H. 2, S. 180–185.

26

I. Einleitung

das Zusammentreffen von Personen mit gegensätzlichen Haltungen.81 Kommerells Beziehungen zu anderen Wissenschaftlern entwickeln sich von Lesekreisen zu Freundeskreisen. Deshalb werden diese Beziehungen als ‚Kreise‘ im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs bezeichnet. Kommerells Freundschaften zu seinen Kommunikationspartnern werden als Momente eines Entwicklungsprozesses über verschiedenen Stufen angesehen. Auf der ersten Stufe stehen Personen, denen er mit kindlicher Verehrung entgegentritt. Dazu gehören Stefan George (1868–1933), Friedrich Wolters (1876–1930), Gustav Wyneken (1875–1964) und August Halm (1869–1929). Auf der zweiten Stufe sind Personen anzuordnen, die – etwa zwanzig Jahre älter als Kommerell – die Rollen von väterlichen Freunden und Förderern einnehmen, wie Ernst Kayka (1880-?), Karl Reinhardt (1886–1958), Walter F. Otto (1874–1958), Heinrich Zimmer (1890–1943), Rudolf Alexander Schröder (1878–1962), Ernst Robert Curtius (1886–1956), Martin Heidegger (1889–1976), Kurt Reidemeister (1893–1971) und Rudolf Bultmann (1884–1976). Auf der dritten Stufe schließlich stehen gleichaltrige Kommunikationspartner, mit denen sich Kommerell auf der Basis lebensgeschichtlich ähnlicher Situationen und Dispositionen austauscht. Zu diesen Vertretern sind Hans-Georg Gadamer (1900–2002), Karl Schlechta (1904–1985), Fritz Schalk (1902–1980) und Werner Krauss (1900–1976) zu zählen. Kommerells Entwicklungsprozesse verlaufen dabei keineswegs einlinig: In der späten Marburger Zeit sucht er sich noch väterliche Autoritäten, ebenso wie er schon am Anfang der Frankfurter Zeit den Austausch mit gleichaltrigen Partnern ausbaut. Insgesamt bietet diese Einteilung eine erste Orientierung zur Typologie der Freundschaftsbeziehungen Kommerells. Diese Arbeit setzt auf das Primärzitat – wichtig gerade bei einem sprachmächtigen Autor wie Kommerell. Seine Schriften erfuhren zwar nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Wiederabdrucke, sind jedoch gegenwärtig kaum präsent. Deshalb ist es für eine philologische Arbeit zentral, aus seinen publizierten Schriften zu zitieren. Hinzu kommen die unveröffentlichten Briefe aus dem DLA Marbach, die für diese Arbeit umfangreich konsultiert worden sind. Besonders aus diesem bisher unbekannten Material wird hier ausführlich zitiert werden. Dabei können allerdings nur etwa 10% des aufschlußreichen Materials aufgeführt werden. Der Verfasser ist sich bewußt, daß umfangreiches Zitieren verschiedene Vor- und Nachteile bietet. Dafür sprechen die Unmittelbarkeit und der Fluß, den die Zitate vermitteln. Dagegen spricht, daß der Tonfall von Kommerells Texten heute ungewohnt ist und daß die langen Zitate erhöhte Konzentration und eigene analytische Verar-

81

Vgl. Mulsow, Martin/ Stamm, Marcelo (Hgg.): Konstellationsforschung, Frankfurt/M 2005, S. 28.

I.5 Aufbau der Arbeit

27

beitung erfordern. Diese Arbeit setzt daher einen mitdenkenden Leser voraus. Da Kommerells Schriften heute häufig vergriffen und die Briefe größtenteils unpubliziert sind, entscheidet sie sich schließlich zugunsten des Primärzitats.

II. Max Kommerells Schulzeit, Studium und Promotion (1908–1929) Ich muß Dir aber auch jetzt noch ein bißchen von meinem Zimmerle erzählen. Also denk Dir ein kleines ... langes Zimmer, eine freundliche helle Blumentapete. Über meinem Schreibtisch ... ein Beethoven (Klinger, herrlich), darüber Goethe (Tischbein, großer Kopf, ohne alles andere). Über meinem Bücherständer ... Kinderbildchen von Feuerbach. Und auf dem Bücherständer thront ein Bär, ein köstlicher Kerl, den ich den Kindern in Steinkirchen ausführte. Dann kommt der Waschtisch, seitlich einerseits ein Heidebildchen, andererseits unser Kaiser. Jetzt ums Eck rum 1 Türe ... über meinem Bett Böcklins Meeresbrandung. Wieder ein Eck 2 Bilder nebeneinander, Antigone und Ismene, Ödipus und Antigone, drunter 1 reizendes Mignonbildchen ... wieder 1 Eck, Tischlein mit Klingermappe und mit dem herzigen Schach von Dir, drüber 1 holländische Jungfrau von Jan Veth ... dann kommts Fenster, Blumen, auf meinem Schreibtisch meine Mutter und davor sitze ich und schreibe Dir.1

In dieser Beschreibung, die Kommerell im Alter von 14 Jahren am 12. September 1916 an den Freund Ernst Kayka richtet, fallen viele unterschiedliche Elemente auf, die er in seinem Zimmer vereinigt. Literatur, Musik und bildende Kunst sind gleichmäßig verteilt vertreten. Klassizistische Künstler wie Goethe, Beethoven und Tischbein dominieren. Mit Böcklin, Klinger, Anselm Feuerbach und dem niederländischen Porträtmaler Jan Veth (1864–1925) sind allerdings auch Maler des späten 19. Jahrhunderts und des Jugendstils genannt. Damit werden zwei gegensätzliche Richtungen zusammengeführt, die für Überlieferung von Bildungsgut auf der einen Seite und für kritische Neuansätze auf der anderen Seite stehen. Mit der Gegenüberstellung von „Heidebildchen“ und Antigone-Bildern werden die Gegensätze von Natur und Antike aufeinander bezogen. Anhand von Antigone, Ismene und Ödipus findet schon hier eine Auseinandersetzung mit der Mythologie des klassischen Griechenlands statt. Ein weiterer Gegensatz ist die Konfrontation von idyllischer Landschaft und Kaiserporträt, also von privat und öffentlich, von Kunst

1

Zit. nach Hölscher-Lohmeyer, Dorothea: Entwürfe einer Jugend. Zu den frühen unveröffentlichten Briefen Max Kommerells, in: Zeit der Moderne. Zur deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, hrsg. v. Hans-Henrik Krummacher, Fritz Martini u. Walter Müller-Seidel, Stuttgart 1984, S. 339–362, hier: S. 339. Siehe auch dies.: Geist und Buchstabe der Briefe Max Kommerells. Anmerkungen zu ihrer Gesamtedition, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 15–31.

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II. Max Kommerells Schulzeit, Studium und Promotion (1908–1929)

und Politik. Außerdem gibt es im Zimmer einen Teddybären, Kinderbildchen und eine helle Blumentapete, aber zugleich ein Bild der verstorbenen Mutter. Darin zeigt sich ein Gegensatz zwischen der Verspieltheit der Kindheit und der Ernsthaftigkeit des langsamen Erwachsenwerdens. Bemerkenswert ist die Perspektivführung: Kommerell beginnt am Eingang seines Zimmers, schildert dann das Abbiegen um zwei Ecken, lenkt den Blick zum Fenster, von dort aus nach unten auf den Schreibtisch, an dem er gerade den Brief verfaßt. Er nähert sich also dem Leser langsam an und ist am Schluß direkt bei ihm: „schreibe Dir“. In Kommerells Zimmereinrichtung gehen verschiedene Einflüsse der Zeit ein: die bildungsbürgerliche Herkunft, der Kunstverstand und die humanistischen Erziehungstraditionen sowie die bürgerlich-patriotische Gesinnung vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Außerdem kommen persönliche Erlebnisse wie der Tod der Mutter hinzu. Diese Beschreibung zeigt Determinanten des geistig-kulturellen Horizonts, die hier schon angelegt sind und die sich über Kommerells Leben als Wissenschaftler hinweg durchziehen. Deshalb werden in diesem Kapitel Kommerells Zeit in der Jugendbewegung und im George-Kreis nur im Hinblick auf seine wissenschaftliche Karriere untersucht. Es wird der Frage nachgegangen, in wieweit der Weg in die Wissenschaft schon in Jugendbewegung und George-Kreis angelegt war.

II.1 Jugendbewegung Während der letzten Schul- und ersten Studienjahre, also etwa von 1916 bis 1921, interessiert sich Kommerell für Ideen einer gesellschaftlichen Aufbruchsbewegung, die heute mit dem Stichwort ‚Jugendbewegung‘ bezeichnet wird. Sie ist eine Reaktion auf Verlusterfahrungen der Moderne: Durch ein ‚Zurück zur Natur‘ sollte eine Reparationsleistung erbracht werden. Damit war ein Erlösungsversprechen verbunden, die Abwehrhaltungen dienten zur Austragung von Generationenkonflikten. Die bündischen Organisationen, speziell die Männerbünde, fielen dabei bewußt hinter bereits erreichte Differenzierungsgrade zurück. Gegen die gesellschaftliche Modernisierung gerichtet, wird ein Versuch der Entdifferenzierung unternommen. Kommerell erfährt im Laufe seines Lebens drei verschiedene Bildungssysteme. Zuerst wird er durch die wilhelminische Erziehung und das humanistische Gymnasium geprägt. Dann erlebt er Reformansätze der Jugendbewegung, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg bis in einige Bildungsministerien dringen. Schließlich ist er mit der nationalsozialistischen Erziehungspolitik und dem Führerprinzip an der Universität konfrontiert. Die Sozialisation in Jugendbewegung und Reformpädagogik stellt für Kommerell, wie im folgenden zu zeigen sein wird, das zentrale Bildungserlebnis seiner Jugend dar

II.1 Jugendbewegung

31

und ist ein wesentlicher Grund für die spätere Annäherung an den radikalästhetischen Dichterkreis um Stefan George. In Cannstatt besucht Kommerell das humanistische Gymnasium. Sein Abiturzeugnis wird am 17. Juni 1919 mit der Gesamtnote „gut“ ausgestellt. Sehr gute Leistungen erzielt er in den Pflichtfächern Religion und „Geschichte der deutschen Literatur“. Auch das „Verhalten“ der Schüler wird beurteilt: in den Rubriken „Fleiß“ und „Wissenschaftliches Interesse“ erhält er ebenfalls sehr gute Noten. Lediglich „befriedigend“ sind seine Kenntnisse der lateinischen Sprache und der Mathematik. Im Fach „Turnen“ werden seine Leistungen als „nicht ganz genügend“ eingestuft. Das Zeugnis zeigt somit einen Menschen, der fleißig und neugierig lernt. Seinen Stärken im Bereich der geisteswissenschaftlichen Fächer stehen Schwächen in Mathematik und Sport gegenüber.2 Schon in der Schule beginnt Kommerells Interesse für die Jugendbewegung. Sein Engagement wird hier auf der Basis seiner Briefe dargestellt. Dorothea Hölscher-Lohmeyer teilt sie in acht Kinderbriefe des 9–13jährigen und 225 Jugendbriefe des 14–19jährigen ein.3 Unter den zahlreichen Autoren der Jugendbewegung wählt Kommerell Gustav Wyneken, Hans Blüher und August Halm und wird ein Anhänger der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. Bevor diese Autoren untersucht werden, wird zuerst die Beschäftigung mit dem ersten Mentor, Ernst Kayka, und dem ersten Dichtervorbild, Carl Spitteler, dargestellt, da sie im Zusammenhang mit der Begeisterung für die Jugendbewegung stehen. II.1.1 Der erste Mentor: Ernst Kayka – Das erste Dichtervorbild: Carl Spitteler Ernst Kayka ist Gymnasiallehrer in Ballenstedt im Harz.4 Kommerell lernt ihn etwa 1916 über Treumund Strebel, den Mann seiner Schwester Jul, kennen. Kayka ist ein enger Freund von Strebel, der Pfarrer ist und 1915 im Ersten Weltkrieg fällt. Er hinterläßt Kommerells Schwester die Kinder Grete, Helmut und Siegfried. Kayka hält nach dessen Tod Kontakt zur Familie Strebel und zu Kommerell. Erfahrungen im wissenschaftlichen Bereich sammelt Kayka während seiner Promotion über Heinrich von Kleist und die Romantik, die er 1906 in Berlin abschließt (vgl. Kap. V). Kommerell erhält vielfältige Anregungen durch Kayka, der ihm Lektüreempfehlungen gibt, ihn zu dichterischen Produktionen und zum geisti2 3 4

Vgl. DLA Marbach, Kommerell, Max: Dokumente: Schulzeugnisse, Nachlaß Kommerell, D: 02.166.4. Vgl. Hölscher-Lohmeyer, Entwürfe, S. 339. Vgl. Storck, Kommerell, S. 2.

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II. Max Kommerells Schulzeit, Studium und Promotion (1908–1929)

gen Austausch im Medium des Briefes anregt. Von 1916 bis 1944 schreibt Kommerell kontinuierlich Briefe an ihn. Es ist eine der umfangreichsten Korrespondenzen.5 Kommerell teilt ihm in den frühen Briefen seine familiären Erfahrungen, seinen Schulalltag und seine ersten Begegnungen mit der Literatur mit. In einem Brief an Kayka vom 27. November 1919 vergleicht er diesen mit Gustav Wyneken, einem prominenten Vertreter der Jugendbewegung: „Übrigens habe ich auch hier eine starke Ähnlichkeit mit Dir, – ich meine in der erzieherischen Haltung – bemerkt, und gesehen daß Du, ob Du ihn kennst oder nicht, und ob Du mit ihm theoretisch einverstanden bist oder nicht, zu seinem Kreis gehörst. Wir sollten einmal zusammen nach Wickersdorf gehen und uns die Sache ansehn“ (BA 64). Kayka ist aufgeschlossen gegenüber Gedanken aus der Jugendbewegung. Mit Kommerell pflegt er trotz des Altersunterschiedes einen unkomplizierten Umgang, wie sich an der Anrede mit „Du“ zeigt. Er vertritt in seinem Unterricht eine reformorientierte Haltung, was aus dem gleichen Brief hervorgeht: „Rudi Rahn habe ich viel von Dir erzählt, ihm manche Deiner Briefe zu lesen gegeben – er war ganz erstaunt, daß ein Oberlehrer mit seinen Schülern den ‚Anfang‘6 lesen kann – denn dazu ist ja ein Bewußtsein der Gemeinsamkeit nötig, das wohl ganz selten zu finden ist“ (BA 68). Er nimmt Einfluß auf Kommerells Begeisterung für Carl Spitteler, stellt ihm die Schriften Spittelers zur Verfügung und regt eine Auseinandersetzung mit ihnen an. Über seinen ersten Mentor urteilt Kommerell: „mir hat er [Kayka] eine neue herrliche Größe, Carl Spitteler, erschlossen ... himmlisch, göttlich, einzigartig [...] alles ist so großartig, eigenartig und neu ... es schöpft so tief alles aus, was wir ahnen!“7 Die Begeisterung für den Schweizer Dichter Spitteler fällt etwa in die Zeit von 1916 bis 1921. Spitteler ist mit naturalistischen Versepen hervorgetreten und bekam 1919 den Literaturnobelpreis verliehen. Sein Verleger war Eugen Diederichs, der ein prominenter Verleger von Schriften der Jugendbewegung war. Kommerell hat verschiedene Äußerungen über Spitteler, dessen Dichtungen er als „Riesenwerke“ (BA 50) bezeichnet, hinterlassen. Am 30. August 1916 schreibt er an seinen Schulfreund Walter Kappus:

5 6 7

Vgl. DLA Marbach, Briefwechsel Max Kommerell – Ernst Kayka, Mikrofiche-Nr. 016280-016284. Der Anfang ist eine Programmzeitschrift der Jugendbewegung, die Kommerell abonniert, vgl. Hölscher-Lohmeyer, Entwürfe, S. 343. Zit. nach ebd. S. 352.

II.1 Jugendbewegung

33

Als Deine Karte kam, las ich eine Schrift: Unser Deutschtum u. d. Fall Spitteler.8 – Da sah ich, wie der Patriotismus, der gegenwärtig die Hauptstimme hat, lästert u. beschimpft jeden, der sachlich nicht national engherzig (z. Beispiel Avenarius, Redakteur [der Zeitschrift] Kunstwart, übrigens ein Patriot im herrlichsten Sinne; nach solchem Patriotismus strebe auch ich; da braucht man aber keine polit. Schriften u.s.w. zu lesen) urteilt. Sie verdrehen nicht nur Spitteler selbst, sondern auch Avenarius alles in wirklich gemeiner Weise. – Du hast behauptet, im Vaterlande liegen die Wurzeln unsrer Kraft. – Das ist individuell. – Wenn das Vaterland etwas fordert, so bin ich bereit zu opfern. Aber mir schwellt der glückliche Umstand das Herz, daß ich zu höherem Leben u. Streben erwacht bin, u. erst in zweiter Linie der, daß ich ein Deutscher bin. Wenn ich ein Franzose wäre, u. doch der Max Kommerell, dann wäre mir vieles erschwert, aber mein Wert, mein Wollen wäre dadurch nicht beeinflußt.9

In den letzten Zeilen wird der Grad von Kommerells patriotischer Einstellung deutlich. Er bekennt sich zum Vaterland, setzt jedoch andere Nationen nicht herab. Damit vertritt er partiell patriotische Ansichten. Spitteler hat am 14. Dezember 1914 eine Rede mit dem Titel Unser Schweizer Standpunkt gehalten, die eine große öffentliche Wirkung erzielt. Darin fordert für die Schweiz Neutralität im Ersten Weltkrieg und tritt für eine pazifistische Position ein. Das führt zur Ablehnung in Deutschland, auf die Kommerell in seinem Brief anspielt. Er erhebt die persönliche Lebensaufgabe über die Nationszugehörigkeit und zeigt schon früh Offenheit für ausländische Standpunkte, wie es auch später in seiner Rezeption der ‚Weltliteratur‘ der Fall sein wird. Kommerell setzt sich ebenso mit den poetischen Schriften Spittelers auseinander. Am 22. Mai 1920 urteilt er gegenüber Ernst Kayka: „Bei Spitteler ist das Stoffliche, die Vision (was natürlich auch Form ist, nur relativ, der Sprache gegenüber Stoff) durchaus das Wesentliche; radikal ausgedrückt hat die Sprache nur die negative Funktion, nichts davon zu verschütten, nichts zu verdecken, nichts zu verderben“ (BA 57). Hier entwickelt der 18jährige eine erstaunliche Sensibilität für das Verhältnis von Stoff, Form und Sprache und nimmt eine sprachskeptische Haltung ein. Er liest vor allem Spittelers Hauptwerke. Dazu gehört das Erstlingswerk Prometheus und Epimetheus. Ein Gleichnis (1880/81), das eine prosaepische Neugestaltung des antiken Mythos ist.10 Der Olympische Frühling (1905/1910) mit den drei Teilen Die Auffahrt,

8 9 10

Gemeint ist Schumann, Wolfgang (Hg.): Unser Deutschtum und der Fall Spitteler. Belege und Betrachtungen, München 1915. Zit. nach Storck, Kommerell, S. 6. Vgl. Spitteler, Carl: Gesammelte Werke, Bd. 1: Prometheus und Epimetheus. Prometheus der Dulder, hrsg. v. Gottfried Bohnenblust, Wilhelm Altwegg u. Robert Faesi, Zürich 1945, S. 26: „Und an demselben Tage, während also Fest und Jubel waltete im Menschenland und alle Sorgen sich versöhnten in der allgemeinen Freude, / Da stieg Prometheus grollend auf der Berge Höhn, den Blick gesenkt, das Angesicht von Scham durchglüht und all sein Fühlen wund von tödlicher Beschimpfung“.

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II. Max Kommerells Schulzeit, Studium und Promotion (1908–1929)

Hera die Braut und Die hohe Zeit,11 der durch persönliche Erfahrungen und allgemeine Zeitströmungen, wie den Schopenhauerschen Pessimismus, geprägt ist, löst bei ihm den Wunsch nach weiterer Spitteler-Lektüre aus. Die intensivste Auseinandersetzung findet mit Spittelers meistgelesenem Roman Imago (1906) statt, der die spätere Bekenntnisliteratur vorwegnimmt. Freud und C. G. Jung werden daraus wesentliche Begriffe für die Psychoanalyse ableiten. Schon der Beginn des Romans deutet auf die Thematisierung innerseelischer Entwicklungen: „‚Warten mit dem Aussteigen! Warten denn, bis der Zug hält!‘ ‚Dienstmann gefällig? Dienstmann?‘ So, das wär jetzt also die Heimat, nach welcher man sich das Herz aus dem Leibe gesehnt hat! Dem Landjäger, der dort in der Halle lungert, würde mans auch nicht ansehen. Ich glaube gar, er gähnt. Heimat und Gähnen!“12 Im Rückblick weist Kommerell in einem Brief an seine Schwester Jul vom 19. Juni 1920 auf die Bedeutung dieses Buches für sein Leben hin: „Kayka [...] sagte 1916 in Steinkirchen: ‚Imago lesen Sie lieber noch nicht‘ – aber als mir der Olympische Frühling so gut gefiel, konnte er sich doch nicht verkneifen, dieses gefährlichste Buch, das es für Menschen meiner Art im ersten Stadium meines Werdens gibt, mir zu geben, wo ich doch nicht mehr dumm genug war, es nicht zu verstehen“.13 Er sieht die Gefahr, die Ordnung in seinem Leben in der Literatur zu verlieren. Darin zeigt sich ein Gegensatz zwischen bürgerlicher und künstlerischer Lebenswelt. Deshalb versucht er sein Lektüreverlangen zu kontrollieren: „da wo mir das Tiefste begegnete, in den Werken Spittelers und Kleists usw., da verweilte ich natürlich am längsten und wühlte darin und vergrub mich darin – das war schon herrlich, aber gesund war’s freilich nicht. Es ist vielleicht recht gut, daß ich den Olympischen Frühling und mein Leibbuch Imago nicht in der letzten Zeit zur Hand hatte ... Ich habe jetzt auch den festen Vorsatz, das einzuschränken“.14 Die Bezeichnungen als „gefährlichstes Buch“ und als „Leibbuch“ drücken aus, daß Kommerell einen inneren Bezug zum Roman entwickelt und die Beschäftigung damit als Risiko für seine Gesundheit empfindet. Dieser Roman geht ihm so nah, weil die seelische Selbstergründung ein Thema für ihn ist, mit dem er sich bis zum Ende seines Lebens beschäftigen wird.

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Vgl. Spitteler, Carl: Gesammelte Werke, Bd. 2: Olympischer Frühling, hrsg. v. Gottfried Bohnenblust, Wilhelm Altwegg u. Robert Faesi, Zürich 1945, S. 7: „Hades, der Fürst des finstern Erebos, befahl: / ‚Entfesselt die gefangnen Götter allzumal / Und sammelt sie zu Hauf im Tempel der Sibyllen, / Auf daß ich ihnen künde meinen Spruch und Willen‘“. Spitteler, Carl: Gesammelte Werke, Bd. 4: Die Mädchenfeinde. Conrad der Leutnant. Imago, hrsg. v. Gottfried Bohnenblust, Wilhelm Altwegg u. Robert Faesi, Zürich 1945, S. 267. Zit. Hölscher-Lohmeyer, Entwürfe, S. 353. Zit. nach ebd. S. 353.

II.1 Jugendbewegung

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Zu Spitteler hat Kommerell einen persönlichen Zugang, für ihn ist der Schweizer Dichter ein Ausgleich zum unangenehmen Schulalltag. Am 1. September 1916 schreibt er an Kayka, daß er dank der „unergründlich[en] tiefe[n] Dichtung“ Spittelers „im Flusse des Schullebens etwas habe, was immer in die Tiefe“ führe – denn, so heißt es ein halbes Jahr später am 26. April 1917 ebenfalls an Kayka: „in der Schule ist’s schauerlich“.15 Kommerell würdigt Spittelers Schopenhauer-Rezeption, die u. a. in den Olympischen Frühling eingeht, und ist von dessen Hang zu Pathetik und Erhabenheit beeindruckt,16 wie er am 18. Oktober 1919 seiner Schwester Jul schildert: übrigens ist der ganze Spitteler die Illustration zu Schopenhauer [...] Wenn man von diesem Weltbild, das so wenig Bild und so furchtbar wirklich ist, aufblickt in die Tageswelt, ... so zerfließt alles und man sieht, etwa wie bei einem Röntgenbild, nur eine vielverzweigte Ader aus allem scheinen – er [Schopenhauer] nennt sie Wille, welcher grund- und zeitlos ist und dessen Wesen nur sinnloser Drang und dessen Eigenschaft es ist, sich selbst beständig zu bekämpfen und zu vernichten. Die einzige Rettung [ist,] den Geist, der sich vom Willen in den größten und besten Menschen freimacht, ganz zu bejahen und zugleich als erlösend wie als verpflichtend zu erkennen.17

Festzuhalten bleibt, daß sich Kommerell durch die Seelenthematik, die bei Spitteler dargestellt wird, besonders angesprochen fühlt. Außerdem verfaßt er eigene Gedichte nach dem Vorbild Spittelers,18 von denen er eines Die Seele nennt.19 Aufgrund der gegenüber Kayka angedeuteten Gefahr, sich in der Dichtung zu verlieren, untersagt er sich vorübergehend das Dichten, hält seinen Vorsatz jedoch nicht durch und hebt das Verbot schon nach einigen Monaten wieder auf. Spitteler ist der erste lebende Dichter, für den sich Kommerell begeistert. Erst danach interessiert er sich für die Lyrik Georges. Das Interesse an George schließt sich allerdings direkt an die Spitteler-Begeisterung an. In einer Übergangsphase um 1920 vergleicht er beide Autoren und teilt am 22. Mai 1920 seinem Mentor Ernst Kayka mit: „Ich sehe Spitteler und George als zwei entgegengesetzte Typen an, was das Verhältnis zur Sprache betrifft: bei Spitteler vergleiche ich die Sprache etwa [mit] einem farblosen Glas, durch das bewegte Gestalten wahrgenommen werden; bei George als farbige Scheibenteile, aus denen sich die Gestalten eines Kirchenfensters zusammensetzen“ (BA 56). Schon hier zeigt sich Kommerells Vermögen, eine bildhafte Sprache einzusetzen. Im folgenden resümiert er: „Ich meine damit bei George: daß

15 16 17 18 19

Zit. nach ebd. S. 355. Vgl. ebd. S. 355. Zit. nach ebd. S. 354. Vgl. ebd. S. 352. Zu frühen poetischen Werken siehe auch BA 61. Vgl. Hölscher-Lohmeyer, Entwürfe, S. 352.

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II. Max Kommerells Schulzeit, Studium und Promotion (1908–1929)

der Keim, das Treibende im Wort, bei Spitteler im Bild liegt. George braucht nur ganz wenig Phantasie: der visionäre Inhalt mag der geringfügigste, häufigste, gleichgültigste sein; unter seiner wunderbar bildenden Hand schmiegt er sich in so beseelt-edle sprachliche Formen, daß man überhaupt nur diese wahrnimmt und als die eigentlich künstlerische Leistung wertet; man weiß, er braucht überhaupt nur die gemeinsten Dinge von der Straße aufzulesen, in seiner Hand werden sie sofort zur begehrten köstlichen Seltenheit“ (BA 56f.). Einen ähnlichen Vergleich hatte er Kayka schon am 16. Mai 1920 in Thesenform angedeutet: Inhalt und Form als Synthese, [...] – was doch die Forderung der Kunst ist – ergibt sich bei Spitteler nur, wenn man die innere Bild-Gestalt bei Spitteler schon als Form nimmt; wenn man den sprachlichen Ausdruck als Form nimmt, so läuft durchaus etwas daneben her. – So erfährt auch die Sprache, was Dehnbarkeit, Schlüpfrigkeit, Feinfühligkeit, Eindrucksfähigkeit, Feinhörigkeit anlangt, durch George eine Weiterbildung; er übergibt künftigen Dichtern die Sprache als gereinigtes verfeinertes Werkzeug; Spitteler nicht, weil bei ihm das kosmische einmalige Leben gar nicht stark in der Sprache nachzittert, sondern völlig in dem Hintersprachlichen lebt, das die Sprache schildert. Daher schon sprachlich: Spitteler Individualist und großartiger Eremit, der einen Weg geht, der für jeden schwächeren verbrecherisch ist; George Vorbild, Führer. [...] In George mächtigstes, ersehntes Wiedererwachen des Cultischen. Sprachliche Vorbedingungen: Rauschhaftes Verbundensein mit der Wirkung des Rhythmus mit allen orgiastischen Sprach-Elementen. Wunderbare Ordnung und Stufung alles Menschlichen, heilige Mitte, oder einträchtiges Wirken von Rausch und Ordnung, ja: von Rausch als Ordnung. (BA 57f.)

Aus diesen Überlegungen geht hervor, daß Kommerell ein grundsätzliches Verlangen hat, Synthesen zu bilden. Im Laufe seines Lebens steigert sich dieses Bedürfnis in eine Tendenz zu Schematisierungen. Was für ihn hier „Inhalt und Form“ bedeuten, bezeichnet er später als „Geist und Buchstabe“, und das „Hintersprachliche“ wird zum „Unaussprechlichen“. Damit wird deutlich, wieviel vom später Verwirklichten schon früh angelegt ist. In einem Brief an die befreundete Emma Rahn vom 10. Mai 1920 wendet sich Kommerell noch einmal von George ab und zu Spitteler zurück, um schließlich seine eigene Autonomie zu reklamieren: „Meine Berührung mit der Georgischen Welt hat mich sehr bereichert, doch lenke ich nun mit verdoppelter Ehrfurcht zum alten Ideal: zu Spitteler zurück, weiß aber, daß beide mir gleich fern, und zum Verehren, nicht zum Nachahmen für mich da sind“ (BA 80f.).

II.1 Jugendbewegung

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II.1.2 Frühe Vordenker: Gustav Wyneken und Hans Blüher Kommerell begeistert sich für Positionen aus der Jugendbewegung,20 dabei ist er nicht Anhänger der Bündischen Jugend oder des Wandervogels, sondern der Freien Schulgemeinde Wickersdorf.21 Er interessiert sich besonders für die Erziehungskonzepte der Jugendbewegung. Die Reformschulbewegung suchte nicht eine Flucht in die Natur, wie der Wandervogel, sondern setzte sich für Reformen bei der Schulstruktur ein. Sie wandte sich gegen einen Griechisch- und Lateinunterricht, dessen Lernziel lediglich die Vermehrung von Wissensbeständen war. Statt dessen forderte sie eine musische Bildung durch die Fächer Kunst und Musik. Die Reformschulen veranstalteten Vollversammlungen aus Lehrern und Schülern, in denen die Schüler gleichberechtigt waren. Die Schulen wurden von einem Kollegium geleitet, das aus Schülern und Lehrern gebildet wurde.22 Kommerell wird u. a. durch den zwei Jahre älteren Rudolf Rahn, Gymnasiast aus Esslingen, für die Ideen der Jugendbewegung gewonnen. Mit Rahn verbindet ihn eine langjährige Freundschaft. Von 1919 bis 1942 sind zahlreiche Briefe überliefert,23 die meisten stammen aus den 1920er Jahren. Kommerell tauscht sich mit dem Freund über die Reformprojekte und Studienfragen aus. Von Kommerell sind verschiedene Urteile über Rahn überliefert, so schreibt er z. B. am 27. November 1919 an Ernst Kayka: „Rudi Rahn, der Mensch den ich jetzt am meisten liebhabe, und mit dem ich hier viel zusammen bin, war intimer Freund von [Gustav] Wyneken (er ist 19); [...] Mit Rudi war ich drei Tage in Cannstatt, zu einer Bruckner-Messe. Es waren seit dem letzten Steinkirchen[-Besuch] die schönsten, die ich erlebt

20 Zur Jugendbewegung allgemein siehe Rappe-Weber, Susanne: Bibliographie zur Geschichte der Jugendbewegung. Quellen und Darstellungen, Schwalbach/T 2009; Schneider, Bernhard: Daten zur Geschichte der Jugendbewegung. Unter besonderer Berücksichtigung des Pfadfindertums 1890–1945, Münster 1990 [mit 140seitiger Bibliographie]; und die Zeitschrift: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, hrsg. v. Susanne Rappe-Weber, N. F. seit 2004. Siehe auch Kindt, Werner (Hg.): Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, Köln/Düsseldorf 1963; Jantzen, Hinrich: Namen und Werke. Biographien und Beiträge zur Soziologie der Jugendbewegung, 5 Bde, Frankfurt/M 1972ff.; und: Laqueur, Walter Z.: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1978. 21 Zur Bündischen Jugend siehe Kindt, Werner (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933: Die bündische Zeit, Köln/Düsseldorf 1974. Zum Wandervogel siehe Kindt, Werner (Hg.): Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896–1919, Köln/Düsseldorf 1968. Zur Freien Schulgemeinde Wickersdorf siehe u. a. das Sonderheft „Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf“, in: Historische Jugendforschung N. F. 3 (2006). 22 Vgl. Hölscher-Lohmeyer, Entwürfe, S. 356f. 23 Vgl. DLA Marbach, Briefwechsel Max Kommerell – Rudolf Rahn, Mikrofiche-Nr. 016289-016289.

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II. Max Kommerells Schulzeit, Studium und Promotion (1908–1929)

habe [...]. Rudi ist ein sehr schöner Mensch; künstlerisch nach allen Richtungen begabt; aber wohl weder für die Kunst allein, noch die Welt allein bestimmt, sondern dafür diese nach jener zu formen, und das höchste Gesetz sich krystallisieren zu lassen“ (BA 64f.). Wenn Kommerell Kunst und Welt nicht als Einheit betrachtet, drückt sich darin eine Erfahrung von modernen Differenzierungsprozessen aus, auf die er später reagieren wird. Rudolf Rahn schildert in seiner Autobiographie Ruheloses Leben die Freundschaft zu Kommerell, die sich während ihrer gemeinsamen Tübinger Studienzeit fortsetzt, mit folgenden Worten: „Aber dieses Tübingen war nichts für mich. [...] Eine Bereicherung bildeten nur der kleine Freundeskreis, zu dem der spätere Literarhistoriker Max Kommerell und der Romanist Hermann Gmelin gehörten, die Abende, an denen wir gemeinsam lasen, diskutierten oder Musik machten, und die häufigen Wanderungen durch die unvergeßlich schöne Landschaft, in die Tübingen eingebettet liegt“.24 Kommerells erstes Engagement für die Jugendbewegung fällt in seine letzten Schuljahre. Er beruft Lesekreise ein, die reformorientierte Schriften diskutieren, nimmt an Schulversammlungen teil und hält Referate vor öffentlichem Publikum. In einem undatierten Brief aus dem Sommer 1919 an Rahn fordert er, junge Lehrer nach neuen Konzepten auszubilden: Hocherfreut war ich darüber, was Sie mir von der Gründung einer neuen Schule schrieben. Dies scheint mir in der Tat das beste, was jetzt geschehen kann; ehe man die neue Generation züchtet, muß man die Erzieher dazu haben. Nun müssen Schulen in den Typ, der in [Gustav Wynekens] ‚Schule und Jugendkultur‘ aufgestellt ist, einen Kern tüchtiger Erzieher heranbilden – damit, wenn das Alte weggeräumt ist, auch neues [sic] da ist. – Übrigens was fangen Sie denn in aller Welt mit derartigen Dokumenten des Philistertums an? Wollen Sie es einem künftigen Erziehungsminister vorlegen, um ihn zu überzeugen, da das Alte weg muß oder was? Es handelt sich doch um den Kampf gegen das System und nicht gegen einzelne, und dann ist Namensnennung desjenigen, dessen Unterricht und Erziehung der einzelne Bericht verurteilt, doch wohl nicht notwendig? (BA 52)

Das Verhältnis zwischen alten Lehrern und jungen Reformern stellt er ebenfalls am Beispiel einer persönlichen Anekdote dar: „Ein Professor, mit dem ich ziemlich vertraut stehe, bat mich, da er krank war, um mein Referat, und schrieb mir dann darüber. Er ist der einzige, der bis jetzt die Haltung annahm, die jeder vornehm gesinnte Erzieher annehmen sollte, der wesentliche Einwände gegen die Sache hat oder sie gar ablehnt. Er schrieb: Von uns Alten könnt Ihr nur verlangen, daß wir den neuen Geist nicht dämpfen“ (BA 52). Schüler, die von der Jugendbewegung angetan sind, rufen an ihren Schulen zu Schulversammlungen auf, um über aktuelle Fragen im Plenum zu be24 Rahn, Rudolf: Ruheloses Leben. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Düsseldorf 1949, S. 31f.

II.1 Jugendbewegung

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raten. Kommerell tritt begeistert für solche Versammlungen ein. Er ist jedoch enttäuscht vom fehlenden Engagement vieler Mitschüler und kritisiert deren Verhalten in einem Brief an Rahn vom 28. Juni 1919: „Aber schlimm ist die absolute Gleichgültigkeit, noch mehr Hilflosigkeit, mit der sie [die Schüler] den neuen Einrichtungen gegenüberstehen. In der Schulversammlung wird teilweise Schach gespielt und ähnliches, bei Erörterungen von Schulreformfragen. Bisherige Themen: die verschiedenen Wahlmodi; der Wert der humanistischen Schulbildung; der der Mathematik; Schule und Politik...“ (BA 56). Einer der bekanntesten Schulreformer ist Gustav Wyneken, der die Freie Schule Wickersdorf bei Saalfeld in Thüringen gründete.25 Wyneken hat Nationalökonomie, Theologie, Philosophie und Germanistik in Berlin, Halle, Greifswald und Göttingen studiert. Er wurde 1898 mit einer Arbeit über Hegels Kant-Kritik promoviert. Seit 1901 ist er Leiter des Landeserziehungsheims Ilsenburg. 1906 gründet er zusammen mit Paul Geheeb die Freie Schulgemeinde Wickersdorf und gehört zu den Initiatoren des Freideutschen Jugendtages 1913 auf dem Hohen Meißner. Er hat verschiedene Schriften der Reformschulbewegung vorgelegt.26 In seinem programmatischen Hauptwerk Schule und Jugendkultur (1914) versammelt er verschiedene, bereits erschienene Aufsätze und setzt sich mit Themen wie Kunsterziehung, Schulverfassung und Sexualerziehung auseinander.27 Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitet er kurzzeitig für das preußische Kultusministerium und leitet dort Schulreformen ein. 1920 wird er wegen Päderastie zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt, bestreitet jedoch durchweg die Vorwürfe gegen ihn (vgl. BA 102). Kommerell liest die Schriften Wynekens, ist davon begeistert und versucht, andere Schüler für diese Ideen zu gewinnen. Er ist von Wynekens Persönlichkeit beeindruckt, wie aus einem Brief an Kayka vom 27. November 1919 hervorgeht: „er [Rudolf Rahn] hat mir neulich Briefe von ihm [Gustav Wyneken] vorgelesen (er hat ca. 80!); und es war für mich ein wunderschöner Eindruck, den verehrten Mann von dieser Seite zu sehn – sein gro-

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Zur Literatur über Wyneken siehe Kupffer, Heinrich: Gustav Wyneken, Stuttgart 1970; Laqueur, Jugendbewegung, S. 63–68; und: Alphei, Hartmut/ Herrmann, Ulrich: 100 Jahre Wickersdorf. Eine kritische Vergegenwärtigung des Wollens und Wirkens von Gustav Wyneken und der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung N. F. 3 (2006), S. 12–22. 26 Vgl. Wyneken, Gustav: Der europäische Geist, 2. verm. Aufl., Leipzig 1926; ders.: Weltanschauung, München 1940; ders.: Rede auf dem Hohen Meißner am Morgen des 12. Oktobers, in: Freideutscher Jugendtag 1913. Reden von Gottfried Traub, Knud Ahlborn, Gustav Wyneken und Ferdinand Avenarius, hrsg. v. Gustav Mittelstraß u. Christian Schneehagen, Hamburg 1913, S. 16–20; ders.: Was ist „Jugendkultur“?. Öffentlicher Vortrag, München 1914; ders.: Der Kampf für die Jugend. Gesammelte Aufsätze, Jena 1920; ders.: Wickersdorf, Lauenburg/E 1922; ders.: Der Gedankenkreis der Freien Schulgemeinde. Dem Wandervogel gewidmet, Jena 1919. 27 Vgl. Wyneken, Gustav: Schule und Jugendkultur, Jena 21914.

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II. Max Kommerells Schulzeit, Studium und Promotion (1908–1929)

ßes, starkes Herz, voll unversieglicher Liebe und weiser Strenge; es ist ganz prachtvoll, wie er in sich, in seinem Leben mit Jungen, sein Erzieherideal verwirklicht“ (BA 64). Auch mit der Kunstauffassung Wynekens setzt er sich detailliert auseinander: [Ich] dachte, als ich die Aphorismen28 Wynekens zum erstemal las, geradezu, er verkenne den Weltcharakter völlig – ich dachte: die Welt ist nicht da, um schön zu sein, zu werden, sondern um als Erlösung und einziges Heil in Jammer und Qual die Blüte der Kunst aus sich schießen zu lassen; wie überhaupt für mich das Leben, die Wirklichkeit von Fleisch und Bein, vom Standpunkt des Geistes gesehen – garnicht eigentliche Wesenhaftigkeit hatte, sondern höchstens als Modell, als eine Art Anlaß zur Kunst war, und sich nie zu dem Rang erheben durfte, selbst Kunst sein zu wollen. Auch jetzt ist mir das Wyneken’sche Verhältnis noch nicht voll überzeugend – immerhin findet Kunst als Gemeinschaftssache sofort vollen Anklang. Ich würde gern die kleine Schrift [über die Aphorismen], die sich mit den schwersten gegenwärtigen Culturproblemen auseinandersetzt, einmal mit Dir lesen. (BA 65)

Kommerell gründet Lesekreise, in denen die Schriften Wynekens rezipiert und diskutiert werden. An Rahn, der ihn dazu angeregt hatte, berichtet er am 28. Juni 1919: „Ich bekenne mich völlig zu dem Schulideal Wynekens, beschäftige mich aber erst seit kurzem mit derartigem. Neulich regte ich die Bildung eines Kreises an, der nun, zu fünft, ‚Schule und Jugendkultur‘, die wichtigsten Kapitel liest...“ (BA 60). Die Wirkung auf die Teilnehmer schildert er in einem undatierten Brief ebenfalls an Rahn vom Sommer 1919: „Die Wyneken-Lektüre hat bei zweien gezündet; der eine, Ernst Schneller, sprach den Vorsatz aus, selbst einen Kreis für Klassengenossen und jüngere, auch Realschüler, zur Lektüre Wynekens zu gründen; schade, daß jetzt die Vakanz dann dazwischen tritt. Es vollzieht sich bei der Lektüre Wynekens von selbst eine gewisse Auslese – die für die’s nichts ist, capieren’s gar nicht“ (BA 52f.). Hier deutet sich schon Kommerells elitäres Bildungsverständnis an. Neben eine fachliche Beschäftigung mit Wyneken tritt die persönliche Begegnung. Er verfolgt dessen Vortrag über Schulgemeinde und Schülerrat in Cannstatt und teilt Ernst Kayka am 23. Februar 1918 mit: „Es wird diese Art, das Schulleben einzurichten, soweit es überhaupt bei der jetzigen Schulverfassung möglich ist, doch noch einzelnen persönlich bedeutenden Lehrern überlassen werden müssen, grundsätzlich aber imponiert mir seine Auffassung und Einrichtung der Schule ganz außerordentlich und scheint mir wirklich glücklich“.29 Kommerell folgt dem Vorbild Wynekens und hält an seiner Schule einen Vortrag über die Ideen der Reformschulbewegung. Am 9. September 1919

28 Gemeint ist Wyneken, Gustav: Aphorismen über die Kunst [1918], in: ders.: Der europäische Geist, 2. verm. Aufl., Leipzig 1926, S. 118–139. 29 Zit. nach Hölscher-Lohmeyer, Entwürfe, S. 356.

II.1 Jugendbewegung

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schreibt er über das Wyneken-Referat an Rahn, der ebenfalls vor einer Schulversammlung gesprochen hatte:30 „Als ‚Schulanekdote‘ berichte ich über die Aufnahme, die ein Referat von mir über die freie Schulgemeinde Wynekens bei einer Schulversammlung fand, folgendes: Nach dem Vortrag und der Aufforderung des Leiters, ob einer zur philosophischen Grundlage etwas zu bemerken habe, sprach sich Kübler [...] aus und erklärte sich begeistert für die Grundidee des Geistes- und Culturdienstes, während die Schule am Mangel einer einheitlichen Idee leide (bald erziehe sie zum Daseinskampf, bald zur Ausbildung der Individualität u.s.w.); dies sei ein Ziel, für das sich jeder Schüler begeistern könne (o weh!)“ (BA 54). Die anschließende Diskussion wird durch den Rektor strukturiert, der die Reihenfolge der Beiträge gemäß der Hierarchie einteilt: Nun sprach der älteste Lehrer mit heftigen wegwerfenden Gebärden und gehässigem Ton ungefähr folgendes: Es sei eben dies wieder die Sucht aller Neuerer, dem bisherigen alles Gute abzusprechen, und dann mit ihrem neuen Evangelium zu kommen und zu meinen, das sei das Allein Richtige und das bisherige habe nichts getaugt. ‚Dienst am Geist‘, ‚Culturdienst‘, was könne sich da einer darunter denken, das seien reine Phrasen […]. Es sei ein ganz schweres Unrecht, so der bisherigen Schule den Wert abzusprechen, wie es Wyneken und seine Anhänger tun; er sage auch hier, an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen (nämlich die bisherige Schule!!). Die Kulturgeschichte lehre, daß die Deutschen von jeher das Volk der Dichter und Denker gewesen seien und ungeheures für den Idealismus getan hätten, es sei ein ganz schweres Unrecht, zu behaupten, in der bisherigen Schule sei der Idealismus der Jugend verkümmert. – (BA 54f.)

Die Position des ältesten Lehrers steht hier stellvertretend für die Auffassung des klassischen Bildungsbürgertums. Mit Blick auf die Untersuchung von Kommerells wissenschaftlichen Aufsätzen der 1930er Jahre (vgl. Kap. V), bleibt festzuhalten, daß er schon an dieser Stelle von „wegwerfenden Gebärden“ spricht. Auf die Einwände des ältesten Lehrers folgt Kommerells Antwort: Ich stimmte eifrig bei, daß man die Schule an ihren Früchten erkennen solle, las die unerbittliche Stelle aus ‚Schule und Jugendkultur‘ über den Zustand unsrer bürgerlichen Jugend und das, was sie sein könnte, vor (Cigarre und Bierglas = Symbole des Verzichts auf Selbstachtung) […]. – Als ich dann sagte, Dienst am Geist sei keine Phrase, ich habe genau auseinandergesetzt, wie er, speziell in der Schule, geübt werde – Kulturunterricht mit Kunsterziehung im Zentrum u.s.w. –, erwiderte er, das hätte ich gleich sagen sollen, daß man sich nicht mit dem classischen Altertum beschäftigte. Ich: man beschäftige sich wohl auch mit antiker Cultur (in Culturgeschichte), aber nicht auf dem Weg der Erlernung der alten Sprachen; und daß ich sogar glaube, daß ohne dieselbe eine bessere Intuition der Antike sich gewinnen

30 Vgl. Rahn, Leben, S. 29.

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II. Max Kommerells Schulzeit, Studium und Promotion (1908–1929)

ließe. Dies wies er durch eine Geberde als groben Unsinn ab, und verließ dann bald äußerst gereizt den Saal (ich muß hinzufügen, daß ich in Ton und Inhalt mich an die Sache hielt). – (BA 55)

Das Erziehungskonzept, für das Kommerell eintritt, wird aus diesen Zeilen verständlich. Wenn er Intuition höher als positivistisches Studium einstuft, deutet sich darin das Konzept von einem ‚Wissenschaftskünstler‘, das im Laufe dieser Studie noch herausgearbeitet wird, an. Anschließend geht er auf die Reaktion einiger Mitschüler ein: „Von Schülern brachte außer obigem niemand Bemerkenswertes bei; ja, einer sagte, man wolle da wieder ein Experiment mit dem deutschen Michel machen, der ja schon auf so vieles reingefallen sei; und ich stelle da wieder einen großen Idealismus auf u.s.w. – ein Siebener brachte die Weisheit vor, die besser zu einem langen Bart gepaßt hätte: So eine ideale Erziehung sei eben nicht gut, wenn man dann auf die ‚Realitäten des Lebens‘ stoße, so habe man erst nichts davon –“ (BA 55). Neben die teilweise unterwürfige Kritik an den Lehrern tritt eine leicht abfällige Äußerung über den jüngeren Schüler. Aus dem ganzen Brief an Rahn wird deutlich, wie stark Kommerell mit Widerständen gegen die neuen Ideen, die er vorträgt, zu kämpfen hat, aber diese kritische Haltung wird bei ihm konstant bleiben. Der zweite Vertreter der Jugendbewegung, den Kommerell nach Gustav Wyneken am intensivsten rezipiert, ist Hans Blüher.31 Er hat Philosophie und klassische Philologie in Basel und Berlin studiert, ist ein Anhänger Nietzsches und unterrichtet in Berlin als Privatgelehrter. In seiner bekanntesten Schrift Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft (1917ff.) tritt er für homoerotische Männerbünde als Gesellschaftsideal ein.32 Nach der Lektüre teilt Kommerell am 13. Juli 1919 dem Klassenkameraden Joachim Boekh seine Gedanken mit: Ja, der Blüher! Weißt Du, nach dem Kapitel ‚Eros und Logos‘, ferner nach dem ganz geistreichen ‚Sokrates‘33 hatte ich den Eindruck, hier einen richtigen Philosophen vor mir zu haben. [...] die Gedanken sind ja teilweise sehr einfach und – na-

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Zur Literatur über Blüher siehe Laqueur, Jugendbewegung, S. 63–68; Plashues, Jürgen: Hans Blüher – ein Leben zwischen Schwarz und Weiß, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 19 (1999/2001), S. 146–185; und: Bruns, Claudia: „Politik des Eros“. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880–1934), Köln 2008, S. 191–266 [fehlerhafte Seitenangaben im Inhaltsverzeichnis]. Vgl. Blüher, Hans: Die Rolle des Eros in der männlichen Gesellschaft [Bd. 1], Jena 1917 und ders.: Die Rolle des Eros in der männlichen Gesellschaft. Eine Theorie der menschlichen Staatsbildung nach Wesen und Wert, Bd. 2: Familie und Männerbund, Jena 1919. Siehe auch ders.: Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, 2 Bde, Berlin 1912 und ders.: Werke und Tage. Geschichte eines Denkers. Autobiographie, München 1953. Gemeint sind Blüher, Hans: Eros und Logos, in: ders.: Die Rolle des Eros [Bd. 1], S. 226–240; und ders.: Sokrates und die Philosophie der Frau, in: ders.: Die Rolle des Eros, Bd. 2: Familie und Männerbund, S. 54–78.

II.1 Jugendbewegung

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heliegend[,] wie jede gute Entdeckung – aber den seherischen Blick zu haben, um durch die Summe von Beobachtungen und Erscheinungen in die Tiefe zu blicken, und die beiden großen Grundströme zu schauen, und Mann und Weib, Familie und Staat daraus herzuleiten – das ist es, wenn es auch kolossal einfach erscheint. Völlig einverstanden bin ich mit der Bejahung und Rehabilitierung der Inversion – vor allem als eines Seelenzustandes von einer Poesie, einem Pathos und einer inbrünstigen Hingabe, Gefühle höchsten Rangs. (BA 72f.)

Am 27. November 1919 erkundigt er sich nach der Meinung seines Mentors Kayka: „Ich wollte dich noch fragen, ob Du Hans Blüher kennst? Ich halte ihn für ungeheuer wichtig – nicht in 1. Linie wegen des objektiven geistigen Gewichts seiner Entdeckung – sondern vor allem historisch in dem Sinn, daß er für unendlich viele Erlöser sein wird und seine Entdeckung auch für Geisteswerke, vor allem aber die Erziehung von großer Bedeutung ist“ (BA 67). Zugleich warnt er Kayka, nicht mit Blühers Schriften in der Öffentlichkeit aufzutreten, um nicht mit dem Vorwurf der Päderastie konfrontiert zu werden: „Vielleicht fällt dir einmal eine seiner Schriften in die Hände, er hat auch wunderschön über den Philosophen Empedokles geschrieben – das darfst du aber noch weniger den Polizeidienern in deinem Pennal unter die Augen kommen lassen“ (BA 67f.). Kommerells kritische Einstellung gegenüber Blüher und Wyneken kommt an anderen Stellen zur Geltung. Nachdem er Walter G. Kleins Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf. Ein soziologischer Versuch (1921) gelesen hat, stellt er am 14. Oktober 1921 gegenüber Rahn bezüglich des Erziehungssystems fest:34 „Die Arbeit G. W. [sic] Kleins (der ‚soziologische Versuch‘) ist, wenn nicht Seelenlage eines Einzelnen, sondern Symptom des Wickersdorfer Geistes, für mich ... ein Krankheitssymptom und würde mir, ganz kurz formuliert, bedeuten, daß von einem gewissen (sehr frühen) Alter ab, ein Mensch in Wick[ersdorf] nichts mehr erlebt und ihm in der ganzen reichen Welt nichts mehr entgegenläuft als sein eigenes Schema. Ob dies der Mensch merkt oder nicht und also persönlich daran bankerott wird oder nicht, ist culturell gleichgültig“.35 In einem undatierten Brief vom Mai 1920 berichtet er seiner Schwester Jul von der ablehnenden Haltung, die ihm nach dem Wechsel an die Universität Heidelberg von Seiten der Georgeaner Friedrich Gundolf und Emil Henko vermittelt wird: „Neulich hat mich Henko mit völlig vernichtenden Urteilen über Blüher (dies hat mir nichts ausgemacht, da ich an ihm selbst sehr zweifelte) und Gustav Wyneken überrascht. Es war die erste Kritik gegen Wyneken, die nicht auf Trägheit, sondern im Grund eben auf die von ihm geforderte Haltung zurückzuführen ist – die ich gehört habe, übrigens 34 Zu Rudolf Rahns Begeisterung und Trennung von Wyneken siehe Rahn, Leben, S. 23f. 35 Zit. nach Hölscher-Lohmeyer, Entwürfe, S. 359.

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unterstützt, bei beiden, durch Gundolfs Urteil“ (BA 90).36 Diese Kritik macht sich Kommerell dann zu eigen. Am 15. Februar 1921 stellt er in einem Brief an Rahn Wyneken als Person in Frage: „Du weißt aber was Wyneken für mich ist – alles einzelne bei Seite gestellt und auch seinen menschlichen Adel einmal nicht in Frage gesetzt: ein Mensch der das, was aus der Natur herausbrechen muß, was als Welt in menschliche Gestalt gebannt die Erde mit Göttlichem überflutet – aus dem Wissen heraus setzt, der es aus seinem menschlich gesonderten, all-armen, erdfernen Dasein nachzuahmen versucht, der das Wachsen belauscht und dann zu erkünsteln versucht, also nicht bloß einer dem die Gnade fehlt – sondern einer der das Höchste fälscht“ (BA 99f.). Wenn Kommerell den Freund warnt, sich nicht von einem Bann gefangennehmen zu lassen, richtet er diese Warnung zugleich implizit an sich selbst: „So fürchte ich daß du durch eine leidenschaft [sic] an diesen Menschen gefesselt durch etwas vielleicht Teuflisch-Schönes geblendet dich wieder nicht von dem alten Bann befreien kannst“ (BA 100). Er hinterfragt schließlich das Modell Wickersdorf an sich: Du kannst deutlich sehen wie aus dem Wissen heraus die Folgeerscheinungen erzwungen werden die eine große einheitliche Erschütterung zu reifen pflegt, ohne daß der innerste Zwang des Werdens es gebietet – zwei Beispiele: die Weltlichkeit des ‚Wickersdorfer Menschen‘ und das Traditionelle als Überwindung der Persönlichkeit. Es ist ein richtiger Sinn daß das Göttliche im menschlichen Leib geboren wird. Dort aber wird außen begonnen: Tracht Haltung Höflichkeit Cultur des äußren Bewegens Körperübung – alles wenn nicht von innen geboren seelenmordend. Heidentum ist nie frivol, heiter, voller wollust [sic], aber ernsthaft. Heroismus der Geste an sich ist eine frivolität [sic], es ist der gute Geschmack des Absterbenden, aber nichts Schöpferisches. Ebenso die Tradition sterilisierend wenn nicht der Mensch der die ausstrahlt ein geistiges All ist.

Diese Aussage enthält einen Grundzug von Kommerells kritischer Haltung: Es geht ihm nicht um die Arbeit an der äußeren Form, sondern um die Entfaltung des Inneren. Angesichts dieser Kritik ist es nur konsequent, daß Kommerell im Herbst 1920 das Angebot ablehnt, als Klavierlehrer in Wikkersdorf zu arbeiten.37 II.1.3 Das Debüt als Autor: Über August Halm Neben Wyneken setzt sich Kommerell mit einem weiteren Protagonisten der Freien Schulgemeinde Wickersdorf auseinander. Es ist der Musiker und Musikpädagoge August Halm, ein Schwager Wynekens, der Musiklehrer in

36 Zu Kommerells Auseinandersetzung mit Henkos Kritik siehe BA 92–98. 37 Vgl. Storck, Kommerell, S. 9.

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Wickersdorf von 1906 bis 1910 und von 1920 bis 1929 ist.38 In den Schriften Von den zwei Kulturen der Musik (1904) und Harmonielehre (1905) begründet er seinen musikpädagogischen Ansatz,39 der zwischen Musiktheorie und Ästhetik zu vermitteln versucht, die Kunst phänomenologisch betrachtet und die subjektiven und biographischen Hintergründe der Entstehung zurückstellt. Halm unterscheidet grundsätzlich zwei Richtungen der Kunst: das Ideal der Form und das Ideal des Stils. Dabei sieht er Struktur und Form als Konsequenz des Formwillens einzelner musikalischer Gedanken. Das erste Ideal verkörpere Bach, das zweite Beethoven. Zusammengeführt würden diese beiden Richtungen schließlich von Anton Bruckner (vgl. BA 85). Kommerell lernt Halm über seinen Schulfreund Rudolf Rahn kennen (vgl. BA 74). In seinen Briefen spricht er begeistert über Halm, z. B. am 27. November 1919 gegenüber Kayka: „Bei dem verehrten Meister [Herv. C.W.] August Halm durfte ich neulich auch wieder sein; er hat in der kurzen Zeit, in der er ohne Amt ist,40 erstaunlich viel komponiert, und wünscht nur daß man ihn in Ruhe läßt, daß er so weitermachen kann – er spricht auch vorzüglich über Dichter, und du kannst dir denken, welche Freude es für mich ist, mich mit ihm zu unterhalten“ (BA 69). George ist also nicht der erste, den Kommerell als „Meister“ verehrt. Besonders würdigt er Halms Kompositionen: „Er hat ‚Was Ihr wollt‘ komponiert und ist einer der wenigen, die den vollen Eindruck von ihm [Shakespeare] haben. Mich schmeißt er geradezu hin durch seine fabelhaft freche Originalität, unerschöpflichen Erfindungen und ganz verblüffenden Offenbarungen – am liebsten sind mir die Lustspiele, richtige Alterswerke, wie Odyssee, Goethes ‚Novelle‘, Spittelers ‚Johannes‘, – worin er sich rein badet von allem Tiefsinn – im Geist des reinen Spiels. Was ich für eine Freude hatte an ‚Wie es euch gefällt‘ – Er ist der einzige Dichter, den ich Carl Spitteler zu vergleichen wagen würde“ (BA 69f.). Schon hier wird Kommerells Faszination für das Spiel deutlich, die später in seinen Schiller-Studien Ausdruck finden wird (vgl. Kap. VII). Zugleich deutet sich seine feinfühlige, originelle und sprachartistische Seite an. Eine Vorstellung

38 Zur Literatur über Halm siehe Höckner, Hilmar: August Halm und die Musik in der freien Schulgemeinde Wickersdorf, Berlin 1927 und Schäffler, Philipp: „Erziehung durch Musik und Erziehung zur Musik“. August Halms musikpädagogisches Denken und Handeln, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung N. F. 3 (2006), S. 68–84. 39 Vgl. Halm, August: Von den zwei Kulturen der Musik [1904], 3. Aufl., mit einer Einf. v. Gustav Wyneken, Stuttgart 1947 und ders.: Harmonielehre, Leipzig 1905. Siehe auch ders.: Selbstkritik, in: Die Freie Schulgemeinde. Blatt des Bundes für Freie Schulgemeinden 10 (1919), H. 1, S. 13–19. 40 Halms Versuch, Musikpädagoge an der Universität Tübingen zu werden, scheitert. Ab 1920 unterrichtet er daher wieder in Wickersdorf.

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von Halms Erscheinungsbild vermittelt der Bericht des württembergischen Schulmusiker Gotthilf Krauter: Schmächtig von Figur und ein sokratisches Haupt, jede Bewegung gemessen und keine einzige steif. Es [das kleine glatzköpfige Männlein] trug einen Vollbart in dem schmalen Gesicht und hatte seltsam große Augen, das gepflegte Äußere bildete einen einzigen harmonischen Akkord, in welchem die Krawatte als Quinte, die gelben Handmanschetten aber als Terz sehr deutlich und unstreitig höchst angenehm zu vernehmen waren: der halbverrückte Tonkünstler also. Er schlug mich vom ersten Augenblick an in seinen Bann.41

Über Anerkennung und Bewunderung hinaus gelangt Kommerell sogar zu einer Identifikation mit Halm: „[...] immer mehr wird mir die innerste Verwandtschaft zu Halm, als Künstlertypus, gewiß: der ja weit mehr als Musiker, als Ästhetiker bedeutet und eine volle und ausgefüllte Welt umfaßt: die typische, späte Alterskunst, wobei Alter nicht der Jugend gegenüber einen negativen Zustand, der fehlenden Fülle, des spärlichen Saftes bedeutet, sondern einen ebenso eigenartigen und in sich berechtigten wie die Jugend“ (BA 81), schreibt er am 10. Mai 1920 an Emma Rahn. Die Identifikation mit Halm wird noch verstärkt durch die gemeinsame schwäbische Herkunft: „Du glaubst gar nicht wie ich mein Innerstes berührt fühlte durch die heimatliche Luft seiner Bilder, wie gerne würde ich unendlich viel von ihm lernen, da er ja fast alles umfaßt und für mich wirklich kanonisch ist. Sein Umgang fehlt mir hier [in Heidelberg] am meisten, denn so selten ich auch mit ihm zusammen war, war doch jeder Augenblick eine Bekräftigung, ein der Richtung gewisser werden“ (BA 81). An dieser Stelle wird deutlich, wie Kommerell Halm zur Projektionsfläche seiner Vorstellungen eines idealen Lehrers macht. Auch nachdem sich Kommerell George angenähert hat, hält er zwischenzeitlich an Halm fest. Seiner Schwester Jul berichtet er in einem undatierten Brief vom Mai 1920: „[...] ich fühle mich z. B. Halm’s Zielen und seinem Kunst- und Künstler-Typus viel näher als ihrem [des George-Kreises]“ (BA 90). Halm ist also eines der ersten zentralen Vorbilder für Kommerell. Die Auseinandersetzung mit Halm findet nicht nur in Briefen, sondern auch in einem Aufsatz statt. Die Schrift Ueber August Halm ist Kommerells erste Publikation,42 erscheint 1921 in Der Bund. Ein Blatt der deutschen Jugendbewegung43 und beginnt mit folgenden Ausführungen: Auf dem (noch fruchtbaren) Spätling edelster Ausprägung liegt als Last und Reichtum das Alter seines Volkes und seiner Kunst. Neben und durch den engeren

41 Zit. nach. BA 84f. 42 Vgl. Storck, Kommerell, S. 9. 43 Kommerell, Max: Ueber August Halm, in: Der Bund. Ein Blatt der deutschen Jugendbewegung 3 (1921), H. 1/2, S. 21–24.

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Rhythmus seines einzelnen Wachstumes wirkt ein breiterer, der jenen mit all seinen Flutungen durch ein Glied umgreift und alle Schwankungen zu einem einheitlichen Charakter dämpft: das Lebensalter eines ganzen Volkes drückt sich in der anfänglichen und einmaligen Eigenform eines solchen sinnbildlich aus. Solchem ist in allem Wechsel der Entfaltung gleichmäßig die eigentliche Jugend versagt: der Keimduft; das Verhüllt-sein in zitterndem Harren, das hilflos-selige Ahnen, die Bedrängnis der sprossenden noch namenlosen Kräfte, all das duftige Nochnicht des Epheben. Er erwacht mit seiner Bürde von Schwere und später Reife in die Welt. Seine Geberden sind schon in früher Jugend die eines Lastenträgers; in ihm sind nicht nur die Erlebnisse, sondern auch manche Formungen der ehedem ungebändigt heraufdrängenden Stoffe aufgespeichert; die ersten Geburten sind schon strotzend reif, von sommerlich schwerem Atem, voll zögernder Sinnigkeit, überladen mit edel und sicher geführten Linien, ohne alles Ungelenke kindlicher Geberden. (Die ‚Passionshymnen‘). Das Tempo des Wachsens ist gefahrloser, langsamer – nicht das plötzliche: ‚Ich bin da‘ mit allen Schrecken und Entzückungen des Nie-Geschehenen und Nie-Versuchten; der Strom des Werdens weniger bedrohlich und drangvoll, doch gleichmäßiger flutend. Es ist neben der Frage der entscheidenden schöpferischen Begabung auch eine des Charakters: Ob die relativ größere Freiheit des bewußten Schaltens, des ordnenden Vermögens langsam sich von allem Dämonisch-Bestimmenden löst, oder ob er das gesteigerte Wissen aus der ehrfürchtigen Befreundung mit dem Dämon zurückempfängt als kostbare geweihte Kraft, die sorglich über allem Wachstum wacht; als Kultur, als Treue der Qualität, die alle Schwankungen der Eingebung ausgleicht. So sind die Kräfte des Zeugens, die in ihm emporströmen, zugleich frei überschaut, doch nur mit Liebe und ihm werden satte Spätgebilde von reliefartig gedämpfter Schönheit zu teil.44

So lautet also der erste Absatz, mit dem der junge Autor an die Öffentlichkeit tritt. Der Text ist sprachlich aufgeladen, pathetische Ausdrücke dominieren. Gewollte Stilisierungen lassen ihn ungeschickt wirken. Auf der anderen Seite zeigt sich Kommerells Traditionsverständnis. Er setzt sich mit dem Problem auseinander, wie sich der „Spätling“ zur Überlieferung verhalten soll. Damit bezieht er sich nicht nur auf Halm, sondern zeigt zugleich, daß er sich selbst die Rolle des Erbens zuschreibt. Er benennt die Schwierigkeiten der Nachkommen, die sich fragen, ob sie die alte Kunst ignorieren, sie übernehmen oder umwandeln sollen. Kommerell charakterisiert Halms Musik durch fünf Aspekte: Verdopplung durch Gegensätze, Dominanz der Bewegung, Halm als Maler, Dramatiker und Handwerker. Den ersten Aspekt, die Verdopplung durch Gegensätze, leitet er aus einem epochalen Unterschied her: „So nehmen wir in den Werken Halms eine Doppelheit wahr, die man romantisch nennen mag, wenn wir zur Verdeutlichung Bruckner als klassisch gegenüber setzen“.45 Er

44 Ebd. S. 21f. 45 Ebd. S. 22.

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wendet den goethischen Gegensatz von Klassik und Romantik auf die Musik an und führt weiter aus: So ergibt sich der Typus des Halm’schen Pastorale (womit nicht nur und nicht einmal besonders die ausdrücklich unter diesem Namen laufenden Stücke verstanden seien) Faunmusik in sommerlicher Landschaft, scheinbar deutlich-friedliche Linie und anmutig zögernder Traum, doch ein Brüten über jeder Form zitternd, bis ein jauchzender Schrei die Erdkräfte befreit und ihr Tanz einen längst verlorenen Anblick zu geisterhafter Gegenwart erneut.46

Kommerell skizziert eine idyllische Sommerlandschaft und entwickelt dabei schon die spätere Fähigkeit, eine bildhafte Sprache anzuwenden. Aus der Verdopplung durch Gegensätze ergibt sich „das Zwiespältige, Geschwängerte, Schleichende der Halm’schen Musik“.47 Die „Paradoxie des Dynamischen“, die er anspricht, bringt er an einer anderen Stelle mit dem zweiten Aspekt, die Dominanz der Bewegung, in Verbindung und konstatiert „das Vorherrschen der Bewegung“.48 Die Stärke der physiognomischen Darstellung, die Walter Benjamin an Kommerells Klassik-Studie loben wird (vgl. Kap. III), zeigt sich schon hier: „Wir können es auch physiognomisch ausdrücken: alles steht auf dem Gesicht der alten Silene: die faltenreiche, in tiefe Fernen denkende Stirn und die schwermütig gewölbten, schauenden Augen – ein Wimperzuck und jeder Zug ist Gelächter und alle Glieder stampfenden Reigen“.49 Zum dritten Aspekt, Halm als Maler, gelangt Kommerell, indem er den (laut)malerischen Charakter der Musik thematisiert. Danach verbindet er in der Person Halms Musik und Malerei: Halm, der Musiker, ist auch Maler. [...] Soweit das Malerische ein Talent neben seinem Genie ist, verrät es uns den Urtypus in deutlicheren Zeichen: so ist die Malerei eine Nebenart seiner Musik – der Schatten seiner Musik – eine Gespenstische, unglaublich Lustige und Huschende, die sich immer an den Grenzen des Möglichen bewegt [...]. Das verantwortungsvoll zum Ende der Verwirklichung geführte Werk Halms ist die Musik, die Malerei mehr, das erregt träumende Geflüster noch nicht verleibter Geisterchen.50

Als vierten Aspekt sieht er in Halm einen Dramatiker. Auf die Vertonung von Shakespeares Stücken hat er bereits in seinen Briefen hingewiesen. Nun bringt er Halm direkt mit dem Dramatiker in Verbindung: „Der Geist dieser Malerei ist dramatisch (dies gibt denn Halm einige Berechtigung Shakespeare zu komponieren). Sie stellt an der menschlichen Gestalt den Geist des Tanzes 46 47 48 49 50

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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in allen Wandlungen dar“. Drama und Tanz werden verbunden und der Kern des Musischen zum „Grundstoff der Welt“ erklärt.51 Halm wird mit einem Sprachfeld beschrieben, das dem Bereich des Handwerks entstammt. Daraus geht der fünfte Aspekt, Halm als Handwerker, hervor: „Dem verwandt ist die erhabene Steigerung des Handwerklichen, der technischen Überlegung und, daß sich zumal seine Kunst-lehre [sic] in den Grenzen des Handwerklichen, des Abstrahierbaren hält, also Rationalismus bleibt, allerdings mit so eifriger Vergeistigung geführt, daß sie die einzigen haltbaren Maaßstäbe [sic] liefert“.52 Kommerell geht nicht auf den Eindruck des Hörers ein, sondern auf die Technik der Komposition. Dann vergleicht er den Komponisten mit einem Handwerksmeister: „So mustert ein Werkmeister kurz vor Feierabend die Arbeit und nützt die letzte kostbare Stunde um alles gut zu machen“.53 Als Schlußfolgerung wird am Ende des Aufsatzes die Dimension des Handwerklichen beim Zugang zu Halms Werk betont: „Es gibt immer keinen andern Weg zu Halms Musik als den der technischen Vertiefung und keine Maßstäbe als die von ihm selbst geschaffenen“.54 Kommerell drückt einen der Gegensätze, die durch Verdopplung hervorgehoben werden, in einer Metapher aus: „Zwei ewige Gegengestalten begegnen in vielen seiner Bilder in sich wandelnden Verhüllungen ihrer seltsamen gleichen Schwermut: Der häßliche Zwerg und die ihn verschmähende, ihm grollende, ihm verdrossen dienende schöne Königin. Sie sind Symbole eines Künstlertumes; wenn wir diesen Zug hinzufügen, wird unser ursprünglicher Vergleich – mit dem Stilen – körperlicher: der Häßliche, der doch das anbetende Auge hat, in dem sich die Schönheit spiegelt; die letzte Wehmut des Geistigen, mit der er auch Jugend und Leiblichkeit blickt“.55 Die Metapher vom häßlichen Zwerg und der schönen Königin nutzt er, um dem Aspekt der Verdopplung durch Gegensätze mehr Körperlichkeit zu verleihen. Zugleich ist es ein Beispiel sowohl für seinen verspielten Charakter als auch für seine Sprachartistik. Insgesamt zeigt sich in der Ungeübtheit der Formulierungen, dem Übermaß an Pathos und der Tendenz zur Künstlichkeit Kommerells Anfängerstil. Die Auseinandersetzung mit den Ideen der Reformschulbewegung prägt Kommerell und führt zu seinem in der Schulzeit gefaßten Entschluß, Lehrer zu werden. Dieser Entschluß ist Ausgangspunkt für seinen weiteren Werdegang. Am Anfang steht also der angehende Lehrer Kommerell. Am 28. Juni

51 52 53 54 55

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23. 23. 23. 24. 24.

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1919 hält er in einem Brief fest: „Die einzige Rettung ist ... die, daß die, die von den neuen Ideen erfüllt sind, Lehrer werden und von sich aus die Voraussetzungen schaffen, die geistigen, auf die allein wertvolle Reformen aufgebaut werden können“.56 Am 27. November 1919 bekennt er Kayka: „Ich kann Dir gar nicht sagen, wie ich mich gefreut habe, über den Einblick, den Du mir durch Deine Mitteilungen in Deine Auffassung der Lehreraufgabe hast tun lassen“ (BA 63). Im gleichen Brief wird auch das Ziel, Lehrer zu werden, formuliert: „[Ich] ging unter strengster Unterdrückung aller eigener Produktivität, die sich betätigen zu lassen ich fast wie ein sittliches Delikt ansah, drauf los, ein ordentlicher deutscher Schulmeister zu werden“ (BA 60). Aus einem undatierten Brief an seine Schwester Jul vom Mai 1920 wird deutlich, wie stark Kommerells Persönlichkeit zu Beginn des Studiums schon ausgeprägt war. Durch diese Zeilen werden Teilnahme am und Trennung vom George-Kreis, die im folgenden behandelt werden, besser verständlich: Wenn Du meinst ich unterschätze das Heimatliche, die Familie, so stimmt es doch nicht. Ganz rein und richtig kann ich es freilich nur sehen, wenn ich räumlich entfernt bin, weil dann die ganze Gegenwart von Reibungen, Mißverstehen und Wehtunmüssen fortgeräumt ist und ich den Kern von Güte und Wärme rein sehen kann. [...] Wenn mir die Unbefangenheit, die ich brauche zu dem was ich will, immer gestört wird durch das Gefühl, wie ich Opfer annehme, und es mir durch alle möglichen Vorgänge überdeutlich vorgerückt wird, brauche ich die halbe Kraft dazu, sie mir wieder zu erringen – und verliere dabei leicht die Objektivität. (BA 87f.)

II.2 George-Kreis Zum Sommersemester 1920 wechselt Kommerell von der Tübinger an die Heidelberger Universität. Um 1920 ist Heidelberg ein zentraler Ort des geistigen Lebens in Deutschland und hat eine außerordentliche Bedeutung für die deutsche Kultur und Wissenschaft. In und um die Rupert-Karls-Universität gibt es eine heterogene intellektuelle Atmosphäre, in der es zu Überschneidungen von wissenschaftlichen und dichterischen Kreisen kommt. Auf der einen Seite steht dafür der Kreis des Soziologen Max Weber,57 auf der anderen Seite der Dichterkreis um Stefan George.58

56 Zit. nach Hölscher-Lohmeyer, Entwürfe, S. 358. 57 Vgl. Radkau, Joachim: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München/Wien 2005, S. 442–494. 58 Zu Georges Wirken in Heidelberg siehe Kolk, Rainer: Das schöne Leben. Stefan George und sein Kreis in Heidelberg, in: Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit“ eines „Weltdorfes“: 1850–1950, hrsg. v. Hubert

II.2 George-Kreis

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Kommerells Zeit im George-Kreis, die bereits gut erforscht ist und daher hier bewußt knapp gehalten wird,59 kann in drei Phasen eingeteilt werden: 60 1. die Annäherung von 1921 bis 1923, 2. das Wanderleben an der Seite Georges von 1924 bis 1926 und 3. die allmähliche Lösung von George in den Jahren etwa von 1927 bis 1929. Aufgrund der Attraktivität als Wissenschaftsstandort und der räumlichen Nähe entscheidet Kommerell sich für Heidelberg und studiert dort Deutsch und Griechisch in den Haupt- und Philosophie und Französisch in den Nebenfächern.61 Mit dem Wechsel nach Heidelberg beginnt er, sich dem George-Kreis anzunähern.62 In dieser Zeit beschäftigt er sich vermehrt mit Georges Lyrik und hört an der Universität Vorlesungen von Friedrich Gundolf.63 Anfangs sieht er letzteren nicht uneingeschränkt positiv, wie er am 15. Februar 1921 an Rudolf Rahn berichtet: „Ich stehe einzelnem im Stil Gundolfs durchaus kritisch gegenüber, schweige aber gern über alles, da es

Treiber u. Karol Sauerland, Opladen 1995, S. 310–327; Breuer, Stefan: Das Syndikat der Seelen. George und sein Kreis, in: Treiber/Sauerland, Heidelberg, S. 328–375. Zur Exklusivität des George-Kreises siehe Lepenies, Wolf: Gesellschaftsferne und SoziologieFeindschaft im Kreis um Stefan George, in: ders.: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985, S. 311–334. 59 Zum Forschungsstand über den George-Kreis siehe Egyptien, Jürgen: Entwicklung und Stand der George-Forschung 1955–2005, in: Stefan George, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, München 2005, S. 105–122. Zur älteren Forschung siehe Landmann, Georg Peter: Stefan George und sein Kreis. Eine Bibliographie, mit der Hilfe von Gunhild Günther erg. u. nachgeführte 2. Aufl., Hamburg 1976; Winkler, Michael: George-Kreis, Stuttgart 1972; und mit angeführten Rezensionen Landmann, Georg Peter (Hg.): Der GeorgeKreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften, Köln/Berlin 1965. 60 Vgl. auch die Darstellung von Friedrich Voit über Karl Wolfskehls Rolle im George-Kreis, Voit, Friedrich: Karls Wolfskehl. Leben und Werk im Exil, Göttingen 2005, S. 13–77. 61 Vgl. Gerold, Karl-Gustav: In memoriam Max Kommerell, in: Alma Mater Philippina (SoSe 1972), S. 14–16, hier: S. 14. 62 Zu Darstellungen der Entwicklung des George-Kreises siehe Braungart, Wolfgang: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997; Kolk, Gruppenbildung, 1998; Groppe, Carola: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln/Weimar/Wien 1997; Kluncker, Karlhans: „Das geheime Deutschland“. Über Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1985; und: Braungart, Wolfgang/ Oelmann, Ute/ Böschenstein, Bernhard (Hgg.): Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘, Tübingen 2001. 63 Zu Gundolfs Wissenschaftskunst siehe Alt, Peter-André: Zwischen Wissenschaft und Dichterverehrung. Friedrich Gundolf in seinen Briefen und Briefwechseln, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 106 (1987), S. 251–281; Osterkamp, Ernst: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem GeorgeKreis, in: König/Lämmert, Geistesgeschichte, S. 177–198; und: Arrighetti, Anna Maria: Der Sinn für das Mythische in den Geschichtskonzeptionen von Friedrich Gundolf und von Ernst Bertram, in: Nachleben der Antike – Formen ihrer Aneignung. Fs. für Klaus Ley, hrsg. v. Bettina Bosold-DasGupta, Charlotte Krauß u. Christine Mundt-Espín, Berlin 2006, S. 443–459.

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II. Max Kommerells Schulzeit, Studium und Promotion (1908–1929)

wenig zu bedeuten hat gegenüber meinem Gefühl von Legitimität Richtigkeit und Recht-Zeitigkeit das ich bei allem habe, was aus dem Kreis ins Offene dringt“ (BA 101). Der Leseplan, den er sich nach dem Wintersemester 1920/21 für die achtwöchigen Semesterferien stellt, ist beeindruckend: Als allgemeine Lektüre nimmt er sich Dante, Klopstock und George vor. Auf Griechisch will er Pindar lesen. Dazu kommen noch einige ausgewählte Schriften anderer Autoren: Goethes Faust I und II, Sophokles’ Ödipus und Hölderlins Hyperion, Jugendgedichte, philosophische Schriften und die Ödipus-Übersetzung (vgl. BA 101). In Heidelberg schließt er neue Freundschaften mit den gleichaltrigen Emil Henko und Walter Elze, die schon zum George-Kreis gehören (vgl. BA 103 u. 106f.). Durch sie lernt er auch Ewald Volhard und Johann Anton, genannt Hans, kennen, die etwa zur gleichen Zeit wie er zum George-Kreis stoßen.64 Anton wird Kommerells engster Freund im George-Kreis (vgl. BA 179–181). Am 10. November 1921 schreibt er seiner Schwester Jul schon in Georgeanischer Kleinschreibung: „Hans Anton, der wiener, ist mir sehr lieb und ein süßes wiederaufleben verloren geglaubter dinge“ (BA 107). Über die Heidelberger Zeit berichtet er am 21. Februar 1921 Rudolf Rahn: „George kann man nun oft in den Straßen und an der Universität sehen. [...] Mein Verhältnis zu Ewald gerät wieder etwas besser. Henko hält in einem – hoffentlich nicht zu lange dauernden – paedagogischen Groll etwas weiten Abstand von mir. Wenn mich die Leute im Stiche lassen, gehe ich ins Kaffee. Henko hab ich neulich ein Gedicht gegeben, er hat mich [sic] noch nicht darüber gesprochen“ (BA 102). Zu seinen jüngeren neuen Freunden gehören die Brüder Claus, Alexander und Berthold von Stauffenberg, die von Kommerells Persönlichkeit beeindruckt waren.65 Im George-Kreis sucht Kommerell Imperative zur Gemeinschaftsbildung. Walter Elze ist Assistent bei dem Georgeaner und Marburger Historiker Friedrich Wolters. Er führt Kommerell und Volhard Anfang Juni 1921 bei Wolters ein (vgl. BA 103). Im Wintersemester 1921/22 wechselt Kommerell dann an die Universität Marburg. Wolters wiederum stellt ihn George vor.66

64 Vgl. Fügen, Hans Norbert: Der George-Kreis in der ‚dritten Generation‘, in: Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik, hrsg. v. Wolfgang Rothe, Stuttgart 1974, S. 334– 358. Siehe auch Landau, Edwin Maria: Verstreute Schar: Stefan George und seine Freunde, in: Das goldene Tor 2 (1947), H. 8/9, S. 794–803. 65 Vgl. den Brief von Claus von Stauffenberg an Kommerell vom März 1930, BA 177–178, sowie BA 175 u. 178f. Siehe auch Riedel, Manfred: Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 176–180. 66 Zum Leben Georges siehe Karlauf, George, 2007; Norton, Robert Edward: Secret Germany. Stefan George and his circle, Ithaca 2002 [dazu Fried, Johannes: Rez. zu Robert E. Norton: Secret Germany. Stefan George and his circle, in: Historische Zeitschrift 277

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Erst danach – anders als vielfach in der Literatur dargestellt – lernt er Friedrich Gundolf persönlich kennen. Von Wolters, der ihn in den kommenden Jahren betreut, ist er begeistert, wie aus einem Brief vom 10. November 1921 an seine Schwester Jul hervorgeht: „Wolters ist ein wahrer König und vater der menschen“ (BA 105). In dieser Verherrlichung von Wolters als Vaterfigur deuten sich Kommerells extreme Anhänglichkeit und seine Suche nach Bezugspersonen, die sich zeitlebens fortsetzen wird, an. Der Eintritt in den George-Kreis bedeutet zugleich eine Distanzierung von alten Freunden. Die Vorgänge innerhalb des Kreises wurden nach außen streng geheim gehalten, sogar gegenüber Familienmitgliedern, wie aus einem Brief vom 10. November 1921 an die Schwester Jul deutlich wird: „Noch eins: gib diesen brief niemand, auch nicht Vater oder [der Schwester] Hedwig, wie auch alle etwa folgenden, in denen ich Dir von Wolters und unserem engeren leben erzähle“ (BA 107). Seiner Jugendliebe Else Eichler darf Kommerell ebenfalls nicht mehr schreiben: „Ich darf keine Worte der Leidenschaft zu Dir mehr in den Mund nehmen und was ich nicht anders bannen kann, verschweige ich“.67 George reglementiert nicht nur Kommerells Umgang mit Freunden, sondern schränkt auch die Lektüreauswahl ein. Der Jugendfreund Otto Heuschele erinnert sich an ein Gespräch mit Kommerell: „Er sprach von Stefan George und wie er sich von ihm habe trennen müssen, um er selbst zu werden. Mit Bedauern sprach er davon, wie in seiner frühesten Jugend ihm vieles verschlossen gewesen sei, weil ‚der Meister‘ vieles zu lesen nicht erlaubt habe“.68 Das Lektüreverbot hinterläßt einen Nachholbedarf, den Kommerell in seinem späteren Leben zu stillen versuchen wird. George versammelt im Kreis Männer unterschiedlicher Generationen um sich. Bei den gemeinsamen Treffen werden Gedichte verfaßt, Lyrik rezitiert, ein geistiger Austausch gepflegt und eine ästhetisch-heroische Lebensform kultiviert.69 George wird als ‚Meister‘, die Mitglieder als ‚Jünger‘ und die Gemeinschaft als ‚Staat‘ bezeichnet. Er klassifiziert die Mitglieder nach seiner Gunst und läßt sie unterschiedlich nah an sich herankommen. Kommerell

(2003), S. 783–786]; und: Seekamp, H.-J./ Ockenden, R. C./ Keilson, M. (Hgg.): Stefan George. Leben und Werk. Eine Zeittafel, Amsterdam 1972. 67 Brief Kommerell an Else Eichler vom 21.09.1921, zit. nach Storck, Kommerell, S. 10. 68 Heuschele, Otto: Gedenkblatt. Erinnerungen an den Dichter Max Kommerell, in: Stuttgarter Zeitung, Nr. 166 vom 22.07.1960 [wieder in: Heuschele, Otto: Erinnerungen an Max Kommerell, in: ders.: Begegnungen und Fügungen, Sankt Michael 1984, S. 42–47]. Siehe auch ders.: In memoriam Max Kommerell, in: ders.: Betrachtungen und Deutungen, Stuttgart 1948, S. 162–169. 69 Zum Ästhetizismus im George-Kreis siehe Andres, Jan/ Braungart, Wolfgang/ Kauffmann, Kai (Hgg.): „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900, Frankfurt/M u. a. 2007; und: Simonis, Annette: Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, Tübingen 2000.

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verdrängt Friedrich Gundolf als Georges ‚Lieblingsjünger‘ und schließt sich der Gruppe um Wolters an.70 Zusammen mit Johann Anton versteht er sich als den ‚inneren Staat‘ und als die neuen ‚Dioskuren‘.71 Die Universitätsveranstaltungen lehnt Kommerell ebenso entschieden ab wie zuvor den Schulunterricht. Darin zeigt sich schon seine spätere Distanz zur traditionellen Wissenschaftsform an. Am 25. Februar 1923 klagt er gegenüber seiner Schwester Jul: „Der ganze [Universitäts-]Betrieb widert mich aber an wie noch nie und ich leide [...] sehr unter der fortgesetzten Notwendigkeit des Compromisses“ (BA 124). Daß Kommerell zum ‚natürlichen Todfeind‘ der Germanistik wird, wie er es im Bultmann-Brief aus der Einleitung selbst beschreibt, deutet sich hier schon an. Aus einem Seminarreferat heraus entwickelt Kommerell Überlegungen, die später den Gegenstand seiner Dissertation darstellen.72 Am 27. Januar 1923 teilt er Ewald Volhard mit: „Dennoch übernahm ich neulich ein Correferat gegen Herrn Spiess über Hyperion und arbeite jetzt auf 20. Februar eine große Sache über Rousseau und [Jean Pauls Roman] die Unsichtbare Loge. Habe also alle hände voll zu tun“ (BA 122). Die Dissertation untersucht ebenfalls Jean Paul Verhältnis zu Rousseau (vgl. Kap. III). Schon ein Jahr später, am 5. Januar 1924, teilt er Emma Rahn mit: „Ich bin heftig daran, meine Dissertation fertigzustellen und darf für Besseres augenblicklich wenig Sinn haben“ (BA 129). Wolters, der 1924 nach Kiel berufen wird, nimmt durch Korrekturlesen Einfluß auf die Entstehung der Studie. Eingereicht wird die Arbeit Anfang 1924 beim Marburger Germanisten Ernst Elster und erscheint in selben Jahr als Band 23 in dessen Reihe Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft. Gleich nach der Promotion verfolgt Kommerell Pläne zu einer Habilitation. Die Bemühungen um die Habilitation halten von 1924 bis 1930 an. Den Plan, eine dauerhafte freie Schriftstellerexistenz zu führen, hat er zu keinem Zeitpunkt. Doch das Habilitationsvorhaben erfordert Geduld. Zuerst gibt er den Plan, einen Habilitationsversuch in Marburg zu machen, auf (vgl. BA 130). Im Frühjahr 1924 meldet er seiner Schwester Jul: „Von Marburg hab ich nun endgültigen Abschied genommen. [...] Ich bin sehr begierig wo ich mich habilitieren werde“.73 Dann scheitern nicht näher beschriebene

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Zur Konkurrenz zwischen Gundolf und Wolters siehe auch Groppe, Carola: Konkurrierende Weltanschauungsmodelle im Kontext von Kreisentwicklung und Außenwirkung des George-Kreises. Friedrich Gundolf – Friedrich Wolters, in: Braungart/Oelmann/ Böschenstein, Siebenter Ring, S. 265–282. Vgl. Karlauf, George, S. 532–537. Es läßt sich nicht mehr feststellen, um welches Seminar bei welchem Dozenten es sich handelt, vgl. BA 124. Zit. nach Storck, Kommerell, S. 14.

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Versuche in Würzburg und Tübingen (vgl. BA 132). Vorläufig will er sich noch eine Möglichkeit bei dem Kölner Germanisten Ernst Bertram, der dem George-Kreis nahe steht und dessen Lehrstuhl Kommerell im Jahr 1938/39 vertreten wird (vgl. Kap. VII), offenhalten, wie er am 20. April 1925 Friedrich Wolters mitteilt: Vielleicht könnte sich jemand von uns unschwer bei Professor Bertram (dessen berufung nach München mir völlig unbekannt war) habilitieren. Ich weiß es nicht. […] Ich habe bei den universitäten mit denen ich in verbindung trat, die erfahrung gemacht – daß sich durch empfehlung und einiges zutun doch nichts erzwingen, daß sich nicht alles vorausberechnen läßt: man muß einen günstigen moment abwarten aus dem sich dann das weitere leichter ergibt. (BA 131)

George unterstützt mit seinen intensiv gepflegten Berührungen zur zeitgenössischen Universitätslandschaft Kommerells Bemühungen, akademische Karriere zu machen, auch wenn er davon nicht begeistert ist. Da er für Kommerell ein unabhängiges Leben als Dichter vorziehen würde, kommt es Anfang 1925 sogar zu „Reibereien“.74 Dabei kann der George-Kreis auch als Fortführung und Intensivierung eines philologischen Ethos verstanden werden, das den Imperativen des Wissenschaftssystems korrespondierte und seinen Mitgliedern entsprechende akademische Karrieren ermöglichte.75 In der Phase der engsten Bindung an George begibt sich Kommerell auf ein Wanderleben an seiner Seite,76 das schon in der Marburger Zeit beginnt.77 Seit 1924 wird es zum Alltag. Die Aufenthaltsorte wechseln hauptsächlich zwischen Cannstatt, Marburg, Berlin und Kiel,78 wo sie u. a. den Herbst 1926 verbringen (vgl. BA 133). Bei einem der Berlin-Aufenthalte, der schon in das Jahr 1922 fällt, besucht Kommerell mehrfach die Anti-

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Karlauf, George, S. 573. Von Salin ist das umstrittene Zitat „Von mir aus führt kein Weg in die Wissenschaft“ überliefert, Salin, Edgar: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, 2. erw. Aufl., München/Düsseldorf 1954, S. 249. Die neuere Forschung geht hingegen von einem großen Einfluß Georges auf die Wissenschaft aus, dazu siehe Böschenstein, Bernhard u. a. (Hgg.): Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin/New York 2005; Schlieben, Barbara/ Schneider, Olaf/ Schulmeyer, Kerstin (Hgg.): Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004; Kolk, Rainer: George-Kreis und zeitgenössische Germanistik 1910–1930. Eine Skizze, in: George-Jahrbuch 1 (1996/97), S. 107–123; Osterkamp, Ernst: „Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre“. Das Engagement deutscher Dichter im Konflikt um die Muncker-Nachfolge 1926/27 und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, in: JbDSG 33 (1989), S. 349–369; und: Braungart, Wolfgang/ Kauffmann, Kai (Hgg.): Essayismus um 1900, Heidelberg 2006. 76 Vgl. Karlauf, George, S. 568. 77 So fährt er z. B. im August 1923 mit Anton nach Oberitalien. Vgl. Storck, Kommerell, S. 12. 78 Vgl. Storck, Kommerell, S. 19.

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kensammlung und vertieft dort seine kunsthistorischen Urteilsfähigkeiten. Der Schwester Jul schildert er den Besuch am 29. November 1922: „Mein Leben ist hier – zu meinem teil – bücherfrei und von stärkster Erfülltheit im menschlichen. Die bildung des auges und des formsinnes schreitet durch mein tägliches sorgfältiges Besichtigen der Antikensammlung sehr fort. Was mir an Freizeit bleibt, gehört zur Zeit poetischen Studien: die Übertragungsversuche an Petrarca leiten mich ins Innere des Sprach-bildnerischen und daneben lese ich als höchstes Vita Nuova italienisch“ (BA 119). Kommerell begleitet George auf seinen Reisen, erledigt für ihn die Korrespondenz und organisiert Unterkünfte.79 Darin zeigt sich ein großer Vertrauensbeweis, denn nur wenige – wie Boehringer, Gundolf, Mehnert – konnten die interne Kommunikation im George-Kreis verfolgen und durften Einblick in Georges Privatleben haben. George hat ein Gedicht, das 1928 im Lyrikband Das Neue Reich erscheint und zur Gruppe Sprüche an die Lebenden gehört, mit der Chiffre M. bezeichnet. Darin spielt er auf Kommerell an: „Versunkner träumer ward nun ein begleiter / Der aus dem zwielicht strebt zum vollen licht · / Er schreitet neben mir gelöst und heiter / Und nezt mit tau das kindliche gesicht“.80 In dieser Zeit nennt er Kommerell ‚Unser Kleinstes‘, unter Nutzung von Shakespeares Sommernachtstraum als Stilisierungsvorrat auch ‚Puck‘ oder in Anspielung auf den zentralen Maximin-Kult im George-Kreis ‚Maxim‘. Während des Wanderlebens nimmt Kommerell an verschiedenen Arbeitsprojekten teil (vgl. BA 106). So unterstützt er Wolters Arbeit Hymnen und Sequenzen. Übertragungen aus den lateinischen Liedern der Kirche vom 4.–15. Jahrhundert (1922). Durch George werden sein Umgang mit fremdsprachlichen Texten und seine Technik des Übersetzens geschult, indem er Einblick in die Übersetzungspraxis Georges, Gundolfs und Wolters bekommt und zu eigenen Versuchen angeleitet wird. Dieser Einfluß ist für den späteren Weg in die ‚Weltliteratur‘ von Bedeutung (vgl. Kap. VI). Der Austausch zwischen Kommerell und Wolters funktioniert wechselseitig. In einem Brief an Wolters vom 1. Januar 1927 beurteilt er dessen Buch Der Deutsche. Ein Lesewerk (1925–27): 81 „Erst jetzt übersehe ich die gewaltige compositionelle arbeit und würdige deren geheimabsichten. Zu-

79 Vgl. Groppe, Macht, S. 375–380. 80 George, Stefan: Werke. Ausgabe in zwei Bänden, Bd. 1: Stuttgart 1984, S. 450. Zu Georges späten Gedichten siehe Osterkamp, Ernst: „Ihr wisst nicht wer ich bin“. Stefan Georges poetische Rollenspiele, München 2002. 81 Dazu siehe auch Groppe, Macht, S. 276–282. Zum Neuen Reich siehe Osterkamp, Ernst: „Poesie der leeren Mitte“. Stefan Georges Neues Reich, München 2010. Die Untersuchung erschien nach Fertigstellung dieser Arbeit und konnte daher nicht mehr berücksichtigt werden.

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sammenstellungen wie der Shakespearesichten und Napoleonsichten sind freilich einschlagende blitze“ (BA 137). Nach Wolters Tod am 14. April 1930 verfaßt er die Erinnerungsschrift Friedrich Wolters zum Gedächtnis (vgl. BA 164–169), in der er betont: „Wille formte hier und Wille wurde geformt, und wenn irgendwo der Gedanke zur irdischen Großmacht wird, so geschiehts um Männer wie wir in ihm einen verloren“ (BA 168). In Anspielung auf Nietzsches Willen zur Macht kultiviert Kommerell hier die Form des lobpreisenden Nekrologs. In der Zeit von Anfang 1927 bis September 1928 entsteht Kommerells Studie Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik.82 Wolters korrigiert wie bei der Dissertation nacheinander die einzelnen Kapitel, und auch George verfolgt das Entstehen der Arbeit, die bei Bondi in Berlin in der Reihe Werke der Wissenschaft aus dem Kreis der Blätter für die Kunst erscheint.83 In die Studie gehen Georges Gestaltdenken und seine Vorstellungen von einem Dichterführer ein (vgl. Kap. III). 1929 erscheinen Kommerells Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt bei Bondi in einer Auflage von 300 Stück.84 Die Bezeichnung ‚Wiedergeburt‘ bezieht sich auf die Zeit der antinapoleonischen Befreiungskriege. Die Gespräche, die als poetische Modellierung der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Klassik-Studie angesehen werden können,85 sind als Rollengedichte verfaßt, in denen Goethe, Herder, Schiller, Napoleon und Hölderlin auftreten. George hat sie gegenüber Edith Landmann gelobt.86 Daß die homoerotischen Darstellungen in den Gedichten auf den Einfluß Georges zurückgehen, hat Wolfgang Adam nachgewiesen.87 Seit 1927 nimmt das Thema von Kommerells Habilitationsschrift Kontur an. Der erste Schritt ist eine Rezension zur Verwendung des Verses bei

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Vgl. BA 138. Siehe auch Osterkamp, Ernst: Das Eigene im Fremden. Georges Maximin-Erlebnis in seiner Bedeutung für die Konzeption der ‚Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst‘, in: Begegnung mit dem Fremden. Grenzen – Traditionen – Vergleiche, Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990, Bd. 10, hrsg. v. Eijiro Iwasaki, München 1991, S. 394–400. 84 Kommerell, Max: Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt, Berlin 1929 [wieder in: GÜ, S. 45–87]. 85 Vgl. Storck, Kommerell, S. 18. 86 Vgl. Landmann, Edith: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf/München 1963, S. 197f. 87 Vgl. Adam, Winckelmann, S. 51–63. Siehe auch Braungart, Wolfgang/ Oestersandfort, Christian/ Walter, Franziska/ Andres, Jan: Platonisierende Eroskonzeptionen und Homoerotik in Briefen und Gedichten des George-Kreises (Maximilian Kronberger, Friedrich Gundolf, Max Kommerell, Ernst Glöckner), in: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hrsg. v. Renate Stauf, Annette Simonis u. Jörg Paulus, Berlin/New York 2008, S. 223–270.

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Klopstock.88 Danach folgen Diskussionen mit dem Schweizer Germanisten Andreas Heusler über das Verständnis der deutschen Tonkunst. In einem Brief an Heusler vom 11. November 1929, der das Ausmaß einer Rezension annimmt (vgl. BA 147–160), setzt Kommerell sich mit dem dritten Band von Heuslers Deutscher Versgeschichte (1927), der den früh- und den neuhochdeutschen Vers behandelt, auseinander: Sie gehen lediglich aus von der Wortgestalt der einzelnen Zeile (ich meine dies nicht in Bezug auf die Taktzahl, sondern auf die Versart), ich aber von dieser und dem mir durch Wiederholung eingeflößten immer gleichen metrischen Gang – was sich mir dann als Rhythmus ergibt, ist ein Doppeltes von (freilich alternierendem) Versschema und von den jeweiligen in den Worten verkörperten Tonfällen. Da die schönsten rhythmischen Wirkungen für mich sowohl aus dem Übereinstimmen beider Dinge, wie aus ihrer Gegenwirkung – die rhythmischen Beleidigungen ebenfalls aus ihrer (nur einer andersartigen) Gegenwirkung entstehen, habe ich eine weit verwickeltere Ästhetik nötig als Sie, wie denn Ihr Hauptruhm Folgerichtigkeit Einheitlichkeit Durchsichtigkeit ist. Vielleicht bin ich im Tatsächlichen (Vortrag!) oft mit Ihnen eins, wo ich mich im Denken zu unterscheiden glaube. (BA 151)

Wenn Kommerell Heusler „Folgerichtigkeit Einheitlichkeit Durchsichtigkeit“ zuspricht, für sich jedoch eine „verwickeltere Ästhetik“ reklamiert, deutet sich schon hier sein späterer Gestus an, den originellen ‚Wissenschaftskünstler‘ vom ‚ordentlichen‘ Wissenschaftler abzuheben. Aber immerhin drückt er seine Anerkennung für Heuslers Stil aus: „Erlauben Sie mir bitte ein Wort der Bewunderung über Ihre Schreibart – 3 Bände hindurch, und ein Gegenstand der jede Wucherung des Schulmeisterlichen begünstigen würde. Ich erinnerte mich oft an den Klang ihrer Stimme als Sie den ältesten Runenvers hersagten – mögen viele von Ihnen, soweit sich dies lernen läßt, lernen, daß Dichtung gehört werden muß! Ich danke Ihnen besonders, daß ich durch Sie erfuhr, man könne Metriker sein und zugleich als Künstler empfinden – durch alles was ich vorher las, glaubte ich des Gegenteils versichert zu sein“ (BA 159). Kommerells Sensibilität für die Bedeutung des mündlichen Vortrags ist nicht zuletzt durch den George-Kreis geschult. Die Vorarbeiten zur Habilitationsschrift erstrecken sich über die Jahre 1927 bis 1929. Wolters verfolgt, wie George, die Arbeiten mit z. T. skeptischem Blick. Am 7. Januar 1929 rügt er Kommerell: „Daß Sie mit solchem eifer in die altgermanischen bereiche steigen, ist mir um die verwendung Ihrer kräfte fast leid aber ich denke Ihr geist wird aus jeder turnerischen übung heil hervorgehen“ (BA 161). Die Niederschrift erfolgt im ersten Halbjahr 1930 (vgl. Kap. III).

88 Vgl. Kommerell, Max: Rez. zu G. C. L. Schuchard: Studien zur Verskunst des jungen Klopstock, in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 46 (1927), S. 163–164.

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Kommerell nimmt schließlich die Universität Frankfurt für seine Habilitation in den Blick. Für eines der zwei Habilitationsgutachten soll der Frankfurter Germanist Hans Naumann gewonnen werden. Kommerell nutzt den Kontakt zu Heusler und bittet ihn am 3. November 1929: „Für sie [die Habilitationsschrift] wäre in Frankfurt Herr Professor Naumann in entscheidendem Grad zuständig, – allerdings würde ich mich praktisch dann doch wohl aufs neuere Gebiet [der deutschen Literaturwissenschaft] werfen. Nun möchte ich Ihnen die vielleicht unbescheidene Bitte um eine einführende Zeile an Herrn Professor Naumann tun. Zwar werden mir wohl meine Marburger Lehrer ihren Beistand nicht versagen, aber Ihr Wort würde, glaub ich, schwer ins Gewicht fallen“ (BA 160). Mit dieser Vermutung sollte Kommerell Recht behalten: Naumann wird sich in seinem Habilitationsgutachten stark auf Heuslers Autorität berufen (vgl. Kap. VII). Je konkreter die Pläne zur Habilitation werden, desto schneller vollzieht sich der Ablösungsprozeß von George.89 Drei Ereignisse sind bei der Trennung von entscheidender Bedeutung. Schon seit Mitte 1927 ist Kommerell innerlich immer stärker auf Distanz zu George gegangen, wie er ihm am 17. Juni 1930 im Rückblick mitteilt: „Eine Umwandlung, die ich jetzt als Wissender durch 3 Jahre zurückverfolgen kann, die mir aber erst im letzten Jahr in ihrem ganzen Umfang bewußt und fühlbar wurde, hat mich aus allem Festgefügten gerissen“ (BA 170). Der erste Vorfall ist ein Streit mit George im November 1929. In seinem Tagebuchabschnitt Ein Wendepunkt in meinen freundschaftlichen Beziehungen, der ab dem 3. Oktober 1930 entsteht, berichtet Kommerell rückblickend: „Ehe mein Berliner Aufenthalt im November 1929 sein vorgesetztes Ende erreichte, knüpfte sich an eine Gelegenheit von geringer Tragweite Wort und Gegenwort so, daß ich mein Verhältnis zu St.[efan] G.[eorge] hierdurch verändert sah. Ich fand mir eine Äußerung zu hören und zu nehmen zugemutet, die ich mir schuldig war, zurückzuweisen“ (BA 182).90 Um welche Äußerung es sich hier genau handelt, läßt sich nicht mehr nachweisen. 89 Kommerells Trennung von George ist auch dargestellt bei Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 86–94; Schirrmacher, Frank: Dies ist der Pfeil des Meisters. Der Staat des Dichters Stefan George, der Verrat und der ästhetische Fundamentalismus, in: ders.: Die Stunde der Welt. Fünf Dichter – Ein Jahrhundert, Berlin 1996, S. 101–128; Zöfel, Gerhard: Die Überwindung der Mythologie: Hermeneutische Probleme bei Max Kommerell, in: ders.: Die Wirkung des Dichters. Mythologie und Hermeneutik in der Literaturwissenschaft um Stefan George, Frankfurt/M u. a. 1987, S. 254–262; Karlauf, George, S. 586–593; und: Schirrmacher, Frank: Ein Abtrünniger im Zelt des Magiers. Max Kommerell und der George-Kreis, in: FAZ, Nr. 195 vom 24.08.1985. 90 Zum Verhältnis von Kommerell und George siehe auch Schulz, Günter: Stefan George und Max Kommerell, in: Das literarische Deutschland 2 (1951), H. 3, S. 3; Weichelt, Matthias: Ergänzung und Distanz. Max Kommerell und das Phänomen George, in: Bern-

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Das zweite Ereignis ist das Erscheinen von Wolters Monographie Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890 (1930). In dieser Studie verklärt Wolters – mit Zustimmung Georges – den Kreis zu einem heilsgeschichtlichen Projekt. In einem Brief an Anton vom 7. Dezember 1930 kritisiert Kommerell Wolters Arbeit und Georges Billigung als „schlechte Magie“ und „geistig maskiertes Philistertum“, bei dem „das Banale in der Sprechweise höchster Salbung nicht mehr zu erkennen“ sei (BA 197).91 Weiter führt er gegenüber dem Freund aus: Wolters „hat der ganzen Gründung durch sein Buch die Ansicht des Kirchlichen gegeben, hat Gegnerschaften von Rang mit kleinen Gesten der Sekte erledigt, hat die Verehrung des großen Menschen (in den letzten Kapiteln) entstellt zu einer Devotion, die ein Frösteln der Scham in feinern Geistern hervorrufen muß, und die, als eine andere Form der Betastung, D.[er] M.[eister] ablehnen mußte!“ (BA 195f.). Schon ein halbes Jahr zuvor, am 17. Juni 1930, hatte er sich direkt an George gewandt: „Ich will noch hinzufügen, daß das Woltersbuch mir manches (wenn auch nur einen kleinen Teil) zum Bewußtsein gebracht hat: dies bei aller gewaltigen Leistung im Einzelnen für mich doch furchtbare Buch!“ (BA 171). Noch in seiner Rede Jugend ohne Goethe (vgl. Kap. V) kritisiert Kommerell Wolters indirekt, worauf eine zeitgenössische Schweizer Rezension eingeht. Davon berichtet er Anfang Januar 1931 seiner Schwester Jul: „Immerhin ist der Vortrag [Jugend ohne Goethe] so wie ich ihn wünschte, – einziger Ertrag dieser Ferien. Er ist sehr herausfordernd gehalten, und viele werden sich an mir ärgern. Sie sollen es. Es gilt Charakter haben! – Hast Du die Rezension von E. K. (Korrodi), Zürich gelesen: ‚Mit diesem einen Satz ... werden die befangenen Äußerungen Wolters’ – sagen wir auch dem ‚Anstand der Seele‘ still berichtigt.‘ Man merkt also! Gut!“ (BA 208). Das dritte Ereignis ist Georges Wunsch, daß Kommerell seinen Nachlaß verwalten soll. Dieser erfährt davon im Juni 1930. George plant eine „Stiftung zur Fortführung des Werkes von Stefan George“ (BA 170) zu gründen. Ihr soll ein Rat vorsitzen, der aus drei Mitgliedern des George-Kreises zu bilden ist. Dafür sind Robert Boehringer, Johann Anton und Max Kommerell vorgesehen. Anton begrüßt die Auswahl und meint, so hätten Kommerell und er die „absolute Mehrheit“ (BA 172). Kommerell, der schon mit dem

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hard Böschenstein u. a., Beruf der Wissenschaft, S. 137–158; ders.: Die Kröte. George und Kommerell, in: FAZ, Nr. 3 vom 05.01.2005; Pirro, Maurizio: „Die entzauberte Tradition“. Max Kommerell e il modello ermeneutico Georgiano, in: Studi germanici 40 (2002), H. 1, S. 67–99. Vgl. dazu Inge Jens: „Diese Vermutung wird durch einen Bericht von Karl Schlechta bestätigt, der erzählt, Kommerell habe ihm anvertraut, der letzte Grund für seine Trennung von dem Meister sei die Regie Georges gewesen, die Publikationen wie die Wolterssche billigte“ (BA 200).

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George-Kreis abgeschlossen hat, kann jedoch die gewünschte Heldenverehrung nicht betreiben und lehnt die Bitte, die er als aufdringlich empfindet, ab (vgl. BA 170f.).92 Mit der Ablehnung, dem Stiftungsrat beizutreten, ist der Bruch endgültig vollzogen. Kommerell reflektiert in seinem Tagebuch über die Gründe der Trennung: „Das ganze Umeinanderleben wie es sich herausgebildet hatte, beruhte auf einer so vollständigen Aufgabe des persönlichen Selbstgefühls, wie ich sie höchstens für einen Jüngling, niemals für einen Mann angemessen und erträglich nennen kann. [...] Ich war 28 Jahre alt und der Entschluß, von niemandem, sei er so groß er sei, meine Selbstachtung antasten zu lassen, wurde aller Hemmungen Herr“ (BA 182). An George schreibt er zusammen mit der Absage an den Stiftungsrat: „Ich bin entschlossen, mein Ich dahin wachsen zu lassen, wohin sein Wachstum drängt“ (BA 171), und im Entwurf eines Briefes von Ende Dezember 1930 heißt es: „Ich verantworte mein Tun und Lassen selbst und stelle mir selbst meine Aufgaben. Negativ ausgedrückt: weder in Dingen des Lebens noch des Geistes werden mir ‚Funktionen‘ angesonnen, zu denen ich mich nicht meinerseits anbiete“ (BA 203). Im Tagebuch resümiert er: „Ich sagte mir nicht nur, daß ich etwas zurückwies, was mich antastete, sondern auch, daß ich mich Lebensformen entzog, die durch die zahllosen kleinen Angriffe und Demütigungen meine geistige Gesundheit untergruben“ (BA 183). Bei der Trennung geht es ihm also darum, seine Unabhängigkeit und seine Selbstachtung zu wahren.93 George trifft der Verlust Kommerells schwer, und er bemüht sich, ihn wieder für den George-Kreis zu gewinnen. Am 4. November 1930 läßt er ihm durch Frank Mehnert mitteilen: „obwohl wir gegen die uns unerklärlichen hemmungen aufs heftigste protest einlegen wisse daß Du bis zur kniefälligen bitte jedes entgegenkommen erwarten darfst das dich dem gemeinsamen leben im staate wiedergewinnen könnte“ (BA 194).94 Doch ein Brief an George vom 5. August 1930 zeigt, wie entschieden Kommerell die Trennung

92 Vgl. Storck, Kommerell, S. 21f.; BA 171 u. 173; und: Boehringer, Robert: Mein Bild von Stefan George, Bd. 1: München/Düsseldorf 1951, S. 183. 93 Von Mitgliedern des George-Kreises gibt es eine Reihe von Erinnerungsbüchern, in denen Kommerell eher negativ bewertet wird. Vgl. Boehringer, Bild, 1951 [in überarbeiteter Form als: ders.: Mein Bild von Stefan George. Zum Jubiläumsjahr 1968, 2 Bde, 2. erg. Aufl., Düsseldorf/München 1967]; Salin, Erinnerung, 1954; Thormaehlen, Ludwig: Erinnerungen an Stefan George, aus dem Nachlaß hrsg. v. Walther Greischel, Hamburg 1962; Landmann, Gespräche, 1963; und: Hildebrandt, Kurt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965. 94 Vgl. dazu Inge Jens: „Zitate wie diese, denen – in Briefen von Hans Anton – andere zur Seite zu stellen sind und die gewiß nicht ohne Übereinstimmung mit der Haltung Stefan Georges Kommerell gegenüber, geschrieben wurden, widerlegen die Thormaehlensche These, daß Kommerell innerhalb des Kreises ‚wirkungslos und unwesentlich‘ geworden wäre. Auch die Behauptungen, a. a. O. Seite 244/45 sind damit gegenstandslos“ (BA 194).

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II. Max Kommerells Schulzeit, Studium und Promotion (1908–1929)

vom Kreis schon vollzogen hat. Der Brief ist eine radikale Abrechnung mit George, der rücksichtslos degradiert wird. Um das gesamte Ausmaß zu zeigen, wird der Brief hier als Ganzes zitiert: Lieber Meister: zu der verabredeten frist teile ich mit, daß ich die geäußerte bitte wiederhole: bei der einsetzung des stiftungsrates von mir abzusehen. In Frankfurt wickelte sich alles richtig ab. Meine venia legendi lautet auf ‚Germanische Philologie‘ was nur durch eine größere arbeit zu erreichen war. Helmut [Strebel] hat sein Halbjahr mit bedeutendem ergebnis beschlossen und bleibt noch einige Zeit in München. Hans hoffe ich in diesem Monat zu sehen. Meine Antrittsvorlesung setzte ich auf 1. November 12 Uhr fest. Gegenstand: Hofmannsthal. Ich danke dem M.[eister] nocheinmal für die gütige Aufnahme in K.[önigstein im Taunus] und bitte zu grüßen, wer meiner gedenken mag. Meine Anschrift bleibt: Cannstatt. 5. August 30

Herzlichst Maxim

(BA 174)

Der Brief ist im Telegramstil gehalten und übermittelt eine für George schlechte Nachricht nach der anderen: 1. Ablehnung des Stiftungsrates; 2. Erfolg bei der Habilitation und Bestätigung, daß das Thema, dem George und Wolters anfangs skeptisch gegenüberstanden, richtig gewählt war; 3. Fortschritte von Kommerells Neffen Helmut Strebel und Aufrechterhaltung des Kontakts zu Johann Anton; 4. (vielleicht der härteste Schlag für George) die Antrittsvorlesung über Hofmannsthal, der sich auch George entzogen und ihm damit eine große Enttäuschung beigebracht hatte; und 5. Abrechnung mit denjenigen Mitgliedern des George-Kreises, die keinen Kontakt mehr mit ihm haben wollen, und Beibehaltung der festen Niederlassung in Cannstatt. Als versöhnlichen Schluß unterschreibt er immerhin noch mit seinem im George-Kreis verwendeten Namen. Er besitzt sogar die nüchterne Distanz, George die Rede über Hofmannsthal zu schicken. Am 19. November 1930 schreibt er an Frank Mehnert: „Ich füge – für D.[en] M.[eister] – sowie für Interessenten – den Hofmannsthalvortrag bei. Ich bin darauf gefaßt, daß er nicht ungeteilten Beifall findet“ (BA 193). Auf die bewußte Provokation, die das Thema Hofmannsthal darstellt, wird im sechsten Kapitel zurückgekommen. Im George-Kreis gab es eine Gewohnheit: Wenn jemand den Kontakt mit George abbrach, durften die übrigen Mitglieder keinen Austausch mehr mit ihm führen. Anton bestätigt indirekt die Existenz dieser Regel, wenn er in einem undatierten Brief vom Oktober 1930 an Kommerell schreibt: „Was ich dir so oft sagte, wundert auch d.[en] M.[eister]: daß du glaubst, eines meiden das andere beibehalten zu können“ (BA 177). Die meisten Mitglieder halten sich an Georges Vorgabe, Kommerell zu meiden – zu dessen Leid-

II.2 George-Kreis

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wesen. Anton kann sich jedoch nicht entscheiden, ob er immer noch George Gehorsam zollen oder weiterhin den Kontakt zu seinem engsten Freund Kommerell suchen soll. Möglicherweise aufgrund dieser Zerrissenheit begeht er am 25. Februar 1931 Selbstmord – bewußt am Geburtstag seines Freundes –, wovon Kommerell und George zugleich schwer getroffen werden. Im Abschiedsbrief an Kommerell bedauert Anton: „Schließlich begriff ich auch das äußere Leben nicht mehr. – In diese Lage hinein kam dein Weggehen. Es mußte die Verwirrung steigern. Ich kann den Anteil den es an meiner Hilflosigkeit hat nicht ganz richtig sehen. Du hast es mir so schwer gemacht, weil du so merkwürdig im Hinterhalt bleibst. Ich will ja nicht alles überlegen. Ich glaube nicht, daß du richtig handelst. Ich begreife nicht, wie du weiterkommst“ (BA 207). Schon zwei Jahre zuvor, am 29. August 1929, reflektiert Kommerell in einem Brief an seine Schwester Jul: „Ich glaube daß ich in 10 Jahren meines Heranwachsens mehr durchlaufen habe als die meisten in einem langen Leben“.95 Und im Rückblick auf die George-Zeit hält er im November 1943 in einem Brief an seine Heidelberger Jugendliebe Else Eichler fest: Warum konnte ich damals nicht jung, nicht einfach sein? Warum nicht die unverzauberte und doch so versprechende Wahrheit nicht ergreifen, die der Fluß zwischen den schönen Gebirgen enthielt, oder eine Frau, oder das eigene Herz? Warum hörte ich auf, Schwabe zu sein, Humor zu haben? [...] Was folgte darauf? Eine 9jährige freiwillige Dienstbarkeit, mit wilden, aber nur inneren, wie vor 3000 Jahren in einem fernen Reich geschehenen Abenteuern – und welche Enthaltungen, welche Versäumnisse, welch frevelhaftes Glück und welche Zerstörungen ... Dann eine kaum mögliche Befreiung, und ich kam ein wenig arm und linkisch, wie ich hineingeraten war, aus dem Zelt des Magiers heraus. [...] Ich will das Große jener Zeit nicht verkennen und verleugnen. Und wenn das mühsame Nachholen des Versäumten, das Wegräumen des Verfälschten, und die Einfachheit des Daseins einmal abgeschlossen und gesichert ist, dann kann ich auch gerechter sein und sagen: das, an dem ich beinah zugrunde ging, kann dennoch groß gewesen sein – vielleicht gar: es war mir dennoch zu vielem gut.96

Wenn Kommerell George mit der Metapher eines Zauberers, der im Zelt hause, beschreibt, unterstellt er ihm übermenschliche Fähigkeiten und magische Praktiken. Dabei ist Kommerells Selbstinszenierungscharakter nicht von der Hand zu weisen. Wie er in seinen Arbeiten nach 1930 „das mühsame Nachholen des Versäumten, das Wegräumen des Verfälschten, und die Einfachheit des Daseins“ umsetzen wird, ist in den folgenden Kapiteln zu untersuchen. In der Jugendbewegung und im George-Kreis werden verschiedene Momente schon vorbereitet, die Kommerell in seinem weiteren Leben entwickeln

95 Zit. nach Storck, Kommerell, S. 20. 96 Zit. nach ebd. S. 24f.

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II. Max Kommerells Schulzeit, Studium und Promotion (1908–1929)

wird. Durch George und Wolters werden seine dichterische Begabung, sein ästhetisches Urteilsvermögen und seine Übersetzungstechnik geschult. Sein Interesse, als Lehrer zu unterrichten, nimmt in der Schul- und Studienzeit seinen Anfang. Als nächsten Schritt auf dem Weg dorthin wird Kommerell die Habilitation in Frankfurt in Angriff nehmen.

III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Karl Reinhardt und Walter F. Otto (1930–1934) Nach den Stationen in Tübingen, Heidelberg und Marburg während Studienund Promotionszeit begibt sich Kommerell zur Habilitation nach Frankfurt, da dort viele Vertreter der Philosophischen Fakultät dem George-Kreis positiv gegenüberstehen. Im Vergleich zum intellektuellen ‚Weltdorf‘ Heidelberg ist Frankfurt ein großstädtischer Schnittpunkt geistiger Geselligkeit mit der nach dem Ersten Weltkrieg neu gegründeten Frankfurter Universität. In diesem Kapitel wird zu fragen sein, was nach der Trennung von George passiert und wie Kommerell den Übergang vom George-Kreis an die Frankfurter Universität bewältigt. Er trifft in Frankfurt auf neue intellektuelle Persönlichkeiten, mit denen er in Verbindung tritt. Der Austausch in regelmäßigen Lesekreisen mit Karl Reinhardt und Walter F. Otto wird so intensiv, daß sich von einem ‚Frankfurter Kreis‘ sprechen läßt. Die Freundschaftsbeziehungen werden in Briefen abgebildet. Welche Übereinstimmungen bestehen zwischen diesen Professoren und wie werden diese Gemeinsamkeiten nach außen vertreten? Die Jean Paul-Rezeption, die mit der Dissertation 1924 eingesetzt hat und in der Klassik-Studie 1928 fortgeführt wurde, wird am Anfang der Frankfurter Zeit noch intensiviert. Die Phase des Einlebens in Frankfurt beginnt mit der Habilitation 1930, dauert drei bis vier Jahre und endet mit der Vertretungsprofessur in Bonn im Sommersemester 1934. Um Selbstinszenierungsstrategien der späteren Schriften Kommerells besser verstehen zu können, wird eingangs das Wissenschaftsverständnis, das in Dissertation und Habilitationsschrift zum Tragen kommt, skizziert. Der Lese- und Freundeskreis in Frankfurt nimmt Einfluß auf seine Arbeiten. Zu ihm gehören in erster Linie die Altphilologen Reinhardt und Otto. Im gleichen Jahr, in dem Kommerells Jean Paul erscheint (1933), publizieren Reinhardt und Otto die Monographien Sophokles und Dionysos, die ebenfalls im Verlag von Vittorio Klostermann veröffentlicht werden. Diese drei Studien werden hier parallel untersucht vor dem Hintergrund des gemeinsamen Briefwechsels, in dem Positionen, die in den Studien vertretenen sind, reflektiert werden. Um den Wandel von Kommerells metaphorischen Sprachfeldern, der auf den Einfluß der intellektuellen Frankfurter Umgebung zurückzuführen ist, zu verdeutli-

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

chen, wird ein Metaphernvergleich zwischen Jean Paul und Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik angestellt. Beide Studien wurden von Walter Benjamin rezensiert, dessen Kritik nachgezeichnet und im Hinblick auf die vielfachen Parallelen zwischen Kommerell und Benjamin problematisiert wird. Kommerells Austausch mit den Philosophen Kurt Riezler und Karl Schlechta bildet den Abschluß dieses Kapitels.

III.1 Wissenschaftsverständnis in Dissertation und Habilitationsschrift Kommerells Wissenschaftsverständnis kommt schon in seinen ersten beiden streng wissenschaftlichen Publikationen, in Dissertation und Habilitationsschrift, zum Ausdruck. Die Arbeit Jean Paul Verhältnis zu Rousseau (JV), die Kommerell seinem Vater widmet, ist 1924 erschienen.1 Für die Aufnahme in die Reihe Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft als Band 23 bedankt er sich im Vorwort bei seinem Doktorvater Ernst Elster (vgl. JV 1). Stärker als von Elster wurde die Arbeit, wie im letzten Kapitel gezeigt, von Friedrich Wolters gefördert. Kommerell erläutert eingangs sein methodisches Vorgehen: „Die Absicht dieser Arbeit ist eine doppelte: einmal Züge zu dem Bilde Jean Pauls, das noch immer nicht von der Wissenschaft unter den Bildern der großen deutschen Geister aufgerichtet ist, beizutragen und es von so manchen Verzerrungen zu reinigen; dann aber, den Anteil Rousseaus an der geistigen Umwälzung, die das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts erfüllte, wenigstens an einem Beispiel genauer zu verfolgen“ (JV 1). Er definiert als Ziel seiner Arbeit die Kritik an der bisherigen Forschung: „Es ist einer der Zwecke meiner Arbeit, gegen die oben angegebene Gesamtauffassung von Jean Paul entschieden anzukämpfen. Immer hat man darin gesündigt, Jean Pauls Selbstgestaltung gerade in den geringsten und dürftigsten seiner Figuren zu erblicken und diesem Fehler fällt der Verfasser anheim, wenn er im Wuz die eigentümlichste Gestalt des Dichters und im Fibel eine tief symbolische Selbstdarstellung wittert, als ob solche kindhafte Käuze und närrische Sonderlinge das weite All des Dichters fassen könnten!“ (JV 19). Nicht nur die Arbeit über Jean Paul und Rousseau, sondern auch andere Texte Kommerells und wesentliche Elemente seines intellektuellen Profils realisieren eine entschiedene Wissenschaftskritik und korrespondieren darin

1

Vgl. Kommerell, Max: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau. Nach den Haupt-Romanen dargestellt, Elwert’sche Verlagsbuchhandlung, Marburg 1924 (Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft 23). Fortan zitiert als Sigle JV.

III.1 Wissenschaftsverständnis in Dissertation und Habilitationsschrift

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einer historischen Bewegung, deren Wurzeln lange zurückreichen und deren Konsequenzen in der Auseinandersetzung zwischen Erich von Kahler, Arthur Salz und Max Weber 1918/19 prägnant benannt worden waren. Kommerell hat eine durchaus ambivalente Haltung zur universitären Wissensproduktion. Bei seiner Form der Wissenschaftskritik sind drei Arten zu unterscheiden: (1.) Die in wissenschaftlichen Publikationen durchaus üblichen Auseinandersetzungen mit dem bisherigen Forschungsstand, wie sie etwa in der Dissertation beim Resümee der Jean-Paul-Forschung auftreten (vgl. Kap. III.1). (2.) Die kritische Distanzierungen von eingeführten Konzepten und Verfahren der textinterpretierenden Disziplinen, die Beschreibungssprache und Erklärungsmodelle ebenso betreffen wie zentrale Fragen der Urteilsbildung und Bewertung von Texten und von Kommerell in der unveröffentlichten Habilitationsschrift artikuliert werden (vgl. Kap. III.1), bevor sie die Studien der späten 1930er und 1940er Jahre fundieren (vgl. Kap. V). (3.) Eine grundsätzliche Ablehnung philologisch-historischer Textumgangsformen, die Kommerell durch Überschreitung der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst vollzieht (vgl. Kap. III.3.1 und III.3.4). Die Lektüre von Kommerells Dissertation über Jean Paul und Rousseau zeigt, worauf sich seine – nicht zuletzt im George-Kreis erworbenen – Textumgangsformen gründen. Wenn der noch junge Philologe hier von der „höchsten Entfaltung dieser Seele“ und den „höchsten Lichtern und Tönen der Sprache“ spricht oder die „eigensten Schwingungen dieser Sprache“ (JV 28) beschwört, wird deutlich, daß es sich um Maximierungsannahmen handelt, die den Gegenstand des eigenen Tuns in mehrfacher Absicht salvieren: Zum einen wird der Dichtung auf diese Weise so individuelle Gestalt zugeschrieben, daß zu einer Erfassung nicht mikrologische Analyse oder positivistische Einflußforschung geeignet sind, sondern allein ‚Einfühlung‘ und ‚gedankliche Durchdringung‘, die Kommerell explizit für sich reklamieren wird. Zum anderen werden Lizenzen für Darstellungsformen und Textverfahren möglich, mit denen Kommerell schon im George-Kreis in Berührung getreten war. Um „groß zu sagen, was groß gewesen ist“ (JV 28) ist ein emphatisches Sprechen ebenso erlaubt wie der Dispens fachwissenschaftlicher Standards, die der Forscher gleichermaßen kennt und invisibilisiert. Denn auch die ohne Anmerkungsapparat erscheinenden Publikationen Kommerells basieren auf sehr genauer Kenntnis der Forschungsliteratur. In der Arbeit über Jean Paul und Rousseau ist die Kritik an der bisherigen Forschung nicht Selbstzweck, sondern soll einen Beitrag zu einer tiefergehenden Untersuchung liefern: „Diese Arbeit möchte, neben ihrem Untersuchungszweck, eine Anregung für ein solches grundlegendes Werk [über Jean Paul] bieten, vor allem die Richtung der sprachbildnerischen Kraft Jean Pauls, welche die wichtigste seiner Leistungen bleiben wird, andeuten“ (JV 34). In Abgrenzung zu stupiden Wissenschaftlern bezeichnet sich Kom-

68

III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

merell selbst als einen „feiner Witternden“ Forscher (JP 78) und setzt damit eine Metapher des Jagens ein, um für sich die Position eines privilegierten Beobachters, der aufgrund seiner Ganzheitsschau das Kunstwerk kompetenter wahrnimmt, zu reklamieren. Im ersten Kapitel Die bisherige literaturhistorische Würdigung Jean Pauls (JV 2–34) setzt sich Kommerell kritisch mit dem Forschungsstand auseinander: „Es erscheint nötig, die Gesamtauffassung von Jean Paul, die dieser Arbeit zugrunde liegt, gegenüber früheren Forschungen abzugrenzen, zumal da sie sich ihnen meist nicht anschließen kann“ (JV 2). Einige Wissenschaftler stehen im Zentrum seiner Kritik. Paul Nerrlichs Forschungen werden als „tendenziös halbrichtig“ bezeichnet (JV 9), die Analyse Josef Müllers ziehe die hohe Ästhetik Jean Pauls „ins Flache“ (JV 13) und F. J. Schneiders Ausführungen würden „den Kern verfehlen“ (JV 21). Richard Rohdes Untersuchungen seien „schief“ und „kaum begreiflich“ (JV 31f.), er habe „vielleicht am meisten von allen Forschern den Mittelpunkt der Werke Jean Pauls verfehlt“ (JV 33). Kommerell ist gegen eine Überbewertung der „Entstehungsgeschichte“ und fordert eine „feine Einfühlung in den Geist des Vollendeten der geschichtlichen Betrachtung“ (JV 31). Schließlich behauptet Kommerell, daß alle bisherigen Jean Paul-Forscher nicht das Zentrum von Jean Pauls Schriften erfaßt hätten: Das Haupträtsel: Warum verfaßte der Dichter, dessen Werke vor allem als Ausdruck einer schwelgerischen Empfindungsfülle gelten, in seiner Jugend, in der Zeit der reichsten inneren Blüte, nichts als trockene Untersuchungen und frostige Spottund Witz-Ergüsse? Wie kommt es, daß selbst in den Leipziger Jahren, kaum ein Ton des Persönlichen, der Liebe, der schlichten Herzlichkeit, ja, auch nur des gerade und natürlich Gedachten in seine Briefe eindringt? Dies Rätsel hat noch keiner der Jean Paul-Forscher gelöst und die meisten haben nicht einmal die Frage danach gestellt [...]. (JV 74)

Ein Grund für Kommerells Forschungskritik ist das Problem, daß falsche Urteile sich lange in der Forschung hielten: „Die blindesten und verschrobensten Urteile über Jean Paul, vor allem Rohdes, werden nach wie vor laut, und auch heute noch fehlt das Werk, das Jean Paul in überzeugender Weise seinen Rang in der deutschen Dichterwelt anwiese“ (JV 34). In der Kritik an Karl Freye deutet sich bereits Kommerells eigene Methode an: „Trotz des höheren Niveaus dieser Arbeit begegnen wir auch hier wieder der Erscheinung, daß man gerade an der höchsten Entfaltung dieser Seele, an den höchsten Lichtern und Tönen der Sprache stumm oder mißbilligend vorübergeht, als wäre das Gehör eines ganzen Geschlechts unfähig, die eigensten Schwingungen dieser Sprache überhaupt aufzunehmen“ (JV 28). Die Sprachanalyse ist also ein wesentlicher Bestandteil seines Interpretationsansatzes. Dementsprechend lobt er das ästhetische Verständnis bei Johannes Volkelt: „Schon das Niveau der Sprache, noch mehr das der künstlerischen

III.1 Wissenschaftsverständnis in Dissertation und Habilitationsschrift

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Einfühlung und der gedanklichen Durchdringung hebt Volkelt über die anderen, die dies Gebiet bearbeiteten, hoch hinauf“ (JV 27). Kommerells gründliche Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand wird in den zeitgenössischen Rezensionen wahrgenommen. Der Jean PaulHerausgeber Eduard Berend bekennt 1926 im Euphorion, daß er sich „mit der temperamentvollen Beurteilung früherer Jean Paul-Forscher im 1. Kapitel [...] im großen und ganzen einverstanden erklären“ könne.2 Heinz Kindermann publiziert 1927 eine Rezension in der Zeitschrift Die Neueren Sprachen und findet bei Kommerell „ein lehrreiches Entwicklungsbild der Jean PaulForschung und ihrer bisherigen Ratlosigkeit“.3 Paul Hensel konstatiert 1926 in den Kant-Studien, daß Kommerells Bewertung des Forschungsstandes „mit Notwendigkeit zu überwiegend negativen Resultaten“ führe.4 Edward V. Brewer von der University of California würdigt 1927 in der Germanic Review „the author’s unbiased attitude toward the various works“.5 Im Gegensatz zu diesen positiven Wertungen urteilt Rudolf Unger, der 1928 in einer Sammelbesprechung für die Deutsche Vierteljahrsschrift auf Kommerells Untersuchung eingeht, daß „für eine solche Spezialuntersuchung [eine] zu breite Würdigung eines großen Teils der Jean Paul-Literatur“ stattgefunden habe.6 Ebenso meint A. Lg. 1926 im Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen, daß Kommerells Urteile „durch die Erscheinungen des Jubiläumsjahrs [1925] überholt“ seien.7 In seiner Dissertation übt Kommerell also starke Kritik an anderen Wissenschaftlern und begibt sich dadurch in Opposition zu vielen Fachkollegen. Er richtet sich gegen philologische Mikrologie und positivistische Wissenschaft und fordert eine stärkere Berücksichtigung der sprachlichen Gestaltung bei der Interpretation. Damit vertritt er einen ästhetischen Ansatz. Gegen das Faktenwissen setzt er ein Orientierungswissen. Er lehnt Atomismus und Detailverliebtheit ab und tritt für eine poetische Vergegenwärtigung der Vergangenheit, hier am Beispiel der Literatur Jean Pauls, ein.

2 3 4 5 6 7

Berend, Eduard: Rez. zu Kommerell: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau, in: Euphorion 27 (1926), S. 139. Kindermann, Heinz: Rez. zu Kommerell: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau, in: Die Neueren Sprachen 35 (1927), S. 158–159, hier: S. 158. Hensel, Paul: Rez. zu Kommerell: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau, in: Kant-Studien 31 (1926), S. 406–407, hier: S. 406. Brewer, Edward V.: Rez. zu Kommerell: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau, in: The Germanic Review 2 (1927), S. 85–87, hier: S. 85. Unger, Rudolf: Vom Sturm und Drang zur Romantik. Eine Problem- und Literaturschau, in: DVjs 6 (1928), S. 144–178, hier: S. 174. Ludwig, Albert: Rez. zu Kommerell: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 150 (1926), S. 282–283, hier: S. 282.

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

Die Habilitationsschrift aus dem Jahr 1930 trägt den Titel Stabkunst des deutschen Heldenliedes.8 Sie behandelt den mittelalterlichen Stabreim und besteht aus zwei Hauptteilen Das Hildebrandtslied und seine ausserdeutschen Verwandten und Hildebrandtslied und Muspilli. Die Arbeit blieb ungedruckt. Ein maschinenschriftliches, knapp 270 Seiten langes Manuskript mit handschriftlichen Verbesserungen des Autors ist im DLA Marbach erhalten und wird in dieser Arbeit erstmals präsentiert. Die Tatsache, daß Kommerell seine Habilitationsschrift nicht veröffentlicht, stellt später ein Hindernis für seine wissenschaftliche Karriere dar. Immerhin publiziert er 1936 einen Aufsatz, bei dem er aus der Habilitationsschrift schöpfen kann: Bemerkungen zum Stabvers.9 Trotzdem muß er besondere Anstrengungen unternehmen, um die mangelnde Reputation auszugleichen. Seine Studie Jean Paul (vgl. III.3.1) ist daher auch als Ersatzleistung für die ungedruckte Habilitationsschrift anzusehen.10 In der Stabkunst setzt sich Kommerell ebenfalls mit dem Forschungsstand auseinander. Die Kritik fällt allerdings nicht so pauschal und polemisch aus wie in der Dissertation. Er entwickelt nun einen differenzierteren Umgang mit den Forschungsleistungen anderer Wissenschaftler. Eingangs erklärt er das Ziel seiner Arbeit: Zu der Masse des schon Geleisteten will diese Arbeit nur ein ergänzender Beitrag sein. Eine vollständige Verslehre aufzubauen, liegt außerhalb der Absicht und Möglichkeit des Verfassers. Um vorhandene Lehrbücher zu widerlegen, bedürfte es eines eigenen neuen Lehrbuchs – um sie zu bestätigen, nicht einmal dieser Arbeit. Aber für die alten Fragen, wo es angeht, einen neuen Angriffspunkt zu finden, dies versucht sie. Wenn sie hier eine Lücke ausfüllt, dort weitere auszufüllen Anlaß gibt und die Meinung erschüttert, alles Tunliche sei getan, ist es ihr genug. Alle hier beizuziehenden Forschungen zu nennen, ist überflüssig. Was sich auf den deutschen Kreis, besonders das Hildebrandtslied, bezieht, steht in Braunes Lesebuch11 verzeichnet.12

Kommerells Ziel ist es also, überholte Positionen in Frage zu stellen. Deshalb will er „neue Angriffspunkte“ für alte Fragen finden und selbstzufriedene „Meinung[en] erschütter[n]“. In dem Verzicht, sämtliche konsultierte Forschungsliteratur zu nennen, zeigt sich die bereits erwähnte Invisibilisierungsstrategie. Außerdem deutet sich schon sein späterer essayistischer Gestus an,

8 9 10 11 12

Vgl. DLA Marbach, Kommerell, Max: Stabkunst des deutschen Heldenliedes, Nachlaß Kommerell, A: x, 85.39. Vgl. Kommerell, Max: Bemerkungen zum Stabvers, in: Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 1 (1936), H. 1, S. 53–61. Vgl. den Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 08.02.1930, in: Storck, Kommerell, S. 19. Gemeint ist wahrscheinlich Braune, Wilhelm: Althochdeutsches Lesebuch, 9. Aufl. bearb. v. Karl Helm, Halle/S 1928. Kommerell, Stabkunst, A: x, 85.39, S. I.

III.1 Wissenschaftsverständnis in Dissertation und Habilitationsschrift

71

überhaupt nicht mehr auf Sekundärliteratur zu verweisen. Hier findet jedoch noch ein Verweis auf einzelne Autoren, die für ihn eine besondere Rolle gespielt haben, statt: Möller, Baesecke, Heinzel, Sievers, Saran, Wilmanns, Trautmann, Imelmann und Braune. Eine Arbeit hebt er jedoch besonders heraus: „Von den Darstellungen germanischen Versbaus habe ich mir nur die Andreas Heuslers tiefer zu eigen machen können. Das Verhältnis dieser vorliegender Schrift zu seinen Werken, vor allem der Deutschen Versgeschichte läßt sich mit dieser Formel bezeichnen: Einigkeit im rhythmischen Erlebnis, einige Abweichungen im umschreibenden Begriff“.13 Er beruft sich auf die Autorität seines Mentors Heusler. Wie schon aus den Briefen, die im Unterkapitel über Kommerells Zeit im George-Kreis zitiert wurden, hervorgeht, teilt er das rhythmische Verständnis von Heusler, bringt es jedoch auf andere Begriffe. In Kommerells Vorstellung geht dabei der Erlebnisgedanke Diltheyscher Prägung ein.14 Er hebt erneut die Berücksichtigung einer durch Rhythmus geprägten Sprache hervor. Nach dem Verweis auf die Sekundärliteratur bezieht er Stellung zur Frage der Einhaltung von Regeln in der Kunst: „so freizügig wie diese ‚Regeln‘ begriffen werden müssen: nicht als bewußte Vorschrift, sondern als das, was der Dichter der höheren Gattung von selbst in den Fingern hat. Nicht auf Regeln, sondern auf die Wertfrage geht diese Arbeit los. Der vorzügliche wie der geringere Stabvers beruht auf der Einhaltung von Regeln. Was aber jenseits dieser Regeln den Vers des Hildebrandtslieds über den des Muspilli, den Merkvers im Widsid über seine Umgebung stellt, soll hier erfragt werden: Grade des Stils und des Künstlertums“.15 In der Vorbemerkung kommentiert er die Quellenlage: „Da es soviel Texte des Hildebrandtsliedes gibt als Erforscher desselben, muß kurz vermerkt werden, wo sich der hier zugrundegelegte Text von dem in Braunes Lesebuch abgedruckten scheidet“.16 Damit unterstreicht er seine Kenntnisse der quellenkritischen Methode. Im Laufe der Arbeit wirft er einen Seitenblick auf einen neuhochdeutschen Dichter – und zwar auf Heinrich von Kleist: Kleist’s Prosa ist so sachhaltig, daß verhältnismäßig wenig einzelne Worte, verhältnismäßig wenig Wendungen fortzulassen waren und so hervorragend hauptwörtlich, das ein Kernpunkt: die Substantivierung des Ausdrucks durch den Stabvers an ihr nicht gezeigt werden kann. Ebenso bot zur Darstellung der Variation der enge Anschluß an den Text kaum Gelegenheit. Würden wir die Stelle ‚das Antlitz rasch seinem Gegner wieder zuwendend‘ etwa so umschreiben: ‚der Wunde, sich wendend er wieder an‘ so bekämen wir ein Beispiel des zur Staberzielung wieder

13 14 15 16

Ebd. S. II. Vgl. Weichelt, Horizontbildungen, S. 159–192. Kommerell, Stabkunst, A: x 85.39, S. IIf. Ebd. S. III.

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

aufgenommenen Subjekts. Schon in dieser ereignisreichen Darstellung fanden wir zu geistige Ausdrücke, die umzugestalten waren. Noch viel mehr bei dem was sonst ein heutiger Mensch dichterisch auszudrücken hat – es sei denn, er wäre von einem seltenen Tatgeist erfüllt!17

Kommerell zitiert aus Kleists Novelle Der Zweikampf die Stelle, an der Graf Friedrich von Jakob dem Rotbart getroffen ist und dennoch den Kampf um Littegarde fortsetzen will. Indem Kommerell den „heutigen Menschen“ anspricht und die Betonung des Stabverses auf Kleist appliziert, vergegenwärtigt er die Bedeutung des entlegenen mittelalterlichen Stoffes. Damit sucht er bewußt einen Aktualitätsbezug, um die Bedeutung des mittelalterlichen Stabreimes, den er analysiert, zu unterstreichen. Die Untersuchung des wissenschaftlichen Stils von Dissertation und Habilitationsschrift hat ergeben, daß sich Kommerell sehr detailliert mit dem Forschungsstand auseinandersetzen kann, wenn er es für nötig hält. Er setzt seine Forschungskritik ein, um sich gegen ein positivistisches Faktenwissen auszusprechen. Im Gegensatz dazu fordert er die Berücksichtigung der Sprache und des ästhetischen Wertes der Literatur. In der Habilitationsschrift betont er dementsprechend die Wirkung, die sich aus dem rhythmischen Erlebnis des Stabreims ergibt. Daß er im folgenden Publikationen vorlegt, die fast gänzlich auf Fußnoten und Verweise auf Sekundärliteratur verzichten, ist auch damit zu erklären, daß er die Kompetenz, streng wissenschaftlich arbeiten zu können, bereits nachgewiesen hat. Da er eine mit Fußnoten und Literaturverweisen belegte Forschungskritik schon in Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau ordnungsgemäß vorgetragen hat, braucht er sie in Jean Paul, wie zu zeigen sein wird, nicht mehr zu leisten und kann dort eine Invisibilisierungsstrategie verfolgen. Forschungskritik wird ebenfalls ein Thema seiner Freunde Karl Reinhardt und Walter F. Otto sein, mit denen zusammen er in Frankfurt einen Lese- und Freundeskreis bilden wird. Die Beziehungen und Studien der drei werden in den folgenden Unterkapiteln untersucht.

III.2 Im Frankfurter Kreis mit den klassischen Philologen Reinhardt und Otto In Frankfurt tritt Kommerell auf Vermittlung von Wolters in näheren Kontakt zu den Professoren Karl Reinhardt und Walter F. Otto und findet Eingang in neue gesellschaftliche Kreise.18 Der damit einhergehende geistige

17 18

Ebd. S. 167. Zum folgenden siehe auch Hammerstein, Notker: Die Johann Wolfgang Goethe-Uni-

III.2 Im Frankfurter Kreis mit den klassischen Philologen Reinhardt und Otto

73

Austausch erweitert seinen Horizont über die Grenzen des eigenen Faches hinaus. Das Verhältnis zu den Frankfurter Kollegen ist von zentraler Bedeutung, da sie Einfluß auf seine wissenschaftlichen Produktionen in den 1930er und 1940er Jahren nehmen. Karl Reinhardt ist einer der Initiatoren des Frankfurter Zirkels.19 Er ist mit Schriften über Parmenides (1916) und Antigone (1943), zur Klage der Ariadne (1936) und zum Parisurteil (1938), zum Vermächtnis der Antike (posthum 1966) und zur Krise des Helden (posthum 1966) hervorgetreten.20 Mit

versität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule. Bd. 1: 1914–1950, Neuwied/Frankfurt/M 1989, S. 78–112 und Schivelbusch, Wolfgang: Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren, Frankfurt/M 21983, S. 14–26. 19 Zu Karl Reinhardt siehe auch Alpers, Klaus: Karl Reinhardt, in: Philologica Hamburgensia II. Altphilologen in Hamburg vom 17. bis 20. Jahrhundert, hrsg. v. Klaus Alpers, Eva Horváth u. Hans Kurig, Herzberg 1990, S. 82–84; Flashar, Hellmut (Hg.): Altertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und Impulse, Stuttgart 1995, passim; Hölscher, Uvo: Karl Reinhardt, in: Gnomon 30 (1958), H. 7, S. 557–560; ders.: Karl Reinhardt, in: ders.: Die Chance des Unbehagens. Drei Essais zur Situation der klassischen Studien, Göttingen 1965, S. 31–52; ders.: Karl Reinhardt und Stefan George, in: Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium, hrsg. v. HansJoachim Zimmermann, Heidelberg 1985, S. 97–104; ders.: Karl Reinhardt (gestorben am 9. Januar 1958), in: ders.: Das nächste Fremde. Von Texten der griechischen Frühzeit und ihrem Reflex in der Moderne, hrsg. v. Joachim Latacz u. Manfred Kraus, München 1994, S. 239–247; Jaeger, Werner: Gedenkworte für Karl Reinhardt, in: Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste. Reden und Gedenkworte 3 (1958/59), S. 23–30; Kittler, Friedrich: Karl Reinhardt: Die klassische Walpurgisnacht. Entstehung und Bedeutung, in: Dotzler, Exemplarische Texte, S. 71–114; Klingner, Friedrich (Hg.): Varia variorum. Fg. Karl Reinhardt, dargebracht v. Freunden u. Schülern zum 14. Febr. 1951, Münster/Köln 1952; Momigliano, Arnaldo: Introduction to a Discussion of Karl Reinhardt [1975], in: ders.: Studies in modern Scholarship, hrsg. v. G. W. Bowersock u. T. J. Cornell, Berkeley 1994, S. 179–186; Pöschl, Viktor: Walter F. Otto und Karl Reinhardt, in: ders.: Literatur und geschichtliche Wirklichkeit. Abhandlungen und Aufsätze zur Römischen Prosa und zur Klassischen Philologie. Kleine Schriften II, hrsg. v. Wolf-Lüder Liebermann, Heidelberg 1983, S. 247–273; Schadewaldt, Wolfgang: Karl Reinhardt und die Klassische Philologie, in: ders.: Hellas u. Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur, Bd. 2: Antike und Gegenwart, hrsg. v. Reinhard Thurow u. Ernst Zinn, 2., neugest. u. verm. Aufl., Zürich/Stuttgart 1970, S. 700–707; Snell, Bruno: Gedenkwort für Karl Reinhardt, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt, Jb. 1958, Heidelberg/Darmstadt 1959, S. 134–137; Viebrock, Helmut/ Gelzer, Matthias/ Hölscher, Uvo (Hgg.): Gedenkreden auf Karl Reinhardt, Frankfurt/M 1959; und: Vogt, Ernst: Wilamowitz und die Auseinandersetzung seiner Schüler mit ihm, in: Wilamowitz nach 50 Jahren, hrsg. v. William M. Calder III, Hellmut Flashar u. Theodor Lindken, Darmstadt 1985, S. 613–631, hier: S. 625–631. 20 Vgl. Reinhardt, Karl: Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie [1916], Frankfurt/M 31977; ders.: Antigone. Mit griechischem Text [1943], übers. u. eingel. v. Karl Reinhardt, Göttingen 61982; ders.: Nietzsches Klage der Ariadne, Frankfurt/M 1936 (Wissenschaft und Gegenwart 8); ders.: Das Parisurteil, Frankfurt/M 1938 (Wissenschaft und Gegenwart 11); ders.: Vermächtnis der Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

ihm tauscht sich Kommerell besonders über die griechische Tragödie aus, z. B. anläßlich der neuen Antigone-Übersetzung von Reinhardt.21 Kommerell, der sich zu seinem 29. Geburtstag einen Besuch von Reinhardt wünscht (vgl. BA 204), identifiziert sich soweit mit ihm, daß er sich dessen auffällige Körpersprache selbst angewöhnt.22 Reinhardt wird für Kommerell zum väterlichen Vorbild. Daran erinnert sich Kommerells Schüler Karl-Gustav Gerold: Überblickt man Kommerells Entwicklung, so fällt auf, daß er sich stets von einer starken geistigen Persönlichkeit gefangen nehmen ließ. In seinen Jünglingsjahren ging dieser Einfluß von Gustav Wyneken aus [...]. Nachdem er sich dem Einfluß Georges schmerzvoll entzogen, waren es in den Frankfurter Jahren Ernst-Robert Curtius und Karl Reinhardt, die er wegen ihrer Kenntnis der Weltliteratur bewunderte [...]. Ich gehe auf diese menschlichen Bindungen ein, weil zu Kommerells Existenz der Gesprächspartner gehörte, an dessen Ansichten er sich rieb und fruchtbar entzündete.23

Samstags gibt es den jour fixe, ein regelmäßiges Treffen in Reinhardts Haus, zu dem Kollegen und Studenten eingeladen werden. Dort wird „zwangloses akademisch-geselliges Leben“ mit „strenger Arbeit“ verbunden, Diskussionsund Rezitationssitzungen werden abgehalten und „Sketche und selbstverfertigte Possen“ aufgeführt.24 Der Briefwechsel mit Reinhardt stellt einen umfangreichen geistigen Austausch über literarische Themen von der antiken bis zur deutschen Klassik dar. Bemerkenswert sind dabei Reinhardts gründliche Kenntnisse der neueren deutschen Literatur. Allerdings bleibt das Verhältnis zwischen beiden nicht ohne Differenzen. Kommerell nimmt die Rolle desjenigen ein, der häufiger schreibt. Der schreibfaule Reinhardt hingegen läßt besonders in späterer Zeit viele Briefe unbeantwortet. Es gibt Phasen, in denen ein Jahr lang kein Briefkontakt herrscht. Zu einem vorübergehenden Zerwürfnis kommt es, als Reinhardt 1943 das Habilitationsgesuch von Uvo Hölscher wahrscheinlich aufgrund seiner eigenen unsicheren Stellung in der Leipziger Fakultät mit der lapidaren Antwort ablehnt, Hölscher solle es nach dem Krieg noch einmal versuchen.25 Kommerell vermittelt daraufhin Hölscher an Bruno Snell

und Geschichtsschreibung, hrsg. v. Carl Becker, 2. durchges. u. erw. Aufl., Göttingen 1966; und: ders.: Die Krise des Helden und andere Beiträge zur Literatur und Geistesgeschichte, München 1962. Siehe auch ders.: Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung, hrsg. v. Carl Becker, Göttingen 1960 und ders.: Platons Mythen, Bonn 1927. 21 Vgl. DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 03.09.1943, Nachlaß Kommerell, A: 56.378. 22 Vgl. Gerold, Memoriam, S. 16. 23 Ebd. S. 16. 24 Jens, Kommerell, S. 23, vgl. auch BA 305. 25 Vgl. DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 06.04.1943, Nachlaß A: Gadamer.

III.2 Im Frankfurter Kreis mit den klassischen Philologen Reinhardt und Otto

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in Hamburg und sichert ihm damit die Fortsetzung seiner akademischen Karriere. Walter F. Otto nimmt für Kommerell die Rolle eines väterlichen Freundes und Förderers ein.26 Otto wurde durch Studien zum Geist der Antike (1923) und zur Wirklichkeit der Götter (1963), zu Gestalt und Sein (1959), Theophania (1956) und Epikur (1975) bekannt.27 Seine berühmteste Untersuchung ist Die Götter Griechenlands (1929).28 Außerhalb der klassischen Philologie veröffentlicht er Arbeiten zu Goethe, Hölderlin und Nietzsche.29 Kommerell heiratet im August 1931 Ottos Tochter Eva und bekommt im Januar 1934 ein Kind, die Tochter Gisela, mit ihr. Die Heirat Kommerells hat dabei zwei Bedeutungen: Zum einen ist es eine weitere Abgrenzung von seinem homoerotisch ausgerichteten ehemaligen ‚Meister‘ Stefan George, zum anderen zeigt sich, wie Kommerell, der neu im Frankfurter Professorenkreis ist und Aufnahme sucht, buchstäblich in diesen Kreis einheiratet, indem er die Tochter eines der angesehensten Mitglieder ehelicht.30 Obwohl er noch Privatdozent ist, gelingt es ihm dadurch, Eingang in den Kreis der Ordinarien zu finden. Die Briefe von Otto an Kommerell sind großenteils durch diesen persönlichen Bezug geprägt. Er kümmert sich um die finanzielle Absicherung und

26 Zu Walter F. Otto siehe auch Lossau, Manfred Joachim: Walter F. Otto (1874–1958), in: Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren, hrsg. v. Dietrich Rauschning u. Donata von Nerée, Berlin 1995, S. 309–315; Kerényi, Karl: Walter F. Otto zum achtzigsten Geburtstag. Rede, gehalten a. d. Universität Tübingen den 22. Juni 1954, in: Paideuma 6 (1954), H. 1, S. 1–5; Perl, Gerhard: Walter F. Otto (1874–1958) in Königsberg, in: Eikasmos. Fg. Ernst Vogt, hrsg. v. Werner Suerbaum, Bologna 1993, S. 283–285; Pöschl, Otto und Reinhardt, S. 247–273; und: Reinhardt, Karl: Walter F. Otto, in: ders.: Vermächtnis, S. 377–379. 27 Vgl. Otto, Walter F.: Der Geist der Antike und die christliche Welt, Berlin 1923; ders.: Die Wirklichkeit der Götter. Von der Unzerstörbarkeit griechischer Weltsicht, hrsg. v. Ernesto Grassi, Reinbek/H 1963; ders.: Die Gestalt und das Sein. Gesammelte Abhandlungen über den Mythos und seine Bedeutung für die Menschheit, Darmstadt 21959; ders.: Theophania. Der Geist der altgriechischen Religion [1956], Frankfurt/M 1975; und: ders.: Epikur [1975], Stuttgart 21987. 28 Vgl. Otto, Walter F.: Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes [1929], Frankfurt/M 1961 [ital. 1941, engl. 1954, franz. 1981]. Dazu siehe auch Cancik, Hubert: Die Götter Griechenlands 1929, in: ders.: Antik – Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, hrsg. v. Richard Faber, Barbara von Reibnitz u. Jörg Rüpke, Stuttgart/Weimar 1998, S. 139–165. 29 Vgl. Otto, Walter F.: Der Dichter und die alten Götter, Frankfurt/M 1942; ders.: Der griechische Göttermythos bei Goethe und Hölderlin, Berlin 1939 (Schriften für die geistige Überlieferung 2); und: ders.: Der junge Nietzsche. Ein Vortrag, Frankfurt/M 1936 (Wissenschaft und Gegenwart 10). 30 Vgl. Kommerell, Blanche (Hg.): Max Kommerell: Spurensuche, Gießen 1993, S. 166.

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

springt immer wieder in Notlagen ein.31 Zwar nennt er Kommerell seinen engsten geistigen Freund, aber im Gegensatz zu Reinhardt und Zimmer äußert er sich nur selten ausführlich über Kommerells Schriften und läßt die ihm zugeschickten Aufsätze mitunter längere Zeit ungelesen liegen. Mehr als die anderen äußert er sich allerdings in seinen Briefen zu den tagespolitischen Ereignissen, überwiegend mit distanzierter Haltung. Der gesellige Austausch wird durch gemeinsames Musizieren verstärkt. Walter F. und Margarete Otto, Elly Reinhardt und Kommerell bilden ein Musikquartett, von dem Kommerell am 21. Januar 1933 seiner Schwester Jul berichtet: „Mit Reinhardts geht es gut. Otto wütet als frenetischer Musiktyrann, so daß die gute Frau Reinhardt alle menschenwürdigen Beschäftigungen aufgeben muß wegen Tage und Nächte durchwährendem Quartettspiel. Frau Otto verzweifelt über einen Gatten, der überhaupt nur noch als Verursacher von wohllautenden Geräuschen zu bemerken ist und – der sonst Überbeschäftigte – viele Stunden mit der armen Frau Reinhardt übt. Quartett heißt man das“ (BA 23). Im Jahr 1936, als Kommerell und Eva Otto geschieden werden – Kommerell heiratet zwei Jahre später seine langjährige Freundin Erika Franck, mit der er im Juli 1939 die Tochter Yvonne bekommt –, endet auch, kaum verwunderlich, der Briefwechsel mit Otto. In den vierziger Jahren äußert sich Kommerell sogar negativ über Ottos Form der Hölderlin-Rezeption (vgl. Kap. VIII). Das gute Verhältnis zwischen Kommerell und den Frankfurter Professoren bemerkt der Bildhauer und Georgeaner Ludwig Thormaehlen. In seinen Erinnerungen schreibt er über Kommerells Antrittsvorlesung: „Die Rede Maxims war bedeutend und viel Volks da [...]. Maxim scheint von einem großen Teil seiner Kollegenschaft wärmstens begrüßt zu werden. Das Auditorium reichte nicht, es mußte ein größeres genommen werden. Die Form des Vortrages war beinahe elegant“.32 Für Kommerell ist es charakteristisch, daß er seine Freunde in pointierten Beschreibungen skizziert: Otto bezeichnet er als „priesterliche[n] Älteste[n]“ (BA 30) und Reinhardt als „grandiosen tiefsinnigen und geistreich ironischen Lehrer“.33 Sogar im Vergleich mit dem bedeutenden Romanisten Ernst Robert Curtius (vgl. Kap. VI) schätzt Kommerell die Genialität von Reinhardt und Otto noch höher ein: Curtius sei ein „Gelehrter ganz großen

31 32 33

Vgl. DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 02.05.1935, Nachlaß Kommerell, A: 84.1604/2. Thormaehlen, George, S. 257. DLA Marbach, Brief Kommerell an Christiane und Heinrich Zimmer o. D. [Anfang SoSe 1934], Nachlaß Zimmer, A: 74.122/2. Zu Kommerells Vergleich zwischen Reinhardt und Hofmannsthal siehe auch DLA Marbach, Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 09.12.1934, Nachlaß Kommerell, A: 84.1479/1.

III.2 Im Frankfurter Kreis mit den klassischen Philologen Reinhardt und Otto

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Stils, mit so lückenloser Umfassung der Räume und der Zeiten, daß ihm darin wohl auch die genialeren Reinhardt und Otto kaum gewachsen sind“.34 Reinhardt und Otto stehen dem George-Kreis nahe. Kommerell war von Wolters an Reinhardt, durch den er wiederum Otto kennenlernte, vermittelt worden. Am 16. Februar 1930 stellt Kommerell den ersten Kontakt zu Reinhardt her: Hochverehrter Herr Professor: Gestatten Sie mir bitte, Sie unmittelbar anzusprechen, obwohl ich Ihnen persönlich noch unbekannt bin. Sie haben sich, auf Bitte meines verehrten Freundes Prof. Wolters, so gütig für mich verwandt, daß ich den Dank nicht mehr verschieben darf. Auch wenn der Versuch mißlingen sollte, wäre mir die ungemein herzliche Aufnahme bei Herrn Prof. Otto und den Seinen, denen Sie mich empfohlen haben, Gewinn genug gewesen. [...] Meine Neigungen zu antiken Sprachen und Dichtern sind erheblich inniger obschon unwissender als die germanistischen, und darum ist die Aussicht, länger in Ihrer und Prof. Ottos Nähe zu leben, für mich so verlockend. Von Ihnen hab ich nur Ihr Buch über die Mythen Platos gelesen – irgend ein Urteil (ein lobendes ist oft anmaßender als ein entgegnendes!) darf ich nicht wagen, nur erlauben Sie mir einen gefühlsmäßigen Eindruck zu äußern: das Geistige darin ist so persönlich. Muß dies nicht sein, wenn man sich zusammenfassend über Plato äußert?35

Der Brief verdeutlicht, wie sich der Habilitationskandidat dem eingesessenen Ordinarius annähert und versucht, eine gemeinsame Gesprächsbasis aufzubauen. Schon am 30. September 1929 hatte Kommerell Wolters seinen ersten Eindruck geschildert: „Vor den Germanisten [Naumann und Schultz] war ich bei Riezler und Otto. Mit beiden mancherlei Berührungspunkte. Otto ist kein gewöhnlicher Mensch, und man kann ihn verehren. Ich habe mich 2mal ausgezeichnet mit ihm unterhalten, und die Beziehung verspricht herzlich und ergiebig zu werden“ (BA 162). Im Laufe des Jahres 1930 entwickelt sich ein so enges Verhältnis zwischen Reinhardt, Otto und Kommerell, daß von einem Freundeskreis gesprochen werden kann. Am 19. Oktober 1930 schreibt Otto an Kommerell: „Nur ein Wort soll heute zu Ihnen als Zeichen, daß ich lebhaft Ihrer gedenke und mich herzlich auf Ihr Kommen freue. Ihre Zugehörigkeit zu dem Frankfurter Kreise gilt mir als eine Fügung des Schicksals, für die ich dankbar bin, so wie für alles Lebendige und Fruchtbare, das es in dieses Leben hineingeführt hat“.36 An dieser Stelle wird deutlich, daß die Beziehungen der drei Wissenschaftler nicht nur im Rückblick von außen als Kreis gewertet werden können, sondern auch in ihrem Selbstverständnis so wahrgenommen wurden. 34 Brief Kommerell an Erika Franck vom 27.04.1935, BA 303. 35 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 16.02.1930, Nachlaß Kommerell, A: 56.355. 36 DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 19.10.1930, Nachlaß Kommerell, A: 84.1601/3.

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

Der enge Zusammenschluß ergibt sich aus einer ähnlichen Wahrnehmung der Moderne als Krise, wie aus einem Brief von Otto an Kommerell vom 7. September 1933, also nach dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten, hervorgeht: Wenn man alles aufmerksam betrachtet, muß man schließlich sagen: es ist alles gut, zum Teil sogar sehr gut – nur daß der Zusammenbruch der geistigen Welt, der so künstlich verdeckt war, ganz offenkundig geworden ist. Ein Tieferblickender hätte wohl schon längst, schon seit vielen Jahren, gesehen, wie wenige wir sind, die noch mit dem Göttlichen etwas zu schaffen haben. Darum müssen wir fest zusammenhalten, mitteilen, austauschen, wie es ja doch schließlich in den alten Zeiten lebendiger Idealität auch gehalten worden ist. Halten wir zusammen und ziehen wir die großen Alten als unsere Unterredner und Richter mit in dem engen Kreis. Man braucht das nur zu denken, und eine geheime Lust regt sich und dehnt sich aus. Vielleicht klingt Dir dies alles zu alt – aber wir freuen uns über die Jüngsten, wenn sie in den Geheimbund eingetreten, dessen magische Formel nichts anderes ist als die Welt.37

Otto stilisiert den Frankfurter Kreis sogar zu einem „Geheimbund“, für den der George-Kreis als Vorbild gedient haben könnte, von dem er sich aber durch eine nichthierarchische Struktur unterscheidet. Otto betont außerdem in einem Brief vom 7. Oktober 1933, daß er noch eine engere Verbindung mit Kommerell eingehen möchte: Ich habe schon lange den Gedanken und Wunsch genährt, daß wir in diesem Winter in eine noch viel innigere, lebendigere Geistes- und Lebensverbindung, als bisher, treten müssen. Und das heißt auch, daß ich hoffe, Deinen jungen Freunden viel mehr sein zu können, als bisher möglich war. Erhebe ruhig Anspruch auf mich; Du kannst mich damit nur erneuern. Auch darüber wollen wir sprechen, sobald wir uns wiedersehen. Was könnte ich mehr wünschen als zu geben, wenn ich etwas zu geben habe. Und wir zwei haben uns, glaube ich, noch gar viel zu sagen. Ich spreche aus, was ich längst fühle: daß dies zu den wertvollsten Besitztümern meiner Existenz gehört. Und wenn ich auf den kommenden Winter blicke, auf das, was bedeutend und lebenserwärmend sein kann, so steht unsere Verbundenheit ganz im Vordergrund.38

Die Bedeutung, die Kommerell für Otto gewinnt, kommt in einem Brief vom 15. Mai 1934 an die Tochter Eva zur Sprache, in dem Otto auf seine Versetzung nach Königsberg und Kommerells Vertretung in Bonn anspielt: „Bald werde ich ja auch nicht mehr in Frankfurt sein, wo mich jetzt nicht mehr viel hält. Denn mit Max – das muß ich doch einmal sagen – ist derjenige, mit dem ich mich geistig am meisten verbunden fühlte, weggegangen. Alles 37

DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 07.09.1933, Nachlaß Kommerell, A: 84.1602/2. 38 DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 07.10.1933, Nachlaß Kommerell, A: 84.1602/3.

III.2 Im Frankfurter Kreis mit den klassischen Philologen Reinhardt und Otto

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andere ist doch nur gelegentliche Bereicherung, so kostbar sie zu weilen sein mag“.39 Gegenüber Kommerell bringt er seine Zuneigung am 17. Oktober 1933 zum Ausdruck: „Dein lieber ausführlicher schöner Brief hat mir eine unvergleichliche Freude bereitet. Ich sehe aus ihm von Neuem, und noch schöner und größer als bisher, wie tief wir verbunden sind durch eine gemeinsame geistige Welt, die nicht in einem Gegensatz steht zu der sogenannten Wirklichkeit, sondern ihr Sinn und ihre Wahrheit ist. Der Wiederschall, den meine Erfahrungen und Gedanken in Dir gefunden haben, ist die lebendigste Antwort, die mir werden konnte, wie die erste Stimme, die einem einsam Rufenden aus der Weite zurückruft und ihn froher macht als alle Laute, die er danach vernehmen wird“.40 Otto reklamiert in der Berufung auf eine eigene „geistige Welt“ einen Deutungsanspruch gegenüber der Realität. Eines der Themen, über die Kommerell sich von Anfang an mit seinen Frankfurter Professorenfreunden austauscht, ist die Forschungskritik. Dazu stellt Otto am 17. Oktober 1933 fest: Es hat mir lange schon die Aufgabe vorgeschwebt, die Wissenschaft aus ihrer abstrusen Isolation zu lösen. Der Gelehrte sammelt sein Material und fällt seine Urteile, die Namen der Dinge sind dieselben wie in der Wirklichkeit, in der die nicht gebildeten Menschen atmen. Aber diese – ob sie dieses sind oder nur hören – erkennen ihre Wirklichkeit nicht mehr darin, um, aus Achtung vor dem Scharfsinn und minutiösen Wissen des Gelehrten, dann schließlich, sich zu reduzieren, und ihre gesehene und gefühlte Welt, so mächtig sie ihnen ans Herz greift, als eine Phantasiewelt zu bezeichnen. Aber auch der Gelehrte legt wohl abends sein Buch aus der Hand, schiebt sein Mikroskop bei Seite, und liest: ‚Gelassen stieg die Nacht ans Land....‘ – und auf einmal ist eine Welt wahr, über die er bei seinen exakten Untersuchungen nur lächeln, oder aber in die heilloseste Verwirrung kommen könnte. Diese Zerrissenheit ist eines der bedenklichsten Erbstücke der europäischen Kultur. Sollte es nicht möglich sein, daß der furchtbare Riß sich einmal schließt? Daß der Gelehrte mit seinen Fragen auf eine Warte tritt, auf der er auch den Dichter findet, und seine Berührung, seinen Blick belebend fühlt?41

Zwischen Reinhardt und Kommerell sind die wissenschaftlichen Übereinstimmungen so groß, daß sie im Wintersemester 1932/33 gemeinsam eine Lehrveranstaltung über Friedrich Nietzsche und die Antike abhalten. In einem undatierten Brief vom Oktober 1932 schlägt Kommerell Reinhardt einen Semesterplan vor: „Diese letzte Zeit bin ich ganz in den Vorbereitungen, und lese und excerpiere meistens Nietzsche – in der heftigen, fast unheilbaren

39

DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Eva Kommerell vom 15.05.1934, Nachlaß Kommerell, A: 84.1603/1. 40 DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 17.10.1933, Nachlaß Kommerell, A: 84.1602/4. 41 DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 17.10.1933, Nachlaß Kommerell, A: 84.1602/4.

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

Beunruhigung, in die mich jede auch flüchtige Berührung mit seinem unentrinnbaren Worten versetzt. Ich wollte Ihnen vor Beginn unsrer Übung noch einmal aufschreiben, was sich – als Möglichkeit der Themenstellung – etwa aus unsern Gesprächen zu ergeben scheint: I.

N.[ietzsche] und der Humanismus a) Zusammenfassg. für die Zeit der Wagner- u. Schopenhauerverehrung, vor Menschliches Allzumenschliches. (ich schlage deshalb eine ‚Zusammenfassg.‘ vor, weil die vorige Übung sich meist darum drehte). b) die veränderte Gestalt dieses Humanismus in der Zeit nach Menschliches Allzumenschliches 1) das Sokrates- und Platonproblem (worunter auch Vorsokratiker) 2) der Gedanke des Tragischen u. Dionysischen Dionysos der Spätstufe 3) Stellung zum deutschen Humanism. Goethe etc. II. Nietzsche und ‚der Dichter‘ III. Interpretation von Zarathustrakapiteln durch Verfolg eines Gedankens in den anderen Schriften. Ich hielte dafür besonders geeignet ‚Vom Gesicht und Rätsel‘ IV. Interpretation einzelner schwieriger Stellen der Dionysosdithyramben

Meiner Meinung nach sind die 7 Abende damit mehr als ausgefüllt. [...] Nur bin ich dafür, daß die Vorbesprechung sofort ist, damit man dann bis zur 1. Übung 14 Tage verfließen lassen kann: sonst hat ja niemand Zeit, etwas vorzubereiten“.42 Kommerells Vorschlag für das Seminarprogramm verbindet die Untersuchung der biographischen Hintergründe des Autors, der vergleichenden Werkanalyse und der Einzelinterpretation. Der Lehre geht er mit Begeisterung nach, wie er schon am 19. November 1930 dem Georgeaner Frank Mehnert berichtet: „Die Lehrtätigkeit macht mir große Freude. Das Gesellige (soweit es mir nicht erlaubt so zu sein, wie ich ohnehin bin) schränke ich aufs nötigste ein. Die Studenten sind (wofern man nicht das außerhalb ihrer liegende erwartet) durchaus eher befriedigend als enttäuschend... Arbeit geht nicht mehr aus“ (BA 193).

42 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt o. D. [Oktober 1932], Nachlaß A: Klostermann. Siehe auch Cancik, Hubert: Nietzsches Antike. Vorlesung, Stuttgart/ Weimar 1995.

III.3 „Trilogie der Wissenschaft“

81

III.3 „Trilogie der Wissenschaft“ Im folgenden werden Kommerells Jean Paul (JP),43 Reinhardts Sophokles (RSO)44 und Ottos Dionysos. Mythos und Kultus (OTD)45 parallel analysiert, um der Frage nachzugehen, ob sich neben Übereinstimmungen in den Briefen auch Gemeinsamkeiten in den Publikationen finden. Kommerell untersucht in seiner Studie die Verwendung des Humors in den Hauptwerken Jean Pauls. Dabei stellt er das humoristische Ichgefühl, die Humoristenreihe und die singende Prosa heraus. Reinhardt unternimmt eine Interpretation von Sophokles’ Gesamtwerk. Jedem Drama ist ein Kapitel gewidmet, in dem durch eine vergleichende Betrachtungsweise der Zugang zu den Stücken gesucht wird. Otto stellt die Entstehung und Überlieferung des Dionysos-Kultes dar. Er arbeitet irrtümliche Überlieferungen und künstliche Tradierungen heraus. Jean Paul, Sophokles und Dionysos erscheinen Ende 1933 im Verlag Vittorio Klostermann.46 Im Laufe des Jahres äußeren Kommerell, Reinhardt und Otto verschiedene Ansichten über ihre Studien, die sich noch im Entstehungsprozeß befinden. Die bemerkenswerteste Äußerung unternimmt Kommerell am 16. Oktober 1933 gegenüber seinem Verleger Klostermann: „Mein Neffe hat für die drei Bücher die Bezeichnung ‚Trilogie der Wissenschaft‘

Abb. 1: „Trilogie der Wissenschaft“

43 Vgl. Kommerell, Max: Jean Paul [1933], 5. durchges. Aufl., Frankfurt/M 1977. Fortan zitiert als Sigle JP. 44 Vgl. Reinhardt, Karl: Sophokles, Frankfurt/M 1933. Fortan zitiert als Sigle RSO. 45 Vgl. Otto, Walter F.: Dionysos. Mythos und Kultus, Frankfurt/M 1933. Fortan zitiert als Sigle OTD. 46 Zur Wahrnehmung der politischen Zäsur von 1933 in konservativen Kreisen siehe u. a. Groppe, Carola: Widerstand oder Anpassung? Der George-Kreis und das Entscheidungsjahr 1933, in: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDRSozialismus, hrsg. v. Günther Rüther, Paderborn u. a. 1997, S. 59–92.

82

III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

geprägt. Ich finde das sehr hübsch!“47 Damit impliziert er Gleichwertigkeit und Zusammengehörigkeit, die hier zu untersuchen sein werden. Im Vorfeld wird versucht, das äußere Format der Bücher aufeinander abzustimmen. Diese Diskussionen sollen ausführlich dargestellt werden, weil daran deutlich wird, wie in der Wissenschaft gemeinsame Positionen abgestimmt und nach außen vertreten werden. Die Publikationen sollen in einer ähnlichen, aber nicht identischen Aufmachung erscheinen. Otto bemerkt dazu am 22. August 1933 an Kommerell: „Reinhardt hat auch schon einen Teil seines Manuskripts abgeliefert. Der Druck beginnt bei beiden gleichzeitig, auch werden die Bücher etwa denselben Umfang und dieselbe Ausstattung haben“.48 Die Diskussionen werden mit Klostermann geführt, der Kommerell am 9. September 1933 berichtet: Was nun die äußere ‚Gleichstellung‘ der Bücher anbelangt, so scheinen mir die Befürchtungen übertrieben zu sein. Bei Reinhardt ist das Bedürfnis, gegen die Ottoschen Arbeiten sich zu distanzieren nach meinen Eindrücken recht ausgeprägt. Aus welchen Gründen dies geschieht, weiß ich nicht. [...] Als die Wahl der Typen zur Diskussion stand, war er sehr gegen die Wahl der Typen der Ottoschen Schrift, wenn er es auch nicht aussprach, was allerdings seine Frau dann tat. Er hatte aber nichts dagegen einzuwenden, daß sein Buch in der Type Ihres ‚Jean Paul‘ gedruckt würde. Dies bitte streng unter uns. Ich führe es auch nur an, um damit zu sagen, daß Reinhardt die Gleichschaltung übertrieben sieht. Format, Schrifteneinteilung etc. differieren durchaus. Es kann nie derselbe Eindruck von Gleichheit entstehen, den etwa die Bondischen Veröffentlichungen haben. Von der Riezlerschen Schrift49 weiß ich überhaupt nicht, ob sie gebunden wird, da sie einen sehr kleinen Umfang hat.50

Es zeigt sich ein Distinktionsbewußtsein, das auf kleine Unterschiede Wert legt. Dadurch soll eine Individualität in der Gemeinschaft entstehen. Kommerell tritt für eine relative Einheitlichkeit ein und teilt Klostermann am 12. September 1933 mit: „Sie beruhigen mich darüber, daß der Eindruck des vereinbarten Zusammengehens à la Bondi nicht erweckt werden kann. Die Unterschiede im Innern (Druck u.s.w.) erwähnen Sie. Mir wäre es lieb (für mich ... das andere ist Sache der anderen) wenn auch das äußere, dessen Farbe Sie offenbar nach meinem Vorschlag bestimmen, bei meinem Buch nicht ganz identisch mit den anderen gehalten würde, d. h. grau mit blauem Aufdruck. Ich nehme an, daß die Art von Haltung und Stil, die Sie als Verleger allen

47

DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 16.10.1933, Nachlaß A: Klostermann. 48 DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 22.08.1933, Nachlaß Kommerell, A: 84.1602/1. 49 Gemeint ist Riezler, Kurt: Parmenides, Frankfurt/M 1934. 50 DLA Marbach, Brief Vittorio Klostermann an Kommerell vom 09.09.1933, Nachlaß A: Klostermann.

III.3 „Trilogie der Wissenschaft“

83

diesen Veröffentlichungen geben wollen, dabei gewahrt werden kann. Ich möchte aber keineswegs bockig sein darin. Es ist dies nur mein Wunsch. Und wenn das Format einen gewissen Unterschied macht, und Sie aus dringenden Gründen die Farben einheitlich angeordnet haben, so ist mir die Differenz der Auffassungen zu klein, um darauf zu beharren“.51 Kommerell legt mehr Wert auf die äußerliche Distanzierung von Reinhardt und Otto. Aufgrund seiner Vergangenheit im George-Kreis, in dem unterschiedliche Schriften in einem absolut identischen Format im Verlag von Georg Bondi erschienen, zielt er nun auf mehr Distinktionsspielraum. Im gleichen Brief weist er noch auf die besondere Abgrenzung von dem Frankfurter Philosophen Kurt Riezler (vgl. III.4.2) hin, betont aber die gemeinsame symbolische Bedeutung aller Studien: Sie sind vielleicht erstaunt, warum ich überhaupt wegen dieser Kleinigkeit Papier beschrieben habe. Ein Bedürfnis, mich geistig zu distanzieren, liegt bei mir nicht vor, höchstens gegen Riezler, aber nicht als ob ich diesen nicht schätzte und verehrte, sondern weil die Differenz der Haltungen so verschieden ist, daß eine Identification öffentlicher Art von mir aus einfach unwahr wäre. Mein Bedenken richtet sich aber gar nicht gegen Riezler, im Gegenteil: gerade jetzt fällt es mir leichter, ihm meine Sympathie zu zeigen, sondern es ist ganz grundsätzlich. Eine Front zu bilden, ohne daß ich es beabsichtige – das ist mir, gerade jetzt (nach Bondi) besonders fernliegend. Zudem habe[n] Sie mir angedeutet, daß Widmungen von nicht rein persönlicher Natur beabsichtigt waren. Auch da würde ich, genau wie im Geistigen, eine Frontbildung ablehnen, die ich nicht beabsichtigt habe, sondern die plötzlich da ist. Was ich höchlich begrüße, ist: daß Menschen von Niveau, die sich nicht in falscher Weise aktualisieren, bei einem Verleger, der sich ebenfalls nicht in falscher Weise aktualisiert, zu gleicher Zeit über sehr große Gegenstände sich grundsätzlich äußern. Das hat etwas Symbolisches, und ist grad genug.52

Aus diesen Zeilen spricht Kommerells Selbstverständnis als Autor, der sich in der Wissenschaftslandschaft positionieren, dabei keine unnötigen Konflikte eingehen und nicht eine oberflächliche Aktualisierung der Vergangenheit vornehmen will. In einem undatierten Brief vom Ende September 1933 stellt er dann gegenüber Klostermann klar, daß keiner der Beteiligten eine vollkommen identische Aufmachung vorziehe. Ein einheitlicher Stil wird jedoch durchaus gewünscht: „Ich habe [Reinhardt], wie Sie anregten, nach der Ausstattung gefragt. Er war sich nicht ganz im klaren, ob die Einheitlichkeit der Einbände sich bis auf alle Details erstreckt. Wir sind beide sehr erfreut, daß ein bestimmter Stil auch in der Aufmachung gewählt wird: sowohl als Stil des Verlags wie als Stil der Autoren. Aber die genaue Gleichheit (auch in

51 52

DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 12.09.1933, Nachlaß A: Klostermann. Ebd. A: Klostermann.

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

den Farben) würde leicht den Anschein der Clique geben, den ich und Reinhardt lieber vermieden sähen. Ich selbst habe ja das Gute und nicht Gute der äußerlich uniformen und als zusammengehörig gekennzeichneten Veröffentlichungen hinlänglich erprobt“.53 Mit dem letzten Satz spielt Kommerell auf seine Zeit im George-Kreis an. Im gleichen Brief führt er aus: „Und in unserem Fall ist doch die Verschiedenheit der Autoren, ihres Standpunktes, ihrer Denkformen enorm: denken Sie etwa an Riezler und mich. Ich würde also vorschlagen: einheitliche Aufmachung, verschiedene Farben. Reinhardt sagte, er würde von sich aus eher dunkelblau für seinen Einband wählen, als meine Farben. Er ermächtigt mich, auch von ihm zu schreiben, daß er für Variation ist. [...] Vielleicht sprechen Sie auch mit Otto wegen meiner Bedenken, die völlige Identität der Einbände betreffend?“54 Mit dem Ausdruck „einheitliche Aufmachung, verschiedene Farben“ bringt Kommerell das Bestreben nach Individualität in der Gemeinschaft auf eine Formel. In der letztendlichen Erscheinungsform ähneln sich die Ausgaben Kommerells und Reinhardts stärker, Ottos Buch weicht, besonders im Schrifttyp, deutlicher davon ab. Das feine Distinktionsbestreben von zusammengehörenden Wissenschaftlern ist am Beispiel der Diskussionen um die Abstimmung der Studien Jean Paul, Sophokles und Dionysos detailliert rekonstruiert worden. In einem weiteren Schritt wäre die interdisziplinäre Reihe Wissenschaft und Gegenwart, die bei Vittorio Klostermann erscheint und in der ebenfalls Kommerell, Reinhardt und Otto publizieren, ebenso ausgiebig zu untersuchen. Dafür sollen hier einige Ansatzpunkte geliefert werden. In der Reihe erscheinen von 1930 bis 1969 insgesamt 44 Bände. Sie spiegelt das intellektuelle Profil des Frankfurter Kreises samt seines Umfeldes wieder. Eine Liste der erschienenen Studien aus dem Zeitraum, der für diese Untersuchung relevant ist, soll einen Eindruck über das Profil der Reihe vermitteln (siehe Tab. 1). Mit dem Titel der Reihe wird ein Aktualitätsbezug hergestellt. Durch eine Wissenschaft mit Bezug zum Leben soll ein erweiterter Leserkreis gewonnen werden. Die Beiträge sind aus unterschiedlichen Anlässen verfaßt: Es gibt zwei Antrittsvorlesungen – von Schadewaldt und von Kommerell (vgl. Kap. IV) –, sechs Vorträge – 2x Kommerell, 2x Gadamer, 1x Otto und 1x Löwith, davon sind drei Gedenkvorträge zu Geburts- oder Todestagen der Autoren – und sechs Einzelstudien. Es handelt sich also überwiegend um einen Publikationsraum für aktuelle, verschriftlichte Vorträge.

53

DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann o. D. [Ende September 1933], Nachlaß A: Klostermann. 54 Ebd. A: Klostermann.

III.3 „Trilogie der Wissenschaft“

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Max Kommerell

(Germanistik)

Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede

Bd. 1: 1930.

Max Kommerell

(Germanistik)

Jugend ohne Goethe

Bd. 2: 1931.

Walter F. Otto

(Klass. Philologie)

Der europäische Geist und die Weisheit des Ostens: Gedanken über das Erbe Homers

Bd. 3: 1931.

Karl Löwith

(Philosophie)

Kierkegaard und Nietzsche, oder Philosophische und theologische Überwindung des Nihilismus

Bd. 4: 1933.

Hans-Georg Gadamer

(Philosophie)

Plato und die Dichter

Bd. 5: 1934.

Max Kommerell

(Germanistik)

Schiller als Gestalter des handelnden Menschen

Bd. 6: 1934.

Wolfgang Schadewaldt

(Klass. Philologie)

Sophokles und Athen

Bd. 7: 1935.

Karl Reinhardt

(Klass. Philologie)

Nietzsches Klage der Ariadne

Bd. 8: 1936.

Arnold Bergsträsser

(Soziologie)

Lorenzo Medici. Kunst und Staat im Florentiner Quattrocento

Bd. 9: 1936.

Walter F. Otto

(Klass. Philologie)

Der junge Nietzsche. Ein Vortrag

Bd.10: 1936.

Karl Reinhardt

(Klass. Philologie)

Das Parisurteil

Bd.11: 1938.

Herbert Schöffler

(Anglistik)

Die Leiden des jungen Werther. Ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund

Bd.12: 1938.

Hans Hermann Glunz

(Anglistik)

Der „Hamlet“ Shakespeares

Bd.13: 1940.

Hans-Georg Gadamer

(Philosophie)

Volk und Geschichte im Denken Herders

Bd.14: 1942.

Tab. 1: Übersicht Wissenschaft und Gegenwart

Die Beiträge verfügen über einen knappen, leicht lesbaren Umfang und sind meist zwischen 20 und 40 Seiten lang. Nur der Beitrag von Hans Hermann Glunz fällt mit 70 Seiten aus diesem Rahmen. Um eine lebendige Form zu bieten, verzichten viele Beiträge auf einen wissenschaftlichen Apparat. Lediglich sieben Schriften weisen Endnoten auf, nur ein einzige Fußnoten. In ihrem Bezug zum allgemeinen Leben richten sich die Texte auch an ein nichtakademisches Publikum.

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

*

*

Bei dem einzigen verfügbaren Exemplar fehlt das Deckblatt mit Rahmen.

III.3 „Trilogie der Wissenschaft“

87

Abb. 2: Deckblätter Wissenschaft und Gegenwart

Die Reihe fällt äußerlich durch ihre besondere Aufmachung auf (vgl. Abb. 2). Dies zeigt sich sowohl im quadratischen Format wie auch im Schriftsatz. Die Gestaltung der Titelblätter wandelt sich im Laufe der Zeit. Es lassen sich drei markante Einschnitte erkennen: Ab 1933, parallel zur politischen Zäsur, wird die Schrift deutlich kleiner, ab 1936 erscheint der Verlagsnahme nur noch einzeilig, ab 1938 fällt das Jahr weg und wird durch das Klostermann-Logo ersetzt. Konstant bleibt der klassizistisch angelehnte Rahmen, der in Richtung von sog. ‚Liebhaber-Ausgaben‘ deutet. Die Schriften der Reihe zeichnen sich durch einen besonderen Sprachstil aus. Der nüchterne Wissenschaftsstil wird durch eine emphatische, ja zum Teil pathetische Sprache ersetzt. Sprachliche Mittel wie rhetorische Fragen und Metaphern werden gehäuft eingesetzt, um in eine lebendige Auseinandersetzung mit dem Leser zu treten.

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

Die Auswahl der behandelten Autoren zeigt mit Homer, Platon, Sophokles, Dante, Shakespeare, Goethe, Schiller und Nietzsche einen Kanon der sog. ‚Höhenkammliteratur‘. In den Nietzsche-Beiträgen von Reinhardt, Otto und Löwith wird ein bewunderndes, jedoch nicht unkritisches Nietzsche-Bild vertreten, in das die neuesten Untersuchungen aus dem Weimarer Nietzsche-Archiv unter der Leitung von Karl Schlechta eingehen. Nietzsche ist ein zentraler Referenzpunkt, da er als Repräsentant für die Kritik an der althergebrachten, trockenen Wissenschaft steht. Dem soll eine lebendige Wissenschaft entgegen gesetzt werden. In den Beiträgen von Gadamer, Bergsträsser und Glunz, die sich mit der Philosophie Platons bzw. mit dem Neu-Platonismus beschäftigen, tritt ein Bild hervor, das den Dichter Platon über den Philosophen Platon hebt. Seine Dialoge werden als interaktives erzieherisches Instrument den traditionellen sophistischen Moralisierungen des Bildungsstoffes vorgezogen. Am Beispiel Homers zeigt sich eine Tendenz vom Lebensbezug der Wissenschaft und die Suche nach Ganzheitsvorstellungen. Zum einen wird Homers Weltbild als repräsentativ für die gesamte Epoche apostrophiert (Otto), zum anderen die Einheitlichkeit der Ilias als geschlossene Dichtung reklamiert (Reinhardt gegen Wilamowitz). Die Gemeinsamkeit, die diese Reihe so außergewöhnlich macht, ist, daß hier zahlreiche Wissenschaftler verschiedener Fächer versammelt sind, die ein ähnliches Verständnis des wissenschaftlichen Arbeitens haben. Die Autoren entstammen dem gleichen geistigen Umfeld, stehen zumeist miteinander in Kontakt, sind teilweise eng befreundet und nehmen versteckte bzw. indirekte Verweise aufeinander vor. Es ist zudem bezeichnend, daß Kommerell nicht nur engen Kontakt zu Reinhardt, Otto und Gadamer hat, sondern auch mit Glunz55 und Schöffler56 im Austausch steht.57 Wissenschaft mit Bezug zum Leben wird hier propagiert von Wissenschaftlern, die ein humanistisches Bildungsgut konservieren, einen Kanon ‚weltliterarischer‘ Autoren von Homer bis Goethe pflegen, sich gegen eine positivistische Mikrophilologie richten, an einem fächerübergreifenden Austausch interessiert sind und sich an ein über das akademische Publikum hinausgehenden Adressatenkreis wenden.

55

Hans Hermann Glunz ist Anglist in Frankfurt. Zum Austausch mit Kommerell vgl. Kap. IV. 56 Vgl. DLA Marbach, Brief Herbert Schöffler an Kommerell vom 05.03.1939, Nachlaß Kommerell, A: 84.1634. Im Nachlaß Schöffler ist kein Brief von Kommerell erhalten, vgl. Universitätsarchiv Köln, Zug. 453/6–7. Zu Schöffler siehe Hausmann, Frank-Rutger: Anglistik und Amerikanistik im „Dritten Reich“, Frankfurt/M 2003, S. 502f. 57 Nach 1945 werden weitere Bekannte von Kommerell in der Reihe schreiben: Gerhard Krüger über Die Geschichte im Denken der Gegenwart (1947), Richard Alewyn zu Hofmannsthals Wandlung (1949) und Julius Ebbinghaus über Traditionsfeindschaft und Traditionsgebundenheit (1969).

III.3 „Trilogie der Wissenschaft“

89

Von der bereits zitierten, programmatischen Aussage über die „Trilogie der Wissenschaft“ ausgehend, sollen nun Jean Paul, Sophokles und Dionysos untersucht werden. Dabei wird die Fragestellung verfolgt, ob sich über die persönlichen Gemeinsamkeiten, die sich im Briefwechsel gezeigt haben, hinaus auch Übereinstimmungen in den wissenschaftlichen Arbeitstechniken, im methodischen Vorgehen und im Wissenschaftsverständnis nachweisen lassen. Zuerst sollen dafür die Vorbemerkungen der drei Studien betrachtet werden. Kommerell leitet die zweite Auflagen von Jean Paul, die 1939 erscheint, mit einer „Vorrede“ (JP 5) ein: „Überall wird man, ohne daß ihr ein besonderes Kapitel gewidmet ist, die Frage heraushören: Ist Kunst in der Geistesverfassung Jean Pauls noch möglich, und ist diese Verfassung sein persönliches Los oder erstreckt sie sich so weit auf Nation, Zeitalter und Folgegeschlechter, daß man sie symbolisch nennen darf – ein Reifegrad des geistigen Werdens mit so bedeutender wie bedenklicher Möglichkeit, so daß dieses Buch beinahe den Zusatz haben könnte: Jean Paul und die Krise der Kunst!“ (JP 8). Kommerell appliziert also die Verfaßtheit von Jean Pauls Dichtungen auf die allgemeine Konstitution der Kunst, um dadurch Wahrnehmungen von Kunst, Moderne und Krise zu thematisieren. Seine Untersuchung ist nicht – wie häufig in der Sekundärliteratur verwechselt – George gewidmet, ihr ist lediglich ein Zitat von George vorangestellt (vgl. JP 1). Das kann als Gedenken an George, der 1933 stirbt, verstanden werden. Er hatte es allerdings abgelehnt, den Text, wie von Kommerell gewünscht, bei Bondi drucken zu lassen. Indem er nicht dort, sondern bei Vittorio Klostermann erscheint und im Format auf die Studien von Reinhardt und Otto abgestimmt wird, unterstreicht Kommerell zum einen den Bruch mit George, zum anderen macht er die Annäherung an den Frankfurter Kreis öffentlich sichtbar. Walter F. Otto fordert in seinem „Vorwort“ ein Überdenken überkommener Ansichten und reklamiert für sich eine neue Perspektive: Die Art, wie hier die Dinge gesehen sind, weicht von der üblichen Betrachtungsweise bedeutend ab. [...] Hier dagegen wird die entscheidende Genialität in den Anfang gesetzt, vor alle Wirksamkeit individueller Dichter und Künstler, die ohne diesen mächtigen Anstoß gar nicht denkbar gewesen wäre; und dieser Urschöpfung gegenüber müssen die jüngeren Züge an dem Bilde, so bedeutsam sie an und für sich sein mögen, als unbeträchtlich erscheinen. [...] Man sieht, wie sehr das Studium der Göttergestalten einer neuen Grundlegung bedarf. [...] Ich bin mir wohl bewußt, daß es ein Wagnis ist, von dem griechischen Gott zu sprechen, der für unsere vornehmsten Geister ein heiliger Name und ein unendliches Symbol gewesen ist. Mögen diese Blätter, die ich dem Gedächtnis dieser Großen widme, ihres Andenkens nicht ganz unwürdig sein. (OTD 5f.)

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

Für Otto haben also Genialität und Schicksal des Schöpferischen Vorrang. In einem Brief an Kommerell vom 22. August 1933 deutet er seine eigenen Ausführungen: „Ich habe in einem kurzen Vorwort die großen Geister unserer Vergangenheit angerufen – ohne sie beim Namen zu nennen, aber der Unterrichtete wird wissen, daß Hölderlin, Nietzsche usw. gemeint sind –, habe ihrem Andenken diese Blätter gewidmet, und gesagt, daß ich mir wohl bewußt bin, wie viel ich wage, wenn ich mir erlaube, über einen Gegenstand zu sprechen, der für sie ein so großes Symbol war“.58 Otto bezweifelt, daß Dionysos die gleiche Stellung für den zeitgenössischen Betrachter einnehmen könne, die er für Hölderlin und Nietzsche zu ihrer Zeit hatte. Mit dem Weimarer Philosophen setzt sich Otto außerdem im Vortrag Der junge Nietzsche auseinander, der, wie oben aufgeführt, 1936 als 10. Band der Reihe Wissenschaft und Gegenwart im Klostermann-Verlag erscheint.59 Von den Vorarbeiten an diesem Vortrag berichtet er Kommerell am 23. August 1934: Die Notwendigkeit, mich auf einen Nietzschevortrag am 15. Oktober vorzubereiten, hat mich plötzlich dem ganz jungen Nietzsche so nahe gebracht, wie ich ihn bisher noch nie gesehen habe. Nun scheint mir nichts interessanter zu sein, als ihn plötzlich auftauchen zu sehen. Denn er ist eigentlich von Anfang an ganz da; selbst in den Manuskripten der Studentenzeit sieht man fast im Staub[?] den ganzen Nietzsche mitten zwischen dem Kram gelehrter Notizen und ohne jeden Zusammenhang mit ihnen aufblitzen. Die Zeit der Vorbereitung auf die ‚Geburt der Tragödie‘ ist erfüllt von unerhörten Eingebungen. Während er noch nach braver Philologenart sammelt und sichtet, ist er ganz plötzlich als der Große, den wir jetzt kennen, da. Und wer der ist, der da plötzlich aufbrach, diese Frage beschäftigt mich sehr und wird mich noch längere Zeit festhalten.60

Aus diesen Zeilen spricht die idealistische Vorstellung, daß ein Zurückgehen auf die Ursprünge des Philosophen seinen ‚wahren Charakter‘ hervorbringen könne. Karl Reinhardt, der seine Studie Kurt Riezler widmet, grenzt sich in seinem „Vorwort“ von zeitgenössischen Forschungsansätzen ab: „Dies Buch ist nicht dazu bestimmt, sich neben jüngere und jüngste Darstellungen der drei alten Tragiker zu drängen. Auch soll Sophokles von keinem ProgrammHumanisten hier gefeiert werden. Was versucht wird, ist, eine vergleichende Betrachtungsweise durchzuführen, um die Dichtung den geläufigen verdekkenden Erklärungsformen zu entreißen. Kritische Anmerkungen sind in Auswahl beigefügt, für solche, die die Summe dessen, was sich unterscheidet und

58

DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 22.08.1933, Nachlaß Kommerell, A: 84.1602/1. 59 Vgl. Otto, Nietzsche, 1936. 60 DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 23.08.1934, Nachlaß Kommerell, A: 84.1603/2.

III.3 „Trilogie der Wissenschaft“

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was nicht, gerne auch spezifiziert sehen möchten. Eingelegte Übersetzungsproben sollen nichts als Notbehelfe sein und sind nur für die Interpretation gedacht“ (RSO 7). Die „vergleichende Betrachtungsweise“, die er fordert, setzt er vor allem in Vergleichen mit Aischylos und Euripides um. Außerdem ist festzuhalten, daß er es als notwendig ansieht zu rechtfertigen, warum er Endnoten setzt. Darin zeigt sich ein Wissenschaftsverständnis, das sich gegen positivistische Detailphilologie richtet. Abgesehen von ähnlichen poetologischen und literaturtheoretischen Wertungen in den Briefen sind verschiedene Gemeinsamkeiten in den Studien festzustellen. Eine formale Übereinstimmung ist, daß alle drei ein einziges Objekt in den Mittelpunkt stellen. Bei Kommerell und Reinhardt sind dies Dichter, bei Otto ein Gott. Reinhardt legt eine Interpretation des Gesamtwerkes vor, Kommerell konzentriert sich auf die Hauptwerke, Otto bezieht durch die Untersuchung von kultischen Praktiken auch die Wirkungsgeschichte mit ein. Kommerell, Reinhardt und Otto weisen Gemeinsamkeiten im methodischen Vorgehen auf, das in erster Linie in der Hinwendung zum Text liegt. Alle verfolgen das Ziel, den Text auszulegen. Das führt zu einer Vielzahl von Zitaten. Otto verweist an mehreren Stellen darauf, daß man sich nicht auf die Überlieferung verlassen, sondern an den Text selbst halten solle. Kommerell ordnet den Autor zwar häufig in die Epoche, in der er gelebt hat, ein, kommt aber immer wieder auf den Text zurück. Reinhardt führt an vielen Stellen aus, wie eine textnahe Literaturinterpretation vorzugehen habe. In der sprachlichen Darstellung weisen alle drei einen emphatischen Sprachduktus auf. Dabei ist eine Neigung zum Pathos latent vorhanden, am stärksten bei Kommerell und Otto. Im Vergleich zu ihnen wendet Reinhardt noch die nüchternste Sprache an. Gemeinsam ist den dreien die kritische Distanz zur bis dato geleisteten Forschung. Alle drei Studien sind gegen den positivistischen Wissenschaftsbetrieb gerichtet. Da sie aber selbst einen wissenschaftlichen Anspruch erheben, entsteht ein performativer Widerspruch, indem vermehren, was sie kritisieren. Gleichwohl ist eine solche Kritik überzeugender, da sie von innen heraus erfolgt. Damit nehmen sie eine exklusive Stellung gegenüber den Fachkollegen ein. Die vorhandenen Forschungsleistungen werden fast durchweg abgelehnt. Kommerell tut dies meist invisibilisiert, da er es schon in seiner Dissertation sichtbar zur Schau gestellt hatte. An einigen Stellen wird es allerdings auch in Jean Paul explizit: „Jean Paul beruft sich gern auf seine britischen und deutschen Vorbilder, und sie in jedem Satz nachzuweisen ist allzuleicht, als daß es sich die Forschung hätte versagen können. Besser hätte sie gefragt, wie die Wahl gerade dieser Vorbilder und dieser Gattung zu erklären“ ist (JP 17). Reinhardt unternimmt im Text kritische Andeutungen, die in den Endnoten aufgeschlüsselt werden. Ottos Forschungskritik ist in der Tonlage

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

am entschiedensten, mitunter sogar polemisch. Er spricht seine Gegner direkt an. Besonders sein Lehrer Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, gegenüber dem Nietzsche als Gegenfigur aufgebaut wird, ist Ziel seiner Angriffe – wie im Unterkapitel zu Dionysos näher ausgeführt wird (vgl. III.3.3). Neben den methodischen Vorgehensweisen gibt es inhaltliche Ähnlichkeiten. Alle behandeln die Frage von Realität und Irrealität. Vor allem bei Kommerell und Reinhardt wird dies über den Gegensatz von Sein und Schein vorgenommen. Am ausführlichsten wird diese Thematik bei Reinhardt aufgegriffen, besonders im Kapitel Oedipus Tyrannus (RSO 105–144). Passend dazu hat Hans-Georg Gadamer seine Gedenkworte auf Reinhardt unter das Thema „Schein und Sein“ gestellt.61 Kommerell bezieht sich immer wieder auf den Gegensatz von Sein und Schein und wendet ihn hier auf die Romane Jean Pauls an. Später wird er ihn anhand Calderóns thematisieren (vgl. Kap. IV). Otto spricht das Thema ebenfalls vereinzelt an. Das gemeinsame Verständnis von Sein und Schein zeigt die Wahrnehmung einer Doppelbödigkeit. Die Welt wird nicht als gegenständlich verstanden, sondern in ihrem Inszenierungscharakter erkannt. Dahinter steht eine Vorstellung von Welt und Literatur, Realität und Fiktion, die einen spezifischen Umgang der drei mit diesem Gegensatz als Literaturwissenschaftler zeigt. Bei Kommerell heißt es beispielsweise: „Damit verrät er [Gaspard] das innere Sein und verschreibt sich dem Schein: dem Schein, der ihm größtes Maß des Einflusses auf andere und der eignen Unbeeinflußbarkeit verspricht“ (JP 260). Im Zusammenhang mit dem Thema Sein und Schein steht die Maske, die von allen behandelt wird. Sie dient als Mittel, den Schein aufrechtzuerhalten und das Sein zu verbergen. Besonders Otto geht auf die Maske ein, nicht nur im Kapitel Das Symbol der Maske (OTD 81–86), sondern auch an anderen Stellen: „Der Ungeheure, dessen geisterhafte Doppelheit aus der Maske zu uns spricht, ist mit einer Seite seines Wesens der ewigen Nacht zugewandt“ (OTD 106). Es gibt einen Dichter, auf den sich alle drei Wissenschaftler beziehen: William Shakespeare. Er wird immer wieder von Reinhardt und Otto erwähnt, besonders häufig aber von Kommerell: „Aber nicht sich selber hackte der Dichter [Shakespeare] in Stücke, sondern die Welt nahm er auseinander, als einer der die Kunst ihrer Zusammensetzung kennt. Er nimmt sie wahr als Kräfteverein oder als Gestaltenkrieg, und prägte das Geteilte zur Person. Nicht Figuren als Ichteile, Personen als Weltteile entstehen“ (JP 107). Da Shakespeare von den dreien in Goethescher Tradition als herausragender,

61

Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Schein und Sein. Zum Tode von Karl Reinhardt 1958, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 6: Griechische Philosophie II, Tübingen 1985, S. 278–291 [erstmals in: NR 69 (1958), H. 1, S. 161–168].

III.3 „Trilogie der Wissenschaft“

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universeller und zeitloser Autor angesehen wird, dient er als Legitimationsbezug. Kommerell, Reinhardt und Otto nehmen untereinander Bezug auf ihre Studien. Das zeigt sich an einzelnen Stellen, an denen Reinhardt Dionysos und Otto Calderón de la Barca erwähnen. Besonders Sophokles wird von Kommerell mehrfach angesprochen: „‚Aber in Shakespeare steckt auch Sophokles, aber in Sophokles nicht Shakespeare –‘“ (JP 228). An Sophokles ließe sich Jean Paul gut erkennen: „Gerade wenn Jean Paul über Sophokles, Homer, Goethe, Shakespeare redet, über die auch anders zu reden wäre, ist es romantischer Geisterschein, sein Lichtquell und seine Lichtmitte, die auch über Landschaften und über Gebilde ausgegossen ist, die für das Auge des Mittags entstanden sind“ (JP 409f.). Dionysos wird von Kommerell, der bei Albano einen „dionysischen Todeswunsch“ (JP 237) konstatiert, angesprochen: „Und so wenig Albano seine Hochzeit mit Linda feiert, um Apoll und Dionysos als Festgäste ins Fürstentum Hohenfließ zu bitten“ (JP 29). Kommerell, Reinhardt und Otto stellen also gegenseitige Verbindungen ihren Forschungen her und bilden in diesem Sinne eine „Trilogie der Wissenschaft“. Die Verbindungen sind darauf zurückzuführen, daß die drei sich während der Schreibprozesse miteinander austauschen, von den neuen Erkenntnissen der anderen unterrichtet sind und deshalb deren Ergebnisse in ihre Studien mit aufnehmen. Einige Punkte teilen ausschließlich Kommerell und Reinhardt. Eine formale Übereinstimmung ist, daß beide ohne Unterkapitel schreiben. Beiden ist ebenfalls gemeinsam, daß Langzitate nicht vom Fließtext abgesetzt werden (vgl. RSO 31 und JP passim). Reinhardt setzt zwar Endnoten, sieht sich aber, wie bereits erwähnt, im Vorwort genötigt, sie zu rechtfertigen. Damit verfolgt er ein antipositivistisches Wissenschaftskonzept. Reinhardt und vor allem Kommerell erklären die Dichtungen nicht aus der Biographie des Autors: „Was sich hier zu behandeln verbot, ist deshalb nicht weniger wichtig: Ich nenne alles auf den Lebenslauf Bezügliche, Zeitalter und Bestrebungen, Einflüsse, vor allem von England her, Nebenwerke Jean Pauls und die Literatur über ihn, welcher der Verfasser in früheren Arbeiten und Rezensionen gerecht zu werden versuchte“ (JP 5). Reinhardt bezieht die Biographie des Autors nur sporadisch ein. Beide verwenden eine bildhafte Sprache, die bei Kommerell noch stärker hervortritt als bei Reinhardt. Sie benutzen häufig den Bindestrich in der Mitte des Wortes. Damit beabsichtigen sie, bei zusammengesetzten Wörtern die Bedeutungen der einzelnen Wortbestandteile stärker hervortreten zu lassen. Hier zeigt sich eine Parallele zur Verwendung des Bindestrichs bei Martin Heidegger (vgl. Kap. VIII). Kommerell und Otto ist wiederum der Hang zum Abstrakten, Pathetischen und Unkonkreten gemeinsam.

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß Kommerell, Reinhardt und Otto vielfältige Gemeinsamkeiten aufweisen. Sie üben Kritik an der herkömmlichen Form der Wissenschaft und vertreten antipositivistische Wissenschaftskonzepte. Dafür setzen sie eine pathetische Sprache ein. Sie behandeln ähnliche Themen, wie sich am Komplex Sein, Schein und Maske zeigt, und referieren auf die gleichen Autoren, z. B. Shakespeare. Unterschiede zeigen sich bei der Verwendung von Fußnoten. Was die individuellen Ausprägungen betrifft, so besitzt Kommerells Sprache die größte Pathetik. Reinhardt verwendet die auffälligste Interpunktion und Otto übt die stärkste Forschungskritik. III.3.1 Max Kommerell: Jean Paul Auf der einen Seite haben die drei Studien die genannten Gemeinsamkeiten, auf der anderen Seite zeigen sich Differenzen. Jeder der drei Wissenschaftler hat einen persönlichen Stil, der ihn von den anderen unterscheidet. Deutliche Unterschiede liegen in der Art des wissenschaftlichen Arbeitens und in den Zitationsweisen. In Jean Paul 62 setzt Kommerell in der ersten Auflage von 1933 keine Fußnoten und fügt kein Verzeichnis mit Literaturangaben an. Das ‚Nichtzur-Kenntnis-Nehmen‘ der Forschung ist allerdings inszeniert. Es handelt sich um eine bewußte Invisibilisierungsstrategie, die einem elitären Gestus entspringt. Der Verzicht auf Fußnoten richtet sich gegen die Spezialisierungstendenzen der Wissenschaft. Er ist also programmatisch zu verstehen. Für die zweite Auflage, die 1939 erscheint, werden auf Druck des Verlegers Klostermann ein Register „Jean Pauls Werke“ (JP 420), eine „Chronologie der hier behandelten Schriften Jean Pauls“ (JP 423) und ein „Personen- und Sachregister“ (JP 425) eingefügt. Kommerell gibt bei Zitaten aus den Schriften Jean Pauls keine Seitenzahlen an. Zum Teil wird nach Primärzitaten der jeweilige Roman mit Abschnitten in Klammern genannt: „(Unsichtbare Loge 34. Sektor)“ oder „(Titan 121. Zykel)“ (JP 302ff.). Oft werden überhaupt keine Belege angegeben, aus welchen Textstellen zitiert wurde. Es bleibt die Aufgabe des ‚verständigen‘ Lesers, dies aus dem Kontext zu erschließen. Eine Besonderheit ist Kommerells pathetische Sprache: „Der Meister des Titan hat den Mut zum Unmaß, erlaubt der Einsamkeit der philosophischen Vernunft, dem Weltverlachen, der Lüge der Person mit sich, der Selbstan62

Dazu siehe Fleming, Paul: The Crisis of Art: Max Kommerell and Jean Paul’s Gestures, in: Modern Language Notes 115 (2000), H. 3, S. 519–543; ders.: Die Moderne ohne Kunst: Max Kommerells Gattungspoetik in Jean Paul, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 54–73; und: Schlaffer, Methode, S. 22–50.

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betung der Leidenschaft, dem bengalischen Licht der Phantasie, dem Griff des Geistes nach den Geistern, der Selbstherrlichkeit des Handelnden eine drohende, dem Blitz benachbarte Höhe“ (JP 268f.). Im Briefwechsel legen Kommerell, Reinhardt und Otto ihre Studien selbst aus. In der privaten Korrespondenz äußern sie mitunter klarer ihre Intentionen als in den Veröffentlichungen. Anhand der Briefe lassen sich Entstehungsprozesse, Motivationen und Selbststilisierungen nachvollziehen. Die Genese von Kommerells Jean Paul kann aus seinen Briefen rekonstruiert werden. In einem undatierten Brief vom Oktober 1932 teilt er Reinhardt mit: „Im übrigen habe ich geschrieben und geschrieben, und darf nicht unzufrieden sein, obschon vieles noch ungetan blieb“.63 Knapp ein Jahr später, am 18. August 1933, berichtet er ihm von den Arbeiten am letzten Kapitel: „Sie sehen also, daß [...] ich Unglücklicher [...] seit 2. August von früh bis spät an dem Kapitel schreibe, das zu dem schon im Druck fortschreitenden Buch noch fehlt. Dabei wird es leider so dick als der Verfasser“.64 Nachdem die drei Monographien abgeschlossen sind, steht die gegenseitige Lektüre und Bewertung an. Otto drückt am 22. August 1933 Kommerell seine Begeisterung aus: „Ich bin sehr froh, durch die Beendigung meiner eigenen Arbeit frei genug zu sein, Dein Jean Paul-Buch sofort gründlich zu lesen. Du hast es gewiß nicht bereut, die letzte Aufgabe zur Ausarbeitung ins Allgäu mitgenommen zu haben. Ich erinnere mich noch gut, daß es mir einmal ähnlich ging, und daß [...] die Freiheit des Himmels die alten Gedanken so durchleuchtet [hat], daß sie neu wurden. Herzlich wünsche ich Dir alles gute Glück zur Vollendung“.65 Nachdem Kommerell die Studie fertiggestellt hat, schreibt ihm Otto am 7. September 1933: Aber es tut mir wohl zu denken, daß Du die reine Luft und das reine Licht in vollen Zügen trinken kannst, nachdem Du Dein großes Buch vollendet hast. Es muß ein eigenes Gefühl sein, die vergangenen Gedanken gesprochen und niedergelegt zu haben, und den neuen Geist im Augenblick der Berge, und des großen Himmels offen zu haben. [...] Evi sagte neulich am Telefon, Du habest Dich trotz allem noch nicht recht erholt, und sogar ein Fußübel vom Laufen davongetragen. Das thut mir sehr leid, und ich wünsche herzlich, daß die Geister des Allgäus Dir doch noch Frische und Kraft geben möchten. Nun wirst Du ja für Dein Buch nichts Anstrengendes mehr zu thun haben.66

63

DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt o. D. [Oktober 1932], Nachlaß A: Klostermann. 64 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 18.08.1933, Nachlaß Kommerell, A: 56.358. 65 DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 22.08.1933, Nachlaß Kommerell, A: 84.1602/1. 66 DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 07.09.1933, Nachlaß Kommerell, A: 84.1602/2.

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

Gut einen Monat später, in einem Brief vom 17. Oktober 1933, schildert Otto Kommerell sein Lektüreerlebnis: „Und nun Jean Paul! Ich habe ihn allerdings gleich bekommen. [...] Gelesen habe ich erst einige Seiten, nämlich den Anfang und den Schluß. Sie sind so schön und sagen etwas so Bedeutendes, daß ich mit dem ganzen Buch schon vertraut zu sein glaube. So stark spüre ich seinen Geist. Gleich mit den ersten Sätzen ist man schon über alles Literarhistorische hinausgehoben, und sieht mit Bewunderung und Schrecken wie große Gestalten des Menschseins und der Welt einander entgegenstehen. Aber ich habe kein Recht, weiter zu sprechen“.67 Otto setzt die Bedeutung der Literaturgeschichte zurück und ist einem Gestaltdenken im Sinne Georges verhaftet. Bei seiner Lektüre hebt er Intuition über Detailarbeit. Seine wissenschaftliche Kritik geht mit der Lizenz zur heroischen Lektüre einher. Im gleichen Brief beschwört er die geistigen Gemeinsamkeiten mit Kommerell: „Nur das muß ich noch sagen, daß ich deutlich erkenne: wir gehen nun beide demselben Ziele der Wesenhaftigkeit entgegen, und, so verschieden die Wege und die Bewegung sein mögen, die Notwendigkeiten und die Hochgefühle sind nahe miteinander verwandt. Das erkenne ich als ein großes Glück. Du verstehst und verzeihst, daß ich die eingehende Lektüre Deines großen Buches auf Frankfurt hinausschiebe. In der Ruhe und Sonne hier [am Lago Maggiore], in der Lebensnähe mit Palmen und Reben, mußte ich gewissen Gedanken nachgehen und Entwürfe machen, die mir in dem grauen Winter Deutschlands – und was mag der bevorstehende bringen! – nicht gelingen würden“.68 Die eine Untersuchung gerade abgeschlossen, arbeitet Otto schon an einem größeren Thema. Er will die Ansätze aus seinem Dionysos-Buch in den kommenden Monaten fortsetzen: „Was ich in dem Anfangskapitel meines Buches geschrieben habe, ist nur ein erster Schritt, und Du wirst begreifen, daß es mir keine Ruhe läßt, weiterzugehen. Und ich glaube wirklich schon etwas weiter vorgedrungen zu sein. Aber für Frankfurt verspricht mir Dein Buch viele schöne Stunden. Vielleicht freut es Dich, daß mir Reinhardt neulich in voller Begeisterung darüber schrieb. So werde ich Dir auch erst in Frankfurt recht danken können“.69 Jean Paul findet, wie Otto andeutet, auch Reinhardts Beifall. In einem Brief an Kommerell vom 12. Oktober 1933 bewundert Reinhardt die Darstellung der „Jean Paulität“: Zuerst lassen Sie mich Ihnen ein paar Eierpflaumen vorsetzen: Sie sind mit Ihrem Buch bei weitem der erste Literarhistoriker des deutschen Sprachgebiets; Sie haben ein neues Genre erzeugt, fragend, versucherisch, umspringend und an den Grenzen des Factischen wie ein Essay und dabei – welche Seitenzahl! Sie kommen mit einer

67

DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 17.10.1933, Nachlaß Kommerell, A: 84.1602/4. 68 Ebd. A: 84.1602/4. 69 Ebd. A: 84.1602/4.

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Polyphonie daher, daß man nicht weiß, ob Ihr ‚Spion‘ heimlich ein Dirigent, oder ihr Dirigent ein heimlicher Spion ist. Sie halten sich zugleich draufzu und drin und fahren heraus und herein, das die Jean-Paulität und Ihre Entität nicht stärker fester sich zugleich verhindern und schärfer sich von einander abheben könnten. Sie machen den Jean Paul zum Mittelpunkt und stellen ihn als solchen in ein Pandämonium, das einzig des Umfangs würdig ist, den Sie ihm gaben. [...] Kurz und gut: 1. Ihr Buch ist einfach herrlich. 2. Ich wünsche Sie zu sehen. 3. Ich bitte, Ihnen noch schreiben zu dürfen, wann.70

In diesem Lob ist ein Verfahren der gegenseitigen Zuschreibung von exklusiven Stellungen zu erkennen. Reinhardt erkennt die gegenüber Vertretern des Faches wie Erich Schmidt oder Julius Petersen neuartige und gewagte Darstellungsart Kommerells, die im essayistischen Charakter und im suggestiven Stil liege, der die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion einreiße. Wenn Reinhardt lobt, daß Kommerell ein neues Genre erzeugt habe, honoriert er das Hinwegsetzen über die Konventionen des Faches. Kommerell zeigt sich über Reinhardts Lob sehr erfreut und teilt am 14. Oktober 1933 dessen Frau Elly mit: „Was mir Herr Reinhardt über mein Buch schrieb, hat mich, ganz abgesehen von der Freude, wieder einmal einen Brief von ihm in Händen zu halten, gerührt und beschämt. Ich hatte auf ihn als Leser im stillen gerechnet und gehofft, denn ich habe dieses Buch für ganz wenige und sehr freie Menschen gedacht“.71 Kommerell entwirft also seine Untersuchungen im Hinblick auf bestimmte Leserkreise: Es sind Freunde, die ihre geistige Unabhängigkeit vom Normdruck der Disziplin bewahren. Sein elitärer Charakter zeigt sich darin, daß die Studie nicht für die breite Masse der Jugend bestimmt ist: „leider muß ich mir gestehn, daß es kein Buch für die Jünglinge ist, auch nicht für die Erträglichen unter denselben [...]. Es ist lieb von Herrn Reinhardt, daß er mich das gleich fühlen ließ – obschon ich, wie gesagt, beschämt bin über seinen Beifall“.72 Jean Paul findet ebenfalls Anklang bei dem Heidelberger Indologen Heinrich Zimmer (vgl. Kap. IV), der in einem undatierten Brief vom Anfang Februar 1934 Kommerell wissen läßt: „Sie haben vom ‚Jean Paul‘ noch etwas zu sehr die Form des ‚inneren Gesprächs‘, einer Art erleuchteten Ruminierens bei sich selber, die dort dem Gegenstand ideal konform und bei dem eigenständigen Gewicht des Werkes auch glücklich ist, weil der Leser diese Form lesen lernt und in ihrer Bewältigung zugleich das Jean Paul’sche Ambiente in sich saugt, –“ (BA 263).

70 71 72

DLA Marbach, Brief Karl Reinhardt an Kommerell vom 12.10.1933, Nachlaß Kommerell, A: 84.1615/2. DLA Marbach, Brief Kommerell an Elly Reinhardt vom 14.10.1933, Nachlaß Kommerell, A: 56.359. Ebd. A: 56.359.

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III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934)

Würdigung erfährt die Monographie auch außerhalb von Kommerells Freundeskreis. Der Bonner Germanist Hans Naumann urteilt 29. November 1936: „Sein Jean Paul-Buch wird einst der ganz großen Literatur angehören“.73 Der Kieler Germanist Gerhard Fricke äußert 22. Dezember 1937 darüber: Aber das Buch ist meiner Ueberzeugung nach nicht nur an sich eine ungewöhnliche, bedeutende, ja bewundernswerte Leistung, sondern es ist überhaupt das Fördernste, Wesentlichste, Eindringendste, was bisher über Jean Pauls Gesamtpersönlichkeit und -werk geschrieben worden ist. K.s Buch ist mir bei der Beschäftigung mit Jean Paul – in Zustimmung und Widerspruch – von größerem Wert gewesen als die sonstige Jean Paulliteratur zusammen, soweit sie Deutung und Interpretation zu geben beanspruchte. Es verbindet historischen Blick, intuitive Kraft und schöpferischen Geist zu einer Leistung von hohem Rang, die sich behaupten wird und die zu den nicht zahlreichen wesentlichen Ergebnissen unserer Wissenschaft im letzten Jahrzehnt gehört.74

Mit dem Vorwurf einer „stilisierenden und selbstherrlichen Künstlichkeit, die den deutenden Geschichtsgestaltungen der von George beeinflußten Richtung eigentümlich ist“, benutzt Fricke ein verbreitetes Stereotyp, um Mitglieder des George-Kreises herabzusetzen. Mit Bezug auf Gundolfs Shakespeare oder Cäsar ein verständliches Verfahren, Jean Paul ist jedoch anders gelagert und komplexer, da er nicht als dichterische ‚Führergestalt‘ inszeniert wird. Auf der anderen Seite sind Intuition und Genialität positive Attribute, die Kommerell immer wieder zugeschrieben werden (vgl. Kap. VII). Aus Jean Paul geht 1936 der Aufsatz Jean Paul in Weimar hervor,75 den Ernst Robert Curtius (vgl. Kap. VII) in einem Brief an Kommerell vom 25. Mai 1936 besonders lobt: „Es ist eine großartige und herzliche Arbeit, das Gewichtigste und Schwierigste mit sicherem und zartem Griff meisternd. Ich wüßte nicht, wer außer Ihnen das hätte schreiben können und dürfen. Beim Lesen überkam mich das Heimweh nach dieser wunderbar reichen Welt, mit der ich auch einst so eng verbunden war. Ich werde aber den Weg dahin immer wieder suchen, und Sie ermutigen mich dazu. Auch dafür habe ich Ihnen zu danken“.76 Kommerells Studie Jean Paul, die den Höhepunkt seiner quasi-poetischen Literaturgeschichte markiert, entsteht, so bleibt festzuhalten, unter dem Einfluß des Frankfurter Kreises, mit dem sie viele Gemeinsamkeiten

73 74 75 76

Zit. nach Kolk, Gruppenbildung, S. 644. Zit. nach ebd. S. 645. Vgl. Kommerell, Max: Jean Paul in Weimar, in: DW, S. 53–82 [erstmals in: Das Innere Reich 3 (1936), 1. Halbjahr, S. 47–65]. DLA Marbach, Brief Ernst Robert Curtius an Kommerell vom 25.05.1936, Nachlaß Kommerell, A: 84.1532/3.

III.3 „Trilogie der Wissenschaft“

99

aufweist. Punkte, an denen sich Kommerell abgrenzt, sind das starke Pathos und die Invisibilisierungsstrategie gegenüber der Forschung. III.3.2 Karl Reinhardt: Sophokles Die folgenden Ausführungen untersuchen Reinhardts methodisches Vorgehen, um in späteren Kapiteln auf Ähnlichkeiten zu Kommerells Herangehensweise zurückzukommen. Sophokles weist im Vergleich zu den anderen beiden Studien den strengsten wissenschaftlichen Charakter auf. Reinhardt setzt Endnoten, die allerdings nicht durchnumeriert, sondern auf jeder Seite neu gezählt werden. Das Kapitel Anmerkungen (RSO 243–288), das die Endnoten am Schluß des Buches versammelt, umfaßt 44 Seiten. Es sind nicht nur belegende, sondern auch kommentierende Endnoten. Sie führen Verfasser, Titel, Erscheinungsort, Erscheinungsjahr und Seitenzahl an und gehorchen damit formalen wissenschaftlichen Ansprüchen. Reinhardt übt im Textteil nur sehr wenig Kritik an anderen Forschern, im Endnotenteil dafür aber um so entschiedener. Nur selten finden sich Stellen des Lobes wie: „mit Umsicht [urteilt] Walter Nestle“ (RSO 283). Dagegen stehen viele kritische Äußerungen an anderen Forschern: Daß Klytaimestra ihr Muttergefühl nur heuchle, verficht, mit den meisten Interpreten übereinstimmend, Bruhn gegen Kaibel [...]. Aber gegen jene Annahme spricht, um von anderem abzusehen, bereits die Szenenführung. [...]. Wer daraus [aus Klytaimestras Gefühl der Genugtuung] nur Heuchelei vernimmt, verkennt doch wohl, daß zweierlei hier miteinander kämpft, bis eins die Oberhand behält, verkennt, daß Klytaimestras Rede schwankt und gleitet, daß sie mit dem Gegenteil dessen beginnt, womit sie aufhört, daß erst beide Schalen sich die Waage halten, bis die eine sinkt, kurz, er verkennt das Drama. (RSO 274)77

Drei Wissenschaftler stehen im Zentrum von Reinhardts Kritik. Der eine ist der Göttinger Altphilologe Max Pohlenz, dessen Interpretation „sich selber widerlegt“ (RSO 255).78 Die anderen beiden Wissenschaftler, die Reinhardt wiederholt kritisiert, sind sein Lehrer, der Freiburger Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, und dessen Sohn Tycho von Wilamowitz-Moellendorff, deren Vorgehen „seltsam“ sei und die die antike Literatur „ganz mißverstanden“ hätten (RSO 249, 287).79 Im Gegensatz zu Otto und Kommerell hebt Reinhardt stärker die Genese der Dramen hervor. Jedem überlieferten Drama ist ein Kapitel gewidmet. Am Anfang der Kapitel wird ein Versuch unternommen, die Stücke zu da-

77 Siehe auch RSO 248, 252, 259, 262, 264, 265, 267, 269, 273, 275, 278 u. 287. 78 Siehe auch RSO 251, 261, 286 u. 288. 79 Siehe auch RSO 251, 254, 260, 266, 267, 268, 272, 276, 279, 280, 281, 282, 284 u. 285.

100 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) tieren und ihre Entstehungs- und Aufführungsbedingungen nachzuzeichnen. Diese Absicht fehlt durchweg in Kommerells Darstellung. Reinhardts Stil ist durch das sprachliche Mittel der Reihung gekennzeichnet. Er baut häufig Parataxen, besonders bei Nebensätzen: „von Gestalt halb eines Stiers, halb eines Menschen, halb Verkörperung des Elements“ (RSO 48).80 Mit den Reihungen sind Parallelismen verbunden: „Gegen Aias und sein großes, aber starres Heldentum stand die Beweglichkeit, Humanität und Einsicht in Odysseus, standen in Gestalt des Menelaos und des Agamemnon Rachsucht, Dünkel, Neid, Kleinheit; gegen Selbstopfer und Jugend stand in der Antigone das Alter und die Selbstbehauptung des Tyrannen ... – gegen Oedipus steht nur noch das Untragische schlechthin“ (RSO 145). Zum Teil werden die Reihungen durch Alliterationen verstärkt: „So ist seine Aufgabe, bald Resonanz, bald Dissonanz zu sein, bald mitzuklingen, bald melodramatisch entgegenzuwirken“ (RSO 193). Er setzt das Mittel der Interpunktion am stärksten ein: Kyllenes Würde und Distanz weiß sich kaum mehr zu fassen: welche Zumutung! Dies Kind! Bei solcher Abstammung! Stiehlt Zeus? Stiehlt Maia, seine Mutter? Sind hier nicht die würdigsten Verhältnisse? Ist Hunger hier zuhaus? Aber da meldet das gestohlene Vieh sich selbst bereits! Untrüglich ist der Mist – und das Geheimnis ist nicht mehr zu halten ... (RSO 240f.) 81

Reinhardt unternimmt eine Reihe methodischer Aussagen, wie eine Literaturinterpretation vorzugehen habe: „Aber wohl muß hier, zur Abwehr eines Mißverständnisses, ein Wort gesagt werden über die Art der Interpretation, die dieser Szene in der philologischen Literatur zuteil geworden und sie in der Wissenschaft berühmt gemacht hat“ (RSO 67).82 Er fordert eine aufmerksame Betrachtung der Texte. Behauptungen dürften nur aufgestellt werden, wenn sie sich an den Worten im Text belegen lassen: „Denn was man hier, pragmatischer Erklärungsweise folgend, sich herausgedeutet hat, [...] findet in den Worten keine Stütze“ (RSO 191). Wie schon in der Vorbemerkung angedeutet, soll die spezifische Form eines Textes mit dem Mittel des Vergleichs herausgearbeitet werden: „Nur wenn sie sich der Form bemächtigt, kann die Interpretation sich vor moderner Willkür hüten, und zur Form führt einzig der Vergleich“ (RSO 33). Er vertritt die Ansicht, daß aus einem Teil der Dichtung das gesamte Stück erklärt werden könne und umgekehrt: Beim „Verhältnis zwischen ‚Teil‘ und ‚Ganzem‘“ (RSO 203) liege „im kleinen beinahe schon das ganze Drama vor“ (RSO 210). Damit geht eine Einheit von

80 Siehe auch RSO 77, 155 u. 194. 81 Siehe auch RSO 50, 54, 86, 101, 106, 120, 127, 128, 131, 147 u. 240. 82 Siehe auch RSO 45, 75, 77, 159, 206, 218 u. 249.

III.3 „Trilogie der Wissenschaft“

101

Sprache und Form einher: „Was sich in der Sprache anzeigt, ist der gleiche Wandel, der die Szenenform verändert“, „[u]nd wieder zeigt sich, wie notwendig mit der Szenenform die Sprachform übereinstimmt“ (RSO 157, 236). Aus diesen methodischen Aussagen ergibt sich eine Vorstellung von Literaturinterpretation, die eine Hinwendung zum Text und ein vergleichendes Vorgehen fordert. Im welchem Grad Kommerell eine Hinwendung zum Text vornimmt, wird im siebten Kapitel erläutert. Sophokles entsteht aus mehreren Lehrveranstaltungen, die Reinhardt seit dem Wintersemester 1931/32 zuerst alleine und dann zusammen mit Kommerell abhält. Kommerell berichtet Reinhardts Frau Elly am 25. Januar 1932: „Ich verstehe gar nicht, daß Herr Reinhardt so abschätzig über sein Sophokles-Kolleg spricht. Ich bin immer zu von dem ganzen starken Eindruck jeder Stunde, und – neben dem alt- mir wohlbekannten Reichtum an tiefen und unausweichlichen Gedanken – von der wachsenden Plastik und Sonderung dieser Gedanken“.83 Reinhardts Studie wird von Kommerell schon mit Vorfreude erwartet. Am 11. August 1933 fragt er ihn: „Aber wie geht’s denn Ihnen? Sie hatten etwas Wolkig-Brütendes in den letzten Monaten, und ich warte, welcher Blitz aus Ihnen fahren wird. Ich glaube fest an ein neues großes Buch von Ihnen, obwohl ich keine Ahnung habe von seinem Titel!“84 Im Herbst 1933 deuten sich jedoch Verzögerungen bei der Fertigstellung an, wie aus einem Brief von Kommerell an Elly Reinhardt vom 14. Oktober 1933 hervorgeht: „Noch muß ich also mich gedulden, die geistige Gegenwart des Verehrten im Sophokles zu genießen, und werde wohl eher seiner persönliche[n] Gegenwart mich erfreuen können. Es ist ja an sich gleich, ob das Buch Okt. oder Nov. fertig ist: aber darüber bin ich recht bekümmert, daß Herr Reinhardt auch noch diese Ferien dem Schreiben hat opfern müssen, und sehr wenig erholt in ein schwieriges Semester gehen wird“.85 Probleme bereiten Reinhardt offenbar Sophokles’ Dramenfragmente, wie er Kommerell am 17. Oktober 1933 mitteilt: „Bis heute war ein Tag schöner als der andere – aber mein Buch ist noch nicht fertig! Fehlt der Schluß. Und ich werde mit Schrecken gewahr, daß ich über die ‚Fragmente‘ etwas sagen müßte, wozu ich nicht ohne gelehrte Literatur im Stande sein würde. Vielleicht muß ich auf kurze Zeit nach

83

DLA Marbach, Brief Kommerell an Elly Reinhardt vom 25.01.1932, Nachlaß Kommerell, A: 84.1503/1. 84 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 11.08.1931, Nachlaß A: Klostermann. 85 DLA Marbach, Brief Kommerell an Elly Reinhardt vom 14.10.1933, Nachlaß Kommerell, A: 56.359.

102 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) Frankfurt zurück, und müßte sich unser Zusammentreffen in Stuttgart bis danach verschieben“.86 Nach Vollendung des letzten Kapitels über die Fragmente erscheint die Studie schließlich Ende 1933. Sie ist formal durch starke Kritik in den Anmerkungen gekennzeichnet. Methodisch ist Reinhardts Stil durch eine vergleichende Betrachtungsweise geprägt. Sprachlich dominieren Figuren der Reihung und des Parallelismus. III.3.3 Walter F. Otto: Dionysos Walter F. Ottos Dionysos87 zeichnet sich gegenüber Kommerell und Reinhardt durch verschiedene Besonderheiten aus. Otto tritt als dezidierter Antiphilologe auf, um das ‚Leben‘ von Dionysos ‚einzulösen‘. Bei der Betrachtung der formalen Ebene fällt in erster Linie auf, daß er keine Fußnoten setzt und am Ende der Darstellung kein Literaturverzeichnis anfügt. Allerdings gibt es ein einseitiges „Register“ (OTD 196), das thematisch aufgebaut ist und eine Mischung aus Personen- und Sachregister bietet. Statt in Fuß- oder Endnoten bringt Otto die Belege direkt im Text und setzt sie in Klammern, sowohl bei den Quellen als auch bei der Sekundärliteratur. Die Quellen werden, der gängigen Konvention entsprechend, zumeist mit Autor und Seitenzahl zitiert: „(vgl. Pind. fr. 85. Herod. 2, 146, Eur. Bacch. 94 ff. Apollod. 3, 27 u. a.)“ (OTD 68).88 Sekundärliteratur wird in der Regel angegeben mit Verfassername, Titel der Monographie oder Zeitschrift, eventuell mit Band und fast immer mit Seitenzahl: „([...] vgl. Wilamowitz, Glaube der Hell. I 412)“, „(vgl. L. Malten. Arch. f. Religionswiss. 12, 285 ff)“ (OTD 169, 59). Ausgabe, Erscheinungsjahr und Auflage sind für Otto uninteressant. Insgesamt zeigt sich, daß er zwar die Literatur angibt, aber einen Leser voraussetzt, der die Fachlektüre kennt. Otto verwendet seltener und weniger treffende Metaphern als Kommerell (vgl. OTD 132). Eine Besonderheit an Ottos Studie, die nicht so durchkomponiert wie Reinhardts ist und nicht deren Abstraktionsniveau erreicht, ist die Schärfe der Kritik an anderen Forschern. Ottos Äußerungen reichen von seltenem Lob – vor allem den Heidelberger Altphilologen für Erwin

86 DLA Marbach, Brief Karl Reinhardt an Kommerell vom 17.10.1933, Nachlaß Kommerell, A: 84.1615/2. 87 Dazu siehe auch Cancik, Hubert: Dionysos 1933, in: ders.: Antik – Modern, S. 165–186 und Leege, Oliver: Dionysos in der modernen Religionsgeschichte, in: Dionysos. Verwandlung und Ekstase, hrsg. v. Renate Schlesier u. Agnes Schwarzmaier, Regensburg 2008, S. 132–141. 88 Die Texte können auch anstelle des Autors gesetzt werden, wie bei Homer. Dann werden die Kapitel samt Seitenzahlen angegeben: „(Odyss. 9, 196 ff) [...] (Ilias 14, 325)“ (OTD 54).

III.3 „Trilogie der Wissenschaft“

103

Rohde – über häufige Ablehnung bis hin zur Herabsetzung der Kollegen.89 Eine Form der Forschungskritik sind Ottos Berichtigungen (vgl. OTD 129). Insgesamt dominieren Bemerkungen, in denen sich Otto ablehnend gegenüber der geleisteten Forschung äußert: „Diese Vorstellung läßt sich durch keine Umdeutungskünste beiseiteschieben, so unbequem sie der bisherigen Forschung gewesen sein mag. Sie hat gerade das Wichtigste übersehen, den zentralen Gedanken, von dem die Untersuchung von Rechts wegen ausgehen muß“ (OTD 126).90 Ottos Kommentare gehen mitunter in eine polemische Richtung: „Beide Auffassungen führen, wenn man sie zu Ende zu denken versucht, mit Notwendigkeit ins Absurde“ (OTD 20).91 An einer Stelle behauptet er, daß die Wissenschaft insgesamt den Sinn ihres Gegenstands nicht verstanden habe: „Aber die wissenschaftliche Forschung steht ihr immer noch mit völliger Ratlosigkeit gegenüber. So oft sie es auch versucht hat, das Mannigfaltige auf ein Einfaches zurückzuführen, immer ist ihr der Sinn des Ganzen entglitten“ (OTD 49).92 Wilamowitz-Moellendorff steht im Zentrum nicht nur der Kritik Reinhardts sondern auch Ottos: „Diese Überlegungen richten sich nur darum gegen das Werk des verehrungswürdigen Gelehrten, weil er der unbestreitbare Meister der bisherigen Forschung ist, und darum auch die Ungeklärtheit ihrer Grundbegriffe bei ihm am offensten zutage tritt. Denn der Irrtum jener Anderen, deren Anschauungen er so heftig bekämpft, ist genau derselbe“ (OTD 14).93 Aus der Forschungskritik wird Ottos eigene Methode deutlich. Den Hypothesen und Mutmaßungen anderer Wissenschaftler stellt er die Aussagen der Quellen, die seiner Meinung nach unumstößlich sind, entgegen: „Man muß erstaunen, wie leichtfertig diese unzweideutigen Zeugnisse bisher beiseitegeschoben worden sind“ (OTD 118).94 Ottos dogmatische Berufung auf die Quellen führt allerdings teilweise zu sehr simplen Aussagen: „Aristoteles wußte, was er sagte [...]“, „Hören wir aber auf Goethe [...]“ (OTD 79, 28).

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Zu lobenden Äußerungen siehe OTD 20, 66, 108, 109, 112, 114, 119, 131, 145, 177f. u. 180. 90 Dazu siehe: „Leider hat die Wissenschaft versäumt, dieses Phänomen in seiner Bedeutung zu würdigen“ (OTD 27), „Die Vermutungen, die man in neuerer Zeit darüber geäußert hat […], sind ganz unbefriedigend“ (OTD 93), und: „die Gelehrten, die sich über sie stritten, haben dabei das Ganze und Große aus dem Auge verloren“ (OTD 39). Siehe auch OTD 13, 20, 41, 49, 50, 56, 69, 71, 73, 84, 85, 99, 104, 113, 115, 116, 118, 135, 172, 184, 186 u. 192. 91 Siehe auch OTD 20, 23, 39, 44, 50, 67, 83, 116, 121, 123, 129 u. 192. 92 Siehe auch OTD 15, 41, 122, 124, 128 u. 191. 93 Siehe auch OTD 134, 153, 171 u. 181. 94 Siehe auch OTD 26, 45, 54, 59, 69, 100, 108f., 117, 147, 175, 181, u. 185f.

104 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) Eine weitere Besonderheit bei Otto sind die häufigen Vor- und Rückblenden in seiner Darstellung. Der Leser wird so häufig an etwas bereits Erwähntes erinnert oder auf noch Folgendes vorbereitet, daß dadurch die Lektüre ermüdend wird. Das wirft die Frage auf, warum Otto diese zahlreichen Verweise unternimmt: „[...] ist in einem früheren Abschnitt angedeutet worden und wird später ausführlicher dargelegt werden. Dann wird auch von selbst klar werden, was es bedeutet, wenn [...]“ (OTD 123).95 Zum Teil wird er wohl Spannung erzeugen, zum Teil etwas bereits Gesagtes nicht wiederholen wollen. Darüber hinaus entsteht aber auch der Charakter einer Konstruiertheit, des künstlichen Aufbaus von Geheimnissen, die dann später enthüllt werden sollen. Da dies allerdings zum Selbstzweck wird, zeigt sich der selbstreferentielle Charakter von Ottos Studie. Zu Dionysos sind einige Kommentare und Bewertungen aus dem Frankfurter Kreis überliefert. Die Studie wird im Sommer 1933 abgeschlossen, wie aus einem Brief von Otto an Kommerell vom 22. August 1933 hervorgeht: „Nachdem das Semester glücklich zu Ende gegangen war, wollte ein Student nach dem anderen von mir empfangen, beraten, belehrt, getröstet usw. werden, sodaß buchstäblich kein Tag ohne ausgedehnten Besuch hinging. Dazwischen die Doktorarbeit von meinem Schüler Halberstadt – und mein eigenes Buch [Dionysos]. Dieses ist nun zum größeren Teil heute Morgen zu Klostermann gewandert, und der Schluß wird in dieser Woche nachfolgen. Was wird der wohl zu dem Ganzen sagen?“96 Zwei Wochen später sitzt er bereits an der Überarbeitung und läßt Kommerell am 7. September 1933 wissen: Meine Tage gehen mit Korrekturenlesen hin, und das ist kein heiteres Geschäft. Ich glaube, so wird es einem zu Mute sein, wenn, wie es im ‚Dies irae‘ heißt: liber scriptor proferetur, in quo totum continetur. Und wo keine Nachbarin mehr da ist, die man um ihr Fläschchen bitten kann. Und dabei fragt man sich beständig: für wen dies alles? Giebt es noch ein Publikum? Die Welt ist so unerhört primitiv geworden. Man hat die Parole gefunden: einen Faust ohne Mephisto – das ist des Rätsels Lösung. Und jeder verheißt, ungeheuer artig zu sein, damit der schwarze Mann nie wieder kommt. Freilich war es früher auch ungeheuer primitiv – und ich nehme die ‚Complizierten‘ am wenigsten aus. Es war aber doch etwas in der Luft wie das Glück einer Illusion. Nun kann man sich keine mehr machen über die Geistigkeit der Bücherleser und Büchermacher – und das ist gut.97

95 Siehe auch OTD 38, 62, 77, 108, 132, 135, 148, 151, 161, 163, 167, 174, 182 u. 187. 96 DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 22.08.1933, Nachlaß Kommerell, A: 84.1602/1. 97 DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 07.09.1933, Nachlaß Kommerell, A: 84.1602/2.

III.3 „Trilogie der Wissenschaft“

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In diesem Brief spielt Otto auf Gretchens Nachbarin Marte Schwertlein aus Goethes Faust I an. Kommerell berichtet am 14. Oktober 1933 Elly Reinhardt von seinem Lektüreerlebnis: „Den Dionysos las ich sofort durch. Es ist das Lob eines Gottes – fromm, durchaus fromm, wenn man das verbotene Wort in einem würdigen und reinen Sinn neu verwenden dürfte“.98 Er drückt ebenfalls gegenüber Vittorio Klostermann am 12. September 1933 seine Wertschätzung aus: „Wie schön, daß mein Schwiegervater fertig ist. Ich glaube, sein Buch ist, nach Thema wie Behandlung, das größte Wagnis. Wir anderen schreiben wenigstens bloß über Menschen, wenn auch über Große“.99 Ottos Dionysos zeichnet sich also durch genaue wissenschaftliche Zitierweisen, durch entschiedene, mitunter polemische Forschungskritik und durch selbstreferentielle Vor- und Rückblenden aus. Damit sind Merkmale herausgearbeitet, die später auch für Kommerell relevant werden. III.3.4 Vergleich der Metaphernfelder in Jean Paul und Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik Kommerell benutzt vorwiegend das sprachliche Mittel der Metapher. Seine Sprache ist besonders reich an Metaphern, die sich um zwei Bereiche drehen: zum einen um den Bereich der Gewalt, zum anderen um den Bereich der Natur. In der Klassik-Studie hatte Kommerell verstärkt Metaphern aus dem Gebiet des militärischen Sprachgebrauchs eingesetzt. In diesem Unterkapitel wird untersucht, inwiefern er in Jean Paul eine Umwertung des Metapherngebrauchs vornimmt. Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin (DF)100 erscheint 1928 in der Georgeschen Reihe Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst bei Bondi in Berlin. In der Studie, die Züge einer geistesgeschichtlich geprägten Literaturwissenschaft trägt,101 baut Kommerell zwischen den genannten Dichtern Freund- und Feindschaftskonstellationen auf.102 98 DLA Marbach, Brief Kommerell an Elly Reinhardt vom 14.10.1933, Nachlaß Kommerell, A: 56.359. 99 DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 12.09.1933, Nachlaß A: Klostermann. 100 Vgl. Kommerell, Max: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin [1928], 3. Aufl. mit einem Geleitwort v. Eckhard Heftrich, Frankfurt/M 1982. Fortan zitiert als Sigle DF. 101 Zum Programm der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft siehe u. a. Kolk, Rainer: „Repräsentative Theorie“. Institutionengeschichtliche Beobachtungen zur Geistesgeschichte, in: Boden/Dainat, Selbstbesichtigungen, S. 81–102. 102 Vgl. den instruktiven Beitrag von Weimar, Klaus: Sozialverhalten in literaturwissenschaftlichen Texten. Max Kommerells Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik als Beispiel, in: Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik,

106 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) In der Klassik-Studie dominieren Metaphern aus dem militärischen Bereich. Die Begriffe ‚Kampf‘, ‚Volk‘, ‚Kraft‘, ‚Gestalt‘ und ‚Held‘ nehmen zentrale Positionen ein, wie schon aus der „Vorbemerkung“ deutlich wird: „Wenn der Verfasser sein Buch ‚Der Dichter als Führer‘ nennt, so ist er gewillt, die Dichter darin auftreten zu lassen als Vorbilder einer Gemeinschaft als wirkende Personen. Hat einerseits die Suche nach Lebensumständen dazu verleitet, die Dichtung selbst hintanzusetzen, so läuft man wiederum Gefahr, im Dichter nichts als den bloßen Poeten zu sehn. Freilich bleibt nach wie vor das erste das Werk ... doch gerade bei der Klassik wurde über Schrifttum und Schrifttumsfehden der ungeheure deutsche Kräftestrom in jener Zeit übersehn. Dem Verfasser liegt es fern, die Anzahl erschöpfender Werke, wie sie besonders über Goethe und Schiller vorliegen, durch sein Werk überflüssig machen zu wollen ... er hofft aber, vieles, selbst das hinlänglich Durchforschte, in neuer Beleuchtung zu zeigen und so auch der Literargeschichte zu dienen“ (DF 7). Aus diesen Zeilen läßt sich Kommerells Bild vom Dichter rekonstruieren. Er hebt ihn über den einfachen Dichter hinaus und akzentuiert seine Vorbildfunktion. In seinem Rollenverständnis ist der Dichter also auf die Gesellschaft bezogen. Die Notwendigkeit, der bisherigen Forschung eine neue Perspektive zu geben, entspringt aus seinem Konzept einer kritischen Distanzierungen von eingeführten Konzepten und Verfahren der textinterpretierenden Disziplinen. Die eigenwillige Zusammenstellung verschiedener Autoren unter dem Begriff ‚Klassik‘ erklärt er folgendermaßen: Auch Jean Paul und Hölderlin sind hier unter den Dichtern der Klassik einbegriffen. Einmal gehören sie demselben Zeitraum an ... dann sind sie mitbedingt durch das Erlebnis Weimars, so sehr sie selbst wieder eine neue Geistesbewegung einleiten, und auch sie sind – in andrem Sinn als Goethe und Schiller doch mit ähnlicher Wucht – sinnbildliche, stellvertretende Figuren. (DF 7)

Mit der Forderung, daß der Jugend die „Augen geöffnet“ werden sollen (DF 7), wird eine Absicht deutlich, die Kommerell seit seiner Zeit in der Jugendbewegung verfolgt: Er will der Jugend Orientierung geben. Unter den militärischen Sprachgebrauch fallen in diesem Beispiel die Begriffe ‚Kampf‘, ‚Gewalt‘ und ‚Kraft‘. Es gibt eine Vielzahl von Metaphern um das Wortfeld ‚Kampf‘: „Nie wäre Herder die Gestalt der Zeit so früh erschienen ohne den Deuter Hamann. Der Magus vom Norden verdankt den Rang im Jahrhundert, ähnlich wie der Magus der Jünglinge, Rousseau, seinem Kampf gegen die Überbildung ... beide waren durch den Einschlag des Barbarischen in

Theorie und Empirie, hrsg. v. Lutz Danneberg u. Jürg Niederhauser, Tübingen 1998, S. 493–508. Siehe auch Metzger, Erika Alma: Max Kommerell. Klopstock and Leadership in German Classicism, in: dies.: Klopstock and the Stefan George Kreis, Ithaca/New York State 1961, S. 72–91.

III.3 „Trilogie der Wissenschaft“

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Blut und Geist diesen Kampf zu führen befähigt, nur Hamann – gemäß dem Unterschied beider Völker – mit viel tiefern Einsichten und in seinen Trieben minder morsch als Rousseau, in dessen Natursucht soviel Spätes Müdes war“ (DF 45).103 Wenn Kommerell Rousseaus und Hamanns Versuche der Entdifferenzierung als Kampf darstellt, nimmt er eine Stilisierung von Erziehungskonzepten vor. Im Kontext des Wortfeldes ‚Kampf‘ stehen die Begriffe ‚Gewalt‘ und ‚Kraft‘: „In welcher Weise Goethe für Jean Paul ein Schicksal war, macht uns das Gegenspiel des Fremden und des Jünglings faßbar. Den Durchgang seiner vollsten Kräfte durch die höchste formende Gewalt stellt Jean Paul als Legende dar im Werden Albanos“ (DF 373).104 Gewalt wird positiv konnotiert, da sie auf strömende Kräfte formend wirken könne. Die Mittel, mit denen der Kampf ausgetragen wird, werden in einen archaischen und märchenhaften Bereich gehoben: „Herder aber, der sich gegen Kant ein Riese der Vorwelt dünkte, wollte mit einem Schlag seiner Keule all dies Truggebäu[sic] zertrümmern ..“ (DF 335). Schließlich spricht Kommerell sogar von einem „heiligen Krieg“: „Nachdem Goethe längst für sein höchstes Gut auf dem Kampfplatz getreten war und Schiller schon mit all seinen kriegerischen Kräften zur Seite stand, wurde so auch für ihn der Krieg ein heiliger Krieg, da ihn die Ehre gebot“ (DF 272). Der poetische Bereich wird damit heilsgeschichtlich überhöht. Bezeichnenderweise entstammt das letzte Wort der ganzen Studie der militärischen Sprache: Nach so langer Wanderung überschauen wir dies deutsche Werden als Einheit und durch die Ferne von fünf Vierteljahrhunderten treten die feindlich sich begegnenden oder fliehenden Sterne zusammen zum Sternbild. [...] Dann wird, was sich einst schied oder befocht, eins und wirkt einhellig, und dem Volk, das nicht minder den kaum glaublichen Umfang seines Erbes zu kennen wagt wie die Schwere seiner fernern Bestimmung, werden seine namengebenden Dichter die Gnaden der zweiten Hochzeit fassen helfen: das Heute meisterlicher Herrschaft, den zeitlos unerschöpflichen Traum der fortwebt mitten im Ärgsten: dem Unsicherwerden des volkhaften Lebenstriebs, und ein innig ernstes Morgen, wo die Jugend die Geburt des neuen Vaterlandes fühlt in glühender Einung und im Klirren der vordem allzu tief vergrabenen Waffen. (DF 482f.)

In Jean Paul benutzt Kommerell ebenfalls Metaphern aus dem militärischen Sprachgebrauch. Hinzu kommen jedoch noch eine Vielzahl von Metaphern aus dem Bereich der Natur und des Fließens: „Die Liebe verhält sich zum Tod wie die Möglichkeit des Hinüberfließens zum wirklichen Hinüberfließen. Wenn aber zwei Seelen in sich überfließen, fließen sie Gott in die Hand“ (JP 307). Den Gefühlen wird unterstellt, daß sie fließen könnten: „Wie gefährdet 103 Siehe auch DF 209, 267, 329, 376, 422 u. 439. 104 Siehe auch DF 94, 119, 224, 299 u. 451.

108 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) war aber diese Unumschränktheit in einem Geschöpf, das bildlich gesprochen ohne Tastsinn und ohne Augen geboren schien, die Wahrnehmungen von außen nur als Ufer rastlos fließender Eingebungen benutzen konnte“ (JP 17). Übergänge vom flüssigen zum festen Aggregatzustand und umgekehrt sind möglich: „Humor heißt Feuchte und gleicht dem Feuchten in den Höhlungen und Poren des Gesteins: beweglich, frisch rinnend, eine wohlwollende Lebensseele. Sobald dies Feuchte aber friert und Eis wird, zerreißt es den festen Bau des Gesteins, und das Geborstene steht als furchtbar bezeichneter Zeuge für die Wucht des zarten geistigen Elements“ (JP 335). Durch die Betonung des Fließens löst Kommerell die Statik, die in der Klassik-Studie geherrscht hatte, auf. Mit dem Bereich des Fließens ist der des Wachsens verbunden: „Der Mai bringt nicht etwa bloß die Seele überhaupt zum Grünen, sondern streckt sich mit üppig treibenden Säften durch die aufknospende und spaltet an ihr alle Knospen“ (JP 63f.). Aus dem Wachsen ergibt sich wiederum ein Werden: „Aber neu ist es, solchen Momenten als Einschnitten des Wachstums ihre Heiligkeit zurückzugeben und es uns anzutun, daß wir hören, wie in ihnen das Werden Atem holt“ (JP 98). Zum Gebiet der leichten Bewegung gehört außerdem der Bereich des Rauschens im Wind: „Leben: das heißt der Rausch des klein- und großweltlichen Daseins und der Rausch der für kleinere Gefühle als dieses gebauten Seele“ (JP 82). So kann sich in Pflanzen menschlicher Wille ausdrücken: „Die Natur ist umgeschaffen, und wie sie, einem Schilfrohr gleich, das statt im Wind hinundherzuzucken von menschlichem Atem durcheilt wird, menschliche Gefühle aussagt“ (JP 125). Der Wind hat allerdings auch die Kraft, leichte Konstruktionen zu zerstören: „Aber, Jean Paul ist Beispiel, es entsteht eine Art Mensch, [...] die der schwerste Verlust sofort an die Verhängnisse des Menschseins erinnert, so wie die Spinne an dem Reißen eines Fadens durch den Wind sogleich die geheime Geometrie des Ganzen schmerzlich empfinden muß“ (JP 77f.). Mit dem Wind wird die Freiheit der Vögel verbunden: „Und merkwürdig: in diesem gefügtesten Werk Jean Pauls [im Titan], in den Mauerkronen dieses Bauwerkes wohnen wie Vögel seine freien Gedichte am gedrängtesten und liebsten!“ (JP 138). Kommerell verbindet Natur mit produktiven Eigenschaften wie Wachsen, Rauschen und Freiheit. Im Dichter als Führer in der deutschen Klassik dominiert also ein Metaphernfeld um den Begriff ‚Gewalt‘, in Jean Paul eines um den Begriff ‚Natur‘. Indem Kommerell in der zweiten Untersuchung Metaphern, die etwas Fließendes darstellen, häuft, erweitert er sein Spektrum und grenzt sich von der Klassik-Studie ab. Über den direkten Metaphernvergleich hinaus ist an dieser Stelle auf eine gattungsmäßige Besonderheit der beiden Studien einzugehen. Kommerell denkt sich fiktive Dialoge der Romanfiguren aus und integriert sie in seine wissenschaftlichen Texte. Darin tritt sein Wissenschaftsverständnis besonders

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deutlich hervor. Es zeigt sich eine grundsätzliche Ablehnung philologischhistorischer Textumgangsformen, die Kommerell durch Überschreitung der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst vollzieht. Diese Verbindung von Literatur und Wissenschaft entspringt seiner Doppelbegabung und veranschaulicht sein Wissenschaftskonzept. In den fiktiven Dialogen vollzieht er eine poetische Umsetzung seines Konzepts der Wissenschaftskunst (vgl. Kap. VII). In ihnen wird die Grenze zwischen Dichtung und Wissenschaft aufgehoben. Damit können sie als ein konkretes Beispiel für Kommerells Wissenschaftskunst angesehen werden. Aufgrund des hohen Seltenheitswerts sollen die beiden Dialoge hier zitiert werden. In der Klassik-Studie stellt Kommerell im Unterkapitel Gespräch Albanos mit Wilhelm Meister ein fiktives Zusammentreffen zwischen beiden dar: Wilhelm: Woher kommst du junger Mann? Albano: Du irrst. Ich bin ein Jüngling. Wilhelm: So hör ich denn sogleich den gewohnten Ausdruck mit der gewohnten Irrung. Mein Gruß der dich befremdete war ein Zeichen der Achtung. Du Werdender gibst Hoffnung einst zu sein: der Wirkende der Mann. Ihr aber seid stolz auf eure Unfertigkeit. Ihr nennt Jugend das Recht sich zu betäuben gegen Ratschlag und Beispiel. Jünglinge seid ihr: das heißt ihr beginnt von vorn wo der einzige Weg schon gebahnt ist .. Jünglinge sie ihr: das heißt ihr flieht das Gesetz .. Jünglinge nennt ihr euch und bleibt ewig Kinder. [...] Wilhelm: Du warst in Rom? Nun weiß ich: du bist unheilbar. All dein Rom ist als hättest du’s in Blumenbühl erdacht! Du aber wähnest dich noch gerühmt, wenn ich dir vorwerfe: du kamst von Rom als der du auszogst – deutscher Jüngling! [...] Wilhelm: Ich ging an meine Grenzmark nicht um dich zu hören sondern um dich zu retten. Wo ich nicht Helfer bin, ist mir verbotene Nähe. Nie kreuze sich mehr unser Weg .. alles was ich niederringe, was die Brüder wirrt und blendet, ersteht in dir verführend neu. Ich heiße dich Feind: meide mich wie ich dich meide. Albano: Deinen Fluch erwidre ich mit Segen und nehme Freundesabschied. Ich hege in mein Reich Provinzen wo deine Hand unwissend gewaltet hat und wo dein Geist aus strengen Bauten und rauschendem Geblätter weht. Dein Reich aber hat nirgend Teil an meinem und deine ergiebigsten Zonen bringen nichts hervor wie mein tropisches Blütendickicht, meine schwül atmenden Zitronenwälder und die süßesten: meine vollen Dolden der Heimat. Wilhelm: Wohin gehst du deutscher Jüngling? (DF 391–394)

In der Jean Paul-Untersuchung formuliert Kommerell eine Stelle aus dem Titan-Roman um und gestaltet sie als Drama. Damit stellt er einen Bezug zur Klassik-Studie her und bricht auch in Jean Paul die streng wissenschaftlichen Grenzen auf: Der Auftritt ist ein Beispiel, wie die innere Form sich gegen den Roman als äußere Form durchsetzt. Man kann ihn, ohne daß er undeutlich wird, in eine DramaSzene umschreiben: [...] Julienne (aufschreiend): Allmächtiger Gott, des verfluchten Selbstmörders Spiel hat Wahrheit?

110 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) Linda: Er spielte, was geschah. Wir brechen ab. Ich reise. Ich verlange nichts als meinen Vater. Gaspard (erstarrend und aus seiner Erstarrung wieder erwachend): Teufel und Gott! Der Vater ist da! – Der wird alles so nehmen – wie es ist – weiß Er’s? Linda: Wer? Gaspard: Und was beschloß Er? – Himmel! Albano nämlich. Linda: Ich weiß nicht. Ich gehöre allein dem Toten an, der zweimal für mich gestorben ist. Sagt das meinem Vater. O ich wär‘ ihm längst nachgefolgt, dem Ungeheuren, ins tiefe Reich .. ich stände nicht hier vor dem kalten Tadel oder der christlichen Verwunderung, da es noch Dolche gegen das Leben gibt! – Aber ich bin Mutter und darum leb‘ ich! (JP 263f.)

Kommerells Verbindung von Wissenschaft und Dichtung wird in den Rezensionen zu Jean Paul – mit 15 Rezensionen die am häufigsten besprochene Studie Kommerells – überwiegend kritisch bewertet.105 Den Metaphernreichtum beanstandet 1934 im Euphorion Benno von Wiese, der „bei so viel Metaphern [nur] vergeblich versuchen [kann], nebenbei auch noch etwas zu denken“.106 Während Wernher Siebert 1934 in der Geistigen Arbeit betont, daß Kommerell Analysen vorlege, „über die ein eigener Aufsatz sich verlohnte“,107 geht Werner Milch 1935 in der Literatur noch einen Schritt weiter: „Das Buch verlangte also einen zweiten, ebenso starken Anmerkungsband, der für eine jede der geistreichen Bemerkungen den Beweis erbrächte“.108 Anhand der

105 Fritz Cronheim vermißt 1934 in der Hilfe trotz der „unerschöpflich strömenden Quelle schöner Befunde über Geist, Seel und Schicksale des Schaffenden und seiner Geschöpfe“ eine „durchsichtigere[] Gliederung und plastische Ordnung“ (Cronheim, Fritz: Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Die Hilfe. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und geistige Bewegung 40 (1934), H. 6, S. 144). L. W. findet 1934 in der Deutschen Zukunft, daß die Studie „die gleichen Ansprüche wie das Lesen eines Romans“ stelle (W., L.: Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Deutsche Zukunft. Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft und Kultur 2 (1934), Nr. 18, S. 18). Edward V. Brewer bemerkt 1937 in der Germanic Review „a highly subjective form of literary composition“ (Brewer, Edward V.: Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: The Germanic Review 12 (1937), S. 286–287, hier: S. 287). Mit einem ähnlichen Tenor kritisiert Geneviève Bianquis 1936 in der Revue germanique: „ni une référence, ni une note; ni plan biographique ou logique; une double série d’essais très littéraires et souvent subtils“ (Bianquis, Geneviève: Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Revue germanique 27 (1936), H. 2, S. 188–189, hier: S. 188). Emma Sola bewundert 1934 in der Cultura „un elaboratissimo libro die più di 400 grandi pagine, riferendo, chiarendo, illuminando, con un che di dottrina da iniziato, accanto alla chiarezza del critico“ (Sola, Emma: Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: La Cultura 13 (1934), H. 10, S. 152–153, hier: S. 152). 106 Wiese, Benno von: Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Dichtung und Volkstum N. F. des Euphorion 35 (1934), S. 281–282, hier: S. 282. 107 Siebert, Wernher: Jean Paul heute – wir heute. Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Geistige Arbeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt 1 (1934), H. 24, S. 8. 108 Milch, Werner: Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde 37 (1935), H. 6, S. 318–319, hier: S. 319.

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Erklärungsbedürftigkeit läßt sich die Komplexität von Kommerells Wissenschaftskunst ablesen. Die Zusammenführung von Kunst und Wissenschaft wird explizit 1935 von Fritz Martini in der Deutschen Literaturzeitung kommentiert: Kommerell „überschreitet die Grenzen wissenschaftlicher Betrachtung, ohne sie zu verneinen“.109 Eine Anknüpfung an Kommerells Konzept der Wissenschaftskunst versucht Oskar Loerke in seinem Artikel „Einladung zu Jean Paul. Mit einem Dank an Max Kommerell“, der 1934 in der Neuen Rundschau erscheint.110 Er verzichtet in dem 14 Seiten langen Artikel darauf, den Inhalt von Kommerells Studie wiederzugeben. Statt dessen beschreibt Loerke Jean Pauls Dichtung in einer bildhaften Sprache und versucht damit Kommerells Wissenschaftskunst nachzueifern: Jean Paul „nimmt von ihm [dem Leben] nur an, was nicht mit dem Du verbindet, – das ruheschaffende Geld, die Stille, nur jenen Rausch, der das Ich herrlicher und erhabener krönt, also den Wein, die Liebe lieber als die Geliebte, die hohen Freunde zur Zwiesprache mit sich selber in ‚Zweieinigkeit‘“.111 Kommerells Darstellungsart ist so provokant, daß sie eine Kontroverse zwischen Anton Zeheter und Bernt von Heiseler auslöst. Zeheters erster Rezensionsentwurf ist so „schroff ablehnend“, daß die Herausgeber der Jean Paul-Blätter ihn nicht abdrucken.112 Heiseler hingegen würdigt Kommerells Jean Paul 1934 in den Süddeutschen Monatsheften: „Hier sind nun die Geisterräume seines [Jean Pauls] Wesens in ihrer Tiefe und Weite sorgsamehrfürchtig durchschritten. Es ist Kommerells große Eigenschaft, daß er sich nie in der Einzelbetrachtung der Werke verliert, sondern von überall her das Ganze der geistigen Gestalt im Auge behält“.113 Anstelle von Zeheters erstem Rezensionsentwurf druckt die Gesellschaft 1934 in den Jean Paul-Blättern schließlich einen Briefwechsel zwischen Zeheter und Heiseler ab, in dem Zeheter Heiselers Rezension angreift und Heiseler sich dagegen verteidigt. In seinem Brief an Heiseler vom 17. April 1934 kritisiert Zeheter Kommerells „geschraubte Sprache“ und stellt heraus, daß er „das Buch von A bis Z“ ablehne, denn „die Form verdeckt eine Leere“: „Auf jeder Seite finde ich

109 Martini, Fritz: Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Deutsche Literaturzeitung. Wochenschrift für Kritik der internationalen Wissenschaft, 3. Folge, 6 (1935), H. 36, Sp. 1560– 1563, hier: Sp. 1561. 110 Loerke, Oskar: Einladung zu Jean Paul. Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: NR 45 (1934), H. 5, S. 513–527. 111 Ebd. S. 522. 112 Heiseler, Bernt von/ Zeheter, Anton: Briefwechsel. Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Jean-Paul-Blätter 9 (1934), H. 2, S. 52–58, hier: S. 52. 113 Heiseler, Bernt von: Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Süddeutsche Monatshefte 81 (1934), H. 4, S. 255.

112 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) solche leeren Sätze in Masse“.114 Heiseler entgegnet am 22. April 1934: „Ich bin überzeugt, und spüre es auf jeder Seite dieses großen Buches – trotz der störenden Stelzen, auf denen seine Sprache seltsam genug einhergeht –, daß sein Verhältnis zu Jean Paul echt ist, daß er mit ernster Leidenschaft ihm nahzukommen sucht, und ich empfinde es als einen Ruhm seines Buches, daß das alles mit Ehrfurcht, mit dem Gefühl für Distanz und unbetastbare Größe und zugleich mit einer eindringenden Sorgfalt geschieht“.115 Eine Verbindung zwischen Jean Paul und Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik stellt Hajo Jappe her, der 1935 im Literaturblatt behauptet, daß „niemand dieser Einfassung und Auffassung J. P.s den Vorwurf einer Stilisierung machen [könne], der – zu einseitig – gegen sein [Kommerells] früheres Bild des Dichters als Führer erhoben wurde“.116 Die Klassik-Studie wurde in mehreren Rezensionen besprochen.117 Die meisten Rezensenten gehen auf das Verhältnis von Dichtung und Wissenschaft bei Kommerell ein. Karl Muth schätzt 1929 im Hochland die „schriftstellerische[n] Qualitäten“ des „mehr auf willensmäßige Impulse als auf lehrmäßige Darstellung und literargeschichtliche Erkenntnis abzielende[n] Buch[es]“.118 Wilhelm Poethen reflektiert 1931 in der Monatsschrift für höhere Schulen die Vermischung von Wissenschaft und Kunst und konstatiert, daß man diese Art der wissenschaftlichen Forschung „abgelehnt [habe], weil ihre Methode nicht erkennbar, weil

114 Ebd. S. 53f. 115 Ebd. S. 57. Siehe auch die Zeitungsartikel von Pfeiffer, Arthur: Das Phänomen Jean Paul. Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Berliner Tageblatt, Nr. 212 vom 06.05.1934 und ders.: Jean Paul und sein Werk. Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Völkischer Beobachter, Nr. 62/63 vom 03./04.03.1935. 116 Jappe, Hajo: Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 56 (1935), H. 1/2, Sp. 101–104, hier: Sp. 102. 117 Oskar Jancke bemerkt 1929 in der Tat, daß Kommerells Studie „gelegentlich Anstellungen [mache], einen Schuljargon zu repräsentieren, indem es geschraubt und gespreizt sich gibt“ (Jancke, Oskar: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Die Tat. Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit 21 (1929), H. 5, S. 388). Bernt von Heiseler stellt 1930 im Eckhart fest: „Aber es ist tröstlich zu wissen, daß die gewandten Horcher und Lerner eine so schöne Anmut und Hoheit der Rede nicht erwerben können, wie sie bei Kommerell überall da ist und die einzig aus einem wirklichen Adel des Wesens steigt“ (Heiseler, Bernt von: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Eckart. Blätter für evangelische Geisteskultur 6 (1930), H. 3, S. 135). Louis Brun sieht 1929 in der Revue germanique „un renouveau de pangermanisme“: „Avant tout, il s’agit de faire rentrer l’un et l’autre au grand port d’attache nationaliste“ (Brun, Louis: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Revue germanique 20 (1929), H. 4, S. 393–395, hier: S. 393 u. 395). 118 Muth, Karl: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst 27 (1929/30), Bd. 1, H. 3, S. 277–278.

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sie nur Synthese ohne Analyse, weil sie von unerträglicher Anmaßung sei“.119 August Wilhelm Korff betont 1929 in der Zeitschrift für Deutschkunde das Neuartige der Perspektivierung, denn Kommerells Darstellungen „wirken äußerst anregend und machen zweifellos auf vieles aufmerksam, was bei der landläufigen Betrachtungsweise nicht gehörig beachtet worden ist“.120 In die gleiche Richtung geht 1928 im Bücherwurm eine Einschätzung von Conrad Wandery, nur die Tonlage ist eine andere: „Das von den Zünftlern bis zur Dürre ausgepreßte Stoffgebiet der Klassik liegt in Kommerells Werk, das nach außen als eine Folge gründlicher Studien sich gibt, wirklich im Morgenlicht eines neuen, frischen, zusammenfassenden Blicks“.121 Rudolf Fahrner, der dem George-Kreis nahesteht,122 sieht sich durch zwei Rezensionen von Benno von Wiese und Paul Böckmann, auf die er mit Zeitschriftentitel, Jahrgang und Seitenzahl verweist, zu einer Verteidigungsschrift veranlaßt. 1931 stellt er im Literaturblatt heraus: „Freilich hat die Kraft der Darstellung des Entgegengesetzten, die Kommerell besitzt, schlechte Leser und Rezensenten dazu verführt, über manche in einem bestimmten Zusammenhang sinngebende Darlegungen in überaus heftige Empörungsrufe auszubrechen, die sie schleunigst zurücknehmen müßten, wenn sie aufmerksam einige Seiten weiter läsen“.123 Benno von Wiese hatte 1929 in der Deutschen Literaturzeitung in Kommerells Studie „eine romantische Mischung von Heroenkult, historischer Belletristik, malerischen Ausblicken, seelischen Analysen und zahllosen Wertungen, vorgetragen im Tone eines Bekenntnisses und mit der Lust eines Bekenntnisses“ erkannt.124 Paul Böckmann, von dem die wohl ergiebigste Rezension stammt, hatte zwar 1929 im Anzeiger Kommerell kritisiert, aber zugleich das Konzept der Wissenschaftskunst gewürdigt: Ein „wissen um die hohe kunst hat für die wissenschaft schöne früchte tragen können, weil es [...] eine welt der dichtung erschloß“.125

119 Poethen, Wilhelm: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Monatsschrift für höhere Schulen 30 (1931), H.1, S. 82–86, hier: S. 82. 120 Korff, Hermann August: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Zeitschrift für Deutschkunde 43 (1929), S. 355. 121 Wandery, Conrad: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Der Bücherwurm 14 (1928/29), H. 6, S. 187. 122 Vgl. Buselmeier, Karin: Rudolf Fahrner, in: IGL 1, S. 466–467. 123 Fahrner, Rudolf: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 52 (1931), H. 3/4, Sp. 92–98, hier: Sp. 94. 124 Wiese, Benno von: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft N. F. 6 (1929), Sp. 1337–1340, hier: Sp. 1340. 125 Böckmann, Paul: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 48 (1929), S. 189–195, hier: S. 194.

114 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) In den hier aufgeführten Rezensionen zu Jean Paul und Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik wird deutlich, wie Kommerells Art der Annäherung an den Gegenstand hervorgehoben, seine Art der Darstellung aber ins Abseits gerückt wird. Damit wird ihm eine ‚exklusive Randposition‘ zugeschrieben. Der Vergleich von Dichter als Führer in der deutschen Klassik und Jean Paul hat gezeigt, wie Kommerell sein Spektrum der Metaphernfelder erweitert und dadurch die heroische und pathetische Sprache des George-Kreises reduziert. Außerdem ist die Distanz zu philologisch-historischen Textumgangsformen ein Anliegen, das sich durch beide Studien zieht. Damit verbunden sind die Aufhebung bereits eingeführter Wissenschaftskonzepte und der Entwurf einer Wissenschaftskunst.

III.4 Das Frankfurter Umfeld In diesem Unterkapitel werden zwei Aspekte aus Kommerells Umfeld in Frankfurt dargestellt: Zum einen die Konstellation zwischen Kommerell und Walter Benjamin, der mit Frankfurter Soziologen in Verbindung steht. Zum anderen Kommerells Austausch mit dem Frankfurter Philosophieprofessor Kurt Riezler, der schon bei der Gestaltung der Buchumschläge angesprochen wurde, und mit dem Weimarer Nietzsche-Herausgeber Karl Schlechta, der durch Otto und Reinhardt mit Frankfurt verbunden ist und später dort Lehrbeauftragter wird. III.4.1 Walter Benjamins Kommerell-Kritik Um Walter Benjamins Kritik an Kommerell zu verstehen, muß man sich zuerst vergegenwärtigen, wie viele Gemeinsamkeiten beide haben. Dabei darf allerdings nicht ausgeblendet werden, daß Kommerell von 1930 bis 1933 Sympathien für das System empfand, das letztlich zu Benjamins Tod führte.126 Trotz gegensätzlicher politischer Ansichten gibt es jedoch Übereinstimmungen in ästhetischen Fragen. Die Parallelen zwischen Kommerell und Benjamin sind mehrfach angedeutet worden.127 Giorgio Agamben, Rainer Nägele 126 Vgl. Nägele, Rainer: Vexierbild einer kritischen Konstellation. Walter Benjamin und Max Kommerell, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 349–367, hier: S. 365. 127 Siehe Albert, Claudia: Umrisse eines „deutschen Calderón“. Max Kommerells Beitrag im Kontext der Rezeptionsgeschichte, in: JbDSG 38 (1994), S. 364–378, hier: S. 373; Jens, Inge: Eine Einführung, in: EN, S. 7–33, hier: S. 13ff. u. 23; Albert, Claudia: Abstand, nicht Widerstand: Max Kommerell, in: Deutsche Klassiker im Nationalsozialismus: Schiller, Kleist, Hölderlin, hrsg. v. Claudia Albert, Stuttgart 1994, S. 249–253, hier: S. 253; Wellek, Critic, S. 492; Briesemeister, Dietrich: Max Kommerell y sus estudios

III.4 Das Frankfurter Umfeld

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und Milena Massalongo haben darüber hinaus Ansätze zu einem umfassenden Vergleich vorgelegt.128 Ein Gesamtvergleich, der nicht im Sinne der in dieser Arbeit verfolgten Fragestellung ist, hätte hauptsächlich fünf Gemeinsamkeiten, die hier nur angedeutet werden können, in den Blick zu nehmen: (1.) Die Herkunft aus der Jugendbewegung: Kommerell rezipiert Gustav Wyneken und Hans Blüher, nimmt an Schulversammlungen teil und publiziert einen Aufsatz über August Halm (vgl. Kap. II), Benjamin ist ein Schüler von Wyneken in Wickersdorf.129 (2.) Die Vergegenwärtigung des ‚Barock‘: Kommerell interpretiert Calderón de la Barca (vgl. Kap. IV u. VI),130 Benjamin untersucht den Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928).131 Ein eingehender Vergleich von Trauerspiel-Buch und Etwas über die Kunst Calderons hätte Ähnlichkeiten im Verständnis der Allegorie zu untersuchen. (3.) Die Aufwertung des Kasperletheaters: Kommerell verfaßt die Kasperlespiele für große Leute,132 Benjamin schreibt ebenfalls Kasperle-Spiele.133 (4.) Die Stilisierungen Höl-

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calderonianos, in: Hacia Calderón. Tercer Coloquio anglogermano. Londres 1973, hrsg. v. Hans Flasche, Berlin/New York 1976, S. 205–215, hier: S. 208; Klausnitzer, Wissenschaft, S. 79 u. 87; Jens, Inge: Über Max Kommerell, in: BA, S. 7–41, hier: S. 18; Vialon, Martin: Die Konstellation Max Kommerell und Werner Krauss. Schreiben als Sprechen über Literatur in finsteren Zeiten, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 314–348, hier: S. 345; und: Raulet, Gérard: Benjamins Historismuskritik, in: Walter Benjamin 1892–1940. Zum 100. Geburtstag, Frankfurt/M 1993, S. 103–122. Vgl. Agamben, Gesture, S. 77–85; Nägele, Vexierbild, S. 349–367; und: Massalongo, Milena: Versuch zu einem kritischen Vergleich zwischen Kommerells und Benjamins Sprachgebärde, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 118–161. Vgl. Groppe, Bildung, S. 352–369. Auch wenn die Neubewertung des ‚barocken‘ Theaters als Zeigen des Gezeigten bereits herausgearbeitet wurde (vgl. Massalongo, Sprachgebärde, S. 136), ist eine zentrale Parallele bisher übersehen worden. Massalongo kommt ihr nahe, wenn sie Benjamins Trauerspielbuch mit Kommerells Etwas über die Kunst Calderons in Verbindung bringt und sogar einen Zusammenhang zwischen Kommerells Kasperlepuppen und den Allegorien aus Benjamins Trauerspielbuch herstellt (ebd. S. 134 u. 155). Hier müßte einen Schritt weitergegangen werden: Zum einen wäre Benjamins Calderón-Verständnis, das sich aus zahlreichen Erwähnungen im Trauerspielbuch ergibt, in Beziehung zu Kommerells Calderón-Rezeption zu setzen. Zum anderen wäre die häufige Thematisierung der Allegorie in Etwas über die Kunst Calderons von Benjamins Allegoriebegriff abzugrenzen. Vgl. Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928], Frankfurt/M 1963. Vgl. Kommerell, Max: Kasperle-Spiele für grosse Leute. Mit Illustrationen v. Robert Pudlich u. einem Nachwort hrsg. v. Arthur Henkel, Krefeld 1948 und ders.: Kasperle-Spiele für große Leute. Mit einem Nachwort hrsg. v. Joachim W. Storck, Göttingen 2002. Christoph Lepschy versteht Kommerells Kasperlespiele „[e]rstens als dramatische Heroisierungsstrategie des monumentalen Sprachkunstwerks, zweitens als Karnevalisierungsstrategie [...]; und drittens als Intertextualitätsprogramm, das als analytisches Instrumentarium implizit zum Einsatz kommt und als produktives Verfahren [...] zur Texterzeugng angewendet wird“ (Lepschy, Christoph: Der Kasperle als Führer. Zur Karnevalisierung der Literaturwissenschaft bei Max Kommerell, Magisterarbeit, Univ. München 1997, S. 105). Siehe auch Rall, Roland: Kasperl – Ein Plebejer auf dem Theater. Bemerkungen zu den Kasperlstücken von Franz Pocci, Walter Benjamin und Max Kommerell, in: Zum

116 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) derlins: Für Kommerell wird Hölderlin zum „Dichter des Dichtens“ (vgl. Kap. VIII), Benjamin ordnet ihn in die Ästhetik der Dichtkunst ein.134 (5.) Die Anverwandlungen Goethes: Kommerell deutet Mignon und Harfner in seinem Aufsatz Wilhelm Meister (vgl. Kap. V),135 Benjamin interpretiert die Beziehungen in Goethes Wahlverwandtschaften.136 Biographische Gemeinsamkeiten gibt es außerdem in der Anziehung durch Vaterfiguren – bei Kommerell George, bei Benjamin Brecht –, in der Absage an Naturalismus und Psychologisierungen der Zeit sowie im Interesse am Spiel als Lebensentwurf.137 Thematische Übereinstimmungen werden angedeutet in der Versenkung ins Detail, in den Auffassungen über die Themen Erfahrung, Konstellation, Hermeneutik und im Verständnis des Ineinander von Extension und Intension.138 Begriffliche Parallelen zeigen sich im Verständnis der Geste und in der Ähnlichkeit zwischen Kommerells Begriff der Sprachgebärde und Benjamins Terminus des Namens.139 Vor dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeiten sind nun Benjamins Kommerell-Rezensionen zu betrachten. Auf diese Weise wird erklärbar, warum Benjamin derart starke rhetorische Mittel einsetzt, um Kommerell zu kritisieren. Denn er findet bei Kommerell Positionen, mit denen auch er sich identifizieren könnte, und Tendenzen, bei denen er sich fürchtet, sie für sich selbst zu übernehmen. An der Universität Frankfurt befindet sich in der Nähe von Kommerell, Reinhardt und Otto das Institut für Sozialforschung, zu dem der Literatur-

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Kinderbuch. Betrachtungen. Kritisches. Praktisches, hrsg. v. Jörg Drews, Frankfurt/M 1975, S. 60–85; Kauffmann, Kai: „Liebstes Spiel und tiefster Ernst“. Die Bedeutung des Spielbegriffs im Werk von Max Kommerell, in: Begrenzte Natur und Unendlichkeit der Idee. Literatur und Bildende Kunst in Klassizismus und Romantik, hrsg. v. Jutta MüllerTamm u. Cornelia Ortlieb, Freiburg/B 2004, S. 341–359; Henkel, Arthur: Nachwort, in: Kommerell, Kasperle-Spiele 1948, S. 145–147; Košenina, Alexander: Der gestirnte Schinken über mir. Kinderlogik und Philosophenulk: Max Kommerells Kasperle-Spiele, in: FAZ, Nr. 58 vom 27.02.2002; Storck, Joachim W.: Nachwort, in: Kommerell, Kasperle-Spiele 2002, S. 221–232; und: Vietta, Egon: Zu Max Kommerells ‚Kasperlespielen für große Leute‘, in: Das neue Forum 6 (1953), S. 84–88. Vgl. Benjamin, Walter: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin: „Dichtermut“ – „Blödigkeit“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II/1, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M 21989, S. 105–126. Dazu siehe auch Alt, Peter-André: Das Problem der inneren Form. Zur Hölderlin-Rezeption Benjamins und Adornos, in: DVjs 61 (1987), S. 531–62. Vgl. Kommerell, Max: Wilhelm Meister, in: EN, S. 81–186. Vgl. Benjamin, Walter: Goethes Wahlverwandtschaften, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I/1: Abhandlungen, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M 31990, S. 123–201. Vgl. Müller-Seidel, Kommerell, S. 279; Nägele, Vexierbild, S. 354; und: Massalongo, Sprachgebärde, S. 134. u. 156. Vgl. Nägele, Vexierbild, S. 360 u. 362 und Massalongo, Sprachgebärde, S. 138. Vgl. Agamben, Gesture, S. X und Massalongo, Sprachgebärde, S. 124.

III.4 Das Frankfurter Umfeld

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kritiker Walter Benjamin gute Kontakte hat.140 Er verfaßt zwei Rezensionen über Studien von Kommerell. Die erste Rezension, die 1930 in der Literarischen Welt erscheint und zuletzt 1989 in der dritten Auflage der Gesammelten Schriften wiederabgedruckt wurde, beurteilt die Klassik-Studie.141 In einem Brief an Gershom Scholem vom September 1929 bezeichnet Benjamin sie als „die erstaunlichste Publikation, die in den letzten Jahren aus dem Georgekreis hervorging“.142 Er verwirft zwar einige Urteile Kommerells, bewundert jedoch besonders die Art der Komposition: „Dies Buch bringt einen jener seltenen, dem Kritiker denkwürdigen Momente, da keiner ihm die Qualität des Werks, die Stilform, die Befugnis des Verfassers abfragt. Sie alle sind gar nicht anzuzweifeln. Selten ist so Geschichte der Dichtung geschrieben worden: ihre vielseitige Darlegungen, die scharf gekantete, undurchdringliche Oberfläche jener symmetrischen, diamantenen Gewißheit“.143 Dementsprechend trägt die Rezension den programmatischen Titel Wider ein Meisterwerk. Benjamin zeichnet die Absichten Kommerells nach und stellt sie in Verbindung zu George. Dabei weist er auf die Metaphern aus dem Bereich der Gewalt hin: „Es ist das große Anliegen des Verfassers, an der Klassik den ersten kanonischen Fall eines deutschen Aufstands wider die Zeit, eines heiligen Krieges der Deutschen gegen’s Jahrhundert, wie ihn George später ausrief, zu konstruieren“.144 Er bewundert Kommerells „physiognomische, im strengsten Sinne unpsychologische Sehart“: „Darum ist fast alles, was sich über die einzelnen, und weniger noch über ihre Person als über ihre Freundschaften, Fehden, Begegnungen, Trennungen findet, von einziger Genauigkeit und Kühnheit des Blicks. Der Reichtum echt anthropologischer Einsichten ist hier – wie in den Horoskopen, den chiromantischen, überhaupt esoterischen Schrift so oft – zum Erstaunen“.145 Außerdem würdigt Benjamin die histo-

140 Zu Walter Benjamin siehe Wesseling, Klaus-Gunther (Hg.): Walter Benjamin. Eine Bibliographie, Nordhausen 2003; Brodersen, Momme: Walter Benjamin. Eine kommentierte Bibliographie, Morsum 1995; und: Markner, Reinhard/ Weber, Thomas (Hgg.): Literatur über Walter Benjamin. Kommentierte Bibliographie 1983–1992, Hamburg 1993. Siehe auch Lindner, Burkhardt (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2006; Steiner, Herbert: Walter Benjamin, Stuttgart/Weimar 2004; und: Kramer, Sven: Walter Benjamin zur Einführung, Hamburg 2003. 141 Vgl. Benjamin, Walter: Wider ein Meisterwerk. Zu Max Kommerells „Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III: Kritiken und Rezensionen, hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M 31989, S. 252–259 [erstmals in: Die Literarische Welt 1930]. 142 Benjamin, Walter: Briefe, Bd. 2, hrsg. v. Gershom Scholem u. Theodor W. Adorno, Frankfurt/M 1978, S. 502. 143 Benjamin, Meisterwerk, S. 252. 144 Ebd. S. 255. 145 Ebd. S. 252.

118 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) rische Sichtweise, die „aus dem Hintergrunde des Möglichen auf[tauche], gegen den das Relief des Wirklichen seine Schatten“ werfe.146 Am Beispiel von Hölderlin betont er jedoch, daß Kommerells „Heilsgeschichte des Deutschen [...] von keiner Geschichte mehr assimilierbar“ sei.147 Besonders hebt Benjamin das Kapitel über Goethes Jugend heraus, das „hin und wieder die Dignität eines Kommentars zu ‚Dichtung und Wahrheit‘“ habe, der „mehr als aufschlußreich“ sei.148 Ebenso schätzt er den Abschnitt über Goethes Begegnung mit Napoleon, „der zu dem wenigen Erleuchteten gehört, das über Goethes Leben geschrieben ist“.149 Er betont den kompilatorischen Charakter der Darstellung: An solchen Stellen ist die ‚Deute‘ umgeschlagen, und auf der Höhe ihres Wagemutes und Gelingens zum schlichten, objektiven, untrüglichen Lesen geworden. Der Verfasser nimmt gelebte Stunden zur Hand wie der große Sammler Altertümer. Es ist nicht, daß er darüber redet; man sieht sie, weil er sie so wissend, forschend, andächtig, gerührt, abschätzend, fragend in der Hand dreht, sie von allen Seiten anblickt und ihnen nicht das falsche Leben der Einfühlung, sondern das wahre der Überlieferung gibt. Aufs engste dem verwandt ist des Verfassers Eigensinn; ein sammlerischer.150

Neben dem Lob einerseits stehen andererseits Stellen, an denen Benjamin Kommerell kritisiert. Mit der Studie habe Kommerell „eine esoterische Geschichte der deutschen Dichtung“ vorgelegt.151 Ein Kritikpunkt in Bezug auf die pathetische Sprache richtet sich gegen den „phraseologische[n] Donner“.152 Dementsprechend erkennt Benjamin Kommerells Sprachartistik nicht an: „Blumige Bildersprache? Ach nein; das ist das Scheppern stählerner Runen, der gefährliche Anachronismus der Sektensprache“.153 Die Rezension ist durchgängig eine Mischung aus Lob und Kritik: „Kommerell weiß das alles so gut wie kein anderer. Aber es gilt ihm nichts. Es ist, als ginge ihm die Antike und damit die Geschichte überhaupt mit Napoleon, mit dem letzten Heros zu Ende“.154 Kommerell dient Benjamin als Medium zur allgemeinen Kritik am George-Kreis: Es ist der Stier, dessen Blut die Grube erfüllen muß, wenn an ihrem Rande die Geister der Abgeschiedenen erscheinen sollen. Diese tödliche Stoßkraft des Gedankens ist es, welche den Werken des Kreises fehlt. Statt es zu opfern, meiden sie das

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III.4 Das Frankfurter Umfeld

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Heute. [...] Daß niemals Unschuld Schöpfertum bewahrt, wohl aber Schöpfertum die Unschuld immerfort erschafft, auf diese unbekümmerte Wahrheit kann sich der Schüler Stefan Georges nicht einlassen.155

Am Schluß der Rezension weist Benjamin hin auf die angeblichen Gefahren von Kommerells Bild eines „geheimen [Deutschlands], das von dem offiziellen zuletzt nur das Arsenal ist, in welchem die Tarnkappe neben dem Stahlhelm hängt“.156 In einer anderen Äußerung deutet sich eine wissenschaftsskeptische Haltung Benjamins an: „Die Romantik steht im Ursprung der Erneuerung deutscher Lyrik, die George vollzog. Sie steht auch im Ursprung der philosophischen und kritischen Entwicklung, die sich heute gegen dies Werk erhebt. Sie in den Hintergrund zu rücken, ist, strategisch gesehen, kein müßiges, noch weniger aber ein unverdächtiges Unternehmen. Es verleugnet mit den Ursprüngen der eigenen Haltung die Kräfte, die aus ihrer Mitte sie überwachsen“.157 Es zeigt sich die Übereinstimmung zwischen beiden besonders an Stellen wie dieser, an denen Benjamin Kommerells Perspektive nachvollziehen kann. In einer Sammelrezension zur Goethe-Forschung bringt Benjamin seine Meinung über die Klassik-Studie erneut auf den Punkt: „Eine der originalsten und kühnsten Darstellungen von Goethes Person mit besonderer Berücksichtigung seiner freundschaftlichen und gegnerischen Beziehungen zu den Zeitgenossen“.158 Benjamin, so läßt sich resümieren, bewundert die Originalität und beneidet die Kühnheit von Kommerell. In der zweiten Rezension, die 1934 in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht und ebenfalls in den Gesammelten Schriften wiederabgedruckt wird, weist Benjamin eingangs auf die Klassik-Studie hin: Mit einem Buche über den ‚Dichter als Führer in der deutschen Klassik‘ hat Kommerell schon vor zwei Jahren unverkennbar die Distanz bezeichnet, die seine Arbeit nicht nur von der der Gesinnungsfreunde, sondern nicht weniger von der zünftigen trennt. Und so bedenklich jenes frühere Unternehmen erscheinen mußte, sofern es den Versuch darstellte, die Klassiker zu Stiftern eines heroischen Zeitalters der Deutschen zu machen, so hat es dem Verfasser doch verschafft, worauf seit langem unter den deutschen Literarhistorikern kaum einer Anspruch machen konnte: Autorität. Am unverkennbarsten bewährte sie sich in der Meisterschaft physiogno-

155 Ebd. S. 259. 156 Ebd. S. 259. 157 Ebd. S. 253f. Siehe auch Alt, Peter-André: Benjamin und die Germanistik. Aspekte einer Rezeption, in: Das Selbstverständnis der Germanistik. Aktuelle Diskussionen, hrsg. v. Norbert Oellers, Bd. 1: Germanistik und Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie, Tübingen 1988, S. 133–146. 158 Benjamin, Walter: Hundert Jahre Schrifttum um Goethe, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. III: Kritiken und Rezensionen, hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M 31989, S. 326–340, hier: S. 340.

120 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) mischer Darstellung, in der Spannkraft einer Erkenntnis, die nicht nur die Charaktere, sondern auch, und vor allem, die geschichtlichen Konstellationen ausmaß, in denen sie einander begegneten.159

Benjamin bemerkt also Kommerells Forschungskritik und spricht sowohl dessen Abkehr von seinen ehemaligen „Gesinnungsfreunden“ aus dem GeorgeKreis als auch die Opposition zu den „zünftigen“ Fachkollegen offen aus. Nachdem er auf die Klassik-Studie hingewiesen hat, wendet er sich Kommerells Jean Paul zu, dem die Rezension gewidmet ist. Die Kernaussage der Studie erkennt er in der „Idee des Humoristen“, der „ein anthropologischer Typus [ist], und das über ihm waltende Gesetz das ‚der unpassenden Verkörperung‘. [...] Die falsche Verkörperung ist das Erlebnis des Humoristen, das, als verhängnisvolle Schickung hinweggescherzt werden muß“.160 Den Humoristen charakterisiert er in Auslegung Kommerells durch drei Eigenschaften: „das Ausquartiertsein aus dem eigenen Leib, die Versatilität des Ich, das in jedem Fremden Quartier beziehen kann, und das Denken, das Rahmen und Inhalt dieses Vorgangs zugleich ist“.161 Indem Kommerell „dem Humor nach seiner destruktiven Seite gerecht“ werde, führe er „die Geschichte des Lachens bis zu Nietzsche herab“.162 Mit dem Titel seiner Rezension Der eingetunkte Zauberstab wählt Benjamin einen Ausdruck Kommerells, in dem Humor und Phantasie zusammenkommen: Dafür ist ihm [Jean Paul] ‚der eingetunkte Zauberstab‘ zuteil geworden, der ‚die Form an der materiellen Welt mit einem Schlage‘ ändert. Der Zauberstab, von dem die Rede ist, ist der der Phantasie; die Feuchte, die ihn benetzt, die des Humors, den man aus unergründlicher Quelle sprudelnd sich denken mag.163

Trotz gegensätzlicher Weltanschauung steht Benjamins Urteil unter dem Gebot der Sachlichkeit, denn er findet es „ungerecht zu leugnen, daß auch Kommerell diese Dimension des Humors gesichtet hat“.164 Es ist jedoch eine eigenwillige Form des Lobes: „Tragweite und Niveau des Werkes sind kürzer kaum zu vermitteln als mit folgendem Zitat, das lang ist: [...]“.165 An anderer Stelle unterstreicht Benjamin seine Kritik durch eine Alliteration: „Kommerell ist ihr [der Verwechslung] nicht anheim gefallen. Er

159 Benjamin, Walter: Der eingetunkte Zauberstab. Zu Max Kommerells „Jean Paul“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III: Kritiken und Rezensionen, hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M 31989, S. 409–417, hier: S. 410 [erstmals in: Frankfurter Zeitung 1934]. 160 Ebd. S. 411f. 161 Ebd. S. 412. 162 Ebd. S. 413. 163 Ebd. S. 417. 164 Ebd. S. 419. 165 Ebd. S. 413f.

III.4 Das Frankfurter Umfeld

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schließt sie auch nicht aus. Er scheint zu zögern. Er sucht die Überwindung dieses Zweifels in der heroischen Geisteshaltung“.166 Besonders werden Kommerells Ausführungen über das ‚Biedermeier‘ kritisiert: Aber die Tragseite des Scheins, die innigst zu dieser seiner Nachtseite gehört, der schöne Schein, der im Biedermeier nicht mehr, wie in der Klassik, sich selbst genug tut, sondern als Gegenstück zum Blendwerk dies zerstreut, der Schein des Zaubermärchens berührt ihn kaum. Vielleicht weil dieser tröstliche aus Schichten kam, an welche die heroische Geschichtsbetrachtung ungern sich verliert. Es sind die volkstümlicher Überlieferung.167

Benjamin nutzt die Kommerell-Kritik, um seine eigenes Jean Paul-Bild zu propagieren: „Und sein Werk erhebt, zumal an einen Referenten, der auch hier entscheidend sich von der Gesinnung des Verfassers geschieden sieht, den Anspruch, getreu in seinen großen Linien kopiert zu werden. Das wird ihn nicht hindern, einen anderen Umriß Jean Pauls mit leichten Strichen anzudeuten“.168 Den Plan zu einer weiteren Rezension über Kommerells Aufsatz Faust II. Zum Verständnis der Form (vgl. Kap. V) hat Benjamin nicht ausgeführt. Sein Vorhaben teilt er Leo Löwenthal in einem Brief vom 21. Dezember 1937 mit: „Durch Vermittlung des Pariser Büros habe ich eine der letzten Nummern der ‚Corona‘ angefordert, in der sich Kommerell über ‚Faust Zweiter Teil‘ äußert. Es geschah in der Annahme, daß der Aufsatz verlohnen wird, in einem Sammelreferat nach Art des in dem Nächsten Hefte erscheinenden berücksichtig zu werden“.169 Rainer Nägele hat herausgearbeitet, daß sich in Benjamins Texten noch implizite Verweise auf Kommerell in Form von Vexierbildern finden. Dazu dient ihm die französische Übersetzung der Geschichte Die Mummerehlen aus der Berliner Kindheit, in der es um Fehlleistungen des Verhörens geht: „Eine französische Übersetzung gibt die ‚Muhme Rehlen‘ als commère Rehlen wieder und fährt dann, das kindliche Verhören entsprechend übersetzend, weiter: ‚Mais comme ‚commère‘ ne me disait rien cette créature devint pour moi un esprit: la commerelle‘“.170 Benjamin benutzt also das Medium der Übersetzung, um Kommerell zu ironisieren. Es gibt keine eindeutigen Beweise, daß Kommerell Benjamin gelesen hat. Trotzdem ist es sehr wahrscheinlich, daß er die Rezensionen zu seinen beiden ersten großen Monographien kannte. Nägele geht davon aus, daß Kom-

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Ebd. S. 413. Ebd. S. 414f. Ebd. S. 410. Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe V: 1935–1937, hrsg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Frankfurt/M 1999, S. 634. 170 Nägele, Vexierbild, S. 352.

122 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) merell das Trauerspiel-Buch zur Kenntnis genommen hat.171 Hinzu kommt noch die räumliche Nähe in Frankfurt, wo Benjamin mit dem Institut für Sozialforschung zusammenarbeitet.172 Daß Benjamin von Kommerell nicht erwähnt wird, liegt wohl nicht an Unkenntnis, sondern stellt vielmehr Akte der Bewertung dar, nämlich die der Invisibilisierung und der Nichtwürdigung durch Nichtnennung. Zwei Briefe an Klostermann deuten allerdings darauf hin, daß Kommerell zumindest Benjamins Jean Paul-Rezension in der Frankfurter Zeitung gelesen hat. Am 12. Mai 1934 bedankt er sich bei Klostermann „für Ihren lieben Brief und die eben eintreffende Sendung von Zeitungsausschnitten, die ich zu ruhiger Stunde meiner bekannten Eitelkeit behaglich zuführen werde“.173 Gut zwei Monate später, am 25. Juli 1934, kommentiert er dann gegenüber Klostermann: „Die philolog. Rezensionen [zu Jean Paul] sind genau wie die damaligen auf den ‚Dichter als Führer‘ bezüglichen, der ebenfalls außerhalb des Faches gut beurteilt, und von den Bonzen mit dem Finger hageren Mißtrauens betupft wurde“.174 Es könnte also sein, daß er den Zeitungsausschnitt mit der Rezension gelesen hat, Benjamin als Vertreter „außerhalb des Faches“ einordnet und sein Urteil implizit anerkennt. Die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Kommerell und Benjamin hat ergeben, daß die beiden trotz der gezeigten deutlichen Gegensätze vielen Parallelen aufweisen, so daß sie – Giorgio Agamben folgend –175 als die beiden großen Antipoden der Zeit bezeichnet werden können. III.4.2 Die Philosophen Kurt Riezler und Karl Schlechta Kurt Riezler (1882–1955) ist Anfang der 1930er Jahre Kurator an der Universität Frankfurt. Er hat klassische Philologie und Geschichte mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsgeschichte von 1901 bis 1906 an der Universität München studiert und wird dort 1905 mit der Arbeit Interpretation der pseudoaristotelischen Ökonomik. Systematische und geschichtliche Würdigung der darin enthaltenen Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik promoviert. Vor und während des Ersten Weltkrieges ist er politischer Berater der Regierung Bethmann Hollweg. In den ersten Jahren der Weimarer Republik unterrichtet er als Pri-

171 Vgl. ebd. S. 358. 172 Dazu siehe auch Vialon, Krauss, S. 327f. 173 DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 12.05.1934, Nachlaß A: Klostermann. 174 DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 25.07.1934, Nachlaß A: Klostermann. 175 Vgl. Agamben, Giorgio: Noten zur Geste, in: Postmoderne und Politik, hrsg. v. Jutta Georg-Lauer, Tübingen 1992, S. 97–107.

III.4 Das Frankfurter Umfeld

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vatgelehrter und seit 1928 als Honorarprofessor für Geschichtsphilosophie an der Universität Frankfurt.176 Riezler ist mit Schriften zum antiken Griechenland hervorgetreten. Er veröffentlicht Gestalt und Gesetz (1924), ein Traktat vom Schönen. Zur Ontologie der Kunst (1935) und Parmenides (1934). Wie bereits erwähnt, ist diese Studie im Jahre 1934, also nur ein Jahr nach der „Trilogie der Wissenschaft“, ebenfalls bei Vittorio Klostermann erschienen und wurde in die Diskussionen um die gemeinsame Buchgestaltung teilweise einbezogen. Kommerell hat ein freundschaftliches Verhältnis zu Riezler. In einem undatierten Brief aus dem Wintersemester 1934/35 berichtet er Hans-Georg Gadamer: „In Berlin hatte ich wirklich anmutige Stunden mit Riezler, der mir immer lieber wird: es wächst gleichmäßig in ihm die Güte und das Löwenhafte“.177 Riezler gehört zum Kreis um Reinhardt und Otto, mit denen er sich austauscht. Er ist mit der Tochter des jüdischen Malers Max Liebermann verheiratet und wird 1934 unter Anwendung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ als Kurator der Universität abgesetzt.178 Riezler, der 1938 endgültig in die Vereinigten Staaten emigrieren muß, bringt Kommerell dort für eine Stelle ins Gespräch, wie er ihm bereits am 16. Juli 1936 vom Wannsee aus mitteilt: „Ich wußte so wenig von Ihnen, daß als ich jüngst in einem reizenden College in Pennsylvania nach einem ‚Chief of the german department‘ gefragt wurde, ich Ihren Namen nannte – für alle Fälle“.179 Im gleichen Brief wird die Unsicherheit deutlich, in der sich Riezler zu dieser Zeit befindet: „Mein eigenes Schicksal, Zukunftspläne in Neues mit einer vergangenen Zukunft, ist etwas absurd, aber noch ungewiß. Ich werde sobald ich hier loskann, einmal nach Frankfurt fahren und hoffe dann Ihnen und Ihrer Frau die Hand zu drücken“.180 Aus der Erfahrung selbst erlebter Diskriminierung empfiehlt Riezler Kommerell am 5. Februar 1937 Kompromisse mit dem Regime zu schließen: „Ich höre Sie wollen od. sollen eine R[eichs]W[ehr-]Übung machen – das ist sicher ganz nützlich, wenn es Sie nicht zu sehr anstrengt. Es geht alles auf den uninteressierenden Gebieten ungeheuer langsam und stets in der glei-

176 Zu Leben und Werk Riezlers siehe Erdmann, Karl Dietrich: Kurt Riezler – ein politisches Profi l (1882–1955), in: Kurt Riezler. Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, eingel. u. hrsg. v. Karl Dietrich Erdmann, Göttingen 1972, S. 19–163. 177 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer o. D. [WS 1934/35], Nachlaß A: Gadamer. Siehe auch DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 31.07.1938, Nachlaß Kommerell, A: 56.369: „Von Riezler hab ich einen kurzen, aber gewichtigen Brief, der mir viel wert ist“. Der Brief ist leider nicht mehr erhalten. 178 Zur Amtsenthebung Riezlers siehe auch Hammerstein, Frankfurt, S. 219–244. 179 DLA Marbach, Brief Kurt Riezler an Kommerell vom 16.07.1936, Nachlaß Kommerell, A: 84.1617/1. 180 Ebd. A: 84.1617/1.

124 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) chen Richtung – Kraft vor Reibungen. Wird auch noch so weitergehen“.181 In Frankfurt abgesetzt, hat Riezler Probleme sich in Berlin wieder zurecht zu finden: „Hier ist’s merkwürdig – ganz anders wie in Frankfurt ... Viele Menschen, alle dieselbe Gesinnung, aber verschiedene Lebensart und Beschäftigung – und ganz nette und bewegte darunter, auch philosophische von der Uni, junge und mittelalterliche. Aber doch zerstreuend und aufkeuschend zugleich“.182 Im Hinblick auf die Gesamtuntersuchung bleibt festzuhalten, daß das Verhältnis zwischen Kommerell und Riezler im Vergleich zu Kommerells Freundschaften zu Reinhardt und Otto nicht die gleiche Intensität erreicht. Riezler ist aber als Kurator der Universität von entscheidender Bedeutung für den Frankfurter Kreis. Ein weiterer Freund Kommerells ist der Weimarer Nietzsche-Herausgeber Karl Schlechta (1904–1985). Um der Briefausgabe von Michael Assmann, auf die in der Einleitung schon hingewiesen wurde, nicht vorzugreifen, wird hier nur auf die bereits veröffentlichte Korrespondenz zwischen Kommerell und Schlechta zurückgegriffen. Schlechta studiert erst Chemie und Physik an der Technischen Hochschule Dresden, dann Geschichte und Philosophie an der Universität Wien, wo er 1928 mit der Arbeit Über die naturphilosophische Methode Karl Friedrich Burdachs in seinen physiologischen Untersuchungen bei Heinrich Gomperz und Robert Reiniger promoviert wird. Danach wechselt er an die Universität Frankfurt, um sich bei Karl Reinhardt und Max Wertheimer zu habilitieren. Auf Empfehlung von Otto und Reinhardt arbeitet er seit Mitte der 1930er Jahre als leitender Editor der „Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Nietzsches“ (HKG) im Weimarer Nietzsche-Archiv. Zuerst wird er 1938 in Jena bei Bruno Bauch mit einer Untersuchung über Goethe und Aristoteles habilitiert, bevor eine Umhabilitation an die Frankfurter Universität erfolgt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist er von 1951 bis 1971 Professor und Direktor des Instituts für Philosophie an der TH Darmstadt. Als Nietzsche-Herausgeber ist Schlechta mit der Werkausgabe Friedrich Nietzsche. Werke in drei Bänden (1954–56) bekannt geworden, in der er die Manipulationen und Fälschungen Elisabeth Förster-Nietzsches erstmals einem breiten Publikum bekannt macht. Als Reaktion auf die starke Kritik an seiner sachlich-chronologischen Editionspraxis wendet sich Schlechta vom emphatischen Nietzsche-Bild des George-Kreises ab und weist Nietzsches Weltauslegung als letztlich sinnentleert nach.183 181 DLA Marbach, Brief Kurt Riezler an Kommerell vom 05.02.1937, Nachlaß Kommerell, A: 84.1617/2. 182 Ebd. A: 84.1617/2. 183 Zur Nietzsche-Rezeption im George-Kreis siehe Trawny, Peter: George dichtet Nietzsche.

III.4 Das Frankfurter Umfeld

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Kommerell ist sehr eng mit Schlechta, der etwa gleich alt ist, befreundet. Er besucht ihn oft auf Reisen nach Berlin bei der Durchfahrt in Weimar. Das enge Vertrauensverhältnis erstreckt sich bis zu persönlichen Dingen.184 In einem undatierten Brief an Schlechta vom Spätsommer 1933 vergleicht Kommerell das Entziffern einer Handschrift mit einem Interpretationsakt: „Ihre Handschrift scheint zu sagen: ‚ich gebe mir nicht die geringste Mühe lesbar zu sein ... ich bin unter dem Vorwand der Mitteilung decise Nichtmitteilung ... Wenn mich zufällig einmal doch einer lesen sollte, desto besser oder schlechter, je nachdem.‘ Nun, ich hatte starke Lust, zu entziffern, und es gelang mir schließlich, Wort um Wort herauszubringen. Dieser Vorgang ist mit dem Verstehen identisch. Denn mechanisch war es mir nicht möglich, alles zu lesen, nur erratend und combinierend“ (BA 238f.). Ein Jahr später siniert Kommerell in einem Brief an Schlechta vom 10. August 1934 über die Ereignisse des Vorjahres: Alles wie vor einem Jahr, wo ich hier saß, und den Jean Paul zu Ende schrieb, Ort, Jahreszeit, Menschen, Tiere – alles gleich – Ihr großer Brief kam damals – auch Reinhardts waren da – alles gleich und alles anders; denn wie wir alles sehn, das hängt davon ab, ob die rollende Kugel der Fortuna, auf der wir nackten Fußes und in rasendem Tempo manchmal durch die selbe Gegend tanzen, kalt oder glühend ist, ob wir auf ihr im Triumph einherfahren oder auf ihr angewachsen scheinen wie auf einem Schmerz, ob sie uns als die Welt erscheint oder als eine Seifenblase und ob sie in der Richtung des befehlenden Herzens rollt oder es ungehorsam der lieben Rast entfernt. (BA 279f.)

Kommerell setzt die Metapher von der Glücksgöttin ein um auszudrücken, daß er mit dem Abschluß von Jean Paul in einer optimistischen Stimmung für den Verlauf seiner Karriere war. Ein Jahr später, nach der gescheiterten Berufung nach Bonn (vgl. Kap. VII), hat er eine resignierende Haltung eingenommen. Das Medium des Briefes dient ihm dazu, sich selbst wieder zu entdecken und neu zu erfinden. In einem Porträt aus dem Jahre 1953 schildert Schlechta seine Erinnerung an Kommerell: „Farben und Lineament aller Erscheinungen, das alltäglichste Bild, das gemeine Nebeneinander der Menschen, das kaum mehr wahrgenommene Gewohnte erhielten durch seine Berührung ihren Reiz, wurden überraschend und neu, wurden wie durchsichtig durch sein mühelos treffendes Wort; und wer gerade dabei war, dem eröffnete sich überall, wie mit einem Schlage, der seelenvollste Bezug“.185 Durch seine einnehmende

Überlegungen zur Nietzsche-Rezeption Stefan Georges und seines Kreises, in: GeorgeJahrbuch 3 (2000/01), S. 34–68. 184 Am 24. November 1936 verfaßt Kommerell einen Brief an Schlechta, aus dem der intelligente Witz und der ganze ironische Spaß der Freundschaft deutlich wird, vgl. BA 317ff. 185 Schlechta, Karl: Porträt Kommerells, in: Das neue Forum 6 (1953), S. 89.

126 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) Art war Kommerell also eine Bereicherung für den geistigen Austausch mit Schlechta. Vor dem Hintergrund der gezeigten Diskussionen mit Klostermann über abgestimmte Buchumschläge und Schriftsätze ist auf Schlechtas Versuch einzugehen, seine Habilitationsschrift Goethe in seinem Verhältnis zu Aristoteles im Klostermann-Verlag zu veröffentlichen. Dem Vorhaben geht ebenfalls eine intensive Diskussion voraus. Klostermann nimmt eine abwartende Haltung ein, Kommerell ergreift Partei für Schlechta und sieht aufgrund der persönlichen Freundschaft über die inhaltlichen Schwächen hinweg.186 Klostermann bittet daraufhin Hans-Georg Gadamer um ein Gutachten, das negativ ausfällt. Gadamer begründet seine Ablehnung in einem undatierten Brief an Kommerell von Anfang 1936: Von den Mängeln der Aristoteles-Darstellung als solcher sehe ich dabei ganz ab. Das Bedenkliche liegt vielmehr darin, Aristoteles so aus der Blickrichtung auf Goethe zu deuten, daß auch er zum großen Einzelnen wird, wie es Goethe innerhalb der modernen Naturforschung Newtonschen Geistes ist. Aber etwas Vergleichbares mit diesem Newtonschen Geist im Altertum gibt es nicht. Und so ist es mehr als eine Unwesentlichkeit, daß Schlechta Theophrast, Eudem, Straton und wer weiß welche aristotelisierenden Männer des Altertums stets selber mit Aristoteles zusammennimmt. Am Ende beschreibt er die antike Stellung zur Natur seit Platon in einem großen Stellvertreter, der eben weil er nur Stellvertreter ist, ganz etwas anderes darstellt, als Goethe war.187

Gadamer hat die Vorstellung, daß moderne und antike Autoren nicht mit dem gleichen Maß gemessen werden können. Als Konsequenz daraus fordert er eine Perspektive, die das genuin griechische Denken berücksichtigt: „Sehr schade, daß die Arbeit so gänzlich die Aristoteles-Analogien mit der GoetheDarstellung verwebt hat. Die Herauslösung und Ersetzung durch eine mehr das Typische griechischen Natursehens an aristotelischen Beispielen entwikkelnde Betrachtung würde die Leistung und das Verdienst von Schlechtas Arbeit in meinen Augen erst ganz rein heraustreten lassen“.188 Abschließend stellt er die Relevanz von Schlechtas Arbeit in Frage: „Ich will es gar nicht einmal bestreiten, daß Sch.[lechta] auch in Aristoteles wirklich Goethesches erkennt, aber freilich bin ich zu tiefst davon überzeugt, daß uns keine Individualität der klassischen griechischen Menschenwelt wirklich faßbar genug ist, als daß ich in solcher Erkenntnis etwas entscheidend Wichtiges anerken-

186 Vgl. DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 10.07.1934, Nachlaß A: Klostermann. 187 DLA Marbach, Brief Hans-Georg Gadamer an Kommerell o. D. [Anfang 1936], Nachlaß Kommerell, A: 84.1547/10. 188 Ebd. A: 84.1547/10.

III.4 Das Frankfurter Umfeld

127

nen könnte“.189 Gadamers Verständnis der antiken Kultur vollzieht sich nicht über Applikation moderner Vorstellungen sondern durch ein Verstehen aus Distanz. Da Walter F. Otto und Karl Löwith in Gutachten ebenfalls sachlicher und kritischer als Kommerell urteilen, gelangt Klostermann zu dem Entschluß, die Drucklegung des Buches aufzuschieben. Diese Entscheidung muß er wiederum vor seinem Freund Kommerell am 26. Februar 1936 rechtfertigen: Über die Drucklegung der Schlechta’schen Arbeit ist so viel gesprochen worden, daß es sich empfiehlt, den Stand der Angelegenheit kurz zu fi xieren. Zu der Schlechtas’schen Arbeit haben sich vier Herren, die mehr oder weniger genaue Einsicht in das Manuskript genommen hatten, gutachterlich geäußert. Die Äußerungen stimmen alle darin überein, daß das Manuskript vor der Drucklegung einer Durcharbeitung bedarf. Über das Maß dieser Bearbeitung gehen die Ansichten auseinander. Während Sie der Ansicht sind, daß eine leichte stilistische Überarbeitung genügt, halten die anderen eine mehr oder minder stärkere Zusammenfassung, Konzentrierung, Herausarbeitung für notwendig.190

Klostermann holt die Gutachten ein, um seine Entscheidung, das Buch nicht zu drucken, abzusichern. Er versteht allerdings Kommerells Engagement für Schlechta: „Ihr Eintreten für die Schlechta’sche Arbeit wird z. T. von Beweggründen bestimmt, die vom Verleger anders betrachtet werden müssen, als Sie dies tun. Sie sagen, daß es notwendig sei, daß Herr Schlechta etwas veröffentlicht, seine Zukunftsaussichten hierdurch verbessert werden etc. Auch der Verleger hofft und wünscht natürlich, daß der Verfasser mit seinem Buch Erfolg hat. Aber die Erfahrung lehrt, daß alle vorzeitigen oder zu schnell vorgenommenen Veröffentlichungen weder dem Verfasser noch dem Verleger nützen“.191 Am Ende des Briefes bietet Klostermann den Kompromiß an, das Buch zu drucken, wenn Walter F. Otto bereit sei, es in seine Reihe Frankfurter Studien zur Religion und Kultur der Antike aufzunehmen: Ich möchte daher meine Stellungnahme folgendermaßen zusammenfassen: Ich bin nicht bereit, das Buch in der vorliegenden Form als Einzelveröffentlichung in meinen Verlag zu übernehmen. Ich bin damit einverstanden, daß es in der Form, in der es von Ihrem Schwiegervater [Walter F. Otto] akzeptiert wird, in den ‚Frankfurter Studien‘ erscheint. Sonst bestände nur noch die Möglichkeit, daß es in gekürzter und umgearbeiteter Form als V. Band in den ‚Philosophischen Abhandlungen‘ erscheint. Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß die Umarbeitung von irgendeinem Sachverständigen – ich denke an Herrn Gadamer – akzeptiert wird. Ihr Schwieger-

189 Ebd. A: 84.1547/10. 190 DLA Marbach, Brief Vittorio Klostermann an Kommerell vom 26.02.1936, Nachlaß A: Klostermann. 191 Ebd. A: Klostermann.

128 III. Die Jean Paul-Rezeption im Dialog mit Reinhardt und Otto (1930–1934) vater hat mir Sonntag nocheinmal zugesichert, daß er noch vor seiner Abreise zu einem Entschluß kommen wird.192

Schließlich erscheint die Schrift 1938 als elfter Band in Ottos Reihe. An diesem Beispiel läßt sich anschaulich der Weg von Manuskript zur Publikation nachvollziehen. Hier werden die verflochtenen Beziehungen zwischen Wissenschaftlern und Verlegern anschaulich. Die Motivationen, aus denen der Verleger agiert, werden ebenso deutlich, wie die gegenseitige Unterstützung befreundeter Wissenschaftler. Bei der Veröffentlichung spielen nicht nur genuin wissenschaftliche Kriterien, sondern auch interne Allianzen eine Rolle. Hier zeigt sich die in der Einleitung skizzierte Verbindung von Personen- und Konzeptebene der Wissenschaftsgeschichte: Kommerells Freundschaften zu Schlechta, Klostermann und Otto sind auf der Personenebene anzusiedeln, der Einfluß des Verlegers und des Herausgebers der Schriftenreihe auf die inhaltliche Umarbeitung einer Studie gehören der Konzeptebene an. Klostermanns Brief zeigt, wie diese unterschiedlichen Faktoren zusammenfließen. Ein weiterer Frankfurter Professor spielt für Kommerells Laufbahn eine wichtige Rolle. Es ist der germanistische Mediävist Julius Schwietering,193 der 1938 nach Berlin wechselt und mit dem Kommerell weiterhin in Briefkontakt steht.194 In Frankfurt hat es Kommerell als nicht abgesicherter Privatdozent aufgrund persönlicher Rivalitäten schwer. Zeitweilig besteht die Gefahr, daß er seine Dozentur verliert (vgl. Kap. VII). Er kann sich aber behaupten, da Schwietering ihn unterstützt (vgl. BA 29). Der damalige Student Karl-Gustav Gerold erinnert sich später: „Wäre der Altphilologe Schwietering nicht für ihn eingetreten, hätte Kommerell diese Dozentur wohl verloren“.195 In Frankfurt, so läßt sich als Resümee des gesamten Kapitels festhalten, trifft Kommerell auf Professoren, die seine wissenschaftliche Entwicklung fördern. Die Wissenschaftler, die sich am jour fixe bei Reinhardts treffen, bilden einen Lesekreis, in dem lautes Vorlesen und szenisches Darstellen von Literatur vollzogen wird. In gemeinsamen Lehrveranstaltungen mit den klassischen Philologen und bei gemeinsam betreuten Dissertationen vertieft Kommerell seine Kenntnisse der antiken Literatur. Dadurch öffnet er seinen Horizont und erweitert sein Interessenspektrum. Jean Paul, Sophokles und Dionysos erscheinen aufeinander abgestimmt im Verlag von Vittorio Klostermann und zeigen eine Distinktion in der Einheitlichkeit. Mit Reinhardt und

192 Ebd. A: Klostermann. 193 Zur Publikationsliste siehe Schwietering, Julius: Philologische Schriften, hrsg. v. Friedrich Ohly u. Max Wehrli, München 1969. Siehe auch Harms, Wolfgang: Julius Schwietering, in: IGL 3, S. 1694–1696. 194 DLA Marbach, Brief Julius Schwietering an Kommerell o. D., Nachlaß Kommerell, A: 84.1637. 195 Gerold, Memoriam, S. 14.

III.4 Das Frankfurter Umfeld

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Otto teilt Kommerell ästhetische Urteile in den Briefen und methodische Ansätze in den Publikationen. Ihre Parallelprojekte wirken als ‚immaterielle Quellen‘ für die Jean Paul-Studie. Die Diskussionen um die Abstimmung bei der Publikation zeigen, wie auch unter den Bedingungen kultur- und wissenschaftspolitischer Lenkungsansprüche nach der NS-Machtübernahme intellektuelle Übereinstimmungen markiert und feine Unterschiede signalisiert werden konnten. Klostermann avanciert zum Hausverlag dieser Wissenschaftler. Die Reihe Wissenschaft und Gegenwart bildet das intellektuelle Profil einer antipositivistisch und ästhetisch orientierten Wissenschaftlergeneration ab, und verdeutlicht eindrucksvoll Kontinuitätslinien in der deutschen Geisteswissenschaft über die politische Zäsur des Jahres 1933 hinweg. Aufgrund der vielen Übereinstimmungen und der engen Zusammengehörigkeit wird hier die These vertreten, daß es sich um einen Frankfurter Kreis handelt, der so in der Forschung bisher nicht gesehen worden ist.

IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Heinrich Zimmer (1930–1940) Kommerells Antrittsvorlesung über Hofmannsthal wird zugleich seinen Abtritt von George markieren. Doch George spielt auch nach seinem Tod 1933 noch eine Rolle in Kommerells Publikationen, wie z. B. im Drama Das kaiserliche Blut. Wie Kommerell sich diesem Drama, das auf eine Vorlage des spanischen Dramatikers Calderón de la Barca zurückgeht, annähert, wird ebenso zu zeigen sein wie der Weg von Hofmannsthal zu Calderón. Wie findet Kommerell konkret Zugang zu Dichtern, mit denen er sich zuvor nicht beschäftigt hat? In diesem Zusammenhang ist darauf einzugehen, daß Kommerells Dialogpartner als Vermittler neuer Dichter dienen können. Am Beispiel der posthumen Edition von Hofmannsthals Gedichten werden Positionen im Umgang mit Texten und Vorstellungen von Werkpolitik erläutert. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Kommerells intellektueller Biographie in der Phase von Anfang der 1930er Jahre bis etwa 1940. Da die Freundschaft zu Heinrich Zimmer im Mittelpunkt steht, wird die Chronologie von Kommerells Schriften partiell zurückgestellt und der thematische Zusammenhang der Publikationen im Dialog mit Zimmer in den Vordergrund gerückt. Im Einzelnen werden in diesem Kapitel Kommerells Antrittsvorlesung über Hofmannsthal, die Auseinandersetzung um sein Nachwort zu einer Hofmannsthal-Gedichtausgabe, sein Drama Das kaiserliche Blut und abschließend sein Roman Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern, da dort Zimmer literarisch abgebildet wird, untersucht. Heinrich Zimmer ist Professor für Indologie in Heidelberg.1 Er hat germanistische und vergleichende Sprachwissenschaften in München und

1

Zur Literatur über Zimmer siehe Case, Margaret H. (Hg.): Heinrich Zimmer. Coming into his own, Princeton 1994; Volke, Werner: Publikationsgeschichte von Berührung der Sphären, in: Hofmannsthal-Blätter 33 (1986), S. 26–46; und: Knobloch, Johann: Die Geschichte der sprachwissenschaftlichen Lehre und Forschung an der Ernst Moritz ArndtUniversität zu Greifswald, in: Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald 17.10.1956, Bd. II, hrsg. v. Werner Rothmaler, Greifswald 1956, S. 234–238. Siehe auch Cymorek, Hans (Hg.): Momentaufnahmen eines Mythos: Heidelberg 1919, Heidelberg 1931. Zwei unveröffentlichte Briefe von Ernst Kantorowicz und Heinrich Zimmer, in: Mitteilungen der Ernst Troeltsch-Gesellschaft 16 (2003), S. 64–102; Jaffé, Aniela (Hg.): Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung, Olten/Freiburg/B 1971, S. 385–398;

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

Berlin studiert und wird dort 1914 mit einer Arbeit über das indische Verwandtschaftssystem der Gotras promoviert.2 Die Habilitation erfolgt 1920 in Greifswald, seit 1926 bekleidet er eine außerordentliche Professur in Heidelberg.3 Er ist mit zahlreichen Studien zur indischen Mythologie hervorgetreten: Kunstform und Yoga im indischen Kultbild (1926), Ewiges Indien (1930), Maya. Der indische Mythos (1936) und Philosophie und Religionen Indiens (posthum 1961).4 Wie der erste Kontakt zwischen Kommerell und Zimmer entstanden ist, läßt sich nicht genau belegen. Zimmer ist mit Hugo von Hofmannsthals Tochter Christiane verheiratet und verwaltet daher dessen Nachlaß. Es ist möglich, daß Kommerell ihn als Hofmannsthals Nachlaßverwalter einfach angeschrieben hat, um Zugang zu den Materialen zu erhalten. Wie der Briefwechsel zeigt, wird Zimmer zu einem der engsten Freunde Kommerells. Dabei nimmt er die Rolle eines väterlichen Freundes ein. Wenn Kommerell zu seinen Eltern fährt, macht er häufig auf dem Weg von Frankfurt nach Stuttgart Halt in Heidelberg.5 Dort besucht er Zimmer, der in persönlichen Dingen mit Rat zur Seite steht und ihm bei privaten Problemen hilft. Die Freundschaft drückt sich nicht zuletzt in dem Witz aus, der aus einem undatierten Brief vom Anfang Februar 1934 von Zimmer an Kommerell hervorgeht: „Halten Sie mich bitte nicht für so ein Ekel, wie Herder war, als er dem Goethe des Urgötz zurief, ‚Jean Paul, – pardon: Shakespeare – hat dich verdorben!‘ und auch nicht für solch einen Geheimrat wie den Goethe, der seinen zu früh verklärten Schiller nachträglich dazu beglückwünschte, daß er den Aufgang Calderons über Deutschland nicht mehr erlebt hat, der seiner kühnen Natur ‚gefährlich‘ hätte werden können!“ (BA 261). Zimmer bewundert im gleichen Brief das Einfühlungsvermögen Kommerells, der sich neugierig, wie ein Kind, immer neue Welten aneigne:

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und: Rauch, Maya/ Mußgnung, Dorothee (Hgg.): Briefe aus dem Exil. Aus der Korrespondenz von Heinrich Zimmer, in: Heidelberger Jahrbücher 35 (1991), S. 219–243. Vgl. Zimmer, Heinrich: Studien zur Geschichte der Gotras, Leipzig 1914. Zum Lebensweg siehe die autobiographische Skizze Zimmer, Heinrich: Notizen zu einem Lebenslauf, in: Die indische Weltmutter. Aufsätze, hrsg. u. eingel. v. Friedrich Wilhelm, Frankfurt/M 1980, S. 233–254. Vgl. Zimmer, Heinrich: Kunstform und Yoga im indischen Kultbild [1926], hrsg. v. Friedrich Wilhelm, Frankfurt/M 1987; ders.: Ewiges Indien. Leitmotive indischen Daseins, Potsdam/Zürich 1930; ders.: Maya, der indische Mythos, Stuttgart/Berlin 1936; und: ders.: Philosophie und Religion Indiens, hrsg. v. Joseph Campbell, Frankfurt/M 1961. Siehe auch ders.: Gesammelte Werke, 5 Bde, Zürich 1951ff. Vgl. DLA Marbach, Brief Kommerell an Christiane Zimmer vom 10.09.1931, Nachlaß Zimmer, A: 74.114/6; Brief Kommerell an Christiane Zimmer vom 26.07.1932, Nachlaß Zimmer, A: 74.115/1; und: Brief Kommerell an Christiane und Heinrich Zimmer vom 09.10.1932, Nachlaß Zimmer, A: 74.115/4.

IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

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Ich glaube genau zu wissen, warum Sie durch beider Welten [Goethes und Calderóns] so hindurch wandeln wie Sie tun [...], ich wünschte Ihnen, ein Engel schenkte Ihnen im Schlaf die Kenntnis aller Sprachen Asiens, daß Sie durch alle Weisheit Chinas und alle Zauberwälder Indiens so tauchen könnten jahrelang, wie Sie jetzt nach Jean Paul in Calderon versinken, um unheimlich und reich, in ganz neuen Dimensionen schwellend daraus hervorzugehen. Sie sind mir wie ein RiesenKind, dem alle Nahrung versunkener und versinkender Welten dienen muß, sich zu dem auszuwachsen was in Ihnen angelegt ist, eigentlich ein Dharmarutschi-Kind, das von allen Portionen der Weltliteratur kaum satt zu machen ist, und über Ihrem Umgang mit Jean Paul, Calderon und alle Kommenden steht Blake’s proverb of Hell (in ‚The marriage of Heaven and Hell‘) ‚the road of excess leads to the palace of wisdom‘. (BA 262)

Zimmer lehrt in Heidelberg, wo auch Viktor von Weizsäcker, ein Begründer der psychosomatischen Medizin, tätig ist.6 Neben seinem medizinischen Studium in Tübingen, Freiburg, Berlin und Heidelberg mit Promotion 1904 und Habilitation 1917 setzt Weizsäcker sich mit dem Neukantianismus und später mit Karl Jaspers’ existenzphilosophischen Ansätzen auseinander.7 Kommerell steht mit Weizsäcker in einem regen Austausch.8 In einem Schreiben vom 1. Mai 1936 lädt er Hans-Georg Gadamer zu einer Zusammenkunft mehrerer Wissenschaftler ein: „Lieber Freund, morgen Samstag über 8 Tage kommen Zimmers, von Weizsäckers, Lipps9 u. ich bei Reinhardts nachm. um 5 zusammen, zu Thee-Imbiss, um dann später noch etwas zusammen auszugehen. Reinhardts würden sich sehr freuen, wenn Sie mit Ihrer Gattin oder, wenn das nicht geht, allein auch mit dabei wären“.10 Das Quartett, das Kommerell mit Otto und Frau Reinhardt unterhält, möchte er um Viktor von Weizsäcker ergänzen, wie er in einer Karte vom 24. Mai 1936 Heinrich Zimmer

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Zur Literatur über von Weizsäcker siehe Henkelmann, Thomas: Viktor von Weizsäcker (1886–1957). Materialien zu Leben und Werk, Berlin 1986; Hahn, Peter (Hg.): Viktor von Weizsäcker zum 100. Geburtstag, Berlin 1987; und: Benzenhöfer, Udo: Der Arztphilosoph Viktor von Weizsäcker. Leben und Werk im Überblick, Göttingen 2007. Zu den Schriften siehe Weizsäcker, Viktor von: Gesammelte Schriften in 10 Bänden, hrsg. v. Peter Achilles u. a., Frankfurt/M 1986ff. Siehe in diesem Zusammenhang auch Weizsäckers Rezensionen zu Zimmer: Weizsäcker, Viktor von: Rez. zu Heinrich Zimmer: Der Weg zum Selbst, und zu Heinrich Zimmer: The King and the Corpse, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1: Natur und Geist. Begegnungen und Entscheidungen, Frankfurt/M 1986, S. 558–559. Weizsäcker beteiligt sich an der bedeutenden interdisziplinären Schriftenreihe Die Gestalt: Weizsäcker, Viktor von: Gestalt und Zeit, Halle/S 1942 (Die Gestalt 7). Siehe auch Weizsäcker, Viktor von: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Stuttgart 1940. Vgl. DLA Marbach, Brief Olympia von Weizsäcker an Kommerell o. D. [1936], Nachlaß Kommerell, A: 84.1654. Gemeint ist der Frankfurter Philosoph Hans Lipps. DLA Marbach, Karte Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 01.05.1936, Nachlaß A: Gadamer.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

mitteilt: „Ich würde sehr gern mit Herrn v. Weizsäcker einmal musizieren“.11 Auf ein weiteres gemeinsames Treffen mit Zimmer und Weizsäcker läßt sich aus einer Karte an Christiane und Heinrich Zimmer vom 15. November 1937 schließen: „Ihr Lieben, der Abend bei W’s war noch sehr nett, und Frau W. fuhr mich eigenhändig an den Zug. Ich bedanke mich schön und entschuldige mich für den mitgenommenen Hausschlüssel, eine Untat, die ich immer wieder begehe“.12 Da Zimmer und Weizsäcker im Austausch mit Reinhardt und Kommerell stehen, sind sie zum Umfeld des Frankfurter Kreises hinzu zu zählen. Kommerell sieht Zimmer, Reinhardt und sich als Dreibund an, wie er in einem Brief vom 12. Mai 1934 an Vittorio Klostermann schreibt: „Was Sie über den Festschriftplan [für Walter F. Otto] bemerken, ist richtig. Ein Triumvirat: Zimmer, Reinhardt und ich, wären, als das eigentlich Anziehende übrig geblieben, stieß aber bei R. auch auf Widerspruch, und als solchen, den ich anerkennen mußte (das Verletzende des Ausschlusses anderer Prätendenten). Blieb: mein Solo-opus mit Widmung, das aber R., wie Sie mir mitteilen, widerrät! Nun bleibt also der Frankfurter Dionysos ohne anderen Cult als den dankbarer und verehrender Herzen!“13 Aus der (ironischen) Bezeichnung für Reinhardt, Zimmer und Kommerell als „Triumvirat“ geht die enge Bindung der drei Wissenschaftler hervor.

IV.1 Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede Der Titel der Antrittsvorlesung, die Kommerell am 1. November 1930 an der Universität Frankfurt hält, lautet Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede (HH).14 Der Vortrag erscheint noch im gleichen Jahr bei Vittorio Klostermann als

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DLA Marbach, Karte Kommerell an Heinrich Zimmer vom 24.05.1936, Nachlaß Zimmer, A: 74.119/6. DLA Marbach, Karte Kommerell an Christiane und Heinrich Zimmer vom 15.11.1937, Nachlaß Zimmer, A: 74.120/12. DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 12.05.1934, Nachlaß A: Klostermann. Kommerell, Max: Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede, öffentliche Antrittsvorlesung, gehalten am 01.11.1930, an der Universität Frankfurt am Main, Frankfurt/M 1930 (Wissenschaft und Gegenwart 1). Fortan zitiert als Sigle HH. Vgl. dazu Cronheim, Fritz: Max Kommerell: Zwei Reden. Rez. zu Kommerell: Hugo von Hofmannsthal und Jugend ohne Goethe, in: Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst 37 (1931), H. 14, S. 338–339, hier: S. 338: „Max Kommerell, der [...] das Ewige dieses Dichters von seinem Zeitlichen sondert und die schönste Formel für den südlichsten Stamm des Deutschtums findet“. Siehe auch Heuschele, Otto: Erinnerungen an Max Kommerell, in: NZZ, Nr. 277 vom 08.10.1960 und Storck, Kommerell, S. 23 u. 26.

IV.1 Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede

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erster Band der Reihe Wissenschaft und Gegenwart, auf die im letzten Kapitel schon hingewiesen wurde. Kommerell vertritt in dieser Schrift keine starken, neuen Thesen, sondern spricht viele verschiedene Aspekte an und liefert ein Panorama zu Hofmannsthals Dichtungen. Dies liegt im Genre der akademischen Antrittsvorlesung begründet. Er will die Anerkennung der Fakultät erwerben, ohne einzelne Mitglieder durch überspitzte Aussagen zu verschrecken. Deshalb gerät die Darstellung Hofmannsthals zu einer blumigen Lobrede. Mit der Antrittsvorlesung will er ebenfalls nachweisen, daß er sich nicht nur in der Weimarer Klassik und im mittelalterlichen Heldenepos auskennt, sondern auch in der modernen Literatur und damit die ganze Breite seines Faches überblickt. Da dies allerdings seine erste wissenschaftliche Beschäftigung mit zeitgenössischer Literatur ist, geht die Rede kaum in die Tiefe, sondern fällt eher überblickshaft aus. Außerdem legt Kommerell eine akademische Salvatio auf Hofmannsthal vor, da er Kritik an Hofmannsthals Konkurrenten Stefan George üben möchte. Die Wahl Hofmannsthals ist programmatisch, da er von 1891 bis 1906 mit George in Kontakt gestanden und sich dann von ihm distanziert hatte.15 Wie bereits im zweiten Kapitel ausführlich beschrieben, fühlt sich Kommerell von George eingeschränkt und trennt sich deshalb 1930 von ihm. Mit dem Thema der Antrittsvorlesung vollzieht er seine Abkehr von George in der Öffentlichkeit. Die gezielte Provokation teilt er ihm in einem Brief vom 5. August 1930 mit: „Meine Antrittsvorlesung setzte ich auf 1. November 12 Uhr fest. Gegenstand: Hofmannsthal“ (BA 174). Wichtig für die Entwicklung von Kommerells intellektueller Biographie ist die Umorientierung, die sich nach dem Bruch mit George ergibt. In der Antrittsvorlesung spricht Kommerell das ambivalente Verhältnis zwischen Hofmannsthal und George an: „Sein Verhältnis zu George kann bei keiner Rede über ihn umgangen werden. Denn außer George wurde kaum jemand diesem alles in sich besitzenden Dichter ein Schicksal. Hofmannsthal ist Erbe, George ist Eroberer“ (HH 8). Dem „Eroberer“ George setzt er den „Erben“ Hofmannsthal entgegen: Sein Aufstieg sei von Natur gegeben, der Georges erzwungen. Zwar weist er auf die vorübergehende Abhängigkeit Hofmannsthals von George hin, spricht schließlich Hofmannsthal jedoch den Rang zu, über George urteilen zu können: „Gipfel in dieser Höhenlandschaft [der Aufsätze] bilden die frühen Seiten über Georges Hirtengedichte – kaum durch etwas über ihn Gesagtes erreicht“ (HH 26). Georges 15

Dazu siehe Rieckmann, Jens: Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifi kanz einer ‚Episode‘ aus der Jahrhundertwende, Tübingen/Basel 1997 und Alt, Peter-André: Hofmannsthal und die „Blätter für die Kunst“, in: Wahrnehmungen im Poetischen All. Fs. Alfred Behrmann, hrsg. v. Klaus Deterding, Heidelberg 1993, S. 30–49.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

Eroberungsdrang wird negativ beurteilt, Hofmannsthals frühe Erkenntnis gelobt: „Mit dem Blick des Genius hat der neunzehnjährige Hofmannsthal im George etwa der Pilgerfahrten den Mann der Tat und Gefahr erkannt, der die Wahl hat zugrundezugehen oder die Welt zu ändern“ (HH 10). Nicht der Drang zur Tat, sondern das Scheitern wird gewürdigt: Führer sein heißt die Aufgabe der Zeit so zu lösen, daß die Lösung auch für andere gültig ist. Dies hat Hofmannsthal nie angestrebt, und irgend ein Gesetz, nach dem sich handeln, nach dem sich in dieser durchaus abgründigen Zeit auch nur die Festigkeit des Fühlens gewinnen ließe, entnehmen wir ihm nicht. Das Gegenteil ist in seiner Gestalt rührend, in seinem Werk dauernd geworden: die Seele, die in die Welt ruft und der keine Antwort wird. Wo der siegende Wille versagt, wird oft der Puls der großen Rätsel hörbarer: darum ehren wir ja die Untergehenden, und ein solcher ist Hofmannsthal mit seinen tieferen Äußerungen. (HH 27)

Kommerell geht auf das Thema ‚Leben‘ ein, das seit der Jahrhundertwende einen breiten Bedeutungsrahmen gewonnen hat: „Der Gegensatz dessen, der sich daran [an das Leben] gibt, und dessen, der allem Lebendigen seinen Reiz ablistet, ohne es selbst in sich zu lassen, ging Hofmannsthal durch George auf“ (HH 10). Der Begriff des Lebens durchzieht die ganze Rede.16 Kommerell bezeichnet jedoch nur Hofmannsthals Werk – und nicht das Georges – als Öffnung zum Leben (vgl. HH 16). Für ihn wird also der Österreicher zum Dichter, über den er sich wieder dem Leben annähern kann. Wenn er die Lösung Hofmannsthals von George beschreibt, bewertet er zugleich seine eigene Trennung von George: „Ihr Auseinandertreten hat etwas Vorbestimmtes“ (HH 11). Hofmannsthal wird für Kommerell zum Antizipationsmodell seiner Emanzipation von George.17 Auffallend in der Rede ist, daß Kommerell zwar fast alle Schriften Hofmannsthals erwähnt, aber gerade die Bearbeitungen des spanischen Dramatikers Pedro Calderón de la Barca, den er durchweg ohne Akzent schreibt, besonders betont. Hofmannsthal, dessen intensive Beschäftigung mit Calderón bereits gut untersucht ist,18 verfaßte Das kleine Welttheater und Das

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An einer anderen Stellen heißt es: „Auch der so gewandelte Hofmannsthal findet nicht den einfachsten Weg ins Leben: den des Ich durch ein Du, er faßt das Weltganze mit dem ahnenden Geist“ (HH 19). Auch im Aufsatz Don Quijote und Simplizissimus findet eine implizite Auseinandersetzung mit George statt: „[W]ie in ihrem sprachlich wunderbar abgestuften Dialog zugleich alles enthalten und parodiert ist, was ein Leben zwischen Meister und Adepten, zwischen einem unbedingt an sich Glaubenden und einem Subalternen bestimmt (der, in höherem Sinn, nicht mitkommt, im gemeinen Verstand aber gescheiter ist, und, wie dem immer sei, doch, vom Glauben angesteckt, durch die imaginierte Wichtigkeit des Herrn eine kleine Wichtigkeit zu bekommen gedenkt), so [...]“ (EN 59f.). Grundlegend dazu siehe Schwarz, Egon: Hofmannsthal und Calderón, ’s-Gravenhage 1962.

IV.2 Nachlese der Gedichte

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Salzburger große Welttheater nach Calderóns El gran teatro del mundo, Dame Kobold nach La dama duende und Der Turm nach La vida es sueño. Außerdem beschäftigte er sich lange Zeit mit dem Semiramis-Stoff aus La hija del aire. Mit der Hinwendung zu Hofmannsthal finden bei Kommerell eine Öffnung zum Drama und eine Annäherung an Calderón statt.19 Kommerells Urteile über die Stücke nach dem Vorbild Calderóns fallen überwiegend positiv aus: „Das kleine Welttheater [ist] vielleicht das reichste, wenn auch nicht das geschlossenste Stück der Reihe“ der frühen Dramen (HH 16). Am Turm schätzt er die Tiefe des Ausdrucks, bemängelt aber den Inszenierungsgrad der Auftritte:20 „Der Turm, das letzte Werk, ist der Tiefe und Tragweite des Bescheides nach ein würdiges Vermächtnis, nur fehlt ihm zum Trauerspiel obersten Grades vielleicht die volle Körperlichkeit der mehr bedeutenden als gestaltenden Auftritte“ (HH 25). Die „Ablehnung allen Umsturzes“, die im Salzburger großen Welttheater gezeigt wird, kann er nachvollziehen. Kritisch steht er jedoch der zugrunde liegenden Vorstellung gegenüber: „Ihr fehlt als Begründung der eigentliche Königsgedanke!“ (HH 24). Das Thema der Herrschaftslegitimation wird er im Drama Das kaiserliche Blut weiter verfolgen (vgl. Kap. IV.3). Signifikant ist, daß Kommerell die Stücke auf das Leben im Sinne einer Vitalität bezieht, ihnen einen positiven Effekt zuschreibt, ja sie als „Öffnung gegen das Leben hin“ (HH 16) versteht: „Der Inhalt ist ein Werben um das Leben in immer glühenderen Graden ... die Art der Lebenserfassung ist jedesmal künstlerisch“ (HH 16). Die Beschäftigung mit Hofmannsthals dramatischem Werk und dessen Calderón-Bearbeitungen verstärkt Kommerells Loslösung von der Lyrik und damit von George.

IV.2 Nachlese der Gedichte Ein weiterer Gegenstand der Hofmannsthal-Rezeption sind die unveröffentlichten Gedichte, die im Nachlaß Hofmannsthals erhalten geblieben sind. Hier zeigt sich Max Kommerells Umgang mit literarischen Traditionen. 1934 wird eine Ausgabe unter dem Titel Nachlese der Gedichte im Fischer-Verlag publiziert.21 Die Vorbereitungen koordiniert Heinrich Zimmer in Abstimmung mit seiner Schwiegermutter Gerty. Über die Frage, welche Gedichte aufgenommen werden sollen, entstehen Differenzen zwischen der ‚Wiener Gruppe‘ um Gerty von Hofmannsthal, Max Mell und Rudolf Alexander Schröder auf 19 Vgl. Storck, Kommerell, S. 63 und Simon, Weltliteratur, S. 89. 20 Vgl. Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Max Kommerells Weg von George zu Rilke, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 300–313, hier: S. 303f. 21 Vgl. Hofmannsthal, Hugo von: Nachlese der Gedichte, Berlin 1934.

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der einen Seite und der ‚Heidelberger Gruppe‘ um Heinrich Zimmer, Christiane Zimmer und Max Kommerell auf der anderen. Hinzu kommt Peter Suhrkamp, der mit den Anliegen des Verlegers eine dritte Position vertritt. Die Diskussion der Beteiligten ist eine exemplarische Auseinandersetzung über Aspekte von Werkpolitik. Die ‚Wiener Gruppe‘ sieht sich in Treue mit dem Dichter verbunden und will dessen Publikationspolitik beibehalten. Die ‚Heidelberger Gruppe‘ versteht den Philologen als Sachwalter der Literatur, der eine lückenlose Aufmerksamkeit leisten und Vollständigkeit bei der Überlieferung jeglicher literarischer Zeugnisse gewährleisten soll. Die Verlagsseite setzt sich für eine knappe Auswahl ein, die auf den Markt zugeschnitten ist. Kommerell entwirft am 1. Januar 1934 einen Brief an Suhrkamp, Lektor des Fischer-Verlages, in dem er für eine möglichst umfangreiche Ausgabe eintritt: „Ich durfte bei dieser Gelegenheit [ein Besuch bei Zimmers] den lyrischen Nachlaß [Hofmannsthals] ohne Lücke in meinen Händen halten und einsehen und wir hatten lange Gespräche darüber“.22 Danach geht er auf das Problem einer posthumen Herausgabe ein: „Wenn hier für einen Nachlaßverwalter die Möglichkeit eines wohlwollenden Weglassens bestanden hätte: wer möchte es wohl heute auf seine schwachen Schultern genommen haben! Und doch liegt so etwas, jetzt für uns, bei Hofmannsthal, so bedenklich nah ...“.23 Da Hofmannsthal seinen Stil oft gewandelt habe, sei jedes einzelne Gedicht von großer Bedeutung: „Ich möchte diese Strenge [des Dichters gegen sein eigenes Werk] Metamorphosenstrenge nennen: der windschnell Verwandelte konnte sein Ich schon vorher nicht mehr vertragen!“24 In den weiteren Ausführungen beschreibt Kommerell sein Lektüreverfahren: Ich darf die Bemerkung dazwischenwerfen, daß mir durch die flüchtige Kenntnis dieser Abschriften und Urschriften der Begriff des ‚Hofmannsthalischen‘ nicht etwa erweitert, sondern vielmehr aus der Hand geschlagen wurde. Ob wir, ich möchte sagen, ob die wenigen Poesieverständigen der Gegenwart diesen Begriff überhaupt schon bilden können? Ich zweifle! Und ob nicht vielleicht schon der nächsten Generation unser Gewissen belächelnswert, d. h. gerade das nach unserem Begriff ‚Unhofmannsthalische‘ entscheidend oder doch höchst begehrenswert erscheinen möchte?25

22 Rauch, Maya/ Volke, Werner: „Anruf und Gegenruf“. Briefe und Dokumente zur Edition der ‚Nachlese der Gedichte‘ Hugo von Hofmannsthals von Heinrich Zimmer, Max Mell, Max Kommerell und Karl Wolfskehl, in: Hofmannsthal-Blätter 41–42 (1991–1992), S. 5–49, hier: S. 10. Die Briefe sind teilweise auch in der Briefausgabe von Inge Jens abgedruckt (BA 250–267), werden hier aber der Übersichtlichkeit halber durchweg aus Rauch/Volke zitiert. Die von Rauch/Volke hinzugefügten eckigen Klammern werden wie in der Briefausgabe von Inge Jens weggelassen. 23 Ebd. S. 12. 24 Ebd. S. 12. 25 Ebd. S. 11.

IV.2 Nachlese der Gedichte

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Indem er sich gegen vorschnelle Begriffsbildungen ausspricht, übt er indirekt Forschungskritik. Er versteht sich als einen der „wenigen Poesieverständigen der Gegenwart“. In dieser Haltung zeigt sich seine Tendenz zur Selbststilisierung. Zugleich geht er davon aus, daß spätere Forscher zu anderen, plausibleren Urteilen kommen könnten. Daraus spricht ein Bewußtsein für die Vorläufigkeit von wissenschaftlicher Erkenntnis. Am Ende des Briefes richtet er einen Appell an Suhrkamp: „Wir können uns ja dies Eine nicht gut verhehlen: nicht wir prüfen diese Gedichte, sondern sie prüfen uns! Ich finde also, wenn ich mich wiederholen darf, an dem schmalen typenreichen lyrischen opus Hofmannsthals fast nichts wegzulassen, – fast nichts, um nicht zu sagen: nichts!“26 Damit wird er zum Fürsprecher einer vollständigen Edition und demonstriert im Beharren auf Wiedergabe von Werkteilen und -stufen die Verteidigung philologischer Textumgangsformen mit einer tendenziell selektionslosen Aufmerksamkeit selbst für Marginalien und insuffiziente Zeugnisse. Schließlich schickt Heinrich Zimmer Kommerells Brief zusammen mit einem eigenen am 3. Januar 1934 an Suhrkamp.27 Er betont, daß in den Gedichten aus dem Nachlaß „ein anderer, manchmal fast unbekannter und oft überraschender Hofmannsthal“28 zum Vorschein komme. Suhrkamp hatte eingewandt, daß die bereits veröffentlichten Gedichte nicht in den Band aufgenommen werden müßten. Dagegen wehrt sich Zimmer vehement: „Kann es die Aufgabe der Veröffentlichungen aus dem Nachlaß sein, die einseitige, wenn auch enthusiastische Vorstellung, die wie ein Idol aus der Epoche der Gedichte und Kleinen Dramen sich verfestigt hat, zu nähren, anstatt vielmehr das komplexe so facetten- und tönereiche Gesamtwerk H.s., seine Gesamterscheinung sichtbar zu machen? [...] Diese Nachlese würde sich als Sammelbecken, in dem nun endlich alles beieinander zu finden ist, was lang zerstreut und nur mit Mühe zugänglich war, buchmäßig entwerten, wenn sie wiederum Lücken aufweist, auf die jeder Student die Finger legen kann. [...] Will sich die Nachlese nicht entwerten und der Inconsistenz zeihen lassen, kann sie kaum auf schon bekannte Stücke verzichten“.29 Dann schildert er ausführlich, warum Kommerell sich brieflich an Suhrkamp wendet: [...] während uns gerade die von Ihnen aufgeworfenen Fragen beschäftigten, war Dr. Max Kommerell aus Frankfurt unser Gast. [...] Ich meinte diese Gedichte zu kennen, aber was K. improvisierend auf Grund eines frischen Erlebens über sie sagte, schenkte mir manche in neuem Lichte. Ich fand seine unbefangene, von kei-

26 Ebd. S. 13. 27 In einem Brief vom 3. Januar 1934 an Max Mell, den österreichischen Dichter und Freund Hofmannsthals, bezeichnet Zimmer Suhrkamp als „wirklich eine liebe aber ‚saure Wiese‘ wie sein Name sagt“, ebd. S. 17. 28 Ebd. S. 13. 29 Ebd. S. 14f.

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ner Pietät oder philologischen Vorstellung sondern nur von einer fast hellsichtigen Empfindlichkeit getragene Meinung so eindrucksvoll, daß ich ihn bat, sie doch in einem Brief an Sie niederzuschreiben, der Sie ja persönlich mit ihm bekannt sind.

Wenn Zimmer hervorhebt, daß Kommerell durch „frisches Erlebnis“ und „hellsichtige[] Empfindlichkeit“ geprägt sei und sich gegen kanonische „philologische Vorstellungen“ wende, grenzt er ihn bewußt von den herkömmlichen Fachvertretern ab und stellt die Besonderheit seines Wissenschaftsstils heraus. Zimmer versucht, sich im Vorfeld gegen Kritik von etablierten Philologen abzusichern: „wer von uns hätte auch die Autorität, hinzutreten und Rede zu stehen, warum dies fortgeblieben, jenes hineingenommen wäre, wenn literarische Kritiker und Kenner, einerlei ob vom Schlage R.A. Schröders und Borchardts oder Nadler oder Schaeders, uns darüber befragten?“30 Daß er hier diejenigen Philologen nennt, die mit Hofmannsthal befreundet waren, zeigt den Einfluß Hofmannsthals auf die eigene Wirkungsgeschichte, den Christoph König anschaulich dargestellt hat.31 In einem Brief vom 3. Januar 1934 an Max Mell lobt Zimmer ebenfalls Kommerells Urteilsvermögen: [Ich lege den] Brief des erstaunlich begabten und unbefangenen Dr. Max Kommerell bei, der in der Generation junger Literarhistoriker gerade als Stern erster Ordnung in schnellem Aufgang ist [...]. Ich habe von seiner unbefangenen Betrachtung dieser Gedichte viel neues Licht empfangen, – sein Brief an S.[uhrkamp], den er persönlich kennt, sagt das Wesentliche besser als ich selbst könnte.32

Im gleichen Brief weist Zimmer daraufhin, daß es besser sei, möglichst viele Gedichte aus dem Hofmannsthal-Nachlaß zu veröffentlichen, solange dies noch nicht durch die Nationalsozialisten eingeschränkt werde.33 Auch gegenüber Mell betont er – „mit Menschen- und Engelszungen“,34 wie er selbst zu Kommerell sagt – die Notwendigkeit der lückenlosen Veröffentlichung: „wir sollten ihm [dem Zugriff anderer] aber nicht durch eine Zensur unsererseits vorgreifen, die so sehr wir nur auf spezifische Qualität und Vollendung zu sehen meinen, zeitgebunden, vergangenheitsgebunden ist“.35 Damit thematisiert er das Problem der Bewertung von Literatur und der Auswahl von Wertmaßstäben. Für ihn ergibt sich daraus die Konsequenz, für eine Gesamtedition einzutreten.

30 Ebd. S. 15. Gemeint sind Rudolf Alexander Schröder, Rudolf Borchardt, Josef Nadler und Hans Heinrich Schaeder. 31 Vgl. König, Christoph: Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen, Göttingen 2001, S. 172–268 und ders./ Oels, David (Hgg.): Hugo von Hofmannsthal – Walther Brecht. Briefwechsel, Göttingen 2005. 32 Rauch/Volke, Anruf, S. 17. 33 Vgl. ebd. S. 18. 34 Ebd. S. 22. 35 Ebd. S. 18f.

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Mell reagiert in seinem Antwortbrief vom 11. Januar 1934 auf die Vorschläge von Zimmer. Er spricht sich gegen eine „Vollständigkeit im philolog. Sinne“36 aus und stellt sich auf den Standpunkt, daß das „Schöne [...] nicht von Geberden begleitet werden [darf], die es kleiner, unfestlich, nervös abgleitend wiederholen“.37 Dahinter steht seine Absicht, die Ausgabe so zu gestalten, wie es Hofmannsthal selbst gemacht hätte. Hier wird die Position vertreten, bei der Herausgabe in erster Linie im Sinne des Dichters zu handeln. Das betrifft die Anordnung der Gedichte, die so sein solle, „wie sie der Dichter selbst in seinen Büchern liebte, und dem streben wir doch nach“.38 Daraus ergibt sich für Mell, daß alle Gedichte, die Hofmannsthal bereits zur Veröffentlichung autorisiert hat, in die Sammlung mitaufgenommen werden sollen. In diesem Punkt unterstützt er also Zimmer und wendet sich gegen Suhrkamp: „Jedoch: alles, was bisher irgendwo gedruckt ist, ist in diesen Band aufzunehmen, eine andere Publikation setzte sich ja in Widerspruch gegen bereits Verfügtes und Geschehenes, rückte davon ab – und das wäre unmöglich und auch gänzlich unnötig“.39 Ohne daß Zimmer in seinem Brief Kommerell explizit vorgeschlagen hätte, zieht Mell als Verfasser des Nachworts den österreichischen Dichter Rudolf Alexander Schröder vor: „Wenn die Abfassung eines Nachworts in die Hände R. A. Schröders zu legen wäre, schiene es mir am schönsten – so sehr mich einzelne Wendungen in Kommerells Brief entzückten und mir seine große Fähigkeit erhärten“.40 In einem undatierten Brief, der wohl von Mitte Januar 1934 stammt, berichtet Zimmer Kommerell von seiner Auseinandersetzung mit Gerty von Hofmannsthal und Max Mell: „Ich habe nur ein großes Gefühl des Dankes für den idealen Sekundantendienst Ihres wunderschönen Briefs, der die Berliner Front so ganz zusammenschlug, auch Mell, dem ich einen Durchschlag schickte, hat sich bei einem ganz gegensätzlichen Standpunkt, den Argumenten nicht ganz entziehen können“.41 Die militärische Metaphorik geht noch weiter: „Aber ist das nicht ein sonderbarer Zweifrontenkrieg, in dem ich da stehe? Aber wenn der Band so unverstümmelt herauskommt, wie Sie das Manuskript in Händen halten, dürfen Sie sich ein Teil des Verdienstes darum beimessen, Ihre spontane Art, diese vielfältigen Verse aufzunehmen, in denen Sie nur blätterten, Ihre Art, das Ganze zu sehen und an seinen Fleck zu rücken, wo es dies Ganze ist und hingehört, hat mich in diesen

36 37 38 39 40 41

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

S. S. S. S. S. S.

19. 20. 19. 19. 20. 21.

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Auseinandersetzungen der letzten Wochen schön gestärkt“.42 Hier werden unterschiedliche Auffassungen von Werkpolitik sogar mit dem Kriegsgeschehen verglichen. Zimmer ist sich dabei bewußt, in der Mitte zwischen den Interessen der Nachkommen auf der einen Seite und den Zielen des Verlegers auf der anderen Seite zu stehen. Dementsprechend bedauert er, daß Schröder das Nachwort schreiben soll: „mit ein paar Worten von Ihnen wäre dieser Band in meinen Augen vollkommen gewesen, in einer geheimnisvollen Weise über sein Fragmentarisches hinaus gerundet, und ich werde immer traurig sein, daß sie ihm fehlen werden“.43 Zugleich ermuntert er Kommerell, seine Gedanken über diese Gedichte in Form eines Zeitschriftenartikels publik zu machen: „Ich weiß nicht, [...] ob Sie’s mögen, etwas für die Neue Rundschau über die Gedicht-nachlese zu schreiben. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr ich mich freuen würde, wenn die Gedanken, die Sie in Ihrem Briefe aussprachen, und andere dazu, Ihnen lieb genug wären, sie für die Öffentlichkeit abzurunden“.44 Am 29. Januar 1934 berichtet Zimmer begeistert, daß Gerty von Hofmannsthal nun doch ihre Zustimmung zu einem Nachwort von Kommerell signalisiert habe.45 Kommerell verfaßt daraufhin ein Nachwort, in dem er verschiedene Überlegungen entwickelt.46 Schon der Auftakt ist unkonventionell: Ich habe nichts mitzuteilen über die Gedichte des Dichters Hugo von Hofmannsthal. Nur dies: wir wissen noch nicht, wer er war und was sie sind. Oh, sie sind voll Geist des Tanzes! Lauter göttlich berauschte Mädchenleiber, die unerwartet hinsinken, weil sie zu innig begeistert waren und den wundervollen Schlaf des Todes träumen. Denn auch Totsein ist eine Kunst, so verschieden geübt, wie der Schlaf, in dem die Menschen bald das Höchste, bald das Geringste sich schenken lassen. So sind diese Gedichte meisterliche Gefäße des Todes, wissende, selber berauschte von ihrem Trank; sie zeigen außen in getriebener Arbeit all die Bilder, zu denen er begeistern wird. Trinkt immer, und ihr werdet voll Todes sein, um das Leben weiser und sinnloser zu lieben! 47

Kommerell muß eine Art auswählen, wie er über Literatur, speziell über Lyrik, sprechen will. Er entscheidet sich hier für eine Mischung aus Wissenschaft

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Ebd. S. 22. Ebd. S. 21. Ebd. S. 21f. Vgl. ebd. S. 22f. Zu Entwürfen und Streichungen siehe DLA Marbach, Kommerell, Max: Nachlese der Gedichte, Nachlaß Kommerell, D: 86.446. Siehe auch König, Hofmannsthal, S. 402– 406. Rauch/Volke, Anruf, S. 24.

IV.2 Nachlese der Gedichte

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und Dichtung. Sein Text ist ein Versuch, im Medium einer dichterischen Sprache etwas über Gedichte zu sagen. Damit reißt er die Grenzen zwischen poetischem Ausdruck und literaturwissenschaftlicher Analyse ein und wird den Erwartungen, die an ein Nachwort gestellt werden, nicht gerecht. Außerdem behauptet er, daß man diese Gedichte noch nicht auslegen könne, wendet sich damit gegen eine Tätigkeit als Literaturkritiker und vertritt die Auffassung, ein Literaturwissenschaftler könne nur aus Abstand angemessen urteilen. An dieser Stelle deutet sich ein Erklärungsansatz an, warum Kommerell sich so wenig mit zeitgenössischer Literatur beschäftigt hat. Er bezeichnet die Gedichte des jungen Hofmannsthal als „altklug“48 und beschreibt ihn mit der Metapher des puer senex. Außerdem hebt er Hofmannsthals Modernität hervor: „Doch soll man die göttlichen Urwelttaucher nicht kränken. Sie tun ja doch etwas ganz Ähnliches. Auch sie tauchen, und wissen es nicht, ins Ich, in ihren Traum, und, wenn Gott es ihnen erlaubt, in Gottes Traum. Nur meine ich: kann ein nicht moderner Mensch wirklich ganz weise sein?“49 Modernität fungiert hier als positives Etikett, im Gegensatz zu Kommerells Schiller-Studien, in denen er der modernen Entfremdung des Menschen kritisch gegenübersteht (vgl. Kap. VII). An einer anderen Stelle reflektiert er wieder seine Lektüreerfahrung: „‚[...] Die ganze träumerisch langsame Baugeschichte eines Atolls hat er mir erzählt und nie erblickte Wesen, in Meerfarben gekleidet, in der kurzen Minute, während welcher die Perlen von meiner Haut tropften – freilich nicht immer so, nur wenn die Stunde gut ist!‘ Und wir staunen und nicken Einsicht und kommen heim zu uns selber und wollen es auch versuchen. Aber es will nicht recht“.50 Literatur wird damit zum – begrenzten – Modell für das eigene Leben. Hofmannsthal, der „in unserer Sprache [...] nichts mehr sagen, das Halbgesagte nie zu Ende sprechen“51 werde, ist für Kommerell ein Dichter der Verwandlung: Seine Seele ist ohne Wände. Alle Dinge können jederzeit in sie treten, wie Geister in ein Zimmer. Und welche Dinge? Diese: die süßgeängstigten, denen ihre Stunde kommt – die sich übermächtig dehnen müssen – die Dinge im Übergange. [...] Die Dinge in ihrem Übergang, wo der große Hauch zu ihnen kommt, über dem sie sich erst ganz spüren und doch sich verlieren müssen. Das geht ihn an, denn so ist er selber. Und was ist ihm Werk? Hätte ich einen umschreibenden Namen für ihn zu erfinden, so würde ich ihn den Meister der schnellen Verwandlungen nennen.52

48 49 50 51 52

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

S. S. S. S. S.

24. 25. 25. 28. 26.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

Mit dem Übergang53 ist eine Verwandlung verbunden: „Ahnen wir denn, daß er einen Herrn hatte, dieser unbeständig verwandlungsfrohe Luftgeist! Bald hieß dieser Herr Leben, bald Tod, und sandte ihn bald ins Fernste, bald ins Nahe, mit seltsam leichten, heimlich schwierigen Befehlen. Denn es ist nichts wahrhaft Seiendes als die Verwandlung“.54 Kommerell erkennt zwischen den Gedichten einen hohen Grad an Referentialität: Eines deutet aufs andere. Da ist ein ganz frühes, vielleicht noch nicht in jeder Zeile Gedicht, in mancher anderen aber etwas Mächtigeres. Es heißt: Sünde des Lebens. Es nimmt etwa die Stufe des großen Märchens vorweg, der Frau ohne Schatten. Also einer Stufe, von der keine Gedichte mehr Zeugnis geben. Wo wäre sonst in dem schmalen, aber artenreichen lyrischen Werk das Beispiel der höchsten ergänzenden Gerechtigkeit, die nach dem Recht des Niedrigen, Verstoßenen, Stummen, Toten, Gottlosen aufrührerisch Umfrage hält, bis jedes Seiende und Nichtseiende in der Hand des Richters seine Hand miterhebt? So ist vieles, was hier steht, schon darum unersetzlich, weil es allein eine ganze Art vertritt.55

Dahinter steht die problematische Vorstellung, daß das Gesamtwerk eines Autors aus den einzelnen Teilen erklärt werden könne und umgekehrt (vgl. Kap. V). Am Beispiel der Diskussionen um die Nachlese der Gedichte läßt sich ein Blick auf das Verhältnis von Brief und Publikation bei Kommerell werfen. Dazu ist noch einmal Kommerells Brief an Suhrkamp vom 1. Januar 1934 heranzuziehen. Dort schreibt Kommerell: Es sind uns nämlich eine Reihe seiner Gedichte seit Jahrzehnten fast so gemütlich geworden wie Grimms Märchen: Gedichte die ohne Ausnahme die reifste Geschlossenheit der letzten romanischen und englischen Verskunst als selbstverständlichen Anfang übernehmen, obwohl das Leben des Momentes in ihnen unverloren bleibt – Hofmannsthals lyrische Klassik sozusagen – gewiß wundervolle Gedichte. Nun bin ich erfüllt und fast betäubt von dem Leben ganz anderer Gedichte, die ich Ihnen nicht bezeichnen kann. Solche, die nur ein Atemzug sind, und gar nichts mehr als eine unbewachte Gebärde der Seele ... die für die Lippe, die sie nachsprechen darf, eine Minute dauern, aber in ihrer geistigen Dauer unermeßlich schneller vorüber sind – und doch Ewigkeit. Sie sind kaum noch Form oder lächeln ihrer, sie sind so bedingungslos unmittelbar, daß wir gesetzte Leute (wer wäre es nicht gegenüber diesem flügelschnellen Tänzer) es kaum mehr denken können. Daß sie dennoch Gedichte sind daß der in geisterhaftem Gleiten hingetragene Wein unverschüttet bleibt, das kann man nicht erklären, es ist eben so und hat seinen Grund.56

In dem Entwurf für das Nachwort, der zur Veröffentlichung gedacht ist, findet sich ein Absatz der fast wortwörtlich mit dem Ausführungen an Suhr53 54 55 56

Vgl. Weichelt, Horizontbildungen, S. 301–316. Rauch/Volke, Anruf, S. 28. Ebd. S. 28. Ebd. S. 11.

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kamp übereinstimmt. Kommerell greift also auf Formulierungen aus der privaten Korrespondenz für seine Veröffentlichungen zurück. Für das Nachwort hält er fest: Und doch war uns das ‚Hofmannsthalische‘ bisher der Begriff für einige wenige Gedichte, welche die reinste Geschlossenheit der letzten romanischen und englischen Verskunst als Anfang übernahmen, obschon das rastlose Leben des Moments ihnen unverloren bleibt. Was ist nun ‚Hofmannsthalisch‘, nachdem die Menschen dieses Buch kennen? Der Ton schafft das Ohr. Wir können nichts Klügeres tun als töricht werden über dem süßen Leben einiger ganz anderer Gedichte hierunter – solcher, die nur ein Atemzug sind, und gar nichts mehr als eine unbewachte Gebärde der Seele – die für die Lippe, die sie nachsprechen darf, eine Minute dauern, aber in ihrer geistigen Dauer unermeßlich schneller vorüber sind – und doch Ewigkeit. Sie sind noch Form, aber lächeln ihrer. Sie sind so bedingungslos unmittelbar, daß wir, die wir zwischen Schrei und Marmor zu wählen pflegen und kaum mehr ein Drittes geschweige ein Tausendstes dazwischen uns einbilden können, uns vergeblich fragen, wie sie es anfangen, doch Gedichte zu sein, wie ihr in geisterschnellem Gleiten von einem geflügelten Eros hingetragener Wein unverschüttet bleibt.57

Kommerell dient das Medium des Briefes für die Entwicklung seiner Ideen. Zuerst formuliert er seine Gedanken bei der brieflichen Niederschrift und benutzt dann im zweiten Schritt seine Briefe als Bausteine für seine Veröffentlichungen (vgl. Kap. VI). Darin zeigt sich der für ihn typische Weg vom Brief zum Werk. Am Ende schließt er den Bogen und kommt auf die Eingangsfrage, ob den Zeitgenossen schon ein Urteil über Hofmannsthal zustehe, mit folgender Behauptung – ebenfalls in Anlehnung an den Suhrkamp-Brief – zurück: „Ich sage: nicht wir prüfen diese Gedichte, sie prüfen uns“.58 Trotz der Vorfreude und des großen Einsatzes für Kommerell findet das Nachwort bei Zimmer keine Zustimmung. Er entscheidet, es nicht in die Ausgabe aufzunehmen. In einem ausführlichen, undatierten Brief von Anfang Februar 1934 begründet er Kommerell gegenüber die Ablehnung des Nachwortes. Eingangs stellt er die Gattung des Textes in Frage: „daß man als Nachwort zu einem ganzen Gedichtband nicht gut etwas bringen könnte, was eigentlich keine Prosa ist, sondern lyrisch-hymnisch beinahe selbst wieder Poesie statt Rede und wie die Gedichte selbst wiederum durchaus an spontanes sich-Ergreifenlassen beim Leser reflektiert, anstatt auf ein aufmerksames mitdenkendes Folgen, – eine Art Rhapsodie mehr über den Dichter als diese Gedichte in ihrem merkwürdigen Beieinander“.59 Zimmer analysiert schonungslos die Schwächen von Kommerells Text. Er versucht ihm verständlich

57 58 59

Ebd. S. 27. Ebd. S. 29. Ebd. S. 33.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

zu machen, warum Gerty von Hofmannsthal das Nachwort ablehnen würde: „Wir sind recht unglücklich darüber [es ablehnen zu müssen], lesen es immer wieder, lesen es uns vor und sind uns ganz klar darüber geworden, daß Frau von H. dieses Genre von Nachwort – eine Art Libellentanz mit funkelnden zitternden Flügeln über dem Spiegel mehr der Erscheinung dieses Dichters als der Eigenart dieser Nachlese, die ein erklärendes Nachwort verträgt, – daß dieses Genre von Nachwort und Manches Einzelne darin Frau v.H. ganz unakzeptabel ist. Es würde bei ihr auf gar kein Verständnis stoßen und sie sehr unglücklich machen“.60 Außerdem charakterisiert Zimmer Kommerells Stil. Er hebt dabei besonders plastisch dessen assoziatives Verfahren hervor: „Es ist mehr eine lyrische Improvisation beim Anblick des Bandes, voll Ausblicken in die bedeutendsten Zusammenhänge im gesamten Dasein der Erscheinung H[ofmannsthal]s., immer abspringend wieder von der Materie des Buchs, aber gerade eben sie nicht durchdringend, sondern sich hebend in höchste Sphären, wo mitunter die Worte ihren bestimmten Sinn zu verlieren drohen“.61 Kommerells Mischung von Poesie und Prosa müsse auf den Leser verwirrend wirken: „wer aber von den Lesern, denen das Buch zugänglicher gemacht werden soll, wird diese eigenwilligste Form eines poème en prose ohne Befremden gewahren?“62 Er verbinde Bilder von leichtem Tanz und tiefgründigem Fischen: „So ist es ein Libellentanz geworden, à fleur de l’eau mit einzelnen wunderbaren Stößen in die Tiefe und Weite, aber so eigenwillig im Schwirren und Verweilen, an seinem Platze eher befremdend als dienlich“.63 Aus dem Brief wird die Hierarchie zwischen beiden deutlich. Zimmer nimmt die Rolle des Lehrers ein, Kommerell ist sein Schüler: „Lassen Sie mich bitte weitersprechen und nehmen Sie’s in Geduld auf, ich hab das Bedürfnis, Ihnen im Einzelnen zu begründen, was uns so bedenklich scheint, daß wir das Ganze nicht glauben übernehmen zu können“.64 Zimmer reklamiert für sich Strenge und Genauigkeit in Anspielung auf Wagners Meistersinger: „Aber lassen Sie mich den Beckmesser spielen statt den Hans Sachs, der sich immer wieder an diesem ‚Schnabel hold gewachsen‘ erbaut, statt nach der ‚Tabulatur‘ die Fehlerstriche mit der Kreide zu hämmern“.65 Anstelle des wohlwollenden Hans Sachs, der der Lehrer von Stolzing ist, will Zimmer lieber als Beckmesser auftreten, der die einzelnen Fehler detailliert

60 61 62 63 64 65

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

S. S. S. S. S. S.

29. 30. 33. 37. 33. 33f.

IV.2 Nachlese der Gedichte

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anmerkt. Auf der anderen Seite ist seine Beziehung durch Zuneigung und Ehrlichkeit gekennzeichnet: Lieber Freund, wie kommen Sie eigentlich dazu, dies Blatt um Blatt zu lesen [...] – aber so ist Liebe, denn ohne Liebe, die der Person und dem gemeinsamen Projekt in gleichem Maße gilt, wär ich nicht so ausführlich. Und Ihre Liebe zu diesem Gegenstand fordert, daß ich ganz sage, ‚wie’s is‘, daß nicht irgend ein Bodensatz des Beschwiegenen, Geschonten Ihnen etwas vergiftet. Ich hab den Eindruck, daß leider Alles überstürzt wurde, Sie hätten ein paar Monde Zeit haben müssen, das kleine Projekt liebend in sich zu bewegen, mit den Gedichten im Einzelnen kleine Zweisprache zu halten, die Fülle des Einzelnen mit der Fülle des übrigen Werks in ein Netz spielender Bezüge zu setzen, um dann aus dieser inneren Fülle ein wohlausgetragenes Kleines herauszubringen. [...] Dies Gedränge in Zeit und Termin, was der Verleger uns noch jedesmal bei diesen Drucklegungen zugemutet hat, ist für eine Leistung, wie sie Ihnen hier nahegebracht wurde, die allerfatalste Voraussetzung, – 66

In diesen Sätzen kommt das Ethos eines Philologen zum Ausdruck, der sich durch Liebe, Zeit und Aufmerksamkeit für den Gegenstand auszeichnet. Damit knüpft Zimmer an Vorstellung aus dem 19. Jahrhundert an. Bei aller Kritik schätzt er Kommerells geniale Einfälle und bittet ihn um Entschuldigung, daß er das Nachwort ablehne: „Lieber Freund, im Begriff den Brief zu schließen, überlas ich den Text noch einmal und bin wie von etwas mir Neuem von seinem Zauber ergriffen. Es ist etwas Wunderbares, kindhaftes Weises, – werden Sie begreifen, daß ich ihn trotz meiner Liebe für ihn, nicht als Nachwort bringen kann?“67 Zur allgemeinen Beurteilung kommt noch eine detaillierte Analyse. Zimmer greift sich einzelne Aussagen Kommerells heraus und unterbreitet konstruktive Vorschläge: „Der Begriff des ‚Typenreichen‘ wäre mit ein paar Hindeutungen auf Stile und Genera mit Gehalt zu füllen gewesen“.68 Er fordert Hinweise zur Einordnung in die Epoche: „Überwindung des Ästhetismus [sic] und Symbolismus [...]. Hierüber etwas Substantielles, dabei Schwebendes, wäre höchst dankenswert gewesen, da es sich am Prüfstein der 3 Berliner Auguren nun einmal ergeben hat, daß viele Leser absolut nicht wissen werden[,] was sie in Händen halten mit diesen und vielen anderen Versen“.69 Zimmer vermißt ein ausgewogenes Verhältnis von Nähe und Distanz: ‚Ich habe nichts mitzuteilen...‘ – das ist preziös, und was soll ein argloser Leser, dem Kommerell noch kaum ein Name, viel weniger eine Stimme, ein Gesicht ist, dazu sagen. Dann aber wieder eine Nähe: Sie lassen H. reden, in direkter Rede, Sie

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

wissen[,] wie er zu jemandem gewesen wäre im Umgang, – in einer Imagination die nichts Plastisches hat, wer sind ‚Wir Archaisierenden‘ – wer soll sich da einbegriffen fühlen, welche persönliche, nicht eigentlich intime vielmehr private Situation wird hier zur gültigen ausgeweitet und dem Leser zugemutet, sich in sie einzubooten, ohne daß er eigentlich recht weiß, mit wem er nun in einem Kahn zusammensitzt, wohin die Reise geht?70

Ein zentraler Punkt von Zimmers Kritik ist Kommerells Hang, assoziativ zu improvisieren und die Gegenständlichkeit zu verlassen: „Daß alle Dinge ihre Brautnacht haben, – gewiß und wunderschön, – aber was besagt das präzis zu diesen Gedichten, das ist eine wundervolle Improvisation à propos von Dichtung überhaupt, hier uns eher ein bißchen mal à propos zum Konkreten des Bandes“.71 Er wirft ihm vor, das falsche Zielpublikum ins Auge gefaßt zu haben: „Ich könnte mir gerade denken, daß dieser einen HofmannsthalEnthusiasten als Leser verstimmen mag, denn begeistert ist er selbst und sowieso, das braucht ihm keiner vormachen und einheizen, und so verkannt ist ja der Dichter nicht, auch wenn ihn wenige zur Zeit lesen (seit wann werden die großen Dichter viel gelesen)“.72 Zimmer erkennt und beschreibt anschaulich Kommerells Tendenz zur Selbstreferentialität. Er stellt eine „variierende spielende Erfindung des Interpreten“ fest: „Diese Fragen um den ‚Finger‘ herum haben etwas spielerisch preziöses (ich hab bei diesem Ton die Vorstellung eines mit Garnknäul spielenden Kätzchens) und wer ist der ‚Weise‘, der mit preziöser Selbstverständlichkeit, etwas abrupt und ganz anonym aus der Versenkung taucht?“73 Die Metapher, daß Kommerell mit Wörtern wie ein Kätzchen mit dem Wollknäuel spiele, ist bezeichnend für Kommerells aphoristischen, spielerischen und verwirrenden Stil. Wie die Katze im Garn, verliert er sich mitunter im Sprechen über sprachliche Gebilde. Zimmer unterstellt, daß Kommerell das Nachwort nicht für den Leser, sondern für sich selbst geschrieben habe: „ich hatte eigentlich gehofft, Sie würden dabei auf das eine oder andere Gedicht hinweisen [...], dann würde es dem Leser viel mehr dienen (aber Sie haben halt mehr an sich und an den Dichter gedacht als an die Leser und die Gedichte)“.74 Er lobt Kommerells Einfühlungsvermögen, wünscht sich jedoch mehr Konkretheit: „Was die Situation nach unserem Gefühl gefordert hätte, wäre eine Reihe sehr präziser Verknüpfungen und Benennungen, denen gerade Ihre Art das notwendig Schwebende, Gleitende zu geben vermocht hätte,

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IV.2 Nachlese der Gedichte

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ohne die diese zarten Dinge nicht berührt werden können“.75 Er drückt sein Vertrauen zu ihm aus, erinnert ihn aber an die Erwartungen anderer: Ich weiß nicht genau, was man zu all diesen Punkten sagen sollte, und in welchem Ton man sie berühren müßte, da verließ ich mich ganz auf Sie, nachdem Sie in Gespräch und Brief das Verschiedenste wie mit einem leuchtenden Finger leicht angerührt hatten und es begann davon wie von innen aus seinem eigenen Licht zu glühen. Eine solche liebevolle, erleuchtende Nähe zu Vielem Einzelnen, was der Band an halben Rätseln, schönen Fragen oder Fremdheiten aufgibt, hätte ihm im Nachwort gedient, sie wäre auch zugleich Distanz gewesen, wie sie der Leser, dem die persönliche Ergriffenheit des Nachwortschreibers von vornherein noch nichts besagt, der sich eher verwundert, mit den Gedichten auch ein Nachwort mitgekauft zu haben, erwarten möchte.76

An dieser Stelle werden Zuneigung und Distanz dem vorbildlichen Philologen als Eigenschaften zugeschrieben. Zimmer fordert Kommerell auf, dem Leser mehr Orientierung, z. B. durch Verweise auf die zeitliche Abfolge, zu geben: „Das Metamorphosenhafte der weggeworfenen Wesenshüllen hätte wohl [e]in Hinweis auf präzise Verwandlungen an der Materie des Bandes und der Chronologie der Gedichte leicht ausgeführt werden müssen, um dem Leser das überaus Wichtige dieser Perspektive wirklich nahzubringen“.77 Er weist ihn darauf hin, daß sein Nachwort nur zu verstehen sei, wenn man ihn persönlich kenne: „ich glaube genau zu wissen, was Sie damit meinen, und es ist wunderbar gesehen und führt weit (erhellt z. B. die ‚Silvia‘ wunderbar), aber es scheint mir zu knapp und darum vag, um irgend einem Leser das Richtige oder überhaupt etwas gedanklich klar Beglückendes zu sagen“.78 Bei Anerkennung der künstlerischen Begabung bemängelt er aber Kommerells handwerkliche Fähigkeiten: „bei diesem Nachwort empfinden wir immer schmerzlich die Diskrepanz dieses Stils zum übrigen Buch. Wie man solche Beiworte gut macht, – eine nüchterne Frage des métiers, bei allen Gnadengeschenken der Intuition ganz terre à terre, hat eigentlich H. selbst in seiner Prosa uns immer wieder vorgemacht“.79 Er tritt dafür ein, den Leser stärker auf der rationalen als auf der emotionalen Ebene anzusprechen: „was der [Hofmannsthal] Liebende wünschen muß von solchem Nachwort, ist nicht der Ausdruck weitgespannter Hingabe, sondern Begegnungen im Verstehen und sich Erhellen vieler Einzelheiten, Funde und Nüancen“.80

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

Bei aller Kritik versucht Zimmer trotzdem, Kommerell ein wenig aufzumuntern: „die Beziehung zum Volkslied [...] völlig genial im [Gedicht] ‚Kirchturm‘, der mich garnicht mehr losläßt, seit Sie ihn gleich so ergriffen und ich ihn im Einzelnen dem Mell brieflich interpretieren mußte, der ihn garnicht gelten lassen wollte“.81 Er ermutigt ihn sogar, später den Entwurf auszubauen und seine Gedanken über Hofmannsthal in einer systematischen Studie zu entwickeln: „Ich wünschte mir sehr, daß Sie in Jahren, wenn sie das gelassen und meisterlich bewältigen werden, was Sie diesmal wie Ikarus erfliegen wollten, diesen Gedanken, der wie ein großer Blitz das ganze Werk erhellt und sich in allen Werken glänzend spiegelt, in einem entscheidenden Kapitel durchführten“.82 Das bereits Angelegte könne später ausgeführt werden: „Aber wir wünschen uns so sehr, daß Sie’s nicht schwer nehmen und einmal später Alles, was keimhaft wunderbar in und zwischen Ihren Zeilen steht und was Sie wunderbar dazu aus Ihrer Brust wie aus der ätherischen Luft Ihres Lebens greifen werden, ins Licht treten wird in einer Form, die Allen Alles sagen kann“.83 Zimmer hebt einige Überlegungen, die im Brief an Suhrkamp geäußert werden, noch über den Entwurf zum Nachwort hinaus und unterschützt damit Kommerells Weg vom Brief zum Werk: „Der Hinweis ‚Heute bin ich Nietzsche begegnet...‘ usw. scheint uns sehr glücklich, machte noch klarer was Sie meinen, fehlt jetzt leider (wie wir überhaupt die Fassungen im Brief an S.[uhrkamp] in Ihren Abweichungen vorziehen möchte)“.84 Zimmers Forderungen nach präziser Beschreibungssprache und gattungstheoretischen Reflexionen werden eine seit Mitte der 1930er Jahre beobachtbare ‚Verwissenschaftlichung‘ im Œuvre Kommerells befördern. Diese folgenschwere Korrektur seines Sprechen über Literatur, auslöst durch die entschiedene Intervention des väterlichen Freundes gegen die im Nachwort präsentierte entgrenzende Essayistik, wird in den folgenden Kapiteln rekonstruiert werden. Kommerell versteht die Einwände Zimmers und akzeptiert, daß sein Nachwort nicht veröffentlicht wird. Am 7. Februar 1934 antwortet er mit einer Mischung aus Einsicht, Enttäuschung und Ironie: Ich habe, durch meinen Brief an Suhrkamp Ihre Erwartungen gereizt und sie nicht erfüllt, nachdem Sie so viel dafür gekämpft haben. Ihr Brief ist so schön und richtig – warum geben Sie nicht ihn als Nachwort? Sie wissen ja auch in Literatur-Geschichte mehr als ich, – die Freude überwiegt (wie gesagt): diesen Anruf und Gegenruf zu besitzen. Schade, daß wir kein Publikum haben. Sonst wä-

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IV.2 Nachlese der Gedichte

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re beides als Nachwort einzurücken: ‚Nachwort und Brief zur lyrischen Nachlese Hofmannsthals!! 85

Aus diesen Zeilen wird deutlich, wie gern sich Kommerell Zimmer gegenüber in die Schülerrolle begibt und damit die Hierarchie manifestiert. Sein Text findet schließlich doch noch ein Publikum und wird 1954 in der Neuen Rundschau veröffentlicht.86 Die Nachlese der Gedichte erscheint jedoch ganz ohne Nachwort. Da noch ein weiteres, langes Gedicht Ein Brief an Richard Dehmel aufgenommen wird, bleibt auch kein Raum mehr für die Nachbetrachtungen von Rudolf Alexander Schröder. Zimmer berichtet Herbert Steiner im Februar 1934 vom ganzen Vorgang: Zu den Gedichten hat sich noch ein Fund gestellt, den ich heute zum Einschub noch an Fischer geschickt habe, ein Brief an Richard Dehmel [...] Ich freue mich sehr, daß wirs noch hineinbringen konnten, in die eigenartige Vielstimmigkeit der Nachlese bringt es einen dort ganz fehlenden Ton und diese Soldatenspielerei [...] durchzieht ja viele Jahre. [...] Ich war in fortgesetztem Gewurl wegen der Gedichte, deren Druck furchtbar drängt, das Buch soll möglichst noch in diesem Monat heraus, hinzu kam die Geschichte mit dem Nachwort, ein erneutes Hin und Her, jetzt haben wir beschlossen, daß das Buch ganz ohne ein solches erscheinen soll, aber vielleicht hat der Verlag sich noch nicht ganz damit abgefunden. Wir werden aber fest bleiben.87

Zimmer setzt sich anschließend dafür ein, daß der Gedichtband rezensiert wird. Ein Text blieb erhalten, in dem er seine Überlegungen für eine Rezension formuliert. Otto von Taube könnte der anvisierte Empfänger sein.88 Aus diesem Text wird wiederum Zimmers Hofmannsthal-Bild deutlich. Außerdem zeigt sich bei ihm ebenfalls eine Tendenz, Ideen, die in der privaten Gelehrtenkorrespondenz entwickelt wurden, in die Öffentlichkeit zu bringen. Er schlägt vor, den Gedichtband als Aufhänger für eine längere Untersuchung über Hofmannsthal zu nehmen: „vielleicht wäre der ganze Aufsatz, den Sie planen abzustellen auf die Erhellung dieses Themas: Hofmannsthal und die Funktion (oder Problematik) des Dichterischen, dabei darauf zu verweisen, daß eben dieser neue Band erst die Äußerungen bringt, die dieses Thema aus dem Hintergrunde seines Schaffens heraufheben“.89 Zimmer liest die Gedichte als eine Reflexion auf das Medium der Dichtung an sich: „Man kann geradezu fast ohne Übertreibung sagen, daß die ersten lyrischen Zeugnisse [...] sich fast nur um die Problematik und (positiv gesehen) Aufgabe der Dichtung und ihrer menschlich-sittlichen Voraussetzung, nämlich einer

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Ebd. S. 38f. Kommerell, Max: Nachlese der Gedichte, in: NR 65 (1954), S. 568–573. Rauch/Volke, Anruf, S. 39. Vgl. ebd. S. 8. Ebd. S. 41.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

außerästhetischen schönheitstrunkenen Einstellung, einer bald verantwortlich bald magisch gesehenen Weltverbundenheit drehen“.90 Wie Kommerell in seiner Antrittsvorlesung, stellt auch Zimmer Hofmannsthals Lebensbezug in den Mittelpunkt: „‚Was das Leben braucht‘ das ist die Formel für das, was sich in den lehrhaften frühen Gedichten und Sonetten in verschiedene Formeln kleidet und sie mit immer anderen Hauptwerken verbindet, wo dies ‚was das Leben braucht‘ im Mittelpunkt steht“.91 Einige seiner Formulierungen klingen ähnlich wie Kommerells: „es sind durchaus Innenräume der Seele, psychische Attitüden, seelische Atmosphären“.92 Der Einfluß von Kommerell zeigt sich besonders stark, wenn Zimmer erneut das Kirchturm-Gedicht lobt: „in dieser Richtung gehört für mich ‚Kirchturm‘ zu den bezauberndsten Stücken, dieses intuitive sich Weiterspinnen mit teils unterirdischen Verbindungen der Gefühle und Bilder wie im Traum, äußerlich die Incohärenz, das ‚Zersungene‘ des Volksliedes annehmend, faktisch damit eine höchst feste und freieste Form des Entfaltens und Verknüpfens ganz schwebend zu bringen, mit dieser Wendung des Ausklangs usw“.93 Insgesamt bleibt festzuhalten, daß sich aus den Diskussionen um die Hofmannsthal-Gedichtausgabe verschiedene Ergebnisse für diese Untersuchung ergeben. Der Briefwechsel zeigt unterschiedliche Positionen von Werkpolitik, bei denen sich die Nachkommen, die Herausgeber und die Verleger gegenüberstehen. Aus den unterschiedlichen Interessen resultieren divergierende Textumgangsformen. Kommerells Nachwort illustriert das literaturtheoretische Problem des Sprechens über Literatur. Er wählt eine Überschreitung der Grenze zwischen Wissenschaft und Dichtung. Sein Hang zur Selbstreferentialität wird von Zimmer schonungslos aufgedeckt. Der Stil drückt sich in einem spielerischen, losgelösten und blumigen Ton aus. Er sucht sich gerne eine väterliche Rollenautorität, die hier von Zimmer eingenommen wird. So entsteht ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Wissenschaftlerkollegen. Es wird deutlich, daß Kommerells Produktionsverfahren darin besteht, den privaten Brief als einen Schritt zum publizierten wissenschaftlichen Text zu nutzen. Aus den Diskussionen werden die Wege der Ideen anschaulich: vom Brief zum Werk.

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IV.3 Das kaiserliche Blut

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IV.3 Das kaiserliche Blut In diesem Unterkapitel wird Kommerells Drama Das kaiserliche Blut (KB)94 analysiert und interpretiert. Dazu wird zuerst sein Weg von Hofmannsthal zu Calderón nachgezeichnet. Calderóns Drama En esta vida todo es verdad y todo mentira, das ihm als Vorlage dient, wird herangezogen, um die produktiven Umdeutungen zu erläutern, die er in einer freien Symbolik und in Motivpaaren entwickelt. Abschließend wird ein Vergleich mit Hofmannsthals dramatischen Texten Kaiser Phokas und Der Turm unternommen. IV.3.1 Der Weg von Hofmannsthal zu Calderón Kommerells Hofmannsthal-Rezeption wird, wie gezeigt, über Heinrich Zimmer vermittelt. Durch Hofmannsthals Auseinandersetzung mit Calderón gewinnt Kommerell Interesse an dem spanischen Dichter. Seine Annäherung an Calderón schreitet dabei im Dialog mit Zimmer voran. Wie in den Ausführungen zu Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede nachgewiesen wurde, interessiert sich Kommerell speziell für Hofmannsthals Calderón-Bearbeitungen. Die Dramen, die er bei Zimmer im Hofmannsthal-Nachlaß findet, erwecken sein besonderes Interesse: „Und nun hab ich Ihnen zu danken für die œuvres complètes mit der Zugabe der Dame Kobold die mir besonders lieb und wichtig ist. Märchenhaft, wenn einem ein lang gehegter Wunsch so plötzlich und lautlos erfüllt ist. Ich wäre sonst sicher lang nicht zu diesen lieben Büchern kommen [sic]!“95 Die Annäherung an Calderón vollzieht sich gleichsam über den von Zimmer vermittelten Hofmannsthal. Kommerell, der vor seiner Beschäftigung mit Calderón kein Spanisch kann, lernt es, um Calderón im Original lesen zu können: „[...] die Stunden, die frei sind, laß ich mich von einem anderen Zauber verzaubern, demzulieb ich die Sprache seiner incantatio erlernte: es ist Calderon“.96 Dabei macht er rasche Fortschritte: „Ich lerne jetzt auch spanisch Lesen. Da ist alles noch viel Selbstverständlicher – ja wohl, Selbstverständlich im Wunderbaren“.97

94 Vgl. Kommerell, Max: Das kaiserliche Blut. Ein Drama im barocken Stil, Frankfurt/M 1938. Fortan zitiert als Sigle KB. Zum folgenden siehe auch Weber, Christian: Vom ‚Jünger‘ Georges zum „Schüler“ Hofmannsthals. Max Kommerells Auseinandersetzung mit seinen poetischen Leitfiguren in dem Drama ‚Das kaiserliche Blut‘, in: George-Jahrbuch 7 (2008/09), S. 142–166. 95 DLA Marbach, Brief Kommerell an Christiane und Heinrich Zimmer vom 06.05.1932, Nachlaß Zimmer, A: 74.115/2. 96 Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 09.12.1934, BA 281. 97 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 05.10.1933, Nachlaß Zimmer, A: 74.116/3.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

Calderón ist nur einer unter vielen fremdsprachigen Autoren: „Ich lese Seneca, Euripides, Sophokles, Calderon, Corneille, Racine, Voltaire – fast nur in fremden Sprachen“.98 Am Ende seines Lebens soll Kommerell mindestens acht Sprachen gesprochen haben.99 Seine Sprachbegeisterung wurde von Hans-Georg Gadamer mit Interesse verfolgt: „Und daß Sie Calderon lesen (gar auf Spanisch), ist ein neuer Schritt, von dem ich wissen möchte, wohin er Sie führt und woher er Ihnen kam. Wieder lockt mich das Verstehen!“100 Dem Dichter Hans Carossa teilt Kommerell ebenfalls seine Calderón-Begeisterung mit, wie Carossa seiner späteren Frau Hedwig Kerber berichtet: „Es gab in unserem ganzen Gespräch keinen Satz, der nicht intensiv gewesen wäre; sehr viel war die Rede von Calderón, von dem er stark angetan ist, während ich ihn gar nicht kenne. Ich will ihm aber in diesem Winter nahe zu kommen suchen“.101 In Frankfurt gibt es neben dem Lese- und Diskussionskreis bei Reinhardts, dem jour fixe, auch einen spanischen Lesekreis, der sich „5-SeelenLese Akkord“ oder „spanisch lesender Männerbund“102 nennt. Durch die Teilnahme an diesem Kreis kann Kommerell seine Kenntnisse der spanischen Sprache verbessern. Der Kreis, dessen Mitglieder nicht mehr festzustellen sind, wird von einem literarisch gebildeten Spanier geleitet, unter dessen Anleitung Dramen von Lope de Vega und Calderón mit verteilten Rollen laut gelesen werden.103 Später in Marburg wird Kommerell wieder an einem spanischen Lesekreis teilnehmen.104 Die Lektüre der Calderón-Stücke verläuft nicht immer problemlos. In solchen Fällen versucht Kommerell, sich Rat bei Muttersprachlern zu holen – allerdings mit geringem Erfolg: „neulich waren 2 Spanier da und halfen mir bei einer schweren Phokas-Stelle, aber viel wissen die auch nicht“.105 Er nutzt seine Kontakte über die Universität und fragt einen Spanischlektor:

98 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 29.11.1933, Nachlaß Zimmer, A: 74.116/5. 99 Vgl. Schulz, Günter: Max Kommerell als Dichter und Lehrer, in: Nationaltheater Mannheim. Bühnenblätter für die 177. Spielzeit 1955/56, H. 13, S. 137–140, hier: S. 138. 100 DLA Marbach, Brief Hans-Georg Gadamer an Kommerell vom 28.10.1933, Nachlaß Kommerell, A: 84.1547/3. 101 Brief Hans Carossa an Hedwig Kerber vom 08.09.1934, in: Hans Carossa: Briefe II, 1919–1936, hrsg. v. Eva Kampmann-Carossa, Frankfurt/M 1978, S. 320. Vgl. auch ebd. S. 353. 102 Jens, Kommerell, S. 23. 103 Vgl. Sullivan, Henry W.: Calderón’s „La vida es sueño“ in Nazi Germany: Hofmannsthal, von Scholz, Max Kommerell, in: Ottawa Hispanica 3 (1981), S. 43–58, hier: S. 52. 104 Vgl. Ehl, Elfriede: Max Kommerell in Marburg. Eine Erinnerung, in: Alma Mater Philippina (SoSe 1982), S. 24–25, hier: S. 24. 105 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 25.01.1934, Nachlaß Zimmer, A: 74.117/1.

IV.3 Das kaiserliche Blut

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„Eine Stelle [...] konnte ich nicht deuten, und bestellte mir einen gebildeten Spanier, der nach einstündigem Studium erklärte ‚verstehe kein Wort‘. Nun wend‘ ich mich an den hiesigen Lektor Clavería“.106 Die schrittweise Annäherung an Calderón läßt sich anhand der Briefe rekonstruieren. Das erste Drama, mit dem Kommerell sich intensiv beschäftigt, ist Calderóns En esta vida todo es verdad y todo mentira. Es behandelt den historischen Stoff der Ermordung des byzantinischen Kaisers Mauricius und seiner Söhne in Konstantinopel 602 n. Chr. durch Phokas und wird deshalb auch das ‚Phokas-Drama‘ genannt. Kommerell arbeitet es später in Das kaiserliche Blut um. Der Beginn der Lektüre fällt auf das Ende des Jahres 1932. Anfang 1933 berichtet er, daß er das Stück bereits zu Ende gelesen habe: „Dann las ich im Don Juan, denken Sie, zum ersten Mal. Das PhokasDrama zu Ende. Bereits ein neues [Drama Calderóns] verlockt mich: El Conte Lucanor, eines der Schönsten. Es sind gleich zwei der bedenklichen Ausnahmen des menschlichen Kreises: ein Alter im Turm, und eine Hexe in der Hütte gegenüber im ägyptischen Zauberwald. Dagegen als 2. Welt der Hof von Toskana, Garten, Staue der Venus, mythenumgeben, wo Liebespfänder versteckt wurden“.107 Die Lektüre des ersten Calderón-Stückes ist also schon Anfang 1933 abgeschlossen. Dieser Punkt ist in der Forschung übersehen worden.108 Bisher wurde davon ausgegangen, daß der erste Beleg ein Brief vom Oktober 1933 sei (vgl. BA 249). Darauf basierend, wurde der Beginn der Beschäftigung einfach zu irgendeinem Zeitpunkt vor diesem Datum vermutet.109 Mit der Briefäußerung von Anfang 1933 kann die nachgewiesene Beschäftigung mit Calderón um fast ein Jahr früher datiert werden als bisher angenommen. Das bedeutet, daß sich Kommerell nicht nach Abschluß seiner Monographie Jean Paul, die im Oktober 1933 erscheint, Calderón zuwendet. Vielmehr läßt sich eine kontinuierliche Linie erkennen: Sie beginnt mit Hugo von Hofmannsthal Ende 1930 und der Lektüre von Dame Kobold im Mai 1932. Danach finden die Auseinandersetzung mit En esta vida todo es verdad y todo mentira und die Arbeiten an Das kaiserliche Blut von 1932 bis 1938 statt. Schließlich endet

106 DLA Marbach, Brief Kommerell an Christiane und Heinrich Zimmer vom 22.01.1933, Nachlaß Zimmer, A: 74.116/1. 107 DLA Marbach, Brief Kommerell an Christiane und Heinrich Zimmer vom 22.01.1933, Nachlaß Zimmer, A: 74.116/1. 108 Falsch liegen Nalewski, Horst: Max Kommerell, der unzünftige Germanist, in: Literaturhistorische Streifzüge. Für Hans Mayer von Schülern der Leipziger Zeit, hrsg. v. Alfred Klein, Klaus Pezold u. Werner Schubert, Leipzig 1996, S. 221–241, hier: S. 238, Albert, Umrisse, S. 365; und: DLA Marbach, Wittlich, Susanne: Max Kommerells CalderónÜbersetzungen, Magisterarbeit, Univ. München 1989, Nachlaß Kommerell, A: x, 90.6.1, S. 13. 109 Vgl. Albert, Umrisse, S. 365.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

die Linie mit den Übersetzungen Das Leben ist Traum und Die Tochter der Luft von 1936 bis 1943 und mit der Gesamtinterpretation Etwas über die Kunst Calderons von 1944. Daraus ergibt sich, daß die intensive CalderónRezeption von Anfang der 1930er Jahre bis Mitte der 1940er Jahre einen Schritt der Loslösung von George darstellt. Zum anderen wird deutlich, daß Calderón nicht einfach als Substitut für Jean Paul dient, sondern unabhängig von ihm ist. Jean Paul bleibt in Kommerells zweiter Lebenshälfte eine Episode, Calderón hingegen eine Konstante. Kommerell berichtet Karl Reinhardt von den Fundstücken im Hofmannsthal-Nachlaß: „Er [Zimmer] beschenkte mich damit, mir eine lange Calderonbearbeitung Hofmannsthals aus Mscrpt. vorzulesen, und dazu noch eine Arbeit von ihm selbst, die mich nicht minder aufregte“.110 Um welche Calderón-Bearbeitung es sich hier handelt, ist nicht eindeutig zu identifizieren.111 Der Brief zeigt aber, daß Kommerell Einsicht in den Nachlaß von Hofmannsthal hat. Deshalb ist davon auszugehen, daß er Hofmannsthals Dramenfragment Kaiser Phokas (HPH),112 entstanden nach der Vorlage von Calderóns En esta vida todo es verdad y todo mentira, durch Zimmer kennengelernt hat. Daher kann er im Brief an Zimmer aus dem Januar 1933 einfach vom „Phokas-Drama“ sprechen und voraussetzen, daß Zimmer weiß, welches Drama er meint. Kommerell hat somit später die Bearbeitung des Dramas, das er bei Hofmannsthal in fragmentarischer Form überliefert findet, selbst vorgenommen und fertig gestellt. Dies ist ebenfalls in der Forschung noch nicht beachtet worden.113 Mit seiner Bearbeitung setzt er Hofmannsthals geplante Reihe originalgetreuer und freier Übertragungen der Dramen Calderóns fort. Die Frage, warum er gerade die Dramen En esta vida todo es verdad y todo mentira, La hija del aire und La vida es sueño für Bearbeitungen 110 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 18.08.1933, Nachlaß Kommerell, A: 56.358. 111 Wahrscheinlich handelt es sich bei dieser Calderón-Bearbeitung um Hofmannsthals Kaiser Phokas. Dagegen spricht allerdings, daß Kommerell acht Monate zuvor das Drama bereits gelesen hatte, vgl. DLA Marbach, Brief Kommerell an Christiane und Heinrich Zimmer vom 22.01.1933, Nachlaß Zimmer, A: 74.116/1. Es ist allerdings auch möglich, daß es sich hierbei um eine der Bearbeitungen Hofmannsthals von La hija del aire oder La vida es sueño handelt. 112 Vgl. Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Rudolf Hirsch u. a., Bd. XIX, Dramen 17, aus dem Nachlaß hrsg. v. Ellen Ritter, Frankfurt/M 1994, S. 148–230. Fortan zitiert als Sigle HPH. 113 Briesemeister zählt zwar Hofmannsthals Kaiser Phokas, Calderóns En esta vida todo es verdad y todo mentira und Kommerells Das kaiserliche Blut in einer Reihe auf, macht aber nicht deutlich, daß es sich dabei um das gleiche Stück handelt: „Entre las obras póstumas de Hofmannsthal, se encuentran, entre otros, bocetos sobre un drama de Focas y Semíramis. Kommerell mismo trabajó desde 1934 en una traducción de ‚En esta vida todo es verdad y todo mentira‘. Este drama de estilo barroco salió en 1938 bajo el título de ‚Das kaiserliche Blut‘“, Briesemeister, Kommerell, S. 208.

IV.3 Das kaiserliche Blut

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und Übertragungen ausgewählt hat, ist also damit zu beantworten, daß diese Texte bereits von Hofmannsthal bearbeitet worden waren und Kommerell seine Bearbeitungen implizit als Fortsetzung von Hofmannsthals Werk ausweisen will. Im Jahre 1933 beschäftigt sich Kommerell also parallel mit Arbeiten an Jean Paul und Lektüren Calderóns: „[Ich] Lese viel: Corneille, Racine, Molière, Seneca, und immer wieder, Calderon. Die Tochter der Luft scheint mir das Größte. Ich verstehe, daß Hofmannsthal sich so lang und innig dieser zarten, schwebenden Welt einversenkte“.114 Zimmer ist fasziniert von Kommerells Calderón-Aneignung und wünscht ihm, daß er in gleicher Art „durch alle Weisheit Chinas und aller Zauberwälder Indiens so tauchen“115 möge. Kommerells private Aufzeichnungen belegen ebenfalls die CalderónLektüre, wie das Tagebuch von 1933 zeigt: „Ende Juli [...] Lecture: Faust II. Calderon“.116 Nach Abschluß der Jean Paul-Studie konzentriert er sich auf die Übertragung von En esta vida todo es verdad y mentira: „Ich bin wenig frei, übersetze aber an Calderon herum“,117 „Mit der Phokas-Übertragung wird es ernst!“,118 und: „2 ganze Tage am Phokas!“.119 Zimmer stellt, wenn nötig, andere Lektüre als Ablenkung zur Verfügung: „Darf ich sie [zwei Stendhal-Bände] Ihnen zum Lesen leihen? für die Augenblicke, wo sie aus dem calderonisch-mythischen Meere auftauchen und eine andere Luft zu atmen Lust haben?“120 Als Kommerell im Sommersemester 1934 in Bonn eine Vertretungsprofessur übernimmt, beklagt er die erzwungene Pause an den Calderón-Arbeiten: „[...] wirklich Schade ist, daß ich das Calderon Werk unabänderlich zurückstellen muß auch in Gedanken“.121 Zimmer entkräftet diese Klage mit Verweis auf die Regeln der Notwendigkeit: „Der zeitweilige Abschied von Calderon, eine unterbrochene Schwangerschaft, mag sehr schmerzlich sein, aber diese Unterbrechung ist auch wieder z. T. nur Schein,

114 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 05.10.1933, Nachlaß Zimmer, A: 74.116/3. 115 Brief Heinrich Zimmer an Kommerell o. D., BA 261f. 116 DLA Marbach, Kommerell, Max: Verschiedenes. Tagebuch 1933, Nachlaß Kommerell, D: 86.493. 117 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 08.02.1934, Nachlaß Zimmer, A: 74.117/5. 118 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 12.02.1934, Nachlaß Zimmer, A: 74.117/6. 119 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 17.04.1934, Nachlaß Zimmer, A: 74.114/9. 120 DLA Marbach, Brief Heinrich Zimmer an Kommerell vom 22.04.1934, Nachlaß Kommerell, A: 84.1660/2. 121 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 10.05.1934, Nachlaß Zimmer, A: 74.117/10.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

das Notwendige läuft in uns weiter, wie die Flüsse unterirdisch im Karst und tritt dann wie eine scheinbar neue Quelle überraschend zu tage“.122 Kommerell gibt Zimmer im Nachhinein recht, wenn er im Sommer 1934 die Wiederaufnahme der Calderón-Bearbeitung vermeldet: „Immerhin hab ich 3 Arbeiten, worunter Calderon, mit großer Vorsicht wiederaufgenommen, und ich begnüge mich, sie beiläufig und unscheinbar zu fördern. Die Eindrücke und Einsichten und die große Einfachheit, die mich stufenweise in Besitz nimmt, sind so, daß ich viel die Hände in den Schoß lege und in die Landschaft blicken und den Ausfall eines Jahres oder mehr für Arbeit und Leistung leicht, ja dankbar in Kauf nähme“.123 Bezeichnend für Kommerells Arbeitsweise ist, daß er seine Übersetzungen vielfach Freunden zur Begutachtung vorlegt, vor allem Heinrich Zimmer und Karl Reinhardt. Wie Zimmer fördert auch Reinhardt das Gelingen von Kommerells Calderón-Bearbeitungen durch die Weitergabe von Lektüre: „Ich lege Ihnen eine Sendung bei, die ich Sie bitten muß, nicht für Literatur zu nehmen (die Geschichte steht bei Herodot), sondern für ein Zeichen meiner Erwartung Ihres Calderon und Ihrer selbst“.124 Kommerell räumt Reinhardt bei der Begutachtung seiner Entwürfe eine besondere Autorität ein und lobt dessen „aesthetisch unfehlbaren Blick[]“.125 Bemerkenswert sind Kommerells autoreferentielle Produktionsbeschreibungen im Medium einer metaphorischen Sprache, die den artistischen Charakter seiner Briefe verdeutlichen. Er bezeichnet Calderóns Dramen als Bücher, deren Ton er mit der Zeit nachahme: „Die andern Geschäfte ruhen ungebührlich, weil diese Zauberbücher mich gefangen halten, und ich ihre Sprüche jetzt in der Eigensprache nachlallen lerne“.126 In einer anderen bildlichen Vorstellung sieht er sich als Kind, das mit Bauklötzen ein Haus baut:

122 DLA Marbach, Brief Heinrich Zimmer an Kommerell o. D. [Anfang SoSe 1934], Nachlaß Kommerell, A: 84.1659/10. 123 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 21.08.1934, Nachlaß Zimmer, A: 74.117/15. 124 DLA Marbach, Brief Karl Reinhardt an Kommerell vom 08.06.1934, Nachlaß Kommerell, A: 84.1615/3. 125 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 25.05.1934, Nachlaß Kommerell, A: 56.360: „Ich werde Ihres [Reinhardts] aesthetisch unfehlbaren Blickes noch sehr bedürfen, hoffe auf Sommerwochen in Ihrer Nähe und zugleich, daß ich bis dahin Zeit finde den Plan so zu fördern, daß er aus den entwickelten Bändern in die fi xierenden Bänder gebracht und prüfenden Freundesaugen gezeigt werden kann, ohne von ihrem Licht verwundet zu werden“. 126 Brief Kommerell an Christiane und Heinrich Zimmer o. D. [Oktober 1933], BA 249. Albert gibt irrtümlicherweise an, daß der Brief an Karl Schlechta geschrieben sei, vgl. Albert, Claudia: Die Welt als Zeichen. Kommerells Calderón, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 234–248, hier: S. 235.

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Ich bin froh, in einigen glücklichen Morgenstunden Zeit zu Calderon gehabt zu haben (die neu auszuführenden Teile betreffend) und habe das sich gerade aufdringende gleich ausgeführt, wenn auch mehr skizzenhaft, denn die Zeit war kurz, und die Semesterarbeit drängt. Mit diesem Drama geht es mir wie einem Kind, das sich aus farbigen Klötzchen ein Haus baut, wie es gern eins hätte, und plötzlich verwandelt ein Geist das Spiel in Wirklichkeit, das Haus ist groß und das Kind sitzt drin und kann nicht mehr heraus. Ich kann nicht mehr heraus. Und habe keine Ahnung, ob ich eigentlich auf dem rechten Weg bin, und ob das geht, was ich machen will.127

Kommerell beschreibt den Zusammenhang der Figuren metaphorisch: „Zugleich webt sich dabei ein eigenes Gewebe – ja, es ist als ob diese vor Hunderten von Jahren gestickten Figuren in ihren Lineamenten nach einer Auflösung drängten, für die es keineswegs ein Nachteil ist, ein paar Saecula später auf der Welt zu sein“.128 Den Plan zur Ausgestaltung seiner Bearbeitung entwickelt er schrittweise: „Ich bin jetzt 33 Jahre!!! und lange noch immer nichts, und lebe ohne Ziel und Sinn, aber mit Freude und Schmerz, und in der letzten Zeit lebte ich sehr lebhaft. Ich habe auch wieder gedichtet, 2 Szenen eines 3. Aktes, ohne daß der 2. Akt fertig wäre, aber mit Ahnung, wie das Ganze hinausführen. Es ist alles noch das Calderon-Stück, und die Arbeit daran wird mich noch lange begleiten“.129 Das Erreichte evoziert die Lektüre immer neuer Dramen Calderóns: „Ich las […] Neue Calderon-Stücke (einen Phaedrus, ein Alexander-Diogenes-Drama, Perseus u. Andromeda)“.130 Die extensive Lektüre stellt für ihn ein Bedürfnis dar: „Ich lese und lese, den ganzen Tag, kein Mensch stört mich, – unter anderem eben diese Räuber, und Silvia im Stern, und 3 neue Calderons, und Proust und Gogol – und hab mir fehlt 1001 Tag, und die Celestina, und Jung, und Herodot bestellt und will das auch alles lesen. Ich hab Jahre lang nichts gelesen“.131 Der letzte Satz spielt darauf an, daß George Kommerells Lektüreauswahl stark beeinflußt, ja teilweise reglementiert hatte. Kommerell versucht in seinem späteren Leben, das früher Verpaßte nachzuholen. Frank Schirrmacher spricht sogar von „zwei

127 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 25.05.1934, Nachlaß Kommerell, A: 56.360. 128 Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 09.12.1934, BA 281. 129 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer o. D. [Februar 1935], Nachlaß Zimmer, A: 74.122/3. 130 Ebd. A: 74.122/3. 131 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 03.01.1935, Nachlaß Zimmer, A: 74.118/1.

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Lebensläufe[n], von denen der spätere wie die mühevolle Korrektur des früheren wirk[e]“.132 Nachdem Zimmer die ersten Übertragungsversuche aus der Tochter der Luft gelesen hat, bedankt er sich für die „völlig meisterliche Übersetzung aus Calderon“: „ich habe selten etwas so völlig Überzeugendes an Nachdichtung gesehen, eine vollkommene Aneignung!“133 Zur Herkunft des Stoffes bemerkt er in einem weiteren Brief: „Für Ihre lieben Zeilen vielen Dank, Sie lesen Herodot, ich Diodor, bemerkenswerte Quelle für Semiramis e tutti quanti“.134 Damit bleibt festzuhalten, daß Kommerells Calderón-Rezeption als Fortsetzung von Hofmannsthals Werk angelegt ist, daß sie sich im Austausch mit einem spanischen Lesekreis und mit Heinrich Zimmer vollzieht und daß sie nicht die Jean Paul-Rezeption ablöst, sondern überdauert. Sie ist auch ein Indiz für das in dieser Periode immer noch gegebene Doppel-Selbstverständnis als Wissenschaftler und Dichter. IV.3.2 Calderóns En esta vida todo es verdad y todo mentira als Vorlage Beim Kaiserlichen Blut handelt es sich nicht um eine Übersetzung, sondern um eine Bearbeitung von Calderóns Drama, das Kommerell wahrscheinlich in der weitverbreitenden Ausgabe von Johann Georg Keil vorgelegen hat.135 Allerdings wird Keils Ausgabe an keiner Stelle angegeben – weder in den Veröffentlichungen noch in den Aufzeichnungen.136 Eine zeitgenössische Rezeption des Dramas, das 1938 als Privatdruck im Klostermann-Verlag in einer Auflage von 300 Stück erscheint, ist nicht nachweisbar. Der Veröffentlichung gehen intensive Diskussionen mit dem Verleger voraus über die Frage, wie die Kosten aufgefangen werden können. Klostermann bezweifelt die Rentabilität des Vorhabens. Um sich abzusichern, verlangt er, daß 100 Interessenten Proskriptionen unterschreiben. Doch Kommerell fällt es schwer, diese Anzahl aufzutreiben. Am 13. Oktober 1937 bedauert er gegenüber Klostermann: „Es tut mir leid, daß Sie die Subscription betreffend so schwarzsehen, und daß Ihr Schwarzsehen wie so manches andere Schwarzsehen durch die Geschichte offenbar bestätigt wird.

132 Schirrmacher, Pfeil, S. 105. 133 DLA Marbach, Brief Heinrich Zimmer an Kommerell o. D., Nachlaß Kommerell, A: 84.1660/7. 134 DLA Marbach, Brief Heinrich Zimmer an Kommerell vom 22.01.1934, Nachlaß Kommerell, A: 84.1660/1. 135 Vgl. Calderón de la Barca, Pedro: Las Comedias, hrsg. v. Juan Jorge Keil, Bd. 1: Leipzig 1827, S. 575–605. 136 Wittlich vermutet ebenfalls den Gebrauch der Keil-Ausgabe, vgl. Wittlich, Übersetzungen, A: x, 90.6.1, S. 8.

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Ich hoffe, daß inzwischen noch Bestellungen einliefen, und einiges noch aussteht, von solchen, die vor Semesterbeginn verreisten. Aber vielleicht trügt auch die Hoffnung!“137 Klostermann antwortet ihm am 16. Oktober 1937, daß er bei den Auslandssubskriptionen keine Ausnahmen machen könne und erst mit dem Druck beginnen werde, wenn der finanzielle Aspekt geklärt sei: Was die Schwierigkeiten der Zahlung für die Subscription aus Österreich angeht, so sind das eingebildete. Man kann im Verrechnungsverkehr ohne weiteres Lieferungen aus Deutschland bezahlen. Notfalls braucht man sich nur an einen Buchhändler wenden. Aber es ist immer wieder das alte Lied, der Mann will ja gar nicht zahlen, sondern es geschenkt haben und das kann ich nicht tun. Ich bin leider nicht in der Lage, über den unbedingt notwendigen Bedarf hinaus Exemplare zu verschicken. Die Interessenten müssen kaufen, wenn ihnen die Sache etwas wert ist. Im übrigen ist mit dem Druck noch nicht begonnen worden, sondern es wird das Ergebnis der Subscription abgewartet, das heute 41 beträgt. Es muß also noch erheblich die Werbetrommel gerührt werden.138

Die Entstehungsgeschichte vom Kaiserlichen Blut erstreckt sich von 1934 bis 1938. Im Verlauf des Jahres 1934 erarbeitet Kommerell die ersten beiden Akte, Ende 1934 beschäftigt er sich schon mit dem dritten und letzten Akt: „Außerdem les ich eifrig englische Lyrik, und neue Calderon-Stücke, und denke auch an meinen dritten Akt“.139 Nach Abschluß einer ersten Version überarbeitet Kommerell das Drama mehrfach. Die einzelnen Fassungen sind in Manu- und Typoskripten im DLA Marbach erhalten. In einem Arbeitsheft, das im Archiv auf „um 1939“ datiert ist, aber wahrscheinlich aus den Jahren 1937/38 stammt, wird das Stück mit dem Titel Der getreue Astolf versehen.140 Den gleichen Titel tragen Entwürfe, die in einem Konvolut notiert sind, das hauptsächlich Gedichte versammelt.141 Es lassen sich insbesondere drei fast vollständig ausgearbeitete Fassungen des Stückes unterscheiden: das Typoskript A,142 das Typoskript B143 und die veröffentlichte Fassung KB.144 Das Typoskript A eröffnet mit einer sechsseitigen Szene, die für die Veröffent-

137 DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 13.10.1937, Nachlaß A: Klostermann. 138 DLA Marbach, Brief Vittorio Klostermann an Kommerell vom 16.10.1937, Nachlaß A: Klostermann. 139 Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 04.12.1934, BA 301. 140 Vgl. DLA Marbach, Kommerell, Max: Arbeitsheft um 1939 [1937–1938], Nachlaß Kommerell, D: 86.487. 141 Vgl. DLA Marbach, Kommerell, Max: Konvolut Gedichte Bd. 2, Nachlaß Kommerell, D: 86.413. 142 Vgl. DLA Marbach, Kommerell, Max: Das kaiserliche Blut, Typoskript[A], Nachlaß Kommerell, D: 86.422/1. 143 Vgl. DLA Marbach, Kommerell, Max: Das kaiserliche Blut, Typoskript[B], Nachlaß Kommerell, D: 86.422/2. 144 Vgl. Kommerell, Blut, 1938 [KB].

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lichung gestrichen wurde: „Phokas: Ihrer Schönheit einen Tusch / Soll entbieten kriegerischer / Trommel- und Trompetenlärm. / Cintia: Feiern sollen sein Gesicht / Hymne, Loblied und Gedicht“.145 Die wesentliche Neuerung im Typoskript B besteht in einer Szene mit vier Darstellern, die sich in zwei parallel angeordnete Paare aufteilen: „Cintia: In diesen ganzen Gau’n / Gab nur dein Haus uns Zuflucht vor der Erde / Unlängst-erzürntem Zucken mit den Brau’n. / Und da ich eine Armut inne werde, / Lass mich sie lindern! / Libia: Traun, / Umsonst nicht tun so hehre / Besuche einem niederen Dach die Ehre! / [...] / Phokas: Ich kam... / Lisip: Du kamst in tiefen Zweifeln, wem / Den Tod du gebest, wem das Diadem. / Phokas: Als zu erwarten stand...“.146 Der größte Unterschied zwischen den Typoskripten und der veröffentlichten Fassung ist, daß die Entwürfe eher in Richtung einer Übertragung gehen und die Publikation stärker zur Bearbeitung tendiert. Das zeigt sich besonders im III. Akt, der auf Kommerells eigene Konzeption zurückgeht. Am 20. Dezember 1935 berichtet Kommerell Ernst Kayka vom Voranschreiten der Arbeiten: „Ich habe jetzt ein paar Tage Ruhe […], und verliere mich in alte und neue Leidenschaften. Ich schreibe an der fehlenden großen Schlußszene meines calderonisierenden Dramas, lese ihn spanisch; lese viele Bücher, Märchen und Erzählungen aus dem Altertum alter Völker, vor allem Orient. Ich hätte für Monate Geschäfte, aber am 6. Januar beginnt der Turnus wieder“.147 Wieder legt Kommerell den Entwurf einem befreundeten Professor vor. Bei der Durchsicht der Druckfahnen lobt Zimmer in einem undatierten Brief die Perspektivität von Kommerells Bearbeitung, die „so dicht und schwingend zugleich [ist], Raum nach Raum sich öffnend in Vorund Rückblicken“.148 Die Vorlage für Das kaiserliche Blut ist Pedro Calderón de la Barcas Drama En esta vida todo es verdad y todo mentira (1664). In Calderóns Drama werden die beiden jungen Männer Eraclio und Leonido von Astolfo, dem Diener des toten Kaisers Mauritius, in einer Höhle auf Sizilien versteckt gehalten. Eraclio ist der Sohn von Mauritius, dem früheren Kaiser von Byzanz, und Leonido der Sohn des gewaltsam an die Macht gekommenen, derzeitigen Kaisers Fócas. Die beiden Söhne wissen nicht, wer ihre Väter sind. Astolfo, ihr Erzieher, bewahrt das Geheimnis, um den rechtmäßigen

145 Kommerell, Blut, Typoskript[A], D: 86.422/1. 146 Kommerell, Blut, Typoskript[B], D: 86.422/2. 147 DLA Marbach, Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 20.12.1935, Nachlaß Kommerell, A: 84.1479/2. 148 DLA Marbach, Brief Heinrich Zimmer an Kommerell o. D., Nachlaß Kommerell, A: 84.1660/9. Die Formulierungen wird Kommerell in seinem Roman Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern wiederaufgreifen: „Traum vom edlen Blut“ (LT 187) und „das Edle in Knechtsgestalt“ (LT 189).

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Thronfolger vor der Verfolgung durch Fócas zu schützen. Der erfährt jedoch, daß das Versteck der beiden durch Zufall von Libia, der Tochter des Zauberers Lisipo, entdeckt wurde. Lisipo verhindert durch ein herbeigezaubertes Gewitter den Ausbruch eines Kampfes. Fócas bedrängt nun Lisipo, die Herkunft der Söhne durch Zauber herauszufinden. Erst als Fócas verspricht, sich nicht an dem Sohn des Mauritius zu vergreifen, geht Lisipo darauf ein. Eraclio ist inzwischen Cintia, der Königin von Sizilien, begegnet, zu der die Hofdame Ismene gehört. Beide haben sich einander angenähert. Leonido war das Gleiche mit Libia passiert. Eraclio und Leonido werden unter Begleitung der komischen Figuren Luquete und Sabañon zum Schloß geführt und sollen dort in königlichen Kleidern ihre Echtheit als Herrscher unter Beweis stellen. Der Test führt zu keinem Ergebnis. Cintia sagt Eraclio, daß er der rechtmäßige Nachfolger sei, Libia tut dasselbe bei Leonido. Als Fócas schläft, will Leonido ihn töten, doch Eraclio verhindert es. Der erwachte Fócas verdächtigt allerdings Eraclio und setzt ihn zusammen mit Astolfo auf dem Meer aus. Doch mit Hilfe des Fürsten Federico können sie zurückkehren. Am Ende wird Fócas verdrängt, Eraclio als Herrscher eingesetzt und die Hochzeit von Eraclio und Cintia gefeiert. In Kommerells Version wird der Großteil der Handlung, vor allem am Anfang, beibehalten. Er gliedert das Stück in drei Akte mit unterschiedlich vielen Szenen. Im kleinformatigen Druck kommt das Drama auf knapp 90 Seiten. Es ist in Versen verfaßt, vor allem im 4-hebigen und 5-hebigen Trochäus, aber das Versmaß wechselt. Das Stück verfügt nicht über einen klassizistischen Handlungsaufbau und hat keine psychologisch motivierten Charaktere. Kommerell bezeichnet es im Untertitel als „Ein Drama im barocken Stil“ (KB 1), um auf das Drama des 17. Jahrhunderts zu verweisen. Es ist aber dieser Gattung nicht problemlos zuzurechnen, da er eine abgeänderte Version vorlegt, die nun untersucht wird. Der Unterschied zu Calderóns Drama wird schon im Titel deutlich. Wörtlich übersetzt würde der spanische Titel En esta vida todo es verdad y todo mentira auf Deutsch In diesem Leben ist alles Wahrheit und alles Lüge lauten. Das deutet auf ein Drama mit philosophischem Gehalt, das sich mit der Bestandhaftigkeit der Welt auseinandersetzt.149 Kommerell hingegen weist mit seinem Titel Das kaiserliche Blut auf ein politisches Drama hin. Die Haupt- und Staatsaktion wird jedoch im Vergleich zu Calderóns Stück noch reduziert. Die Bearbeitung behandelt die Frage nach der Legitimation von Ordnung. Dabei spielt die Geburt als Legitimationsgrund eine zentrale Rol-

149 Vgl. Köhler, Kai: Kommerells dramatisches Werk, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 207–233, hier: S. 212.

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le.150 Mit Blick auf Kommerells Antrittsvorlesung Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede und der Klassifizierung von George als Eroberer und Hofmannsthal als Erben wird mit dem Drama wieder die Position Hofmannsthals gestärkt. Außerdem thematisiert Kommerell die Problematik, wie der Mensch durch seine Herkunft bestimmt ist. Über das Verhältnis zu Calderón erklärt er in der Vorbemerkung: Über die Abhängigkeit dieses Stückes von Calderon ist mit einigen Worten Rechenschaft zu geben. Rollen und Hauptmotive, sowie ein paar nur leicht bearbeitete Stellen verdankt es einer wenig bekannten Comedia: en esta vida todo es verdad y todo mentira. Wichtiger ist eine Abhängigkeit höheren Grades, die sich auf die ganze dramatische Sinnlichkeit bezieht. Sie scheint fremd und entlegen; aber bei näherem Zusehen ergeben sich unerwartete Gleichungen zu unserem Menschengefühl. (KB 2)

Kommerell unternimmt eine Goethesche Dreiteilung von Stoff, Form und Gehalt. Erstens liegt eine Abhängigkeit des Stoffes von der Vorlage Calderóns vor. Zweitens betrachtet er die Abhängigkeit der Form, die in der dramatischen Sinnlichkeit liegt, als „Abhängigkeit höheren Grades“. Drittens gibt es eine Abhängigkeit des Gehaltes, die durch Fremdheit der Form zustande kommt. Er tritt ein für einen symbolischen Stil des Dramas, oder – mit seinen Worten – für eine „dramatische Sinnlichkeit“. In seiner Interpretation von Calderóns Gesamtwerk Die Kunst Calderons (KC), die im sechsten Kapitel eingehend analysiert wird, stellt er fest: Und sind wir nicht reif für einen mehr symbolischen Stil des Dramas? Was die auf sich gestellte Persönlichkeit, was die aus sich selbst verstandene Natur in der Dichtung hervorbringen kann, das scheint in der Entwicklung des europäischen Dramas so durchgeübt, daß man an einer ergiebigen Fortsetzung verzweifeln könnte. Da fängt uns Calderon ein, weil er eine andere Einfalt hat und eine andere Künstlichkeit; wir hören erst hin mit halben Ernst, die meisten Stücke scheinen uns sonderbar verjährt, und alle zusammen doch wie eine Wolke des Wohlgeruchs. Aber vielleicht sind wir ihm näher als wir wissen [...]. Da mutet uns Calderon modern an und wird eine Möglichkeit unseres Ausdrucks.151

Er spricht sich also gegen die Charaktertragödie und das klassische Ichkonzept aus. Die symbolische Form des Dramas beinhaltet eine Fokussierung auf optische Sinneswahrnehmungen. Daher gibt es lange Regieanweisungen; Bühnenbild und Gestiken werden genau beschrieben. Durch die Hervorhe-

150 Vgl. ebd. S. 228. 151 Kommerell, Max: Die Kunst Calderons, Frankfurt/M 1974, S. 3. Fortan zitiert als Sigle KC.

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bung von Gestik, Mimik und Pantomime wird die Bühnenwirksamkeit des Stückes erhöht.152 Die Vergegenwärtigung eines scheinbar fremden Stoffes ist eine signifikante Dimension von Kommerells dramatischem Konzept. Das thematisierte „Menschengefühl“ (KB 2) bezieht sich auf das Empfinden der Vaterlosigkeit, die Verbundenheit zum Lehrer und die Unsicherheit über die eigene Herkunft. Die Aufhebung der Fremdheitserfahrung von Calderóns Sinnlichkeit funktioniert über eine Affinität, die Kommerell zu diesen Rollenmustern hat. Diese Affinität wird in seiner Suche nach Lehrerfiguren dekodiert. Die Hauptmotive seiner Bearbeitung hat er unverändert von Calderón übernommen. Aber die Behauptung, es handle sich um „ein paar nur leicht bearbeitete Stellen“ (KB 2) ist unzutreffend. Von Calderóns I. und II. Akt sind die meisten Stellen direkt übernommen, nur wenige sind gering bearbeitet.153 Auch im wechselnden Versmaß folgt er der spanischen Vorlage. Der III. Akt ist allerdings durch Veränderung der Phokas-Handlung deutlich abgewandelt. Das Ende des Dramas fällt jedoch mit dem Tod von Phokas und der Inthronisierung von Heraklius wieder ähnlich aus. Eine Äußerung, die Kommerell in einem Brief an Ernst Kayka vom 9. Dezember 1934 macht, ist demzufolge zutreffender als die Vorbemerkung: „Ob ich wohl meinen Zwitter aus Marionettenspiel und politischer Tragödie, dessen 1. Akt eine Übertragung, dessen 2. Akt (halbfertig) ein hoffentlich harmonischer Wechsel Calderonischer und eigener Farbe, und dessen 3. Akt (noch kaum gedacht) eine Art politischer Allegorie geben muß, wirklich beenden werde! Einesteils bin ich verliebt in diese Arbeit, andresteils oft ganz mutlos“ (BA 281). In einem undatierten Brief an Christiane und Heinrich Zimmer während des Vertretungssemesters 1934 in Bonn bemerkt er zudem seine Probleme, den politischen Gehalt im Drama umzusetzen: „Trotz großen Hindernis und Zerstreuung arbeit‘ ich unablässig, so in der Früh ’ne halbe Stunde, am Calderon, und so fällt mir viel dazu ein. Die Frage ist, ob es mir gegönnt sein wird, die ungeheure politische Symbolik, die in seinem Ganzen schläft und im Schlaf lallt, aufzuwecken ohne ihr zugleich ihre Anmut des unbewußten Lebens zu rauben. Andererseits ist vieles reif in mir dafür, und ich fühle mich verpflichtet, auch durch den Bonner Tumult an diesem Werk still und selten fortzuspinnen“.154 Die Problematik der Legitimation von Herrschaft macht den politischen Gehalt des Stückes aus. Die Herrschaft soll einem Ideal folgen, wie es schon im ersten Satz des Dramas bekundet wird: „Größe

152 Vgl. Köhler, Dramatisches Werk, S. 210. 153 Vgl. Sullivan, Henry W.: Calderón in the German Lands and in the Low Countries. His reception and influence, 1654–1980, Cambridge 1983, S. 370. 154 DLA Marbach, Brief Kommerell an Christiane und Heinrich Zimmer o. D. [Anfang SoSe 1934], Nachlaß Zimmer, A: 74.122/2.

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bindet“ (KB 5). Das verweist auf die ‚barocken‘ Züge. Das Erbfolgeprinzip ist im Kampf um die Nachfolge dem Machtprinzip, für das der Usurpator steht, überlegen.155 Kommerell reduziert jedoch im Vergleich zur Vorlage die Haupt- und Staatsaktion, indem er die Problematik der Identitätsfindung in den Vordergrund stellt. Insofern wäre es ihm nicht gelungen, die politische Problematik des Stückes zu entfalten. Dadurch wird allerdings der Reiz seiner Bearbeitung nicht beeinträchtigt. Ein „harmonischer Wechsel Calderonischer und eigener Farbe“ (BA 281), wie Kommerell es ausdrückt, findet statt, indem die Probe und das Aussetzen auf dem Meer vom III. in den II. Akt verlegt werden. Trotzdem ist bei Kommerell, der die Akte im Gegensatz zu Calderón in Szenen unterteilt, der II. Akt verhältnismäßig kurz. Der I. Akt macht hingegen fast die Hälfte des Stückes aus und wird aufgrund der umfangreicheren Redeanteile Astolfs und Lisips überdimensional lang. Durch diese formalen Abweichungen ergibt sich eine Bedeutungsverschiebung in Richtung der Figuren Astolf und Lisip. Die Aufwertung Astolfs resultiert aus dem Interesse an der Lehrerfigur. Eine stärkere Bühnenwirksamkeit wird durch Ausgestaltung der Zaubererrolle erreicht. Auf die Signifikanz der Musik weist Kommerell in einem undatierten Brief an Hans-Georg Gadamer hin: Die Bearbeitung „wächst ins Große und ist im Genre noch unsicher zwischen Barock-Oper, Marionettenspiel und freier Symbolik“ (BA 280). Der opernhafte Charakter wird besonders durch die Untermalung der Szenen mit Musik deutlich – wenn auch weniger stark als bei Calderón. Die Instrumente, die die Söhne begleiten, symbolisieren jeweils ihre Charaktere. Die schallende Trompete bezeichnet den ungestümen Leonidus, die süße Flöte hingegen den ruhigen, harmonischen Heraklius: „Ich bin gemeint, / Dem, was süßer mir als alles / Klingt, zu folgen“ (KB 44). Auch das Rufen vom Meer im III. Akt ist als hallender Gesang zu verstehen. Kommerell übernimmt fast alle Figuren Calderóns und fügt keine neuen hinzu. Cintia erscheint als Prinzessin von Sizilien ohne Ismenia und das Hofgefolge in einer anderen, stärker von Phokas gelösten Rolle. Durch das Auslassen der Rollen Luquetes und Sabañons wird die komische Handlung, die gracioso-Handlung, reduziert. In der Phase Mitte der 1930er Jahre ist Kommerell weniger an der Konzeption der komischen Handlung interessiert, woran noch Georges Einfluß abzulesen ist. Seine intensive Beschäftigung mit der Komik in der eigenen poetischen Arbeit findet erst gegen Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre in den Kasperlespielen statt (vgl. Kap. III). Dementsprechend widmet er sich auch in seinen Calderón-Nachdich-

155 Vgl. Köhler, Dramatisches Werk, S. 210 u. 212.

IV.3 Das kaiserliche Blut

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tungen Die Tochter der Luft und Das Leben ist Traum, die in die spätere Zeit fallen, stärker der gracioso-Handlung. Eine vorteilhafte Straffung der Handlung gewinnt Kommerell unter anderem durch das Weglassen von Fócas’ monotonem Eingangsmonolog.156 Aber durch die Verkürzungen entstehen Brüche, durch die einige Stellen für den Leser unvermittelt bleiben. So wirkt die Funktion des Kleinods, das als Beweis für die Echtheit von Phokas’ Sohn dient, in der Mitte des I. Aktes unplausibel, da es nicht, wie bei Calderón, am Anfang des Stückes eingeführt wurde: Calderón:

Kommerell:

[…] le daba por señas Una cifra de mi nombre En una lámina impresa De oro, que yo la habia dado De mi matrimonio en prendas.157

Der das Kind auch stahl der Bäurin, Die in Wehen schrie – es stahlest Und dazu das Kleinod neben Ihr im Grase; mit dem Kleinod Ihres schon verhauchten Atems Schwindendes Geständnis: ich Sei zu ihrem Kind der Vater. (KB 25)

Ebenso unverständlich ist für den Leser, warum Cintia, die am Anfang der zweiten Szene des III. Aktes bei Kommerell nur eine Zwiesprache mit dem Meer zu halten scheint, plötzlich Heraklius unter Einsatz ihres Lebens den Weg versperrt: Zwischen Felsen hier der Paß, Den ich gnüge dir zu sperren, Ist hier Mann und Mädchen und die Scham. Sieh den Dolch. Nachdem er drohte Dringt dein Fuß nicht vor, es sei er nahm Seinen Weg erst über eine Tote. (KB 75)

Ihr Verhalten wird nur in Kenntnis des Originals plausibel, wo Cintia als Anhängerin von Fócas den Paß zwischen dem Meer und den Bergen besetzen und Eraclio an einem Durchkommen hindern soll. Ähnlich unvermittelt ist der Auftritt Federigos am Ende des III. Aktes. Dem Leser ist bis dahin die Funktion dieser Figur unbekannt. Bei Calderón war Federico bereits im II. Akt aufgetreten und hatte sich als potentieller Widersacher Fócas’ positioniert: „Que sepas, que en la campaña / Última razon de Reyes / Son la póvora y las balas“.158 Warum Heraklius und Federigo in Kommerells Version so einträchtig durch das Portal schreiten, ist unklar: „Habe ich den gleichen Schatten im Gesicht / Und in meinem Geist das

156 Vgl. Calderón, Comedias, Bd. 1, S. 575ff. 157 Ebd. S. 577. 158 Ebd. S. 594.

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gleiche Licht, / Dann erst bin ich ganz dein Kamerad“ (KB 81). In der spanischen Vorlage zeichnet sich die spätere Allianz zwischen beiden schon ab, als sich Eraclio im II. Akt für Federico stark macht: „Que vie ne sobre seguro / De Embaxador, y no agravian / Los motivos de su dueño / En su boca“.159 Kommerell bringt die Erklärung über Herkunft und Motivation erst sechs Seiten nach der Einführung Federigos, was dem Leser das Nachvollziehen des Handlungsganges erschwert: „Denk, der Mutter denk! / Kaisers, des jetzt nah bei Gott / Sitzenden, war Schwester sie, / Neffe du!“ (KB 86). Verständnisschwierigkeiten, die sich an Stellen wie dieser in der Bearbeitung ergeben, resultieren daraus, daß Kommerell zwar Situationen aus der Vorlage aufgreift, sie aber anders als Calderón nicht vollständig ausgestaltet. Diese Brüche lassen sich damit erklären, daß die erfolgte Bearbeitung anfangs als Übersetzung geplant war, wie er in einem undatierten Brief an Gadamer mitteilt: „Die begonnene Übersetzung ‚In diesem Leben ist alles Wahrheit und alles Lüge‘ wird mehr und mehr zu einer Bearbeitung“ (BA 280). Umarbeitungen der Typoskripte A und B führen zur Streichung einiger Stellen, andere bleiben aber unvermittelt stehen. Außerdem war Kommerell – in Kenntnis des Originals und demzufolge des nötigen Vorwissens – sich wahrscheinlich der Brüche gar nicht bewußt, so daß bei ihm der hochartifizielle Werkcharakter zur Autoreferentialität führt. Durch Kommerells Abwandlungen der spanischen Vorlage entstehen auf der einen Seite die gezeigten Brüche, auf der anderen Seite wird die Qualität der Bearbeitung gesteigert durch kreative Neuschöpfungen. Im Kaiserlichen Blut ist die Rolle des Zauberers Lisip stärker ausgestaltet als im Original. Er zeigt in der ersten Regieanweisung, die ihn beschreibt, nach außen ein lächerliches Verhalten: „Der Zauberer Lisip kommt schnell aus dem Hintergrund getrippelt. Er geht wie aufgezogen und auf den Zehenspitzen. Tütenförmiger, grasgrüner Hut, ebensolcher Mantel, der sich bei manchen Bewegungen bauschig bläht und graue Beinkleider an dünnen Beinen sichtbar macht. In der einen Hand trägt er mit preziöser Geste einen Zauberstab, die andere reckt den Zeigefinger aus. Als er vorn ist, hält er den Kopf an Libia und kichert“ (KB 28). Der auf Zehenspitzen trippelnde, kichernde Zauberer mit grellgrünem, zylinderförmigem Hut wirkt wie aus einem „Marionettenspiel“ (BA 280). Er scheint selbst verzaubert und mit einem Schein umgeben zu sein. Mit seiner „alberne[n] Gebärdensprache“ (KB 31) überspielt er jedoch nur eine tiefer liegende Ernsthaftigkeit: Nach ersten komischen Auftritt wendet er sich „ernsthaft gegen das Publikum“ (KB 28). Dieser Magier steht in Distanz zur menschlichen Gesellschaft und ergeht sich als „armer Mann“ (KB 31) in Selbstmitleid:

159 Ebd. S. 594.

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Ich vergaß. Was je bestand, Wie es heißt, wofür man’s hält, Schwand hinweg – ich selber schwand. Keine Mitte keiner Welt, Im Gedächtnisse kein Pfand, Auf ein Seiendes zu schließen! (KB 33)

Lisip oszilliert zwischen Sein und Schein. Sein Wesen ist selbstreflexiv und steht für die Ordnung der Dinge. Zugleich sind seine Negierung des Nominellen und seine Anonymisierungstendenzen Bedingung für seine Zauberkräfte: Lisip: Oh, daß doch ein Mensch begriffe, Daß ich nichts mehr, nichts mehr weiß. Libia: Weißt es nicht und bist ein Zaubrer? Lisip: Ja mein Kind, um diesen Preis Bin ich’s, daß ich nichts mehr weiß. (KB 33)

Der Verlust seines Wissens wird sprachlich durch einen Parallelismus deutlich gemacht, der durch seinen Wiederholungscharakter die Aufhebung allen Wissens bis auf den letzten Grund verweist. Die daraus entstehenden Zauberkräfte sind konsequenter Weise begrenzt. Von Libia gerufen, verhindert Lisip zwar durch ein herbeigezaubertes Gewitter – das sich mit Erdbeben und Donner anders ausnimmt als bei Calderón –, daß „die beiden Knaben [ge]schlachtet“ (KB 31) werden. Da er allerdings als Zauberer ein Dilettant ist, muß er aus Hilflosigkeit eine Probe ersinnen, um den Sohn des echten Kaisers Mauritius herauszufinden: „Eine Probe freilich, eine Probe! / Sei auch einer siebenfach verschlossen, / Ihn entlarvt die Garderobe“ (KB 36). Die heranschwebende Wolke, durch die Lisip den Söhnen ihre Herkunft mitteilen läßt, ist ein gelungener Einfall Kommerells. Nicht zuletzt sie ist ein Merkmal für den „barocken Stil“ (KB 2) seiner Bearbeitung. Die Wolke verkörpert als ein zentrales ‚barockes‘ Symbol eine Verbindung von Jenseitssucht und Diesseitsfreude im Zeichen von Himmel und Erde. Darüber hinaus wird sie hier zum Spielball des Zauberers, der sie ‚einlullt‘, sie wie Seifenblasen zerteilt und mit ihr seine Botschaften versendet. Diese „Menschen-Wolke“ (KB 49) nimmt einen anthropologischen Charakter an und tritt in einen Dialog mit dem Zauberer. Dabei wirft sie Fragen über Autonomie und Fremdbestimmung des menschlichen Handelns auf und deutet auf eine übergeordnete philosophische Idee: „Wie ich Wolke in mir schwanke, / Werd ich augenblicklich, was du denkst. / Weißt du denn, ob du dein Denken lenkst, / Oder dich lenkt ein Gedanke?“ (KB 48). In ihrer Selbstdarstellung verweist sie auf die Realitätsproblematik von Sein und Schein: „Was du für dich / Selber bist: so Schein als wesentlich. / Was euch Scheinenden erscheint als Schein: / Bloß durch Bilder kann die Prüfung sein“ (KB 49). Lisip bildet aus ihr Ebenbilder von Cintia und Libia, die Heraklius und Leonidus im Schlaf mitteilen, daß jeweils sie der Sohn von Mauritius seien:

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

Wolke Cintia, Wolke Libia, Seid Heraklio, und nah Seid Leonido! Was klüglichMildernd ich hinausgeschoben, Soll vorhergeschehn in Proben. (KB 52)

Bei Calderón werden Cintia und Libia verzaubert, um den Söhnen die Herkunft zu verheißen, und können sich hinterher an nichts mehr erinnern – hier hat sich Kommerell allerdings ein schönes Dialogspiel entgehen lassen.160 Er entwickelt jedoch die kreative Idee, die beiden Frauen in Scheinbildern, die durch die Wolke geformt werden, auftreten zu lassen. Die Grenzen des Zauberers, die schon am Anfang des Dramas angedeutet werden, kommen nach der Probe deutlicher zum Vorschein. Lisip resigniert: „Wehrlos bin ich ausgestellt / In dem Zirkel meiner Taten / Geisterhafter Luftgelächter“ (KB 62), und konstatiert das Mißlingen der Probe: Ha! Die Probe ist mißraten! [...] Ich, das Eitle und das Echte Dacht ich auszusöhnen, weil Ich mit jedem Gegenteil Selber windschnell mich verflechte; Niemals eins und stets dazwischen, Halte ich mich selber feil Als gemischtesten der Tränke. (KB 62)

In Lisip zeigt sich die Abspaltung des Künstlers vom Politiker.161 Die Negation der Kunst wird ausgedrückt in der Formulierung: „Alles ist das Herz, die Kunst ist nichts“ (KB 91). Die Wolke teilt sich allerdings nicht nur in die zwei Scheinbilder, die Lisip aufgerufen hat, sondern es entsteht noch eine blasse Gestalt: die „Dritte“ (KB 52). Daß der Zeichenprozeß, der von Lisip initiiert wurde, mit dem Signifikat ‚Wolke‘ und den Signifikanten ‚Scheinbilder‘ nicht in der von ihm geplanten Weise abläuft, sondern die Figur des Dritten entsteht, verdeutlicht wiederum die Limitation dieses Zauberers. Anhand der Figur Lisips bringt Kommerell die Thematik des Traums und des Unbewußten, die ihn schon in Jean Paul fasziniert hat, in das Drama ein. Die „Dritte“ (KB 52) vermag mit Hilfe eines Schlüssels die Träume der Menschen zu lesen. Mit Schauer wird sie von Lisip verbannt, da das Vordringen ins Unbewußte des Menschen nur Gott bestimmt und dem Menschen selbst vorenthalten sein soll:

160 „Cintia: Yo? como? quando? ¿ni yo / De qué saberlo he prodido? / […] / Libia: Lo mismo yo á tí? ¿Pues quando / Yo á tí te he hablado, ni visto?“, ebd. S. 600f. 161 Vgl. Köhler, Dramatisches Werk, S. 211.

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Denn der Traum des Menschen ist, Hörte ich, das tiefe Buch Darin Gott der Herr studiert. (KB 50) Denn wehe, Wenn der von sich selbst Beschlichne Wach sich ins Geheimste sähe! (KB 52)

Lisip erkennt hier die Autorität Gottes an. In einer anderen Situation verschweigt er Phokas den Namen des Kaisersohns. Das geschieht allerdings nicht, wie bei Calderón, weil Lisipo ein Schweigen durch Gott auferlegt wurde: „Cierta deidad, que esotra vida guarda, / Tú no la ves, yo sí, enojada y bella, / Con el dedo en los labios, los mios sella“.162 Vielmehr nennt Lisip den Namen nicht, weil er sich nicht mehr erinnern kann. Sein Wissen ist verschwunden: „Namen wird er wissen wollen. / Ich weiß keinen Namen mehr. / Alles ist mir ungefähr, / Ich bin für mich selbst verschollen“ (KB 31). Diese grundsätzliche Ablehnung des Wissens und der Kunst wird verbunden mit einer Ablehnung Gottes, so daß die Zaubererfigur von Kommerell mit nihilistischen Zügen versehen wird. Da Lisip nichts weiß, muß er am Ende auch nicht seiner Magie abschwören. Calderóns Zauberer hingegen muß – wie in Shakespeares Der Sturm der Zauberer Prospero, den Kommerell in seinen Aufzeichnungen erwähnt –163 der Zauberei entsagen und die göttliche Weltordnung anerkennen: „Viva, / Con el pretexto de que / No se use de sus ciencias mas“.164 Steht am Ende von Calderóns Drama die Absage an die Magie, da sich der Zauberer Gott unterordnen muß, so bedeutet Kommerells Bearbeitung, in der der Zauberer am Schluß seine Kunst weiter ausüben darf, aber in Distanz zu Gott und der Welt treten muß, eine Modifikation von Calderóns Zaubererkonzept. Eine weitere Innovation von Kommerell sind die Saphire. Sie stehen symbolisch für Ruhe, Reinheit und Freiheit und weisen Heraklius als Sohn des legitimen Kaisers aus. Steine sind für Kommerell von besonderer Bedeutung. Der Porphyr bezeichnet Heraklius als den im Felsen ruhenden Kristall: „Seine Klaun aus Porphyr wand / Um dich dieses Land [...] / Du, du selber warst dies Land“ (KB 67f.). Der Rubin zeigt die Kostbarkeit an, die Heraklius für Astolf bedeutet: „Gott selbst legte in die Hände / Meiner Seele dich Rubin“ (KB 66). Die Steine an den Fingern von Heraklius und Leonidus schließlich bezeichnen durch ihr Leuchten das Wesen der beiden:

162 Calderón, Comedias, Bd. 1, S. 586. 163 Vgl. DLA Marbach, Kommerell, Max: Mappe I A, Nachlaß Kommerell, D: 86.542, Blatt 78. 164 Calderón, Comedias, Bd. 1, S. 605.

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Ihre Augen haben kein Menschlich Licht. Sie sind geschnitten Aus gefühllosem Gestein In bekannter Züge Mitten. Vom Ringfinger aber sticht Den neugierigen, der ihre Sphäre antritt, der Saphire Schneidend sternenbleiches Licht. (KB 39, vgl. auch 53 u. 55)

Die Saphire fungieren als Zugehörigkeitsanzeiger: Sie leuchten, wenn zwei zusammengehörende Menschen sich treffen. Dies geschieht, als Cintia zu Heraklius und Libia zu Leonidus treten (vgl. KB 55). So wird angezeigt, daß später Cintia und Heraklius sowie Libia und Leonidus heiraten werden. Markant wird der Saphir in der Situation, als Astolf verwundet zu den Söhnen tritt: „[Regieanw.:] Er wankt vor, Flecken Bluts in Haar und Stirn, geschwächt, aber freudig ... Der Saphir erleuchtet Heraklius“ (KB 56). Das Erleuchten von Heraklius – und nicht von Leonidus – durch den Saphir verdeutlicht den engeren Bezug von Heraklius zu Astolf und sein natürliches Verständnis von Astolf als Vaterinstanz. Zudem legitimiert der Saphir Heraklius, der auch als „Glanz der Krone“ (KB 57) bezeichnet wird, als rechtmäßigen Nachfolger. In der ersten Szene des III. Aktes, der ganz Kommerells „eigene Farbe“ (BA 281) trägt, ruft Astolf, der auf das Meer ausgesetzt wurde, im Wechsel mit Heraklius nach Phokas: „O wie ist das Sterben leicht! [...] O wie ist das Sterben schwer!“ (KB 65). Federigos späteres Klagen wirkt durch einen Chiasmus noch eindringlicher: „Sang als Greis und Knabe: ‚Schwer / Sterben – sterben leicht!‘“ (KB 86). Der bewegenden Idee des Rufens vom Meer verleiht Kommerell durch Wiederholung stärkere Ausdruckskraft. Die Szene erweckt schon zu Anfang einen unsicheren Eindruck: „[Regieanw.:] Nacht. Windlichter. [...] Große Fenster, Sterne, Meer“ (KB 65). Sie steigert sich mit den wiederholten Anrufungen, verstärkt durch die langen Regieanweisungen, in eine unheimliche Atmosphäre: „Die Flämmchen krümmen sich und kriechen ein, der Raum ist fast dunkel, die Figuren nur noch Umriß. So große Stille, daß der letzte Gesang fast etwas Dröhnendes hat“ (KB 70). Astolf stößt – wie Orpheus aus der Unterwelt – monotone, durchdringende Rufe aus, die durch den parallelen Satzbau verstärkt werden: Vom Gestirn, das Abschied nimmt. Es verweilt. Die Wolke glimmt. Es geht unter. Sie erbleicht. Ich erbleiche. Ich verwehe. (KB 70)

Die Absicht, Phokas durch das Rufen vom Meer, das wie ein Rufen der Toten wirkt, zu verunsichern, führt zum Ziel: Er ist völlig verwirrt und sogar physisch angegriffen: „[Regieanw.:] Als die Bühne wieder hell wird, sieht man noch Phokas mit krampfiger Bewegung sich an die Brust greifend“ (KB 70f.).

IV.3 Das kaiserliche Blut

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Auf Kommerell geht ebenfalls zurück, daß Astolf, der bei Calderón am Leben bleibt, von Phokas erstochen wird (vgl. KB 80). Damit erhebt er einen Anspruch auf unbeschränkte Kontrolle der Söhne. Bei Calderón hingegen tötet Eraclio Fócas: „Que soy el que te da muerte, / Aunque te defienda él“.165 In der Bearbeitung ist dies nicht nötig, da Phokas entmachtet wird und sich selbst ersticht (vgl. KB 80). Äußerlich ist Leonido am Ende sowohl bei Calderón als auch bei Kommerell der Begnadigte, der wieder integriert wird. Allerdings wirkt in der Bearbeitung die Reintegration stärker, da dort Leonidus gewandelt, von Astolf adoptiert und sein Charakter transformiert wird: Da du lagst zu Astolfs Füßen, Wisse: starbest du und wardst Noch einmal erzeugt vom Toten. Ja, dein Vater ist Astolf! Nicht mehr dessen, was du tatest, Denke. Denn du bist verwandelt. (KB 90)

In beiden Stücken steht am Ende Heraklius’ Triumph. Seine Hochzeit mit Cintia wird bei Kommerell jedoch nur angedeutet: „Cintia entgegen geht und ihre Hand ergreift“ (KB 93). Durch Kommerells Innovationen der Saphire als Zugehörigkeitsanzeiger, der durch Parallelismus unterstrichenen Klagen und der Transformation von Leonidus’ Charakter gewinnt seine Bearbeitung an Anschaulichkeit. Phokas steht im Zentrum von Kommerells Kritik. In seinen Briefen hat er versucht, das Drama dahingehend selbst zu deuten, daß er in der Figur des Phokas Kritik an George geübt habe:166 „George war ein König. Das ist die Hauptsache. Und deswegen habe ich gefrevelt an ihm, aus welchem Müssen und welchem Recht es auch immer sei“.167 Gegenüber Zimmer heißt es ähnlich lautend: „Außerdem les ich eifrig englische Lyrik, und neue CalderonStücke, und denke auch an meinen dritten Akt. Aber nicht ohne Grausen über mein frevles Unterfangen“.168 Kommerell reflektiert seine Auseinandersetzung mit George, die bis in seine Traumwelt reicht: „In dem George- und Rilke-Kolleg herrscht ziemliche Spannung. Ich habe bei George begonnen mit den Sachen, die er über sich selbst sagt, in den Gedichten; und das ist nicht wenig. Auf mein Traumleben wirkt das alles eher ungünstig ein; jedesmal wenn ich bös war im Kolleg, zittere ich davor, daß der alte Dämon mich im Traum dafür züchtigt, und die Furcht ist nicht immer unbegründet.

165 Ebd. S. 604. 166 Bei dem Bezug von Kommerells biographischem Hintergrund auf seine dichterischen Produktionen muß allerdings das generelle Problem zwischen literarischer Fiktion und außerliterarischer Absicht bedacht werden. 167 Brief Kommerell an Erika Franck o. D. [August 1934], BA 281. 168 Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 04.12.1934, BA 301.

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Aber die Träume sind meist anders: daß ich immer noch nicht losgekommen bin, daß ich mich wieder bezaubern und einfangen ließ u. s. f. ...“.169 Daß Kommerell George immer noch das Recht einräumt, ihn zu „züchtigen“, zeigt wie stark der Einfluß noch nachwirkt. Die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit im Medium der Literatur ist zutreffend als „Geflecht von Such- und Fluchtbewegungen, Abwehrkämpfen und Selbstdefinitionen“170 bezeichnet worden. Im gleichen Brief, in dem er George als König bezeichnet, deutet er auch auf seinen Freund Johann Anton hin, der sich nach Kommerells Trennung vom George-Kreis das Leben nahm (vgl. Kap. II). Kommerell teilt diesbezüglich seiner späteren zweiten Frau mit: „Mein Freund, sein Leben und sein Tod ist in dieser Mysteriengeschichte171 des edlen Bluts eine schauerlich verworrene Minute, und auch hier sind meine Hände schuldig geworden. Dergleichen wird auch die Idee meiner Calderon-Bearbeitung sein“.172 Konkurrenz und Verrat werden in der Beziehung von Heraklius und Leonidus, in der Leben und Tod auf dem Spiel stehen, thematisiert. Kommerell nutzt das Drama, um sein eigenes Leben zu reflektieren. Außerdem setzt er die Ausgestaltung der Figuren ein, um für sich selbst andere Verhaltensmuster als Spielformen durchzuprobieren.173 Die Kritik an der Figur des Usurpators wird im Laufe des Dramas gesteigert. Zuerst versucht Phokas, den Zauberer Lisip für seine Zwecke einzuspannen, aber die Probe, auf die die Söhne gestellt werden, mißlingt. Letztlich wird Phokas selbst entzaubert. Kommerell braucht den Zauberer als Gegenfigur zu George, für den Phokas hier steht. So kann er die Kraft Georges, die mit für ihn rationalen Mitteln nicht auflösbar ist, durch Gegenzauber bannen.174 Die Entmachtung von Phokas verläuft schrittweise. In der ersten Szene des III. Aktes gerät er ins Wanken: Er „erschrickt“, „zuckt“ und macht „krampfige Bewegung“ (KB 65, 66, 70). Am Ende verliert sein Sprachvermögen: „(Seine Erstarrung brechend, zu Leonidus) Du – den töten – da!“ (KB 79). Doch seine Macht stößt an Grenzen, als Leonidus den Tötungsbefehl nicht ausführt.175 Phokas verliert seine Selbstwahrnehmung: „Bin ich denn nicht groß? / Soll ein Kleiner / Mich schon Kindischen bevätern?“ (KB 79f.). Er büßt sein Handlungsfähigkeit ein: „Ob nicht einen Geist zu töten / Die 169 Brief Kommerell an Hedwig Kerber-Carossa o. D. [Frühsommer 1943], BA 415f. 170 Albert, Zeichen, S. 236. 171 Gemeint ist wahrscheinlich Kommerells Dramenfragment ‚Der Mysterienfrevel‘, vgl. Kommerell, Arbeitsheft, D: 86.487. 172 Brief Kommerell an Erika Franck o. D. [August 1934], BA 281. 173 Es ließe sich auch vertreten, daß George in die Rolle des Phokas und des Astolf zerfällt und Astolf George als Lehrer und Erzieher darstellt. 174 Vgl. Simon, Weltliteratur, S. 84. 175 Vgl. Köhler, Dramatisches Werk, S. 210.

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Gewalt Gewalt genug ist!“ (KB 80), und schließlich verliert er seine Autorität: „Federigo: Wer tat dies? / Phokas: (schrickt zusammen, dann schreiend) Ich!“ (KB 82). Darauf folgt eine Demontage von Phokas: Phokas: (idiotisch) Erfragt den Toten. Still du! – Er soll’s nicht sagen. Ich mag nicht, wenn er singt. Die Toten singen falsch. (stopft sich die Ohren zu, schreiend:) Ich hör’s! Ich hör’s! (KB 83)

Der Usurpator wird von seinem Mord an Astolf eingeholt und vermag es nicht, – auch wenn er sich wie Odysseus vor den Sirenen die Ohren zustopfen will – sich vor dem Gesang der Toten taub zu stellen. Der Mord ruft das nächste Verbrechen hervor, nun will er Heraklius, Federigo und Leonidus töten. Aber das Vorhaben kehrt sich gegen ihn selbst um: [Regieanw.: Heraklius und Leonidus] stehen völlig waffenlos vor Phokas, der mit erhobenem Dolch auf sie, und dann auf den zu Astolfs Füßen knieenden Sohn stürzt. Während er sie zu treffen glaubt, sticht er mit irren Bewegungen in die Luft und schreit nach jedem Stoß selber auf. Phokas: Da! Eine Wunde tief versetz ich dir, Heraklius! Doch ist es mir, als ob ich selber schrie. (KB 83f.)

Phokas verleugnet nun sich selbst und gibt damit seine Individuation auf (vgl. KB 85). Von seinen eigenen Stichen verletzt und von Astolfs unhörbarem Rufen durchdrungen, fällt er zu Boden und stirbt: „Heraklius: Jetzt ruft der Tote. Astolf ruft nach dir. / [Regieanw.:] Es ist totenstill im Saal. Plötzlich zuckt Phokas zusammen und stürzt tot hin“ (KB 85f.). In der Figur des verrückt gewordenen, nach sich selbst stechenden Phokas zeigt sich die Radikalität von Kommerells Kritik an George. Durch die Entzauberung von Phokas im Drama erreicht Kommerell einen weiteren Schritt der Emanzipation von George. In Abgrenzung zur biographischen Lesart, die Kommerell selbst vorgegeben hat, bietet Das kaiserliche Blut weitere Lesarten an. Einige in Spannung gesetzte Motivpaare mit symbolischer Referenz sind vorherrschend, so daß die „freie Symbolik“ (BA 280) den politischen Gehalt überwiegt. Eines der Motivpaare bilden die Begriffe ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Liebe‘. Zum ersten Mal tauchen sie in der Szene auf, in der sich Heraklius und Cintia am Meer begegnen: Heraklius: Dieses blieb: Gerechtigkeit. Und vielleicht, daß noch ein andres bliebe Nach der um Gerechtigkeit getanen Tat? Errätst du es? Cintia: Die Liebe. (KB 77)

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Gerechtigkeit und Liebe werden in ein kausales Relationsverhältnis gestellt. Da Heraklius und Cintia nach Gerechtigkeit streben, findet am Schluß eine Vereinigung in der Liebe statt (vgl. KB 88f.).176 Leonidus wird in der letzten Szene, wie bereits erwähnt, reintegriert. Damit soll ihm Gerechtigkeit widerfahren. Ebenso empfängt er die Liebe von Libia. Liebe und Gerechtigkeit sind die Prinzipien, die sich am Ende gegenüber Gewalt und Usurpation durchsetzen. Seine Probleme, den Begriff ‚Gerechtigkeit‘ dramatisch zum Ausdruck zu bringen, teilt Kommerell am 5. September 1935 Karl Reinhardt mit: „[...] fang ich, vorsichtig wie ein alter Mann, an den letzten Calderonischen zu dichten an. Dabei komme ich in die Lage, viele Verse über einen Begriff machen zu müssen, nämlich über die Gerechtigkeit. Abgesehen, daß mich Begriffe augenblicklich besonders wenig interessieren, wüßte ich nicht, welcher Begriff mich augenblicklich mehr interessiert als dieser“.177 Die Schwierigkeiten finden im Drama ihren Niederschlag, da Kommerell dort gleich eine Reihe von Definitionen präsentiert, die in der Formulierung gipfelt: „Gerechtigkeit / Ist aus Zweien ein Gepaartes, / Ist die Macht im Dienst der Seele“ (KB 88). Gerechtigkeit kommt also zustande, wenn sich Macht mit Liebe paart. Dementsprechend wird Heraklius durch Libias Liebe zur Vergebung bewegt. Ein anderes Motivpaar ist ‚Erziehung‘ und ‚Dienst‘. Beide Motive werden in der Figur Astolfs vereinigt. Er ist der Lehrer, der die Söhne erzieht (vgl. KB 68f.), und der Diener, der den Kaisern Mauritius und Heraklius untersteht: „Knecht bin jenes Blutes ich“ (KB 79). Kommerell, der nach Fertigstellung die einzelnen Szenen mit seinen Studenten lesen und spielen läßt – auch im Rahmen des Frankfurter jour fixe (vgl. Kap. III) –, stellt sich in der Rolle des Astolf seinen Schüler Günter Schulz vor: „Der erste Calderon-Akt ist fertig und macht mir Spaß. Sie sollten einmal den uralten Königskinder-Wart Astolf spielen“.178 Am Schluß des Dramas wird deutlich, wie sehr Astolf sich als Diener versteht und sein ganzes Handeln auf das Dienen ausrichtet. Er kann erst im Wissen um seine treue Dienerschaft Ruhe finden: Astolf: Umstehende: Astolf: Heraklius: Astolf:

(wie aus weiter Ferne) Heraklius! Der Tote ruft! (dringender) Heraklius! (zitternd) Mein Astolf? Ich kann nicht sterben, eh‘ du dies mir sagst: Hab ich dir treu gedient?

176 Ein ähnliches Verständnis legt Kommerell in seinem Roman Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern an den Tag: „Wo Liebendes sich zu Liebendem fügt, werden aus zweien drei!“ (LT 141). 177 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 05.09.1935, Nachlaß Kommerell, A: 56.364. 178 Brief Kommerell an Günter Schulz vom 27.03.1934, zitiert nach Schulz, Dichter, S. 140.

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Heraklius:

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(beugt sich schluchzend über ihn) Du hast! (KB 92)

‚Erziehung‘ und ‚Dienst‘ sind Zentralmotive, die Kommerell, mit dem Hintergrund des Meister-Schüler-Verhältnisses im George-Kreis, an Calderón gefesselt haben.179 Ein weiterer Motivkreis liegt um das Wortfeld ‚Tier‘ vor. Dem Titel gemäß ist der Anspruch auf das Kaisertum nur durch ‚Blut‘ und ‚Verwandtschaft‘ legitimiert.180 An dieser Stelle kann auf eine Verbindung zwischen Kommerells dichterischen und seinen wissenschaftlichen Produktionen verwiesen werden, da er in Schiller als Psychologe (vgl. Kap. VII) anhand von Schillers Warbeck und Demetrius ebenfalls die Frage von Rechtmäßigkeit der Herrschaft behandelt.181 Phokas’ Verhalten wird durch seinen Herrschaftswillen bestimmt. Da er nicht der rechtmäßige Nachfolger von Mauritius ist, sondern der gewaltsame Usurpator, versucht er zumindest für seinen Sohn eine Legitimation durch Abkunft zu erreichen: „Und ein namenloses Blut / Rolle fort in reihenweis Gefürsteten!“ (KB 67). Das Gegenstück zum Blut des königlichen Menschen ist das tierische Blut. Synonym für das Tier wird der Ausdruck ‚Wild‘ gebraucht. Die stärksten Herabsetzungen erfahren Figuren im Drama durch die Kennzeichnung als Wild: „Heraklius: Welches schöne Wesen? / Cintia: Welch / Schauderhaftes Wild!“ (KB 16). Mit den Motiven Tier und Wild verbindet sich anhand des Gepards (vgl. KB 47) eine Metaphorik von Jagd und Beute: Phokas: Jetzt hat Sinn mein Sein. Denn jetzt, Jäger dieser Wildnis, deute Ich mir die gefleckte Beute: Hetzend, weil von ihr gehetzt. (dicht vor Heraklius tretend). (KB 64)

Unbewußt drückt Phokas aus, daß er selbst in dieser „Scheinjagd“ (KB 36) vom Jäger zum Gejagten geworden ist. Noch zu Beginn des Dramas werden Heraklius und Leonidus, aufgrund ihres Aufwachsens in der Wildnis, mit Tieren verwechselt: „einen Menschen, / einen ganz zum Wild Gewordenen“ (KB 9). Dies gipfelt in der signifikanten Antithese „Menschenwild“ (KB 7). Heraklius zieht anfangs das Leben in der Wildnis gegenüber dem Herrschen

179 Vgl. die Auseinandersetzung zwischen Wolters und Gundolf über Herrschaft und Dienst bzw. Gefolgschaft und Jüngertum. Dazu siehe auch Groppe, Weltanschauungsmodelle, S. 265–282. 180 Problematisch werden diese Begriffe vor dem Hintergrund ihrer Bedeutung in der nationalsozialistischen Ideologie. 181 SP 100: „Schein und Wesen vertauschen sich: vorm echten Begriff des königlichen Handelns ist sein Königscheinen wesenhafter als das Königsein anderer“. Vgl. auch SP 100–109 und SG 21.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

auf dem Thron vor. Dem verleiht er durch eine Alliteration besonderen Nachdruck: „Laßt / Mich hinaus, mich draußen hausen, / Wildes Wild im wilden Wald!“ (KB 61). Aber gegen Ende des Dramas ist die Situation umgekehrt, Heraklius nimmt seine rechtmäßige Rolle als Herrscher ein und Phokas’ wahres Wesen wird deutlich: „Aber jeden zeichnet sein Beruf / [...] mit der Tiere Blut, / Die von ihm geschlachtet starben –“ (KB 65). Am Schluß tritt das Tierische im Innern von Phokas durch das Medium der Gebärde nach außen hervor: „[Regieanw.:] Er steht allein mit frechem, tierischem Ausdruck“ (KB 82). Die wichtigsten Themen im Kaiserlichen Blut sind also die Motivpaare ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Liebe‘ sowie ‚Erziehung‘ und ‚Dienst‘, die um das Wortfeld ‚Tier‘ ergänzt werden. Im Zentrum von Kommerells poetologischem Konzept steht die Gebärde.182 Sie ist auch das Zentralwort dieses Textes und kommt, gesprochenen Text und Regieanweisung zusammengenommen, insgesamt achtzehnmal vor. Im Aufsatz Der Vers im Drama erläutert Kommerell den Zusammenhang von sprachlicher und körperlicher Gebärde. Für ihn nimmt die Sprachgebärde den Ausgangscharakter für die Körpergebärde an: „Das Wort ist die Urgebärde, aus der sich die einzelnen Gebärden ableiten“.183 Die unterschiedlichen Gebärden geben tieferes Zeugnis von den Figuren. Bei Cintia wird die Demut gezeigt: „[Ich] lasse / Dir das Diadem! So kann / Ich vollziehen die Gebärde / Einer Welt, die kniet“ (KB 5). Lisips Art, die ins Lächerliche reicht, wird durch seine Gebärden noch verstärkt: „In der einen Hand trägt er mit preziöser Geste einen Zauberstab“ und „schlägt den Mantel um, ergreift den Stab und nimmt die frühere, alberne Gebärdensprache an“ (KB 28, 31). Libia wird in Erscheinung und Bewegungsart mit einem Schwan verglichen: „Holt nun sie, die weißen Leibs und Kleides [...] An Gebärde und Gestalt ein Schwan!“ (KB 71). Leonidus ist durch eine „verschmähende Gebärde“ (KB 68) gekennzeichnet.

182 Kommerells Konzept der Gebärde ist bisher nur in Bezug auf seine wissenschaftlichen Schriften untersucht worden. Die hier vorgenommene Erläuterung geschieht dagegen anhand eines poetischen Textes. Zu Kommerells Gebärdenkonzept in seinen wissenschaftlichen Schriften siehe Agamben, Gesture, S. 77–85; ders., Geste, S. 97–107; Busch, Walter: Zum Konzept der Sprachgebärde im Werk Max Kommerells, in: Geste und Gebärde. Beiträge zu Text und Kultur der Klassischen Moderne, hrsg. v. Isolde Schiffermüller, Bozen 2001, S. 103–134; Fleming, Crisis, S. 519–543; Port, Ulrich: Die „Sprachgebärde“ und der „Umgang mit sich selbst“. Literatur als Lebenskunst bei Max Kommerell, in: Busch/ Pickerodt, Aktualität, S. 74–97; und: Schiffermüller, Isolde: Gebärde, Gestikulation und Mimus. Krisengestalten in der Poetik von Max Kommerell, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 98–117. 183 Kommerell, Max: Der Vers im Drama, in: DW, S. 147–158, hier: S. 153 [erstmals in: Blätter des Hessischen Landestheaters in Darmstadt, Spielzeit 1939/40, H. 9, S. 85–96].

IV.3 Das kaiserliche Blut

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Phokas’ Gebärdensprache wendet sich im Laufe des Dramas ins Negative. Zuerst macht er eine „fragende“, dann eine „auffordernde“ und schließlich eine „abwehrende“ Gebärde (KB 8, 10, 58). So wird in einer Klimax sein schlechter Charakter verdeutlicht. Er muß sich tatsächlich überwinden, wenn er eine freundliche Geste machen will: „[Regieanw.:] Phokas bemüht sich zu einer anerkennenden Gebärde gegen den Zauberer“ (KB 67). Schließlich verraten die Gebärden seine Verrücktheit: „[Regieanw.:] Er macht irre Gebärden der Wut und der Zärtlichkeit“ (KB 40). Heraklius erkennt das wahre Ich von Phokas und stellt sich dessen Gebärde in einer Situation ohne ein Heer, das ihn beschützt, vor: „Ihm, der drohend jetzt, der standhaft / Gegen mich die Stirne furcht, / Wiese dann die ganze Landschaft / Die Gebärde seiner Furcht!“ (KB 48). Die Gebärde erfährt eine gesteigerte Bedeutung, wenn im Drama die „Pantomime“ (KB 58) vorherrscht. Deshalb wird die Handlung in den nicht gesprochenen Passagen durch lange Regieanweisungen erläutert, die dadurch zusätzlich an Bedeutung gewinnen. Nach Kommerells Ansicht kann sich der Mensch zwar in der Sprache verstellen, aber sein Wesen wird im Medium der Gebärde offengelegt. Hier zeigt sich eine Parallele zu der gegenwärtigen Performanz-Forschung:184 „Geist erscheint: Das Unbewachte / Ohne Worte, ganz Gebärde“ (KB 38). Auf der einen Seite entlarvt die Gebärde den Despoten, auf der anderen Seite zeigt die „Urgebärde“185 die rechtmäßige Nachkommenschaft an: „Früheste Gebärden weisen / Die verschiedne Abkunft aus“ (KB 44). Mit dem Hervortreten des wahren Kerns des Menschen wird wieder die ‚barocke‘ Untrüglichkeit des Seins verdeutlicht: „Die Gebärden wie das Sein untrüglich –“ (KB 52). Kommerell hinterfragt in Das kaiserliche Blut die Legitimität von Herrschaft. Durch die Depotenzierung des illegitimen Herrschers Phokas mit Hilfe der Zauberei Lisips kann die Weltordnung restituiert werden. Außerdem setzt er sich mit Fragen der Identität auseinander. Astolf nimmt als Erzieher eine unterstützende Funktion bei der Herausbildung von Heraklius’ und Leonidus’ Persönlichkeit an, gibt aber schützend das Wissen um ihre Herkunft nicht preis. Der Hinweis auf die Identität funktioniert mit Hilfe der Saphire und ihre Offenlegung mittels der Gebärde. Am Ende steht die Bestätigung von Heraklius’ Identität als Herrscher und die Reintegration von Leonidus in die Gesellschaft.

184 Vgl. Fischer-Lichte, Erika u. a. (Hgg.): Performativität und Ereignis, Tübingen/Basel 2003; dies./ Wulf, Christoph (Hgg.): Praktiken des Performativen, Berlin 2004; und: dies., Ästhetik, 2004. 185 Kommerell, Vers, S. 153.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

IV.3.3 Hofmannsthals Kaiser Phokas und Der Turm Kommerell wird zu seinem Drama durch Hofmannsthals Fragment Kaiser Phokas (HPH)186 inspiriert, das er bei Zimmer im Nachlaß findet. Ein Vergleich zwischen den beiden Stücken ergibt Gemeinsamkeiten wie Unterschiede. Der Titel Das kaiserliche Blut geht möglicherweise auf Hofmannsthal zurück. ‚Kaiserlich‘ könnte von ‚Kaiser Phokas‘ abgeleitet sein, und auch das Stichwort ‚Blut‘ taucht bei Hofmannsthal an verschiedenen Stellen auf: „Der eine von euch steht dem Kaiser im Blut sehr nahe“ (HPH 209).187 Bei Hofmannsthal findet sich die Notiz „Cinzia sieht in dem Bild des Phokas etwas von Größe“ (HPH 150), die Kommerell zu seinem ersten Satz „Cintia: Größe bindet“ (KB 5) inspiriert haben könnte. Er setzt jedoch an die Stelle des Bildes das „Diadem“ (KB 5), das in den ersten Versen angesprochen wird.188 Eine Figur, die das Wissen ablehnt – bei Kommerell ist es Lisip –, ist schon bei Hofmannsthal angelegt: „Bassus Gedächtnis nachlassend. Er verwechselt Namen u. Begriffe, irrt ab“ (HPH 168). Kommerell modifiziert die Figuren Lisip und Astolf gegenüber der spanischen Vorlage, bei Hofmannsthal werden sie sogar zu einer Person vereinigt werden (vgl. HPH 423).189 Ein Unterschied zwischen Kommerell und Hofmannsthal läßt sich in der Schwur-Szene deutlich erkennen: Lysipp: Schwör mir daß Du sein Leben verschonest – Schwör es – er sei wer immer – schwör auf die Reliquie den Splitter vom Kreuz u[nd] d[ein] Schwert – (HPH 220) Lisip: Schwör, daß niemals Hand du legst an jenen, Den uns die Magie Offenbaren wird durch stumme Szenen Als den echten Sohn Mauritii! (KB 39f.)

Der zentrale Unterschied liegt in der Intention der Bearbeitung. Hofmannsthal habe, wie die Herausgeberin Ellen Ritter ausführt, die „Grundproble-

186 Vgl. Hofmannsthal, Werke XIX, 17, S. 148–230. 187 Siehe auch: „Raub an der Majestät meines Blutes“ (HPH 200), „Bin ich sein Sohn – so ist in unheimlicher Weise alles unwahr was man vom Zusammenhang des Blutes sagt“ (HPH 202), „Aber er weiß nicht wie groß die Welt ist: dort erzähle er, wie Phokas das erniedrigte Blut des Konstantin fürchtet“ (HPH 220), und: „du machst ihn zum Kaiser und mußt im Blut alles herstellen“ (HPH 226). 188 Kommerells Gebärdenkonzept steht ebenfalls im Zusammenhang mit Hofmannsthal. Kommerell bringt es auf die Formel: „Die Gebärden wie das Sein untrüglich –“ (KB 52). Schon in Hofmannsthals Fragment heißt es, ähnlich klingend: „Solange sie zusammenhalten umgibt einen durch den anderen ein trügerischer Schein“ (HPH 171). 189 Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Metaphorik der Jagd. Auch in Hofmannsthals Fragment ist die Jagd, die bei Kommerell in das Wortfeld ‚Tier‘ eingeht, ein zentrales Thema – z. B. „Jagdhund“ (HPH 201). Vgl. dazu HPH 151f., 161, 171, 179, 182, 187, 189, 201, 212, 219 u. 221.

IV.3 Das kaiserliche Blut

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matik des ‚Phokas‘“ in dem „Konflikt zwischen den aufeinanderfolgenden Generationen und dem Gedanken der ‚Familie als [...] Wurzel des Staates‘“ (HPH 427) gesehen.190 Kommerell thematisiert jedoch das Problem der Legitimität von Herrschaft. Im Kaiserlichen Blut herrschen, wie gezeigt wurde, verschiedene Motivpaare vor. Durch die Paarung entsteht eine Motivdopplung. Deshalb ist im Zusammenhang mit Kommerells Hofmannsthal-Rezeption auf seine Wahrnehmung des Turms (1923–1928)191 einzugehen. Dort sind ebenfalls Motivpaare antithetisch gegeneinander gesetzt. Im Kaiserlichen Blut sind es die Paare ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Liebe‘ sowie ‚Erziehung‘ und ‚Dienst‘ – im Turm ist es das Motivpaar ‚Gesetz‘ und ‚Gewalt‘. Zu Beginn des III. Aufzuges der ersten Fassung wird es im Dialog zwischen König und Beichtiger thematisiert: Beichtiger: König: Beichtiger: König:

Damit dem beleidigten Gesetz Genugtuung werde. Wie, dem Gesetz? Das Gesetz? Ja – – Das Gesetz und der Souverän sind eins. Vatersgewalt – der Vater ist der Schöpfer – die Gewalt abgeleitet unmittelbar – Beichtiger: Von der Gewalt des schaffenden Gottes, dem Quell alles Daseins.192

Am Anfang des IV. Aufzuges erklärt Julian gegenüber Sigismund sein Prinzip der Gewalt: „Das habe ich zu Stande gebracht! denn Gewalt gibt es, wo es einen Geist gibt – und Recht hat der, der gesagt hat, dass man die Unterwelt aufwühlen muss“.193 Gegen Ende des V. Aufzuges klagt außerdem der älteste Bannherr im Gespräch mit Sigismund: „Gewalt und Gesetz, diese beiden, auf denen die Welt ruht, vor unsern Augen in ungeheurem Widerstreit! Der Sohn gegen den Vater, Herrschaft gegen Herrschaft, Gewalt gegen Gewalt wie Wasser gegen Feuer“.194 Auch im Turm ist das Problem der Legitimität von Herrschaft von zentraler Bedeutung. Ist die Fragestellung ähnlich, so unterscheiden sich jedoch beide Stücke bei den Antworten. Wer bei Hofmannsthal seinen Anspruch durchsetzen kann, erringt die Herrschaft. Dies kommt besonders in der dritten Fassung des Turms zum Tragen. Kommerell hingegen

190 Vgl. Ellen Ritter (HPH 423): „Zu Beginn der Arbeit hält er sich noch ziemlich exakt an den Handlungsverlauf der Vorlage und übernimmt z. B. die Zaubereien Lisippos und die Personennamen. Später distanziert er sich immer mehr davon, verlagert das Schwergewicht zunächst auf das Verhältnis Vater-Sohn, dann auf das des ‚Tatmenschen‘ zum Dichter (Phokas – Lysipp, Smaragd)“. 191 Vgl. Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Rudolf Hirsch u. a., Bd. XVI.1, Dramen 14.1, hrsg. v. Werner Bellmann, Frankfurt/M 1990 und ders.: Sämtliche Werke, Bd. XVI.2, Dramen 14.2, hrsg. v. Werner Bellmann, Frankfurt/M 2000. 192 Hofmannsthal, Werke, Bd. XVI.1, Dramen 14.1, S. 71. 193 Ebd. S. 94. 194 Ebd. S. 131.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

leitet den Herrschaftsanspruch allein aus dem Prinzip der Erbfolge ab. Er ist gegen jegliche gewaltsame, usurpatorische Machtaneignung und bezieht damit auch indirekt Stellung zu den politischen Verhältnissen seiner Zeit. Im Gegensatz zu Hofmannsthal setzt er sich jedoch nicht mit den Auswirkungen des Kampfes um die Macht auseinander. Bürgerkriegsähnliche Szenarien werden bei ihm nicht geschildert. Er hat eine Tendenz zur Autoreferentialität und will sich in diesem Stück auf individuelle Weise mit dem Herrschafts- und Erziehungsproblem auseinandersetzen. Außer in Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede hat sich Kommerell auch in unveröffentlichten, sich über acht Seiten erstreckenden Aufzeichnungen mit Hofmannsthals Turm auseinandergesetzt.195 Sie zeigen, wie er das Prinzip der Vergegenwärtigung betont: „die ersten Szenen groß weil Hof[mannsthal] nicht dramat[isch] deutet, sondern bildhaft vergegenwärtigt. Keine Steigerung möglich...“.196 Kommerells Bewertung der Lehrerfigur im Turm ist von zentraler Bedeutung, da die Lehrerthematik in den Stücken Das kaiserliche Blut, Die Tochter der Luft und Das Leben ist Traum wiederaufgegriffen wird. Er betitelt einen Abschnitt in diesen Aufzeichnungen als „die Tragik des Lehrers“, worunter er folgendes versteht: „die Lehre ist unbedingt aufgenommen und vernichtet so den Lehrer ... das Gezeugte über dem Zeugenden“.197 Er ist der Auffassung, daß Hofmannsthal die Gestalt des Lehrers umdeute, um dem Stoff ein politisches Gewicht zu geben: Hofmannsthal „vertieft die Gestalt des Lehrers, macht die Frage: Wahrheit und Traum zu einer Frage der höheren und niedrigern Substanz. zuletzt: Politisierung“.198 Kommerell interessiert sich vor dem Hintergrund des Konfliktes mit George mehr für die erzieherische Seite des Lehrers und ist daher vom politischen Gehalt des Turms nicht ergriffen. Für ihn steht die Frage der Erziehung im Vordergrund. Deshalb lehnt er die Konzeption der Lehrerfigur bei Hofmannsthal ab und zieht Calderóns Interpretation vor: „bei Cald[erón] Inhalt der Lehre origineller“.199 Hier zeigt sich, warum Hofmannsthal für Kommerell zum Dichter im Übergang wird und die Beschäftigung mit ihm eine Episode bleibt. Calderón hingegen fasziniert ihn noch weitere Jahre (vgl. Kap. VI). Abgesehen von der direkten Rezeption in den Aufzeichnungen und der indirekten im Drama gibt es in den Briefen einen impliziten Verweis auf 195 Vgl. Kommerell, Mappe I A, D: 86.542, Blatt 77–81. Kommerell behandelt Hofmannsthal im WS 1931/32 in der Lehrveranstaltung: Grillparzer, Stifter, Hofmannsthal, vgl. Strebel, Kommerell, S. 285. 196 Kommerell, Mappe I A, D: 86.542, Bl. 77. Symptomatisch für Hofmannsthal sieht Kommerell die Figur des Arztes an: „der Arzt [entspringe] organisch aus Hofmannsth[al]’s Denken“, da Hofmannsthal „die Einsicht in die Natur des Vorgangs“ besitze, ebd. Bl. 81. 197 Ebd. Bl. 77. 198 Ebd. Bl. 78. 199 Ebd. Bl. 79.

IV.3 Das kaiserliche Blut

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den Turm. In einer metaphorischen Formulierung wird das Calderón-Thema für Kommerell zum Labyrinth, in dem er sich verliert und vergebens darauf hofft, daß ihm, in Anspielung auf den mythischen Stoff, Ariadne helfe, den Ausweg zu finden, wie sie es für Theseus tat: „Das Semester wurde ohne sehr großen Aufwand erledigt. Dagegen umbaue ich mich mit dem Labyrinth meines umgedichteten Calderon-Stoffes, ohne daß mir aus ihm eine Ariadne entgegenspaziert käme und mich an ihrem Faden hinausgeleitete, und an einem andern Faden festzauberte“.200 Damit spielt er auf eine Stelle im ersten Auftritt des II. Aufzuges vom Turm an, in der der König den Einsatz Julians lobt: „es ist vielleicht der Ariadnefaden in der Dunkelheit des Labyrinths, den deine Hand uns reicht“.201 Die Übereinstimmungen von Ariadnefaden und Labyrinth sind so auffällig, daß ein gezielter Bezug auf den Turm angenommen werden kann. Kommerell stellt sich also bewußt in die Traditionslinie von Hofmannsthal. Er versteht also seine Calderón-Bearbeitungen als Fortsetzung von Hofmannsthals Werk. Ein Kollege und Freund Kommerells, der Frankfurter Anglist Hans Hermann Glunz – auch Beiträger der Klostermann-Reihe Wissenschaft und Gegenwart (vgl. Kap. III) –, bemerkt dies und spricht ihn darauf an. In einem Brief vom 23. Mai 1943 schildert Glunz seinen Besuch einer Berliner Aufführung von Kommerells Übertragung Das Leben ist Traum: Ich schreibe, um Ihnen zur Übersetzung des Calderón zu gratulieren. Durch einen Zufall kam es, daß ich eine Aufführung hier ansehen konnte, und ich war besonders begeistert. Diese Sprache hat eine Virtuosität und Vielfältigkeit der Töne, die schon barock anmutet in der Verbindung von melodischer Glätte mit den unerwarteten Überraschungen und Kühnheiten. (Ganz leise und nebenbei gesagt, muß ich gestehen, daß ich oft an H. v. Hofmannsthal habe denken müssen. Dabei, als deren ‚Schüler‘ Sie mir an vielen Stellen dabei erscheinen; ob mit Recht?)202

Der Antwortbrief von Kommerell ist leider nicht erhalten. Aber Glunz‘ Frage kann wohl zu einem gewissen Grade bejaht werden. Wie beeindruckt Kommerell von Hofmannsthal war, geht aus einem rückblickenden Brief an Zimmer aus dem Jahre 1937 hervor: „Es war in Ihrer Magierbude in der Heidelberger Quincke-Straße, wo ich von Ihnen in die zarte zweite geistige Erscheinung Hofmannsthals, in den posthumen Hofmannsthal, eingeführt wurde, wo Sie mir eben diese Verse, zur Vervollständigung der Rodauner Nachträge vorlasen, wo ich wortlos und oft weinend vor Entzücken allein da

200 Brief Kommerell an Karl Schlechta vom 10.08.1934, BA 278. 201 Hofmannsthal, Werke, Bd. XVI.1, Dramen 14.1, S. 54. 202 DLA Marbach, Brief Hans Hermann Glunz an Kommerell vom 23.05.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1556.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

oben die Autographe der nachgelassenen Gedichte durchlas und in Händen hielt“.203

IV.4 Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern Im Zusammenhang mit der Freundschaft zwischen Kommerell und Zimmer und den sich daraus ergebenden geistigen Produktionen ist neben dem Drama auf Kommerells einzigen vollendeten Roman Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern. Eine Erzählung von gestern (LT)204 einzugehen,205 da Zimmer in diesem Text literarisch abgebildet wird. Kommerell bezeichnet den Text zwar im Untertitel als Erzählung, gattungsmäßig handelt es sich aber um einen Roman. Die Genese fällt etwa in die Zeit von 1935 bis 1940. Eines der elf Kapitel, Das Tagebuch einer Alternden, wird bereits Mitte 1940 in der Neuen Rundschau in Aufsatzform vorveröffentlicht.206 Der ganze Roman erscheint Ende 1940 im S. Fischer-Verlag und wird 1979 vom Suhrkamp-Verlag neu aufgelegt. Er ist eine poetische Arbeitsprobe im Geiste Jean Pauls, die bis in die Darstellung physiognomischer Figuren-Details ihrem Vorbild verpflichtet bleibt. Der Titel des Romans setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Die Zeitangabe Eine Erzählung von gestern wird im Roman, der an einem einzigen Tag spielt, genauer bestimmt: Es ist der 29. August 1921. Auf der einen Seite signalisiert die Jahreszahl einen Zeitpunkt nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg, auf der anderen Seite erinnert der 29. August an den Tag nach Goethes Todes am 28. August (1832). Beide Daten sollen also die Zeit nach einem Verlust andeuten. Mit dem Hinweis Eine Erzählung von gestern will Kommerell vermeiden, daß die Handlung auf lebende Personen bezogen wird: „Vorbemerkung / Personen und Begebenheiten dieser Geschichte / beruhen auf freier Erfindung des Verfassers. / Ihm haben dabei keine Menschen / des wirklichen Lebens vorgeschwebt. / M. K.“ (LT 9).

203 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 10.06.1937, Nachlaß Zimmer, A: 74.120/7. 204 Kommerell, Max: Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern. Eine Erzählung von gestern [1940], Frankfurt/M 1979 (Bibliothek Suhrkamp 656). Fortan zitiert als Sigle LT. 205 Zur Lyrik Kommerells siehe Heißenbüttel, Helmut: Zur Lyrik Max Kommerells. Ein Versuch in Hermeneutik, in: GÜ, S. 7–44; Mattenklott, Versuch, S. 541–543, HölscherLohmeyer, Dorothea: Augenblick der Verwandlung, in: Frankfurter Anthologie, Bd. 7, hrsg. v. Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt/M 1983, S. 204–206; und: Hoffmann, Dieter: Max Kommerell. Spiegelung der Sonne zwischen Seerosenblättern, in: ders.: Arbeitsbuch Deutschsprachige Lyrik 1916–1945, Tübingen/Basel 2001, S. 360–362. 206 Kommerell, Max: Das Tagebuch einer Alternden, in: NR 51 (1940), H. 3, S. 146–151.

IV.4 Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern

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Das Handlungsgeschehen des Romans ist um eine Abendgesellschaft aufgebaut, bei der sich sechs Personen gegenseitig ihre Träume erzählen. Nach Hinzustoßen eines Traumexperten erzählt jeder den Traum eines anderen mit eigenen Worten. Der Experte deutet die Träume und versucht zu raten, welcher Traum zu wem gehört. Nachdem alle auseinander gegangen sind, wird in Briefen berichtet, wie die Deutungen die Teilnehmer beeinflußt haben. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist eine Gesamtinterpretation des Romans, die bereits von Dorothea Hölscher-Lohmeyer und Matthias Bormuth vorgelegt wurde,207 nicht relevant. Vielmehr geht es hier um die Frage, wie Kommerell seinen Korrespondenzpartner Zimmer im Roman, also im Medium der Fiktion, in der Figur Professors Neander abbildet und damit seinen wissenschaftlichen Austausch reflektiert. Schon der erste Satz des Romans deutet auf den Indologen Heinrich Zimmer hin: „Das Zimmer, in dem der siebenundzwanzigjährige Doktor Nannayah Dasa frühstückte, enthielt wenig Spuren seiner indischen Heimat“ (LT 9). Im Roman ist Ferdinand Neander ein Professor für Seelenforschung, dessen Wohnung wie folgt beschrieben wird: „[...] die eine lange Seite des Zimmers füllten zwei hohe Fenster aus, zwischen denen ein Glasschrank mit ostasiatischer Keramik stand, die der Hausherr liebte und sammelte: ein Tonpferd, bemalte Kleinfiguren, ein grüner Fayencelöwe, sonderbare, kissenförmige Gebilde mit brauner Aufmalung, und jene köstlichen, fast papierdünnen Schalen mit rahmfarbener Glasur, die man am Klang prüft“ (LT 132f.). Frau Neander, die glücklich ist, „mit einem Gott verheiratet zu sein“ (LT 138), schildert ebenfalls ihren Ehemann: „Mein Mann hat eben den Fehler, daß er entweder zu sehr da ist oder zu wenig, wie jetzt, nämlich gar nicht“ (LT 134). Das erste Auftreten Neanders im Kapitel Unerwartete Rückkehr des Professors wird ausführlich dargestellt: Das rasche Hineinstoßen eines Schlüssels, die Umdrehung im Schloß, das Zuwerfen der Haustür, ein Absetzen schwerer Koffer, ein nachdrücklicher Laut des Aufatmens, das Erklirren eines Schirmständers vom hineingestellten Stock, zuletzt schwere, derbe Schritte auf knarrender Diele verkündigten einen Ankommenden, einen Heimkommenden. Tote Gegenstände bekamen der Reihe nach Stimme, hallten wider von einer brausenden Lebensbejahung. Und da war er denn, warf das für seinen Schädel etwas kleinliche, weiße Stoffhütchen beiseite, und man sah eine runde Stirne mit starken Adern, das Haar zurückgestrichen, aber nicht anliegend, sondern bauschig und wie gefegt – ein Kopf, der sein Wetter überallhin mit sich

207 Vgl. Hölscher, Dorothea: Der Roman vom Ich. Max Kommerells ‚Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern‘, in: Merkur 35 (1981), H. 3, S. 325–329; Hölscher-Lohmeyer, Dorothea: Das moderne Ich. Eine Analyse des Romans von Max Kommerell ‚Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern‘, in: JbDSG 24 (1980), S. 399–418; und: Bormuth, Matthias: Max Kommerell und die Psychologie der Moderne, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 314–348.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

brachte! Zottig waren die Brauen und lagen von innen nach außen schräg abwärts; das obere Lid war sehr lang, der Augenspalt schmal; er geizte, dieser so überfallsweise in sein Haus wiedereingetretene Hausherr, mit dem tiefliegenden Licht seiner kleinen, farblosen Augen, um desto verschwenderischer mit dem runden Ton seines Mundes umzugehen, der freilich der Mund eines Elementarwesens war. Die Profillinie zwischen Nase und Mund war übermäßig lang und zog sich etwas nach vorn, so daß die Oberlippe vorragte und dem Gesicht etwas jungenhaft Herausforderndes gab. Der Mund selbst unförmlich, eine Öffnung, ein Riß – bloß vorhanden, damit es ströme, ströme. Und verkündete all dies den Aufwiegler der Seelen, so wurde die mächtige Stimme geboren in einem kaum glaublichen Thorax, der beim Atmen sich sichtbar hob und senkte mit weit oben angesetzter Wölbung. (LT 159)

Kommerell beschreibt das performative Handeln des Professors: „Er war aufgestanden, hatte die Füße gespreizt, schüttelte die Arme, halb Triumphator, halb Komiker, warf den Kopf in die Höhe und schoß mit den Augen hin und her. [...] Was sich nun mit ihm zutrug, ist nur mit den Bewegungen eines Hampelmanns zu vergleichen, wenn der Faden aufhört, seine Glieder zu regieren. Langsam nahmen Arme und Beine ihre ausladenden Gebärden zurück, die Gestalt fiel zusammen, und der zu erwartenden einfache Ulk des Niedersitzens auf dem Stuhl wurde zur vollkommenen Darstellung einer Niederlage“ (LT 185). Aus der Körpersprache Neanders wird also seine innere Stimmung deutlich. Neander gibt eine Selbstbeschreibung von sich: „Erinnern Sie sich, lieber Dasa, was jüngst ein Graphologe über Ihre und meine Handschrift äußerte, die ihm mit anderen vorgelegt wurden? [...] ‚Ihr Leben‘, sagte er, ‚sei ein beständiges Testament, in der Vollendung des Abschiedes zögern Sie unter den Lebenden! Mein Leben sei ein kühnes Konzept, ein Entwurf, der beständig sich selber durchstreicht, stolz darauf, alles Fertige Lügen zu strafen.‘“ (LT 192). Gegen Ende des Romans führt Neander einen Dialog mit seinem Schüler, dem Inder Dasa, der zu Forschungszwecken nach Europa gekommen ist. Wie Zimmer und Kommerell pflegen auch Neander und Dasa einen intellektuellen Austausch, der im Kapitel Zwiesprache der Gegenfüßler in Dialogform gestaltet wird (vgl. LT 230–252). Nach Veröffentlichung sendet Kommerell Zimmer ein Exemplar des Romans nach New York. Dorthin war Zimmer 1938 emigriert. Er nimmt das Exemplar wohlwollend auf und teilt Kommerell in einem undatierten Brief, wahrscheinlich aus dem Jahr 1941, mit: ehe noch der Lampenschirm in Ihrem freundlichen Auftrage eingetroffen war, flog er mir von seiten einer befreundeten alten Dame an der Isar auf den Tisch, die augenscheinlich auch schon alles herausgefunden hat. Was haben sie da zur allgemeinen Belustigung angerichtet! da meint man, umgeben von einigen obszönen Nippsachen, schlechten spätindischen Bronzen und bunten, auf Tüchern gedruckten Heiligenvisionen noch das alte Schwein zu sein, – indes ist man, von der Virtuosität seines Freundes längst verhackpertert zu Wurst.. um und um verwurstet zu

IV.4 Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern

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Wurst unter Würsten, und was man je sagte und vergaß, springt einem aus treuem Gedächtnis taufrisch entgegen... Die alte Streitfrage, wie weit Platons Sokratesfigur der historischen Gestalt des knollnasigen Weisen entspricht, ist für mich mindestens keine Frage mehr, seit ich Professor Ferdinand Neander begegnet bin: Sie sind der Platon von Ffm. und ich war der Sokrates von Handschuhsheim! und so wollen wir Arm in Arm in die Nachwelt schreiten, die Vergessen ist und Einwickelpapier braucht. Entscheidend ist, daß Neander sehr lebendig und überzeugend wirkt, da liebevoll gezeichnet. Erstaunlich wie gut und viel Sie behalten haben, nicht übel, wie Sie darum herumgedichtet haben. Schade, daß der granitene Rüdesheimer nur so eben vorüberzieht, – aber die drei goldfarbenen Clowns, welch ein Witz! Sie haben einer angeregten Zeit ein lustiges Requiem gefiedelt, wie selten geschieht das! bin aber ganz froh, daß in New York niemand weiß daß ich Rumpelstilzchen heiß! Dank Ihrer liebenswürdigen amüsanten Art werden Viele im Nachhinein ganz stolz sein, diesen durch und durch interessanten Prof. Neander auch näher gekannt zu haben, der Midasfinger des Poeten vergoldchromt halt alles! 208

Aus diesem Brief geht hervor, daß Zimmer Kommerells Reflektion ihres wissenschaftlichen Austauschs im Medium der Fiktion erkennt. Er nimmt außerdem Kommerell als gelehrigen Schüler wahr. Durch sein Lob manifestiert er wieder die Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen ihnen. So ruft die ‚Verhackpeterung‘ Zimmers keine ablehnenden Reaktionen hervor, wie sie etwa Thomas Manns Doktor Faustus auslöste. Der Brief ist ein Zeugnis für die Kommunikation in einer akademischen Freundschaft, die sogar gegen vorübergehende Trübungen resistent ist. Ein gemeinsamer Freund von Kommerell und Zimmer ist der österreichische Dichter Rudolf Alexander Schröder. Er erkennt ebenfalls die Anspielung auf Zimmer und läßt dies Kommerell in einem Brief vom 19. Oktober 1940 wissen: „Ihr Roman ist ja sozusagen ein Summarium solcher Gespräche [mit Geistern], deren – wenigstens fiktiver – Mittelpunkt mir übrigens vor ein paar Tagen aus Amerika – ‚du hast es besser‘? – Grüße hat sagen lassen“ (BA 368). Kommerell und Schröder stehen seit Mitte 1935 in Briefkontakt. Sie tauschen sich über antike Literatur im allgemeinen und Übersetzungen griechischer Dramen im besonderen aus. Kommerell plaziert z. B. seine Übertragungen aus Elektra von Sophokles in der Festschrift für Schröder (vgl. Kap. VI). Er hat ihn, wie viele andere Freunde, in einem konturierten Porträt geschildert: Schröder, ist sehr groß, breit, auch ein wenig dick, hat ein rundes, ziemlich ungeformtes und unbezeichnetes Gesicht, sehr kleinen, unsymmetrischen, auf der einen Seite etwas nach oben gebogenen, manchmal drollig gespitzten Mund, wenig Haar, das wenige aber rot-blond, und ebenso die Augenlider – wenn er aber die Augen

208 DLA Marbach, Brief Heinrich Zimmer an Kommerell o. D. [1941], Nachlaß Kommerell, A: 84.1660/11.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

aufmacht, richtig weit, dann kommt ein großes Licht aus ihnen, sie sind ganz blau, und man bekommt richtig Ehrfurcht, was darin für eine zarte Reinheit und Verwundbarkeit, vielleicht eine lustig getragene Passion, für ein strenger Entschluß und für eine Unbedingtheit ist. Beim Zuhören scheint er manchmal innen ganz einzuschlafen und sagt nur immerfort ‚wunderbar‘ ‚wunderbar‘. [...] Er spricht schwer und immer etwas drollig, und von seinem Dichten und Übersetzen so wie sich’s gehört: lässig und ohne Pathos, aber wie von einem schweren, schweren Handwerk. Er hat jetzt den Horaz übersetzt, und ist mit der Ilias halbfertig. (BA 296f.)209

Schröder nimmt den Roman allerdings nicht so positiv auf wie Zimmer, sondern unterzieht ihn in einem Brief vom 19. Oktober 1940 einer ausführlichen Kritik. Zuerst distanziert er sich von der Welt, die Kommerell entwirft: „Ich kann nun freilich nicht behaupten, daß die Welt Ihrer Gespräche die meine in irgend einem entscheidenden Punkt sei“ (BA 368). Er versteht die Seelenpsychologie nicht: „Schauen Sie, lieber Freund, die seelische Selbstaufhebung und alles, was an negativer Hygienik mit ihr zusammenhängt, kommt mir vor wie eine muntere Taschenspielerei“ (ebd.). Der modernen Psychologie stellt er seinen humanistischen Bildungskanon gegenüber: „Nicht Welt-Flucht, sondern Welt-Zucht, nicht ‚Entwerdung‘ sondern ‚Läuterung‘ ist die abendländische Aufgabe und wie wir nicht mehr griechisch oder lateinisch oder gar indisch denken können, so können wir uns auch nicht mehr in die Kindergräten [der Romanfiguren] Armindens, Majens, Ulrikens, Klementines, Irenes und Hedwigs zurückverjüngen“ (BA 369). Diesen alteuropäischen Bildungsauftrag vermißt er bei Kommerell: „Ihr Buch kommt mir allen Ernstes als ein Versuch vor, die Schule zu schwänzen“ (ebd.). Ihm fehlt eine feste Basis des Romans: „Ich verkenne durchaus nicht das hohe geistige Niveau der Hin- und Widerreden Ihrer Personen. Aber mit alledem bleiben sie doch in der Luft hängen, oder wenigstens in den circulis vitiosis, in denen die Schlange sich allenfalls in den Schwanz beißen mag, während doch ihre Absicht war, sich selber in den Kopf zu beißen“ (ebd.). Schröder sieht den Menschen nicht als psychologisches, sondern als gesellschaftlich gebundenes Wesen: „Wir sind Wesen, deren Anspruch unbegrenzt, deren Rechtlosigkeit radical ist. Von andrer Seite her gesehen, wären wir Geschöpfe, denen auch das denkbar minimalste Minimum einer Gerechtsamen jeweils mit einem unvorstellbaren Maximum von Verpflichtung und Verstrickung belastet erscheint“ (BA 370). Daraufhin erläutert er sein eigenes Religionsverständnis: „Das wäre so meine Christenlehre in nuce, und ich würde als Teilhaber an Ihrem Gespräch auch wohl derartiges vorgebracht haben. Für mich ist Gott eine Wirklichkeit; und damit ist auch mein Leben für mich ein wirkliches und kein Spielpfennig, den ich bald da, bald dorthin

209 Vgl. auch BA 299f. u. 333f.

IV.4 Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern

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geben kann, ohne daß es verschlagen würde“ (ebd.). Schröder weiß, daß seine Fundamentalkritik eine Gefahr für die Freundschaft mit Kommerell bedeutet: Ich hab mir überlegt, lieber Freund, ob ich Ihnen diesen Brief schreiben soll, oder ob er besser ungeschrieben bliebe. Aber schreiben mußte ich doch, und was hätte ich dann anders schreiben sollen und können? Ich glaube, die Losung die uns mitgegeben ist, heißt nicht ‚heraus aus der Welt‘ sondern ‚hinein‘, immer tiefer bis auf den Danteschen Punkt, auf dem die tiefste Stufe der Hölle an die unterste Stufe des Läuterungsberges grenzt. – Ihr Buch ist, wenn ich’s nicht völlig mißversteh, auf sehr dunklem Grund aufgebaut. Der Schrecken des gelebten und des zu lebenden Lebens steht hinter all seinen bunten und exuberanten Äußerungen. [...] Nun sein Sie mir nicht böse und behalten Ihre Freundschaft zu einem Mann, der’s von Tag zu Tag und von Nacht zu Nacht selber schwer genug hat. (BA 371)

Dante fungiert hier als orientierende Instanz und Legitimationsnachweis. Mit „Welt-Zucht“ und Dante ruft Schröder allerdings bei Kommerell Erinnerungen an Erfahrungen hervor, die er in der George-Zeit gemacht hat. Damit wird Schröder für ihn zur Verkörperung des alten Machtanspruchs, von dem er sich zu befreien suchte. Zugleich offenbaren sich am Beispiel von Schröder und Kommerell die Gegensätze von alteuropäischem Humanismus und moderner Psychologie. Den starren Bildungskonventionen, die auch George aufrechterhalten hatte, sucht Kommerell mit seelenpsychologischem Einfühlungsvermögen entgegenzutreten. Für ihn ist es daher schwierig, Schröders Kritik anzunehmen. Im Antwortbrief vom 13. Januar 1941 teilt er mit: „Auf Ihren ausführlichen Brief habe ich Ihnen noch nicht gedankt, weil mir, wie Sie denken können, die Antwort sehr schwer fällt. Im ersten Unmut wollte ich Ihnen nicht schreiben. Es tut mir leid – und wird mir in ähnlichem Fall bei einem solchen Künstler und eine solche Persönlichkeit immer leid tun – daß Ihnen der ‚Lampenschirm‘ so sehr mißfallen hat. Es tut mir leid, aber das hat nichts zu sagen. Warum sollten sie mir dies nicht in aller Deutlichkeit ausdrücken, gebeten oder ungebeten? Ich meine: Ihre künstlerische Ablehnung des Buches! Aber was Sie mir schrieben, geht sehr weit darüber hinaus, und ich kann nur sagen: es mutete mich fremd an, und tut es noch heute. Auch ist es so kategorisch geäußert, daß es eigentlich keine Antwort zuläßt“ (BA 367). Kommerell ist persönlich verletzt, weil er sich eine künstlerische Würdigung seines Buches gewünscht hätte, aber von Schröder eine weltanschauliche Beurteilung erhalten hat. Nach diesen beiden Briefe kommt die Korrespondenz zwischen Kommerell und Schröder zum Erliegen, kein einziger Brief mehr gewechselt wird. Es lassen sich verschiedene Erwägungen anstellen, warum Kommerell überhaupt noch den letzten Brief geschrieben hat. Der Brief kann als Mitteilung verstanden werden, in der Kommerell bekannt gibt, hiermit die Kommunikation zu beenden und damit die Trennung noch einmal kommunikativ zu vollziehen. Er kann auch aufgefaßt werden als

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

verzweifelter Versuch, trotz inhaltlicher und daraus resultierender persönlicher Differenzen einen weiteren Anlauf zur Fortsetzung der Kommunikation zu machen. In beiden Fällen ergibt sich ein Ende der Kommunikation als Indiz für die Spezifik des brieflichen Gesprächs und seiner Dispositionen. Das ist ein erstaunlicher Vorgang für den Briefautor Kommerell, der viele Unbekannte einfach anschreibt und ins Stocken geratene Briefwechsel mit Freunden immer wieder in Gang bringt, weil er des Briefaustausches bedarf – weil er sozusagen im Medium des Briefes lebt. Kommerells Verbindung von Dichtung und Wissenschaft wird in der Literaturkritik, in der der Roman auf ein geteiltes Echo stößt, thematisiert. In einer sehr differenzierten Rezension führt Emil Barth, der den Roman „eine[] der merkwürdigsten Erzählungen dieses Bücherwinters“ nennt, im Dezember 1940 in der Neuen Rundschau aus: Man sieht, das Anliegen dieser Erzählung ist ein wichtigstes. Der Aussprüche westöstlicher Weisheit sind viele, Sätze zur Meditation, die manchmal fast an die Upanishads anklingen und eine schwere Fracht für einen Roman sind, der sich nach außen so leicht gibt: Es scheint da ein Zwiespalt vorhanden, etwas Vexierendes; wie denn auch der Autor [...], wie also der Frankfurter Germanist Max Kommerell (denn es ist Zeit geworden, seinen Namen zu nennen) es durchaus darauf angelegt hat, dem Leser die Bestimmung des Grades zu überlassen, in welchem er diese Geschichte ‚von gestern‘ satirisch nehmen will.210

Abschließend resümiert Barth einen kritischen Einwand: „Der Ton der Erzählung – sie ist im S. Fischer Verlag erschienen – hat im Ganzen, wie es Träumen gemäß scheint, etwas Verschwebendes, eine Spur zu viel Seele und Geist oder eine Spur zu wenig Körper“.211 Wilhelm Emanuel Süskind betont in der Literatur von 1940/41 die Besonderheit des Romans und stellt fest, „daß wir Kommerells Buch [...] zu den merkwürdigen und kühnen zählen, von denen man bei sich lange singen und sagen wird, auch wenn man allerlei einzuwenden weiß“.212 Den Stil beurteilt er als eine Mischung zwischen Prosa und Vers: „Daß dieser Stil keineswegs erzählungsfeindlich, daß er vielmehr bezaubernder epischer Wirkungen fähig ist, und wie sehr er wichtigen Sachverhalten unserer mit einer vergeistigten Technik spielenden Zeit entspricht, das lehrt Kommerell aufs neue. Er lehrt aber auch die Gefahren eines Stils, der – vornehmlich auf Bildung gestützt – schlechterdings alles mit allem zu assoziieren vermag

210 Barth, Emil: Rez. zu Kommerell: Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern, in: NR 51 (1940), H. 12, S. 634–635, hier: S. 634. 211 Ebd. S. 635. 212 Vgl. Süskind, Wilhelm Emanuel: Rez. zu Kommerell: Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern, in: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde 43 (1940/41), S. 304–305, hier: S. 304.

IV.4 Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern

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und damit episch vom Hundersten ins Tausendste kommt. Uns schwant: dieser ironische Assoziationsstil verlangt nach dem (heiteren) Vers, in einer immerhin erzählend gemeinten Prosa dagegen bewirkt er, daß selbst dem Wohlgesinnten die Lektüre zäh wird“.213 Der Roman wird ebenfalls in drei deutschen Zeitungen besprochen, und zwar von Fritz Kraus in der Frankfurter Zeitung, von Wolfgang Müller in Das Reich und von Paul Fechter in der Deutschen Allgemeinen Zeitung. Kraus geht auf die Betrachtung des Unbewußten ein und sieht das Träumen als einen der „gewöhnlichsten und zugleich rätselhaftesten Vorgänge im Menschenleben“ an.214 Müller hebt Kommerells Doppelbegabung als Schriftsteller und Wissenschaftler hervor: „Vielleicht trägt dazu die besondere Situation des Geisteswissenschaftlers und Literarhistorikers Max Kommerell bei, der hier Betrachtung mit Schaffen vertauscht und dem es gelingt, das eine für das andere fruchtbar zu machen, das Geistige im Werden und das Bedeutende im Gewordenen zu zeigen“.215 Paul Fechter216 kann als einer der wenigen zeitgenössischen Kommerell-Kenner bezeichnet werden: Er hat zudem noch eine Aufführung der Calderón-Übersetzungen besprochen (vgl. Kap. VI) und einen Nachruf auf Kommerell verfaßt. Sein geteiltes Lob geht in eine ähnliche Richtung wie die Beurteilungen der anderen Rezensenten: „Der Verfasser dieser seltsamen Geschichte ist Germanist an der Frankfurter Universität, einer der lebendigsten und gescheidtesten Männer seines Faches, mit einem zuweilen fast beängstigenden Wissen um die inneren Vorgänge in dichterischen Menschen“.217 Der Roman erfährt auch internationale Aufmerksamkeit. In der schwedisch-norwegischen Zeitschrift Bonniers Litterära Magsin aus Oslo, das im Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetzt wurde, heißt es im November 1940 dazu: „En debutroman av anmärkningsvärt god kvalitet, som skildrar 1921 års andliga situation“.218 Der Text wird also als Debutroman von guter Qualität gewürdigt, dessen Handlung in der vergangenen Situation des Jahres 1921 spiele. 213 Ebd. S. 304. 214 Kraus, Fritz: Am Ende des Traumes. Rez. zu Kommerell: Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 34 vom 06.10.1940. 215 Müller, Wolfgang: Rez. zu Kommerell: Lampenschirm aus den drei Taschentüchern, in: Das Reich, Nr. 24 vom 03.11.1940. 216 Zu Fechter siehe Zeising, Andreas: Revision der Kunstbetrachtung. Paul Fechter und die Kunstkritik der Presse im Nationalsozialismus, in: Kunstgeschichte im ‚Dritten Reich‘. Theorien, Methoden, Praktiken, hrsg. v. Ruth Heftrig, Olaf Peters u. Barbara Schellewald, Berlin 2008, S. 171–189. 217 Fechter, Paul: Der Roman der Seelen. Rez. zu Kommerell: Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern, in: DAZ (Reichsausgabe), Nr. 491/492 vom 13.10.1940. 218 Anonym: Rez. zu Kommerell: Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern, in: Bonniers Litterära Magsin 9 (1940), S. 744.

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IV. Die Hofmannsthal-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1930–1940)

Den Nachdruck von 1979 im Suhrkamp-Verlag nimmt Helmut Heißenbüttel in der Süddeutschen Zeitung zum Anlaß einer erneuten Auseinandersetzung mit dem Roman. Er sieht eine Parallele zwischen der Figur Dasa und Kommerell selbst: „Der Inder, der bloß Durchgehende, dem Kommerell am meisten von sich selbst anvertraut hat, stellt die Frage, die am Grunde steht: wer, wenn ich träume, träumt denn?“219 Es läßt sich also behaupten, daß in Neander Zimmer und in Dasa Kommerell dargestellt sind. Dies würde sich auf ihr Lehrer-Schüler-Verhältnis applizieren lassen. Dieses Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Zimmer und Kommerell stellt sich nicht nur auf wissenschaftlicher, sondern auch auf persönlicher Ebene ein. Bei privaten Krisen hilft Zimmer Kommerell häufig als eine Art Therapeut. Das läßt sich an der Arielsfigur nachweisen, die in den Briefen verwendet wird. In einem undatierten Brief an Kommerell vom Anfang Februar 1934 führt Zimmer in Bezug auf das Nachwort zur HofmannsthalGedichtausgabe aus: „‚Verweltlichtes Mysterium‘ da halten Sie wirklich den Zauberschlüssel in der Hand, der alle Herzkammern dieser Dichtungen aufsperrt, mit diesem Wort auf den Lippen dürfen Sie zu Elis und dem Wahnsinnigen wie zu Geschwistern sprechen, – eigentlich sind Sie selbst Ariel und werden, so Gott will, einmal Prospero sein, – wenn Sie nur nicht jeanpaulinisch selbstverliebt den Ariel spielen wollten und unversehens eine Art sublimstes Hoppelpoppel statt eines Nachworts geschrieben hätten!“ (BA 263). Kommerell spielt sechs Jahre später auf diesen Brief an und charakterisiert rückblickend sein Verhältnis zu Zimmer in einem Brief vom 10. Juli 1940: Auch sonst übten Sie mächtige Schlüsselgewalt, und zückten manchmal den Schlüssel, der eben einen indischen Tempel des Wandschranks aufgeschlossen hatte, mit drohendem Gelächter gegen meine arme Ariels-Brust und schlossen da auch ein bißchen auf, daß der seraphische Säugling mit Staunen an der Stelle der frisch abgerissenen Nabelschnur herumtappt. Jaja, nun ist viel aufgeschlossen, ohne daß viel besser wäre, aber auf die Wahrheit kommt es an und nicht auf die Höhe, und darauf, daß ein Mensch aus der eigenen Wahrheit lebt. Ich meine wenigstens....220

Daraus geht hervor, wie intim die Freundschaft zwischen Zimmer und Kommerell ist und wie fördernd die gegenseitige Unterstützung wirkt. Kommerell verarbeitet dieses Erlebnis im Medium des Romans: „Er hat uns also, abwesender Gastgeber, den Schatz seines Inneren erschlossen“ (LT 143). Als Gesamtergebnis dieses Kapitels kann resümiert werden, daß Kommerell sich über den Wissenschaftler Heinrich Zimmer dem Dichter Hugo

219 Heißenbüttel, Helmut: Rückeroberung eines Dichters. Max Kommerells ‚Lampenschirm aus den drei Taschentüchern‘ oder: Was im Dritten Reich literarisch möglich war, in: SZ, Nr. 34 vom 9./10.02.1980. 220 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 10.06.1940, Nachlaß Zimmer, A: 74.120/7.

IV.4 Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern

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von Hofmannsthal annähert und über diesen wiederum zu Calderón gelangt. Beide Autoren faszinieren ihn aufgrund seines Interesses für eine symbolische Form des Dramas. In Hugo von Hofmannsthal kritisiert er Stefan George als usurpierenden Emporkömmling und würdigt Hofmannsthal als rechtmäßigen Erben. Damit wird die Romantik auf der Ebene der Traditionsbewahrung der Moderne vorgezogen. Die Nachlese der Gedichte zeigt die Grenzüberschreitung zwischen Wissenschaft und Dichtung beim Sprechen über Lyrik, die Gedichtedition illustriert Aspekte der Werkpolitik. Kommerells Gedankenfluß vollzieht sich von der Korrespondenz zum Nachwortentwurf, also vom Brief zum Werk. In der Figur des Phokas aus dem Kaiserlichen Blut, in dem die Gebärde die Unrechtmäßigkeit des Despoten entlarvt, entzaubert Kommerell George im Medium des Dramas. Durch eine freie Bearbeitung vergegenwärtigt er den vergangenen Calderón und schafft einen Bezug zum Leben der Zeitgenossen. Er vollendet Hofmannsthals Fragment und positioniert sich damit als sein Fortsetzer. Die Freundschaft zu Zimmer bewirkt die literarische Umschreibung im Lampenschirm aus den drei Taschentüchern, in dem Kommerell seinen intellektuellen Austausch reflektiert und ironisiert. Zimmer avanciert zu einem der wichtigsten Korrespondenzpartner, weil auch er die Schritte der Emanzipation von George fördert.

V. Die Goethe- und Kleist-Rezeption im Dialog mit Heinrich Zimmer (1931–1943) Wie Kommerell sich einem neuen Dichter annähert, konnte im letzten Kapitel gezeigt werden. Jetzt geht es um den Aspekt, wie sich seine Meinungsbildung über einen Dichter entwickelt. Wie läuft es ab, wenn er seine Meinung ändert und Umwertungen vornimmt? Aus der Differenz zwischen frühen und späten Urteilen entsteht ein produktiver Erkenntnisgewinn. Damit ist die entscheidende Frage verbunden, wie sich Kommerells Interpretationsverfahren wandelt. In diesem Zusammenhang ist seine Reaktion auf die Anstöße von anderen Dialogpartnern zu erörtern. Da der Heidelberger Indologe Heinrich Zimmer ein zentraler Impulsgeber ist, wird sein Austausch mit Kommerell auch in diesem Kapitel im Mittelpunkt stehen. Kommerells Kleist- und Goethe-Studien, mit denen er sich dem Zentrum seines Faches nähert, sind stark durch Zimmer beeinflußt. Sie werden daher – in Fortsetzung des vorherigen Kapitels – im Hinblick auf den wissenschaftlichen Austausch zwischen Kommerell und Zimmer, der sich über Kleist und Goethe vollzieht, untersucht. Die Beobachtungen über den Zeitraum vom Anfang der 1930er Jahre bis zu den frühen 1940er Jahren werden fortgesetzt. Wieder sind die thematischen Zusammenhänge einer strengen Chronologie übergeordnet. Diese Lebensphase ist weiterhin von Kommerells Privatdozententum gekennzeichnet. Auch wenn Veröffentlichungen der Marburger Ordinarienzeit angeschnitten werden, basieren die wesentlichen Ergebnisse dieses Kapitels auf Schriften vor der Marburger Zeit. Über Kleist hat Kommerell nur einen einzigen Aufsatz verfaßt Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist, der allerdings eine bleibende Forschungsleistung darstellt. Zum Werk Goethes gibt es zahlreiche Studien, die hier nach den Gattungen Lyrik, Epik und Drama gegliedert werden. Bei den Erörterungen zum Prosawerk stehen die Wilhelm Meister-Romane, zum Drama Goethes die FaustForschungen im Vordergrund.

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V. Die Goethe- und Kleist-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1931–1943)

V.1 Die Kleist-Rezeption Am Beispiel von Kommerells Kleist-Rezeption läßt sich besonders anschaulich darstellen, wie sich bei Wissenschaftlern Bewertungen von Autoren wandeln. Bei Kommerell ist ein älteres Kleist-Bild zu erkennen, das etwa bis zur Mitte der 1930er Jahre besteht. Durch den Einfluß von Zimmer revidiert Kommerell seine Ansichten und legt in Die Sprache und das Unaussprechliche (1937) ein anderes Bild vor. Diese Veränderung wird nun im einzelnen herausgearbeitet. Kommerells Kleist-Rezeption fällt in eine intensive Phase der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kleist, die nach der Wende von Positivismus zur Geistesgeschichte um 1910 einen Aufschwung nimmt. Im Nationalsozialismus werden Teile von Kleists Werk, wie die Hermannsschlacht, zu Nationalstücken stilisiert.1 Ende der 1920er Jahre behandelt Kommerell Kleist in der Klassik-Studie im Zusammenhang mit Varusschlacht und Freiheitskampf. Er entwirft ein düsteres Kleist-Bild und unterstellt ihm einen verrückten Haß auf Napoleon: Dem Barden wird es unausweichlich, als sein herkömmliches Ergänzungsbild den Recken aufzurufen, freilich ohne daß etwas in ihm von Natur nach dem Helden verlangte: Hermann den Cherusker stellt er nun in die Mitte der Gesänge. Aber wo später Kleist aus unerlöstem Blutdrang und aus seinem tollen Korsenhaß jenes Gemisch von Bärenwildheit und Jaguartücke formte, in dem der heutige Deutsche ungern sein Heldenbild erkennen mag, stehn diesem Kind eines erweichten durch Denken gebrochenen Zeitalters nur die lehrhafte Verfemung des Welschen und der Abscheu vorm Eroberer, ein Wahn der Menschlichkeitslehre zu Gebot, um dem ungestalten Schatten der Vorzeit etwas Neues und Heutiges zu geben. (DF 46)

Sein älteres Kleist-Bild wird im Austausch mit seinem ersten Mentor Ernst Kayka deutlich, der 1906 mit der Arbeit Heinrich von Kleist und die Romantik. Ein Versuch promoviert wird.2 Sie geht auf ein Kolleg von Erich Schmidt über die Geschichte der Romantik an der Berliner Universität vom Sommersemester 1902 zurück. Die Niederschrift erfolgt 1905 in Halle, betreut wird die Dissertation von Ph. Strauch und A. E. Berger. Publiziert wird sie als Band 31 der Reihe Forschungen zur neueren Literaturgeschichte, die von Franz Munkker in München herausgegeben wird. In der Arbeit versucht Kayka Kleists Stellung zur Romantik über persönliche Beziehungen näher zu greifen: „Und wenn auch R. Steig die feinen Beziehungen zwischen Kleist und den Arnim,

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Gärtner, Marcus: Stationen der Kleist-Rezeption nach 1933, in: Albert, Klassiker, S. 77– 85 und ders.: Kleistbilder und Kleistdeutungen in der Germanistik. Strategien der Aneignung, in: ebd. S. 105–136. Vgl. Kayka, Ernst: Kleist und die Romantik. Ein Versuch, Berlin 1906 (Forschungen zur neueren Literaturgeschichte 31).

V.1 Die Kleist-Rezeption

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Brentano, Grimms, Fouqué u. a. hervorhebt und dabei vielleicht hie und da die Outsiderschaft Kleists etwas zu sehr vergessen läßt, so ist er doch gewiß weit davon entfernt, die Einzigkeit des großen Dichters in der Schul- und Standesgemeinschaft aufgehen lassen zu wollen, und ich glaube in seinem Sinne zu handeln, wenn ich, von entgegengesetztem Gesichtspunkte ausgehend und daher bisweilen bescheiden gegen ihn polemisierend, die scharfen Konturen in Kleists Charakter und Lebensbild wieder etwas fester zu umreißen suche“.3 An die Diskussionen, die Kommerell mit Kayka während seiner Schulzeit führt (vgl. Kap. II), knüpft er im Briefwechsel der 1930er Jahre an. In einem Brief vom 27. Dezember 1930 beschreibt er Kleist vor allem als einen Vertreter des Preußentums: „Kleist: der Gegensatz süddeutsch-norddeutsch ist freilich für mich bedingend, noch mehr der zum Preußentum (kein rassenmässiger Begriff, sondern eine Staats- und Denkform). Sonst haus’ ich im Norden gern: Herder! Aber mit dem Lokal ist nicht alles erklärt. Es sind Fragen des Geschmacks und des Denkens über den Menschen überhaupt, Spracherlebnisse und dramatischer Sinn, was von Kleist ab- oder zu ihm hinlenken kann“.4 Einen ähnlichen Ton schlägt er am 27. Januar 1931 an, wenn er als Grund für seine Ablehnung die eigene süddeutsche Herkunft anführt und Kleist rasende Verrücktheit attestiert: Ad Kleist: Du siehst in meinem Süddeutschtum (welches heftig besteht!) eine Verständnishinderung. Jawohl. Aber welcher Norddeutsche verstand ihn? Was mich – bei dem anziehenden Glanz seines Dämons – wieder wegstößt, ist das nicht Befreite, nicht Menschliche, beinah Blinde, Sture seiner Existenz. Sogar Beethoven hat für mich im tragisch Verfinsterten mehr Liebreiz. Das Nur-so-sein Können wie man ist (der Kern germanischer Tragik) kann aus vielen und verschiedensten Gründen zu Fall bringen... bei Kleist ist’s nicht nur Riesenwuchs, sondern auch Verfinsterung des Sehfeldes, etwas Blindwütiges. Er sieht nie über sich hinaus, seine Briefe und Bekenntnisse zeigen, daß nie ein großer Schaffender so wenig Geist (= Helligkeit, Ironie, Anmut der Bewegung, Bildung u.s.w.) hatte wie er. Er hat nicht nur das Rasen des Dämons, sondern auch die Tollwut. Er ist nicht, wie Du es darstellst, der Urwüchsig-gesunde, sondern allerdings der Urwüchsige, aber dem ein Gift ins Blut geworfen ist. Halb ist’s Constellation, halb sein Wesen. Ein Dämon, der Nerven hat – darin ist nicht nur bacchantische Nacktheit, sondern ein Gesichtsausdruck des exstatischen neuzeitlichen Traumschwelgens erscheint (unter andrem) auch einmal das zähnefletschende Tier. Vergib, dies ist die Beimengung, mit der zusammen ich alles Große und Urtümliche in Kleist gewahre, und die ich – als zu seinem historischen Profil gehörig – mitbejahe. Ich negiere ihn nicht wie Gundolf. Merkwürdig ist im Homburg die Dreiheit von Güte, Wissen, Reife,

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Ebd. S. 2f. DLA Marbach, Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 27.12.1930, Nachlaß Kommerell, A: 84.1476/4.

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V. Die Goethe- und Kleist-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1931–1943)

die eine Gesundung und neue höhere Daseinscurve verspricht. O deutsch sein! O Fragment!5

Kommerell nimmt eine Kleist-Deutung vor, bei der er dessen hohen Bildungsgrad und gründliche Kenntnisse der antiken und modernen Literatur ignoriert. Neben der Lektüre beschäftigt er sich ebenfalls in Lehrveranstaltungen mit Kleist. Im Laufe des Wintersemester 1931/32 berichtet er Kayka am 18. November 1931: „Ich habe in meinem Kleist-Kolleg einen merkwürdigen Gang eingeschlagen, indem ich die 1. Stunde mit dem Homburg begann: als dem umfassenden, alle Elemente seiner Seele herbergenden Kleistsymbol. Darauf wird die Analyse mehrerer Briefe folgen“.6 Im Zuge des Kollegs steigert sich seine Kleist-Begeisterung, wie er am 26. Dezember 1931 Kayka mitteilt: „Mein Kleistkolleg macht mir sehr Freude. Bisher ‚Kant-Krise‘, Homburg, Guiskard, jetzt Penthesilea. Es artet in ziemlich bedingungslosen Enthusiasmus um oder aus und bewegt die Zuhörer“.7 In seiner Jean Paul-Monographie von 1933 streift Kommerell Kleist nur, wenn er Jean Pauls Anerkennung, die sich im „Verschweigen“ ausdrücke, erwähnt: „Jean Paul, der unbeschränkt Aussprechende, ehrt einige seiner Geschöpfe (wie Kleist) durch Verschweigen“ (JP 254). Zwei Jahre später berichtet er von neuen Aufschlüssen über Kleist. Probleme bereite ihm nur noch das Verhältnis von Leben und Werk, wie es am 20. Dezember 1935 gegenüber Kayka heißt: „Mein Verstehen Kleist’s gründet sich allmählich, ich werde darin selbständig, und es fehlt mir eigentl. nur noch die vollkommene Durchdringung der Probleme seines Lebenslaufs, vor allem soweit sie Preußen und Berlin betreffen: das übrige ist mir so deutlich, als einem ein Abgrund deutlich werden kann, und mit dem Seelischen erklärt sich auch das Technische, das bei großen Künstlern ja die originelle Geberde ihrer Seele in der Kunst ist“.8 Aus diesen Briefen geht eine Einstellung zu Kleist hervor, die das Interesse für den Gegensatz zwischen süddeutsch und norddeutsch, zwischen preußischem Militarismus und badischem Liberalismus zeigt. Begeisterung für Kleist stellt sich erst allmählich ein. Zwischen den Briefaussagen der frühen 1930er Jahre und dem Kleist-Aufsatz von 1937 liegt Kommerells Begegnung mit Heinrich Zimmer. Durch die Diskussionen mit ihm modifiziert er sein

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DLA Marbach, Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 27.01.1931, Nachlaß A: 84.1477/1. DLA Marbach, Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 18.11.1931, Nachlaß A: 84.1477/5. DLA Marbach, Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 26.12.1931, Nachlaß A: 84.1477/6. DLA Marbach, Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 20.12.1935, Nachlaß A: 84.1479/2.

Kommerell, Kommerell, Kommerell, Kommerell,

V.1 Die Kleist-Rezeption

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Kleist-Bild. Diesen Einfluß reflektierend, schreibt Kommerell am 1. Dezember 1935 an Zimmer: „Kleist (ich lese ihn mit ganz anderen Augen, meine Ihnen geäußerten Ansichten entsprangen verjährten Eindrücken)“.9 Am 28. April 1937 teilt er ihm nach Vollendung seiner Studie sogar mit: „Ein langer Kleist-Aufsatz, etwas Zimmerisch geraten, durch Kommerell gemilderter Zimmer, muß in 3 Tagen an das Innere Reich abgehn. Er heißt: ‚das Unaussprechliche und die Sprache‘“.10 Es ist nun zu untersuchen, was Kommerell meint, wenn er von einem „durch Kommerell gemilderte[m] Zimmer“ spricht und inwiefern Zimmers Vorstellungen in seine Kleist-Interpretation eingehen. Kommerell veröffentlicht 1937 in der Zeitschrift Das Innere Reich den Aufsatz Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist, der 1940 in der Aufsatzsammlung Geist und Buchstabe der Dichtung (GB) wieder abgedruckt wird.11 Der Titel des Aufsatzes enthält ein scheinbares Paradoxon: Wenn es Sprache gibt, wie soll dann etwas unaussprechlich sein? Der Ausdruck erscheint allerdings nur auf den ersten Blick als Paradoxon, weil es durchaus Wege der Mitteilung jenseits der Sprache gibt. Das Verfahren, einen Ausdruck zu konstruieren, der auf den ersten Blick als Paradoxon erscheint und auf den zweiten Blick aufgelöst werden kann, ist charakteristisch für Kommerell. Dahinter steht die Absicht, so die Aufmerksamkeit des Lesers zu erregen. Die Auflösung des Aufsatztitels erfolgt in diesem Fall zusätzlich noch im Text: „Beim Lesen einer Kleistischen Szene wird uns, als spräche man hier anders, als wäre das Sprechen Mühe, als ränge sich in ihm das Unaussprechliche herauf, und zwar vergeblich, obwohl der Stammelnde dem Stockenden, der Taube dem Stummen zu Hilfe kommt, und einer dem anderen mit aufgeregten und äußersten Gebärden abfragt, was doch nicht über die Lippen will“ (GB 244). Kommerell untersucht im Aufsatz mehrere Dramen und Novellen Kleists.12 Besonders betrachtet er Das Käthchen von Heilbronn, Der Prinz von Homburg, Amphitryon, Penthesilea und Michael Kohlhaas. Seine Kernaussage ist dabei, daß Kleists Texte anfangs ein Rätsel exponieren und dann schrittweise in die Auflösung übergehen: „Immer aber schreitet das Drama

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DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 01.12.1935, Nachlaß Zimmer, A: 74.118/7. DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 28.04.1937, Nachlaß Zimmer, A: 74.120/4. Kommerell, Max: Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist, in: Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin, 6. Aufl. mit editor. Anhang, Frankfurt/M 1991, S. 243–317 [erstmals in: Das Innere Reich 4 (1937), H. 1, S. 654–697]. Fortan zitiert als Sigle GB. Zum folgenden siehe Locher, Elmar: Die Sprache und das Unaussprechliche. Kleist bei Kommerell, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 249–277.

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V. Die Goethe- und Kleist-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1931–1943)

vom Vortrag des Rätsels zur Enträtselung“ (GB 246). Kleist stelle Rätsel aufgrund der „Lust des Dichters am Geheimnis, die in der Tragödie mit dem Willen des Geheimnisses, offenbar zu werden, kämpft“ (GB 304). Das Geheimnis kann sich auf den Charakter der Person beziehen: „Er hat dem Innern des Menschen das Geheimnis zurückgegeben. Sein ‚Wahres‘ [...] ist die zeichen-, wehr- und willenlose Regung des Innern, sicher in ihrer Scham, allmächtig, weil sie keine Bedingung kennt“ (GB 316). An die Wahrheit ist die Sprache gekoppelt und an das Geheimnis das Schweigen (vgl. GB 316f.). Aus dem Hang zum Geheimnis ergebe sich der Einsatz der „Pantomime“ (GB 305). Das wirke sich auf die sprachliche Gestaltung der Dramen aus: Der Monolog „wird von Kleist aus dem Drama verbannt, denn wenn der Qual des Inneren ein Gott die Sprache gab, so gab er dem Rätsel des Innern nur das Zeichen und den Wink“ (GB 301). Der ‚Rang‘ ist, laut Kommerell eine zentrale Kategorie für Kleist: „Rang wird erprobt: das ist der Inhalt aller Kleistischen Dichtungen“ (GB 295). Diese Erprobung des Rangs zeigt sich im Verhältnis zwischen dem Prinzen von Homburg und dem Kurfürsten, wie Kommerell durch kursive Hervorhebung unterstreicht: „Während sie sich auszuschließen scheinen, sind sie zutiefst aufeinander angewiesen“ (GB 287). Das Ergebnis dieser Erprobung ist, „daß der innere Rang des Prinzen unwiderruflich über den des Kurfürsten erhöht wurde“ (GB 290). Dadurch entstehe beim Prinzen die „Ich-Gewißheit“ „Kleistischer Helden“ (GB 261). Das Ergebnis des inneren Rangs trete im Prinzen von Homburg am Ende nach außen hervor und „obwohl auf den tragischen inneren Abschluß ein opernhaft pantomimischer folgt, und sich diese beiden Stile geistig und sinnlich aufzuheben scheinen, schließt kaum ein Drama der Welt bewegender als dieses“ (GB 289). Nach dem Austausch mit Zimmer ist Kommerells Aufmerksamkeit bei der Kleist-Lektüre auf neue Interessenfelder gelenkt. Zimmer hatte ihn für Themen wie Indien und Tiefenpsychologie begeistert. Deswegen finden sich im Kleist-Aufsatz eine Vielzahl von psychologischen Begriffen: Traum, Seele, Unbewußtes usw. Kommerell thematisiert diese Aspekte verstärkt nach der Auseinandersetzung mit Zimmer. Im Aufsatz eröffnet er den Gegensatz von Bewußtem und Unbewußtem und spricht von der „Majestät des Unbewußten“ (GB 260). Kleists Abhandlung über das Marionettentheater sei der „Unfehlbarkeit des Unbewußten“ gewidmet (GB 268). An vielen Stellen wird auf die Sprache von Sein und Bewußtsein eingegangen (vgl. GB 273, 309). Für Kommerell wird das Unbewußte zu einer Kategorie der Wertigkeit, denn die „Sprachen, die Kleists Helden sprechen, sind abgestuft nach ihrer Treue oder Untreue gegen das Unbewußte“ (GB 309). Die Begriffe vom ‚Ich‘, ‚Es‘ und ‚Über-Ich‘, die heute mit Freud in Verbindung gebracht werden und Kommerell durch den C. G. Jung-Schüler Zimmer vermittelt wurden, bringt Kommerell in den Aufsatz ein, „denn wie er ihr ein

V.1 Die Kleist-Rezeption

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Über-Amphitryon ist, hat er die Über-Alkmene in ihr erweckt“ (GB 267). Gleichwohl wandelt er die Bedeutungen leicht ab: „Der Wunsch des tragischen Ich ist, unter allen Umständen Es zu sein. Mit diesem ‚es‘ ist hier nicht die Behauptung der angeborenen Eigenheit gemeint, sondern die mystische Selbstgewißheit und das Leben aus der Wahrheit des eigenen Wesens, die statt Gott und Unsterblichkeit steht“ (GB 280). Damit nimmt er eine Umkehrung von Freuds Verständnis vor und kombiniert die Bereiche des Nichtsprachlichen von Ohnmacht, Schlaf und Traum mit Äußerungen der Seele. Er skizziert eine besondere Form der „Kleistischen Ohnmachten, in denen die Seele zu ihrem Urgrund zurücktaucht“, und stellt eine Verbindung von Traum und Wahrheit her: „Am Ende ist die Welt und ist der Träumer so, wie sein Schlaf beide erschaffen hat“ (GB 273, 253). Schließlich kategorisiert er das poetische Mittel des Verses als ein „Im-Schlaf-Sprechen der Sprache“ (GB 302). Entgegen seiner früheren Ansicht, Kleist mit dem Preußentum gleichzusetzen, problematisiert er nun dessen ambivalentes Verhältnis zum Staat: „Das ist innerhalb der Legende des Preußentums das Beispiel des unmittelbaren Lebens, das die Kleistischen Menschen führen und das sie ihrer jeweiligen Umwelt unverständlich macht“ (GB 280). Er ist der Auffassung, daß Kleist schließlich eine Lebenslösung gefunden und „das schwer deutbare Verhältnis seines Dichtertums zum preußischen Staat ins Reine und Ewige gedacht“ habe (GB 289). Kommerell setzt im Kleist-Aufsatz verschiedene sprachliche Mittel ein. Am auffälligsten sind Alliteration und Parallelismus an der Stelle, an der er den Handlungsgang der Penthesilea wiedergibt: „Dann: als ihr Flucht angeraten wird, redet sie für sich weiter, schwelgend in einer ihr neuen Weiblichkeit, Verbrecherin an ihrem Gesetz. Dann: in seltsam verstelltem Ton, verzichtet sie auf den liebsten Wunsch, verspricht die Ihrigen zur Heimat zu führen. Dann: indem sie die Rosen erblickt [...]“ (GB 272).13 Er versucht damit Spannung und Dynamik in seine Wiedergabe zu bringen. Das rhetorische Mittel, das Kommerell am häufigsten einsetzt – auch im Titel –, ist das scheinbare Paradoxon: „Der Inhalt dieses großen Dialogs ist also die Einweihung eines Nichteinzuweihenden“ (GB 274). Auf der einen Seite entstehen die scheinbaren Paradoxa durch Negation des gerade Genannten: „Vielmehr ist er in seiner Weise stark, aber er läßt sich, seiner Berechnung sicher, mit einem unberechenbaren Element ein“ (GB 277). Zum anderen werden sie gebildet durch Wortspiele: „Ergreifbarkeit ihrer Ergriffenheit“, oder durch Nominalisierungen: „[...] die mänadische Untat wird durch das Innige ausgelegt als eine Sprache der Innigkeit“ (GB 275, 277).

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Siehe auch die Fortsetzung GB 272f.: „Dort [...] Hier [...] Sie [...] Dann: [...] Dann: [...] Dann: [...] Dann: [...] Dann: [...] Dann: [...] Sie [...] Dann: [...] Dann: [...]“.

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V. Die Goethe- und Kleist-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1931–1943)

In den Aufsatz gehen Kommerells Erfahrungen aus seiner Dozententätigkeit an den Städtischen Bühnen Frankfurt ein, für die er Vorlesungen hält, um seine materielle Lage zu verbessern.14 Er analysiert das dramatische Werk Kleists im Hinblick auf das Aufführungsgeschehen und entwickelt eine Wahrnehmung für die Inszenierungspraxis, die über die Interessen eines allgemeinen Literaturwissenschaftlers hinausgehen: „Gar der Monolog des Kaisers – vielleicht zu sprechen, kaum zu spielen!“ (GB 302).15 Aus dem Briefwechsel zwischen Kommerell und dem Generalintendanten Bettner lassen sich Einblicke in das Verhältnis zwischen universitärer Erforschung und theatraler Vermittlung von klassischen Autoren gewinnen. Am 16. November 1937 schildert Bettner die Eindrücke der Lektüre von Kommerells Kleist-Aufsatz: „Ihre Ausführungen haben mich tief beeindruckt, wiewohl ich mich beim Lesen solcher Abhandlungen niemals ganz des Eindrucks erwehren kann, daß derartige Betrachtungen nicht einzig zum Verständnis geheimnisvoller ästhetischer Gesetze, sondern auf der negativen Seite auch zur unberechtigten Verwerfung ebenso bedeutender Künstler führen können und häufig auch führen werden, die dieses – in diesem Falle von Ihnen hervorgehobene – Geheimnis nicht besitzen, dafür aber wesentlich andere Werte, die nicht minder hoch anzuschlagen sind“.16 Bemerkenswert ist die Abgrenzung, die Bettner in einem Brief vom 4. Dezember 1937 vornimmt: „Sie, sehr verehrter Herr Doktor, und ich und eine kleinere Anzahl anderer haben sich das Recht erworben, Kleist und Hölderlin zu vergöttern; die Jugend aber hat sich dieses Recht erst durch Leistung und Tat und Bewährung zu erwerben, und wird sie nicht in eine eiserne Schule genommen, dann wird sie immer dazu neigen, billig zu bewundern, was zu nichts verpflichtet, als eine schwierigere

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Die erste Anfrage stellt der Generalintendant der Städtischen Bühnen Frankfurt, Meisner, an Kommerell bereits am 18. Februar 1937, vgl. DLA Marbach, Brief Meisner an Kommerell vom 18.02.1937, Nachlaß Kommerell, D: 86.501/1. Dazu siehe auch: „Ob das folgende ‚recht wacker‘ ironisch gesprochen ist, läßt sich schwer sagen“ (GB 283), „Auch Kleist ist bühnenfremd“ (GB 305), und: „Das wußten alle Dramatiker, die ihre Kunst inmitten einer hauptstädtischen Bühnenkultur und eines Publikums von aufgeschlossenem Theatersinn geübt haben“ (GB 305). DLA Marbach, Brief Bettner an Kommerell vom 16.11.1937, Nachlaß Kommerell, D: 86.501/3. In dem Briefwechsel findet eine aufschlußreiche Gegenüberstellung von Kleist/ Hölderlin und Lessing/Schiller statt, wie Bettner im gleichen Brief ausführt: „Ich liebe nun, wie Sie wohl wissen, Kleist und Hölderlin insbesondere unter den deutschen Dichtern, aber wir müssen uns hüten, daß uns diese Liebe nicht ungerecht macht Männern wie beispielsweise Lessing und Schiller oder Hebbel gegenüber, die zwar die gleiche geheimnisvolle Blutkraft der Sprache nicht besaßen wie Kleist und Hölderlin, dafür aber Männer waren, die den beiden Genannten Im [sic] Gesamtwert um nichts nachstehen. [...] Ich wurde aber auf diese Ausführung gestoßen, weil die Ästheten und Literaten, die auch im Dritten Reich noch nicht selten sind, wenn auch nicht in unseren Reihen, immer zu einer Überwertung dieser irrationalen Dichterkraft auf Kosten der menschlichen Gesamtpersönlichkeit (die Literaten und Ästheten selten besitzen können) neigen“.

V.1 Die Kleist-Rezeption

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Nachfolge anzutreten“.17 Anhand dieser Korrespondenz läßt sich aufzeigen, wie die persönliche Situation Kommerells sein Forschungsinteresse auf neue Gegenstände lenkt. An dieser Stelle zeigt sich wieder der Zusammenhang von Personen- und Konzeptebene der Wissenschaftsgeschichte. In Kommerells Vorgehensweise bei der Interpretation von Dichtung ist ein Schritt der Kategorisierung zu erkennen. Kommerell hat die Tendenz, die einzelnen Beobachtungen zu schematisieren, wie sich im Kleist-Aufsatz zeigt: „Dies ist etwa das Schema einer Kleistischen Exposition: eine Person scheidet sich plötzlich, durch eine Handlung oder einen Zustand, von ihrer Umgebung ab und wird in ihr einsam“ (GB 257). Da diese Tendenz an so vielen Stellen von Kommerells wissenschaftlichen Abhandlungen und in so prononcierter Form auftritt, wird in der dieser Arbeit die These vertreten, daß bei Kommerell ein Hang zur Schematisierung vorliegt. Im Zusammenhang damit steht sein Hang zu Skalierungen, der sich an mehreren Stellen im Kleist-Aufsatz zeigt: „Hierbei bedient es [das Drama] sich der ganzen Kleistischen Skala des verstellten, halben und wahren Sprechens, und der Pantomime – Mittel, welche er seiner Novelle versagt“ (GB 303).18 Mitte der 1930er Jahre verstärkt sich Kommerells Interesse für Aspekte der Physiognomie und der Gebärdensprache literarischer Figuren. Wie in den Ausführungen zum Kaiserlichen Blut herausgearbeitet wurde (Kap. IV), ist die Gebärde eines der Zentralworte von Kommerell. In Jean Paul ist sogar die radikale Aussage zu finden: „Hier fällt kein Wort, alles ist Gebärde“ (JP 144). Die Gebärde wird ebenfalls im Kleist-Aufsatz auf vielfältige Weise thematisiert: „Gebärden des Staunens, des Nicht- und Mißverstehens, des Herumratens, das die magische Abgeschlossenheit des Prinzen nur vertieft: so ist der Schlaf der Verschlossenheit des Sinnes für das Wirkliche, beantwortet mit barscher Rüge“ (GB 253). Kommerell, der von „staunenden Gebärden der plötzlichen Betroffenheit“ ausgeht (GB 274), erklärt die Gebärden zum

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DLA Marbach, Brief Bettner an Kommerell vom 04.12.1937, Nachlaß Kommerell, D: 86.501/4. Zum Gegensatz Kleist/Hölderlin – Lessing/Schiller bemerkt er im gleichen Brief: „Wenn wir an die tatsächliche Lage herangehen, so sehen wir aber bedauerlicherweise, daß Schauspielschüler wie Studenten, wie aber auch Literaten und Ästheten überhaupt, einer sie zu einer charakterlichen Leistung nicht verpflichtenden Schule Kleist – Hölderlin anhangen und über Schiller und Lessing zum Teil verächtlich denken, weil diese Mehrzahl der Schüler, die sehr wohl ein gewisses Urteilsvermögen der genialen, blutmäßigen Leistungen Kleists und Hölderlins besitzen, keineswegs aber eine auch nur annähernd so große Bereitwilligkeit, den großen charakterlichen ethischen Forderungen Schiller und Lessings nachzukommen bereit sind. Kein Wunder also, daß sie lieber Kleist und Hölderlin billig bewundern anstatt den schwierigeren dornigeren Weg zu gehen, Schiller und Lessing charakterlich nachzueifern“. Vgl.: „Zum erstenmal dient eine abgestufte Verssprache zur Skala der Verstellungen“, „Und Kleist, dem der Rhythmus die Skala der Gebärde ist, lockt hier dem Vers eine staunenswerte Menge falscher Gebärden ab“ (GB 297 u. 313).

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V. Die Goethe- und Kleist-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1931–1943)

Grundinventar: „Kleist ist der Dichter, der mit den Mitteln der Sprache in Gebärden dichtet“ (GB 306). Für Kommerell ist die Szene, in der sich Penthesilea wäscht, „allein eine Dichtung aus Gebärden [...] Die Worte, in denen sie stirbt, sind innere Gebärden“ (GB 308). Er vertritt die Ansicht, daß sich der Mensch in der Sprache verstellen könne, jedoch nicht in der Gebärde: Es ist „[i]mmer so, daß der Tausch der Worte zur Lüge wird durch ein Zwischenwort, durch eine entlarvende Gebärde, die uns zeigt: hier umkreist die Sprache vergebens die Undurchdringlichkeit des zu sich selbst verurteilten Menschen“ (GB 298). An einer anderen Stelle bringt er seine Vorstellung auf den Punkt: „Viel sagt der Bericht anderer, mehr Gebärde und Symbol“ (GB 258). Nach den Diskussionen mit Zimmer ändert Kommerell sein Kleist-Bild und entfernt sich von Kaykas Auffassung. Deshalb ist er überrascht, wie positiv Kayka auf den Kleist-Aufsatz reagiert, und dankt ihm am 31. Juli 1940: „Es ist sehr lieb, daß Du, wie mir Dein Kärtchen zeigt, meine Sachen mit Anteil verfolgst; was den Kleist-Aufsatz anlangt, hatte ich etwas Angst vor Dir, da Du ja ein hervorragender Kenner und Enthusiast bist und ich nicht sicher war, ob Du mir beistimmen kannst. Umso mehr freut mich Dein Beifall“.19 Kommerell, der sich schon gegen Gundolfs Kleist (1922) gewandt hatte, nimmt zeitgenössische Kleist-Forscher wahr und wird wiederum von ihnen wahrgenommen. Am 18. November 1931 heißt es an Kayka: „Anständig ist: Gerhard Fricke: Gefühl und Schicksal bei H. v. Kleist (Neue Forschung 3) 1929“.20 Der Berliner Germanist Franz Koch schreibt am 21. Februar 1938 über Kommerells Aufsatz: Denn ich habe in letzter Zeit einen Aufsatz von Kommerell in der Zeitschrift ‚Das innere Reich‘ über Heinrich von Kleist gelesen, der mir zum besten zu gehören scheint, was Kommerell geschrieben hat und der mir selbst auf eigenen Wegen sehr förderlich gewesen ist. Hier hat er auch fast das abgestreift, was vordem zum unerläßlichen Apparat betonter ‚Geistigkeit‘ zu gehören schien, hier stößt er vor zu wesentlich klaren und schön geformten Erkenntnissen, die nunmehr auch fühlbar einem weiteren und aufgeschlosseneren Erlebnisbereich entwachsen.21

Kommerell ist nicht nur an Zimmers Meinung interessiert, sondern bittet am 6. Oktober 1937 über Ilse Curtius auch Ernst Robert Curtius um einen Kommentar zu seinen Kleist- und Goethe-Studien: „Trotzdem habe ich noch den Mut zu 3 Bitten. / 1. Bitte: indiscreter Bericht darüber, was E.R.C. (falls

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DLA Marbach, Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 31.07.1940, Nachlaß Kommerell, A: 84.1480/1. 20 DLA Marbach, Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 18.11.1931, Nachlaß Kommerell, A: 84.1477/5. 21 Zit. nach Kolk, Gruppenbildung, S. 650.

V.2 Kommerells Goethe

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er hineinsähe) über meine Faust-Analyse äußerte. / 2. Bitte: wie Sie von dem Kleist-Aufsatz berührt sind, und ob er Ihnen diesen, von Ihnen und Ihrem Mann einhellig wenn auch vielleicht mit verschiedenem Grund, abgewiesenen Dichter nicht etwas verständlich gemacht hat. / 3. Bitte: meine Episode ad Genji – falls in Reichweite, da ich jetzt sofort tun muß. / Dreieinhalbtes Nebenbittlein: darf ich die japan. Memoiren noch etwas behalten!“22 Eine Bewertung von Curtius ist allerdings nicht erhalten. Die Ausführungen zu Kommerells Kleist-Rezeption haben für die Fragestellung, die in dieser Arbeit untersucht wird, verschiedene Aufschlüsse ergeben. Zum einen läßt sich Kommerells Umwertung von Kleist nachvollziehen, der anfangs für ihn das Preußentum verkörpert und später den Dichter der Ver- und Enträtselung. Der Einfluß von Zimmer zeigt sich in der Betonung von Seele und Unbewußtem. Durch Kommerells Theatervorlesungen an den Städtischen Bühnen Frankfurt wird sein Blick für die Bühnenwirksamkeit geschärft. Biographische Erfahrungen wirken also auf die Entwicklung seines methodischen Rüstzeugs und auf sein literaturwissenschaftliches Konzept. Hier wird der Zusammenhang von Personen- und Konzeptgeschichte anschaulich. Bei der Vorgehensweise zur Interpretation ist ein Hang zur Schematisierung festzustellen. Die Gebärde ist von zentraler Bedeutung für Kommerell, er erklärt Kleist zum Dichter der Gebärde, die mit sprachlichen Mittel gestaltet werde.

V.2 Kommerells Goethe „Denn wenn der Dramatiker, durch alles Unaussprechliche herausgefordert, es in die Sprache reißen muß, läßt die Oper dem Unaussprechlichen seinen Willen – nicht bloß in der Musik, auch in der spielenden Deutsamkeit des Geschehens“ (GG 413) – diese Aussage entstammt nicht Kommerells KleistAufsatz, sondern seiner Goethe-Rezeption, insbesondere der Lyrikdeutung, die ebenso wie die Kleist-Rezeption, stark durch Heinrich Zimmer beeinflußt wird. Wie Kleist stellt auch Goethe einen bedeutenden Forschungsgegenstand der 1930er und 1940er Jahre dar.23 Goethe ist einer der Autoren, mit dem Kommerell sich während seines ganzen Lebens am intensivsten beschäftigt hat.24 Nach dem Goethe-

22 ULB Bonn, Brief Kommerell an Ilse Curtius vom 06.10.1937, Nachlaß Curtius I, Acc.-Nr. 85/1. 23 Vgl. Mandelkow, Karl Robert: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Bd. II: 1919–1982, München 1989, S. 78–108. 24 Zu Kommerells Goethe-Rezeption siehe auch Holthusen, Hans Egon: Max Kommerell, in: Welt und Wort 13 (1958), S. 263–264; ders., Klassik, S. 38–182; und: ders.: Max

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V. Die Goethe- und Kleist-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1931–1943)

Kapitel in der Klassik-Studie25 veröffentlicht er 1931 die 30 Seiten lange Schrift Jugend ohne Goethe (JG)26 als Monographie im Vittorio Klostermann Verlag.27 Sie erscheint als Band 2 der programmatischen Reihe Wissenschaft und Gegenwart (vgl. Kap. III). Goethe ist seit etwa 1880 zu dem wichtigsten Gegenstand der deutschen Literaturwissenschaft geworden. Damit stellt er für Kommerell einen kaum ignorierbaren Autor dar. Das Erscheinen seiner Schrift, die auf einen im Januar 1931 in Frankfurt gehaltenen Vortrag zurückgeht, plaziert Kommerell rechtzeitig zum großen Goethe-Gedenkjahr anläßlich des 100. Todestages 1932. Auch in anderen Gedenkjahren – im Jean Paul-Jahr 1924, Schiller-Jahr 1934 und Hölderlin-Jahr 1943 – legt er gezielt Publikationen zu den jeweiligen Autoren vor. Damit schreibt er bewußt für den Markt. Auch wenn stark zu bezweifeln ist, daß Kommerell Ödon von Horvaths Jugend ohne Gott kannte, nimmt er mit dem Titel eine Anspielung auf eine gängige Formel der 1920er Jahre vor. Demgegenüber untersucht seine Studie das Verhältnis zwischen den jungen Menschen, die an der Jugendbewegung teilgenommen haben, und Goethe.28 Sie thematisiert besonders die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes und stellt drei grundlegende Gegensätze dar: 1. den Gegensatz der Werte, 2. den Gegensatz der Naturwahrnehmung und 3. den Gegensatz der dichterischen Erziehung. Die Erziehung mit Goethe sieht Kommerell als Vervollständigung des Menschen an. In der Pflege der Bildung liege die Kulturbewahrung, so die zentrale Aussage: „Bildung als Gipfel des Menschlichen einzubüßen reichen einige Minuten der Zerstörung hin, die einmal verscherzte wiederzuerwerben bedarf es der Jahrhunderte“ (JG 37). Ein zentraler Begriff der Schrift ist die ‚Gehobenheit‘ (vgl. JG 28–31). Damit setzt Kommerell die Heroisierung des Weimarer Dichters, mit der er in Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik begonnen hatte, fort, findet aber zu einer feineren Ausdruckssprache als in der säbelrasselnden KlassikStudie (vgl. Kap. III). Den Begriff der ‚Gehobenheit‘ kombiniert er mit seinem Zentralbegriff und spricht von der „Gehobenheit der Gebärde“ (JG 27). Die Sprache wird abgegrenzt – hier liegt eine Parallele zum Kleist-Aufsatz – von der Gebärde: Sie „ist betont gebärdelos: ein unermeßlicher Inhalt macht das leichteste Wort überwältigend innig“ (JG 29). Kommerell und die Kunst des Essays, in: Merkur 12 (1958), H. 5/123, S. 424–438 [wieder in: ders.: Das Schöne und das Wahre. Neue Studien zur modernen Literatur, München 1958, S. 134–153]. 25 Zum Goethe-Bild in Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik siehe Mandelkow, Anpassung, S. 303–307. 26 Kommerell, Max: Jugend ohne Goethe, Frankfurt/M 1931 (Wissenschaft und Gegenwart 2). Fortan zitiert als Sigle JG. Dazu siehe Arrighetti, Verbindlichkeit, S. 87–90. 27 Zur zeitgenössischen Bewertung siehe Cronheim, Zwei Reden, S. 338f. 28 Vgl. Weichelt, Horizontbildungen, S. 123–130.

V.2 Kommerells Goethe

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Seine Kritik an der bisher geleisteten Forschung, die bereits im dritten Kapiteln herausgearbeitet wurde, ist auch ein Grundzug dieser Schrift. Goethes Faust bleibe „trotz aller Ausleger unerschlossen[]“ (JG 15). Die Forscher müßten vor Goethe erblassen: „Alles, auch das ausbündig Klügste, was gestern und heute über Goethe verabredet wurde, alle für ihn gefundenen Formeln und Maßstäbe werden verhältnismäßig, werden rührend vor diesem Menschen“ (JG 36). Kommerell unterstellt ihnen, falsche Fragestellungen angelegt zu haben (vgl. JG 25f.). Seine Kritik nimmt mitunter radikale Züge an: „Weg mit der Meinung, es handle sich bei Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, oder gar bei seiner ganzen im Werk teils angedeuteten teils verschwiegenen Naturgeheimlehre um irgendetwas [sic] Überholtes“ (JG 17). In Kommerells sprachlicher Darstellung dominieren, eine weitere Parallele zum Kleist-Aufsatz, scheinbare Paradoxa wie die „Ansicht des verwirrend Besonderen und des verworren Wiedersterbenden“ (JG 21) oder „die sinnliche Form des Übersinnlichen“ (JG 22).29 Für die Entwicklung von Kommerells Wissenschaftskonzept wird die Bedeutung der Auseinandersetzung mit Goethe deutlich. Aus der Analyse des Jugend ohne Goethe-Aufsatzes ergibt sich, daß die Distanz zur herkömmlichen Wissenschaft eine Basis für Kommerells spätere Verbindung von Wissenschaft und Dichtung darstellt. Die Reihe Wissenschaft und Gegenwart, in der der Aufsatz erscheint, verortet Kommerells Untersuchung in einem Gesellschaftsbezug. Die Methode in dem Aufsatz von 1931 ist allerdings durch Aussagen geprägt, die auf allgemeinen Beobachtungen basieren, und noch nicht, wie in den späteren Aufsätzen, durch eine Hinwendung zum Text (vgl. Kap. V.2.3). V.2.1 Die Lyrik-Rezeption Da Matthias Weichelt in seiner Dissertation Gewaltsame Horizontbildungen. Max Kommerells lyriktheoretischer Ansatz und die Krisen der Moderne von 2006 Kommerells Monographie zur Lyrik Goethes Gedanken über Gedichte (GG)30 ausführlich behandelt hat, braucht die Studie hier nicht erneut umfassend be-

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In der Schrift findet wie in Hugo von Hofmannsthal (vgl. Kap. IV) eine Auseinandersetzung mit George statt. Zuerst stellt Kommerell die Begeisterung für George dar: „Später aber bekannte man sich, erst vereinzelt, dann in Scharen und jetzt in einer fast beunruhigenden breiten Allgemeinheit zu einem Dichter, der die höhere Gemeinschaft, der der Wunsch aller war, gewährleistete – zu George“ (JG 27). Schließlich grenzt er ihn von Goethe ab: „Wieviel Unmittelbares bei George, wieviel Gehobenes sich bei Goethe fände und nur nicht bemerkt werde und ob jener Gegensatz sich einem tieferen Begreifen nicht sehr verringern möchte, davon zu reden unterlasse ich“ (JG 30). 30 Vgl. Kommerell, Max: Gedanken über Gedichte [1943], Frankfurt/M 41985. Fortan zitiert als Sigle GG.

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V. Die Goethe- und Kleist-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1931–1943)

trachtet zu werden.31 Weichelt rekonstruiert in seiner Arbeit das poetologische Modell der Suche nach Totalität und die Herleitung der Gedichte Goethes aus dem Augenblick.32 Dazu zieht er vorwiegend Kommerells Kapitel Vom Wesen des lyrischen Gedichts (GG 9–56) und Schema zu Goethes Gedichten (GG 57–215) heran. In diesem Abschnitt sollen daher Kommerells Aufsätze zu Goethes Lyrik, die Weichelt nicht untersucht hat, im Vordergrund stehen. Zur Entstehungsgeschichte der Gedanken über Gedichte heißt es in einem Brief von Kommerell an den Marburger Studenten Carl Hermann Ebbinghaus vom 2. November 1942: „Ich war soweit brav [...], jetzt aber plage ich mich mit einem wissenschaftlichen Werk, das unter meinen ungeduldigen Händen zappelnd verendet, nicht fertig wird – es trägt den vielleicht eher blöden als verheißungsvollen Titel: Gedanken über Gedichte. Es ist eine Art Kochbuch; genauer: eine Rekonstruction der mutmaßlichen Kochkunst aus Delikatessen“.33 Mit dem Titel Gedanken über Gedichte wendet sich Kommerell implizit gegen Heinz Otto Burgers Sammelband Gedichte und Gedanke (1942), um sich damit, auch wenn er in dem Band selbst vertreten ist, von Forschungen der Fachkollegen abzugrenzen. In dem Aufsatz Goethes indische Balladen, der im Goethe-Kalender auf das Jahr 1937 erscheint,34 behandelt Kommerell die Gedichte Der Gott und die Bajadere und die Paria-Trilogie mit den Teilen Des Paria Gebet, Legende und Dank des Paria. Der Text wird 1943 in der Monographie Gedanken über Gedichte leicht gekürzt als Unterkapitel Die Paria-Trilogie abgedruckt (GG 417–429). Der Abschnitt über Der Gott und die Bajadere wird in das Kapitel Goethes Balladen aufgenommen (GG 364–371). Im Goethe-Kalender hat Kommerell insgesamt drei Aufsätze veröffentlicht. Das ist auf die guten Kontakte zum Herausgeber Ernst Beutler zurückzuführen, der zum Umfeld des George-Kreises gehört. Hier zeigt sich wieder die Verschränkung von persönlicher und institutioneller Ebene der Wissenschaftsgeschichte. Daß Kommerell die ‚indischen Balladen‘ Goethes zum Gegenstand seiner Interpretation macht, geht auf den Einfluß von Heinrich Zimmer zurück (vgl. Kap. IV). Zimmers Auseinandersetzung mit der Seelenthematik wirkt auf den Aufsatz Goethes indische Balladen ein, in dem Kommerell die indi31

Vgl. Weichelt, Horizontbildungen, 2006. Als Auszug aus der Dissertation siehe Weichelt, Matthias: Gedicht, Symbol und Augenblick. Zu Max Kommerells lyriktheoretischen Überlegungen, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 162–193. 32 Ausführlich zu Inhalt und Bewertung von Weichelts Arbeit siehe Weber, Rez. Weichelt, S. 483–486. 33 DLA Marbach, Brief Kommerell an Carl Hermann Ebbinghaus vom 02.11.1942, Nachlaß Kommerell, A: 99.126.1/2. 34 Kommerell, Max: Goethes indische Balladen, in: Goethe-Kalender auf das Jahr 1937 (30. Jg.), S. 158–185 [überarb. wieder in: GG, S. 364–371 u. 417–429].

V.2 Kommerells Goethe

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sche „Seelenlehre, die im Oberen das Untere kennt,“ thematisiert (GG 421). Wenn er Goethes Gedicht mit den indischen Quellen vergleicht, beruft er sich auf Kenntnisse, die ihm Zimmer vermittelt haben dürfte: „In der indischen Quelle tötet er [der Sohn] auf Befehl des Vaters die Mutter. [...] In den indischen Beispielen ist die Verwechslung immer sorgfältig begründet. [...] ‚Aufersteht ein Riesenbildnis.‘ Das gehört keiner Quelle, nur Goethe an“ (GG 424). Zimmer, der Kommerell in vielen Gesprächen besonders mit der Welt der indischen Mythen vertraut macht,35 drückt ihm an Weihnachten 1936 seine Bewunderung über Goethes indische Balladen aus: Diesem Ihrem Goethebuch über die eigentlichen Einweihungen bei Goethe (Balladen und Faust) sehe ich mit großer Freude und größten Erwartungen entgegen. Alles was sie bislang in Almanachen usw. präludiert haben, ist von der schönsten natürlichen Genialität, von der Sicherheit des ursprünglichen Wissens. [...] Jene sanfte Erleuchtetheit inneren Dämmerns, in der alles Außen von innerer Transparenz wird, wie sie in der deutschen Literatur um Novalis und manchmal bei Schelling webt, erwacht bei Ihnen neu, aber ohne jene mitunter schmerzlich hellen Strahlungen des ersten Durchbruchs von damals, die wesentlichen Dinge kommen ihnen wie scheue schöne Vögel beruhigt auf die ausgestreckte Hand geflogen, all das Wesenhafte dieser Deutungen beglaubigt sich durch eine schöne Abwesenheit an orchestralen Wirkungen.36

Zimmer stellt damit Kommerell in die romantische Tradition und spricht ihm aufgrund des Verzichts auf das Pathos eine Überbietung der Romantiker zu. Im Abschnitt Der Gott und die Bajadere in den Gedanken über Gedichte unterlegt Kommerell Goethes Annäherung an Indien eine innere Notwendigkeit (vgl. GG 366f.). Die Auseinandersetzung mit Indien sieht er als Herausforderung an (vgl. GG 367). Das Thema der Seelenwanderung, das für Goethe von zentraler Bedeutung war, leitet Kommerell aus der indischen Mythologie ab: „Dem Selbstgefühl des älteren Goethe entsprach es, sich als eine Inkarnation anzusehen. Es ist sehr möglich, daß Goethe, wenn er nicht durch die Liebe zur europäischen Bildung in ihrem Umkreis festgehalten wäre, sich im Alter noch viel tiefer mit der Geistesart des Orients, nicht nur mit persischarabischer, auch mit indischer und chinesischer, angefreundet hätte, und daß mehr Dichtungen daraus entstanden wären“ (GG 368). In dieser Aussage appliziert Kommerell sein eigenes Interesse an Indien und China auf Goethe (vgl. Kap. VI). Goethes Antikerezeption bezieht er ebenfalls auf Indien: „Hat denn Goethe an die griechischen Götter geglaubt? Ja; doch glaubte er an sie eher wie der Inder an die seinigen, als wie der Grieche“ (GG 369). Das The-

35 Vgl. Müller-Seidel, Schiller, S. 286. 36 DLA Marbach, Brief Heinrich Zimmer an Kommerell vom 24.12.1936, Nachlaß Kommerell, A: 84.1660/10.

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V. Die Goethe- und Kleist-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1931–1943)

ma der Wandlung, das „den goethischen Lebenslauf mit wachsendem Alter immer mehr bestimmt“ habe, sei „ein indischer Grundbegriff“ (GG 369). Mit Indien habe sich Goethe nicht erst im Alter beschäftigt, sondern die „indische[n] Mythen waren für Goethe entgegen gewöhnlicher Annahme seit der Jugend einladend“ (GG 366). In dem Aufsatz über Goethes Gedicht, die im Goethe-Kalender auf das Jahr 1936 erscheint, behandelt Kommerell Goethes Gegenständlichkeit, durch die er das Ich von Gegenstand und von sich selbst abgrenzt.37 Goethes Bezug zu Indien wird hier noch in Form einer rhetorischen Frage hergestellt: „Hat da Goethe eine indische Lehre in sich eingelassen und, davon angeregt, einen geheimwissenden Blick in Schicksale der Seele vor der Geburt getan?“38 Erst in den späteren Abhandlungen wird die Verbindung zu Indien offensiver vertreten. Kommerells Interpretation von Goethes Ballade („Herein, o du Guter! du Alter, herein...“) liegt in zwei Fassungen vor. Zuerst erscheint sie 1936 unter dem Titel Goethes Ballade vom vertriebenen Grafen in der Neuen Rundschau.39 Schließlich wird sie 1943 als Die Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen geringfügig überarbeitet, leicht erweitert und ohne Zwischenüberschriften in den Gedanken über Gedichte abgedruckt (GG 398–417). In der späteren Fassung fehlt allerdings folgender Abschnitt: „Mit dieser Ballade greift Goethe, gewiß ohne daran zu denken, auf ein Gesetz und eine Übung altertümlicher mündlicher Sangesweise zurück, wie sie noch zu seinen Lebzeiten in Serbien galt. Der Guslar und der von ihm besungene Held sind nicht zwei Personen; der Sänger singt, was er selber tat“.40 Diese Aussage muß 1943 gestrichen werden, weil Serbien zum Kriegsgegner von Deutschland geworden ist. Goethe in Verbindung mit einem Land zu bringen, das in der offiziellen Propaganda als Feind angesehen wird, ist nicht mehr politisch korrekt. Hier zeigt sich, wie die politische Situation Einfluß auf die Wissenschaftspraxis nimmt. Daran wird ein weiteres Mal die Verschränkung von Personen- und Institutionenebene der Wissenschaftsgeschichte deutlich. Im Grafen-Aufsatz bezeichnet Kommerell die „Erkennung“ als „Thema der Poesie überhaupt“ (GG 417). In dem Ausdruck „Verlassen wir Goethe!“ (GG 417) zeigt sich die Methode Kommerells. Es ist ein Stil, der auf das affektive Ansprechen des Lesers ausgerichtet ist. Mit dem Stichwort der „unbefriedigten Seelenforderung“ greift er die Thematik des Kleist-Aufsatzes auf

37 Vgl. Mandelkow, Anpassung, S. 309. 38 Kommerell, Max: Goethes Gedicht, in: DW, S. 23–52 [erstmals in: Goethekalender auf das Jahr 1936 (29. Jg.), S. 133–169]. 39 Kommerell, Max: Goethes Ballade vom vertriebenen Grafen, in: NR 47 (1936), S. 1209– 1219 [überarb. wieder als: Die Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen, in: GG, S. 398–417]. 40 Ebd. S. 1218.

V.2 Kommerells Goethe

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(GG 417). Auch im Grafen-Text kommt er auf den Begriff der Seele und auf das Thema Tiefenpsychologie zu sprechen und betont, daß Goethe „aus dem Stoff ein Seelendrama gemacht“ habe (GG 411). Kommerell würdigt Goethe nicht nur, sondern kritisiert ihn auch: „Während also eine Entsprechung zu dieser Figur den wirklichen Vorgängen der Französischen Revolution abgeht, geht dem Drama Goethes eine Entsprechung zur Figur Bonapartes ab, obwohl er dessen Aufstieg mit wachsender Spannung verfolgte“ (GG 407). Zimmer bemerkt in einem undatierten Brief an Kommerell, daß er die Druckfahnen vom Kaiserlichen Blut gelesen habe: „Lieber Freund, Ihr Brief war uns eine große Freude, ebenso die Fahnen über edles Blut und Knechtgestalt [Herv. C.W.], das ist Ihnen unheimlich gelungen“.41 Kommerells Aufsatz Goethes Ballade vom vertriebenen Grafen enthält in der ersten Fassung u. a. die Zwischenüberschriften „Verwandtes Blut und Geschlechterreihe“ und In ‚Knechtsgestalt‘“.42 Ob Zimmer in seinem Brief auf Kommerells Zwischenüberschriften anspielt oder ob Kommerell Zimmers Formulierung aus dem Brief aufgreift und in seine Publikation einbringt, läßt sich aufgrund der fehlenden Datierung nicht mehr feststellen. Wichtiger ist jedoch, daß an diesem Beispiel nachgewiesen werden kann, wie der geistige Austausch zwischen beiden vielfache Gemeinsamkeiten erzeugt, die sich bis zu wörtlichen Ähnlichkeiten erstrecken. Die Untersuchung von Kommerells Lyrik-Rezeption hat ergeben, daß er – abgesehen von der Monographie Gedanken über Gedichte – besonders diejenigen Gedichte Goethes herausgreift, die indische Stoffe behandeln, da er durch Zimmer für Indien begeistert wird. V.2.2 Die Rezeption der Wilhelm Meister-Romane Mit Goethes Romanen Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre hat sich Kommerell in einem separaten Aufsatz auseinandergesetzt, der posthum unter dem Titel Wilhelm Meister in der Nachlaßedition Essay, Notizen, poetische Fragmente (EN)43 publiziert wurde.44 Ein Titel, der zum Ausdruck bringt, daß es in dem Aufsatz fast ausschließlich um die Figuren Mignon und Harfner geht, wäre allerdings geeigneter gewesen. Dieser Aufsatz sollte wohl ein Beitrag zu Kommerells geplanter Studie über die Romane der ‚Weltliteratur‘ werden (vgl. Kap. VI).

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DLA Marbach, Brief Heinrich Zimmer an Kommerell o. D., Nachlaß Kommerell, A: 84.1660/9. 42 Kommerell, Grafen, S. 1212 u. 1217. 43 Vgl. Kommerell, Max: Wilhelm Meister, in: EN, S. 81–186. 44 Siehe auch die Mitschrift von Elfriede Ehl der Goethe-Vorlesung aus dem SoSe 1941, DLA Marbach, Ehl, Elfriede: Prosa. Vorlesungen, Nachlaß Kommerell, D: 86.468.

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V. Die Goethe- und Kleist-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1931–1943)

Laut Kommerells zentraler Aussage stehen die Figuren Mignon und Harfner für den Wandel. Deshalb bezeichnet er Goethes Text als den „Roman des Werdens, der ein Wandelloses in sich nicht zuläßt!“ (EN 163). Goethe zeige, „daß dies Leben nicht an einer Krankheit leidet, sondern an sich selbst“ (EN 162). Kommerell baut Mignon und Harfner als Gegensatz zu den übrigen Figuren auf: Ja, durch die klassische Veränderung des Romans wird das Verhältnis zu Mignon und dem Harfner, das vorher eine Art Identität ist, erst darstellbar. Erst wenn es entschieden Welt und Gesellschaft gibt, ja, wenn die Oberflächlichkeit des Lebens und ein Übermaß planender Absicht sich beide als wirklich befestigt haben, können Mignon und der Harfner recht eigentlich im ‚Gedränge‘ erscheinen und heilig gesprochen werden. (EN 186)

Anhand des Wilhelm Meister-Aufsatzes läßt sich Kommerells gewandelter Umgang mit Stilbegriffen – und damit sein literaturwissenschaftliches Verfahren – zeigen. Goethe verwende „Kunstmittel, die man mit Recht klassisch nennt“ (EN 99). Er führt die Figurenkonzeption auf das „klassische Kunstprogramm“ zurück: „Das Individuelle scheint für Goethe kaum die Aufgabe der Kunst … aus klassischem Grundsatz vielleicht, denn Werther und Urfaust sind auch keine Individuen“ (EN 119f.). Auf der anderen Seite weist er auf die Rezeptionsgeschichte der Lehrjahre hin: „Von der Unendlichkeit eines solchen Buches war, ehe es gedruckt einem deutschen Publikum vorlag, nicht einmal der Begriff vorhanden; man könnte sie romantisch nennen...“ (EN 110). Schließlich tragen für ihn nun – im Unterschied zur George-Zeit – die Begriff ‚Klassik‘ und ‚Romantik‘ als Gegensatz keinen Inhalt mehr, denn „eine Spannung im Werk [könne] nur sehr unvollkommen mit den etwas entleerten Gegensätzen klassisch und romantisch bezeichnet“ werden (EN 82). Die Forschungskritik, die für Kommerell ein wesentlicher Bestandteil seines Wissenschaftskonzeptes ist, kommt ebenfalls in diesem Text zu Geltung: „Man hat bisher entweder, von einem fragwürdigen und unmodernen Begriff des Poetischen ausgehend, die Gestalt Mignons im halbdunkel eines romantischen Ungefährs erblickt und sowohl das Pathologische des Themas wie das Pathographische der an ihm entfalteten Kunst übergangen; oder man hat Mignon der Poesie entrissen und als eine krankhafte Anomalität seelenwissenschaftlich zergliedert. Diese Trennung aber ist kindlich und muß aufgegeben werden“ (EN 171f.). In Kommerells Analyse deutet sich eine Hinwendung zum Text an, die das Auslegen und Deuten in den Vordergrund stellt: „Wenn damit das ‚an sich‘ dieser Lieder, die Auslegung, die sie selber mitbringen und die Vollständigkeit, die sie in sich haben, ja sogar die Deutlichkeit der beiden uns durch sie enthüllten Gemüter notdürftig umschrieben ist, so hebt sich davon ab, wie der Roman diese Lieder verwendet und wie er ihnen zum Teil

V.2 Kommerells Goethe

213

eine eigene, neue Deutung im strengen Sinn des Worts ‚zufügt‘“ (EN 144). Für seine Interpretation zieht er die Entstehungsgeschichte heran (vgl. Kap. VIII) und vergleicht die Lehrjahre mit der Theatralischen Sendung, die als „unschätzbare[s] Fragment“ „höchst bedeutsam schließ[e]“ (EN 95).45 Trotz großen Lobes übt Kommerell auch Kritik an Goethe: „Doch hat Goethe in dem rasenden Tempo dieser Abschlüsse, das zu den wenigen Kunstfehlern des unbegreiflich schönen Buchs gehört, keine Zeit, dem Motiv die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken“ (EN 183).46 Mit der Krankheitsthematik der Lehrjahre identifiziert sich Kommerell, da er lange an Hepatitis leidet und später daran stirbt: 47 „Das, was wir krank und tödlich nennen, ist eine ebenso tiefe Sprache des Lebens wie das Gesunde und Gedeihende“ (EN 172). Er gibt der Krankheit eine tragische Bedeutung: „Indem so viele Versuche und Ansätze zum Gelingen geführt werden, sogar unheilbar Scheinendes geheilt wird, offenbart sich das zum Schein Geheilte als heillos und wird dadurch seinem anfänglich tragischen Bereich zurückgegeben“ (EN 182). Er projiziert also seine biographischen Erlebnisse auf das Medium der Literatur. Im Laufe der vorliegenden Arbeit wurden mehrfach Kommerells Lektüreerlebnisse untersucht. Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, welche Erwartungen er selbst an einen Leser stellt: „Goethe besaß gewiß die Mittel, etwas innerlich Unverträgliches in einem lesbaren, sogar formvollendeten Kapitel zu bewältigen. Aber dem dichterischen Leser kann es nicht entgehen, daß hier das innere Leben vorübergehend der Komposition aufgeopfert ist“ (EN 175). Er äußert sich über die Fähigkeiten des Lesers: „Das ideale Lesen eines Werks ist das erste Lesen: nur müßte es mit der Schärfe der Aufmerksamkeit und der Güte des Gedächtnisses geschehen, die keiner Ergänzung durch ein mehrfaches Lesen bedarf. Beschränkt wie wir sind, können wir jedoch erst durch wiederholtes Lesen einem Kunstwerk einigermaßen gewachsen werden“ (EN 183). Voraussetzung für Kommerells Interpretationsverfahren ist also die Relektüre. 45

Vgl. auch GB 86 u. 141. Schon im Vortrag Jugend ohne Goethe hatte Kommerell Wilhelm Meisters Lehrjahre thematisiert: „Jugend ist in diesem Roman kaum mehr als die Zeitspanne in der man erzogen wird“ (JG 13). Dabei werden die ‚Lehrjahre‘ Wilhelms als Gegensatz zur heutigen Jugend gesehen: „Person, Vorgang und Maßstab sind der genaue Gegensatz dessen, was sich heute ein Jüngling unter Erziehung träumt“ (JG 13f.). Nur einige Figuren kann Kommerell mit der heutigen Jugend in Verbindung bringen, am „ehesten klänge beim heute jungen Geschlecht die Verwirklichung höherer Absicht durch Gleichgesinnte an, Lothario, Jarno, den Abbé, stünde nur der Handelnde mit seiner Norm außer, nicht in der Gesellschaft!“ (JG 14). 46 Kommerell lobt Goethes „ungeheure[n] Sinn für das Komplexe“ (EN 120), seine „hohe[] Kunst jener dichterischen Aussage“ (EN 152) und die „höchste[] dichterische[] Kraft“ (EN 125). 47 Vgl. BA 450.

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Auf der sprachlichen Ebene fallen, wie in anderen Studien, vor allem scheinbare Paradoxa auf: „Zeitlos und ortlos wie sie [die Lieder Mignons] an sich sind, könnten sie also sehr wohl im Lebenslauf Wilhelms zeitlich und örtlich werden“ (EN 134). Die Sprachartistik zeigt sich im Wortspiel: „der Held ist nicht nur der Lernende, er ist auch der Verstrickte, und der LernendVerstrickte, der durch Verstrickung Lernende“ (EN 110). Das Wortspiel kann durch Alliterationen verstärkt werden: „der Täuschung ins Häßliche folgt die Enttäuschung ins Hohe“ (EN 114). Kommerells Vorstellung von Hermeneutik wird im folgenden Ausdruck deutlich: „Das Erklärbare an diesen Liedern ist bald gesagt; der Bereich des Unerklärlichen wächst dadurch“ (EN 136). Er geht also davon aus, daß eine Interpretation nie erschöpfend sein könne. Dieses Bewußtsein drückt sich in vielen Titeln seiner Studien aus: „Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist“, „Bemerkungen zum Stabvers“, „Gedanken über Gedichte“ und „Etwas über die Kunst Calderons“ [Herv. C.W.]. Es zeigt sich ebenfalls in der bereits zitierten Äußerung, mit der er das geplante Nachwort zur Hofmannsthal-Ausgabe einleitet: „Ich habe nichts mitzuteilen über die Gedichte des Dichters Hugo von Hofmannsthal“.48 Kommerell setzt sich außerdem theoretisch mit der Bedeutung von Sprache auseinander und trifft eine „Unterscheidung [zwischen] der Sprache der gewöhnlichen Mitteilung“ und „einer zweiten Sprache des reinen Seelenausdrucks“ (EN 146).49 Wie in die Lyrikinterpretation geht auch in die Romanrezeption der tiefenpsychologische Einfluß von Zimmer ein: „Aber das eigentliche Abenteuer der Seele ist ein neuer Mensch“ (EN 101).50 Kommerell stellt schließlich eine Verbindung zu seiner Lyrik-Rezeption her: „Auf eine zweite Weise eröffnet sich Goethes Umgang mit den Gebilden seines Inneren, von dem uns der Aufsatz über die Ballade kündet“ (EN 128). Für die vorliegende Arbeit ergibt sich aus der Analyse des Wilhelm Meister-Aufsatzes, daß Kommerell aufgrund seines biographischen Hintergrunds Mignon und Harfner als Figuren des Wandels begreift und sich in ihre Krankheitsgeschichte gedanklich hineinversetzt. Es wird eine spezifische Form des Umgangs mit literarischen Texten deutlich, die hier in einer identifikatorischen Lektüre besteht. Mignon und Harfner als ästhetische Lebensformen bilden ein Identifikationsmodell für Kommerell. Seine dichte Lektüre und sein genauer Blick für die Figurenanalyse, die mit beeindrukkenden Sprachbeobachtungen ausgedrückt wird, belegen ein Interesse für das Innenleben der Figuren. Im Gegensatz zu der Calderón-Studie (vgl. Kap. VI)

48 Rauch/Volke, Anruf, S. 24. 49 Vgl. Kommerell, Max: Dichtersprache und Sprache des Alltags, in: GeGe 25/26 (2004), S. 84–86. Dazu siehe Bülow, Ulrich von: „Weltgesellige“ Gebärden. Der Essay ‚Dichtersprache und Sprache des Alltags‘ von Max Kommerell, in: GeGe 25/26 (2004), S. 80–83. 50 Vgl. EN 117.

V.2 Kommerells Goethe

215

legt Kommerell hier eine psychologisch motivierte Fragestellung an. Damit weist er nach, daß er sich nicht durchweg für einen symbolischen Stil der Literatur interessiert, sondern seine Fragestellung dem Gegenstand entsprechend wandeln kann. In diesem Aufsatz zeigen sich ein entwickelter Umgang mit Stilbegriffen und konkrete Vorstellungen von der Rolle des Lesers. Damit sind Voraussetzungen für die Hinwendung zum Text benannt, die nun anhand der Faust-Studien untersucht wird. V.2.3 Die Faust-Rezeption In seinen Ausführungen zu Goethes Lyrik und Prosa geht Kommerell immer wieder beiläufig auf Faust ein.51 In der Studie Die Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen stellt er einen Bezug zu Faust II her: „Nimmt man die [...] Schilderung anarchistischer Selbsthilfe [...] im vierten Akt des Zweiten Faust hinzu, so ist deutlich, daß der Begriff einer solchen Zwischenzeit Goethe tief beunruhigte“ (GG 399). Im Aufsatz Goethes indische Balladen unternimmt er eine Anspielung auf die letzten Verse des Dramas: „Denn das Weibliche, das hinanzieht, ist nicht das Weib, sondern eine Selbstanschauung des männlichen Geistes!“52 Im Wilhelm Meister-Aufsatz vergleicht er die Bedrohungen, denen Wilhelm und Faust ausgesetzt sind: „Wohl aber ist es bewegende, tätige Kraft, die ihn, unmerklicher aber so gut wie Faust, vor der schwersten Gefahr der Seele beschirmt“ (EN 88). Im Aufsatz Faust II. Teil. Zum Verständnis der Form unternimmt er ebenfalls einen Vergleich zwischen Faust und Wilhelm: „Das menschliche Innere [...] betätigt [...] sich als das vollkommenste Organ der Weltaufnahme. So in Wilhelm Meister, der als Person dürftig bleibt. Ihm ist Faust vergleichbar. Wilhelm lernt die Welt stufenweise [kennen]: die Welt als Gesellschaft, in der das Ich schließlich seinen Platz und sein Verhalten findet“ (GB 21). Kommerell hat drei Aufsätze zu Goethes Faust vorgelegt,53 die im folgenden im Hinblick auf Inhalt, Wissenschaftsverständnis, methodisches Vorgehen und Sprache behandelt werden.54

51

Zu Verweisen auf Goethes Faust in Kommerells Jugend ohne Goethe siehe JG 11 u. 15f. Im Lampenschirm aus den drei Taschentüchern spielt Kommerell auf „des Pudels Kern“ an, vgl. LT 142f. 52 Kommerell, Indische Balladen, S. 162. 53 Vgl. auch die Mitschriften der Lehrveranstaltungen Goethes Faust vom WS 1941/42: DLA Marbach, Ehl, Elfriede: Prosa. Vorlesungen, Nachlaß Kommerell, D: 86.467; DLA Marbach, Rey, Hannelore: Prosa. Vorlesungen, Nachlaß Kommerell, D: 86.466; und die Neuerwerbung: DLA Marbach, Ruprecht, Annemarie: Prosa. Vorlesungen, Nachlaß A: Ruprecht. 54 Zum folgenden siehe auch Mandelkow, Anpassung, S. 303–314.

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i) Faust und die Sorge Kommerells Aufsatz Faust und die Sorge erscheint im Goethe-Kalender auf das Jahr 1939 und wird im darauffolgenden Jahr in der Aufsatzsammlung Geist und Buchstabe der Dichtung (GB) wiederabgedruckt (vgl. Kap. VII).55 In diesem Aufsatz untersucht er die Szene aus dem V. Akt des zweiten Teils, in der Faust der Sorge begegnet. Er deutet Faust als die Tat, „die Sorge, als Zustand, [ist] die Verneinung der Tat“ (GB 108). Außerdem sehe Goethe in den Figuren Funktionen: „Der Dichter des zweiten Faust denkt nicht in Personen, sondern in Funktionen, denen er den Namen der Person erteilt“ (GB 90). Er stellt eine Bewegung von der Person zur Welt fest: „Personsein aber heißt Weltaneignung“ (GB 91). Diese Einverleibung sei übermenschlich: „Magisch ist die Aneignung der Welt als eines Ganzen“ (GB 91). Nicht nur im Aufsatz Wilhelm Meister, sondern auch hier setzt Kommerell sich mit der Bedeutung des Todes auseinander: „Denn da kein Tod ist, dies Selbst in seinem Innersten unvernichtbar bleibt, ist ein Teiltod, eine höchst fühlbare Einbuße zu leiden, was wohl die eigentliche Todesdeutung Goethes ist. [...] Die Erblindung ist der Tod“ (GB 101). Die Sorge, die Negierung der Tat, stehe im Zusammenhang mit der Kategorie des Augenblicks. In Bezug auf die „Augenblickslehre Goethes“ (GB 109) stellt Kommerell fest, daß der „Augenblick [...] für Goethe kein Zeitpunkt, sondern ein Akt und das Gelingen dieses Aktes“ ist (GB 105). Die Zeit sei in der Sorge fließend, im Augenblick komme sie zum Ende. Deshalb sei Zeitwahrnehmung des Augenblicks rhythmisch (vgl. GB 107). Bei der sprachlichen Darstellung fällt die Setzung des Bindestrichs auf: Die Erblindung bedeute „den Übergang aus dem In-der-Welt-sein in das Sein in sich“ (GB 102). Ein Beispiel für die Wissenschaftskunst von Kommerell, der sich selbst als „eingefleischten Symboliker“ bezeichnet (GB 86), bietet folgende Bemerkung: „Sehe ich aber den Stern so, daß etwas von mir im Stern ist und etwas vom Stern in mir, und nicht nur in mir ist, sondern in mir wirkt, teils so, daß ich den Stern zu bestimmen suche, teils so, daß sich in mir selbst die Kraft des Sternes meiner bemächtigt: dann ist das Schauen ersetzt durch eine andere Bezeichnung, die Goethe Magie nennt, und diesem magische Verhältnis ist es eigen, daß es nicht den Geist und die Dinge unterscheidet, sondern dem Inwendigen, Hintergründigen der Dinge als einer Gewalt den Weg in die menschliche Seele hinein eröffnet“ (GB 83). Außerdem kommen im Aufsatz Themen zur Sprache, die Kommerell in vielen seiner Veröffentlichungen anspricht, Themen wie Schein und Sein (vgl. GB 81f.), Lektüreerfahrungen (GB 78) und Forschungskritik: „Goethe selbst

55

Kommerell, Max: Faust und die Sorge, in: GB, S. 75–111 [erstmals in: Goethekalender auf das Jahr 1939 (32. Jg.), S. 89–130].

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hat also durch seine Änderung die Ansicht durchstrichen, daß Faust sich im Laufe des zweiten Teils stufenweise von der Magie lossage, wie man immer wieder behauptete, um eine Entwicklung zu erhalten. Wohl aber läßt sich sagen, daß die magische Handlung des zweiten Teils anderer Art ist als die im ersten Teil“ (GB 90).56 Kommerells Einbeziehung der Entstehungsgeschichte läßt sich auf folgende Formel bringen. Er berücksichtigt die Genese eines Textes nur, wenn dadurch der ästhetische Mehrwert erklärt werden kann: „Ist damit [mit der Untersuchung der Entstehungsgeschichte] eine Auslegung gewonnen? Es war wichtig in manchem Sinne, die Anlehnung zu erweisen. Aber keines der Vorbilder deckt sich mit Goethes Szene“ (GB 81). In den Faust-Studien, die Mitte der 1930er Jahre entstehen, legt Kommerell ein Interpretationsverfahren an den Tag, das sich von seinem früheren, in den 1920er und frühen 1930er Jahren praktizierten unterscheidet. Die ‚Verwissenschaftlichung‘ ist nicht zuletzt auf die entschiedene Intervention Heinrich Zimmers zurückzuführen (vgl. Kap. IV). Im Gegensatz zur Klassik-Studie gehen die Hinweise auf Einflüsse der Epoche, die Beschreibungen der Gestalt und die Verwendung des Pathos zurück. Im Sorge-Aufsatz wird das Wortfeld ‚Gewalt/Kraft‘ durchaus angesprochen (vgl. Kap. III), aber viel seltener als früher (vgl. GB 90). Kommerell stellt zwar wiederum einen Bezug von Kraft und Leben her, wenn im „Zusammenspiel der Weltkräfte auch ein sonst moralischer Bezug nur lebensmäßig als Bezug der Kraft zur Kraft ausgesprochen werden“ kann (GB 84). Ins Zentrum treten jetzt aber Beobachtungen, die sich mit der Analyse von Versmaßen (vgl. GB 104) und Formen beschäftigen – Kommerell spricht bezeichnender Weise von „Baustoffen“ (GB 95). Zudem vertritt er die Vorstellung, daß jeder Teil einer Dichtung aus ihrem Ganzen und das Ganze aus den Teilen erklärt werden könne: „Diese Szene, Faust und die Sorge, ist ein Ganzes in sich, steht aber im umfassenden Ganzen des 5. Aktes“ (GB 76, vgl. GB 109). ii) Faust II. Teil. Zum Verständnis der Form Kommerells Aufsatz Faust II. Teil. Zum Verständnis der Form wird 1937 in zwei Heften der Zeitschrift Corona veröffentlicht.57 Im Vorfeld bittet ihn der Herausgeber Herbert Steiner, seine Gedanken über Faust schriftlich auszuarbeiten. Am 16. März 1936 schreibt Steiner: „Wir hoffen so sehr auf eine längere Arbeit von Ihnen, [...] über den Faust. [...] Wenn Sie nun in die Rundschau und ins [sic] Innere Reich schreiben, vergessen Sie darüber, bitte, die Corona

56 Kommerell würdigt selten andere Wissenschaftler, in diesem Text wird jedoch Konrad Burdach gelobt: „In einer meisterhaften Quellenstudie hat Konrad Burdach die vier grauen Weiber aus der antiken Literatur hergeleitet“ (GB 81). 57 Kommerell, Max: Faust II. Teil. Zum Verständnis der Form, in: GB, S. 9–74 [erstmals in: Corona 7 (1937), H. 2, S. 207–232 und H. 3, S. 366–395].

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nicht, die herzlich und lange Ihrer wartet“.58 Kommerell antwortet darauf in einem undatierten Brief erst nach Abschluß des Sommersemesters 1936: „Ich habe vielleicht noch 14 Tage durch einen studentischen Schrieb besetzt vor mir, dann aber längere ruhige Zeiten. Es ist nur dumm, daß ich verbraucht und unergiebig bin. Ich will mich aber aus diesem gottlosen Zustand tunlichst aufraffen und glaube Ihnen einen II. Faust Aufsatz versprechen zu können. Es ist aber unmöglich, ihn unter 45 Druckseiten zu halten. Sonst wäre er ruinenhaft überkoncentriert, oder aber nur partiell gültig, und davon haben wir beide nichts“.59 Er schickt daraufhin zuerst einen Teil an die Zeitschrift, der umgehend abgedruckt wird. Später liefert er für das darauffolgende Heft weitere Ausführungen nach, die dann als zweite Hälfte erscheinen. Daraus erklärt sich die überdimensionierte Länge des Aufsatzes und der relative Bruch in der Mitte. Die beiden Hälften werden 1940 zusammengeführt und als Auftaktaufsatz in Geist und Buchstabe der Dichtung (GB) veröffentlicht. Daß Kommerell diese umfangreiche Studie über den Formaufbau verfaßt, ist also auch auf den Druck des Zeitschriftenherausgebers zurückzuführen. Hier zeigt sich wieder das Ineinander von Institutionen- und Konzeptebene der Wissenschaftsgeschichte. Gert Mattenklott hat im Jahr 1999 diesen Aufsatz als Beispiel für einen grundlegenden Text der deutschen Literaturwissenschaft angesehen und den individuellen Stil Kommerells beschrieben: „Der Essay über den Zweiten Faust provoziert [...] durch mehrfache Rücksichtslosigkeit, Nachlässigkeit in puncto philologischer Begriffsbildung und Beweisführung, unakademisch in der Verschränkung von historischer Philologie und Kunstkritik, höchst anspruchsvoll schließlich, indem er das Verständnis der Kunstformen unmißverständlich an die Wahrnehmung der lebendigen Erfahrung bindet“.60 Mattenklott betont damit zum einen Kommerells Überschreitung der akademischen Konventionen, zum anderen seinen Modernitätsgehalt. An diesem Aufsatz lassen sich die wichtigsten Kennzeichen der Interpretationsmethode herausarbeiten, die Kommerell seit Mitte der 1930er Jahre anwendet. Da diese Methode durch eine Hinwendung zum Text gekennzeichnet ist und Beobachtungen über Inhalt und Form entwickelt, wird sie in der vorliegenden Arbeit als Verfahren der textnahen Beobachtungen bezeichnet.

58

DLA Marbach, Brief Herbert Steiner an Kommerell vom 16.03.1936, Nachlaß Kommerell, A: 84.1645/2. 59 DLA Marbach, Brief Kommerell an Herbert Steiner o. D., Nachlaß Steiner, A: 74.3642. Vgl. auch den Kommerell-Steiner-Briefwechsel zwischen 1934 und 1939 im Stefan George Archiv (StGA), Max Kommerell II, 1601–1632. 60 Mattenklott, Grundlagen, S. 137. Zur Rezeption siehe auch F[echter], P[aul]: Max Kommerell gestorben, in: DAZ (Berlin), Nr. 210 vom 01.08.1944.

V.2 Kommerells Goethe

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Aufschlußreich für dieses Verfahren sind schon die einleitenden Sätze des Form-Aufsatzes: Was sich Goethe beim Zweiten Faust im ganzen und einzelnen gedacht haben mag, getrauen sich die folgenden Zeilen nicht zu ermitteln. Sie teilen die Wirkung dieses Gedichts auf einen jetzt lebenden Menschen mit. Jeder Zug an einem Werk ist angewiesen auf Bedingungen des Deutens, die sich in irgendeinem Lebenden erfüllen. Das wachsende Kunstverständnis ist die Geschichte solcher Wirkungen auf Einsichtige. Ihrer keine ist ausschließend, jede wesentlich, wenn auch in Abständen. Ist ein Werk als Dichtung symbolisch, als Urkunde aufregend, so ergänzt sich seine Wirkung Jahr um Jahr und Mensch um Mensch. Wer selbst Vergleichbares erfuhr, überliefert anderen einen Schlüssel. Das Werk ist unerschöpflich. Es verwandelt sich mit den Zeiten, unabhängig von dem, was es im Bewußtsein des Dichters war. Und da sein Sinn es selber ist, wird es nie zu Ende begriffen sein. Zweifel an der Deutbarkeit des Zweiten Faust vertreibt Goethe keineswegs, wenn er sich in fast neckenden Äußerungen dem fragenden Eckermann entzieht. Sehr vieles ist deutbar, und nur auf eine Weise. Anderes reizt zum Deuten, bleibt aber mehrdeutig. Wieder anderes spielt mit sich selber in der Unbedürftigkeit der dichterischen Bilder und in der Flucht der Beziehungen; es ist sinnig, doch es hat keinen Sinn. (GB 9f.)

Hier stellt Kommerell die Wirkung des Faust ins Zentrum seiner Untersuchung und entwickelt Ansätze einer Rezeptionsästhetik. Seine Deutungsrichtung erstreckt sich von der Dichtung über Werk und Wirkung bis hin zur Kunst. Er vertritt die teleologische Vorstellung, daß das Kunstverständnis mit zunehmender Dauer der Deutungen, die auf das Leben bezogen werden, wachse. Die Deutungshoheit des Interpreten stellt er mit der Metapher eines Schlüssels dar, der unter einfühlsamen Interpreten weitergegeben werde. Er sieht den Text nicht als statisch, sondern als im Lauf der Zeit wandelbar und daher unerschöpflich an. Darin zeigt sich seine Vorstellung von der Beschaffenheit dichterischer Schriften und der Aufgabe des Interpreten. Das Verfahren der textnahen Beobachtungen bedeutet im Fall Kommerells, daß Form und Inhalt zusammengebracht, Versmaße untersucht und ältere Textfassungen bei der Deutung miteinbezogen werden. Vom Text ausgehend werden die Beobachtungen abstrahiert und grundsätzliche Aussagen über Kunst und Leben getroffen. Kommerells Verfahren basiert auf einer älteren und voraussetzungsreichen Praxis der Rückkehr zu formalanalytischen Interpretationsansätzen.61 Zu den textnahen Beobachtungen, die sich dem poetischen Text ohne geistes- oder ideengeschichtliche Prämissen nähern, gehört die intensive Beschäftigung mit dem formalen Aufbau: „Diese Wiederaufnahme wäre im Sinn des bisherigen Dramas vom sachlichen Zusammenhang und von der baulichen Einheit ge-

61

Dazu siehe Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Tübingen/Basel 201992, S. 18–24, 271–329 u. 420–428.

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fordert worden. Sie fällt weg; ein unendlicher Ausblick ersetzt die abschließende Wölbung und gibt die Ursächlichkeit des Geschehens preis“ (GB 33). Kommerell arbeitet einen „Formplan“ des Faust II heraus (GB 36). Sein erster Schritt bei der Formanalyse ist die Einteilung der Akte in Daseinskreise: „Fast in jedem Akt wird die Idee seines Daseinskreises polarisiert. Erster Akt: Geselliges und Dämonisches. Zweiter Akt: Geistiges und Kosmisches. Dritter Akt: Antikes und Modernes. Fünfter Akt: Selbsthilfe und Wirkung von oben“ (GB 40). Die Daseinskreise werden durch Einschnitte voneinander abgegrenzt: „Indem diese Einhalte [= Zäsuren] Faust zum Symbol der Person verallgemeinern, bringen sie die Metaphysik dieser sonst weltlichen Dichtung zutage, freilich mehr im psychologischen als im transzendenten Raum“ (GB 65). Die Form wird also durch „Zäsuren“ (GB 73), die für die Deutung der Dichtung relevant sind, strukturiert.62 Mit dem Verfahren ist das Eingehen auf verschiedene Textfassungen verbunden: „Es gibt einen Entwurf (Inhaltsangabe für Dichtung und Wahrheit), wo vom Inhalt des Zweiten Aktes nicht die Rede ist, geschweige denn von der Homunculus-Handlung“ (GB 34).63 Kommerell, der eine ‚perfektibilistische‘ Faust-Deutung verfolgt (GB 19),64 prognostiziert, daß „wohl nach früheren Entwürfen Fausts Träume wirklich auf der Bühne gespielt werden sollten“ (GB 67). Über die Paralipomena kann er die Ausgestaltung der Figuren nachvollziehen: „Wenn man die Paralipomena mit den EckermannGesprächen vergleicht, so dachte Goethe den Homunculus ursprünglich viel karger auszustatten“ (GB 42). An vielen Stellen, besonders wenn er die Einflüsse des Mysterienspiels auf Faust untersucht, thematisiert Kommerell den spanischen Dichter Calderón de la Barca, mit dem er sich zeitgleich intensiv beschäftigt (vgl. Kap. IV u. VI).65 Er hebt den Zusammenhang mit dem Weltspiel hervor: In mehr volkstümlicher Form hat die christliche Dramatik schon im Mittelalter solche Spiele hinfälliger Begebenheiten und tiefernsten Grundes ausgebildet. Künstlerisch haben sie ihren Abschluß gefunden in Calderons Autos sacramentales. Goethe verweltlicht, aber ohne Zweifel trägt der Entwurf seines Dramas deutlich die Spur Calderons, dessen dramatisches Denken ihm jedoch die Comedias, nicht die Autos überbrachten. (GB 30)

62

Vgl. GB 73f.: „Indem diese Zäsuren die Form deuten helfen, helfen sie auch die Dichtung deuten; denn sie sind mehr als ein Formbegriff, sie enthalten eine Ansicht des Lebens, die über seinen Verlauf hinausträgt: die kosmisch-rhythmische Lebensansicht gegen die biographisch-fortschreitende der Romane“. 63 Vgl. auch GB 33, 50, 61 u. 66. 64 Zur Herkunft des Begriffes siehe Böhm, Wilhelm: Faust, der Nichtfaustische, Halle/S 1937. 65 Vgl. auch GB 14, 15f., 18, 19, 34, 35, 40, 61, 62 u. 63.

V.2 Kommerells Goethe

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Mit der Kontextualisierung verfolgt er ein doppeltes Anliegen. Zum einen betont er Calderóns Einfluß, zum anderen wertet er Goethes Antikerezeption ab: „Man tut gut, den Anteil der Antike an der Faustdichtung vorsichtig zu bemessen. [...] Es ist also klar, was man in dem Ganzen zu sehen hat: ein verweltlichtes Mysterium“ (GB 31). Durch den Einfluß Calderóns, der sich bis auf das Versmaß erstreckt, gewinnt das Drama ‚barocke‘ Züge: „Bedeuten schon die calderonischen Trochäen eine barocke Gegenwart, so ändern zwei neue Formsprachen die ganze Aussicht: Reim und Musik“ (GB 61). Kommerell hatte sich Calderón angenähert über Hofmannsthal, der ihm durch Heinrich Zimmer vermittelt worden war (vgl. Kap. IV). Wenn Kommerell die Antwort des „Bewußtsein[s] auf die Vorgänge im Unbewußten“ untersucht, geht er – wie schon im Kleist-Aufsatz und in der Lyrik-Rezeption – auch im Form-Aufsatz den Interessen Zimmers nach (GB 72f.).66 Kommerells textnahe Beobachtungen verbleiben nicht immanent, sondern suchen Abstrahierungen. Häufig zeigt sich dies in einem allgemeinen Bezug der Kunst auf das Leben: „Das erste hieß: Gesellschaft, aus sich selber Kunst werdend; das zweite heißt: Gesellschaft der Kunst begegnend. [...] Kunst in die Tiefe gedacht führt hier nicht zum Dämonischen, sondern zur Form als Gesetz des Naturschaffens. Zu Dämonischem führt erst die Berührung von Kunst und Leben. Der Künstler, der einem Hofe das diesem erreichbare Kunsterlebnis verschafft, erliegt selbst einem tieferen und wird Opfer seiner Magie“ (GB 54). Die Maske funktioniert als Instrument, um die Kunst auf das Leben zu beziehen, denn die „Selbstdeutung des Lebens in der Maske erreicht weder die Strenge der Kunst noch die Heftigkeit der Dämonie“ (GB 53f.). Kommerell betont das „Vermögen der Kunst, Gedachtes zu vergegenwärtigen“ (GB 54), da die Vergegenwärtigung des Vergangenen eines seiner zentralen Anliegen ist. Für die hier untersuchte Frage nach Kommerells Individualität als Wissenschaftler ergeben sich verschiedene Folgerungen. Aufgrund der über Zimmer vermittelten Calderón-Rezeption bewertet er den Einfluß von Calderón auf Goethes Faust deutlich stärker als die meisten Faust-Forscher. Kommerells literaturwissenschaftliche Methode besteht im Verfahren der textnahen Beobachtungen. Ein zentrales Element davon ist die Analyse des formalen Aufbaus, wie sich an dem Aufsatz über das Verständnis der Form besonders anschaulich zeigt. iii) Die letzte Szene der Faustdichtung. Ein Interpretationsversuch Mit dem Schluß des Faust-Dramas beschäftigt sich Kommerell in der Untersuchung Die letzte Szene der Faustdichtung. Ein Interpretationsversuch, die

66 Vgl. auch GB 51 u. 68.

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1940 in der Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur veröffentlicht und erst in die zweite Auflage der Aufsatzsammlung Geist und Buchstabe der Dichtung von 1942 aufgenommen wird.67 In dem Aufsatz deutet er Fausts ‚Erlösung‘. An dieser Untersuchung läßt sich zeigen, wie sich in Kommerells Studien das Verfahren der textnahen Beobachtungen, das im vorangehenden Abschnitt skizziert wurde, durchsetzen. Der Untertitel Interpretationsversuch benennt sogar das neue methodische Vorgehen explizit. Eine der zentralen Aussagen ist die Deutung der letzten Szene als Verwandlung: „Nur sehr notdürftig erfüllt also diese Szene noch ihre ursprüngliche Aufgabe, mit dem Prolog im Himmel die ganze Dichtung zu umklammern und dieser Himmel ist dem Anfangshimmel der legendären Vorstellungsweise wenig mehr verwandt“ (GB 112f.). Als Ergebnis der letzten Szene resümiert Kommerell: „Gezeigt ist also in dieser letzten Szene, wie der Prozeß der Materialisation einer Entelechie durch Eros als kosmische Naturgewalt [...] rückgängig gemacht wird durch die ‚ewige Liebe‘“ (GB 117). Die Forschungskritik ist ein Grundzug, der ebenfalls den Letzte SzeneAufsatz durchzieht: „Man hat sich bisher in den Faustkommentaren begnügt, die Verse: ‚Das Unbeschreibliche Hier ist es getan‘ als einen Hinweis auf den mystischen Charakter der die gesamte Faustdichtung abschließenden Szene aufzufassen, ohne zu fragen, was eigentlich der unbeschreibliche Vorgang ist, der in dieser Szene vollzogen wurde“ (GB 112). Er unterstellt den früheren Forschungen insgesamt unpräzise Fragestellungen: „Freilich hat man auch hinsichtlich der Prozesse, die in anderen Akten oder Szenen dargestellt sind, nicht scharf genug gefragt“ (GB 361). Im Abdruck in Geist und Buchstabe der Dichtung 1942 werden einige Stellen der älteren Fassung gestrichen. Dabei fällt auf, daß gerade die Stellen gestrichen werden, die Elemente einer geistesgeschichtlich ausgerichteten Literaturwissenschaft aufweisen. Kommerells Verfahren der textnahen Beobachtungen setzt sich also durch. Das zeigt sich u. a. in der Häufung des Begriffes ‚Auslegung‘: „wir sind keineswegs bloß angehalten, fromm zu erschauern, sondern vom Wort auf die Sache zu schließen, wie es dem Ausleger eines Textes obliegt“ (GB 113). Kommerell stellt dem Interpreten die Aufgabe, „die eigentliche Auslegung unserer Szene“ vorzunehmen (GB 115). Neben den Begriffen ‚Auslegung‘ und ‚Interpretation‘ wird der Begriff ‚Deutung‘ zunehmend verwendet (vgl. GB 126). Die Durchsetzung der neuen Methode zeigt sich außerdem in der Veränderung von Begrifflichkeiten. Im Erstdruck steht noch: „[...] der Philologe

67

Kommerell, Max: Faust II letzte Szene, in: GB, S. 112–131 [erstmals als: Die letzte Szene der Faustdichtung. Ein Interpretationsversuch, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 77 (1940), H. 2/3, S. 175–188].

V.2 Kommerells Goethe

223

soll. Das wäre mit wenigen Sätzen getan, wenn nicht vorher einige Voraussetzungen herzustellen wären. Denn man sollte einen Text nicht auslegen, ehe man das Ganze, dessen Teil dieser Text ist, als Form zu begreifen suchte“ (GB 361f.). Der „Philologe“ wird im Wiederabdruck ersetzt durch: „[...] dem Ausleger eines Textes obliegt“ (GB 113). Dadurch wird die Aufgabe des Philologen mit der Tätigkeit des Auslegens verbunden. Zum Verfahren der textnahen Beobachtungen, das auch nicht frei von inneren Widersprächen ist – man bedenke das Problem des hermeneutischen Zirkels und die Aporie der terminologischen Kategorienbildung –, gehört ebenfalls das Verhältnis von Inhalt und Form, denn „die Textinterpretation [muß] ergänzt werden durch einen Hinweis auf das große Gefüge des Werks und seiner Form“ (GB 116). Mit Inhalt und Form ist das Verhältnis von Teil und Ganzem verbunden: „Ist also die Auslegung des jeweils dargestellten Prozesses aus dem einzelnen Akt zu erfragen, so ergibt sich aus allen zusammen die Auslegung des Gesamtprozesses, der mit der unter dem Namen Faust dargestellten Gesamtfunktion zusammenfällt“ (GB 367). Hatte Kommerell eine Stelle aus Jean Pauls Titan in einen dramatischen Dialog umgestaltet und damit die Grenze zwischen Wissenschaft und Dichtung überschritten (vgl. Kap. III), so formuliert er hier Goethes Verse in Prosa: Zuerst zitiert er „Wenn starke Geisteskraft [...]“ und dann anzufügen: „In Prosa aufgelöst: hat einmal die starke, in der Person tätige, streng immaterielle Potenz zu ihrer Organisation die Lebensstoffe an sich herangerafft, so ist [...]“ (GB 116). Für die Ausgangsfragestellung dieser Arbeit ergibt sich, daß der Letzte Szene-Aufsatz auch anhand des Wandels der Begrifflichkeiten zeigt, wie sich das Verfahren der textnahen Beobachtungen in Kommerells Studien durchsetzt. Nun dominieren Begriffe wie Deutung, Auslegung und Interpretation – letzterer wird sogar in den Titel aufgenommen. In seinen Lyrik-Interpretationen (vgl. V.2.1) hebt Kommerell besonders Goethes Paria-Trilogie hervor, da er durch Zimmer Zugang zur indischen Mythologie findet. Auch im Letzte Szene-Aufsatz thematisiert er den PariaStoff: „die Liebe, die ganz in derselben Funktion auch Goethes gewaltiger Pariadichtung innewohnt“ (GB 119). Demzufolge spricht er den Gott und die Bajadere an: „Man fühlt sich an das Wort der Parialegende erinnert: ‚Denn Verführung kommt von oben‘. Deren ganzen Ideenkreis, der auch in diesem Gebet und früher in den beiden Balladen ‚Der Gott und die Bajadere‘ und ‚Die Braut von Korinth‘ vorgetragen ist, könnte man mit ‚Rechtfertigung des Eros‘ benennen“ (GB 124). Er vergleicht sogar den Szenenaufbau des Faust mit dem Paria-Gedicht: „Die Form der Szene erinnert auffallend an die Paria-Trilogie, die eine Dreiheit von Gebet, Gebetserfüllung durch eine Wunderbegebenheit, und auslegendem Dank zusammenfaßte zu einer Kulthandlung. Hier wird das eigentliche Mysterium vorbereitet durch eine

224

V. Die Goethe- und Kleist-Rezeption im Dialog mit Zimmer (1931–1943)

Reihe analoger oder vermittelnder Vorgänge; dann stellt es sich selber dar; und schließlich wird es ausgelegt in anbetenden Worten“ (GB 131). Damit zeigt sich eine Überbetonung derjenigen Lyrik, die Indien behandelt. Das bedeutet, daß nicht nur Kommerells Kleist ein „durch Kommerell gemilderter Zimmer[scher]“ Kleist ist, sondern auch sein Goethe. Betrachtet man die Kleist- und Goethe-Rezeption insgesamt, so wird der große Einfluß von Zimmer auf Kommerells gesamte Schriften deutlich. Zimmer führt ihn zu Hofmannsthal und Calderón, interveniert gegen sein lyrisch-hymnisches Sprechen über Dichtung und bringt ihn zur Modifikation seiner Ansichten über Kleist und Goethe. An die Stelle von pathetischen Heroisierungen treten differenzierte Beobachtungen. Kontingente Vortragsangebote, wie die Vorlesungen an den Städtischen Bühnen Frankfurts, bestimmen Kommerells Gegenstandswahl für Publikationsthemen. Zudem zeigt sich im Verlauf der Goethe-Rezeption sein neues Wissenschaftskonzept: Zuerst steht eine Distanzierung von eingeführten Konzepten wissenschaftlichen Arbeitens, die hier am Aufsatz Jugend ohne Goethe dargestellt wurde. Sie richtet sich gegen eine positivistische Literaturgeschichtsschreibung. Von der Ablehnung einer herkömmlichen Wissenschaft geht Kommerell über zur essayistischen Verbindung von Kunst und Wissenschaft, also zu einer Wissenschaftskunst, die sich durch die Form der sprachlichen Darstellung und durch ästhetisches Einfühlungsvermögen auszeichnet. Die Wissenschaftskunst wird im Verfahren der textnahen Beobachtungen umgesetzt, das in der Hinwendung zum Text, der Auslegung der sprachlichen Feinheiten und der Analyse des formalen Aufbaus begründet liegt. Damit nimmt Kommerell zentrale Momente der Ausbildung eines spezifischen Aufmerksamkeitsverhaltens im Umgang mit Texten vorweg, das später das Label ‚werkimmanente Interpretation‘ erhalten und zu den wichtigsten kognitiven Innovationen der deutschen Literaturforschung seit den 1930er Jahren aufsteigen wird. Die Entwicklung dieses Verfahrens seit Mitte der 1930er Jahre läßt sich anhand der Faust-Studien besonders anschaulich darstellen. Weitere Merkmale zeigen sich in den Studien über europäische und außereuropäische Literatur, die im nächsten Kapitel erläutert werden.

VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘ im Dialog mit Ernst Robert Curtius, Fritz Schalk und Werner Krauss (1934–1944) Goethe, Kleist, Jean Paul, Hofmannsthal – ist damit das Œuvre der nachgeorgeanischen Studien Kommerells erschöpfend beschrieben? Mitnichten, denn sein Interesse dehnt sich sogar bis auf das Gebiet der ‚Weltliteratur‘1 aus. Daher stehen nun Fragen im Vordergrund, wie Kommerell den Bereich der Literatur insgesamt wahrnimmt, wie weit seiner Auffassung nach sein eigenes Fach reicht und wie Grenzüberschreitungen zu anderen Fächern funktionieren. Romanistische Kollegen nehmen Funktionen als Vermittler ein. Vor dem Hintergrund von Kommerells Faszination für das symbolische Theater ist die Auswahl der Länder, deren Literatur er nun intensiv rezipiert, bezeichnend. Wie er sich gar die fremdartigste außereuropäische Literatur im Medium der Vergegenwärtigung aneignet, ist abschließend zu klären. Für diesen Lebensabschnitt sind Kommerells Vertretungsprofessuren in Bonn 1934, Gießen 1935/36 und Köln 1938/39 von zentraler Relevanz, da durch den Austausch mit den dort lehrenden Romanisten die Rezeption der ‚Weltliteratur‘ angekurbelt wird. Damit, so die Hypothese, ist Kommerells Abwanderung in ein anderes Fach auch eine Reaktion auf die bisher ausbleibende Berufung. Da die Arbeiten, die in den letzten Lebensjahren vorgenommen werden, eine Vollendung des in den 1930er Jahren Begonnenen darstellen, hält die Rezeption der ‚Weltliteratur‘ bis zu Kommerells Lebensende an. Überhaupt sinke ich immer mehr meinem Kebsweib, der Romanistik, in die Arme, meine Legitime redet zu viel von sich.2

Mit dieser Aussage spielt Kommerell auf eine NS-Germanistik an, die Dichtungen deutscher Autoren wie Hölderlin und Goethe ausschließlich auf na-

1

2

Zum nicht unproblematischen Begriff der ‚Weltliteratur‘ siehe Birus, Hendrik: Am Schnittpunkt von Komparatistik und Germanistik: Die Idee der Weltliteratur heute, in: Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993, hrsg. v. Hendrik Birus, Stuttgart/Weimar 1995, S. 439–460 und mit Auswahlbibliographie Walstra, Kerst: Eine Worthülse der Literaturdebatte? Kritische Anmerkungen zum Begriff Weltliteratur, in: Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven, hrsg. v. Manfred Schmeling, Würzburg 1995, S. 179–212. Brief Kommerell an Karl-Gustav Gerold vom 01.05.1942, BA 33.

226

VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

tionale Motive hin deutet. Sein Motiv bei der Aneignung fremdsprachlicher Literatur ist eine Ausweichbewegung von der Germanistik in die Romanistik und Komparatistik. Die Rezeption der europäischen und außereuropäischen Literatur vollzieht sich im Austausch mit anderen Wissenschaftlern, vor allem mit Romanisten. Seine Auseinandersetzung mit fremdsprachiger Literatur findet in wissenschaftlichen Abhandlungen und in Übersetzungen statt. Deshalb werden sein übersetzungstheoretischer Ansatz und seine Übersetzungspraxis diskutiert. Der Reihenfolge der Intensität von Kommerells Rezeption entsprechend, wird die Beschäftigung mit spanischsprachiger Literatur zuerst behandelt: Calderón de la Barca ist der Dichter, den er am intensivsten rezipiert, Cervantes wird in zwei Aufsätzen thematisiert. Daran schließen sich die Rezeption italienischer Literatur, die weniger umfangreichen Äußerungen über französische und englische Literatur und schließlich die Rezeption außereuropäischer Literatur mit dem Schwerpunkt Japan und China.

VI.1 Kommerell als Übersetzer Im folgenden werden zuerst Kommerells Äußerungen, die übersetzungstheoretische Fragen betreffen, in den Blick genommen, um seine Vorstellung einer Übersetzungstheorie zu skizzieren. Im zweiten Schritt wird die Praxis seines Übersetzungsverfahrens vorwiegend am Beispiel der Calderón-Übersetzungen dargestellt. Danach ist auf die Wirkung seiner Übersetzungen auf der Bühne einzugehen. VI.1.1 Der übersetzungstheoretische Ansatz Kommerell hat keine geschlossene Übersetzungstheorie ausformuliert, gibt aber vereinzelt Hinweise auf sein Verständnis des Übersetzens. In einem Brief an den österreichischen Dichter und Übersetzer Rudolf Alexander Schröder (vgl. Kap. IV) vom 26. März 1938 bezieht er sich auf die Sophokles-Übersetzungen von Roman Woerner aus dem Jahre 1937 und hebt die Bedeutung des Stils hervor: „Man kann eben nicht einfach übersetzen, sondern muß den Stil creieren, als Tonart des Ganzen – wie sie bei einer so stark rhetorischen Dichtung, wie eine antike Tragödie es ist, gefunden sein muß, um das einzelne in so gesteigerter Weise sagen zu können. Ich habe mich nie wieder dran gewagt, dies kleine Bruchstück 3 von viel früher fortzusetzen. Bei Calderon fühl ich

3

Vgl. Kommerell, Max: Übertragungen aus der Elektra des Sophokles, in: Werke und Tage. Fs. für Rudolf Alexander Schröder, hrsg. v. Ernst L. Hauswedell u. Kurt Ihlenfeld, Berlin/Hamburg 1938, S. 88–91.

VI.1 Kommerell als Übersetzer

227

mich sicherer, aber es ist so maßlos aufreibend, schlafraubend und neben andern Arbeiten kaum zu machen“ (BA 340). Seine Übersetzungsprogrammatik liegt hier in der Kreation eines Stils, die ihm besonders bei Calderón gelänge – aufgrund seiner Vertrautheit zu dessen „Menschengefühl“ (KB 2). Neben „innerer Musik“4 soll auch „die Tonart des Ganzen“ (BA 340) wiedergegeben werden, so daß er den Akzent nicht auf die inhaltliche, sondern auf die sprachliche und klangliche Seite legt. Sein übersetzungstheoretischer Ansatz läßt sich ebenfalls aus einem Brief an Karl Reinhardt vom 3. September 1943 rekonstruieren, in dem er Stellung zu dessen Antigone-Übersetzung nimmt:5 Die Übersetzung ist durchaus individuell, das heißt in meinem Sinn: sie lebt. Sie ist in einer Sprache geschrieben, die keinerlei Surrogat und Scheidemünze kennt und sowohl über das gängig Poetische wie über die Vereinbarungen des Klassischen kühn hinweggeht. Man spürt Zeile um Zeile nicht nur die neue und große Auslegung, sondern den Glauben an das Moderne dieser Tragödie: daß die auch unter veränderten Voraussetzungen noch zu erfahren ist. Und so sind ihr auch die äußersten Seelenbewegungen zugetraut, nicht ein ‚anderes‘ historisch rekonstruierbares Pathos, sondern das Pathos mit einer nie veraltenden Sprache.6

Kommerell erwartet von einer Übersetzung, daß sie von der Aktualität des Stoffes ausgehe und einen Willen zur Vergegenwärtigung besitze. Dieser Ansatz zeigt sich außerdem in den Vorbemerkungen zum Kaiserlichen Blut (vgl. Kap. IV)7 und Der wundertätige Magus: „Die Absicht dieser Versuche ist, den Charme und die innere Musik Calderonscher Szenen möglichst unabgeschwächt zu vergegenwärtigen“.8 Eine Vergegenwärtigung bedeutet für ihn die Möglichkeit, einen alten, scheinbar fremden Stoff unter gewandelten Bedingungen neu zu erfahren. Somit erkennt er im alten Stoff einen gesteigerten Gefühlsausdruck im Medium der ständig aktuellen Sprache. Der Ablehnung moderner Charakterdarstellungen (vgl. Kap. IV) entspricht im Brief an Reinhardt die Wendung gegen eine individualisierte Sprache: Sie sind sehr weit gegangen in einer mitunter fast Shakespearischen Individualisierung der Sprechweise, und in dem stoßweisen, oft grell-kahlen, und kargheftigen, aber immer affectbeladenen Ausdruck: Einsamkeit, Innerlichkeit, Eindruck, Bewußtsein überhaupt – und offenbar nicht, weil Sie das haben wollen, sondern weil Sie es, mit ihrem unglaublichen Gehör, vorfinden. Bei den Chören bin ich erstaunt,

4 5 6 7 8

Kommerell, Max: Übertragungen aus Calderon. Der wundertätige Magus, Das Leben ist Traum, in: NR 47 (1936), H. 5, S. 449–463, hier: S. 449. Gemeint ist Reinhardt, Karl: Antigone. Mit griechischem Text [1943], Göttingen 61982. DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 03.09.1943, Nachlaß Kommerell, A: 56.378. Vgl.: Die dramatische Sinnlichkeit „scheint fremd und entlegen; aber bei näherem Zusehen ergeben sich unerwartete Gleichungen zu unserem Menschengefühl“ (KB 2). Kommerell, Übertragungen, S. 449.

228

VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

wieviel Sie erreichen durch das einfache Bestehenlassen: da die (vermeintl.) Wiedergabe der Rhythmen zum Reimen und Drechseln zwingt, haben Sie dafür ein reines Deutsch das sich damit begnügt, die hier vorrätigen dichterischen Assoziationen einfach wirken zu lassen.9

Ein anderes Anliegen Kommerells ist die Wiedergabe des Verses. Deshalb stellt er Reinhardts Blankversübersetzung vorsichtig in Frage: „Daß Sie in Blankversen übersetzen, ist, wenn man die Übersetzung sieht, vollkommen zwingend. Dahinter aber, daß Sie dies durch objective Begründung allverbindlich machen, möchte ich ein leises und schüchternes Fragezeichen setzen. [...] Mein Gott, was läßt sich über Dichtung raisonnieren, und dazu hin noch ist es mein Beruf...“.10 In dem Aufsatz Der Vers im Drama begründet er theoretisch, warum er den Vers der Prosa vorziehe:11 „Diese sinnlich-geistige Einheit eines ganzen Dramas liegt im Vers, der viel mehr mit Sinnlichem, mit Mimischem, mit Atmosphärischem, mit Stil getränkt ist als die Prosa“.12 Auch wenn Kommerell sein theoretisches Programm nicht weiter ausgeführt hat, läßt sich seine Forderung, im Sinne Herders die „Tonart des Ganzen“ wiederzugeben (BA 340), in Beziehung mit der Übersetzungstheorie Stefan Georges und seines Kreises setzen. In der Übersetzungspraxis weicht Kommerell, der noch im August 1929 in Marburger Ferienkursen nicht mehr erhaltene Vorträge über George als Übersetzer gehalten hat,13 jedoch deutlich von seinem ehemaligen Lehrer ab. Ebenso sind die Verbindungen in der Übersetzungstheorie grundsätzlich vorhanden, aber an einzelnen Stellen gibt es Unterschiede. George fordert in der Vorrede zur ersten Auflage von Dante · die Göttliche Komödie · Übertragungen: „Der Verfasser dieser übertragungen dachte nie an einen vollständigen umguss der Göttlichen Komödie: dazu hält er ein menschliches wirkungsleben kaum für ausreichend. [...] Was er aber fruchtbar zu machen glaubt ist das dichterische · ton bewegung gestalt: alles wodurch Dante für jedes in betracht kommende volk (mithin auch für uns) am anfang aller Neuen Dichtung steht“.14 Kommerell und George stimmen darin überein, daß die Wiedergabe des Tons und des Stils wichtiger ist als die des Inhalts. Außerdem zeigt sich ein ähnlicher Ansatz in Kommerells

9 10 11 12 13 14

DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 03.09.1943, Nachlaß Kommerell, A: 56.378. Ebd. A: 56.378. Zu Kommerells Überlegungen zum Vers siehe auch Pickerodt, Gerhart: Kommerells Philosophie des Verses, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 194–206, hier: S. 201. Kommerell, Vers, S. 153. Vgl. Universitätsarchiv Frankfurt, Pers.-Akte Kommerell, Bl. 78. George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden, bearb. v. Georg Peter Landmann u. Ute Oelmann, Bd. X/XI: Dante, Die Göttliche Komödie: Übertragungen, Stuttgart 1988, S. 5.

VI.1 Kommerell als Übersetzer

229

Versuch, das Original zu „vergegenwärtigen“,15 und in Georges Absicht, das Dichterische „fruchtbar zu machen“.16 Das Verständnis einer „nie alternden Sprache“17 bei Kommerell ist ebenfalls auf die Vorstellung von George zu beziehen, nach der die Sprache nicht als Träger eines Sinns, sondern als Form, Bewegung und geschichtlich gewordenes Material die Zeiten überdauere.18 Außerdem läßt sich Kommerells Auffassung, daß sich in einer individuellen Übersetzung die Sprache durch Leben auszeichne, in einen Zusammenhang mit Georges Ansicht der Sprache als Bewegung stellen. Obwohl Kommerell mittels seiner Calderón-Bearbeitung Kritik an George äußert (vgl. Kap. IV), ist er in seiner Übersetzungsprogrammatik mit dessen Ansatz in Verbindung zu bringen. Das spricht wiederum für das starke Nachwirken von Georges Einfluß.19 Vom Begriff der ‚Bewegung‘ aus läßt sich eine weitere Verbindung zu der Übersetzungstheorie von Friedrich Gundolf, die im Umkreis Georges steht, herstellen. Gundolf legt in Shakespeare. Sein Wesen und Werk20 eine Interpretation der Dramen William Shakespeares und in Shakespeare und der deutsche Geist 21 eine Untersuchung zur Shakespeare-Rezeption von Lessing bis zur Romantik vor. In Shakespeare und der deutsche Geist erläutert er die Bedeutung der Bewegung für die Sprache: Die Sprache ist zugleich der Stoff und die Form des Geistes, sein Mittel und sein Element, sein Schicksal und seine Natur. Die Sprache jedes Volkes enthält seine Vergangenheit und umschließt seine Zukunft. Sie ist das Gefäss der allgemeinsten, ewigen Inhalte und zugleich der Ausdruck der individuellen, nie wiederkehrenden Bewegung des Augenblicks. [...] Und all das ist die Sprache der Bewegung. Nur als und durch Bewegung kann sie jede Gestalt verkörpern, versinnbildlichen. Ihre Wirklichkeit ist Bewegung, ihre Bedeutung Gestalt.22

15 16 17

Kommerell, Übertragungen, S. 449. George, Werke, Bd. X/XI, S. 7. DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 03.09.1943, Nachlaß Kommerell, A: 56.378. 18 Vgl. Apel, Friedmar/ Kopetzki, Annette: Literarische Übersetzung, 2. neu bearb. Aufl., Stuttgart/Weimar 2003, S. 95. 19 Allerdings grenzt sich Kommerell mit seinem Ansatz, Calderón zu vergegenwärtigen und einen ‚deutschen Calderón‘ zu schaffen, von Georges in der Vorrede zu Baudelaire · Die blumen des bösen · Umdichtung geäußerter Absage an die Einführung von ausländischen Schriftstellern ab: „Diese verdeutschung der FLEURS DU MAL verdankt ihre entstehung nicht dem wunsche einen fremdländischen verfasser einzuführen sondern der ursprünglichen reinen freude an formen“, George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden, bearb. v. Georg Peter Landmann u. Ute Oelmann, Bd. XIII/XIV: Baudelaire, Die Blumen des Bösen: Umdichtungen, Stuttgart 1983, S. 5. 20 Gundolf, Friedrich: Shakespeare. Sein Wesen und Werk, 2 Bde, Berlin 1928. 21 Gundolf, Friedrich: Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 1911. 22 Ebd. S. 351.

230

VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

In Gundolfs dynamischem Sprachbegriff zeigt sich eine Parallele zu Kommerells Sprachauffassung, die durch das Leben geprägt ist. Darüber hinaus liegt eine Gemeinsamkeit in der Dialektik von alt und neu, fremd und eigen. Kommerell will diesen dialektischen Gegensatz durch Vergegenwärtigung des Fremden auflösen.23 Bei beiden steht damit der Versuch, die literarische Tradition aufzugreifen und zu dynamisieren.24 VI.1.2 Übersetzungspraxis am Beispiel Calderóns Mit seinem Geistbegriff knüpft Gundolf an das Konzept der romantischen Übersetzungstradition an.25 Dem Konzept einer getreuen Wiedergabe folgt auch Kommerell, der den gesamten Text überträgt.26 Er behält Personen, Schauplätze und Handlung bei, lehnt sich in der Aufteilung von Dialog und Repliken eng an die Vorlage an und legt eine poetische Übertragung des Originals vor.27 Damit steht er in der Übersetzungstradition des CalderónÜbersetzers Johann Dietrich Gries, der neben August Wilhelm Schlegel der bedeutendste Vertreter der romantischen Übersetzungsmethode ist.28

23 Eine inhaltliche Gemeinsamkeit in der Wertung des Dramas liegt zwischen Kommerell und Gundolf in der Absage an ein psychologisch motiviert aufgefaßtes Drama, wie Gundolf in der Einleitung zu seinen Shakespeare Übersetzungen darlegte: „Die Hauptgefahr der psychologischen Suche bleibt eine falsche Einfühlung, indem eine heutige Erlebnisart, die weichlicher, kurzatmiger, nervöser und zärtlicher ist, in die Äußerungen der mächtigen Renaissance-Seele hineingerät, zumal wenn die Gestalt- und Formwahrnehmung schwächer entwickelt ist als die Nachempfindung von Geist- und Seelenerlebnissen“, Gundolf, Wesen, Bd. 1, S. 10. 24 Auch in seinem Roman Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern (vgl. Kap. IV) macht Kommerell eine implizite Äußerung über seine Vorstellung von Übersetzungstheorie: „Kurz vor diesem Einschnitt merkte man dem Inder eine gewisse Mühe an, während man vorher ganz vergaß, welch schwierige Arbeit er mit jedem Satz leistete. Englisch wie Deutsch sprach er gleich vollkommen, und wenn ein Unterschied in seiner Beherrschung beider Sprachen war, so dieser, daß er Englisch sprechend einen ausgebildeten Takt für den Sprachgebrauch zeigte, während sein Deutsch die Möglichkeit benutzte, in dieser Sprache aus ursprünglichem Begreifen eine eigene Wendung zu finden, ein Unterschied also, der beinahe mit den Sprachen selbst gegeben war“ (LT 49). Der Umgang mit den Sprachen muß also ihrer unterschiedlichen Beschaffenheit entsprechen. 25 Vgl. Apel/Kopetzki, Übersetzung, S. 94. 26 Die folgenden Ausführungen entwickeln Ansätze einer hervorragenden, von Hendrik Birus betreuten, aber leider unpublizierten Magisterarbeit von Susanne Wittlich Max Kommerells Calderón-Übersetzungen (München 1989) weiter, vgl. Wittlich, Übersetzungen, A: x, 90.6.1. 27 Vgl. Wais, Kurt: Calderón in Deutschland: Max Kommerell, in: ders.: An den Grenzen der Nationalliteraturen. Vergleichende Ansätze, Berlin 1958, S. 267–270, hier: S. 267; Briesemeister, Kommerell, S. 210; und: Wittlich, Übersetzungen, A: x, 90.6.1, S. 86. 28 Zur Einführung in die romantischen Übersetzungsmethode siehe Apel/Kopetzki, Übersetzung, S. 83–88 u.115ff.

VI.1 Kommerell als Übersetzer

231

Calderóns Drama zeichnet sich durch einen häufigen Wechsel des Verses aus. Es werden romances, redondillas, quintillas, décimas, silvas, octavas reales und sonetos verwendet.29 Kommerell bemüht sich, den Vers in der Übersetzung zu bewahren. Aufgrund der Beibehaltung des Verses und der Originaltreue ist deshalb für seine Übersetzung der Wechsel von Vers- und Strophenformen signifikant. Folgt Kommerell der romantischen Übersetzungspraxis in der Übertragung der Metrik, so verzichtet er hingegen auf die Nachbildung der Assonanz und auf die genaue Wiedergabe der Reimbindungen.30 Die spanische Sprache hat viele Möglichkeiten zur Bildung von Assonanzen, im Deutschen steht jedoch zur Formung einer zweisilbigen Assonanz als zweiter Vokal fast ausschließlich das -e zur Verfügung. Außerdem überdecken Konsonanten die Wirkung der Vokale. Im Vergleich zu Gries geht Kommerell mit der Vorlage freier um, da er nicht so sehr an der formalen Gestaltung, sondern stärker an der Wiedergabe von Calderóns Stil und „Charme“31 interessiert ist. Kommerells Übersetzungspraxis, die hier mit Bezug auf seine CalderónÜbersetzungen erläutert wird, ist in fünf Punkte zu gliedern: Übertragung der Form, Wiedergabe des Stils, Verwandlung der Metaphern, Nachbildung der klanglichen Sprachmittel und Beibehaltung der Stilvielfalt. Diese fünf Punkte werden nun mit Beispielen aus den Übersetzungen Die Tochter der Luft und Das Leben ist Traum veranschaulicht. Mit La hija del aire (1653) und La vida es sueño (1635) wählt Kommerell zwei für Calderóns Dramatik repräsentative Stücke. Er veröffentlicht 1936 und 1937 die ersten Auszüge aus seinen Calderón-Übersetzungen in der Zeitschrift Die Neue Rundschau. Die Calderón-Rezeption begleitet ihn seit Anfang der 1930er Jahre und findet ihren ersten großen Niederschlag in Das Kaiserliche Blut (vgl. Kap. IV). 1936 erwähnt er eine Sammlung von Calderón-Stücken; es mag also schon hier der Plan zur Übertragung mehrere Dramen bestanden haben: „Ich habe sogar ziemlich gearbeitet, vor allem an der Calderon-Anthologie. Es ist aber verteufelt schwer... es muß alles nur so rutschen, sonst ist’s nichts“.32 Im August 1936 beginnen die konkreten Übersetzungsarbeiten an Calderóns La hija del aire: „Die Tochter der Luft wird ernstlich begonnen; am schwierigsten ist aber die unternommene Arbeit am Faust II“.33 1938 arbeitet er bereits am zweiten Teil der Semiramis-Tragödie:

29 30 31 32 33

Vgl. Wittlich, Übersetzungen, A: x, 90.6.1, S. 27. Vgl. ebd. S. 87. Kommerell, Übertragungen, S. 449. DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 14.03.1936, Nachlaß Kommerell, A: 56.365. DLA Marbach, Brief Kommerell an Elly Reinhardt vom 01.08.1936, Nachlaß Kommerell, A: 84.1503/2. Dieses Zitat belegt, daß Kommerell nicht über Goethes Faust II, in

232

VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

„Dann die Tochter der Luft II aufgenommen; und endlich eine dichterische Arbeit, die mich aufregt und deren Gelingen oder Mißlingen ich mit Herzklopfen entgegengehe“.34 Kommerells Produktionsweise ist nicht auf eine rasche Vollendung seiner Arbeiten ausgerichtet. Er arbeitet nicht ausschließlich mit dem Ziel der Veröffentlichung, sondern findet einen Sinn allein im Akt der poetischen Produktion an sich, einschließlich der Möglichkeit des Abbrechens: „Ich habe wenig fertiges vorzuweisen, bin aber doch mit dem Arbeitsergebnis dieser Zeit zufrieden. [...] ich habe ein Stück Tochter der Luft, 2. Teil, übersetzt [...]. Die Lustspiele ließ ich auf sich beruhen. Dann hab ich noch ein Stück 2. Faust gemacht. Also nicht fertig. Aber’s braucht nicht immer was fertig sein“.35 Neben den Übersetzungen Das Leben ist Traum und Die Tochter der Luft wird 1946 in den Beiträgen zu einem deutschen Calderon eine Interpretation von Calderóns dramatischem Werk veröffentlicht (vgl. Kap. VI.2), deren Abschluß Kommerell Ende 1943 meldet: „Ich habe viel gearbeitet. Ein kleines Buch über Calderon, das zusammen mit meinen Übersetzungen gedruckt werden soll. Hoffentlich geht es noch“.36 Es gelingt ihm, die CalderónArbeiten fertig zu stellen, bevor der zunehmend schlechte Gesundheitszustand es verhindert: „Ich bin froh, meine Meinung über Calderon und einiges Dichterische noch zu Papier gebracht zu haben, denn jetzt kommt Krankheit über Krankheit“.37 Kommerells Übersetzung Die Tochter der Luft wird 1941 als unveröffentlichtes Bühnenmanuskript vom Bühnenvertrieb Steyer in Leipzig gedruckt38 und 1946 posthum als Band 2 der Beiträge zu einem deutschen Calderon (BC)39 veröffentlicht. Auszüge sind bereits in der Neuen Rundschau (1937) und in den Romanischen Forschungen (1941) erschienen.40

34 35 36 37 38

39 40

dem es einen Einfluß von Calderón gibt, zu Calderón gekommen ist. Dies ist falsch bei Holthusen, Klassik, S. 90 und Briesemeister, Kommerell, S. 207. DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 31.07.1938, Nachlaß Kommerell, A: 56.369. DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 07.09.1938, Nachlaß Kommerell, A: 56.370. Brief Kommerell an Hans Carossa vom 30.11.1943, BA 433. Brief Kommerell an Martin Heidegger vom 02.05.1944, zitiert nach Storck, Kommerell, S. 70. Kommerell, Max: Don Pedro Calderon de la Barca, Die Tochter der Luft. Drama in zwei Teilen. Deutsche Nachdichtung, Leipzig o. J. (Der junge Bühnenvertrieb R. Steyer, Manuskriptdrucke 1–5, 1940). Diese Fassung ist mit der in Beiträge zu einem deutschen Calderon bis auf einige orthographische Änderungen identisch. Zur Handschrift siehe DLA Marbach, Kommerell, Max: Calderon de la Barca, Pedro: Dramatisches, Nachlaß Kommerell, D: 86.474. Vgl. Kommerell, Max: Beiträge zu einem deutschen Calderon, Bd. 2: Das Leben ist Traum, Die Tochter der Luft, Frankfurt/M 1946. Fortan zitiert als Sigle BC. Vgl. Kommerell, Max: Neue Calderon-Übertragungen, aus: Tochter der Luft, 1. Teil, in:

VI.1 Kommerell als Übersetzer

233

Sprachliche und stilistische Merkmale, die insgesamt auf das Drama Calderóns zutreffen, werden in folgenden gemeinsam behandelt. Deshalb wird eingangs auf die Versformen eingegangen. Die gracioso-Handlung läßt sich besonders deutlich am Beispiel der Figur Chato aus Die Tochter der Luft darstellen. Die rhetorischen Stilmittel und der estilo culto werden beispielhaft bei der Untersuchung von Das Leben ist Traum erläutert. Die häufigste im Drama des siglo de oro verwendete Strophenform ist die Romanze mit den Merkmalen: 8-silbiger Vers, Assonanz in den Versen gerader Zahl, beliebige Länge.41 Bei der Übersetzung ins Deutsche ergeben sich Unterschiede, da die spanische Metrik silbenzählend und die deutsche akzentuierend ist. Kommerell überträgt den Romanzenvers, wie Gries, mit dem 4-hebigen Trochäus, der allerdings nicht dessen exakte Entsprechung ist, da im spanischen Vers der Akzent in der rhythmischen Periode wechselt, während im 4-hebigen Trochäus betonte und unbetonte Silben alternieren.42 Der 4-hebige Trochäus kommt dem Verständnis von Calderóns Stil als Künstlichkeit entgegen. Im Spanischen ist das Versende durch den festen Akzent auf der letzten Tonstelle bezeichnet, während das Versende beim 4-hebigen Trochäus nicht besonders markiert ist. Aus der Offenheit des Verses ergeben sich bei Kommerell häufiger als bei Gries Enjambements, die zur Verwischung der Versgrenzen führen: Calderón:

Gries:

Kommerell:

Quien dijo pájaro, dijo Semiramis, este nombre Me puso, por haber sido Hija del aire y las aves Que son los tutores mios.

Einen Vogel nennt, diesen Nennt Semiramis, so gab er Mir den Namen, weil ich wirklich Tochter bin der Luft und Vögel, Die mich vormundschaftlich schirmten.

Weil nun statt des Wortes ‚Vogel‘ Syrisch man ‚Semiramis‘ Sagt, hieß er mich so: denn Tochter Bin der Luft ich und der Vögel. Sie beschützten mich zuerst.43

Da Kommerell auf die Nachbildung der Assonanz verzichtet, verbindet er an einigen Stellen die Verse durch voll ausgebildete Endreime. Besonders auffällig ist dies in der doppelten Verabredungsszene der Tochter der Luft, wo durch die Bindung der Verse die Figuren Semiramis und Menon in eine engere Verbindung gesetzt werden: „vergelte – schelte“, „gut – Wut“, „erwachte – entfachte“ und „erziele – spiele“ (BC 174). Calderóns Theater zeichnet sich durch die Mischung von Ernst und Komik aus. Die komische Handlung, die gracioso-Handlung, ist wesentlicher

NR 48 (1937), H. 3, S. 309–328 und ders.: Calderón-Übertragungen aus: La Hija del aire, in: RF 55 (1941), H. 1, S. 105–112. 41 Vgl. Wittlich, Übersetzungen, A: x, 90.6.1, S. 28. 42 Vgl. ebd. S. 28f. 43 Calderón, Comedias, Bd. 2: Leipzig 1828, S. 69; Gries, Johann Dietrich: Schauspiele von Calderón de la Barca, Bd. 4: Berlin 21840, S. 50f.; und: BC 131. Vgl. dazu KC 115–120.

234

VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Bestandteil des gesamten Theaters des siglo de oro. In ihr wird die Erhabenheit der ernsten Handlung durch die „einfache Sinnlichkeit des Lebens“ (KC 69) ironisch gebrochen. Kommerell behält die gracioso-Handlung in seinen Übersetzungen bei und akzentuiert sie durch eine gezielte Auswahl des Vokabulars. Sie wird durch die einfachen Personen im Stück, wie „Bauer und Diener“ (KC 64ff.), vertreten. Ihre Sprache ist durch eine niedere Stilebene gekennzeichnet. Kommerell versucht, diese Ebene durch derbe Ausdrücke wie „Fratze“, „verrecken“ und „krepieren“ wiederzugeben (BC 114, 294, 296). Eine andere Form der Wiedergabe sind Wendungen, die zur damaligen Zeit umgangssprachlich waren und heute antiquiert wirken: „Ei, Fortuna, daß dich doch! / Solch ein Schnippchen mir zu schlagen!“ (BC 228). Auf der niederen Stilebene treten bei Calderón besonders Sprichwörter und idiomatische Redensarten auf. Während Gries eine wörtliche Anlehnung an das Original versucht, geht es Kommerell um eine sinngemäße Entsprechung im Deutschen. Damit wird die Unterschiedlichkeit in den Übersetzungskonzepten von Gries und Kommerell deutlich: Quien no hace mas otro, mas Wer nicht mehr thut als ein Anderer, Oder lautet nicht ein Sprichwort: No vale, dice un proverbio. Gilt nicht mehr, wie’s Sprichwort meinet. Gutes Ding will Weile han?44

Außerdem gibt es auf der komischen Ebene viele Wortspiele. Kommerell überträgt sie und sucht dabei immer eine von Gries abweichende Lösung, wobei er ihn besonders bei den Wortspielen mit Namen bei weitem an Ironie übertrifft: Hatte Chato in Calderóns Drama den Namen des Priesters Tiresias zu „Tijeras“ verdreht, woraus Gries „Theresius“ machte, so wählt Kommerell viel humorvoller den ‚Dreikäsehoch‘ „Dreikäsius“.45 Der Name „Andronio“ wird bei Calderón zu „Madroño“ (schwülstig, pompös, hochtrabend), bei Gries wird „Andronius“ zu „Patronius“. Kommerell gibt der Namensabänderung noch eine Bedeutung, indem er „Quintilius“ zu dem Vieltrinker „Trinkvilius“ macht.46 Auch im Leben ist Traum unternimmt Kommerell ein Wortspiel mit dem Namen des gracioso Clarin. Da im Spanischen el clarín Trompete bedeutet, also ein Musikinstrument, bezeichnet sich Clarin selbst als Pfeifchen: „Wo ich doch Clarin, das Pfeifchen / bin“ (BC 65). Ein typisches Beispiel für die Ironie der gracioso-Handlung, die sich in der Tochter der Luft an den Bauern Chato knüpft, ist die Diskussion um seine Rente im II. Akt des zweiten Teiles (vgl. BC 244f.). Chato verzweifelt aufgrund der Umständlichkeiten, die ihm die Personen Lysias, Lidor, Lycas 44 Calderón, Comedias, Bd. 2, S. 71; Gries, Schauspiele, Bd. 4, S. 63; und: BC 138. Hier zeigt sich bei Kommerell noch der schwäbische Einschlag, wo „han“ für „haben“ gebräuchlich ist. 45 Calderón, Comedias, Bd. 2, S. 67; Gries, Schauspiele, Bd. 4, S. 43; und: BC 124. 46 Calderón, Comedias, Bd. 2, S. 79; Gries, Schauspiele, Bd. 4, S. 115; und: BC 168.

VI.1 Kommerell als Übersetzer

235

und Phryxus machen, möchte am liebsten ‚Verflixt noch mal!‘ ausrufen und richtet diesen Fluch gleich direkt an Phryxus, indem er ihn „Herr Verflixtus“ (BC 245) nennt, worin eine Verbindung von phonetischem und inhaltlichem Wortspiel liegt. Besonders deutlich wird der niedere Stil der gracioso-Sprache, wenn Kommerell einen vulgären Wortschatz benutzt. Dabei verbindet er metrisch alternierende Verssprache mit lebendigem, aktuellem Wortschatz.47 Dies wird bei der Wiedergabe der Namen von Ländern, in denen Florus gekämpft hat, durch Chato, den „Universalkomiker“ (KC 72), deutlich. Bei Calderón wurde „Licia“ zu „Sielicia“, Gries machte aus „Syrien“ „Schmierien“. Kommerell geht ganz ins Vulgäre, aus „Propontis“ wird „Pampamus“, aus „Peleponnes“ „Poponeus“ und aus „Backtrien“ „Kackschön“.48 Bei ihm kommt also mehr als bei Gries zum Ausdruck, daß Chato den um seine Frau buhlenden Florus lächerlich machen will. Durch derben und vulgären Wortschatz, Aktualisierungen und Wortspiele verstärkt Kommerell den komischen Gehalt der Sprache, räumt damit der gracioso-Handlung gegenüber Gries eine stärkere Bedeutung ein und vergegenwärtigt einen aktualisierten Calderón. Kommerells Übersetzung von Calderóns La vida es sueño, in Auszügen bereits in der Neuen Rundschau (1936) und in den Romanischen Forschungen (1942)49 erschienen, wird vermutlich 1942 als Bühnenmanuskript in Leipzig vervielfältigt50 und 1946 posthum in Beiträge zu einem deutschen Calderon, Bd. 2 publiziert. Nach der Veröffentlichung in der Neuen Rundschau bringt Heinrich Zimmer in einem undatierten Brief Kommerell als Übersetzer in Verbindung mit dem Cid-Übersetzer Herder: „Das Rundschauheft mit Ihren wunderschönen Calderonübertragungen kam, Sie gehören wirklich in die Reihe allererster Uebersetzer von Herders Zeiten an“.51 Es ist davon auszugehen, daß Kommerell bei der Übersetzung nicht die Ausgabe von Johann George Keil, sondern von Max Krenkel benutzt,52 da er, wie Krenkel, die Akte in Szenen unterteilt.53 Dabei übernimmt er 47 Vgl. Wais, Calderón, S. 268. 48 Calderón, Comedias, Bd. 2, S. 74; Gries, Schauspiele, Bd. 4, S. 84; und: BC 151. 49 Vgl. Kommerell, Magus, S. 454–463 und Kommerell, Max: Übertragungen aus Calderón, in: RF 56 (1942), S. 33–48. 50 Kommerell, Max: Don Pedro Calderon de la Barca, Das Leben ist Traum. Schauspiel in 3 Akten. Deutsche Nachdichtung, Leipzig o. J. Die Handschrift befindet sich in DLA Marbach, Kommerell, Max: Übersetzungen. Calderon de la Barca, Pedro: Dramatisches, Nachlaß Kommerell, D: 86.474. 51 DLA Marbach, Brief Heinrich Zimmer an Kommerell o. D., Nachlaß Kommerell, A: 84.1659/6. 52 Calderón de la Barca, Pedro: La vida es sueño, in: Klassische Bühnendichtungen der Spanier, hrsg. v. Max Krenkel, Bd. 1: Leipzig 1881. 53 Vgl. Wittlich, Übersetzungen, A: x, 90.6.1, S. 8.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Krenkels Einteilung, abgesehen von den Szenen I.2 und II.19, durchgängig. Obwohl er die 8. und 9. Szene des II. Aktes zusammenzieht, folgt er danach wieder der Numerierung Krenkels und schließt an die 8. Szene die 10. Szene an. Außerdem deuten Textvarianten auf die Ausgabe von Krenkel hin.54 Für Calderóns Sprache ist es charakteristisch, daß rhetorische Stilmittel gehäuft verwendet werden und teilweise zur Übertreibung dienen. Diese Mittel gibt Kommerell in seiner Übersetzung wieder. Die häufigsten Stilmittel sind (1.) Hyperbaton als bewußter Stilwille: „Lebenden Leichnams Schrein“ (BC 9), (2.) Periphrase zur Verrätselung des Textes: „dies Pistol hier, Natter / Aus Metall“ (BC 15), (3.) Antithese als kontrastive Zuspitzung der Aussagen: „Daß ich, als Weib, und er / Als ein Mann“ (BC 213), sowie (4.) Korrelation und Parallelismus zur Verteilung der Rede: „Estrella: Du, ein Thales / Astolf: Ein Euklid...“ (BC 23). Kommerell gibt die gehobene Ausdrucksweise Calderóns auf der Ebene der Lexik durch ein besonderes Vokabular wieder und unterstützt dies bei den rhetorischen Stilmitteln durch die Häufung von Hyperbata.55 In Das Leben ist Traum wird der Kronprinz Sigismund von seinem Vater Basilius, den Kommerell in seinen Aufzeichnungen als „halbe[n] Magus“ bezeichnet und damit eine Verbindung zum Wundertätigen Magus herstellt,56 in einem Turm gefangen gehalten. Er beklagt diese Lage mit den Worten: Puel el delito mayor Denn des Menschen größte Sünde Del hombre es haber nacido. Ist, daß er geboren ward.

Größtes menschliches Vergehen Ist ja das Geborensein.57

Kommerell erhebt „geboren“ stärker als Gries zu dem Zustand des „Geborenseins“, der den Grund für die Haft im Turm darstellt. Nach seiner Auffassung klagt Sigismund nicht über die Verurteilung, sondern über die Ungleichheit des Urteils (vgl. KC 31f.). Um die Klage von Sigismund besonders zu betonen, verzichtet er auf die Beibehaltung des Reimschemas der décima espinela (abbaaccddc), während er es in der Tochter der Luft, eng der Vorlage folgend, überträgt. Er gliedert die Dezimen in 4 + 6 Zeilen und beschränkt die Zahl der Reime auf drei. Die ersten vier Zeilen sind wie bei der décima espinela immer abba gereimt, das Reimschema der folgenden sechs Zeilen wechselt. Bei anderen Strophenformen hält er sich ebenfalls nicht streng an Calderóns Reimschema, so bei redondillas (4-Zeiler aus 8-Silbern, abba gereimt) und quintillas (5-Zeiler aus 8-Silbern mit zwei Reimen bei freier Reimstellung).

54 Krenkel bemerkt in einer Fußnote (Calderón, vida, S. 48), daß der Vers „Fuera muerte, desta suerte“ (Calderón, vida, I. Akt, Vers 239) als „Fuera vida, desta suerte“ gelesen werden müsse, was Kommerell folgerichtig mit „Leben es – und weiß warum!“ übersetzt, BC 13. 55 Vgl. Wittlich, Übersetzungen, A: x, 90.6.1, S. 87. 56 Vgl. Kommerell, Mappe I A, D: 86.542, Bl. 78. 57 Calderón, vida, I. Akt, Vers 105–112; Gries, Schauspiele, Bd. 1, S. 14; und: BC 10.

VI.1 Kommerell als Übersetzer

237

Die 7- und 11-silbigen Verse der übrigen Strophenformen überträgt er in 3und 5-hebigen Jamben, worin er wiederum Gries folgt. Allerdings legt er sich nicht durchgehend auf den weiblichen Ausgang fest.58 Bei Calderón dominiert die Stilfigur der Metapher, mit der meist eine Folge von Bezügen von einer Sache zu einer anderen hergestellt wird. Kommerell versucht, den großen Abstand, der bei Calderóns Metaphern zwischen Sache und Bild liegt, wiederzugeben und die Abstraktionsebene aufrecht zu erhalten.59 Er übersetzt in den meisten Fällen wortgetreu, wie z. B. „aves de metal“ für Trompeten als „Vögel aus Metall“.60 Eine Gruppe von Metaphern bilden die leblosen Gebilde, häufig Edelsteine, die das Naturhafte und Organische zur Künstlichkeit veredeln: „papel de diamante“ wird zu „Saphirkonvoluten“.61 Auch bei den Metaphernketten ist er auf eine genaue Übertragung bedacht, wie das Beispiel von Clarins Beschreibung von Rosauras Pferd zeigt.62 Außerdem verwendet er Stilmittel und Metaphern an Stellen, an denen sie im Original nicht auftauchen: Er macht z. B. aus „tanto sonoro instrumento“ „ein Mund von Metall“.63 Um Originalgetreue ist Kommerell bei der Nachbildung der Alliterationen bemüht und übersetzt z. B. die Eingangsverse von La hija del aire: „saludad / Con salva al Rey mi señor“ als „Meinem König und Gebieter / Wirbelnden Willkomm ihr zollt!“64 Calderóns Klangfigur der Wortwiederholung bildet er getreu nach: „Porque no sepas que sé / Que sabes flaquezas mías“ übersetzt er mit: „Damit du nicht weißt, daß ich / Weiß, daß du mein Elend weißt [Herv. C.W.]“.65 Insgesamt ist festzustellen, daß Gries mehr an der Wiedergabe des Wortsinns und Kommerell stärker an der Wiedergabe des Klangs interessiert ist,66 was unter dem Gesichtspunkt der Sprachartistik eine Überbietung darstellt: ¿Esto es mirar, ó morir?

Ist dies Schauen oder Sterben?

Ist dies Sehn, ist dies Vergehn? 67

Bei der Nachbildung der Reime verwendet er meistens reine Reime, manchmal allerdings unreine wie „zusammenzucke – Spuke“ (BC 8). Häufig werden semantisch unbedeutende Wörter wie Konjunktionen, Präpositionen und 58

Silva pareada (7- und 11-Silber, aabbcc... gereimt), octavas reales (abababcc) und Sonette (abba/abba/cde/cde) werden entsprechend der Vorlage gereimt. Vgl. Wittlich, Übersetzungen, A: x, 90.6.1, S. 34ff. 59 Vgl. ebd. S. 52. 60 Calderón, vida, I. Akt, Vers 484 u. BC 20. 61 Calderón, vida, I. Akt, Vers 633 u. BC 24. 62 Vgl. Calderón, vida, III. Akt, Vers 485–494 u. BC 84. 63 Calderón, vida, I. Akt, Vers 577 u. BC 23. 64 Calderón, Comedias, Bd. 2, S. 62 u. BC 105. 65 Calderón, vida, I. Akt, Vers 181f. u. BC 12. 66 Vgl. Albert, Zeichen, S. 242. 67 Calderón, Comedias, Bd. 2, S. 101; Gries, Schauspiele, Bd. 4, S. 301; und: BC 253.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Pronomina verwendet: „wie – sie“, „ohne – Zone“, „und – Grund“ (BC 10, 11, 13). Durch die Verwendung unbedeutender Reimwörter in Verbindung mit dem häufigen Gebrauch des Enjambements wertet er die Klangfiguren innerhalb der Verse auf. Ein weiteres Merkmal der Sprache Calderóns ist der estilo culto, ein Stil, der sich durch ein gehobenes Vokabular auszeichnet. Dazu zählen besonders Archaismen und Fremdwörter, wie z. B. hemisferio, horóscopo, metal, militar oder occidente.68 Die Nachahmung des regelmäßigen, gleichförmigen spanischen Trochäus’ verstärkt noch die Wirkung der Archaismen.69 Kommerell gibt die gehobene Ausdruckweise durch Wörter wie „Gepräng“, „Gezelt“, „Strunk“ und „weiland“ wieder (BC 43, 45, 120, 209). Durch die Bildung von zusammengesetzten Substantiven und Adjektiven entsteht ebenfalls eine gehobene Stilebene. Ein anderes Beispiel für Zusammensetzungen ist: „Ein Als-Ob“.70 Hier fließen Kleists Dichtung des Scheinhaften, Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob71 und Heideggers Verwendung des Bindestrichs ineinander. Daß Kommerell die Zusammensetzungen mit Bindestrich absichtlich vornimmt, wird an diesem Beispiel besonders deutlich: In der Version, die 1936 in der Neuen Rundschau veröffentlichen wird, fehlt der Bindestrich noch. Er wird erst für die Veröffentlichung in den Beiträgen zu einem deutschen Calderon hinzufügt. Neben spanischer Literatur übersetzt Kommerell aus unterschiedlichen Anlässen auch griechische und italienische Literatur. Zur Festschrift Werke und Tage für seinen Freund Rudolf Alexander Schröder steuert er den Beitrag Übertragungen aus der Elektra des Sophokles bei.72 Er übersetzt die Szene, in der Orestes Elektra die Urne mit seinen angeblichen Überresten bringt und ihr dann entdeckt, daß er noch am Leben ist. Kommerells Übersetzungsansatz wird im Vergleich zur Übertragung von Wolfgang Schadewaldt deutlich. Die Anagnorisis-Szene gestalten beide in folgenden Worten: Schadewaldt:

Kommerell:

Elektra: Wo aber ist dann sein, des Unglückseligen Grab? Orestes: Es ist nicht! denn wer lebt, der hat kein Grab! Elektra: Wie sprachst du, Knabe? Orestes: Nichts, das unwahr wäre!

Wo aber hat der Leiderfahrene sein Grab? Er hat es nirgends, denn kein Grab hat, wer da lebt. O Kind, was heißt dies? Keine Lüge sage ich.

68 Vgl. Wittlich, Übersetzungen, A: x, 90.6.1, S. 38. 69 Vgl. Albert, Zeichen, S. 243. 70 Eine Liste der Zusammensetzungen siehe bei Wittlich, Übersetzungen, A: x, 90.6.1, S. 39ff. 71 Vgl. Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Berlin 1911. 72 Vgl. Kommerell, Elektra, S. 88–91.

VI.1 Kommerell als Übersetzer Elektra: Ja, lebt der Mann denn? Orestes: Wenn denn Leben ist in mir! Elektra: So bist du – Er? Orestes: Schau hier an mir das Siegel Des Vaters und sieh zu, ob ich die Wahrheit sage! Elektra: O liebstes Licht! Orestes: Ja, liebstes! ich bezeug’s mit dir!

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So lebt der Mann? So wahr, als in mir Seele ist. Du wärest er? Indem du hier an mir besiehst Des Vaters Abdruck, prüf, ob wirklich ist mein Wort. O liebstes Licht! Ja liebstes! ich bekenn‘ es mit!73

Kommerell wählt für die Übersetzung den Blankvers. Wieder interessiert ihn mehr die klangliche als die formale Anlehnung ans Original. Die Übersetzungen von Michelangelos Grabreden werden unter dem Titel Übertragungen. Michelangelo: Dichtungen 1931 im Klostermann-Verlag veröffentlicht.74 Im Untertitel widmet Kommerell die Übertragungen seinem verstorbenen Freund Johann Anton zum Gedächtnis. Es werden die Grabschriften für Cecchino Bracci übertragen. Die Gedichte sind gerichtet an Freunde und große Männer, Tommaso Cavalieri, Vittoria Colona und an den Gekreuzigten. Weitere Themen sind Die Nacht und die Letzten Jahre. Abgeschlossen werden die Übertragungen durch ein Lied. In der Nachbemerkung weist Kommerell auf seine Vorlage hin: „Dieser Übertragung liegt der Text zugrunde, wie ihn Carl Frey in seiner Ausgabe: Die Dichtungen des Michelangiolo, Berlin 1897, hergestellt hat. Auswahl, Reihenfolge und Überschriften verantwortet der Übersetzer“ (GÜ 339f.). Die Übersetzungen sind in wechselnden Versmaßen verfaßt, streng durchkomponiert und systematisch aufgebaut. Der Band ist zwar nach dem Bruch mit George erschienen, geht aber noch auf seinen Einfluß zurück. Das zeigt sich im Text, der durch einen starken Formwillen geprägt ist. Für den George-Kreis waren die Dichtungen Dantes von großer Bedeutung. Auch Kommerell wählt ein Gedicht von Michelangelo über Dante. Hier werden Michelangelos Originaltext und Kommerells Übertragung nebeneinandergestellt: Michelangelo:

Kommerell:

CIX

An Dante: I

Quante dirne si de‘ non si puo dire, Che troppo agli orbi il suo splendor s’accese; Biasmar si può più ’l popol, che l’offese, C’al suo men pregio ogni maggior fallire.

So wie man soll, kann man von ihm nicht sprechen – Zu groß sein Glanz, der alle Welt erhellte! Nie wird dem Volk, das ihn gekränkt hat, Schelte, Nur seinem kleinsten Vorzug Lob gebrechen.

Questo discese a metri del fallire Per l’util nostro e poi a Dio ascese,

Der stieg herunter unsrethalb zum Fluche Fehlbaren Tuns, und dann empor zum Herren.

73 74

Sophokles: Elektra, übers. v. Wolfgang Schadewaldt, Stuttgart 1964, S. 56f., Vers 1216– 1226 und Kommerell, Elektra, S. 91. Vgl. Kommerell, Max: Übertragungen. Michelangelo: Dichtungen, Frankfurt/M 1931. Zitiert nach dem Wiederabdruck in: GÜ, S. 295–334.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

E le porte, che ’l ciel non gli contese, La patria chiuse al suo giusto desire.

Und Tore, die der Himmel auftat, sperren Die Heimat seinem billigen Gesuche.

Ingrata dico e della sua fortuna A suo danno nutrice, ond’è ben segno, C’a più prefecti abonda di più guai.

Undankbar nenn ich sie und ihm zum Weinen Des Schicksals Amme. Ja, den Wert des Mannes Lohnt sie mit Qual, je höher desto reicher.

Fra mille altre ragion sol à quest’una: Se par non ebbe il suo exilio idegno, Simil uom né maggior non nacque mai.75

Nebst tausend Gründen hat sie diesen einen Wenn beispiellos die Schmach war seines Bannes: Geboren ward kein Größerer, kein Gleicher. (GÜ 307f.)

Kommerell überträgt hier das Sonett mit dem umarmenden Reim (abba). Er versucht den Gehalt des Originals beizubehalten und legt Wert auf die klangliche Seite. Er wendet also das Übersetzungsverfahren einer getreuen Wiedergabe an. VI.1.3 Kommerells Übersetzungen auf der Bühne Kommerell tritt für eine Erneuerung des Theaters in Deutschland im Medium des symbolischen Dramas ein.76 Dabei mißt er der Kategorie der Wirkung eine besondere Bedeutung zu. Mit der Übertragung zweier Dramen leistet er die praktische Voraussetzung für die Aufführung Calderóns auf deutschen Bühnen und begründet seine Forderung in Etwas über die Kunst Calderons programmatisch: „Und sind wir nicht reif für einen mehr symbolischen Stil des Dramas?“ (KC 3). Dichterisches und wissenschaftliches Schaffen verfolgen hier das gleiche Ziel. Ein wesentliches Element des symbolischen Dramas ist für ihn die Inszenierung der Gebärde: „Es ist gar nicht möglich, Leben ein Traum für heutige Sinne zulänglich zu inszenieren, wenn der Regisseur nicht in die eben auseinandergelegten Verhältnisse eine gründliche Einsicht hat. [...] Es genügt nicht, daß durch die bloße Wiederkehr der gleichen Partner und den Rückbezug, den die Gespräche der zweiten Probe inhaltlich haben, die Entsprechung hervorgehoben wird, sondern die Gebärde, jawohl, die körperliche Gebärde! muß, ähnlich oder abstechend, erzwingen, daß die Phantasie des Zuschauers die Gleichung vollzieht“ (KC 151). Kommerell setzt sein Konzept der Gebärde (vgl. Kap. IV u. V) ein, um mehr Verständlichkeit und Präsenz für den Zuschauer zu erreichen. Die Tochter der Luft wird 1958 im Nationaltheater Mannheim uraufgeführt. Obwohl die Aufführung auf eine „vergessene Kostbarkeit der Weltliteratur“77 aufmerksam gemacht habe, unterblieb der neue Impuls für das Theater in Deutschland, den Kommerell sich erhoffte. Seitdem wurde 75

Buonarroti, Michelangelo: Die Dichtungen, hrsg. u. mit einem krit. Apparate vers. v. Carl Frey, Berlin 1897, S. 156. 76 Vgl. Sullivan, Calderón, S. 371f. und Briesemeister, Kommerell, S. 214. 77 Im folgenden Kalow, Gert: Den König fallen sehen... Kommerells Calderón-Nachdich-

VI.1 Kommerell als Übersetzer

241

sie nicht mehr aufgeführt. Der Mißerfolg der Aufführung lag zum einen an der Inszenierung, der das „Schwebende“ gefehlt habe, an dem „ortlosen Einerlei“ der Kostüme und an den fehlenden „Projektionen“ der Darsteller. So hätte z. B. Margot Bieler als Semiramis statt „pausenloser Exaltation“ besser eine „stille, überlegene Kälte“ darstellen sollen. Zum anderen lag es auch an der Art von Kommerells Nachdichtung, die es verfehlt habe, „das Hochartifizielle der Calderon-Sprache in ein ähnlich genußreiches Deutsch [zu] transponieren“, so daß die Schauspieler nicht mit den „Verstößen gegen den Geist des Verses“ zurechtgekommen seien. In dieser Hinsicht hat also die von Kommerell theoretisch begründete Wahl des Verses ihr Ziel der Erneuerung des Dramas verfehlt. Die Uraufführung von Das Leben ist Traum 1942 am Burgtheater in Wien wird in einem Artikel von Eva Maria Marat in Maske und Kothurn (1978) behandelt,78 was in der Kommerell-Forschung noch nicht beachtet wurde.79 Die Aufführung wird schon in einem unveröffentlichten Brief von Karl Reinhardt an Kommerell vom Dezember 1942 erwähnt: „Außerdem verfolge ich, damit ich die Verbindung mit Ihnen nicht ganz verliere, von Woche zu Woche in der Frankfurter Zeitung das Programm des Burgtheaters und erlabe mich an der wachsenden Zahl der Aufführungen von ‚Das Leben ist Traum.‘ Und sehne mich gleichfalls, es zu lesen“.80 Reinhardt verfolgt die Wochenspielpläne der Wiener Theater in der Frankfurter Zeitung, wo am 11. Oktober 1942 angezeigt wird: „Bühnen in Wien: Burgtheater. Fr 19 U.: Das Leben ist Traum“.81 Die Premiere findet am 16. Oktober 1942 und die letzte Vorstellung am 18. Juni 1944 statt.82 Die Aufführung wird ein Erfolg,

tung „Die Tochter der Luft“ im Mannheimer Nationaltheater, in: FAZ, Nr. 228 vom 02.10.1958. 78 Vgl. Marat, Eva Maria: Chronologie der Calderón-Aufführungen auf dem Wiener Burgtheater, in: Maske und Kothurn 24 (1978), S. 342. 79 Albert liegt falsch in der Annahme, die Berliner Aufführung sei die Uraufführung gewesen, vgl. Albert, Zeichen, S. 243. Bei Wittlich fehlt die Wiener Aufführung in der Reihe der anderen Aufführungen, vgl. Wittlich, Übersetzungen, A: x, 90.6.1, S. 90. Jens geht in ihrem Kommentar zu den Briefen nicht auf die Wiener Aufführung ein, vgl. BA 424f. Storck erwähnt sie nur kurz, vgl. Storck, Kommerell, S. 74. 80 DLA Marbach, Brief Karl Reinhardt an Kommerell vom 31.12.1942, Nachlaß Kommerell, A: 84.1615/5. 81 Frankfurter Zeitung (Frankfurter Ausgabe), Nr. 520 vom 11.10.1942. In den folgenden Wochen siehe Frankfurter Zeitung (Frankfurter Ausgabe), Nr. 533 vom 18.10.1942, Nr. 559 vom 01.11.1942, Nr. 572 vom 08.11.1942 usw. Am 25.11.1942 fehlt die Anzeige über das Burgtheater. Der Spielplan des Burgtheaters wurde ebenfalls in der Frankfurter Zeitung (Reichsausgabe) angezeigt, Reinhardt könnte also auch sie benutzt haben. Wahrscheinlich hat er jedoch die Frankfurter Ausgabe benutzt, da sie umfangreicher und im ganzen Reich zu erwerben war. 82 Alth, Minna von (Hg.): Burgtheater 1776–1976. Aufführungen und Besetzungen von zweihundert Jahren, Bd. 1: Wien 1979, S. 620.

242

VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

wie die Rezensionen übereinstimmend berichten.83 Ernst Holzmann sieht in den Wiener Neuesten Nachrichten als Voraussetzung für das Gelingen ein gewandeltes Bewußtsein an, in dem das Interesse für feste Formen gesteigert sei: „Es besteht eine Aufnahmebereitschaft für die geschlossene, strenge Form, die in der Kunst unserer Tage, in der Architektur und Musik, in der Malerei und Plastik, zu allgemein bekannten Ergebnissen geführt hat und auch auf dem Gebiet der Dichtung unschwer in einem neuerwachten Sinn für die klaren, festgefügten Formen der Novelle und Tragödie zu erkennen ist“.84 Kommerells Anteil am Erfolg wird in der getreuen Nachahmung des Originals bei Beibehaltung der sprachlichen Lebendigkeit gesehen: Dies [die Bejahung des Stils] hat auch die schöne Aufführung des Calderonschen Schauspiels, das in der Nachdichtung Max Kommerells den prägnanter formulierten Titel ‚Das Leben ist Traum‘ führt, wiederum bewiesen. Die neue Fassung sucht die Eigenart des spanischen Dramas nach Tunlichkeit zu wahren; dichterische Qualitäten, Schwung der Sprache und melodischer Fluß der Verse zeichnen sie aus, wenngleich die letzteren freier behandelt werden. Jamben, unserem Ohr sinnfälliger als die spanischen Trochäen, werden bevorzugt, doch tritt auch häufig, wenn der Strom des dramatischen Geschehens stärker anschwillt, der gereimte Trochäus in seine alten, stilgemäßen Rechte.85

Neben der Inszenierung von Herbert Waniek, den „feinste[s] Verständnis für [die] literarische und historische Herkunft“86 des Stoffes auszeichne und der „keinerlei Bezugnahme zur [...] Gegenwart [...], sondern eine Betonung der Barockwelt in ihrer Größe, Feierlichkeit und Düsternis“87 vornehme, wird besonders das Bühnenbild von Stefan Hlawa gerühmt, das „die große Ausmessung und Form des Barocktheaters“88 andeute. Der opernhafte Charakter von Calderóns Drama, dem auch Kommerell eine große Bedeutung beimißt (vgl.

83

84 85 86 87 88

Vgl. Prosl, Robert: Das Leben ist Traum. Wiederweckung Calderons im Burgtheater, in: Welt-Neuigkeits-Blatt (Wiener Ausgabe), Nr. 248 vom 20.10.1942; Holzmann, Ernst: Ein Calderon-Abend im Burgtheater. Neueinstudierung des Schauspiels „Das Leben ist Traum“, in: Wiener Neueste Nachrichten, Nr. 7009 vom 19.10.1942; und: Prohaska, Bruno: Prächtiger Calderon-Abend des Burgtheaters. „Das Leben ist Traum“ in dichterisch neuem Gewande, in: Das kleine Blatt (Wien), Nr. 289 vom 19.10.1942. Prohaska scheint von Holzmann abgeschrieben zu haben. Auch wenn der Erscheinungstag mit dem 19.10. der gleiche war, ist dies möglich, da die Wiener Neuesten Nachrichten als Nachtausgabe in der Nacht von Sonntag auf Montag erschienen waren. Die Ähnlichkeiten sind eindeutig: „Schwung der Sprache“ (Holzmann) wird zu „sprachlicher Schwung“ (Prohaska), „Ausnützung der Beleuchtung“ zu „ausgenützte Beleuchtungseffekte“, „charakteristisch orchestrierte Musik“ zu „charakteristische [...] Musik“; „sonores Organ“ wird gar wörtlich übernommen. Holzmann, Burgtheater, Nr. 7009 vom 19.10.1942. Ebd. Nr. 7009 vom 19.10.1942. Ebd. Nr. 7009 vom 19.10.1942. Marat, Chronologie, S. 342. Prosl, Wiedererweckung, Nr. 248 vom 20.10.1942.

VI.1 Kommerell als Übersetzer

243

KC 100), wird in der Inszenierung durch die Musik von Franz Salmhofer umgesetzt, der eine „stimmungsreiche, charakteristisch orchestrierte Musik für die Zwischenakte“89 komponiere. Unter den Schauspielern zeichne sich Heinz Woester in der Rolle des Sigismund durch seinen „packenden Ausdruck“ aus: „Wie dröhnt doch sein sonores Organ, wenn er keinen Widerspruch duldend, an seinen vermeintlichen Gegnern für all die erlittene Unbill blutige Rache nehmen will, wie klar und schön, verhalten in Stimme und Gesten, spricht er die nachdenklichen Verse!“90 Felix Steinböcks Auftritt als Basilius sei „ein Meisterstück gepflegter Rhetorik und der hohen Kunst, Verse zu sprechen!“91 Dies sei auch Hans Siebert als Clotald und Elisabeth Ortner-Kallina gelungen, die es in der Rolle der Rosaura vermocht habe, „die Wandlungen vom degenumgürteten Jüngling zur bescheidenen Astreia und schließlich zum adeligen Fräulein sehr reizvoll zu gestalten“.92 Kommerell sieht die Aufführung seiner eigenen Übersetzung und berichtet am 20. Oktober 1942 aus Wien dem Marburger Philosophen Julius Ebbinghaus: „Die Calderon Premiere war unerwartet anständig. Ich habe soviel Theatereindrücke gesammelt, daß ich Lust hätte, sie in einem Essai loszuwerden. Man braucht dabei keine Angst zu haben, daß einem etwas geschähe. Denn die Voraussetzung zu allem Übel fehlte: man würde gar nicht gedruckt!“93 Ein weiteres Anzeichen für den Erfolg von Kommerells Bearbeitung ist die Anzahl der Aufführungen. Vor Kommerell war Das Leben ein Traum am Burgtheater seit Joseph Schreyvogel (1768–1832) in unterschiedlichen Inszenierungen 63 Mal aufgeführt worden.94 Demgegenüber kommt allein Kommerells Nachdichtung auf eine Anzahl von 42 Aufführungen.95 Das Leben ist Traum wird außerdem 1943 am Staatstheater in Berlin unter der Regie von Wolfgang Liebeneiner aufgeführt.96 Kommerell und Lie-

89 Holzmann, Burgtheater, Nr. 7009 vom 19.10.1942. 90 Ebd. Nr. 7009 vom 19.10.1942. Im Welt-Neuigkeits-Blatt, das für die nationalsozialistische Ideologie eintritt, heißt es: „Heinz Woester bringt ebenso im ersten Teil des Dramas die auch in Ketten ungebändigte Kraft des Königssohnes Sigismund zu starker Wirkung, wie er, nachdem er an der Spitze der Rebellen den Thron gegen seinen Vater siegreich gewonnen hatte, die Früchte einer guten Jugenderziehung erkennen läßt“, Prosl, Wiedererweckung, Nr. 247 vom 20.10.1942. 91 Holzmann, Burgtheater, Nr. 7009 vom 19.10.1942. 92 Ebd. Nr. 7009 vom 19.10.1942. Stella wird von Silvia Devez, Astolf von Helmuth Krauß und Clarin von Otto Schmöle gespielt. 93 Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Brief Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 20.10.1942. 94 Vgl. Anonym: Die Erstaufführung von Calderons „Das Leben ist Traum“, in: Welt-Neuigkeits-Blatt (Wiener Ausgabe), Nr. 245 vom 17.10.1942. 95 Vgl. Alth, Burgtheater, S. 620. 96 Außerdem wird Kommerells Das Leben ist Traum 1952 in Düsseldorf, 1956 in Mannheim

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

beneiner führen im Vorfeld der Aufführung eine Korrespondenz über eine angemessene Inszenierung des entlegenen Stoffes und sind sich einig, daß „einer so hohen sprachlichen Stilisierung und einer so konsequenten geistigen Haltung ein Stil des Zeigens entsprechen muß“.97 Dabei solle der „Inhalt des Geistigen, sein Ideal und seine eigentümliche Menschlichkeit“98 nicht durch die Form der Darbietung verloren gehen, sondern sich gegenseitig steigern. Die Premiere in Berlin findet am 25. Februar 1943 statt.99 Vier Monate nach der Wiener Aufführung hat sich die militärische Situation im Zweiten Weltkrieg mit der Niederlage in der Schlacht um Stalingrad so stark verändert, daß nun die Stellen in Das Leben ist Traum, in denen es um den Volksaufstand und um die Vertreibung des in Polen eingedrungenen Herrschers geht, eine politische Brisanz gewinnen. Deshalb müssen die Ortsbezeichnungen auf Anordnung des Generalintendanten des Preußischen Staatstheaters Gustav Gründgens (1899–1963) abgeändert werden, so daß Liebeneiner die Handlung nach Spanien verlegt. Der Regisseur fühlt sich dem Autor so sehr verpflichtet, daß er sich bei Kommerell, der nicht zu der Aufführung nach Berlin kommen kann, für die unternommenen Abänderungen am Text entschuldigt und im Nachhinein um „Absolution“ bittet.100 In der Besprechung von L. E. Reindl wird Kommerells Bearbeitung gewürdigt, da er „mit aller Schärfe, soweit es, ohne dem Urbild Gewalt anzutun, möglich, das Ideelle des Werkes in hellstem Glanze [habe] erstrahlen“101

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101

und 1957 in Bochum aufgeführt. Dazu siehe Sullivan, Nazi Germany, S. 52 und Wittlich, Übersetzungen, A: x, 90.6.1, S. 90. DLA Marbach, Brief Wolfgang Liebeneiner an Kommerell vom 31.01.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1589/1. Ebd. A: 84.1589/1. Anonym: Wochenspielplan, in: DAZ, Nr. 88 vom 20.02.1943. DLA Marbach, Brief Wolfgang Liebeneiner an Kommerell vom 11.03.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1589/2: „Wahrscheinlich haben Sie schon in den Zeitungen davon gelesen, daß unsere Aufführung recht erfolgreich gewesen ist, und ich kann mir vorstellen, wie groß Ihr Erstaunen gewesen sein muß über die Veränderungen des Handlungsortes, die man Ihnen zuschreibt. Ich habe seinerzeit, als Herr Gründgens aus politischen Gründen anordnete, daß die Orte Polen und Moskau durch andere ersetzt werden müßten, lange gesucht und von Gotland über Narwa bis zu erfundenen Namen wie Turmland und Tuku war nichts recht befriedigend, so daß wir schließlich spanische Namen wählten, die ja durchaus gerechtfertigt schienen, da Calderon selbst sich keinerlei Mühe gegeben hat, die östliche Welt in der Handlung irgendwie zu benutzen. [...] Vielleicht hätte ich Ihnen rechtzeitig davon Mitteilung machen müssen, so daß Sie nicht überrascht worden wären, aber im Drange der recht schwierigen Premierenvorbereitungen vergaß ich es. So muß ich Ihnen denn nachträglich auch gestehen, daß ich ein paar Textänderungen (abgesehen von Strichen) vorgenommen habe, die jedoch stets das Versmaß erhalten haben und nur zur Klärung der Situation oder eines Begriffes beitragen bzw. bei Strichen einen Übergang ermöglichen sollten. [...] Ich hoffe sehr, daß Sie mir nachträglich Absolution erteilen“. Reindl, L. E.: Calderons Lebenstraumspiel. Zur Aufführung im Berliner Staatstheater, in: Das Reich. Deutsche Wochenzeitung, Nr. 10 vom 07.03.1943.

VI.1 Kommerell als Übersetzer

245

lasse. Liebeneiners Inszenierung „baute ein bewegt barockes Klanggebilde aus männlichen und weiblichen Stimmen, das zuweilen die dichterische Welt in die zweite Ebene treten ließ, zuweilen Momente von eindringlicher Wirkung brachte“.102 Das Bühnenbild von Rochus Gliese bestehe aus „Traumvisionen und Realität, finsteren Felsgebirgslandschaften und phantastischen Königssälen“.103 Zwar meint Reindl, daß es den Schauspielern gelungen sei, die Verse angemessen vorzutragen: „die Präzision der sprachlichen Steigerungen führte gelegentlich den hier sonst nicht gewohnten und eigentlich wohl verpönten Beifall vor offener Szene herbei“.104 Paul Fechter kommt in seiner Besprechung zu einem ähnlichen Schluß: „im gesprochenen Klang wirkt Kommerells Vers, wenn man nach einmaligen Hören urteilen darf, beweglicher, federnder“.105 Hans-Georg Gadamer jedoch, der die Aufführung in Berlin sieht, betont in einem Brief an Kommerell vom Juli 1943 die Schwierigkeiten der Schauspieler mit dem Vers: Einzelne Schauspielerleistungen waren achtbar, aber die Regie im Ganzen wie die einer Oper ohne Musik: man merkte die Absicht zur barocken Oper, aber es wurde nur das Libretto abgeleiert. Das Problem des Verses ist für die modernen Schauspieler ziemlich unlösbar. Vollends der Calderon-Vers, der seine eigenen Zeremonien hat; [sic] ermangelt bei der herrschenden Sucht nach Realistik jeglichen Haltes, auch im Spanischen. Aber einige sehr schöne Verse blieben doch im Ohr, z. B. der Himmel ein Mahnmal die Welt ein Wink. In solchen Augenblicken hatte ich das Gefühl, daß doch jedem Zuschauer fühlbar wurde, daß hier eine Bühne mit Weltraum statt eines Seeleninterieurs verlangt war. (BA 424f.)106

Kommerell versteht die Probleme, die sich für Gadamer beim Vortragen des Verses in der Aufführung ergeben: „Ich wundere mich im Gegenteil, daß mein Text überhaupt möglich war“.107 Allerdings hebt er wieder hervor, daß

102 Ebd. Nr. 10 vom 07.03.1943. 103 Von den Schauspielern wird besonders Lola Müthel als Rosaura genannt, die durch ihren Schwung Szenenapplaus erreicht. Bernhard Minetti ist als Sigismund „von metallener Wucht des Sprachlichen“, Walter Franck zeigt als Basilius „ein schönes Gleichmaß der sprachlichen Gestaltung“ und Otto Wernicke als Clotald gibt „eine wirksam gedämpfte Begleitmelodie“. Ruth Hellberg spielt die Rolle der Stella und Aribert Wäscher die des Clarin. Vgl. Fechter, Paul: Calderons ‚Leben ein Traum‘, in: DAZ (Berlin), Nr. 98 vom 26.02.1943. 104 Reindl, Lebenstraumspiel, Nr. 10 vom 07.03.1943. 105 Fechter, Leben, Nr. 98 vom 26.02.1943. 106 Vgl. Sullivan, Nazi Germany, S. 51f. 107 Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 10.07.1943, BA 420f.: „Ich habe mir manchmal ausgemalt, wie ich wohl bestehen würde, wenn ich zu einer Mitarbeit eingeladen wäre. In das Technische der Regie würde ich mich auf keinen Fall mischen wollen; aber eine Art dichterischer Propaideutik würde ich gerne übernehmen, damit man in der Skala der Töne und der wesentlichen Geberden nicht fehlgriffe. Ich glaube, daß man gerade auch auf dem Theater dadurch, daß man den Abstand zum modernen Wesen in aufreizendem Grad betont, erst wahrhaft bezaubern könnte“.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

er sich Calderóns Theater mit einer „Skala der Töne und der wesentlichen Geberden“ (BA 420) vorstellt, die eine festumrissene Bedeutung haben und auf die Wirkung ausgerichtet sind. Das Scheitern der Aufführungen in Mannheim und Berlin zeigt die Schwierigkeit mit dem Vers, den Kommerell programmatisch gewählt hat. Er verspricht sich eine Erneuerung des Theaters mittels Calderón und durch den Vers, ist sich aber, wie der oben zitierte Brief belegt, der Unerfüllbarkeit seiner Erwartung bewußt, worin sich wieder ein selbstreflexiver Charakter seines Schaffens zeigt. Nach den Zeugnissen zur Aufführung am Burgtheater, die in der vorliegenden Arbeit erstmals untersucht wurde, war das Vortragen des Verses allerdings möglich, was zu unterschiedlichen Vermutungen führt: Entweder hat der Rezensent die Wiener Aufführung beschönigend dargestellt,108 oder die Begabungen der Schauspieler am Wiener Burgtheater, in Berlin und Mannheim war sehr unterschiedlich. Dann wären die Mißerfolge in Berlin und Mannheim nicht darauf zurückzuführen, daß Kommerells Erwartung utopisch war, sondern daß theaterpraktische Voraussetzungen für eine Erneuerung des Theaters durch eine symbolische Kunst dort nicht gegeben waren.109

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten In diesem Unterkapitel geht es um den brieflichen Austausch, den Kommerell mit romanistischen Kollegen über Calderón führt. Die Korrespondenzen mit den darin enthaltenen Auseinandersetzungen werden aufgezeigt, um einerseits Kommerells Produktionsverfahren und andererseits seinen Einfluß auf die romanistische Fachwissenschaft zu verdeutlichen. Deshalb werden die Calderón-Forschungen der Romanisten nicht in literaturgeschichtlicher Reihenfolge erläutert, sondern von den Beziehungen zu Kommerell her entwikkelt. Dadurch können die Interdependenzen in den Forschungen aufgezeigt werden. Der Forschungsstand zur Calderón-Rezeption von Kommerell befindet sich in einer Anfangsstufe. Kommerells Beschäftigung mit dem spanischen Dichter erstreckt sich über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren und stellt, vom Umfang wie von der Bedeutung her, eines seiner wissenschaftlichen Hauptaugenmerke der zweiten Lebenshälfte dar. Trotzdem wurde die

108 Es ist möglich, daß eine Inszenierung bei den Rezensenten und dem Publikum in Wien ganz anders aufgenommen wird als in Berlin. 109 Sullivan konstatiert sogar das Eintreten von Kommerells Präfiguration: „But time has shown that, in the late twentieth century, seekers after meaning have indeed begun to worship the art of the past, and, by extension, its greats exponents“, Sullivan, Calderón, S. 373.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

247

Calderón-Rezeption in der ohnehin geringen Kommerell-Forschung immer nur am Rande behandelt. In einem frühen, kurzen Aufsatz aus dem Jahre 1958 thematisiert Kurt Wais Kommerells Versuch, hinter Calderóns unterschiedlichen Gattungsstilen ein Gemeinsames zu erkennen.110 Im selben Jahr erläutert Hans Flasche Stand und Aufgaben der Calderónforschung. Ergebnisse der Jahre 1940–1958.111 Darin stellt er fest, daß Kommerell „wohl der anregendste deutsche Calderónforscher“ sei,112 und hebt hervor, daß dieser die Trennungslinien zwischen comedia und auto wohl abgewogen und die Calderónschen Vergleichsreihen besonders anschaulich gedeutet habe.113 Im Zuge der zweiten Rezeptionsphase (vgl. Kap. I) wurde Kommerells CalderónInterpretation als Die Kunst Calderons (KC) 1974 von Fritz Schalk neu herausgegeben.114 Henry W. Sullivan untersuchte in einer Gesamtdarstellung über die Calderón-Rezeption in Deutschland auch Kommerells Calderón-Aneignung.115 Außerdem beschäftigte er sich in einem Aufsatz mit den verschiedenen Rezeptionsentwürfen von Max Kommerell, Hugo von Hofmannsthal und Wilhelm von Scholz.116 Eingehend mit Kommerells Calderón hat sich Claudia Albert beschäftigt, die aber in mehreren Aufsätzen bei grundlegenden Betrachtungen verbleibt.117 Ein wertvoller Beitrag wurde von Dietrich Briesemeister vorgelegt.118 Auf die umfangreiche Übersetzungsanalyse von Susanne Wittlich wurde schon hingewiesen.119 VI.2.1 Werner Krauss: Der Streit um den Artikel Der Marburger Romanist Werner Krauss120 ist für Kommerell ein wichtiger Gesprächspartner.121 Die Beziehung zwischen beiden, die Martin Vialon aus-

110 Vgl. Wais, Calderón, S. 267–270. 111 Vgl. Flasche, Hans: Stand und Aufgaben der Calderónforschung. Ergebnisse der Jahre 1940–1958, in: DVjs 32 (1958), S. 613–643. 112 Ebd. S. 615. 113 Vgl. ebd. S. 621 u. 627. Siehe auch S. 631. 114 Vgl. Kommerell, Kunst, 1974 [= KC]. Zur Rezeption der zweiten Auflage siehe Briesemeister, Dietrich: Rez. zu Kommerell: Die Kunst Calderons, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 214 (1977), H. 2, S. 397–400. 115 Vgl. Sullivan, Calderón, 1983. 116 Vgl. Sullivan, Nazi Germany, S. 43–58. 117 Vgl. Albert, Abstand, S. 249–253; dies., Umrisse, S. 364–378; und: dies., Zeichen, S. 234–248. 118 Vgl. Briesemeister, Kommerell, S. 205–215. 119 Vgl. Wittlich, Übersetzungen, A: x, 90.6.1, passim. 120 Zu Werk und Wirkung siehe Bahner, Werner (Hg.): Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag. Werner Krauss zum 60. Geburtstag, Berlin 1961; ders. (Hg.): Beiträge zur französischen Aufklärung und zur spanischen Literatur. Werner Krauss zum 70. Geburtstag, Berlin 1971; und: Scheel, Heinrich (Hg.): Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag. In memoriam Werner Krauss, Berlin 1978. 121 Siehe auch Gumbrecht, Hans Ulrich: „Die enorme Spannung meines Lebens“. Das Werk

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

führlich beschrieben hat,122 beginnt Ende der 1920er Jahre.123 Seit 1941 sind sie Kollegen an der Marburger Universität. Während Kommerell im Sommersemester 1941 vertretungsweise in Marburg liest, wohnt er vorübergehend im Haus von Werner Krauss und nennt es, da dort nacheinander Nicolai Hartmann, Hans-Georg Gadamer, Krauss und er selbst gewohnt haben, das „Hartmannisch-Gadamerisch-Kommerellisch-Kraußische Fluidum“.124 Damit soll neben dem räumlichen Austausch auch ein Gedankenfluß ausgedrückt werden. Krauss beeinflußt die Entstehung von Kommerells Schriften, indem er sie durchliest und beurteilt.125 Kommerell spricht ihm dafür seine Wertschätzung aus: „Ich sende Ihnen einen Aufsatz, der bereits Seltenheitswert besitzt, weil ich selber kein Exemplar mehr erlangen kann, und wäre für ein bezugnehmendes Wort gelegentl. sehr dankbar. Es gibt wenige Urteile, die ich wissenschaftlich so bescheiden einhole, wie das Ihre!“126 Zugleich versucht er auf diese Weise, die Rezeption seines eigenen Werkes zu steuern. Krauss hilft nicht nur durch wissenschaftliche Urteile, sondern auch durch die Vermittlung persönlicher Kontakte: „Besonders dank ich Ihnen noch die Bekanntschaft mit Ihrem spanischen Freund [Felipe González Vicen]. Er hat mir ausgezeichnet gefallen“.127 Die persönlichen Begegnungen sind um so mehr von Bedeutung, da Kommerell keine Korrespondenz mit Spaniern hat. „Ich gebe mich nicht ganz besiegt durch den Hinweis, daß der unbestimmte Artikel in Verbindung mit es weggelassen wird“ (BA 390), schreibt Kommerell am 12. Februar 1942 an Krauss. Aus dieser Aussage geht hervor, daß beide einen Disput darüber führen, ob der Titel La vida es sueño als ‚Das Leben ein Traum‘ oder ‚Das Leben ist Traum‘ übersetzt werden soll. Kommerell schickt seine Nachdichtung Das Leben ist Traum bereits am 18. Januar

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und die Tode von Werner Krauss, in: ders.: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Karl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss, München/Wien 2002, S. 175–208. Vgl. Vialon, Krauss, S. 314–348. Auch wenn Vialon bemängelt: „Ob sie tatsächlich bereits 1929 eingesetzt hat, läßt sich mangels weiterer Quellen nicht verifizieren“ (Vialon, Krauss, S. 318), so zeigt eine bisher unbeachtete Karte von Kommerell an Krauss vom 23.06.1939 aus dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, daß schon 1939 eine so gute Freundschaft zwischen beiden bestand, daß Kommerell Krauss einlud, während seines Aufenthalts in Frankfurt bei ihm zu übernachten, vgl. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW), Karte Kommerell an Werner Krauss vom 23.06.1939, Nachlaß Krauss. Brief Kommerell an Martin Heidegger vom 29.09.1941, BA 385. Vgl. Albert, Umrisse, S. 365. Brief Kommerell an Werner Krauss vom 18.01.1942, Krauss, Werner: Briefe 1922 bis 1976, hrsg. v. Peter Jehle, Frankfurt/M 2002, S. 104. Brief Kommerell an Werner Krauss vom 17.04.1942, Krauss, Briefe, S. 109.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

249

1942 an Krauss: „Ferner die Übertragung von ‚vida es sueño‘, die ich aber bitte, wegen der aufgedruckten Bedingungen nicht oder nur ausnahmsweise aus der Hand zu geben bitte. Leider ungedruckt!“128 Krauss wird darauf in einem nicht erhalten gebliebenen Brief geantwortet haben, daß im Spanischen der unbestimmte Artikel weggelassen werden könne, wie das ist in der deutschen Übersetzung. Das spricht eher für Gries’ Titel Das Leben ein Traum. Doch Kommerell, der sich nicht „besiegt“ (BA 390) gibt, verweist auf Beispiele, in denen auch im Deutschen der Artikel nach ist weggelassen werde, und entscheidet sich für Das Leben ist Traum: Das Leben ist ein Traum – scheint mir nicht falsch, aber schwach; weil ‚ist‘ reine Kopula bleibt. Beweis: der Reiz, es wegzulassen. Das Leben ein Traum. Das ist üblich, aber mir nicht lieb. Warum hier ‚das‘ – d. h. das Leben überhaupt – und dort ‚ein‘. Bleibt: Leben ein Traum. Nun hat Leben aber den Artikel viel nötiger als Traum; der usus unterscheidet das Subst.[antiv] gern vom Verb in diesem Fall durch den Artikel ... Wer würde nun ‚en esta vida todo es verdad y toto mentira‘ anders übersetzten als: ist Wahrheit – ist Lüge? – Haben wir nicht tausend Wendungen, wo wir den unbestimmten Artikel auch nach ‚ist‘ weglassen. Siehe Heidegger, bzw. Goethe: ist Ruh! ... Das Leben ist Traum heißt: es scheint etwas anderes, aber ganz eigentlich, so wie der desengaño es lehrt, ist es Traum. Ich will also die Allgültigkeit der Aussage: Substantialiter, et totaliter ... betonen, ohne mich darauf einzulassen, ob es Traum-Geschehen, Traum-Stoff, Traum-Tat oder Traum-Zustand ist. Das ist, durch die Vielseitigkeit der dichterischen Symbole, freigegeben. (BA 390)

In Kommerells Betonung des ist liegt eine ontologische Auffassung des Traums als Platzhalter für das Leben. Die Kontroverse, die Kommerell und Krauss 1942 im Briefwechsel aufgeworfen haben, ruht einige Jahre, ehe sie Kommerell in seiner 1944 entstandenen und 1946 posthum erschienenen Calderón-Interpretation Etwas über die Kunst Calderons wiederaufgreift: Calderon aber setzt etwas ganz anderes in den Titel, der nicht so einfach zu übersetzen geht. Die gewöhnliche Fassung desselben im Deutschen würde zwar spanisch ‚La vida es sueño‘ ergeben, befriedigt aber nicht ganz. Es soll doch wohl nicht gesagt werden, daß jeder Lebenslauf ein Traumverlauf sei, noch auch daß das menschliche Leben überhaupt nicht mehr als irgendeinen Traum bedeute, sondern: alles Leben hat Traumcharakter. Sonst würde doch stören, daß das Allgemeine (das Leben) und das Konkrete (ein Traum) durch ein Urteil verbunden wäre. Sprachlich würde jedenfalls die Fassung: Das Leben ist Traum, ebenfalls den spanischen Wortlaut des Titels ergeben. (KC 131f.)

Hier knüpft er an seine Gedanken aus dem Briefwechsel an und formuliert sie in leicht abgeänderter Form. Die Ähnlichkeiten sind unverkennbar: Wieder geht es ihm um die Rechtfertigung der Übersetzung des spanischen es als

128 Brief Kommerell an Werner Krauss vom 18.01.1942, Krauss, Briefe, S. 104.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

deutsches ist. Was er im Brief als „Traum-Geschehen, Traum-Stoff, Traum-Tat oder Traum-Zustand“ beschrieben hat, bezeichnet er jetzt mit „Traumverlauf“ und „Traumcharakter“. Wie bereits erwähnt, ist es für Kommerells Produktionsverfahren charakteristisch, daß er seine dichterischen und wissenschaftlichen Arbeiten befreundeten Professoren zur Durchsicht vorlegt, sie um ihre Meinung fragt und ihre Anregungen einarbeitet. Seine Schriften entstehen aus dem Dialog mit Wissenschaftlern der 1930er und 1940er Jahre. Hier kommt die besondere Komponente hinzu, daß er einen privaten Disput in seine Publikation hineinnimmt und damit einem öffentlichen Publikum zugänglich macht. Wie an anderen Stellen ist auch hier der Weg vom Brief zum Werk erkennbar. Kontakt zu Krauss hält Kommerell außerdem über Dritte. So fragt er z. B. Hans-Georg Gadamer am 10. Juli 1943, wie Krauss mit seiner GraciánStudie129 vorankomme: „Hier wüßte man, in romanistischer Angelegenheit, gern möglichst schnell, in welcher Richtung sich die geplante Arbeit über Gracián bewegt. Für eine rasche Mitteilung sehr dankbar“ (BA 424). In seinem Antwortbrief vom 16. Juli 1943 zitiert Gadamer mit wissenschaftlicher Genauigkeit aus einem Brief, den Krauss an ihn geschickt hatte: „In einem Brief an mich von 23.4. heißt es: ‚Ich habe mich zu Gracián zurückgewendet, veranlaßt über eine im Entstehen begriffene Skizze über die Personifikation von Wertbegriffen + der bis ins Neueste führen könnte und wobei der arme [Hans] Lipps nicht nur Einstand, sondern Gegenstand würde‘ (Unterstreichung von mir!). Mehr weiß ich nicht“.130 Kommerell bemerkt gegenüber Krauss, daß sich die Freundschaft „durch den ziemlich spärlichen, aber köstlichen Umgang mit Ihnen bilden durfte“.131 Die Beziehung zwischen beiden kann man als ein vertrauensvolles Verhältnis charakterisieren, das sich trotz vieler persönlicher Unterschiede aufgrund der wechselseitigen geistigen Anregungen entwickelt. Von entscheidender Bedeutung ist, daß beide über einen ähnlichen Humor verfügen, wie Kommerell am 12. Februar 1942 feststellt: Ihre Formulierungen sind mitunter hinreißend, und ich finde Sie in Ihrer geistigen Erscheinung (von Ihrer persönlichen abgesehen, zu der man sich überhaupt nur in ziemlich heftigen Affekten verhalten kann) wie gewürzter und köstlicher als diejenigen Zeitgenossen, die unsere Freunde mit scheuer Ehrfurcht nennen.! [sic] Ich muß immerfort lachen, wenn ich was von Ihnen lese. Der Aufsatz über die Lexica132 ist zum Totlachen. (BA 391f.)

129 Gemeint ist Krauss, Werner: Graciáns Lebenslehre, Frankfurt/M 1947. 130 DLA Marbach, Brief Hans-Georg Gadamer an Kommerell vom 16.07.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1547/8. Vgl. auch BA 427. 131 Brief Kommerell an Werner Krauss vom 17.04.1942, Krauss, Briefe, S. 109. 132 Kommerell meint wahrscheinlich den Aufsatz Krauss, Werner: Das Problem einer spanischen Synonymik, in: RF 55 (1941), S. 210–221.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

251

In ihren politischen Ansichten unterschieden sich der konservative Kommerell und der kommunistische Krauss jedoch grundsätzlich: „Was uns beide anlangt, Sie und ich, so muß ich immer wieder lachen. Nein – wie verschieden wir sind“. Im gleichen Brief vom 17. April 1942 heißt es weiter: Mein lieber Herr Krauss! es gibt denn doch die individuelle Organisation, das Leiseste und doch Allbestimmende – und wenn die der Anlaß alles engaño ist, so ist sie auch die Chance allen Verstehens. Sonst könnten 2 Menschen, die nicht dumm sind und ziemlich munter das Fluidum der geistigen Aktualität durchplätschern, saufen und ausscheiden, nicht so lächerlich verschieden denken. Ich hoffe, weit genug zu sein, um weder aus ‚Selbstschutz‘ Ihre Gedanken abstoßen zu müssen noch durch sie verwirrt zu werden, wo Sie mir überlegen sind. Es fällt mir auf, daß man sich heut – im besten Falle – streitet ... Wann beginnt man das ungeheuer einfache Verfahren einzuüben, auf das uns meinem Vermuten nach die Natur angelegt hat: sich in andern zu integrieren?? (BA 392f.)

In der Beziehung zwischen beiden nimmt Kommerell die Rolle des initiativen Parts ein: „Ich freue mich, daß unsere Korrespondenz jetzt nicht mehr darin besteht, daß ich Sie durch meine mehr oder weniger große Findigkeit, Nachrichten zu erpressen, amüsiere, welche aufzuschieben in der jeweiligen Farbenwahl Ihrer seelischen Landschaft sicher zwingend begründet ist“.133 Am 18. Januar 1942 heißt es an Krauss: „Ich will Ihnen bald wieder schreiben, tun Sie’s auch wenn Sie mögen, damit wir uns als rauhaarige Einsiedler gelegentlich etwas zubrummen. Ich werde es immer entschiedener, und lasse mich dabei ruhig von allerlei liaisons umranken“.134 Kommerells Rückzug in die Forschung stellt auch eine Flucht vor der Tagespolitik dar, wie er 1942 an Krauss schreibt: „Ihr Wunsch hat sich insofern an mir verwirklicht, als ich in einer für mich selbst rätselhaften Weise gegen die umwälzendsten Umwälzungen abgeriegelt bin durch meine Productionen, die mich – als überwiegender Zusatz zu der Berufsarbeit – so in Atem halten, daß die Kraft kaum ausreicht“.135 Für diese Ausflüge in die als Ort der Emigration genutzte Welt der Wissenschaft gilt auch, was Kommerell in anderem Zusammenhang über sein Verhältnis zur NS-Diktatur geschrieben hat: „Man kann die Gegenwart fliehen, um bei sich zu sein“.136 Die Freundschaft mit Krauss wirkt auf Kommerells Produktionsverfahren zum einen, wie bereits gezeigt, über den Briefwechsel ein, zum anderen über die Zitationstechniken. Die umfangreiche Monographie Lessing und Aristoteles (vgl. Kap. VII) ist mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat versehen. Im Text unternimmt Kommerell allerdings nur wenige Verweise

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Brief Kommerell an Werner Krauss vom 12.02.1942, Krauss, Briefe, S. 106. Brief Kommerell an Werner Krauss vom 18.01.1942, Krauss, Briefe, S. 104. Brief Kommerell an Werner Krauss vom 18.01.1942, Krauss, Briefe, S. 104. Zit. nach Mattenklott, Versuch, S. 546.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

auf die Sekundärliteratur. Darunter werden jedoch besonders seine Freunde Karl Reinhardt, Karl Schlechta und Werner Krauss namentlich erwähnt. In Bezug auf den Gegensatz zwischen Corneille und Lessing stellt Kommerell fest: „Man kann diesen [äußeren] Widerspruch so auffassen, wie Werner Krauß [sic] es in einer bedeutenden Studie über Corneille137 als politischen Dichter tut (Marburger Beiträge zur romanischen Philologie XVIII)“ (LA 49). Kommerells seit Mitte der 1930er Jahre wachsende Bereitschaft, sich auf die Rituale gelehrten Zitierens und akademischer Forschungsrezeption einzulassen, ist somit auch dem Einfluß von Krauss zuzurechnen. Seit August 1940 in der Dolmetscherlehrabteilung in Berlin eingesetzt, schließt sich Krauss dem Widerstandskreis ‚Rote Kapelle‘ um John Rittmeister und Harro Schulze-Boysen an. Im November 1941 wird er verhaftet, als er antifaschistische Plakate klebt, und im Januar 1942 zum Tode verurteilt. Mehrere Marburger Professoren bemühen sich um ein Gnadengesuch für Krauss. Es sind die Philosophen Julius Ebbinghaus und Hans-Georg Gadamer, der Theologe Friedrich Heiler, der Anglist Max Deutschbein und der Germanist Kommerell. Aufgrund ihrer Beschreibungen über Krauss verfaßt der Psychiater Ernst Kretschmer ein Persönlichkeitsgutachten, das Krauss Unzurechnungsfähigkeit attestiert. Dabei ist besonders Kommerells ausschmückende Darstellung eingeflossen. Er schickt seine Beschreibung am 30. Dezember 1941 an Ebbinghaus und kommentiert sie mit folgenden Worten: „Heute ist Dienstag, ich muß also meinen Beitrag zum Votum über Krauss an Sie absenden. Ich hoffe, er ist so, daß Sie ihm wenigstens Bausteine entnehmen können. Ich habe hier keine Schreibmaschine, und hoffe, daß ich es Ihnen auf beiliegendem Blatt meines amphibischen, d.h. sowohl dichterisch als wissenschaftlich orientierten Wachstuchheftes senden darf. Sollte es aber für die letzten bestimmt sein, so darf ich bitten, es auf meine Kosten abschreiben zu lassen“.138 In seinem Gutachten zitiert Kretschmer Kommerells Aussagen: „‚Auch in den letzten Jahren war Professor Krauss in Lebensweise und Benehmen stark auffällig. Er führte das Leben eines extremen Sonderlings, neigte zu tiefem, nachhaltigem Mißtrauen gegen die Menschen und insbesondere gegen eingebildete Gegner bis zu Verkennung offensichtlicher Sachverhalte und war in Körperpflege und Haushalt völlig verwahrlost. Er endigte zuweilen an Verstörtheit grenzende Verstimmungszustände. Dies alles wurde Fernerstehenden nur durch seine hohe Begabung und Berufsleistung teilweise verdeckt‘“.139

137 Gemeint ist Krauss, Werner: Corneille als politischer Dichter, Marburg 1936. 138 Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Brief Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 30.12.1941. 139 Vollständig abgedruckt in Barck, Karlheinz: Werner Krauss im Widerstand und vor dem Reichskriegsgericht, in: Lendemains 18 (1993), Sonderheft 69/70: Zum deutsch-franzö-

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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Am 23. August 1942 erkundigt sich Kommerell bei Ebbinghaus nach dem Fortgang des Verfahrens: „Was ist denn mit Krauss? Ich bin überzeugt, daß heimlich dazwischengezaubert wurde; denn der Umstand, daß der dazu befugte Herr [Kretschmer] beiden Gutachten nichts hinzusetzte, ist dringend verdächtig. Ich finde, die Fakultät [sollte] dies doch nicht auf sich beruhen lassen! Ich persönlich fühle mich bedrückt, Mitglied einer Fakultät zu sein, die eine solche Begabung 10 Jahre lang ohne den Prof.Titel läßt. Man kann eigentlich nicht haltmachen vor der offenbaren Unmöglichkeit. Finden Sie nicht auch?“140 Das Gnadengesuch hat Erfolg: Die Todesstrafe von Krauss wird in eine fünfjährige Haftstrafe umgewandelt, die mit Beendigung des Zweiten Weltkrieges hinfällig wird. So ist letztendlich durch die Marburger Aktion sein Leben gerettet worden. Julius Ebbinghaus (vgl. Kap. IX) schildert in einer autobiographischen Darstellung aus dem Jahr 1977 den Einsatz für Krauss folgendermaßen: Eine Möglichkeit auf sein Schicksal einzuwirken, ergab sich aus dem Zufall, daß der damalige Ordinarius für Strafrecht an der Marburger Juristischen Fakultät, Professor Ulrich Stock, aus seiner früheren Tätigkeit beim Reichskriegsgericht den Reichskriegsanwalt persönlich kannte. Mit diesem vereinbarte Herr Stock in einem nächtlichen Telefongespräch einen Besuch in Berlin von mir als dem Dekan der Fakultät, der der Verhaftete angehörte. Bei diesem Besuche wurde die Vorlage eines Gutachtens des bekannten Marburger Psychiaters Ernst Kretschmer vereinbart, das dem Reichskriegsgericht die Möglichkeit der Entlassung von Krauss aus der Haft, bzw. der Niederschlagung des Verfahrens geben sollte. Dieser Plan wurde ausgeführt, hatte den erwünschten Erfolg, und wir konnten Herrn Krauss schon nach verhältnismäßig kurzer Frist wieder in Marburg im Kreise der Kollegen begrüßen.141

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, am 24. April 1946, hat Ebbinghaus eine bisher unveröffentlichte Darstellung des Vorgangs niedergeschrieben, die von der späteren abweicht. Die Absicht dieses Berichts läßt sich nicht genau feststellen, aber es könnte sich um eine universitätsinterne Dokumentation der Vorgänge handeln: Der Anstoß zur Rettung von Professor Krauss ging von Prof. Heiler aus, der seinerseits durch die damalige Frau Schuhmacher, jetzt Frau Krauss, unterrichtet war. [...] Insbesondere auf Grund des Berichtes von Prof. Kommerell schrieb Prof. Kretschmer, der mit Prof. Krauss nicht näher bekannt war, ein Gutachten, in dem er sich für die psychiatrische Untersuchung des Falles einsetzte. Es wurde beschlossen, daß der Dekan der Philosophischen Fakultät [Ebbinghaus] nach Berlin fahren sollte,

sischen Verhältnis. Werner Krauss, S. 140–160, hier: S. 150. 140 Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Karte Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 23.08.1942. 141 Ebbinghaus, Julius: o. T., in: Philosophie in Selbstdarstellungen, hrsg. v. Ludwig J. Pongratz, Bd. III: Hamburg 1977, S. 1–59, hier: S. 50f.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

um zu versuchen, mit dem Reichskriegsgericht zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens unter Anwendung des § 51 des Strafgesetzbuches zu gelangen. Zu diesem Zwecke setzte sich Prof. Stock, Dekan der Juristischen Fakultät, (brieflich oder telephonisch?) mit dem ihm als früheren Kollegen bekannten Reichskriegsgerichtsrat Dr. Krell, der damals die Geschäfte des Reichskriegsanwaltes wahrnahm, in Verbindung und bat ihn, den Dekan der Philosophischen Fakultät zu empfangen. In der Unterredung, die daraufhin in Berlin stattfand, beruhigte Dr. Krell den Dekan zunächst wegen der Befürchtungen hinsichtlich einer unmittelbar bevorstehenden Exekution; eine solche sei vorläufig und bis zur Entscheidung über die noch gar nicht abgesandten Gnadengesuche außer Betracht. [...] Er ließ durchblicken, daß der Weg über die psychiatrischen Gutachten am meisten Hoffnung böte und stellte in Aussicht, daß bei hinreichendem Material, seitens des Reichskriegsgerichtes eine Beobachtung von Prof. Krauss angeordnet und vielleicht die Grundlage für ein Wiederaufnahmeverfahren geschaffen werden könnte.142

Aus den Abweichungen wird deutlich, wie Ebbinghaus im Nachhinein den Vorgang stilisiert. Dies zeigt sich besonders deutlich daran, wie er den Kontakt zwischen Stock und Krell darstellt, von dem er sich 1946 nicht sicher ist, ob er per Brief oder Telefon stattgefunden hat. In der späteren Darstellung berichtet er von einem „nächtlichen Telefongespräch“. So erzeugt er Spannung und erweckt den Eindruck einer ‚Nacht-und-Nebel-Aktion‘. Damit stilisiert er sein Verhalten bei der Rettung. Aufgrund von Kommerells Einsatz für Krauss verwundert es nicht, wenn Krauss in einer Beschreibung nach 1945, deren Zweck unbekannt ist, Kommerell einen ‚Persilschein‘ ausstellt und dessen Sympathie für den Nationalsozialismus vor 1933 nicht berücksichtigt: Das politische Gebiet lag Max Kommerell von Anfang an gänzlich fern. Diese Erhabenheit über die Politik wurden aber von einem Regime, das auf den totalen Menschen Anspruch erhob, als eine individuelle Kriegserklärung aufgefaßt [...]. Was ihn aber in äußersten und bewußten Gegensatz zur Politik des Dritten Reichs versetzte, das war die systematische Einengung der schöpferischen Freiheit, die ihm Natur und Lebensbedürfnis war. Dazu kommt die außerordentlich hohe Meinung, die sich Kommerell von der Notwendigkeit und Bedeutung der jüdischen Geistigkeit für das deutsche Geistesleben gebildet hatte. So kam es, daß Max Kommerell den Nationalsozialismus in offenen Gesprächen mit mir und mit anderen nicht nur für verwerflich hielt, sondern für schlechthin indiskutabel.143

Basierend auf der Analyse von Briefwechsel und persönlichem Austausch ist nun danach zu fragen, ob es ebenfalls in den wissenschaftlichen Studien von Kommerell und Krauss Gemeinsamkeiten gibt.

142 Hessisches Staatsarchiv Marburg (StAM), 307d Acc. 1966/10 Nr. 141b. 143 Zitiert nach Krauss, Briefe, S. 107, Anm. 4. Dazu siehe auch Krauss, Briefe, S. 143 sowie Vialon, Krauss, S. 337. Zur Verteidigung von Krauss’ Schülern in Marburg durch Kommerell siehe Krauss, Briefe, S. 106.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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In der eingangs dargestellten Kontroverse geht es um mehr als nur um den Streit über einen Artikel. Wenn Kommerell mit Das Leben ist Traum eine poetische Übersetzung von La vida es sueño fordert, zeigt sich daran eine Herangehensweise an die Literatur, die auch an anderen Stellen seiner Schriften sichtbar wird: das Verfahren der textnahen Beobachtungen (vgl. Kap. VII). Werner Krauss hingegen, der bei der Übersetzung von La vida es sueño die Version Das Leben ein Traum vorzieht, tritt für eine Übersetzung ein, die genau den grammatischen Regeln folgt. Wie unterschiedlich ihre Interpretationen literarischer Texte sind, wird im folgenden am Beispiel der Calderón-Rezeption gezeigt. Kommerell transformiert, wie oben dargestellt, die Kontroverse von der privaten Ebene des Briefkontaktes auf die öffentliche Sphäre der Publikationen. In Etwas über die Kunst Calderons, posthum 1946 erschienen, gibt er ein Calderón-Bild vor, auf das Krauss zwanzig Jahre später in seinem Aufsatz Calderón – Dichter des spanischen Volkes (KDV) repliziert.144 Die Untersuchung erscheint 1964 in einer ‚Liebhaberausgabe‘ des Philipp Reclam jun. Verlags in Leipzig. Beim Druck, der zu Ehren des 80. Geburtstags des Calderón-Illustrators Josef Hegenbach veranstaltet wird, stehen die Illustrationen stärker im Vordergrund als der Text. Es wird auf die Standardübersetzung von Gries zurückgegriffen. Da der Aufsatz, der 1965 in einer Sammelausgabe der Dramen Calderóns im gleichen Verlag wieder abgedruckt wird,145 sich an ein breites, nicht-akademisches Publikum richtet, wird von Krauss eine allgemeinverständliche Darstellung erwartet. Zuerst fallen die intertextuellen Bezüge zwischen beiden Untersuchungen auf. Sie zeigen, daß Krauss die Studie von Kommerell gelesen hat, obwohl er sie nicht als Literatur aufführt. Wenn er die neue Bühnentechnik bei Calderón anspricht, verweist er implizit auf Kommerells Untersuchung, die sich ausführlich mit der Bühnentechnik des Spaniers beschäftigt: „Was wir an höfischen Stilen kennen, glich mehr einem Opernlibretto als einer dramatischen Dichtung. Entscheidend war dabei der Aufwand an Dekorationen, an maschinell bewegten Kulissen, an Feuerwerk, musikalischer Orchestrierung und verwegenen Balletteusen“ (KDV 209). Kommerell betont in Etwas über die Kunst Calderons:

144 Vgl. Krauss, Werner: Calderón – Dichter des spanischen Volkes, in: Pedro Calderón de la Barca: Das Leben ein Traum. Illustrationen von Josef Hegenbarth. In der Übertragung von Johann Diederich Gries, mit einem Nachwort „Josef Hegenbarth“ hrsg. v. Fritz Löffler, Leipzig 1964, S. 201–220. Fortan zitiert als Sigle KDV. 145 Vgl. Krauss, Werner: Calderón – Dichter des spanischen Volkes, in: Pedro Calderón de la Barca: Das große Welttheater. Dramen, aus dem Spanischen in den Übertragungen von Joseph von Eichendorff und Johann Diederich Gries [Das große Welttheater, Das Leben ein Traum, Der Richter von Zalamea, Die Dame Kobold], Leipzig 1965, S. 343–364.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Er [Calderón] bedient sich der Bühnenwagen, die mit ihren zusammengerückten Fronten eine Szenerie bilden und wieder durch das Wegziehen von Vorhängen oder Wegschieben von Prospekten zu jeder dieser Fronten einen Innenraum und eine Hinterbühne eröffnen können. […] Das Bühnenwunder versteht die Oper als isoliertes technisches Mittel, das Wortwunder als die große auf die Sprache reduzierte Arie. (KC 154 u. 100)

Bei Calderóns Dramen lassen sich weltliche Schauspiele, comedias, und geistliche Schauspiele, autos sacramentales, unterscheiden. Einige seiner Stücke hat er als comedias verfaßt und später zu autos umgearbeitet, z. B. La vida es sueño. Kommerell untersucht beide Fassungen dieses Dramas, Krauss greift das auf: „Das gilt für Calderóns berühmtestes Schauspiel Das Leben ein Traum. [...] Wenn es noch eines Beweises bedurfte, so hat ihn Calderón selbst in seinem gleichnamigen Fronleichnamsspiel gegeben“ (KDV 216f.). Im letzten Kapitel, das die Überschrift Leben ein Traum – weltlich und geistlich trägt, vergleicht Kommerell comedia und auto: „Leben ein Traum ist diejenige unter Calderons Komödien, die durch eine tiefe und sprechende Geistigkeit ihres bildlichen Lebens berühmt geworden ist. Hier wird man besonders gespannt sein, in welche Spirale das Thema von Calderon hinaufgedreht werden wird, der ja doch wohl seiner Materie durch das Auto eine höhere Weihe zu erteilen meinte“ (KC 166). Über die intertextuellen Bezüge hinaus zitiert Krauss Kommerell auch direkt. In seinem Text gibt er die berühmteste Stelle aus La vida es sueño wieder, jedoch nicht in der Übersetzung von Gries, die seinem Aufsatz vorangeht. Vielmehr wählt er – ohne daß er die Quelle angibt – Kommerells Übertragung Das Leben ist Traum, in der sich dieser bewußt von Gries absetzt. Die folgende Übersicht zeigt Calderóns Original, die Übertragung von Gries und die von Krauss zitierte Übersetzung Kommerells: ¿Qué es la vida? Un frenesí ¿Qué es la vida? Una ilusión Una sombra, una ficcion, Y el mayor bien es pequeño; Que toda la vida es sueño, Y los sueños sueño son.

Was ist Leben? Raserei! Was ist Leben? Hohler Schaum,

Was ist Leben? Raserei! Was ist Leben? Schein und Schaum!

Wenig kann das Glück uns geben; Denn ein Traum ist alles Leben, Und die Träume selbst ein Traum.

Ein Als-Ob, ein Wenn und Kaum, Traum ist dieses ganze Leben, Und die Träume sind ein Traum!146

Obwohl diese Belege zeigen, daß Krauss den Text von Kommerell gut kennt und sich an einigen Stellen auf ihn bezieht, treten an anderen Stellen Urteile hervor, die ihm völlig widersprechen. Kommerell fordert mit der Rezeption Calderóns eine Wiederherstellung des Lebens auf einer höheren Stufe im Medium der Kunst: „Seine Welt besteht aus Zeichen, nicht aus Dingen. Während das Leben sich selber widerspricht, sind die Zeichen fügsam und 146 Calderón, vida, II. Akt, Verse 1196–1201; Gries, Schauspiele, S. 103f.; und: KDV 218f.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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beziehen sich aufeinander“ (KC 5). Krauss hingegen skizziert ein anderes Bild von Calderón. Gemäß dem Titel des Aufsatzes wird Calderón nicht als Hof-, sondern als Volksdichter gesehen. Sein Katholizismus und seine restaurative politische Haltung werden nur am Rande gestreift. Er wird nicht als Aristokrat beurteilt, sondern er „ist ‚Hidalgo‘, gehört zur wenig begüterten Mittelklasse mit adligen Privilegien ohne Kaufkraft und Nährwert“ (KDV 202). Dem adeligen Calderón werden sogar adelsfeindliche Züge zugeschrieben: „die Züge der Adelsfeindschaft hat Calderón zugespitzt, indem er auch einen kleinen Habenichts von Hidalgo aufs Korn nimmt“ (KDV 215). Krauss sieht im Spanien des 17. Jahrhunderts eine Vorform der modernen Massengesellschaft, in der der „Zerfall der ständisch gegliederten Hierarchie“ sich vollendet habe (KDV 203). Die gesellschaftliche Situation wird im Sinne des historischen Materialismus in der Bestimmung des Bewußtseins durch das Sein verstanden: In Spanien waren die Klassen anders geschichtet als anderswo im Jahrhundert des siegreichen Absolutismus. [...] Die Bourgeoisie war mit dem schnellen Zerfall der Manufakturen schon zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts in gänzliche Ohnmacht gefallen. [...] Die wirkliche ökonomische Macht war längst in die regeren und geschickteren Hände des feindlichen Auslands geglitten. [...] Natürlich konnte damals noch niemand erkennen, wie der beginnende Ökonomismus sich durch das Nadelöhr dieser engstirnigen Gnadentheologie hindurchzwängen sollte, wie eine entmenschlichte Religion die Erschließung der verdinglichten Gesetze des Marktes, der Produktion und der modernen Naturbeherrschung begünstigen konnte. (KDV 204 u. 211f.)

Das Zeitalter Calderóns wird als Zerfallsgeschichte verstanden, seine reaktionären Dramen nicht als Verlängerung, sondern als offengelegtes Ende der höfischen Ordnung angesehen: „Calderón ist ein Abschnitt der spanischen Theatergeschichte: mehr ihr Epilog und weniger ihre Vollendung“ (KDV 202). Kommerell betont, wie Calderón in Der standhafte Prinz den Kampf der Christen gegen die Muslime begeistert beschreibe: „Gestalt und Taten des Prinzen Fernando sind das umfassendste Ideal, das Calderon gelungen ist, weil Ehre, Heldentum und Heiligkeit sich zum Dreiklang der Seele verbinden“ (KC 61). Krauss hingegen nähert Calderón einem Pazifisten an: „Die realistischen Pinselzüge, mit denen er im Richter von Zalamea die Epidemie der spanischen Soldateska schildert, spricht ihn von jeder militaristischen Neigung frei“ (KDV 202). Ebenso wird ihm religiöse Toleranz unterstellt: „Bei alldem ist die Ehre nur eine ‚Schmalspurreligion‘ – estrecha religión. Doch immerhin Religion. Als solche läßt Calderón auch den Islam gelten“ (KDV 215).147 147 Krauss schildert das frühneuzeitliche Spanien als ein Land der Vagabunden: „Doch wie ein Rinnsal an einem blutenden Körper erscheinen die Ströme von sinnlosen Migrationen,

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Daß Werner Krauss kein Calderón-Experte ist, wird an vielen Stellen deutlich, an denen er zur Stützung seiner Argumentation über den ‚Volksdichter‘ Calderón auf Beispiele von Gracián (KDV 211), Cervantes (KDV 205, 206) und Lope de Vega (KDV 203–210, 215, 220) verweist: „Calderón schreibt, von wenigen höfischen Spielen abgesehen, wie Lope de Vega dem Volke zum Gefallen“ (KDV 208). Wenn Krauss die Religiosität und Moralvorstellungen Calderóns anspricht, hätte er wohl Kommerells Zustimmung gefunden: „Ehre und Christlichkeit bilden die letzten Reserven eines beschatteten Daseins, die verborgenen Minen, aus denen Calderón nunmehr Schätze nie gesehenen Glanzes zutage fördert“ (KDV 210). Daran schließt er allerdings einen Satz, der wieder konträr zu Kommerells Auffassung steht: „Aber die Preziosität dieses Stils führt ebensowenig wie die Subtilität der syllogistisch gedrechselten Dialoge oder die allegorische Chiffresprache zur Entfremdung der Zuschauermasse“ (KDV 210). Das gleiche ist der Fall, wenn er die Freiheit zur Leitidee des siglo de oro stilisiert: „Nur eine Ideologie der Freiheit und nicht eine Ideologie der Bindung konnte dem Lebensgefühl des Volkes zur Selbstgewißheit verhelfen“ (KDV 210). Eine weitere Differenz zeigt sich in der Analyse der Hauptfigur aus La vida es sueño. Kommerell sieht den Prinzen als Repräsentanten für die „Urschuld“ des menschlichen „Geborensein[s]“ (KC 32) an, Krauss deutet ihn im Sinne des aufgeklärten Absolutismus: „Sigismund wird als quasi aufgeklärter Fürst ein neues Menschenreich gründen“ (KDV 219). Während Kommerell, der durch den Einfluß des George-Kreises geprägt ist, ein elitäres Kulturverständnis hat, vertritt Krauss die Auffassung einer „Volkskunst“, deren Wertigkeit außer Frage stehe: „Diese Volkskunst entwickelt sich nicht in wachsender Trivialisierung und Verschleifung ihrer Gedanken und Formen“ (KDV 219). Krauss’ Sprachgebrauch veranschaulicht das Konzept einer Literaturwissenschaft, deren Begrifflichkeit sich am Zentralwort ‚Masse‘ ablesen läßt: „Masse“, „Massenpublikum und „Massentheater“.148 Es zeigt sich auch in den Komposita, die ‚Volk‘ enthalten, wie „Volkskunst“, „Volksraum“, „herrschender Volksgeschmack“, und in vergleichbaren Wendungen, wie „unausdie Spanien fortwährend durchziehen: die Bettler, Vaganten, verbummelten Studenten, die angeheuerten oder desertierten Soldaten, die Straßenräuber [...]“ (KDV 205). Dabei scheint er seine eigenen Lebenserfahrungen auf die Zeit Calderóns zu projizieren: Krauss hatte in den 1920er Jahren vier Jahre lang in Spanien gelebt, wo er „aus Geldmangel seinen Mantel für eine Fahrkarte versetzen muß, sich als Schnorrer durchschlägt, Jobs als Deutschlehrer annimmt und sofort wieder aufgibt“, Vialon, Krauss, S. 320. Vialon weist allerdings zurecht auch auf Krauss’ Studien in Spanien und seine dort verfaßten ersten literarischen Essays hin. 148 KDV 202, 203, 210, 208 u. 202.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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rottbare[] Anschauung des spanischen Volkes“, „Verewigung der anarchischen spanischen Lebensgesinnung“ und „Allmacht des bühnenbeherrschenden Demos“.149 Ebenso läßt es sich am Gebrauch des Wortfeldes ‚Klassenkampf‘ ablesen: „zersetzte[] soziale[] Verhältnisse“, „entfremdet“, „Ständeordnung“, „Klasse“, „Bourgeoisie“, „schmale Oberschicht der hochmögenden Aristokraten“ und „magische Geltung der ideologischen Elemente“.150 Programmatisch ist das Ende der beiden Studien zu verstehen. Krauss will durch ein solidarisches Kollektiv den Kunstverstand der Klasse erhöhen: „Dabei versteht es sich, daß die Erkenntnis der elementaren Gesetze einer solchen kollektiven Gestaltung den Aufschwung zur höchsten Bewußtseinslage der fortgeschrittensten Klasse fordert, weil nämlich nur hier der solidarische Stil des Handelns auch die Erkenntnis der solidarischen Kräfte einer vergangenen Kunstentfaltung freigibt“ (KDV 220). Kommerells Akzent liegt hingegen auf der Bestimmung der dichterischen Position Calderóns, der gerade durch poetische Distanzierung eine emotionale Wirkung erziele: „Keinem Leser entgeht, daß das Leben in der Komödie ‚Leben ein Traum‘ aus nicht geringerer Ferne gesehen und ebensowohl zur geistigen Anschauung wird. Aber der Standort [...] ist eingenommen aus dichterischer Vollmacht, und so trifft die Ferne, als eine dichterische Ferne, unmittelbar das Gefühl“ (KC 172). Am Verhältnis zwischen Kommerell und Krauss zeigt sich, wie Wissenschaftler, die unterschiedliche politische Haltungen einnehmen, über persönliche Freundschaft und gemeinsame Forschungsinteressen in einen Dialog miteinander treten können. Die Freundschaft erklärt, warum Krauss Kommerell, obwohl er dessen Calderón-Interpretation scharf angreift, nicht namentlich erwähnt. In der Beschreibung über Kommerells Verhalten im Nationalsozialismus zeigt sich Krauss solidarisch mit der Person Kommerells. Seiner Calderón-Rezeption steht er jedoch kritisch gegenüber. Hier zeigt sich also eine relative Grenze zwischen Personen- und Konzeptebene der Wissenschaftsgeschichte. VI.2.2 Fritz Schalk: Gemeinsame Lektüren „angezettelt“ Ein anderer Korrespondenzpartner ist der Kölner Romanist Fritz Schalk (1902–1980). Im Sommersemester 1938 übernimmt Kommerell in Köln die Lehrstuhlvertretung für den erkrankten Ernst Bertram (1884–1957), der auch mit dem George-Kreis in Kontakt gestanden hat.151 Aus der räumlichen Nähe

149 KDV 202, 215, 210, 207, 214 u. 213. 150 KDV 206, 213, 203, 204, 214, 215, 204, 205 u. 210. 151 Vgl. Doster, Nachlaß, S. 34.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

ergibt sich ein enger Austausch mit Schalk, der sich von anfänglichen Treffen zum Mittagessen zu einer Freundschaft entwickelt: „So komme ich dazu, innerlich unser Gespräch fortzuspinnen, und will nicht versäumen, Ihnen zu sagen, daß ich gern und herzlich eingedenk bin, wie freundschaftlich Sie mir entgegenkamen. Ich möchte noch oft mit Ihnen mittag essen“.152 Der aus Österreich stammende Schalk, der sich 1932 in Hamburg habilitiert,153 ist seit 1936 außerordentlicher Professor für romanistische Literaturwissenschaft an der Kölner Universität. Seine Situation ist also mit der Kommerells vergleichbar, da beide noch warten, auf einen Lehrstuhl berufen zu werden. Dies dürfte den engen Zusammenhalt noch gefördert haben. Im Jahre 1941 werden schließlich beide Ordinarien: Kommerell in Marburg und Schalk in Köln.154 Der Germanist leiht sich vom Romanisten wiederholt spanische Literatur und erweitert so seine Kenntnisse, wie aus einem Brief von Kommerell an Schalk vom 8. August 1938 hervorgeht: „Wäre es denkbar, daß Sie mir den vielberedeten Heliodorischen Schäferroman des Cervantes – Persiles u. ...?155 – leihen würden? Und daß Sie mir den Bray156 noch einmal leihen würden, und mir beides in einem Päckchen schickten? Und vielleicht noch eine Zugabe – etwas älteres romanistisches, am liebsten Spanisches, was zu lesen Sie mir empfehlen? Sind Sie bös über die Bitte?“157 Kommerell interessiert sich für die Lektüre eines spanischen Schäferromans, die ihm als Hintergrund für seinen eigenen Roman nach dem Vorbild eines Schäferromans dienen soll.158 Auch die wissenschaftlichen Schriften von Schalk inspirieren Kommerell,

152 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 13.07.1938, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/1. Kommerell und Schalk verbringen beide oft ihre Sommerferien im Salzkammergut und treffen sich dort. Vgl. DLA Marbach, Karte Kommerell an Fritz Schalk vom 23.08.1938, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/4. Im Archiv der ULB Bonn befindet sich ein Briefwechsel zwischen Fritz Schalk und Erika Kommerell, der noch der Sperrfrist unterliegt, vgl. ULB Bonn, Nachlaß Schalk I. 153 Die Arbeit blieb ungedruckt. 154 Zu Schalks ambivalentem Verhalten im Nationalsozialismus siehe Hausmann, FrankRutger: „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“. Deutsche Romanistik im „Dritten Reich“, Frankfurt/M 2000, S. 182–185. 155 Gemeint ist Cervantes, Miguel de: Die Leiden des Persiles und der Sigismunda. Fantastischer Abenteuerroman, Madrid 1617. 156 Kommerell meint wahrscheinlich Bray, René: La formation de la doctrine classique en France, Paris 1927. 157 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 06.08.1938, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/3. 158 Dazu siehe Kommerell, Max: Hieronima, in: Karussell. Literarische Monatsschrift 2 (1947), H. 16, S. 2–19; ders.: Die verkindlichten Gatten, in: NR 64 (1953), H. 4, S. 516–529; ders.: Ankunft Elvirens in der Höhle. Losbittung, in: NR 73 (1962), H. 2/3, S. 402–437; ders.: Hieronyma, Wiesbaden 1954 (Insel-Bücherei 591); ders.: Das Buch der geheimen Ergänzungen – Fragmente, in: EN, S. 277–380 sowie Kap. IX dieser Arbeit.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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sich weiter mit Gegenständen aus der Romanistik zu beschäftigen. Er ist von Schalks Darstellung der französischen Aufklärung beeindruckt, wie er ihm am 7. Juli 1938 mitteilt: „Hier komme ich auch zu Ihrem Buch, in dem ich bisher nur blätterte. Ich las eben ‚Entstehung des schriftstellerischen Selbstbewußtseins in Frankreich‘.159 Ich lese das alles gespannt und sehr gerne, weil Sie der voreiligen Vereinfachung entsagen, sich von den geistigen Individualitäten greifen lassen und dabei doch zuletzt die spezifische geistige Spannung einer Epoche und eines Cirkels ohne Mühe und Gewalt herausstellen. Es ist ein gut geschriebenes, sehr ausgereiftes Buch“.160 Am 4. Oktober 1940 nimmt er sich die Auseinandersetzung mit den französischen Moralisten vor: „Ihre Rezension über das Gassend-Buch161 habe ich gerne gelesen, für Ihren ital. Aufsatz ‚Moralisti Italiani‘162 brauche ich noch Zeit, und auch die 2. Folge Moralisti163 will ich mir noch genauer ansehen“.164 Die beiden lesen nicht nur gegenseitig ihre Schriften, sondern planen auch, Rezensionen über Bücher des Anderen zu verfassen. Zwar ist von Kommerell keine Rezension über Schalk erschienen,165 aber Schalk scheint ihn gebeten zu haben, eine Rezension zu übernehmen. Um welche Untersuchung es sich dabei handelt, läßt sich nicht mehr feststellen. Kommerell zeigt sich am 29. Oktober 1938 interessiert: „Ich stecke schon wieder tief in Aristoteles und sehe manchmal auf, ob nicht ein Brief von Ihnen kommt. Aber nein – dafür die Anfrage, wegen Besprechung. Wenns nicht zu sehr pressiert, übernehme ich sie gerne“.166 Er bittet Schalk ebenso um eine Rezension zu Lessing und Aristoteles: „Eine kritische öffentliche Anmerkung von Ihnen zu dem LessingBuch würde mich sehr freuen, auch wenn ich sie nicht vorher zur Einsicht erhalte“.167 Auf der anderen Seite versucht er, Schalk einen Vortrag am Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt zu vermitteln: „Die einzige Stelle, wo Vor159 Gemeint ist Schalk, Fritz: Einleitung in die Encyclopädie der französischen Aufklärung, Kap. 1: Die Entstehung des schriftstellerischen Selbstbewußtseins in Frankreich, München 1936, S. 15–65. 160 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 13.07.1938, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/1. 161 Gemeint ist Schalk, Fritz: Rez. zu Hess: Pierre Gassend. Der französische Späthumanismus und das Problem von Wissen und Glauben, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 202 (1940), S. 130–137. 162 Gemeint ist Schalk, Fritz: Moralisti italiani del Rinascimento, Wien 1940. 163 Gemeint ist Schalk, Fritz: Die französischen Moralisten, Bd. 2: Galiani, Rivarol, Joubert, Jouffroy, Leipzig 1940. 164 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 04.10.1940, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/5. 165 Vgl. Alquist, Bibliographie, S. 488ff. und Dambacher, Kommerell-Bibliographie, S. 107f. 166 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 29.10.1938, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/6. 167 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 04.10.1940, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/5.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

träge über romanistische Themen gehalten werden, ist die Vortragsreihe des Hochstifts – soviel ich weiß. Ich habe Beutler schon früher von Ihnen erzählt und will es nun wieder tun. Er greift gern auf die alten Kanons zurück“.168 Nach Ende des Vertretungssemesters in Köln 1938 kehrt Kommerell wieder nach Frankfurt zurück. Die erhoffte Berufung nach Köln, bei der Schalk versucht, seinen Einfluß geltend zu machen, unterbleibt, da Ernst Bertram seine Vorlesungen wieder aufnimmt.169 Der Kontakt zwischen beiden setzt sich aber in einzelnen Treffen fort, bei denen sie über spanische Literatur debattieren und einen kleinen spanischen Lesekreis einrichten. Für den Vortrag am Freien Deutschen Hochstift schlägt Schalk Gesprächsthemen vor, mit denen er sich besonders in seiner Forschung auseinandersetzt: Ich würde sehr gern in Frankfurt, wenn es dazu kommen sollte, sprechen entweder über die spanischen Moralisten – ich bliebe dann bei dem Buch über die romanischen Moralisten – oder über Quevedo – auch dann bliebe ich bei etwas, wofür schon viel Vorarbeit geleistet ist. Das Kölner Thema – Erasmus und Spanien – ist nun, nachdem Bataillon170 sein großes Buch geschrieben hat, nicht mehr recht aktuell. [...] Schade auch, daß das spanische Kränzchen viel zu kurz stattfand, und wir nur genascht haben im Buscón.171 [...] Alles Gute für die Ferien: Dichtungen, Nachdichtungen, wissenschaftliche Werke mit und ohne Anmerkungen.172

Die Lektüre wird auch nach Kommerells Wechsel an die Marburger Universität über die Distanz fortgesetzt: „Ich freue mich, daß Sie Ihren Buchplänen, nach den mir gesandten Teilarbeiten, treu geblieben sind und bin begierig, daß ich eines Tages von Ihnen über Gracián oder Quevedo lesen werde. Beide beschäftigen mich augenblicklich stark: die Lectüre, die Sie (noch immer grolle ich etwas, wie selten!) mit mir angezettelt haben, wird hier mit dem famosen roman. Assistenten W. Müller fortgesetzt (neben meiner eigenen Lectüre des Kriticon173 mit dem wunderbaren Anfang!), und die Leidenschaft zu Spanien und Camões,174 den ich unvergleichlich finde, bekommt immens irgend eine Nahrung“.175

168 Ebd. 84.1505/5. 169 Vgl. BA 345f. Zu Kommerells Plänen, nach Köln zu wechseln, siehe auch DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 07.09.1938, Nachlaß Kommerell, A: 56.370 und Brief Kommerell an Heinrich Zimmer o. D. [Spätherbst 1938], BA 345f. 170 Gemeint ist Bataillon, Marcel: Érasme et l’Espagne, Paris 1937. 171 Gemeint ist Quevedo y Villegas, Francisco Gómez de: El Buscón, Zaragosa 1626. 172 DLA Marbach, Brief Fritz Schalk an Kommerell vom 28.02.1939, Nachlaß Kommerell, A: 84.1621. 173 Gemeint ist Gracián, Baltasar: El criticón, 3 Bde, Madrid 1653–1657. 174 Gemeint ist der portugiesische Dichter Luís Vaz de Camões (1524/25–1580). 175 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 22.12.1941, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/8.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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Franz Walter Müller (1912–1998) ist – nach dem Weggang seines Lehrers Krauss – der einzige Romanist an der Marburger Universität, mit dem Kommerell seine Diskussionen über spanische Literatur fortsetzen kann, allerdings nur bis auch dieser nach Berlin beordert wird: „Der Dr. habil. Müller, den ich so sehr schätze, ist in Berlin Dolmetscher; Kalthoff einen vorzüglichen Romanisten, aber nur Lehrer, sehe ich manchmal im Urlaub“.176 Müller wird 1959 Romanistik an der Freien Universität Berlin lehren, 1963 nach Frankfurt berufen und dort 1977 emeritiert. Er veröffentlicht Studien über Jean Giraudoux (1957), Quevedo (1966), über den Rosenroman und der lateinische Averroismus des 13. Jahrhunderts (1947) und Menéndez Pidal und die Rolandliedsforschung (1971). Kommerell schildert dem Marburger Philosophen Julius Ebbinghaus am 20. August 1942 seine Anerkennung: „Müller liegt mir sehr am Herzen, und zwar, obwohl ich ihn gerne mag, aus reinen Wert-gründen, wovon diese Burschen keinen Begriff haben. Ich würde ihn genau so fördern, wenn er mein persönlicher Feind wäre“.177 Außerdem drückt er am 10. Januar 1943 gegenüber Reinhardt aus, daß er Müller auch als seinen Schüler ansieht: „der Jüngling, auf den ich setzte, der Romanist Müller, dolmetscht in Berlin“.178 Schalk und Kommerell setzen sich mit verschiedenen romanistischen und besonders mit hispanistischen Themen auseinander. Dabei steht Calderón im Zentrum. Der Germanist berichtet dem Romanisten von seinen CalderónStudien: „Ich habe hier das auto sacramental: Vida es sueño gelesen, was mit dem gleichnamigen weltlichen Stück zu vergleichen sehr aufschlußreich ist!“179 Kommerell entscheidet strategisch, in welchen verschiedenen Zeitschriften er seine dichterischen und wissenschaftlichen Arbeiten publizieren soll. Vor dem Hintergrund der Freundschaft zu Schalk wird deutlich, warum Kommerell für seine Calderón-Übertragungen 1941 und 1942 die Zeitschrift Romanische Forschungen wählt – denn sie wird von Schalk herausgegeben. In einem Brief an ihn fragt er dementsprechend, wie die Veröffentlichung angelegt werden soll: „Ich lege ein Stück Calderón bei, aus dem 2. Teil der Tochter der Luft. Wenn Sie es für die Zeitschrift mögen, so schreib‘ ich dann

176 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 20.08.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/9. 177 Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Karte Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 20.08.1942. 178 Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 10.01.1943, BA 410. Zum Briefwechsel zwischen Kommerell und Müller siehe DLA Marbach, Brief Franz Walter Müller an Erika Kommerell vom 12.07.1962, Nachlaß Kommerell, A: 84.1681. 179 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 06.08.1938, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/3. Den Vergleich führt Kommerell später in Etwas über die Kunst Calderons aus, vgl. KC 166–172.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

noch ein paar Zeilen verknüpfenden Text dazu. Oder ist dies überflüssig?“180 An dieser Stelle zeigt sich besonders manifest die Verbindung von Personenund Institutionenebene der Wissenschaftsgeschichte. Die persönlichen Beziehungen erklären außerdem, warum es 1974 Fritz Schalk ist, der den 1946 wenig beachteten ersten Band von Kommerells Beiträgen zu einem deutschen Calderon in einer durchgesehenen Ausgabe herausgibt. Kommerells feine Andeutung Etwas über die Kunst Calderons wird allerdings auf die einfache Aussage Die Kunst Calderons (KC) reduziert.181 Im Vorwort betont Schalk die „geistreich gebrochenen Linien“, „wo alle Elemente der Kunst Calderons zusammentreffen“ (KC VII). Kommerell bewege „sich gleitend leicht durch alle Epochen“ und dabei sei „der Zug zum Vergleich elementar“ (KC VIII). Darüber hinaus habe er „Folge und Zusammenhang zwischen seinen Erkenntnissen hergestellt und jeden Gegenstand zu höherem literarischen Ausdruck gebracht“ (KC IX). Schalk geht auf die Beziehung von dichterischem und wissenschaftlichem Schaffen ein und interpretiert so Kommerells „Calderondeutung auch [als] ein[en] Schritt auf einem poetischen Weg“ (KC IX). Er habe der Interpretation „eine so persönliche Farbe gegeben wie seiner Nachdichtung“ und damit „eine eigene Stilfarbe seines Geistes erreicht“ (KC IX). Obwohl Schalks zentrales Forschungsthema die Moralisten des 17. Jahrhunderts sind, ist festzustellen, daß er nach dem Austausch mit Kommerell beginnt, Calderón zu rezipieren. In seinem Überblickswerk Spanische Geisteswelt. Vom maurischen bis zum modernen Spanien182 behandelt er die wichtigsten spanischen Autoren. Versehen mit einer kurzen biographischen Einleitung werden repräsentative Auszüge aus den Schriften angeführt. Mit Bezug auf Calderóns Theater stellt Schalk fest: „Die Art und Beleuchtung des Geschehens wechselt je nach der Energie, mit der das poetische Bewußtsein sich bald dem Historisch-Legendarischen, dem Mythologischen, dem Philosophisch-Theologischen zuwendet“.183 Er zitiert zwar Calderóns La vida es sueño aus der Übersetzung von Eugen Gürster Das Leben ein Traum von 1928, die im Reclam-Verlag erschienen ist.184 Aber bei der Erläuterung von comedia und auto sacramental weist er auf Kommerells Übersetzungstitel Das

180 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 04.10.1940, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/5. 181 Deshalb benutzt die vorliegende Arbeit den Titel Etwas über die Kunst Calderons auch, wenn aus der Ausgabe von 1974 zitiert wird. 182 Vgl. Schalk, Fritz: Pedro Calderón de la Barca: Das Leben ein Traum, in: ders.: Spanische Geisteswelt. Vom maurischen bis zum modernen Spanien, Baden-Baden 1957, S. 183–189. 183 Ebd. S. 183. 184 Vgl. Gürster, Eugen: Pedro Calderon de la Barca. Ausgewählte Schauspiele, München 1928.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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Leben ist Traum hin185 und führt die Beiträge zu einem deutschen Calderon in der Bibliographie an.186 Schalk verfaßt nach der Begegnung mit Kommerell einen Artikel über Calderóns La vida es sueño. Beim Titel seines Beitrags, der 1956/57 in Die Tribüne erscheint, entscheidet er sich gegen Gries’ und für Kommerells Vorschlag: Calderón: Das Leben ist Traum.187 Er hebt den Gegensatz von Sein und Schein, den Kommerell stark betont, hervor: „Die Luft einer Literatur, die das Leben als Schein und Traum entlarvt, die Welt als eine Bühne beschreibt, in der der Mensch der Spieler und Gott der Dichter und Dramaturg ist, der die Rollen verteilt, umfing die Spanier des 17. Jahrhunderts“.188 Ebenso wie Kommerell interessiert er sich besonders für Calderóns „Stil, der alle Kunstmittel der Zeit aufbot und sozusagen in vollem Feuer und Flammen steht, voller Anklänge an Malerei und Baukunst, voller Anklänge auch an die den Sinnen schmeichelnde arabische Literatur“.189 Er zitiert – ebenso wie Krauss – nicht aus den bekannteren Übersetzungen von Gries oder Gürster, sondern aus Kommerells Übertragung: „Was ist Leben: Raserei! / Was ist Leben: Schein und Schaum! / Ein Als-Ob, ein Wenn und Kaum, / Klein dem Haben, groß dem Streben, / Traum ist dieses ganze Leben, / Und die Träume sind ein Traum!“190 Schalk verfaßt außerdem das Nachwort zur 1954 erschienenen ReclamAusgabe der Eichendorff-Übersetzung von Das große Welttheater.191 Der Einfluß von Kommerells Beschäftigung mit Das Leben ist Traum ist dort zu erkennen, wo sich Schalk im Hinblick auf Das große Welttheater mit Vorstellungen vom Leben auseinandersetzt: „Daß das Leben eine Komödie, Traum und Schatten und nur Vorbereitung auf das wahre ewige Leben sei, diesen dem goldenen Zeitalter Spaniens so vertrauten Gedanken hat das Calderonsche Stück zu lebendigem Fühlen und zu voller Anschauung erschlossen“.192 An einer anderen Stelle, an der er über das Verhältnis zwischen comedias und autos sacramentales spricht, wählt er ausgerechnet La vida es sueño als Beispiel, obwohl es viele Stücke mit Fassungen als comedia und als auto sacramental gibt. Dann nennt er Kommerells Übersetzungstitel und nicht den von Gries: „Jene für das goldenen Zeitalter so charakteristische Steigerung des Sujets

185 Schalk, Geisteswelt, S. 183. 186 Ebd. S. 357. 187 Vgl. Schalk, Fritz: Calderón: Das Leben ist Traum, in: Die Tribüne. Halbmonatsschrift der Bühnen der Stadt Köln 26 (1956/57), S. 1–4. 188 Ebd. S. 1. 189 Ebd. S. 4. 190 Ebd. S. 3. 191 Vgl. Schalk, Fritz: Nachwort, in: Calderón de la Barca: Das große Welttheater. In der Nachdichtung von Joseph von Eichendorff, Stuttgart 1954, S. 50–55. 192 Ebd. S. 51f.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

einer Komödie ins Geistliche (lo divino) – gibt es doch z. B. eine Komödie und ein Auto ‚Das Leben ist Traum‘ – sie hingen mit der besonderen Lage des spanischen Theaters zusammen und verleugnen nicht die Farbe der Zeit“.193 Er zitiert in seinem Nachwort ebenfalls Kommerells Analyse der EichendorffÜbersetzung und gibt die Beiträge zu einem deutschen Calderon als Literaturangabe an.194 Den „zu früh von uns gegangene[n] Max Kommerell“ erwähnt er im Text sogar namentlich und bezeichnet dessen Bemühungen, „den ‚deutschen Calderon‘ im Bilde zu gestalten“, als einen „kühnen Versuch“, der in der „schönsten Blüte deutscher Calderonforschung“ gegipfelt habe.195 Abgesehen vom Austausch zwischen den beiden gibt es einen Kontakt zwischen Krauss und Schalk, die sich als Romanisten kennen. In ihren Briefen äußern sich Kommerell und Schalk wiederholt über Krauss. So entsteht ein Kreis von Wissenschaftlern, mit denen sich Kommerell über hispanistische Themen austauscht. Er teilt z. B. Schalk mit, daß er Krauss, der nun in Berlin bei der ‚Dolmetscher-Lehrkompagnie‘ arbeite, sehr vermisse: „Wie gern hätt‘ ich den famosen Krauss da; ich hoffe, es geschieht jetzt etwas für ihn!“196 Auf der anderen Seite leitet Krauss die Festschrift der Universität Köln, die von Schalk herausgegeben wird, an Kommerell weiter: „Von Ihrer Portugal-Festschrift erfuhr ich durch einen Sonderabdruck, den Krauss mir sandte“.197 Krauss schaltet auch Kommerell ein, um Schalk zu bitten, den zweiten Teils eines Aufsatzes zu veröffentlichen: „Der Verf[asser] des LopeAufsatzes [Werner Krauss], dessen 2. Teil in Ihrer Zeitschrift offenbar noch aussteht,198 läßt Ihnen auf diesem Umweg die Bitte zustellen, ihn doch ja zu bringen. Er sei überzeugt, daß der Abdruck für niemanden unerfreulich werde, und fürchte, daß seine Gedanken ohne die Ergänzung des 2. Teils unvollkommen und mißverständlich an die Öffentlichkeit gelangen“.199

193 Ebd. S. 55. 194 Ebd. S. 53f.: „‚Wie tief muß Eichendorff die andere, von vielen übersehene Seite seines (Calderons) Könnens begriffen haben, das Fronleichnamsspiel, damit er uns die bisher schönste Verdeutschung eines Calderondramas, das große Welttheater schenken konnte!‘* Beiträge zu einem deutschen Calderon Frankfurt 1946 I, 9“. 195 Ebd. S. 53. 196 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 22.12.1941, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/8. 197 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 04.10.1940, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/5. 198 Der erste Teil ist 1942 im 56. Band der Romanischen Forschungen erschienen: Krauss, Werner: Lope de Vegas poetisches Weltbild in seinen Briefen (I.), in: RF 56 (1942), S. 282–299. Der zweite Teil erscheint, der Forderung entsprechend, 1943 im 57. Band: Krauss, Werner: Lope de Vegas poetisches Weltbild in seinen Briefen (II.), in: RF 57 (1943), S. 1–37. 199 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 05.05.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/10.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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Kommerells Beschäftigung mit der spanischen Literatur wird also durch den Kontakt mit Schalk verstärkt. Zugleich gewinnt Schalk durch Kommerell ein größeres Interesse an Calderón. Beide tauschen sich zudem noch im Dreieck mit Werner Krauss über hispanistische Themen aus. Die in dieser Arbeit untersuchte These von der Entstehung der Wissenschaft aus dem Dialog kann also am Beispiel des Verhältnisses zwischen Kommerell und Schalk in ihrem Prozeß nachvollziehbar belegt werden. Im Zusammenhang von Kommerells Austausch mit anderen Wissenschaftlern ist noch auf zwei weitere bekannte Romanisten einzugehen. Da es in diesem Unterkapitel nicht um eine chronologische Verortung von Kommerell in der Calderón-Rezeption in Deutschland geht, sondern um den Nachweis der Entstehung seiner Texte im Beziehungsgeflecht mit anderen Romanisten, wird hier auf die Schriften von Hugo Friedrich (1904–1978) und Karl Vossler (1872–1949) nur im Hinblick auf ihre persönliche Beziehung zu Kommerell eingegangen. Ein weiterer Romanist, der neben Fritz Schalk Mitte der 1930er Jahre als Assistent an der Universität Köln lehrt, ist Hugo Friedrich, der später durch sein Standardwerk Die Struktur der modernen Lyrik (1956) bekannt wurde. Beide pflegen seit der gemeinsamen Kölner Zeit eine enge wissenschaftliche Zusammenarbeit. Schalk gibt die Festschrift für Friedrich heraus, Friedrich steuert einen Beitrag zur Festschrift für Schalk bei, und beide geben zusammen die Festschrift für den gemeinsamen Freund Herbert Dieckmann (1907–1983) heraus.200 Zwischen Kommerell und Friedrich kommt es zu keinem engen Kontakt und keinem Briefwechsel, da Friedrich 1937 nach Freiburg berufen wird. Sie haben sich jedoch gekannt, was ein Brief von Kommerell an Schalk belegt, in dem er vom Besuch eines Vortrags berichtet: „Heifs u. Friedrich sah ich, anläßlich eines wiederum schlechten Vortrags“.201 Hugo Friedrich hält 1955 auf der Jahresversammlung der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg einen Vortrag, den er Der fremde Calderón betitelt.202 Kommerell versucht, das Interesse für Calderón in Deutschland wiederzuerwecken, das Fremdartige an Calderón verständlich zu machen und im Medium der Vergegenwärtigung einen deutschen Calderon zu schaffen. Friedrichs Betonung der Fremdheit Calderóns stellt ein entgegengesetztes 200 Gemeint sind Schalk, Fritz (Hg.): Ideen und Formen. Festschrift für Hugo Friedrich zum 24.12.1964, Frankfurt/M 1965; Friedrich, Hugo: Über die Silvae des Statius (insbesondere V, 4, Sommus) und die Frage des literarischen Manierismus, in: Wort und Text. Festschrift für Fritz Schalk, hrsg. v. Harri Meier u. Hans Sckommodau, Frankfurt/M 1963, S. 34–56; und: Friedrich, Hugo/ Schalk, Fritz (Hgg.): Europäische Aufklärung. Herbert Dieckmann zum 60. Geburtstag, München 1967. 201 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 05.05.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/10. 202 Vgl. Friedrich, Hugo: Der fremde Calderón, Freiburg/B 1955.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Motto dar. Er grenzt sich damit von Kommerell ab und schreibt das Scheitern der Wiederbelebung Calderóns fest. Im Unterscheid zu Kommerell, der stärker die theatertechnische Natur von Calderóns Ausdrucksweise betont, hebt Friedrich in seiner Interpretation die Kombinatorik der Zeichen hervor.203 Der Einfluß der Beiträge zu einem deutschen Calderon, die Friedrich im Literaturverzeichnis aufführt,204 wird jedoch in den Untersuchungen zu metaphorischen Vergleichsreihen deutlich, die Friedrich fortsetzt: „Vielmehr liebt er [Calderón] es, das selber schon Sinnliche durch Umwandlung in ein anderes Sinnliches zu intensivieren, in einem von der Sache wegführenden Zentrifugaltrieb, der, die Welt des Sinnlichen weit durchmessend aber nie verlassend, hinausgreift in den entfernsten Vergleichsgegenstand, und nicht nur in einen, sondern der Reihe nach in mehrere“.205 Der Calderón-Austausch, den Kommerell mit einigen Romanisten der 1930er und 1940er Jahre führt, steht auch in Verbindung mit den CalderónUntersuchungen des einflußreichen Münchner Romanisten Karl Vossler. Man kann davon ausgehen, daß Kommerell den Calderón-Aufsatz von Vossler, der 1931/32 in der Zeitschrift Corona erscheint,206 gekannt hat. Kommerell ist selbst Beiträger der Corona (vgl. Kap. V). Zwar gibt es weder einen Briefkontakt zwischen Kommerell und Vossler, noch wird der Romanist in seinen Briefen erwähnt. Aber es ist belegt, daß Vossler durch seinen Schüler Werner Krauss von Kommerell gehört hat und mehr über ihn in Erfahrung bringen will: „Was Sie über Kommerell in Marburg schreiben interessiert mich“.207 Auf der einen Seite drückt Vossler, wie Friedrich, seine Distanz zu Calderón aus und steht damit im Gegensatz zum „Calderón-Begeisterten“ Kommerell (KC 19).208 Auf der anderen Seite zeigt sich in den Untersuchungen der beiden eine formalanalytische Strukturparallele, die in der Hervorhebung des opernhaften Charakters von Calderóns Stücken liegt.209 Vossler betont dementsprechend: „Wie könnte auch das Reich der Ideen mit seinen himmlischen Harmonien und mit dem Licht seiner Gestirne auf einer irdischen Bühne sich unmittelbar kundtun und die Sinne erfassen und den ganzen Menschen berauschen, wenn es auf Musik und Lichtwirkung verzichtete?“210

203 204 205 206 207 208 209 210

Vgl. Albert, Zeichen, S. 238. Friedrich, Calderón, S. 45. Ebd. S. 23. Zur Kritik an Friedrich siehe auch Albert, Zeichen, S. 241. Vgl. Vossler, Karl: Calderón, in: ders.: Die Romanische Welt. Gesammelte Aufsätze, mit einem Vorwort v. Hugo Friedrich, München 1965, S. 271–279 [erstmals in: Corona 2 (1931/32), S. 43–54]. Brief Karl Vossler an Werner Krauss vom 11.09.1942, Krauss, Briefe, S. 115. Vgl. Briesemeister, Kommerell, S. 214. Außerdem gibt es eine Parallele in der Akzentuierung von Goethes Calderón-Rezeption. Vgl. Albert, Umrisse, S. 377 und Albert, Zeichen, S. 237. Vossler, Calderón, S. 275.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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Kommerell eignet sich Calderón, der einen zentralen Forschungsgegenstand der Romanistik seit den 1930er Jahren darstellt, an. Durch seine Weiterführung der Calderón-Auslegungen und durch seine Übersetzungen setzt er bleibende Akzente in der Calderón-Rezeption in Deutschland. VI.2.3 Ernst Robert Curtius und Kommerells Stilforschung in Etwas über die Kunst Calderons In diesem Abschnitt wird Kommerells Calderón-Gesamtinterpretation im Zusammenhang mit der Freundschaft zu Ernst Robert Curtius untersucht. Zuerst wird ihr Briefwechsel analysiert, danach die Forschungen, die Curtius über Calderón vorgelegt hat. Es folgt die Untersuchung von Kommerells Verwendung der Begriffe ‚Vorrat‘, ‚Zeichen‘ und ‚Zeigen‘. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern Kommerell in Etwas über die Kunst Calderons Stilforschung, also ‚Toposforschung‘ im Sinne von Ernst Robert Curtius, betreibt. i) Der Briefwechsel zwischen Kommerell und Curtius über Calderón Kommerell hat einen Austausch mit dem wohl renommiertesten Romanisten der Zeit Ernst Robert Curtius (1886–1956), einem in seinen geistigen Interessen ähnlich weitreichenden Philologen von Weltrang. Beide haben einen gemeinsamen Hintergrund, da Curtius von 1906 bis 1931 ebenfalls in Kontakt zu Stefan George und Friedrich Gundolf in Heidelberg steht, auch wenn er kein Mitglied des George-Kreises ist.211 Trotzdem treffen sich mit Kommerell und Curtius zwei Wissenschaftler, die affiziert von George sind. Curtius grenzt sich schon in den 1920er Jahren von einer nationalistisch ausgerichteten Wissenschaft ab und beschäftigt sich mit André Gide, Marcel Proust und der französischen Moderne. Nach 1933 verfolgt er einen Europagedanken im Sinne einer Rezeption von Antike und Mittelalter, als dessen Produkt nach langen Studien Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter 1948 steht. In diese kosmopolitische Disposition fällt die Begegnung mit Kommerell, der im Sommersemester 1934 die Vertretung des Lehrstuhls von Oskar Walzel (1864–1944) in Bonn übernimmt. Die Bekanntschaft mit dem dort lehrenden Curtius, die schon vorher bestanden hat,212 wird während des Vertre-

211 Zum Verhältnis von Curtius zu George und Gundolf siehe Lausberg, Heinrich: Ernst Robert Curtius (1886–1956). Aus dem Nachlaß hrsg. u. eingel. v. Arnold Arens, Stuttgart 1993, S. 25–31; Todd, Jeffrey D.: The price of individuality: E. R. Curtius’ exclusion from the George-Kreis, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 51 (2001) H. 4, S. 431–445; und: ders.: Die Stimme, die nie verklingt. Ernst Robert Curtius’ abgebrochenes und fortwährendes Verhältnis zum George-Kreis, in: Böschenstein u. a., Beruf der Wissenschaft, S. 195–208. 212 Vgl. Jens, Kommerell, S. 24 u. 32. Die Annahme, die Freundschaft sei erstmals 1934 in Bonn entstanden ist unzutreffend bei Storck, Kommerell, S. 59 und bei Briesemeister,

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

tungssemesters vertieft. Wahrscheinlich haben sich beide zuvor in Frankfurt über Karl Reinhardt kennengelernt, da Reinhardt und Curtius zusammen Privatdozenten in Bonn waren.213 Wie bei vielen Freundschaften Kommerells besteht auch in diesem Fall einen Altersunterschied von ungefähr 20 Jahren, so daß Curtius eine väterliche Rolle einnimmt. Schon zu Anfang des Sommersemesters 1934 berichtet Kommerell Reinhardt von der „Möglichkeit, daß sich zu Curtius ein gutes Verhältnis anspinnt“.214 Seine Beziehung ist sowohl zu Ernst Robert Curtius als auch zu dessen Frau Ilse sehr eng. Beide beschreibt er in einer metaphorischen Sprache: „Er berührt eigentlich die Leute nicht unmittelbar sondern durch das Medium seiner überjungen liebreizenden Frau, die heftig beobachtet, mit menschenhungrigen Augen sich das Kuriose heranrafft, mit leicht singender Stimme viele gescheidte [sic] Sachen zum Vortrag bringt, bald mehr sie selber bald mehr Echo, urban, mit großer Lust, einfach zu sein, immer ein wenig müd, neckisch und sehr gern lachend“.215 Kommerell unterrichtet Ilse Curtius von seinen Calderón-Übertragungen, die darauf wohlwollend ironisch antwortet: „Ich freue mich auf Ihre Calderon Über- und Untersetzungen“.216 Beispielhaft für die Selbstbeschreibung Kommerells ist ein undatierter, faszinierender Brief an Ilse Curtius, in dem er die Rolle seiner Frau einnimmt und sich selbst von ihrer Perspektive aus beschreibt. In den ersten Sätzen spricht er noch für sich selbst: „Liebe Frau Curtius, als ich nach Sigiswang vorausfuhr, schärfte mir Evi ein: ‚in S. liegt ein Brief von Frau C. an mich. Bitte sofort schicken!‘ Ich dachte – der wird lang nicht beantwortet, nach solchen Pausen und Umwegen, und nahm mir vor, ihn meinerseits zu beantworten, in dem meinem Erraten die Briefhülle durchsichtig wird, und ich mich mimisch in die Seele der Empfängerin versetzte und also einen hypothetischen Bezug auf einen hypothetischen Inhalt nähme. Eitel genug nahm ich an, daß ich in ihm vorkäme“. Danach setzt der fiktive Brief ein: ‚Meine liebste Ilse‘ hätte der Brief begonnen, ‚Max war wohl fleißig, aber er tut alles auf eine so nonchalante Art. Wenn er sich mit Jünglingen oder Männern un-

Kunst, S. 398. 213 Vgl. Brief Kommerell an Ernst Robert Curtius vom 01.09.1934, BA 294. 214 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 25.05.1934, Nachlaß Kommerell, A: 56.360. 215 Brief Kommerell an Karl Schlechta vom 10.08.1934, BA 279. Siehe auch BA 270 und DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 25.05.1934, Nachlaß Kommerell, A: 56.360: „Frau C[urtius] ist weitlandein gepriesen wegen übergroßer Schönheit, Jugend und Glücksgüte. Man bildet sich da leicht ein falsches Vorurteil. Ich fand sie hübsch, aber vor allem sehr gesprächsbegabt, lebensverständig und anziehend“. 216 DLA Marbach, Brief Ilse Curtius an Kommerell vom 16.12.1934, Nachlaß Kommerell, A: 84.1533/1.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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terredet, hat man das Gefühl, er geht zu Buben auf die Gaß, und wenn er dichtet, meint man, er spielt Lotto oder Kopfzerbrechen. [...] Aber das scheint doch eigentlich bloß so; ich glaube, so unreif, wie Sie meinen, ist der doch nicht. Sie sind eben leider so verschieden und in ganz verschiedenen Punkten sérieux. Eigentlich weiß er von manchem ganz viel – manchmal hat er ein Licht in der Hand, das in vielen Falten leuchtet. Aber er kann’s nicht selber anzünden, und manchmal, wenns grad am schönsten brennt, stolpert er, und löscht es aus Ungeschick. Er ist oft ein altes Kind ... eine Frau möcht ihm immer zurufen: ‚gedenke doch, daß Du 30 bist!‘ Ja, dann haben Sie recht, das ist einer ihrer glücklichsten Aussprüche. Wenn er mit Geistproblemen und Seelentatsachen zu tun hat, da ist er gut und hält sogar meinem unvergleichlichen Papi stand ... Da aber: Zugriff, unentrinnbarer Blick, das siegreich Zwingende – wer ihm das geben könnte! –‘

Kommerell inszeniert sich als genialer Autor. Durch sein angebliches Understatement versucht gerade sich eitel darzustellen. Er setzt den Brief fort mit den Worten: ‚Denken Sie, Max findet, das perlgraue gefranzte Kostüm stehe mir am besten, und die Bonner Schneiderin ziehe mich so an, wie ich mich selber sehe. Sollte ich wirklich von meiner Schneiderin am besten verstanden werden? Max versteht mich auch gut, aber leider nur meine Tiefe. Meine Oberfläche ist doch auch schön. Wer versteht meine Oberfläche? Ist das nicht die Tragik von uns Frauen: unverstandene Oberflächen? Was meinen Sie, Ilse? – Ein Fisch hat doch auch Schuppen; die passen zum Wasser – es ist sein persönliches Reflex auf das Wässerige ... Es müßte jemand den Reflex reflectieren. [...] Ach liebste Ilse, wann sprechen wir uns mal wieder aus? Das hat immer so was mysteriöses – wir brauchen uns gar nicht besondere Geheimnisse zu sagen, etwa was die Männer nicht wissen dürfen ... aber wie wir uns sagen, was wir uns sagen, und wie wir es sehen, und der Tonfall und das Blinzeln dabei, ja, das ist das Geheimnisvolle!‘

Hier zeigen sich Stereotype von Kommerells Frauenbild. Er kaschiert seine Vorstellungen dabei durch Ironie. Zugleich schlüpft er in die Rolle seiner Frau, um Geheimnisse von Frau Curtius herauszufinden. Damit zeigt er eine anspruchsvolle Form des Flirts mit der Frau eines Kollegen. Dann erwähnt er seine Tochter: ‚Ich könnte mich vor dem Spiegel manchmal ohrfeigen, und tu‘ es auch. Das reizt Max – ich versteh‘ es! Von ihm hat sie die Ergebung ins Unvermeidliche geerbt. Ich finde es leichter, sich in das Unvermeidliche zu schicken als in den Unvermeidlichen! Ui, wenn Max das läse!! Aber geschieht ihm recht, daß wirs ihm geben – wenn wir wüßten, was er manchmal von uns denkt!! Komisch, manchmal sag ich zu Ihnen Sachen ganz laut, die ich mir selber gar nicht zu sagen traue. [...] Wissen Sie, Ilslein, wir müssen einmal zusammen nach Paris! Wenn Ihr Parfum alle ist ... .‘ – – [...] Tausend Grüße Ihr Max Kommerell.217

217 ULB Bonn, Brief Kommerell an Ilse Curtius o. D., Nachlaß Curtius I, Acc.-Nr. 85/3.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Es wird ebenfalls deutlich, wie gut sich Kommerell in die Rolle einer weiblichen Verfasserin hineinversetzen kann und wie wohl er sich darin fühlt. Für ihn tut es gut, einmal aus der Männerrolle herauszufallen. In diesem Brief zeigt sich besonders gut Kommerells Hang zur Selbstinszenierung. Kommerell tritt hier als Spieler auf und durchspielt verschiedene Rollentypen. Im Brief kann er sich selbst realisieren, da er in ihm eine Enthüllung im Medium des Verbergens vollziehen kann. Als Kommerell auf das Vertretungssemester in Bonn zurückblickt, hebt er besonders die Beziehung zu Ilse und Ernst Robert Curtius hervor: „Meine Expedition nach Bonn war durch Curtiussens lustvoll, sonst Anlaß zu mehr geistiger als persönlicher Kümmernis. Eine ernste psychologische Reflektion endete mit dem Resultat: Dummheit ist Willenssache, und als solche strafbar!“218 Curtius verkörpert für ihn einen „Goethisch-Europäische[n] Repräsentant[en] der Welt-Literatur, von großem Renaissance-GelehrtenFormat, und einigen Herzens- und Geistes-Eigenschaften, die weit über den Gelehrten hinausgehen“.219 Zum Teil bedürfe er des Ausgleichs durch seine Frau: „Er ist ein gebildeter Europäer, eigentlich sehr ‚Sachmensch‘ wenig sprühend und es ist sehr gut, wenn sie [Ilse Curtius] sich dazu setzt. Was die Leute guttun (ich meine: am Herzen!)“.220 Kommerell prognostiziert, daß die Freundschaft mit „ihren Folgen kaum abzusehen ist. Er vergegenwärtigt vollkommen den Begriff der Goethischen Weltliteratur und zugleich eine zugleich geschichtlich objective und persönlich erfahrene, vielleicht erlittene Christlichkeit, ich meine nicht Christentum, wovon tausend Dinge zu lernen [sind]“.221 Kommerell nimmt hier wiederum genaue Beobachtungen vor. Mit Goethe, Europa und Christentum verwendet er Kategorien, an denen sich das deutsche Bildungsbürgertum auch noch nach 1933 orientiert. Mit der ‚europäischen Literatur‘ und dem ‚christlichen Renaissancegelehrtenformat‘ nimmt er ein Programm vorweg, das Curtius in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter ausführen wird. Seiner damaligen Freundin und späteren Frau Erika schildert er Curtius als Persönlichkeit mit einer „in ihm verborgene[n] Haus-Apotheke von giftigen Pülverchen“, dessen „sich Gehenlassen“ und „ironische Spitzen“ als „Selbstschutz und Verletzbarkeit“ zu verstehen seien. Auch wenn Curtius 218 Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 04.12.1934, BA 301. Es kommt außerdem zu gemeinsamen Treffen mit den Ehepartnern, vgl. DLA Marbach, Brief Ernst Robert Curtius an Kommerell o. D. [Frühjahr 1936], Nachlaß Kommerell, A: 84.1532/5 und DLA Marbach, Brief Kommerell an Ilse Curtius vom 26.11.1934, Nachlaß Kommerell, A: 84.1462/1. 219 Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 09.12.1934, BA 270. 220 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 25.05.1934, Nachlaß Kommerell, A: 56.360. 221 Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer o. D. [Anfang Dezember 1934], BA 270.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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„dem Geiste nach weiser Greis“ sei, habe er die „Knabenzeit des Herzens“ behalten. In religiöser Hinsicht fasziniert Kommerell Curtius’ „Art, Christ zu sein“, auf wissenschaftlicher Ebene bewundert er dessen „lückenlose Umfassung der Räume und der Zeiten“.222 Zwar nimmt Curtius eine Lehrer- und Vaterrolle ein, trotzdem profitiert auch er vom geistigen Austausch: „Durch Herrn v. Stein, von dem ich mich gestern verabschiedete, habe ich gelegentlich von Ihnen gehört, ein schwacher Ersatz für das schöne Zusammenleben, wie wir es im Sommer des letzten Jahres genießen konnten. Wenn wir auch seitdem nur wenig voneinander gesehen und gehört haben, so hat jener schöne Sommer doch so tiefe Wurzeln geschlagen, daß wir in der Zukunft noch reiche Früchte erwarten dürfen“.223 Eine physiognomische Darstellung von Curtius hat Kommerell seinem Freund Karl Schlechta am 10. August 1934 geliefert: „Er ist dick, majestätisch und skeptisch – lieb, hat ein glotziges, breitmäuliges Gesicht wie ein träger großer Fisch, der wartet was ihm von selbst ins Maul schwimmt. Aber dabei steigt der Verdacht auf, daß die kostbare Pflege seiner selbst und der Fleiß, den er bedächtig an diese Selbstheit legt, doch der Sieg über die Krisen einer sehr hohen Verletzlichkeit ist“ (BA 278f.). In einer Metapher assoziiert er Curtius’ Leselust mit der lebensnotwendigen Ernährung eines Fisches.224 In einer anderen Bemerkung äußert er kritisch, daß Curtius über jemanden, der kein Interesse zeige, einfach hinweggehe. So schreibt er an Reinhardt in Bezug auf dessen Antigone-Übersetzung: „Ich wollte Ihnen schon lange über die Antigone etwas schreiben. Welcher Grundsatz Sie bewog, mir kein Exemplar zu schicken, ist mir rätselhaft. Eine Erwägung à la ER Curtius kann doch wohl nicht stattgefunden haben, denn ich erwies mich doch kaum durch Nicht-Interesse unwürdig“.225 In einer Äußerung vom 1. September 1934, die direkt an Curtius gerichtet ist, scheint sogar – wenn auch ironisch kaschiert – ein freundschaftlich-konkurrierendes Verhältnis der beiden durch: „Nun leben Sie recht wohl und arbeiten Sie nicht zu toll, damit ich mich nicht zu sehr schämen muß“ (BA 295). Im Anschluß an das Bonner Vertretungssemester entwickelt sich ein Briefwechsel, der verschiedene romanistische Themen und vor allem Cal-

222 Brief Kommerell an Erika Franck vom 27.04.1935, BA 303. 223 DLA Marbach, Brief Ernst Robert Curtius an Kommerell vom 09.02.1935, Nachlaß Kommerell, A: 84.1532/2. 224 Der Einfluß auf Kommerell ist so intensiv, daß Curtius ihn in Gedanken bei einer Reise in Wien begleitet, wie er dessen Frau berichtet: „[I]ch dachte in dem wunderbaren Antiquariat Heck, Kärntner Ring 12, heftig an ERC – da könnte er seine Sammlung römischer Autoren in französischer Übersetzung angemessen bereichern“, ULB Bonn, Brief Kommerell an Ilse Curtius vom 05.10.1938, Nachlaß Curtius I, Acc.-Nr. 85/2. 225 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 03.09.1943, Nachlaß Kommerell, A: 56.378.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

derón zum Gegenstand hat. Curtius fördert dabei Kommerells Kenntnisse der spanischen Literatur durch gemeinsame Lektüren von Gedichten:226 „Er hat mit mir spanische Lyrik mystischen Inhalts aus dem 16. und 17. Jahrhundert gelesen; ein paar Worte begleitender Art machen ganze Reliefs und Wasserscheiden der geistigen und geschichtlichen Landschaft sichtbar, und in ein paar Minuten ist man im Fremdesten einheimisch. Daran, daß ich in seiner Nähre ganz Schüler werde, empfinde ich, daß er der geborene Lehrer ist“.227 Hier spricht Kommerell, wie bei Zimmer, die Struktur des Lehrer-SchülerVerhältnisses selbst aus. Daraus ergibt sich, daß er den Kontakt zu Curtius sucht, um sich selbst zu entwickeln.228 Auf der anderen Seite empfiehlt Curtius seinen Studenten, Vorlesungen bei Kommerell zu hören, wie sich KarlGustav Gerold erinnert: „Ich danke es einem glücklichen Zusammentreffen mit Ernst Robert Curtius, auf Max Kommerell aufmerksam gemacht worden zu sein. Alles, was er mir von ihm erzählte, war so faszinierend, daß ich im Sommer 1935 auf der Durchreise in Frankfurt anhielt“.229 Kommerell erkundigt sich bei Ilse Curtius, wie ihr Mann seinen Aufsatz Humoristische Personifikation im Don Quijote (vgl. VI.3.1) beurteile: „Was sagt ERC zu meinem Don Quijote Aufsatz! Ich hab so Angst... Ich besitze leider keinen fertigen Abzug sonst hätt ich ihn längst geschickt!“230 Ein Teil der Gespräche dreht sich um Kommerells Calderón-Lektüre: „Spanisch lese ich ‚Afectos de ordis y amor‘, das scheint mir der bemerkenswerten Calderon-Dramen eines“.231 Durch die Weitergabe der neuesten Forschungsliteratur bereichert der etablierte Romanist den Quereinsteiger: „Übrigens finde ich in der neuesten Arbeit über Calderon: Jutta Wille, Calderons Spiel der Erlösung, München 1932, S. 226 einen Passus über eine neue Calderon-Übersetzung, die ich bisher nicht einsehen konnte. Ich lege Ihnen Abschrift diese Passus bei“.232

226 Vgl. Briesemeister, Kommerell, S. 209. 227 Brief Kommerell an Erika Franck vom 27.04.1935, BA 303. 228 Curtius ermuntert Kommerell zu einem Sprachkurs in Spanien, den er wahrscheinlich aus finanziellen Gründen jedoch nicht antritt: „Die FerienKurse in Santander würden Ihnen gewiß viel bieten. Ich habe aber bisher noch nie davon gehört, daß es dort Freistellen (incl. Reise) gibt, worauf Sie doch zu reflectieren scheinen. Ich glaube es eigentlich nicht. Clavería [Lektor für Spanisch an der Universität Frankfurt] müßte evtl. bei seinem Generalkonsul anfragen“, DLA Marbach, Brief Ernst Robert Curtius an Kommerell o. D. [Frühjahr 1936], Nachlaß Kommerell, A: 84.1532/5. 229 Gerold, Memoriam, S. 15. 230 ULB Bonn, Brief Kommerell an Ilse Curtius vom 05.10.1938, Nachlaß Curtius I, Acc.Nr. 85/2. 231 DLA Marbach, Brief Kommerell an Ernst Robert und Ilse Curtius vom 13.08.1934, Nachlaß Kommerell, A: 84.1461. 232 DLA Marbach, Brief Ernst Robert Curtius an Kommerell vom 09.02.1935, Nachlaß Kommerell, A: 84.1532/2. Der Passus bezieht sich auf die Übersetzung von Eugen Gür-

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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Aus einem Brief an Ilse Curtius geht hervor, wie Kommerell die undankbare Rolle des Verlegers im Literaturbetrieb auffaßt: „[I]ch habe ein Stück aus dem 2. Teil der Tochter der Luft übersetzt, und werde daran demnächst weitermachen, hoffe dann auch, einen Unglücklichen zu finden, der mir beide Teile druckt“.233 Kommerells Identifikation mit Calderón tritt in einem Brief an Ilse Curtius vom 5. Oktober 1938 hervor, in dem er in Anspielung auf seine zweite Heirat mit Erika Franck berichtet, „daß ich pflichtschuldig meine neue Ehe mit Calderon eingeleitet habe, und ihn sogar in meine Flitterwochen mitnahm“.234 Er unterrichtet ebenfalls Ernst Robert Curtius aus einem anderen Urlaub vom Fortgang seiner Calderón-Bearbeitung:235 Das Institut für Verbesserung der Weltliteratur arbeitet unter Hochdruck und äußerlich phantastisch günstigen Bedingungen. Die Ergebnisse jedoch stehen, auf lange Frist hinaus, völlig in Frage: ich mache die betrübliche Entdeckung, daß das ‚leichte Genre‘ das schwerste Genre ist. Ja schlimmer: ich muß fürchten, daß, wenn Sie, Herr Professor, meiner zur Calderon-Umdichtung rhythmisch eintunkenden Feder zusähen, Sie von ähnlichem priklendem dédain gepackt wie Ihre mir schon allein dadurch unvergeßliche Gattin, auch mein Tintenfaß durchs Fenster würfen. Das so Geworfene würde, Heideggerisch gesprochen, in seiner Geworfenheit aber nicht den Bonnenser Schülhof, sondern eine außerordentlich grüne Landschaft schwärzen, in der sich die Rehe, wohlbewußt, daß ihnen nichts geschieht, ganz nah an uns heranwagen, und in der ich mich so sehr an Moor, Moos, Pilzen, aber Schattierungen von Grün, Kuhglocken, Almhütten, bair[ischen] Akzenten ausschwelgen kann.236

Der selbstreferentielle Charakter von Kommerells Briefstil wird in der Beschreibung der Oberallgäuer Natur deutlich. Wie Curtius’ Antwortbrief zwei Tage später zeigt, meint Kommerell mit „Calderon-Umdichtung“ nicht das Drama En esta vida todo es verdad y todo mentira, sondern La hija del aire, das Curtius in die Geschichte der europäischen Literatur von der Spätantike bis zum Mittelalter einordnet: Von dem Babylon der Semiramis bis zum Moluken-Aufstand von 1566 scheint die ganze Weltgeschichte ohne historische Akzentuierung von Epochen, wie ein buntes Bilderbuch vor dem Dichter dazuliegen – el gran teatro del mundo. Es ist die ahistorische Sehweise des Mittelalters, eines MA’s, das sich, durch keinerlei Humanismus und Renaissance unterbrochen, zu opernhaftem Barock steigert. Von

233 234 235 236

ster, dessen Übersetzungen von La vida es sueño, El magico prodigioso, El principe constante und El alcalde de Zalamea als „schön“ und „restlos befriedigend“ bezeichnet werden, vgl. Wille, Jutta: Calderóns Spiel der Erlösung, München 1932, S. 226. ULB Bonn, Brief Kommerell an Ilse Curtius vom 05.10.1938, Nachlaß Curtius I, Acc.Nr. 85/2. Ebd. Acc.-Nr. 85/2. Vgl. Briesemeister, Kommerell, S. 209. DLA Marbach, Brief Kommerell an Ernst Robert und Ilse Curtius vom 13.08.1934, Nachlaß Kommerell, A: 84.1461, auszugsweise in BA 281.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

gleichem ist die Naturanschauung, die im Grunde über den Physiologus nicht hinauskommt noch hinaus will. Auch die rhetorischen Mittel stehen in der Tradition der Spätantike und des Mittellateins. Diese Zusammenhänge, die ich bisher nur an einzelnen Enden fasse, evident zu machen, würde freilich lange Jahre erfordern. Aber wie darf man überhaupt von Calderón reden, wenn man von 200 Stücken nur 20 kennt. Von jedem neuen Stück erwarte & erhoffe ich einen kleinen Fortschritt der Erkenntnis. Ich habe das wundervolle Gefühl, am Eingang eines goldhaltigen Stollens zu stehen, in dem zarte Lichter aufblitzen.237

Curtius entwickelt durch Kommerells Anregung eine neue Fragestellung für seine zukünftigen Projekte. An diesem Beispiel läßt sich nachvollziehen, wie Evidenzkriterien für Forschungsvorhaben entwickelt werden. So kann anhand von Kommerells Briefwechsel die Emergenz von Problemstellungen und die Proliferation von Ideen rekonstruiert werden. Der Romanist antizipiert also im Dialog mit dem Germanisten sein Standardwerk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Es ist davon auszugehen, daß Kommerell schon im Laufe des Jahres 1934 einen Plan zu der Calderón-Interpretation hat, die er 1943 mit Etwas über die Kunst Calderons vorlegt. Curtius ist von diesem Plan angetan, weist Kommerell jedoch auf die Schwierigkeiten hin: Ihr Calderon-Plan ist sehr schön, aber ich fürchte, noch etwas voreilig. Calderon wird mich noch Jahre hindurch beschäftigen und es wird noch lange dauern, bis ich ihn ganz gelesen habe und ganz überschauen kann. Bedenken Sie, daß außer den 108 Comödien noch 73 Autos Saramentales vorhanden sind, von denen der größte Teil seit 1760 nicht neu gedruckt ist. Nur 13 von ihnen sind im 19. Jahrhundert publiziert worden. Glücklicherweise besitzt die hiesige Bibliothek die älteste Gesamtausgabe von 1717. Ich habe also noch reichlich zu tun und zu lernen. Dazu kommt, daß Calderon historisch nur verstanden werden kann, wenn man ihn gegen Lope absetzt, von dem 594 Stücke erhalten sind und den ich noch so gut wie gar nicht kenne.238

Nachdem die ersten Übertragungen von Kommerell aus Der wundertätige Magus und Das Leben ist Traum 1936 in der Neuen Rundschau erschienen

237 DLA Marbach, Brief Ernst Robert Curtius an Kommerell vom 15.08.1934, Nachlaß Kommerell, A: 84.1532/1. 238 Brief Ernst Robert Curtius an Kommerell vom 09.02.1935, BA 282. Jens datiert den Brief fälschlicherweise auf den 05.02.1935, und im letzten Satz steht „wie“ statt „wir“. Entsprechend der Aufforderung von Curtius stellt Kommerell in seinen Aufzeichnungen Calderóns Künstlichkeit Lope de Vegas Natürlichkeit gegenüber: „Calderon u. Lope: L[ope] ist natürlich, was aber das Übernatürliche und Unnatürliche nicht ausschließt u. C[alderón] ist künstlich, ohne darum auf das Unmögliche/Übernatürlich Verzicht zu leisten. L[ope] d[e] V[ega] geht aber von natürl[ichen] Empfindungen des Spanischen zu jeder Zeit aus. Cald[erón] nicht: der künstl[iche] Verzicht der Zeit [ist] Ausgangspunkt“, DLA Marbach, Kommerell, Max: Barock-Drama, Nachlaß Kommerell, D: 86.545, Mappe I D, Bl. 445.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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sind, verbindet Curtius sein Lob mit der Ermutigung zur Weiterarbeit:239 „Ich kann Ihnen nicht sagen wie ich mich über die endlich gedruckten Calderon-Übers[etzungen] gefreut habe. Sie müssen das fortsetzten. Nie wieder Gries!“240 Außerdem nimmt Curtius Kommerells Übertragung von La vida es sueño in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter auf, zitiert sie über drei Seiten hinweg und würdigt sie als „meisterhafte Übersetzung“.241 Kommerells Diskussionen über Calderón finden nicht separat mit Krauss, Schalk oder Curtius statt, sondern zirkulieren im Romanisten-Kreis: Kommerell unterrichtet seine Korrespondenten von den Diskussionen mit den jeweils anderen und seine Briefpartner tauschen sich auch untereinander über Calderón aus. Curtius richtet einen Dank an Schalk für die Übersendung von dessen Einleitung in die Encyclopädie der französischen Aufklärung 242 und bedauert: „Ich habe bisher nur einen flüchtigen Einblick nehmen können, weil ich, wie Sie wissen, meine Calderón-Arbeit243 abzuschließen habe“.244 Kommerell und Schalk haben sich schon vor dem Vertretungssemester in Köln über Curtius kennengelernt, wie aus einem Brief des Bonner an den Kölner Romanisten von 1936 hervorgeht: „Wir würden uns freuen, Sie am Sonntag, den 6. des. Mts. zum Abendbrot bei uns zu sehen. Sie treffen wahrscheinlich noch den Kollegen Kommerell aus Frankfurt. Bitte kommen Sie wie gewöhnlich um 1/2 8 Uhr“.245 Schalk teilt 1938 Curtius die Möglichkeit mit, daß Kommerells Vertretungsprofessur in Köln verlängert werden könnte, worauf der antwortet: „Daß Kommerell wieder im Winter in Köln sein wird, höre ich von Ihnen mit großer Freude“.246 Der Germanist wiederum teilt Ilse und Ernst Robert Curtius seine Treffen mit Schalk in Österreich mit: „Gestern trafen wir hier in Wien Herrn Schalk, den wir auch schon im Salzkammergut getroffen hatten und der hatte allerlei Frisches“.247 Außerdem fragt er Schalk, wie sich dessen Freund-

239 Vgl. Sullivan, Calderón, S. 371. 240 DLA Marbach, Brief Ernst Robert Curtius an Kommerell o. D. [Frühjahr 1936], Nachlaß Kommerell, A: 84.1532/5. 241 Vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 111993, S. 291ff. 242 Gemeint ist Schalk, Fritz: Einleitung in die Encyclopädie der französischen Aufklärung, München 1936. 243 Geht man davon aus, daß, wie Curtius behauptet, George, Hofmannsthal und Calderón wirklich 1934 fertiggestellt wurde, dann handelt es sich hier um Calderón und die Malerei. 244 Brief Ernst Robert Curtius an Fritz Schalk vom 02.05.1936, Lausberg, Curtius, S. 183. 245 Brief Ernst Robert Curtius an Fritz Schalk vom 11.11.1936, ebd. 184. 246 Brief Ernst Robert Curtius an Fritz Schalk vom 11.11.1936, ebd. 188. Zur weiteren Korrespondenz von Curtius und Schalk über Krauss, Friedrich und Vossler siehe ebd. 187, 189ff. und 196. 247 ULB Bonn, Brief Kommerell an Ilse Curtius vom 05.10.1938, Nachlaß Curtius I, Acc.Nr. 85/2.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

schaft zu Curtius entwickelt: „Daß es ERC so gut geht, er so große Dinge tut und Sie sich so heiter mit ihm unterhalten, freut mich sehr“.248 Bei der Wahl, ob er ein Exemplar der fertiggestellten Übersetzung Das Leben ist Traum nach Bonn oder Köln schicken soll, zieht er allerdings Curtius vor und teilt dies Schalk mit: „Leider kann ich Ihnen nichts Rechtes schicken. Nicht als ob ich nichts gemacht hätte; aber die Druckschwierigkeiten sind enorm; und es wird entweder gar nicht, oder spät. Vida es sueño ist fertig, wird aber nicht gedruckt. Leider hab‘ ich sehr wenig Exemplare der Vervielfältigung für Bühnen, und Curtius muß ich, um mich bei ihm, für so vieles, was er von mir anderes haben möchte, zu rehabilitieren, ein Exemplar übersenden“.249 Diese Briefe veranschaulichen die Konditionen gelehrter Korrespondenz, die dichten Kommunikationskanäle und den fruchtbaren Austausch über Calderón mit Romanisten und zwischen Romanisten, den Kommerell anregt. An den Beispielen Schalk und Curtius zeigt sich, daß Kommerell gerade mit Professoren die Diskussionen führt, mit denen er durch seine Vertretungsprofessuren in engen Kontakt gekommen ist. Somit läßt sich Kommerells Briefaustausch nicht zuletzt aus der Situation seines Privatdozententums erklären, und hieran die Verbindung von Institutionen- und Konzeptebene der Wissenschaftsgeschichte verdeutlichen. ii) Curtius’ Calderón-Forschungen Auf der einen Seite eröffnet Curtius durch seine romanistischen Kenntnisse Kommerell tiefere Einblicke in die spanische Sprache und Literatur. Auf der anderen Seite evoziert Kommerells Beschäftigung mit Calderón bei Curtius ein gezieltes Interesse für diesen Dichter. Curtius kennt Calderón natürlich, bevor er mit Kommerell in Kontakt tritt, aber – so die hier vertretene These – er fängt erst an, über den Spanier zu forschen, nachdem Kommerell ihn dafür begeistert hat.250 Auch in seinen Lehrveranstaltungen hat sich Curtius zuvor noch nicht mit Calderón beschäftigt: Bezeichnenderweise fallen die einzigen beiden Veranstaltungen, die er während seiner gesamten Lehrtätigkeit von 1929 bis 1954 über Calderón gehalten hat, genau im Anschluß an Kommerells Vertretungssemester in Bonn – und zwar in das Wintersemester 1934/35: Einführung in Calderón, und in das Sommersemester 1935: Erklärung von Cal248 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 06.08.1938, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/3. 249 Ebd. A: 84.1505/8. 250 Zum Verhältnis von Nationalphilologie und Komparatistik bei Curtius siehe Weber, Christian: Komparatistik als Reflexionsmedium der Nationalphilologie. Ernst Robert Curtius und Max Kommerell, in: Deutsch-französische Literaturbeziehungen. Stationen und Aspekte dichterischer Nachbarschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Mit einem Geleitwort von Bernhard Böschenstein, hrsg. v. Roman Luckscheiter u. Marcel Krings, Würzburg 2007, S. 265–283, hier: S. 267–271.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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deróns Mágico prodigioso.251 Außerdem ist auffällig, daß Curtius aus den vielen Dramen Calderóns ausgerechnet El Mágico prodigioso wählt, mit dem sich Kommerell intensiv beschäftigt und aus dem er einen Auszug übersetzt hat. Kommerell inspiriert also Curtius, über Calderón zu forschen. Dieser teilt seine Idee, einen Calderón-Aufsatz zu schreiben, Kommerell mit und fragt ihn am 15. August 1934 dabei indirekt um Erlaubnis: „Das dauernde Regenwetter hat mir intensive Lektüre gestattet, wobei Calderón Prädominum übte. Ich habe jetzt 7 neue Stücke von ihm gelesen, und hoffe in den Ferien noch sehr erheblich weiter zu kommen. Am idealen Ende dieser Lektüre steht ein Aufsatz: Hofmannsthal & Calderón. Hoffentlich komme ich damit nicht in Ihr Gehege“.252 Kommerell erteilt ihm am 1. September 1934 die Erlaubnis mit Vergnügen und betont, daß Curtius fähiger zu diesem Aufsatz sei als er selbst, wobei er sich einer Jagd-Metapher bedient, die das freundschaftlich-konkurrierende Verhältnis beider wiederspiegelt: Von der Möglichkeit, daß Sie ein Essay über Hofmannsthal und Calderon verfassen, bin ich aufgeregt und entzückt. Sie allein können es, und drum müssen Sie es. Natürlich kommen Sie dabei in mein Revier, wie Sie so höflich (oder cynisch) sind, zu fragen – Gott sei Dank, und werden mit einem Schuß erlegen, was ich mit zehnen doch nie treffe. Nicht nur kann ich mir die profunde Kenntnis Calderons nicht erwerben. Auch wenn ich es könnte, würde ich mich vielleicht in dieser besonderen dramatischen Cultur heimisch machen, aber da ich ihre Bedingungen, Vorgeschichte, und das Ganze der von ihr mitbewegten und neu aufgerufenen Traditionen nicht kennte, würde mir das sinnliche Leben und sein Geruch, und auch für Hofmannsthal die Unendlichkeit der lückenlosen Verknüpfung fehlen. (BA 293)

Kommerell formuliert die Maxime seiner Textumgangsformen: intime Kenntnis des Materials als Basis einer Interpretation. Curtius verfaßt schließlich den Aufsatz Hofmannsthal und Calderon (CUH), der zuerst als Vortrag in England gehalten wird253 und 1937 in der Festschrift für Ludwig Curtius erscheint.254 Curtius hat sich mit dem Österreicher schon 1929 in zwei Aufsätzen beschäftigt: Hofmannsthals deutsche Sendung 255 und Hofmannsthal und die Romanität.256

251 Vgl. Lausberg, Curtius, S. 156. 252 DLA Marbach, Brief Ernst Robert Curtius an Kommerell vom 15.08.1934, Nachlaß Kommerell, A: 84.1532/1. 253 Vgl. Wuttke, Dieter (Hg.): Kosmopolis der Wissenschaft. E. R. Curtius und das Warburg Institute, Briefe 1928 bis 1953 und andere Dokumente, Baden-Baden 1989, S. 54, Anm. 3. 254 Vgl. Curtius, Ernst Robert: Hofmannsthal und Calderon, in: Corolla. Fs. für Ludwig Curtius, Stuttgart 1937, S. 20–28. Fortan zitiert als Sigle CUH. 255 Vgl. Curtius, Ernst Robert: Hofmannsthals deutsche Sendung, in: Neue Schweizer Rundschau 12 (1929), H. 8, S. 583–588. 256 Vgl. Curtius, Ernst Robert: Hofmannsthal und die Romanität, in: NR 40 (1929), H. 11, S. 654–659.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Gleichzeitig mit der Erlaubnis reißt Kommerell im Brief Perspektiven seiner Interpretationspraxis an und stellt implizit folgende Anforderungen an einen Aufsatz über Hofmannsthal und Calderón: In Ihrer Lage können Sie, ein Einzelnes angreifend, immer gleich den ganzen, alten Erdteil mitaufrufen, und es ist das Auge des Vogels nötig, um den Ort nicht für sich allein, sondern unter den Orten zu sehn. Österreich, Spanien, Renaissance, Orient – Märchen, Symbolik, Hof, Theater – das Geheimnis der notwendigen Wiederaufnahmen – warum gerade Calderon – manches dort nicht zu Ende Gedachte – wann das Künstliche wieder Rohstoff werden kann – gegenüber der Charaktertragödie und der Schicksalsfabel ein vertieftes Panoptikum – überhaupt ein Ungenügen an der vom Menschen als Person gedeuteten Welt – Abhängigkeiten, Marionettenartiges – barocke Theatertechnik – Allegorie: sogar mir fiele einiges dafür ein, was erst Ihnen! Tun Sie’s, tun Sie’s, ich freue mich furchtbar darauf. (BA 293f.)

Aus dem Aufsatz von Curtius werden nun die Punkte, die Kommerell hier nennt, untersucht. Die Stichwörter sind so allgemein gehalten, daß Curtius wahrscheinlich auch ohne Kenntnis von Kommerells Brief darauf eingegangen wäre, aber an einigen Stellen zeigt sich doch ein spezielles Interesse an Calderón, das von Kommerell angeregt und von Curtius weiterverfolgt wird. Dabei ist festzustellen, daß Curtius auf sehr viele Fragen aus Kommerells Brief eingeht. Einzelne Stichworte spricht er kurz an. Kommerells Überlegung, eine Gemeinsamkeit zwischen Calderón und Hofmannsthal in dem Interesse am „Orient“ (BA 294) zu sehen, führt Curtius in seinem Aufsatz fort: „Der Orient oder vielmehr der Osten – schwingend zwischen Syrien und China – ist auch in [Hofmannsthals] ‚Semiramis‘ das tragende Seelenreich. Der Semiramis hat Hofmannsthal zwei Mägde gegeben, die ‚Europa‘ und die ‚Asia‘ [...]. Aber orientalische Würzen und Düfte sind auch in Calderons Dichtung überall spürbar“ (CUH 26). In Bezug auf die „barocke Theatertechnik“ postuliert er: „Die Bühne Calderons, zumindest in seinen autos sacramentales, ist theozentrisch“ (CUH 23). Hofmannsthals Beschäftigung mit Calderón deutet er aus der Faszination durch die „Allegorie“ (BA 294), die er mit einem Zitat aus Hofmannsthals Aphorismen belegt, und mit Verweis auf die Funktion von Calderóns Figuren: „Als Mittelspersonen zwischen Gott und Menschheit treten allegorische Figuren auf: die Welt, die Weisheit, der Tod...“ (CUH 23). Andere Punkte Kommerells behandelt Curtius eingehender. Mit der Aussage „gegenüber der Charaktertragödie und der Schicksalsfabel ein vertieftes Panoptikum“ (BA 294) wird ein Gegensatz zwischen Calderóns Drama und dem psychologisch motivierten Drama hergestellt. Curtius stimmt dieser Auffassung zu: Da der Held des englischen, französischen und deutschen Theaters individuelle Züge trage, eine einmalige Person und ein Charakter mit Schicksal sei, hätten die Verfechter des psychologisch motivierten Theaters Calderón den Vorwurf gemacht, keine Charaktere zu zeichnen. Ihnen

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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hält Curtius entgegen: „Auch Calderon kennt natürlich psychologische Konflikte. Aber sie werden bei ihm niemals zu Angelpunkten des Dramas, weil sein Drama nicht im Menschen zentriert ist, sondern der Mensch immer in kosmischen und religiösen Bindungen steht“ (CUH 23). Dementsprechend sei es nicht die Person, die in ihrem Schicksal die Welt deute, sondern Gott, der das Schicksal der Welt bestimme. Deshalb würde Curtius die These Kommerells bestätigen, daß Calderón ein „Ungenügen an der vom Menschen gedeuteten Welt“ (BA 294) gesehen habe und sich daher auf die göttliche Weltordnung berufe. Zu Kommerells Frage, „wann das Künstliche wieder Rohstoff werden kann“ (BA 294), führt Curtius Hofmannsthals Produktionsverfahren an: Für Hofmannsthal [...] war es eine grundlegende Einsicht, daß alle geformten Gehalte des Geistes ihrerseits wieder Stoff für eine neue Gestaltung werden können. Denn in der unendlichen Stufenleiter des Alls ist alles zugleich Form und Stoff. [...] Geistige Schöpfungsgesetze werden im Gleichnis chemischer und biologischer Vorgänge gesehen. In dieser Alchimie des Geistes werden ererbte Kulturgüter und Kunstformen eingeschmolzen, umgewandelt und zu neuem, höherem Leben emporgeführt. [...] diese Substanzen werden zergliedert, aufgelöst, verdampft; das Ungemäße wird ausgeschieden; und endlich stellt die integrierende Phantasie die erneute Gestalt her. (CUH 20)257

Das „Geheimnis der notwendigen Wiederaufnahmen“ (BA 294) der CalderónArbeiten von Hofmannsthal, mit dem sich Kommerell beschäftigt, erklärt Curtius durch ein ‚Mit-Sich-Herumtragen‘. In der Formulierung „Durch Jahrzehnte hindurch hat Hofmannsthal sich mit diesem Stoff getragen“ (CUH 25) liegt sogar eine Analogie zu einer Schwangerschaft, die auf Jahrzehnte potenziert wird. Kommerells Hauptfrage, „warum gerade Calderon“ (BA 294) vom Österreicher aufgegriffen worden sei, beantwortet Curtius mit drei Gründen: Erstens habe sich Hofmannsthal aus seiner Seelenlage heraus, die im „Traumerlebnis“ und im „traumhafte[n] Ergreifen aller Lebensmöglichkeiten“ (CUH 20f.) liege, für Calderóns La vida es sueño interessiert. Zweitens habe die „Erfahrung einer ungeheuren Erschütterung“, die er durch den Ersten Weltkrieg erlitten habe, und die „ungeheuren Erschütterung des göttlich Leidens“ eine Einsicht in „Vergänglichkeit und Wechsel als trügerischer Schein“ und eine Hinwendung zum „Ewig-Gleichen“ und damit zu Calderón ergeben (CUH 21). Drittens sei Hofmannsthals „Wendung zum Christentum“ von zentraler Bedeutung für seine Calderón-Rezeption: „Und zugleich erfassen wir nun die Begegnung Hofmannsthals und Calderons in ihrem tiefsten und endgültigen Aspekt, der alle vorhergegangenen überwölbt“ (CU 27).258

257 Vgl. Curtius, Mittelalter, S. 25 und Wuttke, Kosmopolis, S. 369. 258 Zu Hofmannsthals Calderón-Bewunderung siehe auch Curtius, Mittelalter, S. 355 u. 363.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Demzufolge stellt Curtius mit Bezug auf das Stichwort „Symbolik“ (BA 294) fest, daß sie in Hofmannsthals Dichtung christlich geprägt sei: „Die Dichtungen seiner letzten sieben Lebensjahre sind christlich nicht nur durch ihre Symbolik, sondern durch die Zuwendung des Herzens, durch ein großes und stilles sursum corda“ (CUH 27). Außerdem arbeitet er mit Hofmannsthals Begriff der „Symbolik der Situation als dramatisches Moment“, den er als „das Treffendste, was kritischer Kunstverstand je über Calderons Dramen ausgesagt hat“ bezeichnet. Er versteht diese „Symbolik der Situation“ als Entstehung der „ungeheuerste[n] Spannung ihrer Seelen in dem Augenblick, da sie zur Welt erwachen. Dieses ‚Erwachen zur Welt‘ ist eine der typischen Situationen des Calderonschen Theaters“ (CUH 24). Aber das Schicksal einer Person im Drama sei nur eine „allegorische Einkleidung für das Schicksal der Menschenseele durch Präexistenz, Geburt, Sündenfall und Erlösung“ (CUH 24). Abgesehen von diesen Übereinstimmungen gibt es Stellen im Aufsatz, die sich vor dem Hintergrund der Calderón-Diskussionen erklären lassen. Kommerells Thematisierung des Menschen, der ohne Eltern in der Abgeschiedenheit aufwächst, findet hier ihren Niederschlag: „In Calderons Theater begegnet uns immer wieder die Figur des königlichen Menschen, der in der Einsamkeit, in der Wildnis, in einer Felsenhöhle oder in einem Turmverließ aufgewachsen und der Welt ferngehalten worden ist“ (CUH 24). Als Curtius die Orte in Calderóns Drama als Staffage bezeichnet, gibt er dafür drei Beispiele an: „das Babylon der Semiramis, das Byzanz des Phokas, das Polen Sigismunds“ (CUH 22). Daß er die bekannten Dramen La hija del aire und La vida es sueño anführt, überrascht nicht weiter. Der Verweis auf das Stück En esta vida todo es verdad y todo mentira, das den meisten Lesern der Festschrift, in der der Aufsatz erscheint, unbekannt gewesen sein dürfte, erklärt sich allerdings nur mit dem Wissen, daß Kommerell ihm von diesem Drama erzählt hat. Curtius nennt dieses Drama sogar wörtlich wie Kommerell, der den Ausdruck von Hofmannsthal übernommen hat, das „Phokasdrama“ (CUH 24). Wie gezeigt wurde, stellt Kommerell Anforderungen an das Aufsatzprojekt von Curtius, die jener bei seiner Ausführung berücksichtigt. Daher verwundert es nicht, daß Kommerell die Studie in einem Brief vom 31. Juli 1937 gegenüber seiner Freundin Erika positiv erwähnt: „E. R. Curtius hat mir seinen Aufsatz ‚Calderon und Hofmannsthal‘ geschickt, den ich sehr treffend und geistreich finde“ (BA 325). Die Fassung Hofmannsthal und Calderon von 1937 ist – mit einigen Ausnahmen – identisch mit der zweiten Hälfte des Aufsatzes George, Hofmannsthal und Calderón (CUG),259 der 1946 bezeichnender Weise in der von Wer-

259 Vgl. Curtius, Ernst Robert: George, Hofmannsthal und Calderón, in: Die Wandlung 2 (1947), H. 5, S. 401–423. Fortan zitiert als Sigle CUG. Der Aufsatz wird leicht ver-

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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ner Krauss260 u. a. herausgegebenen Zeitschrift Die Wandlung erscheint.261 Curtius hat den gesamten Text bereits 1934 verfaßt. Er fügt 1937 die Anmerkung an: „Die vorstehenden Blätter sind Fragmente einer umfassenden Behandlung des Themas, deren vollständiger Abdruck mit Rücksicht auf ihren Umfang unterbleiben mußte“ (CUH 28). Im Anschluß an die vollständige Veröffentlichung von 1946 vermerkt er: „Das Vorstehende wurde 1934 geschrieben. Es war damals unzeitgemäß. Es ist es auch heute. Für den Geist gibt es keine schlimmere Erniedrigung als die freiwillige Selbsthingabe an die pure Aktualität: an die Zeit, die zur Gegenwart; an die Gegenwart, die zum Punkt einschrumpft. Der Mensch sinkt zurück auf die Stufe des Tiers, welches in ‚punktuellen Ekstasen‘ lebt. Würde des Geistes fordert Aufstieg über die Aktualität zur Dauer; über das Nurzeitliche zu der Zeitlosigkeit, die durchscheint in aller Zeit“ (CUG 423). Kommerell kennt aber wahrscheinlich nur die 1937 veröffentlichte Fassung, da Curtius in seinem Brief lediglich über Hofmannsthal und Calderon spricht und da sich Kommerells Bericht über die Lektüre des Aufsatzes mit dem Jahr des Erscheinens 1937 deckt.262 Auch wenn in der zweiten Veröffentlichung George mit in den Titel aufgenommen wird, geht es weiterhin überwiegend um Hofmannsthal und Cal-

kürzt (vgl. CUG 402f.) wieder abgedruckt, allerdings mit verändertem Schluß, in: Curtius, Ernst Robert: Kritische Essays zur europäischen Literatur, 2. erw. Aufl. Bern 1954, S. 128–151; und in: Hugo von Hofmannsthal, hrsg. v. Sibylle Bauer, Darmstadt 1968, S. 1–24. 260 Vgl. Fontius, Martin: Deutsche Geistesgeschichte im Spiegel der Krauss-Korrespondenz, in: Werner Krauss. Wege, Werke, Wirkungen, hrsg. v. Ottmar Ette u. a., Berlin 1999, S. 60f. 261 Zu den Abweichungen zwischen 1. und 2. Fassung siehe: CUG 413: „Ein Lieblingswort...“, 414f.: „Wenn wir...“, 415: „Platon“ statt Heraklit, 416: „Das ist...“, 418: „Wie reich...“ und den Schluß auf S. 423. Die Abweichungen bei einigen Wörtern, die Ersetzung Heraklits durch Platon, die Betonung von dessen Höhlengleichnis (CUG 418) und die Benutzung von Kommerells Ausdruck der ‚Gebärde‘ lassen die Vermutung aufkommen, daß die längere Fassung zwar 1937 bereits vorlag, aber an einigen Stelle nach der Lektüre von Kommerells Etwas über die Kunst Calderons überarbeitet wurde. Um dies herauszufinden, bedürfte es allerdings einer eigenen Untersuchung der Genese dieses Aufsatzes, der im noch nicht vollständig erschlossenen Curtius-Nachlaß in der Handschriftenabteilung der ULB Bonn liegt. 262 Das ist von Bedeutung, weil Claudia Albert annimmt, daß Kommerell die spätere Fassung des Aufsatzes gekannt hat: „Mußte der Essay von Curtius über George, Hofmannsthal und Calderón ins Zentrum von Kommerells biographischer Erfahrung treffen...“, Albert, Umrisse, S. 377. Kommerell aber lebt bei Erscheinen der späteren Fassung bereits nicht mehr. Es scheint, daß Albert ausschließlich die Ausgabe Die Kunst Calderons von 1974, in der die zweite Fassung von Curtius’ Aufsatz angeführt wird, benutzt hat (vgl. ebd. S. 375, Anm. 34), statt der Erstausgabe Etwas über die Kunst Calderons von 1946. Dort zitiert Kommerell nämlich die ältere Fassung von Curtius’ Aufsatz: „Hierzu vergleiche E. R. Curtius: Hugo von Hofmannsthal und Calderon, in der Festschrift für Ludwig Curtius, ‚Corolla‘“, Kommerell, Beiträge, Bd. 1, S. 50.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

derón. George wird nur auf den ersten Seiten herangezogen, um in Gegensatz zu Hofmannsthal gestellt zu werden. Hofmannsthals zeige eine „Teilnahme an der romanischen Geisteswelt, die viel weiter gespannt, viel offener, viel hingebender war als die Georges, dem ein Werk wie das Victor Hugos unannehmbar sein mußte. So unannehmbar wie Balzac oder Flaubert“ (CUG 405). Curtius geht auf Konzepte von Poetologie und Moderne ein: Während Hofmannsthal nach Verbindungen gesucht habe, hätte bei George ein Hang zur Trennung vorgelegen (vgl. CUG 406). Wenn Curtius Hofmannsthals „Prozeß der Anverwandlung“ mit Georges bis an die „Grenze der Vergewaltigung“ gehendem „Machtwille[n]“ kontrastiert (CUG 404), übt er, wie Kommerell, Kritik an George. Mit der Wahl, das Verhältnis zwischen Calderón und Hofmannsthal zu untersuchen, zeigt sich eine Parallele zu Kommerells Antrittsvorlesung Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede (vgl. Kap. IV), in der er besonders auf Hofmannsthals Calderón-Bearbeitungen eingeht. Es ist davon auszugehen, daß Curtius diese Schrift gelesen hat. Dies zeigt sich gerade an den Stellen, an denen er die Wortwahl Kommerells, der Hofmannsthal als ‚Erben‘ und George als ‚Eroberer‘ bezeichnet, aufgreift: „Das geistige Herrschertum Georges stammte aus selbstverliehener Gewalt. Er war Gründer und Gesetzgeber aus eigener Macht. Die Autorität Hofmannsthals dagegen ruhte, wenn wir uns einer politischen Metapher bedienen dürfen, auf legitimer Erbfolge und Überlieferung“ (CUG 404). Damit geht in Curtius’ Hofmannsthal-Aufsatz das Vokabular aus Hugo von Hofmannsthal ein. Einige Stichworte aus Kommerells Brief finden sich im ersten, 1937 nicht veröffentlichten Teil des Aufsatzes.263 Dort geht Curtius besonders der Verbindung zwischen Österreich und Spanien,264 die Kommerell anführt, nach.265 Kommerells Spanienwahrnehmung geht wiederum aus seinen Briefen hervor:266 „2 Länder möchte ich sehen und sie von innen und von außen, so weit möglich, mir zueignen: Spanien und China“267 und:

263 Auf die Integration des Orients in Hofmannsthals Werk ist schon hingewiesen worden. Curtius begründet sie hier zudem noch mit geistiger Nähe des Österreichers zu Oberitalien: „In Venedig fand Hofmannsthal die seltenste Mischung geschichtlicher Elemente – einen Hauch von Byzanz, einen Schimmer des Orients, ein Erbe Österreichs: alles verschmolzen zu einer unbenennbaren Bezauberung, aus der manche seiner köstlichsten Werke geschöpft sind […] so ist Hofmannsthals italienische Heimat Venedig“ (CUG 406). Außerdem finden sich noch Hinweise zur Symbolik, CUG 408, und zur Charaktertragödie, CUG 408. 264 Vgl. Heuschele, Gedenkblatt, Nr. 166 vom 22.07.1960. 265 Siehe auch Curtius, Mittelalter, S. 153. 266 Vgl. Briesemeister, Kommerell, S. 210. 267 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 03.09.1943, Nachlaß Kommerell, A: 56.378.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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Wir kamen bis Partenkirchen [...] dann Ettal. So, das war schön! Der Himmel lichtete sich etwas, und es fiel ein scharfes Nach-Regen-Licht auf die Fassade und das große weiße orangegelb verzierte Viereck der Klosterschule: ein Stück Spanien, hereingezaubert in die Allgäuer Landschaft, die dort viel schroffer ist mit ihren Felszacken viel näher nicht als bei ‚uns‘ in Sonthofen oder Sigiswang. [...] Schließlich sahen wir die Steilfelsen, die als das große Barock der Natur dies Barock der Menschen in den gebirgigen Umklammerung halten, weil hinter uns als Riegel eines sich schließenden Tals.268

Kommerell transferiert also sein durch die Calderón-Lektüre imaginiertes Spanienbild in die Landschaft des Allgäus. An dieser Stelle zeigt sich wieder der autoreferentielle Stil seiner Briefe, der sich nicht primär durch den Bericht eines Erlebnisses, sondern durch Selbstmitteilungen auszeichnet. Curtius stellt eine historische Verbindung von Österreich und Spanien her: „Dem Österreicher Hofmannsthal mußten die großen Bilder spanischer Blütezeit von jeher nahe sein. Wie Grillparzer empfand er, daß Spanien ‚in gewissem Sinne zur österreichischen Geschichte dazugehört‘“ (CUG 410). Die Verbindung zu Spanien gestalte sich als eine gelebte Geschichte.269 Curtius geht davon aus, daß Hofmannsthal in dieser Geschichte Österreichs ein Erbe, das bewahrt werden muß, gesehen hat: „Grenzmark seit zweitausend Jahren des Imperium Romanum, seit elfhundert Jahren des mittelalterlichen Reiches, Träger der habsburgischen Universalmonarchie – dies bedeutete für Hofmannsthal das geschichtliche Erbe Österreichs“ (CUG 404). Die Lebenstraumwelt des jungen Hofmannsthals, aus der er sich für Calderóns La vida es sueño interessiert habe, zeige sich ihm später als „Spiegelung des österreichischen Schicksals“ (CUG 404). Zwischen Hofmannsthal und dem gegenreformatorischen Spanien des siglo de oro gebe es eine Parallele in der Auffassung, sein Schicksal als Bewahrung von Kultur und Tradition zu sehen (vgl. CUH 28). Kommerells Einfluß auf den Aufsatz wird besonders an der Stelle deutlich, an der Curtius das ‚Phokas-Drama‘ in die Reihe der Calderón-Übertragungen, die Hofmannsthal plante, stellt: „Für diese Reihe war wohl auch eine Bearbeitung von Calderóns Phokas-Drama gedacht, die sich in Hofmannsthals Nachlaß vorfand“ (CUG 411). Aus dieser Bemerkung läßt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit schließen, daß Kommerell Curtius, der den unveröffentlichten Hofmannsthal-Nachlaß selbst nicht gekannt haben dürf-

268 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 04.08.1934, Nachlaß Kommerell, A: 56.361. 269 Dazu siehe CUG 410: „In der dynastischen Tradition, in der von der Gegenreformation geprägten Volksfrömmigkeit, in barocker Kunstgesinnung lebten Spuren der alten Verbindung mit Spanien fort. Der österreichische Dichter brauchte Spanien nicht erst mit romantischem Fernzauber als Luftgebilde zu beschwören; es war ihm durch geschichtliche Lebenszusammenhänge nahe“.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

te, von der Einsicht in Hofmannsthals Fragment Kaiser Phokas, die Heinrich Zimmer ihm gewährte, berichtet hat. Abgesehen von diesen zwei Veröffentlichungen über Calderón und Hofmannsthal gibt es zwei weitere Aufsätze von Curtius über Calderón und die Kunst. Der erste, Calderón und die Malerei (CUM), erscheint 1936 in den Romanischen Forschungen.270 In diesem Aufsatz untersucht er Calderóns Tratado defendiendo la nobleza de la pintura (Entstehung 1677, Erstdruck 1781), also ein Traktat, in dem sich Calderón für die Steuerfreiheit der Maler ausspricht, da der Malerei das Primat unter den sieben artes liberales zukomme. Der Aufsatz wird hier nicht auf seinen kunsthistorischen Inhalt untersucht,271 sondern auf die von Kommerell genannten Stichworte bezogen. Curtius erläutert anhand des Traktats die Stücke Darlo todo y no dar nada, El pintor de su deshonra (comedia), El pintor de su deshonra (auto) und stellt die Malerei als Kulturgut heraus, das der Menschen erfunden hat (vgl. CUM 127). Im Traktat zeige sich eine „Form der rationalen Durchführung“, die „höchst bezeichnend für Calderóns ganzes Schaffen“ sei (CUM 118). Calderóns Stil werde „durch die summierende und pointierende Zusammenfassung, die er auch in seinen Dichtwerken so virtuos zu handhaben weiß; und durch die dem Schriftwesen entnommenen Metaphern“ bezeichnet (CUM 116). Im Hinblick auf das Traktat stellt er darüber hinaus fest: „Sehr bezeichnend für ihn ist [...] die Nennung der Astronomie und Astrologie, der in seinen Dramen ja eine bedeutende Rolle zukommt“ (CUM 120). In Calderón und die Malerei nimmt er Analysen vor, die er schon in Hofmannsthal und Calderon und in George, Hofmannsthal und Calderón angedeutet hat. So verweist er anhand von Darlo todo y no dar nada wieder auf das Motiv des Ausgesetztseins: „Campaspe ist eine der in Calderóns Theater so häufigen Figuren, die in der Einsamkeit erzogen und dann plötzlich durch einen Schicksalsumschwung in die ihnen unbekannte Welt versetzt werden“ (CUM 125). Er greift Kommerells Stichworte auf und verweist beim Thema „Hof“ (BA 294) und höfische Kultur auf Calderóns „Schilderungen spani270 Vgl. Curtius, Ernst Robert: Calderón und die Malerei, in: RF 50 (1936), H. 2, S. 89–136. Fortan zitiert als Sigle CUM. Über die Genese dieses Aufsatzes siehe Brief Curtius an Gertrud Bing vom 31.05.1935, Wuttke, Kosmopolis, S. 74f.: „Ich bin in der letzten Zeit wieder zu Calderon zurückgekehrt und weiß nun sehr viel mehr über ihn als im vorigen Herbst [...] In einigen fast nie gelesenen Stücken finden sich prunkvolle Beschreibungen von Festzügen mit Triumphbögen usw. Auch das Impresenwesen spielt eine sehr große Rolle. [...] Auch in der Historia de las ideas esteticas von Menendez Pelayo habe ich viel gefunden, was zur Erklärung von Calderons Traktat über die Malerei beiträgt. Ich arbeite mit großem Interesse an Calderon weiter, muß aber noch ungeheuer viel lesen, um eine hinreichende Urteilsbasis zu bekommen. Besonderes Interesse wende ich dabei auch der Mythologie zu“. 271 Zur Einordnung von Calderóns Malerei-Traktat siehe Hellwig, Karin: Die spanische Kunstliteratur im 17. Jahrhundert, Frankfurt/M 1996, S. 119–123.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

287

scher Hoffeste und Prunkzüge (z. B. in La Banda y la Flor oder in Guárdate del Auga mansa)“ (CUM 124). Hinter der Frage, die in Darlo todo y no dar nada erörtert wird, wie ein König zu malen sei, stehe „als historische Wirklichkeit einmal die höfische Kultur des habsburgischen Spanien, sodann aber auch das tiefere Problem des Ausgleiches zwischen naturalistischer und idealisierender Kunstauffassung“ (CUM 129). Er verbindet Kommerells Begriffe „Hof“ und „Spanien“ (BA 294) und erklärt sie durch eine wechselseitige Einflußnahme: „Das enge Zusammenleben der Künste, insbesondere der Bühnendichtung und der Malerei, gründet natürlich nicht nur in dem christlichen Weltbild der spanischen Blütezeit, sondern auch in der Prachtentfaltung der Monarchie“ (CUM 135).272 Curtius hebt die Bandbreite des spanischen Bildungskanons im siglo de oro hervor: „Die Spannweite, die von Athanasius zu Lomazzo, von Basilius bis Zuccari reicht, ist respektabel. Calderón selbst hat über eine ebenso umfangreiche Belesenheit verfügt, wie sich vor allem auf Grund seiner Autos sacramentales erweisen läßt“ (CUM 112).273 Er konstatiert für Spanien eine besondere Verbindung von Dichtung und Malerei: „Nur die spanische Bühnendichtung steht in Lebenszusammenhang mit einer Epoche hohen malerischen Schaffens“ (CUM 136), und sieht die Kunstproduktion des siglo de oro zwischen Katholizismus und Weltlichkeit angeordnet, da „auch die profanen Kulturmächte jener Zeit in das theozentrische Weltbild des Christentums eingegliedert werden mußten: das Königtum, die nationale Selbstauffassung, die Politik – aber eben auch das Theater, die Künste, die Wissenschaften“ (CUM 133). Dies finde sich in Calderóns Theater wieder: „Spanien brauchte keine Gegenreformation, wie es keine Rückkehr zur Scholastik brauchte. [...] Das verschwenderisch reiche Barock – in Dichtung und bildender Kunst – verbindet mit der katholischen Dominante eine freudige, ja ausgelassene Weltlichkeit, die anderswo nicht zu finden ist“ (CUM 108). Somit kann anhand des Briefwechsels sowie des Aufgreifens der Stichworte und ihrer Auslegung im Sinne Kommerells gezeigt werden, daß Curtius’ Calderón-Forschungen auf die Anregungen des Germanisten zurückgehen. Zugleich wirken Curtius’ Schriften auf Kommerell. Ebenso wie er ihm seinen Aufsatz über Hofmannsthal und Calderon schickt, teilt er ihm die Vollendung von Calderón und die Malerei mit: „Ich habe endlich meine Ar-

272 Vgl. Brief Curtius an Gertrud Bing vom 6./8.12.1934, Wuttke, Kosmopolis, S. 52f.: „Inzwischen habe ich mich mit Calderons Ansichten über die Malerei beschäftigt. Der Tatbestand ist höchst merkwürdig. [...] Es ist außerordentlich merkwürdig, zu konstatieren, daß Calderon eine vollkommen durchdachte Metaphysik und Soziologie der Malerei besessen hat, die ganz im Einklang mit seiner Weltanschauung in theologischen Betrachtungen gipfelt“. Vgl. auch ebd. S. 57f. und 72. 273 Vgl. Curtius, Mittelalter, S. 536.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

beit über ‚Calderón und die Malerei‘ abschließen können, der demnächst in Druck geht. Es ist aber keine Darstellung geworden, sondern eine gelehrte Abhandlung – wobei ich allerdings viel gelernt habe“.274 Es ist davon auszugehen, daß Kommerell daraufhin den Aufsatz gelesen hat. Wie der Aufsatz auf ihn wirkt, wird später gezeigt. Curtius’ anderer Aufsatz über Literatur und Kunst ist Calderóns Kunsttheorie und die ‚artes liberales‘ (CUK), 275 der eine verkürzte Fassung des Artikels Calderón und die Malerei aus den Romanischen Forschungen darstellt.276 Am Schluß ist ein neuer Absatz hinzugefügt worden, in dem Calderóns ‚Traktat‘ in die Geschichte der Lobreden auf die Künste im siglo de oro eingeordnet wird (vgl. CUK 551ff.). An einer Stelle in diesem Aufsatz wird ein Gedanke im Vergleich zu Calderón und die Malerei zugespitzt: „Die aus der Tradition zu belegende doppelte Funktion des deus pictor als des Weltenmalers und des Menschenbildners mußte Calderón besonders wertvoll sein, da sie die Entsprechung zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos vertieft, die eine Grundstruktur von Calderóns Weltbild ist“ (CUK 544).277 Diese Zuspitzung kann noch durch einen weiteren Gesichtspunkt verstärkt werden. Der Aufsatz Calderóns Kunsttheorie und die ‚artes liberales‘ ist in der Monographie Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) erschienen. Darin versammelt Curtius unter dem Begriff ‚Topos‘, den er der Lehre der antiken Rhetorik entnimmt, literarhistorische Traditionsfakte.278 Dementsprechend wird der deus pictor im Aufsatz, der als Exkurs angefügt ist, als ‚Topos‘ begriffen: „‚Gott als Maler‘ ist ein alter topos, der zuerst bei Empedokles und Pindar auftaucht und durch Clemens [...] dem Mittelalter überliefert wurde“ (CUK 544). Schon 1936 wendet er den Begriff ‚Topos‘ auf die „Malerei als einer (stummen) Rhetorik“ an: „Es ist ein hundertfach zu belegender Topos der Renaissance- und Barockschriftstellerei“ (CUM 119).279 In Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter stellt Curtius dann den Gebrauch von ‚Topoi‘ beim spanischen Dichter folgendermaßen fest: „Im spanischen Theater wird der mittelalterliche Stil der gehäuften Aufzäh-

274 DLA Marbach, Brief Ernst Robert Curtius an Kommerell o. D. [Frühjahr 1936], Nachlaß Kommerell, A: 84.1532/5. 275 Vgl. Curtius, Ernst Robert: Calderóns Kunsttheorie und die ‚artes liberales‘, in: ders.: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 111993, S. 543–553. Fortan zitiert als Sigle CUK. 276 Die Seiten CUK 541 bis 544 oben bilden eine Zusammenfassung der Seiten CUM 97 Mitte bis 124 Mitte. Die Seiten CUK 544 Mitte bis 550 unten sind mit einigen Auslassungen wörtlich übernommen aus CUM 124 Mitte bis 136 unten. 277 Vgl. CUM 123. Zum göttlichen Logos als Maler, Dichter und Musiker siehe auch Curtius, Mittelalter, S. 251. 278 Zur Definition des Begriffes Topos siehe ebd. S. 89–115. 279 Siehe auch Brief Curtius an Fritz Saxl o. D. [Februar 1936], Wuttke, Kosmopolis, S. 85.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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lung bis zur letzten Möglichkeit ausgenützt. Calderón verfügt über sämtliche Register [...]. Der topos kann in jedem Zusammenhang verwendet werden. Er dient dem heroischen Pathos tragischer Lebenslagen“.280 Da Curtius bei Calderón die Verwendung von ‚Topoi‘ erkennt, ist nun zu untersuchen, ob Kommerell in Etwas über die Kunst Calderons auch Stilforschung betreibt und ‚Topoi‘ in Calderóns Werk festmacht.281 iii) Kommerells Stilforschung in Etwas über die Kunst Calderons – Der Begriff „Vorrat“ Kommerells umfangreicher Band 1 der Beiträge zu einem deutschen Calderon: Etwas über die Kunst Calderons, Ende 1943 verfaßt und 1946 posthum erschienen,282 wird im folgenden unter dem Aspekt der Stilforschung erörtert.283 Die Terminologie, die Kommerell in Etwas über die Kunst Calderons verwendet, ist nicht einheitlich, so daß es schwerfällt, seine Stilforschung mit einem einzigen Begriff zu bezeichnen. Er untersucht, welcher Gemeinplätze sich Calderón bedient und wie er sie umwandelt. Dabei spricht er von „Vorrat“ – auch als Kapitelüberschrift verwendet (KC 18ff.) – von „Rohstoff“ (KC 21), „Sujet“ (KC 157), „Gemeingut“ (KC 93) und „Topos“ (KC 158). Sein Konzept beinhaltet die Vorstellung eines literarischen Bestandes,284 der ebenfalls Inventar oder Archiv genannt und in abstrahierter Form als „imaginäre

280 Curtius, Mittelalter, S. 103. 281 Vgl. Vialon, Krauss, S. 348. 282 Vgl. DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 03.09.1943, Nachlaß Kommerell, A: 56.378: „... ich muß endlich einen Calderon Aufsatz ins Reine bringen, der den Übertragungen vorauszuschicken ist, und lese meist spanisch“, und Brief Kommerell an Carossa vom 30.11.1943, BA 433: „Ich habe viel gearbeitet. Ein kleines Buch über Calderon, das zusammen mit meinen Übersetzungen gedruckt werden soll. Hoffentlich geht es noch“. Vgl. auch BA 444, Anm. 2: „Die zwei Bände der ‚Beiträge zu einem deutschen Calderon‘ waren gesetzt, konnten aber nicht mehr ausgedruckt werden und kamen erst 1946 zur Auslieferung“, sowie Briesemeister, Kommerell, S. 205 und Jens, Kommerell, S. 34. 283 Zur Rezeption der Studie siehe Anonym: Rez. zu Kommerell: Beiträge zu einem deutschen Calderon, in: Frankfurter Hefte 4 (1949), H. 3, S. 277; Jens, Inge: Calderon und Kommerell. Zur Neuauflage einer bemerkenswerten Interpretation, in: FAZ, Nr. 233 vom 08.10.1974; Neumeister, Sebastian: Calderón und die deutsche Literatur. Ausstellung im Calderón-Jahr 1981, Berlin 1981, S. 26; Briesemeister, Rez. KC, S. 397–400; Storck, Kommerell, S. 64; Wais, Calderón, S. 269; Briesemeister, Kommerell, S. 211; Albert, Umrisse, S. 366ff.; Vialon, Krauss, S. 323; und: Gutiérrez Girardot, Torno, S. 35. Kurt Wais lobt Kommerells Absicht, hinter den verschiedenen Gattungsstilen Calderóns ein Gemeinsames zu sehen (vgl. Wais, Calderón, S. 270). Sullivan sieht Kommerells Untersuchung als „one of the most advanced pieces of thinking about Calderón’s inner poetic power and mystery ever attempted“ (Sullivan, Nazi Germany, S. 50). 284 Vgl. Briesemeister, Kommerell, S. 212 und Jens, Calderon, Nr. 233.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Topik“285 bezeichnet werden kann. Mit dem Begriff „Vorrat“ sucht Kommerell diachrone Prozesse der Traditionsbildung und der Textfortschreibung zu erfassen. Er beantwortet dabei seine Frage, „ob der Dichter erfindet oder auf einen Vorrat zurückgreift, und weiter: ob er den Vorrat selbst fabriziert oder ihn von anderen erwirbt“, mit der Feststellung: „das gesamte Dichten Calderons, auch seine Fruchtbarkeit [...] beruht darauf, daß er durchaus und immer auf einen fertigen Vorrat zurückgreift, einen Vorrat an Wendungen, Redefiguren, Stilformen, Metaphern, Typen von Szenen und von Gestalten“ (KC 18).286 Schon in Lessing und Aristoteles stellt Kommerell dar, wie er sich den Vorrat von Stoffen in der Weltliteratur vorstellt: Der Dichter dichtet ferner im Hinblick auf die Weltliteratur, indem er frei über den Vorrat der Stoffe und Motive verfügt, schon Geformtes unbedenklich wieder als Rohstoff behandelt, die innerhalb einer Gattung gemachten Erfahrungen verwertet und vor allem deren gelungenste Beispiele stets gegenwärtig hat, damit sich seine Leistung an ihnen ordne und reinige. Als Meister aber weist sich der Dichter aus, der ein Motiv oder einen Zusammenhang von Motiven nicht etwa erfindet, sondern zur höchsten Vollendung führt, es zu sich selber bringt und verwirklicht, so daß ein Angewiesensein und ein Bezogensein der Dichter und der Kulturen aufeinander entsteht, sowie ein selbst durch ein Jahrtausend nicht gelähmter Wetteifer, wer dem immer wieder und immer anders Versuchten die abschließende Prägung geben wird. (LA 9)

Hier zeigen sich Kommerells literaturtheoretische Einsichten. Die Quelle für den Vorrat an Bildformen,287 auf dem Calderóns Dichtung basiere, so Kommerell in Etwas über die Kunst Calderons, sei die antike Mythologie, „weil sie für ihn nur eine andere Form des allenthalben regierenden Wunders bedeutet. Man hat nicht das Gefühl, daß ihm einzelne Mythen durch einzelne Quellen nahegebracht sind; er besitzt alle zusammen in einem fertigen Corpus, wie es erst durch römische Dichter literarisch ausgeführt ist“ (KC 85). Dabei beschränke sich Calderóns Rückgriff nicht nur auf die antike Mythologie: „Ohne daß der christliche Dichter der Barockzeit wie ein Grieche sich eines ausgebildeten Mythenvorrats bedienen konnte, mangelte es ihm doch keineswegs an Geschichten, Legenden und Parabeln, die jedem Zuhörer in Erinnerung waren. Und es ist leicht die verschiedenen Stoffbereiche: heidnische Mythologie, Altes Testament, Welt- und Kirchengeschichte und sogar die Geschichte der jüngsten Vergangenheit, aufzuzählen“ (KC 158).288

285 Vgl. Simon, Weltliteratur, S. 82 u. 86–89. 286 Kommerell entwickelt hier Goethes Beschreibung der Tropen in den Noten und Abhandlungen zum West-Östlichen Diwan, vgl. Briesemeister, Kommerell, S. 213. 287 Vgl. Simon, Weltliteratur, S. 82. 288 Vgl. auch KC 3.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

291

Auf der anderen Seite – und das ist festzuhalten – wird Geschichte nicht als Faktenbestand betrachtet, sondern als gespeicherte Erinnerung: „Hier gibt es keine Natur und keine Geschichte. Statt der Geschichte ein Vorrat des merkwürdigen im Gedächtnis, das sich bald mehr dem Wunder, bald mehr dem Lehrbeispiel nähert“ (KC 5). Außerdem fasse Calderón den Umgang mit der Antike nicht als von ihr vorgeschrieben auf. Vielmehr sei sie ein mit dem Orient vermischter, frei handhabbarer Fabelvorrat: „Es gibt für Calderon keine Antike im Sinn des neueren Humanismus, eine Antike nämlich, die ihren Fabeln einen eigenen Sinn mitgab, und die man als ein sich selbst regierendes Reich des Geistes ehrfürchtig um diesen Sinn angeht. Sie ist mit dem alten Orient zu einem großen und unverbindlichen Fabelvorrat zusammengeflossen, der eben dadurch einer moralisierenden und mehr oder weniger christlichen Auslegung freigegeben wird“ (KC 163). Im Fall von Calderóns Odysseus-Drama El mayor encanto amor bezeichnet Kommerell den überlieferten Vorrat explizit als „feste[n] Topos“ (KC 98). Die Motive vom Leben als Theater aus El gran teatro del mundo und vom Leben als Traum aus La vida es sueño stellt er ebenfalls als ‚Topos‘ heraus: „Es [Das Große Welttheater] greift auf einen seit Marc Aurel geläufigen Topos vom Leben als Theater zurück, der dem anderen vom Leben als Traum ebenbürtig ist“ (KC 158). Also verwende Calderón nicht nur Gemeinplätze, seine Dichtung definiere sich gar aus dem Bezug zu einem vormodernen Vorrat.289 Weitere Beispiele für die Wiederverwendung von Gemeinplatzen führt Kommerell an: Der Richter von Zalamea sei „eine schon vor Calderon ausgearbeitete Figur“ (KC 64) und das Verhältnis zwischen Herr und Diener, das Calderón häufig behandele, sei Gemeinplatz und „Thema der Weltliteratur“ (KC 65). Ebenfalls gehören in El mágico prodigioso die Naturstimmen, die Justina umkreisen, zum Korpus, den Kommerell als Vorrat bezeichnet: „Endlich beruht ihr [der Szene] dichterischer Vorzug darauf, daß vorrätige Wendungen und ein ausgebildetes Verfahren genial, das heißt mit der höchsten möglichen Wirkung, angewandt sind“ (KC 49). Kommerell, der an einer philosophischen Auslegung von La vida es sueño zweifelt (vgl. KC 130–140),290 stellt fest, daß sich der Eingangsmonolog von Sigismund fast ausschließlich aus Motiven, die schon in der Literatur verwendet wurden, zusammensetze: „Und gerade diese Verse bestehen, mit Ausnahme des lapidaren Satzes von der Schuld der Geburt, lediglich aus ‚vorrätigen‘ Elementen, die freilich hier so recht an ihrem Ort sind und verblüffend zusammenstimmen“ (KC 31). Claríns Beschreibung von Rosauras Pferd ende mit „einer resümierenden Formel, die hundertfach zu belegen“ sei

289 Vgl. Simon, Weltliteratur, S. 82. 290 Vgl. Wellek, Critic, S. 498 und Krauss, Vialon, S. 445.

292

VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

(KC 9). Den Gedanken des Traumcharakters allen Lebens verortet Kommerell im Orient: „Wohl aber hat er eine Heimat, nämlich den alten Orient. Dort war es von jeher ein Gemeinplatz, an der Wirklichkeit des Wirklichen zu zweifeln, und die religiösen Denker haben sie entschlossen verneint“ (KC 132).291 Als Sigismund wieder im Turm erwacht, spielt Clotald ihm vor, er habe einem Adler nachgesehen und im Traum einen ganzen Tag durchlebt. Kommerell arbeitet die Bedeutung dieses Vogels als Wiederverwendung eines „asiatischen Motiv[s]“ heraus: „In vielen Erzählungen durchlebt ein Mann, der etwa den Kopf ins Wasser taucht oder auf eine andere Weise für einen kurzen Moment abwesenden Geistes ist, Verläufe, die ein Leben oder gar mehrere Verkörperungen umspannen und erwacht dann aus diesem Wahn, der gewöhnlich eine Wahrheit offenbart, in die vorige Umgebung“ (KC 136f.). In La vida es sueño folge, so Kommerell, der ersten Probe durch Basilius eine weitere in dem Moment, als Sigismund zum zweiten Mal zum Herrscher ausgerufen wird. In der zweifachen, aufeinander bezogenen Probe sieht er wiederum den Einfluß eines bestehenden Vorrats: „Ich zweifle, ob diese Aufeinanderfolge der beiden Proben von Calderon erdacht werden konnte ohne die jahrhundertlange Übung des Mittelalters, Versuchung und Fall des ersten Adams und die Unfehlbarkeit des neuen Adams nicht nur geistig, sondern bildlich und sogar in gespielten Szenen zusammenzuhalten“ (KC 150). Kommerell vermutet, daß dabei Platons Vorstellung des Urwissens eingeflossen sei: „Reminiszenzen weben zwischen den drei Gesängen her und hin, nicht ohne daß der platonische Sinn der Reminiszenz, das Aufdämmern eines der Seele von fernher mitgegebenen Urwissens, hereinspielt“ (KC 152). Am Schluß von El Purgatorio de San Patricio, wo sich das Drama dem Mysterium nähere, verweist Kommerell lediglich auf Traditionen im Bereich der Literatur: „Welche vielseitigen Traditionen hier zu einer Art von Abschluß kommen, kann nur angedeutet werden [...] Wie viele Hadesfahrten gibt es in Märchen und Sage“ (KC 83). Abgesehen von der Wiederverwendung ist Kommerell besonders an Calderóns Umwandlungen des vorhandenen Bestandes interessiert:292 „Für den Calderon-Begeisterten müßte also der Wert dieser Stücke einerseits in den

291 In Jean Paul hingegen schreibt Kommerell die ursprüngliche Idee Calderón zu: „Es ist ja auch ein Spanier gewesen, der entdeckte, daß das Leben Traum ist“ (JP 251). Er stellt den Einfluß von Shakespeare und Calderón auf eine Stufe: „Und – in Jean Paul gefühlter als irgendwo zurücktönend – der altromantische, von Calderon-Sigismund und ShakespeareProspero herüberklingende Klang: La vida es sueño. ‚Je ne suis qu’un songe‘ sagt Liane auf ihrer phantastischen Tribühne, und unser Vorrede: ‚Auf der Erde ist ein erfüllter Traum ohnehin bloß ein wiederholter‘ (alles im ‚Vorredner‘ 1792)“ (JP 167). 292 Vgl. Simon, Weltliteratur, S. 82.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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Bestandteilen selbst liegen, [...] andererseits in jenem Verfahren, sofern es nicht nur der Rückgriff auf den Vorrat, sondern die jeweilige Kombination der Elemente ist [...] endlich aber in der Gesinnung, die dieser Kombination von Elementen zugrunde liegen müßte“ (KC 19). An dieser Stelle ist eine Analogie zu Curtius’ Verständnis von Stoff als Kulturgut festzustellen, das „eingeschmolzen, umgewandelt und zu neuem höheren Leben emporgeführt“ werde (CUH 20). Kommerell stellt in seiner Untersuchung unterschiedliche Transformationsprozesse fest: „Es gibt Sujets, an denen sich Calderon werkmeisterlich, andere, an denen er sich deutend versuchte; im ersten Falle wird aus der Fabel ein Kunstwerk der Regie ohne erhebliche Veränderung, im zweiten Fall dichtet er das Sujet bis zur Unkenntlichkeit um und versetzt es mit Modernem“ (KC 87). Calderón verstehe den Stoff als Möglichkeit für produktive Neuschöpfung: Denn wenn sich der Dichter an einen überlieferten Verlauf strenger bindet, erscheint der Stil als Färbung und Nuance innerhalb gezogener Umrisse. So aber betrachtet er das Sujet als Erlaubnis und läßt sich von ihm in die mythische Landschaft versetzen, in der alles und jedes möglich ist. Je spielerischer die Behandlung, um so ausschließlicher gilt sein Gesetz. Man darf nicht nur die Worte lesen; eine Reizbarkeit, in der Geschichtssinn, Theatersinn und dichterischer Sinn zusammenwirken, ist nötig, um einen solchen Text zur Vision des gespielten Spieles zu ergänzen. (KC 95f.)

Kommerell bewundert an Calderóns Bearbeitungen alter Stoffe, daß sowohl Denkweise als auch Ausdruck modern gestaltet seien: „Wir sind gewohnt, daß bei einer Erneuerung antiker Stoffe vielleicht die Denkweise modern bleibt, aber doch der Ausdruck angelehnt wird an das Altertum und sich an ihm inspiriert. Hier aber ist alles modern“ (KC 96). Anhand von Calderóns Psiquis y Cupido, dem Apuleius’ Märchen von Amor und Psyche zugrunde liege, erläutert er das Problem bei der Rezeption eines bereits rezipierten Gemeinplatzes: „Calderon ist hier im Nachteil, weil seine Quelle nicht Gemeingut ist, sondern selbst schon ein Gemeingut mit allem Abstand der Epoche und größtem Nachdruck der Person modernisiert. Da ist das Beerben ungleich schwerer“ (KC 93). Der Spanier ist einer von vielen Autoren, die schon vorhandene Stoffe aufgreifen und umwandeln. Hier kommt jedoch die Besonderheit hinzu, daß eigene Stücke transformiert werden: Calderón wandelt seine weltlichen Dramen (comedias) in geistliche (autos sacramentales) um und behandelt „sein eigenes Werk als Rohstoff für ein Auto“ (KC 98). Die Umwandlung des Stoffes zum auto geschehe mit Hilfe der „Fabel: Wie immer überliefert wird sie in den Zustand des Rohstoffs zurückgeführt und ganz unbekümmert neu zurechtgelegt“ (KC 165), so daß das Aufgreifen des Stoffes einer comedia der „Benutzung eines fremden Stückes“ (KC 164) gleiche. Dabei sei die Auswahl des Stoffes, der ins auto zu transponiert werden soll, ausschlaggebend: „Die

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Wahl des Sujets ist nun der Hauptpunkt; hierin ist Calderon der unbestrittene Meister, der dem Auto [sacramental] seine entschiedene Geistigkeit und seinen künstlerischen Rang erst eigentlich verliehen hat“ (KC 157). Die besondere Fähigkeit liege jedoch nicht nur in der Auswahl, sondern vor allem in der Umwandlung: „Ein Sujet wählen, heißt, ihm ansehen, daß es sich zur geistlichen Umdeutung bequemt. Diese aber mit ihm vorzunehmen, ist die eigentliche ‚Erfindung‘“ (KC 158). Kommerell verfolgt eine Vorstellung vom prinzipiellen Kombinations- und Rekombinationscharakter literarischer Produktionen. Darüber hinaus gäbe es Fälle, in denen wiederum Calderóns Dramen zu Rohstoff, Vorrat und Gemeinplatz geworden seien. Er sei in der Lage, einen ‚Topos‘ auszugestalten, was sich an den Titeln seiner Stücke zeige: „Ein flüchtiger Blick auf die Dramentitel Calderons zeigt uns, wie nahe es ihm jederzeit liegt, einen Spruch, eine Metapher, einen Topos im Bühnengeschehen zu entwickeln“ (KC 158). Seine Neuschöpfungen gingen soweit, daß er besonders bei den Schicksalsmotiven einen Vorrat schaffe: „Das ist die wahre, christliche Schicksalsfabel in heidnischer Umwelt; und hier werden die Schicksalsmotive, deren Calderon einen kaum glaublichen Vorrat entfaltet, echt und zugehörig“ (KC 114). Ähnlich lautet sein Urteil bei La vida es sueño: Wenn Clotald „mit der Bemerkung schließt, die also offenbar zum Gemeinplatz geworden ist: ‚Alle, die in dieser Welt leben, träumen‘“ (KC 144). Kommerell legt so einen individuellen Haushalt an Vorräten bei Calderón zugrunde, hinter dem die Idee eines umfassenden Haushaltes steht.293 Ein Gemeinplatz, den Kommerell in einem eigenen Kapitel untersucht, ist die Höhle.294 Er definiert sie als menschlichen Versuch, sich der Vorbestimmung zu widersetzen: „Was ist die Höhle? Die Anlage, ehe sie sich entwirkt, und der Versuch des Menschen, die Verwirklichung der Anlage zu hindern. Welche Anlage aber? Die vorher bestimmte, und zwar die als furchtbar vorbestimmte“ (KC 30). Er stellt heraus, daß „seit Plato die Höhle ein philosophischer Ort“ sei (KC 28). Damit bezieht er sich auf Platons Höhlengleichnis, das Gracián „kaum weniger groß als Calderon“ in Szene gesetzt habe (KC 25). Im Jesuitendrama fungiere die Höhle als Ort „des abwegigen Daseins“, in El mágico prodigioso als „Ort des Zauberers“, in christlichen Stükken als „Ort der Verstoßenheit“, als „Grab“, „Leib“ und „Ich“, aber auch als geweihte Höhle und „Liebesgrotte“ (KC 28f.).295 In erster Linie bezeichne

293 Vgl. ebd. S. 86 u. 88. 294 Zur Höhlenthematik siehe auch Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge, Frankfurt/M 1989. 295 Vgl. auch die Wiedergabe der Höhlenthematik von Fritz Schalk, Kommerell, Kunst, S. VIII.

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die Höhle einen Ort der Gefangenschaft.296 Kommerell vertritt die Ansicht, daß der Moment des Austretens aus der Höhle etwas mit einer Geburt gemeinsam habe (vgl. KC 131). In den autos sacramentales nimmt die Höhle eine allegorische Funktion ein: Der Mensch sei schon in der Idee Gottes vorhanden gewesen und „es bedarf nur der vielberufenen Calderonischen Höhle, um auch dies potentielle, dies entworfene Sein zu veranschaulichen“ (KC 156).297 Hier geht wiederum das Vokabular Martin Heideggers ein (vgl. Kap. VIII). Der Topos ‚Höhle‘ wird aus dem Orient hergeleitet: „Die Verbindung des Höhlenmotivs mit drohender Ansage, Vorbeugung, unterirdischem Aufwachsen usf. stammt aus dem Orient, wie vieles bei Calderon“ (KC 29). Er betont ebenso die Exponierung der Höhle: „Auch wenn ihm das Sujet dies keineswegs auferlegt, macht Calderon die Haft der Höhle und das Hervortreten des Häftlings aus ihr, was man auch dagegen ins Werk setzen mochte, zur Exposition seiner Stücke“ (KC 29). In La vida es sueño und La hija del aire erkennt Kommerell eine „dichterisch am eigenen Ort eingesetzt[e]“ Verwendung der Höhle. Im ersten der beiden Dramen werde der Turm symbolisch zur Höhle gemacht. Sie habe eine Bedeutung aus sich heraus als Behausung des ausgesetzten Menschen. Erst später übernehme sie die Funktion des Gefängnisses, das der Vater Basilius errichtet hat. So finde in La vida es sueño eine Potenzierung des materiellen Turms zur existentiellen „Turmhöhle“ (KC 31) statt. Kommerell stellt die Überlegung an, „eine Linie von den vorgeschichtlichen Höhlenbildern Nordspaniens über die Höhlen Calderons zu den noch heute bewohnten Wohnhöhle Andalusiens zu ziehen“ (KC 28). Seine Gedanken über die Höhlen in Spanien führt er zudem in Aufzeichnungen aus, die im Nachlaß erhalten sind: „(Murcia) Drei Meilen östl. v. Cartagena in hohem Berg Cueva de San Juan. (eigentl. Miene) ... mit allen ihren Winkeln im Felsen v[on] eigenartigen Kalk gebildet, hin und wieder mit weiß bis blauen Bergkristallen. Bei Nules (zw. Valencia u. Barcelona): 500 Höhlen, 8–12 Fuß weit, 12–20 Fuß tief, in Kalkfelsen eingehauen, ehemals zur Getreidebehaltung bestimmt und noch so verwandt…“.298 Als Quelle für seine Aufzeichnungen diente J. T. Dillons Reise durch Spanien (1782).299 Sie gewinnen deshalb an Bedeutung, da er die geographische Situation Spaniens auf die dramatische Situation im Werk Calderóns bezieht: Die Höhlen sind „für die Landschaft dieser Dramen bezeichnend“ (KC 26). So wird anhand des Begriffs ‚Höhle‘ die Topographie zur Topologie.

296 Als Ort der Gefangenschaft sei die Höhle „das bloße Inkarniertsein in Fesseln“, Holthusen, Klassik, S. 167. 297 Vgl. auch KC 29 u. 82. 298 DLA Marbach, Kommerell, Max: Arbeitsheft 1936, Nachlaß Kommerell, D: 86.486. 299 Vgl. DLA Marbach, Kommerell, Max: Spanien, Nachlaß Kommerell, D: 86.480.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Kommerell wendet sogar einen Topos, der in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter untersucht wird, auf Curtius selbst an. Er bezeichnet ihn als „dem Geiste nach weiser Greis, so daß man nicht gefaßt ist auf eine gewisse noch fortdauernde Knabenzeit des Herzens“ (BA 303). Curtius stellt den puer senex von Cicero bis Brentano dar und erklärt ihn mit Hilfe der Tiefenpsychologie C. G. Jungs: „Die Übereinstimmung von Zeugnissen so verschiedener Herkunft weist uns darauf hin, daß hier ein Archetypus, ein Bild des kollektiven Unbewußten im Sinne von C. G. Jung, vorliegt. Wir werden solchen Urbildern noch das eine oder andere Mal begegnen. Die Jahrhunderte der römischen Spätantike und des christlichen Altertums sind mit Visionen erfüllt, die oft nur als Projektionen des Unbewußten verstanden werden können“.300 Kommerells Betrachtung der Höhle als Gemeinplatz und die Untersuchung des Vorrats bei Calderón stellen eine Parallele zu Curtius’ Toposforschung dar. Etwas über die Kunst Calderons ist in der Forschung bereits mit Curtius’ Topos-Studien in Verbindung gebracht worden.301 Bisher wurde allerdings die Parallele in der Stilforschung noch nicht eingehend und vor allem nicht vor dem Hintergrund des Briefwechsels untersucht. Der hier gezeigte Briefaustausch zwischen Kommerell und Curtius wirkt auf Kommerells Calderón-Interpretation. In der ganzen Studie, in der es überhaupt nur fünf Fußnoten gibt, widmet Kommerell eine der Fußnoten Curtius: Zur Höhle als Exposition „vergleiche E. R. Curtius [...].“ Daran knüpft er ein Lob von Curtius’ Darstellungsverfahren: „Ein Aufsatz, der durch vieles nur beiläufig Gesagte eine neue Einsicht in Calderons Dichtkunst begründet“.302 Eine weitere Parallele liegt im Verfahren, Vergleichsreihen fortzubilden. Curtius verwendet dafür den Begriff des Summationsschemas, Kommerell den des ergänzenden Vergleichs, der schon im Zusammenhang mit Hugo Friedrich erwähnt wurde. Curtius erklärt zu Sigismunds Eingangsmonolog in La vida es sueño: „Diese Verse stellen eine kurze Rekapitulation dar, die aus dem Beispiel-Parallelismus der vorhergehenden Strophen – Vogel, Raubtier, Fisch, Bach – die Summe zieht. Das Kompositionsschema ist bei Calderón

300 Curtius, Mittelalter, S. 112. Zur Bedeutung Jungs für das historisches Bewußtsein von Curtius siehe Gumbrecht, Hans-Ulrich: „Zeitlosigkeit, die durchscheint in der Zeit“. Ernst Robert Curtius’ unhistorisches Verhältnis zur Geschichte, in: ders., Große Romanisten, S. 49–71, hier: S. 52. 301 Vgl. Henkel, Arthur: Nachwort, in: DD, S. 240–253, hier: S. 251; ders.: Max Kommerell, in: Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium, hrsg. v. HansJoachim Zimmermann, Heidelberg 1985, S. 51–59, hier: S. 58; Albert, Umrisse, S. 374f.; Holthusen, Klassik, S. 132; Simon, Weltliteratur, S. 88; und: Briesemeister, Kommerell, S. 213. 302 Kommerell, Beiträge, Bd. 1, S. 50.

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überaus häufig. Ich bezeichne es als Summationsschema“.303 Kommerell greift die Beschreibung des Pferdes aus La vida es sueño und die Landung der Flotte in Tanger aus El principe constante heraus und erläutert daran „Calderons Verfahren, es [das Etwas] in jedem Augenblick aus dem einzelnen Naturding ergänzend herzustellen; man kann dies Art von Metaphorik als ‚ergänzenden Vergleich‘ bezeichnen“ (KC 8).304 Sowohl Curtius als auch Kommerell untersuchen die Reihen bei Calderón und erkennen sie als wesentliches Kompositionsprinzip seiner Ausdrucksform.305 Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in der Untersuchung des Mythos als Harmonisierung zwischen heidnischer Mythologie und biblischer Offenbarung.306 Der Einfluß des Romanisten auf den Germanisten klingt an weiteren Stellen an: Kommerells Erwähnung der Kapitulation der Stadt Breda als geschichtlicher Stoff (vgl. KC 3f.) geht vermutlich auf die Wiederspiegelung des militärischen Sieges in der spanischen Malerei und Dichtung zurück, die Curtius in Calderón und die Malerei anspricht (vgl. CUM 135).307 Kommerell beobachtet, daß in El pintor de su deshonra eine „Reihe von Kunstreflexionen, die daran erinnern, daß Calderon ein Traktat über die Malerei geschrieben hat“ (KC 57).308 Der Einfluß von Curtius’ Malerei-Aufsatz liegt auch hier nahe. iv) „Zeichen“, „barockes Zeigen“ und die Bühnentechnik in der Interpretation Kommerells In Kommerells Feststellung eines „fertigen Vorrats“ literarischer Motive liegt eine Parallele zur Untersuchung literarischer Gemeinplätze von Curtius. Der Germanist übertrifft jedoch die Toposforschung des Romanisten, die primär auf eine Bestandsaufnahme ausgerichtet ist, durch einen abstrakteren Ansatz. Kommerell beabsichtigt nicht, Reihen zu konstruieren und durch das Aufzählen von Topoi das imaginäre Feld zu erschließen, sondern er geht, wie in anderen Schriften, von der Unrekonstruierbarkeit einer vormodernen Ordnung aus. Dabei unterstellt er einen Haushalt an Bilderorten, der von der 303 Curtius, Mittelalter, S. 293. 304 Vgl. Albert, Zeichen, S. 240. 305 Briesemeister liegt hier falsch: Weder wendet Kommerell Curtius’ ‚Summationsschema‘ an (vgl. Briesemeister, Rez. KC, S. 399), noch entwickelt er es weiter (vgl. Briesemeister, Kommerell, S. 212). Kommerell kennt Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter nicht, da es nach seinem Tod erscheint. Briesemeister folgend irrt sich auch Sullivan, vgl. Sullivan, Calderón, S. 372. 306 Vgl. Briesemeister, Kommerell, S. 215. Holthusen sieht eine Parallele zwischen Kommerell und Curtius in ihrer „weltmännischen Goethe-Kennerschaft“, Holthusen, Klassik, S. 115. 307 Kommerell thematisiert Dante (vgl. KC 5f.) ebenso wie Curtius seinen Aufsatz Hofmannsthal und Calderon mit einem Vergleich zwischen Calderón und Dante abschließt (vgl. CUH 27f.). 308 Vgl. dazu KC 127.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Beschaffenheit der Seelenlage abhängig sei.309 Der höhere Abstraktionsgrad seines Ansatzes liegt in der Ausdifferenzierung des Zeichenbegriffs. Neben dem „Vorrat“ ist der Begriff des „Zeichens“ von zentraler Bedeutung. Für Kommerell ist – auch ohne Saussure-Lektüre – der Zeichenbegriff in Calderóns Dichtung konstitutiv: „Seine Welt besteht aus Zeichen, nicht aus Dingen“ (KC 5).310 In seiner Kunst bestehe ein sich „im Leser aufführendes Theater aus Zeichen und Figuren“ (KC 1).311 Eine besondere Funktion gewinnen die Zeichen bei den Transformationen der comedias in autos sacramentales: „Die produktive Leistung liegt jedesmal darin, daß feste Züge einer Handlung, die sich vorher selbst auslegten, nun als Zeichen eines ganz anderen Sinnes in neuer Weise lesbar werden“ (KC 164). Bei der Integration der mystischen Poesie ins Drama, die „eine für die Geschichte der Dichtung wichtige Tat Calderons“ sei, habe er dem Zeichen eine neue Bedeutung gegeben: „Er hat die mystische Zeichensprache zwar in einem abgeleiteten Sinne verwendet, gibt den Zeichen aber durch Verwendung im Drama eine neue Ursprünglichkeit“ (KC 81). Außerdem sei die Gefangenschaft der Welt im übermächtigen Schicksal in der Zeichensprache dargestellt.312 Die Beschäftigung mit Zeichen ist zudem in Kommerells Briefwechsel belegbar. Heinrich Zimmer charakterisiert sie in einem undatierten Brief an Kommerell als allgemeines Verfahren der Zeit: „Dabei ist es hübsch, wie wir eigentlich alle dasselbe machen und auf so verschiedene Weise: Zeichen lesen, an großen Dichtungen, dummen Kartenkram und der Dolf Sternberger an Sprichwörtern und Redensarten, mit einem Wissen, wie es auch harmlosen Wesen vor und zwischen Katastrophen geschenkt wird...“.313 Über den Zeichenbegriff grenzt sich Kommerell von naturalistischen Darstellungsverfahren ab: „Während das unmittelbar angeschaute Leben immer sein Eigengewicht behält, läßt sich mit Abbildern, Zeichen und Schatten bequem schalten“ (KC 6). Im Zeichen zeige sich der Gedanke: „So entsteht, statt einem Ebenbild der Lebensvorgänge, jenes der Mathematik vergleichbare reine In-sich-sein einer streng bezogenen poetischen Zeichenwelt, das je nach Höhenlage an einen kindlichen oder an einen philosophischen Denkzustand erinnert“ (KC 21). Kommerell stellt damit im Sinne einer Signaturenlehre der naturalistischen Abbildung des Lebens ein ästhetisches System von Zeichen entgegen. 309 Vgl. Simon, Weltliteratur, S. 82 u. 87. 310 Vgl. Wellek, Critic, S. 497; Gadamer, Gedenkrede, S. 224; Briesemeister, Kommerell, S. 213; und: Albert, Umrisse, S. 375. 311 Zur Verbindung von Kommerells funktionalem Zeichenblick mit neueren Ansätzen der Medienwissenschaft siehe Albert, Zeichen, S. 238. Zur Interpretation seiner Vergleichsreihen als strukturalistische Einsichten vgl. ebd. S. 241. 312 Vgl. Henkel, Kommerell, S. 58. 313 DLA Marbach, Brief Heinrich Zimmer an Kommerell o. D., Nachlaß Kommerell, A: 84.1660/9.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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Das „barocke Zeigen“ (KC 33) dient der Vermittlung der Zeichengehalte und der Symbolik des Dramas an den Zuschauer.314 Im gleichlautenden Kapitel beschreibt Kommerell den Ablauf des Zeigens: „Calderons Drama ist eine solche potenzierte Zeremonie des Zeigens. Ein betontes Auslassen des Nichtgezeigten, ein Erhöhen des Gezeigten. Aber noch mehr: indem man im Gezeigten an etwas zu Zeigendes glaubt, versteht man es doppelt, als Erscheinung und als Sinn“ (KC 34).315 Die Funktion des Zeigens definiert er als Aufgabe, „die erfundene Parabel eines geistigen Bezugs szenisch ins Bild zu setzen“ (KC 60). Dieses „barocke Zeigen“ finde besonders im Medium des Dramas statt: „Das Drama ist ein Mittel, dies Bildliche zu zeigen, mit einem gewissen Verlust an Spannung, aber mit reichem Gewinn an Weisheit für Phantasie, Verstand und wohl auch einmal für die Gesinnung“ (KC 125). Ein Beispiel dafür sei die Rede Sigismunds, in der er Basilius, der vor ihm kniet, aufhebt und „wo er – ein barockes ‚Zeigen‘ – den Hof zur Schau dieses Erzbeispiels feierlich einlädt“ (KC 139). Von einer Systematisierung des Zeigens verspricht sich Kommerell, die Theatermittel übersichtlich zu gestalten: „Würde man alle Fälle solchen ‚Zeigens‘, die in die Hunderte gehen, systematisch ordnen, so ergäbe sich eine fesselnde Übersicht über die gewaltigen Mittel des Theaters, das so gut das Hokuspokus der Kinderphantasie wie eine metaphysische Zeichensprache in seiner Gewalt hat“ (KC 103). Im Zusammenhang mit dem „barocken Zeigen“ stehen die beiden spanischen Ausdrücke engaño (Vortäuschung, Vorspiegelung, Schein) und desengaño (Enttäuschung, Ernüchterung, Desillusionierung): Wenn aus dem konstruierten Schein eine Ernüchterung hervorgehe, finde ein wirkungsvolles Zeigen statt mittels des „zeigegewaltigsten Zeiger[s], dem desengaño“ (KC 34). Das „barocke Zeigen“ wird als Kunstmittel Calderóns gesehen, dessen Theater „Natürliches ganz durch Künstliches“ ersetze (KC 13). Als Stil bezeichnet Kommerell, was sich aus der „Gesamtheit“ der unverwechselbaren Kunstmittel zusammensetze (KC 6). Die Untersuchung des Stils ist eines seiner zentralen Anliegen. Ein Beispiel, was Stil sei, zeige sich in der Transponierung der Verabredung zwischen Dichter und Zuschauer, die vor jedem Drama bestehe, in eine Verabredung zwischen den Figuren im Stück: „Solche Szenen decken den Stil auf, dem die ganzen Kunstmittel dieser Bühnendichtung gehorsam sind“ (KC 105). Kommerell entwickelt eine Fülle von Vorstellungen über Stil, die er im Kapitel Die Aneignung darlegt (vgl. KC 95–99). Dabei wird Stil als „Geist

314 Vgl. Sullivan, Calderón, S. 371. 315 Im Aufsatz Faust II letzte Szene betont Kommerell, daß die „Universalität des Weltspiels einen barocken Grundzug hat“ (GB 362). Siehe auch GB 113, 123, 364 u. 365. Zur Behandlung Calderóns in Faust und die Sorge siehe GB 99 u. 102, in Schiller als Psychologe siehe GB 229.

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der Sinnlichkeit“ (KC 96) verstanden und in der Übertragung des Geistigen in Sinnliches angesiedelt. Er liege in der Versprachlichung stummer Vorgänge, im „Übergang der Worte in Musik“ (KC 96) und in der Bewegung des Ordnungslosen in der künstlichen Welt. Außerdem findet Kommerell Stil in einzelnen Momenten, wie der Beschreibung der Schönheit eines Menschen, dem Schließen von Freundschaft, kleinen Zufällen, szenischen Tricks und einfachen Gesellschaftsspielen. Zur Untersuchung einer Stilgeschichte eigne sich besonders Calderón: „Was aber Stil ist, als Überlegenheit über das Leben, was insbesondere dramatischer Stil ist, als eine von den sprachlichen Formen bis zur Bühnenvorschrift durchgehend waltende Sinnlichkeit, ein Wie der Erscheinungen und Bewegungen, mit dem Zentrum eines allbeziehenden Sinns, das läßt sich nirgends besser erfragen als bei Calderon“ (KC 6). Wenn Kommerell Stil dem Leben übergeordnet, will er damit die Wiederherstellung des Lebens auf einer höheren Stufe im Medium der Kunst herbeiführen.316 In Etwas über die Kunst Calderons widmet sich Kommerell eingehend der Beschreibung von Calderóns Art, das „barocke Zeigen“ mit Hilfe der Bühnentechnik umzusetzen.317 Bei Calderón greifen die Handlung im Drama und der Ort der Aufführung ineinander besonders in den autos sacramentales, wo die Welt zur Bühne wird: „Wie ein umfassendes Geschehen zur dramatischen Handlung verdichtet wird, geht am schönsten aus dem Welttheater hervor. Gott ruft die Welt auf, Bühne zu werden, als sie noch Chaos ist“ (KC 490). Er konsultiert dazu Calderóns Memorias,318 in denen „genaue technische Anweisungen“ (KC 154) gegeben werden. Die Einbeziehung der Bühne sei besonders wichtig, da der ‚Theatertechniker‘ Calderón eine Doppelbegabung als Dichter und Regisseur habe (vgl. KC 6):319 „Der Techniker denkt nach, wie er das Publikum entzücken kann, indem aus einem Menschen ein Baum, aus einem Baum ein Mensch wird; aber freilich hat die technische Überraschung Anteil an der einzigen Höhe der dekorativen Kunst, die alles Technische adelt“ (KC 87). Er schreibt dem Spanier eine dramatische

316 Vgl. Briesemeister, Kommerell, S. 212. 317 Auf die Bühnentechnik geht Kommerell auch in Lessing und Aristoteles ein (vgl. LA 154). Außerdem beschäftigt er sich mit der Bühne im 17. Jahrhundert in seinen Lehrveranstaltungen im SoSe 1938: Geschichte der Barockbühne und des Barockdramas, im WS 1938/39: Bühne und Drama im Barock, SoSe 1939: Bühne und Drama des Barock, 3. Trimester 1940: Von der Wanderbühne zum stehenden Theater, 1. Trim. 1941: Anfänge der stehenden Bühne (Forts.), Strebel, Kommerell, S. 286. 318 Vgl. die neue Edition Calderón de la Barca, Don Pedro: Autos sacramentales completos, hrsg. v. Ignacio Arellano, Bd. 41: Memorias de apariencias y otros documentos sobre los autos de Calderón de la Barca, hrsg. v. Lara Escudero u. Rafael Zafra, Kassel 2003. 319 Vgl. Briesemeister, Kommerell, S. 213; Albert, Zeichen, S. 239; und: Sullivan, Calderón, S. 371.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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Verfahrensweise zu, die auf die Kategorie der Wirkung ausgerichtet ist, und akzentuiert damit die theatrale Bühnenwirksamkeit. Somit ist eine Erklärung für Kommerells Affinität zu Calderón darin zu sehen, daß seine Theaterauffassung auf Bühnenwirksamkeit angelegt ist. Eine Bühnenanweisung aus El mayor encanto amor, die Calderóns Bühnenkonzept am treffendsten bezeichne, zeigt erneut seine Akzentuierung der ‚Gebärde‘: „‚Salen animales y hacen lo que se va diciendo.‘ Wahrhaftig das das [sic] ganze Rezept Calderons in eine Bühnenanweisung gebracht!“ (KC 100). Die Beobachtung, daß Semiramis und Ninyas in La hija del aire in keiner Szene gemeinsam auftreten, wertet er als Absicht des Autors, der mit Blick auf die Bühne schreibe: „Calderon hat jedes Zugleich von Mutter und Sohn auf der Bühne vermieden. Es scheint, daß er beide von einer Schauspielerin gespielt wissen wollte“ (KC 130). Solche und andere Einfälle Calderóns hätten bleibende Wirkung in der Theatergeschichte: „Wie immer auf dem Gipfel einer Bühnenkultur macht ein großer Einfall des Dichters zugleich Epoche in der Regie. Es ist gar nicht möglich, Leben ein Traum für heutige Sinne zugänglich zu inszenieren, wenn der Regisseur nicht in die eben auseinandergelegten Verhältnisse eine gründliche Einsicht hat“ (KC 151). Die Funktion des Zeigens wird auf der Bühne mit Hilfe von Maschinen, die Vorhänge und Wände bewegen, dargestellt: Auch der Theaterraum, seine Maschinen und besonders eine Tiefengliederung dient dem Zeigen. Wie oft wird ein Vorhang weggezogen, und einer Figur, die dadurch zum Zuschauer gemacht wird, eine andere gezeigt in der Verfassung und Tätigkeit, die dem Zuschauer verborgen war und jetzt enthüllt wird. Dabei kann es wunderbar oder natürlich zugehen. [...] Was bieten die Autos nicht auf mit den Wagen, die verschiedene Sphären stützen, mit einer oberen und unteren Spielebene [...]. Durch dies Zeigen, das einerseits aus Figuren des Stücks wieder Zuschauer macht, wird andererseits der wirkliche Zuschauer immerzu als Zeuge gefordert und fühlt sich stärker als sonst in die Handlung hineingestellt. Hier kommt uns die Bemerkung der Historiker des Bühnenwesens zu statten, die nachweisen, daß auch die inneren Anlagen des Theatergebäudes die Grenze von Bühne und Zuschauerraum aufhebt. (KC 37)

In der Bühnentechnik ist die Hinterbühne von zentraler Bedeutung, z. B. bei den Gesängen in Psiquis y Cupido: „Psyches Verlangen, ihre Familie zu sehen, wird von dem Gott durch einen Operntrick befriedigt – ein echtes ‚barockes Zeigen‘. – Sie bekommt, wohl auf erhöhter Hinterbühne, die ganze Sippschaft vorgezaubert, mit den Reden und Gesten, die im Augenblick fällig sind“ (KC 90).320 In La vida es sueño ist die „Hinterbühne, der hohle Eingang zum wimmernden Menschenrätsel“, besonders wichtig (KC 31). Sie wird durch das „barocke Zeigen“ zur inneren Bühne emporgehoben: „Immer entsteht, 320 Vgl. Vialon, Krauss, S. 344f. und Agamben, Gesture, S. 80.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

in der verschiedensten technischen Form, eine Art Bühne auf der Bühne, die Aufschluß bewirkt“ (KC 103). Besonders in den autos sacramentales wird sie in Szene gesetzt, indem Bühnenwagen die Wände oder Vorhänge bei Seite schaffen und den Blick auf die Hinterbühne frei machen: „Aber schon jetzt kann man sehen, daß Calderon in der Bühnentechnik des Auto eine neue Epoche eröffnet. Er bedient sich der Bühnenwagen, die mit ihren zusammengerückten Fronten eine Szenerie bilden und wieder durch das Wegziehen von Vorhängen oder Wegschieben von Prospekten zu jeder dieser Fronten einen Innenraum und eine Hinterbühne eröffnen können. Die Wagen waren mit einem dem Hoftheater ebenbürtigen technischen Apparat versehen, auch die Vertikale wurde reichlich ausgenutzt; zu Oberbühne und Unterbühne findet sich jede Einrichtung“ (KC 154).321 In El purgatorio de San Patricio fungiert die Höhle auf der Bühne als Gang ins Jenseits: „Theater und legendäres Motiv fallen zusammen: das Jenseits wird im barocken Sinne ‚gezeigt‘. Gehen auf der Bühne stellt wohl den Gang zur Höhle dar, ein Hintervorhang tut den Schlund auf, in dem der König, Mut zeigend, sich zum Tod einzieht. Eine Versenkung entfernt ihn von der Bühne“ (KC 80). Ein anderes Mittel der Bühnentechnik, neben der Eröffnung einer Hinterbühne durch Wegziehen eines Vorhangs, ist das Einsetzen einer Flugmaschine, auf der Menschen oder abstrakte Gegenstände heranschweben: „Die gezeigte Wahrheit kann auf der Flugmaschine herabschweben oder in Musik gesetzt sein“ (KC 37). Sie kommt in repräsentativer Form in El mayor encanto amor vor: „Ein vollkommen neuer Geist regiert aber im Flugapparat: statt der Iris erscheint die Buße über dem Regenbogen“ (KC 99). Die Bühnentechnik hat in Calderóns Dramen, die sich der Oper nähern, eine erhöhte Signifikanz: „Modern sind endlich die Opernmomente mit ihrer Theatermaschinerie“ (KC 97). Besonders in der Oper greifen das „Bühnenwunder“ im „Prunk des Maschinenwesens“ und das „Wortwunder“ in der „Sprachkunst hervorgehobener Versformen“ ineinander: „Ihre Einheit ist von der Form her die Oper, vom Gemüt her die Stimmung. Das Bühnenwunder versteht die Oper als isoliertes technisches Mittel, das Wortwunder als die große auf die Sprache reduzierte Arie; die Stimmung ist der Hang, den alles Geschehen hat, jederzeit ins Wunder überzugehen – jene Stimmung des Erstaunens, die man als poetischen Geist der Oper bezeichnen könnte“ (KC 100). Die „mythologische Prunkoper“ sei bei Calderón vertreten wie bei niemandem anderem, denn er ziehe „diesen funkelnden Horizont des

321 Für Beispiele siehe KC 155. In Bezug auf die Studie über die Bühnenform und Einrichtung in den comedias und autos, die Kommerell fordert, verweist Briesemeister auf inzwischen erschienene Sekundärliteratur, vgl. Briesemeister, Kommerell, S. 214.

VI.2 Kommerells Calderón-Rezeption im Dialog mit Romanisten

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Wunders um die Bühne“ (KC 86).322 Im La vida es sueño (auto) werde das Bühnenwunder mit dem Hervortreten des Menschen aus dem Bühnenhintergrund eröffnet: „‚Descúbrese un peñasco y el hombre, vestido de pieles‘ [...]. Das ist der tiefste der Gedanken, die Calderon je zur Begründung eines Bühnenwunders aufbietet. Denn das Verborgene, das hier ‚gezeigt‘ wird, ist die Möglichkeit des Seins, die noch nicht aktualisiert ist: der erst in Gottes Entwurf vorhandene Mensch“ (KC 103). Zur Einordnung des Bühnengeschehens ist für den Zuschauer eine Skala nötig, die Kommerell auch bei der Aufführung seiner Übersetzung von Das Leben ist Traum in Berlin gefordert hat. Durch die Skala sollen Bühnengeschehen und Gebärdensprache der Figuren in einem fest umschriebenen Bedeutungszusammenhang auslegbar sein: „Dies gelingt aber erst, wenn in einer Calderon-Aufführung ein vornehmes Zeremoniell der mimischen Mittel mit einer festen Skala von Bedeutungen die brüllende, schwitzende, zuckende und schäumende Stegreifmimik verdrängt hat“ (KC 151).323 Im geforderten „Zeremoniell“ – und in der Zeremonie – liegen weitere Zentralwörter Kommerells.324 Er versteht Zeremoniell als Organisationsprinzip für den Ablauf einer Szene: „Daher regiert auch und gerade in dem schwersten Moment, durch den eine Gestalt Calderons gehen muß, und der ihr in der Beklommenheit der Entscheidung ein hilfloses Stammeln menschlicher Not abnötigen sollte, das Zeremoniell“ (KC 21). Die Zeremonie diene zur Aufdeckung des menschlichen Inneren: „Die auch in dieser Naturgeschichte des Menschenwilds, in diese zeit- und raumlose Landschaft der Unbetretbarkeit mitgebrachte Zeremonie dient dazu, das Verbotene im Inneren der menschlichen Natur aufzudecken, durch Aufdeckung tiefer zu verschließen“ (KC 24). Vom Begriff der Zeremonie aus besteht wiederum eine Verbindung zum Zeigen, das anhand einer Zeremonie ablaufe: „Die Zeremonie sagt: ‚Hier ist das wahrhaft Seiende, und jetzt geschieht das wahrhaft

322 Kommerell interessiert sich mehr für die mythologischen als für die geistlichen Stücke Calderóns, da ihm, wie er selbst sagt, der intensive Bezug zur religiösen Dichtung fehle, vgl. Brief Kommerell an Rudolf Alexander Schröder vom 26.03.1938, BA 340. In der Auslassung der theologischen Problemstellungen im Werk Calderóns und der z. T. damit einhergehenden Profanisierung liegt eine Schwäche von Kommerells Arbeit, vgl. Busch/ Pickerodt, Einleitung, S. 12; Briesemeister, Kommerell, S. 215; und: Albert, Umrisse, S. 372. Auch andere Stellen von Calderóns Werk werden außer Acht gelassen, wie z. B. die charakteristische Vater-Tochter-Szene aus El alcalde de Zalamea, vgl. Wais, Calderón, S. 269f. Ein weiterer Schwachpunkt ist Kommerells Erklärung der Abweichungen zwischen biblischem Text und Wortlaut des Dramas als produktive Verlegenheiten, vgl. Albert, Zeichen, S. 239f. 323 Der Begriff der Skala gewinnt bei Kommerell darüber hinaus noch weitere Bedeutungen, so z. B. als „Entscheidungsskala“, „Steigerungsskala“, „Wiederherstellungsskala“ und als „Tonskala“ (KC 56, 95, 113, 70). 324 Vgl. Wellek, Critic, S. 497; Holthusen, Klassik, S. 133; und: Simon, Weltliteratur, S. 87.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Geschehende. Wir sorgen, daß es nicht bloß ist oder geschieht, wir die Zeremonien! Seht alle her, und seht nicht nur, sondern begreift!‘“ (KC 34).325 In den Ausführungen zu Lessing und Aristoteles (vgl. Kap. VII.6.2) wird zu zeigen sein, daß Kommerell die Kunst bei Aristoteles als auf das Leben bezogen interpretiert. Anhand der Schiller-Studien kann Kommerells Auffassung der Kunst als Medium der Wiederherstellung des von sich selbst entzweiten Menschen nachgewiesen werden (vgl. Kap. VII.6.3). Diese beiden Punkte stehen im Zusammenhang von Kommerells Beschäftigung mit Calderón, dessen Drama in den comedias wie in den autos sacramentales eine Kunst darstellt, die auf das Leben der Menschen bezogen ist. Dort wird der Mensch nicht von sich selbst entfremdet, sondern in einer christlichen Welt gezeigt, in der er seinen festen Platz hat. Mit der Übersetzung und Interpretation Calderóns verbindet Kommerell das Anliegen, dem deutschen Theater durch ein symbolisches Theater einen neuen Impuls zu geben und den Menschen durch Kunst auf einer höheren Stufe wiederherzustellen. Kommerells Calderón-Rezeption ist also eine programmatische Aussage. Die Erörterung von Etwas über die Kunst Calderons hat ergeben, daß Kommerell die literarischen Stoffe, die Calderón verarbeitet, als Bestand oder „Vorrat“ (KC 18) ansieht, woraus sich eine Parallele zu Curtius’ Toposbegriff ergibt. Kommerell übertrifft allerdings Curtius, mit dem er in produktiven Wechselwirkungen steht, zwar nicht in der Quantität der Untersuchung, sondern in einem systematischeren und zeichentheoretisch konnotierten Vorratsbegriff, mit dem das „Zeichen“ (KC 5) und „barocke Zeigen“ (KC 33), das in einem „Zeremoniell“ (KC 151) abläuft, einhergehen. Für das „barocke Zeigen“ sind wiederum Calderóns „Bühnentechnik“ (KC 154), die auf das Öffnen der Hinterbühne ausgelegt ist, und eine festgeschriebene „Skala“ der Bedeutungen (KC 151) von zentraler Relevanz. Dabei wird die CalderónRezeption von drei Zielen angetrieben: Erstens von einer grundsätzlichen Beschäftigung mit dem Akt des Verstehens, zweitens vom speziellen Interesse, eine fremde Kultur zu verstehen, und drittens vom Bestreben, die ‚barocke‘ Symbolik zu vergegenwärtigen. Im Kontext der Korrespondenzen verändern sich Kommerells Umgangsformen mit Literatur. Sein Interesse für Konstanten steigt, das literarische Traditionsbewußtsein wird stärker ausgeprägt. Seine Aufmerksamkeit verlagert sich und sein Horizont dehnt sich auf das komparatistische Gebiet aus.

325 Vgl. Briesemeister, Kommerell, S. 213.

VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur

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VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur In diesem Unterkapitel werden zuerst Kommerells Aufsätze Humoristische Personifikation im Don Quijote und Don Quijote und Simplizissimus untersucht. Danach wird die Betrachtung über die Commedia dell’arte analysiert und die Rezeption französischer und englischer Literatur nachgezeichnet. Abschließend werden Kommerells Ausführungen über japanische und chinesische Romane betrachtet und seine Vorstellung von ‚Weltliteratur‘ aus dem Briefwechsel skizziert. VI.3.1 Die Cervantes-Studien Neben Calderón setzt sich Kommerell in zwei Aufsätzen mit einem anderen spanischen Dichter des siglo de oro auseinander: Miguel de Cervantes. Wie kommt der Germanist Kommerell dazu, sich Ende der 1930er Jahre mit einem 300 Jahre alten spanischen Dichter zu beschäftigen? Ein direkter Anlaß ist nicht festzustellen, auch in den Briefen werden keine Selbsterklärungen vorgenommen. Möglicherweise sucht sich Kommerell im Zuge der Arbeiten an seinem Roman Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern (vgl. Kap. IV) prominente Vorbilder im Bereich des humoristischen Romans. Der erste Aufsatz Humoristische Personifikation im Don Quijote erscheint 1938 in der Neuen Rundschau, dort wird der Name des Protagonisten noch mit „Quixote“ geschrieben, um ihn zu latinisieren. Der Aufsatz wird 1952 in der Sammlung Dichterische Welterfahrung (DW) wieder abgedruckt.326 Mit der Neuen Rundschau besetzt Kommerell ein bildungsbürgerlich ausgerichtetes Publikationsorgan mit dem Ziel, als Literaturvermittler den vergangenen Cervantes dem deutschen Publikum zu vergegenwärtigen. Eingangs geht Kommerell auf die Entstehung der Don Quijote-Figur ein: „Es muß einer der heitersten und freiesten Momente gewesen sein, die je einen schaffenden Menschen aus der Wahl zwischen Vielem in die Gewißheit des Einfachen versetzten, als dem Dichter Cervantes die Figur des fahrenden Ritters Don Quijote einfiel, ganz eigentlich einfiel, nicht bloß die Tat seines Auszuges, sondern er selbst, wie er sich dabei ausnahm“ (DW 110). Alle folgenden Ideen seien Variationen des ursprünglichen Einfalls. Damit erklärt Kommerell das Zustandekommen von Emergenzprozessen. Cervantes lege keine tiefere Bedeutung in seine Geschichte, sondern zeige eine Konstellation in verschiedenen Situationen, indem er sich auf die „Unerschöpflichkeit seines ersten Einfalls“ verlasse, der im „doppelten Subjekt[] der Abenteuer“ liege (DW

326 Vgl. Kommerell, Max: Humoristische Personifi kation im ‚Don Quijote‘, in: DW, S. 109– 146 [erstmals in: NR 49 (1938), H. 3, S. 209–232].

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

144). Kommerell hebt hervor, daß der Roman in der Aneinanderreihung dieser unterschiedlichen Situationen bestehe: Statt die symbolische Aufgabe Sanchos im Miterkennen und Mitverkennen begrifflich auszulegen, wird man lieber, ausgehend von dem Thema einer in Beispiele umgesetzten, zur Legende ausgearbeiteten falschen Subjektivität bei den hier gespielten Erkenntnisspielen, in der Duplizität des Subjektes eine Steigerung der thematischen Kraft sehen, um so mehr, als die beiden Subjekte gänzlich verschiedenartig und das eine beharrend, das andere veränderlich ist, so daß nie jenes Mißdeuten des Gegenstandes durch die produktive Arbeit der Einbildung allein, sondern zugleich ein zweites, unberechenbar verschiedenes Deuten desselben Gegenstandes ein Abenteuer bewirkt, und drittens die Deutung des Deutenden verändert. (DW 142f.)327

Da dieser erste Einfall geistig sei, handele der ganze Roman vom Geist und sei „geistesmäßig wie wenige“ (DW 146). Seinen Aufsatztitel leitet Kommerell aus „der in Don Quijote personifizierten Idee“ ab (DW 141). Auch im zweiten Cervantes-Aufsatz, Simplizissimus und Don Quijote, der anschließend hier besprochen wird, erläutert er seine Vorstellung der Personifikation: „In einer freieren Weise können sie [Don Quijote und Sancho Panza] jedoch aufeinander bezogen werden: sie drücken Wert und Eigenwert zweier Epochen, Nationen, Individuen aus und erhellen sich durch ihre Verschiedenheit; im besonderen aber machen sie ein wichtiges Gesetz der komischen Dichtung klar: die Personifikation“ (EN 37). Kommerells Hang, etwas zu einem Schema oder Gesetz zu erklären (vgl. Kap. V), zeigt sich, wenn er das Darstellungsprinzip zum „Gesetz der Personifikation“ erhebt (DW 115). Dabei macht er einen klaren Unterschied zwischen Person und Personifikation. Eine Person sei psychologisch motiviert, eine Personifikation ein „wesentlich allegorische[s] Geschöpf“ (DW 115f.). Ein weiteres Gesetz liege in der Verwirklichung des Geistes in der Tat: „Und nach dem zweiten Gesetz, das, aus dem ersten Gesetz der humoristischen Personifikation folgend, den Entwurf dieses Romans bestimmt, nämlich der Umsetzung eines geistigen Verhältnisses in der Tat, im ‚Abenteuer‘, werden nun die verwechselten Rollen, die soeben das Gespräch gestalteten, zu Handlung und Gebärde weitergeführt“ (DW 136).328 Ein Grundzug von Kommerells Stil, die Forschungskritik, tritt ebenfalls in diesem Aufsatz hervor. Die implizite Fachkritik ist schon mit der Wahl des Themas gegeben. Kommerells Interessen unterscheiden sich radikal von den

327 Kommerell entwirft einen Gegensatz zwischen modernem und vormodernem Autor: Cervantes „versagt sich den Ausweg, den sich ein neuerer Autor vermutlich offenhielte“ (DW 137). Don Quijote und Sancho Panza verkörperten „ewige Weisen, die Welt [unterschiedlich] zu nehmen“ (DW 143). Den Helm von Mambrin sieht er als „die glänzendste Beispielerfindung des ganzen ersten Bands“ an (DW 132). 328 Vgl. DW 146. Im Kleist-Aufsatz läßt sich der Hang zur Schematisierung ebenfalls feststellen, vgl. GB 314.

VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur

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germanistischen Kollegen, von denen er sich abgrenzt. Die Besetzung neuer Felder, hier der Hispanistik, ist eine Innovationstechnik Kommerells. Mit der Neuen Rundschau – statt der DVjs – wählt Kommerell ein außerfachliches Publikationsorgan. Durch die Technik der Vergegenwärtigung hebt er sich von einer positivistischen Literaturgeschichtsschreibung ab. Seine einfühlenden Beobachtungen sind wissenschaftlich nicht anschlußfähig, sondern eine literarische Technik, welche die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft einreißt. Explizite Forschungskritik übt Kommerell, wenn er bemängelt, daß Cervantes’ Absicht, eine Parodie auf den mittelalterlichen Ritterroman zu schreiben „von den fortgeschrittenen Erklärern heute einhellig beiseitegesetzt“ werde (DW 111). Er wendet sich außerdem dagegen, einen Text nur zu untersuchen, um vorgefaßte Meinungen bestätigt zu finden. Dieses Vorgehen bezeichnet er als philisterhaft: „Angesichts der Freude des Philisters, Entwicklungen zu konstatieren, wo sie sind und wo sie nicht sind, freut den Nichtphilister hier einmal ein Held, der sich nicht im mindesten entwickelt“ (DW 127). Kommerells Methode der vorsichtigen Andeutungen (vgl. Kap. V) wird im Personifikation-Aufsatz wieder explizit gemacht: „Aber das ist ein bescheidener Teil dessen, was gesagt werden müßte“ (DW 146). Die Ablehnung historisch-philologischer Textumgangsformen ist Voraussetzung für Kommerells Konzept der Wissenschaftskunst, die sich in seiner Sprachartistik zeigt: „Um so belehrender ist dieses Motiv, das es uns gestattet, die Einbildung zu beobachten, wie sie sich webt in Don Quijote, während sie sonst uns als ein Gewobenes fertig unterbreitet wird“ (DW 133). Mit der Vorstellung, daß sich ein Motiv prozedural in den Text webe, nimmt Kommerell eine Anspielung auf Friedrich Schlegels Wilhelm Meister-Rezension vor. Im Don Quijote stellt er fest, was er selbst zu praktizieren versucht: „Wieder ist das Spiel auch als Spiel der Sprache gestaltet, worauf ja der formale Reiz des ganzen Buches beruht“ (DW 136). Für die wissenschaftsgeschichtliche Fragestellung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, hat die Untersuchung des Personifikation-Aufsatzes ergeben, daß Kommerell einen Hang zur Schematisierung und zur Bildung von Gesetzen hat. Das kann besonders gut am Beispiel des „Gesetzes der Personifikation“ nachgewiesen werden. Im Jahr 1969 werden mehrere Essays aus Kommerells Nachlaß in der Ausgabe Essays, Notizen, Poetische Fragmente (EN) herausgegeben. Darunter befindet sich der Aufsatz Don Quijote und Simplicissimus.329 Er sollte vermutlich in die geplante Monographie über die Romane der ‚Weltliteratur‘ aufgenommen werden (vgl. Kap. VI.6). In diesem Aufsatz vergleicht Kommerell

329 Vgl. Kommerell, Max: Don Quijote und Simplicissimus, in: EN, S. 37–80.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

die Romane Don Quijote von Cervantes und Simplicissimus Teutsch von Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen. Diesen Romanen schreibt Kommerell die höchsten Formen des Humors zu und untersucht die „Problematik des Humors“ mit der Frage: „Aber schließt sich Tor und Schelm nicht aus?“ (EN 73). Don Quijote und Simplicissimus stellten den Humor besonders anschaulich dar:330 „[...] eine so wunderbar einprägsame Symbolik des Komischen, wie wir sie in diesen beiden Helden besitzen, wo der Mensch von einem geistigen Ort, außerhalb einer gefügten Lebensform oder ein mystischen Gewißheit, gewogen und zu leicht befunden wird (kennen wir sonst nirgendwo)“ (EN 79f.).331 Dieser Humor entstehe durch Setzung und Aufhebung von Gegensätzen. Im ersten Teil wende sich ein „Einbildungsbesessene[r]“ gegen die Welt, im zweiten Teil folge die Welt dem Spiel seiner Einbildungen (EN 48). Das Scheitern des Protagonisten Don Quijote erklärt er aus dem „Irrtum selbst geistigerer Art“, dem falschen „Stifter- und Gründertum“, dem „Pathos der falschen Selbsteinschätzung“ und aus dem „Anachronismus seines ganzen Strebens“ (EN 56). Vielfältigkeit und Verdopplung seien zentrale Elemente des Don Quijote: „Die Technik dieses Romans und die Ordnung seiner Abenteuer ist die Variation (stofflich ist ihr Thema ‚Weltberührungen des irrenden Ritters‘; geistig lautet es: Umdeutung der Dinge und Selbstverkennung!) und die Duplizität: die Bereitschaft des Helden fürs Martyrium und die Bereitschaft des Knappen fürs Gegenteil, sind sich gleich“ (EN 50). Diese Technik beschreibt Kommerell mit einer Metapher aus dem Bereich der Musik: „Läßt es noch Umkehrung und Engführung, Dur und Moll zu ... um so besser: alles dies läßt sich, als Spannungsmoment des musikalischen Variationswerkes unschwer auf die Technik unseres Romans übertragen, der nur ein QuasiRoman ist, aber die humoristische Unendlichkeit wunderbar eingrenzt durch die Strenge seines Schemas“ (EN 51). Er spricht dem Don Quijote also die Form eines Romans ab und tendiert wieder zu Schematisierungen. Kommerell deutet die spanische Identität als „eine mit greller dürrer Farbigkeit angeschaute Vielheit der zumal volkstümlichen Lebensformen und [als] das entsprechende Denken, in das geistreiche sinnlich verständige, für Farbe und Kontur gleich untrügliche Auge und treffende Merken, und, andererseits, in die ungeheure ethisch konstruktive Kraft, in den Formalismus und das Selbstopfer, das unecht wird, wo es nicht, in christlichem Sinne

330 Zum Gegensatz der beiden Figuren siehe auch EN 73: „Denn während der beschränkte Humor der picarischen Gesinnung des weltunkundigen Toren spottet, wird wiederum der weltschlaue Schelm in gottbewußtem Torentum humoristisch aufgehoben“. 331 Mit der Formulierung „gewogen und zu leicht befunden“ zitiert Kommerell einen Ausspruch, mit dem Stefan George die Ablehnung Hans-Georg Gadamers, der Anschluß an den George-Kreis gesucht hatte, begründet haben soll.

VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur

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geleitet, die Hybris des menschlichen mit der Demut des göttlichen Deutens vertauscht“ (EN 63).332 Hier tritt ein Spanienbild hervor, daß die Verbindung von Volkskunst und Gelehrtenkultur akzentuiert. Eine weitere zentrale Beobachtung Kommerells ist der Zusammenhang beim Betreten und Verlassen der Welt: „Grimmelshausen macht aus dieser unproblematischen Schwelle des Gaunerlebens die Schwelle des metaphysischen Eintritts in die Welt und ergänzt ihn am Ende des fünften Buchs durch die Weltabsage“ (EN 71). Dadurch entstünden zwei „Schwellenerlebnisse“: „Welteintritt [und] Weltaustritt“ (EN 38, 71). Mit Ein- und Austritt sind Erkennen und Verkennen verbunden: „Das Thema der Weltverkennung wird gründlich variiert: vorher wurde die Welt verkannt, die nichts von Don Quijote wußte, jetzt die Welt, die von ihm weiß“ (EN 47). Im Moment der Welterkennung werde Don Quijote zum Schelm: „Noch nicht Schelm sein heißt hier: Nicht um die Welt wissen!“ (EN 71). Ein anderes Kernthema dieses Aufsatzes sind die Überlegungen zum Begriff ‚Idee‘. Sancho Panza sei „ideenliebend“ und nehme „an der Idee des Don Quijote in einer der Idee gänzlich widersprechenden Weise“ teil (EN 59). Während Cervantes einen „Formalismus der Idee“ vorweise (EN 63), falle Grimmelshausen an diesem Punkt jedoch hinter ihn zurück: „Bei Grimmelshausen suchen wir vergebens diese Würde der Idee. Im Gegenteil gehört es zu der herrlichen Unmittelbarkeit dieses Werkes, in breiter Weltschilderung immer nur die Geschöpflichkeit selber sprechen zu lassen, unabgeschwächt durch einen literarischen Dekorum oder einen geistigen Bezug“ (EN 69). Wenn Kommerell eine „Idee des Menschen, der sich seinem eigenen Begriffe nach zu sich selber entwickelt,“ (EN 79) fordert, zielt er, wie in den SchillerStudien (vgl. Kap. VII), auf eine Wiederherstellung des entzweiten Menschen im Medium der Kunst. Kommerell unternimmt mehrere direkte Vergleiche zwischen Cervantes und Grimmelshausen (vgl. EN 69). Zwar schätzt er den deutschen Autor höher ein: „Grimmelshausen ist viel unbedingter als Cervantes, der immer innerhalb der Form bleibt, und der das Schlichte gegen das Förmliche eintauscht“ (EN 75). Aber der fremde Cervantes wird nicht als Vergleichspunkt instrumentalisiert, nur um das Eigene an Grimmelshausen zu verdeutlichen. Vielmehr stellt Kommerell beide Autoren nebeneinander. Grimmelshausens Gestaltungsvermögen liege in der Begrenzung der Welt durch ein konstruiertes Ich, „das nichts anderes ist, als die Fortuna von innen“ (EN 79). Dadurch sei „die höchste Möglichkeit deutscher humoristischer Prosa verwirklicht“ 332 Kommerell erkennt im Doppelsinn die Kunst des siglo de oro: „Durch diese beiden Arten in die Welt zu blicken, ist das zugleich Konstruktive und zupackend Anschauliche, der Doppelsinn des spanischen Barock, der spanischen Malerei, der spanischen Seele überhaupt genauestens bezeichnet“ (EN 39).

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

(EN 79). In einem Brief an Rudolf Bultmann vom 24. September 1943 macht Kommerell eine Anspielung auf seine Don Quijote- und Simplicissimus-Studien, wenn er von seiner Unterhaltung mit einem befreundeten Buchhändler Bultmanns berichtet: „Ich hatte allerlei Gespräch und ‚Gespei‘, so lieblich benennt Grimmelshausen das neckische Element im Dialog, mit ihm“.333 Die Identifikation mit dem Autor des 17. Jahrhunderts reicht also bis zur Übernahme von Grimmelshausens Vokabular. Zur Vorbereitung der Studien benutzt Kommerell seine Lehrveranstaltungen, in denen er sich wiederholt mit Grimmelshausen beschäftigt: Der große Roman von Grimmelshausen bis Stifter (SoSe 1934), Drama und Roman im Barock (SoSe 1935), Grimmelshausen Simplizissimus (2. Trimester 1940), Grimmelshausen (WS 1941/42), Satiren im 16. und 17. Jh. (WS 1941/42), und Stilübungen zum literarischen Barock (SoSe 1944, angekündigt, aber nicht mehr gehalten).334 Die Erfahrungen mit den Studenten, die er in Veranstaltungen wie diesen macht, schildert er seinem Vater Eugen am 18. März 1935: „Ich muß mich neu einleben in die Literatur des deutschen Barock. Es dringt mehr und mehr durch, daß die Studenten mit diesem siebzehnten Jahrhundert, in dem wir im wesentlichen mimisch und etwas subaltern die Prunk-geberden [sic] und Überheblichkeiten und Zerknirschungen der ausländischen höfischen und hauptstädtischen Kulturen nachahmten, ohne die dazugehörige Voraussetzungen im Leben und in der Geschichte“ nur wenig anfangen könnten (BA 305). Diese Aussage zeigt, daß es nicht nur heute schwierig ist, junge Studenten für frühneuzeitliche Literatur zu begeistern, sondern daß Kommerell schon damals vor den ähnlichen Problemen stand. Diese Schwierigkeiten wären demnach nicht auf den Rückgang von Bildungsstandards oder auf das Informationszeitalter zurückzuführen, sondern auf die Art der frühneuzeitlichen Literatur. Der Tenor von Kommerells expliziter Forschungskritik bezieht sich in diesem Aufsatz auf die Auslegungstradition zum Simplicissimus, bei dem „sich viele Geschlechter nach einander nicht an ihm müde“ gedeutet hätten (EN 40).335 Er spricht sich dagegen aus, den Text als einen Bildungsroman zu

333 DLA Marbach, Brief Kommerell an Rudolf Bultmann vom 24.09.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1460/2. 334 Vgl. Strebel, Kommerell, S. 286. Siehe auch Kommerells Notizen, DLA Marbach, Kommerell, Max: Mappe I V, Nachlaß Kommerell, D: 86.562, Bl. 1856–1877; Mappe II E, D: 86.571, Bl. 2545–2605; und: Mappe II J, D: 86.575, Bl. 2785–2813. Siehe ebenfalls die studentischen Seminaraufzeichnungen aus dem Hauptseminar Grimmelshausen im WS 1941/42, DLA Marbach, Ruprecht, Annemarie: Prosa. Vorlesungen, Nachlaß A: Ruprecht. 335 Zur Simplicissimus-Rezeption im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts siehe Lepper, Marcel: Die typologische Falle. Zur Grimmelshausen-Forschung 1900–1933, in: Grimmelshausen, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, München 2008, S. 254–262.

VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur

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interpretieren: „Eine Entwicklung in dieses Buch hineinzudeuten vertieft es keineswegs“ (EN 73f.). Die „falsche psychologische Erziehung der Literarhistoriker“ habe dazu geführt, daß der Handlung eine Entwicklung zugeschrieben werde, die es nicht gebe. Er bezeichnet es als „nicht ganz geschickt“, „die psychologische Frage, um welche der heute ihr zugemuteten Deutungen der Dichter gewußt und welche er beabsichtigt habe,“ zu verfolgen (EN 40).336 Abgesehen von der psychologischen Interpretation wendet er sich gegen eine philosophische Deutung und kritisiert: „ja, man ging so weit, das eigentlich komische Kernthema zu übersehen und das Pathos der Idee zu verherrlichen, die in einer ungroßen Zeit in die Narrenrolle gedrängt sei“ (EN 39f.). Die anderen Forscher hätten auf entscheidende Fragen mit einem „einstimmige[n] Schweigen“ reagiert (EN 72). Demgegenüber reklamiert Kommerell den Erkenntnisgewinn für sich: „Die Meinung des Grimmelshausen ist klar, wenn sie auch unverstanden blieb [...]“ (EN 68). Sein Hang zur Schematisierung kommt ebenfalls in diesem Aufsatz zum Ausdruck. Er erkennt ein Schema von Welt- und Selbstdeutungen (vgl. EN 44), das Person und Form in Verbindung setze: „Das Schema der beiden großen Bücher ist dies: der Held ist eine konstruierte Person, der ideale Subjektsträger einer bestimmten Erlebnisform; die von ihm erlebte Welt ist realistisch; die Berührung zwischen beiden heißt das Abenteuer“ (EN 37f.). Dieses Schema teilt er in mehrere Gruppen ein. Einer der Gruppen ordnet die Abenteuer zu, „bei denen nicht ein Zufall von der Vorstellung ergriffen und umgedeutet, sondern für die Vorstellung zubereitet wird, also die Welt maschinell die Form der Subjektivität annimmt: ein Schema, das dem Bauern, der, erwacht, als Edelmann behandelt wird, in etwa ähnelt“ (EN 57f.). Diese Schematisierungstendenz zeigt sich darüber hinaus in der Einteilung des ganzen Simplizissimus in zehn Romanformen.337

336 Schon in seiner Jean Paul-Monographie von 1933 weist Kommerell auf die Differenz zwischen den Intentionen des Autors und dem Verständnis des zeitgenössischen Lesers hin: „Auch dürfte es schwerlich in der Absicht Cervantes’ gelegen haben, durch Pansa, der die gesunde Vernunft in allerdings tieferer Lage gegenüber der falschen Vorstellung vertritt, wiederum den Weltverstand einzuschränken und durch dessen Zerrbild die Würde der Idee wieder hervorzuheben: was doch im Eindruck des heutigen Lesers stattfindet! Eigentlich ist der Don Quichote ein ganz sachliches Werk, der Verfasser ist in nichts gegenwärtig als in der unbewegten durchsichtigen Helligkeit, die ein großer Weltverstand über die scharf-abgezeichneten Dinge verbreitet“ (JP 273f.). 337 Vgl. EN 75f.: „Denn auch sein Roman ist als Gattung eine Sammelform und vereinigt unter sich: die picarische Novelle, etwa in der Schilderung, die Olivier von seinem Leben macht; den Streich, etwa im Speckdiebstahl des grünen Jägers bei dem katholischen Pfarrer; den Schwank, etwa die vom Narren aus dem Kalbskopf gestohlenen Augen; die Anekdote im Stil des Wickram, etwa Simplicii erzwungene Heirat; die Gespenstergeschichte, etwa die Hebung des Schatzes; Magierlegenden, etwa die Gaukelei des Profossen mit den magischen Hündlein; die Mirabilia Mundi, etwa die Fahrt in den Mummelsee, die

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Die Beobachtungen, die Kommerell an Don Quijote und Simplizissimus vornimmt, abstrahiert er, um Reflexionen über Kunst und Leben anzustellen: „Diese Welt war nie – das entschwundene geschichtliche Rittertum gibt bloß den Namen – sie ist Schein, und doch stärkste Wirkung, gemäß dem seltsamen Halbleben aller schlechten Literatur, denn die große Kunst verwechselt sich, als Kunst, nicht mit dem Leben...“ (EN 43). In diesem Zusammenhang hebt er die „Relation von Sein und Schein“ (EN 61) hervor und stellt der „höchsten Bekräftigung im Schein“ die „Rückkehr in das echte Sein“ entgegen (EN 47).338 Kommerells Verfahren der textnahen Beobachtungen findet hier in den Begriffen „Interpretation“ (EN 70), „Auslegung“ (EN 40, 61) und „Deutung“ (EN 42, 60) einen Ausdruck. Im Simplicissimus-Aufsatz deutet Kommerell die bereits untersuchten Analyseschritte, die er in der Calderón-Interpretation ausgeführt hat, mit den Begriffen „Vorrat“, „Zeichen“, „Skala“ nur an (vgl. EN 64f.). Auch Curtius’ Toposbegriff findet Eingang: „Das lehrt auf eindringlichste der Schluß des Werks, den man spanisch mit einem für das Schrifttum der Epoche überhaupt bezeichnenden Wort desengaño nennen könnte: Ernüchterung ... ein topos, der aus dem spanischen Schrifttum auch in den Schluß des Simplicissimus gedrungen ist“ (EN 46). Bei Cervantes seien die Gebärden über eine Skala deutbar, denn er „ergänzt die Skala erlaubter und geforderter Gefühle, auszeichnender und repräsentativer Gebärden um die Skala des natürlich Grellen, Ungeschminkten und Bedrohlichen, auch der tierischen Unschuld, bis in den dunkelsten Abgrund des Menschlichen“ (EN 78). Bei Kommerells Sprache fallen Charakteristika auf, die sich auch an anderen Texten festmachen lassen. Dazu gehört das Stilmittel der scheinbaren Paradoxa: „demütiger Nachahmer des Unnachahmlichen“ (EN 72). Die Sprachartistik zeigt sich in Zusammensetzungen: „das sich-für-einenRitter-halten“ (EN 42) und Wortspielen: „Zugleich legt dieses Vorspiel das Wissensproblem zurecht, das im Titel steckt – Simplex, der Tor aller Toren“ (EN 72). Sein methodisches Vorgehen – „Denn dies sei nebenher geredet“ (EN 65) – wird an einzelnen Ausdrücken besonders deutlich: „Ein Thema ist gut gefunden, wenn es einfach und unendlich variabel ist; beide Bedingungen stützen sich“ (EN 51). Er drückt erneut sein Lektüreverständnis aus: Geschichtsschreibung als Schlachtstück; Bruchstücke eines Abenteuerromans in höherer Gesellschaft, etwa die vom Knan berichtete Niederkunft der Mutter des Simplicius! Die Heiligenlegende im Tod des Einsiedels, Weltreise, Robinsonade, und vielfaches Genrebild! Dann die allegorische Gesamtdarstellung im Baum des Kriegslebens und die Allegorie überhaupt! Die Utopie und zugleich die Standesparodie im Jupiter! Endlich das Torenmärchen, die Satire, die Narrenpredigt, die ernste Predigt und das naturgeschichtliche sowie mystische Traktat! Aber auch die kapriziöse erotische Novelle ist vertreten in dem Pariser Abenteuer“. 338 Vgl. auch EN 40.

VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur

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„Lesen heißt also hier: Gelesenes wörtlich nehmen; lesen heißt ferner: durch eine stufenweise literarische Einflüsterung selbst die planende Mitte des nicht mehr literarischen Horizontes werden“ (EN 43). Kommerell vertritt die Auffassung, daß ein Leser durch Lektüre zum Zentrum eines Lebens außerhalb der Literatur werden könne. In einem Brief vom 31. August 1943 an den Marburger Philosophen Julius Ebbinghaus drückt Kommerell sein Urteil über den Don Quijote mit besonderer Klarheit aus: Ich habe eine Menge span. Bücher mit. Der höchste Genuß ist aber immer wieder der Don Quixote im Originaltext: die geistigste, nuancenreichste, gebildetste Prosa, die ich kenne. Man versteht, daß dies Buch ein Lebenswerk eines der größten und reinsten Geister sein konnte, und auch dieser nicht zur Ruhe kam darüber und ach 10 Jahren das alte schon weltberühmte Thema noch einmal unter verändertem Aspect aufnehmen konnte. Man versteht auch, daß mitunter die abschließende, höchste Leistung der Poesie in Prosa erfolgen kann.339

Stärken von Kommerells Don Quijote und Simplicissimus-Analysen liegen im Modell der Personifikation, in den Absagen an die Gleichsetzung von Simplizissimus mit Grimmelshausen und an die Deutung als Bauer- und Genie-Roman. Problematisch ist, daß er die Continuatio ignoriert, daß seine Schematisierungstendenz dem Komplexitätscharakter des Textes nicht gerecht wird und daß der Form-Begriff, der aus klassizistischen Vorstellungen abgeleitet ist, nicht zum Roman des 17. Jahrhunderts paßt. Kommerell unternimmt keinen verzahnten Vergleich zwischen Don Quijote und Simplizissimus, sondern führt beide parallel an und betrachtet sie dann einzeln. Für die Gesamtuntersuchung bleibt festzuhalten, daß Kommerells Hang zu Schematisierungen ein zentrales Merkmal seines Wissenschaftsstils ist, der sich in den CervantesStudien besonders deutlich zeigt. VI.3.2 Italienische, französische und englische Literatur In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre hält Kommerell Vorlesungen an den Städtischen Bühnen in Frankfurt, um ein zusätzliches Einkommen zu haben, auf das er als Privatdozent angewiesen ist (vgl. Kap. V). Aus den theatergeschichtlichen Vorträgen geht die Analyse der Bühnentechnik Calderóns, die im Abschnitt über den Dialog mit Curtius ausgeführt wurde, hervor. Außerdem entspringt daraus seine Betrachtung über die Commedia dell’arte, die 1940/41 in den Blättern der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main erscheint und 1952 in Dichterische Welterfahrung (DW) wieder abgedruckt wird.340 In 339 Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Brief Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 31.08.1943. 340 Vgl. Kommerell, Max: Betrachtung über die Commedia dell’arte, in: DW, S. 159–173 [erstmals in: Blätter der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main 8 (1940/41), S. 26–36].

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

einem Brief an Fritz Schalk erläutert Kommerell am 4. Oktober 1940 den Zusammenhang zwischen den Theatervorträge und den romanistischen Studien: „Mein romanistisches Interesse wird immer stärker. Ich hab mir einen wunderbaren Montaigne gekauft; an der Theaterhochschule analysiere ich die Komödien Molière’s, den ich so liebgewann, daß er mich wohl mein ganzes Leben lang beschäftigen wird. Ich möchte gern den Fortsetzungen der Commedia dell’arte bei Goldoni und Molière nachgehen. Goldoni find’ ich, des Venetianischen wegen, schwer zu lesen“.341 An Heinrich Zimmer berichtet er in einem undatierten Brief vom Frühjahr 1939, daß seine Faszination in der Rekonstruktion des nicht mehr Vorhandenen liege: „daneben will ich [mich in] die Theatergeschichte einarbeiten (jetzt Comedia dell’Arte) und manches andere. Eben gerade die Theater-Geschichte ist der Phantasie ein Surrogat der wirklichen, ausgestorbenen Theaterformen; und ich gehe in diese Schule so willig, wenn auch nicht ganz so fasciniert wie ein junger Autor in die verschiedenen Bühnen- und Theater-Experimente einer Hauptstadt“.342 In dem Aufsatz geht Kommerell verschiedenen Gesichtspunkten nach.343 Da er an einer Vergegenwärtigung der vergangenen Theaterform interessiert ist, fragt er eingangs: „Was ist uns heute noch übrig vom Stegreifspiel […]?“ (DW 159). Dann äußert er sich über die Beschaffenheit des Lustspiels: Zur Komödie gehört von jeher eine ausgebildete Form des geselligen Lebens, in der nicht nur die Stände und Berufe, sondern auch die Temperamente und Menschenarten anschaulich hervortreten, so daß Verhaltungsweisen, Eigenheiten, Übertreibungen, aber auch Situationen, Mißverständnisse und Verwirrungen für jedermann leicht kenntlich zu machen sind und der Dichter nur darauf anzuspielen braucht. Musik, Philosophie und Dichtung genießen und bereichern diese Reihen der Erfahrung, und so schöpferisch und eigenwillig immer ein Komödienschreiber sein mag, er läuft nicht Gefahr, daß jemand das Belachenswerte nicht verlacht, das Gemeinte nicht wiedererkenne. Eine solche unausgesprochene Vereinbarung des Lächerlichen hat es immer gegeben, wo die Komödie klassisch wurde. (DW 166f.)

Für ihn besteht die Commedia dell’arte aus einem festen Inventar an Typen. Das besondere daran ist, daß diese Typen überzeitlich sind, „weil jeder Harlekin, jeder Pantalon mit allen gewesenen und kommenden Harlekinen und Pantalonen identisch ist“: „Jeder Harlekin bringt mit sich die Sphäre der Harlekine wieder, und wie er nicht über sie hinaustreten darf, so ist auch

341 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 04.10.1940, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/5. 342 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer o. D. [Anfang 1939], Nachlaß Zimmer, A: 74.122/7. 343 Zum folgenden siehe auch Schiffermüller, Mimus, S. 98–117.

VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur

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der Zuschauer in ihr zu Hause; die Sphärenharmonie aus den Sphären dieser sechs oder sieben Typen ist das Universum der Commedia dell’arte, die alles Materielle aus Drama, Novelle, Märchen, Aktualität usw. borgt, die aber ein eigenes Gesetz des Geschehens und Bildens befolgt, selbsttätig und selbstherrlich, ein komischer Mythos“ (DW 167f.). Stetig auf der Suche nach Möglichkeiten der Vergegenwärtigung alter Stoffe, entdeckt Kommerell in der Commedia dell’arte „einen Reiz, den wir als unwiederbringlich betrauern müßten, wenn nicht hie und da ein dramatischer Genius in einer Situation seiner Dichtung für den, der zu erraten weiß, eine der Gnaden des Stegreifspiels festgehalten hätte“ (DW 173). Die Aktualisierung funktioniert über eine gezielte und gekonnte Auswahl aus dem breiten historischen Bestand: „Und […] nicht aus den ‚Generici‘, den Witzsammlungen, welche die großen Harlekine für ihresgleichen anlegen, ziehen die Liebespaare ihre Wendungen, sondern aus Blütenlesen der Rhetorik, die das Modernste, Zugespitzteste, den feinsten Esprit der Leidenschaft enthalten, wie ihn die manieristischen Stile der Epoche ausbildeten“ (DW 170). Die Beschäftigung mit dem Stegreifspiel, zu dem die Commedia dell’arte gehört, ist für Kommerell eine Form der Distanzierung von eingeführten Konzepten wissenschaftlich-künstlerischen Arbeitens, hier mit Bezug auf die Theaterpraxis. Er wirft zuerst rhetorisch die Frage der Aktualisierung auf: „Wäre es nicht besser, im Varieté, Film und Kasperletheater den ganz anderen, aber noch lebendigen Leistungen der Improvisation und der Mimik nachzugehen, als über diesen Resten zu brüten, die nicht mehr sind als die Gerüsttrümmer eines abgebrannten Feuerwerks?“ (DW 160). Danach hebt er den Wert der vergangenen Kunst hervor, denn „jenes Stegreifspiel mit seiner kurzen Blüte ist ja nur die einmalige schwelgerische Entfaltung einer zeitlosen, uralten und ewig neuen Spielfreudigkeit der menschlichen Natur, die sich auf den Schaubuden der Jahrmärkte genugtat und deren sich auch die Könige nicht schämten“ (DW 160f.). Schließlich kritisiert er die verbreiteten zeitgenössischen Erwartungen an das Theater: „Und leider sind die Grenzen unseres heutigen Theatererlebnisses so sehr durch die ‚Bildung‘ bestimmt, daß wir uns mit der geschichtlichen Phantasie diese und jene Spielform der Vergangenheit wiederbeleben müssen, um zur Vollständigkeit des Begriffes ‚Theater‘ zu gelangen. Sollte es nicht möglich sein, unserem Theater ein Element von Commedia dell’arte zurückzugewinnen, dieser unvergänglichen Gabe Italiens an Drama und Bühne der Welt?“ (DW 161). Wie bei Calderón verfolgt er bei der Commedia dell’arte das Ziel der poetischen Vergegenwärtigung. In den meisten seiner Publikationen setzt Kommerell immer wieder die gleichen Begriffe ein, um sich der Auslegung der Texte anzunähern. Dazu gehören die Begriffe ‚Vorrat‘ und ‚Skala‘, wie bei Calderón gezeigt, ‚Gesetz‘ und ‚Schema‘, wie bei Cervantes, ‚Schein, Sein‘ und ‚Maske‘, wie bei Jean

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Paul (vgl. Kap. III), und ‚Gebärde‘,344 wie bei Kleist (vgl. Kap. V). Im Commedia-Aufsatz verbindet er nun die Gebärde mit der Maske und erläutert das daraus entstehenden Repertoire an Bedeutungen: „Die stehende Maske wird wechselnd ausgelegt durch die Gebärde des Leibes, und so wie sie diese Gebärden durch einen festgehaltenen Grundton, das Temperament der Figur sozusagen, plastischer heraushebt, hat sie selbst bei all ihrer Unveränderlichkeit einen ständig wechselnden Ausdruck, weil sie nichts für sich ist, sondern sich am veränderten Leib immer wieder anders ausnimmt“ (DW 172). Er erklärt außerdem, wie Maske und Mimik zusammenspielen können: „Warum Masken, wo alles auf Mimik ankommt – ist hier nicht gerade das Mienenspiel gefordert? [...] So dienen auch den Typen der Commedia dell’arte ihre Masken dazu, sich kenntlich zu machen, nicht im Erfahrungssinn, sondern als Glieder des urbildlichen, komischen Staates, dem sie angehören“ (DW 170f.). Kommerells Wissenschaftsstil wird an der Stelle deutlich, an der er Genauigkeit und Einfühlungsvermögen des Philologen fordert: „Es bedarf genauer Arbeit und großen Spürsinns, um in der Komödie Molières das, was er als Erbschaft der französisierten Stegreifposse übernahm, von der eigentlich literarischen Produktionsweise zu unterscheiden“ (DW 166). Nur durch Differenzmarkierung gegenüber der Tradition, so Kommerells Ansicht, könne die Originalität eines neueren Stückes herausarbeitet werden. Sprachlich fällt erneut das Mittel der scheinbaren Paradoxa auf: „Es paßt zum Tiefsinn dieses Leichtsinns, daß die Liebe darin allein unversehrt bleibt“ (DW 170). Mit der Distanzierung von eingeführten Konzepten wissenschaftlichen Arbeitens, Aktualisierungsbezügen, Ansätzen zur Vergegenwärtigung, philologischem Einfühlungsvermögen und Sprachartistik sind zentrale Punkte von Kommerells Wissenschaftsverständnis benannt, die in diesem Aufsatz auftreten. Die Auffassung, daß der Mensch über die Form bestimmt sei, markiert Kommerell durch Begriffe wie „Skala“ und „Vorrat“. Besonders stechen die Reflexionen über die Gattung der Komödie und der Gegensatz von Sein und Schein samt seiner Umsetzung durch Maske und Gebärde hervor. Kommerell, der im Nebenfach Romanistik studiert hat, setzt sich nicht nur mit spanischer und italienischer, sondern auch mit französischer Literatur auseinander. In vielen Briefen berichtet er von der Lektüre französischer Texte (vgl. Kap. VI.3.3). Zwei Dichter hat er in seinen Veröffentlichungen intensiver behandelt: Es sind die Klassizisten Molière und Corneille. Im

344 Kommerell thematisiert im Commedia-Aufsatz die Gebärde: „Wie urmenschlich ist dies: Gebärde des Alters, Gebärde der Existenz! Anspruch, Schein, Geltung: Welch köstliche, überzeugende Form der Unechtheit, die den Menschen leider vom Tier unterscheidet!“ (DW 168). Der Mensch könne sich verstellen, das Tier nicht: „Wie ist damit die Eitelkeit des menschlichen Sprechens, die Lüge durch Sprache bezeichnet, die leider den Menschen vom Tier unterscheidet!“ (DW 169). Vgl. auch DW 160f.

VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur

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Commedia-Aufsatz zeichnet er das Bild von Molière als einem Autor, der sich von den Angeboten der Situationskomik habe verführen lassen: Ist die Commedia dell’arte nicht doch irgendwo Werk geworden? Mittelbar wenigstens? Ich [...] nenne nur Molière. Man kann die Dramatiker aller Zeiten in zwei Gruppen scheiden, je nachdem sie sich der Verlockung durch den Mimus öffnen oder verschließen, und man kann sich streiten darüber, ob der Unverführbare dem Verführten hier vorzuziehen ist. Da steht der erzmimische Plautus gegen den urbanen Terenz, und auf seine Seite treten Aristophanes, Molière, Shakespeare, Cervantes mit seinen Zwischenspielen und in einem gewissen Abstand Nestroy und Gozzi. (DW 164f.)

Den Begriff ‚Mimus‘, den Kommerell hier einsetzt, definiert er an keiner Stelle. Seine Verwendung bleibt unklar. Es erscheint, als ob er durch diesen Begriff aus der Sache künstlich mehr machen will, als dahinter steht.345 Wenn man, so Kommerell, den Einflüssen des französischen Stegreifspiels auf Molière nachgehe, könne man zeigen, „wie die herrlichste mimische Lebendigkeit vom Monsieur Pourceaugnac bis hinauf zum Tartuffe waltet und wie Molière die Gnaden des Augenblicks, die mit dem Stegreifspiel kamen und schwanden, vergeistigt und verewigt hat“ (DW 166). Im Rahmen seiner theatergeschichtlichen Vorträge entwickelt Kommerell ein spezifisches Interesse für die Geschichte der Aufführungspraxis und versucht, die Zusammensetzung der Schauspieltruppen zu rekonstruieren: „Von Molière ist aber Genaueres zu vermelden: Der ‚Scaramouche‘ Fiorilli und der Schöpfer des ‚Trivellin‘ (einer späteren Variante des komischen Bedienten): Locatelli – der Künstler, in dessen Papageienstimme die Pariser so verliebt waren, daß sie seinem Nachfolger nur langsam die normale Stimme verziehen – standen einer Truppe vor, die unter dem Schutze Mazarins zunächst im Théâtre Petit Bourbon spielt, seit dem Jahre 1660 aber sich im Palais Royal mit der Truppe Molières in die Spielabende teilt“ (DW 165). Seine Molière-Rezeption wird durch den Romanisten Krauss, mit dem er befreundet ist, gefördert, wie aus einem Brief Kommerells an Hans-Georg Gadamer vom 2. März 1939 hervorgeht: „Bitte sagen Sie Herrn Werner Krauss meine ganz besonderen Grüße. [...] Schalk hat mich sehr auf seinen Molière Aufsatz hingewiesen, den ich nicht kenne. Er hat gegen den Corneille Aufsatz, den ich mit sehr großer Spannung las, und mit ebensolchem Gewinn, Einwände, war aber von dem Molière sehr angetan. Ich denke oft drüber nach, wie wenig Krauss die seinem Format und seiner selbständigen, düster-wuchtigen Persönlichkeit gemäß Beachtung gefunden hat! Ich gerate immer mehr in die Romanistik und hätte gern einmal wieder mit ihm ge-

345 Vgl. Schiffermüller, Mimus, S. 98ff.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

sprochen. Kann er nicht auch einmal nach F.[rankfurt] kommen. Wenn Sie da sind?“346 Der andere französische Autor, den Kommerell umfangreich behandelt, ist Pierre Corneille. Kommerell setzt sich mit ihm besonders in Lessing und Aristoteles (LA) auseinander. In Abgrenzung zu Aristoteles beschreibt er Corneilles Verständnis der Katharsis: „Und um seine [Corneilles] eigene Ansicht mit der Autorität des Aristoteles zu versöhnen, legt er ihn dahin aus, daß zwar das Mitleid der Furcht zur Reinigung bedürfe, nicht aber die Furcht des Mitleids. Aristoteles fordere keineswegs die Erregung beider Affekte zugleich, sondern entweder den einen oder den andern. Dazu stimmt es auch, wenn Corneille einen Tragödientypus gleichen, vielleicht höheren Wertes für sich und für die moderne, christliche Welt in Anspruch nimmt, die Märtyrertragödie“ (LA 77f.). Er hebt den Formalismus des Klassizisten Corneille hervor, bei dem der „tragische Künstler Herr der Geschichte wie der Natur [ist], die Tragödie ist die künstlichste Kunst“ (LA 220). Diese Form der Tragödie sei nicht psychologisch, sondern anschaulich: „Corneille kennt den Begriff der Individualität in der Tragödie nicht, es geht ihm um Haltungen, und um deren Sichtbarkeit in Sprache. ‚Sichtbarkeit‘ heißt hier mehr als das bloße Deutlichwerden; es ist der Pomp der Erscheinung des innerlich als groß Gedachten“ (LA 215). Kommerell entwirft ein Corneille-Bild, das die Monumentalität der Dichtungsart herausstellt: „Für das Künstlertum Corneilles ist entscheidend, daß dieser Wille eine Sprache spricht, zuletzt die Sprache des Corneilleschen Worts, vorher aber die Sprache des Kampfes, der Gestaltung, der Tat; daß dieser Wille monumental wird in Gebärden, sich selbst zur Anschauung bringt in der zu seinem inneren Rang stimmenden Großheit. Daran erweist sich Corneilles Stil als echt: er ist die Gebärde eines großen Willens“ (LA 43). Durch die Monumentalität grenzt er ihn von Racine, dem dritten großen französischen Klassizisten, ab: „Es geht ihm [Corneille] also – und hierin ist er im Gegensatz zur Verinnerlichung Racines der Vertreter barocker Ausdrucksgewalt in Frankreich – um die äußerste Gebärde des äußersten Guten und Bösen, und so wird er sich im Hauptpunkt der mittleren Eigenschaften, wo kein Zurechtrücken mehr hilft, gegen die Autorität des Aristoteles aufwerfen“ (LA 111). Wenn Kommerell erläutert, wie Corneille seine Theorie aus Aristoteles’ Poetik entwickelt, beschreibt er zugleich Tendenzen des zeitgenössische Universitätssystems: Aber wenn jeder Philologiestudent heute zeigen kann, wo Lessing und Corneille den Text des Aristoteles mißverstanden [haben], so hat der Geistesforscher in

346 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 02.03.1939, Nachlaß A: Gadamer.

VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur

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Verständnis und Mißverständnis den Willen, die Geistesart dieser nie bloß auslegenden, sondern unter dem Vorwand der Auslegung eine Folge stiftenden, im Auslegen praktischen, produktiven, ja despotischen Menschen nachzuweisen. Denn auch wenn sie den reinsten Willen haben, ein Wort zu erfassen, wie es gemeint ist, so haben sie zu dem Zusammenhang der in der Poetik vorgetragenen Lehre keinen andern Schlüssel als die neue tragische Kunst, die sie gestiftet haben oder stiften wollen, und sie verbinden Begriff um Begriff wiederum zur Ganzheit einer Theorie, die, sei sie auch als Theorie des Aristoteles vorgetragen, unmöglich etwas anderes sein kann als bestätigte, angefochtene oder sich ankündigende Gegenwart. (LA 64)

Er entlarvt, wie Aristoteles durch Lessing und Corneille instrumentalisiert wurde. Wie bei anderen Autoren nutzt er also seine Ausführungen über Corneille und Molière, um Auslegungstraditionen kritisch zu reflektieren und zu hinterfragen. Neben romanistischer Literatur rezipiert Kommerell ebenfalls anglistische Literatur. An vielen Stellen in Studien und Briefen erwähnt er englische Autoren. Dabei hat er erst spät Englisch gelernt, wie aus einem Brief vom 19. Dezember 1936 an Heinrich Zimmer hervorgeht: „Es waren anstrengende Wochen: neben der unvorbereiteten und anstrengenden Vorlesungstätigkeit englische Stunden, Calderon-Übersetzen und Umschreiben des FaustAufsatzes“.347 Aber schon vier Monate später, am 28. April 1937, berichtet er ihm von umfangreichen Lektüren: „In Englisch lese ich viel. The fountain, die Times 2 mal in der Woche, u. a. es macht viel Spaß“.348 Dabei dient ihm der Roman über den Prinzen Genji dazu, Englisch zu lernen, wie er am 25. Juli Hans-Georg Gadamer berichtet: „Ich lese weiter an meinem großen alten japanischen Roman, an dem ich englisch lerne, der aber überdies zur ewigen Liebesdichtung der Völker gehört; ferner Thackeray: Vanity fair. Und noch einiges. Ich freue mich, mal wieder Zeit zum Lesen zu haben“.349 Im Aufsatz Dame Dichterin (vgl. VI.3.3) stellt er fest, „daß wir wohl durch die Wiedergabe in englischer Prosa – einer Prosa, die, vornehm, klar, zurückhaltend, dieses Werk in die Klassik der englischen Erzählkunst einreiht – wenig verlieren“ (DD 179). Für ihn zeichnet sich also die englische Sprache besonders durch ihre klare Struktur aus. Der englischsprachige Autor, den Kommerell am häufigsten erwähnt, ist William Shakespeare. Auf die Aussagen über Shakespeare in der Jean PaulMonographie ist bereits im dritten Kapitel hinwiesen worden. Kommerell sieht ihn als zeitlos gültigen Dramatiker an: „Vollends aber das Neben- und 347 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 19.12.1936, Nachlaß Zimmer, A: 74.119/12. 348 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich und Christiane Zimmer vom 28.04.1937, Nachlaß Zimmer, A: 74.120/4. 349 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 25.07.1936, Nachlaß A: Gadamer.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Ineinander von Tragik und Komik bei Shakespeare, [...] die Abstufung und Vernichtung verschiedener Wirklichkeiten durch einander, endlich die unendliche versteckte Parodie von Stilen, falsch angebrachte Wucht, vermengte oder entstellte Sprecharten und mehr, kann man sich nicht in der beginnenden Blütezeit eines Volkes denken“ (JP 412). Auch in der Betrachtung über die Commedia dell’arte hebt er Shakespeares Dramen hervor: „Und der Darsteller war hier unvergleichlich viel mehr als sonst der noch so geniale Gestalter einer dichterischen Rolle, die ja doch unabhängig von ihm als Hamlet oder Othello ihre Existenz im Werk hat“ (DW 173). Im Aufsatz über Kleist vergleicht er ihn mit anderen Autoren ‚weltliterarischen‘ Formats: „diesen metaphysischen Witz haben sich weder Aristophanes, noch Shakespeare, noch Kleist, noch Gogol entgehen lassen“ (GB 313). Kommerells Shakespeare-Bild betont eine alle Zeiten überdauernde Gültigkeit des englischen Dichters. Kommerell rezipiert intensiv englische Lyrik. Über seine erste Frau Eva findet er Zugang zu englischen Gedichten, wie er Zimmer am 24. August 1934 berichtet: „Sie bringt mir englische Lyrik bei, die ich maßlos bewundere und wie große gewölbte Muscheln an mein Ohr lege: eine nach der anderen. Wer so die ewig jungen Elemente in sich auffangen kann: ein All im engen Gewinde einer vollkommenen Form – wer so vergehen könnte im Gehäus[e] seiner Muschel, und mit seinem sterblichen Ich diesem Geräusch des Elements Platz machen könnte, so daß das Verfestigte unser Form dazu da wäre, daß Gott darin lauert, wenn ein Mensch sie an sein Ohr legt. Das fände ich schön, und so müßte man unsterblich weiter wollen“.350 Mit der Muschelmetapher unterstreicht Kommerell, daß englische Gedichte die Fähigkeit hätten, von sich aus zu sprechen. Die Rezeption englischer Lyrik geht in die Monographie Gedanken über Gedichte ein, in der er einen Vergleich zwischen der englischen Ballade The Beggar’s Daughter of Bednall-Green und Goethes Ballade („Herein, o du Guter! du Alter, herein...“) vornimmt: „An der Situation des zur Hochzeit vorgetragenen Lieds läßt sich am besten zeigen, worin die Vorlage hinter Goethes Dichtung, von dem geistigen Höhenunterschied abgesehen, zurückbleibt“ (GG 410). Kommerell nimmt sogar Übersetzungen englischer Lyrik vor. Es sind die Übertragungen zweier englischer Gedichte im Nachlaß überliefert.351 Un-

350 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 21.08.1934, Nachlaß Zimmer, A: 74.117/15. 351 Kommerell hat offenbar auch einige Stanzen des englischen Renaissancedichters Edmund Spenser übersetzt und Ernst Robert Curtius geschickt, wie aus einem undatierten Brief von Curtius an Kommerell hervorgeht: „Ich habe mich sehr gefreut über Ihren Brief sowohl wie über die gelungenen Spenserstanzen. Für den großen Renaissancedichter hat sich in Deutschland nur Hammer-Purgstall interessiert. Fr. Schlegel erwähnt ihn

VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur

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ter den Gedichten steht die Widmung „für Erika übersetzt am Weißensee, 14.VIII.40“.352 Es fällt auf, daß Kommerell sich im Kriegsjahr 1940, in dem noch ein Bündnis mit England angestrebt wurde, mit englischer Literatur beschäftigt. Daß die Auseinandersetzung allerdings nicht einfach auf aktuelle politische Ereignisse zurückzuführen ist, zeigt die konstante ShakespeareRezeption seit Anfang der 1930er Jahre. Das eine übersetzte Gedicht ist von William Cartwright. Es trägt den Title To Cloe, who for his sake wished herself younger. Cartwright lebte von 1611 bis 1643, also im elisabethanischen Zeitalter. Er ist hierzulande so unbekannt, daß er nicht einmal einen Eintrag in Kindlers Neuem Literaturlexikon gefunden hat. Cartwright, Professor für Metaphysik an der Universität Oxford, ist als Dramatiker mit Tragikomödien hervorgetreten. Kommerell liegt das Gedicht wahrscheinlich in Cullis Goffins Ausgabe von 1918 vor.353 Wie er darauf gestoßen ist, läßt sich nicht mehr genau rekonstruieren, vielleicht durch seine erste Frau Eva. Original und Übersetzung lauten: Cartwright:

Kommerell:

There are two Births, the one when Light First strikes the new awak’ned sense; The Other when two Souls unite; And we must count our life from thence: When you lov’d me, and I lov’d you, Then both of us were born anew.

’s gibt zwei Geburten, einmal wenn Zuerst zum Licht das Auge sah; Dann: wenn sich zwei vereinigen; Wir rechnen unser Sein von da. Als du mich, ich dich lieb gewann, Fing uns ein neues Leben an.

Love then to us did new Souls give, And in those Souls did plant new pow’rs; Since when another life we live, The Breath we breath is his, not ours; Love makes those young, whom Age doth Chill, And whom he finds young, keeps young still.354

Seit uns die Liebe neue Kraft In unsern Seelen zum Gebrauch Des neuen Lebens anerschafft, Haucht in uns ihr, nicht unser Hauch. Liebe macht jung, wen Jugend floh. Wen jung sie findet, läßt sie so –355

Kommerell überträgt allerdings nur die zweite und dritte der insgesamt fünf Strophen. Im Reimschema folgt er mit ababcc exakt der Vorlage. Auch inhaltlich hält er sich eng an das Original. Ein Unterschied zeigt sich in der Ausrichtung der Perspektive, die Kommerell an zwei Stellen umdreht: „ein-

352 353 354 355

nur flüchtig. Weiteres wäre mündlich darüber zu sagen, das Schreiben wird mir immer schwerer“, DLA Marbach, Brief Ernst Robert Curtius an Kommerell o. D. [Herbst 1935], Nachlaß Kommerell, A: 84.1532/4. DLA Marbach, Kommerell, Max: Übersetzungen, Nachlaß Kommerell, D: 86.475. Vgl. Goffin, R. Cullis: The Life and Poems of William Cartwright, Cambridge 1918. Cartwright, William: The Plays and Poems, hrsg. mit Einl. u. Anm. v. G. Blakemore Evans, Madison 1951, S. 493. Kommerell, Übersetzungen, D: 86.475.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

mal wenn / Zuerst zum Licht das Auge sah“ und „Haucht in uns ihr, nicht unser Hauch“. Während im ersten Beispiel durch die Perspektivänderung das lyrische Ich akzentuiert wird, ist im zweiten Fall die allgemeine Nichtigkeit der menschlichen Wesen in den Vordergrund gerückt. Das zweite Gedicht, das Kommerell übersetzt hat, ist von dem romantischen Dichter William Wordsworth. Es trägt den Titel The Rainbow und stammt aus dem Jahre 1802: Wordsworth:

Kommerell:

My heart leaps up when I behold A rainbow in the sky: So was it when my life began; So is it now I am a man; So be it when I shall grow old, Or let me die! The Child is father of the Man; I could wish my days to be Bound each to each by natural piety.357

Wenn ich den Regenbogen schaue Am Himmel, schlägt mir hoch Das Herz – noch heute mir, dem Mann Nicht anders, als da ich begann. So bleibe es, wenn ich ergraue! O stürb ich doch! O daß mein Leben doch zusammenhinge Durch Ehrfurcht vor der Herrlichkeit der Dinge!356

Auffällig ist hier, daß Kommerell die Alliteration in den Versen 3 bis 5 nicht wiedergibt. Außerdem läßt er eine Zeile wegfallen. Er zieht die Aussagen aus der zweiten in die erste Zeile und aus der vierten in die dritte Zeile vor, übernimmt aber trotzdem den gesamten Bedeutungsgehalt. In der Wiedergabe von „grow old“ als „ergraue“ zeigt sich erneut das Nachempfinden der klanglichen Seite. Beide Gedichte haben Verbindungen, da sie Themen wie Zeit, Altwerden und Unschuld ansprechen. Während es bei Cartwright um Wiedergeburt durch Liebe und die Vereinigung von Seelen geht, behandelt Wordsworth die Unbegrenztheit der Natur, die – losgelöst vom Alterungsprozeß – zeitlos ist. Beide Dichter tendieren zu populären Formen: Cartwright zum Sonett, Wordsworth zur Ballade. Im Gegensatz zu komplexer Gedankenlyrik der Zeitgenossen legen sie emotional zugängliche Lyrik vor. Besonders leicht zu verstehen ist, warum Kommerell sich durch das Cartwright-Gedicht angezogen fühlt, da es das Thema der Seelenwanderung, das ihn immer wieder fasziniert (vgl. Kap. IV u. V), anspricht. Wie die Ausführungen gezeigt haben, hat sich Kommerell ebenfalls mit Literatur aus Ländern beschäftigt, über die er keine Publikationen vorgelegt hat. Französische und englische Literatur gehören für ihn zum Kanon der ‚Weltliteratur‘, die im folgenden Abschnitt untersucht wird. 356 Ebd. D: 86.475. 357 Wordsworth, William: Poems, in two volumes, and other poems, 1800–1807, hrsg. v. Jared Curtis, Ithaca/NY 1983, S. 56.

VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur

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VI.3.3 Dame Dichterin und die ‚Weltliteratur‘ Außergewöhnlich ist Kommerells Rezeption außereuropäischer Literatur. Daher wird eingangs sein Aufsatz Dame Dichterin über den höfischen Roman Japans untersucht und auf seine geplante Studie über den chinesischen Roman Die Räuber vom Ling Schan Moor eingegangen. Abschließend werden Urteile aus Kommerells Briefwechsel angeführt, um die Vielseitigkeit der Beschäftigung mit verschiedenen Nationalliteraturen zu zeigen. Die Aneignung der ‚Weltliteratur‘ ist für Kommerell eine Ergänzungsbewegung, die von seinen Frankfurter Kollegen beeinflußt wird, wie er Karl Reinhardt am 5. September 1935 berichtet: „Überdies erscheint mir mein Beruf als peinigend unmännlich und eine Fortsetzung nur in der von Ihnen empfohlenen weltliterarischen Weise halbwegs möglich“ (BA 29). 1938 erscheint in der Corona Kommerells Aufsatz Dame Dichterin über den Roman Genji Monogatari der japanischen Dichterin Shikibu Murasaki. Ihr Text, um 1000 entstanden, ist ein höfischer Roman. Kommerells Aufsatz wird 1967 in der nach ihm benannten Sammlung Dame Dichterin und andere Essays (DD) wiederabgedruckt.358 Die Schweizer Zeitschrift Corona wird von Herbert Steiner herausgegeben, mit dem Kommerell in Briefkontakt steht (vgl. Kap. V).359 Die ersten Sätze sind bezeichnend für seine Perspektivführung: „Wenn man sie sitzen sieht, gezeichnet von einem Meister des siebzehnten Jahrhunderts: in dem luftigen Holzhaus mit heraufgezogenen Rollvorhängen und Schweifdach, wie es der Fels auf schlanken Holzpfeilern über den See hält – vor glattem Tischchen, vom Mond angeschienen, klösterlich, das Haupt im Schreiben leicht zur Seite geneigt – so fragt man: Wie war wohl das Herz, das vor tausend Jahren im Land der aufgehenden Sonne diese unersättlich langen Liebesgeschichten niederschrieb?“ (DD 165).360 Zuerst wird die Schriftstellerin betrachtet, dann der Blick auf Umgebung und Gesamtbild ausgedehnt, schließlich wieder auf ihre Sitzposition und Schreibhaltung fokussiert. Am Anfang der Beschreibung fallen der Begriff des Zeremoniells, der schon bei Calderón untersucht wurde, und der Vergleich mit einer französischen Autorin auf: Das Leben [des Prinzen], das sie schildert, ist ein lückenloses, bis in die Intimität reichendes Zeremoniell: Ihm seine Beglaubigung durch die Seele gegeben zu haben,

358 Vgl. Kommerell, Max: Dame Dichterin, in: DD, S. 147–158 [erstmals in: Corona 8 (1938), H. 5, S. 488–510]. 359 Zur Diskussion über Murasakis Genji siehe den Kommerell-Steiner-Briefwechsel zwischen 1937 und 1938, StGA, Max Kommerell II, 1613–1630. 360 Zum folgenden siehe auch Rohner, Ludwig: [Zu] Max Kommerell: Dame Dichterin. (Murasaki) 1938, in: ders.: Der deutsche Essay, Neuwied/Berlin 1966, S. 281–289.

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das ist das Verdienst der jungverwitweten Hofdame Murasaki, die einer höchst künstlichen, formalen und genußsüchtigen Epoche gegenüber sich ähnlich verhielt wie Madame de La Fayette in ihrem Jahrhundert der Galanterie: Beide sind sie Genien der Liebe und entdeckten mitten unter den Spielen der Unbedenklichen, die fast gewähren, ehe man sie bittet, die große Passion, der zuliebe sie selbst entsagt haben: Dann retten sie deren Gedächtnis im Bericht. (DD 165)

Kommerell interessiert sich für diese Thematik aufgrund der Fremdheit der Form, die ihn zu einer Vergegenwärtigung reizt: „Sehr fremd ist uns diese Form, eine höfische Chronik, die dem Ablauf der Tage und Feste, nicht etwa dem Faden der inneren Begebenheit folgt: Sie tut nichts dazu, um modern zu sein, hält, wie ein geerbtes edles Kleid den strengen Geruch eines alten Parfüms, beharrlich die fast überbildete Eigenart dieser Insel fest. Aber das Eigene ganz zu Ende zu sagen, scheint auch ein Weg der Klassik – nicht nur das allgemein Menschliche!“ (DD 165). Der Aufsatz ist im selben Jahr, 1938, wie das Drama Das kaiserliche Blut erschienen (Kap. IV). Kommerells Verflechtung von Dichtung und Wissenschaft und seine Autoreferentialität zeigen sich in der Anspielung auf sein eigenes Drama: „Im Grunde gab es nur den Hof! [...] Wer nicht kaiserliches Blut hatte oder den drei bis vier großen Familien angehörte, war nicht der Rede wert. Auch die Liebe war höfische Liebe; der Rest war Exil!“ (DD 166f.). Er vergleicht Murasaki, die er im Lampenschirm als die „Dichterin des Ostens“ (LT 116) bezeichnet, auch mit einem deutschen Autor: „Goethe weiß mehr, als er sagt. Diese Dichterin aber sagt mehr, als sie weiß“ (DD 170). Kommerell stellt daher ein speziell weibliches Schreibverfahren heraus, wenn er „die Grundstimmung dieses Buches [...], eines Frauenbuchs von einer Frau“ benennt: „Sie ist Schwermut. Den Widerspruch, mit dem die Liebe sich selber widerspricht, erlebt diese Dichterin so: Indem sie den ‚vollständigen‘, in seiner Liebesfähigkeit unendlichen, allen Liebesarten gewachsenen Mann verherrlicht, vernichtet sie sich selbst“ (DD 183). Wenn Kommerell die Mischung der Gattungen beschreibt, erkennt er darin wieder ein Gesetz: Der Roman ist durchzogen von unzähligen Gedichten. [...] Erraten läßt sich, daß sie teils zweigliedrig, teils eingliedrig sind, je nachdem sie eine Antwort fordern oder nicht; daß sie den erwarteten wesentlichen Begriff des Satzes erst an das Ende stellen und daß sie fast immer eine Metapher durchführen, die in einer Antwort häufig aufgefangen und variiert wird, aber kaum sich unmittelbar aufklärt. Größte Kürze ist Gesetz. So entsteht ein Doppeltes der Gebärde: etwa spitzfindige Rührung. Und diese Gedichte werden niemals gedichtet! Sie gehören als dernier cri durchaus der höfischen Unterhaltung an. In Gespräch oder Brief werden sie aus dem Stegreif gemacht, und wenn es das Wesen der Gesellschaft ist, jeder Lage des Lebens mit Form gerecht zu werden, so bewährt sich hier das Leben Form in dem doppelten Sinn, daß es im gelöstesten Moment sich noch zu einem solchen Stegreifgedicht spannt, im gespanntesten sich ein solches löst! (DD 179f.)

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In dem Text wird ebenfalls Forschungskritik geäußert: „Damit fällt hin, was man gegen die Gedehntheit der Fabel und ihre vielen Verzweigungen vorbrachte. Man darf es mit ihm als Individuum nicht zu genau nehmen, obwohl die Dichterin nie müde wird, seinen Charme zu rühmen“ (DD 167). Nach der Überschreitung der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst, die eine Bedingung für Kommerells Konzept der Wissenschaftskunst ist, nimmt er erneut einen abstrahierenden Bezug der Kunst auf das Leben vor und erklärt, daß das „ganz künstliche Buch ganz lebensartig [wird] – und ich weiß kein anderes Buch, in dem Verwobenheit so sehr der Charakter des Lebens wäre!“ (DD 172). Dabei kann sich der Inszenierungscharakter der Kunst auf das Leben übertragen: „Schwerlich wird jemand sagen können, wieweit all das Leben, wieweit Stilisierung durch den Roman ist – war doch dies ganze Leben Stil!“ (DD 180). Die Kunst könne mehr Entwicklungsräume bieten als das Leben durch „Bildungsreife, die im Leben die Frauen zur Tragik verurteilt, in der Kunst aber die Bedingung für eine das ganze Zeitalter erschöpfende Innerlichkeit ist“ (DD 183). Den Genji-Roman lernt Kommerell durch Heinrich Zimmer kennen. Wie in anderen Fällen schickt Zimmer ihm ein Buch, mit dem er sich im Rahmen seiner Asienstudien beschäftigt hat, um den Horizont seines Freundes zu erweitern. Kommerells Lektüreauswahl ist also durch Zufälle bestimmt. Diesen Roman läßt Zimmer ihm Ende 1935 in englischer Übersetzung zukommen: Ihrer schönen Unersättlichkeit nach dem Erzählenden aller Völker bringe ich hier als kleine Weihnachtsgabe diesen Band altjapanischer Geschichten, den ich Ihrer gedenkend durchgeblättert habe, vielleicht regt er Sie an, das größte japanische Erzählungswerk aufzuschlagen, das sich in der angelsächsisch-amerikanischen Welt bei einigermaßen Eingeweihten großer Bewunderung erfreut die ‚Tales of Genji‘ in englischer Uebertragung 5 Bände, verfaßt von der Lady Murasaki um 1000 nach Christus. Sie war eine Hofdame des Japanischen Kaisers, Genji war ein natürlicher Sohn eines Mikado, traumhafter Held vieler Liebesgeschichten, Staatsmann immer zur Seite des Throns. In einem letzten Bande hat die Verfasserin nicht seinen Tod beschrieben, der hätte ihr und ihren Lesern das Herz gebrochen, aber das Fortleben des Angebeteten in einem Jüngeren, ihm Aehnlichen.361

In einem undatierten Brief an Elly Reinhardt, der vielleicht aus dem Jahre 1936 stammt, versucht Kommerell sogar, den Stil des japanischen Romans zu imitieren: „Mein Briefpapier ist zu allem Unglück alle: verzeihen Sie auch

361 DLA Marbach, Brief Heinrich Zimmer an Kommerell o. D., Nachlaß Kommerell, A: 84.1659/1. Wahrscheinlich wurde der Brief kurz vor Weihnachten 1935 geschrieben. Kommerell bestätigt den Empfang des Buches allerdings erst am 19. Februar 1936, vgl. DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 19.02.1936, Nachlaß Zimmer, A: 74.119/1.

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diese unwürdige Materie. In dem japan. Roman ist vor jedem der hundert dort hin und her geschriebenen Briefe vermerkt, auf welchem Papier und mit was für Zügen sie geschrieben sind. In diesem Falle würde es heißen: ‚in seiner Verlegenheit, das er dies für weniger sträflich hielt als gänzliches Schweigen, griff er zu einem Stück Konzeptpapier, das weder der Persönlichkeit der Empfängerin noch ihrem offiziellen Rang (als Gattin des gefürchtet weisen Mannes) noch der Würde des Anlasses irgend entsprach, und schrieb darauf die seinem unergiebigen Geist gebende anreichbaren Worte in solchen Schriftzügen, die die von der Empfängerin gerügte Unordnung seines Gemüts nicht ungeschickt verbargen‘“.362 Kommerell ist von diesem Roman begeistert, weil dort das Thema der Seelenwanderung, das ihn fortwährend beschäftigt, behandelt wird. So erkennt Prinz Genji in einem kleinen Mädchen, das auch den Namen Murasaki trägt, seine verstorbene Frau wieder, wie es im Roman heißt: Neben ihr saßen noch zwei schmucke Dienerinnen; außerdem liefen kleine Mädchen spielend aus und ein. Eines unter diesen, etwa zehn Jahre alt, trug über einem weißen Shitagasane ein weiches, nurmehr leicht gestärktes Obergewand von Yamabuki-gasane-Farben. Sie sah hübscher aus als die anderen Mädchen um sie her, ja man dachte unwillkürlich, wie liebreizend sie erst sein würde, wenn sie erwachsen war. Üppig und weich flog ihr, wie ein Fächer, das kurze Haar um den Kopf. [...] Ihr Gesicht war von unbeschreiblicher Anmut, ihre Augenbrauen schimmerten fein und zart, ihre Stirn, über die sie die Frisur nach Kinderart aufgekämmt trug, und ihr Haar waren bestrickend schön. Genji betrachtete sie hingegeben. Wie bezaubernd, dachte er, würde sie erst sein, wenn sie einmal erwachsen war! Doch plötzlich erkannte er, daß ihn die Kleine wohl deshalb so fesselte, weil sie jener anderen, die er noch immer unsagbar liebte, wahrhaft erstaunlich glich.363

An der Figur des Prinzen hebt Kommerell hervor, daß er durch seine Seele Zugang zu allen Menschen finden könne: „Vielmehr bedeuten Liebesbewährungen dies, daß seine Seele mit allen Saiten bespannt ist, daß alle Liebesarten und Liebestöne in ihm wohnen und daß er umgekehrt jeder Frauenseele mächtig ist, der beginnlichen und der welkenden, der linkisch süßen und der kostbar müden“ (DD 171). Im Zusammenhang mit Traum und Seele thematisiert Kommerell Genji Monogatari auch in seinem Lampenschirm-Roman (vgl. Kap. IV): „Es steht bei mir fest, daß dieser Traum selbstgeträumt ist: Traum einer eingeschüchterten Jungfrauenseele, die nicht über Erlebtes erschrickt, sondern über unabwendbare Verläufe, deren Ahnung ihr angeboren

362 DLA Marbach, Brief Kommerell an Elly Reinhardt o. D. [um 1936], Nachlaß Kommerell, A: 56.387. 363 Vgl. Murasaki, Shikibu: Genji monogateri. Die Geschichte vom Prinzen Genji, übers. v. Oscar Benl, Bd. 1, Zürich 1966, S. 142ff.

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ist. Ein Frauentraum, wie die Abenteuer des Prinzen Genji oder die ‚Princesse de Clèves‘ nur Frauendichtung sein können“ (LT 184f.). Im Hinblick auf die Gesamtuntersuchung wird deutlich, daß für Kommerell die Vorstellung von einem Leben, das durch ein Zeremoniell geregelt wird, von zentraler Bedeutung ist. Daraus ergibt sich die These, daß sich sein Weg von der Aufhebung der Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst über die Vereinigung zu einer Wissenschaftskunst bis hin zu einem Bezug der Kunst auf das Leben vollzieht. Ein weiterer asiatischer Stoff, den Kommerell vermutlich in seine geplante Monographie über die Romane der ‚Weltliteratur‘ aufgenommen hätte, ist der chinesische Roman Die Räuber vom Liang Schan Moor von Nai An Shi, der 1930 von Franz Kuhn ins Deutsche übersetzt wurde.364 Der Roman hat in China etwa die kulturelle Bedeutung, die der Faust-Stoff hierzulande besitzt. Es geht darin um 108 Bürger einer Stadt, die sich aus Opposition gegen die Zentralregierung ins Moor zurückziehen und als Räuber ihr Unwesen treiben. Der Grundkonflikt des Romans wird schon im Anfangsdialog deutlich: In eine Teestube an der Hauptstraße der Stadt Weh tschou in der Provinz Shan hsi trat ein Wanderer ein und bestellte sich eine Schale Tee mit Mandelschaum. ‚Wo ist hier die Kommandantur Eurer Garnison?‘ fragte er den Wirt. – ‚Ein paar Schritte weiter stadtwärts, an der Hauptstraße.‘ – Wißt Ihr zufällig, ob ein gewisser Wang Tsin, ehemals Waffenmeister bei der kaiserlichen Leibgarde in Kai fong fu, jetzt in Eurer Garnison Dienst tut?‘ – ‚Da fragt Ihr am besten den dort.‘ Der Wirt wies auf einen großen, starken Mann, der eben breit und wuchtig durch die Tür trat.365

Wie Genji Monogatari wird Kommerell auch der Räuber-Roman durch Zimmer vermittelt. In einem undatierten Brief von Anfang Februar 1934 drückt Zimmer seine Hoffnung aus, daß Kommerell Chinesisch lernen möge: „ich wünschte Ihnen, ein Engel schenkte Ihnen im Schlaf die Kenntnis aller Sprachen Asiens, daß Sie durch alle Weisheit Chinas und alle Zauberwälder Indiens so tauchen könnten jahrelang“ (BA 261). Kommerell bedankt sich bei Zimmer am 3. Januar 1935 für die Sendung des Räuber-Romans: „Der saftige Pomp des Verbrecherbuches aus China kam zu mir und erheitert mich, wie ein rühmender Nachklang Ihres Besuches – für beides vielen, vielen Dank“.366 Am 26. Januar 1935 schildert er Zimmer seinen Eindruck des Buches ausführlicher:

364 Vgl. Shi, Nai An: Die Räuber vom Liang Schan Moor. Erster Teil [1930], mit sechzig Holzschnitten aus dem Chines. übertr. v. Franz Kuhn, Ulm 1975. 365 Ebd. S. 11. 366 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 03.01.1935, Nachlaß Zimmer, A: 74.118/1.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Lieber Freund, die Räuber von Lian[g] Schan Moor spannen an manchen Orten eine Klingelschnur über einen verlassenen Waldweg, die dann ein kostbar gepackter Fußgänger, ohne daß er’s weiß, in Bewegung setzt. Die Klingel gellt und er ist erschnappt. So etwas müßten wir auch haben, solche immer gestellte Mausfallen und Fuchseisen des Unbewußten, die wenn der Geist von irgend einem Werk abgelenkt und gebannt ist, aber in den Weg laufende festhalten, daß es nicht mehr entwischen kann. [...] Wenn Sie untern genannten Räubern vorkämen, so würde ich Sie nicht mit so präpotenten Geheimnamen nennen wie ‚einsamer Mönch‘ oder ‚Pantherschädel‘, sondern einfach ‚der Plötzliche‘. [...] – Aber eine beständige Quelle des Glücks waren mir die chinesischen Räuber. Das ist doch ein Heimatgefühl, in der Landschaft dieser Romane herumzulaufen, mit dem ich nichts vergleichen kann. Man kehrt zurück – auch wenn man das erstemal da ist! Als psychologische Erfahrung ganz unvergleichlich, so wichtig wie der Simplicissimus.367

Kommerell gelingt es, sich in die unbekannte chinesische Thematik derart hineinzuversetzen, daß er die Fremdheit als Heimat wahrnimmt. Damit vollzieht er die Vergegenwärtigung. Wie früh sein Weg in die ‚Weltliteratur‘ einsetzt, zeigt sich im Austausch mit Zimmer: Schon Anfang 1933 beschäftigt sich Kommerell mit chinesischer Literaturgeschichte, wie er Zimmer in einem Brief vom 22. Januar 1933 berichtet: „Dazu les’ ich jetzt die chines. Literaturgeschichte von Wilhelm (in den Handbüchern der Lit. Wiss.),368 mit vielen Auszügen“.369 Die China-Rezeption ist außerdem in mehreren Aufzeichnungen belegt, unter denen ein undatiertes Büchlein den Titel „Ostasien“ trägt.370 In einem anderen Arbeitsheft von 1943 hat er wichtige Ereignisse aus der Chronologie der chinesischen Geschichte von 1000 v. Chr. bis 500 n. Chr. exzerpiert. Dabei hält er besonders politische und kulturelle Begebenheiten fest. Die Einträge lauten z. B.: Das Reich Ch’in (Gegend v. Yang-tse) von Chinesen um 1000 kolonisiert Seit 334 (Eroberung v. Yüch) ist Ch’u-Reich das Größte im f. Osten. Der Eroberer: Wei Hang. Dort um 300 Literatur phantastischer Art. ‚Himmel-Fragen‘ von Ch’u Yüan. Das Reich der Ch’in (halbtartarisch) vertreibt von NW kommend die Ch’us aus ihrer Hptstadt im 3 Jahrh. Ein Reich von alexandrin. Ausmaß.

367 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 26.01.1935, Nachlaß Zimmer, A: 74.118/2. 368 Gemeint ist Wilhelm, Richard: Handbuch der Literaturwissenschaft, hrsg. v. Oskar Walzel, Bd. 20: Die chinesische Literatur, Wildpark/Potsdam 1929. 369 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 22.01.1933, Nachlaß Zimmer, A: 74.116/1. 370 Vgl. DLA Marbach, Kommerell, Max: Ostasien, Nachlaß Kommerell, D: 86.479.

VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur

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Bau der Mauer ... Ausrottung des Konfucianismus, weil er für Reformen eintrat. 213 Zentralisierung statt Feudalismus.371

Kommerell notiert besonders die Daten, die wichtig für die Einigung Chinas sind. Seine Ganzheitssuche wird auf den politischen Bereich ausgedehnt. Außerdem erwecken die vielen Einträge zum Buddhismus den Eindruck, er wolle eine Geschichte des chinesischen Buddhismus schreiben. Unter den zahlreichen Kaisern der Tang-Dynastie nennt er nur denjenigen, über den eine schöne Liebesgeschichte überliefert ist: Nachdem der Kaiser auf Druck des Hofstaates seine Frau umbringen lassen muß, wird sie für ihn zur Göttin, mit der er im Traum weiter seine Liebe auslebt. Kommerell interessiert sich erneut für das Thema der Seelenwanderung, das hier eine Variation erfährt, da die Geliebte nicht in einer anderen irdischen Körperlichkeit wiedererkannt wird, sondern in einer metaphysischen. Kommerells Aufzeichnungen zeigen seine systematische Beschäftigung mit China, die er als Voraussetzung für die Interpretation des literarischen Textes als notwendig ansieht. In einem Brief an Hans-Georg Gadamer vom 28. Juli 1938 projiziert er sein Chinabild auf die Landschaft des Salzkammergutes: „Der Attersee erinnert etwas an den Ammersee. Er ist waldiger und gebirgiger; still und einsam. Die zartesten Tönungen überraschen einen stündlich und glühen wie chinesische Kunst, als etwas keineswegs ort- und zeitgebundenes, sondern einfach als die Kunst des zweiten Lebens!“372 Seine Chinabegeisterung drückt er am 3. September 1943 gegenüber Karl Reinhardt aus: „2 Länder möchte ich sehen und sie von innen und von außen, so weit möglich, mir zueignen: Spanien und China“.373 In Dame Dichterin unternimmt er einen Vergleich zwischen japanischer und chinesischer Darstellungsart: Denn jede dieser Lieben, die sich im Bericht durcheinanderflechten, ist ein erschöpfendes Ganzes, mit keinem andern zu verwechseln; jedesmal wird anders geliebt, hebt Liebe anders an, erfüllt oder versagt sich anders. Und da die Schilderung im Gegensatz zu den chinesischen Romanen höchst dezent bleibt, über das eigentliche Zusammensein den Schleier zieht und auch von den dem Gedächtnis so köstlichen und unentbehrlichen kleinen Umständen nur einen Auszug von Stimmung bereitet, dem chinesischen Roman verglichen karg und unsinnlich, aber unvergleichlich wissender: so entfaltet hier die Verfasserin eine vollkommen universale Kenntnis der menschlichen Liebesmöglichkeiten [...]. (DD 168)

371 DLA Marbach, Kommerell, Max: Arbeitsheft 1943, Nachlaß Kommerell, D: 86.490. 372 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 28.07.1938, Nachlaß A: Gadamer. 373 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 03.09.1943, Nachlaß Kommerell, A: 56.378.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Seine Wahrnehmung Chinas geht zudem in den Titel einer seiner Gedichtbände ein: Mit gleichsam chinesischem Pinsel (1944).374 Die Gedichte sind allerdings nur im Sinne einer leichten, gleitenden Niederschrift als chinesisch anzusehen, in Inhalt und Form nehmen sie keine chinesischen Elemente auf. Besonders bemerkenswert ist, daß Kommerell in seinen letzten Lebensjahren eine Studie über die Romane der ‚Weltliteratur‘ plant – sein Tod verhindert jedoch die Vollendung. Wahrscheinlich wäre es eine Mischung von Wiederabdrucken bereits erschienener Aufsätze und neuer Untersuchungen geworden. Aus den Briefen läßt sich rekonstruieren, welche Romane Kommerell vermutlich untersucht hätte. Es ist davon auszugehen, daß Murasakis Genji Monogatari, das chinesische Volksepos Die Räuber vom Liang Schan Moor, Cervantes’ Don Quijote, Grimmelshausens Simplizissimus, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre und Immermanns Epigonen dazu gehört hätten.375 Vielleicht wären noch Studien zu Proust, Gogol und Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge hinzugekommen. Dieser Kommerellsche Kanon zeigt die Umfassung der Literaturgeschichte vom Mittelalter bis zu seiner Gegenwart. Er ist international, legt jedoch den Schwerpunkt auf Deutschland, auch wenn Spanien, Italien und Frankreich vertreten sind. Mit China und Japan wird, was selten geschieht, über Europa hinausgegriffen. Auffällig ist, daß sich Kommerell fast immer jeweils einen Roman aus einem Land heraussucht, den quasi jeder in diesem Land kennt. Damit vertritt sein Kanon absolute ‚Höhenkammliteratur‘. Kommerells Projekt über die Romane der ‚Weltliteratur‘ zeichnet sich durch seine exklusive Auswahl und durch die Weite seines Blicks aus, die kein Germanist dieser Zeit an den Tag legt und die allenfalls mit den Standardwerken Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter von Ernst Robert Curtius und Mimesis von Erich Auerbach zu vergleichen ist. Dame Dichterin und die Auseinandersetzung mit dem chinesischen Volksepos zeigen wiederum, wie Kommerell durch seine Freundschaften zu Professoren, hier Heinrich Zimmer, sich von der Heroenbiographik Georgescher Prägung abkehrt und ‚weltliterarischen‘ Themen öffnet. Im Zusammenhang von Kommerells Austausch mit anderen Wissenschaftlern ist auf einen angestrebten, jedoch in Ansätzen steckengebliebenen Dialog einzugehen.376 Kommerell sucht den Kontakt zum komparatistischen

374 Vgl. Kommerell, Max: Mit gleichsam chinesischem Pinsel, Frankfurt/M 1944. 375 Vgl. Kommerell, Max: Immermann und das neunzehnte Jahrhundert, in: EN, S. 187– 222. 376 Siehe auch Jäger, Lorenz: Der Literaturwissenschaft die Glieder lösen. Schnittpunkte in den Lebenslinien von zwei Wunderkindern: Zum hundersten Geburtstag von Richard Alewyn und Max Kommerell, in: FAZ, Nr. 46 vom 23.02.2002, S. 44 und Schlaffer, Heinz: Im Sprichwort faulenzt der Geist. Monumental-Max und Kobold: Zum hunder-

VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur

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Germanisten Richard Alewyn.377 Er berichtet Zimmer am 4. Dezember 1934 nach Heidelberg, wo auch Alewyn lehrt bis er von den Nationalsozialisten aufgrund seiner jüdischen Herkunft amtsenthoben wird: „Bin tief im deutschen Barock. Alewyns Leistung nötigt mir Respect ab, und ich teilte ihm dies nach Paris mit“ (BA 301). Kommerell meint hier Alewyns Monographie Johann Beer. Studien zum Roman des 17. Jahrhunderts (1932).378 Bereits am 28. November 1934 hatte Kommerell Kontakt zu Alewyn aufgenommen: ungebührlich spät für einen Literarhistoriker komme ich in ernsthafte Berührung mit der deutschen Barockliteratur und da habe ich auch nach ihrem Buch gegriffen. Vielleicht freut es Sie, wenn ich Ihnen sage, daß ich es mit sehr großer Spannung lese, daß ich staune, wie man mit einem so besonnenen, selbständigen und eigentlich aus dem Rohen arbeitenden Buch debutieren kann, und vor allem, daß es mir hilft und Neugier und Liebe weckt nach dem von Ihnen so hochgefeierten Autor. [...] Da haben Sie gut getan, so viel zu citieren. Und den Zitaten läßt sich schon etwas abfühlen, und ich bin durchaus des Glaubens, daß der hohe Begriff, den Sie über Ihren Autor zu verbreiten wünschen, eine objektive Basis hat.379

Aus diesen Zeilen spricht Kommerells Selbstverständnis seiner Rezeption des deutschen ‚Barock‘, die er über den Umweg des spanischen Calderón in Angriff nimmt. Ein Antwortbrief von Alewyn ist nicht erhalten. Etwa ein Jahr später, am 16. Oktober 1935, versucht Kommerell erneut, einen Austausch anzuregen, und will sich sogar für den abgesetzten Alewyn einsetzen, als er hört, „daß Sie, für die unentbehrliche, für mich ganz persönlich wünschbare, Teil-Ausgabe Beers keinen Verleger finden. Ich kann Ihnen gar nichts bestimmtes sagen, und muß auch im Augenblick ganz besonders aufpassen. Jedoch könnte ich im Lauf der Zeit durch Vermittlung eines Freundes vielleicht den öster. Verlag Schmidt-Dengler dafür interessieren. Aber bitte, machen Sie ohne vorherige Rückverständigung mit mir noch keinen direkten Gebrach davon; vielleicht sagen Sie mir, ob Ihnen überhaupt mit ähnlichen Vermittlungen gedient wäre“.380 Auch wenn kein wechselseitiger Briefaustausch zwischen Kommerell und Alewyn stattgefunden hat, sind die ähnlichen Ansichten und

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sten Geburtstag des großen Philologen Max Kommerell, in: SZ, Nr. 47 vom 25.02.2002, S. 14. Zu Alewyn siehe Weber, Regina: Richard Alewyn, in: IGL 1, S. 18–21 und Garber, Klaus: Zum Bilde Richard Alewyns, München 2005. Einen dritten Versuch startet Kommerell eineinhalb Jahre später und bemüht sich, einen Kontakt zu Alewyn für Herbert Schöffler herzustellen, vgl. DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich und Christiane Zimmer vom 23.03.1937, Nachlaß Zimmer, A: 74.120/2 und DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich und Christiane Zimmer vom 30.03.1937, Nachlaß Zimmer, A: 74.120/3. DLA Marbach, Brief Kommerell an Richard Alewyn vom 28.11.1934, Nachlaß Alewyn, A: 89.5.1032. DLA Marbach, Brief Kommerell an Richard Alewyn vom 16.10.1935, Nachlaß Alewyn, A: 89.5.1032.

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VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Urteile in ihren Studien kaum zu übersehen – man vergleiche z. B. Etwas über die Kunst Calderons und Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. Kommerell beschäftigt sich zudem in seinen Lehrveranstaltungen mit Themen zur ‚Weltliteratur‘: Im Wintersemester 1933/34 lehrt er die Typen der dramatischen Dichtung (Weltliteratur) mit Koll., im Wintersemester 1942/43 unterrichtet er Das deutsche Drama in Beziehung zum europäischen Drama und im Sommersemester 1943 beschäftigt er sich mit Nationalliteratur und Weltliteratur im 18. Jahrhundert.381 Der Kreis der Frankfurter Kollegen vermittelt Kommerell also Stoffe aus anderen Nationalliteraturen und öffnet ihm den Weg in die ‚Weltliteratur‘. Ralf Simon sieht darin eine Entideologisierung der auf die Nationalphilologie ausgerichteten Anfänge Kommerells.382 Im George-Kreis ist Kommerell durchaus schon mit der Übertragung ausländischer Literatur bekannt geworden und konnte dort seine Übersetzungstätigkeit schulen. Später erweitert er jedoch seinen Horizont um ein Vielfaches. Er setzt bewußt seinen spanischen Calderón gegen Georges italienischen Dante. Außerdem beschäftigt er sich, wie gezeigt, mit Sophokles’ Elektra, Aristoteles’ Poetik, Cervantes’ Don Quijote und Murasakis Genji Monogatari.383 Kommerells großer Lesebedarf stößt an keine Grenzen, sondern verwirklicht sich im Medium der ‚Weltliteratur‘, wie sich im schon zitierten Brief an Zimmer vom 29. November 1933 zeigt: „Ich lese Seneca, Euripides, Sophokles, Calderon, Corneille, Racine, Voltaire – fast nur in fremden Sprachen“.384 In einem Brief vom 1. Dezember 1935 ebenfalls an Zimmer kommen noch außereuropäische Themen hinzu: „Fertigstellung von Aufsätzen (Schiller als Psychologe zu Ende berichtigt), neue Übertragungsversuche zu Calderon, und maßlose Lektüre. Indische Märchensammlungen, (die Vetala Märchen sind unsagbar), Südsee, Zigeuner, Afrika ... Thersie des Mädchens ... Chines. Novellen ... ein span. Drama ... Kleist [...] Brentano usf“.385 Er versucht, durch die Lektüre früher Verpaßtes nachzuholen und berichtet Zimmer am 3. Januar 1935: „Ich lese […] unter anderem eben diese Räuber, und Silvia im Stern, und 3 neue Calderons, und Proust und Gogol – und hab[,] mir fehlt 1001 Tag, und die Celestina, und Jung, und Herodot bestellt und will

381 382 383 384

Vgl. Strebel, Kommerell, S. 286. Vgl. Simon, Weltliteratur, S. 87. Vgl. Storck, Kommerell, S. 62f. DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 29.11.1933, Nachlaß Zimmer, A: 74.116/5. 385 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 01.12.1935, Nachlaß Zimmer, A: 74.118/7.

VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur

333

das auch alles lesen“.386 In einem undatierten Brief von 1935 an Zimmer fällt die Vielfalt der Auswahl auf: „Ich las Du Halde, Armana, Tausend u. ein Tag (Leserlich!!), chines. Liebes- und Geistesgeschichten. […] Ferner viel im Herodot und Plinius. – vorher Barockromane“.387 Kommerell bezweifelt in einem Brief an Karl und Elly Reinhardt vom 23. Juli 1940, daß die kanonischen Autoren wirklich gelesen würden: „Wir lesen uns die Odyssee vor, ich denke dabei an Ihre Arbeit, Herr Reinhardt. Die Wiederaufnahme der Telemachie im 15. Gesang hat mir diesmal besonderen Eindruck gemacht. Daneben les ich Ariost, I Suppositi; ganz überraschend und seltsam. Wie seelenvoll ist Homer dagegen, wie menschlich beladen und begreifend! Ich möchte wissen, wer eigentlich diesen Ariost kennt, von dem alles spricht. Mir scheint er in seiner Leichtfertigkeit recht undurchdringlich“.388 Hier tritt erneut das schon im George-Kreis praktizierte, im Frankfurter und Marburger Kreis fortgesetzte laute Lesen von Literatur hervor. Allerdings muß Kommerell das Bedürfnis nach Lektüre in der Freizeit bewältigen, wie er am 2. September 1942 Carl Hermann Ebbinghaus mitteilt: „Der Aufenthalt in Paris hat mir neues Material für meine fernöstlichen Lüste geliefert, eine frz. Kunstgeschichte Sirvén und ein ungeheuer schönes Abbildungswerk von einer jap. Ausstellung (modern, klass. Schule) in Paris. Leider werden diese Lüste auf Mitternacht verlegt, da der Tageslauf eine Folge dicker, magrer und saurer Pflichten ist (da Schiller die Denkart mit Milch vergleicht, darf ich auch die Pflicht mit Milch vergleichen)“.389 Zimmer berichtet er am 3. Mai 1937 von den Anstrengungen bei der Lektüre: „Gestern les ich ein spanisches Buch über Cervantes. Bemühungen um Weltliteratur sind kostspielig und zeitraubend, sobald man den Übersetzungen entsagt. Ich habe Verkehr mit allerlei Ausländern. Gestern aber lasen wir Lyrik von Yeats. Recht hübsch!“390 Ein einmalig herausragendes Projekt ist der ABC-Calender der Weltliteratur: Die zeitraubenden „Bemühungen um die Weltliteratur“ kann Kommerell nur in strukturierter Form bewältigen. Nachdem Kommerell in einem

386 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 03.01.1935, Nachlaß Zimmer, A: 74.118/1. 387 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer o. D. [Februar 1935], Nachlaß Zimmer, A: 74.122/3. 388 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl und Elly Reinhardt vom 23.07.1940, Nachlaß Kommerell, A: 56.371. 389 DLA Marbach, Brief Kommerell an Carl Hermann Ebbinghaus vom 02.07.1942, Nachlaß Kommerell, A: 99.126.1/1. 390 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 03.05.1937, Nachlaß Zimmer, A: 74.120/5.

334

VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Brief an Curtius vom 13. August 1934 die Eröffnung eines „Institut[s] für Verbesserung der Weltliteratur“ vorschlägt (BA 281), antwortet Curtius zwei Tage später, am 15. August 1934, mit einem wissenschaftlichen „Ferienspiel“: Sie müssen mir übrigens helfen bei einem neuen Ferienspiel. Ich möchte einen Kursus der Weltliteratur, auf 5 oder 10 Jahre berechnet, aufstellen. Die 24 Buchstaben des Alphabets werden auf die 12 Monate verteilt. Beispiel 1935 Jan.

Febr.

März

36

37

Aristoteles

Augustin[us]

Apuleius

Boccacio [sic]

Baudelaire

Bossuet

Cervantes

Chaucer

Claudian

Diderot

Demosthenes

Donne

Empedokles

Euripides

Emerson

Fielding

Fénelon

Fronto

usw.

Manche Buchstaben sind überergiebig, so A B D L. Andere sind unproduktiv. Für N hatte ich erst Nietzsche und Nonnos, für Q immerhin Quevedo und Quintilian. Als Goethianer werden Sie solch tabellarisches Bemühen nicht verachten. Können Sie nur jemanden für I vorschlagen? Isidor v. Sevilla und Irenäus sind inakzeptabel ... Immermann geeignet? J hat schon Joyce und Henry James aufzuweisen. Vielleicht hilft Reinhardt mit, den ich wie alle Symexistirenden* herzlich zu grüßen bitte. [...] * Die Form ist grammatisch inkorrekt, aber authentisch Schlegelisch. (BA 295f.)

Kommerell ist zu bescheiden, um Curtius weitere Namensvorschläge zu machen und teilt ihm am 1. September 1934 mit: „Für Ihren ABC-Calender der Weltliteratur und chronologisches Pandämonium zu Lehrzwecken bin ich leider zu ungebildet. Ich kann nicht helfen. Ich schäme mich, auch Ihnen gestehen zu müssen, was ich an Ihre Gattin schrieb: ich bin in diesen Ferien von einer scheußlich beharrlichen Unergiebigkeit. Ich daure mich wirklich. (Das ist schwäbisch ausgedrückt). So etwas bliebe besser verborgen – aber wenn man sich Briefe schreibt, kommt viel an den Tag, oft mehr als wenn man sich sieht“ (BA 294). Der Selbstinszenierungscharakter von Kommerell wird hier wieder deutlich. Bedenkt man, welche Autoren er in den oben zitierten Briefen angibt, hätte er sicher etwas zu Curtius’ Projekt beitragen können. Zumindest faßt er mit der Bezeichnung „ABC-Calender der Weltliteratur“ die Ausweitung ins ‚Weltliterarische‘ buchstäblich. Viele der Autoren, die Curtius nennt, sind in heutigen Kanons nicht mehr zu finden. Andere befinden sich an der Grenze zwischen Dichtung und Philosophie, Kulturtheorie oder Theologie. Nur Isidor von Sevilla und Irenäus von Lyon sind für Curtius als Kirchenlehrer zu weit von der Literatur entfernt und werden daher nicht in den Kalender aufgenommen. Gemeinsam ist den Genannten, daß sie Prosaautoren und große Rhetoriker sind.

VI.3 Europäische und außereuropäische Literatur

335

Der Schwerpunkt von Curtius’ Auswahl liegt bei griechischen, französischen und englischsprachigen Autoren. Spanische, deutsche und neuere italienische Schriftsteller gibt es nur wenige. Sieht man einmal von Henry James ab, so werden nur europäische Autoren genannt. Dabei dominieren westeuropäische Verfasser. Russische Autoren fehlen hingegen: bei G hätte Kommerell Gogol empfehlen können. Curtius berücksichtigt sie jedoch nicht, da Russisch eine der wenigen europäischen Sprache ist, die er nicht im Original lesen kann. Die außereuropäische Literatur überhaupt wird kaum berücksichtigt. Der Kalender umfaßt ungefähr 2500 Jahre Literaturgeschichte, die mit Euripides vom antiken Griechenland bis zu James Joyce und damit zur zeitgenössischen Literatur reicht. Als einzige deutsche Autoren werden nur Nietzsche und Immermann genannt, Goethe wird man vergeblich suchen. Auch Shakespeare und Molière fehlen, da Curtius in diesem Brief noch nicht bei ihren Buchstaben angekommen ist. Einige Buchstaben hält Curtius für „überergiebig“: Bei A könnte er an Aischylos, Anakreon und Ariost, bei B an Bacon, Balzac und Blake, bei D an Dante, Defoe und Dickens und bei L an Livius, La Fontaine und Lope de Vega gedacht haben. Bei I führt er den heute verbreiteten Dramatiker Ibsen wahrscheinlich nicht an, da er mit seiner naturalistischen Richtung nicht zu den versammelten Autoren paßt. Die unterschiedlichen Verfasser sind kaum auf einen Nenner zu bringen, es fallen jedoch einige Gemeinsamkeiten auf: Fronto, Quintilian und Boccaccio haben humanistische, Demosthenes, Diderot und Fénelon aufklärerische und Chaucer, Fielding, Joyce und James psychologisierende Tendenzen. Auch wenn Kommerell keine Namen beisteuert, hat der „ABC-Calender der Weltliteratur“ eine bleibende Wirkung auf ihn, wie aus einem Brief an Karl Schlechta hervorgeht: „Ernst Robert Curtius [ist ausgestattet] mit beinah vollständiger Kenntnis der romanischen Literatur von Vergil bis Valéry, um 2 Vaus als unverbindliche Verknüpfungsmomente herbeizuzerren“ (BA 278f.). Curtius bleibt dem Buchstabenspiel ebenfalls verhaftet und kommentiert damit in seinem Büchertagebuch (1960) Adolf Spemanns Vergleichende Zeittafel der Weltliteratur von 1951: „Von dem buchhändlerischen Standpunkt ist es gewiß nützlich und berechtigt, daß unter M neben Marlowe und Mereschkowski auch die Marlitt und Karl May aufmarschieren. Aber war es nötig, unter W Friedrich Wolf (Kolonne Hund, 1926) und Julius Wolff (Der Rattenfänger von Hameln, 1875) neben Thomas Wolfe und Wolfram von Eschenbach zu nennen?“391

391 Curtius, Ernst Robert: Büchertagebuch, mit einem Nachwort hrsg. v. Max Rychner, Bern/ München 1960, S. 24.

336

VI. Die Rezeption Calderóns und der ‚Weltliteratur‘

Curtius und Kommerell reagieren mit ihrer Literaturauswahl auf Einschränkungen, die sie in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit durch die politischen Rahmenbedingungen erfahren, indem sie die im eigenen Land untersagte freie Entfaltung der Gedanken in der Kultur des Anderen suchen. Damit wird die Komparatistik zum Reflexionsmedium – bei Curtius eher aus einer Ergänzungsbewegung, bei Kommerell mehr als Korrekturbewegung. Daran lassen sich auch die Unterschiede zwischen beiden festmachen. Curtius’ Programm ist dezidiert alteuropäisch angelegt und verfolgt eine klare Rekonstruktionsabsicht. Kommerells Kanon ist internationaler, da auch außereuropäische Autoren einbezogen sind. Seine Auswahl ist weniger systematisch und, seinem Konzept der Wissenschaftskunst entspringend, stärker emotional geprägt. Als Ergebnis dieses Kapitels kann für die Gesamtuntersuchung zusammengeführt werden, daß Kommerell ein Übersetzungsprogramm der getreuen Wiedergabe verfolgt, welches in Verbindung mit Vorstellungen aus dem George-Kreis steht. Er entwickelt damit bereits angelegte Fähigkeiten bis zu seinem Lebensende weiter. Seine Calderón-Rezeption wird durch die Romanisten Werner Krauss, Fritz Schalk und Ernst Robert Curtius gefördert. Er inspiriert Curtius sogar zu Calderón-Forschungen. Mit ‚Topos‘ bzw. ‚Vorrat‘ als literarischer Bestand betreiben beide Wissenschaftler Stilforschung und treten dabei in produktive Wechselwirkungen. Die Cervantes-Studien zeigen den Hang zur Schematisierung, die Betrachtung über die Commedia dell’arte die Thematisierung der Begriffe ‚Maske‘, ‚Schein‘ und ‚Sein‘. Die Interpretation des japanischen höfischen Romans verdeutlicht die Bedeutung eines ‚Zeremoniells‘ mit Signaturenlehre. Mit der Schematisierung literarischer Figuren und dem Bezug der Kunst auf das Leben, der über Kategorien wie Maske und Zeremoniell, Sein und Schein funktioniert, sind Komponenten von Kommerells Verfahren der textnahen Beobachtungen benannt, die im nächsten Kapitel weiter vertieft werden. Mit französischer und englischer Literatur hat sich er eher privat als öffentlich beschäftigt. Japanische und chinesische Romane gehören zu seinem Kanon der ‚Weltliteratur‘, der in vielen Briefen und im ABC-Calender hervortritt. Sein Einfühlungsvermögen läßt ihn sogar in diesen fremden Ländern heimisch werden. Der Wissenschaftler Kommerell zeichnet sich also durch einen komparatistischen Ansatz aus, der ihn Fachgrenzen überschreiten und seine Wissenschaftskunst vollziehen läßt.

VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944 Elf lange Jahre dauert es nach der Habilitation, bis Kommerell schließlich 1941 einen Ruf nach Marburg erhält. Im Blickpunkt dieses Kapitels steht der Verlauf seiner Karriere. Dazu werden seine individuelle Karrierestrategien, die universitären Entscheidungen und die Wirkungen und Gegenwirkungen wissenschaftspolitischer Vorgaben in die Betrachtung miteinbezogen. Mit institutionengeschichtlicher Perspektive wird untersucht, an welchen Universitäten Kommerell in Erwägung gezogen wird und wo er realistische Chancen auf eine Stelle hat. Da andere Germanisten durch Gutachten auf seine Berufungschancen einwirken, ist die Wahrnehmung durch Fachkollegen herauszuarbeiten. Auf der anderen Seite sind die Bemühungen der mit Kommerell befreundeten Professoren, ihm zu einer Stelle zu verhelfen, relevant. Sie zeigen die Kontakte, die er sich zu Nutze macht. Auf der Konzeptebene der Wissenschaftsgeschichte ist darauf einzugehen, wie Kommerells Publikationen seine Chancen auf eine Berufung erhöhen. Dabei spielt es eine bedeutende Rolle, ob er seine Veröffentlichungen gezielt für Berufungsverfahren, die sich in der Schwebe befinden, anlegt. Es ist die Frage, wie Kommerells neues Interpretationsverfahren von den zeitgenössischen Beobachtern bewertet wird. Auf der Personenebene ist schließlich Kommerells Verhalten gegenüber dem nationalsozialistischen Regime zu betrachten. Die Darstellung des Marburger Berufungsverfahrens erfolgt in drei Schritten: Erstens ist Kommerells Karriere bis 1939 zu untersuchen, um die Ausgangsposition, aus der heraus er agiert, zu klären. Zweitens ist nachzuzeichnen, wie die Sitzungen der Berufungskommission konkret ablaufen und welche Momente auf die Entscheidungsfindung einwirken. Drittens sind die Auswirkungen herauszuarbeiten, die sich mit der Berufung für Kommerells spätere Vortragstätigkeit – besonders im Ausland – ergeben. Dieses Kapitel weicht in seinem Aufbau von der Struktur der anderen Kapitel ab, die durch thematische Zusammengehörigkeit bestimmt sind. Hier steht die Chronologie stärker im Vordergrund. Es wird ein übergreifender Bogen von 1930 bis 1944 gespannt – angefangen von der Habilitation bis hin zur späten Vortragstätigkeit im Ausland. Um allerdings eine einfache institutionengeschichtliche Darstellung zu überwinden, findet die Untersuchung der Karriere im Zusammenhang mit der Analyse von Kommerells Texten statt. Für den Aufbau ergibt sich eingangs die Betrachtung des Habilitationsverfahrens (1930), der Vertretungsprofessuren in Bonn (1934), Gießen

338

VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944

(1935/36) und Köln (1938/39) sowie der erste Runde des Marburger Berufungsverfahrens (1939). Die beiden Monographien Lessing und Aristoteles und Geist und Buchstabe der Dichtung, die 1940 erscheinen, werden danach erörtert und die zweite Runde des Berufungsverfahrens mit der erfolgten Berufung (1941) dargestellt. Am Ende wird auf die Auslandsvorträge (1941– 1943) eingegangen. Kommerells Wirken an der Universität von 1930 bis 1944 fällt in eine politisch hochbrisante Zeit. Allgemeine Tendenzen der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im Nationalsozialismus sind bereits in verschiedenen Studien erforscht worden.1 Hier werden die Entwicklungen nur in Bezug auf Kommerell nachgezeichnet. Dieses Kapitel stützt sich stark auf unveröffentlichte Archivmaterialien, die daher umfangreich zitiert werden. Wie bereits in der Einleitung ausgeführt, soll Kommerell weder als überzeugter Nationalsozialist noch als Widerstandsanhänger charakterisiert werden. Vielmehr soll die Vielschichtigkeit und Ambivalenz in seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus aufgezeigt werden.

VII.1 Kommerells Karriere bis 1939 Max Kommerell kommt aus der Jugendbewegung und dem George-Kreis und tritt trotzdem oder vielmehr gerade deswegen eine wissenschaftliche Laufbahn an. Promotion, Habilitation und Berufung stellen dabei die vorgezeichneten Stufen des Karrierewegs dar. Sein Antrieb für die Karriere ist das Ziel, Lehrer zu werden, wie schon im zweiten Kapitel herausgearbeitet

1

Vgl. Ferber, Christian von: Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864–1954, Göttingen 1956; [zur Vorgeschichte] Jansen, Christian: Im Kampf um die geistig-ideologische Führungsrolle in Universität und Gesellschaft. Die zwischen 1910 und 1925 in Deutschland lehrenden germanistischen Hochschullehrer im politisch-wissenschaftlichen Spektrum, in: König/Lämmert, Geistesgeschichte, S. 385–399; Voßkamp, Wilhelm: Kontinuität und Diskontinuität. Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich, in: Wissenschaft im Dritten Reich, hrsg. v. Peter Lundgreen, Frankfurt/M 1985, S. 140–162; Klausnitzer, Ralf: Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich, Paderborn u. a. 1999; Hempel-Küter, Pyritz, S. 1–40; Bollenbeck/Knobloch, Umbau, 2001; Sturm, Literaturwissenschaft, 1995; Kaiser, Grenzverwirrungen, 2008; Dainat, Holger: Voraussetzungsreiche Wissenschaft. Anatomie eines Konflikts zweier NS-Literaturwissenschaftler im Jahre 1934, in: Euphorion 88 (1994), S. 103–122; ders.: Anpassungsprobleme einer nationalen Wissenschaft. Die Neuere deutsche Literaturwissenschaft in der NS-Zeit, in: Boden/Dainat, Selbstbesichtigungen, S. 103–126; ders.: Germanistische Literaturwissenschaft, in: Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933–1945, hrsg. v. Frank-Rutger Hausmann, München 2002, S. 63–86; und: ders.: Zur Berufungspolitik in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft 1933–1945, in: Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus, hrsg. v. Lutz Danneberg u. Holger Dainat, Tübingen 2003, S. 55–86.

VII.1 Kommerells Karriere bis 1939

339

wurde. Sein wissenschaftliches Ethos entspringt der Kritik an etablierten Forschungsansätzen. Dadurch ruft er Irritationen im Wissenschaftssystem, das nach eigenen Imperativen funktioniert, hervor. Förderer seiner Karriere werden fachfremde Wissenschaftler wie Reinhardt, Gadamer und Schalk. Die eigenen Fachkollegen, die ihre traditionellen Arbeitsweisen in Frage gestellt sehen, bremsen Kommerells Karriere. Die Dekade zwischen 1930 und 1940, in der Kommerell als Privatdozent wirkt, ist nicht nur gekennzeichnet von der NS-Machtübernahme und dem radikalen Umbau des Wissenschaftssystems, von dem die Geisteswissenschaften besonders betroffen sind – die Studentenzahlen gehen z. B. von 10.000 auf 5.000 zurück. In den 1930er Jahren findet auch eine gewaltige fachinterne Umorientierung von der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft zu immanenten Interpretationsverfahren statt. Kommerells intellektuelle Entwicklung erfolgt – besonders in den frühen 1930er Jahren – auf der einen Seite gegenläufig zu den Positionen der etablierten Fachvertreter, auf der anderen Seite ist sie kongruent mit der allgemeinen Durchsetzung neuer methodischer Ansätze der Textinterpretation. Die modellhaften Schrittfolgen einer Karriere erfahren im Falle Kommerells Variationen. Die Phase der Habilitation, die normalerweise die LehrerSchüler-Verhältnisse begründet, ist für Kommerell durch die Trennung von seinem Lehrer Stefan George geprägt. Die Zeit als Privatdozent und die damit verbundene zweitrangige soziale Stellung dauern ungewöhnlich lange an und werden durch mehrere Vertretungsprofessuren, die wissenschaftsinterne Bewährungsproben darstellen, unterbrochen bzw. verlängert. Die Berufung erfolgt schließlich kurz vor dem krankheitsbedingten Tod, so daß die Zeit als Ordinarius nicht die angemessene Wirkung erzielt. Seit der Habilitation 1930 unterrichtet er in Frankfurt, die erste Vertretungsprofessur erhält er 1934 in Bonn. Danach folgen im Zweijahresrhythmus Vertretungen in Gießen und Köln. Die Gutachten, die zu seiner Ernennung als außerordentlicher Professor in Frankfurt 1938 eingeholt werden, zeigen einen Querschnitt der Wahrnehmung durch Kollegen in dieser Zeit. Dieses Unterkapitel endet im Jahr 1939 nicht wegen der politischen Zäsur, die mit dem Kriegsbeginn verbunden ist, sondern weil ab 1939 das Marburger Berufungsverfahren beginnt, das im folgenden Abschnitt dargestellt wird. VII.1.1 Habilitation in Frankfurt 1930 Kommerells Habilitation an der Frankfurter Universität2 im Jahr 1930 begleiten Walter F. Otto und Karl Reinhardt im Hintergrund – vordergründig, aber

2

Zur Geschichte der Universität Frankfurt im Nationalsozialismus siehe Hammerstein, Frankfurt, 1989. Zu Kommerell siehe S. 107–112.

340

VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944

ohne prägenden Einfluß, sind es die Gutachter Hans Naumann und Franz Schultz.3 Am 25. April 1930 schickt Otto die Habilitationsordnung an Kommerell: „Das Exemplar, das Jahre lang bei mir herumlag und sich glücklicher Weise auffinden ließ, sieht so mickrig aus, daß man sich kaum Anspielungen auf seinen Inhalt versagen kann. Hoffentlich bedrückt es Sie nicht zu sehr. [...] Im Übrigen, da alles in meine Hände kommen wird, ist der Schaden auch nicht allzu groß, wenn eine Kleinigkeit noch fehlen sollte“.4 Aus diesem Zitat geht hervor, wie kurz die Habilitationsordnung zu dieser Zeit ist, daß der Kandidat Kommerell sich nicht etwa an ein Prüfungsamt wendet, sondern in einem privaten Brief direkt an den Prüfungsvorsitzenden und daß der Prüfungsvorsitzende, der zugleich der zukünftige Schwiegervater des Kandidaten ist, eine wohlwollende Durchsicht und damit eine bevorzugte Behandlung im Vorhinein bescheinigt. Die Ausarbeitung der Habilitationsschrift nimmt Kommerell unter erhöhtem Zeitdruck in Angriff, wie er rückblickend festhält: „Meine äußere Lage war die, daß ich in meinen, genau befristeten Arbeiten, so gedrängt war, daß ich keinen Tag verlieren konnte, und daß ich außerdem jeder Störung meines Gleichgewichts ausbiegen mußte: sonst konnte ich die Arbeit nicht fortsetzen“ (BA 184). Die Habilitationsschrift wird schließlich am 8. Mai 1930 eingereicht (vgl. BA 183).5 Für das Colloquium schlägt Kommerell am 12. Mai 1930 drei Themen vor: „1. Goethisches und Jean Paulisches bei Stifter, 2. Gesellschaftstypen in Grimmelshausens Simplicissimus, 3. Hofmannsthal. Für den öffentlichen Vortrag käme einer der nicht gewählten Gegenstände in Betracht. Zu lesen denk‘ ich zweistündig über Jean Paul. Übungen denke ich abzuhalten, über Herder ebenfalls 2 stündig“.6 Am 7. Juli 1930 teilt Otto Kommerell mit, daß seine Habilitationsschrift angenommen wurde: Auch heute schreibe ich ziemlich abgehetzt, nach endloser Fakultätssitzung, aus der ich Ihnen aber doch – und heute noch – berichten muß, daß die Fakultät Ihre Arbeit angenommen hat und Sie bittet, zu den letzten Habilitationsleistungen in der nächsten Woche zu kommen. Sie erhalten noch eine offizielle Mitteilung. Aber

3

4 5

6

Zum vielschichtigen Verhältnis zwischen Habilitand und Betreuer allgemein siehe Brenner, Peter J.: Habilitation als Sozialisation, in: Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, hrsg. v. Peter Brenner, Frankfurt/M 1993, S. 318–356. DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 25.04.1930, Nachlaß Kommerell, A: 84.1601/1. Der für das Habilitationsverfahren eingereichte Lebenslauf vom 10. Mai 1930 zeigt an vielen Stellen Kommerells Naivität bei der eigenen Präsentation in offiziellen Situationen, vgl. z. B.: „Das 1. Studienhalbjahr hörte ich in Tübingen germanistische Vorlesungen, beschäftigte mich jedoch hauptsächlich mit Musik und Philosophie“, Universitätsarchiv Frankfurt, Pers.-Akte Kommerell, Bl. 73. Universitätsarchiv Frankfurt, Pers.-Akte Kommerell, Bl. 68.

VII.1 Kommerells Karriere bis 1939

341

ich wollte, daß Sie das Entscheidende gleich erführen und daß Sie es persönlich von mir zu hören bekämen. Also: Sie werden gebeten, am übernächsten Mittwoch, 16. Juli, Nachmittags 6 Uhr den Probevortrag vor der Fakultät zu halten, und zwar über das 2. der von Ihnen vorgeschlagenen Themen (Simplicissimus). Daran wird sich dann das Colloquium anschließen. In 1 ½ bis 2 Stunden wird alles vollendet und abgeschlossen sein. Ich freue mich sehr, nun sicher zu wissen, daß wir Sie in der Mitte der kommenden Woche wiedersehen werden, und daß wir Sie mit jenem Tage fest an uns binden.7

Die Freundschaft zu Otto, der zu dieser Zeit Dekan der Fakultät ist, begünstigt also das Habilitationsverfahren, das am 14. Juli 1930 erfolgreich abgeschlossen wird.8 Kommerell wird mit der „venia legendi für das Gesamtgebiet der deutschen Sprach- und Schrifttumsgeschichte unter Bevorzugung des neuhochdeutschen Schrifttums“ beauftragt.9 Er hält seine Antrittsvorlesung schließlich am 1. November 1930 über Hugo von Hofmannsthal (vgl. Kap. IV). Einfluß auf Kommerells Habilitationsschrift nimmt Andreas Heusler aus Basel (vgl. Kap. II). Der gute Kontakt setzt sich nach der Habilitation im Briefwechsel fort.10 Heusler schreibt im Rückblick 1937 über Kommerells Untersuchung: „Eine ungedruckte Arbeit legte mir Kommerell vor Jahren mal vor: sie bezog sich auf einen altdeutschen Gegenstand & war auch ‚nach rein fachlichem‘ Maszstab [sic] ausgezeichnet. Sie zeigte, daß Kommerell, wenn er wollte, auch so könnte“.11 Die Habilitationsgutachten werden von den Frankfurter Germanisten Franz Schultz und Hans Naumann, der später nach Bonn berufen wird, verfaßt. In seinem Gutachten vom 1. Juni 1930 würdigt Naumann die Arbeit als „eine sehr beachtenswerte, mit größtem metrischen Feingefühl durchgeführte Leistung“, auch wenn er an einzelnen Stellen zu abweichenden Urteilen kommt: „Was Kommerell im Muspilli als Fehler empfindet, empfinde ich als neuartige Reize. Dies aber und anderes mehr sind die gewöhnlichen Divergenzen, wie sie nun einmal zwischen Gelehrten bestehn, es sind keine Bedenken gegen den wissenschaftlichen Charakter der Arbeit und vielleicht hat Kommerell recht“.12 Naumanns Auseinandersetzung mit der Arbeit erfolgt sachlich und differenziert. Besonders lobt er die rhythmische Wahrnehmungsfähigkeit. Er thematisiert den Einfluß von Kommerells Lehrer Andreas

7 8 9 10 11 12

DLA Marbach, Brief Walter F. Otto an Kommerell vom 07.07.1930, Nachlaß Kommerell, A: 84.1601/2. Vgl. Hessisches Staatsarchiv Marburg (StAM), 305a Acc. 1978/15 Nr. 4054a. Vgl. Universitätsarchiv Frankfurt, Pers.-Akte Kommerell, Bl. 72. Vgl. DLA Marbach, Karte Andreas Heusler an Kommerell vom 29.03.1934, Nachlaß Kommerell, A: 84.1564. Das gesamte Gutachten zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 646. Das gesamte Gutachten zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 613–615, hier: S. 614.

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VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944

Heusler: „Ein langes Gespräch mit ihm [Heusler], das jede weitere Heranziehung seiner Person zu einem Gutachten absolut überflüssig macht, überzeugte mich, daß er sie [die Arbeit] anerkennt, und erleichterte mir das Urteil“.13 Wenn Naumann Kommerell einer der „metrischen Schulen“ zurechnet, zeigt sich eine später ähnlich vorgenommene Bewertung. Damit ist der Vorwurf verbunden, die anderen Schulen, und damit andere Strömungen der Forschung, zu mißachten. Dies wird deutlich als Mangel deklariert. Auf der anderen Seite entspringt dadurch das Lob, daß nur die Konzentration auf eine Position eine solche „vergeistigte Sachlichkeit“ möglich gewesen sei. Naumann findet „in der ganzen, mich hochbefriedigenden Wissenschaftshaltung, im ganzen geistigen Klima dieser Arbeit auch der Einfluß Georges“.14 Heusler als wissenschaftlicher und George als dichterischer Mentor hätten eine produktive Wirkung auf Kommerell: „Beide Komponenten haben hier zu einer Arbeit geführt, die man am besten, nicht um sie zu tadeln, sondern um sie zu adeln, als eine Mythologie der frühgermanischen Verskunst bezeichnen könnte“.15 Den von ihm schon länger gehegten Eindruck einer Verbindung zwischen Heusler und George empfindet Naumann „aufs glücklichste“ bestätigt. Zugleich wird Kommerells Individualität in Frage gestellt, wenn erklärt wird, daß in Kommerell die „Strukturverwandtschaft“ zwischen George und Heusler „leibhafte Gestalt“ angenommen hätte. Auch wenn Naumann mit der Formel einer „Mythologie der frühgermanischen Verskunst“ eine Aufwertung von Kommerells Arbeit beabsichtigt, bleibt jedoch zu fragen, ob er ihn damit nicht eher in eine esoterische Ecke rückt und in Frage stellt. Das zweite Gutachten ist von Franz Schultz, dem Ordinarius für neuere deutsche Literaturgeschichte in Frankfurt. Er urteilt am 25. Juni 1930 weitaus kritischer als Naumann. Das ist derselbe Schultz, der Walter Benjamins Habilitationsverfahren fünf Jahre zuvor scheitern ließ – in Schultz‘ Kritik liegt eine weitere Parallele zwischen Kommerell und Benjamin (vgl. Kap. III). Besonders an der Metapher, Kommerell würde in seiner Darstellung einen „feinen Faden [...] drehen“,16 zeigt sich die Erwartung, daß Wissenschaft als ‚zünftiges‘ Handwerk ausgeübt und nicht als ‚Schöngeisterei‘ betrieben werden solle. Auch wenn Schultz lobt, daß Kommerells Arbeit breit angelegt sei, nimmt er das Lob wieder zurück, indem er es auf die Perspektive der ‚Geistesgeschichte‘ und die „Mission des Dichters“ zurückführt. Mit der Verortung Kommerells in der „Gedankenbildung des Georgischen Kreises“ wird dem Autor ein Etikett verliehen, das ihn aufwertet, aber zugleich auf

13 14 15 16

Ebd. S. 614f. Ebd. S. 615. Ebd. S. 615. Das gesamte Gutachten zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 616. Dort auch die folgenden Zitate.

VII.1 Kommerells Karriere bis 1939

343

seine periphere Stellung im Fach, also auf seine ‚exklusive Randposition‘, verweist. Schultz‘ Ausführungen münden in dem abschließenden Urteil: „Alles in allem scheint mir die Arbeit in so hohem Maße für die Leistungsfähigkeit, den Geist und die Schulung des Verfassers zu sprechen, daß ich seine Zulassung zu den weiteren Habilitationsleistungen unbedenklich empfehle“. Wenn Schultz dem Fortgang des Verfahrens „unbedenklich“ gegenübersteht, beabsichtigt er lediglich, das weitere Verfahren nicht zu behindern, und erklärt sich bereit, es mit zutragen. Er drückt aber nicht aus, daß er es fördern will. Nachdem die Habilitation erfolgt ist, unterrichtet Kommerell einige Jahre lang als Privatdozent in Frankfurt. Er macht sich dabei die Veränderung der politischen Situation 1933 zu nutze. In einem Brief vom 26. Mai 1933 bittet Kommerell den Dekan Lommatzsch, für ihn einen Lehrauftrag zu beantragen. Lommatzsch stellt daraufhin am 15. Juni 1933 einen Antrag an das „Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ auf Erteilung eines „Lehrauftrag für deutsche Philologie, insbesondere deutsche Verslehre und Versgeschichte“.17 Kommerell verspricht sich von diesem Antrag besonders eine materielle Förderung. Bei der Begründung des Antrags fällt auf, daß gerade die Aspekte von Kommerells wissenschaftlichem Schaffen hervorgehoben werden, die Anknüpfungspunkte für den Nationalsozialismus bilden: Anstatt den Titel Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin auszuschreiben, wird er auf „Der Dichter als Führer“ verkürzt. Damit wird die literaturwissenschaftliche Studie stärker in einen politischen Kontext gestellt, als es

17

Universitätsarchiv Frankfurt, Pers.-Akte Kommerell, Bl. 53: „Für dieses Sondergebiet der Wissenschaft vom deutschen Vers und seiner Geschichte seit den Anfängen ist innerhalb der Fakultät ein wirkliches Bedürfnis vorhanden. Dr. Kommerell aber hat, abgesehen von seinen sonstigen Leistungen, gerade auf diesem Felde sich gründlichen und erfolgreichen Forschungen gewidmet. Dr. Max Kommerell, der bereits durch sein 1928 erschienenes Buch ‚Der Dichter als Führer‘ innerhalb der Fachwissenschaft und bei weiteren Kreisen des Publikums starke Beachtung gefunden hatte, hat sich Ende des Sommersemesters 1930 als Privatdozent für Germanischer [sic] Philologie mit einer Schrift über die ‚Stabreimtechnik des altgermanischen Heldenliedes‘ habilitiert. Seine Entwicklung seit seiner Habilitation berechtigt im Hinblick auf seine wissenschaftlichen wie auf seine Leistungen als Dozent zu den besten Hoffnungen. Seine Vorlesungen, bestimmt vornehmlich für die tiefer Strebenden unter den Studierenden, halten sich an die großen und entscheidenden Strömungen, Kunstformen und Persönlichkeiten des deutschen Geisteslebens und werden als ungewöhnlich anregend gerühmt. Seine wissenschaftlichen Arbeiten – naturgemäß einstweilen durch die ersten Schritte in der Dozentenlaufbahn während der letzten Jahre noch gehemmt – sind weiter gereift und führten zu einem jetzt in der Ausarbeitung begriffenen Buche über Jean Paul. Viel beachtet wurde sein im Druck erschienener Vortrag über ‚Jugend ohne Goethe‘, der ihn in lebendige Verbindung mit den Problemen und Nöten der heranwachsenden Generation zeigt. Da Herr Kommerell jetzt 3 Jahre habilitiert und seine materielle Lage schwierig ist, erscheint es als durchaus notwendig, daß er durch die Verleihung eines Lehrauftrages gefördert und ermutigt wird“.

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VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944

ursprünglich beabsichtigt war. Als weiteres Argument wird ein „Bedürfnis“ für das „Sondergebiet der Wissenschaft vom deutschen Vers“ angeführt. Um Kommerell den Anschein eines seriösen Wissenschaftlers zu geben, wird der Titel seiner Habilitation von „Stabkunst“ in „Stabreimtechnik“ [Herv. C.W.] geändert. Auffällig ist der Verweis auf Kommerells Vortrag Jugend ohne Goethe. Mit dem Ausdruck „lebendige Verbindung mit den Problemen und Nöten der heranwachsenden Generation“ wird ein praktischer Bezug zwischen Wissenschaft und Ausbildung der Jugend hergestellt. Bei diesem Antrag, der bewilligt wurde, wird deutlich, wie Kommerell versucht, von den politischen Verhältnisse der Zeit zu profitieren. Im folgenden wird ein anderer Aspekt von Kommerells Verhalten im Nationalsozialismus diskutiert. Ende 1933 wird er von den Nationalsozialisten mit dem „Wissenschaftsamt“ beauftragt, einem bei der Dozentenschaft angesiedeltem Amt, bei dem er die Äußerungen der Professoren außerhalb der Universität überwachen soll, wie er am 29. November 1933 Zimmer berichtet: „Ich [...] bereite einen Vortrag vor (Köln), und bin zum ‚Wissenschaftsamt‘ ernannt, sehr ohne mein Zutun. Also beschäftigt“.18 Er wird wahrscheinlich für dieses Amt ausgewählt, da er sich Anfang der 1930er Jahre positiv über den Nationalsozialismus geäußert hatte. Dies geht aus seiner Korrespondenz bis zum Frühjahr 1933 hervor. Seiner Schwester Hedwig schreibt er 1930: „Den ersten Band Hitler ‚Mein Kampf‘ las ich. Borniert, bäuerisch ungeschlachtet, aber in den Instinkten vielfach gesund und richtig. Die Leistung nötigt zum Respekt und in unsrem breiigen Zeitalter ist so eine Faust immerhin eine Wohltat. Hoffentlich bekomme ich auch den 2. Band mit dem eigentlichen Programm. Da, fürcht‘ ich, wirds hapern“ (BA 27f.). Das bedeutet, daß er Mein Kampf schätzt, weil dort gegen Prinzipienlosigkeit und für die Abschaffung der Republik eingetreten wird. Auf der anderen Seite findet er das Buch niveaulos und vermißt eine klare Programmatik. Am 10. Juli 1932 berichtet er Andreas Heusler: „Die Nazis – brave Jungen übrigens – haben neulich einen gewaltsamen Besuch bei uns abgestattet. Vielleicht hat sie geärgert, daß die Goethe-Universität wenigstens in ihrem philosophischen und soziologischen Bestand eine Brutstätte marxistischer Ideenmikroben ist“ (BA 26). Hier spielt Kommerell u. a. auf das Frankfurter Institut für Sozialforschung an, dessen ideologische Ausrichtung er ablehnt. Seine anfängliche pronationalsozialistische Haltung ist primär aus einem Antibolschewismus zu erklären. Im gleichen Brief heißt es weiter: „Ich stehe, seit Naumann weg ist, mit meiner Gesinnung etwas allein. Schade, daß der geistige Haushalt der Nazi[s] noch immer so sehr

18

DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich und Christiane Zimmer vom 29.11.1933, Nachlaß Zimmer, A: 74.116/5.

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nach Notbehelf riecht! Immerhin – die Centrumsherrschaft ist gebrochen, und eine Regierung da, derer man sich nicht schämt“ (BA 26f.). An dieser Stelle wird deutlich, daß es Kommerell in erster Linie um die Ablehnung der Weimarer Republik geht. Mit der geistigen Haltung der Nationalsozialisten kann er sich allerdings nicht identifizieren. An seine Schwester Jul schreibt er im Sommer 1932: „[...] freilich muß man sie [die Nazis] geistig aufbessern. Vielleicht mach ich noch einen Versuch“ (BA 27). Wie viele Vertreter der konservativen Revolution,19 der Kommerell nur bedingt zugerechnet werden kann, erliegt er dem Irrtum, nach dem Regierungsantritt noch Einfluß auf die Nationalsozialisten nehmen zu können.20 Am 16. September 1932 heißt es ebenfalls an seine Schwester Jul: „Ob sich aus der jetzigen Diktatur ein wirkliches Führertum entwickelt, in das die Nazis nolens volens als bewegte Masse einmünden [...], verfolge ich mit großer Spannung“ (BA 27). Hier entwirft er eine Dichotomie zwischen Führer und Masse. Die Nationalsozialisten zählt er zu der Masse, die, in Kommerells Sinn, eines wirklichen ‚Führertums‘ bedürften, das geistig sein solle. Am 9. April 1933 drückt er gegenüber Zimmer seine Zustimmung zum Regierungsantritt der Nationalsozialisten aus: „Die Gespräche [mit Walter F. Otto] sind bestimmt von den Ereignissen. Sie wissen, daß ich ihnen viel abgewinne“.21 Aus diesen Briefen spricht eine anfängliche partielle Übereinstimmung mit den Nationalsozialisten. Aufgrund dieser Aussagen kann Kommerells politische Einstellung als antidemokratisch und monarchisch-konservativ bezeichnet werden.22 Seine Zustimmung zum Nationalsozialismus ist also nicht durch faschistische oder antisemitische Einstellungen motiviert. Zwischen Ende 1933 und Mitte 1934 ereignet sich ein Vorfall, der bleibende Wirkung auf Kommerells Verhalten im Nationalsozialismus hinterläßt. Dabei handelt es sich um einen Radiovortrag Kurt Riezlers. Da dieser Vorfall nicht mehr aus den Quellen zu rekonstruieren ist – und daher auch nicht näher datiert werden kann –, bleiben nur die mit Vorsicht zu betrachtenden Erinnerungen von Kommerells Schülerin Dorothea Hölscher-Lohmeyer: Damals hatte ihn die Universität mit einem Amt betraut [...], wodurch er zuständig wurde für das außeruniversitäre Wirken aller Dozenten der Philosophischen

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Dazu siehe Mohler, Armin/ Weißmann, Karlheinz (Hgg.): Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, 6. völlig überarb. u. erw. Aufl., Graz 2005 und Breuer, Stefan: Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001. 20 Vgl. Breuer, Fundamentalismus, S. 235f. 21 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich und Christiane Zimmer vom 09.04.1933, Nachlaß Zimmer, A: 74.116/2. 22 Zu Kommerells Rolle im Nationalsozialismus siehe auch Kleinschmidt, Irrwege, S. 461– 482. Vgl. dagegen Hölscher-Lohmeyer, Vereinnahmter Kommerell, S. 536–538; dies., Lehrer, S. 558–571; und: Storck, Nochmals Kommerell, S. 539–540.

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Fakultät und also auch für einen Rundfunkvortrag des als Kurator der Frankfurter Universität gleich anfangs abgesetzten, aber als philosophischer Lehrer zunächst noch im Amt belassenen Kurt Riezler, des Schwiegersohns von Max Liebermann. Kommerell setzte sich für das Stattfinden dieses Vortrags über Sokrates gegen den Willen der Dozentenschaft ein: ‚Ich bedauerte, daß diesem sehr gescheiten und ernsthaften Mann eine solche, von der Universität abliegende, Möglichkeit der Äußerung genommen werden sollte‘, so seine wörtliche Begründung in einer späteren Verteidigungsschrift gegenüber der Anklage politischer Universitätsstellen – er setzte sich erneut ein, schließlich unter Androhung der Niederlegung seines Amtes – auch gegen das Votum des Gauleiters Sprenger – und wurde politisch verdächtig, verdächtig für den Rest seines Lebens.23

Mit dem Hinweis, daß Riezler mit der Tochter Max Liebermanns eine jüdische Frau hatte, suggeriert Hölscher-Lohmeyer implizit, daß sich Kommerell gegen ethnische Diskriminierungen stark gemacht habe. In dieser Situation geht es ihm allerdings weniger um den Schutz eines Kollegen, der aufgrund seiner Ehe mit einer Jüdin bedroht sein könnte, als vielmehr um Hilfe für einen intellektuellen Freund und um die relative Unabhängigkeit der Wissenschaft gegenüber der Politik. Die von Hölscher-Lohmeyer erwähnte „Verteidigungsschrift“ ist trotz intensivster Recherchen im DLA Marbach nicht mehr aufzufinden. Auch in den Universitätsarchiven in Frankfurt und Marburg finden sich keine Belege, die Hölscher-Lohmeyers Behauptung stützen. Einzig im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München gibt es ein Berufungsgutachten, in dem der Vorfall um den Riezler-Vortrag angesprochen und so zumindest seine Existenz bestätigt wird. Der Reichsleiter der Deutschen Dozentenschaft, Reischauer, schreibt am 3. Januar 1935 an das Reichserziehungsministerium: „Er [Kommerell] hatte kurze Zeit ein Amt in der Dozentenschaft inne, mußte aber abgesetzt werden, da er das Amt dazu mißbra[u]chte, Politik auf eigene Faust zugunsten seines Kreises (insbesondere des berüchtigten früheren Kurators Riezler) zu treiben“.24 Kurt Riezler spielt ebenfalls auf diesen Vorfall an, wenn er Kommerell in einem undatierten Brief warnt: „Lassen sich’s sehr gut gehen, geraten Sie nicht über irgend eine Kleinigkeit in eine Schußlinie“.25 Die Abwendung vom Nationalsozialismus, die mit der Riezler-Affäre einsetzt, hat Inge Jens vor allem auf den Einfluß von Karl Reinhardt zurück-

23 Hölscher-Lohmeyer, Lehrer, S. 560. Auch Hammerstein bietet keine Informationen, die über die Darstellung von Hölscher-Lohmeyer hinausgehen, vgl. Hammerstein, Frankfurt, S. 109f. 24 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA), Akten des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, Universität Würzburg. Philosophische Fakultät. Ordentliche Professur für neuere deutsche Literaturgeschichte, Bd. II, Mk 72596. Die Signatur bei Dainat, Berufungsverfahren, S. 70–77, ist nicht mehr aktuell. 25 DLA Marbach, Brief Kurt Riezler an Kommerell o. D., Nachlaß Kommerell, A: 84.1617/2.

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führt.26 Wegen der Affäre gilt Kommerell bei den Parteistellen als politisch nicht genehm und ist in Berufungsverfahren mit Widerständen konfrontiert, wie im folgenden zu zeigen sein wird. Nach dieser Erfahrung bezieht er nicht mehr öffentlich gegen den Nationalsozialismus Stellung.27 Kommerells Verhalten gegenüber dem nationalsozialistischen Regime ist fortan durch ein Lavieren zwischen Annäherung und Distanz gekennzeichnet.28 VII.1.2 Sommer 1934: Vertretung in Bonn, auf den Berufungslisten in Kiel und Würzburg Im Sommersemester 1934 übernimmt Kommerell die Vertretung des Lehrstuhls von Oskar Walzel an der Universität Bonn.29 Der Auftrag kommt kurzfristig, seinem Freund Zimmer kann er in einem undatierten Brief von Anfang Mai 1934 erst einen Tag vor seiner Abreise davon berichten: Und nun kommt eine neue Sensation: Ich muß morgen, mit Weib und Kind, nach Bonn fahren, wo ich für [das] Sommersemester den emeritierten Walzel vertreten soll. Es scheint mir dies meine bürgerliche Rettung (die ich, als Butterbrod und Hosenbandsorden, nicht gering schätze sondern gebührend), ja, ein Signal, daß ich weiterhin im Vaterland wirken werde – aber meinem Ich ist nicht wohl dabei, welches, müde, als Tropfenzentrum immer neuer Seifenblasen durch die Luft zu fliegen, und als lachende Träne ihr Zerschellen zu genießen, endlich einmal in der Welt wohnen wollte, d. h. in der Stille. Und nun bildet sich schon eine neue, viel zu große, und zu wenig farbige, mit wenig Täuschungskraft und deutlichem Seifengeruch – und dabei hat Gott doch die Seife geschaffen als Gegendreck gegen den Dreck an unsrem Leib (welcher von den Christen ebenfalls als Dreck bezeichnet wird) – und nicht als Lügenmaterie zu Schaumglobussen. Bitte schreiben Sie mir

26 Vgl. Jens, Kommerell, S. 28. 27 Um sich bei den Parteistellen wieder gutzustellen, veranstaltet Kommerell ein Wanderlager mit Studenten, vgl. DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 21.06.1936, Nachlaß Zimmer, A: 74.119/7: „Wenn es, woran ich kaum zweifle, bei den Ämtern durchgeht, so muß ich es tun; da es die einzige mir innerlich mögliche Gelegenheit ist, mich in meiner Geltung etwas zu befestigen. Ich habe es nämlich nötig“. 28 Dies zeigt sich auch anhand eines bisher unbekannten Falles, der sich aus den Akten des Berlin Document Center ergibt: Kommerell tritt am 12. Dezember 1933 freiwillig dem Reichsverband Deutscher Schriftsteller bei, versucht aber, nachdem er am 18. Dezember 1933 erfahren hat, daß der Lehrkörper der Universität korporativ der Schrifttumskammer beitreten müsse, sein Beitrittsgesuch zurückzuziehen. Damit hat er jedoch keinen Erfolg und zahlt nach einem zwei Jahre währenden Briefwechsel schließlich am 16. Dezember 1935 den geforderten Mitgliederbeitrag in Höhe von 5,40 Mark. Vgl. Bundesarchiv Berlin, Berlin Document Center, RSK II, I 294, 2531–2604. Es geht ihm es also darum, Auswege zu suchen und die Vorschriften nur, wo äußerst nötig, zu befolgen, sich aber letztendlich konform zu verhalten. 29 Zur Geschichte der Universität Bonn im Nationalsozialismus siehe Höpfner, Hans-Paul: Die Universität Bonn im Dritten Reich. Akademische Biographien in der Zeit des Nationalsozialismus, Bonn 1999.

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nichts Weises auf dies Dumme, sondern temperieren Sie Ihre Weisheit nach meiner Torheit. (BA 269)

Kommerell reflektiert seine Doppelexistenz als Wissenschaftler und Schriftsteller und kann beiden Seiten etwas Positives abgewinnen. In einem Brief an seinen Verleger Vittorio Klostermann vom 12. Mai 1934 spricht er den Begriff sogar direkt aus: „Nur: Calderon muß zurücktreten. Hier geht die Doppelexistenz nicht durchzuführen, wenigstens fürs erste nicht“.30 In Bonn freundet sich Kommerell mit Ernst Robert Curtius an, wie im sechsten Kapitel dieser Arbeit beschrieben wurde. Außerdem trifft er erneut auf Hans Naumann, der in Frankfurt eines der beiden Habilitationsgutachten verfaßt hatte und mittlerweile nach Bonn gewechselt ist. Vielleicht wurde Kommerell durch ihn in Bonn ins Spiel gebracht. Das Verhältnis zwischen beiden bleibt ambivalent, wie Kommerell Klostermann am 25. Juli 1934 berichtet: „Naumann bekam mein Volkslied31 sogleich verehrt, behauptete dadurch bereichert zu sein, und machte einige Einwendungen, die jedenfalls freundlicher waren als mein Schweigen zu seinem, wirklich hohlen, ‚germ. Schicksalsglauben‘.32 Meine Beziehung zu ihm hat sich hier eher günstig gestaltet. Trotzdem: eine Ahnung wird ihm wohl sagen, daß ich ebensowenig an ihn glaube wie er selbst!!“33 Naumann lobt 1936 Kommerells Vorlesungen außerordentlich, siedelt jedoch seine Persönlichkeit zwischen Genie und Wahnsinn an: „Kommerells Bonner Vorlesungen waren manchmal begnadet und manchmal verflucht, wie sein ganzes Wesen, denn er war besessen von dem heißen Wunsche, für immer hier zu bleiben, und so raste mit allen Licht- und Schattenseiten sein Genie in Goethes Lyrik, dann auch einmal in Schiller. Aber die Leute haben jedesmal davon viel gehabt...“.34 Mit dem Lehrstuhl Walzels hat Kommerell die Vertretung eines renommierten Forschers, der im weiteren Umfeld des George-Kreises steht, übernommen. Zu einer Berufung nach Bonn kommt es nicht, weil Gerhard Fricke, Rudolf Fahrner und Benno von Wiese vor ihm auf der Liste plaziert werden.35 Kommerell bedauert bereits am 25. Juli 1934 gegenüber Klostermann: „Priv-dozentlich nach Frankfurt zurückzukehren hätte etwas ‚Begossenes‘, doch würde ich auch an dieser Situation Reize ausfindig machen, da

30 DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 12.05.1934, Nachlaß A: Klostermann. 31 Gemeint ist Kommerell, Max: Das Volkslied und das deutsche Lied, in: JbFDH 1932/33, S. 3–51. 32 Gemeint ist Naumann, Hans: Germanischer Schicksalsglaube, Jena 1934. 33 DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 25.07.1934, Nachlaß A: Klostermann. 34 Das gesamte Gutachten zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 644. 35 Vgl. Dainat, Berufungspolitik, S. 68.

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ich mit Händen greife, wie der Erfolg die Menschen zu Affen verhunzt, ist ein Mißerfolg auch nicht schlimm“.36 Nachdem Fricke einen Ruf nach Kiel annimmt, wird der Bonner Lehrstuhl gegen den Willen der Fakultät mit dem regimetreuen Karl Justus Obenauer besetzt.37 Im Sommer 1934 ist Kommerell an zwei weiteren Universität im Gespräch: Kiel und Würzburg. Kiel kann im Hinblick auf die Anpassung im Nationalsozialismus als ‚Vorzeigeuniversität‘ angesehen werden. Viele dort lehrende Juristen werden später bei der Verwaltung der besetzten Gebiete eingesetzt. Paul Ritterbusch, der 1935 den Chemiker Karl Lothar Wolf als Rektor ablöst, leitet ab 1940 den sog. ‚Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften‘, der nach ihm ‚Aktion Ritterbusch‘ benannt wird. Als ehemaliges Mitglied des George-Kreises kommt Kommerell für die Kieler Universität, an der bereits Friedrich Wolters und Kurt Hildebrandt lehrten, in Frage. Hinzu kommt der Einfluß von Hans-Georg Gadamer, der Ende 1934 selbst in Kiel vertritt. Gadamer setzt sich allerdings vergeblich für ihn ein, wie er ihm in einem undatierten Brief aus dem Wintersemester 1934/35 berichtet: „Ich habe es nicht an – örtlich erfolgreichen – Anstrengungen fehlen lassen, uns schon in Kiel und in für Sie erfreuliche Stellung zusammenzuführen, daß Ihr Auftreten auf der Kieler Liste Kiel nicht mehr geholfen hat, und vielleicht sind Sie auch ganz froh, nicht in diese für Sie stark belastete Atmosphäre Kiel zu treten“. Danach schildert er das Kieler Universitätsmilieu um 1934: Mir geht es dabei hier nicht übel. Hildebrandt ist ein so vornehmer Mensch, daß mein philosophischer Umgang mit ihm etwas Erfreuliches behält, auch wenn ich über die dogmatische Einfachheit seiner Gesichtspunkte manchmal ungeduldig werden möchte. Als Lehrer bewährt er sich übrigens auch besser als ich gedacht hatte. Er gibt den Studenten auf sehr einfache Weise eine erste Orientierung. Pakkend ist er nun freilich nicht, aber der Ernst, mit dem er sich müht, seine neue Aufgabe zu erfüllen, hat doch etwas für jeden Eindrucksvolles. Meine hiesige Arbeit ist wesentlich anders als in Marburg. Theologen oder Neuphilologen, wie in Marburg, kümmern sich kaum um Philosophie, wohl aber die Naturwissenschaftler. Der jetzige Rektor, physikalischer Chemiker, ist die Triebkraft. So fand ich für meine Studien zur antiken Naturphilosophie und zur Entwicklung der modernen Naturwissenschaft bereit[et]en Boden. Leider ist die Aussicht, hierher berufen zu werden, nicht sehr groß. Das Ministerium steht schon in Verhandlung mit Ipsen in Königsberg, und nur, wenn das scheitert, komme ich in Frage. Die allgemeine Baisse des Studienbetriebs macht sich hier auch sehr fühlbar, aber ich bin es nun schon vom vorigen Sommer her gewohnt, vor leeren Bänken zu stehen und habe durch die hiesigen ‚Arbeitskreise‘ und Übungen immerhin Zugang zu den relativ besten unter dem dezimierten studentischen Kreis. Wer ‚vertritt‘ denn heuer in

36 DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 25.07.1934, Nachlaß A: Klostermann. 37 Vgl. Dainat, Berufungspolitik, S. 69.

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Frankfurt die Philosophie? Krüger hatte das Glück, ehrenvoll in Marburg bleiben zu können. Ihr mir so abholder Schwiegervater [Walter F. Otto] geht ja wohl jetzt nach Königsberg. Vielleicht kann er dort etwas für Krüger tun, wenn Ipsen von dort nach Kiel gehen sollte.38

Gadamers Bemühungen bewirken immerhin, daß das Reichserziehungsministerium eine Anfrage an den Kieler Rektor Wolf stellt, ob die vorgeschlagene Liste um Kommerell erweitert werden könne. Wolf leitet die Anfrage an den Dekan der Philosophischen Fakultät, Buddenbrock, weiter. Der stellt in seiner Antwort vom 2. Juli 1934 klar, daß die Fakultät an ihrer Liste mit Gerhard Fricke, Justus Obenauer und Hermann Gumbel festhalten wolle und Kommerell nur als vierten Kandidaten in Erwägung ziehe: „Wenn keiner der vorgeschlagenen Herren für Kiel in Betracht kommen sollte, dann sieht die Fakultät allerdings in Herrn Kommerell einen der für den Lehrstuhl Nächstqualifizierten“.39 Mit Frickes Wechsel von Berlin nach Kiel wird ein junger Germanist berufen, der aufgrund einer besonderen Mischung aus wissenschaftlicher Qualifikation und Anpassungsbereitschaft an den Nationalsozialismus eine steile Karriere macht.40 Während die Verhandlungen noch im Gang sind, setzt sich jedoch der Rektor Wolf dafür ein, Kommerell vor Obenauer und Gumbel zu berufen, falls Fricke absage: „Ich würde im Falle einer Ablehnung des bereits ergangenen Rufes durch Herrn Fricke eine Berufung von Herrn Kommerell dringend für erwünscht halten und würde meinerseits im Interesse einer einheitlichen Gestaltung der Kieler Universität darum bitten, daß Herr Kommerell den Herrn [sic] Obenauer und Gumbel vorgezogen wird“.41 Es hätte also nur einer Ablehnung Frickes bedurft, und Kommerell wäre schon in der ersten Hälfte der 1930er Jahre auf ein Ordinariat berufen worden. Voraussetzung dafür ist eine spezifische Konstellation, in der Herkunft aus dem George-Kreis, Wissenschaftskunst und Hang zum Essayismus keine Ausschlußkriterien bilden. Eine solche Konstellation ist in Kiel, wie sich schon am Beispiel von Friedrich Wolters gezeigt hat, gegeben.

38 DLA Marbach, Brief Hans-Georg Gadamer an Kommerell o. D. [WS 1934/35], Nachlaß A: Gadamer. Vgl. ebd.: „Eben höre ich bei Hildebrandt via Reinhardt, daß Sie heuer wieder in Frankfurt sind. Sie können sich denken, daß mir diese Nachricht, wiewohl sie Ihnen nicht die Erfüllung von Wünschen sein wird, etwas Frohes ist: so sind Sie wieder mehr in Marburgs Nähe, und wenn ich auch zur Zeit selber – leider – von Marburg fort bin, so komme doch auch ich zurück und hoffe so sehr, daß wir uns – wenn nicht in der Weihnachtsferien, so doch bestimmt nach Semesterende – sehen“. 39 Das gesamte Schreiben zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 633. 40 Vgl. Dainat, Berufungen, S. 66. 41 Das gesamte Schreiben zit. bei Kolk, Gruppenbildungen, S. 634.

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Die zweite Hochschule, an der Kommerell 1934 in Erwägung gezogen wird, ist die Universität Würzburg. Die Darstellung des gesamten Berufungsverfahrens kann hier knapp gehalten werden, da sie bereits von Holger Dainat ausführlich herausgearbeitet wurde.42 Hier stehen nur die Entwicklungen in Bezug auf Kommerell im Vordergrund. In Würzburg kommen Paul Böckmann, Heinz Kindermann, Max Kommerell, Günther Müller, Josef Nadler, Walther Rehm, Karl Viëtor und Benno von Wiese in Frage. Eine erste Liste, die nicht erhalten ist, wird Ende Juli 1934 eingereicht. Nachdem Rehm wegen politischer Vorbehalte ausgeschlossen wird, werden verstärkt Gutachten über einen gewissen „Dr. Komorell“ eingeholt.43 Am 26. Oktober 1934 stellt das bayerische Kultusministerium eine Anfrage an Ernst Krieck (1882–1947), ein führender Vertreter der NS-Pädagogik, wie der Kandidat in „wissenschaftlicher und weltanschaulicher Hinsicht“ zu bewerten sei.44 Am 30. Oktober 1934 kommt Krieck, der von 1933 bis 1934 Rektor der Universität Frankfurt und seit 1934 Professor für Philosophie und Pädagogik in Heidelberg ist, zu folgender Bewertung: Kommerell ist mir seit einer ganzen Reihe von Jahren persönlich und aus seinen größeren wissenschaftlichen Arbeiten (Der Dichter als Führer; Jean Paul) bekannt. Es kann keinen Zweifel unterliegen, daß K. ein sehr kenntnisreicher, tüchtiger, weite Zusammenhänge überschauender Gelehrter ist. Haltung, Weltanschauung und politische Richtung ist bestimmt durch die enge Zugehörigkeit zum GeorgeKreis, der in Frankfurt durch eine ganze Kolonie vertreten war (die Altphilologen Reinhardt u. Otto, dessen Schwiegersohn Kommerell, den Juden Kantorowicz, den Kurator Riezler als Hospitanten.) Aus diesen Zusammenhängen haben sich allerlei Schwierigkeiten ergeben, auch aus entsprechender Haltung bei Kommerell. Es kann aber m. E. daraus ein entscheidender Einwand gegen K. nicht hergeleitet werden. Vielmehr glaube ich, daß K. von seinem Arbeitsgebiet her für die kommende Zeit noch wichtige Dinge zu sagen haben wird.45

Die politische Haltung bestimmt also nicht das Ausschlußkriterium, der wissenschaftliche Qualifikation wird Priorität eingeräumt. Am 3. Januar 1935 stellt jedoch der ehemalige Frankfurter Dozentenschaftsführer Reischauer Kommerells politische Eignung in Frage und rechnet ihn „einer Clique von schöngeistigen Erzliberalisten [zu], die dem Nationalsozialismus eindeutig feindlich gegenüberstanden“.46 Aufgrund der unterschiedlichen Urteile wendet

42 Vgl. Dainat, Berufungspolitik, S. 70–77. 43 BayHStA, Rektor der Universität Würzburg an Bayer. Min. f. Unt. u. Kult. vom 19.09.1934, Mk 72596. 44 BayHStA, Bayer. Min. f. Unt. u. Kult. an Ernst Krieck vom 26.10.1934, Mk 72596. 45 BayHStA, Ernst Rieck an Bayer. Min. f. Unt. u. Kult. vom 19.09.1934, Mk 72596. In Auszügen zitiert bei Dainat, Berufungspolitik, S. 73. 46 BayHStA, Reichsleitung der Deutschen Dozentenschaft an Reichserziehungsministerium vom 03.01.1935, Mk 72596: „Auf Ihre Anfrage über den früheren Frankfurter Priv.

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VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944

sich das bayerische Kultusministerium an das Reichserziehungsministerium,47 das wiederum Alfred Baeumler (1887–1968) einschaltet, einen weiteren führenden NS-Pädagogen. Baeumler ist seit 1933 Professor für Philosophie und politische Pädagogik in Berlin und Direktor des Instituts für politische Pädagogik. In seinem Gutachten vom 15. Januar 1935 lehnt er Kommerell als Kandidaten eindeutig ab, da ihm die wissenschaftliche Qualifikation und das menschliche Format fehle: Jean Paul sei „nicht eine wissenschaftliche Darstellung“ und das „völlige Versagen Kommerells vor der Wirklichkeit einer menschlichen Gestalt“ evident.48

Doz. Kommerell kann ich als früherer Führer der Frankfurter Dozentenschaft folgende Auskunft erteilen: Kommerell gehörte in Frankfurt einer Clique von schöngeistigen Erzliberalisten an, die dem Nationalsozialismus eindeutig feindlich gegenüberstanden. Seine Zugehörigkeit zu diesem Kreis lag durchaus in seinem eigenen Charakter begründet, sie war nicht erst durch seinen ebenfalls dorthingehörenden (aber mensch. erfreulicheren) Schwiegervater (Otto) herbeigeführt. [...] Ich halte K. nicht für fähig, sich so in die Kameradschaft des deutschen Volkes einzuordnen, wie es von einem Hochschullehrer zu verlangen ist. Seine wissenschaftlichen Fähigkeiten kann ich nicht beurteilen. Sollten diese besonders hoch sein, so käme an einer Hochschule für ihn als Lehrer, meiner Meinung nach, höchstens ein peripheres Gebiet in Frage, das ihn nur mit menschlich bereits ausgerichteten Studenten in Verbindung brächte“. In Auszügen zitiert bei Dainat, Berufungspolitik, S. 73. 47 BayHStA, Bayer. Min. f. Unt. u. Kult. an Reichserziehungsministerium o. D., Mk 72596: „Unter den Persönlichkeiten, die für eine Berufung auf die o. Professur für Literaturgeschichte an der Universität Würzburg in Frage kommen, befindet sich auch Privatdozent Dr. Max Kommerell in Frankfurt. Die Fakultät, die ihn nicht auf ihre Liste gesetzt hat, hat berichtet, er sei im Sommersemester 1934 mit der Vertretung der neueren deutschen Literaturgeschichte an der Universität Bonn beauftragt gewesen, jedoch jetzt nicht zum Nachfolger ernannt worden; vor einiger Zeit habe er ernste Schwierigkeiten mit der Dozentenschaft der Universität Frankfurt gehabt. Der Führer der Dozentenschaft der Universität Bonn dagegen hat für Dr. Kommerell nach der wissenschaftlichen und nach der weltanschaulichen Seite ein günstiges Gutachten abgegeben; er hat dabei allerdings betont, daß Dr. Kommerell eine starke innere Abhängigkeit vom Stephan George – Kreis [sic] zeige. Das letztere hat auch Professor Dr. Krieck, Heidelberg bemerkt, der im übrigen Dr. Kommerell, den er von Frankfurt her kennt, günstig beurteilt; er nimmt an, daß ‚Dr. Kommerell von seinem Arbeitsgebiet her für die kommende Zeit noch wichtige Dinge zu sagen haben werde‘. Ich wäre Ihnen nun sehr dankbar, wenn Sie mir sobald als möglich Ihr Urteil über die wissenschaftliche und weltanschauliche Bewährung des Dr. Kommerell bekanntgeben und mir dabei mitteilen könnten, welcher Art die Schwierigkeiten die Genannten mit der Dozentenschaft in Frankfurt waren und weshalb er nach der Vertretungszeit an der Universität Bonn nicht dorthin berufen worden ist“. 48 BayHStA, Alfred Baeumler an Reichserziehungsministerium vom 15.01.1935, Mk 72596: „Dem nachfolgenden Urteil liegen die letzten Veröffentlichungen Max Kommerells über ‚Jean Paul‘ und ‚Schiller als Gestalter des handelnden Menschen‘ zugrunde. Eine Deutung Jean Pauls und seiner Welt gehört sicher zum Schwersten, was die Literaturwissenschaft unternehmen kann. Ganz gleich, wie weit die Deutung gelangt – sie muß jedenfalls aus der Welt Jean Pauls heraus erfolgen. Die Arbeit Kommerells ist der Form nach eine Sammlung von Einfällen bei Gelegenheit von Jean Paul, nicht eine wissenschaftliche Darstellung. Der Ehrgeiz des Verfassers ist nicht darauf gerichtet, was sage ich, sondern:

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Mit Krieck und Baeumler sind zwei Professoren am Würzburger Berufungsverfahren beteiligt, die als offizielle Repräsentanten der wissenschaftlichen Vertretung der NS-Ideologie an den Hochschulen angesehen werden können. Da ihre Gutachten unterschiedlich ausfallen, setzt sich das schärfer formulierte Gutachten Baeumlers durch. Krieck und Baeumler greifen als außerfachliche Gutachter in das Verfahren ein. Damit wirken hier politisch motivierte Urteile auf die wissenschaftsinternen Entwicklungen ein. In Würzburg werden auf einer zweiten Liste schließlich Paul Böckmann, Benno von Wiese und Johannes Alt genannt, der rückwirkend zum 1. April 1936 berufen wird. Außerdem ist Kommerell 1935 im Gespräch um die Nachfolge des Hölderlin-Herausgebers Franz Zinkernagel in Basel. Andreas Heusler, der die Habilitationsschrift gefördert hatte, stellt 1937 rückblickend fest: „Es hätte mich gefreut, wenn es damals gelungen wäre, ihn als Nachfolger Zinkernagels zu gewinnen“.49 Die Fakultät nennt 1935 auf der Liste fünf Kandidaten primo loco: Karl Viëtor, Walther Rehm, Max Kommerell, Wilhelm Altwegg und Walter Muschg, der als jüngster Schweizer den Vorzug vor den deutschen Kandidaten erhält.50 VII.1.3 Vertretung in Gießen WS 1935/36 und die Ernennung zum außerordentlichen Professor 1939 In diesem Abschnitt werden zuerst Kommerells Vertretung in Gießen dargestellt und dann die Gutachten für seine Ernennung zum außerordentlichen

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wie sage ich’s. Weder die geistesgeschichtliche Lage noch die dichterische Welt des fränkischen Genies wird sichtbar. Ein fi ktives Subjekt, das hier Jean Paul genannt wird, steht im Vordergrund. In einer gänzlich unlebendigen, rein literarischen, gequälten und künstlichen Sprache wird verkündet, was Kommerell bei Jean Paul eingefallen ist. Geistreiche Einzelbeobachtungen fehlen nicht. Aber alles bleibt wie von außen und aus der Ferne gesehen. Ein solches Werk vermag niemals schulbildend zu wirken, es sei denn in einem kleinen Kreise solcher, die sich im Medium einer volksfremden Geheimsprache verstehen. Das völlige Versagen Kommerells vor der Wirklichkeit einer menschlichen Gestalt, der Ersatz einer aus anschauender Bemächtigung des Stoffes sich ergebenden Methode durch ‚literarische‘ Pseudogestaltung tritt in der Festrede auf Schiller im engeren Rahmen genau so hervor wie im weiteren Rahmen des Jean Paul-Buches. Im Grunde gibt es für Kommerell gar keine durch die Aufgabe gesteckten Rahmen: er ist immer derselbe – unbegreiflich bleibt es, wie ein Mensch, der in der Zeit eines großen Handelnden wie Adolf Hitler lebt, so wenig klar und so unpolitisch vom handelnden Menschen reden kann. Ich halte es für unmöglich, dem Epigonen Grundolfs [sic] einen Lehrstuhl im Staate Adolf Hitlers anzuvertrauen“. In Auszügen zitiert bei Dainat, Berufungspolitik, S. 73. Das gesamte Gutachten zit. bei Kolk, Gruppenbildung, S. 646. Vgl. Pestalozzi, Karl: Walter Muschg, in: König/Müller/Röcke, Porträts, S. 199–210, hier: S. 199.

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Professor betrachtet, um einen Eindruck zu vermitteln, welchen Stellenwert Kommerell in seinem Fach um 1937/38 einnimmt. Kommerell übernimmt eine Vertretungsprofessur an der Universität Gießen.51 Im Wintersemester 1935/36 vertritt er Karl Viëtor (1892–1951), der dort Professor für deutsche Literaturgeschichte und Nachfolger des seit 1925 in Leipzig lehrenden Hermann August Korff ist. Mit einer Jüdin verheiratet, muß Viëtor später in die USA emigrieren. Bereits im Wintersemester 1935/36 tritt er eine Gastprofessur an der Harvard University an, wo er schließlich bis zu seinem Lebensende lehrt.52 Kommerell berichtet seinem Freund Ernst Kayka am 20. Dezember 1935 von seiner Vertretungsprofessur: „Ich habe jetzt ein paar Tage Ruhe (das Semester war überbewegt; ich vertrat Viëtor in Gießen), und verliere mich in alte und neue Leidenschaften. [...] Ich hätte für Monate Geschäfte, aber am 6. Januar beginnt der Turnus wieder“.53 Im Gießener Semester hält er die Lehrveranstaltungen über Heinrich von Kleist und Märchen und Märchendichtung.54 Trotz des Vertretungssemesters wird er jedoch nicht nach Gießen berufen. Statt dessen erhält ein anderer Germanist erst die Vertretung für das Sommersemester 1936 und schließlich die Professur: Es ist Walther Rehm, der 1923 mit einer Arbeit über Das Werden des Renaissancebildes in der deutschen Dichtung vom Rationalismus bis zum Realismus bei Hans Heinrich Borcherdt in München promoviert wurde und sich 1928 über den Todesgedanken in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik55 bei Walther Brecht habilitiert hatte.56 Wie in Würzburg stehen also Rehm und Kommerell auch in Gießen in einem Konkurrenzverhältnis (vgl. Kap. VII.1.2).

51

Zur Geschichte der Universität Gießen im Nationalsozialismus siehe Ramge, Hans/ Wiedermann, Conrad (Hgg.): Germanistik in Gießen 1925–1945, Gießen 1982. 52 Vgl. Universitätsarchiv Gießen, PrA Phil 29; Zelle, Carsten: Karl Viëtor, in: IGL 3, S. 1943–1946; und: Bäumler, Ruth/ Bender, Eva M./ Weissrock, Katharina: Karl Viëtor. Zum näheren Verständnis eines Gießener Germanisten, in: Ramge/Wiedemann, Gießen, S. 71–86. 53 DLA Marbach, Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 20.12.1935, Nachlaß Kommerell, A: 84.1479/2. 54 Vgl. Strebel, Kommerell, S. 286. Siehe auch Lorenz, Wolfgang/ Lüdemann, Gabi: Chronologischer Abriß zum universitären Hintergrund von 1933–1940, in: Ramge/Wiedemann, Gießen, S. 4–18. 55 Vgl. Rehm, Walther: Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik [1928], Tübingen 21967. 56 Zu Rehm siehe Herrmann, Hans Peter: Walther Rehm, in: IGL 3, S. 1473–1475; Schneider, Lothar/ Schubert, Annedore: Walther Rehm (1901–1963). Ein klassischer Germanist in Gießen 1937–1943, in: Ramge/Wiedemann, Gießen, S. 53–70; Osterkamp, Ernst: Klassik-Konzepte. Kontinuität und Diskontinuität bei Walther Rehm und Hans Pyritz, in: Barner/König, Zeitenwechsel, S. 150–171; und: Schlott, Michael: Wertkontinuität und Werkkontinuität. Die Funktion der „Klassik“ bei Walther Rehm, in: Barner/König, Zeitenwechsel, S. 171–181.

VII.1 Kommerells Karriere bis 1939

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Kommerell hat sich mit Rehms Schriften kritisch auseinandergesetzt. Schon 1930 bewertet er Rehms Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung noch in Georgescher Kleinschreibung im Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur: wer freilich die herleitung des romantischen unendlichkeitsbegriffes aus Fichtes und Schillers lehren (und dem metaphysisch ausgedeuteten Wilhelm Meister!) verfolgt, der kann die etwas apriorische gleichung klassisch : romantisch = rational : irrational nicht nachsprechen. er wittert den intellectuellen ursprung romantischer religiosität und vermißt vielleicht an dieser darstellung die feinere, durch die vielfältigen romantischen masken dringende psychologie. Es ligt [sic] an der grundsätzlichen stellungnahme des verf.s, dessen voreingenommenheit für die mystische und metaphysische richtung sich allerorts verrät, dass er dem t.[odesgedanken] Goethes nicht ganz gerecht wird.57

Außerdem kritisiert Kommerell Rehms methodisches Vorgehen: „Der grundsatz, personen, werke, ja zeiten nicht aus sich, sondern constructiv innerhalb eines geistesgeschichtlichen coordinatensystems zu begreifen, verführt auch R.[ehm] zu verschwommenheit des wortgebrauchs und zu flüchtigkeiten des denkens“.58 Und noch 1943 bedauert Kommerell in einem Brief vom 10. Juli 1943 an Hans-Georg Gadamer mit Bezug auf Rehms Aufsatz Über Tiefe und Abgrund in Hölderlins Dichtung, der in der Tübinger Hölderlin-Gedenkschrift erscheint (vgl. Kap. VIII): „Was sagen Sie zu Rehm? Ich verstehe absolut nicht, was er mit dem Abgrund will“ (BA 423). Rehm, der sich ebenfalls von der geistesgeschichtlichen zur textnahen Literaturwissenschaft wenden wird, stellt eine Parallelfigur zu Kommerell dar. Immerhin hat die Vertretung in Gießen zur Folge, daß Ende 1936 in Frankfurt Bemühungen in Gang gesetzt werden, Kommerell „zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor“ zu ernennen.59 Mit diesem Anliegen wendet sich der Frankfurter Dekan Hans-Hermann Glunz am 23. November 1936 an Hans Naumann in Bonn: „Da die Entscheidung über einen solchen Antrag an die Voraussetzung geknüpft ist, daß der Betreffende wissenschaftlich wie seiner Lehrbegabung nach zur Uebernahme eines Ordinariats für fähig erachtet werden kann, wäre ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet wenn Sie als Fachvertreter in Bonn, wo Dr. Kommerell ein Semester lang die Neuere Literaturgeschichte vertreten hat, uns in einem Gutachten ihr Urteil übermitteln wollten. Da Sie seinerzeit mit an der Habilitation Herrn Dr. Kommerells beteiligt waren, wäre uns Ihre offene und ausführlicher begrün-

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Kommerell, Max: Rez. zu Walther Rehm: Der todesgedanke in der deutschen dichtung vom mittelalter bis zur romantik, in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 49 (1930), S. 31–37, hier: S. 34. Ebd. S. 37. Universitätsarchiv Frankfurt, Pers.-Akte Kommerell, Bl. 40.

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dete Ansicht besonders wertvoll“.60 Auf Glunz‘ Anfrage reagiert Naumann am 29. November 1936 positiv. Er zweifelt nicht daran, daß „Kommerell ein Genie ist, mit dem Daimonion wie mit den Dämonen eines solchen begnadet und verflucht zugleich [...]. Seit Georges Tod fehlt die einzige Stimme, die ihn zur Ordnung rufen konnte. Hüten wir uns, ihn noch tiefer ins Chaos zu stoßen“.61 Die Metapher des Dämons, der zwischen Gut und Böse steht, entspringt einem weitverbreiteten Gebrauch der Zeit, verdeutlicht aber zugleich die spezifische Wahrnehmung des George-Kreises, dem Kommerell immer noch zugeordnet wird. Das Verfahren zieht sich jedoch in die Länge. Ende 1937 werden weitere Schritte unternommen. Nun holt der Dekan Langlotz sechs Gutachten von Gerhard Fricke aus Kiel, Erich Rothacker aus Bonn, Andreas Heusler aus Basel, Franz Schultz aus Frankfurt, Justus Obenauer aus Bonn und Franz Koch aus Berlin ein. Das Gutachten von Fricke ist oben bereits untersucht worden. Die übrigen werden nun nacheinander in der genannten Reihenfolge analysiert. Erich Rothacker, Bonner Philosoph und Mitherausgeber der renommierten Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, schreibt am 4. Januar 1938, daß „Kommerell m. E. nach Talent, Niveau und Tiefe der Bildung längst in der ersten Reihe der heute leb. Literaturhistoriker“ stehe und daher „schon vor Jahren einen Lehrstuhl verdient [hätte]. In diesem Sinne habe ich ihn s. Zt. auch als Dekan auf der Bonner Liste präsentiert“.62 Trotz des emphatischen Eintretens für Kommerell äußert Rothacker sich nicht zur ausgebliebenen Berufung nach Bonn. Es ergibt sich die Frage, warum Kommerell so hoch gelobt wird, aber trotzdem keine Rufe erhält. Andreas Heusler, der Kommerells Habilitationsarbeit unterstützt hatte, steuert ein umfangreiches Gutachten bei und führt am 22. Dezember 1937 gegenüber dem Frankfurter Dekan Langlotz aus: „Vieles in Kommerells Schriften versteh ich nicht, weil es sich bewuszt [sic] über das ‚Rationale‘ erhebt & eine Orakelsprache redet, die nur dem Eingeweihten zugänglich ist. Vieles aber glaube ich zu verstehn, und dieses Viele finde ich hervorragend, geistvoll im guten Sinne“.63 Kommerell wird einmal mehr – hochgeschätzt und selten verstanden – eine ‚exklusive Randposition‘ zugeschrieben. Anschließend weist Heusler auf das noch nicht ausgeschöpfte Potential hin: „Ich hoffe & vertraue, dasz wir Kommerell noch gewichtige Arbeiten verdanken werden“.64

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Ebd. Bl. 40. Das gesamte Gutachten zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 644. Das gesamte Gutachten zitiert ebd. S. 647. Das gesamte Gutachten zitiert ebd. S. 646. Das gesamte Gutachten zitiert ebd. S. 646. Zu Heusler siehe Zernack, Julia: Andreas

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Der Frankfurter Germanist und interne Widersacher Kommerells, Franz Schultz, der ein ambivalentes Gutachten über die Habilitationsschrift geliefert hatte, bezeichnet am 14. Februar 1938 in seinem Schreiben an den Dekan Langlotz Kommerells wissenschaftliche Studien als „schriftstellerische Leistungen hohen Ranges“: „Er bildet ein wertvolles Gegengewicht gegen eine etwaige historisch-philologische Verknöcherung der neueren deutschen Literaturgeschichte und gegen ein etwaiges Festhalten an veralteten Methoden, wie er selber des Gegengewichtes der historisch-philologischen Arbeitsweise bedarf“.65 Auf den ersten Blick lobt Schultz Kommerell. Die Art der Aneignung und Interpretation von Dichtung wird in höchsten Tönen gewürdigt, gleich zweimal schreibt er ihm „Kraft und Frische“ zu. Auf den zweiten Blick werden jedoch kritische Töne deutlich. Schultz spezifiziert z. B. nicht näher, worin sich die „Beachtung in der Öffentlichkeit“ niederschlage. An den Verkaufszahlen der wissenschaftlichen und poetischen Arbeiten Kommerells – man denke an Das Kaiserliche Blut (vgl. Kap. IV) – kann es jedenfalls nicht gemessen werden. Auch wenn Schultz die Lehrveranstaltungen Kommerells lobt, weist er doch nicht darauf hin, daß besonders große Hörerzahlen für seinen Lehrerfolg sprechen. Das anerkennende Argument, daß Kommerell ein Gegengewicht zur „historisch-philologischen Verknöcherung“ darstelle, wird postwendend entkräftet, indem Kommerell des Ausgleiches durch eben dieselbe Methode bedürfe. Damit wird er als unvollständiger Wissenschaftler hingestellt. In den letzten beiden Abschnitten seines Gutachtens geht Schultz offen zur Kritik über: „Nach Auffassung des Unterzeichneten handelt es sich bei seinen Arbeiten mehr um eine hochstehende, einfühlsame Essaiistik [sic] als um eigentlich wissenschaftliche Untersuchungen und Darstellungen“. Schultz wirft ihm außerdem Ignoranz der „schon vorhandene[n] literarhistorische[n] Erkenntnisse“ vor. Kommerells kritische Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand, die im dritten Kapitel dieser Arbeit nachgewiesen wurde, nimmt er nicht wahr. Er charakterisiert Kommerell als „eine geistige Persönlichkeit von besonderer Eigenart, deren Originalität sich, wie zu hoffen steht, in seiner weiteren Entwicklung mit einer stärkeren Annäherung an die in unserer Wissenschaft waltende Kontinuität [...] sehr wohl vertragen wird“. Auf der Personenebene steht der zentrale Vorwurf, daß Kommerell kein seriöser Wissenschaftler, sondern ein schöngeistiger Essayist sei. Der Einwand, daß seine „ästhetische Kategorien“ nicht sicher begründet und folgerichtig angewendet würden, wird nicht konkretisiert. Auch wenn Schultz seine Hoffnung

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Heusler, in: IGL 2, S. 738–741 und Wyss, Ulrich: Andreas Heusler, in: König/Müller/ Röcke, Porträts, S. 128–140. Das gesamte Gutachten zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 648. Dort auch die folgenden Zitate.

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ausdrückt, daß sich Kommerell an die Kontinuität des Faches anpassen werde, weist er in Anspielung auf die NS-Wissenschaftspolitik auf die Gefahr hin, daß sich Kommerells Persönlichkeit nicht mit den „heute vom Boden der Gesamtentwicklung des deutschen Geistes zu stellenden Anforderungen“ vereinbar sei. Der Verweis auf Kommerells politische Eignung ist ein weiterer schwerer Kritikpunkt. Im letzten Satz folgt mit dem Hinweis, daß die Habilitationsschrift nicht gedruckt sei, ein ‚Totschlagargument‘. Denn welchen Wissenschaftler, so der implizite Tenor von Schultz, könne man schon zum Professor ernennen, dessen Habilitation nicht gut genug gewesen sei, um veröffentlicht zu werden. Die Motivation von Schultz‘ Ablehnung kommt im letzten Satz des zweiten Abschnitts zum Ausdruck. Wenn er das „originelle und wirksame persönliche Gepräge“ Kommerells anspricht und bemängelt, daß er dem eine „größere Deutlichkeit“ wünschen würde, drückt er damit aus, daß er Kommerells Texte nicht versteht.66 In der Kritik wird deutlich, daß der ältere Ordinarius persönlich gekränkt ist, weil die Studenten in Scharen zu einem jüngeren und genialeren Kollegen laufen – hier tut sich erneut die Parallele zu Walter Benjamin auf.67 Auf der Theorieebene zeigt sich in der Kritik von Schultz sein Verständnis vom Zustand des Faches. Er wehrt sich gegen eine Richtung, die er als „kunstwissenschaftliche Betrachtung“ versteht. Damit wird ein Gegensatz angesprochen zwischen älteren positivistischen und geistesgeschichtlichen Methoden, hier „historisch-philologische Arbeitsweise“ genannt, und neueren stilgeschichtlichen und textnahen Interpretationen, die u. a. aus der Kunstwissenschaft kommen und beispielsweise in Max Dessoirs Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft einen Niederschlag finden.68 Die Frankfurter Bemühungen um die Ernennung Kommerells zum nichtbeamteten außerordentlichen Professoren halten bis ins Jahr 1938 an. Justus Obenauer steuert am 16. Februar 1938 ein Gutachten aus Bonn bei: 69

66 Zu Schultz siehe auch Hammerstein, Frankfurt, S. 105ff. und Velten, Hans Rudolf: Franz Schultz, in: IGL 3, S. 1678–1679. 67 Vgl. Lindner, Burkhardt: Habilitationsakte Benjamin, in: Walter Benjamin im Kontext, hrsg. v. Burkhardt Lindner, 2. erw. Aufl., Königstein/Ts 1985, S. 324–341. 68 Vgl. Müller, Hans-Harald: Zur Genealogie der werkimmanenten Interpretation, in: Konzert und Konkurrenz. Die Künste und ihre Wissenschaften im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Christian Scholl, Sandra Richter u. Oliver Huck, Göttingen 2010, S. 269–282. 69 Zu Obenauer siehe Pittrof, Thomas: Karl Justus Obenauer, in: IGL 2, S. 1342–1343. Der Frankfurter Dekan Langlotz versucht in der undatierten Anfrage die Richtung von Obenauers Gutachten zu beeinflussen: „Die Phil. Fakultät erwägt für den Dozenten Dr. Max Kommerell den Titel des n.[icht] b.[eamteten] a.[ußerplanmäßigen] o.[rdentlichen] Prof.[essors] zu beantragen und wäre Ihnen aufrichtig dankbar, wenn Sie die Güte hätten sich über Kommerells letzte Veröffentlichungen zu äußern. K. hat sich 1930 mit einer Arbeit über den Stabreim in der germanischen Heldendichtung habilitiert, die sehr gut

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„Wenn man auch große Teile seines früheren Werkes, wo er stark unter dem Einfluß des George-Kreises stand, ablehnen kann, so ist er doch in seinen neuesten Veröffentlichungen von diesen Einflüssen freier“.70 Auf der einen Seite ist mit dem Verweis auf den Einfluß Georges eine Deklassierung verbunden, auf der anderen Seite konstatiert Obenauer allerdings einen Wandel in Kommerells Schriften. Der Übergang von einer geistesgeschichtlichen Ausrichtung hin zu textnahen Interpretationsverfahren wird hier jedoch noch nicht explizit festgestellt. In einem Dokument des Sicherheitsdienstes der SS mit dem Titel Lage und Aufgaben der Germanistik und deutschen Literaturwissenschaft, das zwischen Ende 1938 und Anfang 1939 möglicherweise unter der Mitwirkung von Justus Obenauer entstanden ist, wird Kommerell in die Kategorie „Die Gegner, 4.) Liberale und Reaktionäre“ eingestuft und mit dem Zusatz versehen „(George-Kreis!) politisch und weltanschaulich negativ beurteilt“.71 Obenauer könnte sich also auch bei außerfachlichen Institutionen gegen Kommerell eingesetzt haben. Der Berliner Germanist und spätere Mitherausgeber des NS-Propagandawerks Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, Franz Koch,72 urteilt am 21. Februar 1938: „Max Kommerells wissenschaftliche Leistung begegnet immer wieder zwei Einwänden, einem wissenschaftlichen und einem politisch-weltanschaulichen. [...] Beide Vorwürfe haben ihre Berechtigung. Ich verfolge Kommerells Schaffen seit langem und mit Interesse, ohne dabei über einen zwiespältigen Eindruck hinausgekommen zu sein“.73 Koch schreibt, wie die meisten anderen Gutachter, Kommerell eine gute Beobachtungsgabe zu, bemängelt jedoch, daß am Ende seiner Untersuchungen keine konkreten Ergebnisse stünden. Darin zeigt sich eine Erwartungshaltung, die wissenschaftliche Untersuchungen als abgeschlossene Informationen und nicht als Denkanstöße auffaßt. Mit dem Ausdruck, Kommerell sei einem „zungengeläufigen Wortfetischismus“ verfallen, setzt er eine diskriminierende Metapher ein. Außerdem weist er ebenfalls auf das große Potential Kommerells hin. Es könne aber nur durch „geübte Selbstzucht“ ausgeschöpft werden. Darin

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beurteilt worden ist, aber leider noch nicht im Druck vorliegt. Seitdem hat er außer dem Jean Paul Buch mehrere Aufsätze in Zeitschriften veröffentlicht. Seine Vorlesungen und Übungen sind gut besucht“, Universitätsarchiv Frankfurt, Pers.-Akte Kommerell, Bl. 35. Ein Schreiben mit dem gleichen Wortlaut ergeht am 18. Februar 1938 an Franz Koch in Berlin, vgl. Universitätsarchiv Frankfurt, Pers.-Akte Kommerell, Bl. 34. Das gesamte Gutachten zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 649. Simon, Gerd (Hg.): Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes der SS. Ein Dokument aus der Frühgeschichte der SD-Forschung, Teil 1: Einleitung und Text, Tübingen 1998, S. 13ff. Zu Koch siehe Höppner, Wolfgang: Franz Koch, in: IGL 2, S. 966–968. Das gesamte Gutachten zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 650. Dort auch die folgenden Zitate.

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kommt eine alte, dem 19. Jahrhundert entsprechende Vorstellung zum Tragen, daß ein Philologe zwar geniale Einfälle haben müsse, aber erst zum anständigen Philologen werde, wenn er sich strenge Disziplin auferlege. Zwei weitere Punkte sind auffällig: Kommerell wird dem George-Kreis nicht unreflektiert zugerechnet. Koch weiß offenbar, daß Kommerell erst zum George-Kreis gehörte und sich dann von George getrennt hat. Der Umstand wird jedoch auf die Formulierung gebracht: „aus dem George-Kreis kommt oder ihm zumindest nahe steht“. Diese Beschreibung ist jedoch unzutreffend, da Kommerell seit der Trennung dem George-Kreis nicht mehr nahe steht. Koch läßt jedoch die Trennung weg, weil er sonst seinen Vorwurf, daß Kommerell aufgrund der George-Vergangenheit eine „exakt philologische Grundlage und Methode“ fehle, entkräften würde. Außerdem bezieht sich Koch, wie schon Baeumler, konkret nur auf einen schmalen Ausschnitt aus Kommerells Schriften, und zwar auf Jean Paul und Schiller als Gestalter des handelnden Menschen. Diese sechs Gutachten zeigen Kommerells disziplinäre Stellung Ende 1937/Anfang 1938. Erstaunlich ist, daß Langlotz die Gutachten mit viel Aufwand einholt, aber keine klare Auskunft geben kann, als er wiederum aus Marburg um eine Beurteilung Kommerells gebeten wird: „[B]itte verzeihen Sie die Verzögerung in der Beantwortung Ihrer Anfrage über Kommerell. Ich wollte mich, bevor ich Ihnen schreibe, vergewissern, worum es sich eigentlich handelt“.74 Den Gutachten ist gemeinsam, daß sie die ästhetische Feinfühligkeit Kommerells schätzen, aber seine Fähigkeit zum konventionellen wissenschaftlichen Arbeiten bestreiten. Sie bilden einen repräsentativen Schnitt, wie Kommerell um 1938 im Fach wahrgenommen wird. Schließlich beantragt die Frankfurter Fakultät am 23. Februar 1938 die Ernennung zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor, die am 3. August 1938 vom Reichserziehungsministerium vollzogen wird.75 In dem Antrag resümiert der Dekan Langlotz: Kommerells Schriften zeichnen sich aus durch subtiles Einfühlungsvermögen in die Gestalten und die Sprache der Dichter und eine ungewöhnliche Begabung für philosophische und psychologische Vertiefung der Interpretation. Alle seine Schriften sind gedankenreich, packen alte Probleme unter neuen Gesichtspunkten an und haben ein hohes geistiges Niveau. Eine ungewöhnliche Sprachbegabung läßt seine Bücher selbst zu literarischen Werken von Rang werden. Damit ist zugleich eine mögliche Gefährdung seiner wissenschaftlichen Produktion angedeutet. [...] Kommerells weltanschauliche Orientierung von früher, ist heute als aufgegeben zu betrachten. In seinen letzten Aufsätzen, vor allem in dem über Kleist ist der Beginn

74 75

Das gesamte Gutachten zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 653. Vgl. Universitätsarchiv Frankfurt, Pers.-Akte Kommerell, Bl. 23.

VII.1 Kommerells Karriere bis 1939

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einer für ihn neuen Richtung zu erkennen, die wissenschaftlich sehr fruchtbar zu werden verspricht.76

Es wird sowohl Kommerells Grenzverwischung von Dichtung und Wissenschaft konstatiert, als auch der Wandel hin zu textnahen Interpretationsverfahren. Etwa ein Jahr später, am 22. Juni 1939, reicht der Dekan Langlotz einen Antrag auf Ernennung Kommerells zum außerplanmäßigen Professor ein, der am 4. November 1939 gebilligt wird.77 VII.1.4 Vertretung in Köln SoSe 1938 und WS 1938/39, Bewerbung für Lissabon Im Sommersemester 1938 und im Wintersemester 1938/39 vertritt Kommerell das Ordinariat von Ernst Bertram in Köln, der erst ein Forschungsfreisemester hat und danach für ein Semester wegen „Krankmeldung“ fehlt.78 Bertram ist im Umfeld des George-Kreises anzusiedeln. Kommerell steht von 1931 bis 1934 brieflich in Kontakt mit ihm.79 Deshalb überrascht es nicht, daß Kommerell mit der Vertretung beauftragt wird. Oskar Walzel in Bonn, Karl Viëtor in Gießen und Ernst Bertram in Köln haben gemeinsam, daß ihre Forschungsschwerpunkte in der Literatur der frühen Neuzeit liegen. Alle drei sind renommierte Professoren, sie zu vertreten steigert Kommerells Stellung im Fach. Von der Kölner Vertretung berichtet Kommerell am 9. Mai 1938 an Heinrich Zimmer: „Ich bin, wie Sie wohl wissen, in Köln Vertreter für Bertram. Er hat einen Urlaub f. eigene Arbeiten, nur f. dieses Semester. [...] Und so ist es mir auch im Augenblick ganz unmöglich nach Hdlbg zu kommen. Ich muß hier auch prüfen, Geschäftliches erledigen, und die Vorlesung etwas anders einrichten als in Ff. – Diesmal war ich nicht über Sonntag da, nächsten werd ich wohl da sein, um nach den Doktoranden zu sehen“.80

76 Universitätsarchiv Frankfurt, Pers.-Akte Kommerell, Bl. 29–30. 77 In der Begründung heißt es: „Alle seine Veröffentlichungen zeichnen sich aus durch einen ungewöhnlich hohen geistigen Rang, Reichtum an Gedanken und fesselnde Darstellung. Besonders zu erwähnen ist sein Buch über Jean Paul. Als Lehrer ist Kommerell vielseitig und anregend. Er hat fast alle Epochen der neueren Philologie behandelt und auch die Theaterwissenschaft in sein Interessengebiet mit einbezogen. Aus seinem Schülerkreis liegen eine größere Anzahl von Doktorarbeiten vor, die sich durch die fruchtbare Stellung des Themas und neue Ergebnisse auszeichnen“, Universitätsarchiv Frankfurt, Pers.-Akte Kommerell, Bl. 16. Zur Ernennung ziehe auch ebd. Bl. 12. 78 Gossens, Peter: Ernst Bertram, in: IGL 1, S. 164–165, hier: S. 164. 79 Vgl. DLA Marbach, Kommerell-Bertram-Briefwechsel, Nachlaß Kommerell, A: 84.1515/1 bis A: 84.1515/3 und StGA, Kommerell II, 1101 bis Kommerell II, 1107. 80 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 09.05.1938, Nachlaß Zimmer, A: 74.121/3.

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VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944

Im Sommersemester 1938 hält Kommerell Lehrveranstaltungen zu Kleist, zu Hölderlins Elegien und Hymnen sowie zur Geschichte der Barockbühne und des Barockdramas. Hinzu kommt eine Übung über Goethes Wanderjahre.81 Angesichts der hohen Lehrverpflichtung überrascht sein Unmut nicht, den er Zimmer in einem undatierten Brief aus dem Sommersemester 1938 schildert: „Ich bin Montag bis Freitag Abend immer in Köln, wo unter unerquicklichen Verhältnissen sehr viel zu tun ist – und über Sonntag sehe ich ein paar Freunde und genieße Erika – schlafe auch etwas aus, so daß weitausgreifende Tätigkeiten unterwegs bleiben“.82 Zu den produktiven wissenschaftlichen Begegnungen in Köln gehört die Freundschaft mit dem Romanisten Fritz Schalk, die im sechsten Kapitel beschrieben wurde. Kommerell ist lange im Gespräch für die Nachfolge Bertrams. In einem undatierten Brief vom Herbst 1938 an Heinrich Zimmer heißt es: „In Köln noch alles unklar“ (BA 345). Karl Reinhardt berichtet er am 7. September 1938: „Wie’s mit meinem Verbleib, Köln oder Frankfurt, geworden ist, weiß ich nicht. In F. sollen merkwürdige Gerüchte grassieren; unter uns gesagt, glaub ich, daß es in Köln noch irgend ein Nachspiel hat. Aber die personalen Verfinsterungen dort sind unerquicklich, und es kann auch wieder alles zur Fak. kommen. Am liebsten wär mir, es schöbe sich hinaus. Ich verhalte mich passiv. ..... Wie’s in F. steht, mit meinen Widersachern, ahne ich nicht“.83 Der Kölner Dekan Kauffmann verneint schließlich am 8. Juli 1939 eine Anfrage aus Frankfurt, ob man dort mit der Berufung Kommerells nach Köln rechnen müsse: Auf Ihr Schreiben vom 4.dM. gestatte ich mir zum Ausdruck zu bringen, daß ich es nicht für wahrscheinlich halte, daß sich neuerdings in unserem germanistischen Lehrbetrieb eine Lage herausbilden wird, die eine abermalige Beanspruchung von Herrn Prof. Kommerell notwendig machen könnte. Herr Prof. Kommerell hat sich mit der Wahrnehmung der neueren deutschen Philologie während der beiden Semester, in denen er Herrn Prof. Bertram zu vertreten hatte, um die Aufrechterhaltung des Unterrichts sehr verdient gemacht. [...] Seit Anfang dieses Semesters hat Herr Prof. Bertram seine Lehrtätigkeit wieder aufgenommen; das Lehrgebiet, für welches Herr Kommerell als Stellvertreter besonders geeignet war wird nun in vollem Umfang wieder von dem Ordinarius verwaltet.84

Der Frankfurter Dekan Langlotz antwortet am 8. Mai 1939 wiederum auf eine Anfrage aus Marburg: „Er [Kommerell] hat zwei Semester in Köln ver-

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Vgl. Strebel, Kommerell, S. 286. DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer o. D. [SoSe 1938], Nachlaß Zimmer, A: 74.122/6. 83 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 07.09.1938, Nachlaß Kommerell, A: 56.370. 84 Universitätsarchiv Frankfurt, Pers.-Akte Kommerell, Bl. 14.

VII.1 Kommerells Karriere bis 1939

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treten und wäre zweifellos nach Köln berufen worden, wenn nicht Bertram die Vorlesungen wieder aufgenommen hätte“.85 Ende 1940/Anfang 1941 erwägt Kommerell, nach Portugal zu gehen, und bewirbt sich auf die Auslandsprofessur an der Universität in Lissabon. Als Vorbereitung für seine Bewerbung bittet er Fritz Schalk am 1. November 1940, ihm eine Festschrift der Universität Köln über Portugal zu schicken: „Ich bin zurück in Berlin wegen einer Chance, die sich mir bietet, für eine germanistische Dozentur in Portugal vorgeschlagen zu werden. Ich habe Herrn Ob. Reg.Rat Semle gebeten, mir ein Ex[emplar] der port. Festschrift86 ausliefern zu lassen, damit ich mich etwas über portug. Kulturprobleme unterrichte: und da ermächtigte er mich, Sie in seinem Auftrag zu bitten, daß mir ein Exemplar übersandt wird. Bitte seien Sie so lieb, das zu veranlassen. Ich hoffe sehr, aus der Sache wird etwas. Ich könnte soviel lernen dabei!“87 Vom Fortgang der Bemühungen berichtet er Hans-Georg Gadamer am 2. Januar 1941: „Portugal anlangend höre ich über den Rector, daß von deutscher Seite (also auch [von der Deutschen Akademie] München!) alles in Ordnung, aber die port. Entscheidung noch ausstehe. Meine Einberufung erfolgt in den nächsten Wochen, wird aber wohl im Fall der Versendung nach P. aufgehalten. Ich hatte etwas Mühe (und habe sie noch) diesen seit 3 Monaten dauernden Schwebezustand zu einer für meine Frau und mich folgenreichen Entscheidung zu überwinden“.88 Letztendlich erhält Wolfgang Kayser den Ruf nach Lissabon.89 Kayser wird nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem mit den Studien Kleine deutsche Versschule (1946) und Das sprachliche Kunstwerk (1948) bekannt. Er gehört zu den angesehensten Vertretern der sog. ‚Werkimmanenz‘. In Lissabon hätte Kommerells akademisches Werk möglicherweise eine andere Richtung eingeschlagen, die Hinwendung zur Komparatistik wäre vermutlich noch entschiedener erfolgt.

85 Das gesamte Schreiben zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 653. 86 Gemeint ist Schalk, Fritz (Hg.): „Portugal 1140 + 1640“. Festschrift der Universität Köln zu den portugiesischen Staatsfeiern des Jahres 1940, Köln 1940. 87 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 01.11.1940, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/7. 88 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 02.01.1941, Nachlaß A: Gadamer. 89 Dazu siehe Maier, Heidi-Melanie: Wolfgang Kayser, in: IGL 2, S. 904–906; Voßkamp, Wilhelm: Wolfgang Kayser, in: König/Müller/Röcke, Porträts, S. 235–238; Seruya, Teresa: Germanistik in Portugal. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Bericht, in: JbDSG 39 (1995), S. 391–417; und: dies.: Wolfgang Kayser in Portugal. Zu einem wichtigen Kapitel der portugiesischen Germanistik, in: Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846–1996), hrsg. v. Frank Fürbeth u. a., Tübingen 1999, S. 715–725.

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VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944

VII.2 Lessing und Aristoteles, Geist und Buchstabe der Dichtung und die Berufung nach Marburg 1939–1941 In diesem Unterkapitel werden Kommerells Studien Lessing und Aristoteles und Geist und Buchstabe der Dichtung vor dem Hintergrund seiner Berufung an die Universität Marburg betrachtet.90 Dazu wird eingangs die erste Runde des Berufungsverfahrens im Jahr 1939 untersucht, dann Kommerells Wissenschaftsverständnis in Lessing und Aristoteles (1940) und sein Interpretationsverfahren anhand von Geist und Buchstabe (1940) erörtert und abschließend die zweite Berufungsrunde 1940/41 dargestellt. VII.2.1 Die erste Berufungsrunde 1939 Der Marburger Germanist Harry Maync wird zum Ende des Wintersemesters 1939/40 emeritiert.91 Kommerell erfährt schon früh von den Vorbereitungen für Nachfolgeregelung, die im Hintergrund laufen. Hans-Georg Gadamer berichtet ihm am 18. Oktober 1938: „Daß ich (vorerst alleine) nach Leipzig gehe, werden Sie schon wissen. Gut – und schlimm genug. [...] Meine neue, schon effektive, wenn auch noch nicht nominelle Würde als Ordinarius habe ich schon benutzt, um in der Frage der Maync-Nachfolge vorzuarbeiten“.92 Um eine geregelte Übergabe zu gewährleisten, tritt die Berufungskommission schon am Anfang des Sommersemesters, am 19. April 1939, zusammen. Die Kommission, der der Dekan der philosophischen Fakultät, der Althistoriker Fritz Taeger, vorsitzt, setzt sich zusammen aus dem Neuphilologen Harry Maync, den Mediävisten Karl Helm und Ludwig Wolff, den Sprachwissenschaftlern Walther Mitzka, Luise Berthold und Leo Weisgerber, dem Romanisten Friedrich Schürr, dem Anglisten Max Deutschbein und dem Historiker Wilhelm Mommsen. Nach den ersten Diskussionen werden Paul Böckmann, Gerhard Fricke, Wolfgang Kayser, Max Kommerell, Clemens Lugowski, Kurt May, Hermann Pongs, Walther Rehm und Benno von Wiese in die engere Auswahl genommen und Gutachten über sie eingeholt.93

90 Zur Geschichte der Germanistik in Marburg siehe Köhler, Kai/ Dedner, Burghard/ Strickhausen, Waltraud (Hgg.): Germanistik und Kunstwissenschaften im ‚Dritten Reich‘. Marburger Entwicklungen 1920–1950, München 2005, mit einer knappen Darstellung der Berufung Kommerells auf S. 407–411. 91 Zu Maync siehe Köhler, Kai: Harry Maync, in: IGL 2, S. 1184–1186. 92 DLA Marbach, Brief Hans-Georg Gadamer an Kommerell vom 18.10.1938, Nachlaß Kommerell, A: 84.1574/6. 93 Vgl. StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371.

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Auf Anfrage nimmt der Gießener Germanist Alfred August Götze ausführlich zu ihnen Stellung.94 Am 23. April 1939 teilt er Taeger mit: „Mein Urteil über die acht Gelehrten [Rehm, Fricke, Lugowski, Kommerell, Pongs, May, Kayser, v. Wiese], nach denen Sie fragen, finden Sie auf den beigelegten Blättern; wenn ich daraus heute eine Liste bilden sollte, so würde sie lauten: Rehm, Wiese, Kommerell. Alle drei sind für Sie erreichbar, äußere Schwierigkeiten sind bei keinem zu befürchten. Die Gerechtigkeit fordert aber, vier weitere Namen mindestens zu bedenken; ich ordne nach dem Lebensalter: [Borcherdt, Böckmann, Gumbel, Rasch]“.95 Jeder einzelne Kandidat wird auf einem mit Bleistift beschriebenen DinA6-Zettel dargestellt. Neben Daten zum Lebenslauf und kurzen Publikationslisten finden sich dort ausformulierte Charakterisierungen von Götze. Über Kommerell heißt es: Ich schätze Kommerell aufrichtig u. habe nach unserm gemeinsamen W.-S. [1935/36 in Gießen] stets Fühlung mit ihm behalten. Seine aufgeschlossene, bewegliche Geistigkeit machten Begegnung u. jedes Gespräch mit ihm zum Genuß. Ihm ist viel Unrecht geschehen. Gewiß betont er in seinem Beruf mehr die ästhetische als die geschichtliche Seite, aber er ist kenntnisreich u. durchgeistigt wie wenige; reifere Studenten weiß er allseitig zu fördern; die von ihm [mir] bekannten Arbeiten sind rundrum gut. In Frankfurt soll er zur Klüngelbildung geneigt haben – wenn das richtig ist, hat es gewiß nur an den Frankfurter Verhältnissen gelegen, in Marburg wird er gewiß alle Hörer zusammenfassen und jeden fördern. Daß seine erste Ehe geschieden ist, daraus kann ihm kein billig denkender Kenner der Verhältnisse einen Vorwurf machen. In Marburg hat er sich durch einen schlecht vorbereiteten und darum verunglückten Vortrag geschadet – er ist jung und beweglich genug, daraus zu lernen. Bis 1931 hat er dem George-Kreis angehört, gerade lange genug, um seine Geistigkeit zu schulen; danach hat er mit Festigkeit seine innere u. äußere Unabhängigkeit bewahrt und auch darum wieder gelitten. Politische Schwierigkeiten stehen einer Berufung nicht entgegen. Er paßt gut in unseren hessischen Raum u. wird sich den besonderen Verhältnissen Marburgs gut einfügen.96

Auffällig ist, wie offen Götze die fachlichen – und außerfachlichen – Kritikpunkte an Kommerell anspricht. Er benennt die „Klüngelbildung“, das Scheitern von Kommerells erster Ehe und die vormalige Zugehörigkeit zum George-Kreis. Götze versucht, alle potentiellen Einwände zu entkräften. Mit der Annahme, daß mit Kommerell keine politischen Schwierigkeiten entstehen würden, liegt er jedoch falsch, wie später dargestellt wird. Neben dem Einsatz für Kommerell steht eine klare Empfehlung für Walther Rehm: „Seine Vorlesungen und Übungen sind ausgezeichnet; die Studenten hat er sich

94 Zu Götze siehe Baur, Gerhard W.: Alfred Götze, in: IGL 1, S. 577–579 und Gold, Helmut u. a.: Zur Arbeit Alfred Götzes am Deutschen Seminar 1925–1945, in: Ramge/ Wiedemann, Gießen, S. 35–52. 95 StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371. 96 Ebd. 1967/11 Nr. 371.

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hier sofort gewonnen; versteht glänzend, Arbeiten zu beraten“.97 Es wird sich zeigen, daß Rehm – wie schon in Würzburg und Gießen – zu einem starken Konkurrenten Kommerells wird. Gerhard Fricke, der ebenfalls in die Vorauswahl genommen wird, hatte sich am 22. Dezember 1937 wie folgt über seinen Mitkonkurrenten Kommerell geäußert: „So stark ich in Zielsetzung und Methode der wissenschaftlichen Arbeit von meinem Fachkollegen Kommerell abweiche und so lebhaft meine Einwände gegen sein erstes größeres Werk (Der Dichter als Führer) waren und sind, – so unzweifelhaft scheint es mir zu sein, daß K. eine der stärksten Begabungen in der jüngeren Generation der Literaturwissenschaftler ist“.98 Eine ausführliche Stellungnahme liegt von Hans-Georg Gadamer aus Leipzig vom 25. April 1939 vor: „Mir ist keinen Augenblick zweifelhaft, daß die weitaus begabteste, geradezu geniale Erscheinung in dieser Reihe Kommerell ist, dem die Zünftigen sehr mit Unrecht wegen seiner schriftstellerischen Ambitionen und mangels direkter Belege zu wenig von dem eigentlich Handwerklichen zutrauen, das er in Wahrheit meisterhaft beherrscht [...] Daß er als Lehrer neben den Vorzügen auch die Nachteile (einer gewissen Egozentrizität) einer genialen Natur hat, versteht sich von selbst. Er wäre für Marburg eine große Attraktion“.99 Wie ein Jahr zuvor, versucht Gadamer wieder für seinen Freund Kommerell ‚vorzuarbeiten‘. Taeger fragt ebenfalls seinen Fachkollegen, den Frankfurter Althistoriker Matthias Gelzer, um Rat. Der betont am 26. April 1939 die intellektuelle Eignung Kommerells. Sein Hinweis auf den George-Kreis, der im Zusammenhang mit der Bewertung als „hochbegabter Mann“ steht, fungiert hier als Qualitätsurteil.100 Daran sieht man wiederum, wie unterschiedlich das Etikett ‚George-Kreis‘ von verschiedenen Akteuren dieser Zeit benutzt wird. Gelzer verweist auf die vielfältigen, auch außerfachlichen Interessen Kommerells an „antiker und spanischer Literatur“ und auf den „sehr guten Besuch[] seiner Vorlesungen“. Er legt die Hintergründe für den Neid der Kollegen auf Kommerell, den er als politisch unproblematischen Kandidaten einstuft, offen und beschreibt die Widerstände, mit denen dieser konfrontiert war: „Ein so anspruchsvoller Geist wie Reinhardt hält sehr viel von ihm, und danach bestimmt sich die Einschätzung, die er überhaupt in der Fakultät genießt. Das hat nun aber zur Folge, daß die Gefühle der nächstbetroffenen Collegen nicht frei von Neid bleiben. Offen gesagt gilt das wohl auch etwas

97 98 99 100

Ebd. 1967/11 Nr. 371. Das gesamte Gutachten zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 645. StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371. Das gesamte Gutachten zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 651. Dort auch die folgenden Zitate.

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vom Fachordinarius [Schultz]. Ganz besonders aber hatte er zu leiden unter der Eifersucht eines jüngern Collegen [Heinrich Nelis], der als Vertreter der Dozentenschaft im Fakultätsausschuß ihm politische Schwierigkeiten zu bereiten versuchte“. Das Vorgehen der Berufungskommission setzt sich auf der zweiten Sitzung vom 7. Mai 1939 darin fort, den Kreis der Kandidaten einzuschränken. Ausgeschlossen werden nun Fricke und May aufgrund der „allgemein menschlichen Haltung“, Böckmann und Lugowski wegen „mangelnder Produktivität“ und Pongs, da sich herumgesprochen hat, daß er einen Ruf nicht annehmen werde: „Einhelligkeit bestand – wie in der ersten Sitzung schon darüber, daß Rehm unbedingt an erster Stelle zu nennen ist. Über v. Wiese, Kommerell und Kayser sollen noch weitere Erkundigungen eingezogen werden“.101 Berufungsverfahren werden in dieser Zeit nur aufgrund von Gutachten entschieden. Entgegen dieser Gewohnheit entscheidet sich die Fakultät, die zwei aussichtsreichsten Kandidaten zu Vorträgen nach Marburg einzuladen. Kommerell erhält die Einladung von seinem Freund, dem Marburger Theologen Rudolf Bultmann (vgl. Kap. IX), der ihm am 3. Mai 1939 mitteilt: Sie wissen, daß die Vorschläge für die Nachfolge H.[arry] Mayncs vorbereitet werden, u. daß Ihr Name dabei eine Rolle spielt. Nun hat mich Herr Taeger, der als Dekan der philos. Fakultät sehr bemüht ist, für Sie zu werben, gebeten (in meiner Eigenschaft als Vorsitzender der Freunde des humanistischen Gymnasiums), Sie wieder zu einem Vortag in unserem Verein einzuladen. Die gleiche Bitte – damit Sie orientiert sind – ergeht an Herrn Rehm in Gießen. Herr Taeger legt großen Wert darauf, daß Sie beide, u. zwar möglichst bald, in Marburg reden. Mich erinnert das Verfahren lebhaft an die mir aus meiner Jugend wohl bekannten Wahlpredigten für Pfarrstellen in meiner Heimat. Ich weiß daher, daß dieses Verfahren Mängel hat, daß es aber auch große Vorzüge hat, u. ich würde mich freuen, wenn Sie sich entschließen könnten der Einladung zu folgen. So wäre natürlich dringend zu wünschen, daß Sie im Mai oder Anfang Juni [1939] kommen könnten. Ich darf noch bemerken, daß sich Herr Taeger große Mühe – u. offenbar mit Erfolg – gegeben hat, gewisse Widerstände, die gegen Sie hier u. dort bestehen, aus der Welt zu schaffen. Wenn Sie – wie ich hoffe – zusagen, sind Sie freundlichst eingeladen, bei uns zu wohnen, da Ihr gewohntes Quartier bei Gadamers nun ja nicht mehr zur Verfügung steht.102

In diesem Brief wird die halboffizielle Art des Verfahrens deutlich. Kommerell soll nicht an der Universität vor der Berufungskommission einen Vortrag halten, sondern vor den „Freunden des humanistischen Gymnasiums“. Damit wird ein Ausweichort gewählt. Offiziell heißt es nicht, daß Kommerell 101 StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371. 102 DLA Marbach, Brief Rudolf Bultmann an Kommerell vom 03.05.1939, Nachlaß Kommerell, A: 84.1523/2.

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einen Berufungsvortrag hält, sondern einfach nur einen Vortrag. Immerhin wird den Kandidaten das Verfahren insoweit transparent gemacht, als daß sie erfahren, wer noch außer ihnen eingeladen ist. In Bultmann hat Kommerell einen Fürsprecher, der ihm persönlich verbunden ist. Das ‚Vorsingen‘ findet Anfang Juni statt, wie aus einem Brief Kommerells an Hans-Georg Gadamer vom 3. Juni 1939 hervorgeht: „Inzwischen habe ich eine Einladung erhalten in Marburg zu sprechen, was am nächsten Freitag sein wird“.103 Zur Sicherheit holt Taeger zudem noch die Meinung des Archäologen und Frankfurter Dekans, Ernst Langlotz, ein, da er ausdrücklich wünscht, Kommerell zu berufen, wenn gegen ihn keine neuen Vorwürfe bestünden. Am 2. Mai 1939 bittet er Langlotz um Aufklärung über die Vorbehalte, „da K.[ommerell] bei seiner Begabung und seinen ausgezeichneten wissenschaftlichen Leistungen mit in erster Linie bei der Wiederbesetzung unseres Lehrstuhls für n.[euere] d.[eutsche] Literaturgeschichte in Frage kommt“.104 Langlotz gibt in seinem Antwortschreiben vom 8. Mai 1939 vier Vorwürfe an, die immer wieder gegen Kommerell erhoben wurden: Erstens, daß er „Beziehungen zu dem ehemaligen Kurator Riezler weiter unterhalten habe“;105 zweitens der Standardvorwurf der Zugehörigkeit zum George-Kreis ohne nähere Konkretisierungen; drittens die selektive Auswahl besonderer Studenten, „Klüngelbildung“ genannt, die in politischen Augen als oppositionell aufgefaßt werden konnte; und viertens, daß Kommerell nicht in der Partei sei und keinen Kriegsdienst leiste. Langlotz verweist auf der anderen Seite auf Kommerells Erfolge in der Lehre, die er an den Hörerzahlen mißt, auf das Themenspektrum seiner Vorlesungen und die Qualität der betreuten Dissertationen, die „zu den besten in unserer Fakultät“ gehörten. Schließlich plädiert er für eine Bewährungschance in einem Vertretungssemester. Ende Mai werden weitere Gutachten eingeholt. Justus Obenauer, Dekan in Bonn, der sich schon 1938 zu einer Frankfurter Anfrage geäußert hatte, schreibt am 23. Mai 1939 an Taeger: „Persönlich ist er mir nicht bekannt, und ob er dem Typus des Germanisten entspricht, den wir heute für die Universität uns wünschen, erscheint mir persönlich immer noch als fraglich. Da er aber in der letzten Zeit, soviel ich weiß, mehrere Semester hindurch zur Vertretung in Köln war, wäre es wohl am besten, Sie würden sich an den dortigen Dekan wenden“.106 Während Obenauer sich 1938 noch positiv geäußert und eine Verleihung des Professortitels befürwortet hat, stellt er

103 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 03.06.1939, Nachlaß A: Gadamer. 104 Das gesamte Schreiben zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 652. 105 Das gesamte Schreiben zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 653. Dort auch die folgenden Zitate. 106 StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371.

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nun Kommerells persönliche Eignung in Frage. Eine politisch motivierte Ablehnung ist nicht auszuschließen. Er spricht sich jedoch auch nicht deutlich gegen Kommerell aus, sondern versucht die gewünschte Stellungnahme auf die Kölner Kollegen abzuschieben. Auf der dritten Sitzung vom 26. Mai 1939 wird eine Vorentscheidung getroffen: „Die Kommission beschließt nach eingehender Aussprache, Prof. Rehm primo loco et unico loco zu nennen. Der Vorschlag soll mit Rücksicht auf die Beschleunigung dem Ministerium sofort vorgelegt werden, ohne noch in einer Fakultätssitzung behandelt zu werden“.107 Das ablehnende Gutachten von Obenauer wirkt hier wohl darauf ein, daß Kommerell nicht auf der Liste erscheint, die am 31. Mai 1939 an das Reichserziehungsministerium gesandt wird: Nach eingehenden Beratungen hat sich der Berufungsausschuß einhellig dazu entschlossen, mit Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse der Fakultät, nur einen Einervorschlag zu machen, da von den in Frage kommenden Gelehrten nur einer die volle Gewähr bietet, einmal die beiden Kollegen Mitzka und Wolff allseitig zu ergänzen, dann aber auch durch seine Persönlichkeit und wissenschaftliche Leistung seinem Fachgebiet hier die Geltung zu verschaffen, das es bei der starken Anziehungskraft Marburgs auf die Studierenden der Philologie verdient. Die Fakultät ist sich dabei dessen wohl bewußt, daß sie verschiedene Forscher übergeht, die eine Nennung dank ihrer wissenschaftlichen Leistung und ausgereiften Persönlichkeit durchaus verdienen, hier aber nicht am Platz sind.108

Die Vorzüge Rehms werden in seiner breiten Forschungstätigkeit, den Lehrerfolgen und dem guten Vertrauensverhältnis zu Kollegen gesehen. Die Entscheidung fällt zugunsten Rehms, da gegen ihn nicht Vorbehalte aus der Vergangenheit bestehen so wie gegen Kommerell. Über ihn heißt es resümierend in Notizen, die an die Protokolle angeheftet sind: „Unzweifelhaft einer der wertvollsten Kräfte; trotzdem gewisse Bedenken“.109 Nach Aufstellung der Liste geht ein Gutachten aus Köln ein, das vorteilhaft für Kommerell ausfällt. Der Dekan Kauffmann betont am 5. Juni 1939, daß Kommerell die Vertretung „mit großem Eifer und bestem Erfolg angenommen“ habe:

107 Ebd. 1967/11 Nr. 371. 108 Ebd. 1967/11 Nr. 371. Vgl. ebd.: „Seine zahlreichen und umfangreichen Veröffentlichungen, 7 Bücher und verschiedene größere Aufsätze, weisen ihn [Rehm] als Forscher von ganz besonders großer Arbeitsenergie und -weite aus und verbinden eine bewundernswerte Materialbeherrschung mit tiefgründiger Problemstellung. Als Lehrer über er einen sehr starken Einfluß auf seine Hörer aus und hat in Gießen bereits trotz der dort sehr ungünstigen Verhältnisse eine blühende Schule aufgebaut. Seine klare Persönlichkeit hat ihm Vertrauen und Achtung seiner Kollegen erworben“. 109 Ebd. 1967/11 Nr. 371.

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Es gelang ihm sehr schnell, das Vertrauen der Studenten zu gewinnen, mit den Arbeitsgemeinschaften in Fühlung zu treten und Dissertationen anzuregen oder zu gutem Ende zu führen. Neben der eigentlichen akademischen Lehrtätigkeit hat er sich auch für Vorträge wissenschaftlicher Vereinigungen mehrmals zur Verfügung gestellt. Die große Beweglichkeit, die an seinen Schriften erkennbar ist, gab auch seiner Lehrtätigkeit viel Frische. [...] Zur Beurteilung seiner politischen Haltung fühle ich mich nicht ganz kompetent, kann aber versichern, daß mir nichts Nachteiliges bekannt wurde. Insgesamt bin ich überzeugt, daß Kommerell über ausgezeichnete Gaben verfügt und daß seine Mitwirkung in jeder Fakultät als Gewinn geschätzt werden dürfte.110

Kauffmann verfolgt eine doppelte Strategie: Zum einen will er Kommerells Qualifikationen in Forschung und Lehre besonders herausheben, zum anderen die politischen Vorwürfe gegen ihn nicht bekräftigen. Dadurch soll das wissenschaftliche Kriterium überhand gewinnen. Ebenfalls am 5. Juni 1939 kommt eine kurze Stellungnahme des Gießener Dekans Christian Rauch, der zwei weitere Gutachten beigelegt sind. Das eine ist vom Vorgängerdekan Glockner, das andere vom bereits befragten Germanisten Götze. Rauch führt aus, daß ihm ein „Urteil über seine [Kommerells] politische Haltung [...] niemand geben [konnte]. Da er hier ja neben seiner Frankfurter Lehrtätigkeit nur Seminar zu halten hatte, ist er wohl mit keinem Kollegen außer Herrn Götze in Berührung gekommen. Von Studenten hörte ich gelegentlich, daß Kommerell ‚etwas weltfremd‘ sei“.111 Sein Vorgänger berichtet im beigelegten Schreiben: „Leider hat er [Kommerell] in dieser Zeit keinen öffentlichen Vortrag gehalten; ich hörte ihn also nie sprechen“.112 Die Formulierung, „[p]ersönlich machte Herr K. den Eindruck eines Menschen, der seine eigenen Wege geht“, kann positiv, im Sinne von selbstbewußt, oder negativ, im Sinne von ‚eigenbrödlerisch‘, verstanden werden. Diese Doppeldeutigkeit ist wahrscheinlich bewußt gewählt, da Glockner die Vorurteile gegen Kommerell bekannt gewesen sein dürften und er nicht wußte, welche Ansicht Taeger vertrat. Jedoch wird die Formulierung „seinen eigenen Weg geht“ gerade in Verbindung mit der Äußerung von Rauch, die Studenten hätten gelegentlich gesagt, Kommerell sei „etwas weltfremd“, in einen Kontext gestellt, der eher auf eine negative Konnotation deutet. Demgegenüber ist das Gutachten von Götze vom 5. Juni 1939 überaus positiv. Er schildert besonders eindringlich Kommerells Persönlichkeit: „Der Eindruck war wissenschaftlich wie menschlich der erfreulichste, den ich von einem jungen Kollegen seines Gebiets je gehabt habe“.113 Bemerkenswert ist, 110 111 112 113

Ebd. 1967/11 Nr. 371. Ebd. 1967/11 Nr. 371. Ebd. 1967/11 Nr. 371. Das gesamte Gutachten zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 654. Dort auch die folgenden Zitate.

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daß Götze wohl über den Vorwurf der beiden Dekane, Kommerell sei nicht gut mit den Studenten ausgekommen, Bescheid weiß, und bewußt versucht, ihn zu entkräften: „Den Studenten gegenüber erschwerte ihm die allzu eng gestellte Aufgabe den Stand. Sie wußten, daß er sie nicht prüfen würde und vernachlässigten sein Seminar oder ließen ihn allein sprechen, um ihm das dann zum Vorwurf zu machen. Der einzige, den er mit mir zu prüfen hatte, bestand nicht, worauf ich das Urteil hörte: ‚K. läßt uns hundertprozentig durchfallen‘“. Den Vorwurf der „Klüngelbildung“ versucht Götze zu differenzieren und damit zu entwerten: „Auch auf das Fehlurteil, er neige zur Klüngelbildung, ist nichts zu geben. Gewiß wird ein Gelehrter seiner feinen und besonderen Geistesart an einer großen Universität den Kreis erfassen und besonders fördern, der Sinn für seine Fragestellung entwickelt und sich Zeit nimmt, mit ihm auch in schwierige Zusammenhänge einzutreten. An der kleineren Hochschule wird er selbstverständlich alle umfassen und jeden nach seinen Gaben fördern“. Er erklärt also Kommerells elitäre Auffassung des LehrerSchüler-Verhältnisses, in der Vorstellungen aus dem George-Kreis fortwirken, aus der Situation an der Frankfurter ‚Massenuniversität‘. Die Behauptung jedoch, daß Kommerell sich in Marburg mit allen Studenten beschäftigen und sich nicht besonders auf die Begabten konzentrieren würde, wirkt nicht überzeugend. Das mitunter emphatische Eintreten Götzes für Kommerell ist offensichtlich aus seiner persönlichen Freundschaft bestimmt, woran sich wieder die Verbindung von Personen- und Institutionenebene der Wissenschaftsgeschichte zeigt. Gegen Ende des Sommersemesters, am 17. Juli 1939, fragt der Frankfurter Dekan, mit den Planungen für das Wintersemester beschäftigt und seinerseits mit Personalknappheit konfrontiert, in Marburg an, wie es mit den Chancen Kommerells stehe: „[W]ürden sie die großen Freundlichkeit haben mir mitzuteilen, ob Sie mit der Möglichkeit rechnen, daß Prof. Kommerell für das WS mit der Vertretung in Marburg beauftragt wird? Ich wüßte dies gern, weil wir nach Gumbels Berufung nach Königsberg nur noch Kommerell als Dozenten der Germanistik hier haben und dieser schon seit einigen Semestern mit der Abhaltung des Proseminars betraut ist“.114 Eine Antwort darauf ist leider nicht überliefert. Von der Untersuchung der Kommissionssitzungen und Gutachten aus dem Sommersemester 1939 ist festzuhalten, daß die erste Berufungsrunde zugunsten Walther Rehms endet, der den Ruf am 31. Mai 1939 erhält. Das könnte daran gelegen haben, daß die äußerst positiven Gutachten für Kommerell von Kauffmann aus Köln und von Götze aus Gießen zu spät eintra-

114 StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371.

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fen. Es ist ebenfalls möglich, daß Rehm das ‚Vorsingen‘ vor den „Freunden des Marburger humanistischen Gymnasiums“ für sich entschieden hat. VII.2.2 Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie 1940 Nicht nur die Berufungskommission beschäftigt sich schon lange vor dem Ausscheiden von Harry Maync im Wintersemester 1939/40 mit Fragen der Nachfolge. Im bereits zitierten Schreiben von Gadamer an Kommerell vom 18. Oktober 1938 wird das Thema erstmals brieflich erwähnt: „Meine neue, schon effektive, wenn auch noch nicht nominelle Würde als Ordinarius habe ich schon benutzt, um in der Frage der Maync-Nachfolge vorzuarbeiten“.115 Wenn Gadamer in diesem Brief allein ein Stichwort benennen und damit voraussetzen kann, daß Kommerell weiß, was gemeint ist, haben beide offenbar schon vorher über das Thema gesprochen. Im gleichen Jahr, 1938, beginnt Kommerell seine Arbeiten an Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie. Deswegen wird hier die Hypothese verfolgt, daß er die Vollendung der Studie zeitlich gezielt terminiert, um durch das Erscheinen seine Chancen auf die Maync-Nachfolge zu steigern. Da Kommerell, wie in den zitierten Gutachten gezeigt, der Vorwurf des unseriösen Wissenschaftlers anhaftet, muß er nun eine Untersuchung verfassen, in der er seine wissenschaftlichen Kompetenzen im engeren Sinne unter Beweis stellen kann. Also entscheidet er sich für ein Projekt über die Rezeption von Aristoteles’ Poetik bei Corneille und Lessing. Korrespondiert die Auswahl des Gegenstandes durchaus mit bisherigen Interessen für Texteffekte und ihre Wirkungsprinzipen, so weichen doch Format und Darstellungsweise deutlich von Kommerells bisheriger Wissenschaftsprosa ab. Die Untersuchung ist bewußt breit angelegt, sowohl zeitlich als auch, mit der interdisziplinären Ausrichtung, thematisch, weil Kommerell sich nicht nur auf dem Gebiet der neueren deutschen Literaturgeschichte beweisen will. Da seine Habilitationsschrift über ältere deutsche Literatur nicht erschienen ist, muß er jetzt eine Studie entwerfen, die das Nichterscheinen der Habilitationsschrift fachlich kompensiert. Daher entscheidet er sich, eine Darstellung mit Fußnoten zu verfassen – zum erstenmal seit seiner Promotion 1924. Die Lessing-Arbeit belegt am stärksten die seit Heinrich Zimmers kritischer Intervention (vgl. Kap. IV) einsetzende Näherung an wissenschaftliche Standards; und zwar nicht allein durch den Anmerkungsapparat, mit dem Kommerell zeigen will, daß er auch auf dem herkömmlichen Gebiet der Philologie

115 DLA Marbach, Brief Hans-Georg Gadamer an Kommerell vom 18.10.1938, Nachlaß A: Gadamer.

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brillieren kann. Die Studie wird deshalb nun unter diesem Gesichtspunkt untersucht. Die Entstehung von Lessing und Aristoteles zieht sich über zwei Jahre hin. Kommerell legt die Studie gezielt an, um seine Chancen bei der Berufung zu erhöhen. Abgesehen von dieser Motivation interessiert er sich nicht besonders für das Thema. Dies bringt er in mehreren Briefen zum Ausdruck. Der gesamte Schreibprozeß ist begleitet von Stöhnen und Langeweile. Kommerell schildert am 22. März 1938 Heinrich Zimmer erstmals sein Projekt: „Auch ich bin an Aristoteles geraten, und zwar in einer meiner ersten durchaus philologischen Auseinandersetzung: Aristoteles und die Theorie des Tragischen in Deutschland. Ich habe einige glückliche Leitgedanken, ob ich aber mit der Exposition des Ganzen zurechtkomme, wissen die Götter, und ich würge daran herum“.116 Aus der Formulierung „an Aristoteles geraten“ wird deutlich, daß Kommerell keinen inneren Antrieb für dieses Thema besitzt, sondern es mit Blick auf die Karriere angeht. Er berichtet Rudolf Alexander Schröder am 26. März 1938: „Ich bin etwas gereist, und sitze jetzt über 2 höchst undichterischen Arbeiten: einem kleinen Buch über Lessing und Aristoteles, und einem Kolleg über Theatergeschichte des Barock, das ich halten muß“ (BA 339). Die Arbeiten sind durch Unterbrechungen gekennzeichnet, wie aus einem Brief an Hans-Georg Gadamer vom 28. Juli 1938 hervorgeht: „Ich benutze die große Gleichmäßigkeit des Lebens zu intensiver Arbeit [...] und stürze mich auf den eine Zeitlang vernachlässigten Lessing-Aristoteles-Essay“.117 Das Vorhaben der Wiederaufnahme wird am 31. Juli 1938 gegenüber Karl Reinhardt bekräftigt: „An den Aristoteles bin ich noch nicht wieder gegangen, hab es aber auch vor“.118 Am 6. August 1938 drückt er Fritz Schalk seinen Unmut über das Projekt aus: „Habe mir zwar sehr viel für Aristoteles mitgenommen, was mich aber eben langweilt!“119 In Bezug auf den Zusammenhang von Wissenschaft und Dichtung bei Kommerell ist anzumerken, daß er hier vor den Anforderungen der Wissenschaft in das Medium der Dichtung flieht und lieber Calderón nachdichtet anstatt Aristoteles zu analysieren. Am 7. September 1938 meldet er dann Reinhardt von widerwilligen

116 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 22.03.1938, Nachlaß Zimmer, A: 74.121/2. 117 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 28.07.1938, Nachlaß A: Gadamer. 118 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 31.07.1938, Nachlaß Kommerell, A: 56.369. 119 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 06.08.1938, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/3.

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Weiterarbeiten: „Jetzt hab ich, wenn auch widerstrebender, den Lessing wieder aufgenommen“.120 Von der Fertigstellung der Arbeit berichtet Kommerell Heinrich Zimmer in einem undatiertem Brief, der wahrscheinlich von Anfang 1939 stammt: „Mir bringt dieses Frühjahr und dieser Sommer soviel Arbeit wie kaum ein früherer. Ich muß die schwierige und umständliche Lessing-Arbeit zum Druck fertig machen“.121 Der Zwang, von dem Kommerell spricht, ergibt sich aus der anstehenden Emeritierung von Maync. Die Verzögerungen bei der Lessing-Arbeit dauern bis zum Frühjahr 1939 an, wie aus einem Brief an Hans-Georg Gadamer vom 2. März 1939 hervorgeht. Kommerell schreibt „ohne Übertreibung“, daß „meine durch 2maliges Köln und das entsetzliche Hinundherfahren verwahrlosten Arbeiten eine offene, und beständig blutende Wunde sind und ich rasend werde, wenn ich in diesen 4–5 Wochen nicht erheblich vorwärts komme“.122 Gadamer lädt Kommerell daraufhin ein, in Leipzig einen Vortrag über die Aristoteles-Thematik seiner Studie zu halten. Seit Beginn der Arbeiten jedoch von Widerwillen geprägt, lehnt Kommerell das Thema am 3. Juni 1939 ab: „Natürlich nehme ich sie [die Einladung] mit Dank an und freue mich schon auf die Weise Sie wiederzusehen und einmal nach Leipzig zu kommen. Nur bin ich die ‚Theorie des Tragischen‘ vorerst satt geworden, auch wird bis dahin meine Arbeit drüber veröffentlicht sein“.123 Am 6. August 1939 berichtet er Gadamer schließlich von der letzten Durchsicht: „der Lessing hält mich in solcher Hetze, daß ich zu keinem Brief mehr komme. Ich fahre Montag nach München, und möchte Sie gern Freitag vorm., nach Absolvieren meiner Pflichten, in Garmisch besuchen. [...] Ich eile dann an den Weißensee, wo ich karge 14 Tage allein sein kann, um über einige Sachen nachzudenken. Den Lessing nehm ich da nicht mit, und mache das noch Fehlende – einige Anmerkungen – in Frankfurt nach der Rückkehr“.124 Am 20. August 1939 erläutert er seinem Verleger Kloster-

120 DLA Marbach, Brief Kommerell an Karl Reinhardt vom 07.09.1938, Nachlaß Kommerell, A: 56.370. 121 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer o. D. [Anfang 1939], Nachlaß Zimmer, A: 74.122/7. 122 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 02.03.1939, Nachlaß A: Gadamer. 123 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 03.06.1939, Nachlaß A: Gadamer. Im gleichen Brief bittet er Gadamer noch um Hilfe bei der Suche nach den neuesten Poetik-Ausgaben: „Darf ich Sie noch was fragen? Hier in der Stadtbibliothek konnte man keine neue englische Ausgabe der Poetik des Aristoteles feststellen, sondern nur einige vor 1914 liegen da. Hatten Sie mir nicht von einer ganz neuen engl. gesprochen? Wenn ja, wär ich Ihnen für eine nähere bibliographische Notiz dankbar!“, ebd. A: Gadamer. 124 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 06.08.1939, Nachlaß A: Gadamer.

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mann, wie er die Ausarbeitung der Fußnoten in Angriff nehmen möchte: „Mein Lessing Buch liegt zur Begutachtung vor. Es ist, bis auf ein paar Anmerkungen, fertig. Diese sind noch einzufügen, und werden in der Zeit zw. 5. u. 20. Spt., eingefügt. An sich könnte mit dem Druck auch vorher begonnen werden, weil die Anm. ein Teil für sich, am Schluß sind“.125 Aus diesen Zeilen wird ersichtlich, warum die Fußnoten z. T. nur entfernt im Zusammenhang mit den Ausführungen im Text stehen. Besonders in den Fußnoten will Kommerell den Fachkollegen seine genuin akademischen Fähigkeiten beweisen. Er versucht bewußt, sich als gelehrt und mit den wissenschaftlichen Arbeitstechniken des Zitierens und Belegens vertraut zu zeigen. Ein Beispiel soll dazu genügen. In der Fußnote zu Seite 11 der Lessing-Arbeit schreibt er: „Der Umwälzung durch Herder, dessen Geniebegriff Konrad Burdach als säkularisierte Mystik deutet (Faust und Moses. Sitzungsber. d. Kgl. Preuß. Akademie der Wissensch. XXIII 1912) ist in England vergleichbar die Wirkung des Aufsatzes von Young über ursprüngliche Dichterschaft (Conjectures on original composition. In a letter to the author of Sir Charles Grandison), dessen erheblichste Sätze ich in der Spezialuntersuchung Hermann Wolfs vernachlässigt finde“ (LA 236f.). Kommerell bringt in einem Satz vier Autoren aus zwei Ländern zu vier verschiedenen Zeiten unter. Er will zeigen, daß er sie alle gelesen hat und sein Verständnis das der bisherigen Ausleger noch übertrifft. Daß Kommerell diesem Wissenschaftsstil selbst kritisch gegenübersteht, geht aus einer Erinnerung seines Schülers Karl-Gustav Gerold hervor: Kommerell habe ihm berichtet von seiner neuen Studie „Untersuchungen über die Theorie der Tragödie ‚Lessing und Aristoteles‘ (mit Anmerkungen, wie er mir spöttisch versicherte)“.126 Während andere Zeitgenossen in diesen Tagen die politischen Ereignisse in ihren Briefen reflektieren, ist Kommerell nur mit seinen Arbeiten beschäftigt, wie er kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges an Hans-Georg Gadamer am 9. September 1939 berichtet: „Am Tag des erklärten Kriegszustandes mit England erhielt ich – halt, nein, es waren 2 Tage vorher – die Korrecturen meiner dramatischen Humoreske127 von der neuen Rundschau; und – noch sonderbarer – der Lessing-Aristoteles ist seit einigen Tagen in der Druckerei. Statt der Philosophie des Alsob die Praxis des Als Ob! Aber diese Als-optik ist gar nicht schlecht“.128 Erneut unternimmt er eine Anspie-

125 DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 20.08.1939, Nachlaß A: Klostermann. 126 Gerold, Memoriam, S. 15. 127 Vgl. Kommerell, Max: Terzinen an die Nacht. Ein Marionettenspiel, in: NR 50 (1939), H. 11, S. 374–384. 128 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 09.09.1939, Nachlaß A: Gadamer.

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lung auf Vaihingers Philosophie des Als Ob (vgl. Kap. VI). Die Drucklegung nimmt jedoch noch einige Zeit in Anspruch, so daß Kommerell am 28. Februar 1940 immer noch auf das Erscheinen wartet und Gadamer verheißungsvoll berichtet: „Bald hoffe ich, Sie mit einem umfänglichen opus zu überraschen“.129 Um die Vorbehalte, die seinen Arbeiten mangelnde Wissenschaftlichkeit unterstellen, zu entkräften, verfaßt Kommerell also die Studie Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie (LA),130 die 1940 bei Vittorio Klostermann als zweiter Band der Schriftenreihe Frankfurter wissenschaftliche Beiträge, Kulturwissenschaftliche Reihe erscheint. In der über 300 Seiten starken Untersuchung behandelt Kommerell die Rezeptionsgeschichte von Aristoteles’ Poetik. Er benutzt die Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften Aristoteles: Opera131 und die Übersetzung von Alfred Gudeman von 1921,132 die von Manfred Fuhrmanns Übersetzung von 1982 abweicht.133 Aufgrund der hier verfolgten wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellung ist es nicht notwendig, eine Gesamtinterpretation von Kommerells Lessing-Arbeit vorzulegen. Vielmehr wird zuerst der Argumentationsgang skizziert, um dann im Zusammenhang mit Kommerells Wissenschaftsverständnis auf das Marburger Berufungsverfahren, das im Hintergrund steht, einzugehen. Daher wird auch die Wahrnehmung in Rezensionen inner- und außerhalb des Faches dargestellt. Bei der Erläuterung von Lessing und Aristoteles wird eingangs auf die Wirkungsgeschichte, dann auf die Hauptbegriffe der Studie, auf das Verhältnis von Kunst und Leben und schließlich auf das Wissenschaftsverständnis eingegangen. Mit der Absicht, seine Chancen im Marburger Berufungsverfahren zu verbessern, dominiert ein externer Grund. Zweitrangig kommt als interner Grund das Erscheinen von Alfred Gudemans neuem Poetik-Kommentar von 1934 hinzu,134 den Kommerell wiederholt kritisiert.135 In seiner Studie berücksichtigt Kommerell die frühen Poetik-Kommentare des Mittelalters und

129 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 28.02.1940, Nachlaß A: Gadamer. 130 Vgl. Kommerell, Max: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie [1940], 5. Aufl. mit Berichtigungen u. Nachweisen, Frankfurt/M 1984. Fortan zitiert als Sigle LA. 131 Vgl. Aristoteles: Opera, ex rec. Immanuelis Bekkeri, ed. Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd. 1: Berlin 1831. 132 Vgl. Aristoteles: Über die Dichtkunst, neu übers. u. mit Einleitung v. Alfred Gudeman, Leipzig 1921. 133 Vgl. Aristoteles: Poetik, übers. u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. 134 Vgl. Aristoteles: Poetik. Mit Einleitung, Text und Adnotation Critica, Exegetischem Kommentar, Kritischem Anhang und Indices Nominum, Rerum, Locourum von Alfred Gudeman, Berlin/Leipzig 1934. 135 Vgl. LA 52, 108, 244, 254 u. 267.

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der Renaissance sowie die bekannteren Erörterungen des französischen Klassizisten Pierre Corneille (1606–1684) und des deutschen Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781). Die Lessing-Arbeit erfährt eine intensive wissenschaftliche Wahrnehmung. Während des Zweiten Weltkrieges erscheinen vier Rezensionen, nach dem Krieg noch zwei zu späteren Auflagen. Die Rezensenten reagieren damit auf die Einladung, die Kommerell in der Studie selbst ausspricht: „Wo der Verfasser, der sich leider oft von der Fachliteratur verlassen sah, das Richtige traf und wo er es verfehlte, darüber hofft er von den Zuständigen Belehrung“ (LA 7). Die Rezensionen fallen überwiegend positiv aus. Georg Schleypen bemerkt 1942 in der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft: „Man lese selbst das Buch; es füllt trotz mancher gewagten Hypothese, vielleicht auch gerade deshalb, den zunächst so nüchtern erscheinenden Stoff mit soviel Leben“.136 Emil Kast lobt 1941 im Literaturblatt für germanische und romanische Philologie Kommerells Methode als „völlig philologische Darlegung“ und als eine „dem Wortlaut, ja seiner grammatischen Form und seiner Sinnträchtigkeit nachspürenden Ausdeutung“. Damit habe Kommerell erfüllt, „was Philologie im besten Wortsinn leisten soll“.137 Albin Lesky würdigt in einer umfangreichen Rezension, die 1941 in der renommierten altertumswissenschaftlichen Zeitschrift Gnomon erscheint: „Die Durchführung dieses Unterschiedes [zwischen Lessing und Corneille] bei K. ist meisterhaft und wirkt besonders wohltuend dadurch, daß die Wertung Corneilles schulgängigen Vorurteilen völlig entrückt bleibt“.138 Lesky weist ebenfalls darauf hin, daß der ‚fachfremde‘ Kommerell zu diesen Erkenntnissen gekommen sei, ohne Kenntnis von der gleichzeitig entstandenen Studie Κάθαρσίς παθημάτωυ des klassischen Philologen Franz Dirlmeier gehabt zu haben, der bei der Auslegung des Genitivs als Genitivus separativus zum gleichen Ergebnis komme.139 In das Lob reiht sich 1940/41 in der Literatur Otto Friedrich Bollnow ein: „Es zeigt sich dabei, was als methodischer Er-

136 Schleypen, Georg: Rez. zu Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 36 (1942), S. 115–117, hier: S. 117. 137 Kast, Emil: Rez. zu Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 62 (1941), Sp. 302. 138 Lesky, Albin: Rez. zu Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, in: Gnomon. Kritische Zeitschrift für die gesamte klassische Altertumswissenschaft 17 (1941), S. 241–248, hier: S. 243. 139 Siehe Dirlmeier, Franz: Κάθαρσίς παθημάτωυ, in: Hermes. Zeitschrift für klassische Philologie 75 (1940), S. 81–92, hier: S. 91: „Damit ist aber, wie ich glaube, endgültig, darüber entschieden, daß in der Definition des Aristoteles nicht ein Genitivus subiectivus, auch nicht ein obiectivus, sondern ein separativus vorliegt. Die Tragödie bewirkt durch Erregung von Mitleid und Furcht die Reinigung“.

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trag dieses methodisch überaus scharfsinnig durchgeführten Buchs besonders hervorgehoben zu werden verdient, eine erstaunlich innige Verbindung der weitesten geistesgeschichtlichen Zusammenhänge mit dem rein handwerklichen Verfahren einer sauberen Textauslegung“.140 Da aus den Rezensionen hervorgeht, wie Kommerells verändertes methodisches Vorgehen geschätzt wird, ist davon auszugehen, daß es ähnlich auf die Mitglieder der Berufungskommission gewirkt hat. Im Vorwort erklärt Kommerell die Absicht seiner Ausführungen folgendermaßen: „Was hier versucht wird, ist zunächst der Nachweis, wie Lessing, als Theoretiker der Tragödie, zur Poetik des Aristoteles stand. Und da dies ‚Stehen‘ zu Aristoteles ein ‚Stehen‘ zu Corneille einschließt, war auch dies, sowie das ‚Stehen‘ desselben Corneille zu Aristoteles mitzuerwägen. Und endlich mußte sich der Verfasser in den Grenzen seines Vermögens eine eigene Meinung über diese Poetik selbst erarbeiten, deren echtes Verständnis wohl erst von einer neuen Gesamtdeutung der Aristotelischen Philosophie erwartet werden darf“ (LA 7). Corneille hatte im Zuge des französischen Klassizismus in seinen Trois discours (1660) die Poetik ausgelegt, um sein Drama gegen Kritik zu rechtfertigen. Lessings Aristoteles-Deutung versteht Kommerell als Konfrontation mit dem französischen Klassizismus und seiner starren Regeldogmatik. Dabei geht es ihm um einen „Beitrag zum Verständnis Lessings überhaupt“ (LA 7).

140 Bollnow, Otto Friedrich: Rez. zu Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, in: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde 43 (1940/41), S. 419f. Auf die zweite Auflage von Lessing und Aristoteles aus dem Jahre 1957 bezieht sich die Rezension des Franzosen Victor Hell, die neben viel Lob auch einige Kritik enthält. Hell kritisiert, daß Corneilles Name nicht im Titel vorkomme, der Stil Kommerells zu Wiederholungen führe und die Untersuchung schwierig zu lesen sei. Auf der anderen Seite lobt er die essayistische Darstellungsart: „Ouvrage d’érudition, certes, mais où l’auteur laisse paraître, de temps à autre, ses dons d’essayiste qui donnent à ses meilleurs écrits un ton vibrant, une allure nerveuse“ (Hell, Victor: Rez. der 2. Aufl. von Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, in: Revue de littérature comparée 33 (1959), S. 289–293, hier: S. 290). Sylvain De Bleeckere betont in seiner Besprechung der fünften Auflage von 1984, daß die Studie aufgrund seiner tiefen Einsicht in die Materie gegenwärtig immer noch inspirierend auf die Wissenschaft wirken könne. Der Behauptung, daß Kommerells Untersuchung von den Zeitgenossen als Zustimmung zu Stefan Georges Absage an den Wissenschaftsbetrieb verstanden wurde, ist allerdings nicht zuzustimmen, wie die oben angeführten zeitgenössischen Rezensionen gezeigt haben: „Hoewel Kommerell in deze studie nergens George vermeldt, is zij toch te beschouwen als een definitieve, wetenschappelijke afrekening met Georges principiële afwijzing van iedere kritische beoordeling van de Duitse literatuur- en cultuurgeschiedenis“ (De Bleeckere, Sylvain: Rez. der 5. Aufl. von Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, in: Tijdschrift voor Filosofie 49 (1987), H. 4, S. 683).

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Mittels der Tragödientheorie befaßt sich Kommerell mit der Theorie von Kunst, ja von Kultur überhaupt. Sein Vorgehen bei der Erörterung der Poetik und ihrer Auslegungen liegt in der Erläuterung von Begriffen: „Hier sei lediglich ein Umriß derjenigen Begriffe gewagt, die hauptsächlich zwischen Lessing und Corneille verhandelt wurden“ (LA 7). Diese Hauptbegriffe sind: (1.) Mitleid und Furcht, (2.) Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit, (3.) Mythos, (4.) Pathos und (5.) Wissen. (1. Mitleid und Furcht) Kommerells Ausgangspunkt ist, daß die Tragödie den Zuschauer erschüttern solle. Die Erschütterung sei die Hauptaufgabe: „In dieser Wirkung gelangt die Tragödie an ihr Formziel, verwirklicht sie sich in der ihr vorbehaltenen Vollkommenheit“ (LA 63). Deshalb sei das Mitleid, das durch die Erschütterung ausgelöst werde, grundlegend mit dem Wesen der Tragödie verbunden. Daraus werde klar, „wie unteilbar eins tragische Form und tragische Wirkung“ (LA 63) in den Begriffen Mitleid und Furcht seien. Mit dem Mitleid sei die Reinigung verbunden. Kommerell, dessen Untersuchung des Mitleid-Begriffes zu den gelungensten Stellen der Studie gehört,141 stellt heraus, daß es eine Frage der Übersetzung sei, wie man den Zusammenhang von Reinigung, Mitleid und Affekten verstehe. Aus der Feststellung, daß „die Tragödie nach Aristoteles durch Mitleid und Furcht die Reinigung von den Affekten dieser Art erzielt“ (LA 64), ergebe sich die Frage, was Mittel und was Objekt der Reinigung seien. Nach Kommerells Verständnis wird der Mensch durch die Tragödie eine Zeit lang von den Affekten Mitleid und Furcht gereinigt (vgl. LA 66, 201). Die Auslegung der Katharsis hänge davon ab, wie man den Genitiv übersetze: als Genitivus objectivus oder als Genitivus separativus. Dazu führt Kommerell in einer eingehenden, zehn Seiten langen Fußnote aus, daß das Verständnis als Genitivus separativus vorzuziehen sei, auch wenn die Mehrheit der PoetikInterpreten diesen Genitiv als Genitivus objectivus verstanden habe (vgl. LA 262–272). Die Gründe für den Genitivus separativus lägen im damaligen Wortgebrauch, in der psychologisch-anthropologische Auffassung von der tragischen Wirkung als einem Naturprozeß und in der eindeutigen Verwendung desselben Begriffs in Aristoteles’ Politik (vgl. LA 66). Albin Lesky stimmt Kommerell beim Eintreten für den Genitivus separativus entschieden zu.142 Otto Friedrich Bollnow würdigt, daß Kommerell damit einen bedeutsamen „Ausblick in die Geschichte des Mitleid-Gefühls“ eröffnet habe, „an dem die geschichtliche Wandelbarkeit solcher menschlichen Empfindungen

141 Vgl. Schleypen, Aristoteles, S. 116. 142 Vgl. Lesky, Aristoteles, S. 241.

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überzeugend deutlich wird“.143 So erhebt Kommerell die Emotionsgeschichte zum Programm. Lessing, so erläutert Kommerell, deute den Begriff des Mitleids um; Mitleid werde nicht mehr als störender Affekt, sondern als positive Tugend empfunden. Zugleich sei damit die Bedeutung des Reinigungsvorgangs umgedreht: „Das Verdienst Lessings besteht gerade darin, den Prozeß der Reinigung umgekehrt, als eine Intensivierung der betreffenden Affekte erklärt zu haben“ (LA 267). Den Bedeutungswandel stuft Kommerell als Lessings zentrale Leistung ein (vgl. LA 89, 267). Die Tragödie bekomme also die Funktion, das Mitleid als Tugend zu steigern und den Menschen damit zu verbessern. Damit nimmt sie eine Kulturfunktion ein. Helmut Heißenbüttel hat ausgeführt, inwiefern man an der Auslegung Lessings durch Kommerell dessen eigenes Literaturverständnis ablesen könne.144 Kommerell beschreibt Lessing wie folgt: „Vollends zeigen ihn seine Dichtungen in zartester Beweglichkeit, Sinnlichkeit und Empfindlichkeit, zeigen ihn auf jeden Eindruck schnell, fein zulänglich antwortend [...] Ja, er darf es sich wie kaum einer erlauben, das Gelesene als erlebt zu behandeln, weil seinem leidenschaftlichen Begreifen das Gelesene Leben wird, und sich so seine Weltkenntnis um den Umfang des Gelesenen erweitert. Soviel dieser Begabteste aller Leser dem Lesen verdankt, nie wirkt etwas bei ihm angelesen im Sinne von lebensdünn“ (LA 10). Eine andere Poetik-Auslegung konstatiert Kommerell bei Corneille, der die Affekte auf die Affekte der Personen im Stück beziehe (vgl. LA 67). Das Übermaß der Affekte solle gereinigt, die Tragödie damit zum warnenden Exempel werden. Corneille vernachlässige den Begriff der Katharsis und stelle stärker den Begriff des Nutzens heraus. Der Nutzen der Tragödie sei vierfacher Art: Er liege in den Sinnsprüchen, der unverfälschten Darstellung von Laster und Tugend, der poetischen Gerechtigkeit und der Reinigung der Leidenschaften (vgl. LA 68). Durch die Konzentration auf den Nutzen ergebe sich Corneilles Absicht, Märtyrertragödien zu schreiben. In der Märtyrertragödie werde beim Zuschauer Bewunderung ausgelöst, die ihn ansporne, es dem Helden gleichzutun – eine Vorstellung, die Lessing völlig von der Hand weise und den Begriff der Bewunderung aus seiner Theorie verbanne (vgl. LA 89). Lessing wende sich gegen den übergroßen Helden und fordere eine Gleichheit zwischen Helden und Zuschauer, in der der Held „von gleichem Schrot und Korne“ (LA 84) wie der Zuschauer sein solle. Hier, so Kommerell, gebe Lessing nicht die Meinung des Aristoteles wieder, sondern stelle seine eigene Forderung an die Tragödie.

143 Bollnow, Aristoteles, S. 420. 144 Vgl. Heißenbüttel, Hermeneutik, S. 43.

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Kommerell führt weiter aus, daß Corneilles Umdeutung des Aristoteles vor dem Hintergrund der Diskussionen um Corneilles Drama Le Cid (1637) erfolgt sei. Dieses Stück habe durch seine unkonventionelle Art den politischliterarischen Streit La querelle du Cid ausgelöst. Im Nachhinein suche Corneille sich zu rechtfertigen und seine Tragödientheorie durch Berufung auf Aristoteles, also auf die größte dramentheoretische Autorität, zu legitimieren (vgl. LA 39). Deshalb deute er die Poetik in den trois discours um und nehme so eine Funktionalisierung des Aristoteles vor. Daß es Kommerell nicht darum geht, Fehler in den Auslegungen bei Lessing oder Corneille zu finden, sondern ihre Deutungen als Funktionalisierungen zu erklären, hebt Otto Friedrich Bollnow hervor.145 Kommerell selbst äußert im Verlauf seiner Untersuchung eine Bemerkung über den schöpferischen Prozeß des Auslegens, die man auch als Motto an den Anfang des Buches hätte stellen können: „Zu sehen, wie die Autorität eines großen Alten gerade da, wo seine Meinung undeutlich bleibt, den neuzeitlichen Ausleger schöpferisch macht, zum Schaffen im Auslegen anspornt, ist eines der anziehendsten Schauspiele, das sich vor uns innerhalb der großen deutsch-griechischen Auseinandersetzung begibt“ (LA 79). Corneille habe sich das Mitleid als Mittel zur Reinigung nicht vorstellen können. Deshalb ließe er das Mitleid in der Bedeutung hinter die Furcht zurückfallen (vgl. LA 243). Seiner Vorstellung zufolge bedürfe das Mitleid der Furcht zur Reinigung, aber nicht die Furcht des Mitleids. Lessing, der Corneilles strikte Trennung zwischen Bühne und Zuschauer aufhebe, beziehe, so führt Kommerell an, die Furcht auf den Zuschauer als Furcht um sich selbst: „als Mitleidende zittern wir selbstvergessen für den Helden, als Fürchtende zittern wir für ihn im Gefühl unserer eigenen Bedrohtheit und schon nicht mehr für ihn, sondern für uns“ (LA 74). Hier zeige sich, daß das Mitleid fremdbezogen sei, die Furcht hingegen selbstbezogen. Somit sei das tragische Mitleid nicht real, sondern fiktiv, ein fiktives Mitleid auf fiktiv Leidende mythischer Art und mythischen Schicksals (vgl. LA 83). (2. Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit) Corneille vernachlässige, so Kommerell, die Reinigung, dafür betone er zwei andere Begriffe stärker: Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit. Bei Aristoteles bezeichneten sie die Bindung des mythischen Komplexes in sich selbst. Corneille gehe allerdings davon aus, daß es eine Divergenz zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Tragischen gebe, da die tragische Handlung nicht eine wahrscheinliche, sondern eine außergewöhnliche Handlung darstellen solle, die beim Zuschauer Bewunderung auslöse (vgl. LA 141). Der Dichter müsse sich daher für einen und gegen den anderen Begriff entscheiden. Corneille fälle diese Entschei-

145 Vgl. Bollnow, Aristoteles, S. 420.

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dung zugunsten der Notwendigkeit, da sie die Funktion des geschichtlichen und künstlerischen Bewußtseins übernehme. Er definiere die Aufgaben von Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit so, daß das Wahrscheinliche für die einzelnen Handlungen der Tragödienteile und das Notwendige für die Verbindungen der Handlungen im Ganzen zuständig sei (vgl. LA 143). Corneille brauche den Notwendigkeitsbegriff, um daran seine Kompositionslehre festzumachen und die Exposition besonders zu betonen. Kommerell räumt ein, daß Corneille die Bedeutung der Begriffe Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit besser begriffen habe als Lessing, dessen eigentliche Absicht die Anpassung der überlieferten Kunstbegriffe an die psychologische Entwicklung seiner Zeit gewesen sei (vgl. LA 130). Dabei sei die Natürlichkeit des tragischen Prozesses, die Lessing psychologisch begründe, in Wirklichkeit eng mit Aristoteles’ Begriffen des Wahrscheinlichen und des Notwendigen verbunden (vgl. LA 139). (3. Mythos) Ausgehend von den Begriffen Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit erläutert Kommerell den Begriff Mythos:146 Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit bezeichneten das Geschehen, wie es gedacht werden müsse, und da der Mythos für Aristoteles den Stoff für das Geschehen liefere, sei es die Aufgabe des Dichters, das, was ihm der Mythos biete, wahrscheinlich und notwendig zu machen (vgl. LA 141). Die mythische Natur der Tragödie werde durch die hohe Würdigung des Geschehens gerechtfertigt (vgl. LA 136). Die Unterordnung unter den Mythos sei für Aristoteles ausschlaggebend. So sollten die Personen an das Geschehen, den Mythos, gebunden werden. Kommerell stellt fest, daß Corneille und Lessing im Gegensatz zu Aristoteles eine moderne Ansicht des Dramas verträten. Sie forderten die Bindung des Geschehens an die Personen (vgl. LA 130). Kommerell zielt darauf, das eigene Wesen des tragischen Mythos zu beschreiben, um so die Differenz zwischen dem aristotelischen Mythosbegriff und den modernen Interpreten herauszustreichen: „Es sei gestattet, ahnungsweise das eigene Sein des tragischen Mythos anzudeuten, damit so der Abstand des aristotelischen Mythosbegriffes davon, den dann wieder ein fast unendlicher Abstand von der tragischen Theorie der Neueren trennt, ungefähr bezeichnet werde“ (LA 132). Bei der Verwendung des Begriffs Mythos in der Poetik, der „der Zusammenhang der Begebenheit in der Tragödie“ sei (LA 133), unterscheidet Kommerell fünf Bedeutungen. Der Mythos sei erstens der vom tragischen Dichter gestaltete Zusammenhang, zweitens der Zusammenhang des Geschehens als eines mythischen Stoffes, drittens ein Geschehen der mythischen Überlieferung, viertens ein beglaubigtes und fünftens ein gültiges Geschehen.

146 Vgl. Kast, Aristoteles, Sp. 303.

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Das Geschehen werde also auf seinen mythischen Inhalt bezogen und durch ihn determiniert, so daß die Lehre vom tragischen Mythos zur Lehre von der vollkommenen Komposition eines Geschehens werde (vgl. LA 134). Dabei wirke der Mythos auf die Komposition der Tragödie ein, man finde in ihm Bestimmungen über Umfang, Gliederung, Vollständigkeit, Unversetzbarkeit der Teile und der Ganzheit des Geschehens mit einer Schicksalswende (vgl. LA 135). Durch sein Einwirken auf die Komposition werde der Mythos die „eigentliche Substanz“ der Tragödie (LA 181). Für den antiken Dichter biete der Mythos den Stoff für die Tragödie. Dementsprechend unterscheide Aristoteles in der Poetik den Dichter vom Geschichtsschreiber. Insbesondere habe der Mythos nicht schon einen Wert an sich, sondern der Dichter gebe ihm diesen Wert erst, indem er ihn in die tragische Form umwandele. Deswegen sei für Aristoteles die tragische Dichtung der Geschichtsschreibung überlegen (vgl. LA 134). Da beim modernen Dichter das Geschehen an die Personen gebunden sei, finde eine Umwandlung der antiken Mythen durch moderne Dichter in eine „Geschehensindividualität“ (LA 135), in ein Schicksal statt. Für Aristoteles sei der Mythos so wichtig, weil er eine Glaubwürdigkeit im Volk habe. Corneille hingegen setze an die Stelle der mythischen Glaubwürdigkeit die geschichtliche Bewiesenheit (vgl. LA 141). Kommerell konstatiert damit eine allgemeine Entwicklung in der Geschichte der Tragödie: die Ablösung des Mythos durch die Geschichte. (4. Pathos) Für Kommerell sind Pathos, Peripetie und Anagnorisis Teile des tragischen Mythos. Corneille und Lessing betrachteten diese Begriffe als ein allgemeingültiges Geschehen in der Tragödie. Ebenso werde der Mythosbegriff von Lessing zum Sujet abgeschwächt und von Corneille durch die Geschichte als Stoffgeber ersetzt (vgl. LA 178f.). Kommerell beschreibt das Pathos als eine Situation des Betroffenseins: „Pathos ist also ein Ereignis, wovon Menschen betroffen werden; und zwar ereignet es sich durch und im Handeln der Betroffenen“ (LA 184). Entscheidend ist dabei, daß das Pathos einen passiven Charakter habe, daß also jemand ein Leiden erfahre und von ihm betroffen werde (vgl. LA 183). Obwohl der Handelnde natürlich das Leiden auslöse, werde er dabei mehr getrieben, als daß er aktiv handele. Pathos sei insofern Tun, Leiden und Vorgang in einem (vgl. LA 186). Aristoteles bevorzuge besonders die Fälle des Pathos, in denen z.B. jemand einen Mord verübe, auch nachdem ihm die Verwandtschaftsbeziehung bekannt geworden sei. Es handele sich also um ein Pathos, bei dem es eine Selbstbestimmung des Menschen gäbe (vgl. LA 185). Für Aristoteles sei es wichtig, daß die Folgen des Pathos und die Bewußtwerdung des zuvor unerkannten Irrtums in ihrer Ganzheit im aufgeführten Stück dargestellt werden.147 Ebenso wie die

147 Insofern sei z. B. Ödipus kein typischer Pathosfall, vgl. LA 187.

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Personen dem Geschehen untergeordnet seien – und nicht umgekehrt –, beziehe sich das Pathos mehr auf das Geschehen als auf den Helden (vgl. LA 189). Kommerell ist der Auffassung, daß Lessings Übersetzung des Wortes Pathos mit ‚Leiden‘ die beste Lösung sei. Alle anderen Übersetzungsversuche wertet er als „fortgesetztes Mißverständnis“ (LA 182) und unternimmt damit erneut Forschungskritik. (5. Wissen) Kommerell setzt sich mit dem Wissen von Textfiguren auseinander. Damit bearbeitet er ein zentrales Problemfeld der Narratologie. Mit dem Pathos sei entscheidend die Frage nach dem Wissen um die Situation und die Ausführung der Tat verknüpft. Kommerell untersucht eingehend, welche Konstellationen die Tragik am höchsten steigern: Z. B. weiß jemand, daß er mit einer Person verwandt ist und tötet sie trotzdem, oder jemand tötet sie und erfährt erst danach von der Verwandtschaft usw. Kommerell stellt dabei sieben Reihen auf, die er teils aus der Poetik ableitet, teils selbst konstruiert. In einer sogenannten ersten aristotelischen Reihe betont er, daß es am besten sei, wenn jemand um die Situation wisse und dann eine Handlung unterlasse (1). Die (1) bezeichnet die beste Möglichkeit, danach folgen die anderen abgestuft, die (3) ist die schlechteste Möglichkeit: A. Erste aristotelische Reihe: Wissend tun (3) unwissend tun (2) wissend nicht tun (1). (LA 191)

Möglichkeit (1) beinhaltet, daß jemand beabsichtigt, eine schreckliche Tat auszuführen, aber die wahre Situation erfährt, bevor er zur Ausführung der Tat gelangen kann. Logischerweise ergebe sich in dieser Reihe noch eine vierte Möglichkeit, nämlich daß jemand etwas wissend vorhat, es aber nicht ausführt. Doch diese Möglichkeit werde von Aristoteles weggelassen, da sie nichts Tragisches, sondern nur etwas Abscheuliches enthalte. Deshalb ergänzt sie Kommerell in der zweiten aristotelischen Reihe: B. Zweite aristotelische Reihe: Wissend nicht tun (1) unwissend nicht tun (2) wissend tun (3) wissend vorhaben, aber nicht tun (4). (LA 192)

Diese Reihe bezeichne anschaulich das wirklich begangene Pathos in aufsteigender Rangfolge. Dabei sei das wissende Ausführen des wissend Geplanten die geringere Möglichkeit des Pathos. Bei dieser Reihe stellt Kommerell als Problem fest, daß eine Möglichkeit überzählig sei und daß die Reihe eine Lücke enthalte. Also entwirft er eine dritte, logische Reihe:

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C. Logische Reihe: Wissend tun (3) wissend nicht tun (4? 1?) unwissend tun (2) unwissend nicht tun (x, bei Aristoteles nicht erwogen). (LA 193)

In dieser Reihe meint die Möglichkeit (3): mit Wissen planen, dann ausführen. Der Gegensatz dazu ist die Möglichkeit (4? 1?): mit Wissen planen, aber nicht ausführen. Kommerell bezeichnet diese Reihe als unbefriedigend und nicht mit Aristoteles’ Anliegen übereinstimmend. Die Möglichkeit „wissend nicht tun (4? 1?)“ bezieht sich auf die Situation, in der jemand mit Wissen um den Verwandtschaftsgrad eine Tat plant, sie aber nicht ausführt. Diese Möglichkeit werde – wie oben angeführt – von Aristoteles als nicht tragisch verworfen. Also fehle in dieser Reihe die eigentlich beste Möglichkeit, denn die Möglichkeit „unwissend nicht tun“ meine, daß jemand ein Pathos plant, ohne von der Verwandtschaft zu wissen, es dann aus irgendeinem Grund nicht ausführt und später begreift, daß er es glücklicherweise nicht getan hat. Diese Möglichkeit ziehe Aristoteles nicht in Erwägung, da sie eine spezifische Möglichkeit des christlichen Dramas sei. Um die unbefriedigenden Reihen zu verbessern, konzentriert sich Kommerell auf den Umstand, daß das Wissen im Anfang liege. Es komme also darauf an, in welcher temporären Reihenfolge das Wissen stehe. Zur zeitlichen Einordnung des Wissens führt er die nächste Reihe auf: D. Verbesserte logische Reihe: Wissen. Vorhaben. Tun. (3) Wissen. Vorhaben. Nicht tun. (4) Tun. Wissen (2) Nicht tun. Wissen. (x) Vorhaben. Wissen. Nicht tun. (1). (LA 194)

Diese Reihe stelle übersichtlich die verschiedenen Möglichkeiten dar, die sich durch die Trennung von Vorhaben und Wissen ergäben. Dabei sei die zeitliche Reihenfolge von ausschlaggebender Bedeutung. So entstehe der Unterschied zwischen (1) und (4), der besten und der schlechtesten Möglichkeit, da bei beiden nur der Zeitpunkt des Wissens unterschiedlich sei. Allerdings findet Kommerell in dieser Reihe wieder eine Lücke, indem er den Gegensatz zur Möglichkeit „Vorhaben. Wissen. Nicht tun. (1)“ vermißt. Diese (1) entgegengesetzte Möglichkeit sei bei Aristoteles nicht zu finden. Also ergänzt Kommerell sie: E. Vollständig logische Reihe: Wissen. Vorhaben. Tun. (3) Wissen. Vorhaben. Nicht tun. (4) Tun. Wissen. (2) Nicht tun. Wissen (x)

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Vorhaben. Wissen. Nicht tun. (1) Vorhaben. Wissen. Tun. (y). (LA 194)

Die Möglichkeit (y) stellt den Fall dar, wenn jemand eine Tat plane, dann von dem Verwandtschaftsgrad erfahre und die Tat dennoch ausführe. Kommerell gibt verschiedene Erklärungen an, warum Aristoteles diese Möglichkeit weggelassen habe. Zum einen könnte Aristoteles sie als Abart der Möglichkeit „Wissen. Vorhaben. Tun. (3)“ angesehen haben, da die geistige Situation des wissenden Durchführens bei beiden Möglichkeiten die gleiche sei. Zum anderen könnte sie weggelassen worden sein, weil die Erkenntnis keinen Umschwung bringe und damit die Peripetie ihre Funktion verliere. Zum dritten würde in (y) die wissende Durchführung der Tat viel schrecklicher, und der Handelnde, der durch die Erkenntnis nicht seinen Beschluß ändere, würde eine uninteressante Verhärtung an den Tag legen. Kommerell verweist noch auf einen anderen Punkt. In der Situation, in der jemand, der eine Tat geplant habe, ihre Furchtbarkeit erkenne und sie dennoch ausführe, sei die Furchtbarkeit des Unternehmens subjektiv, sowohl für das handelnde Subjekt, als auch für die anderen, da das Unternehmen erst durch das Wissen furchtbar werde (vgl. LA 195). Bei dieser Möglichkeit gehe es also um das handelnde Subjekt, das, wenn es die geplante Tat trotz des Wissens zu Ende durchführe, einen Seelenkampf mit sich austrüge. Aber, so Kommerells Urteil über die Geschichte der Tragödie, es sei nicht die Aufgabe des Aristoteles gewesen – er habe sie verwerfen müssen –, diesen Seelenkampf darzustellen, sondern die des modernen Dichters. Das Problem bei der letzten Reihe sei nun, daß zwei von sechs Möglichkeiten von Aristoteles tatsächlich verworfen worden seien. Deshalb vereinfacht Kommerell die Reihe, indem er sie in Bezug auf das Tun anordnet: F. Die aufs Tun bezogene Reihe: Tun mit vorgängigem Wissen (3) Tun ohne vorgängiges Wissen (2) Nicht tun mit vorgängigem Wissen (1). (LA 196)

Die vierte Möglichkeit „Nicht tun ohne vorgängiges Wissen“ werde nicht aufgeführt, da sie für Aristoteles gegenstandlos sei. Die Möglichkeit (4) „Wissen. Vorhaben. Nicht tun.“ der Reihe „E. Vollständig logische Reihe“ werde nicht genannt, da sie nur eine unwesentliche Differenzierung der Möglichkeit „Nicht tun mit vorgängigem Wissen (1)“ sei. Kommerell stellt in dieser Reihe jedoch eine Ungenauigkeit fest, da das „vorgängige Wissen“ der Möglichkeit (1) zeitlich früher liege als das der Möglichkeit (3). Deshalb stellt er eine neue Reihe auf und richtet sie nach dem Wissen aus, insbesondere nach der zeitlichen Stellung des Wissens: G. Die aufs Wissen bezogene Reihe: Wissen vor Tun (3)

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Wissen vor Nicht tun (1) Wissen nach Tun (2). (LA 196)

Dies ist nun die letzte aufgestellte, die endgültige Reihe. Hier ergäben sich, so Kommerell, keine Unstimmigkeiten mehr und die Bedeutung der Reihe sei klar. Bei der Rangordnung werde deutlich, daß die Möglichkeit (3) den geringsten Wert habe, weil die leidvolle Tat von Anfang an geplant und nicht durch eine Verkennung gemildert werde. Außerdem sei die Anlage zu arm für Wendungen und es fehle das philosophisch Faszinierende, wenn die Wendungen aus falschen oder richtigen Daseinsauslegungen hervorgingen. Die Möglichkeit (1) sei deshalb der Möglichkeit (2) vorzuziehen, da (2) ein verhindertes Pathos darstelle. (1) zeige allerdings ein echtes, wirklich infolge von Unkenntnis vollzogenes Pathos. Die Erkenntnis der wahren Situation löse dann die Peripetie aus. Kommerells Vorgehen, diese Reihen wie mathematische Gleichungen aufzustellen und sie bis zur Lösung umzuformen, ist ein für die Literaturwissenschaft ungewöhnliches Verfahren. Sein Hang zur Schematisierung tritt erneut hervor. Er weicht hierbei auch von dem essayistischen Stil ab, der in seinen literaturwissenschaftlichen Aufsätzen zu Tage tritt. Die seit Mitte der 1930er einsetzende Verwissenschaftlichung wird an dieser Stelle überspitzt. Dieses Verfahren ist zu verstehen als Gegenentwurf zum ausufernden Stil der literaturwissenschaftlichen Studien, die aus dem George-Kreis hervorgegangen sind, wie z. B. Friedrich Gundolfs Goethe (1916) oder Kommerells eigene Klassik-Studie. Damit nimmt er wiederum eine Abgrenzung von Stefan George vor. Kommerells Absicht ist es, mit den Reihen die Bedeutung des Wissens für den tragischen Verlauf herauszustellen. Er will zeigen, „wie grundlegend, wie gesetzgebend das Wissen, d. h. die Auslegung der Situation durch die in ihr Verstrickten auch bei den Pathosformen ist“ (LA 197). Auch wenn Georg Schleypen dieses Verfahren nicht zu unrecht als „etwas umständlich“ bewertet,148 hat es verschiedene Vorteile. Kommerell legt plausibel dar, daß bei der Art des Pathos’ entscheidend ist, wie der Handelnde seine Situation, in die er verstrickt ist, auslegt. Dieses Wissen ist bestimmend für Erkennung und Peripetie, die aus dem bisherigen Wissensmangel hervorgehen. Damit wird, so Holthusen, die Bewußtwerdung zum „eigentlich tragische[n] Moment in der Tragödie“.149 Kommerells Erläuterung von Aristoteles’ Poetik gipfelt in der Bestimmung des Begriffs Wissen – er erhebt das Wissen zu einem zentralen Merkmal der antiken Tragödie: „Dies ist ein entscheiden-

148 Schleypen, Aristoteles, S. 116. 149 Holthusen, Klassik, S. 77.

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der Punkt antiker Tragödie, antiker Theorie, antiker Lebensauffassung“ (LA 197). Die „eigene Meinung“, die sich Kommerell bei dieser tragödientheoretischen Untersuchung „selbst erarbeiten“ hat (LA 7), soll im folgenden näher dargestellt werden, um Kommerells Auffassung der Moderne zu rekonstruieren. Wenn Kommerell Lessings Drama charakterisiert, läßt sich daran erkennen, wie er selbst zur dramatischen Gattung steht. Ausgehend von seiner These, daß Lessing kein Lyriker, ja der Lyrik „noch fremder als Schiller“ gewesen sei (LA 32), sieht Kommerell Lessings Weg zum Drama als zwangsläufig an. Sein dialektischer Geist sei durch das Drama gefesselt worden. Er habe sich besonders für das Drama interessiert durch „den Anteil, den das Bauen an seiner Form hat, durch das Gefüge, den Bezug der Teile, die Anlage auf Spannung und Steigerung, die Vorbereitung der Katastrophe“ (LA 32). Wie in den Faust-Studien (vgl. Kap. V) zeigt die Beschäftigung mit ‚Bauformen‘, die aus diesem Ausspruch hervorgeht, ein Merkmal von Kommerells Verfahren der textnahen Beobachtungen. Außerdem stellt er heraus, daß es die Planmäßigkeit sei, die Lessing am Drama schätze und die man bei keiner anderen Kunstform im selben Maße finde. Damit räume Lessing dem Drama einen besonderen Platz unter den Gattungen ein, der sich durch die Kompositionsart auszeichnet. Lessing habe es vermocht, „einen Vorgang oder die ganze Welt durch eine Mehrzahl von Individuen zu betrachten, zu erleiden, zu behandeln, und in Verständnis und Mißverständnis die Verschiedenheit der Aspekte auszuwechseln, sowie beiseitestehend den Abstand der Spieler und der Zuschauer von der Wahrheit jeweils auszumessen“ (LA 32). Kommerell hebt als Besonderheit heraus, daß das Drama ein Ereignis durch eine Mehrzahl von Individuen und nicht etwa ein Geschehen aus der Perspektive eines einzelnen lyrischen Ichs oder eines personalen Erzählers betrachte. Zudem gewinne das Drama an Aussagekraft, indem es die verschiedenen Perspektiven der Zuschauer und der Figuren deutlich mache und das unterschiedliche Wissen über die Wahrheit aufzeige. Wenn ein Autor, so Kommerell weiter, in der Lage sei, den dramatischen Stoff in dieser Form umzusetzen, beweise er sich selbst als Dichter (vgl. LA 32). Wie in den Ausführungen zum Kaiserlichen Blut gezeigt wurde (vgl. Kap. IV), ist es auch ein Kennzeichen von Kommerells dramatischen Stücken, die Perspektive aus einer Mehrzahl von Individuen zu gestalten und den Unterscheid von Zuschauer und Figuren aufzuzeigen. Über die Art des antiken und modernen Dramas äußert sich Kommerell, wenn er Aristoteles’ Einteilung der Tragödie in vier Arten beschreibt. Jener teile sie in erstens die verflochtene Tragödie, zweitens die pathetische Tragödie, drittens die ethische Tragödie und viertens die einfache Tragödie ein (vgl. LA 180). Die ethische Tragödie, in der die Auseinandersetzung des

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Innenlebens der Charaktere dargestellt werde, sei für Aristoteles nur eine Ausnahme gewesen, weil in ihr die Konstruktion des Geschehens zurücktrete. Dementsprechend werde sie von ihm nicht eingehend behandelt. Daß die ethische Tragödie vom modernen Drama aufgegriffen worden sei, kritisiert Kommerell, da sie eigentlich von Aristoteles als sekundär eingestuft wurde: „Von dieser Abart [...] stammt unser ganzes modernes Drama ab“ (LA 180). Das ist zugleich ein Verweis von Kommerell gegen die „moderne Charakterologie“ (LA 35) und das psychologisch motivierte Drama. Dahinter steht seine Wahrnehmung der Moderne als Krise. Kommerell versteht die Poetik als Definition von tragischer Konstruktionskunst. Er betont, Aristoteles habe kein apriorisches Schema der Tragödie entworfen – wie es z. B. in der Regelpoetik bei Gottsched geschieht. Vielmehr habe Aristoteles die Tragödien seiner Zeit beobachtet, das Vorliegende bezeichnet und daraus die Bedingungen für das Gelingen der Tragödie als Kunstwerk aufgestellt. Nur insofern sei die Poetik konstruktiv. Kommerell konstatiert den hohen Rang der aristotelischen Poetik in der Literaturgeschichte. Denn Aristoteles habe die Leistungen, die die überlieferten Tragödien aufzeigten, begriffen und sie als Beobachtungen ausgedrückt, die grenzenlos anwendbar seien. Deshalb sei die Poetik „wohl bis heute die fruchtbarste und dauerhafteste Theorie der Kunst“ (LA 190). Die Äußerungen über Lessings Theorieverständnis zeigen Kommerells Verhältnis zur Theorie überhaupt. Theorie wird als Bedingung des Schaffens beschrieben (vgl. LA 25). Ein Wesensmerkmal von Lessings Kunst liege darin, daß jeder Satz, jede Rede und jede Szene eine Funktion habe, und es Willkür nicht gebe. Lessing betone die Berechnung von Wirkung (vgl. LA 26). In der Beschreibung von Lessings Verfahren stellt Kommerell außerdem heraus, daß die Funktion der Teile bestimmend sei und – die Theorie auf die Dichtung angewandt – einen Bezug des kleinsten wie des größten Teils auf das Ganze bedeute. An dieser Stelle zeigt sich wieder Kommerells Vorstellung über die Relation von Teil und Ganzem (vgl. Kap. V). Der Funktionalismus sei teils durchgeführt, teils versteckt. Das Persönliche in der Tragödie liege nicht im Ausdruck der Seele, sondern in der Abwandlung und Vereinfachung der Gattung. Der Grad der Dichtung könne an der Kraft der Vereinfachung abgelesen werden. Ein Widerspruch zwischen Vereinfachung und Verknüpfung aller Teile werde aufgelöst, indem ein Gegenstand der Tragödie mehrere Zwecke erfülle. Daraus ergibt sich, daß ein Teil eine Funktion allein, z. T. verdeckt, oder mehrere Funktionen zugleich erfüllen könne (vgl. LA 27). In Lessings Regelaufstellungen für das Dichten erkennt Kommerell, daß „die Theorie [...] im Grunde ein Niederschlag der Praxis“ sei (LA 28). Da die Einsicht bestehe, daß alle Kunst schwer sei, müsse die Theorie möglichst weit vertieft werden. Damit tritt Kommerells Verständnis von Theorie als Hilfsmittel für das praktische Dichten hervor. Seine Darlegung der Theorie

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als „Niederschlag der Praxis“ führt er weiter aus, um in Bezug auf Lessing das gängige Verhältnis folgendermaßen umzudrehen: „Was ist Praxis? Theorie, nichts anderes als Theorie: angewandte Einsicht in das Lebensgesetz der Gattung“ (LA 28).150 Der Zusammenhang von Kunst und Leben wird in Lessing und Aristoteles vielfach betont. Kommerell nähert sich dieser Frage durch die gattungstheoretische Beobachtung, daß bei Aristoteles das Drama auf seine Wirkung bezogen sei: „die Wirkungsart ist es, durch die ein Werk als einmalige Erfüllung des Gattungsgesetzes bestimmt wird“ (LA 26). Das Drama werde also nicht gemacht, um für sich selbst da zu sein, sondern durch die Wirkung, die es ausüben soll, in seiner Art bestimmt.151 Diese Wirkung sei auf den Zuschauer bezogen: „Ihr [der Tragödie] Wesen wird bestimmt an der Wirkung, welche die aufgeführte Tragödie im Gemüt der Zuschauer hervorbringt“ (LA 201). Wenn Kommerell die Tragödie durch die „psychologische Wirkung“ definiert (LA 58), meint er nicht eine psychologische Metaphysik bei Aristoteles, sondern eine psychologische Methode,152 die einem anthropologischen Verfahren gleichkommt.153 Kommerell weist auf den Gegenentwurf hin, daß die Kunst „wie in jedem klassischen Zeitalter“ (LA 30) für sich selbst da sein könne. Den Unterschied zwischen dem 17. Jahrhundert und der Zeit von Aristoteles sieht er gerade darin, daß die Kunst in der neueren Zeit zum ersten Mal aus sich selbst heraus begründet worden sei. Deshalb wird Corneilles Tragödie als die „künstlichste Kunst“ angesehen (LA 229). Bei Lessing hingegen stellt er wieder eine Annäherung an Aristoteles fest. Da Lessing das Mitleid als das zentrale Anliegen der Tragödie betrachte, werde die Tragödie nicht „erzählende“ Kunst, sondern „vergegenwärtigende Kunst“: „Er entdeckt im Mitleid den Affekt des Sichhineindenkens, der aufgehobenen Distanz zwischen Zuschauer und Spiel“ (LA 207). Hier zeigt sich einmal mehr Kommerells Anliegen der Vergegenwärtigung vergangener Kunst. Daß Aristoteles so viel Wert auf die Wirkung der Tragödie lege und ihre Beschaffenheit mit der Wirkungsabsicht begründe, erklärt Kommerell mit einer ontologischen Perspektive: Dies Verfahren aber, eine Sache aus ihrem Ziel zu erklären, [...] ist kennzeichnend für die Seinslehre des Aristoteles, und es drängt sich also eine Anwendung seines metaphysischen Grundgedankens auf diese merkwürdige Tragödiendefinition auf. Ihre Eigenart und Gültigkeit wird dadurch erst vollkommen deutlich; ihr Überraschendes und Unerwartetes wird als eine aristotelische Grundvorstellung einfach und überzeugend. (LA 59)

150 151 152 153

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

ebd. S. 154f. Lesky, Kommerell, S. 242. Holthusen, Klassik, S. 78. Wellek, Critic, S. 493.

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Damit gelingt es Kommerell, wie Holthusen feststellt, seine eigene Meinung zur Poetik zu entwickeln, indem „er einen Grundgedanken der Seinslehre des Aristoteles, das Verhältnis von dynamis (Potentialität) und energeia (Aktualität) auf seine Definition der Tragödie anwendet“.154 Zur Bestimmung der Tragödie bei Aristoteles durch die Wirkungsart kommt hinzu, daß erst die zentrale Aufgabe der Tragödie, die Erschütterung, sie zur Kunst mache: „Nur durch ihn [den Vorgang der Erschütterung] wird die Tragödie als Kunst begreiflich. Sie wirkt sich zu Ende, sie entwirkt sich, sie verwirklicht sich. Sie selbst als Kunstwerk ist das jeweilige Beispiel; der tragische Prozeß im Gemüt des Zuschauers aber ist ihre eigentliche, immer gleiche Form“ (LA 201). Damit werde die Tragödie zur „eigentlich wünschenswerten Kunstform“ (LA 33), da sie das Mittel zur Versinnlichung, zur Steigerung und zur Erschütterung besessen und diese Emotionen beim Zuschauer ausgelöst hätte. Kommerell betont ferner, daß die Tragödie als Nachahmung angesehen werde, da das Leben der Tragödie vielfach ähnlich sei. Die Menschen müßten sich durch ein Spiel von den Affekten Tun und Leiden zu befreien suchen (vgl. LA 95). Weiter spezifiziert wird der Akt der Nachahmung, wenn es heißt, daß das Nachahmen als ein „durch die Kunst nachgeahmtes Sein“ zu verstehen sei (LA 111). Die Tragödie nehme durch das Nachahmen ihren speziellen Charakter an: „Funktionell bestimmend ist bei der Kunst überhaupt das Nachahmen, bei der Tragödie die besondere Art des Nachahmens, die einerseits aus der Empirie der bisher hervorgetretenen Nachahmungsarten, andererseits aus den diese Nachahmungsarten sowohl bestimmenden wie begleitenden tragischen Affekten abgeleitet wird“ (LA 56). Die Bedeutung des Nachahmens wird von Kommerell noch gesteigert, wenn er postuliert: „alle Kunst ist Nachahmung“ (LA 104). Jene besondere Art des Nachahmens, die die Tragödie aufbiete, mache die Tragödie – hier fällt Kommerell seine Entscheidung im Streit der Gattungen – zur höchsten Form der Kunst: „Aus der Nachahmungslehre ergibt sich [...] das Prinzipat der Tragödie unter den dichterischen Gattungen“ (LA 56). Da Kommerell in Lessing und Aristoteles erkennt, „daß das Drama potenzierte Kunst“ und „die künstlichste Kunstform ist“ (LA 165), ist sein Dramenverständnis durch seine Auffassung der Kunst und ihrer Funktion für das Leben zu erklären. Die Überleitung vom Verfahren der Tragödie zur Aufgabe der Kunst für das Leben geschieht wiederum über den Begriff der Nachahmung: „Durch diesen Grundbegriff der Nachahmung ist das Fürsichsein der Kunst von Anfang an vernichtet“ (LA 172). Die Kunst sei nicht für sich selbst da, sie werde nicht aus sich selbst heraus begründet: „Ebenso

154 Holthusen, Klassik, S. 75.

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ist eine Begründung der Kunst aus der Kunst heraus, also auf einen ästhetischen Wertbegriff, dem Aristoteles ganz fremd“ (LA 55). Mit der Ablehnung der Behauptung, daß die Kunst für sich selbst da sei, wird die Vorstellung einer ‚l’art pour l’art‘, die die französischen Symbolisten vertraten und die auf den George-Kreis wirkte, ausgeschlossen.155 Hier deutet sich wieder Kommerells Abgrenzung von George an. Daß Aristoteles, laut Kommerell, niemals die Kunst aus der Kunst heraus begründen, sondern die Dichtung anthropologisch verstanden haben wollte, betont ebenfalls Arthur Henkel.156 Kommerell nähert die Opposita Leben und Kunst einander an,157 setzt den ästhetischen Bereich in einen Lebenszusammenhang und findet damit bei Aristoteles eine Aufhebung des Schönen: „Damit ist, am Anfang der europäischen Ästhetik, der Begriff des Ästhetischen in sich aufgehoben“ (LA 58).158 Die Kunst sei nicht für sich selbst und ebensowenig für den Künstler da (vgl. LA 256). Die Tragödie werde nicht als Kunstform definiert, sondern als Wirkungsart auf das menschliche Gemüt. Die Wirkungsart, die Katharsisfunktion, wird von Kommerell als das Merkmal, das für die Tragödie konstituierend ist, angesehen.159 Hier findet Kommerell eine Ähnlichkeit zwischen Lessing und Aristoteles: Bei Lessing beziehe sich diese Wirkungsart besonders auf das Gefühl, sich in jemanden hineinzuversetzen – also auf das Mitleid (vgl. LA 36). Außerdem grenzt er Lessing von Goethe ab, der alle Wirkungen strengstens aus der Kunstlehre verbannt habe (vgl. LA 62). Bei Aristoteles sei die Tragödie hingegen nicht Kunstphänomen, sondern Lebensvorgang der tragischen Erschütterung: „Für Aristoteles gibt es die Tragödie als bloßes Kunstwerk gar nicht; der tragisch konzipierende Geist, der tragisch rezipierende Geist, der Akt der Konzeption und der Rezeption sowie das diese Möglichkeit jeweils dieser Wirkung entgegenführende tragische Werk sind das eine Ganze, von dem er spricht“ (LA 62). Die Kunst werde von Aristoteles als „das eine Ganze“ zusammengeführt: „Denn wenn Aristoteles das Geschehen in sich zur Ganzheit bindet, oder das Geschehen mit dem Tun, so ist dies eine Bindung, die wiederum das Sein nachahmt, d. h. ihre Geltung nicht auf den Gesetzen des Kunstwerks, sondern auf den Gesetzen des Geschehens in der Welt begründet“ (LA 225). Aus der Absage an das „Fürsichsein“ ergibt sich eine neue Aufgabe für die Kunst. Diese Aufgabe richtet die Kunst, die sich nicht auf selbst beziehen kann, auf das Leben aus. Die Tragödie wiederum werde in der Poetik, so

155 156 157 158 159

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Lesky, Kommerell, S. 242. Henkel, Nachwort DD, S. 246f. Simon, Weltliteratur, S. 78. Holthusen, Klassik, S. 78. Simon, Weltliteratur, S. 79.

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Kommerell, als „seelengeschichtliches Phänomen“ und „als ein der menschlichen Beschaffenheit entsprechendes [...] Kunstverfahren“ angesehen (LA 203). Er erklärt die Kunst sogar zum „Lebensphänomen“ (LA 104). Sie hat also nicht nur eine Aufgabe für das Leben, sondern ist auch wie das Leben – damit liegt eine anthropologische Kunst vor: „Kunst, oder im besonderen hier behandelten Fall die Tragödie, als Einheit von Form und Verwirklichung, ist selbst eine Form, d. h.: ein sich Verwirklichendes, und ist also nicht nur lebensähnlich, sondern lebensartig“ (LA 177). Zugleich ist das Leben auf die Kunst hin angelegt, es soll durch die Kunst erhöht werden.160 Kommerell räumt in seiner Aristoteles-Auslegung der Kunst eine besondere Funktion für das Leben ein, die sich aus Aristoteles’ Interesse am Menschen ergebe: „Sein Interesse an der Dichtung und an der Kunst ist ein Interesse am Menschen überhaupt: keine Dichtungsart der Kunst verband aber innerhalb des griechischen Lebens so sehr die Dichtgattung mit einer ihr entsprechenden Institution wie diese, so daß die sprachliche Form und die psychologische Wirkung in ein- und denselben Akt des aufgeführten Kunstwerks zusammenfiel“ (LA 214). Kommerells Verbindung von Kunst und Leben ist auch in der Forschung thematisiert worden: Simon spricht von der Kunst als „Ergänzerin des Lebens“161 und Holthusen sogar von einer „biologischen Einheit von Kunst und Leben“.162 Das verweist auf den anthropologischen Charakter der Kunst in Kommerells Vorstellung.163 Da Aristoteles in der Poetik auf den Lebenscharakter der Kunst eingeht, erklärt Kommerell: „Anthropologe ist er auch in der Poetik; von Schönheit als dem Sinn der Kunst in sich selber, von einer erzieherischen Aufgabe der Kunst spricht er dort nicht“ (LA 96). Nach Kommerells Auffassung hat die Kunst eine Funktion für das Leben, sie soll dem Menschen helfen, sich selbst zu finden und ihn mit sich selbst versöhnen: „so wird weiterhin die Lebensfunktion der tragischen Wirkung, innerhalb derer sich die Kunstgattung rein anthropologisch aus dem zugehörigen Seelenvorgang deutet, zu einem Schulungsmittel auf dem Weg des Menschen zu sich selbst, des immer menschlicher werdenden Menschen“ (LA 106). Die menschliche Seele werde also vom Übermaß an Mitleidsbereitschaft durch die Tragödie wiederherstellt (vgl. LA 214). Damit wandelt sich die aristotelische Lehre zur Charakterlehre der modernen Theorien des Tragischen und bezieht sich nicht nur auf die Kunstanschauung, sondern auf das Verständnis des Menschen überhaupt (vgl. LA 214).

160 161 162 163

Vgl. Holthusen, Klassik, S. 79. Simon, Weltliteratur, S. 80. Holthusen, Klassik, S. 73. Vgl. Wellek, Kommerell, S. 493.

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VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944

Für die Frage nach Kommerells Verfahren der textnahen Beobachtungen bleibt festzuhalten, daß er auch bei Aristoteles ‚Bauformen‘ und die ‚TeilGanzes-Relation‘ findet. Aus der Untersuchung, wie Kommerell das Verhältnis von Kunst und Leben in Lessing und Aristoteles darstellt, ergibt sich, daß er der Kunst einen anthropologischen Charakter zuschreibt und den Menschen im Schillerschen Sinn mit sich selbst versöhnen soll. Diese Auffassung ist im folgenden Abschnitt in Verbindung zu setzen mit Ausführungen aus der Aufsatzsammlung Geist und Buchstabe der Dichtung. Wie Kommerell selbst die beiden Studien Lessing und Aristoteles und Geist und Buchstabe im Vergleich einschätzt, geht aus einem Brief vom 31. Juli 1940 an seinen ersten Mentor Ernst Kayka hervor: „Das Lessing-Buch ist leider ein bissl langweilig, dagegen will ich Dir meine Aufsatz-Sammlung schicken, wenn ich wieder heimkomme“.164 Nach zweijährigen Vorarbeiten erscheint Lessing und Aristoteles schließlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1940. Trotzdem ist es möglich, daß Mitglieder der Berufungskommission durch Manuskripte oder allein durch Ankündigungen und Verlagsanzeigen von der anstehenden Veröffentlichung beeindruckt waren. Schon am 25. April 1939 hatte Hans-Georg Gadamer an den Dekan Taeger geschrieben, daß Kommerell, „wie ich höre, demnächst auch vor den Fachgenossen durch eine gelehrte Arbeit über Lessing und die aristotelische Poetik“ seine Qualifikationen unter Beweis stellen werde.165 Die Kommissionsmitglieder waren also auf das Erscheinen vorbereitet, und so könnte das Entstehen der Studie die Berufungsentscheidung mitbeeinflußt haben. VII.2.3 Geist und Buchstabe der Dichtung 1940 „[S]chon um solcher methodischen Besinnung willen scheint die Sammlung berufen Epoche zu machen“,166 schreibt einer der Rezensenten über Kommerells Aufsatzsammlung Geist und Buchstabe der Dichtung. Die Analyse der darin enthaltenen Aufsätze, die z. T. schon in anderen Kapiteln vorgenommen worden ist, wird hier zusammengeführt, um Kennzeichen von Kommerells Interpretationsverfahren herauszuarbeiten. Außerdem ist auf die Bedeutung von Geist und Buchstabe für das Marburger Berufungsverfahren einzugehen. Deshalb werden zuerst Entstehungs- und Wirkungsgeschichte erläutert, dann

164 DLA Marbach, Brief Kommerell an Ernst Kayka vom 31.07.1940, Nachlaß Kommerell, A: 84.1480/1. 165 StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371. 166 Böhm, Hans: Rez. zu Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung, in: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde 42 (1940), H. 11, S. 468–469, hier: S. 468.

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Kommerells Schiller-Studien auf das Verhältnis von Kunst und Leben hin untersucht und abschließend Kommerells Interpretationsverfahren skizziert. i) Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Geist und Buchstabe 1940 erscheint die Aufsatzsammlung Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Kleist, Hölderlin bei Vittorio Klostermann in Frankfurt.167 Wie aus dem Untertitel deutlich wird, ist der Umfang viel geringer als bei der uns heute vorliegenden, sechsten vermehrten Auflage von 1991 (GB). Ein Faust- und ein Schiller-Aufsatz werden erst in der zweiten bzw. dritten Auflage dazugenommen, auch Schillers Name taucht im Untertitel erst ab der zweiten Auflage auf. Fast alle Aufsätze in der Sammlung sind Wiederabdrucke von Studien, die zwischen 1934 und 1939 veröffentlicht wurden. Nur der Hölderlin-Aufsatz erscheint in der Sammlung als Erstdruck. In der dritten, durchgesehenen und vermehrten Neuauflage von 1944 umfaßt der Band drei Faust-Aufsätze: Faust II. Teil. Zum Verständnis der Form (1936), Faust und die Sorge (1939), Faust II letzte Szene (1940); zwei Schiller-Aufsätze: Schiller als Gestalter des handelnden Menschen (1934), Schiller als Psychologe (1934/35); einen Kleist-Aufsatz: Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist (1937); und einen Hölderlin-Aufsatz: Hölderlins Empedokles-Dichtungen (Erstdruck). In die Ausgaben nach dem Zweiten Weltkrieg werden keine weiteren Aufsätze aufgenommen. Damit behandeln alle Aufsätze deutsche Dramen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Der Publikation gehen intensive Diskussionen mit dem Verleger voraus. In einem undatierten Brief, wahrscheinlich aus dem Jahr 1939, teilt Kommerell Klostermann mit: Es scheint mir allmählich an der Zeit, meine weitverstreuten und schlecht zugänglichen Aufsätze, die doch meine Meinung über wesentliche Gegenstände enthalten, zu sammeln, und zwar in der Form, in der sie gedruckt sind. Es würde sich wohl ergeben, daß man von den bei Ihnen erschienenen den Schiller und das Volkslied dazunimmt. Es ergäbe sich dann: 1) Schiller als Gestalter des handelnden Menschen 2) Schiller als Psychologe (Jahrb. des Hochstifts) 3) Volkslied und deutsches Lied 4) Die Sprache u. das Unaussprechliche (eine Betrachtung über Hr. v. Kleist) 5) Das Gedicht Goethes (Goethe-Kalender) 6) Goethes Ballade vom vertriebenen Grafen (N. Rundschau) 7) Goethes Paria-Ballade (Goethe-Kalender)

167 Kommerell, Max: Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Kleist, Hölderlin, Frankfurt/M 1940. Fortan zitiert nach der 6. Aufl. von 1991 als Sigle GB.

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VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944

8) Faust II. Teil (Corona) 9) Humoristische Personifikation im Don Quixote (N. Rundschau) 10) Dame Dichterin (über Murasaki) (Corona) Ob Sie ‚Jugend ohne Goethe‘ beifügen wollen, würde ich Ihnen anheimstellen. ‚Hofmannsthal‘ ist unmöglich. Ich möchte Sie nun fragen, ob Ihnen eine solche Sammlung zu veranstalten trotz der obwaltenden Schwierigkeiten tunlich erscheint, und ob Sie bereit wären zur Herausgabe. Wenn ja, so wäre ich meinerseits sehr erfreut, sie in Ihrem Verlag erscheinen zu sehen. Ich bitte Sie um eine Rückäußerung.168

Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede kommt vermutlich nicht mehr in Frage aufgrund der darin geführten Auseinandersetzung mit George, die für Kommerell Ende der 1930er Jahre abgeschlossen ist. Im Gegensatz zu verbreiteten damaligen und heutigen Annahmen, beabsichtigt Kommerell mit der Aufsatzsammlung, wie aus diesem Brief klar wird, eine Gesamtausgabe seiner Aufsätze, um sich im Marburger Verfahren besser plazieren zu können. Der Grund seiner Bestrebungen geht aus einem weiteren Brief an Klostermann hervor, auch wenn der zwei Jahre später, am 21. Oktober 1941, verfaßt ist: „Es fahren jetzt etwa ein Dutzend mir z. T. recht wichtige Aufsätze von mir in der Welt herum, ohne daß sie jemand kennt, und ich muß daran denken, einiges unter Dach zu bringen“.169 Dahinter steht die Absicht, sich im Berufungsverfahren mit der gesamten Breite seiner Publikationen zu präsentieren. Ende 1939 nehmen die Planungen konkretere Formen an, wie aus einem Brief Kommerells an Klostermann vom 11. Dezember 1939 hervorgeht: „Als Titel der Aufsatz-Sammlung erwäge ich noch: ‚Versuche über Dichtungen‘. Ich bemühe mich, die Zeitschriftenexemplare zusammenzubringen“.170 Klostermann wird wahrscheinlich auf eine stärkere inhaltliche Konzentrierung gedrängt haben. So kommt wohl die Auswahl mit Goethe, Kleist und Hölderlin zustande. Offenbar will der Verleger Schiller als Psychologe anfangs nicht abdrucken, daher erscheint der Name Schillers nicht im Untertitel. Erst kurz vor dem Druck dürfte dieser Aufsatz mit aufgenommen worden sein. Die Wirkung von Geist und Buchstabe zeigt sich u. a. in den Verkaufszahlen. Schon ein Jahr nach dem Erscheinen zeichnet sich ab, daß die Ausgabe, deren Auflage sich nicht mehr ermitteln läßt, schnell verkauft sein wird. Am 12. August 1941 schreibt Klostermann an Kommerell:

168 DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann o. D. [um 1939], Nachlaß A: Klostermann. 169 DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 21.10.1941, Nachlaß A: Klostermann. 170 DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 01.12.1939, Nachlaß A: Klostermann.

VII.2 Die Berufung nach Marburg 1939–1941

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schon vor einigen Wochen deutete ich Ihnen den baldigen Ausverkauf der ersten Auflage ‚Geist und Buchstabe‘ an. Inzwischen ist der Verkauf trotz der Sommermonate in ein noch schnelleres Tempo geraten, sodaß das Buch im September vergriffen sein wird. Ich will noch einen Versuch machen, ob ich nicht doch Papier für eine zweite Auflage bekomme. [...] Augenblicklich wird alles abgelehnt. Obwohl bereits im Druck, sind die Anträge von Friedrichs Dantebuch, Lipps Menschliche Natur, Wolfs Stifterbuch, abgelehnt worden.171 Ich fürchte, auch Gadamers Herder wird es nicht besser gehen. Nur der geringe Umfang kann es vielleicht retten. Ich setze natürlich meine Bemühungen um die Bewilligung fort, aber es ist fraglich, wann sie zum Ziel führen.172

Daß die zweite Auflage erscheint, obwohl Projekte anderer bekannter Autoren wie Hans-Georg Gadamer, Hugo Friedrich oder Hans Lipps abgelehnt werden, zeigt die Besonderheit von Kommerells Sammlung. Der geringe Umfang dürfte dabei weniger eine Rolle gespielt haben, denn die zweite Auflage wird sogar noch erweitert. Kommerell antwortet Klostermann am 24. August 1941: „Es freut mich, daß die Aufsatzsammlung so rasche Abnahme gefunden hat, und ich möchte vorschlagen, den Versuch zu machen mit einer neuen Auflage. Dabei wäre zu überlegen, ob der andre Schiller-Aufsatz [Schiller als Gestalter des handelnden Menschen] noch einzufügen, und dem Aufsatz: Faust und die Sorge meine inzwischen in einer Fachzeitschrift erschienene Interpretation der letzten Szene [Faust II letzte Szene] gekürzt anzuhängen wäre (etwa 10 Seiten)“.173 Die Motivationen des Verlegers, sich für neues Papier einzusetzen, werden im Briefwechsel deutlich. Er wittert in Kriegszeiten ein gutes Geschäft und schreibt am 8. September 1941 an Kommerell: „Die Papierlage ist sehr schwierig, und wird auch noch schwieriger werden. Die Verhältnisse im Buchhandel sind völlig chaotisch: die Buchhändler kaufen, was sie nur kriegen können. Von dem neu erschienenen Buch von Eckardt ‚Iwan‘174 hätte ich die 3000 Stück allein an drei oder vier verschiedene Buchhandlungen in Berlin verkaufen können. Wo früher der Buchhändler mit Mühe zu bewegen waren, 1 Exemplar zu bestellen, will er jetzt 50, 100, und 500 Stück haben. Das gilt natürlich nicht für alle Literatur, aber für die Bücher, die in irgend-

171 Gemeint sind Friedrich, Hugo: Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, Frankfurt/M 1942 (Das Abendland 6); Lipps, Hans: Die menschliche Natur, Frankfurt/M 1941 (Frankfurter wissenschaftliche Beiträge, Kulturwissenschaftliche Reihe 8); Wolf, Erik: Der Rechtsgedanke Adalbert Stifters, Frankfurt/M 1941; und: Gadamer, HansGeorg: Volk und Geschichte im Denken Herders, Frankfurt/M 1942 (Wissenschaft und Gegenwart 14). 172 DLA Marbach, Brief Vittorio Klostermann an Kommerell vom 12.08.1941, Nachlaß A: Klostermann. 173 DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 24.08.1941, Nachlaß A: Klostermann. 174 Gemeint ist Eckardt, Hans von: Iwan der Schreckliche, Frankfurt/M 1941.

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einer Form allgemeines Interesse beanspruchen dürfen“.175 Am 12. September 1941 berichtet Klostermann sogar von der außerordentlichen Wirkung, die Kommerells Sammlung in Ausland erzielt: „Ein Pariser Verlag beabsichtigt eine Uebersetzung Ihres Aufsatzbandes Geist und Buchstabe der Dichtung zu bringen. Ich nehme an, daß Sie dagegen nichts einzuwenden haben“.176 Im weiteren Verlauf kreisen die Diskussionen um die Frage, welche Aufsätze in der zweiten Auflage hinzugenommen werden könnten. Am 10. September 1941 fordert Kommerell von Klostermann: „Ich lege Wert darauf, daß wenigstens noch die Ergänzung des Aufsatzes ‚Faust und die Sorge‘ in der Neuauflage dieser Aufsatz angehängt wird; durch einen Absatz, ein Sternchen, oder 2 Reihen Gedankenstriche getrennt. Ich sende als Manuscript beiliegenden Abdruck, mit den nötigen Streichungen. Soll man den Zusatz im Vorwort vermerken, und soll man dort auf den anderen SchillerAufsatz hinweisen?“177 Am 15. September 1941 antwortet ihm Klostermann: „aus dem übersandten Sonderdruck [Faust II letzte Szene] ersehe ich, daß dieser Ende 1940 erschienen ist – in einem Bande, der im Jahre 1941 zum Abschluß kommt. Nach dem Verlagsgesetz wird daher der Aufsatz erst am 1. Januar 1943 frei, sodaß wir ihn in dieser Auflage nicht abdrucken können. Die Weidmannsche Buchhandlung wird Ansprüche stellen. Vielleicht kann man in einer dritten Auflage den Aufsatz mit dem Schillervortrag zum Abdruck bringen“.178 Nach den Diskussionen mit Klostermann erscheint die zweite Auflage schließlich im Januar 1942 als durchgesehene und vermehrte Auflage, von der die „Hälfte der Auflage [...] bereits durch Vorbestellungen verkauft“ ist.179 Daß Kommerells Sammlung in nur zwei Jahren ausverkauft ist, spricht für die hohe Nachfrage. 1944 gegen Ende des Krieges wurde trotz des großen Papiermangels sogar noch eine dritte Auflage erstellt. Für diese Auflage wird am 9. Januar 1943 Papier bei der „Wirtschaftsstelle des Deutschen Buchhandels“ mit der Begründung beantragt, daß „jedes Semester 250 bis 300 Hörer Kommerells Vorlesungen folgen“.180 Auch die dritte Auflage wird durchgese175 DLA Marbach, Brief Vittorio Klostermann an Kommerell vom 08.09.1941, Nachlaß A: Klostermann. 176 DLA Marbach, Brief Vittorio Klostermann an Kommerell vom 12.09.1941, Nachlaß A: Klostermann. 177 DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 10.09.1941, Nachlaß A: Klostermann. 178 DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 15.09.1941, Nachlaß A: Klostermann. 179 DLA Marbach, Brief Vittorio Klostermann an Kommerell vom 22.11.1941, Nachlaß A: Klostermann. 180 Vgl. StAM, 305a Acc. 1978/15 Nr. 4054a. Vgl. DLA Marbach, Brief Vittorio Klostermann an Kommerell vom 09.01.1943, Nachlaß A: Klostermann: „Neuerdings haben nun die Hochschulen die Möglichkeit, Anträge für Bücher, die sie aus wissenschaftlichen oder

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hen und vermehrt. Angesichts der Papierknappheit schlägt Kommerell Klostermann vor, Schiller als Psychologe wegzulassen und statt dessen Schiller als Gestalter des handelnden Menschen aufzunehmen, im günstigsten Fall jedoch beide Aufsätze zu veröffentlichen.181 Daraufhin gibt der Verleger nach und druckt beide Aufsätze ab.182 Die Sammlung ist also – für Kriegszeiten besonders beachtlich – in nur vier Jahren auf drei Auflagen gekommen. Geist und Buchstabe wird in mehreren Rezensionen besprochen. Hans Böhm, der den „Eindruck einer so noch nicht erlebten Interpretationskunst“ hat, konstatiert im August 1940 in der Literatur die „heutige Krise der Literaturwissenschaft“: „Mit dieser [in der Vorbemerkung] in kaum verhüllter Ironie erhobenen Forderung [nach Auslegung des Textes] betritt die Literaturwissenschaft nach langem Fremdgehn wieder eigenen Boden“.183 Kommerell, der dem Gegenstand gegenübertrete „mit jenem echt philosophischen Staunen, dem nichts selbstverständlich dünkt“, kläre die Probleme der besprochenen Dramen „in behutsamster Analyse tiefsinnig“.184 Böhm lobt, daß „die Vieldeutigkeit und Undeutlichkeit dieses Mysteriums [...] nie so klar gefühlt und bedacht worden“ sei,185 und sieht die Krise als Chance: „Es erscheint begreiflich, wenn man nach solchem bohrenden Forschen die Faust-Kommentare als überholt und entwertet empfindet. Doch wird in aller Zerstörung zugleich der Umriß eines Neubaus sichtbar, den auszuführen Kommerell vielleicht anderen überlassen wird; er hat genug getan, wenn der den Betrachter aus allzu vertraulicher Nähe in eine Entfernung verweist, welche das ungeheure und ungeheuerliche Alterswerk und seinen Schöpfer erst zu sehen gestattet“. In diesem Zusammenhang geht er auf die sprachliche Darstellung ein: „Dem ist die zuchtvolle Sprache gemäß, die – unsere Proben zeigen es – dichterisch glühen kann, meist aber in geistigster Verdichtung an-

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Lehrbetriebsgründen für wichtig halten, zu befürworten. Da für Ihren großen Hörerkreis dringend ein geeignetes Werk gebraucht wird, so werden Sie es vielleicht leicht erreichen können, daß der Rektor oder Dekan (ich weiß nicht, welche Stelle hierfür zuständig ist) eine Befürwortung ausspricht, die die Chancen des Verlagesantrages erhört. Alle Unterlagen finden Sie in der Anlage. Der Text der Begründung ist nach dem Verständnis der papierverwaltenden Stellen formuliert“. DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 11.01.1943, Nachlaß A: Klostermann: „Einsichtige Beurteiler wie z. B. Heidegger haben meinen ersten Schilleraufsatz (Schiller als Gestalter u.s.w.) mit ihrem Lob ausgezeichnet, hingegen den zweiten, in jenem Buch abgedruckten, beanstandet. Jener erste Aufsatz ist ja seit längerem vergriffen. Würde es nicht der neuen Auflage einen Reiz der Abwechslung verleihen, wenn wir diesmal jenen ersten Aufsatz statt des zweiten einrücken würden?“. Siehe auch DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 01.02.1943, Nachlaß A: Klostermann. Vgl. DLA Marbach, Brief Vittorio Klostermann an Kommerell vom 12.01.1943, Nachlaß A: Klostermann. Böhm, Rez. GB, S. 468. Ebd. S. 468. Ebd. S. 469.

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deutend, aphoristisch redet, entschieden und doch unaufdringlich leise, wie um die hohen Schatten nicht zu scheuen, die der Deuter, sein Blut gebend, zum Sprechen bringt. Kommerells bislang schönstes Buch, das Werk einer Haltung, die im höchsten Sinne sittlich heißen darf“.186 Helmut Wocke rezensiert die Aufsatzsammlung 1941 in der Zeitschrift für deutsche Philologie.187 Wocke, der sich bei Kommerell „sofort in die Bezirke des reinen Geistes emporgehoben“ fühlt, erkennt das Neuartige am Interpretationsverfahren und bewundert „die gleiche Art der Betrachtung, die sich an keine der in unserer Wissenschaft herrschenden Methoden hält, sondern von der Würdigung der Form ausgehend das Wort als solches sprechen läßt und zu deuten sucht“.188 Der Wissenschaftler Kommerell sei „ein Forscher von hoher Kultur, der den Reichtum seines Wissens und Könnens als Selbstsicherheit in sich trägt und zugleich als bergende Schutzwehr“. Ihm gelinge es, das Verborgene in der Dichtung zu enträtseln: „jenes Geheimnis, das im Kunstwerk unerschöpflich wirkt und hinter Dingen und Ereignissen webt: als ein Undeutbares“.189 Nach Wockes Ansicht benutze Kommerell das Medium des Essays um seine Doppelbegabung als Schriftsteller und Wissenschaftler produktiv zu machen: „Die Beiträge, die es vereint, sind weniger Aufsätze als Essays – Essay im Sinne Heinrich Hombergers190 genommen: als eine zwischen Wissenschaft und Dichtung stehende Form der Darstellung, die der Schwere forschenden Suchens und suchenden Forschens enthoben ist und zugleich (ohne wieder ganz Kunst zu sein) künstlerische Wesenszüge in sich trägt – eine Schilderung, die aber ungebrochen wirkt, weil in ihr die Gegensätze und Widersprüche miteinander verschmolzen und zu reiner Einheit im Geiste geläutert sind“.191 Andreas Heusler hatte schon am 22. Dezember 1937 gegenüber dem Frankfurter Dekan Langlotz ausgeführt: „Unter ‚rein fachlich germanistischen Gesichtspunkten‘ kann man meines Bedünkens die gedruckten Sachen Kommerells nicht beurteilen. Man würde damit dem besten an ihnen nicht gerecht“.192 Durch die Grenzverwischung entstehe eine Doppelbegabung: „die ‚wissenschaftliche Produktion‘ von Max Kommerell nimmt eine

186 Ebd. S. 469. 187 Vgl. Wocke, Helmut: Rez. zu Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 66 (1941), S. 110–111. 188 Ebd. S. 110. 189 Ebd. S. 110f. 190 Gemeint sind Homberger, Heinrich: Essays, hrsg. v. Ludwig Bamberger u. Otto Gildemeister, Berlin 1892 und ders.: Ausgewählte Schriften. Essays und Fragmente, München 1928. 191 Wocke, Rez. GB, S. 111. 192 Das gesamte Gutachten zitiert bei Kolk, Gruppenbildung, S. 646.

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eigenartige Zwischenstellung ein zwischen Dichtung und Wissenschaft“.193 Diese Doppelbegabung führt Kommerells Schüler Karl-Gustav Gerold als den entscheidenden Grund für die ausgebliebene Wirkung im Fach an: „Man fragt sich, warum Max Kommerells Name bis heute nicht den Klang besitzt, der ihm gebührt. Der Grund hierfür liegt in seiner Vielseitigkeit. Die Poeten betrachteten ihn als Eindringling, weil er als Universitätslehrer wirkte, die Wissenschaftler aber stießen sich an seiner dichterischen Ader und nannten ihn verächtlich einen Essayisten“.194 In der fehlenden Akzeptanz von Kommerells Doppelbegabung liegt also ein Grund für die lange Dauer seiner Zeit als Privatdozent. Emil Kast bewertet Geist und Buchstabe 1942 in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft.195 Kommerells Aufsätze bezeichnet er als „[g]ewichtige Gaben in gewohnt eindrucksstark geprägter Form!“196 Er stellt die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Aufsätze heraus: „Die Einheit der Buchveröffentlichung liegt [...] in der Methode: dem unbefangenen unmittelbaren Befragen des Gegenstandes. Formverständnis zu wecken, Auslegung des dichterischen Wortes damit zu üben, ist die Absicht aller fünf Abhandlungen“. Während er die Leistungen der Faust-Studien – im Gegensatz zu den anderen Rezensenten – nicht so hoch veranschlagt, hebt er dagegen die Kleist- und Hölderlin-Aufsätze hervor: „Sehr ergiebig sind die Einsichten zur Kleistischen Sprache. Kommerell, hier wie im Hölderlinaufsatz, erweist sich über das allgemein Fördernde hinaus als ein wahrer Meister des Aufhellens wichtiger, aber oft ganz übersehener, vernachlässigter und doch sehr bedeutender Zwischentöne“.197 An das Lob schließt sich ein Appell: „Es ist höchst wünschenswert, daß so wesentliche Aufsätze, die in Zeitschriften beim Erscheinen einigermaßen leicht zugänglich, aber allzu oft einem nur zu baldigen Entschwinden ausgeliefert sind, in Buchgestalt eine dauerhafter [sic] sichtbare Form und Gegenwärtigkeit erhalten. Wir hoffen auf weitere solche Veröffentlichungen Kommerells neben seinen großen Arbeiten“.198 Wolfgang Müller beurteilt die Sammlung 1942 in der Neuen Rundschau unter dem Titel Vom Nutzen der Interpretation.199 Damit ist die Vorstellung verbunden, daß „die Interpretation zum Kunstwerk in ein notwendiges Verhältnis“ trete: „nicht das Kunstwerk wird durch sie verdrängt, sondern seine 193 Das gesamte Gutachten zitiert ebd. S. 646. 194 Gerold, Memoriam, S. 16. 195 Kast, Emil: Rez. zu Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 36 (1942), S. 124–125. 196 Ebd. S. 124. 197 Ebd. S. 124f. 198 Ebd. S. 124. 199 Müller, Wolfgang: Vom Nutzen der Interpretation. Rez. zu Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung, in: NR 53 (1942), H. 1, S. 47–50.

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einmalige und letztlich unbegreifliche Gestalt leuchtet um so tiefer auf“.200 Dichtung fordere die „Kunst des Interpreten“ heraus. Diese Formulierungen sind sehr nah am Sprachgebrauch von Germanisten der 1950er Jahre, die im Titel von Emil Staigers Kunst der Interpretation (1955) ihren bekanntesten Niederschlag gefunden hat. Müller versteht den Titel Geist und Buchstabe der Dichtung als „Bedeutung, Deutung und Sinn“. Kommerell betrachte „das Wort in seiner dichterischen Form, in der es immer Realität und Symbol zugleich ist“. Er schätzt die „Formulierungen, die erschließend sind, weil sie nicht verkürzen, sondern Perspektiven geben“. Müller erkennt ebenfalls die neuen Interpretationsansätze: „Der zweite Aufsatz, der Schiller als Psychologen behandelt, ist ein wichtiger Beitrag zu dem neuen Schillerbild, das im Entstehen ist. [...] Denn hier geht es – und das wird in Kommerells Deutung meines Wissens zum erstenmal ausgesprochen – um den Menschen als Totalität, und dies nicht nur als Natur, sondern entscheidender in einem unmetaphysischen, darum aber nicht rationalistischen, sondern existentiellen Sinn“. Müller stimmt Kommerells Ansatz der Vergegenwärtigung zu: „Schiller so gesehen, wie ihn Kommerell sieht, ist wahrhaftig einer der Diagnostiker unseres Zustands“.201 Auch er schätzt die Ausführungen zu Kleist: „Was über Kleist gesagt wird, rührt an die Wurzel der dichterischen Aussage überhaupt“, und resümiert abschließend: „Kommerells Arbeitsweise [ist] von jener Kraft der Durchdringung und der Synthese [geprägt], die es erlaubt schichtweis, von Figur zu Figur, Frage und Antwort zu vertiefen und zuletzt die Gestalt des Dichters und der Dichtung im ganzen wirken zu lassen. Hier leistet die Interpretation, was sie soll: das Kunstwerk in seiner Fülle anschaulich zu machen“.202 Kommerells Aufsatzsammlung erfährt sogar über den akademischen Bereich hinaus Aufmerksamkeit und wird 1941 der Tageszeitung Das Reich beurteilt.203 Allen

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Ebd. S. 48. Ebd. S. 49. Ebd. S. 50. Günther, Joachim: Von Faust zu Empedokles. Rez. zu Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung, in: Das Reich (Berlin), Nr. 34 vom 24.08.1941. Außerdem befindet sich im Hessischen Staatsarchiv Marburg die Kopie eines Zeitungsausschnittes vom 21.07.1941, auf dem der Name der Zeitung nicht sichtbar ist. Die Rezension von Will Grohmann trägt den Titel „Die Sprache und das Unaussprechliche. Max Kommerells ‚Geist und Buchstabe der Dichtung‘. Der Rezensent schätzt „so viel Eindringlichkeit, so viel Erneuerung des dichterischen Erlebnisses aus dem Geist von damals für den Geist von heute“. Abschließend zieht er einen Vergleich zur Musikwissenschaft: „Das liest sich manchmal wie Interpretation, die es bisher nur in der Musikwissenschaft gab, bei Ernst Kurth etwa, wo das Unausgesprochene oft als der Schlüssel zum Ganzen verwertet wird. Es ist auf alle Fälle erstaunlich, wie unausgeschöpft die Werke der klassischen Dichter plötzlich erscheinen, wenn ein wissenschaftlich geschulter und intuitiv begabter Mensch wie Kommerell, der um Kunst weiß, sie ‚unbefangen befragt‘“, vgl. StAM, 305a Acc. 1978/15 Nr. 4054a.

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Rezensionen ist gemeinsam, daß sie Kommerells Aufsatzsammlung würdigen und neue Ansätze der Formanalyse und Interpretationskunst bemerken. ii) Die Schiller-Studien Geist und Buchstabe versammelt Studien zu vier Autoren: Goethe, Kleist, Schiller und Hölderlin. Kommerells Kleist- und Goethe-Aufsätze wurden im fünften Kapitel dieser Arbeit untersucht. Der Hölderlin-Aufsatz wird im nächsten Kapitel im Hinblick auf den Austausch mit Martin Heidegger erörtert. In diesem Abschnitt werden zunächst Kommerells Schiller-Studien betrachtet. Dabei wird die Frage verfolgt, in welchen Schritten sich bei Kommerell der Übergang von der Ablehnung historisch-philologischer Textumgangsformen hin zur Überschreitung der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst vollzieht und welcher dieser Schritte sich besonders nachvollziehbar anhand der Aufsätze über Schiller herausarbeiten läßt. Daher werden hier die Schiller-Studien nur auf das Verhältnis von Kunst und Leben hin untersucht.204 Äußerungen zum Thema Kunst und Leben finden sich nicht nur, wie oben gezeigt, in Kommerells Untersuchung Lessing und Aristoteles, sondern auch in seinen Schriften Schiller als Psychologe (SP), 1934/35 im Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts erstmals erscheinen,205 und Schiller als Gestalter des handelnden Menschen (SG), zuerst 1934 als sechster Band in der Klostermann-Reihe Wissenschaft und Gegenwart abgedruckt.206 Die Ausführungen gehen auf Vorträge zurück, die Kommerell im Schiller-Gedenkjahr 1934 hält: Schiller als Gestalter am 9. November als Gedenkrede in Bonn und Schiller als Psychologe am 17. Dezember in Goslar (vgl. SG 4, BA 299).207 Noch im Jahr 2002 stellt Walter Müller-Seidel fest, sie seien die „bedeutendsten Beiträge über Schiller, die man in dieser Zeit lesen konnte“.208 In seiner Untersuchung arbeitet Kommerell heraus, daß Schiller die Aufgabe der Kunst nicht generell definiert, sondern sie jeweils auf die Zeit bezogen habe (vgl. SG 30). Sie richte sich nach dem Zustand, der für den

204 Zur allgemeinen Interpretation dieser Aufsätze siehe Müller-Seidel, Kommerell, S. 291– 295, 306 und Holthusen, Klassik, S. 94ff., 144. Siehe auch Mehring, Reinhard: Carl Schmitts nachgelassene Hitler-Reflexionen im Lichte von Max Kommerells SchillerDeutung, in: Leviathan 33 (2005), H. 2, S. 216–239. 205 Kommerell, Max: Schiller als Psychologe, in: GB, S. 175–242 [erstmals in: JbFdH 1934/35, S. 177–219]. Hier fortan als Sigle SP zitiert nach dem Wiederabdruck in: DD, S. 65–115. 206 Kommerell, Max: Schiller als Gestalter des handelnden Menschen. Gedenkrede, gehalten in der Universität Bonn am 9. November 1934, Frankfurt/M 1934 (Wissenschaft und Gegenwart 6) [Wiederabdruck in: GB, S. 132–174]. Fortan zitiert als Sigle SG. 207 Vgl. Müller-Seidel, Kommerell, S. 296. 208 Vgl. ebd. S. 290.

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Menschen zum jeweiligen Zeitpunkt vorliege, deshalb fragt Kommerell: „wo steht jetzt der Mensch?“ (SP 86). Schiller, so stellt er fest, habe seine eigene Zeit als Modernität begriffen (vgl. SP 86). Die Begriffe „Modernität“ und „ästhetischer Zustand“ seien zentral für das Verständnis der menschlichen Situation: „Modernität ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst. Der ästhetische Zustand ist die Aussöhnung des Menschen mit sich selbst“ (SP 79).209 Dieser Zustand wird, wie Kommerell in Lessing und Aristoteles betont, psychologisch begründet (vgl. LA 64). Modernität sei bei Schiller negativ besetzt, er spreche von der „Krankheit ‚Modernität‘“ (SG 58).210 Was die Entzweiung des Menschen mit sich selbst meine, erläutert Kommerell: „Die Fortschritte des Kulturbewußtseins sind damit erkauft, daß das Verhältnis des Geistigen und des Natürlichen im Menschen falsch geworden ist“ (SG 30). Modernität bedeute im abstrakten Sinn, „daß der Mensch seine Totalität eingebüßt“ habe (SP 87). Das sei ein Verfall auf zwei Arten: „der Geist erleidet auf moralischem Gebiet die Befehle der Sinnlichkeit, indem er sein freies Handeln an den ihn besitzenden Gegenstand verliert; oder er verliert, gegenstandslos auf sich selbst bezogen, mit der Existenz auch die Form“ (SP 82). Kommerell spricht damit das Thema des idealen Ausgleichs von Sinnlichkeit und Vernunft an, das bei Schiller immer wiederkehrt. Darüber hinaus charakterisiert er Schillers Modernitätsverständnis mit der Aussage: „Modernität wäre für uns der Gift gewordene Gegensatz zwischen dem Umfang des Selbstbewußtseins und der vollen menschlichen Natur“ (SP 88). Auf der einen Seite geht Kommerell vom Menschen in seiner Ganzheit und seiner natürlichen Situation aus, auf der anderen Seite von der Selbstwahrnehmung des Menschen. Der ideale Zustand sei erreicht, wenn das Selbstverständnis des Menschen mit der natürlichen, wirklichen Situation deckungsgleich sei, wenn der Mensch sich selbst so sehe, wie er sei. Gibt es einen „Gegensatz“ (SP 88) zwischen Selbstbewußtsein und menschlicher Natur, bei dem der Umfang des Selbstbildes größer oder kleiner als die Natur des Menschen ist, dann sei der Mensch mit sich selbst entzweit (vgl. SP 89). Diese Situation werde von Schiller auch als Verstellung bezeichnet, als „eine nicht mehr bewußte, aber um so unsittlichere Verstellung im weitesten Umfang“ (SP 89). Wichtiger als das Thema Modernität und Selbstentzweiung, das nur ungenau umschrieben wird, ist für Kommerell die Frage, wie die Kunst den Menschen wieder mit sich selbst vereinigen könne. Die Frage nach der „Stö-

209 Die Entzweiung des Menschen mit sich selbst stellt Kommerell bereits in Jugend ohne Goethe fest: „Aber die Verzweiflung des neueren Menschen heißt: durch die Lehre der Zweiheit in einem nie geahnten Maß der Erde entfremdet zu sein und den Nährboden des Menschlichen Schicht um Schicht unter sich abzubauen“ (JG 26). 210 Vgl. Wellek, Critic, S. 494 und Müller-Seidel, Kommerell, S. 294.

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rung der Seele und ihrer Wiederherstellung“ (LA 102) wird schon in Lessing und Aristoteles thematisiert. In seinen Schiller-Studien schreibt Kommerell bewußt der Kunst eine Wiederherstellungsaufgabe zu und stellt klar, daß weder Moral, Religion, Metaphysik noch Wissenschaft diese Aufgabe meistern könnten (vgl. SP 82, SG 30). Das hänge mit der Beschaffenheit der Kunst zusammen. Im Gegensatz zu Wissenschaft und Moral, die ernst seien, sei die Kunst spielerisch: „die Kunst ist darum über allem, weil Moral und Wissenschaft so gut wie das gesamte Triebleben Bereiche des Ernstes sind, die Kunst allein ‚spielt‘“ (SP 82). Damit spricht Kommerell Schillers Vorstellung des Spieltriebes an. Über den Spielbegriff macht er einen Unterschied zwischen Schiller und allen anderen Autoren, die bisher über die Kunst geschrieben hätten, aus. Während bei jenen der Mensch „auch“ durch die Kunst erzogen werden könne, sei Schillers Aussage radikaler: „nur durch die Kunst kann der Mensch erzogen werden“ (SP 77).211 Die Kunst wird auf ein „moralisches Ziel“ bezogen: auf die Wiederherstellung des Menschen (SP 77). Was Kommerell als Schillers „großen Scharfsinn“ (SG 30) ansieht, ist die Verknüpfung der Kunstaufgabe mit der Frage nach der Modernität. Diese Verknüpfung umschreibt er unter Rekurs auf Schiller vor allem mit sprachlichen Bildern aus dem Feld von ‚Krankheit‘ und ‚Heilung‘. Gegen die Krankheit ‚Modernität‘ gebe es nur eine Medizin und, da die Krankheit die Suche nach der Medizin bestimme, könne „nur die Kunst das notwendige Heilmittel“ sein (SG 30).212 So münden Kommerells Reflexionen über ästhetische Reflexionen unter den Bedingungen einer entzweienden Modernität in der These von der Kompensations- und Therapiefunktion der Kunst. Es geht allerdings nicht einfach um eine Heilung – der Mensch soll vielmehr erst geheilt und dann auf einer höheren Stufe wiederhergestellt werden. Ziel ist der ästhetische Zustand, der der „vollkommenste Zustand“ sei (SP 79). Deswegen müsse das „wirkliche Ich“ mit dem „möglichen Ich“ (SP 88) versöhnt werden. Dazu genüge der Vorgang der Heilung nicht, sondern ein Dasein werde benötigt, „das nicht nur jede Möglichkeit seines Ich enthält, sondern es jedem möglichen Sein der Menschheit geisterhaft gesellt – ein entbundeneres Leben, in dem er als Element und als Gestalt die ganze in ihm gehegte Natur erschöpft“ (SP 88). Die Einheit des Menschen mit sich selber auf der „höheren Stufe“ (SG 30) liege also in der Einheit des Ichs

211 Vgl. Klausnitzer, Wissenschaft, S. 90f. und Wellek, Critic, S. 494. 212 Außerdem sei die Kunst „die einzige Möglichkeit, das Unbewußte zu verändern“ (SP 83), denn die „Kunst ist das Gute mit Charme. Eh der Mensch gebessert wird, muß er bezaubert werden“ (SG 30). An dieser Stelle ließe sich wieder der Einfluß von Zimmer, der sich auf den ganzen Aufsatz auswirkt und sich im Titel „Schiller als Psychologe“ [Herv. C.W.] wiederfindet, zeigen.

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mit allen Möglichkeiten des Ichs. Damit entstehe ein Ich, das dem Sein der Menschheit gleich sei. In diesem Zustand schöpfe der Mensch seine ganze Natur aus. Durch die Beschäftigung mit der Kunst könne demgemäß der Mensch zu sich zurückgeführt und in seinem Ganzen wiederhergestellt werden. Hier vertritt Kommerell die Idee von einem ‚ganzen Leben‘.213 In der Beschränktheit des wirklichen Lebens werde das Leben in der Kunst zum eigentlichen Leben – oder, wie Kommerell es in den Gedanken über Gedichte ausdrückt: „Kunst ist Leben des Lebens“ (GG 21).214 Dabei habe die Kunst nicht einen illusionären Charakter, sondern sei im Gegenteil ein „Rausch der Wahrheit“ (SP 89).215 Der Mensch lebe in der Kunst ein „zweites Dasein des Geistes“ (SP 88). Letztendlich ermögliche erst die Kunst „das Atmen der Seele“ (SP 89). Wie sehr Kommerell sein eigenes Verständnis der Kunst in Schiller hineinprojiziert, wird daran sichtbar, daß er für seine Zeit den gleichen Zustand des Menschen annimmt wie für die Zeit Schillers. Die Modernität und die Entzweiung des Menschen habe Schiller nicht nur für seine eigene Zeit erkannt, sondern auch für zukünftige Jahrhunderte vorausgeahnt: „Er erriet im Menschen des 18. Jahrhunderts den des 19. und 20. Jahrhunderts, den Menschen der Technik“ (SP 85). Kommerell will die Wiederherstellung des Menschen, die er bei Schiller gefunden hat, auf seine eigene Zeit anwenden und sieht darin eine Vergegenwärtigung Schillers, der „mit dem Reiz des Gegenwärtigen und mit dem Anspruch des Kommenden, ein wichtiges Wort in die Krise unserer Zeit“ spreche (SP 85). Deswegen ist die Vorstellung, nach der die Kunst den Menschen, der mit sich selbst entzweit ist, wiederherstellen soll, für Kommerell auch heute „noch so magisch wie je“ (SP 87). Er stellt heraus, daß der Kunst in der modernen Psychologie wieder eine Aufgabe bei der Therapie des Menschen eingeräumt werde und daß, trotz unterschiedlicher Begrifflichkeiten, die Absicht doch gleich sei: Wenn heute mit ganz andern Mitteln der Seelenkunde, aber mit gleicher Leidenschaft und mit einer noch deutlicher therapeutischen Wendung die Notwendigkeit der Kunst für den Menschen erwogen wird, kehrt man, ohne es zu wissen, zu Schiller zurück, der zu allererst einmal richtig gefragt hat, geradezu erleuchtend richtig. Und auch die Antwort fällt vielleicht nicht gar zu verschieden aus, sobald man sich, des Abstandes der damaligen und der heutigen Begriffsprache bewußt, Mühe gibt, das Veralten der Zeichen von der Unverwelklichkeit des Sinnes zu unterscheiden. (SG 30)216

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Vgl. Simon, Weltliteratur, S. 89. Vgl. ebd. S. 79. Vgl. Wellek, Critic, S. 494. Vgl. dazu auch SP 85. Hier gehen auch musiktherapeutischen Vorstellungen ein, die Kommerell in der Jugendbewegung kennengelernt hat.

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Von der Betrachtung der Schiller-Aufsätze bleibt festzuhalten, daß Kommerell einen Schritt von der konkreten Drameninterpretation hin zu abstrahierenden Beobachtungen unternimmt und sich, in diesem Fall, insgesamt zum Verhältnis von Kunst und Leben äußert. iii) Kommerells Interpretationsverfahren Mit dem Titel der Sammlung Geist und Buchstabe spielt Kommerell auf die Bibelstelle an, in der der Apostel Paulus im zweiten Brief an die Korinther schreibt: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2. Kor. 3,6). Kommerell drückt aus, daß es ihm um Wort und Sinn von Dichtung geht: Er interessiert sich für Form und Inhalt von Texten. Die christliche Tradition der Hermeneutik teilt sich in eine literale und in eine spirituelle Richtung. Mit der Anspielung auf Paulus stellt sich Kommerell nicht in die Tradition der wörtlichen, sondern in die der geistigen Auslegung. Damit verortet er die Problemstellung seiner Aufsatzsammlung im Kontext der spirituellen Hermeneutiktradition.217 Die programmatische Aussage des Titels wird in einer Vorbemerkung, die auf „Dezember 1939“ datiert ist, näher erläutert. Sie hebt eingangs die inhaltlichen und methodischen Gemeinsamkeiten der einzelnen Studien hervor: „Sieben [bzw. in der Ausgabe von 1940: Fünf] Aufsätze werden hier zu einem Ganzen vereinigt, weil sie alle das deutsche Drama zum Gegenstand haben. Zugleich liegt ihre Einheit in der Betrachtungsweise“ (GB 7). Dann äußert er sich zum Stand der gegenwärtigen Methoden im Fach: „Bei der Vielheit der ausgebildeten Methoden, die zudem meist von anderen Wissenschaften übernommen worden sind, und bei der so verursachten Willkür und Skepsis, scheint ein Zurückgehen auf das Einfachste, wenn auch nicht Leichteste, rätlich: auf das unbefangene Befragen des Gegenstands“ (GB 7). Mit der Sammlung seiner Aufsätze möchte er die mit der Methodenvielfalt verbundene „Willkür und Skepsis“ korrigieren.218 Er bezieht Stellung zu der bereits in den 1910er und 1920er Jahren als Krise wahrgenommenen Binnendifferenzierung der deutschen Literaturwissenschaft. Die Innovation sieht er in der Besinnung auf bereits angewandte, aber vergessene Arbeitsweisen. In einem gelungenen Wortspiel drückt er jedoch die damit verbundenen Schwierigkeiten aus. Die Auslegung eines Textes sei vielleicht das „Einfachste“, aber noch lange nicht das „Leichteste“. Darauf folgt die Formel, die Kommerell selber für sein Verfahren wählt: „das unbefangene Befragen des Gegenstands“. Das Drama ist hier der Gegenstand im engeren, die Litera217 Zur hermeneutischen Auslegungstradition siehe Schmeller, Thomas: Der zweite Brief an die Korinther (2 Kor 1,1–7,4), Düsseldorf 2010 (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Bd. 8/1). 218 Vgl. Kayser, Grenzverwirrungen, S. 73.

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tur im weiteren Sinne. An den Text, der im Zentrum steht, sollen Fragen herangetragen werden. Dieses Befragen soll jedoch ohne das Verfolgen einer speziellen Methode oder Theorie geschehen, „unbefangen“ meint hier auch ergebnisoffen. Kommerell geht mit werktheoretischen Überlegungen näher darauf ein, was er unter dem Gegenstand versteht: „In ihm ist zweierlei sogleich gegeben: Das Werk und das Wort. Form und Text also [...]. Neben das Verständnis der Form tritt die Auslegung des dichterischen Worts: sehr naheliegend und selten geübt“ (GB 7). Die Begriffe Werk, Wort, Form und Text sind zentral für Kommerells Verfahren und werden auf die Tradition der paulinischen Hermeneutik bezogen. Damit ist eine dezidiert philologische und hermeneutische Methode exponiert.219 Wie nun das „unbefangene Befragen des Gegenstandes“ vonstatten gehen soll, erläutert Kommerell im letzten Satz. Die Form eines Werkes müsse verstanden und das Wort des Textes ausgelegt werden. Mit dem Begriff ‚Auslegung‘ taucht einer der zentralen Begriffe auf, die in den methodischen Diskussionen um 1940 verhandelt werden. Auslegung bedeutet hier Deutung und Interpretation. Kommerell weist darauf hin, daß dieser methodische Ansatz für Philologen „sehr naheliegend“ sei. Er werde als das „Einfachste“ angesehen. Da er jedoch nicht das „Leichteste“ darstellt, sei er „selten geübt“ worden. Dieser Hinweis funktioniert als Distanzierung von eingeführten Konzepten wissenschaftlichen Arbeitens. Kommerells Postulat vom „unbefangenen Befragen des Gegenstands“ impliziert eine contrafaktische Imagination, die einen komplexen Interpretationsvorgang leiten soll und dazu den Umgang mit Wissen von und aus Texten reguliert. Denn um einen Text als einen fragwürdigen Gegenstand zu konstituieren und ihn „unbefangen“ zu bearbeiten, muß der Philologe etwas erwerben und zugleich etwas aufgeben: Zum einen hat er in aufwendigen Verfahren die Erfahrungs- und Wissensbestände zu akkumulieren, die sowohl dem historischen Autor und seinen Zeitgenossen als auch späteren Interpreten zugänglich waren. Zum anderen hat er diese Kenntnisse und seine eigenen, aus der retrospektiven Position erwachsenden Informationsüberschüsse zu kontrollieren bzw. zu invisibilisieren, um ungerechtfertigte Anachronismen zu vermeiden und verstellende Zuschreibungen auszuschließen. Denn daß ein „unbefangenes Befragen“ literarischer Gegenstände angesichts pluralisierter Umgangsformen allein als bewußtes Absehen von erzeugten und präsenten Wissensansprüchen möglich ist, war Kommerell wie seinen

219 An dieser Stelle ist an den Vergleich mit Ernst Robert Curtius zu erinnern (vgl. Kap. VI), der sich in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter ebenfalls mit Hermeneutiktraditionen auseinandersetzt.

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Zeitgenossen durchaus bewußt. Nur auf diese überaus voraussetzungsreiche Weise lassen sich kognitive Asymmetrien verringern und Varianten historischer Zeitgenossenschaft als gleichsam unbefangene Rezeptionshaltungen simulieren. Kommerell verfolgt seit Mitte der 1930er Jahre ein neues literaturwissenschaftliches Verfahren, das sich besonders anschaulich an den Aufsätzen herausarbeiten läßt, die in Geist und Buchstabe versammelt sind.220 Die vorliegende Arbeit bezeichnet es als Verfahren der textnahen Beobachtungen. Bisher sind schon einige Kriterien, die zu diesem Verfahren gehören, erarbeitet worden: Dissertation und Habilitationsschrift zeigen die Forschungskritik (Kap. III), Jean Paul das Konzept der Wissenschaftskunst (Kap. III), Die Sprache und das Unaussprechliche die Funktionalisierung der Gebärde (Kap. V), die Faust-Studien die Analyse von ‚Bauformen‘ (Kap. V), die CalderónInterpretation die Vorstellungen von Vorrat und Skala (Kap. VI), die Cervantes-Studien den Hang zur Schematisierung (Kap. VI), Lessing und Aristoteles und die Schiller-Studien schließlich den Bezug der Kunst auf das Leben. Nimmt man diese Punkte zusammen, so lassen sich verschiedene Merkmale feststellen, die in Kommerells Schriften zu finden sind. Er referiert häufig über weite Strecken den Inhalt der interpretierten Texte. Ein anschauliches Beispiel dafür findet sich im Aufsatz Dame Dichterin (vgl. DD 173–177).221 Für die Inhaltsangaben notiert er sich Aufzeichnungen, die in vielen Mappen im DLA Marbach erhalten sind. Dabei werden die Inhaltsangaben allerdings nicht so gestaltet, daß sie einen Leser informieren, der den Text nicht kennt. Sie setzen vielmehr einen wissenden Leser voraus und stellen ihm den Handlungsgang wieder vor Augen. Der Leser, auf den Kommerell dabei zielt, ist in erster Linie er selbst. Er benötigt die Vergegenwärtigung der Handlung, um danach die Deutung vornehmen zu können. Hier zeigt sich sein autoreferentieller Stil.222 Soweit es möglich ist, versucht Kommerell auf ursprüngliche Textfassungen zurückzugehen. Es gibt kaum eine Untersuchung, in der er nicht auf eine ältere Fassung oder auf einen

220 Zum folgenden siehe auch Klausnitzer, Wissenschaft, S. 70–104; Wellek, René/ Warren, Austin: Theorie der Literatur, Neuaufl., Königstein 1985, S. 362; und: Wellek, Theorie 1995, S. 345. Der Gießener Germanist Alfred August Götze schreibt z. B. am 5. Juni 1939: „Seine Fragestellung erkennt man besonders gut an seinen kleineren Schriften: ‚Schiller als Gestalter des handelnden Menschen‘ (1934), ‚Das Volkslied und das deutsche Lied‘ (1936), ‚Goethes Ballade vom vertriebenen Grafen‘ (1936) stelle ich höher als die meisten Bücher, die in jenen Jahren über unsere neuere Dichtung geschrieben sind“, zit. nach Kolk, Gruppenbildungen, S. 654. 221 Vgl. auch DW 122ff. 222 Dieser Selbstreferentialität ist sich Kommerell bewußt, wenn er z. B. in einem Brief an Emma Rahn vom 10. Mai 1920 nach einer halbseitigen Erläuterung über August Halm resümiert: „– Doch ich weiß wirklich nicht, ob Dich dies interessiert“ (BA 81).

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Entwurf verweist. Das ist auf seine Vorstellung zurückzuführen, dadurch die Intention des Autors erforschen zu können. Er sucht zudem nach Variationen und Authentizität von Texten. Besonders anschaulich zeigt sich dieses Vorgehen bei den Verweisen auf die Paralipomena in Faust II. Zum Verständnis der Form (vgl. GB 33–67). Kommerell hat eine Tendenz, die vielen Beobachtungen, die er unternimmt, zu typologisieren. Begriffe wie ‚Schema‘ oder ‚Gesetz‘ tauchen in vielen seiner Schriften auf. Der Nachteil, der sich daraus ergibt, liegt auf der Hand: Pauschalisierung führen dort z. T. in die Irre, wo mehr differenziert werden müßte. Wie stark Kommerells Hang zur Schematisierung ist, zeigt sich z. B. bei der Einteilung des Simplizissimus in zehn Romanformen (vgl. EN 75f.), bei der Erstellung der sieben Reihen des Aristoteles (vgl. LA 191–196) und beim Versuch, die gesamte goethesche Lyrik in ein Schema zu Goethes Gedichten mit zwölf Kategorien zu pressen (vgl. GG 57–215).223 Diese Typologisierungstendenzen verbinden Kommerell partiell mit der ‚geistesgeschichtlichen‘ Literaturforschung, die mit dem Prinzip der typologischen Generalisierung die ‚synthetische‘ Rekonstruktion grundlegender Beziehungen und Strukturen des literatur- und kulturgeschichtlichen Prozesses zu modellieren suchte, ohne dazu direkte Einflußbeziehungen zwischen Einzelzeugnissen nachweisen zu müssen. Die Darstellungsform, mit der Kommerell seine textnahen Beobachtungen ausgedrückt, ist die Sprachartistik.224 Es bereitet ihm Vergnügen, Wortspiele zu formulieren – sowohl in den Veröffentlichungen also auch in den Briefen. Das Stilmittel, das er am häufigsten einsetzt, ist das scheinbare Paradoxon. Ein bekanntes Beispiel dafür ist, wie im fünften Kapitel ausgeführt wurde, ein Titel seiner Aufsätze: Die Sprache und das Unaussprechliche (GB 243).225 Viele Untersuchungen Kommerells verbleiben nicht auf der Ebene der Interpretation, sondern verlassen den genuinen Gegenstand der Literatur, setzen eine Reflexionsstufe und einen Abstraktionsschritt ein. Oft sind es Reflexionen über Körper, Gebärde, Sein und Schein. Damit werden weitere Deutungsebenen erschlossen. Meist thematisiert Kommerell das Verhältnis von Kunst und Leben. Dabei versteht er nicht die Kunst um ihrer selbst Willen, sondern nimmt einen Bezug der Kunst auf das Leben vor. Besonders deutlich wird dies, wenn er, wie in Schiller als Psychologe, die Wiederherstellung des entfremdeten Menschen auf einer höheren Stufe im Medium der Kunst fordert (vgl. SP 88). Nach der Beschreibung von Kommerells Verfahren der textnahen Beobachtungen soll nun dessen wissenschaftsgeschichtliche Einordnung angedeutet werden, die in weiteren Untersuchungen noch differenziert werden müßte.

223 Vgl. auch DD 168. 224 Vgl. Osterkamp, Rez. Busch/Pickerodt, S. 129–131. 225 Vgl. auch DW 120.

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Geist und Buchstabe der Dichtung demonstriert nicht nur die intellektuelle Entwicklung Kommerells, sondern auch jene Veränderungen in der deutschen Literaturforschung, die in der Fachgeschichtsschreibung als Methodenwechsel von der ‚Geistesgeschichte‘ zur ‚werkimmanenten Interpretation‘ rubriziert wird. Allgemein gilt Hans Otto Burgers Sammelband Gedicht und Gedanke. Auslegungen deutscher Gedichte von 1942 – Kommerell setzt seinen Titel Gedanken über Gedichte übrigens bewußt dagegen – als Beginn der ‚werkimmanenten Interpretation‘, mit dem das Ende der ‚geistesgeschichtlichen‘ Literaturwissenschaft festgeschrieben werde.226 Doch Begriffe wie ‚Auslegung‘, ‚Deutung‘ und ‚Interpretation‘ werden, so die hier vertretene Hypothese, schon 1940 in signifikantem Ausmaß häufiger verwendet als etwa um 1935.227 Daher wären frühe Ansätze und Innovationsschübe um 1940 noch in weiteren Forschungen zu untersuchen.228 Kommerell legt in Geist und Buchstabe der Dichtung sein eigenes Verfahren vor, das als eine Vorform der im Laufe der 1940er Jahre zunehmend praktizierten ‚werkimmanenten Interpretation‘ angesehen werden kann. Mit einem Unterschied allerdings: Die ‚werkimmanente Interpretation‘ nimmt nicht den Abstraktionsschritt vor wie Kommerell. Kritik an seinen Fachkollegen übt Kommerell implizit, wenn er der „Vielfalt der ausgebildeten Methoden“ sein „Zurückgehen auf das Einfachste, wenn auch nicht Leichteste“ entgegensetzt. Diese Kritik äußert er explizit in seinem privaten Briefwechsel in verschärftem Ton. Sie zieht sich vom Anfang bis zum Ende seiner Karriere. Am 9. Oktober 1931 berichtet er Christiane Zimmer: „Trier, die Philologenversammlung, wurde wegen ‚Kritischer Gesamtlage‘ abgeblasen – o weh! welche geläuterten Geistesschätze blieben dadurch ungehoben! Wir wären ganz gerne hin, weil’s so eine schöne Stadt ist“.229 Am 29. Dezember 1932 teilt er Ernst Bertram mit: „Unsern Fachgenossen werde ich immer fremder. Es scheint sich mir das reine absolute Nichts als ihre mütterliche Athmosphäre [sic] schützend über sie auszubreiten“.230

226 Zur ‚Werkimmanenz‘ siehe Danneberg, Lutz: Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation, in: Barner/König, Zeitenwechsel, S. 313–342; Müller, Genealogie, S. 269–282; Rickes, Joachim/ Ladenthin, Volker/ Baum, Michael (Hgg.): 1955 – 2005. Emil Staiger und „Die Kunst der Interpretation“ heute 50 Jahre, Bern 2007; und: Schütt, Julian: Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 1996, S. 123–136. 227 Dies müßte eine quantitative Analyse von Monographien und Zeitschriftenveröffentlichungen noch belegen. 228 In diesem Zusammenhang wären besonders auf Emil Staigers Die Zeit als Einbildungskraft der Dichtung von 1939 und Klemens Heselhaus’ Annette von Droste-Hülshoff. Die Entdeckung des Seins im 19. Jahrhundert von 1943 einzugehen. 229 DLA Marbach, Brief Kommerell an Christiane Zimmer vom 09.10.1931, Nachlaß Zimmer, A: 74.114/7. 230 StGA, Brief Kommerell an Ernst Bertram vom 29.12.1932, Kommerell II, 1104.

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VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944

An Heinrich Zimmer schreibt er am 29. Dezember 1936: „Dazu in der Uni. nachhaltiger Verdruß und bedenkliche Lage: obschon der Lehrerfolg diesmal besonders gut war. [...] Die Fakultät benimmt sich gut gegen mich; aber ich bin nicht wichtig genug, als daß die Kraniche meinetwegen den Krieg mit den Pygmäen aufnehmen, was jetzt sowohl in meinem wie im Interesse der Institution liege – aber Besseren passierte Schlimmeres!“231 Am 28. Februar 1940 stimmt er Hans-Georg Gadamer zu: „Ihre Meinung über die Germanistik teile ich. Leider bin ich wieder darauf gestoßen worden, daß man mich nicht hören will; und es scheint wirklich nicht bloß die Abneigung der Fachgenossen, und auch nicht bloß eine Lokalgewalt Ursache zu sein. Aber ich stimme Ihnen bei, daß der versilberte Vogelkäfig mit Bad, Speckschwarte und Hanfsamen, als welcher mir ein Ordinariat erscheint, mir den entlaubten aber auch nicht umgitterten Zweig, auf dem ich mich jetzt wiege, nicht ersetzen wird!“ (BA 33). VII.2.4 Die zweite Berufungsrunde 1940/41 Bis Kommerell das Ordinariat als „Vogelkäfig mit Speckschwarte“ erhält, wird es noch zwei Jahre dauern, weil sich das Marburger Berufungsverfahren in die Länge zieht. Die Berufungspolitik Ende der 1930er, Anfang der 1940er Jahre ist durch eine Pluralitätsakzeptanz zur Niveauwahrung gekennzeichnet. Das bedeutet, daß Parteistellen weniger stark als Mitte der 1930er Jahre in Berufungsverfahren eingreifen und die Fakultäten die Kandidaten relativ autonom auswählen können. Durch diese Situation wird die Berufung Kommerells begünstigt. Am 31. Mai 1939 ergeht zwar der Ruf an Walther Rehm. Eine schnelle Besetzung erfolgt jedoch nicht; die Verhandlungen dauern Monate an. Da die Emeritierung Harry Mayncs mit dem Ende des Wintersemesters 1939/40 bevorsteht, versucht der Dekan Fritz Taeger gegen Ende des Jahres 1939 Druck auf das Reichserziehungsministerium auszuüben. Als erster Schritt auf dem Weg zur Berufung soll Rehm mit der Vertretung in Marburg betraut werden. Am 8. Dezember 1939 erklärt Taeger dem Ministerium, daß die Fakultät „den größten Wert darauf legen muß, diese Kraft möglichst schnell hier einsetzen zu können. Gleichzeitig bittet sie den Herrn Minister, mit allem Nachdruck auf eine Beschleunigung des Berufungsverfahrens hinzuwirken“.232 Taegers Schreiben hat Erfolg und die Vertretung wird bewilligt.

231 DLA Marbach, Brief Kommerell an Heinrich Zimmer vom 19.12.1936, Nachlaß Zimmer, A: 74.119/12. 232 StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371.

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Das Berufungsverfahren wird allerdings nicht umgehend erfolgreich abgeschlossen. Rehm kann nicht nach Marburg berufen werden, da er zum Sommersemester 1938 zum ordentlichen Professor in Gießen ernannt worden war. Es gibt eine Sperrfrist, nach der man zwei Jahre lang an einer Universität angestellt sein mußt, bevor man an eine andere Universität berufen werden kann. Diese Sperrfrist ist noch nicht verstrichen. Der Reichsstatthalter in Hessen, Sprenger, hatte deswegen Einspruch gegen eine Berufung Rehms eingelegt. In Vertretung des Reichserziehungsministers weist der Sachbearbeiter Prof. Harmjanz die Marburger Fakultät am 22. Februar 1940 auf die Sperrfrist hin: „Ich ersuche deshalb die Philosophische Fakultät zu veranlassen, neue Personalvorschläge beschleunigt einzureichen“.233 Die Fakultät ist durch den Einspruch verärgert und versucht, sich dagegen zu wehren. Der Aufforderung, eine neue Liste zu erstellen, widersetzt sie sich gar. Am 3. März 1940 bedauert Taeger gegenüber dem Reichserziehungsministerium den Einspruch: „Die Fakultät ist aber bereit, diesen Zustand hinzunehmen, da sich Professor Rehm in diesem Semester bereits bei den Studenten so hervorragend eingeführt hat, daß sie die Aussicht, ihn gewinnen zu können, allen anderen Rücksichten voranstellt. [...] Die Philosophische Fakultät beantragt daher, die Vertretung Professor Rehms zu verlängern und sein Berufungsverfahren sofort durchzuführen, sobald die Verreichlichung der Hochschulen, beziehungsweise der Ablauf der zweijährigen Sperrfrist die Möglichkeit dazu gewähren“.234 Taegers Argumentation ist darauf angelegt, daß nach Ablauf der Sperrfrist kein Grund mehr gegen eine Berufung Rehms bestehe. Er betont, daß sich die Marburger Fakultät und Rehm bereits einig seien und Rehm den Ruf sicher annehmen würde.

233 Ebd. 1967/11 Nr. 371. 234 Ebd. 1967/11 Nr. 371: „Die Philosophische Fakultät der Philipps-Universität bedauert es auf das tiefste, daß durch den Einspruch des Herrn Reichsstatthalters Sprenger Schwierigkeiten bei der Berufung Professor Rehms nach Marburg entstanden sind. Sie ist aber einmütig der Ansicht, daß das Berufungsverfahren daran nicht scheitern darf, zumal ihr bekannt ist, daß Professor Rehm selbst die Berufung warm begrüßen würde. Es bedarf unter diesen Umständen kaum des Hinweises, daß dadurch auch für Gießen eine auf Dauer sehr schwierige Lagen geschaffen würde. Es bedeutet für die Fakultät naturgemäß eine schwere Belastung, durch diesen Einspruch die endgültige Besetzung noch um ein Trimester hinausgeschoben zu sehen, da nach Ablauf des Sommertrimesters auch bei der augenblicklichen Rechtslage keine formalen Bedenken seitens des Herrn Reichsstatthalters mehr erhoben werden können. [...] Gegen eine Vertretung in Marburg aber dürfte der Herr Reichsstatthalter keine triftigen Einwände erheben können, zumal Professor Wolff in diesem wie auch im kommenden Trimester in Frankfurt liest und zumal die Philosophische Fakultät in Marburg sich ausdrücklich auch der Gießener gegenüber zu jeder Aushilfe bei Personalschwierigkeiten bereit erklärt hat“. Das akademische Jahr 1940 wird erstmals in Trimester eingeteilt, 1941 kehrt man zur Einteilung in Sommer- und Wintersemester zurück.

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VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944

Rehm versucht jedoch, ohne daß es nötig gewesen wäre – die Marburger Fakultät hatte ja in seinem Sinne gehandelt – in das Verfahren einzugreifen. Am 31. März 1940 wendet er sich an Taeger mit dem Versuch, eine neue Liste zu verhindern.235 Er betont, daß im nächsten Semester das Veto gegenstandlos würde und sich deshalb eine neue Liste nicht lohne. Außerdem weist er auf andere Fälle hin, in denen sich Berufungen sehr lange hingezogen hätten. Rehm befürchtet, das Aufstellen einer neuen Liste könne dazu führen, daß die neuen Kandidaten Anspruch auf eine Berufung erheben. Da er an erster und einziger Stelle genannt und ihm die spätere Stelle in Aussicht gestellt worden sei, habe er einen „Quasiruf“ erhalten. Schon aus der Bildung des Wortes „Quasiruf“ wird deutlich, daß Rehm einen Anspruch auf die Stelle in Marburg erhebt: „ich kann eine Vertretung nur dann übernehmen, wenn die Aussichten weiterhin geöffnet bleiben und zwar in dem Maß wie im Januar. Man kann mir nicht zumuten, zu vertreten als Ordinarius – wohlgemerkt zu vertreten, weiterhin als derjenige, der bereits in Aussicht genommen war – primo et unico loco in Aussicht genommen war, und dann hinterher auf einmal den Ruf oder die Anfrage nicht zu erhalten. [...] jetzt habe ich auch mein Prestige ins Feld zu führen“.236 Im Fortgang des Briefes führt Rehm aus, daß er sich bei Erkrankung eines Kollegen oder der Einberufung in den Krieg anders verhalten würde. Tatsächlich geht es ihm jedoch, wie an seiner Formulierung „mein Prestige ins Feld zu führen“ deutlich wird, nicht so sehr um die Tätigkeit in Marburg, sondern um den Ansehensverlust, den eine Nichtberufung für ihn bedeuten würde. Am 18. April 1940 wendet sich Taeger wieder an das Reichserziehungsministerium. Dieses Schreiben zeigt einen interessanten Mittelweg zwischen Kooperation und Abgrenzung. Taeger führt im ersten Abschnitt aus, „daß

235 StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371: „Ich sehe also die Notwendigkeit einer neuen Liste durchaus nicht ein; ich bringe es auch deswegen zur Sprache, weil sich aus dieser Forderung Weiterungen ergeben werden, mit denen ich rechnen muß. Ich bin damals im Schnellbrief vom 5.1. nach meiner Bereitschaft, zu vertreten gefragt worden mit dem ausdrücklichen Zusatz: ‚daß Sie für die endgültige Besetzung dieses Lehrstuhls in Aussicht genommen sind‘. Man kann das als einen Quasiruf bezeichnen, aber ich will es nicht überanstrengen. Da ich ‚primo et unico loco‘ genannt war, war der Passus ‚in Aussicht nehmen‘ ziemlich deutlich“. 236 StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371: „Wenn es sich um die freundnachbarschaftliche Aushilfe für einen erkrankten oder ins Feld gerückten Kollegen handelte, ohne irgend ein Hereinspielen etwaiger Nachfolgegedanken, dann wäre die ganze Angelegenheit anders anzuschauen [...]. Sollten aber andere Gründe als das Veto Herrn Harmjanz bestimmt haben, die neue Liste zu verlangen und sollten Ihnen diese bekannt sein, so wäre ich Ihnen, Spectabilis, sehr verbunden, wenn diese mir mitgeteilt würden. Denn: das Veto ist nicht so erschütternd, daß Harmjanz eine neue Liste haben muß. Ich weiß nicht, ob sich die Fakultät dem Wunsch fügt, es geht mich auch nichts an, ich wollte heute nur meine Ansicht darlegen, um deren Verständnis ich bitte“.

VII.2 Die Berufung nach Marburg 1939–1941

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von der Universität Gießen keinerlei Schwierigkeiten gegen die Wegberufung Professor Rehms erhoben werden, da man ihm dort bei dieser von ihm selbst gewünschten Möglichkeit, eine ungleich breitere Wirkungsstätte zu gewinnen, keine Schwierigkeiten in den Weg legen will“.237 Die Fakultät spricht sich für eine Berufung Rehms aus und argumentiert, daß nach Ablauf der Sperrfirst keine Gründe mehr für ein Veto beständen und alle beteiligten Instanzen dazu ihr Einverständnis signalisiert hätten. Diese Argumentation erweckt den Eindruck, als ob Rehm auf der Liste wieder ‚primo et unico loco‘ genannt werde. Das wird im nächsten Abschnitt jedoch unterlaufen: „Eine Ergänzung der Liste hält die Fakultät unter diesen Umständen für nicht erforderlich [...]. Sie hat daher auch auf ihrer ersten Liste einen so ausgezeichneten Forscher wie den nichtbeamteten Professor May238 in Göttingen nicht vorgeschlagen, obwohl er nach seinen wissenschaftlichen Leistungen weit vor gleichaltrigen Kollegen wie etwa Herrn Borcherdt 239 in München rangiert. Professor Rehm [...] müßte in der Neuaufstellung einer Liste eine schwere Kränkung erblicken“.240 Taeger betont ausdrücklich, daß die Fakultät sich gegen die Aufstellung einer neuen Liste ausspricht. Mit der Nennung Kurt Mays aus Göttingen und Hans Heinrich Borcherdts aus München setzt er aber faktisch doch zwei Kandidaten auf die Plätze zwei und drei. Daß es sich trotz anders lautender Bekundigungen um eine Liste handelt, wird auch daran deutlich, daß die Namen von May und Borcherdt im Dokument gesperrt gesetzt sind (hier kursiv). Falls es doch von Seiten des Ministeriums zu einer Ablehnung Rehms kommen sollte, hätte die Fakultät zumindest noch zwei Wissenschaftler benannt, mit denen sie auskommen könnte. Mit dem Hinweis auf Rehms Lehrerfolge und seine gute Zusammenarbeit mit den Kollegen in Marburg tritt Taeger am Ende noch einmal deutlich für Rehm ein. Die Formulierung, daß Rehm in der Aufstellung einer neuen Liste eine „schwere Kränkung erblicken“ müßte, ist als Code zu verstehen: Taeger präsentiert Harmjanz eine neue Liste, bittet ihn aber, sie nicht als eine solche in der Öffentlichkeit darzustellen.

237 StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371: „Die Fakultät ist davon unterrichtet, daß gewisse Schwierigkeiten gegen diese Berufung entstanden sind, ist aber einmütig der Auffassung, daß das Berufungsverfahren an ihnen nicht scheitern darf. [...] Darüber hinaus hat auch der Personalreferent des Herrn Reichsstatthalters in Hessen bei einer Besprechung mit Herrn Rehm ausdrücklich erklärt, daß sich der Einspruch des Herrn Reichsstatthalters nur gegen die plötzliche Übertragung der Vertretung gerichtet habe, und daß dieser bei Lage der Dinge unter keinen Umständen ein Veto gegen die Berufung Prof. Rehms nach Ablauf der zweijährigen Sperrfrist einlegen werde“. 238 Zu May siehe Gottschalk, Jürn/ Wesche, Jörg: Kurt May, in: IGL 2, S. 1179–1181. 239 Zu Borcherdt siehe Kirsch, Mechthild: Hans Heinrich Borcherdt, in: IGL 1, S. 237– 239. 240 StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371.

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VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944

Zu Anfang des Sommersemesters 1940 lautet also die Prioritätenliste in Marburg: Rehm, May, Borcherdt. Aufgrund der ambivalenten Gutachten ist Kommerell nicht unter den ersten drei Kandidaten. Taeger wird jedoch in Sachen Kommerell wieder aktiv und wendet sich erneut nach Frankfurt. Nachdem der Frankfurter Kollege Matthias Gelzer ein Jahr zuvor darauf hingewiesen hatte, daß sich die Einstellung der Fakultät zu Kommerell an Karl Reinhardts Meinung orientiere, läßt Taeger Reinhardt durch den Marburger Mediävisten Ludwig Wolff ansprechen.241 Reinhardt antwortet Taeger am 7. Mai 1940: „Falls, wie anzunehmen, das Gutachten unseres Literarhistorikers für Ihre Fakultät von Bedeutung sein sollte, würde ich Sie bitten, zur Ergänzung unseren früheren Frankfurter, jetzt Berliner Germanisten, Herr Schwietering, gleichfalls um sein Urteil zu bitten, und zwar sowohl was den zu Beurteilenden wie was den Beurteiler betrifft. Herr Schwietering weiß über Herrn Kommerells Lehrtätigkeit und über die Frankfurter Verhältnisse in vielen Dingen noch genauer Bescheid als ich selbst. Sollten Sie zur Erklärung Ihrer doppelten Anfrage wünschen, sich auf mich [zu] berufen, so würde mir das nur angenehm sein“.242 Reinhardt geht also davon aus, daß Kommerell im Gutachten von Franz Schultz nicht so wohlwollend beurteilt werde, da er über Neid und Rivalität zwischen Schultz und Kommerell Bescheid weiß. Anstatt sich direkt für Kommerell stark zu machen, wählt er den unparteiischeren und damit plausibleren Weg, einen Dritten sprechen zu lassen. Er schlägt den Mediävisten Julius Schwietering vor, der 1932 von Münster nach Frankfurt auf den Lehrstuhl von Hans Naumann gefolgt ist, bevor er 1938 nach Berlin berufen wird (vgl. Kap. III). Er war also zur Zeit der Riezler-Affäre in Frankfurt. Ein Gutachten von Schwietering ist nicht überliefert. Allerdings gibt es ein Schreiben von Schwietering, das nach dem Krieg entstanden ist. Es ist ein Bericht vom 17. März 1948 für das Hessische Staatsministerium, der möglicherweise für Pensionsregelungen von Kommerells Witwe benötigt wurde. Da im Zusammenhang mit Entnazifizierungsverfahren oft falsche Angaben gemacht wurden, ist es mit besonderer Vorsicht zu betrachten. Es wird an dieser Stelle trotzdem zitiert, da es das einzige Mal ist, daß zwei Gegner Kommerells in Frankfurt mit Namen benannt werden: Prof. Max Kommerell war politisch und menschlich ein ausgesprochener Gegner des Natinalsozialismus [sic], er hat in diesem Sinne sehr stark auf seine Schüler gewirkt. Es wäre ein Leichtes, diese seine Haltung aus seinen Schriften zu erweisen. Da er aus seiner antinationalsozialistischen Gesinnung auch unter Kollegen keinen Hehl machte, haben ihn die damaligen nationalsozialistischen Professoren der hiesigen

241 Zu Wolff siehe Wagemann, Holger: Ludwig Wolff, in: IGL 3, S. 2062–2063. 242 StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371.

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[Frankfurter] Universität Gumbel und Nelis,243 beide inzwischen verstorben, mit den niedrigsten Mitteln bekämpft und verdächtigt. Wiederholt bin ich in der Fakultät für ihn eingetreten, um seine Stellung zu retten. Seine Parteizugehörigkeit erkläre ich mir als äußere Verteidigung gegen dauernde Angriffe.244

Am 10. Mai 1940 schlägt die Fakultät dem Reichserziehungsministerium eine erneuerte Liste vor, die Rehm wieder an erster Stelle nennt. Der Vorschlag ist in zwei Fassungen enthalten, von denen die erste vor Absendung noch zurückgezogen wurde, weil sie offenere Formulierungen enthält. Im schließlich abgeschickten Schreiben führt Dekan Taeger aus: „Prof. Rehm hat hierher mitgeteilt, daß ihm vom Personalreferenten des Herrn Gauleiters und Reichsstatthalters Sprenger ausdrücklich versichert worden sei, daß dieser bei Lage der Dinge unter keinen Umständen einen Widerspruch gegen seine Berufung erheben wird; das gleiche gilt für die maßgeblichen Instanzen in Gießen. [...] Nachdem Prof. Rehm nun aber schon im 2. Trimester die Vertretung übernommen hat, ist es auch für die Fakultät an sich schon eine schlechthin bindende Verpflichtung, ihn hier zu halten“.245 Die Fakultät sieht sich also in einer Zwangslage und plädiert deshalb für eine Berufung Rehms. Bezeichnend ist, daß die Aussagen aus der ersten Fassung über die politischen Instanzen nicht übernommen werden: „Prof. Rehm ist durch den Personalreferenten des Herrn Gauleiters Sprenger ausdrücklich davon unterrichtet worden, daß [...]; ebenso haben die maßgeblichen Instanzen in Gießen Herrn Rehm und uns gegenüber selbst ihr Bedauern darüber geäußert, daß durch die Januarvorgänge Prof. Rehm Schwierigkeiten entstanden sind, die sie selbst nicht vorausgesehen und gewünscht haben. Beide Stellen sind sich bewußt, daß sie Herrn Rehm bei der Möglichkeit, einen breiteren Wirkungskreis zu erhalten, nicht im Wege stehen dürfen“.246 Die Behauptung aus Rehms Brief vom 31. März 1940 wird direkt wiedergegeben. In der zweiten Fassung versteckt sich jedoch die Fakultät schützend hinter Rehm, wenn es heißt: „Prof. Rehm hat hierher mitgeteilt, daß [...]“. Auch das Bedauern der „Januarvorgänge“ fehlt in der zweiten Fassung. Sie wirkt dadurch distanzierter und sachlicher. Ebenso fällt das Argument, Rehm einen „breiteren Wirkungskreis“ schaffen zu wollen, weg, da es sich dabei um ein wissenschaftsinternes Argument handelt, das auf die politischen Instanzen

243 Gemeint ist der später in Berlin an Alfred Baeumlers Institut für politische Pädagogik lehrende Heinrich Nelis. Dazu siehe Horn, Klaus-Peter: Erziehungswissenschaft an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Die Berliner Universität in der NS-Zeit, Bd. II: Fachbereiche und Fakultäten, hrsg. v. Rüdiger vom Bruch, Stuttgart 2005, S. 215–228, hier: S. 219f. 244 Universitätsarchiv Frankfurt, Pers.-Akte Kommerell, Bl. 6. 245 StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371. 246 Ebd. 1967/11 Nr. 371.

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VII. Kommerells akademische Karriere 1930–1944

wenig Gewicht ausgeübt hätte. Im nächsten Abschnitt wird die Notwendigkeit einer Berufung noch einmal argumentativ unterstrichen: Die Auswahl der Herren, die sonst noch nach einhelliger Ansicht der Fakultät für die Berufung in Frage kommen, ist durch die besonderen Marburger Verhältnisse gegeben. Es ist bekannt, daß seit 1902 der Lehrstuhl gerade für Neuere Deutsche Literaturgeschichte dank einer nicht sehr glücklichen Personalpolitik einen der schwächsten Punkte im Lehrkörper bildete. Unter diesen Umständen ist es für die Fakultät von entscheidender Bedeutung, eine Persönlichkeit zu gewinnen, die dieses Fach mit neuem Geist ausfüllt und zugleich eine stark anziehende Kraft als Lehrer besitzt. Sie kennt aber niemand, der beiden Aufgaben in enger Zusammenarbeit mit den übrigen Kollegen gleich vollkommen wie Prof. Rehm lösen könnte.

Gegenüber anderen Fächern wie Philosophie und Theologie sei das germanistische Institut mit Ernst Elster247 und Harry Maync im Vergleich zu Namen wie Martin Heidegger und Rudolf Bultmann schwächer besetzt gewesen. Das hätte zur Abwanderung begabter Studenten aus anderen Fächern geführt, die im Nebenfach Germanistik nicht zufrieden gestellt worden seien.248 In der endgültigen Fassung fehlt ein Absatz, der sich mit den Leistungen und Fähigkeiten der Germanisten, die gegenwärtig in Marburg tätig sind, auseinandersetzt: „es ist weiterhin leider festzustellen, daß Herr Professor Wolff zwar ein ausgezeichneter Wissenschaftler, aber kein wirklich stark ziehender Lehrer ist, so tiefen Einfluß er auch auf hochbegabte Studenten ausübt. Professor Mitzka249 und Berthold250 können von ihrem Fachgebiet [der Linguistik] aus die dadurch entstandene Lücke nicht voll ausfüllen“.251 Es ist erstaunlich, daß diese Sätze, die so offen Kritik an den germanistischen Kollegen üben, überhaupt in die erste Fassung eingehen konnten. Das geht wohl auf die interdisziplinäre Besetzung der Berufungskommission und größtenteils wahrscheinlich auf Taeger selbst zurück. Wolff, Mitzka und Berthold setzen vermutlich die Streichung dieser Passage durch. Im Anschluß an die Schilderung der Marburger Problemlage nennt die Fakultät doch noch zwei Ersatzkandidaten für Rehm: „Eine Anzahl von wissenschaftlich gut ausgewiesenen Herren kommt wegen einer nicht entsprechenden Lehrbegabung für sie nicht in Frage. Aus diesen Gründen hat die Fakultät seinerzeit dann auch nur einen primo et unico loco-Vorschlag gemacht. Sie nennt darum jetzt auch nur unter schweren Bedenken noch die ordentlichen Professoren an den Universitäten Kiel und Erlangen, Dr.

247 248 249 250 251

Zu Elster siehe Köhler, Kai: Ernst Elster, in: IGL 1, S. 430–432. Vgl. Köhler, Kunstwissenschaften, S. 411. Zu Mitzka siehe Peters, Jelko: Walther Mitzka, in: IGL 2, S. 1241–1243. Zu Berthold siehe Christiansen, Hanna: Luise Berthold, in: IGL 1, S. 160–161. StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371.

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Gerhard Fricke und Dr. Benno von Wiese“.252 Bei Gerhard Fricke wird positiv hervorgehoben, daß er einschlägige Publikationen vorweisen könne und in Kiel einen großen Lehrerfolg gehabt habe. Trotz des Lobes wird immer wieder der Vergleich zu Rehm gezogen und Fricke hinter ihn zurückgesetzt, z. B. mit Verweis auf die Breite von Rehms Forschungsspektrum. Fricke, der schon seit dem Sommersemester 1939 immer wieder für Marburg im Gespräch ist, wird nur unter Einschränkung angeführt: „Fricke dagegen, dessen innere Entwicklung sich keinesweges so geradelinig vollzogen hat, würde hier wahrscheinlich sehr bald auch auf ähnliche Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit gerade mit den engeren Fachgenossen wie in Kiel stoßen. Reibungen dieser Art sind für Hochschulen mit einem sehr großen Lehrkörper bedeutungslos, können aber an einer Universität wie der Marburger, die ihr besonderes Gesicht gerade durch die enge Zusammenarbeit der Kollegen erhält, sehr bedenklich werden“.253 Die Zweifel an einer gradlinigen „inneren Entwicklung“ könnten eine Anspielung auf Frickes politische Haltung und sein schnelles Umschwenken auf die neuen Machthaber nach 1933 sein.254 Wenn eine gute Zusammenarbeit mit den Marburger Kollegen in Zweifel gezogen wird, deutet sich an, daß besonders Wolff sich mit Fricke persönlich nicht verstanden haben dürfte. Benno von Wiese wird als zweiter Ersatzkandidat ebenfalls mit Bedenken genannt,255 da seine Publikationen „weder in ihrer Spannweite noch in der in ihnen zum Ausdruck kommenden Forschungsenergie den Vergleich mit den Arbeiten Frickes und Rehms ganz aufnehmen“ könnten.256 In der späteren Fassung fehlt der ursprünglich vorgesehene Hinweis auf eine Plazierung der drei Kandidaten: „Bei Abwägung all dieser Umstände verzichtet die

252 Ebd. 1967/11 Nr. 371. 253 StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371: „Prof. Fricke ist durch eine große Zahl von wertvollen Arbeiten ausgewiesen. Sie zeichnen sich durch straffe, in die Tiefe greifende Gedankenführung aus und stehen als geistige Leistung gleichwertig neben den Arbeiten Rehms, die freilich einen ungleich größeren zeitlichen und räumlichen Rahmen umspannen. Ebenso hat sich Fricke als Lehrer glänzend bewährt. Seine Kieler Vorlesungen gehören zu den anregendsten und wirkungsvollsten in der Fakultät überhaupt. Wenn die Fakultät ihn trotzdem mit betontem Abstand nach Rehm nennt, so gibt dabei die Beurteilung seiner Gesamtpersönlichkeit den Ausschlag. Die Fakultät ist durch persönliche Kenntnis davon überzeugt, daß Rehm sich harmonisch in den Lehrkörper einfügen wird und darum bei dem geplanten Aufbau voll und allseitig einzusetzen ist“. 254 Zu Fricke siehe Schnabel, Gudrun: Gerhard Fricke, in: IGL 1, S. 525–527. 255 Zu von Wiese siehe Rossade, Klaus-Dieter: Benno von Wiese, in: IGL 3, S. 2025– 2028 und ders.: „Dem Zeitgeist erlegen“. Benno von Wiese und der Nationalsozialismus, Heidelberg 2007. 256 StAM, 307d Acc. 1967/11 Nr. 371: „Prof. v. Wiese würde sich unzweifelhaft ausgezeichnet in den Lehrkörper einfügen, wie er auch als Lehrer vollauf die hier an ihn gestellten Anforderungen erfüllen würde. Seine geradelinige, klare Persönlichkeit und sein Lehrerfolg in Erlangen bürgen dafür“.

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Fakultät darauf, eine Plazierung zwischen den beiden nach Rehm genannten Herren vorzunehmen“.257 Aufgrund der Reihenfolge bei der Nennung wird aber wohl doch in der zweiten Fassung Fricke über von Wiese gesetzt. In diesem Schreiben zeigt sich eine weitere Besonderheit: Die Dreierliste wird um einen vierten Kandidaten erweitert. Der schon herangezogene Satz mit dem Vergleich zwischen von Wiese, Rehm und Fricke lautet vollständig: „Dem ist aber entgegenzuhalten, daß seine [von Wieses] wissenschaftlichen Veröffentlichungen zwar allgemein anerkannt sind, trotzdem aber weder in ihrer Spannweite noch in der in ihnen zum Ausdruck kommenden Forschungsenergie den Vergleich mit den Arbeiten Frickes und Rehms ganz aufnehmen können, wie sie auch hinter den besten Schriften Kommerells, den die Fakultät aus bestimmten Gründen nicht mit vorschlägt, rangieren“.258 Auf den ersten Blick ist es schwer nachvollziehbar, warum Kommerell hier kurz genannt und dann sofort wieder zurückgezogen wird. Das wird nur verständlich, wenn man Taegers Aktivitäten im Hintergrund bedenkt, der erneut versucht, sich stärker für Kommerell einzusetzen. Für den Fall, daß die Berufung des Wunschkandidaten Rehm scheitert und die Ordinarien Fricke und von Wiese nicht nach Marburg zu locken sind, wird Kommerell vorsichtig wieder ins Spiel gebracht. Zum einen um die politischen Instanzen auf Kommerell vorzubereiten, zum anderen um auszutesten, wie sie darauf reagieren und ob eine Berufung möglich sein könnte. Der Verweis auf die „besten Schriften“ Kommerells könnte auch ein Hinweis auf die gerade erschienene Aufsatzsammlung Geist und Buchstabe der Dichtung sein. Außerdem dürfte Lessing und Aristoteles Anfang Mai 1940 schon angekündigt worden sein. Taeger erläutert seine Motivation, Kommerell auf der Liste zu nennen, am 31. Mai 1940 dem Frankfurter Dekan Langlotz: „Herrn Kommerell haben wir auf unserer endgültigen Liste für die Wiederbesetzung des literargeschichtlichen Lehrstuhls nicht mit vorgeschlagen; die Widerstände waren so groß, daß eine Nennung sinnlos gewesen wäre. Ich habe aber in meinem Schlußbericht an das Ministerium seine wissenschaftliche Bedeutung so stark herausgestellt, daß ihm, wie ich hoffe, durch den Umstand, von uns nicht vorgeschlagen zu werden, kein Schaden erwachsen wird“.259 Aufgrund der ambivalenten Gutachten bestehen offenbar immer noch Widerstände gegen Kommerell. Taegers Argument, Kommerell auf der Liste zu nennen, da ihm durch eine Nichtnennung ein „Schaden erwachsen“ wäre, ist allerdings nicht überzeugend. Die Vertreter des Reichserziehungsministeriums dürften nicht

257 Ebd. 1967/11 Nr. 371. 258 Ebd. 1967/11 Nr. 371. 259 Ebd. 1967/11 Nr. 371.

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gewußt haben, daß Kommerell seit 1939 für Marburg im Gespräch war. Er ist bisher auf keiner Liste aufgetaucht. Diese Nennung ist vielmehr ein Indiz, daß seine Chancen auf die Stelle in Marburg wieder ernsthaft gestiegen sind. Nachdem also am 10. Mai 1940 doch eine erneuerte Liste aufgestellt ist, sieht Rehm seine Berufung in Marburg in Gefahr. Deshalb versucht er auf ein parallel laufendes Berufungsverfahren in Würzburg Einfluß zu nehmen und wendet sich am 22. August 1940 direkt an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus in München.260 Das Reichserziehungsministerium erfährt von diesem Brief mit dem Resultat, daß am 4. September 1940 per Erlaß der Auftrag, den Lehrstuhl in Marburg zu vertreten, an Kurt May ergeht, der in Taegers Liste vom 18. April 1940 hinter Rehm und vor Borcherdt auf Platz zwei genannt war. Im Auftrag des Reichserziehungsministers setzt ein Mitarbeiter am 24. September 1940 die Rektoren in Gießen und Marburg von Rehms Vorstößen261 und ihrer Ahndung in Kenntnis: „Für die nächste Zeit hat Professor Dr. Rehm mit einer Berufung an einen anderen Hochschulort nicht zu rechnen“.262 Daraufhin schickt Taeger eine Absage an Rehm und schlägt im Namen der Fakultät am 3. Oktober 1940 dem Reichserziehungsministerium eine neue Liste vor: „An erster Stelle nennt sie auf ihr den außerplanmäßigen Professor an der Universität Frankfurt a. M., Dr. Max Kommerell“.263 Der Ruf soll also an

260 Vgl. ebd. 1967/11 Nr. 371. 261 Ebd. 1967/11 Nr. 371: „Professor Dr. Walther Rehm, dem erst im Juni d. Js. ein planmäßiges Ordinariat an der Universität Gießen verliehen wurde, betreibt seit einiger Zeit mit allem Mitteln seine Wegberufung von dort. In dem in Abschrift zur Kenntnisnahme beiliegenden Schreibens Rehms an meinen Sachbearbeiter, Professor Dr. Harmjanz, vom 10. September 1940 wiederholt er seine Bemühungen um eine Berufung nach Marburg. In dem weiter abschriftlich beiliegenden Schreiben an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus in München vom 22. August 1940, also nur 19 Tage vorher, bewirbt er sich um das Ordinariat für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Würzburg und bemerkt dabei, daß er Würzburg bei weitem Marburg vorziehe. Nach einer Mitteilung des Sachbearbeiters beim Stellvertreter des Führers, Dr. Bechthold, ist Rehm in der gleichen Angelegenheit kürzlich auch dort vorstellig geworden; am Schluß der ihm gewährten Unterredung habe Rehm angedeutet, ob er nicht nach Straßburg kommen könne, da er auch für dort der richtige Mann sei“. 262 Ebd. 1967/11 Nr. 371. 263 Das gesamte Schreiben zit. bei Kolk, Gruppenbildung, S. 655: „Kommerell hat sich durch eine ungewöhnlich große Zahl von Veröffentlichungen einen führenden Platz unter den Forschern seiner Generation errungen und hat sich ebensosehr als Lehrer in Frankfurt und an anderen Hochschulen durchaus bewährt und eine Reihe von wertvollen Dissertationen veranlaßt. Die Fakultät hätte ihn schon auf ihrer ersten Liste an führender Stelle genannt, wenn sie nicht davon unterrichtet gewesen wäre, daß gegen ihn gewisse Bedenken bestehen. Sie rühren in erster Linie von seiner früheren Zugehörigkeit zum Georgekreis her. Dieses Motiv dürfte aber heute kaum noch eine Rolle spielen, da verschiedene Angehörige des engeren Kreises auf ihren alten Lehrstühlen belassen sind oder erst in den letzten Jahren neu berufen sind, und da Kommerell selbst seine Verbindung

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Kommerell ergehen. Ein Grund dafür ist, daß er nun auf eine umfangreiche Publikationsliste verweisen kann, unter anderem durch Geist und Buchstabe und Lessing und Aristoteles. Die Publikation der Lessing-Arbeit könnte im Oktober 1940 schon vorgelegen haben. In seinem Schreiben geht Taeger mit den Vorbehalten gegen Kommerell offensiv um. Sie werden auf seine Zeit im George-Kreis zurückgeführt. Dagegen wird darauf verwiesen, daß in jüngster Zeit Georgeaner bei Berufungen keine Schwierigkeiten erfahren hätten. Die Frankfurter Verhältnisse werden ebenfalls thematisiert. Übergangen wird dabei die Riezler-Affäre, während die Vermischung von persönlichem Neid und politischer Intrige um Schultz, Gumbel und Nelis angesprochen wird. Das Thema wird als „Frage Kommerell“ bezeichnet, es handelt sich also um ein schon früher angesprochenes Thema. In der letzten Liste wurde schließlich, wie oben gezeigt, schon für ihn vorgearbeitet. Wie die anderen Listen enthält auch diese drei Kandidaten. An zweiter Stelle taucht ein Forscher auf, der schon mit Kommerell um die Dozentur in Lissabon konkurriert hatte: Wolfgang Kayser. Kommerell steht also nicht nur in einem besonderen Konkurrenzverhältnis zu Rehm, sondern auch zu Kayser: „Nach Zahl und Gewicht können seine Veröffentlichungen naturgemäß den Vergleich mit denen der an führender Stelle genannten Forscher nicht aufnehmen“.264 Bei dem 1906 geborenen Kayser wird bewußt auf sein Alter Rücksicht genommen. Ihm wird das Potential zugesprochen, sich noch entwickeln und den Rückstand auf ältere Kollegen aufholen zu können. Mit Blick auf die Studien Kleine deutsche Versschule und Das sprachliche Kunstwerk eine zutreffende Vermutung. Darin zeigt sich ein erstaunliches Gespür der wissenschaftsbeobachtenden Instanzen für seine spätere Entwicklung. Während Kaysers Studie Bürgerlichkeit und Stammestum in Theodor Storms Novellendichtung (1938) nicht besonders gelobt wird, fällt die Bewertung seiner Habilitationsschrift Geschichte der deutschen Ballade (1936) um so positiver aus. Seine Fähigkeiten als Lehrer und seine Persönlichkeit werden ebenfalls hervorgehoben. Daß er gerade im Krieg dient, wird als politischer Pluspunkt bewertet. Es ist auffällig, daß Kommerell und Kayser sowohl in Lissabon als auch in Marburg im Gespräch sind. Daraus spricht auf der Konzeptebene der Wissenschaftsgeschichte ein Interesse an neueren textnahen Interpretazum Kreise schon vor 33 gelöst hat. Die Fakultät ist von zuverlässiger Frankfurter Seite darüber unterrichtet worden, daß die dortigen Schwierigkeiten zudem noch durch die persönliche Rivalität im Kreise der engsten Fachgenossen verschärft und auf eine politische Ebene geschoben sind, ohne daß ein triftiger Grund dafür vorhanden gewesen wäre. Unter diesen Umständen bittet die Fakultät, die Frage Kommerell noch einmal von Grund aus aufzurollen, da es ihr höchst bedenklich erscheint, einen Forscher und Lehrer von seiner Bedeutung kaltzustellen, während die Nachwuchsnot schon dazu zwingt, auf Dozenten zweiten Ranges zurückzugreifen“. 264 Das gesamte Schreiben zit. ebd. S. 655f.

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tionsverfahren, die beide an den Tag legen. Einen dritten Favoriten hat die Fakultät nicht. Im Gegenteil nennt sie Kurt May, der ein Semester lang vertreten hat, nur um seine Berufung zu vermeiden: „Dagegen bittet die Fakultät nachdrücklichst, von einer Berufung Professor Mays abzusehen“.265 Taeger würdigt May als Wissenschaftler und wünscht ihm einen Platz an einem Forschungsinstitut. Als Lehrer wird er völlig demontiert. Das Sinken der Hörerzahlen wird angeführt und der Dekan evaluiert durch Vorlesungsbesuch den Lehrstuhlvertreter selbst. Die Fähigkeit zum öffentlichen Vortrag wird ihm abgesprochen. May wird unterstellt, daß er nicht in der Lage sei, eine auch nur die Grundvoraussetzungen erfüllende Vorlesung zu halten. An dieser Stelle zeigt sich wieder, daß es der Marburger Fakultät nicht nur darum ging, einen ausgezeichneten Forscher zu berufen, sondern auch einen publikumswirksamen Lehrer. Das ist damit zu erklären, daß der Neuzuberufende die Schwäche des Kollegen Wolff ausgleichen sollte. Am 16. Oktober 1940 nimmt die Gauleitung der NSDAP in Hessen Stellung zu den eingereichten Vorschlägen. Der Hochschullehrer und Dozentenbundsführer Bersin teilt dem Rektor der Marburger Universität mit: Gegen eine Berufung von Prof. Kommerell-Frankfurt wird trotz vorhandener Bedenken kein Einspruch seitens des Dozentenbundes erhoben. Auf Grund seiner früheren Zugehörigkeit zum George-Kreis und zu dem bekannten liberal-reaktionären Kreis der Frankfurter Universität konnte eine Auslandstätigkeit [in Lissabon], für die K. noch vor kurzem vorgeschlagen war, vom Reichsdozentenführer nicht befürwortet werden. Nun kann aber K. seit 1933 auf seine Tätigkeit beim Studentenbund und bei einer SA-Reiterstandarte hinweisen. Auf Grund dieser Betätigung und mit Hinblick auf die tatsächliche wissenschaftliche Befähigung K.’s erscheinen die Bedenken nicht mehr von solchem Gewicht, daß sie den alleinigen Hinderungsgrund für ein Vorwärtskommen K.’s im Inland bilden könnten.266

Mit dem „bekannten liberal-reaktionären Kreis der Frankfurter Universität“ sind Vertreter wie Riezler, Kantorowicz, Reinhardt und Otto gemeint. Da in diesem Schreiben die Kandidaten von politischer Seite aus beurteilt werden, fällt politisches Engagement stärker ins Gewicht als wissenschaftliche Eignung, die Kommerell nicht abgesprochen wird. Am 22. Oktober 1940 bekundet der Rektor Theodor Mayer seine Zustimmung zu der Liste, die von der Fakultät vorgeschlagen wurde: „Aus dem Gutachten des Dozentenbundführers ersehe ich, daß der Dozentenbund sich 265 Das gesamte Schreiben zit. ebd. S. 656: „Herr May [...] hat hier aber als Vertreter völlig versagt. Die Studenten lehnen ihn einmütig ab. Die Zahl seiner Hörer sank in 14 Tagen von 40 auf 4. Um mir ein objektives Bild zu verschaffen, habe ich im Einvernehmen mit dem Herrn Rektor eine seiner Vorlesungen besucht. Sie entsprach weder in ihrem sachlichen Gehalt noch in ihrer äußeren Form auch nur den bescheidensten Anforderungen“. 266 Das gesamte Schreiben zitiert ebd. S. 657.

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gegen eine Verwendung von Kommerell im Ausland ausspricht. Wenn aus diesem Grunde eine Berufung von Herrn Kommerell nach Marburg möglich wäre, so würde ich das sehr begrüßen“.267 Die Akzentuierung von Mayer fällt jedoch anders aus als die von Taeger. Für Mayer, der in enger Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten steht,268 ist der NS-Germanist Fricke der Wunschkandidat. Da Mayer jedoch einsieht, daß Fricke, der schon Rufe aus Berlin und Kiel erhalten hat, nicht nach Marburg kommen würde, stimmt er dem Vorschlag zu, Kommerell an erster Stelle zu nennen. Mayer weist ausdrücklich darauf hin, daß der Dozentenbund gegen den Einsatz von Kommerell im Ausland sei. Die Formulierung „Wenn aus diesem Grunde eine Berufung von Herrn Kommerell nach Marburg möglich wäre“ ist jedoch widersinnig, denn ein politisch konformer Rektor wird keinen Kandidaten bevorzugen, der für das Ausland abgelehnt wurde. Dazu paßt der positive Hinweis auf Kayser, der „geeignet“ sei, die Professur zu übernehmen. Mayer stellt sich offiziell in die Linie der Vorschläge von Fakultät und Senat, spricht aber implizit seine andere Akzentuierung aus und zieht Kayser Kommerell vor. Nachdem sich die Fakultät für Kommerell entschieden hat, drängt Mayer auf eine schnelle Beendigung des Berufungsverfahrens. Trotz dieser einhelligen Stellungnahmen für Kommerell im Oktober 1940 ziehen sich die Berufungsverhandlungen noch über mehrere Monate hin, so daß der Rektor, der die Vertretung für das 1. Trimester 1941 gefährdet sieht und den ordnungsgemäßen Lehrbetrieb garantieren möchte, sich am 3. Januar 1941 an das Reichserziehungsministerium wendet: „Ich erlaube mir daher, Sie nochmals dringend zu bitten, die Berufung von Professor Kommerell möglichst bald durchzuführen, da wir sonst, wie ich schon in meinem letzten Schreiben ausführte, in diesem Trimester keinen Vertreter für neuere deutsche Literaturgeschichte haben“.269 Daraufhin ergeht am 6. Januar der Auftrag an Kommerell, die Professur vorerst zu vertreten: „Ich beauftrage Sie hiermit, im 1. Trimester 1941 in der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg den freien Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturgeschichte vertretungsweise wahrzunehmen“.270 Am 24. Januar 1941 fährt Kommerell zu Berufungsverhandlungen nach Berlin.271

267 Das gesamte Schreiben zitiert ebd. S. 658. 268 Dazu siehe Nagel, Marburg, S. 373–452 und dies.: Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1970, Göttingen 2005, S. 156–186. 269 StAM, 305a Acc. 1978/15 Nr. 4054a. 270 Ebd. 1978/15 Nr. 4054a. 271 Vgl. ebd. 1978/15 Nr. 4054a.

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Bei der Berufung Kommerells nach Marburg kommen mehrere Gründe zusammen: die Konstellation in der Fakultät, das Taktieren Rehms und die intensivierte Publikationstätigkeit Kommerells. Sein Eintritt in die NSDAP, der nun behandelt wird, fördert allerdings auch die Berufung. In einem undatierten Ernennungsbogen, der in den Akten zwischen den Blätter vom 6. Mai und 16. Juni 1941 liegt, gibt Kommerell an, daß er seit dem 1. Februar 1939 Mitglied der NSDAP sei. Im Berlin Document Center ist jedoch kein Datum der Aufnahme als Mitglied erhalten.272 Es liegt nahe, daß Kommerell Anfang 1939 im Wissen um die Stellenbesetzung in Marburg einen Antrag auf Parteieintritt gestellt hat, der aufgrund von Überlastung der Behörde so lange nicht bearbeitet wird, daß Kommerell bei der Mitteilung der Berufung immer noch nicht Parteimitglied ist. Bis zum endgültigen Antritt der Stelle im August 1941 ist der Aufnahmeantrag offenbar angenommen. Um diesen Umstand zu verheimlichen, hat Kommerell wahrscheinlich den Parteieintritt vordatiert. Kommerell ist außerdem Mitglied der Reiterstandarte der SA. Davon berichtet er Fritz Schalk am 4. Oktober 1940: „In den Kriegseinsatz habe ich mich nicht hineinbegeben, ohne behaupten zu wollen, daß ich damit richtig gehandelt habe. Dagegen bin ich noch bei der Reit-Schule, und kam dadurch automatisch in die Partei. Da wir uns oft über meine Probleme unterhalten haben, möchte ich Ihnen auch sagen, daß sich bisher meine wissenschaftl. Situation um nichts verbessert hat. Bloß besser reiten kann ich!“273 Nach mindestens fünf gescheiterten Berufungsverfahren in Bonn, Kiel, Würzburg, Gießen und Köln tritt Kommerell also 1939/40 in die Partei ein, um überhaupt noch eine Stelle zu bekommen. Mit dem Parteieintritt ändert sich Kommerells politische Haltung und der Inhalt seiner Publikationen jedoch nicht. In Bezug auf die Parteimitgliedschaft handelt er opportunistisch. Am 19. September 1941 wird Kommerell vom Reichserziehungsminister rückwirkend zum Professor ernannt: „Ich verleihe Ihnen mit Wirkung vom 1. August 1941 ab in der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg die freie Planstelle eines ordentlichen Professors mit der Verpflichtung, die Deutsche Philologie in Vorlesungen und Übungen zu vertreten. Gleichzeitig bestelle ich Sie zum Direktor des Germanistischen Seminars der Universität Marburg“.274

272 Vgl. Köhler, Kunstwissenschaften, S. 407, Anm. 49 und Vialon, Krauss, S. 335. Auf die Angabe bei Weichelt, Kommerell, IGL 2, S. 984 ist kein Verlaß. In dem Artikel fehlt z. B. auch Kommerells Vertretungsprofessur in Gießen im WS 1935/36. 273 DLA Marbach, Brief Kommerell an Fritz Schalk vom 04.10.1940, Nachlaß Kommerell, A: 84.1505/5. 274 StAM, 305a Acc. 1978/15 Nr. 4054a.

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VII.3 ‚Gemeinschaftswerke‘ und Auslandsvorträge 1941–1943 Kommerell beteiligt sich partiell an den germanistischen ‚Gemeinschaftswerken‘, die bereits gut erforscht sind und daher hier keiner eingehenden Erläuterung bedürfen.275 Er liefert keinen Beitrag für den Sammelband Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, in Heinz Otto Burgers Sammlung Gedicht und Gedanke ist er mit dem Aufsatz Novalis: Hymnen an die Nacht vertreten. Der sog. ‚Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften‘ ist ein Instrument der NS-Kulturpolitik. Im Frühjahr 1940 übernimmt der Jurist und Rektor der Universität Kiel, Paul Ritterbusch, die Leitung der nach ihm genannten ‚Aktion Ritterbusch‘ – einem vom Reichserziehungsministerium angestoßenen ‚Gemeinschaftswerk‘, in dem die Geisteswissenschaftler in Publikationen einen Beitrag zur nationalsozialistischen Kriegspropaganda leisten sollten. Von 1941 bis 1944 erscheinen im ‚Gemeinschaftswerk‘ insgesamt 43 Monographien und 24 Sammelbände, die von der DFG finanziert werden.276 Das erste germanistische Gemeinschaftsprojekt Von deutscher Art in Sprache und Dichtung wird 1941 in fünf Bänden von Franz Koch, Gerhard Fricke und Clemens Lugowski herausgegeben.277 Die vorbereitende Tagung in Weimar ist die erste gesamtgermanistische Zusammenkunft seit 1933, die Publikation das erste Kollektivunternehmen. Im 1940 verfaßten Einladungsschreiben Zum wissenschaftlichen Einsatz Deutscher Germanisten im Kriege definieren Koch und Fricke die Ziele: „Daher gilt es gerade auch für die deutsche Geisteswissenschaft, in dieser entscheidenden geschichtlichen Stunde aktiv zur Stelle zu sein, die geistespolitische Lage mit weiter Sicht zu durchdringen und die Ideen vorzubereiten und zu klären, auf denen ein neues Europa politisch-kulturell erreicht werden kann“.278 Kommerell – wohl wegen seines Status’ als Privatdozent nicht eingeladen – nimmt an diesem Unternehmen nicht teil.279 Der zweite Sammelband, der allgemein auch als ‚Gemeinschaftswerk‘ bezeichnet wird,280 es aber streng genommen nicht ist, da er nicht in Verbindung mit der ‚Aktion Ritterbusch‘ steht, ist die von Heinz Otto Burger

275 Vgl. Hausmann, Frank-Rutger: „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945), 3. erw. Aufl., Heidelberg 2007, S. 145–153; Rosenberg, Rainer: ‚Von Deutscher Art‘ zu ‚Gedicht und Gedanke‘, in: Dainat/Danneberg, Nationalsozialismus, S. 263–270; und: Kaiser, Grenzverwirrungen, S. 51–72. 276 Vgl. Hausmann, Ritterbusch, S. 17–92, hier: S. 23. 277 Auf dem Titelblatt germanisiert Clemens Lugowski seinen Vornamen, vgl. Koch, Franz/ Fricke, Gerhard/ Lugowski, Klemens (Hgg.): Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, 5 Bde, Stuttgart/Berlin 1941. 278 Zit. nach Hausmann, Ritterbusch, S. 147. 279 Vgl. ebd. 149. 280 Vgl. Kaiser, Grenzverwirrungen, S. 53ff.

VII.3 ‚Gemeinschaftswerke‘ und Auslandsvorträge 1941–1943

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herausgegebene Interpretationssammlung Gedicht und Gedanke (1942).281 Kommerell fehlt bei der Tagung, die dem Sammelband vorangeht. In die Druckfassung wird jedoch sein Beitrag Novalis: Hymnen an die Nacht aufgenommen.282 Das spricht für die gestiegene Anerkennung, die er mit der Etablierung als Ordinarius erreicht hat. Im Aufsatz verklärt er Novalis jedoch nicht im Sinne der NS-Ideologie,283 sondern nimmt einen allgemeinen Bezug der Dichtung auf das Leben vor: Bald sind wir hineingebannt in das, was dem Dichter ist, und es ist auch für uns; bald sind wir halb bei uns, halb bei dem Dichter, und bei keinem recht. Dies macht das Gedicht zum unendlich anziehenden und verstrickenden Beispiel einer letzten Möglichkeit des menschlichen Geistes und eines Menschen, der in unserer Zeit sich selbst, die Welt und sein Leben vollkommen magisch behandelt hat, macht es aber auch zu einem Beispiel der Dichtung, die die eingebüßten Ordnungen des Lebens durch sich ersetzen will und dadurch ihre Befugnis ins Grenzenlose erweitert, einer Dichtung also, an deren Ende die Frage bleibt.284

Vor dem Hintergrund der erfolgten Berufung sind besonders Kommerells Auslandsvorträge zu betrachten. Dazu ist noch einmal auf das bereits zitierte Gutachten des NS-Dozentenbundes vom 16. Oktober 1940 zurückzukommen: Es „konnte eine Auslandstätigkeit, für die K. noch vor kurzem vorgeschlagen war, vom Reichsdozentenführer nicht befürwortet werden. [...] Auf Grund dieser Betätigung und mit Hinblick auf die tatsächliche wissenschaftliche Befähigung K.’s erscheinen die Bedenken nicht mehr von solchem Gewicht, daß sie den alleinigen Hinderungsgrund für ein Vorwärtskommen K.’s im Inland bilden könnten“.285 Von Seiten der Parteistellen her bedarf es also einer größeren Zustimmung zu Tätigkeiten im Ausland als im Inland. Mit Beginn der Besetzung anderer europäischer Länder im Zweiten Weltkrieg gewinnt die Auslandstätigkeit von Germanisten eine besondere kulturpolitische Funktion. Der Expansion auf militärischem Gebiet soll nach den Zielen der Nationalsozialisten eine Verbreitung der deutschen Kultur in Europa folgen. Kommerell ist es, wie oben gezeigt wurde, 1939 noch untersagt, nach Lissabon zu gehen. 1940/41 jedoch steht einer Berufung auf den Lehrstuhl in Marburg nichts entgegen. Nachdem er seinen ersten Ruf erhalten hat, werden seine Möglichkeiten für eine Vortragstätigkeit im Ausland anders eingestuft. Daher sind seine Anträge auf Auslandsreisen, seine Vorträge und

281 Vgl. Burger, Heinz Otto: Gedicht und Gedanke. Auslegungen deutscher Gedichte, Halle/S 1942. 282 Vgl. Kommerell, Max: Novalis: Hymnen an die Nacht, in: Burger, Gedicht, S. 202–236. 283 Vgl. Rosenberg, Gedicht, S. 269f. 284 Kommerell, Novalis, S. 236. 285 Das gesamte Schreiben zit. bei Kolk, Gruppenbildung, S. 657.

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die damit verbundenen Zeitschriftenpublikationen in den 1940er Jahren in den Blick zu nehmen. Im Februar 1940 plant Kommerell eine Vortragsreise nach Genf. Die beantragten Devisen und damit die ganze Reise werden jedoch ablehnt: „Der Leiter der Dozentenschaft erhebt gegen diese Reise Bedenken, und auch ich halte Prof. Kommerell gerade während des Krieges nicht für einen geeigneten Vertreter des nationalsozialistischen Reiches im Ausland“.286 Insgesamt hat Kommerell dann doch noch drei Auslandsvorträge gehalten, die in drei verschiedenen, von staatlichen Austauschorganisationen herausgegebenen Zeitschriften erscheinen. Nachdem er zum Ordinarius ernannt ist, darf er im September 1941 zum ersten Vortrag ins verbündete Italien reisen. Er wird von Heinrich Bodmer an das Florenzer Institut eingeladen und spricht dort über Hölderlins Aktualität.287 Der Vortrag erscheint 1941 als Das Problem der Aktualität in Hölderlins Dichtung in der Zeitschrift Geist der Zeit, Wesen und Gestalt der Völker, Organ des Deutschen Akademischen Austauschdienstes.288 Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) wird 1930 mit dem Ziel der Völkerverständigung gegründet.289 Ende der 1930er Jahre verliert er seinen Einfluß auf die auswärtige Kulturpolitik an die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes.290 Geist der Zeit ist die Fortsetzung von Hochschule und Ausland. Monatsschrift für deutsche Kultur und zwischenvölkische geistige Zusammenarbeit, die in fünfzehn Jahrgängen von 1922 bis 1937 erscheint. Geist der Zeit setzt die Reihe ab dem vierten Heft 1937 bis zum 22. Jahrgang 1944 fort. Sie wird von Wilhelm Burmeister und Herbert Scurla unter der Schriftleitung von Karl Schwarz herausgegeben. Im ersten Heft nach der Umstellung erläutern die Herausgeber das Selbstverständnis ihrer Zeitschrift: „Es gibt kein Volk in Europa, und es hat außer Griechenland auch nie eins gegeben, in dem der Geist so lebendig ist, wie in Deutschland. [...] Darum sprechen wir auch von ‚politischer Wissenschaft‘, womit die Bindung des Geistes an das Volk ausgedrückt werden soll; Geist im Sinne dieser Zeitschrift ist ‚politischer‘ Geist“.291 Im gleichen Jahrgang wie Kommerell

286 StAM, 310 Acc. 1978/15 Nr. 2898b. Vgl. auch Köhler, Kunstwissenschaften, S. 407. 287 Vgl. StAM, 305a Acc. 1978/15 Nr. 4054a. 288 Vgl. Kommerell, Max: Das Problem der Aktualität in Hölderlins Dichtung, in: DW, S. 174–193 [erstmals in: Geist der Zeit, Wesen und Gestalt der Völker, Organ des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (N. F. „Hochschule und Ausland“) 19 (1941), H. 10, S. 570–580]. 289 Dazu siehe Laitenberger, Volkhard: Akademischer Austausch und auswärtige Kulturpolitik. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) 1923–1945, Göttingen 1976. 290 Vgl. ebd. S. 142. 291 Burmeister, Wilhelm/ Scurla, Herbert: Geist der Zeit. Ein Vorwort, in: Geist der Zeit, Wesen und Gestalt der Völker, Organ des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (N. F. „Hochschule und Ausland“) 15 (1937), H. 4, S. 233–239, hier: S. 235.

VII.3 ‚Gemeinschaftswerke‘ und Auslandsvorträge 1941–1943

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schreiben u. a. Herbert Cysarz: Geschichte der Unsterblichkeit; Franz Koch: Franz Grillparzer; Eduard Spranger: Goethe – Resultate des Lebens; HansGeorg Gadamer: Herder als Wegbereiter des ‚historischen Bewußtseins‘; Arnold Gehlen: Ein Bild vom Menschen und sogar der Reichserziehungsminister Bernhard Rust: Die Reichsuniversität Posen. In dieser hochpolitisch besetzten Zeitschrift setzt sich Kommerell jedoch mit dem Problem einer vorschnellen Aktualisierung und Vereinnahmung Hölderlins auseinander (vgl. Kap. VIII). Den zweiten Vortrag hält er Ende Mai 1942 in Paris über Goethe und die europäische Jugend. Der Vortrag erscheint 1943 in der Zeitschrift Deutschland – Frankreich, die das Deutsche Institut Paris, das zu propagandistischen Zwecken im Rahmen der Deutschen Wissenschaftlichen Institute eingerichtet wurde, herausgibt, worauf später eingegangen wird. Kommerells dritter Vortrag im Ausland findet ebenfalls in Paris statt und fällt in die erste Hälfte des Jahres 1943. Er hat Hölderlins Oden zum Gegenstand und wird unter dem Titel Die kürzesten Oden Hölderlins veröffentlicht in Deutschunterricht im Ausland. Vierteljahresschrift des Goethe-Instituts der Deutschen Akademie.292 Die Deutsche Akademie wird 1925 in München gegründet und hat die Aufgabe die deutsche Kultur im Ausland zu verbreiten.293 1932 zum 100. Todestag wird das Goethe-Institut gegründet und der Deutschen Akademie unterstellt.294 Mit dem Ziel, Deutschlehrer im Ausland fortzubilden und Vorbereitungskurse für deutsche Auslandslektoren anzubieten, überschneidet sich sein Aufgabenfeld mit dem der Deutschen Akademie. Deutschunterricht im Ausland wird von Kurth Derleth herausgegeben und erscheint von 1935 bis 1944 in zehn Jahrgängen im Oldenbourg-Verlag in München und Berlin. Bis April 1939 ist die Zeitschrift primär darauf ausgerichtet, den deutschen Lektoren und Sprachlehrern im Ausland praktische Hilfen zur Sprachvermittlung zu geben. Ab dem Mai/Juni-Heft 1939 wird sie in Ausrichtung und Format umgestellt und im Umfang erweitert. Nun ist stärker ein wissenschaftlicher Charakter intendiert, um, wie der Herausgeber darlegt, „dem Leser einen geschlosseneren und nachhaltigeren Eindruck zu geben von dem Gegenstand unserer Arbeit [...], die mit der Vermittlung fremder Sprache auch fremdes Lebens- und Volkswerk nahe bringt und

292 Kommerell, Max: Die kürzesten Oden Hölderlins, in: DW, S. 194–204 [erstmals in: Deutschunterricht im Ausland, Vierteljahrsschrift des Goethe-Instituts der Deutschen Akademie 1943/44, H. 1 [Okt.-Dez. 1943], S. 48–53]. 293 Vgl. Michels, Eckhard: Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut. Sprachund auswärtige Kulturpolitik 1923–1960, München 2005, 75–189 und Scholten, Dirk: Sprachverbreitungspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands, Frankfurt/M u. a. 2000, S. 93–111. 294 Vgl. ebd. S. 94.

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verständlich macht“.295 Diese Zeitschrift vertritt damit die Propaganda der nationalsozialistischen Machthaber. Trotzdem berichtet Kommerell Hedwig Kerber-Carossa in einem undatierten Brief vom Frühsommer 1943, wie er sich den Erwartungen widersetzt habe: „Ich [...] berichte ernsthaft von Paris, wo ich mich schlecht und recht, ohne die zeitüblichen Anspielungen auf den mythischen Begründer heroischer Gesangvereine zu machen, eines HölderlinVortrags entledigte“ (BA 417).296 Mit der Deutschen Akademie in München tritt neben DAAD und DWI ein dritter Akteur der NS-Auslandskulturpolitik auf den Plan. Diese drei Institutionen bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für die verfolgte Fragestellung nach der Verknüpfung von Personen-, Institutionen- und Konzeptebene der Wissenschaftsgeschichte, die hier nur an einem Beispiel vertieft werden kann. Der ertragreichste Vortrag für diese Untersuchung ist Goethe und die europäische Jugend. Daher werden die beiden Hölderlin-Vorträge eingehend im nächsten Kapitel erörtert. Nun werden die Deutsche Wissenschaftlichen Institute betrachtet, die Zeitschrift Deutschland – Frankreich analysiert und Kommerells Goethe-Vortrag interpretiert. Seit 1940 werden in insgesamt 16 der besetzten Länder Deutsche Wissenschaftliche Institute (DWI) gegründet.297 Sie sind aufgeteilt in die drei Abteilungen ‚Wissenschaft und Organisation‘, ‚Akademischer Austausch‘ und ‚Sprachenfragen‘. Häufig steht ein Universitätsprofessor mit Ordinarienrang dem Institut vor. Die Auslandsinstitute organisieren Vortragsveranstaltungen mit deutschen, international anerkannten Professoren unterschiedlicher Disziplinen, die die deutsche Wissenschafts- und Kulturpolitik vertreten und auf diese Weise für Deutschland werben sollen. Das Pariser Institut,298 das größte und wichtigste der Auslandsinstitute und ein Instrument der Kollaboration, wird von Karl Epting geleitet, der sich 1943 bei Franz Alfred Six an der ‚Auslandswissenschaftlichen Fakultät‘ der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin für französische Landeskunde habilitiert hat. Da er jedoch keinen Ruf erhielt – trotz starker Unterstützung durch das Reichserziehungsministerium –, konnte das Pariser Institut nominell nicht in den Rang eines wis295 Derleth, Kurt: Vorwort, in: Deutschunterricht im Ausland 1938/39, H. 9 [Mai/Juni 1939], S. 1. 296 Warum Kommerell den Aufsatz – mit dem Titel La brevita de Hölderlin – ins Italienische übersetzt hat, ist nicht mehr zu klären. Die Fassung ist im DLA Marbach erhalten, vgl. DLA Marbach, Kommerell, Max: Prosa, Nachlaß Kommerell, D: 86.555/5. 297 Vgl. Hausmann, Frank-Rutger: „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“. Die deutschen wissenschaftlichen Institute im Ausland, Göttingen 2001, S. 11–60. 298 Vgl. ebd. S. 100–130; Hausmann, Frank-Rutger: Das Deutsche Institut in Paris (1940– 1944), in: Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, hrsg. v. Ulrich Pfeil, München 2007, S. 123–136; und: Michels, Eckhard: Das Deutsche Institut in Paris 1940–1944. Ein Beitrag zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen und zur auswärtigen Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1993.

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senschaftlichen Instituts aufsteigen und hieß bis zur Schließung Deutsches Institut Paris. Ziel der Auslandsinstitute ist es, eine Hegemonialstellung der deutschen Kultur in Europa zu propagieren. Sie erforschen die Nachbarländer, um deren Gleichschaltung vorzubereiten, unternehmen geographische Studien mit dem Ziel der Umsiedelung von Völkern und werben für die Kollaboration, um ausländische Eliten an Deutschland zu binden. Die Einladung zum Vortrag an ein Auslandsinstitut stellt eine besondere Auszeichnung für Geisteswissenschaftler im Nationalsozialismus dar, die nicht wie Naturwissenschaftler durch kriegstechnische Forschungen das Regime unterstützen konnten. In einer vom Direktor des Pariser Instituts formulierten Definition der Aufgaben heißt es: „Überwachung der geistigen Abrüstung Frankreichs insbesondere in Lehrbüchern und im wissenschaftlichen Schrifttum; sonstige Aufgaben der deutschen Kulturpropaganda“.299 Das wichtigste Betätigungsfeld des Instituts ist die Vortragstätigkeit.300 Das Publikum der Vorträge, die von bis zu 300 Zuhörern besucht werden,301 ist „eine Mischung aus deutschen Soldaten und französischen Studenten“.302 Mit der Einrichtung des Instituts ist die Gründung der Zeitschrift Deutschland – Frankreich. Vierteljahresschrift des Deutschen Instituts Paris verbunden, die von Karl Epting und Karl Heinz Bremer herausgegeben und von der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg mit einer Auflage zwischen 1200 und 2000 Exemplaren gedruckt wird.303 Sie erscheint von 1942 bis 1944 in neun Ausgaben mit Beiträgen auf Deutsch oder Französisch zu etwa gleichen Anteilen u. a. von Friedrich Sieburg, Ernst Jünger und Carl Schmitt. Die französischen Beiträger sind überwiegend Anhänger der Kollaboration.304 Zur Zeitschrift gehört die Schriftenreihe Les Cahiers de l’Institut Allemand, in der von 1941 bis 1944 sieben Bände publiziert werden. Die Kontroversen über den Staatsrechtsbeitrag von Rudolf Stadelmann sowie über den HerderVortrag von Hans-Georg Gadamer sind bereits von Frank-Rutger Hausmann umfassend herausgearbeitet worden.305 Im Auftaktheft von Deutschland – Frankreich, dem ein Geleitwort des deutschen Botschafters in Paris, Otto Abetz, vorangestellt ist, erläutert Karl Epting in seinem einführenden Beitrag: „Wir stehen nun aber vor einer neuen

299 300 301 302 303 304 305

Zit. nach Hausmann, Institute, S. 105. Vgl. ebd. S. 113 und Michels, Institut, S. 248–254. Vgl. Hausmann, Institute, S. 128. Vgl. ebd. S. 120. Vgl. Michels, Institut, S. 240. Vgl. ebd. S. 241. Vgl. Hausmann, Institute, S. 116–120. Dort auch die Literaturangaben. Eine Übersicht über die Beiträge der Cahiers siehe ebd. S. 114f.

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Aufgabe. Um der Zukunft Europas willen sollen neue Formen des Zusammenlebens entwickelt werden, in die auch das deutsch-französische Verhältnis einbezogen werden kann. Der deutsch-französische Gegensatz soll nicht verwischt, aber seine dogmatischen Versteifungen sollen beseitigt werden“.306 Mit der Zeitschrift wird also eine diffizile Kulturpropaganda verfolgt. Kommerells Vortrag im Deutschen Institut Paris findet am 28. Mai 1942 statt und erscheint 1943 als Aufsatz Goethe und die europäische Jugend (EJ) im zweiten Jahrgang von Deutschland – Frankreich.307 Darin setzt er sich mit der Wirkung des späten Goethe auf die Jugend auseinander. Die Ausführungen sind auf vielschichtige Weise mit der Zeit verknüpft. Kommerell vertritt die These, daß der zeitgenössischen Jugend, namentlich seiner Studentenschaft, der späte Goethe besser zugänglich sei als der junge. Damit richtet er sich nicht nur gegen Gundolf, der den jungen Goethe zum Ausgangspunkt seiner Gestalt-Monographie Goethe (1916) genommen hatte, sondern betont auch die „Überzeitlichkeit“ Goethes. Im Aufsatz, besonders in der ersten Hälfte, fällt die Wahrnehmung einer krisenhaften Zeit auf.308 Das Wort „Krise“ tritt mit zahlreichen Abwandlungen auf: „Auflösung“, „Ratlosigkeit“, „Kristallisation des Untergehenden“, „Katastrophe“, „jene Entwurzelten“, „Wendezeit“, „krisenhafte Zeitläufe“, „Unzulänglichkeit“ und „Schiffbruch“; hinzu kommen die äquivalenten Adjektive „unsicher“, „zerrissen“, „verletzt“, „drohend“ und „heimatlos“ (EJ 1–6). Insgesamt stehen auf den ersten sechs Seiten 18 Mal Ausdrücke aus dem Wortfeld ‚Krise‘. Dies kann nicht allein darauf zurückgeführt werden, daß Kommerell über Wilhelm Meisters Wanderjahre spricht, sondern zeigt seine grundsätzliche Wahrnehmung der Moderne als Krise. Außerdem ist festzustellen, daß die Positionen, die Kommerell vertritt, nicht auf der Linie der NS-Ideologie liegen. Es findet keine Heroisierung und Stilisierung Goethes zum Nationalhelden statt: „Andere unserer Dichter haben aber die Jugend verwöhnt, und wenn sie sich hie und da in einer nicht ganz deutlichen Rache gegen Goethe zur Wehr setzt, so hat dies wohl seinen Grund in einem deutschen Phänomen und in Goethes Distanz dazu – und ich zweifle nicht, daß gerade der Ausländer hierin Eigenheit und Anderssein anerkennen wird“ (EJ 7). Kommerell äußert aber im Vortrag auch keine direkte Kritik am NS-Regime.

306 Epting, Karl: Deutschland-Frankreich, in: Deutschland – Frankreich. Vierteljahresschrift des deutschen Instituts Paris 1 (1942), H. 1, S. 3–13, hier: S. 6. 307 Vgl. Kommerell, Max: Goethe und die europäische Jugend, in: Deutschland – Frankreich. Vierteljahresschrift des deutschen Instituts Paris 2 (1943), H. 6, S. 1–11. Fortan zitiert als Sigle EJ. 308 Zum folgenden siehe auch Weichelt, Horizontbildungen, S. 130–140.

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Ebenso ist zu konstatieren, daß Kommerell nicht einen zeitlosen Ästhetizismus vertritt, sondern bewußt einen Gegenwartsbezug herstellt. Im Hinblick auf die Wanderjahre stellt er fest: Welcher Raum ist den Volksindustrien und dem Aufkommen der Maschine gegönnt! Und vor allem ist, wie in der Natürlichen Tochter, ein Austausch der Kräfte und Befähigungen gefordert, der das Veralten der Oberschicht, die Entfesselung der Unterschicht verhüten soll. Das alles zeigt, daß die Lehrjahre Lebensspiegelung, die Wanderjahre Lebensentwurf sind. Wie heutig! Und wie heutig ist auch ein Anderes! Schon in den Lehrjahren wurde das Leben mehr und mehr zur Schule der gesellschaftlichen Ordnungen, deren jetzt stufenweise, und mitunter durch das Mittel einer Liaison, ihre Lehre übermittelte; schließlich aber tritt ein Kreis gescheiter, das Leben meisternder Menschen als irdische Vorsehung hervor und bemächtigt sich Wilhelms. (EJ 4f.)

Diese Äußerungen lassen sich nur mit Mühe auf Hitlers Führerprinzip beziehen. Vielmehr ist davon auszugehen, daß Kommerell sich eine aristokratische Herrschaft zurückwünscht und einen Elitegedanken im Sinne eines Dichters als geistigem Vorbild verfolgt. Zugleich finden sich in dem Vortrag Einflüsse der unterschiedlichen Faktoren der Personen-, Institutionen- und Theorieebenen. Gemäß den Anforderungen, die der institutionelle Rahmen – hier das Auslandsinstitut – mit sich bringt, gibt es eine Anlehnung an den zeitgenössischen Sprachgebrauch. Kommerell spricht vom „Anschluß an einen wegweisenden Mann“ (EJ 6), vom „Persönlichkeitskultus“ (EJ 9) und von der Gefolgschaft der Schüler (vgl. EJ 6). Es wirken außerdem zeitgenössische Vorstellungen von der Krise der Moderne, der Erlebnis-Gedanke Diltheyscher Prägung und Reformansätzen der Jugendbewegung ein. Persönliche Urteile Kommerells sind ebenso zu finden. Er stellt fest, daß „die Kontinuität des geistigen und sittlichen Lebens kein Ablauf ist, der sich selber macht, ohne besonderes Zutun – daß vielmehr neben der natürlichen Überlieferung durch Geburt und Sitte und neben den öffentlichen Bildungsanstalten, die Übergabe des Erbes immer wieder und mit Nachdruck durch den Anschluß junger Menschen an einen wegweisenden Mann vollzogen werden muß, gleichgültig ob dies durch Verwandtschaft und Einrichtungen veranlaßt ist oder nicht“ (EJ 6). Auf diesen Satz folgt jedoch: „Ohne solche pädagogischen Verhältnisse, die in besonderen Glücksfällen zwei geniale Individuen zusammenführen wie den jungen Goethe und den wenig älteren Herder, nützt sich ein Bildungserbe ab und wird trivial; das Alter bleibt stehen und die Jugend greift zur Selbsthilfe“ (EJ 6). Kommerell erfüllt also äußerlich die Erwartungen, die vom Regime an ihn herangetragen werden, unterläuft sie aber, indem er Gefolgschaftsverhältnisse wie das des Führertums an den poetischen Bereich rückbindet. Im DLA Marbach ist eine ältere Fassung des Vortrags erhalten, die etwa den eineinhalbfachen Umfang der veröffentlichten Version hat. Aus den

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gestrichenen Passagen wird deutlich, daß Kommerell das Thema vorgegeben wurde: „Wenn ich also die Ehre habe, über dieses Thema zu Ihnen zu sprechen, das zu wählen ich von mir aus nicht gewagt hätte, das ich aber freudig ergriff, als es mir nahegelegt wurde [...]“.309 Daher findet eine rhetorische, aber nicht inhaltliche Anlehnung an die Rahmenbedingungen statt. Außerdem werden Aussagen über Kommerells Selbstverständnis als Lehrer getilgt: „Mitunter sucht man als akademischer Lehrer ein Thema von der Seite auf, von der es gewissermaßen ersteigbar ist – vielleicht versucht man aus Trotz und Verzweifelung auch eigens einmal das Gegenteil, und nötigt seinen Schülern ein Eingehen auf das Ihnen Ungemäßeste ab“.310 Das Verfahren der textnahen Beobachtungen wird angesprochen, wenn Kommerell fordert, daß es „nun wieder des zulänglichen Auslegers“ bedürfe, der „das einfache, fraglose, geniale Verhältnis“ zum Text habe.311 Die Rückbindung des Führerbegriffs an den poetischen Bereich taucht ebenfalls in einer gelöschten Stelle auf: „Nicht nur erfindet Goethe neue Führergestalten und eine anonyme Obrigkeit, um diese Gründungen an eine Idee zu binden, sondern auch die uns vertrauten Personen der Lehrjahre werden gewaltsam umgebildet, bis ihnen eine, sich mit ihrem früheren Wesen halbwegs vertragende, Nützlichkeit, gewissermaßen ihr Beitrag in die Vereinskasse, abverlangt werden kann“.312 Das ‚Deutschtum‘ wird ebenfalls an den dichterischen Bereich gebunden: „Dem so entschieden auf das Deutschtum gerichteten Goethe, dem Straßburger Goethe, dem Schüler Herders, möchte man die breiteste Gefolgschaft bei der neuen deutschen Jugend weissagen. Warum bleibt sie aus? Ich meine, weil dies Deutschtum nur den dichterisch gestimmten Menschen angehört, und zu einer Art frommen Trauer führt, die nicht zusammenstimmt mit den rüstigen Zukunftsplänen des jetzigen Geschlechts und seinen beiden Zielen: dem Staat und der Tat“.313 Die angetragenen Erwartungen erfüllt Kommerell in der veröffentlichten Fassung nur bedingt. Statt, wie der Titel des Vortrags verspricht, den deutschen Goethe zum Vorbild für das besetzte Europa zu machen, soll eine Annährung der europäischen Völker an Goethe durch eine Entnationalisierung Goethes stattfinden: „Goethe nimmt [...] die Stellung der europäischen Vernunft gegen die deutsche Neigung, die Jugend zu groß zu sehen, ein“ (EJ 6). Der Aufsatz endet mit einem dezidiert unpolitischen Statement:

309 DLA Marbach, Kommerell, Max: Goethe und die europäische Jugend, Nachlaß Kommerell, D: 86.437, Bl. 1. 310 Ebd. Bl. 4. 311 Ebd. Bl. 18. 312 Ebd. Bl. 9f. 313 Ebd. Bl. 18.

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Kein Zweifel: die Jugend weicht Goethe in gewissem Sinn aus – kein Zweifel: er wird sie einholen! Es gibt Dichter, die viel stärker als Goethe einen Bezug auf bestimmte geschichtliche Momente haben, mitunter auch auf solche nach ihrem Tod: Ihnen sind Zeiten der Vergessenheit und auffällige Wiedergeburten beschieden. Goethe ist zeitlos und berührt alle Zeiten; so wenig er je das Zentrum einer Epoche sein wird, so wenig wird ihn eine erschöpfen – man müßte denn die Deutungen aller auf ihn folgenden Geschlechter zusammennehmen! Er wird da sein, so oft ein Zeitalter die Unrast seines Werdens vergißt und sich auf das besinnt, was Dauer hat und unzerstörbar ist. Und der Jugend wird er wie ein Weltkörper sein, der gerade, weil er außerhalb und über der Landschaft steht, bei jedem noch so weiten Weg mitwandelt; oder er wird ihr sein wie ein gelassener Ahnherr, der den gewagtesten Spielen der Enkel zusieht und lächelt, wenn sie ihn verleugnen: denn er ist in ihnen. (EJ 11)

Anstatt Goethe zum aktuellen Tagesschriftsteller zu machen (vgl. Kap. VIII), sieht Kommerell Goethes Stärke in der Eigenschaft, daß er gerade durch seine Unbestimmtheit für alle Zeiten von Bedeutung sei. Er will ihn nicht in den Mittelpunkt des aktuellen Geschehens rücken, sondern behauptet seine Gültigkeit über Generationen hinweg. Kommerell schreibt Goethe also eine Überzeitlichkeit zu. Aus der Betrachtung von Kommerells Auslandstätigkeit ergibt sich, daß die Verflechtung von Personen-, Institutionen- und Konzeptebene der Wissenschaftsgeschichte im Nationalsozialismus an den Auslandsvorträgen besonders anschaulich herausgearbeitet werden kann. Erst durch den Rang als Ordinarius wird es für Kommerell möglich, 1942 in Paris über Goethe und die europäische Jugend zu sprechen. Die an ihn herangetragenen Erwartungen einer kulturpolitischen Propaganda erfüllt er jedoch nur auf rhetorischer und nicht auf inhaltlicher Ebene. Im Laufe dieses Kapitels konnte gezeigt werden, daß Kommerell in mindestens fünf Berufungsverfahren im Gespräch ist und eine Berufung in den 1930er Jahren mehrfach in Erwägung gezogen wird. Die lange Zeit als Privatdozent wirkt sich auf Kommerells Publikationsstrategien aus. Er muß besondere Anstrengungen unternehmen, um Veröffentlichungsorte für seine Aufsätze zu finden. Er publiziert besonders in Zeitschriften von Herausgebern, mit denen er persönlich befreundet ist, wie die Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur von Julius Schwietering, die Romanischen Forschungen von Fritz Schalk oder die Corona von Herbert Steiner. Außerdem nutzt er die Kontakte, die durch seine Vertretungen in Bonn, Gießen und Köln entstehen: z. B. zu den Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft. Die Vorlesungen, die er am Kolleg des Frankfurter Theaters hält und die in den Blättern der Städtischen Bühnen Frankfurt erscheinen, können ebenfalls dazu gezählt werden. Daß es elf Jahre dauert, ehe Kommerell einen germanistischen Lehrstuhl erhält, ist auf verschiedene externen und internen Widerstände gegen ihn

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zurückzuführen – es hat also teils politische, teils fachspezifische Gründe. Als externe Gründe für die langjährige akademische Isolation sind die Unterstützung für den seines Kuratorenamtes in Frankfurt durch die nationalsozialistische Kultusbürokratie beraubten Kurt Riezler und die aus seiner früheren Zugehörigkeit zum George-Kreis von Parteistellen abgeleitete ‚Unzuverlässigkeit‘ in ideologischen Fragen zu nennen. Unter fachspezifischem Blickwinkel kommen in diversen Gutachten Vorbehalte gegenüber Kommerells eigenwilliger Methodik, seinem bildhaften Stil, dem Verzicht auf Anmerkungsapparate und der bekenntnishaften Argumentationstechnik zum Ausdruck. Lessing und Aristoteles sowie Geist und Buchstabe der Dichtung zeigen hingegen die Annährung an eine neue, nüchternere Kultur der Argumentation und zugleich die Geschichte eines relativ späten Erfolgs, die mit der Berufung nach Marburg endet. Im Zuge von Niveauwahrung und Pluralitätsakzeptanz ist in der Marburger Fakultät 1941 eine spezifische Konstellation gegeben, in der Kommerells Vergangenheit im George-Kreis, sein Engagement in der RiezlerAffäre und sein Konzept einer Wissenschaftskunst keine Ausschlußkriterien bilden. Fördernd bei der Berufung wirken das Taktieren Walther Rehms, der Parteieintritt und die intensivierte Publikationstätigkeit. Nach dem Verfall der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft um 1930 und dem darauffolgenden Scheitern von organischen, völkischen und morphologischen Ansätzen setzt sich um 1940 eine literaturwissenschaftliche Praxis durch, bei der die Begriffe Auslegung, Deutung und Interpretation eine zentrale Rolle spielen. Kommerell ist mit seinem Verfahren der textnahen Beobachtungen, das er in Geist und Buchstabe der Dichtung exponiert, einer der ersten, der die neue Richtung vertritt. Die innovativen Ansätze erfahren nach 1945 eine Fortsetzung in der ‚werkimmanenten Interpretation‘, ohne jedoch an das frühere Abstraktionsvermögen anzuknüpfen. Die mit der Berufung gestiegene Reputation ermöglicht die renommierte Vortragstätigkeit im Ausland. Damit ist an dieser Stelle die ‚exklusive Randposition‘ Kommerells eingeschränkt, und er scheint näher ins Zentrum des Faches gerückt zu sein. Ob sich dies in den folgenden Jahren fortsetzt, werden die nächsten Kapitel zeigen.

VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer (1941–1943) 1943 ist das Gedenkjahr zum 100. Todestag von Friedrich Hölderlin. Die Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten erfährt zu diesem Zeitpunkt ihren Höhepunkt. Vor dem Hintergrund ist zu fragen, wie sich Kommerell gegenüber den Fachkollegen verhält, die diese Vereinnahmung vorantreiben. In Abgrenzung von seinem eigenen Fach geht er den Dialog mit Philosophen ein, die sich zeitgleich mit Hölderlin auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang kreuzen sich die Wege von Max Kommerell und Martin Heidegger am Schnittpunkt Hölderlin. Damit wird das allgemeine Problem im Verhältnis von Literatur und Philosophie, von Literaturwissenschaft und Philosophiegeschichte evident. Hinzu kommt der Austausch mit Hans-Georg Gadamer, so daß sich die Diskussionen zwischen drei Akteuren abspielen. Es wird zu klären sein, was diese Konstellationen für das Sprechen über Dichtung bedeuten. Die Hölderlin-Rezeption fällt überwiegend in die Phase von Kommerells Zeit in Marburg. Sie dauert bis zum Ende seines Lebens, durch Heidegger und Gadamer erfolgt sogar noch eine posthume Auseinandersetzung mit Kommerells Hölderlin. Thematische Zusammenhänge werden wieder über chronologische Abläufe gestellt. Zuerst wird die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger dargestellt, darauf folgt der Austausch zwischen Kommerell und Gadamer, und schließlich wird das Verhältnis der drei Wissenschaftler strukturell analysiert. Im Hinblick auf die hier verfolgte Fragestellung, wie Produktionsprozesse in der Wissenschaftsgeschichte ablaufen, werden die wissenschaftlichen Lehrer-Schüler- bzw. Kollegen-Verhältnisse anhand der Hölderlin-Deutungen erörtert.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger über Dichten und Denken Die Kontroverse1 zwischen Kommerell und Heidegger über die HölderlinDeutung ist bereits von Joachim W. Storck 2 und Walter Busch3 „eingehend untersucht und dargestellt worden“, wie Matthias Weichelt in seiner 2006 erschienenen Dissertation zutreffend feststellt – was ihn nicht daran hindert, nochmals 25 Seiten zu dem Thema vorzulegen.4 Wie Storck, Busch und Weichelt nachgewiesen haben, kritisiert Kommerell Heideggers ‚Zwiesprache‘ mit dem Dichter Hölderlin nicht in ihrer Umsetzung, sondern in ihren Prämissen. Storck hat den Ablauf der Auseinandersetzung anschaulich nachgezeichnet. Busch hat aufgezeigt, wie Kommerell sich dort gegen die letzten Wendungen der Philosophie Heideggers stellt, wo mit ihnen das Prinzip mimetischer, genuin künstlerischer Erfahrung selbst in Frage gestellt wird.5 Weichelt legt dar, wie ein Interpretationsmodell von Kommerell in Hölderlin den idealen Gegenstand und in Heidegger den idealen Exegeten finden kann. Der Rezeptionszusammenhang zwischen Hölderlin, Kommerell und Heidegger erschließt sich freilich neu, wenn man den unveröffentlichten Briefwechsel und Heideggers unveröffentlichte Rede zur Kommerell-Feier 1962 hinzuzieht, dabei das Verhältnis von Kommerell und Heidegger wissenschaftshierarchisch analysiert und die Hölderlin-Rezeption von Hans-Georg Gadamer berücksichtigt.

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Zu neueren Ansätzen der Kontroversenforschung siehe Klausnitzer, Ralf/ Spoerhase, Carlos (Hgg.): Kontroversen in der Literaturtheorie – Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern u. a. 2007. Vgl. Storck, Joachim W.: „Zwiesprache von Dichten und Denken“. Hölderlin bei Martin Heidegger und Max Kommerell, in: Klassiker in finsteren Zeiten 1933–1945, hrsg. v. Bernhard Zeller, Bd. 1: Stuttgart 1983, S. 345–365 und ders.: Hermeneutischer Disput. Max Kommerells Auseinandersetzung mit Martin Heideggers Hölderlin-Interpretation, in: Literaturgeschichte als Profession. Festschrift für Dietrich Jöns, hrsg. v. Hartmut Laufhütte, Tübingen 1993, S. 319–343. Siehe auch Le Buhan/Rubercy, Commémoration, S. 7–17 und Le Buhan/Rubercy, Chemin, S. I–XII. Vgl. Busch, Walter: Kommerells Hölderlin. Von der Erbschaft Georges zur Kritik an Heidegger, in: Busch/Pickerodt, Aktualität, S. 278–299. Weichelt, Horizontbildungen, S. 243–268, hier: S. 255. Bei Busch gibt es außerdem eine Übsicht zur Hölderlin-Rezeption Georges, auf die deswegen hier verzichtet werden kann, vgl. Busch, Hölderlin, S. 279–284. Siehe auch Bothe, Henning: ‚Ein Zeichen sind wir, deutungslos‘. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992, S. 115–220.

VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger

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VIII.1.1 Vorsichtige Annäherungen In der letzten Sitzung des Sommersemesters 1944 richtet Heidegger folgende Gedenkworte an Max Kommerell, gestorben am Abend des 25. Juli 1944. Zum Gedächtnis: 6 Heute vor acht Tagen ist im Alter von 42 Jahren M. K. in Marburg gestorben. Im Äußeren war er ein Professor für ‚Deutsche Literaturgeschichte‘. Er hat die Fragwürdigkeit dieses Faches mit hellem Sinn durchgelitten. Er war, wenn hier davon beiläufig gesprochen werden darf, der einzige seines Faches, mit dem ich zeitweise fruchtbare Gespräche über die geschichtliche Bestimmung des Denkens und des Dichtens pflegen durfte. M. K. mußte viel irren, und er konnte irren. Aber er konnte zugleich hinhören. Was er versuchte und schuf, wird umstritten bleiben. Aber dies ist ja das echte Zeichen dafür, daß Etwas von ihm ausging. M. K. war ein lernender Mensch. Er ist als ein lernender gestorben. M. K. war ein nötiger Mensch. Er spürte die Not und war für sie notwendig. – Es bleibt eine Lücke, seit er nicht mehr ist. (Gesprochen vor der Schlußvorlesung des S.[ommer]S.[emesters] 1944 am 1. August).7

Wie kommt Heidegger dazu, so hybrid über die deutsche Literaturwissenschaft zu sprechen? Was drückt das über sein Verhältnis zu Kommerell aus? Wie zeigt sich darin eine Umgangsform mit Texten und ein Sprechen darüber? Zunächst fällt auf, daß Kommerell und Heidegger in ihren einzelnen Lebensphasen Hölderlin ähnlich bewerten. Beide finden ihren ersten Zugang zu Hölderlin in der Schulzeit. Heidegger ist gegen Ende seiner Gymnasialzeit um 1908 von den Gedichten Hölderlins fasziniert.8 Kommerell schreibt 1920 an seinen ersten Mentor Ernst Kayka: „Hölderlin ist mir alles, Anfang und Ende und fast das Maß aller Dinge“.9 Die Rezeption von Wilhelm Diltheys Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin (1906) und die Übernahme seines Konzepts der Stimmung, die Weichelt für Kommerell nachgewiesen hat, finden ebenfalls bei Heidegger statt.10 Kommerell setzt die Hölderlin-Begeisterung in seiner George-Zeit fort. In der Klassik-Studie widmet er Hölderlin ein fast 100 Seiten starkes Kapitel, in dem er ihn zum

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Heidegger, Martin: Max Kommerell (gestorben am Abend des 25. Juli 1944), in: ders.: Gesamtausgabe, I. Abt.: Veröffentlichte Schriften 1910–1976, Bd. 16: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910–1976, hrsg. v. Hermann Heidegger, Frankfurt/M 2000, S. 364 [wieder in: Zeller, Bernhard (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten: 1933–1945, Bd. 1: Stuttgart 1983, S. 362]. Heidegger, Reden, S. 364. Vgl. Storck, Zwiesprache, S. 345. Zit. nach Hölscher-Lohmeyer, Jugend, S. 347. Vgl. Weichelt, Horizontbildungen, S. 159–192 und Storck, Disput, S. 320.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

„Künder der heldischen Wirklichkeit“ (DF 455) und zum „deutscheste[n] Dichter deutschesten Schicksals“ (DF 478) erklärt.11 Der geistige Austausch zwischen Kommerell und Heidegger beginnt mit Diskussionen über Schiller. Kommerell, als Privatdozent in Frankfurt tätig, hört im November 1936 den am Freien Deutschen Hochstift gehaltenen Vortrag Der Ursprung des Kunstwerks, in dem Heidegger sich mit Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen auseinandersetzt. Die Bekanntschaft entsteht in einem persönlichen Gespräch im Anschluß an den Vortrag und setzt sich im brieflichen Austausch fort. Kommerell berichtet am 26. November 1936 seinem Freund Hans-Georg Gadamer von der Begegnung mit dessen Lehrer Heidegger: Heidegger war als Person ein starker Eindruck, vor allem in seiner hart gewollten und gelungenen Einsamkeit, der strengen Inwendigkeit und Spannung des in ihm zum Ausklang gebrachten Denkdramas, und auch in seinem unbeirrbaren Vorbeigehen an allem, was kein zu seinen Entscheidungen partielles Geschehen schickt. Die Krise, in der er sich befindet, scheint mir sehr groß, viel größer als der Griff nach der ‚Macht‘ es war. Die Eroberung der Kunst als Gegenstand (und beinah als Form!!) seiner Philosophie ist aufzeigend, daß sie sich mit Methoden von archaischer Barschheit vollzieht. Die unendlich sorgfältige, ringende Wahl des reinen statt des vernutzten Wortes, und das bewußte Absehen von den feindselig begriffenen Voraussetzungen der abendländischen Philosophie hat für mich großen Reiz. Es ist ein großer Wurf: entweder ist ein Gedanke weltbewegend oder er reichte nicht bis zur Existenz. Ich fand ihn eher zart, aufgeschlossen, zuhorchend, tief nach Mitteilung verlangend.12

Kommerell erkennt die Krise, in die Heidegger nach Sein und Zeit (1927) gefallen ist. Mit dem „Griff nach der ‚Macht‘“ spielt er auf Heideggers Freiburger Rektorat und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus an.13 Am 5. Mai 1938 dankt Heidegger Kommerell für Hinweise auf eine übersehene Stelle in Schillers ästhetischen Briefen: „Den Briefwechsel habe ich vor Jahren natürlich ‚gelesen‘ und ebenso natürlich über diese Stelle hinweggelesen. Das Wagnis, das Schiller fordert, wird immer größer, denn bei der ansteigenden Flut des ‚Erlebens‘ wird ja die ‚Schönheit‘ immer ‚schöner‘ d.h. beliebter. Die

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Siehe auch DF 401, 427, 450, 472 u. 473. DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 26.11.1936, Nachlaß A: Gadamer. Vgl. Denker, Alfred/ Zaborowski, Holger (Hgg.): Heidegger und der Nationalsozialismus, Bd. 1: Dokumente, Bd. 2: Interpretationen, Freiburg/B 2009. Siehe auch Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960, Göttingen 2007. Zu Kommerells Rezeption der Brüder Jünger siehe DLA Marbach, Briefe Kommerell an Vittorio Klostermann vom 26.04.1942, 17.10.1943 u. 01.11.1943; Brief Vittorio Klostermann an Kommerell vom 24.11.1942; und: Brief Helene Klostermann an Erika Kommerell vom 15.02.1944, Nachlaß A: Klostermann.

VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger

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Möglichkeit schwindet immer mehr, ihr Wesen in der Wahrheit zu finden, die freilich nicht die heutige und gestrige und sehr alte Richtigkeit des Vorstellens ist, sondern die Lichtung für das Sichverbergen, das Offene für die Verweigerung, die Wahrheit des Seyns. Der Einsprung in dieses Wesen der Wahrheit ist gleichbedeutend mit der Überwindung des neuzeitlichen Menschen“.14 Die Hölderlin-Rezeption findet Eingang in die Übung für Anfänger. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, die Heidegger im Wintersemester 1936/37 hält.15 Zuerst legt Heidegger seine Methode dar: Wir verzichten zunächst darauf, Schiller geistesgeschichtlich einzuordnen, zu erzählen, woher er kommt und wodurch er bestimmt ist. Wir wollen vielmehr sofort die Briefe durchfragen, nicht mit einer allgemeinen historischen Absicht, um zu wissen, was damals vor sich ging, sondern wir fragen für uns und d. h. für die Zukunft. Für die Gesamtstellungnahme ist es wichtig, aus dem Inhalt der Briefe heraus zu sehen, wie der Vernunftstandpunkt der maßgebende und zielsetzende ist für die gesamte Interpretation der Ästhetik, der Kunst, und damit der Gesamtdarstellung der Geschichte selbst.16

Dabei ist für Heidegger nach dem Scheitern des Freiburger Rektorats die Hinwendung zur Dichtung eine, wie Odo Marquard gezeigt hat, „Ersatzhandlung durch Schritt ins Ästhetische“.17 Ebenso wie die Diskussion zwischen Kommerell und Heidegger von Schiller auf Hölderlin übergehen wird, stellt auch die Seminarübung eine Verbindung zwischen Schiller und Hölderlin her: „Hegel, Schelling, Hölderlin hatten eben [1795] die Universität verlassen. Auf alle drei haben diese Briefe in entscheidender Weise gewirkt. Hölderlin zeigt, wie zwischen 1794 u. 1800 schon die eigentliche große Umwälzung, die man die franz. Rev. nennt, in die Nacht versinkt und die wirklich erste Überwindung der franz. Rev. der eigentliche ‚Schritt zurück‘ [ist]“.18 An die frühe Beschäftigung mit Hölderlin in der Jugend fügt sich bei beiden eine Phase des gezielten Abstandsnehmens. Die Distanz wird auch markiert, als Hölderlin in den ersten Lehrveranstaltungen wiederaufgenommen wird: Bei Heidegger geschieht dies in den Vorlesungen Hölderlins Hymnen über ‚Germanien‘ und ‚Der Rhein‘ im Wintersemester 1934/35 und Der Ister im Sommersemester 1935. In der ersten der beiden Vorlesungen wendet sich Heidegger gegen eine übertriebene Aktualisierung Hölderlins: „Es soll

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DLA Marbach, Brief Martin Heidegger an Kommerell vom 04.05.1938, Nachlaß Kommerell, A: 84.1561/1. Heidegger, Martin: Übungen für Anfänger. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Wintersemester 1936/37. Seminar-Mitschrift von Wilhelm Hallwachs, hrsg. v. Ulrich von Bülow, Marbach/N 2005. Ebd. S. 9 u. 133. Marquard, Odo: Der Schritt in die Kunst. Über Schiller und Heidegger, in: Heidegger, Schillers Briefe, S. 191–206, hier: S. 204. Heidegger, Schillers Briefe, S. 133.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

nicht etwas Griffiges und Gangbares für Tagesbedürfnisse angeboten und gar die Vorlesung damit in Empfehlung gebracht werden, so daß die verderbliche Meinung entstehen könnte, wir wollten H[ölderlin] eine billige Zeitgemäßheit verschaffen. Wir wollen nicht H[ölderlin] unserer Zeit gemäß machen, sondern im Gegenteil: wir wollen uns und die Kommenden unter das Maß des Dichters bringen“.19 Heidegger wendet sich gegen die gegenwärtige Beschäftigung mit Hölderlin und tritt für das Verschweigen ein: „Noch muß er lange Zeit verschwiegen werden, zumal jetzt, da das ‚Interesse‘ für ihn sich regt und die ‚Literaturhistorie‘ neue ‚Themen‘ sucht“.20 Er lehnt eine Vorgehensweise ab, die zuerst die philosophischen Vorstellungen Hölderlins rekonstruiert und von dort aus seine Dichtung erläutert. In der Absage kündigt sich schon sein späteres Verständnis der Zwiesprache zwischen Dichter und Denker an: Schwieriger und verdächtiger ist jedoch ein anderes: daß nun die Philosophie sich über eine Dichtung hermacht. [...] An die Stelle der Gefahr des Zerredens tritt jetzt die Gefahr des Zerdenkens, zumal es so aussieht, als würde das Denken demnächst überhaupt abgeschafft. Die Gefahr besteht, daß wir das dichterische Werk in Begriffe zersetzen, daß wir ein Gedicht nur absuchen nach philosophischen Meinungen des Dichters und nach Lehrsätzen, daß wir daraus das philosophische System Hölderlins zusammenbauen und von da die Dichtung ‚erklären‘, was man so erklären nennt.21

Kommerell geht nach einer Phase des Abstands ebenfalls in einer Lehrveranstaltung, dem Kolleg Nietzsche und George im Sommersemester 1933, wieder auf Hölderlin ein. Seinem Freund Karl Schlechta berichtet er: „Im Kolleg rede ich augenblicklich über Hölderlin. Mit großer Bewegung – aber ganz anders als früher. Er ist mir intimer, leiser, künstlerischer geworden, und es scheint mir beinah roh, ihn immer nur als Prophet zu hören“ (BA 275). Veranlaßt wird die Auseinandersetzung mit Hölderlin zudem durch seine Doktorandin Gisela Wagner. Ihr schreibt er am 22. Mai 1934: „Sonderbar: ich hatte immer erwartet, unter den Studenten einen Schüler zu finden, der mein lange gesammeltes und (trotz des ‚Dichters als Führers‘) hartnäckig zurückgehaltenes Wissen um Hölderlin mir ablockte. Denn ich selber werde kaum je darüber schreiben. [...] Ich bin durch Sie genötigt, mich neu mit Hölderlin zu beschäftigen, obwohl ich ihn augenblicklich, bei der fast chaotischen Vermischtheit meines Lebens und meiner Beschäftigungen, nicht ganz leicht ertrage“ (BA 271f.). Wagner vergleicht in der von Kommerell und Franz Schultz betreu-

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Heidegger, Martin: Gesamtausgabe, II. Abt.: Vorlesungen 1923–1944, Bd. 39: Hölderlins Hymnen ‚Germanien‘ und ‚Der Rhein‘, hrsg. v. Susanne Ziegler, Frankfurt/M 1980, S. 4. 20 Ebd. S. 1. 21 Ebd. S. 5.

VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger

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ten Doktorarbeit über Hölderlin und die Vorsokratiker,22 die zudem von Karl Reinhardt gefördert wird und 1936 in Würzburg erscheint,23 die Funktion des Dichtens bei Hölderlin mit der Aufgabe des Philosophierens in der Vorsokratik: „Die Funktionen des Philosophierens sind denen des Dichtens entgegengesetzt, erst recht denen der Mythologie – obwohl es möglich ist, daß Mythologie und Philosophie die gleichen Fragen beantworten. Die Tatsache, daß die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen aus dem Nichts entsprungen ist neben Dichtung und Mythologie als etwas Neues, als eigene Äußerungsart des Menschen neben der in Mythus und Kultus, ist der Beweis ihrer eigenen Notwendigkeit“.24 Gegenüber Gadamer bemerkt Kommerell in einem undatierten Brief vom Herbst 1934 knapp: „Ein wag- und schönhalsiges Mädchen arbeitet über ‚Hölderlin und die Vorsokratiker‘. Was sagen Sie da????“25 Heideggers erste Veröffentlichung zu Hölderlin geht auf einen in Rom gehaltenen Vortrag zurück und behandelt Hölderlin und das Wesen der Dichtung. 1937 wird er in dem Periodikum Das Innere Reich. Zeitschrift für Dichtung, Kunst und deutsches Leben, das von Paul Alverdes und Karl Benno von Mechow herausgegeben wird, veröffentlicht und 1943 in Heideggers Erläuterungen zu Hölderlins Dichtungen im Klostermann-Verlag wiederabgedruckt.26 Kommerells erste Publikation zu Hölderlin seit der Klassik-Studie ist der Aufsatz Hölderlins Empedokles-Dichtungen, der 1940 in seiner Aufsatz-Sammlung Geist und Buchstabe der Dichtung (GB) veröffentlicht wird (vgl. Kap. VII).27 Kommerells Aufsatz geht ebenfalls auf eine Vortragsfassung zurück. Nachdem Gadamer ihn zu einem Vortrag nach Leipzig eingeladen hat, nimmt er mit Freuden an und schlägt am 3. Juni 1939 als Thema Hölderlins Empedokles vor: „Dagegen würde ich sehr gern über Hölderlins Empedokles sprechen, vorausgesetzt daß ich dadurch nicht störend in Ihre Vorgabe eingreifen würde. Etwa: ‚Grundriß einer Interpretation von Hölderlins Empedokles‘. Das wäre doch auch ein einigermaßen philosophisches Thema! Was meinen Sie dazu?“28 Am 21. Oktober 1939 spezifiziert er den Titel seines 22 Vgl. Wagner, Gisela: Hölderlin und die Vorsokratiker, Würzburg 1936. 23 In den Ausführungen zum Lebenslauf heißt es: „Besonderen Dank schulde ich für eingehende Förderung der Arbeit Herrn Dr. Max Kommerell; für Rat und Hilfe auf dem Gebiet der Altphilologie Herrn Professor Dr. Karl Reinhardt“, ebd. S. 192. 24 Ebd. S. 8. 25 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer o. D. [Okt/Nov 1934], Nachlaß A: Gadamer. 26 Heidegger, Martin: Hölderlin und das Wesen der Dichtung, in: ders.: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtungen, Frankfurt/M 1943, S. 33–50 [erstmals in: Das Innere Reich. Zeitschrift für Dichtung, Kunst und deutsches Leben 3 (1936/37), H. 9, S. 1065–1078]. 27 Vgl. Kommerell, Max: Hölderlins Empedokles-Dichtungen, in: GB, S. 318–357. 28 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 03.06.1939, Nachlaß A: Gadamer.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

Vortrags: „Thema, Ihr Einverständnis vorbehalten: ‚Die Emp.-Bruchstücke und das Hölderlinische Leid‘. Wenn sie mißbilligen, einfach: Hölderlins Empedokles-Dichtungen“.29 Der Vortrag wird ohne Änderungen in die Aufsatzsammlung Geist und Buchstabe der Dichtung übernommen, wie Kommerell am 28. Februar 1940 Gadamer berichtet: „Dann werden [in Geist und Buchstabe] einige Aufsätze (darunter der Hölderlin) gedruckt. Ich habe an diesem Vortrag nichts zu ändern gefunden. Was ich sagen kann, steht drin. Es ausführlicher und mit mehr Beweisführung zu sagen, lockt mich nicht. Da ich sehe, mit welchem Ernst Krüger in seinem Plato-Buch30 das Christentum als Componente der philosophischen Situation berücksichtigt, freue ich mich, mit abgestandenen Feststellungen vom angeborenen Hellenentum Hölderlins mich nicht zu lang aufgehalten und auf die Auseinandersetzung mit Christus breiteren Bezug genommen zu haben“.31 Heidegger greift in Hölderlin und das Wesen der Dichtung aus der großen Menge der Dichter gerade Hölderlin heraus:32 „Dabei ist Hölderlins Dichtung nur eine unter vielen anderen. Keineswegs genügt sie allein als Maß für die Wesensbestimmung der Dichtung. Daher ist unser Vorhaben schon im Ansatz verfehlt“.33 Er versteht ‚wesentlich‘ nicht im Sinne von ‚allgemeingültig‘, sondern im Sinne von ‚entscheidend‘: Gewiß – solange wir unter ‚Wesen der Dichtung‘ das verstehen, was in einen allgemeinen Begriff zusammengezogen wird, der dann für jede Dichtung in gleicher Weise gilt. Aber dieses Allgemeine, was so für alles Besondere gleich gilt, ist immer das Gleichgültige, jenes ‚Wesen‘, das niemals wesentlich werden kann. Und eben dieses Wesentliche des Wesens suchen wir, jenes, was uns zur Entscheidung zwingt, ob und wie wir die Dichtung künftig ernst nehmen, ob und wie wir die Voraussetzungen mitbringen, im Machtbereich der Dichtung zu stehen. Hölderlin ist nicht darum gewählt, weil sein Werk als eines unter anderen das allgemeine Wesen der Dichtung verwirklicht, sondern einzig deshalb, weil Hölderlins Dichtung von der dichterischen Bestimmung getragen ist, das Wesen der Dichtung eigens zu dichten. Hölderlin ist uns in einem ausgezeichneten Sinne der Dichter des Dichters. Deshalb stellt er in die Entscheidung.34

Kommerell repliziert auf diese Behauptung in Hölderlins Empedokles-Dichtungen: „Insofern darf man die bedeutende Bemerkung, die jüngsthin gemacht 29

DLA Marbach, Karte Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 21.10.1939, Nachlaß A: Gadamer. 30 Gemeint ist wahrscheinlich Krüger, Gerhard: Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Frankfurt/M 1939. 31 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 28.02.1940, Nachlaß A: Gadamer. 32 Siehe auch Albert, Claudia: Heideggers Hölderlin-Deutung und ihre Rezeption, in: dies., Klassiker, S. 209–216. 33 Heidegger, Wesen, S. 35. 34 Ebd. S. 36.

VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger

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wurde, daß Hölderlin der Dichter des Dichters sei, dahin ergänzen, daß er auch das Wesen des Dichters in sich aufhebt: seine Dichtung als verrätselte Aussage schließt als Bedingung wissend ein, daß sie nicht vernommen wird“ (GB 332). Auch wenn er in keiner Fuß- oder Endnote auf Heidegger verweist, geht doch aus dem wörtlichen Zitat eindeutig hervor, daß er Heideggers Schrift gelesen hat und sich auf sie bezieht. Dieses Vorgehen ist charakteristisch für Kommerell: Er nennt nicht die Forschung, auf die er verweist, direkt, sondern richtet Andeutungen an Eingeweihte. Mit dieser Invisibilisierungsstrategie setzt er den elitären Gestus des George-Kreises fort. Die sich anschließende Kontroverse um die Deutung Hölderlins, die sich vor allem in den privaten Briefen fortsetzt, wird hier im öffentlichen Raum der Publikation begonnen, ohne für jeden Leser kenntlich zu werden. Der Kontakt zwischen Kommerell und Heidegger bleibt bestehen, es braucht allerdings einige vergebliche Anläufe bis es wieder zu einem Treffen kommt. So berichtet Kommerell am 26. April 1941 an Gadamer: „Obwohl Heidegger und ich zusammenstreben, haben wir uns infolge seltsamer Zufälle nicht getroffen. Ob der Zufall gescheit oder dumm war, weiß ich nicht zu sagen“.35 Nachdem Heidegger von Kommerells Berufung nach Marburg erfahren hat, reflektiert er in einem Brief vom 4. April 1941 seine eigene Marburger Zeit: „Daß Sie nach Marburg kommen, freut mich. Ich habe es doch allerdings nur während der Wintermonate des Semesters dort ausgehalten. Aber diese Zeit war damals sehr fruchtbar. Sonst gingen mir die Hessen samt ihrer Landschaft auf die Nerven. Es ist traurig, daß nun Gadamer in Leipzig sitzt, von wo langsam die Leute, auf die er hoffte, wegziehen. Aber es ist heute schon ganz gleichgültig, wo man die Arbeit ins Leere schickt; wenn nur noch immer ein Ort bleibt, von dem aus für das Jahr 2300 Einiges erarbeitet werden kann“.36 Das erste verabredete Treffen ereignet sich im August 1941 in Heideggers Hütte auf dem Todtnauberg. Kommerell berichtet davon seiner Frau Erika in einem Brief vom 30. August 1941, in dem er wieder seine Fähigkeit der physiognomischen Charakterisierung unter Beweis stellt: „[Heidegger] beginnt ohne viel Umstände mit dichterischer, gedämpfter Stimme schlicht und eindrucksvoll zu lesen, so daß ich mich in das Gesicht vertiefen kann, das straff und braunhäutig ist, aber gar nicht, wie gesagt wird, bäuerlich, sondern klein, zierlich, listig, aber auch nicht ohne Traurigkeit und umspielt von Aufblicken und einem Kräuseln der Lippen, einer Verlorenheit des Auges [...]“. Heideggers Vorlesen löst bei Kommerell eine Erleuchtung aus, die er auf die örtlichen Lichtverhältnisse überträgt: „Die 35

DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 26.04.1941, Nachlaß A: Gadamer. 36 DLA Marbach, Brief Martin Heidegger an Kommerell vom 04.04.1941, Nachlaß Kommerell, A: 84.1561/2.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

Sonne bricht durch die kleinen Fenster in den verdunkelten Vorraum und scheint durch scharfe kleine Lichter daran zu erinnern, daß sie noch immer Heiligenschein, Märtyrerkronen, feurige Zungen und ähnliche Merkmale der Prophetie austeilen könne“. Auf die Erleuchtung erfolgt die Erhörung durch den Philosophen: „Wider Erwarten zeigt es sich, nachdem er das, wie ich sehe, mit Grünstift, Gelbstift und Blaustift vielfach und verwirrend durchkreuzte und durchpfeilte, klein und sehr sorgfältig beschriebene Manuskript weggelegt hat, durchaus geneigt, auf Fragen einzugehen. Sogar die meinigen hört er mit größter Nachsicht an“ (alle BA 380f.). Im Anschluß an die Reise ins Breisgau fährt Kommerell nach Florenz, um dort den Vortrag Die Aktualität in Hölderlins Dichtung zu halten. Er erscheint noch im gleichen Jahr in der Zeitschrift Geist der Zeit nun unter dem Titel Das Problem der Aktualität in Hölderlins Dichtung.37 Aus Florenz schreibt Kommerell am 29. September 1941 an Heidegger, daß ihn „der Besuch in Todtnauberg um Gedanken und Eindrücke bereichert hat, die ich deutlich und dankbar in mir aufbewahre“. In Bezug auf Hölderlin heißt es: Nun muß ich Ihnen bekennen, daß ich die Notizen, die ich damals für meinen Florentiner Hölderlin-Vortrag aufschrieb, gemustert habe, und zwar hie und da eine Annäherung an entscheidende Fragen, aber keineswegs eine Lösung derselben erkenne. Ich kann mir also nicht das Recht geben zur Veröffentlichung, um so weniger, als ich gerade was Hölderlins heutige Wirklichkeit anlangt, den merkwürdigen und aufregenden Zusammenfall Ihrer Philosophie (auf jedenfall [sic] in einem bestimmten Übergang derselben) mit einer bestimmten Art der Erschließung Hölderlinscher Gedichte vorfinde, und dadurch das Tastende und Unsichere, das sich auf diesem Gebiet überhaupt nicht hervorwagen sollte, noch unter ein strengeres Selbstgericht gestellt wird. Ich möchte also zunächst – das heißt: eh ich neue und entschiedene Aufschlüsse mitzuteilen habe – das Thema Hölderlin ruhen lassen, und bin ärgerlich, daß ich mir 12 Seiten für die Zeitschrift: Geist der Zeit, entwinden ließ – gegen die ich jedoch eine Art Verpflichtung hatte. Nichtsdestoweniger werde ich Ihnen diese höchst fragmentarische Äußerung überreichen, sobald sie mir vorliegt. (BA 384f.)

In Das Problem der Aktualität in Hölderlins Dichtung baut Kommerell einen Gegensatz zwischen Dichter und Tagesschriftsteller auf. Der Dichter wird als anspruchsvoller Poet gesehen, der Tagesschriftsteller als einfacher ‚Schreiberling‘, der sich dem Tagesgeschmack hingebe: Wenn der Dichter den Kräften das Wort redet, d. h. wohl erfahrbaren, aber nicht faßbaren, nur mythologisch auszusprechenden letzten Antrieben, so redet jener Schriftsteller den Tendenzen das Wort, d. h. solchen Antrieben, die ein Ziel haben, es eingestehen, und die eine Selbstauslegung des Zeitalters sind; [...] wenn also der Dichter in der Zeitbewegung selbst ihren Gegensatz: die Stille mitenthält, und

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Kommerell, Problem, S. 174–193.

VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger

447

dadurch dem Geschehen sowohl eine Grenze zieht als einen Anfang gibt, so ist jener Schriftsteller der Zeit nur die Bewegung und sonst nichts, ist dadurch in der Zeit so notwendig, wie er in einer neuen Epoche veraltet und vergessen wird, während der Dichter, durch jenen Anfang der Bewegung in der Stille, in jeder neuen Bewegung anders lebendig und anders verständlich wird. Wenn also der Dichter und – dies ist vor allem zu sagen – das vom Dichter beschriebene Schicksal ganz andere Tiefen mitbewegt, freilich ohne sich zu einem Ziel zu bestimmen, so hat der Tagesschriftsteller, wo er bedeutend auftritt, vor dem Dichter voraus, daß er sich den Zeitgenossen unentbehrlich macht durch die klare Bestimmung des Ziels, in dem sich ihr eigenes Streben verdeutlicht.38

Wie Heidegger sich in seiner Vorlesung über die Hymnen dagegen gewehrt hatte, Hölderlin den „Tagesbedürfnissen“ zu unterwerfen und ihm eine „billige Zeitgemäßheit“ zuzuschreiben, so warnt auch Kommerell davor, den Dichter zum Tagesschriftsteller zu degradieren. Er thematisiert außerdem den Begriff der Zeit, und damit einen der Punkte, die Heidegger in Hölderlin und das Wesen der Dichtung angesprochen hatte: „Wenn die Zeit des Dichters latent ist im Sinne der anderen, ein ihnen Verborgenes, die unfaßbare, unausgesprochene Zeit (in diesem Sinn werden wohl ‚Oberfläche‘ und ‚Tiefe‘ unterschieden), wenn also der Dichter eine Zeit meint, die unfaßlich ist, so meint jener Schriftsteller die Zeit, sofern sie faßlich ist und sich selber faßt – denn ohne dies könnte es ja keine Tendenz geben“.39 Damit wird der Dichter, der die unfaßbare Zeit umfasse, über den Tagesschriftsteller, der sich nur mit der faßlichen Zeit beschäftige, erhoben. In der Folgezeit tauschen Kommerell und Heidegger ihre Veröffentlichungen aus und bewerten sie gegenseitig. Im Herbst 1941 erscheint Heideggers Schrift Hölderlins Hymne „Wie wenn am Feiertage...“ im Max Niemeyer Verlag in Halle an der Saale.40 Es ist die einzige Monographie, die Heidegger während der NS-Zeit veröffentlicht; das unterstreicht ihre Bedeutung. Die Auslegung der Hymne Hölderlins geht über in die Philosophie Heideggers: „Allein gerade dieses, daß das Heilige einer Vermittelung durch den Gott und die Dichter zugewiesen und in den Gesang geboren wird, droht das Wesen des Heiligen in sein Gegenteil zu verkehren. Das Unmittelbare wird so zu einem Mittelbaren. Und weil der Gesang nur mit dem Erwachen des Heiligen entwacht, entspringt sogar das Mittelbare aus dem Unmittelbaren selbst“. Heidegger geht besonders auf die Bedeutung des Wortes ein: Kommendes wird in seinem Kommen gesagt durch das Rufen. Hölderlins Wort ist jetzt, mit diesem Gedicht anhebend, das rufende Wort. Hölderlins Wort ist jetzt ‚Hymnos‘ in einem neu geprägten und einzigen Sinne. [...] Allein jetzt ist das

38 Kommerell, Problem, S. 572f. 39 Ebd. S. 572. 40 Vgl. Heidegger, Martin: Hölderlins Hymne „Wie wenn am Feiertage...“, Halle/S 1941.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

dichtende Wort das stiftende Sagen. Das Wort dieses Gesanges ist nicht mehr eine ‚Hymne an‘ etwas, weder die ‚Hymne an die Dichter‘, noch aber auch die Hymne ‚an‘ die Natur, sondern die Hymne ‚des‘ Heiligen. Das Heilige verschenkt das Wort und kommt selbst in dieses Wort. Und das Wort ist das Ereignis des Heiligen. Hölderlins Dichtung ist jetzt anfängliches Rufen, das vom Kommenden selbst gerufen, dieses und nur dieses als das Heilige sagt.41

Auffällig ist die Tendenz, adverbiale Prädikatsergänzung zu substantivieren, wie sich in der Umwandlung von Hölderlins „allgegenwärtig“ zu Heideggers „Allgegenwart“ zeigt.42 Damit verabsolutiert Heidegger Hölderlin und deutet ihn in seinem Sinne um. Im Dezember 1941 schickt er die Schrift an Kommerell und bittet ihn um seine Meinung. Kommerell reagiert spontan auf diese Schrift in Briefen an Karl Schlechta und Hans-Georg Gadamer, die hier später behandelt werden, kann aber Heidegger selbst nicht sofort antworten.43 Zuerst läßt er Heidegger seinen Aufsatz Novalis: Hymnen an die Nacht zukommen.44 Der antwortet daraufhin am 9. März 1942: „Für Ihren Aufsatz danke ich sehr. Was Sie über die ‚Nacht‘ sagen, ist wichtig. Nur glaube ich, daß das Vorgehen im Ganzen nicht das Wesentliche erreicht. Aber ‚Vorträge‘ sind immer fatal. Ich merke es am eigenen“.45 VIII.1.2 Die Briefkontroverse Etwa ein halbes Jahr vergeht, bevor Kommerell sich mit Heideggers Schrift detailliert auseinandersetzen kann. Sein Brief vom 29. Juli 1942 wird auf-

41 Ebd. S. 27 u. 31f. 42 Ebd. S. 8. Vgl. Storck, Disput, S. 332. 43 Vgl. DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 31.01.1942, Nachlaß A: Klostermann: „Daß Sie über Heidegger auch im Namen anderer, Ihnen nahestehender Personen, verstimmt sind, ist verständlich. Ich selber fühle mich ihm, abgesehen vom Persönlichen, worüber ich keine genügende Erfahrung habe, ja nicht geistesverwandt und versuche aber deswegen, ihm gerecht zu werden. Auch glaube ich die ernsten Einwände, die gegen seine jüngste Schrift gemacht werden können, zu kennen. Aber es ist mir klar, daß sie – innerhalb der Geschichte seines Geistes – eine große Wucht und Notwendigkeit hat, und daß ihm Hölderlin so sehr zur eigenen Sache geworden ist, daß dadurch viel, fast alles über Hölderlin Geschriebene irrelevant wird“. 44 Ein Brief dazu ist nicht überliefert. Novalis: Hymnen an die Nacht ist zuerst ein Abschnitt des Aufsatzes Die Dichtung in freien Rhythmen und die Religiösität der Dichter, der in den Mitteilungen des Universitätsbundes Marburg 21 (1941), H. 2/3, S. 74–94 veröffentlicht wird. Erweitert erscheint Novalis: Hymnen an die Nacht wieder in Gedicht und Gedanke, hrsg. v. Heinz Otto Burger, Halle/S 1942, S. 202–236. Der gesamte Text wird erneut abgedruckt als Die Dichtung in freien Rhythmen und der Gott der Dichter in Kommerells Gedanken über Gedichte, Frankfurt/M 1943, S. 430–503. 45 DLA Marbach, Brief Martin Heidegger an Kommerell vom 09.03.1942, Nachlaß Kommerell, A: 84.1561/3.

VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger

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grund der zentralen Bedeutung für die Kontroverse hier umfangreich zitiert und anschließend insgesamt erläutert. Einleitend stellt Kommerell heraus, daß ich Ihnen schwer über Ihre freilich hochbedeutende Hölderlin-Interpretation schreiben kann: Sie lösen da ein Rätsel, indem Sie ein zweites aufgeben! Daß Hölderlins Gedichte esoterisch sind, ist mir klar, und es geht aus Ihrer Auslegung in einer mehr als nur fühlbaren Weise hervor; Sie aber haben als Ausleger Hölderlins Esoterik nicht in die öffentliche Sprache übersetzt (was ich auch nicht ersehne!), sondern in eine neue Esoterik; und wenn jene durch die mitteilende Natur des dichterischen Wortes sich hier und da dem Vernehmenden aufschließt, so ist dies schroff und, vorläufig, unaufgeschlossen [...]. Das Neue ist: daß Sie selbst, stärker als vorher, dichterisch das Wort in Urwort zurückverwandeln, und daß Sie, an einer bestimmten Grenze verstummend, einen Dichter für sich reden lassen. Und – sollte das nur eine Veränderung der Ausdrucksmittel sein? Nicht auch des Denkers selbst? Ich kenne die Prämissen Ihres Aufsatzes nicht. Wie soll ich Ihnen ein Urteil darüber schreiben?

„Einen Eindruck eher! Es ereignet sich in dieser Ihrer Schrift der sehr seltene Fall, daß für eine vollkommen ausgereifte geistige Individualität Hölderlin zum unausweichlichen Schicksal wurde. Das ist eine Wirkung ganz anderen Grades, als noch so scharf- und zartsinnige Auslegungen, die dem Fortschritt des Wissens und der Bildung angehören, und wobei die Notwendigkeit auf Seiten Hölderlins, auf der anderen Seite der Zufall ist. Insofern ist Ihre Schrift gar nicht zuvörderst Auslegung, sondern Dokument dieser Begegnung, dieses vorbestimmten Zusammengeratens, das, ein Rätsel und ein Verhängnis, seinerseits wieder der Auslegung bedarf und sie – verlassen Sie sich darauf, trotz des Schweigens Ihrer Freunde und Feinde! – nicht lange vermissen wird“. Ich bin der letzte, der leugnen würde, daß bei einer solchen Begegnung [von Dichter und Denker], bei einer so ungeheuer gewagten Gleichsetzung eines philosophischen und eines dichterischen Beginnens ‚Aufschlüsse‘ erfolgen, über den Dichter natürlich – davon ganz abgesehen, daß sich die Begegnung als Interpretationsversuch vollzieht, was sowohl den Aufschluß befördern als stören könnte ... In diesem Sinn habe ich, haben alle, die Hölderlin verstehen wollen, Ihnen viel zu danken. [...] Was man von Ihnen lernen muß, ist, daß Hölderlin ein Schicksal ist: sowohl in dem Sinn, daß in ihm, besser: in seinem Wort unser Schicksal geschieht, jedenfalls die uns betreffende Auflösung und Gründung einer Welt – und daß er ein Schicksal ist für den ihm Begegnenden.

„Dabei setzen Sie sich selbst wiederum gleich mit einer, in irgendeiner Weise sich Ihrer philosophischen Persönlichkeit bedienenden Schicksalswende, und so erschließt sich das Schicksal, das Hölderlin ist, dem Schicksal, für das Sie stehen; ja, dies ist als geheime Voraussetzung bei keiner Ihrer Aussagen hinwegzudenken [...] Der Vertreter wissenschaftlicher Objektivität wird behaupten, Ihre Deutung sei durch Standort voreingenommen. Womit ich mich nicht zu identifizieren bitte. Sie werden sagen, daß Ihre Art der Aussage allein zuständig sei: nur der ein Schicksal mit dem Dichter Teilende kann sein Schicksal lesen [...]“.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

[...] Ich fürchte dies wenigstens, und sicher ist da Hölderlin Gewalt geschehen, und es ist vieles im Zeigen verzerrt worden. Aber das Zeigen begann! Ein Beweis für das was ich sage, auf die Gefahr, daß auch durch Sie, gewiß ohne Ihr Wollen, Gewalt geschah: das Bedeutende einer solchen Äußerung liegt darin, daß sie durch die Dimension des Schicksals – des Ereignisses, des Werdens – an Hölderlin anders heranreicht, als die im reinsten Sinn geübte Wissenschaft. Sie fordern in gewissem Sinn den wissenschaftlichen Interpret Hölderlins, der nach Ihnen hinhört, ohne Ihnen zu verfallen. Ich liebäugle übrigens bei dieser Bemerkung nicht mit mir. Ich erwarte von mir in dieser Hinsicht nicht mehr viel.

„Wenn ich mich an eine ähnliche Aufgabe machen würde, so wäre für mich vorher etwas zu bewältigen, das ich nicht bewältigen kann und wodurch ich also zurückgeschreckt werde ... Was ist das Spezifische der dichterischen Aussage, wie wird sie, in den merkwürdigen Fällen wo der Dichter die Dichtung zu überschreiten scheint, im religiösen oder philosophischen Sinn verbindlich? [...] wäre hierüber nicht erst zu reden und eine vorläufige Verständigung zu erzielen über das, was eine solche Hölderlinische Hymne eigentlich ist, ehe sie interpretiert werden kann, in jener sublimen, ungeheuer dringenden Wörtlichkeit, wie sie der Vorzug, aber manchmal auch der Schrecken Ihrer Auslegungsgewalt ist?“ (BA 396–401). 1934 hatte Heinrich Zimmer Kommerell den Vorwurf gemacht, die Dichtung Hofmannsthals mit einer eigenen dichterischen Sprache zu beschreiben (vgl. Kap. IV). Daß Kommerell nun Heidegger den gleichen Vorwurf macht, illustriert die Verwissenschaftlichung seiner Arbeitsweise, die gestiegene Akzeptanz von Rationalitätsstandards und den Entwicklungsprozeß, den er seitdem durchlaufen hat. Durch die Vereinnahmung Hölderlins übt Heidegger einen Alleinvertretungsanspruch aus. Darin liegt die Methode seiner Literaturaneignung. Indem die Feier des Dichters und die Deutung der Dichtung sich zum persönlichen Erlebnis verschränken, findet ein esoterisches Vorgehen statt. Diese Esoterik kommt dann im Konzept der Zwiesprache zwischen Dichter und Denker auf den Punkt. Kommerell stimmt Heidegger zu, daß der Zugang zur Dichtung eine schicksalhafte Dimension haben könne. Er beklagt jedoch, daß ein Wissenschaftler nicht bei einer Aneignung des dichterischen Wortes als ganz und gar persönliches Schicksal stehen bleiben dürfe. Denn dann habe er anderen nichts mehr über dieses Wort mitzuteilen, sondern spreche nur noch über sich selbst. Kommerells Interesse gilt nicht Heidegger und seinem Denkweg, sondern „dem Spezifischen der dichterischen Aussage“. Dieses Interesse und die damit verbundene Kommunikationshaltung als Wissenschaftler, der zufolge man sich gemeinsam über einen Gegenstand austauscht, stößt sich an Heideggers Bekenntnisduktus. Er unternimmt in diesem Brief wiederum Kritik an der zeitgenössischen Hölderlin-Deutung, wenn er herausstellt, daß „noch so scharf- und

VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger

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zartsinnige Auslegungen, die dem Fortschritt des Wissens und der Bildung angehören,“ dennoch nicht Heideggers Wirkungsgrad erreichten. Außerdem prognostiziert er, daß Heideggers Hölderlin-Auslegung „seinerseits wieder der Auslegung bedarf“, die tatsächlich 1954 mit Beda Allemann einsetzt und bis heute andauert.46 Da Heideggers Ausführungen konsequent vorgehen, vermeidet Kommerell es, die Umsetzung zu bewerten: „Aber eben deswegen erschiene es mir philiströs, Ihnen nun zu schreiben: mit diesem Teil Ihrer Interpretation bin ich einverstanden, in diesem Punkt differiere ich erheblich u.s.f.“ (BA 398). Seine Kritik setzt bei den Vorannahmen an: „Meine Hauptfrage bezieht sich auf die Prämissen Ihres Aufsatzes. [...] Wo ist der Übergang, wo Ihre eigene Philosophie in Hölderlin mündet, und wo sie in so entschiedener Weise aus einer Beschreibung der menschlichen Situation zur metaphysischen Aussage und zur absoluten letzten Gewißheit wird – wo sie diese Gewißheit aus sich findet, und sich in diesem Punkt mit Hölderlin gleichsetzt – und wo sie endlich in der spezifischen Art der Aussage sich der Dichtung nähert? Das sind die Prämissen, deren Vorenthaltung gerade Ihren Aufsatz so faszinierend macht, aber auch ein Ja oder Nein dazu erschwert!“ (BA 400f.). Am Ende des Briefes zeigt sich der Einfluß der wissenschaftshierarchischen Situation auf Kommerells Tonfall besonders deutlich: „Wenn Ihnen mein Brief mißfällt – so halten Sie mir zugute, daß ich wenigstens nicht geschwiegen habe. Ich kann auch mit vielen Worten schweigen, sehr gut sogar, – ich tue es auch fast immer, dann ärgert sich niemand“ (BA 401). Er begegnet hier dem Kollegen auf gleicher Ebene. Auf der anderen Seite wagt er es nicht, seine Kritik offen auszudrücken: „Und um nach soviel Aufrichtigkeit noch eine letzte zu riskieren: Ihr Aufsatz könnte – ich sage nicht: er ist’s – er könnte sogar ein Unglück sein!?“ (BA 402). Gerade indem der Konjunktiv durch die eingefügte negierte Form des Indikativs hervorgehoben wird, steigert Kommerell die Vorsichtigkeit seiner Aussage. Heidegger reagiert umgehend auf Kommerells Einwände und geht in seinem Brief vom 4. August 1942 auf sie ein: Ich erinnere mich nicht, je eine so hilfreiche Antwort auf eine meiner bisherigen Äußerungen empfangen zu haben. [...] Daß Sie die Darstellung Ihres ‚Eindrucks‘

46 Vgl. Allemann, Beda: Hölderlin und Heidegger, 2. erw. Aufl., Zürich 1956. Siehe neuerdings u. a. Schmidt, Jochen: Hölderlin im 20. Jahrhundert. Rezeption und Edition, in: Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, hrsg. v. Gerhard Kurz, Valérie Lawitschka u. Jürgen Wertheimer, Tübingen 1995, S. 105–125; Böschenstein, Bernhard: Heideggers Erläuterung von Hölderlins Hymne Griechenland, in: „Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes“. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Friedrich Hölderlins, hrsg. v. Christoph Jamme u. Anja Lemke, München 2004, S. 271–279; und: Trawny, Peter: Heidegger und Hölderlin oder Der Europäische Morgen, Würzburg 22009.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

sorglich über die Erörterung der ‚richtigen‘ oder ‚unrichtigen‘ ‚Auslegung‘ hinausheben, weil Sie geschichtlich denken, ist schön. Sie fragen nach den ‚Prämissen‘. Und Sie nennen diese zugleich und zeigen damit, daß die ‚Prämissen‘ in einem Ereignis bestehen, das ausgestanden werden muß. Falls ich recht lese, finden Sie, daß aus meinem Denken das vormalige Aushalten in der ‚Situation‘ verschwunden ist zugunsten einer Rettung in eine Gewißheit. Das ist eine Täuschung, durch mich selbst verschuldet, wie es auch eine Täuschung ist, zu meinen[,] vormals sei eine ‚Situation‘ ‚beschrieben‘ worden. Jene ‚Beschreibung‘ ist Entwurf, und dieser Entwurf ist geworfener Entwurf, d. h. vom Sein selbst bestimmt. (BA 404f.)

Heidegger zielt also darauf ab, die Verbindlichkeit seiner Aussage, die Kommerell unterstellt, zurückzunehmen. Damit reklamiert er den Zugang zu Hölderlin nicht mehr exklusiv für sich. Wissenschaftshierarchisch kann er aus der Position des älteren Kollegen – dem „Sehr verehrter Herr Heidegger“ wird ein „Lieber Herr Kommerell“ entgegengesetzt –, die Kritik Kommerells, die zwar durch einen Konjunktiv eingeschränkt wird, aber doch relativ stark bleibt („Unglück“), ironisch entwerten: „Sie haben recht, die Schrift ist ein ‚Unglück‘. Auch ‚Sein und Zeit‘ war eine Verunglückung. Und jede unmittelbare Darstellung meines Denkens wäre heute das größte Unglück. Vielleicht liegt darin ein erstes Zeugnis dafür, daß meine Versuche zuweilen in die Nähe eines echten Denkens kommen. Alles aufrichtige Denken ist zum Unterschied der Dichter in seinem unmittelbaren Wirken eine Verunglückung. Daraus ersehen Sie schon, daß ich mich nicht und nirgends mit Hölderlin identifizieren kann. Hier ist die Auseinandersetzung eines Denkens mit einem Dichter im Gang, wobei die Aus-einander-setzung sogar den Entgegnenden erst setzt. Ist das Willkür oder höchste Freiheit?“ (BA 405). Wiederum ein halbes Jahr später, Anfang 1943, muß Kommerell einen Vortrag in Freiburg über das Theater in der Frühen Neuzeit halten und nutzt diese Gelegenheit, um ein Treffen mit Heidegger zu vereinbaren. Doch er möchte ihn nicht zu seinem Vortrag einladen, da er seine Ausführungen nicht für anspruchsvoll genug hält, wie er ihm am 28. Februar 1943 mitteilt: „Mein Vortrag erträgt Sie als Hörer kaum. Ich war nicht in der Lage, hinreichend in Calderon zu leben die letzten Monate, und versuche nun eben, etwas dem Zweck des Theaters Entgegenkommendes zu liefern, kann aber den Dingen nicht auf den Grund gehen. Dazu ist erst noch eine erneute umfassende Lecture nötig. Und dies barocke spanisch [sic] ist recht zeitraubend, wenn auch schön. Also verderben Sie ihren Abend nicht, indem Sie Zeuge meiner Unzulänglichkeit werden!“47 Das Treffen mit Heidegger kommt am Tag nach dem Vortrag zustande, wie Kommerell am 6. April 1943 an Gadamer berichtet: „Von den Vortragsreisen hebe ich nur einen erfreulich und gut

47

DLA Marbach, Brief Kommerell an Martin Heidegger vom 28.02.1943, Nachlaß Heidegger, A: B. 73, 75.7353.

VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger

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bei einem sehr guten Wein mit Heidegger verplauderten Vormittag hervor. Er war wieder innerhalb seines Eigensten, aber diesmal im Rottebachweg; und so kann ich ihm an besten auffassen: in der Reinheit der Isolierung“.48 1943 wird ein Hölderlin-Gedenkjahr aus Anlaß des 100. Todestages begangen. Kommerell und Heidegger halten in diesem Jahr Gedenkreden: Heidegger trägt am 6. Juni 1943 in der Freiburger Universität die Rede Andenken an den Dichter. ‚Heimkunft‘ / ‚An die Verwandten‘ vor, die zusammen mit Hölderlin und das Wesen der Dichtung als Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung 1943 bei Vittorio Klostermann erscheint.49 In Andenken an den Dichter setzt er sich mit den Begriffen Ursprung, Heimkunft und mit dem Dichterberuf auseinander: „Der Beruf des Dichters ist die Heimkunft, durch die erst die Heimat als das Land der Nähe zum Ursprung bereitet wird. Das Geheimnis der sparenden Nähe zum Freudigsten hüten und es hütend entfalten, das ist die Sorge der Heimkunft“.50 Im Zusammenhang mit der Heimkunft kommt er wieder auf sein zentrales Thema der Zwiesprache von Dichter und Denker zurück: „Diese Heimkunft aber ist die Zukunft des geschichtlichen Wesens der Deutschen. Sie sind das Volk des Dichtens und des Denkens“.51 Kommerell wird von Heidegger eingeladen, sich an der Hölderlin-Festschrift der Universität Tübingen zu beteiligen. Sie wird von Paul Kluckhohn52 herausgegeben, steht unter der Schirmherrschaft Joseph Goebbels und stellt zusammen mit der Gründung der Hölderlin-Gesellschaft und dem Beginn der historisch-kritischen Hölderlin-Ausgabe von Friedrich Beißner die offiziellen Beiträge der Germanisten zum Gedenkjahr 1943 dar. Kommerell lehnt jedoch die Anfrage ab.53 Statt dessen hält er eine HölderlinGedenkrede Juni 1943, in der er sein Gegenprogramm zur zeitgenössischen Hölderlin-Rezeption entwirft. In der Rede, die 1967/68 im Hölderlin-Jahr-

48 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 06.04.1943, Nachlaß A: Gadamer. 49 Heidegger, Martin: Andenken an den Dichter, in: ders., Erläuterungen, S. 5–32. In der dritten Auflage von 1963 werden noch die Abhandlungen Hölderlins Hymne „Wie wenn am Feiertage...“ und Andenken aufgenommen. 50 Heidegger, Erläuterungen, S. 26. Auch Kommerell thematisiert im Kleist-Aufsatz die Funktion des Dichters: „Wie der Mensch unter den Tieren der Sprechende ist, so ist der Dichter unter den Menschen der Sprechende. Das Maß des Aussprechens scheint den Menschen eng gesetzt, dem Dichter unendlich“ (GB 243). Er wendet die Formel vom ‚Beruf des Dichters‘ auf Kleist an: „In dieser ‚Göttlichkeit‘ hat Kleist einen Wink gegeben über seinen Beruf als Dichter und als Liebender“ (GB 261). 51 Heidegger, Erläuterungen, S. 28. 52 Zu Kluckhohn siehe Red.[aktion]: Paul Kluckhohn, in: IGL 2, S. 956–957. 53 Vgl. DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 24.10.1941, Nachlaß A: Gadamer.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

buch veröffentlicht wird,54 spart er nicht mit Forschungskritik: „Was heißt heute: ein schlafendes Volk wecken, wie kann heute der Dichter Bacchus sein, und welcher an welchem Volk? Kein Zufall, daß Hölderlin diese beiden Strophen erweitert hat zu seiner größten und dunkelsten Dichter-Ode, dem ‚Dichterberuf‘“.55 Er kritisiert die Vermischungen unterschiedlicher Aspekte: „Vielleicht wird man die Frage: Was eröffnet uns Hölderlin über die Griechen? von der Frage: Wie verhielt er sich zu den Griechen? schärfer trennen als es heute geschieht“.56 In Abgrenzung zu anderen Wissenschaftlern arbeitet er mit den Zuschreibungen richtig-falsch: „Man pflegt zu sagen, Hölderlin habe mythisch empfunden und gedacht ... Es ist gut, einmal das Falsche anzunehmen, um das Richtige genauer zu sehen. Sagen wir also: Hölderlin habe die griechische Mythologie neu und geistreich begriffen und in seine Naturdichtung herübergenommen“.57 Mit der Forschungskritik ist eine Bildungskritik verbunden: „Noch einmal gilt es zu verstehen, wie eine, ungern gestandene, Tatsache unsrer Bildung dem Dichter einfach, wahr und vielleicht fruchtbar wird. Unsere Schule erzog uns lange Zeit der Religion nach zu Christen, der Geisteskultur nach zu Humanisten, aber ohne daß die Ausschließlichkeit zweier Wertmaße, der durch Aufklärung und Goethe bekräftigten Antike und des Christentums, als Problem vermerkt, geschweige denn versöhnt worden wäre“.58 Die Kritik gipfelt in einer Absage an jegliche Dogmatik: „Es gilt vom Verständnis Hölderlins alles fern zu halten, was nach Exegese und Dogmatik aussieht, damit er uns Dichter bleibt“.59 Den Vorwurf einer dogmatischen Auslegung hatte er 1942 in der Auseinandersetzung indirekt auch Heidegger gemacht, wenn er ihm unterstellt, nur noch mit sich selbst über Hölderlin zu sprechen. Heidegger wiederum nimmt 1943 die Kritik Kommerells in seinen Aufsatz Andenken in der Kluckhohn-Gedenkschrift auf: 60 Er läßt den Grenzbereich zwischen seinem eigenen Denken und der Dichtung Hölderlins nicht mehr verschwimmen. Dazu greift er das Thema des Dichterberufs auf: „Wir dagegen bedürfen einiger Bemerkungen, damit wir merken, wie das Genannte als das Gegrüßte erscheint, das den grüßenden Dichter wiedergrüßt, damit er in der Einkehr in seinen Dichterberuf bleiben mag“.61 Er legt insgesamt

54 Kommerell, Max: Hölderlin-Gedenkrede Juni 1943, in: Hölderlin-Jahrbuch 15 (1967/68), S. 240–254. 55 Ebd. S. 243. 56 Ebd. S. 245. 57 Ebd. S. 246. 58 Ebd. S. 250. 59 Ebd. S. 253f. 60 Heidegger, Martin: Andenken, in: Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100. Todestag 7. Juni 1943, hrsg. v. Paul Kluckhohn, Tübingen 1943, S. 267–324. 61 Ebd. S. 281.

VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger

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eine Interpretation vor, die Wort für Wort dem Text folgt und nicht darüber hinaus geht: Wohl aber macht sich dieses Denken, ihn zeigend, im Wesensgrund der Dichtung fest, indem es ihrem Wesen in den Ursprung folgt und durch diese Folge selbst das Sichten ist. Andenken ist das dichterische Bleiben im Wesen des schicklichen Dichtertums, das im festlichen Geschick der künftigen Geschichte der Deutschen feiertäglich seinen Stiftungsgrund zeigt. Das Geschick hat den Dichter in das Wesen dieses Dichtertums geschickt und ihn zum Erstlingsopfer ausersehen. In solcher Schickung ist der Dichter ursprünglich gegrüßt. [...] Dichten ist Andenken. Andenken ist Stiftung. Das stiftende Wohnen des Dichters weist und weiht dem dichterischen Wohnen der Erdensöhne den Grund.62

Das neue Vorgehen Heideggers wird von Kommerell erkannt und gewürdigt. Im Mai 1944, etwa zwei Monate vor seinem Tod, schreibt er ihm: „Ich stak viel in Ihren neuen Schriften, insbesondere ‚Andenken‘ hat mich überrascht und überzeugt“.63 Das Lob nimmt Heidegger wohlwollend auf und antwortet am 11. Juli 1944: „Ihre Zeilen haben mich sehr erfreut. Sie enthalten das erste Echo auf meinen Versuch zu Hölderlins Gedicht ‚Andenken‘. Wenn einer so allein geht, ist eine solche Zustimmung eine bleibende Freude“. Daraufhin bedankt er sich für Kommerells Übersendung von Die kürzesten Oden Hölderlins: „Wie gut, daß es doch noch Gelegenheiten gibt zum Lernen. Ich lerne auch langsam ‚Goethe‘ sehen, obwohl ich da noch viele Hindernisse zu überwinden habe. Ihr neuer Vortrag ist eine schöne Hilfe, gar wenn ich ihn jetzt zusammen mit Ihrem großem Buch lesen kann“.64 Mit dem „großen Buch“ meint er Kommerells Gedanken über Gedichte. Am 2. Mai 1944 hatte Kommerell ihn unterrichtet, daß ein Exemplar an ihn unterwegs sei: „Mein neues Buch geht Ihnen durch Klostermann zu, damit es in Ihrem Besitze sei, nicht damit sie es lesen“.65 Heidegger hat das Kapitel Hölderlins Hymnen in

62 63

Ebd. S. 322f. DLA Marbach, Brief Kommerell an Martin Heidegger vom 02.05.1944, Nachlaß Heidegger, A: B. 73, 75.7353. Siehe auch DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 02.07.1943, Nachlaß A: Klostermann: Es „freut mich sehr [...], daß Ihr ziemlich unermüdlicher Kampf für Heidegger belohnt wird. Sie verdienen da den Dank vieler Menschen. Der Wahrheits-Aufsatz hat mir besonders gut gefallen, und die Auslegung der Hölderlin-Hymne ‚Andenken‘ zeigt mir aufs neue, wie unerheblich die Einwände sind, die jemand oder man selber machen könnte. Das ist ein großes tiefes Begreifen, von einem, dem Hölderlin eine Notwendigkeit seiner selbst wurde – und in welch schwingender, eigenen Sprache vorgetragen!“. 64 DLA Marbach, Brief Martin Heidegger an Kommerell vom 11.06.1944, Nachlaß Kommerell, A: 84.1561/5. 65 DLA Marbach, Brief Kommerell an Martin Heidegger vom 02.05.1944, Nachlaß Heidegger, A: B. 73, 75.7353.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

freien Rhythmen aus dem Buch ausgeschnitten, mehrfarbig angestrichen und in seinem Unterlagen aufbewahrt.66 Der Aufsatz Die kürzesten Oden Hölderlins geht ebenfalls auf einen Auslandsvortrag zurück, den Kommerell in der ersten Hälfte des Jahres 1943 in Paris gehalten hat (vgl. Kap. VII). Der Vortrag erscheint in der Zeitschrift Deutschunterricht im Ausland, die von der Deutschen Akademie in München herausgegebenen wird, im ersten Heft des Jahrgangs 1943/44 und wird in der Essaysammlung Dichterische Welterfahrung (DW)67 wieder abgedruckt.68 In dem Aufsatz geht Kommerell wieder auf den Gegensatz von Sprechen und Schweigen ein: „Und die Frage des Anfangs – wo bist du? Die schmerzlich nachblickende Frage nach dem abwesenden Gott ... Dies alles sind große Gedanken und schwere Rätsel, wie wir sie aus dem späteren Dichter Hölderlin kennen. Und obwohl sie dem genau Lesenden von den wenigen Worten dieses Gedichts unausweichlich auferlegt werden, sind sie nicht eigentlich gesagt, sondern bloß mit vorhanden in Bild und Stimmung. Kann aber Kunst Vollkommeneres sein, als wenn sie, wie hier, fühlbar verschweigt?“ (DW 201). Er stellt die Frage nach der Rolle des Dichters: „Statt heiligen Weins Gesänge, statt des Gottes die Dichter! Welche Länder weckend – wir ahnen es! Und wer sind die Dichter? Vielleicht einer? Vielleicht er? Und wenn – in welche Bedrohung reißt er sich selbst mit diesem Beruf?“ (DW 199). Damit greift er Heideggers Frage vom Verhältnis zwischen Dichter und Denker auf. Indem er jedoch die Oden untersucht, stellt er sich, wie im Empedokles-Aufsatz, gegen den Alleinvertretungsanspruch, den Heidegger an Hölderlins Hymnen geknüpft hatte. Heidegger seinerseits setzt sich mit Kommerells Rolle in der Wissenschaft auseinander und nimmt seine periphere Stellung wahr, wie er ihm in einem Brief vom 11. Juni 1944 mitteilt: Sie helfen doch wesentlich stärker, als Sie vielleicht selbst glauben der seltsamen ‚Wissenschaft‘, die sich ‚deutsche Literaturgeschichte‘ nennt, zu einer wirklichen Besinnung. Vielleicht dürfen wir heute u. künftig gar nichts Höheres beanspruchen als das Geschenk, ein Anlaß und ein Stück zur Besinnung zum steten Nachdenken zu sein. Ich glaube auch, daß schon genug Menschen da sind, die erwachen wollen und gehorsam hören auf das Wesentliche. Durch Sie wird sich eines Tages der seit Jahrzehnten festgefahrene Wissenschaftsbetrieb, der sich mit ‚Dichtung‘

66 Vgl. DLA Marbach, Kommerell, Max: Hölderlins Hymnen in freien Rhythmen, Nachlaß Heidegger, A: B. 73, 75.7353. 67 Kommerell, Oden, S. 194–204. 68 Zur italienischen Fassung unter mit dem Titel La brevita de Hölderlin siehe Kommerell, Brevita, D: 86.555/5.

VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger

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‚beschäftigt‘, von innen her wandeln. Ich weiß es aus Erfahrung, wie stark zumal heute wirkliches Nachdenken den ganzen beansprucht und seine Kräfte auszehrt.69

Die Kontroverse, in der Kommerell anfangs Heideggers Ausführungen als „Unglück“ bezeichnet hatte, findet einen gegenseitigen Abschluß: Heidegger akzeptiert Kommerells Einwände und nimmt sie in seine späteren HölderlinStudien auf; Kommerell würdigt Heideggers veränderte Herangehensweise an Hölderlin. An die Kontroverse schließt sich die posthume Würdigung Kommerells durch Heidegger. In dem bereits aufgeführten Gedenkwort aus dem Sommersemester 1944 schreibt Heidegger öffentlich Kommerell eine ‚exklusive Randposition‘ im Fach zu und unterstützt Kommerells Germanistenkritik. Am 27. Februar 1962 findet anläßlich Kommerells 60. Geburtstag in der Berliner Akademie der schönen Künste eine Gedenkfeier statt, die der Präsident und Studienfreund Kommerells, Herbert von Buttlar, organisiert. Die unveröffentlichte Festrede hält Martin Heidegger: „Gesetzt, daß alle Kunst in ihrem Eigentlichen Dichtung ist, – dann ist diese Stunde des Gedenkens an Max Kommerell hier in der Akademie der Künste in Berlin am rechten Ort“,70 beginnt die Rede, in der Heidegger die zwei Gedichte Eine Zeichnung und Lebenslauf aus dem Gedichtband Mit gleichsam chinesischem Pinsel (1943), einige Auszüge aus den Gedanken über Gedichte und Kommerells kürzeren Brief vom Mai 1944 vorliest. Er verfolgt das Ziel eines „Andenken[s] an Max Kommerell. Zugleich ein Gedanken von der Art, daß M. K. darin selbst anwesend wird und anwesend bleibt. Aber wie könnte dies glücken? Vielleicht auf die Weise, daß wir Max Kommerell unmittelbar sprechen lassen, wobei gleichwohl die Sache spricht, – und nur sie. –“ Im Zentrum der Rede steht jedoch Kommerells kritischer Brief aus dem Sommer 1942, den Heidegger in der Rede ausgiebig zitiert. Dabei geht es ihm weniger um die Beibehaltung seiner Position aus der Kontroverse als um eine Würdigung Kommerells: „Indes bleibt die Sache so stark, daß dahinter die Personen verschwinden. Die Sache ist dieselbe, die uns heute, wie damals, angeht: Die Bestimmung des Dichtens und Denkens im gegenwärtigen Weltalter, dem Weltalter des abwesenden Gottes und der, wie Kommerell sagt ‚augenscheinlichen Frömmigkeit‘. Aber ein ernstes Bedenken scheint doch zu bleiben, daß nämlich Max Kommerell selbst nicht mehr antworten kann auf das, was sein Brief zu sagen und zu fragen versucht“.

69 70

DLA Marbach, Brief Martin Heidegger an Kommerell vom 11.06.1944, Nachlaß Kommerell, A: 84.1561/5. Die folgenden Zitate aus: DLA Marbach, Heidegger, Martin: Prosa. Reden und Vorträge „Max Kommerell-Feier“, 27. Februar 1962, Nachlaß Heidegger, A: B. 73, 75.7353.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

Heidegger erläutert Kommerell im Kontext der Wissenschaftsgeschichte. So weist er auf die Kontakte zu Karl Reinhardt und Walter F. Otto hin: „‚Aber ich bin ein hinnehmendes Wesen‘. Wie sollte Kommerell, der große Kenner der Griechen und Freund von Karl Reinhardt und Walter F. Otto, nicht an das Wort von Äschylos aus dem Prometheus gedacht haben: PATHOS – MYTHOS, LEIDEN – LERNEN. Leiden, d.h. hinnehmendes, vernehmendes Wesen, ist eigentliches Lernen, nämlich Sich-einlassen in das Hörenkönnen auf das Wesenhafte“. Heidegger betont die Wertschätzung, die er Kommerell entgegenbrachte, und die Hilfe, die dessen Brief für seine weitere Auseinandersetzung mit der Dichtung im Allgemeinen und mit Hölderlin im Besonderen bedeutete: „Ich glaube jedes Wort ist zuviel, um diesen Brief von außen her zu charakterisieren. Es ist mir bis heute nichts begegnet, was so aus eigenem Ursprung und Anfang zu mir sprach und mich in einer Weise förderte; förderte im Sinne einer Klärung der Fragen, die dieser Stunde noch einiges dazu zu sagen. Und ich möchte Ihnen um diesen bedeutsamen Brief, bei dem sie bitte meine Person ganz ausschalten mögen, um Ihnen den Gehalt dieses bedeutsamen Briefes ins Gedächtnis zu prägen, fünf Punkte herausheben“. Diese fünf Punkte weisen auf ein Vorgehen hin, das bei der Form beginnt, sich über das Rezeptionsereignis, dessen Bewertung und die vergleichende Einordnung bis hin zur inhaltlichen Auseinandersetzung erstreckt: Das erste betrifft das entscheidende Anliegen Max Kommerells, das gegen Schluß – und unterstrichen – betont ist, nämlich, bevor man versucht, eine solche Hymne auszulegen, man sich darüber klar werde, was sie in sich selbst als dichterische Form ist. Das Zweite liegt in der Frage: Was ist in dieser Begegnung des Denkens mit dem Dichter geschehen? Das dritte besteht in der Frage: Handelt es sich in dieser Begegnung, wie Kommerell sagt, ‚um eine Gleichsetzung des Dichters mit dem Denken?‘ Das Vierte betrifft den Vergleich mit George. Das Fünfte enthält die Frage nach der Wahrheit und Verbindlichkeit des dichterisch-denkenden Sagens.

Im Fortgang seiner Rede handelt Heidegger die Punkte nacheinander ab. Dabei greift er auf seine älteren Positionen zurück und modifiziert sie teilweise: „Das Erste betrifft seine berechtigte Forderung, daß man sich darüber klar werde, gerade mit Bezug auf die neue Gestalt des hymnischen Sagens bei Hölderlin, was eine solche Hymne als Hymne ist. Kommerell war vermutlich um diese Zeit schon am Werk, darüber einen Aufschluß zu finden, und er hat auch den Aufschluß gegeben in einer Abhandlung, die überschrieben ist: ‚Hölderlins Hymnen in freien Rhythmen‘. Sie ist aufgenommen in sein letztes Buch vom Jahre 1943 (Gedanken über Gedichte, S. 456ff.). Was eine solche Hölderlinsche Hymne eigentlich ist, klärt hier Kommerell in einer großartigen und, – wie ich glaube, – bleibenden Weise durch die Unterscheidung der Hölderlinschen Oden als Stimmungen, – der Elegien als Feier und der Hymnen als Deutung. Zugleich zeichnet er damit den inneren Weg Hölderlins

VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger

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und den entscheidenden Wandel in seinem dichterischen Sagen und im Hinblick darauf, daß vormals die Götter, wie Kommerell das ausdrückt, für ihn ein SEIN bedeuteten und jetzt zu einem WERDEN wurden, aber zu einem WERDEN, das den Charakter der Flucht, des Entschwindens, des Abwesens, annimmt“. Kommerell hatte in Gedanken über Gedichte, auf die Heidegger hier verweist, festgestellt: „Wie wirklich die Wirklichkeit des Dichters ist, tut sich an uns kund, denn seine Gedichte sind, wir aber werden, und sie erfüllen sich an uns Werdenden“ (GG 481). Über das Verhältnis von Dichter und Denker erläutert Heidegger 1962: Die zweite Frage, die Kommerell stellt, betrifft den Übergang, wie er sagt, ‚mit Bezug auf mein Denken und von der Beschreibung der menschlichen Situation zur metaphysischen Aussage‘. Bei dieser Frage steht nun Kommerell ganz unter dem Einfluß der damals und noch heute gängigen Auffassung von seiner Zeit, daß all‘ seine Beobachtungen der menschlichen Situation als eine Art Anthropologie aufgefaßt wird, – während es sich dabei um die Frage nach dem SEIN handelt, sodaß kein Übergang ist von der Beschreibung der menschlichen Situation zu einem metaphysischen Aussagen, – denn auch die Aussage ist keine metaphysische mehr, – sondern eine, die die Metaphysik hinter sich läßt. Bedenkt man dies, dann wird das Verständnis dieser unausweichlichen Begegnung meines Denkens mit Hölderlin eher verständlich.

Er hebelt Kommerells Frage – „Wo ist der Übergang, wo Ihre eigene Philosophie in Hölderlin mündet?“ (BA 400) – einfach aus, indem er keinen Unterschied zwischen anthropologischer Beschreibung und metaphysischer Aussage macht, da die Aussage über die Metaphysik hinweggegangen sei. Den zweiten Einwand Kommerells, Dichtung sei nur mit Dichtung gleichzusetzen, entkräftet Heidegger, indem er Dichten und Denken zu einem einzigen Gegenstand erklärt: Ich habe gerade mit Bezug auf diese Stellen in dem genannten Nachwort zu ‚Was ist Metaphysik‘ im Jahre 1943, 4. Auflage, in zwei Sätzen gesagt, was nicht als eine dogmatische Aussage gilt, sondern die Fragen enthält: ‚Der Dichter nennt das HEILIGE, der Denker sagt das SEIN‘. Wenn wir dies beachten, dann wird deutlich, daß von einer Gleichsetzung des Denkens mit diesem Dichten nicht die Rede sein kann. Und gleichwohl hat Kommerell etwas Wesentliches gespürt und gesehen. Eine Gleichsetzung könnte nur statthaben zwischen Dichtung und Dichtung, Gleiches muß in demselben Bezirk sich zeigen und sich in einer bestimmten Hinsicht dann innerhalb dieses Bezirkes, – also der Dichtung, – unterscheiden. Es handelt sich hier nicht um ein Gleiches, sondern um dasselbe, nämlich, daß ganz anderes Dichten und Denken in einer bestimmten Weise zusammengehören.

Heidegger stellt seine eigene Aussage in Frage: „‚Vorläufig‘ – ist mein Denken allerdings insofern, als es versucht, dem, was in Hölderlins Dichtung gesagt ist, den Raum des Verstehens zu öffnen, und das Hörenkönnen zu ermöglichen, d. h. deutlich zu machen wie das, was Hölderlin ‚das Heilige‘ nennt, das Heile, das unversehrlich Ganze, alles Bestimmende, daß dieses selbst uns nur

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

angeht, wenn wir erst wieder zu fragen und zu denken lernen, was SEIN als solches besagt“. Mit der Vorläufigkeit wird eine Verbindlichkeit der Aussage verknüpft: Und so handelt es sich, was Kommerell damals nicht wissen konnte, – nicht um eine Gleichsetzung, sondern um ein Zurücktreten vor dem Dichter, der Höheres und Anderes zu sagen hat, als das Denken, welches Denken gleichwohl vorläufig ist, – ihm vorausläuft im Hinweis auf das, was SEIN und Denken des SEINS besagen. Und hierin ist nun die entscheidende Frage des ganzen Briefes beschlossen, die Frage, die von Anfang an überall in jedem Satz durchklingt, die schwerste und allesbestimmende Frage nach der Wahrheit des dichterischen Sagens, oder wie Kommerell sagt: ‚nach der Verbindlichkeit‘. Hier wäre zu fragen, ob wir überhaupt in Bezug auf das dichterische Wort von einer Verbindlichkeit sprechen dürfen. Verbindlichkeit gibt es nur dort, wo ein Wissen ist im Sinne des [sic] Gewißheit.

Die Frage der Verbindlichkeit läßt Heidegger offen und findet so einen Ausweg aus dem Zwiespalt, weder auf seiner Position beharren und damit seinen Irrtum zugeben zu wollen, noch seine Ansicht aufgeben und damit Kommerell rechtgeben zu müssen. Am Ende erkennt Heidegger den Wert von Kommerells Äußerungen an und setzt sich, wie er es schon bei Hölderlin gemacht hatte, als Interpret über den interpretierten Autor hinweg: Ich werde Ihnen zuletzt, zum Abschluß zeigen, daß Kommerell selbst, ohne daß er dies im Ganzen vielleicht noch übersah, dem Wesen der dichterischen Wahrheit, ohne sie philosophisch-reflektierend zu erörtern, am Ende seines Ganges näher gekommen ist, – als ihm bewußt war. Denn in beiden Fällen, der Frage nach der Wahrheit des Denkens und der Wahrheit des Dichtens, handelt es sich zuvor um die Frage nach der Wahrheit des Sagens. Beides nämlich, DENKEN und DICHTEN sind ausgezeichnete Weisen des SAGENS als solches. Das SAGEN als solches bedenken, das läßt sich griechisch sehr schön, aber für uns sehr gefährlich ausdrükken. Aber ich wage dieses Gefährliche in einer Zeit, wo das Denken immer mehr und mehr in die Harmlosigkeit gerät.

Vom Dichten und Denken leitet er, über das Sagen, hin zur Sage und zum Sinn, und damit zur Mythologie: Das SAGEN, die SAGE, ETWAS ALS SOLCHES BEDENKEN DIE SAGE ALS SAGE BEDENKEN

heißt griechisch „ „ heißt, –

MYTHOS und LOGOS und MYTHO LOGIE.–

MYTHOLOGIE nicht als Götterlehre, nicht als Schaffen eines Mythos, das Bedenken der Sage auch nicht als Sprachphilosophie, – sondern das Bedenken des SAGENS als solches ist unendlich vorläufiger, aber auch schwieriger in der Forderung von allen Vorurteilen abzusehen. Der entscheidende Schritt, wie ich meine, den Kommerell zuletzt noch getan hat und der ihn dem Wesen der Dichtung am nächsten brachte, liegt in der genaueren Bestimmung dessen, mit Bezug auf Hölderlin, inwiefern der Dichter ein Seher ist; ein Seher, kein Weissager und schon gar nicht ein Wahrsager. Wie Kommerell betont, der Dichter sagt nicht ein ‚KOM-

VIII.1 Die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger

461

MENDES‘ an, was von Außen eintrifft, – aber, und das ist entscheidend, – er zeigt Verborgenes, – wie ich ergänze, als Verborgenes.

Mit dem Bezug auf den Dichter als Seher und Künder kommt Heidegger wieder auf Kommerells Position aus der Klassik-Studie zurück, modifiziert sie aber dahingehend, daß der Dichter nicht mehr der Künder des Künftigen ist, sondern des Verborgenen, also in der Sprache das Schweigen ausdrückt. Daran schließt Heidegger eine unabgeschlossene Reflexion über das Verhältnis von Einseitigkeit und Allgemeingültigkeit der Aussage eines Dichters: Was unausgetragen bleibt und blieb zwischen uns, ist eine Frage, die ich mit ihm einen ganzen Vormittag lang auf einem Gang durch das Gebirge im Schwarzwald besprochen habe, das war ein Gespräch, das zugleich auch Rilkes Duineser Elegien und Rilkes Dichtung überhaupt betraf, der er sich zuletzt genähert hat, sehr frei und sehr offen. Die Frage, wie zwischen der Vielfalt schöpferischer Aussagen der Dichter und – eine Auffassung der Dichter, die eines einzigen Dichters, der einen wegweisenden Aufschluß gibt, zu unterscheiden sei. Kommerell [...] war einer der wenigen, der eben nicht nur unsere eigene deutsche Dichtung kannte; – von dieser Art unterscheidet sich eine Interpretation dieses einen einzigen Dichters im Hinblick auf den Weltaugenblick unserer Gegenwart. Und es ist die Frage, ob die geschickhafte Einzigkeit eines Dichters, wie sie in der Dichtung Hölderlins sich offenbart, eine Einseitigkeit zur Folge hat, oder ob die geschickhafte Einzigkeit dieses Dichters, die man nicht mit literarischem Maßstäben gegen anderen absetzen kann, – ob diese geschickhafte Einzigkeit nicht erst eine Allseitigkeit eröffnet und uns einen neuen Blick sowohl in die Geschichte der Dichtung als auch in die Geschichte des Denkens gibt. Und hier müssen wir indes gestehen, daß für all‘ dies heute noch die nötigen Hinsichten und die nötigen Begriffe fehlen. Die üblichen Vorstellungen von Geschichte und Historie reichen nicht mehr zu, um diese Zusammenhänge zu sehen.

Nach einem Zitat aus den Gedanken über Gedichte bringt Heidegger Kommerells Verwendung des Begriffs ‚Dasein‘ in Verbindung mit seiner RilkeRezeption: „Der merkwürdige Gebrauch des Wortes Dasein bei Kommerell in der letzten Phase seiner Bemühungen, geht ohne hier Abhängigkeiten zu erzählen und auszurechnen, zweifellos auf die neue Erfahrung der Rilkeschen Dichtung, vor allem der ‚Sonette an Orpheus‘ zurück“. Heidegger beschließt seine Festrede mit den letzten Sätzen aus dem Vorwort der Gedanken über Gedichte: „Der Verfasser war bemüht, seine Auslegungen nicht dogmatisch werden zu lassen, sondern sie beweglich zu erhalten. Denn wir sind auf Ergänzung angewiesen“ (GG 7f.). Das Ergänzungsbedürftige erklärt Heidegger abschließend zu Kommerells zentralem Charakterzug: „Kommerell war und bleibt selbst / EIN ERGÄNZENDER, / einer von jenen, die aus eigener, anfangender Erfahrung in die Gänze des SEINS zeigen, – weil sie von dessen Rätsel betroffen sind. / DENN WIR SIND AUF ERGÄNZUNG ANGEWIESEN“.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

Für die Gesamtfragestellung bleibt festzuhalten, daß die Kontroverse zwischen Kommerell und Heidegger im Medium der Publikation beginnt, im privaten Briefwechsel fortgesetzt wird, wieder Eingang in spätere Veröffentlichungen findet und schließlich im halböffentlichen Raum des Gedenkvortrages abgeschlossen wird. Die These des Wegs vom Brief zum Werk ist also in Bezug auf Heidegger einzuschränken, kann aber mit Blick auf Kommerells Brief an Heidegger 1942 und seine Hölderlin-Publikationen der Jahre 1943 aufrecht erhalten werden.

VIII.2 Kommerells und Gadamers Hölderlin-Austausch Im August 1936 planen Max Kommerell, Hans-Georg und Frida Gadamer einen gemeinsamen, vierwöchigen Urlaub auf der Insel Hiddensee. Deshalb macht Kommerell sich am 4. August 1936 in einem Brief an Frida Gadamer Gedanken, wie er seine Versorgung sicherstellen könne: „Ich habe keinen klaren Begriff von der Ernährung. [...] Ich erinnere mich an eine Andeutung aus Ihrem Mund, daß es gut wäre, ausreichend Konserven mitzubringen. Ich würde dann mir in Stuttgart, um mich vor unerfüllten Begierden zu sichern, die doch den Menschen oft sehr peinigen, einiges aussuchen und dort hinschicken lassen, oder vielleicht ev. von Berlin aus. Fische gibt’s ja genug dort, hoffentlich nicht bloß Heringe, die mir leider in jeder Form ungenießbar sind“. Abschließend bittet er Frida Gadamer, in ihrem Antwortbrief mitzuteilen, „ob Sie meine konservative Haltung (von Konserve abgeleitet) gutheißen, oder ob Sie dieselbe als sinnlos widerraten?“71 Die enge Freundschaft mit Hans-Georg Gadamer, die seit etwa 1929 besteht,72 bildet nicht nur den Hintergrund für die Diskussionen über griechische Philosophie und Tragödientheorie (vgl. Kap. VII), sondern auch über Hölderlin. Hans-Georg Gadamer befaßt sich ebenfalls Anfang der 1940er Jahre mit Hölderlin. In der Kluckhohn-Gedenkschrift 1943 legt er eine Untersuchung über Hölderlin und die Antike vor.73 Seit Ende 1942 arbeitet er an diesem

71 72

73

DLA Marbach, Brief Kommerell an Frida Gadamer vom 04.08.1936, Nachlaß A: Gadamer. Zur Entstehung der Freundschaft siehe Grondin, Jean: Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen 1999, S. 53f., 171ff. u. 219. Zum folgenden siehe auch Bülow, Karton, S. 67–84; und: Bülow, Ulrich von: Freundschaft und Hermeneutik. Der Dialog zwischen Max Kommerell und Hans-Georg Gadamer, in: Marburger Hermeneutik zwischen Tradition und Krise, hrsg. v. Matthias Bormuth u. Ulrich von Bülow, Göttingen 2008, S. 110–127. Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Hölderlin und die Antike, in: Kluckhohn, Gedenkschrift, S. 50–69. Gadamers Aufsatz zu George und Hölderlin (Gadamer, Hans-Georg: Hölderlin und George, in: Hölderlin-Jahrbuch 15 (1967/68), S. 75–91) wurde 1968 anläßlich des

VIII.2 Kommerells und Gadamers Hölderlin-Austausch

463

Aufsatz. Kommerell verfolgt die Arbeiten mit Interesse, wie er am 7. Oktober 1942 mitteilt: „Auf Ihre Plato-Arbeit bin ich sehr begierig. Ebenso auf Hölderlin“.74 Auch wenn Gadamer die Ansätze Heideggers und Kommerells nicht im einzelnen ausführt, wäre sein eigener Beitrag zur Hölderlin-Deutung ohne den Bezug auf die Arbeit der Kollegen nur gering. Gadamer stellt Hölderlins Hymne Der Einzige in das Zentrum seiner Untersuchung: Wir müssen diesen Zusammenhängen genauer nachdenken [sic], um zu erkennen, wie der Dichter aus dieser doppelten Gefangenschaft in die Griechenliebe und in die christlich-abendländische Weltstunde die einmalige Inständigkeit seines Wissens um Beide, um die griechischen Götter und um die ‚Engel des Vaterlandes‘, gewinnt. Was in dem Hymnus ‚Der Einzige‘, von dem wir ausgehen, einmalig bekannt, aber mehr verborgen als offenbart ist, bleibt dabei für uns der Schlüssel unseres Verständnisses: Die Weltlichkeit der Alten und die Innerlichkeit der christlich-abendländischen Seele sind ja auch die unbegreifliche Bürde, an der wir selbst tragen.75

Gadamer macht einige Anspielungen auf Kommerells Publikationen. Wenn er einen Vergleich zu anderen deutschen Dichtern herstellt, dann wählt er – bis auf Klopstock und Herder – genau jene Dichter, die Kommerell in der Klassik-Studie untersucht hatte: „Es ist also nicht ein beliebiger Bezug, einer unter anderen, so wie im Falle Goethes oder Schillers oder Kleist oder Jean Pauls, wenn man Hölderlins Bezug zur Antike untersucht“.76 Mit Kleist kommt noch ein Dichter hinzu, den Kommerell in seinem Aufsatz über Die Sprache und das Unaussprechliche behandelt hat. Gadamer verweist, wenn er über die „neuen Formen der Andacht“ spricht,77 in einer Fußnote auf Kommerells Aufsatz Hölderlins Empedokles-Dichtungen.78 Der Aufsatz steht in der gleichen Sammlung wie Kommerells Kleist-Aufsatz, zu dem Gadamer einen intertextuellen Bezug anhand des Ausdrucks vom Unaussprechlichen herstellt: „Wenn aber Hölderlin sagt: ‚Vieles wäre zu sagen davon‘ (‚Patmos‘ v. 88) oder ‚Viel ist die Ansicht‘ (‚Der Einzige‘, spät. Fassung v. 68), welch ein Reichtum, nicht des Unausgesprochenen, sondern des Unaussprechlichen wird darin laut!“79 Neben dem direkten Verweis gibt es also auch eine indirekte Anspielung auf Kommerell.

100. Geburtstags Georges geschrieben. Im Aufsatz knüpft Gadamer nicht an die Diskussionen an, die Kommerell, Heidegger und er in den 1940er Jahren führen. Er entwickelt seinen älteren Ansatz nicht weiter. 74 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 07.10.1942, Nachlaß A: Gadamer. 75 Gadamer, Antike, S. 62. 76 Ebd. S. 51. 77 Ebd. S. 60. 78 Ebd. S. 69: „Vgl. Max Kommerell, Geist und Buchstabe der Dichtung, S. 287“. 79 Ebd. S. 67.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

Gadamer entwickelt einige Gedanken über das Wesen des Dichters mit Bezug auf Hölderlin: „Das dichterische Wort ist das Wort überhaupt, und das Wort ist die Wirkung und Erfahrung des Göttlichen selbst, wie es gefaßt und ‚ausgeteilt‘ wird“.80 So wird der Dichter als „der berufene Künder göttlicher Gegenwart im Wort“ bezeichnet.81 Deshalb „muß [der Dichter] allein sein, weil er zuerst das allen gemeinsame Göttliche in seinem Wort zu nennen und herbeizurufen hat“.82 Die Oberflächlichkeit von Gadamers Ausführungen zeigen sich in solchen redundanten Sätzen wie: „Gedächtnis ist Gegenwart des Abwesenden in seiner Abwesenheit“.83 Die letzten Schlußfolgerungen, zu den Gadamer kommt, zeigen ebenfalls die Grenzen seiner Hölderlin-Deutung. Weil sie zirkulär bleibt, erschöpft sie sich in Tautologien, die literarischen Text und Begriff für austauschbar erklären: Die Dichter sind an sich ‚geistig‘, d. h. sie sind der Gegenwart des Göttlichen insgesamt, allen Himmlischen zugleich, zugeordnet. Auch sie aber leiden eine unaufhebbare Gefangenschaft in die Zeit. Das hat der Dichter eben an sich selbst erfahren: auch sie können ‚das Beste‘, was sie wünschen, nicht nach ihrem Willen herbeizwingen – es bleibt ‚einem Gott‘ anheimgestellt. Die Dichter müssen also weltlich sein, weil sie nur die Gegenwart, in die sie gefangen sind, singen können. Hölderlins Gegenwart gehört zu, daß sich Christus der dichterischen Gestaltung versagt. Die griechischen Götter sind Gegenwart der Sage, die sich dem Dichter im Lichte der ‚allgegenwärtigen‘ Natur neu deutet – Christus dagegen ist der im Glauben Lebende, dessen Anbetung ‚im Geist‘ geschieht.84

Das Thema der Gefangenschaft greift Gadamer in seiner Gedenkrede auf Max Kommerell auf, die er am 4. August 1944 in der Aula der Universität Marburg hält und am Ende der Sammlung von Kommerells Essays Dichterische Welterfahrung, die von ihm herausgegeben wird, abdrucken läßt.85 Die Gedenkrede behandelt besonders Kommerell als Dichter, und versucht, wie Gadamer selbst sagt, zu „helfen, das reiche Lebensfragment dieses dichterischen Menschen und Deuters von Dichtung zu dem Ganzen zu ergänzen, das es war“.86 Gefangenschaft – auch in Anspielung auf Kommerells Drama Die Gefangenen (vgl. Kap. IX) – wird dabei als neue, dichterische Erfahrung der Welt gesehen: „Das Symbol des ‚Gefangenen‘ spiegelt diese neue Erfahrung

80 81 82 83 84 85

Ebd. S. 55f. Ebd. S. 63. Ebd. S. 64f. Ebd. S. 64. Ebd. S. 61. Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Gedenkrede auf Max Kommerell. Gehalten in der Aula der Universität Marburg am 5. August 1944, in: DW, S. 205–227. 86 Gadamer, Hans-Georg: Nachwort des Herausgebers, in: DW, S. 228–229, hier: S. 229.

VIII.2 Kommerells und Gadamers Hölderlin-Austausch

465

der männlichen Seele. Der Dichter sieht ihn nicht als den in der Kerkerhaft nach Freiheit Lechzenden, sondern als einen, der sich diese seine begrenzteste Welt ganz zu erwerben versteht und damit in einer neuen, wahreren Form das Dasein und die ‚Geburt‘ erfährt“.87 In der Gedenkrede thematisiert Gadamer Hölderlin mehrfach: „Mit Entschiedenheit beschwor der junge Dichter und Deuter das Führertum Jean Pauls und Hölderlins, den Sänger der ‚vollen Dolden der Heimat‘ und den zukunftweisenden Seher der ‚Engel des Vaterlandes‘“.88 Er stellt Kommerells frühe Sicht des Dichters als geistigem Führer und Vorbild heraus. Gadamer selbst sieht hingegen am Beispiel Hölderlins den Dichter als Künder. Kommerells Wendung von Hölderlin zu Goethe deutet Gadamer als Entwicklung: „Auch daß der jugendliche Verehrer Hölderlinschen Prophetentums am Ende doch zu der liedhaften Einfachheit wie dem lautlosen Alterszauber von Goethes Lyrik neigte [...], bezeichnete seinen Weg zur Reife“.89 Er greift ein Zitat aus Kommerells Gedanken über Gedichte heraus, um den Weg in die ‚Weltliteratur‘ nachzuzeichnen: „Selbst von Hölderlin betont er: ‚Das von Hölderlin gemeinte Geschehen ist für uns nur vorhanden in seinem Gedicht.‘ Der Wissenschaft aber, der er diente, der Wissenschaft der deutschen Dichtung hat er auf eindringliche Weise gezeigt, daß sie, um sein zu können, Wissenschaft der Weltliteratur sein muß“.90 Kommerell habe sich außerdem Hölderlins bedient, um über die Trauer des verstorbenen Freundes Johann Anton hinwegzukommen: „Mit der großen Gebärde des in den Hymnen Hölderlins Aufgewachsenen ruft er den Wehruf über den geschiedenen Freund, den die ‚Trauer des Blutes‘ hinwegnahm“.91 In der Gedenkrede bezieht Gadamer den Ausdruck der Begegnung von Dichter und Denker, den Heidegger geprägt hat, auf Kommerell und deutet ihn im Hinblick auf dessen dichterische Begabung um: Die wissenschaftlichen Arbeiten Kommerells seien „freilich auch Ausdruck der Begegnung des Dichters mit dem Dichter und erzählen von seiner inneren Geschichte“.92 Gadamer führt Kommerells Fähigkeiten als Schriftsteller und Wissenschaftler zu einer Doppelbegabung zusammen: „Worin er der Wissenschaft gedient hat, was er als Lehrer, ja, was er als Freund und als der innigste Vertraute der geliebtesten Menschen war, er war es als der Dichterische, offen dem Andrang des Seienden, um die genaueste Antwort bemüht“.93 Zum Verhält-

87 88 89 90 91 92 93

Gadamer, Gedenkrede, S. 221. Ebd. S. 207f. Ebd. S. 211f. Ebd. S. 212. Ebd. S. 218. Ebd. S. 210. Ebd. S. 205.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

nis von Personen- und Institutionenebene der Wissenschaftsgeschichte stellt Gadamer fest: Kommerell wurde durch die Institution Universität, der er sich einordnete, vor mancherlei Spannung und Belastung gestellt. Es darf am Ende doch wohl zur Ehre beider gesagt werden, daß sie einander zu ertragen vermochten. Schwieriger müssen sich in Kommerell selbst die vielseitigen dichterischen und wissenschaftlichen Kräfte bestritten haben. Nur die leidenschaftliche, wahrhaft besessene Hingabe an seine Arbeit, getragen von einem eisernen Fleiß und von einer einzigartigen Frische und Spannkraft seines Geistes, hat ihm gestattet, die Spannung des dichterischen und des wissenschaftlichen Daseins bis zu Ende auszutragen und, was ihn fast zu erdrücken drohte, in die fruchtbarste Wechselwirkung zu verwandeln.94

Abschließend formuliert Gadamer einen tröstenden Gedanken, den er trotz des Verlustes seines Freundes Kommerell empfindet: „Dennoch hat dieser schmerzliche Abbruch eines so schöpferischen Lebens nichts von dem verzweifelt Sinnlosen, das sonst die Vernichtung schöpferischer Kräfte für den Betrachter hat. Dafür liegt die kurze Bahn dieses Lebens zu klar von ihrem eignen Sinn durchleuchtet vor uns“.95 In einem Artikel Max Kommerell, der 1953 im Neuen Forum erscheint, schildert Gadamer ebenfalls seinen Freund: auch der knappste Essay Max Kommerells hat etwas von der Verbindlichkeit der Wissenschaft, sofern sich keine Spur von Persönlichem und von Zufall, von Zeitgenossenschaft und individueller Perspektive darin zur Geltung bringt – so persönlich, so einmalig und so individuell sie auch in Wahrheit sind. [...] Ja, gerade ihr [Kommerells und Gundolfs] Mangel an Zünftigkeit war es, der ihren besonderen Rang begründete. [...] Darin war nichts von akademischer Restauration. Wer Max Kommerell kannte, der weiß, wie sehr er alles blaustrümpfige Bemühen verlachte und wie wenig ihm Doktrinen, Programme und Schulen bedeuteten: er war ein Geist von umfassender Gabe der Witterung – Witterung nicht für das Neue oder Zeitgemäße, sondern das Wahre.96

94 Ebd. S. 209. 95 Ebd. S. 226. 96 Gadamer, Hans-Georg: Max Kommerell, in: Das neue Forum 6 (1953), S. 81–83, hier: S. 81. Vgl. ebd. S. 82: „Max Kommerells Deutung von Dichtung hat dagegen eine grandiose Freiheit, ja eine bestürzende Direktheit. Er geht unmittelbar auf das Wesentliche zu, d. h. auf das, was ihm eine Dichtung an Wahrheit eröffnet. Deswegen fehlt seinen Versuchen ganz das Element des Genießens. Es ist ein Fragen und ein Antworten, das mit souveräner Gebärde alles beiseite schiebt, was das nur genießende und nur gebildete Bewußtsein verkostet. Der erste Satz, die erste Frage, ja die Überschrift oder Unterschrift mancher seiner Arbeiten ist wie eine vollständige Aufhebung allen Abstandes – wir sind mitten darin, fragend und befragt“. Vgl. auch ebd. S. 82f.: „so war es eine Weltentdekkung, als Max Kommerell [...] nicht nur die griechische und die französische Tragödie, nicht nur den vollendeten Lyrismus der englischen Sprache, die metaphysische Melancholie des russischen Realismus und die Dinggedichte Rilkes in sich aufnahm, sondern in unzünftig unbefangenen Arbeiten die vornehme Altersweisheit und Diskretion Ostasiens, die opernhafte grandezza des siglo d’oro, das Pathos der Maske und Puppe feierte“.

VIII.2 Kommerells und Gadamers Hölderlin-Austausch

467

Nachdem Gadamers Ansichten über Hölderlin, die in der Gedenkrede auf Kommerell einen Niederschlag finden, dargestellt worden sind, wird nun auf den direkten Austausch mit Kommerell eingegangen. Am 26. April 1941 bedauert Kommerell gegenüber Gadamer nach der Lektüre der neuesten Forschungsliteratur: „Hier wird nun nicht gedichtet, sondern gebrütet. Zwei geradezu schreckenserregende Hölderlin-Kenner, leichtsinnig selbstverschuldet, liegen auf mir.97 Das eine, umfassende, bezieht auch noch Duineser Elegien und Dionysos-Dithyramben mit ein. Gott, wie wird mir? Wären Sie doch da! Überhaupt: manchmal kommt [es] mir vor, ich müßte jetzt – in saturierten äußern Zuständen – die geistige Gärung der Jugend repetieren“.98 Über die zeitgenössische Aufführungspraxis meint Gadamer am 6. Juli 1943 zu Kommerell: „Ich sah vor kurzem Hölderlins Empedokles in Stuttgart und in Leipzig – eine an sich unmögliche Sache, die doch auch ihre lehrreichen Seiten aufwies“.99 Kommerell berichtet am 7. Oktober 1943 über seine Wahrnehmung der Gedenkschrift: „Nachdem ich die Hölderlinfestschrift bereits, soweit mich angehend, durchgelesen hatte (Otto[,]100 Böckmann[,]101 Hildebrandt102 glaub‘ ich mir erlassen zu dürfen), laufen nun die freundlich übersandten Sonderdrucke ein, zuletzt nicht zu unliebst der Heidegger’sche [Andenken]. Ihnen für den Ihrigen [Hölderlin und die Antike] herzlichen Dank! Die Kritik, zu der Sie mich durch die Zuschrift aufmuntern, indem Sie mir eine Befugnis dazu einzuräumen scheinen, kann ich im Augenblick nicht leisten“ (BA 422). Anschließend nimmt er – trotz anders lautender Bekundungen – doch Stellung zu Gadamers Aufsatz: Ich verstehe, daß eine wirkliche Kritik für Sie viel wünschenswerter wäre, als der Beifall. Denn daß Sie sich innerhalb einer von Ihnen ausgebildeten Hermeneutik hier zusammengefaßt haben und sowohl genau als total verfahren sind, wissen Sie selbst am besten. Da aber diese Gewalt des Deutens, dem Aufwand nach dem Object nach und der Methode nach, ein Wagnis ist, würde es ja, zu seiner eige-

97 Es ist nicht mehr festzustellen, auf welche Schriften Kommerell sich hier bezieht. Vielleicht meint er Guardini, Romano: Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit, Leipzig 1939; Hildebrandt, Kurt: Hölderlin, Stuttgart/Berlin 21940; Otto, Walter F.: Der griechische Göttermythos bei Goethe und Hölderlin, Berlin 1939; oder: Wolf, Erich: Vom heiligen Reich der Deutschen. Friedrich Hölderlin, Jena 1941. 98 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 26.04.1941, Nachlaß A: Gadamer. 99 DLA Marbach, Brief Hans-Georg Gadamer an Kommerell vom 06.10.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1547/9. 100 Gemeint ist Otto, Walter F.: Die Berufung des Dichters, in: Kluckhohn, Gedenkschrift, S. 203–223. 101 Gemeint ist Böckmann, Paul: Hölderlins mythische Welt, in: Kluckhohn, Gedenkschrift, S. 11–49. 102 Gemeint ist Hildebrandt, Kurt: Hölderlins und Goethes Weltanschauung dargestellt am ‚Hyperion‘ und ‚Empedokles‘, in: Kluckhohn, Gedenkschrift, S. 134–175.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

nen Begründung und Verdeutlichung, nur gewinnen, wenn das allenfalls dagegen Einzuwendende auch möglichst bündig hervorträte. Es würde sich, soviel ich sehe, weniger auf die Resultate der Interpretation im Einzelnen beziehen, als darauf, daß mir irgend etwas, für die Distanz zum Gedicht und seinem Bestehen aus sich selbst Erhebliches bei dieser Deutungskunst noch außerhalb zu bleiben scheint. Was aber, das ist mir selbst noch undeutlich, – und darum halte ich mich auch fern, jedenfalls von auf das Zentrum gehenden Versuchen, und bringe nichts über Hölderlin vor. (BA 422f.)

Kommerell formuliert ein Unbehagen an Gadamers „totaler“ Methode und bedauert, daß etwas „Erhebliches [...] noch außerhalb zu bleiben scheint“. Demgegenüber formuliert er Ziele für seinen zukünftigen Umgang mit Hölderlin: „Aber ich denke oft darüber nach, und es schwebt mir vor, etwas über die Hymnen überhaupt zu sagen, was ihren Gedankengehalt nur sekundär betrifft und auf ein anderes zielt. Aber es ist fast wahrscheinlicher, daß Sie oder Heidegger (der übrigens ganz anders vorgeht als Sie, vollkommen ungeschichtlich, und dem man deswegen auch schwer einen Einwand machen kann) eines Tages das auch noch sagen, und dadurch das Bisherige abrunden. Vielleicht bin ich nicht zum Interpreten Hölderlins geboren, obwohl ich seit meinem 14. Jahr unaufhörlich und innig mit ihm umgehe. – Also bitte Geduld mit mir! Was man überhaupt mit mir haben muß. Heideggers Beitrag ist in der Diction sehr stark. Er hat wirklich eine eigene Sprache“ (BA 423). Gadamer antwortet darauf am 16. Juli 1943: „Dank für Ihre Bemerkungen zu Hölderlin. Heideggers Aufsatz ist mir auch sehr wichtig. Auf meinen hat er sehr positiv geschrieben. Rehm will gar nicht. Beißner versandet m.[eines] E.[erachtens] im Biographischen“.103 Er versteht also Kommerell indirekte Kritik. Auf der einen Seite zeigt sich, wie der Schüler Gadamer seinen Lehrer Heidegger bewundert, und auf der anderen Seite, wie der Lehrer Heidegger dem Schüler Gadamer großzügig Anerkennung zu kommen läßt.

VIII.3 Kommerell, Heidegger und Gadamer als ‚Wissenschaftsdreieck‘ Der Briefwechsel zwischen Kommerell und Gadamer zeigt, wie sie Hölderlin auf unterschiedliche Weise verhandeln. Die Diskussion verläuft vermittelt über Martin Heidegger ab. Damit entsteht ein hierarchisches ‚Wissenschaftsdreieck‘ mit Heidegger an der Spitze, Gadamer an dem einen Ende der Hypotenuse und Kommerell an dem anderen: mit Heidegger als Lehrer und Ga-

103 DLA Marbach, Brief Hans-Georg Gadamer an Kommerell vom 16.07.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1547/8.

VIII.3 Kommerell, Heidegger und Gadamer als ‚Wissenschaftsdreieck‘

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damer als Schüler, mit Heidegger als etabliertem Ordinarius und Kommerell als jüngerem Kollegen und mit Kommerell und Gadamer als Kollegen auf gleicher Ebene. An dem Tonfall beim Sprechen über die Publikationen der anderen werden die epistemischen Abhängigkeitsverhältnisse sichtbar. Das Verhältnis von Kommerell und Gadamer ist von Anfang an über den Lehrer Heidegger bestimmt. Schon am 9. August 1933 fragt Kommerell Gadamer: „Haben Sie Heideggers Rektoratsrede gelesen?“104 Am 22. April 1935 berichtet er ihm: „Riezler, den ich verschiedene Male sah, hat übrigens den Philosophen [Heidegger] wieder aufgesucht, und behauptet, das Interesse an Hölderlin beruhe auf einem Unbehagen an den Grenzen des philosophischen Ausdrucksvermögens, und der Suche nach einer complexeren Wortkraft“.105 Am 26. November 1936 drückt Kommerell Gadamer gegenüber sein Bedauern über einen versäumten Heidegger-Vortrag aus: „nun muß ich (leider auf Kosten des 3. Heidegger Vortrags) einmal ein paar Tage weg“.106 Kommerell erkundigt sich am 6. Oktober 1937, ob ein Treffen zwischen Gadamer und Heidegger auf dem Todtnauberg stattgefunden habe: „Wie geht es Ihnen?? Ich höre, daß das Symposion im Schwarzwald nicht stattfand; ist die neue Zärtlichkeit des Philosophen zu jener Schillers schon wieder gefühlter?“107 Kommerell läßt Heidegger am 14. August 1940 über Gadamer Grüße zukommen: „Übrigens fällt mir eben ein, daß Sie und Heidegger zusammensein wollten. Sollte dies jetzt im Werk sein, so empfehlen Sie mich ihm bitte, sowie Ihren dort versammelten philosophischen Freunden“.108 Noch am 12. August 1941 scheint Kommerell sein Treffen mit Heidegger auf dem Todtnauberg absagen zu müssen: Die Erkundigungen wegen der Verbindung nach Totnauberg [sic] sind niederschmetternd. Es geht nicht an einem Tag. Da ich nun, eh ich hierherkam, wild herumreiste, der Ärzte109 wegen, und jetzt gerade in der Arbeit dabei bin, kann ich mich zu einer längeren Unterbrechung schwer entschließen (auch mein Familienleben, mit 5 Kindern würde zerrüttet!) und schlage vor, daß ich nach Abreise meiner Familie am 26. zu Ihnen komme. Falls Sie da noch da sind. Oder kommen

104 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 09.08.1933, Nachlaß A: Gadamer. 105 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 22.04.1935, Nachlaß A: Gadamer. 106 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 26.11.1936, Nachlaß A: Gadamer. 107 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 06.10.1937, Nachlaß A: Gadamer. 108 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 14.08.1940, Nachlaß A: Gadamer. 109 Aufgrund der Erkrankung an Hepatitis muß Kommerell während seiner letzten Lebensjahre verschiedene Ärzte aufsuchen.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

Sie dazwischen einmal nach Freiburg? Da könnte man sich treffen. Empfehlen Sie mich bitte Herrn Heidegger, Herrn Krüger, den Damen und den vielen Kindern, mit denen zu sein ich mir stets schön denke!110

Nach der Rückkehr aus Florenz teilt Kommerell am 24. Oktober 1941 Gadamer seinen Entschluß mit, vorerst keine weiteren Veröffentlichungen über Hölderlin vorzulegen: „Ich habe Heidegger geschrieben, daß ich nach Durchsicht meiner Notizen jenen geplanten Hölderlin-Aufsatz für Kluckhohn noch zu unentwickelt finde und mich nicht in der Lage sehe, etwas Druckbares zu liefern. Ich mag überhaupt nicht mehr über H.[ölderlin] schreiben und habe mich schon fast zu weit hineinreißen lassen. Allenfalls arbeite ich den Vortrag mit dem gräßlichen Titel ‚Religiosität‘ u.s.w. für eine 2. Veröffentlichung aus. Das müßte ich aber Klostermann geben“.111 Seine Absicht, die Überlegungen zur Aktualität Hölderlins nicht zu publizieren, bekräftigt er drei Wochen später, am 14. November 1941, erneut: Ich sende Ihnen den ‚Ansatz‘ meines Hölderlin-Vortrags, den mir die Zeitschrift ‚abgerungen‘ hat. Sie verstehen vielleicht daraus, daß ich die Fortsetzung nicht veröffentliche. Wenn sogar Heidegger und Ihnen mein Empedokles-Aufsatz unklar scheint, und bei dem neuen Thema ich selber mir noch nicht über alles klar bin, so ist die Veröffentlichung verfrüht. Ein Hölderlin-Passus kommt auch in den Vortrag mit dem komischen Titel, den der Universitätsbund in sein Organ aufnimmt! – Es ist anders im Werk, Hölderlin anlangend, nolens volens komme ich in den Widerspruch hinein wo ich in diesem Fall nur zuließe bei entschiedenem inneren Antrieb und Beruf, der jedoch fehlt wenigstens jetzt.112

Noch entschiedener teilt Kommerell diesen Entschluß Karl Reinhardt am 19. Januar 1942 mit: „ich verbiete mir jetzt Hölderlin“ (BA 389). Am 6. Dezember 1942 berichtet er Gadamer von seiner neuen Heidegger-Lektüre: „Über Heideggers Höhle113 zerbrech‘ ich mir den Kopf. Plato ist gar sehr verkleinert in dieser histor. Reihenbildung, und hat es mit dem άγαδότ nicht noch etwas mehr auf sich? Man liest seine Sachen wie einen Roman. Seine Sprachbehandlung nimmt mich oft ganz gefangen“.114 110 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 12.08.1941, Nachlaß A: Gadamer. 111 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 24.10.1941, Nachlaß A: Gadamer. 112 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 14.11.1941, Nachlaß A: Gadamer. 113 Gemeint ist Heidegger, Martin: Platos Lehre von der Wahrheit, in: Geistige Überlieferung 2 (1942), S. 96–124. 114 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 06.12.1942, Nachlaß A: Gadamer. Kommerell teilt Gadamer in einem undatierten Brief vermutlich von Anfang 1944 neidisch mit, daß Heidegger eine Freistellung von der Vorlesungstätigkeit bekommen habe: „O wenn mir gelänge, was Heidegger gelang (Arbeitsurlaub). – Von dem sonst von mir geschätzten Lyrik-Jünger [sic] hat mich das Götterbuch sehr enttäuscht – es ist

VIII.3 Kommerell, Heidegger und Gadamer als ‚Wissenschaftsdreieck‘

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Unter Kommerells Äußerungen über Heidegger mischen sich Bemerkungen über seinen früheren Schwiegervater Walter F. Otto, der sich ebenfalls in den 1930er und 1940er Jahren mit Hölderlin beschäftigt hat. Sowohl Heideggers als auch Ottos Begegnung mit Hölderlin entspringen einem Moment der persönlichen Krise.115 In einem weiteren Schritt wären das Hölderlin-Bild Kommerells und Heideggers dem Bild gegenüberzustellen, das Wissenschaftler entwerfen, die sich um die Schriftenreihe Geistige Überlieferung versammeln, wie Otto, Ernesto Grassi und Romano Guardini.116 Kommerell, der seit 1936 keinen Briefkontakt mehr zu Otto hat, kritisiert ihn heftig in einem Brief vom 19. Januar 1942 an Karl Reinhardt: „Sie werden bemerken, besonders bei Rilke, daß ich von der theologischen Grundstimmung der DichterInterpretation von Otto über Guardini zu Rilke, doch ein wenig absteche. Aber ich will keinen Krieg, sonst hätte ich schon Mittel, den Ton zu verschärfen“ (BA 389).117 Er beklagt am 26. Oktober 1940 gegenüber Gadamer: stellenweise schamhaft-spiessig. [an den Rang geschrieben und rot unterstrichen: ‚unter uns‘] Hol der Teufel die Götter! Ich hab sie satt. Es sind Steckengötter, und so wie man Steckenpferdebändiger brauchte, braucht man jetzt Götterscheucher. Ich hoffe, ich läutere mich in diesem Jahr zu einem solchen hinauf“, DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer o. D. [Januar 1944], Nachlaß A: Gadamer. 115 Vgl. Stavru, Alessandro: Hölderlin und die „Flucht des Göttlichen“. Martin Heidegger und Walter F. Otto in Rom (1936–1937), in: Studi germanici 39 (2001), H. 114/115, S. 269–311 und ders.: Eine Begegnung im Zeichen Hölderlins. Walter F. Otto und Martin Heidegger 1927 bis 1937, in: JbDSG 46 (2002), S. 309–329. 116 Dazu siehe Geistige Überlieferung. Ein Jahrbuch, in Verbindung mit Walter F. Otto und Karl Reinhardt hrsg. v. Ernesto Grassi, Verlag Helmut Küpper, Berlin 1940ff. Band 1 mit Beiträgen von E. Grassi, W. F. Otto, K. Reinhardt, Luigi Russo, Wilhelm Furtwängler und Leonardo Bruni. Band 2 (1942) mit Beiträgen von E. Grassi, W. F. Otto, K. Reinhardt, Hugo Friedrich, Giuseppe Bottai, Thure von Uexküll, Filippo Villani, Vespasiano da Bisticci und Giacomo Leopardi. Siehe auch die Schriften für die geistige Überlieferung, Bd. 1: E. Grassi: Gedanken zum Dichterischen und Politischen (1939); Bd. 2: W. F. Otto: Der griechische Göttermythos bei Goethe und Hölderlin (1939); Bd. 3: Giuseppe Bottai: Verteidigung des Humanismus (1942); Bd. 4: Romano Guardini: Zu Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins (1941). Siehe außerdem die Quellen der geistigen Überlieferung, Bd. 1: Francesco Guicciardini: Vom politischen und bürgerlichen Leben (1942). 117 Vgl. im gleichen Brief: „Und es ist ihm [Heidegger] nicht so gemütlich dabei [der Hölderlin-Interpretation] wie Otto und Guardini, deren geistige Situation viel molliger ist – sondern er erfriert oder verbrennt sich, wie es sich gehört. [...] Sie kommen mir, mit Ihrem herrlichen Papiervorrat der Fa. Otto-Grassi und meinem scheelen Blick darauf wie Philine [aus Goethes Lehrjahren] vor, die mit dem Räuber hinter die Büsche ging, und auf die grämlichen Bemerkungen der Schauspieler nur mit dem Geräusch antwortet, das ihr Kofferschlüssel mit dem wohlbehaltenen Koffer hervorbringt“, BA 388f. Dazu siehe Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 31.01.1942: „Es ist amüsant zu merken, wie um Grassi und Otto sich nun die ‚Köpfe‘ sammeln: die Chance gehört und gedruckt zu werden, überwiegt offenbar alle Bedenken gegen das sonderbare Unternehmen“, sowie Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 24.09.1942: „Otto bietet auch wieder Götter an! Ich danke Ihnen für die Übersendung! Ich will versuchen, sie anzubeten. Ein

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

Otto’s Aufsatz [Der Ursprung von Mythos und Kultur. Zu Hölderlins Empedokles, in: Jahrbuch für Geistige Überlieferung 1940, S. 85–137] ist besser als der letzte über Hölderlin [Der griechische Göttermythos bei Goethe und Hölderlin, Berlin 1939], aber es ärgert mich die bloße Erbaulichkeit und das Vorbeigehen an jedem Problem. Wenn Hölderlin nicht in seiner Eigenheit genommen wird (wobei sich die gehörige Distanz von selber herstellt!) sondern bloß als Schlüssel zu Otto’s Hauptproblem, sozusagen als die zwingend-gegenwärtige Interpretation der Antike in einer seltsam wissenschaftlichen Prophetie, dann ist das unzugänglich reine und einsame Sehen eines Dichters eine Auskunft für jedermann geworden und es müßte mindestens gefragt werden: kann der Philologe und Gebildete von heute denn wie Hölderlin sehen wollen?? Das aber ist unendlich verwirrend und dunkelmännerisch; und Otto ist viel zu knabenhaft, um seine Schädlichkeit entfernt zu ahnen. Er stiftet nur Segen, wohin er kommt! (BA 352f.)

Im Brief zeigt sich das Freundschaftsverhältnis zwischen Kommerell und Gadamer, die als gleichaltrige Kollegen auf gleicher Ebene offen miteinander kommunizieren können: Es rächt sich eben bitter, daß Heidegger statt mit einer Keule dreinzuschlagen, einzelne Splitter derselben als Pfeile verschossen hat. Sonst konnte das alles nicht geschehen. Ich meine: seinen Hölderlin-Aufsatz [Hölderlin und das Wesen der Dichtung]. – Übrigens finde ich das Vorbeigehen an George im Fall Otto’s fast schamlos. [...] Sein letzter Aufsatz über Hölderlin war nichts als [Ludwig] Klages, und sämtliche Thesen dieses jetzigen sind in Georges Hölderlinrede [Berlin 21925], die denn doch recht bedeutsam ist, enthalten. Heidegger hat das anders gemacht. Er, dessen Gedanken wirklich selbständig sind, gerade die über Hölderlin, hat es doch nötig gefunden, den Namen Hellingraths über seinen Aufsatz zu schreiben. – Nein, ich mag das Zeug nicht! Bitte gebrauchen Sie dies mit Vorsicht, ich schreibe es Ihnen als Freund so offen, bloß um mich mit Ihnen zu unterhalten. Ich möchte in keiner Weise, auch nicht polemisch in diesen übermächtigen Bildungsfeldzug hineingeraten. Er ist übrigens – sag ich’s zu Ruhm oder Schmach? – politisch gut angelegt und wird den Beteiligten nützlich sein. Amen. (BA 353f.)

In einem undatierten Brief, der aus dem Jahr 1941 stammen dürfte, vergleicht Kommerell Gadamers Beziehung zu Heidegger mit seiner eigenen zu George: Daß ihr Zusammensein mit Heidegger so isoliert und ausschließlich geworden ist, statt – nach dem ersten Plan – die Form eines kleinen Zirkels zu haben, ist doch wohl ein enormer Gewinn. Es wird doch auch bei einem philosophischen Aus-

Mensch wiederholt sich leicht, aber ein Gott ist immer wieder schön! (unter uns!)“. Siehe auch Brief Vittorio Klostermann an Kommerell vom 25.09.1942: „Im Uebrigen haben Sie recht: Die Hölderlinliteratur beginnt uferlos zu werden, und dem ‚Goethe und kein Ende‘ kann bald die Schrift ‚Hölderlin und kein Ende‘ folgen. Ottos letzterschienenes Buch hat nicht die Geschlossenheit seiner früheren Arbeiten und bringt nichts wesentlich Neues. Immerhin gehört Otto zu den wenigen, denen es in der letzten Generation gelungen ist, auf dem Gebiet der Altertumswissenschaft einen neuen Aspekt zu eröffnen“ (alle DLA Marbach, Nachlaß A: Klostermann).

VIII.3 Kommerell, Heidegger und Gadamer als ‚Wissenschaftsdreieck‘

473

tausch wohl so sein, daß die Eigenheit und Konsequenz der Gedanken – auch ihr Fragliches, Unbündiges – sich nur dem vereinzelten Partner sagen läßt; sind mehrere zugegen, so muß man vereinfachen, vieldeutiges entscheiden und man begibt sich aus der Aufrichtigkeit in die Mitteilbarkeit, während man so das Fruchtbare des doppelten Aspects mit der Strenge der Einsamkeit vielleicht auf Augenblicke vereinen kann. Es ist schön, daß Ihre Beziehung zu H.[eidegger], die so lange Bahnen auch mit mehrfacher Ekliptik hatte, nun noch zu diesem Punkt gekommen ist. Bei mir in Bezug auf St.[efan] G.[eorge] ging es den gewöhnlichen Gang: Jüngerstufe, dann Bruch, hinauf gar nichts.118

Kommerell beschreibt anschaulich das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Heidegger und Gadamer.119 Vor dem Hintergrund seiner Erfahrung mit George kann er die produktive Situation, die sich für Gadamer entwickelt hat, bemessen. Kommerell ist Teil dieses ‚Wissenschaftsdreiecks‘, beurteilt es aber hier von außen. Daran zeigt sich sein besonderes Reflexionsvermögen. Wenn Kommerell von einem „kleinen Zirkel“ spricht, spielt er außer auf Gadamer noch auf die Heidegger-Schüler Karl Löwith und Gerhard Krüger an. Mit letzterem steht Kommerell in gutem Kontakt. Krüger wird 1902, also im gleichen Jahr wie Kommerell, geboren und studiert seit 1920 Philosophie und Katholische Theologie in Tübingen und Marburg.120 Er wird 1925 mit der Arbeit Kants Lehre von der Sinnesaffektion promoviert, habilitiert sich 1931 über die Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik und widmet sich seit Mitte der 1930er Jahre verstärkt den Platon-Studien, die 1939 einen Niederschlag in Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens finden. Kommerell und Krüger begegnen sich während der gemeinsamen Studienzeit in Marburg und während Krügers Vertretungsprofessur in Frankfurt 1933. Seit 1940 ist Krüger Professor an der Universität Münster. Es ist nur ein einziger Brief von Krüger an Kommerell vom 15. August 1943 überliefert, in dem er Heideggers Aufsatz Platos Lehre von der Wahrheit kritisiert: „Ich finde übrigens Heideggers Auslegung des Höhlengleichnisses sehr unbefriedigend“.121 Kommerell schätzt Krügers Schriften, wie aus einem Brief an Gadamer vom 6. Oktober 1937 hervorgeht: „Eben lese ich, zur Vorbereitung meiner Vorlesung über das 18. Jahrhundert, die Einleitung

118 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer o. D. [Mitte 1941], Nachlaß A: Gadamer. 119 Dazu siehe Dutt, Carsten: Hans-Georg Gadamer und Martin Heidegger. Das erste Jahrzehnt, in: Bormuth/Bülow, Hermeneutik, S. 92–109. 120 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Gerhard Krüger, in: Lebensbilder in Hessen 1 (1977), S. 299–307. Siehe auch Hartmann, Georg: Erneuerung der Metaphysik? Gerhard Krüger zwischen Hermeneutik und natürlicher Theologie, in: Bormuth/Bülow, Hermeneutik, S. 128–153. 121 DLA Marbach, Brief Gerhard Krüger an Kommerell vom 15.08.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1581.

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

Ihres Freundes Krüger zu der Leibniz-Auswahl (Kröner).122 Sie scheint mir tief und scharf zugleich und mustergültig darin, daß Sie das eigentlichste und reinste Philosophieren ohne Condescendenz in das deutliche Sprechen für andere umsetzt, so daß ich wirklich belehrt bin. Sagen Sie ihm bitte bei Gelegenheit, wie bedeutend und hilfreich ich aus Erfahrung dieser seine Arbeit nennen muß“.123 In einem undatierten Brief an Gadamer vom Oktober 1939 lobt Kommerell außerdem Krügers Persönlichkeit: „die Berührung mit Ihrem Freund Krüger, die darauf daß Sie nicht da waren, diesmal ausführlicher war als sonst (man kann eben nicht allem zugleich genügen) war mir ein großer Gewinn. Wie gründlich tief und scharf denkend, wie unerbittlich selbständig, und wie unantastbar ist er als Mensch!“124 Das vielschichtige Konkurrenzverhältnis zwischen Krüger und Gadamer schildert Kommerell in einem Brief vom 30. August 1941 an seine Frau Erika: Abends kam der andere, Krüger [...]; und man riet, konkret und abstrakt; was unter diesen geschliffenen Geistern den Charakter einer spielerisch gefährlichen Dialektik annahm und dabei immer für die Kinder eine arglose Fassade behielt. Daneben Gespräche über ‚ihn‘ [Heidegger]; Krüger höhnt Gadamer als ‚Lieblingsschüler‘, ist selbst unglaublich ketzerisch und sarkastisch; Gadamer gibt nachdenklich zu, daß ‚er‘ nicht mehr hört, nur noch spricht, und kein Mensch ihm mehr sei als ein Medium der Wirkung, ist aber von der Unausweichlichkeit seines Denkens gebannt, so sehr er auch die entsprechende Weite und Empfindungsfähigkeit der menschlichen Anlage, den großen Lebenslauf, vermißt. Wenn sich der von Krüger zweideutig als der ‚Zeitweise‘ bezeichnete Mann also in den Gesprächen mehr auf Gadamer stützt, und von Krüger, ohne daß dieser seine tief und entschieden verneinende Ungeduld verriete, angegriffen und schwer gereizt wird, so beschleicht den unbefangenen Zuhörer ein Verdacht: sollte der schlaue ‚Zeitweise‘ das scheinbar hölzerne, in Wahrheit aber nur sich streng verschließende Gesicht des Einen mit schmalen Augen und schmalem Mund, das schmerzlich-spöttische und auch demütige, dem andern, gewissermaßen klassisch edlen, diplomatischen und vornehmen Gesicht etwa vorziehen und heimlich den Feind mehr umwerben als den Ergebenen? Es wird mir angedeutet, daß der ‚Zeitweise‘ meiner besonders begehre und verwunderlichen Wert darauf lege, mir gewisse schwerste von ihm verfaßte Texte vorzulesen. Es wird mir, mit der enormen Gadamer’schen Höflichkeit, angedeutet, daß ich dafür eigentlich zu dumm sei. (BA 378f.)

Kommerell schickt Gadamer am 22. Dezember 1941 direkt nach der Lektüre von Heideggers Aufsatz Hölderlins Hymne „Wie wenn am Feiertage...“ einen Brief, in dem er sein Lektüreerlebnis schildert: „Heidegger hat mir seinen

122 Gemeint ist Krüger, Gerhard: Einleitung des Herausgebers, in: Leibniz. Die Hauptwerke, zusammengefaßt u. übertr. v. Gerhard Krüger, Stuttgart 1933, S. VII–XL. 123 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 06.10.1937, Nachlaß A: Gadamer. 124 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer o. D. [Okt. 1939], Nachlaß A: Gadamer.

VIII.3 Kommerell, Heidegger und Gadamer als ‚Wissenschaftsdreieck‘

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Essay geschickt. Er ist ein produktives Eisenbahn-Unglück, über das die Eisenbahnwärter der Literaturgeschichte die Hände über dem Kopf zusammenschlagen müssen (soweit sie ehrlich sind)“ (BA 403). Kommerell unternimmt eine Abgrenzung zwischen dem produktiven ‚Zugführer‘ Heidegger und Kommerells positivistischen Fachkollegen als ‚Eisenbahnwärtern‘, die sich nur dafür zuständig sähen, daß der (Zug-)Betrieb in geregelten Bahnen ablaufe. Kommerell selbst nimmt sich aus dieser Gruppe heraus und will sich durch Heideggers Aufsatz inspirieren lassen: „Ich kann mich nicht dazu bringen, ihn als Interpretation zu lesen – es geschieht da etwas; der Vorwand ist bedeutend, und die Sache auch: ein Akt der Heideggerschen Selbsterkenntnis, vielleicht ein ziemlich tragischer der jedoch triumphal ausklingt. Er nimmt Hölderlin so wichtig, dieser ist für ihn so sehr ein Schicksal, daß schon dadurch für Hölderlin mehr geschieht als durch Regale voll Literaturwissenschaft. Es liegt an uns, ihm nicht zu verfallen, sondern sein unbestreitbar wuchtiges Wort als Anstoß (auch negativerweise) zu eigenen Entdeckungen auf uns und durch uns weiterwirken zu lassen. Ich habe ihm positiv geschrieben“ (BA 403f.). Für das ‚Wissenschaftsdreieck‘ ergibt sich, daß Kommerell aus Wertschätzung vor dem älteren Kollegen Heidegger nur vom „Unglück“ im Konjunktiv sprechen kann, gegenüber dem gleichrangigen Kollegen Gadamer jedoch offen ironisch-kritisch vom „produktive Eisenbahn-Unglück“. Gegenüber seinem Freund Karl Schlechta befürchtet Kommerell am 27. Dezember 1941 sogar den Untergang Heideggers: Deine Äußerungen über Heidegger sind mir wertvoll, und gewiß richtig. Wenn ich dieser Schrift Bedeutung gebe, so erkenne ich dabei ihr Linkisches, Unangemessenes recht wohl, und auch das ungebührlich Fordernde, was eigentlich aus einer unentwickelten Menschlichkeit kommt. Aber es ist etwas von einer ‚Bahn‘ darin, und vielleicht sogar vom Ende einer Bahn – ich meine vom Gang eines Geistes, der sich selbst unentrinnbar wird und den kein Zuruf mehr aus seiner Verstrickung in sich selber löst. Und da hat der Griff auf Hölderlin etwas Tragisches; er reißt ihn mit hinein in die Verstrickung, und es ist ihm wünschenswert, an ihm, als an sich selber unterzugehen. Ich traue Heidegger eine solche – in anderem Maßstab an Nietzsche erinnernde – Vehemenz des Müssens immerhin zu ... Das Symbol dieser letzten desperaten Schein-Freiheit im Übergriff auf das andre sind dann die dem Philosophen plötzlich auf der Hand wachsenden Götter! – Eine Interpretation ist es nicht, dies ist vielmehr Anlaß, den eigenen Prozeß anhängig zu machen. – Ach, man kann ein solches Phänomen von verschiedenen Seiten sehen. (BA 403)

Eine ähnliche Offenheit zeigt sich im Brief an Karl Reinhardt vom 19. Januar 1942: „Heidegger: ich beschränke mich aufs Zusehen, da ich gar nicht tangiert bin und als Literaturhistoriker sehr viel lerne ... Daß er seine philosophische Situation nicht aushält, könnte verstimmen; daß er wiederum dies Factum verschleiert durch das befremdende Ausdrucksmittel einer DichterInterpretation, allerdings noch mehr; und daß er den Dichter, der ihm Götter erlaubt, mit hinlänglicher Scholastik nach Heideggerscher Esoterik tönen

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VIII. Die Hölderlin-Rezeption im Dialog mit Heidegger und Gadamer

läßt, ist am wenigsten fein. Aber mich beschäftigt die Frage: wie sieht diese Schrift aus als Übergang, wenn man das Ganze seiner Entwicklung überblicken wird – kurzum, wie Sie selbst sagten: Was geht hier vor?“ (BA 388). Wenn Kommerell im Brief an Gadamer betont, daß Hölderlin für Heidegger zum Schicksal geworden sei, würdigt er Heideggers Wahrnehmung und Identifikation. Bei der Art jedoch, wie dieses Schicksal umgesetzt wird, kann er nicht zustimmen. Deshalb will er Heideggers „Anstoß“ nutzen, um zu „eigenen Entdeckungen“ zu gelangen. Seinen kritischen Brief an Heidegger kommentiert Kommerell gegenüber Gadamer am 3. August 1941 folgendermaßen: „Heidegger ließ mir sagen, daß er noch eine[n] Brief von mir erwarte. (Ich hatte sofort, aber vorläufig auf seine Arbeit geschrieben und ausführlicheres verheißen). Ich schrieb nun von hier sehr aufrichtig. Obwohl er sehen muß, welches Gewicht ich der Sache gebe, freut es ihn vielleicht doch nicht. – Er enthält dem Leser die Prämissen vor. Das ist der Hauptpunkt“.125 Kommerell weiß also um das kritische Potential seiner Äußerungen und sieht die Vorenthaltung der Prämissen als größten Kritikpunkt an. Das Verhältnis zwischen Heidegger und Gadamer wiederum ist auf einer anderen Ebene anzusiedeln. Im Lehrer-Schüler-Verhältnis nimmt Gadamer eine epigonale Rolle ein. Wohl auf Vermittlung Heideggers beteiligt sich Gadamer an der Kluckhohn-Gedenkschrift. Nachdem sein Lehrer den Weg von der Philosophie in die Dichtung gegangen ist, schlägt auch Gadamer vorübergehend diesen Weg ein. Jedoch – wie häufig in solchen Konstellationen – gewinnt die nacheifernde Auslegung des Schülers nicht das Format der originellen Deutung des Lehrers. Gadamer beteiligt sich primär an der Hölderlin-Gedenkschrift, um zu der Gruppe um Heidegger, Otto und Guardini dazu zugehören. Hölderlin wird für Kommerell im Dialog mit Heidegger und Gadamer zum Dichter des Dichters. Für die Gesamtuntersuchung bleibt erstens der Weg vom Brief zum Werk festzuhalten, der allerdings in der HölderlinKontroverse mit Heidegger nicht linear vollzogen wird. Kommerell nimmt die Kontroverse im Medium der Publikation auf, setzt sie im Brief fort, um schließlich in der Publikation wieder darauf zurückzukommen. Das Gespräch findet mitunter ohne direkten Partner statt, aber immer mit Bezug auf den Adressaten. Das Publikum wird zum Resonanzkörper des privaten Wissenschaftlerdialogs. Geselligkeit, Kommunikation und direkter Kontakt sind elementar für die Einlösung der biographischen Entwicklung Kommerells.

125 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 03.08.1941, Nachlaß A: Gadamer.

VIII.3 Kommerell, Heidegger und Gadamer als ‚Wissenschaftsdreieck‘

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Diese Binnenkommunikation wirkt auf die Produktion. Als dritte Instanz benötigt er ein Publikum zur Wiederspiegelung seiner selbst. Zweitens lassen sich an Kommerells Schriften und Briefwechseln die unterschiedlichen Grade der epistemischen Abhängigkeiten zwischen Lehrer und Schüler, zwischen etabliertem Ordinarius und jüngerem Nachwuchswissenschaftler sowie zwischen gleichrangigen Kollegen als Denk- und Deutungszusammenhänge beim Sprechen über Hölderlin nachweisen. Kommerell kann Heidegger gegenüber Gadamer umfassend kritisieren, tritt ihm selbst aber nur mit vorsichtiger Kritik entgegen. Gadamer folgt mit seiner Hölderlin-Interpretation akademischen Gepflogenheiten der Lehrer-SchülerVerhältnisse. Hatte das letzte Kapitel mit der Berufung nach Marburg und den Auslandsvorträgen Kommerells Reputationsgewinn innerhalb des Faches gezeigt, so wird in den Abgrenzungen von Fachkollegen, die Heidegger und Gadamer privat ihm gegenüber und öffentlich auch posthum vornehmen, wieder stärker Kommerells Randposition deutlich.

IX. Die Rilke-Rezeption im Dialog mit Julius Ebbinghaus, Kurt Reidemeister und Rudolf Bultmann (1941–1944) Mit der „Marburger Epoche der Universitätsgeschichte“1 ist eine Phase bezeichnet, in der das Wirken von Gelehrten wie Martin Heidegger und Rudolf Bultmann dem Wissenschaftsstandort Marburg zu weltweitem Ansehen verhalf. Was macht Kommerell in Marburg? Das geistige Klima, das Stadt und Universität ihm bieten, ist ebenso darzustellen wie die intellektuellen Persönlichkeiten, auf die er trifft. Die Konstitution in Kreisen knüpft an Frankfurter Verhältnisse an. Welchen geistigen Austausch, welche Gegenstände und Themen setzt Kommerell in diesen Kreisen fort, was kommt neu hinzu? Aus der fächerübergreifenden Zusammensetzung mit interdisziplinären Fachvertretern ergeben sich produktive Wechselwirkungen für alle Beteiligten. Trotz der verschiedenen Zugänge unterschiedlicher Wissenschaftler kristallisieren sich verwandte Forschungsansätze heraus. Die drei Jahre von Mitte 1941 bis Mitte 1944 stellen den letzten Abschnitt in Kommerells Leben dar. Sie zeigen Ausformung, Erweiterung und Vollendung seiner Arbeit. Sein Austausch mit Vertretern der Fächer Philosophie, Mathematik und Theologie markiert die Spannbreite seines Wissenschaftskonzepts. Dabei wird die Hypothese verfolgt, daß die interdisziplinären Kontakte seine kritische Distanz zu Kollegen aus dem eigenen Fach vergrößern. Zuerst werden die Beziehungen zum Philosophen Julius Ebbinghaus nachgezeichnet, dann zum Mathematiker Kurt Reidemeister und schließlich zum Theologen Rudolf Bultmann. Zugleich finden die Lektüreund Korrespondenzpartner in Kommerell einen Gesprächspartner für ihre Interessen an der deutschen Literatur. In erster Linie geht es in diesem Kapitel um Kommerells Austausch mit den Marburger Professoren, erst in zweiter Linie um seine Rilke-Rezeption, die daher fast nur im Bultmann-Abschnitt behandelt wird. Anhand der Marburger Verhältnisse kann dargestellt werden, wie Ideen aus Diskussionen, die in Lesekreisen geführt werden, in spätere Veröffentlichungen eingehen. Da Rilke einer der diskutierten Autoren ist,

1

Vgl. Kaube, Jürgen: Die Marburger Epoche der Universitätsgeschichte, in: FAZ, Nr. 241 vom 15.10.2008.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

wird Kommerells Rilke-Rezeption im Hinblick auf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm erörtert. Abschließend wird die Frage diskutiert, ob die verschiedenen Fachvertreter eine ähnliche und damit fachübergreifende Methode anwenden. Im Sommersemester 1941 beginnt Kommerell seine Lehrtätigkeit an der Philipps-Universität in Marburg an der Lahn. Über den geistigen Austausch, den er in Marburg pflegt, berichten ehemalige Schüler. Karl-Gustav Gerold bemerkt über sein Verhältnis zu Kommerell: „Vier Jahre sind es dann geworden, daß ich zum ‚Kommerell-Kreis‘ gehörte und rückblickend zähle ich sie zu den reichsten meines Lebens“.2 Er beschreibt Kommerells Marburger Zusammenkünfte als Kreis: „Menschen, mit denen er in lebhaften Gedankenaustausch trat, fehlten nicht. Rudolf Bultmann und Kurt Reidemeister brachten vielfache Anregungen. In dem gastfreien Haus Kurt Steinmeyers traf Kommerell wie in Frankfurt bei dem Graecisten Karl Reinhardt einen geistig aufgeschlossenen, freiheitlich gesonnenen Kreis“.3 Elfriede Ehl studiert bei Kommerell und ist von 1940 bis 1944 „als Hilfskraft im Seminar und Schreibkraft für seine wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeiten Kommerell besonders verbunden“.4 Ehl berichtet ebenfalls von einem Marburger Kreis: „Diese Vorliebe für Kreise hat Kommerell sicher aus seinem Umgang mit Stefan George übernommen. Auch in Marburg hatte er bald wieder ein spanisches und dazu ein griechisches Kränzchen“.5 Sie erinnert sich, wie Kommerell in Marburg wissenschaftliche Produktion und geselligen Austausch verbunden habe: „Dann aber kam ihm eine Fähigkeit zugute, die Julius Ebbinghaus in seiner anfangs erwähnten Ansprache [bei der Trauerfeier] etwa so schilderte: Kommerell sei ein Virtuose gewesen, in der Kunst sich unsichtbar zu machen, aber nicht minder virtuos hätte er es fertiggebracht, für eine unabsehbar große Schar von Freunden und Schülern immer da zu sein“.6 Die Großnichte Blanche Kommerell berichtet von einem Gespräch mit Ebbinghaus’ Frau: „Julius Ebbinghaus, der ihn an die Philosophische Fakultät geholt hatte, wurde für mich noch einmal lebendig in den Erzählungen seiner Frau, die ich in einem Münchner Altersheim aufsuchte. Ganz wach erzählt sie von Spaziergängen mit Kommerell und den politischen Gesprächen, die wohl so offen nur im Hause Ebbinghaus stattfanden. Hier wagte man, seine Sorge um Deutschland und seine Zeitgenossen zu äußern“.7 Bedenkt

2 3 4 5 6 7

Gerold, Memoriam, S. 15. Ebd. S. 14. Ehl, Erinnerung, S. 24. Ebd. S. 24. Ebd. S. 25. Kommerell, Blanche: Spurensuche, S. 140f.

IX.1 Julius Ebbinghaus: Philosophie und Vernunftkritik

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man die Ausführungen, die im siebten Kapitel dieser Arbeit vorgetragen wurden, so ist zu vermuten, daß die entschiedenen politischen Aussagen eher von Ebbinghaus als von Kommerell kamen.

IX.1 Julius Ebbinghaus: Philosophie und Vernunftkritik Der Austausch zwischen Max Kommerell und dem Marburger Philosophen Julius Ebbinghaus erstreckt sich auf viele Bereiche. Darunter dürfte, wenn auch nicht primär, so doch nicht zuletzt Rilke gewesen sein. Immerhin hört der Sohn von Julius Ebbinghaus, Carl Hermann, im Sommersemester 1943 Kommerells Vorlesung George und Rilke, wie er im Rückblick berichtet: „Erlauben Sie mir noch eine anekdotische Bemerkung zum Schluß: Ich erinnere mich an die Sommervorlesung 1943 noch sehr genau, weil ich sie als 20jähriger Soldat auf Urlaub jedenfalls in Teilen miterlebte. Max Kommerell war für mich sowohl älterer Freund wie auch bewunderter Lehrer. Mein Vater war übrigens seinerzeit Dekan der philosophischen Fakultät der Uni Marburg und hatte die Berufung Kommerells durchgesetzt“.8 Inwieweit sich Kommerell mit dem Vater Julius Ebbinghaus über Rilke ausgetauscht hat, läßt sich allerdings nicht mehr feststellen. Daher wird Rilke bis zu den Ausführungen über Bultmann erst einmal zurückgestellt. Kommerell lernt Ebbinghaus in Marburg kennen und entwickelt ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm. Am 30. Dezember 1941 teilt er ihm mit: „Es geht mir dabei durch den Sinn, wie schön und folgenreich für mich die Bekanntschaft mit Ihnen geworden ist, wie manches ich Ihnen bereits zu danken habe, und wie froh ich bin, daß meine Frau an Ihrer verehrten Gattin jemanden gefunden hat, bei dem sie sich geben kann wie sie ist und der lieb zu ihr ist. [...] Ich betrachte es als einen seltenen Fund und bin daneben dafür und froh darüber“.9 Der Grad der Freundschaft zeigt sich in der Art des Humors, den beide miteinander pflegen. Am 23. August 1942 schreibt Kommerell an Ebbinghaus: „Als Buch-staben-ameise, welche jenen magisch festgebannten Blattläusen mundgerechte Drüsensäfte ablutscht, und als Mensch gewordene Papyrusstaude, die ihrerseits wiederum jene Blattläuse als Chiffren an sich bindet – ich sage: als Leser und als Autor bin ich in diesen Ferien wohlversehen, da die fast vollkommene Einsamkeit jene geschäftige Wehmut erzeugt, in der Bücher, Aufsätze, Gedichte u.s.w. verfertigt zu werden pflegen; [...] Aber das Jahrhundert macht sich geltend, und es wird

8 9

Zit. nach Schmidt-Bergmann, Rilke, S. 309. Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Brief Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 30.12.1941.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

sich in Typen des eingebildeten Gesunden (Gegenstück zu malade imaginaire!) und des eingestandenen Siechlings darstellen!“10 Ebbinghaus, „einer der profiliertesten Kenner und scharfsinnigsten Interpreten Kants“,11 ist nach seiner Dissertation über den Relativen und absoluten Idealismus 1909 bei Heinrich Rickert in Heidelberg und der Habilitation über Die Grundlagen der Philosophie Hegels 1921 bei Edmund Husserl in Freiburg mit zahlreichen Kant-Aufsätzen hervorgetreten, von denen die Studie über Kantinterpretation und Kantkritik im zweiten Heft der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte von 1924 den Auftakt bildet.12 In diesem Aufsatz setzt sich Ebbinghaus mit der Aktualität von Kants Transzendentalphilosophie in Abgrenzung zum Neukantianismus auseinander. Mit seiner Forderung nach einer Wendung ‚zurück zum originären Kant‘ verfolgt Ebbinghaus wie Kommerell einen hermeneutischen und textnahen Zugang zum Werk. 1930 an die Universität Rostock berufen, erhält Ebbinghaus 1940 einen Ruf nach Marburg. Der Wunschkandidat der Marburger Fakultät Hans-Georg Gadamer hatte den Ruf abgelehnt und Ebbinghaus als Ersatzkandidaten empfohlen. Seiner Empfehlung folgt die Fakultät. Persönliche Bekannt- und Freundschaften wirken auf die Stellenvergabe ein, das zeigt wiederum die Verbindung von Personen- und Institutionenebene der Wissenschaftsgeschichte. Ebbinghaus, der im September 1940 in Marburg zu lesen beginnt, übernimmt Anfang 1941 das Dekanat der Philosophischen Fakultät als Nachfolger des Althistorikers Fritz Taeger, mit dem er seit Freiburger Zeiten befreundet ist und auf dessen Wunsch er ihm als Dekan folgt.13 Kommerell unterhält ebenfalls einen Briefwechsel mit dem Sohn Carl Hermann Ebbinghaus. Er ist Student in Marburg und tritt in den 1950er Jahren mit belletristischen Romanen hervor. Da er während des Zweiten Weltkrieges eingezogen wird, schreibt Kommerell ihm Briefe an die Front.

10 11 12

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Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Karte Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 23.08.1942. Herb, Karlfriedrich: Das Julius-Ebbinghaus-Archiv, in: Kant-Studien 80 (1989), H. 3, S. 345–353, hier: S. 345. Vgl. Ebbinghaus, Julius: Relativer und absoluter Idealismus. Historisch-systematische Untersuchung über den Weg von Kant zu Hegel, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Studien zum Deutschen Idealismus. Schriften 1909–1924, in Verb. mit Georg Geismann u. Hariolf Oberer hrsg. v. Karlfriedrich Herb, Stephan Nachtsheim u. Udo Rameil, Bonn 1994, S. 3–73; ders.: Die Grundlage der Hegelschen Philosophie 1793–1803, in: ebd., S. 145–342; und: ders.: Kantinterpretation und Kantkritik, in: DVjs 2 (1924), H. 1, S. 80–115 [überarbeitete Fassung in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Schriften zur Theoretischen Philosophie und zur Philosophiegeschichte 1924–1972, hrsg. v. Hariolf Oberer u. Georg Geismann, Bonn 1990, S. 3–38]. Vgl. Ebbinghaus, Selbstdarstellungen, S. 45.

IX.1 Julius Ebbinghaus: Philosophie und Vernunftkritik

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In einem Brief vom 2. Juli 1942 schildert Kommerell eine der vielen Zusammenkünfte mit Julius Ebbinghaus: Bei Ihren Eltern war ich zu einem grandiosen Essen eingeladen, mit pikanten Vorund Nachgerichten geistiger Bewirtung: ich kehrte reich belehrt über Rousseau und Kant zurück, über Hölderlin wurde keine vollkommene Einigung erzielt. Die Herrin des Hauses wohnte stumm bei, so daß sich die Reflexe unseres Hin- und Her-Wähnens in Ihrem [sic] Inneren nicht erforschen ließen. Sie lächelte nicht einmal, sondern arbeitete. Wie anders andere Frauen Marburgs, die sich im Gespräch sofort als Jägerinnen von allerlei geistigem Wildbret decouvrieren und infolgedessen wiederum von mir gejagt werden können. Es ist so hübsch, wenn eine selbst in einer Grube oder Schlinge zappelt, in der sie sich ihren Braten zu fangen gedachte, und ich das Vergnügen habe, sie herauszuziehen.14

Auf der einen Seite fördert Kommerell die Lessing-Rezeption von Ebbinghaus,15 auf der anderen Seite schätzt er den intellektuellen Austausch, der ihm Erkenntnisse aus anderen Disziplinen, hier über Kant und Rousseau, vermittelt. Er bringt in einem Brief an Karl Reinhardt vom 10. Januar 1943 zum Ausdruck, wieviel ihm die Begegnung mit Ebbinghaus bedeutet: „Was meine Gesellschaft anlangt, so setzt sich die Fakultät mehr aus annehmbarer Nettigkeit als aus Bedeutungen zusammen; es fehlen junge geschichteschaffende Päpste oder weithinschattende monumentale alte Jungfern der Wissenschaft, es fehlt auch das interessante Chaos und die brodelnde Buhlerei. Dafür ist Ebbinghaus wie eine mit allen jetzt vermißten Chemikalien ausgestattete Wäscherei des Geistes, und wir liefern ihm gerne unsre reinigungsbedürftigen Unterhüllen aus, besonders wenn sie mitwäscht – eine wirklich liebenswerte und die einzig hübsche Frau Marburgs, die freilich meist müde ist und unter einem milden und strengen Herrn lebt“ (BA 409f.). Wie das Verhältnis zu

14 15

DLA Marbach, Brief Kommerell an Carl Hermann Ebbinghaus vom 02.07.1942, Nachlaß Kommerell, A: 99.126.1/1. Dazu siehe Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Karte Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 29.06.1942: „Die Briefstelle, von der ich neulich sprach, findet sich im Brief an Bruder Karl vom 2. Febr. 1774: ‚Und was ist sie anderes, unsere neumodische Theologie gegen die Orthodoxie, als Mistjauche gegen unreines Wasser? Mit der Orthodoxie war man, Gott sei Dank, ziemlich zu Rande; ... Aber was tut man nun? Man reißt diese Scheidewand (zw. Orthodoxie u. Philosophie) nieder, und macht uns unter dem Vorwand, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu leicht unvernünftigen Philosophen ...[‘]“, und Brief Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 21.02.1944: „Es gibt: ‚übrige noch ungedruckt Werke des Wolfenbüttelschen Fragmentaristen. Ein Nachlaß von G. E. Lessing‘, hrsg. v. C. A. E. Schmidt (= Andreas Rieng) 1787. Ferner: in Niechners Zeitschr. f. hist. Theologie 1850/2, Abdrucke v. Wilh. Klose (etwa 1/3) von: Originalhandschrift der letzten Bearbeitung der ‚Apologie‘, des Ganzen unveröffentlicht, in hamburgischen Stadtbibliotheken. Ferner: D. Fr. Strauß: H. S. Riemanns u. s. Schutzschrift f. I. verm. Verehren Gottes = Bd. 5 der Ges. Werke ... mit Abdrücke oder unbekannten Teile. Näheres: Lessings Werke (Petersen – Olhausen) Bongulie, Bd. 22 S. 23 u. Anm. Hans Müller im Zentralblatt für Bibliothekswesen Bd. 33, 1916, S. 110ff ... macht bibliogr. Angaben“.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

Curtius (vgl. Kap. VI) wird auch das zu Ebbinghaus durch die Sympathien zu ihren Frauen gefördert. Im inneren Widerstreit zwischen der Konzentration auf deutsche Philosophie, die durch Ebbinghaus angeregt wird, oder auf internationale Literatur, die mit Romanisten gepflegt wird, entscheidet sich Kommerell am 21. März 1942 für letztere: „Die im Semester angelesenen deutschen Denker namens Kant, Schelling und Hegel nahm ich nicht herauf [auf die Bühlerhöhe], dagegen Sterne, einige Spanier, und Pascal und Montaigne. Welch letztere beiden ich mit großer Freude lese, eine deutsche Übersetzung nur nebenher zu Rate ziehend. Wie traurig, daß ich die griechische Corona missen muß ... Es war mein erster griechischer Aristophanes; der Eindruck ungeheuer; und ebenso ungeheuer, daß hiermit, trotz Shakespeare, Molière, und andere, überhaupt keine Tradition der Komödie begann, und dieser Typus nur einmal in der Welt vertreten wurde. Woran mag es liegen, daß das Spätere, vor allem darauf Terenz und Plautus, so ungeheuer fruchtbar und folgenreich wurde?“16 Ein anderer, undatierter langer Brief hingegen zeigt, wie stark Ebbinghaus’ philosophische Ausführungen, denen Kommerell offenbar beim Vortrag in einem Lesekreis gefolgt ist, auf ihn gewirkt haben: Ich fand Ihren Vortrag sehr schön, und bin froh, daß ich kein Philosoph bin. Man sollte nicht aus Koketterie, und ohne daß irgend eine andere Gewalt des Himmels und der Erde einen dazu nötigt, sich den furchtbaren Anforderungen dieses Berufs fahrlässig aussetzen. [...] Ihre Kritik an Hegel, die Sie nicht ausführten und auch nicht auszuführen brauchten, unterstreicht also nicht eine relativ bessere oder relativ schlechtere Methode des Ph.[ilosophierens] bei Kant und Hegel, sondern Methode und Nicht-Methode, d. h. die Anerkennung der für den Philosoph schlechthin nötigenden und von Kant in nie dagewesener Entschiedenheit festgestellten Bedingungen des Philosophierens, und die Verleugnung derselben, nicht aus Unkenntnis oder Unvermögen, sondern infolge der Berufung auf die – sich der Kontrolle entziehende – Intuition des philos. Genius [...] Um Vergebung für meinen Dilettantismus bittend, und dies nur als Beweis meines Berührtseins vorlegend.17

Als Direktor des Germanistischen Seminars arbeitet Kommerell eng mit dem Dekan der Philosophischen Fakultät Ebbinghaus zusammen und reflektiert diese Zusammenarbeit in einem Brief vom 21. März 1942: „Nach einer der wunderbarsten Vorstellungen akademischer Windhosen, die Ihnen in jener denkwürdigen Sitzung geglückt ist, stob ich hochbefriedigt ab, nicht so sehr über den Endeffect, der den Zweispalt zwischen ‚Keil‘ und ‚Leistung‘ als nachschmeckende Problematik zurückläßt, sondern darüber, daß alles vor-

16 17

Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Brief Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 21.03.1942. Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Brief Kommerell an Julius Ebbinghaus o. D.

IX.1 Julius Ebbinghaus: Philosophie und Vernunftkritik

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bei war“.18 Die Diskussionen drehen sich mehrfach um die Schwierigkeiten bei der Habilitation des Germanisten Harry Mielert. Am 23. August 1942 berichtet Kommerell Ebbinghaus von seinem Unmut gegenüber den eigenen Fachkollegen: „Zu meinem Leidwesen bin ich nicht bei der Vorbesprechung der Mielertschen Sache, die dem wetterharten Taeger anvertraut zu sehen mich nur halb beruhigt. Die Fälle Berger, Krauss, Henkel, Gretz sind bei mir noch nicht vernarbt; ich kenne wohl die Burschen, die einen Todesbund zur Förderung der Unbegabten geschlossen haben und auch wissen, daß sie damit der Begabten Untergang schüren, und wie gern würd‘ ich jedem an den Hals springen. Ich bezahle nur jede Auseinandersetzung mit solchen Einbußen an Arbeitsfähigkeit, daß ich mich ernstlich frage: was ist wichtiger? Zumal ich wohl unterliegen würde!“19 In Bezug auf Ebbinghaus’ Dekanat teilt Kommerell dem Sohn Carl Hermann am 2. November 1942 mit: „Ihr Herr Vater regiert mit großer Einsicht, Tatkraft und Gerechtigkeit, mußte jetzt aber leider seine Regierung unterbrechen und zu einer scheußlichen Zahnbehandlung nach Würzburg fahren“.20 Am 4. Januar 1944 bittet Kommerell Julius Ebbinghaus schließlich, das Dekanat fortzusetzen: „Bleiben Sie unser Dekan, auch wenn’s fad ist! Sonst behaupten die Regenwürmer das Schlachtfeld“.21 Die Rezeption der ‚Weltliteratur‘ wird in einem Brief vom 23. Januar 1944 im Anschluß an einen Aufenthalt im Sanatorium bei Baden-Baden an Carl Hermann Ebbinghaus geschildert: „Meine Bühlerhöhen Tage sind mir unvergeßlich; ich war zwar nicht fleißiger als hier, aber anders, nur nach eigener Wahl. Und wenn auch die Zeit zu kurz war, um viel vor mich zu bringen, so reichte sie doch aus, mir Mut zu geben zu einem Unternehmen, das die Ferien, die mir der Staat noch in den nächsten Jahren gewähren wird, vollkommen beansprucht. Eigentlich sollte man sich nur noch zu leichten 18

Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Brief Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 21.03.1942. 19 Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Karte Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 20.08.1942. Im gleichen Schreiben heißt es weiter: „Wölfchen, durch die Göttinger beschwatzt, empfahl mir einen Mann zur Habilitierung, der nachweist, daß George und Rilke im Schützengraben versagen würden. Ich schrieb ihm, daß ich ihn nicht auf Grund seines Ethos, und sonst gar nichts, habilitieren könne. Hierauf eine wahrhaft klassische Antwort. Mein Brief sei ein trauriger Beitrag zum Kapitel: Front und Heimat! Er hält sich zwar mit Mühe von unmittelbaren Insulten zurück, läßt mich aber wissen, daß seine Frau meinen Brief als Kühle gewordene Redensarten, sein Regimentskamerad als eine Frechheit bezeichnet hat. Ich schicke diesen Brief dem unwölfischen Wölflein zur Verrechnung seiner Menschenkenntnis und unserer Arten, und antworte nicht mehr“. 20 DLA Marbach, Brief Kommerell an Carl Hermann Ebbinghaus vom 02.11.1942, Nachlaß Kommerell, A: 99.126.1/2: „Ihre treuen [deutlich jüngeren] Brüder sehen, soviel ich von ihnen erblickte, recht wohl aus. Der gereiftere von beiden winkte mir neulich vom Töpfchen durch einen Türspalt zu und berechtigte zu den schönsten Erwartungen“. 21 Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Brief Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 04.01.1944.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

Geburten des Augenblicks von himmlischen Hauchen befruchten lassen ... aber man kann sich das nicht heraussuchen, und ich bin also närrisch genug, auf lange hinaus zu planen“.22 Kommerell erwähnt ein großangelegtes Projekt, bei dem es sich um die Studie über die Romane der ‚Weltliteratur‘ handeln könnte (vgl. Kap. VI). Im folgenden drückt er seine Wertschätzung gegenüber dem Vater Ebbinghaus aus und schildert seine Lektüreeindrücke: Heute ist Sonntag. Ich werde ½ Stunde vor Mittag einmal wieder Ihr Elternhaus zu betreten suchen und sehen ob ich den Denker, seine Gattin oder die beiden Noch-nicht-Denkerchen erwische, und mit denselben die jeder Persönlichkeit angemessenen Gespräche führen kann. Denn wie Sie wissen, beweg ich mich nur im Angemessenen..... Mit großer Hingabe traktier‘ ich im Kolleg Rabelais, Swift, Cervantes, Sterne. Dann (30.I.) geht’s nach Amsterdam, wo ich Marineoffizieren über Faust, und Hamburg wo ich meinen dortigen Freunden über Goethe, Euripides u. Racine erzähle..... Im häuslichen (mich immer ausschließlicher einfangenden) Kreis beschäftigt uns zur Zeit [Rudolf Alexander] Schröders Ilias-Übertragung. – Der liebe P.H. war neulich bei mir, samt Sigrid Leiner. Wir unterhielten uns über Proust, dessen ‚Du côté chez Guermantes‘ mich in den Weihnachtsferien geradezu zauberhaft entzückte..... Ich bin immer wieder erstaunt, was hier, unter den jungen Menschen, für ‚gute Luft‘ ist. Dies ist mein Patriotismus.....23

Die Zusammenstellung der Autoren Homer, Euripides, Rabelais, Racine, Proust, Swift, Sterne, Cervantes und Goethe zeigt die bis zum Lebensende andauernde Beschäftigung mit der ‚Weltliteratur‘. Mit dem „häuslichen [...] Kreis“ meint er den Marburger Graeca-Kreis, in dem griechische Literatur gelesen wurde (vgl. Kap. IX.3). Kommerell, wegen Hepatitis als ‚nicht verwendungsfähig‘ eingestuft (vgl. BA 409), setzt sich im gleichen Brief mit der Situation der Soldaten an der Front auseinander: „Ich bin froh, Sie noch in Sicherheit zu wissen. Über das Schicksal läßt sich, wenn es da ist, schwer Worte machen. Man muß es hinnehmen. Und daß der jungen Menschheit das schwant, gar, wenn sie es wissend und verstehend hinnehmen – und dies ist Ihr Fall. Es bleibt uns nichts, als Sie täglich mit herzlichen Wünschen und Gebeten zu begleiten, wie so manches, in dem wir eine Hoffnung sehen“.24 Aus diesen Formulierungen spricht eine realistische Wahrnehmung des Kriegsgeschehens. Carl Hermann Ebbinghaus antwortet Kommerell am 27. Februar 1944 in einem langen Brief: Einmal kommt mir so recht ein Sprichwort in den Sinn in kleiner Umkehrung allerdings, wenn Sie mir dort durch die Literatur der großen Welt schweifen, über-

22 DLA Marbach, Brief Kommerell an Carl Hermann Ebbinghaus vom 23.01.1944, Nachlaß Kommerell, A: 99.126.1/3. 23 Ebd. A: 99.126.1/3. 24 Ebd. A: 99.126.1/3.

IX.1 Julius Ebbinghaus: Philosophie und Vernunftkritik

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haupt schweifen, es ist das Hühnerkücklein, welchem die Entenmutter in schnellen Schlägen fortschwimmt. Wie das sich trübsinnig sagt, beinahe als hätte ich vergessen, daß ich für das Hier von dem Dort nur ein Abgesandter bin u. sammle und augenblicklich wäre weder das Dort noch das Hier rein gehabt recht schön für mich, der Wechsel ist es viel mehr. So sehr ich auch erst nur bin ich nicht mehr erstaunt, was hier eigentlich für ‚schlechte Luft‘ ist unter den jungen Menschen so ... u. auch sonst, – aber Verzeihung.25

Mit dem Hinweis auf die „‚schlechte Luft‘ unter den jungen Menschen“ kommt eine Distanz zur nationalsozialistischen Jugend zum Ausdruck. Im Fortgang des Briefes schildert er seine Lektüreerlebnisse im Krieg: Jedenfalls rettete ich mir auch mein Stückchen und darf in ähnlichen Bezirken wandern, wenn ich vor geöffnetem Spind im Bücherfach meine Lieben zähle: Zu später Stunde zwar u. einer Wolldecke übergehängt, um der Kälte etwas entgegenzusetzen. Dabei drehe ich mich immer noch sehr um mich selbst, nur ist mir damit wohler als je zuvor, möglich, daß endlich auch die anderen Menschen mir spürbar würden, wohl alle unter Bezugnahme aber so schnell wachse ich nicht; vielmehr bin ich dankbar, ein wenigstens der empfangenen Grenzen abtun zu können, da ich litt, sobald ich nach innen hören wollte u. dort es immer und es still war. Ich bekam gerade Nachricht von [den Bombardierungen in] Marburg u. seinem Unglück, ich muß gestehen, daß mir etwas warm wurde u. ich kann zu dem besonderen Geburtstagswunsch, einen nur noch besonderen und innigen hinzufügen. Und nun verzeihen Sie mir, daß ich den großen Bogen so abrupt zerreiße, ich wollte und will noch bedeutend mehr sagen, nehmen Sie mir bitte es ‚vorläufig‘.26

Die Interessen von Julius Ebbinghaus gehen über das Gebiet der Philosophie hinaus bis hin zur Literatur. In einem autobiographischen Text, der 1977 in der Reihe Philosophie in Selbstdarstellungen erscheint und nicht frei von Selbststilisierungen ist, führt er aus, daß er gelegentlich selbst gedichtet habe: Seit der Pubertät „war ich gewohnt, den Sturm meiner Gefühle in dichterischen Ergüssen zu bewältigen“.27 Die Literatur dient ihm dabei als Medium zur Frustrationskompensation: „Meine Entrüstung darüber [über den Streit mit dem Vater] machte sich Luft in einer aus 12 Stanzen bestehenden Elegie, die den unvergleichlichen Einfluß zum Gegenstand hatte, den mein Vater seit meiner frühen Jugend auf meine intellektuelle und moralische Bildung ausgeübt hat“.28 Neben eigenen dichterischen Versuchen steht die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Literatur. Auf dem internationalen Kongreß der Vereinigung für Ästhetik 1937 in Paris hält Ebbinghaus einen nicht überliefer-

25

DLA Marbach, Brief Carl Hermann Ebbinghaus an Kommerell vom 27.02.1944, Nachlaß Kommerell, A: 84.1538. 26 Ebd. A: 84.1538. 27 Ebbinghaus, Selbstdarstellungen, S. 16. 28 Ebd. S. 17.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

ten Vortrag zu Goethe und Schiller.29 In Marburg trägt er zweimal über Hölderlin vor: im Juli 1941 über Hölderlin und die Griechen,30 im Oktober 1941 über Hölderlin und die Antike.31 In Bezug auf den zweiten HölderlinVortrag führt er selbst aus: „Zunächst aber benutzte ich die noch andauernden Universitätsferien, um mich im Oktober [1941] den in der ‚Literarischen Gesellschaft‘ vereinigten Marburger Kollegen durch einen schon in Rostock konzipierten Vortrag über ‚Hölderlins Stellung zur Antike‘ vorzustellen. Die Absicht dieses Vortrages war, einen Beitrag zur Zerstreuung des Nebels zu liefern, hinter dessen Schleier damals Stefan George und die Seinen die zarten Umrisse der Gestalt des vom Schicksal geschlagenen Dichters zu den Dimensionen eines Menschheitsapostels aufblasen zu können glaubten“.32 Es ist davon auszugehen, daß Kommerell, der seit Anfang Sommersemester 1941 in Marburg ist, die beiden Vorträge gehört hat. Ebbinghaus’ kritische Auseinandersetzung mit George dürfte er dabei begrüßt haben. Bereits im Januar 1941 hält Ebbinghaus einen Vortrag bei der Festveranstaltung zu den Jubiläen der Regierungsübernahme der Nationalsozialisten 1933 und der Gründung des Kaiserreiches 1871. Den politischen Teil der Veranstaltung übernimmt der Rektor und Historiker Theodor Mayer.33 Im wissenschaftlichen Teil setzt sich Ebbinghaus mit der Eigenart der deutschen Philosophie auseinander: „Wir werden also bei unserer Bestimmung der Eigenart deutscher Philosophie diese Bestimmung nicht so treffen können, daß wir dadurch in Widerspruch kommen mit dem, was den eigentlichen

29 Ebd. S. 41. 30 Vgl. Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Ebbinghaus, Julius: Ms. Hölderlin und die Griechen, 30 Bögen: „Hölderlin und kein Ende – so hat vielleicht mancher von Ihnen ausgerufen oder bei sich im stillen gedacht, als er wiederum die Ankündigung eines Hölderlin-Vortrages las. Hölderlin und kein Ende, so habe ich selbst nicht selten mit leisem Grauen gedacht, wenn wieder und wieder eine Stimme an mein Ohr schlug, die die zarten und rührenden Töne dieser hochgestimmten dichterischen Begeisterung gleichsam in das Orakel, um nicht zu sagen die Posaune des Weltgeheimnisses zu verwandeln betrachtete. Fürchten Sie nicht, mich auf gleichen Wegen zu betreffen, denn um etwas Triviales zu sagen, was doch paradox geworden zu sein scheint, Hölderlin ist ein Dichter gewesen – und was immer das Geschäft des Dichters sein mag, so glaube ich nicht, daß Gedichte und Romane die Stätten sind, aus denen wir Auflösung für die Zweifel der Erkenntnis oder Richtschnüre für die Meisterung des Lebens haben können. Wenn der Dichter gleichwohl der Zauberer ist, der uns unser Los und unsere Bestimmung, unsere Not und unser Glück, unsere Hoheit und unsere Niedrigkeit auf eine Weise fühlbar und aussprechbar macht, die durch keine begriffliche Sprache erreicht werden kann, so heißt das bei weitem nicht, daß er in dieses Los tiefere Einsichten haben, als sie anderen Sterblichen vergönnt sind“. 31 Vgl. Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Ebbinghaus, Julius: Ms. Hölderlin und die Antike, 7 Bögen. 32 Ebd. S. 47. 33 Zu Mayer siehe Kap. VII mit Literaturhinweisen.

IX.1 Julius Ebbinghaus: Philosophie und Vernunftkritik

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Lebensodem aller unserer großen Denker ausmacht, nämlich mit der Idee der Philosophie, die nicht ist ein bloßes Bekenntnis, wie wir sehen, sondern eine Erkenntnis, die zeigt, wie die Sachen angesehen werden müssen. Ebensowenig aber können wir diese Eigenart setzen in eine von unseren deutschen Philosophen gefundene rechte Art, die Sache anzusehen“.34 Er spricht sich dagegen aus, daß man von einer spezifischen Eigenart der deutschen Philosophie in einem normativen Sinn sprechen könne. In weiteren Überlegungen führt er aus: „Was uns die Beobachtung der Menschen und Völker allein zeigen kann, sind gewisse Zusammenhänge von Merkmalen, die in diesem Zusammenhange eine mehr oder minder große Verständlichkeit haben, ohne daß aber irgend eine Gewähr bestände für die Auffindbarkeit einer Grundeigenschaft, vermittelt derer wir das Ganze des Charakters in seiner Notwendigkeit zu erkennen in der Lage wären“.35 Hier stellt er klar heraus, daß man höchsten von einem Zusammenhang von Merkmalen sprechen könne, nicht aber von einer Grundeigenschaft, aus der auf den Charakter eines Volkes zu schließen wäre. Ebbinghaus erfüllt in dieser Rede, wie Kommerell bei seinem Goethe-Vortrag in Paris (vgl. Kap. VII), zwar rhetorisch die Erwartungen der Nationalsozialisten, aber nicht inhaltlich. Im Rückblick schreibt Ebbinghaus in den Selbstdarstellungen über diesen Vortrag: Wenn ich damals [...] ,Die Eigenart der deutschen Philosophie‘ als Gegenstand meiner Darlegungen wählte, so hieß das freilich nicht, daß ich für die Philosophie in Deutschland ein durch das Deutschtum bestimmtes Prinzip gefordert hätte. Gleichwohl aber glaubte ich damals, der von Deutschen geschriebenen Philosophie gewisse Eigenschaften als Merkmale ihrer ,Eigenart‘ zuschreiben zu können – Merkmale, die ich auch in der deutschen bildenden Kunst, der deutschen Poesie und der deutschen Musik wiederfinden wollte und die ich durch Begriffe wie ,Unbefangenheit, Offenheit, Natürlichkeit und Sauberkeit, Kernigkeit und Geradheit, Gesittetheit und Rechtschaffenheit, Wärme und eifrige Bewegtheit‘ [...] beschreiben zu können mir einbildete. Das sollte den Boden kennzeichnen, dem auch die Philosophie Kants entstammt. Aber man braucht nur irgend eine Metaphysik der Aufklärungszeit aufzuschlagen um sich zu überzeugen, daß von alledem nichts, so wenig wie von dessen Gegenteil, in den Kompendien der Daries, Wolf oder Crusius zu finden war – und wenn mich mein Preislied auf die vermeintliche Eigenart der deutschen Philosophie auch davor bewahrte, vom Nationalsozialismus zu sprechen, so war z. B. Freund Reidemeister mit meiner Darbietung keineswegs zufrieden. Aber

34 Ebbinghaus, Julius: Die Eigenart der deutschen Philosophie. Festrede zur Feier der Reichsgründung und der nationalen Erhebung am 30. Januar 1941, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Schriften zur Theoretischen Philosophie und zur Philosophiegeschichte 1924–1972, hrsg. v. Hariolf Oberer u. Georg Geismann, Bonn 1990, S. 489–495, hier: S. 491 [erstmals in: Mitteilungen des Universitätsbundes Marburg 21 (1941), H. 1, S. 5–11]. 35 Ebd. S. 493.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

es gelang ihm damals nicht, mir deren Schwäche, um nicht zu sagen, deren Unsinn, zu verdeutlichen.36

Im Nachhinein bedauert Ebbinghaus also seine Ausführungen. Auffällig ist, daß er auf den Einfluß von Kurt Reidemeister zu sprechen kommt, der im folgenden Unterkapitel behandelt wird. Ebbinghaus’ Bereitschaft, überkommene Positionen zu revidieren, zeigt sich schon kurz nach dem Krieg: Er engagiert sich zum einen auf der institutionellen Ebene beim universitären Neuanfang, indem er das Rektorat der Marburger Universität übernimmt. Zum anderen publiziert er auf der wissenschaftlichen Ebene Rundfunk- und Festvorträge unter dem Titel Zu Deutschlands Schicksalswende, erstmals 1946 bei Vittorio Klostermann erschienen, in denen er sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus und mit neuen Perspektiven für Hochschule, Wissenschaft und Jugend auseinandersetzt.37 Ebbinghaus hat schon während seines Studiums in Freiburg einen intellektuellen Kreis unterhalten. Um eine Vorstellung zu geben, wie später der Kreis in Marburg abgelaufen sein könnte, wird hier Ebbinghaus’ Selbstbeschreibung des Freiburger Kreises aufgeführt: Die Mitglieder dieser Vereinigung [das Philosophische Kränzchen] waren damals außer [dem Althistoriker] Faribzius selbst der klassische Philologe Deubner, der Anglist Brie, der Archäologe Caro (der bald nach Halle ging und durch Dragendorf ersetzt wurde), der Mediziner Diepgen (Geschichte der Medizin) und der Bibliotheksdirektor Jacobs (klass. Philologe). [...] es gab ein warmes Abendessen mit gutem Wein [...] Danach begannen die Referate. Über die Vortragenden und deren Themata wurde keine vorherige Verabredung getroffen. Das Vertrauen, das immer Wortmeldungen vorliegen würden, gründete sich darauf, daß überhaupt keine rhetorisch geformten Vorträge gewünscht wurden. Gefordert waren vielmehr Berichte für Lösungen von Problemen, die sich dem Einzelnen im Laufe seiner Lektüre, seiner Kollegvorbereitungen oder seiner schriftstellerischen Tätigkeit gestellt hatten. Wir haben in jenen Zeiten bis zu drei Vorträge an einem Abend gehabt, die ohne Ermüdung gehört und diskutiert wurden.38

Aus dieser Beschreibung geht hervor, wie die Vertreter unterschiedlicher Disziplinen sich zusammensetzen und über die verschiedenen Fächer diskutieren.39 Die Kreise fungieren dabei als ein Rahmen, der eine erhöhte Problem-

36 Ebbinghaus, Selbstdarstellungen, S. 49. 37 Vgl. Ebbinghaus, Julius: Zu Deutschlands Schicksalswende, 2. verm. Aufl., Frank furt/M 1947. 38 Ebd. S. 29. 39 Ebbinghaus beteiligt sich an diesen Kreisen, um die Fachgrenzen zu überwinden, da er bedauert: „der Mathematiker weiß nichts (oder nur sehr wenig) vom dominium utile oder dem pactum onerosum, der Theologe nichts (oder nur sehr wenig) von der Quantentheorie, den Chemiker läßt das Problem der Ehre im spanischen Nationaldrama völlig kalt, und selbst der Physiker wirft höchstens einmal einen flüchtigen Seitenblick auf

IX.1 Julius Ebbinghaus: Philosophie und Vernunftkritik

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lösungskompetenz gewährleistet. Zu den Freundschaften, die Ebbinghaus in seiner Freiburger Zeit schließt, gehört die mit Martin Heidegger, der auch ein Freund Kommerells ist. Ebbinghaus schmückt sich in den Selbstdarstellungen mit der Freundschaft zu Heidegger und reklamiert sogar einen Anteil beim Bau der Hütte auf dem Todtnauberg für sich: „Er [Heidegger] hatte sich oberhalb von Todtnauberg vom Zimmermeister des Dorfes eine Hütte errichten lassen, für deren Kamin auch ich einen Ziegelstein im Rucksack hinaufgeschleppt habe“.40 In ihren Briefen tauschen sich Kommerell und Ebbinghaus ebenfalls über Heidegger aus. Am 21. März 1942 teilt Kommerell ihm in Bezug auf den Freiburger Philosophen mit: „Es kommen wieder viele Philosophen nach Marburg. Von dem waghalsigsten dieser Rasse ereilte mich ein denkwürdiges Handschreiben“.41 Er berichtet ihm außerdem von seiner Hölderlin-Kontroverse mit Heidegger (vgl. Kap. VIII): „An Heidegger habe ich nun doch geschrieben, und zwar, da sich mir ungesucht die wie mir schienen, verknüpfenden Wendungen anboten, vollkommen aufrichtig. Seine Antwort hat mich verblüfft; außerordentlich freundlich und eingehend, so daß ich mich meines Argwohns schäme. Freilich auch etwas verrätselt. Immerhin: er kann Widerspruch vertragen, sogar von mir“.42 In den Selbstdarstellungen schildert Ebbinghaus ebenfalls den Marburger Kreis und stellt seine Freundschaften zu Rudolf Bultmann und Kurt Reidemeister heraus: Damals hatten sich schon die Keime zu Freundschaften mit Marburger Kollegen und deren Familien gebildet, die ebenso wie ich die Rettung Deutschlands aus den Händen Hitlers von den wie immer schmerzhaften Siegen der von ihm in unsere Feinde verwandelten Staaten des Ostens und des Westens erhofften. Es waren dies vor allem der Mathematiker Kurt Reidemeister und der Theologe Rudolf Bultmann. Reidemeister war in seinen Anfängen zusammen mit unserem Rostocker Mathematiker Robert Furch, einem ‚urigen‘ Schwaben, Assistent bei dem Hamburger Mathematiker Blaschke gewesen. So war es Furch, der zu den mir in Rostock am nächsten stehenden Kollegen gehört hatte, der den näheren Kontakt mit Reidemeister und durch diesen mit Bultmann vermittelte.43

den Biologen“, Ebbinghaus, Julius: Die Einheit der Wissenschaft, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Schriften zur Theoretischen Philosophie und zur Philosophiegeschichte 1924–1972, hrsg. v. Hariolf Oberer u. Georg Geismann, Bonn 1990, S. 481–487, hier: S. 485f. [erstmals in: Rostocker Anzeiger 58, Nr. 152 vom 02.07.1938, 1. Beiblatt, S. 1–2]. 40 Ebd. S. 31. 41 Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Brief Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 21.03.1942. 42 Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Karte Kommerell an Julius Ebbinghaus vom 23.08.1942. 43 Ebbinghaus, Selbstdarstellungen, S. 45f.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

Die Freundschaft mit Kommerell stuft er allerdings nicht so gewichtig ein, als daß er sie hier genannt hätte. Aus den Briefen Kommerells geht jedoch hervor, daß diese vier Wissenschaftler sich zu Lesezirkeln versammelt haben. Wie hoch Ebbinghaus Kommerell tatsächlich schätzt, zeigt die Rede Zum Gedächtnis Max Kommerells, die er bei der Gedenkfeier der Universität am 12. August 1944 hält. Kommerells Schülerin Elfriede Ehl berichtet von der Gedenkrede in einem Brief vom August 1944 an ihren Mann: „Er [Ebbinghaus] sagte, als die Fakultät im Herbst 1940 den Namen Max Kommerell an die Spitze der für die Besetzung des Ordinarius Ersehenen gestellt hatte, war sie sich bewußt, etwas ganz Kühnes und Ungewöhnliches zu tun, weil eben Kommerell in seiner ganzen Art nichts von einem Professor an sich hatte. [...] Wie es zu seinem Wesen gehörte, sich denen, die sich ihm nahe wähnten, plötzlich zu entziehen – bis er sich ihnen ganz entzog. Ebbinghaus sagte etwas sehr Schönes, etwa in dem Sinne, daß das Leben seinem Geist und Wesen nicht die Bedingungen bot zu voller Entfaltung“.44 Die Rede, die im DLA Marbach erhalten ist,45 wird mit geringfügigen Kürzungen als Nachruf auf Max Kommerell 1947 in der Kölner Universitätszeitung veröffentlicht, da Kommerell, wie die Herausgeber betont, dort 1938/39 zwei Semester lang unterrichtet hatte.46 Im Nachruf erinnert sich Ebbinghaus, daß die Fakultät bei der Berufung Kommerells ein Gefühl bewegt habe „nicht unähnlich dem, dem Goethe Ausdruck gibt, als er von der Berufung Fichtes nach Jena berichtet, das Gefühl nämlich einer kühnen, ja verwegenen Handlung“.47 Dann geht er auf die Doppelbegabung als Schriftsteller und Wissenschaftler ein, durch die Kommerells Persönlichkeit „in ihrer Prägung sehr weit entfernt war von dem traditionellen Bilde des Professors“. Daraus erklärt er die Widerstände von Kommerells Fachkollegen: „Aber dieselbe Eigenart, die ihm den Zutritt zu den Weihen der Planmäßigkeit erschwerte, die war es auch, die diesen Zutritt dennoch schließlich erzwang. Als ein Lehrer von einzigartiger Anziehungskraft und als Autor von glücklichstem Griff und unermüdlicher Produktivität hatte er sich damals, als der Ruf nach Marburg erging, bereits endgültig durchgesetzt – und selbst diejenigen, die jene Eigenart nicht nur zu seinen Gunsten auslegen wollten, waren nunmehr bereit, seiner Leistung diejenige Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die ihr gebührte“. Auf der einen Seite fördert also Ebbinghaus durch seine Anregungen Kommerells Interdisziplinarität und Exklusivität,

44 Zit. nach Blanche Kommerell, Spurensuche, S. 158. 45 Vgl. DLA Marbach, Ebbinghaus, Julius: ‚Zum Gedächtnis Max Kommerells 12. August 44‘, Nachlaß Kommerell, D: 86.529. 46 Vgl. Ebbinghaus, Julius: Nachruf auf Max Kommerell, in: Kölner Universitätszeitung 2 (1947), H. 2, S. 29–30, hier: S. 29. 47 Ebd. S. 30. Dort auch die folgenden Zitate.

IX.1 Julius Ebbinghaus: Philosophie und Vernunftkritik

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auf der anderen Seite legitimiert er im Nachhinein dessen Randposition im germanistischen Fach. Kommerells ambivalentem Verhältnis zum Beruf des Wissenschaftlers gibt er folgende Wendung: So hat er denn auch ein Professor unter Professoren sein wollen, und ich darf bezeugen, daß er es trotz allem, was er sonst noch war, von ganzem Herzen gewesen ist. Der Genugtuung über den erlangten Besitz des Amtes und dem Entschlusse, es mit aller Kraft nach allen Richtungen hin wahrzunehmen, hat er oft mit der Unbefangenheit, mit der er andere an den Regungen seines Herzens teilnehmen ließ, Ausdruck gegeben. Und eben diese Unbefangenheit, mit der er heraussagte, was er fühlte und dachte und mit der er dabei sogar gelegentlich über sich selber den Kopf schüttelte oder die Achseln zuckte, die war es ja, die dem Verkehr mit ihm eine ganz besondere Anziehungskraft verlieh.

Ebbinghaus betont, daß sich mit Kommerells Eintritt in die Fakultät „ein neuer Ton in ihrem Konzert vernehmlich machte. Wer an seinem Leben teilnahm, mochte bisweilen im Zweifel sein, ob der Wille, sein eigenes Leben zu leben, oder aber die Freude an der Geselligkeit und das Bedürfnis nach ihr, die beherrschende Note seines Daseins war. Kein Zweifel, daß er der Arbeit an seinen Kollegs und an seinen mannigfaltigen schriftstellerischen Plänen alle sonstigen Verpflichtungen unterordnete. [...] Ganz besonders aber müssen wir dabei des Interesses, ja der Leidenschaft gedenken, mit der er alle diejenigen an sich heranzog, die ihm für die Zukunft der Wissenschaft verheißungsvoll oder unentbehrlich schienen. Und so wie er nicht nur die deutsche, sondern die europäische, ja die Weltliteratur als sein eigentliches Fach betrachtete, so waren es neben den jungen Germanisten ebenso Romanisten, Anglisten und Humanisten, denen seine Sorge galt“. Neben Kommerells Leistungen als Lehrer stellt er besonders die Fähigkeiten zur Kreisbildung heraus: Aber wie er ein Virtuose darin war, sich den Zudringlichkeiten der Welt zu entziehen, so war er ebenso ein Virtuose der Nähe und Gegenwart für einen schier unübersehlichen Kreis von Freunden. Im Hause Kommerell schien der Bann gebrochen, der die Fakultäten besonders in diesen Kriegszeiten isolierte. Hier allein auch verwischten sich die Unterschiede zwischen Jugend und Alter, zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Wissenschaft und Kunst. Die Teilnahme für das Leben der Kinder und die Erinnerung an die Nöte der heranwachsenden Jugend zogen ihn, der selber mit der Frische, dem Staunen und der Unverstellbarkeit des Kindes empfinden konnte, immer wieder in die Gesellschaft der Jungen und ließen ihn für deren Suchen als Erfüllung und Verheißung erscheinen.

Wenn Ebbinghaus sein Freundschaftsgefühl für Kommerell ausdrückt, bedient er sich seines Lieblingsphilosophen Kant: „Denn in der Tat – alle seine Tugend, die er als Mensch und als Professor, als Freund und als Kollege entfaltete war eine schöne Tugend. Nichts von Sollen, nichts von Müssen, nichts von Schuldigkeit. Er war, wie Kant es in anderer Anwendung gesagt hat, aller Befehle und allen mürrischen Zwanges unleidlich. Das Schöne tat

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

er, weil es ihm gefiel und sofern es ihm gefiel. So freundschaftlich er zu allem bereit war, sofern Freundschaft ihn fesselte, so fesselnd er selber sein konnte, wo sein geöffnetes Herz oder ein wohlerwogenes Urteil ihn trieb – wer glaubte, ihn gebunden zu haben, der konnte unversehens erleben, daß er ihm entwischte“. Kommerells frühen Tod deutet er aus der Situation in jener Zeit: „Es ist als wenn die Bedingungen dieses Lebens nicht zugänglich gewesen wären für seine Seele um den Gleichgewichtspunkt zu finden, von dem aus sie allen Reichtum, der ihr geworden war, zur Vollkommenheit hätte bilden können. So sprengte sie die Hülle des Lebens und wir scheuen ihr nach nicht nur in der Trauer um das, was war, sondern auch im Gedenken an das, was sein kann und was unter den Gestaltungen dieser Zeit nicht zu finden ist“. Am Beispiel von Kommerells Austausch mit Ebbinghaus zeigt sich, wie die Bildung von Kreisen bei Kommerell funktioniert, wie die inneren Abläufe der Kreise sich vollziehen und wie sie eingesetzt werden, um erhöhte Problemlösungskompetenzen zu liefern.

IX.2 Kurt Reidemeister: Mathematik zwischen Mallarmé und Rilke In Marburg findet Kommerells Begegnung mit dem Mathematiker Kurt Reidemeister (1893–1971) statt. Reidemeisters umfangreiche philosophische und literarische Studien sind in der Forschung noch nicht untersucht worden und werden hier erstmals konturiert. IX.2.1 Natur- und Geisteswissenschaften bei Reidemeister Nach dem Studium der Mathematik, Philosophie, Physik, Chemie und Geologie in Freiburg, München, Marburg und Göttingen von 1912 bis 1920 arbeitet Reidemeister als Assistent an der Universität Hamburg, bevor er eine außerordentliche Professur an der Wiener Universität erhält.48 1925 wird er

48 Vgl. Bachmann, Friedrich/ Behnke, Heinrich/ Franz, Wolfgang: In memoriam Kurt Reidemeister, in: Mathematische Annalen 199 (1972), H. 1, S. 1–11; Artzy, Rafael: [Nachruf auf] Kurt Reidemeister, in: Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung 74 (1972), H. 3, S. 96–104; Behnke, Heinrich: Gelebte Mathematik. Richard Courant, Heinz Hopf, Siegfried Heller, Kurt Reidemeister zu Gedächtnis, in: Mathematisch-physikalische Semesterberichte N. F. 19 (1972), H. 2, S. 135–145, hier: S. 141–143; Vietoris, Leopold: Kurt Reidemeister, in: Almanach. Österreichische Akademie der Wissenschaften in Wien 122 (1973), S. 317–324; Scriba, Christoph J.: [Art.] Reidemeister, in: Dictionary of Scientific Biography, Bd. 11, New York 1981, S. 362–363; Einhorn, Rudolf: Kurt Reidemeister, in: ders.: Vertreter der Mathematik und Geometrie an den Wiener Hochschulen 1900–1940, Bd. 1: Wien 1985, S. 163–177; Reichel, Hans-Christian: Kurt

IX.2 Kurt Reidemeister: Mathematik zwischen Mallarmé und Rilke

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nach Königsberg berufen, wo es im November 1930 zu einer Auseinandersetzung zwischen Rektorat und Studenten kommt. Der Streit entsteht um eine Kranzniederlegung der Studentenschaft anläßlich einer LangemarckFeier. Nachdem der gewaltsame, von pronationalsozialistischen Professoren unterstützte Protest der Studenten nicht einmal durch einen Polizeieinsatz eingedämmt werden kann, tritt der Rektor der Universität Karl Erich Andrée am 24. November 1930 zurück. Reidemeister stellt sich hinter Andrée und wendet sich gegen die protestierenden Studenten.49 Dieses Verhalten bewertet Rafael Artzy in seinem Nachruf: „Reidemeister [hatte] furchtlos eine ganze mathematische Vorlesungsstunde benutzt, um in allen logischen Einzelheiten darzulegen, warum diese Unruhen und das Benehmen der Studenten vollständig unvereinbar mit dem Denken vernünftiger Menschen wären. Solch aufrechter Stand hat ihm wohl seine Stelle gekostet [...]“.50 Im Jahr 1933 wird Reidemeister schließlich aus seinem Amt entfernt, wie er selbst 1945/46 im Rückblick darlegt: „Die Absetzung habe ich mir in diesem Milieu auf eine ganz einfache Weise verdient: indem ich das ceterum censeo ‚die Freiheit von Lehre und Forschung muß die Lebenshaltung der Wissenschaftsbeflissenen durchdringen‘ recht oft wiederholte“.51 Reidemeister macht also eine ähnlich einschneidende Erfahrung, wie Kommerell mit der Riezler-Affäre (vgl. Kap. VII). Nach der Amtsenthebung geht er für ein Jahr zum Studienaufenthalt nach Rom. Währenddessen setzt sich sein ehemaliger Lehrer, der renommierte Hamburger Mathematiker Wilhelm Blaschke, für ihn ein und erwirkt beim Ministerium die Rücknahme der Amtsenthebung, so daß Reidemeister 1934 einen Lehrstuhl für Algebra an der Universität Marburg annehmen kann.52 Nach dem Zweiten Weltkrieg übernimmt Reidemeister im akademischen Jahr 1947/48 das Dekanat der Philosophischen Fakultät – obwohl er Mathematiker ist – und beteiligt sich an der Aufarbeitung der totalitären

Reidemeister (1893 bis 1971) als Mathematiker und Philosoph – ein „Meilenstein“ in der Entwicklung der Topologie, der Geometrie und der Philosophie dieses Jahrhunderts, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse, Sitzungsberichte, Abt. II, 203 (1994), S. 117–135, hier: S. 119–124; und: Epple, Moritz: Kurt Reidemeister (1893–1971): Kombinatorische Topologie und exaktes Denken, in: Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren, hrsg. v. Dietrich Rauschning u. Donata von Nerée, Berlin 1995, S. 567–575. 49 Vgl. Epple, Moritz: Berechenbare Invarianten und elementare Begründung: Kurt Reidemeister, in: ders.: Die Entstehung der Knotentheorie: Kontexte und Konstruktionen einer modernen mathematischen Theorie, Braunschweig 1999, S. 297–329, hier: S. 326f. 50 Artzy, Reidemeister, S. 97. 51 Reidemeister, Kurt: Über die Freiheit der Wissenschaft, in: Die Wandlung 1 (1945/46), H. 8, S. 711–715, hier S.: 715 [wieder in: ders.: Über Freiheit und Wahrheit, Berlin 1947, S. 7–18]. 52 Vgl. Bachmann et. alt., In memoriam, S. 3.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

Herrschaft.53 Dazu veröffentlicht er drei Aufsätze in der programmatischen Heidelberger Monatsschrift Die Wandlung, die von Karl Jaspers, Werner Krauss, Alfred Weber und Dolf Sternberger in den Jahren 1945 bis 1947 herausgegeben wird. Im Aufsatz Über die Freiheit der Wissenschaft (1945/46) setzt er sich mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik auseinander und fordert in 13 Artikeln eine Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Lehre und Forschung. Er behauptet, daß sich die Wissenschaft im Nationalsozialismus weitgehend der Eingriffe der Politik erwehren konnte: „Man wird sagen dürfen: die Geltung der Wissenschaft in der allgemeinen Öffentlichkeit des deutschen Staates ist im Mai 1933 vernichtet worden, die Verwaltung der Institutionen wurde in Mitleidenschaft gezogen, aber die innere Öffentlichkeit der Wissenschaft blieb aufs ganze gesehen intakt, und um sie ist ein Kampf entstanden, der mit großer Zähigkeit und bis in die letzten Stunden des Hitlerstaates hinein durchgehalten wurde. Der Erfolg dieses Kampfes, die Klugheit, Tapferkeit, die sich hier bewährten, ist es, in welcher die deutschen Universitäten ihren inneren Kern bewahrt und die Möglichkeit ihres Wiederaufblühens durch die Zeit der furchtbaren Zerstörung hindurch gerettet haben“.54 In der Untersuchung über Das Grundrecht der Wissenschaft, ebenfalls 1945/46 in der Wandlung erschienen, geht Reidemeister auf den unterschiedlich starken Einfluß der Politik auf die Natur- und Geisteswissenschaften ein: Wenn einige Geisteswissenschaften unter dem Druck des Nationalsozialismus stärker deformiert sind als die Naturwissenschaften, so liegt das sicher weniger an verschiedenen Eigenschaften der Vertreter dieser Wissenschaften als vielmehr an der verschiedenen Struktur dieser Wissenschaften selbst. Die exakten Wissenschaften besitzen einfache Kriterien für die Objektivität ihrer Ergebnisse, bei den Geisteswissenschaften ist dies nur bis zu einem gewissen Grade der Fall.55

Entschieden wendet sich Reidemeister gegen eine Reglementierung der Geisteswissenschaften, da ihre Anfälligkeit für politische Instrumentalisierungen nicht von den ausübenden Persönlichkeiten abhänge, sondern in der begrenzten Objektivität ihrer Ergebnisse begründet liege. Er nimmt außerdem zur Frage Stellung, wie sich Menschen mit Distanz zum Totalitarismus verständigten und dabei zugleich die Codes des Regimes benutzten. Im dritten Wandlung-Aufsatz Der totale Staat im Spiegel der Selbsterfahrung von 1947 führt er aus: „Menschen, die sich zum ersten Male begegneten, spielten mit leisen Anschlägen diese Klaviatur, um den Grad von Offenheit, der zwischen 53 Vgl. Artzy, Reidemeister, S. 99. 54 Reidemeister, Freiheit, S. 713. 55 Reidemeister, Kurt: Das Grundrecht der Wissenschaft, in: Die Wandlung 1 (1945/46), H. 12, S. 1079–1085 [als ‚Entartung und Norm der Wissenschaft‘ wieder in: ders.: Über Freiheit und Wahrheit, Berlin 1947, S. 19–30].

IX.2 Kurt Reidemeister: Mathematik zwischen Mallarmé und Rilke

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ihnen zulässig war, abzuspüren. Gemeinschaften, die sich vertragen wollten, machten sich eine eigene Umgangssprache zurecht, deren Bewertung, zumal für Außenstehende, undurchsichtig war“.56 Reidemeister beschreibt den Umgang zwischen Menschen im Nationalsozialismus, wie er ihn im Marburger Kreis mit Ebbinghaus, Bultmann und Kommerell erleben konnte. Die drei in der Wandlung erschienenen Aufsätze, die sich mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus auseinandersetzen, werden 1947 zusammen mit z. T. veränderten Titeln wiederabgedruckt in der Monographie Über Freiheit und Wahrheit.57 Auf mathematischem Gebiet ist Reidemeister vor allem im Bereich der kombinatorischen Topologie mit der Aufstellung der Knotentheorie hervorgetreten. Seine Monographie Knotentheorie aus dem Jahr 1932 ist die erste zusammenhängende Darstellung und Weiterentwicklung früherer Ansätze, die 30 Jahre lang die einzige umfassende Studie zu dieser Theorie bleiben wird.58 Darin weist er nach, daß alle einzelnen Veränderungen in Knoten auf drei elementare Änderungen zurückzuführen seien. Reidemeister, der sich schon im Studium mit Philosophie beschäftigt und in Freiburg besonders von Edmund Husserl inspiriert wird, hat zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich der Philosophie vorgelegt. Grundzug seines philosophischen Ansatzes ist das exakte Denken.59 In einer Reihe von Studien setzt er sich mit dem exakten Denken in der griechischen Philosophie auseinander. Dazu publiziert er Untersuchungen über Die Arithmetik der Griechen (1940), in der er die arithmetische Entwicklung von Pythagoras bis Euklid nachzeichnet,60 über Mathematik und Logik bei Plato (1942), in der er die Dialektik Platons als widerspruchsfrei im Gegensatz zur Hegelschen herausstellt,61 über Das System des Aristoteles (1943), eine Unter-

56 Reidemeister, Kurt: Der totale Staat im Spiegel der Selbsterfahrung, in: Die Wandlung 2 (1947), H. 3, S. 214–220 [als ‚Zum Erlebnis von Lüge und Wahrheit‘ wieder in: ders.: Über Freiheit und Wahrheit, Berlin 1947, S. 31–43]. 57 Vgl. Reidemeister, Kurt: Über Freiheit und Wahrheit, Berlin 1947. 58 Vgl. Reidemeister, Kurt: Knotentheorie [Berlin 1932], New York 1948. Dazu siehe Epple, Moritz: Branch Points of Algebraic Functions and the Beginnings of Modern Knot Theory, in: Historia Mathematica 22 (1995), H. 4, S. 371–401; Stewart, Ian: Mathematische Unterhaltungen, in: Spektrum der Wissenschaft August (1990), S. 12–17, hier: S. 14; Artzy, Reidemeister, S. 97; Epple, Invarianten, S. 297–329; Bachmann et alt., In memoriam, S. 8ff.; und: Reichel, Reidemeister, S. 124–134. 59 Vgl. Reidemeister, Kurt: Exaktes Denken, in: Philosophischer Anzeiger 3 (1928/29), S. 15–47. 60 Vgl. Reidemeister, Kurt: Die Arithmetik der Griechen, Leipzig/Berlin 1940. Dazu siehe Waerden, B. L. van der: Rez. zu Kurt Reidemeister: Die Arithmetik der Griechen, in: Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung 52 (1942), S. 69–70. 61 Vgl. Reidemeister, Kurt: Mathematik und Logik bei Plato, Leipzig/Berlin 1942. Dazu siehe Scholz, Heinrich: Rez. zu Kurt Reidemeister: Mathematik und Logik bei Plato, in:

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

suchung des mathematische Systems in Bezug auf Bewegung und Stetigkeit anhand der aristotelischen Physik,62 und über Geometrie und Kosmologie der Griechen (1943), in der er der Bedeutung der Mathematik bei Euklid, den Pythagorern, Platon, Anaximander, Parmenides und Aristoteles nachgeht.63 Diese einzelnen Studien werden – zusammen mit dem einleitenden Aufsatz Mathematisches Denken – 1949 unter dem Titel Das exakte Denken der Griechen. Beiträge zur Deutung von Euklid, Plato, Aristoteles wiederabgedruckt. Im Vorwort begründet Reidemeister seine Absichten: „Leider genügen so evidente Überlegungen und Tatsachen in einer Zeit, wo es zu einer Art Methode geworden ist, Sachkenntnis durch Tiefsinn zu ersetzen, nicht, um der alten Forderung Platos Anerkennung zu verschaffen, daß niemand dies Gebiet betreten oder gar sich darüber wissenschaftlich äußern solle, der nicht hinreichend Geometrie getrieben habe“.64 Damit polemisiert er gegen die Zeitgenossen und wirft ihnen mangelnde Grundlagenkenntnisse vor. Die Griechen-Studien charakterisiert Moritz Epple folgendermaßen: „Reidemeister zog sich in eine Beschäftigung mit antiker Wissenschaft zurück“.65 Damit wird eine Zusammenhang deutlich zwischen der politischen Situation und der Forschertätigkeit, die sich wie bei Kommerell (‚Weltliteratur‘), Curtius (Mittelalter) und Heidegger (Hölderlin) in einer Abwendung vom Kernbereich des Faches zeigt. Abgesehen von Mathematik und Philosophie setzt sich Reidemeister intensiv mit Literatur auseinander. Diese Beschäftigung erfolgt nicht nur in Form von wissenschaftlichen Interpretationen rezeptiv, sondern auch mit dem Verfassen eigener Gedichte und Übersetzungen produktiv. Reidemeister gibt einen Band mit Gedichten des französischen Symbolisten Stéphane Mallarmé heraus. Unter dem Titel Dichtungen. Stéphane Mallarmé (1948) versammelt er insgesamt 38 Gedichte und stellt dabei in der Ausgabe neben das französische Original seine eigene deutsche Übersetzung.66 Er folgt dem Prinzip des getreuen Übersetzens, das er im Nach-

Deutsche Literaturzeitung 64 (1943), Sp. 655–658 und Stammler, Gerhard: Rez. zu Kurt Reidemeister: Mathematik und Logik bei Plato, in: Kant-Studien 44 (1944), S. 255–256. 62 Vgl. Reidemeister, Kurt: Das System des Aristoteles, Leipzig/Berlin 1943. Dazu siehe Gohlke, Paul: Rez. zu Kurt Reidemeister: Das System des Aristoteles, in: Kant-Studien 43 (1943), S. 331. 63 Vgl. Reidemeister, Kurt: Geometrie und Kosmologie der Griechen, in: Kant-Studien 43 (1943), H. 1/2, S. 275–288. 64 Reidemeister, Kurt: Das exakte Denken der Griechen. Beiträge zur Deutung von Euklid, Plato, Aristoteles [1949], Darmstadt 1972, S. 7. Dazu siehe Becker, Oskar: Rez. zu Kurt Reidemeister: Das exakte Denken der Griechen. Beiträge zur Deutung von Euklid, Plato, Aristoteles, in: Philosophische Studien 2 (1950/51), S. 432–434. 65 Epple, Königsberg, S. 574. 66 Vgl. Reidemeister, Kurt: Dichtungen. Stéphane Mallarmé, übers. u. mit einem Nachwort hrsg. v. Kurt Reidemeister, Krefeld 1948.

IX.2 Kurt Reidemeister: Mathematik zwischen Mallarmé und Rilke

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wort erläutert: „Die Übertragung, die hier vorgelegt wird, versucht dies Verständnis zu erleichtern, indem sie den Farbenreichtum der Verse gleichsam in Schwarz-Weiß, ohne die Zierde des Reimes, möglichst getreu und möglichst unverstellt nachzeichnet“.67 Er legitimiert, warum seine Auswahl auf Mallarmé gefallen ist: Das Bild der lyrischen Dichtung Frankreichs im letzten Jahrhundert ist durch fünf Sterne erster Ordnung bestimmt, durch Baudelaire, Mallarmé, Verlaine, Rimbaud und Valéry. Eine unmittelbar bis in die deutsche Dichtung reichende Wirkung haben aber nur vier von ihnen gehabt. Baudelaire’s ‚Blumen des Bösen‘ wurden von George nachgedichtet, Valéry’s ‚Charmes‘ von Rilke. Verlaine’s Lied, das unserem lyrischen Empfinden oft nahesteht, fand Widerhall bei Dehmel und manchen anderen, und Rimbaud’s Werk ist mehrfach übertragen. Mallarmé aber verharrt für uns noch im Dunkel, und wir wissen im Grunde nur, daß er aus jenem französischen Sternbild nicht fortgedacht werden kann und daß sich die Umwandlung des Pathos der ‚Fleurs du mal‘ in die reine Poesie der ‚Charmes‘ allmählich vollzogen hat, in einer Alchymie des Schweigens, welche die jungen Dichter, die sich um Mallarmé scharten (und Valéry gehörte zu diesem Kreis der Dienstagsabende), mit ihrem Meister hüteten und pflegten.68

Aus diesen Sätzen spricht sowohl Reidemeisters Sicht auf Mallarmé als auch seine Selbsteinschätzung. Er bezeichnet Mallarmé als einen der „fünf Sterne erster Ordnung“ und verfolgt damit ein Literaturverständnis, das stark in Wertmaßstäben denkt und dabei ein kosmologisches Vokabular nicht scheut. Wenn Reidemeister nun Mallarmé als den letzten dieser fünf Sterne bezeichnet, der in Deutschland noch unentdeckt sei, und auf die Übertragungen anderer Autoren hinweist, stellt er sich als Übersetzer in eine Reihe mit Richard Dehmel, Stefan George und Rainer Maria Rilke. Anschließend deutet er die Probleme an, sich Mallarmé mit einer konventionell literaturwissenschaftlichen Herangehensweise zu nähern: Dies ungenaue Wissen um Mallarmé’s Standort weist uns denn aber doch auf die Eigenart der Schwierigkeit hin, die sich dem Verständnis dieses Werks, das (von einzelnen Stücken abgesehen) eine erschließende Nachdichtung nicht gefunden hat, entgegenstellt, wenn wir es mit den Methoden der Literaturgeschichte zu fassen versuchen. Man kann sich dieser Dichtung nicht vom Inhalt her annähern.69

Nach der Kritik an einem positivistischen Herangehen setzt er sich mit der biographischen Lesart auseinander: „Bei Mallarmé aber, der still mit Frau und Tochter lebt und englischen Unterricht an einem Lyzeum erteilt, versagt die biographische Interpretation durchaus und wesentlich. Die ‚reine Poesie‘, um die es hier geht, läßt sich nur von der Sache her verstehen. Sie setzt ein

67 Ebd. S. 108. Vgl. S. 109, 110 u. 111f. 68 Ebd. S. 105. 69 Ebd. S. 105f.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

reines, beständiges, sich immer gleichendes Ich voraus, das nicht in der biographischen Sphäre liegt“.70 Der biographischen Interpretation wird damit eine Absage erteilt. Mallarmés Persönlichkeit setze sich aus dem „Bewußtsein des Empfundenen“, dem „vollkommen angemessenen rhythmischen, klingende[m] Ausdruck“ und dem „absolut Schöne[n]“ zusammen. Reidemeister vertritt also die Meinung, daß sich Dichtung über Empfindung, Klang und Ästhetik bestimme – Stichworte, die auch bei Kommerell auftauchen. Reidemeister nimmt außerdem zur Rolle des Lesers Stellung und setzt beim Leser eine innere Haltung voraus, die das „absolute Bestreben“ als „Möglichkeit geistiger Haltung innerlich“ zulasse.71 Dann erst könne die „Erscheinung Mallarmé’s“ richtig erkannt werden. Darin drückt sich eine exklusive Zugangsweise aus, wie sie ebenfalls im George-Kreis propagiert wurde. Verweise auf die Sekundärliteratur durch Formulierungen wie „[...] ist schon verschiedentlich festgestellt worden“ erfolgen, ohne daß die entsprechenden Autoren genannt werden. In dieser Vorgehensweise stimmt Reidemeister mit Kommerell überein. Daran schließt sich eine Polemik, die für Reidemeisters Publikationen typisch ist. Den „Theoretiker[n] des Schönen“ unterstellt er, daß sie nur „ihre eigenen Vorurteile“ aufrecht erhalten wollten.72 Bei Mallarmé herrsche in Wahrheit eine „fühlbare Spannung zwischen Form und Inhalt“, die als „wundervolles und lehrreiches Paradigma“ hergenommen werden könnte. Außerdem vergleicht Mallarmés „Durchdringung von Bewußtsein und Empfindung“ mit den „Anfängen des Denkens, zu denen die Philosophen vorzudringen suchen“. Die Frage, wie diese Dichtungen übertragen werden könnten, erörtert er vor dem Hintergrund der Empfindung. Die Schwierigkeit, sich das Gedicht Mallarmés anzueignen, sieht Reidemeister als Bedingung dafür, es „nacherschaffen“ zu können.73 Die Reinigung, die damit einhergeht, soll produktiv eingesetzt werden, um die „Sprache als Trägerin von Empfundenem“ selbst neu zu erschaffen. Es sollen also ‚positives‘ Vorwissen wie Literaturgeschichte außer Acht gelassen werden und sich nur auf die Kraft der Empfindung konzentriert werden. So sei diese Dichtung nachzuvollziehen. Die Unverständlichkeit der Dichtung Mallarmés und die Tatsache, daß der „Kreis der hier Zustimmenden eingeschränkt“ sei, wird – auch dies eine von Kommerell praktizierte Vorgehensweise – wieder eingesetzt, um dadurch den Wert Mallarmés zu steigern. Das Ergebnis der Aneignung durch Empfindung sei dann die Erfahrung des natürlichen Anblicks der Gestalt: „Indessen steht der empfundene Inhalt, der uns geboten wird, dem unbewußt Vertrauten sehr 70 71 72 73

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

S. S. S. S.

106. 106f. 107. 107.

IX.2 Kurt Reidemeister: Mathematik zwischen Mallarmé und Rilke

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viel näher, als es zu Anfang scheint. Und das aufgehende Verständnis versetzt uns befreiend fast immer in einen einfachen natürlichen Anblick einer in sich beruhenden, auch sich selbst sich erklärenden, in sich schwingenden Gestalt“.74 In der Monographie Von dem Schönen (1947) legt Reidemeister sowohl eigene Lyrik-Interpretationen als auch selbstgeschriebene Gedichte vor.75 Der erste Essay, Von der Einsamkeit des Geistes, wird mit ästhetischen Reflexionen eröffnet: „Das Schöne überwältigt den Menschen, indem es auftaucht, in sanfter Weise“.76 Aus der Gegenüberstellung von Alltag und dem Schönen entwickelt Reidemeister einen Gegensatz. Dem Schönen wird die Fähigkeit zugesprochen, zu bezaubern und zu verwandeln. Die Erfahrung des Schönen wirke sich auf den Menschen aus und verändere ihn. Sie fördere dabei das Empfindungs- und Urteilsvermögen. Außerdem behauptet er, daß das Schöne undefinierbar sei.77 Die Unmöglichkeit, das Schöne zu definieren, führt er auf die Ontologie des Schönen zurück. Durch Definition würden Dinge verfügbar gemacht. Das Schöne sei aber gerade dem Wesen nach etwas Unverfügbares, also etwas das nur in seiner Unverfügbarkeit als schön erscheine. Also müsse jeder Versuch, das Schöne zu definieren, scheitern. In einem Figuren betitelten Band, der im Jahr 1946 erscheint, versammelt Reidemeister Assoziationen zu verschiedenen Themen, die sich meist nur über ein bis zwei Seiten erstrecken. Dort setzt er sich ebenfalls mit der Frage nach dem Schönen auseinander: „Richtiger scheint es mir, die Kunst aus der Lust am Vorstellen und die Schönheit aus der Intensität vorgestellter Bilder abzuleiten. Nachahmung ist nur ein Mittel, solche Bilder hervorzurufen“.78 Kommerell beurteilt Reidemeisters Schrift, als er seinen Verleger Klostermann am 8. November 1942 bittet, sie zum Druck anzunehmen: Ich les heute ein Manuskript des Mathematikers Reidemeister (der auch philosophisch hervortrat und ein großer Plato-Kenner ist), das mich außerordentlich angesprochen hat, und ich dachte, ob Sie es nicht veröffentlichen könnten. Man müßte einen hübschen Titel dafür finden. Es sind Aphorismen längerer Ausdehnung, etwa 4 Seiten, über verschiedene Gegenstände; Cusanus, Pan, Geist, Ich, Duino, Gedanken eines Negers u.s.w.; sehr verdichtet und wortesparend, dabei in der Form geschmeidig und durchsichtig. Ein schönes reines Deutsch, das den größten Anspannungen des Denkens gewachsen ist, ohne sich in einen Cliquen-Jargon oder eine esoterische Fachsprache auch nur im Geringsten zu verlieren. Ich bin im Zweifel, ob ich diese Äußerungsart poetisch oder philosophisch nennen soll. Am ehesten ließe sie sich mit Paul Valéry’s Prosa vergleichen. Ich könnte mir wegen der

74 75 76 77 78

Ebd. S. 108. Vgl. Reidemeister, Kurt: Von dem Schönen. Essays, Gedichte, Hamburg 1947. Ebd. S. 7. Vgl. ebd. S. 12. Reidemeister, Kurt: Figuren, Frankfurt/M 1946, S. 27.

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reizvollen, anregenden Kürze, die immer sehr viel nachklingen läßt, auch eine ziemliche Wirkung versprechen. Bei solchen Productionen entscheidet die Person; und hier ist wirklich eine Anmut der Gebärde, ein Charme im Tiefsinn, eine originelle Anschauung und Sprachkraft zu rühmen. – Ich entnahm einem Gespräch, daß er die Sachen gern veröffentlichen würde. Er weiß nicht, daß ich Ihnen schreibe; ich wüßte gern vorher, ob überhaupt daran zu denken ist, ehe ich ihn aufmuntere. Der Umfang würde wohl 40–50 Druckseiten sein. Könnten Sie mich wissen lassen, ob Sie prinzipielles Interesse dafür hätten?79

Klostermann willigt nach Prüfung des Manuskripts ein,80 bis zur Publikation dauert es allerdings noch bis nach dem Krieg. Schließlich erscheint nach Vermittlung Kommerells Reidemeisters Schrift 1946 im Vittorio Klostermann Verlag. Der fünfte Essay aus dem Interpretationsband Von dem Schönen, der der längste Essay und der einzige mit Unterkapiteln ist, behandelt die Gedichte als schöne Gebilde. Zum Auftakt des ersten Unterkapitels Die Unersetzlichkeit des Gedichts legt Reidemeister seine Definition eines Gedichts vor: „Gedichte sind aus Worten geformte Gebilde, welche in Zeit erscheinen. [...] Gestalt ist unteilbar und ungeteilt erscheinen Gedichte als Form in Zeit; so sind sie beständig im schweifenden Geist, so sind sie schön“.81 Dann äußert er sich zu ihrer Konstitution: „Das lyrische Gedicht jedoch steht unter dem Gesetz der Zeit und seine Zeit ist die Gegenwart. Gedanken sind zeitlos, berichtet wird Abwesendes oder Vergangenes, das sich zutrug. Empfinden aber ist auf Nähe und Dichte angewiesen und nur aus der Anwesenheit des gebärdeten Worts entsteht die erfüllte Gegenwart, die den lyrischen Inhalt beherbergt“.82 Die Aussagen, die der Dichtung Gesetzmäßigkeiten zuschreiben, erinnern an die Vorstellungen, die Kommerell in Vom Wesen des lyrischen Gedichts ausführt. Reidemeister legt dabei einen ähnlichen Hang zur Schematisierung wie Kommerell an den Tag: „Überlassen wir uns dem Gesetz des Gedichts, so begegnen uns alle diese empfundenen Dinge, die in der Gestimmtheit geborgen sind“.83 Ein Essay trägt den Titel Über Gebärdung. Darin führt Reidemeister sein Konzept der Gebärde aus: „Was ich meine, ist, daß das Gebärden und sich Gebärden zu den ursprünglichen lebendigen Tätigkeiten der Seele gehört“,84 denn die Gebärde sei als „die formende Kraft und das Sein der Seele selbst

79

DLA Marbach, Brief Kommerell an Vittorio Klostermann vom 08.11.1942, Nachlaß A: Klostermann. 80 Vgl. DLA Marbach, Brief Vittorio Klostermann an Kommerell vom 24.11.1942, Nachlaß A: Klostermann. 81 Reidemeister, Schönen, S. 29. 82 Ebd. S. 29f. 83 Ebd. S. 40. 84 Ebd. S. 16.

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zu spüren“.85 In dem Essay wird eine Parallele zwischen Begreifen und Gebärde aufgebaut. Die Gebärden formten den Menschen auf allen Ebenen. Das Verhältnis von „Einzelgebärde“ zur „reinen Gebärdung“ stellt eine TeilGanzes-Relation dar. Reidemeister arbeitet ebenfalls den dynamischen Charakter der Gebärde heraus, die „eine Veränderlichkeit zweiter Stufe [besitze], da Bewegung ja selbst schon Veränderung ist“.86 Dann stellt er eine Verbindung zwischen Kunst und Gebärde her: „Aus ihrem Wesen heraus legt sich die Kunst stets eine übersichtliche Beschränkung der Mittel auf. Und wie Vereinfachung einer der Wege ist, auf denen sie ihrem Ziele nachgeht, so ist auch die aus dem seelischen Wirkungszusammenhange gelöste, die abgelöste und ganz im Anschaulichen hervorgebrachte Gebärde ein ursprüngliches Anliegen für sie“.87 Er setzt die Gebärde in Beziehung zum Klang und eröffnet damit einen weiteren Aspekt: Während die Gebärde vorschwebend ist und auf eine gestaltende Kraft bezogen bleibt, die außer uns da ist, berührt der Klang uns so, daß wir selbst darauf eingehen können. [...] Indem sich Klang und Gebärde und die von ihnen ausgehenden Wirkungen vermischen, begibt sich die wunderbare Vertauschung von Innen und Außen, mit deren Schönheit das lyrische Gedicht uns so oft verwirrt.88

Das Konzept der Gebärde entwickelt Reidemeister, um die Wirkung von Lyrik zu erklären. Die Gebärde entspringe der Seele, wirke auf alle Ebenen des Menschen und vermische sich in der Wirkung nach außen mit dem Klang. Während bei Kommerell Gebärde – nicht nur, aber vor allem – auf das Drama und die Präsenz auf der Bühne bezogen ist (vgl. Kap. V), rückt Reidemeister die Gebärde über den Klang stärker in den Bereich der Lyrik. Er wendet sich gegen Positionen, die die Sprache zum reinen Ästhetizismus erklären, und hält ihnen die Gebrauchsfunktion der Sprache entgegen: „die elementare Funktion der Sprache ist und bleibt es, Inhalt zu fassen und Etwas auszudrücken und darzustellen“.89 Nicht zuletzt anhand des damals aktuellen Begriffes „Sprachkunstwerk“ zeigt Reidemeister, daß er die literaturwissenschaftlichen Debatten der Zeit aufmerksam verfolgt hat.90 Am Schluß der gesamten Essays steht sein Fazit:

85 86 87 88 89 90

Ebd. S. 17. Ebd. S. 19. Ebd. S. 20. Ebd. S. 32f. Ebd. S. 46. Emil Staiger hatte den Ausdruck 1939 in Die Zeit als Einbildungskraft der Dichtung noch nicht erwähnt. Klemens Heselhaus spricht 1943 in Annette von Droste-Hülshoff. Die Entdeckung des Seins im 19. Jahrhundert von „Wortkunstwerk“. Nach dem Krieg, 1948, erscheint Wolfgang Kaysers bekanntes Interpretationswerk Vom sprachlichen Kunstwerk. 1955 spricht dann auch Staiger in Die Kunst der Interpretation von „Sprachkunstwerk“.

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Doch machen wir Halt! Wir haben uns von verschiedenen Seiten einem Bereich genähert, in welchem die fühlenden Kräfte sich unmittelbar im Bildhaft-Bildlichen spiegeln und klären und daß die Sprache des Alltags und des Verstandes in dieses zarte und noch wortlose Spiel nicht eingreift, ohne es zu zerstören, ist uns gewiß. [...] Doch wenn es eine richtige Einsicht war, daß nur die lyrische Sprache die Quelle erschließt, aus der sich die Wahrheit des Schönen speist – wie dürften wir von einer Erörterung des Inhalts von Gedichten mehr erwarten, als daß sie endet mit dem Blick auf das von innen genährte Sein des Erscheinenden, von welchem die Dichtung zeugt.91

Reidemeister behauptet also, daß nur die lyrische Sprache die Wahrheit des Schönen aufdecken könne. Im letzten Satz gibt er seinen Ausführungen wieder eine ontologische und damit philosophische Wendung. Reidemeister geht in diesem Zusammenhang auf das Thema Sein und Schein ein – das schon Kommerell, Reinhardt und Otto beschäftigt hatte – und vertritt die Auffassung, daß das Schöne als vermittelnde Instanz zwischen Schein und Sein auftrete. Zudem stellt er eine Verbindung zwischen Form und Gestimmtheit her: „Gestimmtheit nämlich ist Form, die erscheint: der Geist, der ist, erscheint sich so. Und von dem zustimmenden Echo des Schönen bestätigt fühlt er sein Wesen, sein Schicksal – endlich zu sein. Nur im Erscheinenden wird ihm das Glück der Wahrheit“.92 An einer anderen Stelle fügt er hinzu: „Wir stehen in der Spannung von Schein und Sein und wenn wir fühlen, daß Erdachtes oft dem Erscheinenden schadet, so können wir doch nicht, um das Schöne zu retten, die Wahrheit fliehen“.93 An die Essays schließen sich etwa 40 Gedichte von Reidemeister an. Das Gedicht Werdende Seele kann als exemplarisch für Reidemeisters Stil angesehen werden.94 Insgesamt handelt es sich bei den Gedichten um ‚Professorenlyrik‘: Sie sind formal bemüht, inhaltlich jedoch nicht immer überzeugend. Es fehlt an Sprachsensorium: um dies zu kompensieren, wird nach Ausdrücken gegriffen, die es allerdings nicht vermögen, einen emotionalen Gehalt zu transportieren. Nur an einigen Stellen tritt eine ansprechende Auseinandersetzung mit dem Problem nicht erfüllter Liebe hervor. In seiner Schrift Figuren (1946) setzt sich Reidemeister mit Autoren wie Rilke, Seneca, Homer, Pascal und mit Themen wie Mythos, Prometheus, Bewußtsein auseinander. In den Assoziationen kommt sein Sprachverständnis zum Ausdruck: „Aber nicht einmal der elementare Akt des Sprechens verläuft so, daß ein reiner, zuvor bewußter, in sich heller Sinn aus dem Innern Daß Reidemeister diesen Ausdruck im Jahr 1947 verwendet, zeigt, wie aufmerksam er die Neuerscheinungen in der Germanistik wahrnimmt. 91 Reidemeister, Schönen, S. 54. 92 Ebd. S. 10. 93 Ebd. S. 24. 94 Ebd. S. 66.

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hervortretend seinen Wortleib bildete. [...] In einer solchen Spannung fühlt man, daß es einen bewußten Leitfaden zum passenden Wort nicht gibt und daß der Sinn zunächst nur in einem Bestreben besteht, das sich nur spüren, aber nicht deutlich erkennen läßt und erst am treffenden Wort seine Klarheit gewinnt“.95 Seine Einschätzung von unausgesprochenen Botschaften deutet in eine ähnliche Richtung wie Kommerells Ausführungen im Aufsatz über Die Sprache und das Unaussprechliche (vgl. Kap. V). In Figuren ist ein Kapitel RILKE gewidmet. Darin unternimmt Reidemeister einen originellen Vergleich zwischen Malte Laurids Brigge und Theodor Fontanes Der Stechlin: Von außen gesehen beschreibt Fontane diesen schwer faßbaren Vorgang. So wird im Stechlin eine Wirklichkeit geschildert, die für die Menschen zu weit geworden ist; denn Wirklichkeiten können zu weit und zu eng werden und sie können abblättern wie ein altes Ölbild oder eine gekalkte Wand und Fugen zeigen, wo bisher alles glatt und eben war. [...] Auch sonst sind Fontanes Menschen oft Gefangene einer Wirklichkeit, die nicht zu ihnen gehört. Sie handeln im Grunde nicht, sie spielen nur eine Rolle, und ein Ende zu machen, das ist der eine traurige Entschluß, der ihnen freigestellt scheint, in einer Freiheit hinter den Kulissen, möchte ich sagen. Das Stück darf plötzlich abgebrochen werden, unwiderruflich und ohne ein Wort der Erklärung. Der Verzweifelte fällt dann gleichsam aus der Welt heraus, die sich über ihm schließt wie das Meer über einem versunkenen Schiff. Diese Menschen scheitern am Hergebrachten aus Furcht vor der Einsamkeit, an deren Schwelle sie standen. Aus Wirklichkeitssinn versäumen sie ihre eigene Wirklichkeit: das Leid ihrer vernachlässigten Seele. Sie leben zwischen Schatten und verkümmern das Ja und Nein ihrer Empfindung um der Rolle willen, die sie sich zurechnen.96

Dem stellt er Rilke entgegen: „Denn der Mut, im äußeren Mißlingen auszuharren, den kühlen Lufthauch der Leere und des Nochnichtwissens auszuhalten und vorläufig zu werden, um aus einer fertigen Welt zu sich selbst zu kommen – der ist erst eine Entdeckung Malte Laurids Brigges, dieser seltsame Mut, der einen Kampf jenseits des gedeuteten Daseins auf sich nimmt. [...] Und ganz ähnliches gilt von Rilke selbst, der hinter Malte steht und der uns nicht nur als Dichter, sondern in dem umfassenden Werk seiner Briefe auch als Person entgegentritt. Er ist immer mit dem Wirklichen befaßt, aber nur vom Innern und nur von seinem eigenen Innern her“.97 Reidemeister vertritt die Ansicht, daß ein Autor durch Briefe und andere persönliche Zeugnisse dem Betrachter als Person entgegentrete – darauf wird bei Kommerells Rilke-Rezeption zurückzukommen sein. Die Leere, mit der Rilkes Figuren konfrontiert sind, deutet auf Wahrnehmungen der Moderne als Krise. Diese

95 Reidemeister, Figuren, S. 41. 96 Ebd. S. 44f. 97 Ebd. S. 46f.

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Leere auszuhalten, meint, ähnlich wie bei Kommerell, die Wiederherstellung des Menschen auf einer höheren Stufe des Daseins. IX.2.2 Reidemeisters Kommerell-Auslegung Das Bild, das Kommerell von Reidemeister entwirft, wird in einem Brief an Karl Reinhardt vom 10. Januar 1943 deutlich: „Ein Leckerbissen ist mir aber Reidemeister; er dichtet und philosophiert in einer seltsamen, introvert wollüstigen Weise und bringt auch in die Mathematik etwas wie Belustigung; er sieht schön aus, ist unendlich verspielt und eigentlich als einziger frei von dem hiesigen geistigen Absolutismus, der heroisch auf das Privatleben verzichtet. Er und ich sind sozusagen die einzigen Frauen... Na und so ist es eben...“ (BA 410). Kommerell und Reidemeister stehen zwischen 1942 und 1944 im Briefaustausch. Hatte Reidemeister sich in der Schrift Von dem Schönen mit dem Klang beschäftigt, so geht Kommerell in einem Brief an ihn vom 6. Februar 1942 auf den Ton ein: „Buchstaben mögen eine schöne Sache sein; und doch sind Sie unzulänglich, die Töne auszudrücken. Töne können wir nicht entbehren, und doch sind sie bei weitem nicht hinreichend, den eigentlichen Sinn verlauten zu lassen; am Ende kleben wir am Buchstaben und am Ton, und sind nicht besser dran, als wenn wir sie ganz entbehrten, was wir mitteilen, was uns überliefert wird, ist immer nur das Gemeinte der Mühe gar nicht wert“.98 Kommerell sieht die Bedeutung jenseits von Buchstabe und Ton in der Gebärde liegen. Germanist und Mathematiker tauschen sich auch über Poesie aus. Am 1. August 1943 schreibt Kommerell an Reidemeister: „Mit mir ist es weit gekommen: ich habe ein Sonett gemacht. Was ich Ihnen doch, auf der Rückseite, mitteilen zu müssen glaube: Die Scheintote Er selbst war, und sein Schmerz um sie, unbärtig. Sie schien so tot, als er vom Schmerz sein kann. Doch hat sein Kinn, auf das die Träne rann Tagaus tagein – er ist es nicht gewahr. Vor lautem Weh – ein kleiner zuletzt ein Bärtchen fertig, Wovon die Leiche, blinzelnd dann und wann, aus vollem Halse lachte und begann (Dem erst Beschickten fast widerwärtig)

98 DLA Marbach, Karte Kommerell an Kurt Reidemeister vom 06.02.1942, Nachlaß Kommerell, A: 84.1502/1.

IX.2 Kurt Reidemeister: Mathematik zwischen Mallarmé und Rilke

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‚Dies dein Bartwunder weckte mich vom Tode, Dem ich verfallen war vor Langeweile. Zum Küssen, nein!‘ Drauf in galanter Art, ‚So tu’s!‘ Drauf sie: ‚Welch eine Episode! Zwar leb‘ ich. Doch für anderswen. Ich eile.‘ Und geht, und lacht ihn im gehn: ‚Ihm wuchs ein Bart!‘“99

In der Übermittlung dieses Sonetts wird deutlich, wie ausgeprägt die spielerisch-ironische Seite im geistigen Austausch zwischen Kommerell und Reidemeister ist. Der beantwortet den Brief am 10. September 1943 und lobt Kommerells Verse: „Das Sonett hat etwas Chinesisches, und gefällt mir“.100 Er bezieht das Gedicht auf sich selbst: „Ich finde es ganz reizend von Ihnen, daß Sie das Ferienschweigen gebrochen haben. Meine Frau sagt täglich zu mir, schreib‘. Aber mir ist es wie dem Jüngling ergangen, der die Scheintote auf seinen Knien beweinte. Was ich liebte, war jedenfalls auch scheintot, und nun macht es sich lachend davon. Warten Sie, bis Sie mich wieder sehen: unbärtig, faltenlos, schäbig fast und völlig gestaltlos. Sie sind in der glücklicheren Lage, daß Sie dem Geist den Rücken kehren können. Bei mir ist es umgekehrt...“. Dann berichtet er von der Bombardierung Hamburgs und den Auswirkungen auf die befreundeten Wissenschaftler Bruno Snell101 und Ernst Wolf: „Genug der Klage. Ich hatte einen Brief aus Hamburg [bekommen] – daß Snell alles verloren hat und versehentlich nur einen Koffer rettete, der sich als ein fremder herausstellte, daß er in Leipzig Bücher kauft und ich weiß nicht wie Möbel u. daß seine Freundin 2 Stunden vor dem Angriff in die Ferien gefahren war. Wolf konnte mit Frau nach dem 2. Angriff in die Lüneburger Heide entkommen. Die Mathematiker leben alle, aber teilweise ohne Hausrat“. Abschließend schildert er seine eigene Situation: Hier sind wir nun im Aufbruch. Ich habe gerade zwei Querseiten voll Verse ins Gästebuch geschrieben. Die Koffer stehen gepackt neben mir, auch die göttliche Komödie ist darin verschwunden (welche Episode) (meine letzte). [...] Das Coronaheft muß erschienen sein, denn das Wiener Tagblatt will in Bezug darauf etwas von mir haben, was ich nicht gerne hörte. Von der F.Z. habe ich nichts mehr gesehen, obgleich ich selbst noch ein u. zweimal darin erschienen sein muß. Aus den Ferien bringen wir uns einen netten Bombenflüchtling mit, eine Nichte, die fast so gut

99 DLA Marbach, Brief Kommerell an Kurt Reidemeister vom 01.08.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1502/2. 100 DLA Marbach, Brief Kurt Reidemeister an Kommerell vom 10.09.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1613/2. Dort auch die folgenden Zitate. 101 Zum Verhältnis zwischen Kommerell und Snell siehe DLA Marbach, Briefe Kommerell an Bruno und Herta Snell vom 13.10.1943, 30.12.1943 u. 28.04.1944, Nachlaß Kommerell, A: 84.1506–84.1507; sowie Briefe Bruno Snell an Kommerell vom 09.04.1943 u. 03.10.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1639/1–84.1639/2.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

mit verteilten Rollen liest wie Ihre verehrte Frau Gemahlin (ob sie mir ihre Gunst bewahrt haben wird?).

Die Bedeutung der Lesekreise, die in diesem Kapitel im Vordergrund stehen, wird aus diesem Brief wieder sichtbar. Das gemeinsame laute Lesen mit verteilten Rollen als performativer Akt fördert das Verständnis der klanglichen Seite von Literatur. Kommerell antwortet Reidemeister in einem undatierten Brief, vermutlich vom Dezember 1943: „Es ist trefflich, wenn Sie aller Heimsuchung durch geistige Gnaden entrieten (falls Sie mir hierin lautere Wahrheit versichern!) denn diese Gnaden sind zehrender, als unser derzeitiges Fleisch noch betreiben kann, und Sie zumal hatten eine Erfrischung Ihrer Pflanzen- und Tierseele äußerst nötig“.102 Kommerell berichtet von seinen Arbeiten an Etwas über die Kunst Calderons (vgl. Kap. VI): „Ich schreib an meinem Calderon Aufsatz der lang wird! Wie sehr hilft mir Ihre Gleichung des mathematischen Zeichens und der poët. Formel, und die Vorstellung, wie würde Reidemeister Calderon lesen, wenn er ihn lesen würde – nach dieser bring‘ ich etwa meine Gedanken in Reih und Glied“. Reidemeisters Einfluß auf Kommerell wird an der Stelle deutlich, wenn er sagt, daß er den Aufsatz für den Leser Reidemeister anlege. Kommerell schildert ebenfalls seine zukünftigen Projekte: „Mir ist’s nicht schlechter gegangen als ich verdiene: D.h. ich habe nicht viel zustande gebracht, aber auch nicht nichts, und mir sozusagen als mein Lehrer in einem leeren Schreibheft in Schönschrift die Buchstaben an den Anfang der Linien geschrieben, die ich als Schüler in den kommenden Monaten vollzuschreiben habe. Die Menschenleere hier oben [auf der Bühlerhöhe] ist erquickend, solang man nicht ermüdet. Dann aber (und überhaupt) würde man gern dazwischen ein gutes Wort reden und in ein echtes Gesicht sehen“. Er beschreibt seine Arbeitstechnik, stichpunktartige Notizen als Vorstufe zu Publikationen niederzuschreiben.103 Sie hat ihren Ausdruck in den zahlreichen, im DLA Marbach aufbewahrten Mappen gefunden. Kommerell, der noch sein Gedicht Narziß beilegt, schildert außerdem seine Freude auf das nächste Zusammentreffen des Marburger Kreises mit Reidemeister, Bultmann und Ebbinghaus: „Ich freue mich, bis der kleine aber erlesene Kreis aller Abnormitäten und ungerader Größe und unregelmäßiger Unzeitwörter wieder beieinander ist und sich an den wechselseitigen Volleitäten und Illiozismen ergötzt ... Vielleicht sind wir aber zusammen ein Ganzes, ohne es zu wissen (Gegenprinzip zu Leipzig!)“. Mit der Anspielung

102 DLA Marbach, Brief Kommerell an Kurt Reidemeister o. D. [Ende Dez. 1943], Nachlaß Kommerell, A: 84.1502/3. Dort auch die folgenden Zitate. 103 Das Verfahren erinnert außerdem an den ‚ABC-Calender der Weltliteratur‘, den Kommerell zusammen mit Curtius anlegt (vgl. Kap. VI).

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ist der Kreis um Gadamer und Reinhardt in Leipzig gemeint. Am 2. Januar 1944 berichtet Reidemeister, wie er Kommerells Gedicht den anderen Mitgliedern des Lektürekreises gezeigt habe: Denken Sie – ich habe in diesen Festtagen drei Gedichte geschenkt bekommen. Eines von [Bultmanns Tochter] Heilke Bultmann, eines von der Dichterin [MarieLuise Kaschnitz] und eines zu Neujahr [von Kommerell]. Und da wir gestern bei der Frau [Ebbinghaus], die Sie schätzen, weil ohne sie Marburg langweilig wäre, zu Gaste waren, habe ich meine Schätze dort gezeigt. Unter anderem auch deshalb, weil ich die letzten drei Zeilen des Narziß nicht entziffern konnte. P.H. und Kempler scheiterten ebenfalls und während der Herr Direktor [Steinmeyer] sich der Sache annahm, machte ich eine Konjektur über den Sinn dieser Zeilen. P.H. erwiderte: ‚Wenn Kommerell diese Konjektur erfährt u. sie stimmt nicht, so wird er sie töten wollen.‘ Inzwischen hatte der Direktor erkannt, daß ein seltsames Zeichen als die Verschmelzung eines r mit einem Komma zu verstehen sei und nun denken Sie unseren Jubel darüber, daß sich alles in eine bisdahin [sic] nur geahnte Harmonie auflöste.104

Diese Schilderung gibt einen guten Einblick, wie Kommerells Lesekreise funktionierten. Im Fortgang des Briefes berichtet Reidemeister von den Freuden und Sorgen des neuen Jahres: „Ich ließ mich dann, wenn auch nur ungern, überreden, die Werke der gnädigen Frau für einen Tag zu überlassen. Sie haben das Jahr 1944 mit feinerlesenem [sic] Echo und Widerhall begonnen. Dagegen hat mir Herr von Hüzeler[?] meine Gedichte als durchaus ‚unkrönbar‘ zurückgereicht – bis auf die Valery Übersetzung[en], die im Haus von Rudolf Alexander Schröder verloren gegangen sind“. Anschließend schildert er einen Traum, in dem er die Kriegserlebnisse verarbeitet: „Ich träumte von Ihnen, sie waren milde wie die Luft und anperlend, sich auf gelungenem aus zu ruhen, was mich erfreute. Das Donnerstags-Kränzchen würde durch Alarm gestört. Ich drang trotzdem geduckt bis zu Ihnen vor und fand Ihre Frau in einem weinroten Hemdchen vor, das sie aus wenig erfreulichen Gründen trug. Schwarzwurzeln wurden weiß geschält, und Reis daraus gehärtet, den wir beim Lesen gelichtet hatten als sie in der Rolle, des Leittiers im Brudermord, sagen mußte: ‚ich bin nicht hübsch ohne tugendhaft‘. Sie meine nämlich, wir hätten ihr keine Tugendhaftigkeit zugetraut“. Reidemeister skizziert den intellektuellen Kreis, in dem Dramen rezitiert, Gedichte ausgetauscht und geistige Gespräche geführt wurden. Im Abschnitt zu Rudolf Bultmann wird dies wiederaufgegriffen. In einem nicht datierten Brief an Erika Kommerell legt Reidemeister eine Interpretation von Hofmannsthals Drama Der Schwierige, das im Kreis gelesen wurde, vor:

104 DLA Marbach, Brief Kurt Reidemeister an Kommerell vom 02.01.1944, Nachlaß Kommerell, A: 84.1613/1. Dort auch das folgende Zitat.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

Ich möchte zu der eben entstandenen Karte meiner Frau rasch noch einen Handkuß des Grafen Hechingen beifügen und Ihnen mitteilen, daß ich Sie und die Unterstützung, die sie mir von Ihnen versprochen hätte, sehr vermißt habe. Denken Sie, man stellte die Behauptung auf, es bestünde nur die Alternative, ob Hans Karl Bühl aus Schwäche oder aus Egoismus entwickelt aufzufassen wäre. Zweifellos, hieß es von anderer Seite, wäre er ein typischer Charakter eines bestimmten österreichischen Adelsgeschlechts und nicht einer Schicht die durch die Unfähigkeit zu handeln sich selbst gerichtet habe [...]. Der Sohn würde noch schwieriger werden, hieß es als die Verwirrung glänzte nach der Verlobung dächte er ja an nichts anderes als, der Bedrohung durch Altenwyls Absicht, ihn zu einer Ruh im Herrenhaus zu nötigen zu entgehen. Ich bitte Sie, haben diese Meinungen irgendeine Bedeutung? Sind sie nicht épatant unartig?105

Reidemeister hat nicht nur Gedichte verfaßt, sich mit dem Wesen der Lyrik theoretisch auseinandersetzt und französische Dichtung übersetzt, er hat auch Kommerells Romanfragment interpretiert. In der Sammlung Essays, Notizen, Poetische Fragmente (EN), die Inge Jens 1969 herausgegebenen hat, legt Reidemeister seine Interpretation Über Max Kommerells nachgelassenes Romanfragment vor.106 Eine abweichende, umfangreichere Fassung ist im DLA Marbach erhalten.107 Kommerell hatte sich gegen Ende seines Lebens mit dem Vorhaben beschäftigt, eine Erzählung im Stile des ‚barocken‘ Schäferromans zu verfassen. Die Entwürfe umfassen ca. 110 000 Worte auf 200 Schreibmaschinenseiten (vgl. EN 254). Daraus sind bisher die Teile Die verkindlichten Gatten, Hieronyma, Ankunft Elvirens in der Höhle. Losbittung und Das Buch der geheimen Ergänzungen – Fragmente veröffentlicht worden.108 Reidemeister skizziert den geplanten Gang der Handlung und führt die handelnden Figuren ein: „Im allgemeinen aber fehlen direkt fi xierbare Daten, und die Helden sind nicht ängstlich bemüht, sich als historisch auszuweisen. Ihre Psychologie ist oft ganz modern“ (EN 255). Auf eine der Figuren geht Reidemeister genauer ein: „Die Gestalt Eugenios ist im jetzigen Zustand der Ausarbeitung am besten geraten. Sie ist plastisch, weil sie zugleich Echtes und Unechtes enthält und durch alle Stufen der Echtheit im Roman hindurchragt, und sie ist dramatisch, weil sie eine innere Entwicklung hat“ (EN 266). Die Protagonisten ziehen sich vom Hof in ein ländliches Idyll zurück, um dort ihre Liebe auszuleben: „Diese entwickelten eine Art Liebeswissenschaft, eine

105 DLA Marbach, Brief Kurt Reidemeister an Erika Kommerell o. D., Nachlaß Kommerell, A: 86.1714. 106 Vgl. Reidemeister, Kurt: Über Max Kommerells nachgelassenes Romanfragment, in: EN, S. 253–276. 107 DLA Marbach, Reidemeister, Kurt: Über den Nachlaß von Max Kommerell, Nachlaß Kommerell, D: 86.534. 108 Vgl. Kommerell, Gatten, S. 516–529; ders., Hieronyma, 1954; ders., Ankunft, S. 402– 437; und: ders., Ergänzungen, S. 277–380.

IX.2 Kurt Reidemeister: Mathematik zwischen Mallarmé und Rilke

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Hierarchie der Liebes-Arten, -Nöte und -Freuden, und hier im Tal der Schäfer wurde in einer allerdings im allgemeinen ganz verfänglichen Weise nach dieser Tabulatur gelebt“ (EN 256). Das Romanfragment, so Reidemeister, konzentriere sich auf die „Problematik des Wahr- und Echtseins, in welcher solche Menschen stehen, für welche die Kunst ein Mittel der Daseinsbewältigung ist“ (EN 268). Im Anschluß an seine Interpretation stellt sich Reidemeister die Frage, welche Motive Kommerell bewegt hätten: „Weniger ist es die Fortführung und Verflechtung der Schicksale, was wir wissen möchten und was zu erfahren uns aussichtsvoll erscheint als dies, was wohl den Dichter veranlaßt haben mag, sich diese eigenartige Welt zu erfinden und welches im Grunde sein Anliegen war, als er sich an die Ausführung dieses so groß angelegten Entwurfes machte“ (EN 268). Davon ausgehend stellt er einige Überlegungen zu anderen Schriften Kommerells an: „Der Gedanke, daß Dichtung eine autonome Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und der Welt sei, durchzieht das ganze Schrifttum Kommerells“ (EN 268). Über die wissenschaftlichen Studien urteilt Reidemeister, „daß sie das Verständnis für Dichtung dadurch zu vertiefen suchen, daß sie sie gleichsam in statu nascendi, d. h. als einen Akt einer geistigen Bewältigung von Etwas aufzeigen und von da aus deuten“ (EN 268f.). Dies zeigt er am Beispiel von Kommerells Aufsatz Schiller als Psychologe (vgl. Kap. VII), der auf die „Psychologie des Täters“ fokussiert sei (EN 269). Kommerells Vorgehen charakterisiert Reidemeister mit den Worten: „Wir bemerken, daß das dichterische Welterfassen für diese Sicht in die Nähe des begrifflich vernünftigen Erfassens rückt. Daß umgekehrt das begriffliche Erfassen dichterische Züge bekommt, [wird] an der Behandlung, die Schillers ästhetischer Theorie an gleicher Stelle zuteil wird, erläutert“ (EN 269). Kommerells Gedanken über Gedichte, die im Einleitungsteil das Wesen des lyrischen Gedichts behandeln, mit dem sich Reidemeister in seiner Schrift Von dem Schönen auseinandersetzt, thematisiert er ebenfalls: „Der Gedanke, daß Dichten geistige Bewältigung ist, beherrscht auch durchaus Kommerells Deutung des lyrischen Gedichts. [...] Jedes Goethegedicht ist begriffenes Erlebnis, ja das Begreifen darf schon im Erleben selbst mitgedacht werden. Echtes Erleben ist, den Gehalt des Begegnenden zu erschöpfen. Aus der Begegnung von Welt und Ich entwickelt er dann den Begriff des Moments, der dem Schema zugrunde gelegt ist, in das er die Gedichte Goethe einordnet“ (EN 270f.). Damit beschreibt er Kommerells Hang zur Schematisierung, der z. T. auch bei Reidemeister vorliegt. Reidemeister nutzt seinen Aufsatz, um Kritik am George-Kreis zu üben: „In seiner [Kommerells] unmittelbaren Nähe vollzog sich ja die allmähliche Erstarrung neuentdeckter geistiger Möglichkeiten zu Geste, Kult und Dogma des Georgeschen Kreises“ (EN 273). Kommerells Lösung vom George-

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

Kreis schildert er als Drang zur Authentizität: „Die Auseinandersetzung aber war für ihn, der dem Kreise Georges angehörte und der ihn aus Liebe zur Echtheit, die nur in Freiheit gedeihen kann, verließ, unvermeidlich. Doch er spricht nicht darüber, er überwindet, indem er gestaltet“ (EN 273f.). Diese Gestaltung, die sich auch im Kaiserlichen Blut zeigt, bezieht Reidemeister vor allem auf Kommerells Gedichtband Leichte Lieder und die Kasperle-Spiele (vgl. Kap. III), mit ihrer „zugleich ironisierenden und ernsten Durchleuchtung der Vorläufigkeit, die aller geistigen Habe des Menschen anhaftet“ (EN 274). Von dort aus stellt Reidemeister wieder eine Verbindung zum Romanfragment her und greift das von ihm bereits an anderer Stelle thematisierte Konzept der Gebärde auf: „Die Analogie der eben angedeuteten Umweltspannung zu der Spannung der an zu viel Gebärde erkrankten spanischen Adelswelt des Romans [...] – diese Analogie ist offenkundig“ (EN 274). Reidemeisters Interpretation schließt mit dem Verweis auf die Entmythologisierung, auf die im Bultmann-Abschnitt näher eingegangen wird: „Dies Spiel ist so in sich versponnen, daß es die versteinerten Götter für die lebendigen hält. Den Mut, in die Entmythologisierung der Natur zu willigen, sichert uns aber die Entdeckung eines neuen lebendigen Spiegels der Seele, die Entdekkung der Musik“ (EN 276). Im folgenden werden Reidemeisters Äußerungen über Mitglieder des Marburger Kreises untersucht, um zu zeigen, wie genau – bei aller inhaltlichen Differenz – die gegenseitigen Kenntnisse der jeweils anderen Position waren. Reidemeister hat nicht nur zu den Schriften des Germanisten Kommerell Stellung genommen, sondern sich auch mit den Publikationen von Philosophen und Theologen auseinandergesetzt. Von Julius Ebbinghaus analysiert er einen Kant-Aufsatz. In dem Artikel Mathematik und Erkenntnistheorie (1958) führt er aus: So glaubt Ebbinghaus in seinem Aufsatz ‚Kant und das 20. Jahrhundert‘109 Kants Lehre vom Raum in einer Weise retten zu sollen, bei welcher sowohl der Grund dafür, daß die Gegenstände des Erfahrungswissens Erscheinungen sind, wie die Notwendigkeit der reinen Anschauung stillschweigend zerstört wird. [...] Und nach einer übrigens nicht als zulässig nachgewiesenen Anerkennung eines Weltraums mit nichteuklidischer Metrik schiebt er dem allfälligen Gegner den Nachweis zu, daß dadurch unmöglich gemacht würde, daß alles was überhaupt auf Raum und Zeit bezogen ist, den Charakter bloßer subjektiv bedingter Erscheinung habe. Wie mir scheint, ist aber die Lehre von der reinen Anschauung als Form der Sinneswahrnehmung auch psychologisch nicht haltbar.110

109 Gemeint ist Ebbinghaus, Julius: Kant und das 20. Jahrhundert, in: Studium Generale 7 (1954), S. 517–519. 110 Reidemeister, Kurt: Mathematik und Erkenntnistheorie, in: Studium Generale 11 (1958), H. 2, S. 99–107, hier: S. 101f.

IX.2 Kurt Reidemeister: Mathematik zwischen Mallarmé und Rilke

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Diese massive Kritik aus Göttingen, wo Reidemeister mittlerweile lehrt, wird den früheren Marburger Freund getroffen haben. Schon zur Marburger Zeit hatte sich Ebbinghaus Aufzeichnungen von Diskussionen mit Reidemeister gemacht, in denen der Mathematiker die Kantsche Erkenntnis a priori kritisiert: „R.[eidemeister] will beweisen, daß die Gültigkeit eines Satzes a priori fordere, daß man diese (seine) Gültigkeit in einzelnen Erfahrungsfällen nachprüfen könne. – – Ich wandte mich gegen den Irrtum, als könne man die Erkenntnis a priori dadurch bekämpfen, daß man in ihrer Behauptung einfach einen durch mangelnde Erfahrung verursachte Täuschung der Philosophen über die Tragweite allgemeiner Sätze sieht, die sich bei fortschreitender Erfahrung eben deswegen als Erfahrungssätze erweisen, weil sie durch diese Erfahrung eingeschränkt werden“.111 Reidemeister kritisiert nicht nur Ebbinghaus, sondern auch dessen Studienfreund, Martin Heidegger, der in den frühen 1940er Jahren mit Kommerell eine Kontroverse über die Interpretation Hölderlins geführt hatte (vgl. Kap. VIII). Reidemeister rezensiert die vierte Auflage von Was ist Metaphysik? (1943) und geht dabei besonders auf das neu hinzugefügte Nachwort, das drei Einwände widerlegen sollte, ein: Es [das Nachwort] schildert das exakte Denken als einen hartnäckigen Leerlauf aufgehender Rechnungen, das nur, weil die im Rechnen verbrauchte Zahl ins Endlose vermehrbar sei, in seinen Produkten versteckt den Anschein von Produktivität bekomme. Diese Formel verfehlt das Wesen des exakten Denkens. [...] Unerwiesen ist deswegen auch die weiterhin behauptete Ahnungslosigkeit des exakten Denkens. [...] Zusammenfassend ist daher zu sagen, daß die Frage, wie weit das Denken des Seins das Urteil über die Wahrheit der Stimmung überantwortet, offen bleibt.112

Das exakte Denken Reidemeisters wird gegen den existenzphilosophischen Ansatz Heideggers gesetzt. Die Kritik an der Existenzphilosophie, die in der Aufsatzsammlung Geist und Wirklichkeit. Kritische Essays (1953) fortgesetzt wird,113 wiederholt Reidemeister in Mathematik und Erkenntnistheorie: „Die dem so erweckten Denken zugemutete Leistung wird in Heideggers Seinsphilosophie durch eine Ermächtigung des (aus den Schranken des Wissens gelösten) Denkens vom Sein her gerechtfertigt: in diesem Denken lichtet sich

111 Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Ebbinghaus, Julius: Ms. Reidemeister, 5 Bögen. 112 Reidemeister, Kurt: Rez. zu Martin Heidegger: Was ist Metaphysik?, 4. Aufl., in: KantStudien 43 (1943), S. 497. Siehe auch Reidemeister, Kurt: Rez. zu Heinrich Scholz: Metaphysik als strenge Wissenschaft, in: Jahresbericht der deutschen MathematikerVereinigung 52 (1942), S. 90–91. 113 Vgl. Reidemeister, Kurt: Geist und Wirklichkeit. Kritische Essays, Berlin/Göttingen/ Heidelberg 1953, S. 91.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

das Sein, und zwar in einer Form des Wahrseins, welche nicht logisch geformt ist“.114 In der Aufsatzsammlung Die Unsachlichkeit der Existenzphilosophie. Vier kritische Aufsätze (1954) erneuert Reidemeister seine Kritik und nimmt wieder Heidegger gezielt ins Visier: „Die Existenzphilosophie dagegen beginnt mit einem Sprung, und zwar mit einem Sprung in die Ursprünglichkeit des Denkens“.115 Abschließend spitzt er seinen Konflikt auf folgenden Gegensatz zu: „Das gesuchte Problem ist also der Konflikt zwischen Ursprünglichkeit und Sachlichkeit im Anfang des Denkens“.116 Heideggers grundlegende Studie wird direkt kritisiert: „Die in dem Werk ‚Sein und Zeit‘ ausgebreitete Ontologie des Daseins weist zwar manche benennbare und in schlichtem Verständnis faßbare Einzelzüge des in der Welt Seins auf. [...] Aber all dies Faßbare und Verwendete ist nicht von der Mitte des Philosophierens her autorisiert, und wie das Verhalten in diesem Zwischenbereich auf die Mitte abzustimmen wäre, ist eine offene Frage“.117 Mit der Kritik an Heidegger wird eine Absage an George und seinem Kreis verbunden: Die im vorhinein verurteilten Gestalten des Verfalls sind aus der Apologetik des Georgekreises nun in das Vorfeld der Metaphysik übergesiedelt, um mit dem Witz der Spätlinge und der Müdegewordenen als Gefangene und Besiegte die Stätte zu bevölkern, wo ehedem offen mit Gründen gestritten wurde. [...] Wenn Gundolf in der Entwicklung Georges die Mächtestufe, die Geistesstufe und die Götterstufe unterscheidet, von der Verleibung des Gottes und der Vergöttlichung des Leibes im Hinblick auf den Gott-Mittler Maximin spricht, der nicht nur wie der Engel der Geiststufe den Weg der Wahrheit und das Leben zeigt, sondern ist, so ist dies problematisch.118

Hatte Kommerell den Machtanspruch Georges im Medium des Dramas über die Phokas-Figur depotenziert (vgl. Kap. IV), so nutzt Reidemeister seine Kritik an der Existenzphilosophie, um sie auf die heilsgeschichtlichen Verklärungen des George-Kreises auszudehnen. Reidemeister beschließt seine Essays mit Postulat für das exakte Denken: „Ich denke, das sollte jeder bedenken, der den Glauben an das Sein des Wesens vor einer lähmenden Faszination zu bewahren, für eine vernünftige Pflicht hält. Sachlichkeit sollten wir auch von Ekstasis berührt nicht entbehren mögen“.119

114 Reidemeister, Erkenntnistheorie, S. 104. 115 Reidemeister, Kurt: Die Unsachlichkeit der Existenzphilosophie. Vier kritische Aufsätze [1954], 2. erw. Aufl., Berlin/Göttingen/Heidelberg 1970, S. 10. 116 Ebd. S. 16. 117 Ebd. S. 18. 118 Ebd. S. 14f. 119 Ebd. S. 40.

IX.2 Kurt Reidemeister: Mathematik zwischen Mallarmé und Rilke

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Reidemeister kritisiert ein weiteres Mitglied des Marburger Kreises, wenn er sich gegen das im folgenden Unterkapitel behandelte Entmythologisierungsprogramm Rudolf Bultmanns wendet – Bultmann und Ebbinghaus wiederum führen eine Kontroverse über die Pflicht, im Totalitarismus zu reden oder zu schweigen.120 Reidemeister widmet einen der vier Essays, die die Unsachlichkeit der Existenzphilosophie kritisieren, dem Ursprung der Theologie Bultmanns: „Entmythologisierung ist dann: die mythologische Vorstellung transparent zu machen sowohl für das schlicht Natürliche, wie für das Geistliche, welches das Neue ist, welches Evangelisten und Apostel zu Worte bringen“.121 Er fordert die Berücksichtigung weiterer philosophischer Felder: „Es ist klar, wir müssen nicht nur das Mythologische, sondern auch die ontologische Metaphysik dieses Systems auflösen dürfen, wenn wir seinen Gehalt für uns lebendig und glaubhaft machen wollen“.122 Bultmann unterstellt er eine Vermischung von zwei unterschiedlichen Sachen: „Die Verwechselung von Entmythologisierung mit Zerstörung von Mythen als Chiffren eines tieferen Gehalts oder die Bagatellisierung des Mythologischen in der Weltauffassung, mit der wir in Auseinandersetzung geraten, zugunsten des lebenerweckenden Mythos ist im Blick auf Augustinus nicht mehr möglich“.123 Er tritt für eine klare Trennung ein: „So bringt uns auch die vereinfachte hermeneutische Situation zu einer Besinnung auf Dinge, die sich der objektiven Darstellung entziehen und deren Charakter wir abheben können und bezeichnen müssen, wenn wir Unterscheidbares nicht verwischen und vermischen wollen. Es ist das Begriffspaar existentiell, existenzial, das seinen verbindlichen Sinn in dieser konkreten hermeneutischen Situation bekommt“.124 Damit führt er Heideggers Unterscheidung von existentiell und existenzial gegen Bultmann an. Schließlich benennt er Bultmann als Gegenstand seiner Kritik: „Wenn etwas dem Zeitgeist fehlt, so diese Anerkennung, daß Existenzielles nicht durchschaubar ist und daß der Mensch sich als Wesen, zu dem Glaube, Hoffnung und Liebe gehört, nur in Anerkennung dieser

120 Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Brief Julius Ebbinghaus an Rudolf Bultmann vom November 1943: „Lieber Herr Kollege! Vielen Dank für Ihre präzisen Formulierungen. Sie setzen mich in der Tat in Stand, deutlicher zu sehen, warum wir uns bisher nicht verstanden haben. Eben die Frage, ob [Bultmann:] es eine von einem entgegenstehenden Staatsbefehl unabhängige Pflicht überhaupt zu reden geben kann, oder ob [Ebbinghaus:] alle mögliche Pflicht (öffentlich, zu reden) a priori auf die Bedingung der Übereinstimmung dieses Redens mit den Befehlen des Staates eingeschränkt ist – das ist ja der zwischen uns strittige Punkt, und dieser Streit, kann doch nicht – ohne daß ein Zirkel begangen wird – durch Berufung auf eine schon ohne Rücksicht auf etwaige staatliche Verfügungen als möglich angenommene Redepflicht entschieden wäre“. 121 Reidemeister, Unsachlichkeit, S. 5. 122 Ebd. S. 7. 123 Ebd. S. 7. 124 Ebd. S. 8.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

Beschränkung denken darf. Nichts ist wesentlicher für den Menschen, als dies zu wissen. Darum unterscheidet sich die Theologie Bultmanns von der Philosophie der Zeit im Wesentlichen, obgleich sie historisch und terminologisch mit ihr zusammenhängt“.125 Die Untersuchung der Schriften Kurt Reidemeisters, die sich von Mathematik über Philosophie bis hin zu Literatur erstrecken, hat ergeben, daß er das Prinzip des getreuen Übersetzens verfolgt, daß er den Klang und die Gebärde zur Konstitution des Schönen heranzieht und daß er das Schöne als vermittelnde Instanz zwischen Sein und Schein einsetzt. In seiner Kommerell-Interpretation hebt er die Wechselwirkungen zwischen dichterischem und vernünftigem Erfassen der Welt hervor. Der Briefwechsel mit Kommerell zeigt auf der einen Seite den Spieltrieb, die Schriften der 1950er Jahre auf der anderen Seite die Streitlust, die im Marburger Kreis herrschten. Durch die interdisziplinären Diskussionen mit Reidemeister über Philosophie und exaktes Denken gewinnt Kommerell eine Distanz zu seinem eigenen Fach, die ihm eine kritische Reflexion ermöglicht.

IX.3 Rudolf Bultmann: Theologie und Fragen der Hermeneutik In diesem Unterkapitel wird das Verhältnis zwischen Max Kommerell und dem Theologen Rudolf Bultmann untersucht und die Frage erörtert, ob sie über die Fachgrenzen hinweg eine gemeinsame hermeneutische Methode praktizieren. IX.3.1 Bultmanns Entmythologisierungsprogramm und die existentiale Interpretation In Kommerells letzte Lebensphase fällt die enge Freundschaft zu Bultmann. Wie Kayka, George, Reinhardt, Otto und Zimmer nimmt auch er die Rolle eines väterlichen Freundes ein. Bultmann wird am 20. August 1884 bei Oldenburg geboren und stirbt am 30. Juli 1976 in Marburg. Er studiert von 1903 bis 1906 Theologie und Philosophie in Tübingen, Berlin und Marburg. Dort wird er 1910 mit einer Arbeit über die paulinische Predigt promoviert und habilitiert sich 1912 mit einer Studie über den frühmittelalterlichen Theologen Theodor von Mopsuestia.126 Zuerst folgt er Rufen nach Breslau

125 Ebd. S. 9. 126 Zur vollständigen Publikationsliste siehe Hauschildt, Eberhard: Rudolf Bultmanns Predigten. Existentiale Interpretation und Lutherisches Erbe. Mit einem neuen Verzeichnis der Veröffentlichungen Bultmanns, Marburg 1989 und Bultmann, Rudolf: Theologie als Kritik. Ausgewählte Rezensionen und Forschungsberichte, hrsg. v. Matthias Dreher

IX.3 Rudolf Bultmann: Theologie und Fragen der Hermeneutik

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(1916) und Gießen (1920) bis er 1921 an die Philipps-Universität Marburg wechselt, wo er bis zur Emeritierung 1951 lehrt.127 Besonders bekannt sind seine gesammelte Aufsätze Glauben und Verstehen, die von 1933 bis 1965 in vier Bänden erscheinen.128 Mit dem programmatischen Titel will er ausdrücken, der Mensch müsse verstehen, daß er, wenn er von Gott rede, zugleich von sich selbst rede.129 1953 erscheint Bultmanns Theologie des Neuen Testaments, 1958 die Studie Geschichte und Eschatologie. Darin bringt er die unterschiedlichen neutestamentlichen Verkündigungen in eine systematische Darstellung und interpretiert sie mit Blick auf das zugrunde liegende Existenzverständnis.130 Bultmann vertritt ein Programm der Entmythologisierung, existentialen Interpretation und theologischen Hermeneutik,131 das im folgenden exemplarisch anhand ausgewählter Schriften nachgezeichnet wird, um es anschließend auf Kommerells Vorgehensweise zu beziehen. In dem Aufsatz Zum Problem der Entmythologisierung, der 1963 im sechsten Band der Reihe Kerygma und Mythos erscheint und 1965 im vierten Band von Glauben und Verstehen wiederabgedruckt wird, beschäftigt sich Bultmann im Rückblick mit seinem Programm der Entmythologisierung: Unter Entmythologisierung verstehe ich ein hermeneutisches Verfahren, das mythologische Aussagen bzw. Texte nach ihrem Wirklichkeitsgehalt befragt. Vorausgesetzt ist dabei, daß der Mythos zwar von einer Wirklichkeit redet, aber in einer nicht adäquaten Weise. Vorausgesetzt ist ebenso ein bestimmtes Verständnis von Wirklichkeit. Nun kann Wirklichkeit in einem doppelten Sinne verstanden werden. Gemeinhin versteht man unter Wirklichkeit die im objektivierenden Sehen vorgestellte Wirklichkeit der Welt, innerhalb deren sich der Mensch vorfindet, in der er sich orientiert, indem er sich ihr gegenüberstellt, mit deren Zusammenhang er rechnet und den er berechnet, um sie zu beherrschen und dadurch sein Leben zu sichern.132

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u. Klaus W. Müller, Tübingen 2002. Zu den unveröffentlichten Texten siehe Bultmann, Rudolf: Nachlaßverzeichnis, bearb. v. Harry Waßmann, Jakob Matthias Osthof u. AnnaElisabeth Bruckhaus, Wiesbaden 2001. Vgl. Rohls, Jan: Rudolf Bultmanns frühe Marburger Theologie, in: Die Philipps-Universität Marburg zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, hrsg. v. Günter Hollenberg u. Aloys Schwersmann, Kassel 2006, S. 63–83. Vgl. Bultmann, Rudolf: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1 [1933], Tübingen 91993; Bd. 2 [1952], 6. unveränd. Nachdruck der 5. erw. Aufl., Tübingen 1993; Bd. 3 [1961], Tübingen 41993; und: Bd. 4 [1965], 5. unveränd. Nachdruck der 4. erw. Aufl., Tübingen 1993. Vgl. Göckeritz, Hermann Götz: Biographische Skizze mit bibliographischen Hinweisen. Rudolf Bultmann, in: Rudolf Bultmann – Friedrich Gogarten. Briefwechsel 1921–1967, hrsg. v. Hermann Götz Göckeritz, Tübingen 2002, S. 319–328, hier: S. 323. Vgl. ebd. S. 325. Zum folgenden siehe auch Rohls, Jan: Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, S. 349–362 u. 390–480. Bultmann, Rudolf: Zum Problem der Entmythologisierung, in: ders.: Gesammelte Auf-

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

Wenn Bultmann unter Entmythologisierung das Befragen auf den Wirklichkeitsgehalt versteht, geht es ihm, wie Kommerell, um ein Zurückgehen auf die Ursprünglichkeit. Entmythologisierung ist für Bultmann mit Interpretation verbunden: „Die Geschichte ist das Feld der menschlichen Entscheidungen. [...] Ich nenne eine solche Interpretation der Geschichte existentiale Interpretation, da sie, bewegt von der Existenzfrage des Interpreten, nach dem in der Geschichte jeweils wirksamen Existenzverständnis fragt“.133 Bultmann interessiert sich also für die Seinsweise der Geschichte, wie Kommerell sich mit der Form von Texten auseinandersetzt. Bultmann thematisiert die Art des Mythos: In unserem Zusammenhang handelt es sich um den Mythos, soweit in ihm ein bestimmtes Verständnis der menschlichen Existenz zum Ausdruck kommt. Welches Existenz-Verständnis? Nun, dieses, daß sich der Mensch in einer Welt vorfindet, die voll ist von Rätseln und Geheimnissen, und daß er ein Schicksal erfährt, das ebenso rätselhaft und geheimnisvoll ist. Er wird zu der Erfahrung gedrängt, daß er nicht Herr über sein Leben ist, und er wird dessen inne, daß die Welt und das menschliche Leben ihren Grund und ihre Grenze in einer Macht (oder in Mächten) haben, die jenseits dessen liegt, was er berechnen, über das er verfügen kann, in einer transzendenten Macht. [...] Die Entmythologisierung will demgegenüber die eigentliche Intention des Mythos zur Geltung bringen, nämlich die Intention, von der eigentlichen Wirklichkeit des Menschen zu reden.134

Während Kommerell das Wesen der Dichtung untersuchen will, geht es Bultmann um die Absicht des Mythos. In der Verkündung betrifft das Ereignis die Existenz des Menschen: „Es [das Christus-Ereignis] wird gegenwärtig in der Verkündung (dem Kerygma), die ihren Ursprung in ihm selbst hat, und ohne die es gar nicht ist, was es ist. Das bedeutet: die Verkündigung ist selbst eschatologisches Geschehen. In ihr, als Anrede, wird jeweils das Ereignis Jesus Christus präsent, – präsent als das je mich in meiner Existenz treffende Ereignis“.135 Sein Entmythologisierungsprogramm, das er hier im Rückblick beurteilt, entsteht Anfang der 1940er Jahre. Die programmatische Entmythologisierungsstudie Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung geht auf einen Vortrag zurück,136 den Bultmann am 4. Juni 1941 auf einer Tagung in Alpirsbach, der sog.

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sätze, Bd. 4, S. 128–137, hier: S. 128 [erstmals in: Kerygma und Mythos VI (1963), H. 1, S. 20–27]. Ebd. S. 130. Ebd. S. 134. Ebd. S. 136f. Auf dieser Tagung hielt Bultmann einen zweiten Vortrag über Theologie als Wissenschaft, der sein Programm in einer ‚Art von Leitsätzen‘ vorträgt. Vgl. Bultmann, Rudolf: Theologie als Wissenschaft, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 81 (1984), H. 4,

IX.3 Rudolf Bultmann: Theologie und Fragen der Hermeneutik

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‚Alpirsbacher Woche‘, gehalten hat.137 Der Vortrag wird zusammen mit dem Aufsatz Die Frage der natürlichen Offenbarung 1941 im siebten Band der Beiträge zur Evangelischen Theologie veröffentlicht und in Kerygma und Mythos 1948 wiederabgedruckt.138 Im Offenbarungs-Aufsatz bezieht Bultmann Stellung zum Nationalsozialismus und nimmt – in Abgrenzung von den Deutschen Christen – eine Position für die Bekennende Kirche ein: „Das Wesen des deutschen Volkes liegt nicht als eindeutiges Kriterium vor, kraft dessen wir das Recht unseres Tuns klar beurteilen könnten [...]. Wie Nationaltugenden, so gibt es auch Nationallaster“.139 Der Vortrag Neues Testament und Mythologie ist im Zusammenhang mit der NS-Kritik beurteilt worden. Während er von verschiedenen Seiten angegriffen wird, stellt sich Dietrich Bonhoeffer hinter Bultmann.140 Außerdem sind die Ausführungen ein weiterer Schritt in der lebenslangen Auseinandersetzung zwischen Bultmann und Karl Barth,141 dem Bultmann ein „unmögliches Verfahren“ und eine „fatal[e] Argumentation“142 vorwirft. Da der Aufsatz Neues Testament und Mythologie eine zentrale Bedeutung für das Entmythologisierungsprogramm einnimmt, wird im folgenden die Argumentationslinie aufgezeigt. Bultmann beschreibt eingangs das „Weltbild des Neuen Testaments [als] ein mythisches. Die Welt gilt als in drei Stockwerke gegliedert. In der Mitte befindet sich die Erde, über ihr der Himmel, unter ihr die Unterwelt“.143 Dann geht er auf den zeitgenössischen Umgang mit dem Mythos ein: „Sofern es nun mythologische Rede ist, ist es für den Menschen von heute unglaubhaft, weil für ihn das mythische Weltbild vergangen ist“. Dadurch entstehe „die Frage, ob die Verkündigung des Neuen Testaments eine Wahrheit hat, die vom mythischen Weltbild unabhängig ist;

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S. 447–469. Dazu siehe Müller, Klaus W.: Zu Rudolf Bultmanns Alpirsbacher Vortrag über „Theologie als Wissenschaft“, in: ebd. S. 470–471. Zur Entstehung des Entmythologisierungsprogramms siehe Hübner, Hans: Bultmanns „existentiale Interpretation“ – Untersuchungen zu ihrer Herkunft, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 100 (2003), H. 3, S. 280–325. Vgl. Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: Kerygma und Mythos I (1948), H. 1, S. 15–53 [erstmals in: Beiträge zur Evangelischen Theologie 7 (1941), S. 17–64]. Bultmann, Rudolf: Die Frage der natürlichen Offenbarung, in: Beiträge zur Evangelischen Theologie 7 (1941), S. 1–16, hier: S. 15f. Vgl. Jüngel, Eberhard: Einleitung, in: Rudolf Bultmann: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung. Nachdruck der 1941 erschien. Fassung hrsg. v. Eberhard Jüngel, München 1985, S. 7–9, hier: S. 8. Dazu siehe Barth, Karl: Gesamtausgabe V, Bd. 1: Karl Barth – Rudolf Bultmann. Briefwechsel 1911–1966, hrsg. v. Bernd Jaspert, 2. rev. u. erw. Aufl., Zürich 1994. Bultmann, Mythologie, S. 22 u. 48. Im Aufsatz Das Problem der Hermeneutik wirft Bultmann Barth „nur willkürliche Behauptungen“ vor, vgl. Bultmann, Hermeneutik, S. 235. Bultmann, Mythologie, S. 15.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

und es wäre dann die Aufgabe der Theologie, die christliche Verkündigung zu entmythologisieren“.144 Entmythologisieren bedeutet also nicht, den Mythos aus dem Neuen Testament zu entfernen, sondern ihn unabhängig vom mythischen Weltbild zu deuten. Die Interpretation soll existential vorgehen: „Der eigentliche Sinn des Mythos ist nicht der, ein objektives Weltbild zu geben; vielmehr spricht sich in ihm aus, wie sich der Mensch selbst in seiner Welt versteht; der Mythos will nicht kosmologisch, sondern anthropologisch – besser: existential interpretiert werden“.145 Daraufhin kommt Bultmann zu seinem Kernanliegen: „Es ist also die entscheidende Frage, ob eben dieses Heilsereignis, das im Neuen Testament als mythisches Geschehen dargestellt wird, – ob die Person Jesu, die im Neuen Testament als mythische Person aufgefaßt wird, nichts als Mythologie sind. Kann es eine entmythologisierende Interpretation geben, die die Wahrheit des Kerygmas als Kerygma für den nicht mythologisch denkenden Menschen aufdeckt?“146 Bultmanns Methode, die später auf Kommerell zu beziehen sein wird, orientiert sich am Begriff der Existenz: „Auch diese Mythologien haben ihren Sinn nicht in ihren objektivierenden Vorstellungen, sondern müssen auf das in ihnen liegende Existenzverständnis hin, d. h. existential, interpretiert werden [...]. Nun ist es die Aufgabe, auch die dualistische Mythologie des Neuen Testaments existential zu interpretieren“.147 Im Abschnitt Das menschliche Sein im Glauben148 wird die existentiale Interpretation dann exemplarisch durchgeführt. Die einzelnen Bezüge sind hier weniger von Bedeutung als der Fortgang von Bultmanns Argumentation, der den Abschnitt mit der Feststellung abschließt: „So ist der Begriff des ‚Geistes‘ entmythologisiert. [...] Es ist das christliche Seinsverständnis existential, unmythologisch interpretiert worden“.149 Anschließend stellt er eine Verbindung zwischen seinem Ansatz und der Philosophie von Martin Heidegger her: Vor allem scheint Martin Heideggers existentiale Analyse des Daseins nur eine profane philosophische Darstellung der neutestamentlichen Anschauung vom menschlichen Dasein zu sein: der Mensch, geschichtlich existierend in der Sorge um sich selbst auf dem Grunde der Angst, jeweils im Augenblick der Entscheidung zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, ob er sich verlieren will an die Welt des Vorhandenen, des ‚man‘, oder ob er seine Eigentlichkeit gewinnen will in der Preisgabe aller Sicherungen und in der rückhaltlosen Freigabe für die Zukunft! Ist nicht so auch im Neuen Testament der Mensch verstanden? Wenn man gelegentlich

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Ebd. S. 15. Ebd. S. 23. Ebd. S. 27. Ebd. S. 28. Vgl. ebd. S. 30–33. Ebd. S. 33.

IX.3 Rudolf Bultmann: Theologie und Fragen der Hermeneutik

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beanstandet hat, daß ich das Neue Testament mit Kategorien der Heideggerschen Existenzphilosophie interpretiere, so macht man sich – fürchte ich – blind für das faktisch bestehende Problem. Ich meine man sollte lieber darüber erschrecken, daß die Philosophie von sich aus schon sieht, was das Neue Testament sagt.150

Da Heideggers Existenzphilosophie und philosophische Hermeneutik Parallelen zu Kommerells Verfahren der textnahen Beobachtungen aufweisen, wird hier kurz auf das Verhältnis zwischen Bultmann und Heidegger eingegangen.151 Bultmann schreibt in seinen Autobiographischen Bemerkungen im Rückblick über die Anregung durch Heidegger: „Dabei wurde die Arbeit der Existenzialphilosophie, die ich durch meine Diskussionen mit Martin Heidegger kennengelernt hatte, von entscheidender Bedeutung für mich. Hier fand ich die Begriffe, mit denen es möglich wurde, angemessen von menschlicher Existenz und damit auch von der Existenz des Glaubenden zu sprechen“.152 Im Aufsatz Das Problem der Hermeneutik beruft sich Bultmann ebenfalls auf ihn: „Zu entscheidender Klarheit ist das Problem des Verstehens durch Heideggers Aufweis des Verstehens als eines Existentials gebracht worden und durch seine Analyse der Auslegung als der Ausbildung des Verstehens, vor allem aber durch seine Analyse des Problems der Geschichte und seine Interpretation der Geschichtlichkeit des Daseins“.153 Philosophische Ansätze wirken hier anregend auf theologische Deutungen.

150 Ebd. S. 35. 151 Dazu siehe Hübner, Hans: „Existentiale“ Interpretation bei Rudolf Bultmann und Martin Heidegger, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 103 (2006), H. 4, S. 533–568; Großmann, Andreas: Zwischen Phänomenologie und Theologie. Heideggers „Marburger Religionsgespräch“ mit Rudolf Bultmann, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 95 (1998), H. 1, S. 37–63; Gumbrecht, Hans-Ulrich: Marburg, Sommer 1926, in: FAZ, Nr. 38 vom 14.02.2009; und: Kaube, Jürgen: Es muss ohne intellektuelle Opfer gehen, in: FAZ, Nr. 171 vom 27.07.2009. Im Briefwechsel zwischen Bultmann und Heidegger wird Kommerell allerdings nicht erwähnt, vgl. Großmann, Andreas/ Landmesser, Christof (Hgg.): Rudolf Bultmann, Martin Heidegger. Briefwechsel 1925–1975, Frankfurt/M 2009. 152 Bultmann, Rudolf: Autobiographische Bemerkungen, in: Barth, Gesamtausgabe V, Bd.1, S. 302–313, hier: S. 308f. 153 Bultmann, Rudolf: Das Problem der Hermeneutik, in: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, S. 211–235, hier: S. 227. Zum Verhältnis zwischen Bultmann und Karl Reinhardt siehe: „Das gleiche gilt für die formale, am Gesichtspunkt des Ästhetischen vollzogne Analyse von Werken der Literatur und Kunst; mit ihrem Vollzug ist das eigentliche Verstehen noch nicht vollzogen, wohl aber kann es durch sie vorbereitet werden, wie etwa in dem Sophoklesbuch Karl Reinhardts und in dem Platonwerk Paul Friedländers“, Bultmann, Hermeneutik, S. 223. In der dazugehörigen Fußnote 18 heißt es: „Ich weise auch auf Reinhardts Vorträge und Aufsätze hin, die 1948 unter dem Titel ‚Von Werken und Formen‘ erschienen sind“, ebd. S. 223. Bultmann setzt sich in einem separaten Aufsatz mit Sophokles auseinander, vgl. Bultmann, Rudolf: Polis und Hades in der Antigone des Sophokles, in: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, S. 20–31. Zum Verhältnis von Bultmann und

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

Kommen wir zu Bultmanns Neuem Testament und Mythologie zurück. Im Anschluß an die Berufung auf Heidegger unternimmt er einige Ausführungen zum Verhältnis von Theologie und Philosophie: „Also darin stimmen Neues Testament und Philosophie überein, daß der Mensch sein eigentliches Leben nur auf Grund der Tatsache führen kann, daß er schon in ihm steht, daß es ihm schon zu eigen ist“.154 Aus diesem ‚Zu-eigen-sein‘ ergibt sich das Verhältnis zum Leben: „Es handelt sich um das Verständnis der Verfallenheit des Lebens, in der sich jeder Mensch zunächst vorfindet, – eine Tatsache, die sich auch die Philosophie nicht verschleiert“.155 In diesen Sätzen wird – wie in Kommerells Schiller-Studien (vgl. Kap. VII) – ein Verständnis der Moderne als Krise ausgedrückt. Nach den Übereinstimmungen zwischen Theologie und Philosophie geht Bultmann auf die Unterschiede ein: Dies also ist das Entscheidende, das das Neue Testament von der Philosophie, das den christlichen Glauben vom ‚natürlichen‘ Seinsverständnis unterscheidet: das Neue Testament redet und der christliche Glaube weiß von einer Tat Gottes, welche die Hingabe, welche den Glauben, welche die Liebe, welche das eigentliche Leben des Menschen erst möglich macht. Es ist nun die Frage, ob damit der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung eine Grenze gesetzt ist, ob wir hier vor einem Mythos stehen bzw. vor einem Ereignis, das mythischen Charakter hat. Was das Neue Testament von der Existenz des vorgläubigen Menschen in mythologischer Sprache sagt, läßt sich entmythologisieren; ebenso, was es von der Existenz des Gläubigen sagt. Aber es bleibt die Frage, ob die Behauptung, daß der Übergang aus jener in diese Existenz, ob die Befreiung des Menschen von sich selbst zu seinem eigentlichen Leben, nur als eine Tat Gottes begreiflich sei; ob der Glaube nur als Glaube an die in Christus offenbare Liebe Gottes wirklich sein könne.156

Die Liebe Gottes, die sich in der Auferstehung Jesu zeigt, wird bei der Beantwortung dieser Frage nicht zum Wunder erklärt: „Die Auferstehung Christi ist aber Gegenstand des Glaubens, weil sie viel mehr besagt als die Rückkehr eines Toten in das diesseitige Leben, weil sie ein eschatologisches Ereignis ist. Und eben deshalb kann sie nicht beglaubigendes Mirakel sein“.157 Abschließend resümiert Bultmann seine Ausführungen: „Alles [sind] Phänomene, die der historischen, der soziologischen, der psychologischen Betrachtung unterliegen, und die doch für den Glauben eschatologische Phänomene sind. Gerade ihre Nichtausweisbarkeit sichert die christliche Verkündigung vor dem Vorwurf, Mythologie zu sein. Die Jenseitigkeit Gottes ist nicht zum Diesseits gemacht wie im Mythos, sondern die Paradoxie der Gegenwart des jenseiti-

154 155 156 157

Erich Auerbach siehe Vialon, Martin: Erich Auerbach und Rudolf Bultmann. Probleme abendländischer Geschichtsdeutung, in: Bormuth/Bülow, Hermeneutik, S. 176–206. Bultmann, Mythologie, S. 39. Ebd. S. 39. Ebd. S. 43. Ebd. S. 49.

IX.3 Rudolf Bultmann: Theologie und Fragen der Hermeneutik

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gen Gottes in der Geschichte wird behauptet: ‚Das Wort ward Fleisch‘“.158 Bultmanns Entmythologisierungsprogramm geht also in fünf Schritten vor: Erstens ist das Weltbild des Neuen Testaments mythologisch. Zweitens soll das Neue Testament jedoch nicht mit der Frage untersucht werden, ob die Mythen wahr seien oder ob Jesus eine historische Person sei, um damit den Glauben zu befestigen. Vielmehr soll drittens der Mensch das Neue Testament von seinem Lebensbezug ausgehend daraufhin befragen, was es ihm mitzuteilen habe. Es geht also viertens um das Verständnis der Seinsverhältnisse des Menschen, die relevant sind für die Befragung der Heiligen Schrift. Deshalb soll fünftens das Neue Testament existential interpretiert werden. Kommerell verfolgt Bultmanns Überlegungen schon seit Ende der 1920er Jahre. In einem Brief an Andreas Heusler vom 3. November 1929 spielt er auf die Marburger Religionsgespräche zwischen Bultmann und Heidegger an,159 wenn er seine Diskussionen mit Heusler als „Marburger RhythmusGespräche[]“ bezeichnet, „die sich von den berüchtigten ‚Marburger Religions-Gesprächen‘ schon durch ein anziehenderes Thema“ abgehoben hätten (BA 147). Bultmanns Entmythologisierungsaufsatz – mit dem sich auch Julius Ebbinghaus kritisch auseinandersetzt160 – liest Kommerell nach der Begegnung mit Bultmann in Marburg Anfang der 1940er Jahre, wie er am 20. April 1942 seinem Bruder Eugen berichtet: Ich schicke Dir den merkwürdigen Vortrag Bultmanns, der ihn, den im persönlichen Verkehr so unendlich Vielseitigen, Beweglichen, humoristisch Duldsamen, in einem fast furchtbaren Ernst enthüllt: in einem Ernst, dessen Radikales nicht nur für religiös Unentschiedene, sondern wohl auch für viele Theologen strikter Observanz aufregend und herausfordernd ist. Ich finde freilich das Meiste bedeutend und großartig. Natürlich stellen sich bei dem näheren regelmäßigen Verkehr zwischen ihm und mir ungeheure Verschiedenheiten heraus, aber ich bin froh, ihn zu haben, und ehre ihn von Herzen; und finde es großartig von ihm, daß er so viel für mich übrig hat. (BA 37)

Wie stark diese Lektüre Kommerells Rilke-Rezeption beeinflußt, wird im nächsten Abschnitt gezeigt.

158 Ebd. S. 53. 159 Dazu siehe Großmann, Religionsgespräch, S. 37–62. 160 Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Ebbinghaus, Julius: Ms. Bultmann, Entmythologisierung: „Es gibt keinen möglichen Grund a priori, warum Gott die Dinge so schuf, wie er sie schuf. Die Dinge stimmen nicht nach allgemeinen Gesetzen zur Möglichkeit des höchsten Gutes zusammen. Sie haben keine Einheit a priori im Verhältnis ihrer Möglichkeit. Sie sind nicht in ihrer Möglichkeit durch Gott bedingt. [...] Es läßt sich also die Möglichkeit des Wunders freilich nicht mit der Möglichkeit einer rationalen Begründung der Annahme des Daseins Gottes vereinen“.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

IX.3.2 Kommerells Rilke-Rezeption In diesem Abschnitt wird Kommerells Rilke-Rezeption in einen Zusammenhang mit Bultmanns Entmythologisierungsprogramm gestellt und daraufhin erläutert. Kommerell beschäftigt sich in einem Abschnitt der Gedanken über Gedichte (GG) mit Rilkes Duineser Elegien.161 Außerdem hält er im Sommersemester 1943 eine Vorlesung über George und Rilke, von der zwei Vorlesungsmitschriften von Studenten erhalten sind.162 Da Hansgeorg SchmidtBergmann und Matthias Weichelt diese Materialien bereits auf den Gegensatz zwischen George und Rilke hin untersucht haben, braucht hier nicht mehr darauf eingegangen zu werden.163 Vielmehr soll zuerst der Austausch über Rilke in Kommerells Briefwechseln nachgezeichnet und dann untersucht werden, wie er die Begriffe Mythos und Existenz bei Rilke anwendet. In seiner Vorlesung George und Rilke geht Kommerell auf anfängliche Widersprüche ein: „Rilke als Wirkungsphänomen betrachtet ist zunächst ein vollkommenes Rätsel. Verständlichkeit und Wirkung haben gar nichts miteinander zu tun, insbesondere nicht in der Dichtung wie das Beispiel Rilkes zeigt“.164 Für Kommerells Verfahren der textnahen Beobachtungen eigneten sich Rilkes späte Gedichte besser als der Gedichtband Das Stundenbuch (1905),165 wie er Bultmann in einem Brief vom 28. April 1943 erläutert:

161 Vgl. Kommerell, Max: Rilkes Duineser Elegien, in: GG, S. 491–501. 162 Vgl. DLA Marbach, Ehl, Elfriede: Prosa. Vorlesungen, Nachlaß Kommerell, D: 86.469– 86.470 und Teubruck, Gertrud?: Prosa. Vorlesungen, Nachlaß Kommerell, D: 86.469– 86.470. Elfriede Ehl zählt Kommerells Rilke-Vorlesung zu den „Höhepunkten seiner Lehrveranstaltungen“, Ehl, Erinnerung, S. 152. Kommerells Wirkung auf die Studentinnen schildert auch Karl Reinhardt in einem Brief an Kommerell vom 29. Juli 1943: „Das letzte, was wir von Ihnen hörten, kam aus dem Munde einer ebenso reizenden wie begeisterten Studentin, Frl. v. Wutenow, die diesen Sommer zu Ihren Füßen saß. Korff ist erledigt. Rilke steht ihr über George... Kurzum, denken Sie nicht gering von Ihrem Einfluß auf die geistige Nation. Diese bildhübschen Mädchen werden sich verheiraten, und es wird den sturen Männern, die sie kriegen werden, nichts anderes übrig bleiben, als ihnen beizupflichten“, DLA Marbach, Brief Karl Reinhardt an Kommerell vom 29.07.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1615/6. 163 Vgl. Schmidt-Bergmann, Rilke, S. 300–313 und Weichelt, Horizontbildungen, S. 316– 328. Siehe auch Kommerells undatierten Brief an Hedwig Kerber-Carossa vom Frühsommer 1943: „In dem George- und Rilke-Kolleg herrscht ziemliche Spannung. Ich habe bei George begonnen mit den Sachen, die er über sich selbst sagt, in den Gedichten; und das ist nicht wenig. Auf mein Traumleben wirkt das alles eher ungünstig ein; jedesmal wenn ich bös war im Kolleg, zittere ich davor, daß der alte Dämon mich im Traum dafür züchtigt, und die Furcht ist nicht immer unbegründet. Aber die Träume sind meist anders: daß ich immer noch nicht losgekommen bin, daß ich mich wieder bezaubern und einfangen ließ u. s. f. ...“ (BA 415f.). 164 Ehl, Vorlesungen, D: 86.469–86.470, S. 1. 165 Zur Rezeption des Stundenbuchs siehe DLA Marbach, Kommerell, Max: Mappe I C, Nachlaß Kommerell, D: 86.544, Bl. 295–301.

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Meine Lectüre besteht notgedrungen aus Rilke und aber Rilke. Wie bei Hölderlin erscheint es mir relativ möglich, aus den letzten Sachen ein Kolleg zu machen, weil man da durch gedankliche Text-Interpretation Stunden füllen kann und vielleicht auch wirklich etwas ausrichtet. Was aber über das Stundenbuch? Ich helfe mir mit dem Malte, der mir am meisten liegt. Mir scheint, ich müßte für Rilke auch Kierkegaard lesen. Eine unmittelbare Beeinflussung nehme ich an, wichtig ist die fraglose unterirdische Kommunication ..... Sonst stecke ich in Racine (dessen Geschichte zu Port royal auch sehr interessant ist) und noch einigem. Ich hoffe, des Sommers Herr zu werden. Es kam hier erst die ganze Müdigkeit u. Verbrauchtheit heraus, auch in der scheußlichsten inneren Abstumpfung; und wenn ich mir – angesichts dessen was andere leiden und leisten – jedes Recht dazu aberkenne, so bleibt dieser Zustand doch zu überwinden.166

Leichter zugänglich als Rilkes Gedichte ist für Kommerell der Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910).167 Schon etwa zwei Jahre zuvor, am 2. Januar 1941, hatte er in einem Brief an Hans-Georg Gadamer die Art bewundert, wie im Roman die menschliche Existenz gedeutet werde: Da oben in Bühlerhöhe, große Kälte, tief eingeschneit, totenstill, wars recht eigen, und, nach meinem starken ‚Konsum‘ hier in Frankfurt, war die Stille dröhnend! Unter vielem anderen besinnlichen [sic] kam auch ein Buch zu mir: der Malte Laurids Brigge, und da Sie so freundlich sind, sich für meine oft unglücklichen Annäherungsversuche an diesen Dichter höchster Aktualität zu interessieren, gestehe ich, daß es mich im tiefsten aufgeregt hat: ein starkes, vollkommen eigenes und stil-umwälzendes Buch mit ganz neuer Erfahrung und Deutung der menschlichen Existenz. Es ist mir selten so stark vor die Augen gebracht worden, daß die wesentlichen Eigenschaften eines Dichters philosophische Eigenschaften sein können, wenigsten scheint mir Rilkes philosophische Kraft, als Kraft, in einer unabgeleiteten Weise das Dasein neu zu erfragen, oder als Kraft: ungeborgen zu weilen – ganz außerordentlich. Dabei scheint mir seine Prosa vollkommen, gewissermaßen der Sprache gewordene Tastsinn der Seele, während ich bei den Elegien immer wieder an Experimenten strauchle, die sich an oder über den Rand des im Vers noch möglichen zu wagen scheinen. Dies ist aber eine vollkommen subjective Bemerkung.168

166 DLA Marbach, Brief Kommerell an Rudolf Bultmann vom 28.04.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1460/1. Siehe auch: „Die Zuflucht im Haus meiner verstorbenen Schwiegermutter gedeiht mir recht gut. Es ist eine Ironie im Lebenslauf, daß ich – nach manchem frechen Wort, dessen ich mich gegen Familienzusammenhänge erdreistete – mich gerade zu einem etwas beschwerlichen Zeitpunkt in diese legen darf und muß. Ich bin gemästet und gehätschelt worden, als dächte die Familie Franck, die sich wenig um Hölderlin u. Rilke kümmert über mich Homunculus: zwar fehlt’s im [sic] nicht an geistigen Eigenschaften, doch Allerlei am greiflich Tüchtighaften – falls ich aus dem Gedächtnis richtig zitiere...“. 167 Zur Malte-Rezeption siehe DLA Marbach, Kommerell, Max: Mappe I C, Nachlaß Kommerell, D: 86.544, Bl. 220ff., 230ff. u. 282–287. Siehe auch Teubruck, Vorlesungen, D: 86.469–86.470, S. 5–9. 168 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 02.01.1941, Nachlaß A: Gadamer.

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In einem Brief an Hans Carossa vom 1. Dezember 1940 thematisiert Kommerell ebenfalls die Frage der Existenz in Bezug auf Rilke: „Wie fraglich erscheint dagegen die Existenz des Dichters, und gar – horribile dictu – die Vorbereitung dazu! Und welche Leidensgeschichte ist dies bei Aufrichtigen – ich denke nur an Rilke!“ (BA 363). Am 26. April 1941 berichtet Kommerell, der Rilke anfangs mit Vorbehalten gegenübergestanden hatte, in einem Brief an Gadamer: „Der Kampf mit Rilke geht weiter. Durch eine aesthetische Widerwelt hindurch sind Wirklichkeiten aufgerissen, denen in keiner Weise zu entrinnen ist, und angesichts derer der sog. Geschmack irrelevant ist“.169 Gadamer bekennt er am 6. April 1943 sogar, daß er seine ursprünglichen Vorbehalte aufgegeben habe: Ich „ziehe die Rilke-Bände aus [sic], die ich hierher mitnahm: denn ich halte ein Kolleg über George u. Rilke im Sommer. Welche Einsicht und welch großes Herz in den Kriegsbriefen! Ich bin freudig aufgeregt, zugleich betroffen über ihre unerwünschte Gültigkeit heute und über heute hinaus. Der Malte wächst mir von neuem ans Herz, und die früheren Vor- und Fehl-Urteile sind längst zerstoben“.170 Wie aus Kommerells Aufzeichnungen deutlich wird, sind Rilkes Briefe für ihn von eminenter Bedeutung, da er sie als Gedichte liest: „Die Briefe sind dies [das Hinaustragen der menschlichen Erfahrung ins Transzendente] nicht ganz, aber doch mehr und weniger als Briefe ... Sie sind jeder in sich fertig und vollziehen in sich einen Akt, der, wenn er kein Gedicht ist, doch dem nahe kommt“.171

169 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 26.04.1941, Nachlaß A: Gadamer. 170 DLA Marbach, Brief Kommerell an Hans-Georg Gadamer vom 06.04.1943, Nachlaß A: Gadamer. 171 DLA Marbach, Kommerell, Max: Mappe I C, Nachlaß Kommerell, D: 86.544, Typoskript Rilke. Zur Einführung. Briefe: „Daher der unschätzbare Aufschlußwert dieser Briefe für Rilke, aber für was? für Rilkische Einsamkeit, nicht für Berührungen, für Erlebnisse [...] Indem sie nichts als Mühe, Weh, Unvermögen auszusagen scheinen, ist doch die Aussage so gepflegt wie die Handschrift und verrät: der Brief ist für ihn ein Gebilde zwischen Kunst und Gebrauch. Nicht zum Wegwerfen! Erwägen des späteren Drucks? Kaum. [...] Wie erlösend aber für Rilke der deutliche Adressat, ein Mensch mit den von Rilke sehr genau wahrgenommenen individuellen Eignungen des Vernehmens .... es erfolgt die Umwandlung der Erfahrung stufenweise ... für Rilke unvollständig, weil zwar über ihn und den Schmerz und die Stunde hinaus zum andern und in die Vernehmbarkeit, in die besondere sprachliche Gattung der Briefform: sie wird, in den geglücktesten Briefen kristall-durchsichtig, vollkommenste Kunst; aber bleibt menschlich irdisch, in dem widerwillig zugelassenen Bereich der geistigen Vernehmung; der Substanz nach vollkommen einsam. Aber der Gegenstand ist rein: die Lebensmühe Rilkes in der Hinwendung auf den Beruf, und die aufgetragenen Dinge, die erfahrenen Einsichten ... sofern Auftrag, sofern Einsicht, in der gewöhnlichen Sprache die dem Sinn nach doch fast unerreichbar Vertieften, Einsamen. Es bedurfte für diese Briefe Inspiration, Sammlung, Zeit und oft eine ausgebildete Beziehung zum Adressaten, dies nicht immer: oft vermöchte ein geglückter Zuruf mehr“.

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Die neue Offenheit gegenüber Rilke zeigt sich ebenfalls in der Lehre. Kommerells Studentin Lore Deggeller erinnert sich an ihre Abschlußprüfung: Vor diesem Gesamthintergrund erlebte ich ihn 1942 in einem Examen (Rigorosum) dies alles beiseite schiebend und völlig freilassend seinen Prüfling nach dessen literarischen Interessen fragend. Als ich erstaunt über diese Geste, Rilke, den Antipoden Georges, zu nennen wagte, leuchteten seine Augen auf, und spontan schlug er vor, daß wir uns über den Engel bei Rilke unterhalten wollten. Nicht nur die Methode dieser Prüfung, in der sich der Lehrer zugleich als intim Lauschender offenbarte, sondern gerade auch der geistige Gehalt sind wahrhaftig ungewöhnlich und ‚kühn‘ zu nennen. Denn hier wurden Schranken, die ein solches Thema notwendig errichtet, mit einer Selbstverständlichkeit überschritten, die verblüffte; und obwohl mir das Geschehen damals, wie jetzt in der Erinnerung wie eine Art Mysteriengespräch erschien, hatte man den Eindruck, daß dieser Mensch tatsächlich noch weit mehr von Engelwesen und Engelwelten wußte, als er preisgab.172

Selbst beim Essen denkt Kommerell an Rilke; nachdem er die von Bultmann zugeschickten Orangen – gegen Ende des Krieges eine Seltenheit – verzehrt hat, läßt er ihn am 6. Juni 1944 wissen: „Und ein zweites: die Orangen! Sie schmeckten herrlich. Leider hinderte mich die Hepatitis, den Befehl Rilke’s auszuführen, den er mir für diesen Fall in den Sonetten an Orpheus gibt: den Geschmack der Orange zu tanzen. Aber innerlich hab ich’s getan. Was steckt in einer solchen Frucht – es waren köstliche Exemplare, und jede einzelne zu verzehren war jedesmal ein Fest. Welche von mir ganz unverdiente Leibesäußerung, daß die ganze Familie Bultmann für mich auf diesen Genuß verzichtet hat. Vergelt’s Gott“ (BA 450). In den Ausführungen über Rilkes Duineser Elegien, die für Kommerell der „Schlüssel zur Deutung der Rilkeschen Sprache“ überhaupt sind,173 vertritt er die These, daß Rilke „der Dichter des Bezugs“ sei (GG 501). Diese These leitet er in mehreren Gedankenschritten her. Zuerst erklärt er, daß Rilke weder eine alte mythische Denkweise verfolge noch das mythische Verhalten in die dichterische Person lege. Vielmehr vermittele Rilke den Menschen die Erfahrung des „irdischen Zufall[s]“ (GG 492). Was das Wesen des Menschen ausmache, werde durch den Bezug auf die Dinge deutlich, die außerhalb des Menschen lägen – z. B. Engel, Tiere, Puppen oder Tote. Wie der Bezug zu den Engeln, die in einigen Elegien nicht genannt werden, hergestellt wird, erläutert Kommerell an einem Beispiel: Wenn man jemanden vorlesen hört, aber nicht sieht, wem er vorliest, dann könne man schon durch

172 Deggeller, Lore: Max Kommerell – ein kühner, ungewöhnlicher Geist auf akademischem Felde in einer geistdunklen Zeit, in: Der deutsche Apotheker. Aktuelle Informationen für pharmazeutische Berufe 49 (1997), H. 5, S. 117–118, hier: S. 117. 173 Teubruck, Vorlesungen, D: 86.469–86.470, S. 2.

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das Hören des Vorlesens auf den Adressaten schließen. Da dies kein echtes, sondern ein vorgestelltes Hören sei, werde damit die „menschliche Hörweite“ gesprengt (GG 495). Im Vergleich zwischen Engel und Dichter stelle Rilke heraus, daß der Dichter zwar nicht die „Aufschwünge“ des Engels erreiche, aber dem Engel die „konkreten und vergänglichen Fakten des Erdentums“ anbieten könne (GG 497). Diese „reine Innerlichkeit“ stehe im Gegensatz zur eigenen Darstellung des Menschen im Mythos, also zur „mythischen Selbstverewigung des Menschen“ (GG 498). Der moderne, technische Mensch sei von den „beseelten Dingen“ geschieden (GG 498). Da die Existenz des Menschen durch die Abgrenzung zu anderen Dinge definiert werde, sei Rilke der ‚Dichter des Bezuges‘. Die Beschäftigung mit dem von Kommerell spät entdeckten Rilke wird durch Bultmann inspiriert. Bultmanns konsequenter Versuch, die Christologie und insbesondere die Denkfigur des Kerygma zu entmythologisieren, gerät zum Ausgangspunkt für Kommerells Rilke-Lektüre. In seinen Ausführungen nimmt er unausgesprochen eine Applikation von Bultmanns Entmythologisierungsprogramm auf Rilke vor: „An Rilke wird erst deutlich, wie fest sich die deutsche Lyrik, soweit sie von der Frage nach dem Menschen bewegt war, an die alte mythische Denkweise gebunden hatte und den Tod des Mythos durch ein eigenmächtiges mythisches Verhalten der dichterischen Person zu überdauern suchte“ (GG 490). Demzufolge wird „der gewesene Mensch“ als „der Mensch der Mythen“ bezeichnet (GG 498). Die Entmythologisierung zeigt sich an dem Punkt, an dem Kommerell feststellt, daß für Rilke – im Gegensatz zum „gewesenen Menschen“ – nun der Mythos als Erklärungsmodell ausscheide: „Rilke, als Denker einer der stärksten Kräfte unseres Jahrhunderts, hat die Frage aller Fragen gestellt, ohne sie mythisch zu beantworten. [...] Was wäre für diesen Dichter mit Mythen gewonnen?“ (GG 491f.). Nachdem die Entmythologisierung vollzogen ist, befragt Kommerell die Dichtung Rilkes auf das ihr zugrunde liegende Existenzverständnis. Die menschliche Existenz werde durch die Dinge, die sie umgebe, deutlich, da „das Mensch-sein in der Bewegung auf anderes erhalten werden muß“ (GG 494).174 Die Existenz zeichne sich durch Besitzlosigkeit aus.175 Die Elegien drückten „das menschliche Nein und Nicht, die Fraglichkeit und Un174 Vgl. GG 493: „Da nämlich ein eigener Inhalt des Menschen nicht auffindbar ist, sondern nur, was ihn umstellt und verneint, sowie die wenigen Durchschlüpfe dieser seiner Hürde – da also der Mensch selbst als verläßliches Zentrum des Mythos, nämlich einer gedeuteten Welt, nicht auffindbar ist, sind diese scheinbaren Mythen oder Symbole in Wahrheit Einkreisungen der menschlichen Existenz, die in ihrer Fraglichkeit nur durch das Benachbarte einen Umriß gewinnt“. 175 Vgl. GG 493: „das Dasein des Menschen [ist] als ein mit Inbrunst empfundenes und gestandenes Nicht-haben durch verschiedene, gegen den Menschen hin abgestufte Arten des Habens zu bezeichnen“, und GG 496: „Höchst klar [...] ist in der 9. Elegie das einzige

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möglichkeit des Menschseins, aber auch ein[en] fruchtdende[n] Ansatz und erschließende[n] Bezug aus“ (GG 493). Diese Nichtigkeit komme zustande, da der Mensch „den eigentlichen Inhalt seiner Existenz in Wahrheit gar nicht durchlebt“ habe (GG 500). Wie Rilke als ‚Dichter des Bezugs‘ angesehen wird, sei auch die Existenz des Menschen über den Bezug definiert: Durch die Umwelt entstehe „ein negativer Umriß des Menschseins, in dem aber zugleich dessen Selbstübertreffung erscheint: [...] Innigkeit des hiesigen und augenblicklichen Lebens. Gerade daß die Nachbarbereiche des Menschentums nicht verdeutlicht werden, daß kein Mythos über das Nichtwissen und den Schauder vor ihnen hinwegträgt, macht die Demut und Wahrhaftigkeit dieser Elegien aus“ (GG 500f.). Für Kommerell erschließt also Bultmanns Existenzbegriff Rilkes Duineser Elegien als Ausdruck der „Innigkeit des augenblicklichen Lebens“ – eine Interpretation, in die sich fraglos auch die Erwartung des Todes einschreibt, von der Kommerell seit 1943 beherrscht wird. So lassen sich aus Kommerells Privatexistenz manche Leitmotive seiner wissenschaftlichen Arbeit seit 1942 erklären. IX.3.3 Der Marburger Graeca-Lesekreis: Hermeneutische Lektüren Auf der einen Seite appliziert Kommerell Bultmanns Entmythologisierungsprogramm auf Rilke, auf der anderen Seite systematisiert Bultmann Kommerells hermeneutisches Verfahren der textnahen Beobachtungen. Bultmann äußert sich zu den hermeneutischen Prinzipien176 der existentialen Interpretation im Aufsatz Das Problem der Hermeneutik, der 1950 in der Zeitschrift für Theologie und Kirche publiziert und 1952 im zweiten Band der Gesammelten Aufsätze wiederabgedruckt wird.177 Die Tradition der Hermeneutik führt Bultmann bis auf Aristoteles zurück: Für die Interpretation literarischer Texte sind seit Aristoteles hermeneutische Regeln entwickelt worden, die traditionell geworden sind und durchweg mit Selbstverständlichkeit befolgt werden. Wie schon Aristoteles sah, ist die erste Forderung die formale Analyse eines literarischen Werkes hinsichtlich seines Aufbaus und seine Stiles. Die Interpretation hat die Komposition des Werkes zu analysieren, das Einzelne aus dem Ganzen, das Ganze vom Einzelnen aus zu verstehen. Die Einsicht, daß sich jede Interpretation in einem ‚hermeneutischen Zirkel‘ bewegt, ist damit

Haben des Menschen, in dem er sich gegen den Engel behaupten kann, gegenüber so mannigfachem Nicht-Haben ausgesprochen“. 176 Siehe auch Ott, Heinrich: Die hermeneutische Problematik und das Entmythologisierungsprogramm, in: Theologische Zeitschrift (Uni Basel) 44 (1988), H. 3, S. 222–238 und Biser, Eugen: Hermeneutische Integration – Zur Frage der Herkunft von Rudolf Bultmanns hermeneutischer Interpretation, in: Rudolf Bultmanns Werk und Wirkung, hrsg. v. Bernd Jaspert, Darmstadt 1984, S. 211–233. 177 Bultmann, Hermeneutik, S. 211–235.

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gegeben. Sobald die Interpretation alt- oder fremdsprachlicher Texte aktuell wird, kommt die Forderung einer Interpretation nach den Regeln der Grammatik zum Bewußtsein. Schon bei den Alexandrinern wird die Forderung der grammatischen Kenntnis der Sprache durch die der Kenntnis des individuellen Sprachgebrauchs des Autors ergänzt, so daß z. B. ein Kriterium für die Entscheidung von Echtheitsfragen in der Homerinterpretation gewonnen wird. Mit der Entwicklung der historischen Arbeit in der Zeit der Aufklärung wird die Frage nach dem individuellen Sprachgebrauch des Autors fortgebildet zur Frage nach dem Sprachgebrauch der jeweiligen Zeit des Textes. Aber mit der Einsicht in die geschichtliche Entwicklung der Sprache geht Hand in Hand die Erkenntnis der geschichtlichen Entwicklung überhaupt, die Erkenntnis also der geschichtlichen Bedingtheit aller literarischen Dokumente durch die Umstände von Zeit und Ort, und deren Kenntnis muß nunmehr als Voraussetzung jeder sachgemäßen Interpretation gelten. Die Wissenschaft, die die Interpretation literarischer Texte zu ihrem Gegenstand hat und die sich dafür der Hermeneutik bedient, ist die Philologie. An ihrer Entwicklung aber ist sichtbar, daß die Hermeneutik als die Kunst wissenschaftlichen Verstehens keineswegs durch die traditionellen hermeneutischen Regeln schon hinreichend bestimmt ist.178

Hier äußert sich ein Theologe über die Verfahrensweisen der Literaturwissenschaft mit einer Exaktheit, die viele Germanisten nicht erreichen. Inhaltlich vertritt er eine Position, die Kommerells Ansicht über den Interpretationsvorgang ähnelt. Außerdem zeigt sich in der Bewertung von Teil-Ganzes-Relationen eine Übereinstimmung mit ‚werkimmanenten‘ Interpretationsansätzen. Bultmann äußert sich ebenfalls zum Vorgang des Verstehens: „Ein Verstehen, eine Interpretation, ist – das ergibt sich – stets an einer bestimmten Fragestellung, an einem bestimmten Woraufhin, orientiert. Das schließt aber ein, daß sie nie voraussetzungslos ist; genauer gesagt, daß sie immer von einem Vorverständnis der Sache geleitet ist, nach der sie den Text befragt“.179 Dieses Vorverständnis gilt nicht nur für literarische, sondern auch für religiöse und philosophische Texte. Die philosophische Hermeneutik behandelt Martin Heidegger in Sein und Zeit (1927) besonders in den Kapiteln 31. Das Da-sein als Verstehen, 32. Verstehen und Auslegung und 33. Die Aussage als abkünftiger Modus der Auslegung:180 Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung. In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu. In der Auslegung wird das Verstehen nicht etwas anderes, sondern es selbst. Auslegung gründet existenzial im Verstehen [...] Die Auslegung von Etwas als Etwas wird wesenhaft durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff fundiert. Auslegung ist nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen. Wenn sich die besondere Konkretion der Auslegung im Sinne der exakten

178 Ebd. S. 212f. 179 Ebd. S. 216. 180 Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 15., an Hand der Gesamtausgabe durchges. Aufl., Tübingen 1984, S. 142–160.

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Textinterpretation gern auf das beruft, was ‚dasteht‘, so ist das, was zunächst ‚dasteht‘, nichts anderes als die selbstverständliche, undiskutierte Vormeinung des Auslegers, die notwendig in jedem Auslegungsansatz liegt als das, was mit Auslegung überhaupt schon ‚gesetzt‘, das heißt in Vorhabe, Vorsicht, Vorgriff vorgegeben ist.181

Der Heidegger-Schüler und Freund Kommerells Hans-Georg Gadamer definiert in Wahrheit und Methode (1960) im Kapitel II.2.a) Das hermeneutische Problem der Anwendung die fächerübergreifenden Gemeinsamkeiten der hermeneutischen Methode: „Wir können somit als das wahrhaft Gemeinsame aller Formen der Hermeneutik herausheben, daß sich in der Auslegung der zu verstehende Sinn erst konkretisiert und vollendet, daß aber gleichwohl dieses auslegende Tun sich vollständig an den Sinn des Textes gebunden hält“.182 Diese Aussagen zeigen ein ähnliches Verständnis einer theologischen, philosophischen und literaturwissenschaftlichen Hermeneutik. Bultmann hält im Problem der Hermeneutik nach den Ausführungen über die Interpretation literarischer Texte, bevor er zum nächsten Schritt übergeht, grundsätzlich fest: Voraussetzung jeder verstehenden Interpretation ist das vorgängige Lebensverhältnis zu der Sache, die im Text direkt oder indirekt zu Worte kommt und die das Woraufhin der Befragung leitet. Ohne ein solches Lebensverhältnis, in dem Text und Interpret verbunden sind, ist ein Befragen und Verstehen nicht möglich, ein Befragen auch gar nicht motiviert. Damit ist auch gesagt, daß jede Interpretation notwendig von einem gewissen Vorverständnis der in Rede oder in Frage stehenden Sache getragen ist. Aus dem Sachinteresse erwächst die Art der Fragestellung, das Woraufhin der Befragung, und damit das jeweilige hermeneutische Prinzip.183

Es zeigt sich der Zusammenhang von Lebensverhältnis, Vorverständnis, Fragestellung und Erkenntnis bei der Interpretation. Wie bereits gezeigt wurde, untersucht Kommerell ebenfalls am Anfang seines Aufsatzes über Faust II. Zum Verständnis der Form die Wirkung auf das Lebensverhältnis (vgl. Kap. V). Bei Bultmann soll der Interpret ohne vorgefertigte Ergebniserwartung an den Text herangehen trotz seines Vorverständnisses – er fordert also, wie Kommerell mit dem „unbefangenen Befragen des Gegenstands“, eine contrafaktische Imagination: „Voraussetzungslosigkeit hinsichtlich der Ergebnisse ist wie für alle wissenschaftliche Forschung, so auch für die Interpretation selbstverständlich und unabdinglich gefordert. [...] Denn diese setzt gerade die äußerste Lebendigkeit des verstehenden Subjekts, die möglichst reiche Entfaltung seiner Individualität voraus. Wie die Interpretation eines Werkes der Dichtung und der Kunst nur dem gelingen kann, der sich ergreifen läßt, so 181 Ebd. S. 148ff. 182 Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke, Bd. 1: Hermeneutik I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, S. 338. 183 Ebd. S. 227.

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das Verstehen eines politischen oder soziologischen Textes nur dem, der von den Problemen des politischen und sozialen Lebens bewegt ist“.184 Anhand der auch von Emil Staiger benutzten Formel ‚begreifen, was uns ergreift‘ zeigt Bultmann sich auf dem neuesten Stand der literaturwissenschaftlichen Forschung. Damit weist er, wie Kurt Reidemeister, seine aufmerksame Wahrnehmung der Entwicklungen in anderen Fächern nach. Bultmann stellt die Gemeinsamkeiten der literaturwissenschaftlichen und theologischen Hermeneutik heraus: „Die Interpretation der biblischen Schriften unterliegt nicht anderen Bedingungen des Verstehens als jede andere Literatur. [...] Sodann ist klar, daß auch hier die Voraussetzung des Verstehens die Verbundenheit von Text und Interpret ist, die durch das Lebensverhältnis des Interpreten, durch seinen vorgängigen Bezug zur Sache, die durch den Text vermittelt wird, gestiftet wird. Voraussetzung des Verstehens ist auch hier ein Vorverständnis der Sache“.185 Wie diese Ausführungen gezeigt haben, vertritt Bultmann ein Programm der Entmythologisierung des Neuen Testaments, der existentialen Interpretation und der theologischen Hermeneutik. Auffällig sind dabei die Ähnlichkeiten zum Ansatz von Kommerell, der auch Texte auslegen will. Er geht ebenfalls von einem Lebensbezug zwischen Interpret und Text aus und erwartet eine Ergriffenheit und Gestimmtheit des Lesers. Nachdem die methodischen Gemeinsamkeiten zwischen Kommerell und Bultmann gezeigt wurden, ist nun darauf einzugehen, wie die Übereinstimmungen in methodischen und theoretischen Fragen sich konkret im Austausch der beiden auswirken. Ihre Freundschaft war schon Ende der 1930er Jahre eng, also vor Kommerells Zeit in Marburg, wie aus einem Brief Bultmanns an Kommerell vom 24. Juli 1938 hervorgeht: „Ich denke, daß die Kommunikation zwischen Marburg u. Frankfurt weiter bestehen bleibt; u. so dürfen wir wohl hoffen, Sie einmal mit Ihrer Gattin bei uns zu sehen“.186 In seinen Autobiographischen Bemerkungen beschreibt Bultmann den Austausch mit Professoren aus anderen Disziplinen in der Marburger Zeit: Bereichert waren diese Jahre auch durch den sehr lebhaften Austausch zwischen Theologen und Philosophen [...]. Das war besonders der Fall, als Martin Heidegger in Marburg lehrte: 1923 bis 1928. Ich pflegte bald einen Austausch mit ihm, wie ich es früher mit Nicolai Hartmann getan hatte und wie ich es später mit Erich Frank und Julius Ebbinghaus tun sollte. Auch mit den Philosophiedozenten, die sich für Theologie interessierten – Hans-Georg Gadamer, Gerhard Krüger und Karl Löwith –, gab es eine fruchtbare Zusammenarbeit, an der auch die Dozenten des Neuen Testaments, Heinrich Schlier und Günther Bornkamm, teilnahmen.

184 Ebd. S. 230. 185 Ebd. S. 231. 186 DLA Marbach, Brief Rudolf Bultmann an Kommerell vom 24.07.1938, Nachlaß Kommerell, A: 84.1523/1.

IX.3 Rudolf Bultmann: Theologie und Fragen der Hermeneutik

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Besonders erwähnen muß ich meine Freundschaft mit dem klassischen Philologen Paul Friedländer, der damals in Marburg lehrte und dem ich mich sehr verpflichtet fühle. Später wurde der Austausch mit den klassischen Gelehrten H. Dahlmann, Friedrich Müller und Carl Becker und dem Historiker Friedrich Taeger für meine Arbeit äußerst fruchtbar.187

Bultmann hebt besonders Philosophen und klassische Philologen hervor. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, daß Ebbinghaus und der Historiker Fritz Taeger, der maßgeblichen Anteil an der Berufung Kommerells hatte, genannt werden. Auffällig ist, daß Kommerell nicht erwähnt wird – wie in den Erinnerungen von Ebbinghaus. Das ist darauf zurückzuführen, daß zur Zeit der Abfassung der Erinnerungen in den 1960er und 1970er Jahren Kommerell nicht die gleiche Beachtung erfahren hat wie die anderen Vertreter. Aus dem Briefwechsel ergibt sich jedoch, wie intensiv der Kontakt zwischen Bultmann und Kommerell ist. Der Kreis in Marburg konstituiert sich, wie der Frankfurter Kreis, in erster Linie über Zusammenkünfte von Lesekreisen. Kommerell berichtet Karl Reinhardt davon am 10. Januar 1943: bei Bultmann tauch‘ ich regelmäßig auf, Graeca, griechische Lyrik; manchmal schön, und immer schwierig – jetzt klebt er und der 3. im Bunde, der Lehrer Antz [sic], an dem zähen, nicht enden wollenden Theognis,188 dessen Beziehung zur Poesie ich nicht entdecken kann, und der minütlich über die Beiden Erleuchtungen bringt, in denen sich Plato und Nietzsche die Hand reichen – ich fühle mich ausgestoßen und brüte demütig über den Vokabeln. Aesthetische Diskussionen mit Bultmann sind jetzt, da sich zwischen seiner Kampffreudigkeit und meiner Kampfmüdigkeit nichts rechtes mehr abspielen will, aufgegeben, und wir leben im friedlichen Genuß der wechselseitigen Unverständlichkeit. (BA 410)

In diesem Bericht vom Lesekreis mit Bultmann und Wilhelm Anz zeigt sich die Durchlässigkeit der Kreise für Nicht-Professoren, z. B. für Gymnasiallehrer. Das liegt an der damals noch geringeren Ausdifferenzierung zwischen Schule und Universität. In Marburg treffen sich mehrere Lesezirkel mit unterschiedlichen Zusammensetzungen. Es gibt einen Stammtisch im Restaurant ‚Sonne‘ am Marktplatz, den ‚Graeca‘-Lesekreis mit Bultmann, Kommerell, Anz und den ‚Literaturkreis‘ mit den Ehepaaren Bultmann, Steinmeyer, Reidemeister, Anz, Kommerell und Kaschnitz sowie dem Nachwuchswissenschaftler Arthur Henkel.189 Der ‚Literaturkreis‘ liest Stücke von Shakespeare,

187 Bultmann, Bemerkungen, S. 306f. 188 Gemeint ist der griechische Schriftsteller Theognis von Megara, der in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. lebte. Vgl. Theognis: Frühe griechische Elegien. Griechisch und Deutsch, hrsg. v. Dirk Uwe Hansen, Darmstadt 2005. 189 Vgl. Hammann, Konrad: Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 2009, S. 339.

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Molière, Bergengruen, Paul Celan und Hofmannsthal,190 dessen Drama Der Schwierige Kurt Reidemeister in einem Brief an Erika Kommerell, wie oben gezeigt, interpretiert hat. Einmal pro Woche versammelt sich der ‚Literaturkreis‘ im Hause von Bultmann oder vom Direktor des humanistischen Gymnasiums Marburg, Kurt Steinmeyer. Kommerell springt im Winter 1943/44 an dessen Gymnasium als Aushilfelehrer ein (vgl. BA 411). Die Gesellschaft der ‚Freunde des humanistischen Gymnasiums‘, vor der Kommerell schon beim ‚Vorsingen‘ im Marburger Berufungsverfahren vorgetragen hat (vgl. Kap. VII), ist ebenfalls ein Ort des geistigen Austausches.191 Kommerell hält dort einen Vortrag über Helena im Faust II, Karl Reinhardt über die Rätselsprüche Heraklits und Hans-Georg Gadamer über Platons Verhältnis zur Dichtung. An einem dieser geselligen Abende mit geistigem Austausch trägt der Marburger Mediävist Ludwig Wolff ein selbstgeschriebenes Gedicht auf Kommerell vor: sît meister Maync der vruote niht lenger mê die ruote in unser schuole swingen sol, sô ist uns des gelungen wol daz von der Franken vürte her ist komen unser vröuden wer, der wîse meister Kommerell. Sîn name der ist lobes hel, ûz kezzels grunde gât sîn wort und treit vîl rîcher künste hort.192

Aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme kann Kommerell seinen Arbeiten nicht mehr im gewünschten Ausmaß nachgehen. Daher bittet er am 28. April 1943 Bultmann um die Zusammenlegung zweier Lesekreise: Nun muß ich noch auf etwas kommen, das sagen zu müssen mich betrübt. Ich muß mich nach den gemachten Erfahrungen zusammenhalten, sonst kann ich meinen Aufgaben nicht mehr gerecht werden und es gibt erzwungene Abbrüche. Ich muß auch etwas mehr spazieren gehn. Ich sehe nicht ab, wie ich 2 Graecas durchführen soll und da ich glaube, die ‚große‘ Graeca nicht gut verlassen zu können, so muß ich die ‚kleine‘ mit Ihnen, so lieb sie mir geworden ist, aufgeben. Leider ist es nicht der einzige Entschluß dieser Art. Schon jetzt hab‘ ich auf Wien, Berlin, Leipzig – Besuche, die mir aus verschiedenen Gründen wichtig schienen – verzichtet. Ich glaube aber, wenn wir insistieren, wird die große Graeca gern unser Anliegen, nämlich Pindar, mitberücksichtigen. Ich muß in dieser Sache auf Ihr nachsichtiges Verständnis

190 Ebd. S. 340. 191 Der Bultmann-Biographie Konrad Hammann bezeichnet die ‚Freunde des humanistischen Gymnasiums‘ sogar als „Forum geistiger Unabhängigkeit“, ebd. S. 339. 192 DLA Marbach, Wolff, Ludwig: Gedichte ‚Germanistenabend. 20.5.41‘, Nachlaß Kommerell, D: x, 86.537.

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bauen. Ich hab‘ auch mit Erika darüber gesprochen. Wenn normale Zeiten wären, würde ich meine ganze äußere Existenz verändern und mich bloß noch auf meine paar selbstgesteckten Aufgaben, in denen ich meine eigenste Verantwortung sehe, zurückziehen; aber selbst wenn ich die nötige Kraft zu diesem Entschluß jetzt aufböte – es ließe sich nicht realisieren, und ich würde eine erträgliche Haft mit einer unerträglichen vertauschen.193

Es wird deutlich, wie Kommerells Erkrankung an Hepatitis, die zu seinem Tod führen wird, seinen geistigen Austausch einschränkt. Die „selbstgesteckten Aufgabe“ erläutert er Bultmann am 24. September 1943 näher: „Ich übersetzte Traum ein Leben und dichtete mich in mein Drama [Die Gefangenen]194 hinein, was zuerst noch etwas knarrend ging. [...] Frau [Marie-Luise] von Kaschnitz las Mythen vor und dann die Briefe ihres Mannes aus Paris ... Kari und der kleine Herbert, genannt Buzi, brachen zu noch nachtschlafener Ruhe in unser Gemach ein und umtanzten unsere Betten mit zeterndem Geheul, indem sie diese Zeremonie mit dem Kaputschlagen ihrer Pantoffel auf dem wechselseitigen Rücken rhythmisch und eindrucksvoll begleiteten und wie Geister das Zimmer wieder verließen. Und so war allerlei...“.195 Kommerell tauscht im gleichen Brief mit Bultmann Neuigkeiten über das Universitätsleben aus: Ihr Traum trifft mich auf den Kopf und hat doch etwas liebevoll Verstehendes, ein Meisterstück productiver Kritik, für das mein Bewußtsein Ihrem Unbewußten, soweit dies ohne Dolmetscher möglich ist, herzlichen Dank sagt. ‚Dies zu deuten bin erbietig.‘ Die nova Universitas eines kräftigen völkischen Frühlings ruht auf der Schulter derjenigen Koryphäen, die kürzlich noch Steinmeyers Schüler waren (Natorp Wolff Faupel Vogt etc),196 und da ich mich durch 8 Stunden Unterricht in die Herzen dieser Jugend schmeichelte, wird sie mich aus meinem Gemach ziehen und in gerechter Erkenntnis meines Wesens mir statt einem Lehrstühlerl ein Singbänkerl verleihen, selbstverständlich unter dem Rectorat des Jubelseniors St. Ich freue mich schon, und hoffe, daß ich bis dahin noch den Kopf munter auf dem Hals habe, wofür der Traum fast garantiert.197

193 DLA Marbach, Brief Kommerell an Rudolf Bultmann vom 28.04.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1460/1. 194 Vgl. Kommerell, Max: Die Gefangenen. Trauerspiel in 5 Akten, Frankfurt/M 1948. Dazu siehe Köhler, Kunstwissenschaften, S. 425–430; Hölscher-Lohmeyer, Dorothea: Max Kommerell: ‚Die Gefangenen‘. Ein Widerstandsdrama, in: Romantik und Exil. Fs. für Konrad Feilchenfeldt, hrsg. v. Claudia Christophersen u. Ursula Hudson-Wiedenmann, Würzburg 2004, S. 449–455; und: Einsiedel, Wolfgang von: Rez. zu Kommerell: Die Gefangenen, in: Merkur 4 (1950), H. 10, S. 1135–1136. 195 DLA Marbach, Brief Kommerell an Rudolf Bultmann vom 24.09.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1460/2. 196 Gemeint sind wahrscheinlich der Philosoph Paul Natorp und der Mediävist Ludwig Wolff. Die anderen beiden Namen können nicht mehr zugeordnet werden. 197 DLA Marbach, Brief Kommerell an Rudolf Bultmann vom 24.09.1943, Nachlaß Kommerell, A: 84.1460/2.

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Den Abstand, den Kommerell zur Universität als Institution einnimmt und den er in anderen Briefen polemisch ausgedrückt hat (vgl. Kap. VII), formuliert er hier ironisch. Mit der Anspielung auf „Lehrstühlerl“ und „Singbänkerl“ grenzt sich Kommerell erneut von seinem Kollegen ab und zeigt Distanz zum eigenen Fach. Bultmann interessiert sich intensiv für Literatur. In vielen Predigten läßt er literarische Zitate einfließen und legt sich dafür einen Zettelkasten mit den verzeichneten Zitaten. Seine bevorzugten Autoren sind Hermann Hesse, Fjodor Dostojewskij und Franz Werfel.198 Diese Auswahl, die Kommerells Kanon völlig entgegengesetzt ist, bildet die Grundlage für einen kontroversen und produktiven Austausch mit Kommerell über Literatur. Nach Erscheinen schickt Kommerell ihm seine Studie Gedanken über Gedichte (vgl. Kap. V), die Bultmann am 4. Juni 1944 positiv kommentiert: „Sie haben durch Ihr Buch dem Pfingstsonntag wie dem heutigen Sonntag einen eigenen Glanz gegeben. Ich muß Ihnen deshalb doch in dieser Abendstunde noch einen kurzen Dank und Gruß schicken. Freilich haben Sie auch in meinen Semesterplan eine große Störung gebracht; denn nachdem ich unter Ihrer Leitung mich wieder in Goethes Gedichte vertiefte, hat mich eine Besessenheit befallen, u. ich bin zugleich Ihr u. Goethes Opfer geworden. Sie werden lächeln! Aber ich tue es mit Ihnen u. bin mit diesem Schicksal nicht unzufrieden. Was das Ende sein wird, weiß ich noch nicht; jedenfalls hat sich wieder ein Betroffensein ereignet, das, hoffe ich, fruchtbar sein wird“.199 Kommerells Schrift ist so anregend, daß sie bei Bultmann „Besessenheit“ auslöst, im Ausdruck „Betroffensein“ geht erneut Heideggers Vokabular ein. Kommerell setzt sich ausführlich mit Bultmanns Reaktion auseinander. In seinem Antwortbrief vom 7. Juni 1944 führt er aus: Ein paar Studentinnen lesen mein Buch [GG], aber unkritisch. Die Art, wie Sie es sich zu Eigen machen, wird mir nur sehr selten widerfahren und da ich mir nie verleugnet habe, daß oft unsere Gedankenbahnen schmerzlich weit auseinander fliehen, genieße ich es nun, daß Sie unter den alten fruchtreichen und schattenspendenden Baum treten und mit mir erklären – hier ist gut verweilen. Ich muß immer wieder sagen: was wären wir ohne Goethe! und in den Gedichten ist seine Magie unverwüstlich, taufrisch, gerade weil er oft gar keins machen wollte, und uns plötzlich ganz unmittelbar anwesend mit einer Stimme, die so löwenhaft dröhnen kann, ein paar Lebensworte zulispelt. Für mich war dies die größte schriftstelle-

198 Vgl. Kuschel, Karl-Joseph: Theologen und ihre Dichter. Analysen zur Funktion der Literatur bei Rudolf Bultmann und Hans Urs von Balthasar, in: Theologische Quartalsschrift 172 (1992), H. 2, S. 98–116 und Kucharz, Thomas: Theologen und ihre Dichter. Literatur, Kultur und Kunst bei Karl Barth, Rudolf Bultmann und Paul Tillich, Mainz 1995, S. 165–234. 199 DLA Marbach, Brief Rudolf Bultmann an Kommerell vom 04.06.1944, Nachlaß Kommerell, A: 84.1523/3.

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rische Schwierigkeit, nachdem ich, [als] erst einmal bei jedem Gedicht klar war, was ich zu sagen hatte, davon nun wieder ganz abzusehn und mich nun auf eine Form des Sagens zu verlegen, die, mich vergessen lassend, Goethe evociert. Man muß die Gegenprobe machen an dem, was klügere Leute über Goethes Gedichte schreiben, etwa Hans Pyritz.200 Er hat recht, aber ihm wird verhängnisvoll, daß er glaubt, die Wahrheit müsse unter allen Umständen die Form des Brechmittels annehmen. (BA 450f.)

Kommerell führt in dem Brief an Bultmann weiter aus, wie Heidegger und Gadamer auf die Gedanken über Gedichte reagierten und wie sich seine Studie zum Fach verhält: „Sie irgendwie zu Goethe überredet zu haben, dazu versteigt sich meine Eitelkeit nicht. Sie haben mir ja selbst gesagt, wie sehr Sie ihn als Dichter des Gedichts lieben und ich glaube, mein Elaborat setzt durchaus die Gründlichkeit eines eigenen Umgangs mit ihm voraus. Welcher furchtbare Rechenfehler unserer guten Freunde, die wacker auf den Planken der wissenschaftlichen Selbstkontrolle, die sie für wurmstichig halten, auf den Magnetberg eines neuen Mythos selbstmörderisch lossteuern, diesen Geist in ihren Registern vergessen zu haben. Gadamer schrieb mir, er habe [in GG] von hinten rein gelesen, Schluck 201 usw. natürlich auch. Was Heidegger von dem Singsang des alten Herrn in Weimar hält, kann man gelegentlich aus Schnitzeln und Abfällen von Vorlesungen als Hörfrucht bestaunen“ (BA 451f.). Am 26. Juni 1944 knüpft Kommerell an diese Argumentation an: „Wenn Sie Zweifel an Goethe haben, so hab‘ ich sie auch. Aber daß jemand bedenkliche und schwierige Anlagen wie vor allem die unerträgliche Sprunghaftigkeit von Anfang an so bewußt erkennt und sich selber als einen ihm von Gott vertrauten Stoff so unbeschreiblich gewissenhaft zu Ende bildet, das ist für mich ein Beispiel der Selbsterziehung, an dem ich mich beständig aufrichte“ (BA 453). Der wissenschaftliche Austausch ist mit einem privaten verwoben, der daher im folgenden gezeigt wird. Am 24. Juli 1938 hatte Bultmann Kommerell zu seiner zweiten Ehe mit den Worten gratuliert: „Die Anzeige von Ihrer Vermählung hat mich herzlich erfreut, u. ich wünsche Ihnen und Ihrer Gattin, daß ein heilbringender Stern über Ihrem gemeinsamen Wege stehe. – Verzeihen Sie, daß meine Wünsche so spät kommen! Erst jetzt beginnt die

200 Gemeint ist Pyritz, Hans: Goethe und Marianne von Willemer, Stuttgart 1941. Kommerell lobt Pyritz auch in einer Rezension: „Doch hiermit [mit Aussagen über Goethes innere Situation] wage ich mich selbst ins Unbeweisbare, und schränke noch einmal ausdrücklich jeden Einwand ein durch den Hinweis darauf, daß wir dieser Studie seit langen Jahren den einzigen wirklichen Zuwachs unseres Wissens um Goethes Leben danken“, Kommerell, Max: Rez. zu Hans Pyritz: Goethe und Marianne von Willemer, in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 61 (1942), S. 29–33, hier: S. 33. Zu Pyritz siehe auch Hempel-Küter, Pyritz, 2000 und Osterkamp, Klassik-Konzepte, S. 150–170. 201 Gemeint ist der Kölner Philosoph Karl-Heinz Volkmann-Schluck.

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

Ferienruhe; bisher war es eine durch Prüfungen u. dergleichen Verpflichtungen beanspruchte Zeit. An Schönes zu denken u. Gutes zu wünschen, das spart man sich lieber für eine ruhige Zeit auf, u. so muß ich Sie bitten, meinen Gruß auch heute noch freundlich aufzunehmen“.202 Beim Aussprechen der Hochzeitsglückwünsche fließt Bultmanns praktische Erfahrung als Pastor ein. Veranlaßt durch eine Hofmannsthal-Lektüre (vgl. Kap. IV) nimmt Kommerell Bezug auf das Thema Ehe und schreibt am 3. Mai 1944 an Bultmann: „Vor Wochen fand ich, in dem Brief, in dem Hofmannsthal Karl Burckhardt zu seiner Verheiratung beglückwünscht, das dictum: die Ehe ist für mich das Sacrament der Sacramente...“ (BA 445).203 Die Behandlung von Hofmannsthal im ‚Literaturkreis‘ findet also Eingang in den Briefwechsel, der bei Kommerell die Vorstufe zum Werk ist. Im Sommer 1944, als sich Kommerells Gesundheitszustand so weit verschlechtert, daß sein naher Tod absehbar ist, entfaltet sich zwischen Bultmann und ihm eine Diskussion über theologische Fragen. Bultmann steht ihm mit Rat zur Seite, wie aus einem Brief vom 4. Juni 1944 hervorgeht: „Möge aber auch das Krankenlager für Sie nicht ein stummes und verstummen machendes Schicksal bedeuten, sondern echtes Betroffenwerden, ruhend u. Ruhe schenkend!“204 Kommerell erläutert Bultmann seinen Glauben am 7. Juni 1944:205 Überhaupt möchte‘ ich Sie einmal fragen: ist Ihnen die teils indifferente, teils aber tief verehrende Haltung des alten Goethe gegen Christus und die Unmittelbarkeit, mit der er ihn, wo er es vermag, aufnimmt, nicht lieber, im Grund nicht christlicher als die sich doch furchtbar hybrid und eigenwillig an ihm vergreifende Christologie eines Hölderlin, eines Novalis? Ich bin der letzte, der leugnete, daß die bezüglichen

202 DLA Marbach, Brief Rudolf Bultmann an Kommerell vom 24.07.1938, Nachlaß Kommerell, A: 84.1523/1. 203 Zu Kommerells Vorstellung von der Ehe auch BA 445ff.: „Zwei Existenzen sind verwoben, eine ist für das andere ganz unausweichlich ihr Schicksal, und lernt, in Beobachtung dieser zarten Gefahr, sich täglich mehr auf das Wachsen, Atmen, Reifen, Antworten, den geheimen Schmerz des andern ein; und so gibt es auch kein Schicksal von außen, das nur eines trifft; selbst das in schweigsamer Brust verschlossene würde doch durch eine unbewachte Geberde für den andern ein Licht oder ein Schatten werden; und es ist, als ob sie beide im Schlafe sprächen, und jedes im Geheimnis des andern tief eingelassen lebte ... Dies steigert sich mit den Jahren und ist ganz unabhängig von allem leidenschaftlichen Wesen. Kinder geben diesem Zustand noch eine so reiche und schwere Folge, daß sie gar nicht auszusprechen ist“. 204 DLA Marbach, Brief Rudolf Bultmann an Kommerell vom 04.06.1944, Nachlaß Kommerell, A: 84.1523/3. 205 Vgl. den Brief von Elfriede Ehl an ihren Mann vom 15. Mai 1943: „Dabei kam er [Kommerell] auch aufs Christentum und sagte, er habe zwar für die christlichen Mysterien und Glaubenssätze kein Verständnis, dazu sei er ein viel zu moderner Mensch, aber das praktische Christentum, das interessiere ihn sehr, da würde er es wohl mit jedem Christen aufnehmen“, zit. nach Blanche Kommerell, Spurensuche, S. 152.

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Gedichte Hölderlins sprachliche Schätze sind, aber sind sie nicht, wenn man davon absieht, arge und nur bei uns mögliche Greuel? Goethe hätte sich lieber in den Ärmel geschneuzt als so etwas gemacht. (BA 452)

Er setzt sich gegenüber Bultmann in aller Offenheit mit dem Tod auseinander und benennt im gleichen Brief die Vaterrolle, die Bultmann für ihn einnimmt: „Die wahrhaft väterliche Zartheit und Fürsorge, mit der Sie mich begleiten und umgeben, dringt mir wirklich ans Herz. Ich kann Ihnen nur mit dem herzlichsten Ausdruck dafür danken. [...] Sonst frage ich manche stille Stunde, auch manche schwierige, was sie mir will, aber die Antwort bleibt undeutlich. Wird sie einmal klarer, so meine ich zu hören: – werde unsichtbar, namenlos, geruchlos, vergiß und sorge vor allem, daß man Dich vergißt“ (BA 450). Aus dem gleichen Brief spricht auch Enttäuschung: „Aber ich habe halt manches ausgestanden und wir sind wenig vorwärts gekommen“ (BA 452). In seinem letzten Brief an Bultmann vom 26. Juni 1944 thematisiert Kommerell wieder das Verhältnis von Kunst und Leben, diesmal zusätzlich mit der Komponente der Angst: Meine innere Habe ist durch neue Attacken so winzig geworden, daß ich Ihren Brief nicht mehr würdig beantworten kann. Wenn ich davon sprach, daß ich zu einem Mäuschen werden will, so war dies ganz nur im Sinne des Bedeutens vor der Welt zu verstehen. Daran, daß ich die köstlichen Annäherungen guter Menschen, mit denen ich beschenkt wurde, vor mir selber verkleinere, hab‘ ich mit keinem Gedanken gedacht. [...] Am Schluß Ihres Briefes kommen Sie nun zu der hochbeliebten Angst und das macht mir Kopfzerbrechen. Kunst und Angst, Angst und Kunst, ob ich da je mit kann! Es ist eben arg mit mir und selbst wenn ich jetzt Angst hätte, – wie komme ich zur Kunst! Doch lassen wir dies, es muß auch unerbrochene Siegel geben. (BA 453)

Kommerell stirbt am 25. Juli 1944 an den Folgen einer Hepatitis. Auf der Gedenkfeier der Universität hält, wie oben zitiert, Julius Ebbinghaus die Ansprache, die Grabrede kommt von Rudolf Bultmann. Elfriede Ehl erinnert sich an Bultmanns Worte und berichtet in einem Brief an ihren Mann vom 29. Juli 1944: Bultmann sprach. Er sprach wundervoll. Kein großes Pathos, aber die Worte kamen aus einem bewegten Herzen und ließen den Heimgegangenen in seinen wesentlichen Zügen vor uns erstehen. Seine Ansprache baute sich auf den Versen des Korintherbriefes auf, die ich oben nannte [1. Kor. 3,18–23]. Er deutete sie auch aus Kommerells Leben, indem er zunächst seine wissende Weisheit hervorhob, die sich im Tode vollendete. Wer ihn noch einmal habe sehen dürfen, hätte auf seinen nun so ruhenden Zügen diese Weisheit beherrschend ausgebreitet sehen können. Auch von dem manchmal närrischen Gewand, in das sich seine überlegene Weisheit kleidete, sprach er. Endlich verweilte er lange beim 21. bis 23. Vers, die zugleich die Freiheit und Gebundenheit des Menschen zum Ausdruck bringen, Züge, die in Kommerells Leben so stark hervortraten. Dabei betonte Bultmann, daß er allerdings keineswegs Christus als die alleinige Bindung betrachtet, ihm aber seine

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Verehrung gezollt habe als einem der großen Künder des Göttlichen. Immer wieder ließ er ihn selbst sprechen. Dazu kam ... ein Wort über Goethe, das Bultmann auf ihn anwandte und das etwa den Sinn hatte: es gab für Goethe kein Credo, dennoch war er in seiner Bindung zum Göttlichen von tiefster Religiosität.206

Die Grabrede Am Sarge Max Kommerells vom 29. Juli 1944 leitet Bultmann mit Zitaten aus Lukas-Evangelium (Luk. 20,38) und Römer-Brief (Röm. 14,7–8) ein.207 Er thematisiert die menschliche Unfaßbarkeit: „Menschliche Worte verstummen angesichts des Leides [...]. Wir wollen uns deshalb ein Wort der Heiligen Schrift sagen lassen, und möge es uns gegeben werden, es wirklich als ein Wort Gottes zu hören!“ Wie Kommerell mit Geist und Buchstabe der Dichtung auf die Korinther-Briefe von Paulus angespielt hat, zitiert auch Bultmann aus diesen Briefen: „Paulus schreibt an die Korinther: ‚Niemand betrüge sich selbst! Welcher sich unter euch dünkt, weise zu sein, der werde ein Narr in dieser Welt, daß er möge weise sein. Denn dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott. Denn es stehet geschrieben: ‚Die Weisen erhascht er in ihrer Klugheit‘ (1. Kor. 3,18–23)“. Mit dem Verweis auf die Philister unterstützt Bultmann Kommerells Kritik an den Fachkollegen. Bultmann sieht nur das Wort Gottes in der Lage, wahren Trost zu spenden: In der Tat: Gottes Wort tröstet auf eine eigene Weise. Es beginnt damit, daß es uns Menschen in unsere ganze menschliche Nichtigkeit hineinweist, daß es uns zwingt, uns unsere ganze menschliche Nichtigkeit einzugestehen. [...] Wir dürfen es mit einem Worte des Entschlafenen sagen: Gott schenkt durch den Tod ‚die Schweigsamkeit, in der die Welt gestillt ist‘. Wo wir als Narren dastehen, weil wir kein einleuchtendes Wort mehr zu sagen haben, sondern verstummen, da sind wir weise geworden. Gottes Wort tröstet uns, indem es uns anweist, den Tod als Lehrer der Weisheit zu verstehen.

Für Bultmann ist der Tod ein Lehrer der Weisheit. Damit stellt er eine persönliche Verbindung zu Kommerells Tätigkeit als Professor her: „Als Lehrer der Weisheit! Denn wenn auch die anderen Züge seines Wesens, zumal der gewinnende Zug der Güte, noch verklärt auf diesem Antlitz sichtbar waren, so war doch beherrschend der Zug der Weisheit, der seinem Antlitz einen ehrfürchtig machenden Ausdruck gab“. Die Weisheit wird als zentrale Eigenschaft Kommerells herausgestellt: Wer ihn kannte, empfand die Weisheit seines Wesens und sieht sie jetzt klarer im Lichte der Todesmajestät, – diese Weisheit, die sich bald in verstehender Güte kundtat, bald in skeptischer Frage oder auch in zürnendem Protest gegen allzu sichere Meinungen und gegen große Worte, bald in lächelndem Humor, bald sogar in spielendem Narrenturm. Ja, es scheint im Rückblick, als sei es seine Devise gewe-

206 Zit. nach Blanche Kommerell, Spurensuche, S. 157. 207 Im folgenden zit. nach Hammann, Bultmann, S. 348ff. Vgl. auch DLA Marbach, Bultmann, Rudolf: ‚Am Sarge Max Kommerells‘, Nachlaß Kommerell, D: 86.528.

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sen: ‚Wer unter euch sich dünkt, weise zu sein, der werde ein Narr in dieser Welt, daß er möge weise sein‘. Nicht alle verstanden das, und mancher nahm Anstoß an seiner Gebärde, an der lächelnden Unverbindlichkeit, die sich auf nichts festzulegen schien; und auch der Freund konnte zuweilen befremdet sein.

Bultmann kritisiert Kommerells Fachkollegen, die Anstoß an seiner Unverbindlichkeit nahmen, und hebt das Verspielte und das „Narrentum“ an Kommerell hervor. Damit meint er nicht zuletzt die Kasperle-Spiele und Kommerells schalkhaftes Wesen. An die Stelle des Lobes setzt Bultmann jedoch die Aufgabe, von Kommerell zu lernen: „Eben jene Weisheit, die ihm eigen war, verlieh ihm eine überlegene Freiheit. In seinem wissenschaftlichen Werk zeigt sie sich in seiner geradezu unbegrenzten Fähigkeit des Verstehens. Eine Fähigkeit, die aber ihre Eigentümlichkeit darin hatte, daß sie nicht nur alle Möglichkeiten menschlichen Empfindens, menschlicher Freude und menschlichen Leids, der wilden Leidenschaft wieder humaner Ausgeglichenheit, umfaßte, ebenso primitives wie hochkultiviertes Menschentum, – sondern daß sein Verstehen alle diese Möglichkeiten begriff von dem Grunde menschlicher Existenz aus, aus dem Verhältnis des Menschen zum Göttlichen“. Daß Bultmann Kommerells unbegrenzte Fähigkeit des Verstehens betont, spricht für wieder für das gemeinsame Interesse an der Hermeneutik. Er nimmt die Diskussionen aus dem privaten Briefwechsel auf und transportiert sie in den halböffentlichen Raum der Grabrede: Wie diese Freiheit, dieses Bewußtsein ‚alles ist euer‘, auch in seinem persönlichen Leben lebendig war – in der umfassenden Fähigkeit, Menschen zu verstehen, in der Offenheit für Begegnungen, in der Fähigkeit zur Freude am Schönen in Natur und Kunst, in der Freude am Großen wie am scheinbar Geringen –, davon empfingen wohl alle, die mit ihm umgingen, einen starken Eindruck. Aber vor allem strahlte von dieser Freiheit eine unendliche Güte aus, die ihn, der sich zu großen Aufgaben verpflichtet wußte, auf die Neigungen anderer aufmerksam, an ihren Freuden und Nöten Anteil nehmen ließ; eine zarte Güte und ein Geschick des Erfreuens und Beschenkens, wie es nur einem innerlich freien Menschen möglich ist.

Die Lektüre von Kommerells Gedanken über Gedichte, die schon in den Briefen thematisiert wurde, geht in die Predigt ein: „Denn wie er es als das Wesen Dichters bezeichnet, sich nicht zu sichern, sondern sich auszusetzen, so gilt es auch für sich, der er ja auch ein Dichter war. Und diese innere Freiheit, dieses ‚alles ist euer‘ bezeugt ein Wort aus einem seiner Gedichte: ‚So ist mir... / ... bewußt nun das langsame Gehen zum Tod hin [...]‘“. Bultmann hat sich also Kommerells eigener Lyrik auseinandergesetzt und zitiert hier aus dem Gedichtband Mit gleichsam chinesischem Pinsel (1944). Mit der Stimmung und Gestimmtheit tauchen wieder Zentralworte von Kommerells Interpretationsverfahren auf: Dies nun, daß er nicht sich selbst, sondern Gott gehörte, prägte sich bei ihm nicht so sehr in der Vorstellung aus als – was das Entscheidende ist – im Wesen. Es prägte

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IX. Der Dialog mit Ebbinghaus, Reidemeister und Bultmann

sich aus in der unbeirrbaren Lauterkeit und Wahrhaftigkeit, die gerade ihn, den scheinbar unverbindlichen Weisen, den distanziiert [sic] Freien, zu den bestimmtesten und schroffsten Urteilen über Menschen und Taten führen konnte, in denen er hohles Gepränge und Unlautbarkeit wahrnahm. Es prägte sich aus vor allem in der Intensität seiner Arbeit, in der er sich verzehrte, und die ihn bis in die letzten Zeiten auf dem Krankenlager in Anspruch nahm, in der Leidenschaft der Hingabe an die Aufgaben, die er sich gestellt sah, und die er in völliger Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst durchführte.

Bultmann formuliert Kommerells mitunter abschätzige Bemerkungen sehr positiv. Er hebt Kommerells intensives Arbeiten hervor: „So ist er, der für viele der Interpret des in der Dichtung gestalteten Lebens war, zum Schluß der Interpret des Wortes geworden, das uns in dieser Stunde aufrichten soll: ‚Alles ist euer, ihr aber seid Gottes!‘“ Bultmann geht am Ende seiner Grabrede auf Kommerells Verfahren der textnahen Beobachtungen ein und erklärt ihn zum „Interpreten des Wortes“, das im Bezug zum Leben stehe: „Denn Trost ist Gottes Wort nie in der Weise, daß es ein Satz, eine Lehre wäre, die Allgemeingültiges in der Weise aussagte, daß man sich daran wie an einen Satz der Wissenschaft halten kann. Sondern Trost ist Gottes Wort nur so, daß es den Menschen innerlich lebendig macht und ihn so zu einer Lebenserfahrung bringt, die ihn stark macht“, denn das Wort „deckt auf, was das innere Leben in solcher Hingabe schon gewonnen hat, eben die innere Freiheit, die glauben kann“. Kommerell hat sich im Aufsatz Wilhelm Meister, den er kurz vor seinem Tod verfaßt hat und der unvollendet blieb, mit der Frage von Tod und Krankheit beschäftigt. Das dort Ausgedrückte kann als Selbstreflexion angesehen werden: „Wo Krankheit ist, ist ein Verlauf; die Krankheit arbeitet sich von innen durch die Gestalt des Menschen hindurch, bis sie diese in Tod auflöst“ (EN 164). Das Verhältnis zwischen Kommerell und Bultmann zeigt einen Austausch zwischen Literatur und Theologie. Kommerell wendet Bultmanns Entmythologisierungsprogramm auf Rilke an, Bultmann unternimmt auf Anregung Kommerells eine Re-Lektüre Goethes – beide akzentuieren den hermeneutischen Verstehensakt. Damit verbunden ist ein Bewußtsein für historische und kulturelle Differenzen und für den Rekonstruktionsvorgang im Umgang mit Texten. Kommerell – das haben schon die Ausführungen über Calderón gezeigt (vgl. Kap. VI) – akkumuliert Wissen, um sich vergangenen Texten nähern zu können. Er reflektiert das akkumulierte Wissen als Kontextwissen und setzt es kontrolliert beim Verstehensakt ein. Auch wenn er keine Methode der Hermeneutik ausformuliert hat, entwickelt er ein Bewußtsein dafür und wendet hermeneutische Verfahren gezielt an. Als Ergebnis für die Gesamtfragestellung ist aus diesem Kapitel mitzunehmen, daß Kommerell in Marburg durch den Umgang mit Vertretern aus

IX.3 Rudolf Bultmann: Theologie und Fragen der Hermeneutik

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den Fächern Philosophie, Mathematik und Theologie Anregungen für weiter ausgreifende Denkbewegungen erhält. Seine Affinität zu Kreisen kann er dort in vielfältiger Weise umsetzen: durch den kleinen Graeca-Kreis mit Rudolf Bultmann und den großen Literaturkreis im Hause Kurt Steinmeyers. Es wird deutlich, wie sich die Diskussionen, die in den Kreisen geführt werden, auf die Publikationen der Mitglieder niederschlagen. Nach der Auseinandersetzung mit klassischer Philologie in Frankfurt und der Hinwendung zur Komparatistik in Bonn und Köln verstärkt der Austausch mit Philosophen, Mathematikern und Theologen in Marburg noch die Ausrichtung auf die Interdisziplinarität. Dementsprechend äußert Kommerell die eingangs zitierte Selbstbeschreibung als „Todfeind“ der Fachgenossen bezeichnenderweise gegenüber Bultmann. Kommerell wiederum wirkt auf seine Korrespondenzpartner ein und inspiriert sie zu neuen Sichtweisen auf deutsche Literatur. Reidemeisters Lyrikdeutung beeinflußt er und vermittelt ihm einen Publikationsort wiederum beim Frankfurter Klostermann-Verlag. In der Methodik bei der Textauslegung sind starke Parallelen zwischen der theologischen Hermeneutik Bultmanns, die im Zusammenhang mit der philosophischen Hermeneutik Heideggers und Gadamers steht, und der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik Kommerells festzustellen, die für die These von einer fächerübergreifenden Marburger Hermeneutik sprechen.

X. Ausblick In der vorliegenden Untersuchung wurde herausgearbeitet, daß sich in Kommerells intellektueller Biographie die Kontakte zu anderen Wissenschaftlern auf sein Produktionsverfahren in vielfältiger Weise auswirken. Kommerells Position ist im interdisziplinären Wissenschaftssystem zwischen Germanistik, klassischer Philologie, Romanistik, Philosophie und Theologie verortet worden. Anhand seines Interpretationsverfahrens wurde auf Entwicklungen in der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik als Disziplinengeschichte eingegangen. Aus den Ergebnissen, die in der Arbeit erzielt wurden, ergeben sich aufbauende Frage- und Aufgabestellungen. Die gezeigten Wechselwirkungen zwischen den Bereichen Wissenschaft und Dichtung bei Kommerell führen zu der These, daß er, immer wenn er sich wissenschaftlich mit einer der Gattungen Lyrik, Drama oder Prosa beschäftigt, zur gleichen Zeit poetische Produktionen in der selben Gattung hervorbringt. Die wissenschaftlichen Arbeiten nehmen das Primat ein, die Dichtungen dienen der Ablenkung und dem Ausgleich. Außerdem bieten sie ihm die Möglichkeit zu Inszenierungen und Selbststilisierungen gegenüber Kollegen. Kommerell ist also in erster Linie Wissenschaftler, betätigt sich aber auch kontinuierlich als Dichter, nicht zuletzt als Lyriker. Eine systematische Untersuchung seiner sieben Gedichtbände bleibt Aufgabe für weitere Forschungen. Kommerells Marbacher Nachlaß wurde für diese Arbeit ausgiebiger konsultiert als in jeder anderen zuvor. Der Briefwechsel gibt Einblicke in Produktionsweisen, Selbstbilder und Selbstinszenierungen, wie an zahlreichen Stellen gezeigt werden kann. Aus den Briefen ließen sich noch viele weitere Aspekte entfalten und Thesen entwickeln. Nicht nur die Jahre nach 1930, sondern auch die George-Zeit, die hier zwangsläufig konzise gehalten werden mußte, verspricht viele neue Aufschlüsse. Besonders bietet der umfangreiche Briefwechsel mit Rudolf und Emma Rahn noch Gegenstand für gesonderte Studien. Abgesehen vom Briefwechsel liegen im Marbacher Archiv die umfangreichen Aufzeichnungen Kommerells. Sie stellen ebenfalls ein reiches, noch nicht ausgeschöpftes Material für weitere Forschungen dar. Dabei können sie Fragen zu Auswahl und Bearbeitung von Themen, Ausformulierung von Gedanken und der Entwicklung von Ideen beantworten. In der vorliegenden Arbeit wurde auf den Methodenwechsel in der Germanistik um 1940 hingewiesen. Kommerell konnte dabei als einer seiner

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X. Ausblick

Initiatoren – neben Emil Staiger, Wolfgang Kayser, Clemens Heselhaus und anderen – herausgestellt werden. Bisher setzten die Forschungen zur Geschichte der ‚werkimmanenten Interpretation‘ meist bei der Zeit nach 1945 an,1 vereinzelt schon bei Heinz Otto Burgers Gedicht und Gedanke (1942). Weitere Forschungen zu Vorformen der ‚Werkimmanenz‘ vor 1940 wären notwendig – nicht zuletzt um die Besonderheit von Kommerells textnahen Beobachtungen ihr gegenüber konturieren zu können. Kommerell nimmt in der Fachgeschichte eine singuläre Position ein. Sie wird durch Wissenschaftskritik, Sprachartistik und Autoreferentialität geprägt. In sein Wissenschaftskonzept fließen Vorstellungen verschiedener, z. T. disparater intellektueller Kreise ein: Jugendbewegung, George-Kreis, Frankfurter Altphilologen-Kreis und interdisziplinärer Marburger Kreis. Kommerell eignet sich auch Vorstellungen von Vertretern der konservativen Revolution, wie Hugo von Hofmannsthal, an. Er nimmt wie viele Zeitgenossen die Moderne als Krise wahr. Dabei spielen Krise des Historismus, Niederlage im Ersten Weltkrieg und Unruhen in der Weimarer Republik eine Rolle. Den Verherrlichungen der Moderne stellt er sein Konzept der „anderen Moderne“ gegenüber.2 Er identifiziert sich daher mit Autoren wie Goethe, denen er Ganzheit zuschreibt, und Dramatikern wie Calderón, bei denen er statt moderner Charakterpsychologie abstrakte Symbolik vorfindet. Aus der Gesamtuntersuchung von Kommerells intellektueller Biographie, von seinen Kontakten zu anderen Wissenschaftlern und den damit verbundenen Auswirkungen auf sein Produktionsverfahren ergeben sich abschließend fünf Thesen: 1. Wissenschaftsgeschichte hat die Personen-, Institutionen- und Konzeptebene zu verbinden. Daher wird hier, in Fortführung bereits erprobter Ansätze, eine integrierende Perspektive vertreten. Personen-, Institutionen- und Konzeptebene der Wissenschaftsgeschichte lassen sich in der Gattung der Biographie am ertragreichsten zusammenführen. Kommerells individuelles Wissenschaftskonzept geht aus seiner Sozialisation durch das humanistische Gymnasium, die Jugendbewegung, den George-Kreis und den Intellektuellenaustausch mit befreundeten Professoren hervor. Auf der Institutionenebene konnte gezeigt werden, wie im Nationalsozialismus Staat und Partei bestrebt sind, Einfluß auf die Wissenschaft zu nehmen, und wie die Institution Universität – häufig erfolgreich – versucht, ihre relative Autonomie zu wahren. Berufungskommissionen halten mitunter, wie im Fall Kommerells,

1

2

Vgl. Danneberg, Interpretation, S. 313–342 und Rickes/Ladenthin/Baum, Kunst, passim. Der Aufsatz von Hans-Harald Müller behandelt zwar den früheren Zeitraum, konzentriert sich aber nur auf die Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, vgl. Müller, Genealogie, 269–282. Vgl. Kolk, Gruppenbildung, S. 540.

X. Ausblick

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am Kriterium der wissenschaftlichen Eignung fest, das sie stärker gewichten als die politischen Einstellungen der Bewerber. Kommerells Verhalten gegenüber dem Regime ist ambivalent und situationsabhängig. Wenn er seine eigenen Vorteile durchsetzen kann, ist er bereit, zu taktieren und Kompromisse einzugehen. 1939 tritt er in die NSDAP ein, um nach mehrmaliger Ablehnung seine Chancen auf eine Berufung zu erhöhen. Nach Erwägung der gesamten Situation kommt die vorliegende Arbeit zu dem Schluß, Kommerells Verhalten als opportunistisch zu bezeichnen. Auf der Konzeptebene wurde herausgearbeitet, wie der Wandel von der ‚geistesgeschichtlichen‘ Literaturwissenschaft zur ‚werkimmanenten Interpretation‘ auf der einen Seite und Kommerells Entwicklung von der Heroenbiographik im George-Kreis zu textnahen Beobachtungen auf der anderen Seite parallel laufen. Kommerell stellt eine innovative Vorform der ‚werkimmanenten Interpretation‘ dar, von der er sich jedoch durch den Abstraktionsgrad seiner Schriften abhebt. Der Konzeptwechsel in der Fachgeschichte läßt sich also begrenzt an Kommerell nachzeichnen. 2. Der Brief steht in vielfacher Hinsicht im Zusammenhang mit Kommerells wissenschaftlichen Publikationen. Zum einen gehören dazu die Mitteilungen von Ideen zu neuen Forschungsprojekten und die Berichte vom Fortgang begonnener Publikationsvorhaben. Kommerell benutzt zum anderen den Brief dazu, sich durch den Austausch mit seinen Korrespondenzpartnern inspirieren zu lassen. Er schickt Exemplare seiner Schriften an befreundete Professoren und bittet sie um Kommentare und Rezensionen. Damit versucht er, die Rezeption seiner eigenen Schriften zu steuern. Der Brief ist zudem für Kommerell ein Ort, an dem er seine Schriften selbst auslegt und seine Intentionen erklärt. Die Diskussion von Publikationsvorhaben in Briefen mag zwar ein nicht ungewöhnlicher Vorgang in der Korrespondenz zwischen Wissenschaftlern sein. Selten läßt sich dies jedoch so anschaulich nachvollziehen und so eindeutig belegen, wie am Beispiel Kommerells. Denn Kommerell nutzt seine Briefe zur fortschreitenden Entwicklung seiner Gedanken. Er übernimmt Formulierungen aus seinen Briefen direkt oder indirekt in seine Veröffentlichungen, wie am Beispiel der Nachlese der Gedichte (Kap. IV) oder der Kontroverse mit Werner Krauss um den unbestimmten Artikel (Kap. VI) gezeigt wurde. Somit dient Kommerell der Brief als Medium zur Erprobung und Reflexion philologischer Arbeitsprogramme und zur Proliferation von Ideen. Seine Publikationen entstehen im Dialog mit wissenschaftlichen Korrespondenzpartnern, sein Produktionsverfahren zeigt also den Weg vom Brief zum Werk. 3. Der Austausch mit anderen Wissenschaftlern funktioniert über Kreise, die sich meist als Lesekreise konstituieren. Der erste Wissenschaftlerkreis, dem Kommerell angehört, ist der Frankfurter Kreis mit Karl Reinhardt, Walter F. Otto, Kurt Riezler und Karl Schlechta. Zu ihm gehören auch

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die Heidelberger Professoren Heinrich Zimmer und Viktor von Weizsäcker. Es folgt der Romanisten-Kreis mit Ernst Robert Curtius, Fritz Schalk und Werner Krauss, der sich nicht versammelt, sondern als Korrespondenzkreis zirkulär verfährt. Die dritte Gruppe ist der Hölderlin-Kreis mit Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer, die sich hierarchisch in einem ‚Wissenschaftsdreieck‘ anordnet. Der vierte Kreis ist der Marburger Kreis mit Julius Ebbinghaus, Kurt Reidemeister und Rudolf Bultmann, der sich unterteilt in den ‚Graeca‘- und den ‚Literaturkreis‘. Kommerell bedarf also nicht nur eines bipolaren Austauschs, sondern mehrköpfiger Zusammenkünfte. Hier wirkt auch seine Erfahrung aus dem George-Kreis nach. Seine Studien beziehen sich in hohem Grad auf den Austausch mit anderen Wissenschaftlern. Sie sind also, um es noch zuzuspitzen, auch ohne Detailkenntnisse des GeorgeKreises zu verstehen, nicht aber ohne Rekonstruktion der produktiven Interdependenzen mit anderen Wissenschaftlern der Frankfurter und Marburger Zeit. 4. Kommerells literaturwissenschaftliche Methode liegt im Verfahren der textnahen Beobachtungen. Dieses Verfahren besteht aus mehreren Merkmalen, die in fast allen Untersuchungen nachweisbar sind: Kommerell macht z. T. seitenlange Inhaltsangaben, um sich den Inhalt vor Augen zu stellen, bevor er ihn interpretieren kann. Er bezieht die unterschiedlichen Textfassungen ein mit der Annahme, dadurch die Kernaussagen herausarbeiten zu können. Seine Aussagen stellt er mit den Mitteln einer Sprachartistik dar, die besonders das rhetorische Mittel des scheinbaren Paradoxons – ‚Sprache und das Unaussprechliche‘ – einsetzt. Er nimmt Typologisierungen vor und versucht, den Dichtungen Gesetzmäßigkeiten zu unterstellen und sie in Schemata zu kategorisieren. Das in Geist und Buchstabe der Dichtung exponierte „unbefangene Befragen des Gegenstandes“ stellt eine contrafaktische Imagination dar. Kommerells Beobachtungen verbleiben nicht auf der immanenten Ebene, sondern unternehmen einen Reflektionsschritt durch Abstrahierung und stellen häufig einen Bezug der Kunst auf das Leben dar. 5. Kommerell verfügt über eine Doppelbegabung als Schriftsteller und Wissenschaftler. Er agiert in zwei z. T. gegensätzlichen Bereichen und versucht, sie in sein Leben einzubinden. Das wirkt sich auf seine wissenschaftlichen Schriften aus. Deswegen steht am Anfang seines Schaffens eine kritische Haltung zur Wissenschaft. Bei Kommerell treten drei Arten von Wissenschaftskritik auf. Zu nennen sind ersten die in wissenschaftlichen Publikationen durchaus üblichen Auseinandersetzungen mit dem bisherigen Forschungsstand; die Kritik an nicht namentlich genannten Autoren funktioniert dabei als Invisibilisierungsstrategie. Hinzu kommt die kritische Distanzierungen von eingeführten Konzepten und Verfahren der textinterpretierenden Disziplinen. Schließlich ist eine grundsätzliche Ablehnung philologisch-historischer Textumgangsformen festzustellen. Die Formen der

X. Ausblick

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Wissenschaftskritik sind Voraussetzung für Kommerells Konzept der Wissenschaftskunst. In diesem Konzept werden Grenzen des wissenschaftlichen Feldes gesprengt, um Wissenschaft und Kunst zusammenzuführen. Umgesetzt wird dieses Vorhaben im Verfahren der textnahen Beobachtungen. Die Form ist ein suggestiver, essayistischer Stil. Mit dem Konzept der Wissenschaftskunst reagiert Kommerell auf die aktuelle Krise seines Faches ebenso wie auf die allgemeine Krise der Moderne. Die Wissenschaftskunst richtet sich gegen die Entdifferenzierung der Wissenschaft und strebt eine Vereinigung von Wissenschaft und Kunst an, durch die der mit sich selbst entzweite Mensch wieder zusammengeführt werden soll. Bis zum Ende arbeitet Kommerell am Projekt einer Wiederherstellung des Lebens auf einer höheren Stufe – im Medium der Kunst.

A NHANG

A.1 Abkürzungsverzeichnis BayHStA BIOS DAZ DFG DLA DVjs FAZ Fg. Fs. GeGe IASL IGL JbDSG JbFDH N. F. NS NSDAP NR NZZ RF RSK SoSe StAM StGA SZ ULB WS

Bayerisches Hauptstaatsarchiv München Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen Deutsche Allgemeine Zeitung Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Frankfurter Allgemeine Zeitung Festgabe Festschrift Geschichte der Germanistik Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur Internationales Germanistenlexikon Jahrbuch der Deutschen Schillergemeinschaft Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Neue Folge Nationalsozialismus Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands Die Neue Rundschau Neue Zürcher Zeitung Romanische Forschungen Reichsschrifttumskammer Sommersemester Hessisches Staatsarchiv Marburg Stefan George Archiv Süddeutsche Zeitung Universitäts- und Landesbibliothek Wintersemester

A.2 Siglenverzeichnis Die häufig zitierte Schriften werden nach Siglen direkt im Text angegeben. Die hier zur Übersicht aufgeführten Kurztitel sind in der Bibliographie vollständig erschließbar. Schriften von Max Kommerell: BA BC DD DF DW EJ EN GB GG GÜ HH JG JP JV KB KC LA LT SG SP

Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944 (1967) Beiträge zu einem deutschen Calderon, Bd. 2 (1946) Dame Dichterin und andere Essays (1967) Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (1928) Dichterische Welterfahrung. Essays (1952) Goethe und die europäische Jugend (1943) Essays, Notizen und poetische Fragmente (1971) Geist und Buchstabe der Dichtung (1940) Gedanken über Gedichte (1943) Gedichte, Gespräche, Übertragungen (1973) Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede (1930) Jugend ohne Goethe (1931) Jean Paul (1933) Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau (1925) Das kaiserliche Blut (1938) Die Kunst Calderons (1946) Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie (1940) Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern. Eine Erzählung von gestern (1940) Schiller als Gestalter des handelnden Menschen (1934) Schiller als Psychologe (1934)

Schriften anderer Autoren: CUM CUK CUG CUH HPH KDV OTD RSO

Ernst Robert Curtius: Calderón und die Malerei (1936) Ernst Robert Curtius: Calderóns Kunsttheorie und die ‚artes liberales‘ (1993) Ernst Robert Curtius: George, Hofmannsthal und Calderón (1947) Ernst Robert Curtius: Hofmannsthal und Calderon (1937) Hugo von Hofmannsthal: Kaiser Phokas (Fragment, Sämtliche Werke XIX, 17) Werner Krauss: Dichter des Volkes (1953) Walter F. Otto: Dionysos (1933) Karl Reinhardt: Sophokles (1933)

A.3 Bibliographie A.3.1 Primärliteratur A.3.1.1 Primärliteratur von Max Kommerell A.3.1.1.1 Archivquellen Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW), Nachlaß Krauss. Bundesarchiv Berlin, Berlin Document Center, RSK II, I 294, 2531–2604. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA), Akten des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, Universität Würzburg. Philosophische Fakultät. Ordentliche Professur für neuere deutsche Literaturgeschichte, Bd. II, Mk 72596. Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar (DLA Marbach), Nachlaß Alewyn, Briefwechsel Kommerell, Max – Alewyn, Richard, A: 89.5.1032. DLA Marbach, Nachlaß Gadamer, Briefwechsel Kommerell, Max – Gadamer, Hans Georg, A: Gadamer. DLA Marbach, Nachlaß Heidegger, Briefwechsel Heidegger, Martin – Kommerell, Max, A: B. 73, 75.7353. — , Heidegger, Martin: Prosa. Reden und Vorträge „Max Kommerell-Feier“, 27. Februar 1962, A: B. 73, 75.7353. — , Kommerell, Max: Hölderlins Hymnen in freien Rhythmen, A: B. 73, 75.7353. DLA Marbach, Nachlaß Klostermann, Briefwechsel Kommerell, Max – Klostermann, Vittorio, A: Klostermann. DLA Marbach, Nachlaß Kommerell: Briefwechsel Kommerell, Max – Bettner, A: 86.501/3–4. — , – Bertram, Ernst, A: 84.1515/1–3. — , – Bultmann, Rudolf, A: 84.1460/1–84.1523/3. — , – Curtius, Ernst Robert und Ilse, A: 84.1461–84.1532/2. — , – Ebbinghaus, Carl Hermann, A: 99.126.1/1–2. — , – Gadamer, Hans-Georg, A: 84.1547/3–10. — , – Glunz, Hans Hermann, A: 84.1556. — , – Heidegger, Martin, A: 84.1561/1–5. — , – Heusler, Andreas, A: 84.1564. — , – Kayka, Ernst, A: 84.1476/4–84.1480/1. — , – Krüger, Gerhard, A: 84.1581. — , – Liebeneiner, Wolfgang, A: 84.1589/1–2. — , – Meisner, A: 86.501/1. — , – Otto, Walter F., A: 84.1601/1–84.1604/2. — , – Reidemeister, Kurt, A: 84.1502/1–86.1714. — , – Reinhardt, Karl und Elly, A: 56.355–84.1615/5.

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Anhang

— , – Riezler, Kurt, A: 84.1617/1–2. — , – Schalk, Fritz, A: 84.1505/1–84.1621. — , – Schwietering, Julius, A: 84.1637. — , – Snell, Bruno und Herta, A: 84.1506–84.1639/2. — , – Steiner, Herbert, A: 84.1645/2. — , – Weizsäcker, Olympia von, A: 84.1654. Manuskripte Kommerell, Max: — , Arbeitsheft 1936, D: 86.486. — , Arbeitsheft um 1939 [1937–1938], D: 86.487. — , Arbeitsheft 1943, D: 86.490. — , Calderon de la Barca, Pedro: Dramatisches, D: 86.473–86.474. — , Dokumente: Schulzeugnisse, D: 02.166.4. — , Goethe und die europäische Jugend, D: 86.437. — , Das kaiserliche Blut, Typoskript[A], D: 86.422/1. — , Das kaiserliche Blut, Typoskript[B], D: 86.422/2. — , Konvolut Gedichte Bd. 2, D: 86.413. — , La brevita de Hölderlin, D: 86.555/5. — , Mappen I A – II V, D: 86.542–86.580. — , Nachlese der Gedichte, D: 86.446. — , Ostasien, D: 86.479. — , Spanien, D: 86.480. — , Stabkunst des deutschen Heldenliedes, A: x, 85.39. — , Tagebuch, D: 86.493. — , Übersetzungen, D: 86.475. Manuskripte Anderer: — , Bultmann, Rudolf: ‚Am Sarge Max Kommerells‘, D: 86.528. — , Ebbinghaus, Julius: ‚Zum Gedächtnis Max Kommerells 12. August 44‘, D: 86.529. — , Ehl, Elfriede: Prosa. Vorlesungen, D: 86.467–86.470. — , Reidemeister, Kurt: Über den Nachlaß von Max Kommerell, D: 86.534. — , Rey, Hannelore: Prosa. Vorlesungen, D: 86.466. — , Teubruck, Gertrud?: Prosa. Vorlesungen, D: 86.469–86.470. — , Wittlich, Susanne: Max Kommerells Calderón-Übersetzungen, Magisterarbeit, Univ. München 1989, A: x, 90.6.1. — , Wolff, Ludwig: Gedichte ‚Germanistenabend. 20.5.41‘, D: x, 86.537. DLA Marbach, Nachlaß Ruprecht, Ruprecht, Annemarie: Prosa. Vorlesungen, A: Ruprecht. DLA Marbach, Nachlaß Zimmer, Briefwechsel Kommerell, Max – Zimmer, Christiane und Heinrich: A: 74.115–74.122. Julius-Ebbinghaus-Archiv, Universität Wuppertal, Ebbinghaus, Julius: Brief Julius Ebbinghaus an Rudolf Bultmann vom November 1943. — , Briefwechsel Ebbinghaus, Julius – Kommerell, Max. — , Ms. Bultmann, Entmythologisierung, 1 Bogen. — , Ms. Hölderlin und die Antike, 7 Bögen. — , Ms. Hölderlin und die Griechen, 30 Bögen. — , Ms. Reidemeister, 5 Bögen. Hessisches Staatsarchiv Marburg (StAM), 305a Acc. 1978/15 Nr. 4054a. — , 307d Acc. 1966/10 Nr. 139. — , 307d Acc. 1966/10 Nr. 141b. — , 307d Acc. 1967/11 Nr. 371.

A.3 Bibliographie

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— , 310 Acc. 1978/15 Nr. 2898b. Stefan-George-Archiv (StGA), Briefwechsel Kommerell, Max – Bertram, Ernst, Kommerell II, 1101–1107. — , Briefwechsel Kommerell, Max – Steiner, Herbert, Kommerell II, 1601–1632. Universitäts- und Landesbibliothek Bonn (ULB Bonn), Nachlaß Curtius I, Briefwechsel Kommerell, Max – Curtius, Ilse, Acc.-Nr. 85/1–3. — , Nachlaß Schalk I. Universitätsarchiv Frankfurt/M, Pers.-Akte Kommerell, Bl. 1–80. Universitätsarchiv Gießen, PrA Phil 29. Universitätsarchiv Köln, Zug. 453/6–7.

A.3.1.1.2 Editionen Kommerell, Max: Briefe und Aufzeichnungen 1919–44, aus dem Nachlaß hrsg. v. Inge Jens, Olten 1967 [= BA]. — : Dame Dichterin und andere Essays, hrsg. u. mit einem Nachwort v. Arthur Henkel, München 1967 [= DD]. — : Dichterische Welterfahrung. Essays, hrsg. v. Hans-Georg Gadamer, Frankfurt/M 1952 [= DW]. — : Essays, Notizen, Poetische Fragmente, aus dem Nachlaß hrsg. v. Inge Jens, Olten/ Freiburg/B 1969 [= EN]. — : Gedichte, Gespräche, Übertragungen, aus dem Nachlaß hrsg. v. Inge Jens, Olten/ Freiburg/B 1973 [= GÜ]. — : Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin [1940], 6. Aufl. mit editor. Anh., Frankfurt/M 1991 [= GB]. — : Die Kunst Calderons, hrsg. mit einem Vorwort v. Fritz Schalk, 2. durchges. Aufl., Frankfurt/M 1974 [= KC].

A.3.1.1.3 Veröffentlichte Primärliteratur Ankunft Elvirens in der Höhle. Losbittung, in: NR 73 (1962), H. 2/3, S. 402–437. Beiträge zu einem deutschen Calderon, Bd. 1: Etwas über die Kunst Calderons, Frankfurt/M 1946. Beiträge zu einem deutschen Calderon, Bd. 2: Das Leben ist Traum, Die Tochter der Luft, Frankfurt/M 1946 [= BC]. Bemerkungen zum Stabvers, in: Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 1 (1936), H. 1, S. 53–61. Betrachtung über die Commedia dell’arte, in: DW, S. 159–173 [erstmals in: Blätter der Städtischen Bühnen Frankfurt/M 8 (1940/41), S. 26–36]. Das Buch der geheimen Ergänzungen – Fragmente, in: EN, S. 277–380. Calderón-Übertragungen aus: La Hija del aire, in: RF 55 (1941), H. 1, S. 105–112. Dame Dichterin, in: DD, S. 147–158 [erstmals in: Corona 8 (1938), H. 5, S. 488–510]. Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin [1928], 3. Aufl. mit einem Geleitwort v. Eckhard Heftrich, Frankfurt/M 1982 [= DF]. Dichtersprache und Sprache des Alltags, in: GeGe 25/26 (2004), S. 84–86. Die Dichtung in freien Rhythmen und die Religiösität der Dichter, in: Mitteilungen des Universitätsbundes Marburg 21 (1941), H. 2/3, S. 74–94.

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Anhang

Don Pedro Calderon de la Barca, Das Leben ist Traum. Schauspiel in 3 Akten. Deutsche Nachdichtung, Leipzig o. J. Don Pedro Calderon de la Barca, Die Tochter der Luft. Drama in zwei Teilen. Deutsche Nachdichtung, Leipzig o. J. (Der junge Bühnenvertrieb R. Steyer, Manuskriptdrucke 1–5, 1940). Don Quijote und Simplicissimus, in: EN, S. 37–80. Faust und die Sorge, in: GB, S. 75–111 [erstmals in: Goethekalender auf das Jahr 1939 (32. Jg.), S. 89–130]. Faust II letzte Szene, in: GB, S. 112–131 [erstmals als: Die letzte Szene der Faustdichtung. Ein Interpretationsversuch, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 77 (1940), H. 2/3, S. 175–188]. Faust II. Teil. Zum Verständnis der Form, in: GB, S. 9–74 [erstmals in: Corona 7 (1937), H. 2, S. 207–232 und H. 3, S. 366–395]. Gedanken über Gedichte [1943], Frankfurt/M 41985 [= GG]. Die Gefangenen. Ein Trauerspiel in 5 Akten, Frankfurt/M 1948. Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt, Berlin 1929 [wieder in: GÜ, S. 45–87]. Goethe und die europäische Jugend, in: Deutschland – Frankreich. Vierteljahresschrift des deutschen Instituts Paris 2 (1943), H. 6, S. 1–11 [= EJ]. Goethes Gedicht, in: DW, S. 23–52 [erstmals in: Goethekalender auf das Jahr 1936 (29. Jg.), S. 133–169]. Goethes Ballade vom vertriebenen Grafen, in: NR 47 (1936), S. 1209–1219 [überarb. wieder als: Die Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen, in: GG, S. 398–417]. Goethes indische Balladen, in: Goethe-Kalender auf das Jahr 1937 (30. Jg.), S. 158–185 [überarb. wieder in: GG, S. 364–371 u. 417–429]. Hieronima, in: Karussell. Literarische Monatsschrift 2 (1947), H. 16, S. 2–19. Hieronyma, Wiesbaden 1954 (Insel-Bücherei 591). Hölderlin-Gedenkrede Juni 1943, in: Hölderlin-Jahrbuch 15 (1967/68), S. 240–254. Hölderlins Empedokles-Dichtungen, in: GB, S. 318–357. Hugo von Hofmannsthal. Eine Rede, öffentliche Antrittsvorlesung, gehalten am 01.11.1930, an der Universität Frankfurt a. M., Frankfurt/M 1930 (Wissenschaft und Gegenwart 1) [= HH]. Humoristische Personifikation im ‚Don Quijote‘, in: DW, S. 109–146 [erstmals in: NR 49 (1938), H. 3, S. 209–232]. Immermann und das neunzehnte Jahrhundert, in: EN, S. 187–222. Jugend ohne Goethe, Frankfurt/M 1931 (Wissenschaft und Gegenwart 2) [= JG]. Jean Paul [1933], 5. durchges. Aufl., Frankfurt/M 1977 [= JP]. Jean Paul in Weimar, in: DW, S. 53–82 [erstmals in: Das Innere Reich 3 (1936), 1. Halbjahr, S. 47–65]. Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau. Nach den Haupt-Romanen dargestellt, Marburg 1924 (Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft 23) [= JV]. Das kaiserliche Blut. Ein Drama im barocken Stil, Frankfurt/M 1938 [= KB]. Kasperle-Spiele für grosse Leute. Mit Illustrationen v. Robert Pudlich u. einem Nachwort hrsg. v. Arthur Henkel, Krefeld 1948. Kasperle-Spiele für große Leute. Mit einem Nachwort hrsg. v. Joachim W. Storck, Göttingen 2002. Die kürzesten Oden Hölderlins, in: DW, S. 194–204 [erstmals in: Deutschunterricht im Ausland, Vierteljahrsschrift des Goethe-Instituts der Deutschen Akademie 1943/44, H. 1 [Okt.-Dez. 1943], S. 48–53].

A.3 Bibliographie

559

Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern. Eine Erzählung von gestern [1940], Frankfurt/M 1979 (Bibliothek Suhrkamp 656) [= LT]. Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie [1940], 5. Aufl. mit Berichtigungen u. Nachweisen, Frankfurt/M 1984 [= LA]. Mein Anteil. Gedichte, Berlin 1938. Mit gleichsam chinesischem Pinsel, Frankfurt/M 1944. Nachlese der Gedichte, in: NR 65 (1954), S. 568–573. Neue Calderon-Übertragungen, aus: Tochter der Luft, 1. Teil, in: NR 48 (1937), H. 3, S. 309–328. Novalis: Hymnen an die Nacht, in: Gedicht und Gedanke. Auslegungen deutscher Gedichte, hrsg. v. Heinz Otto Burger, Halle/S 1942, S. 202–236. Das Problem der Aktualität in Hölderlins Dichtung, in: DW, S. 174–193 [erstmals in: Geist der Zeit, Wesen und Gestalt der Völker, Organ des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (N. F. „Hochschule und Ausland“) 19 (1941), H. 10, S. 570–580]. Rez. zu G. C. L. Schuchard: Studien zur Verskunst des jungen Klopstock, in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 46 (1927), S. 163–164. Rez. zu Hans Pyritz: Goethe und Marianne von Willemer, in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 61 (1942), S. 29–33. Rez. zu Walther Rehm: Der todesgedanke in der deutschen dichtung vom mittelalter bis zur romantik, in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 49 (1930), S. 31–37. Rilkes Duineser Elegien, in: GG, S. 491–501. Schiller als Gestalter des handelnden Menschen. Gedenkrede, gehalten in der Universität Bonn am 9. November 1934, Frankfurt/M 1934 (Wissenschaft und Gegenwart 6) [= SG]. Schiller als Psychologe, in: DD, S. 65–115 [erstmals in: JbFdH 1934/35, S. 177–219, wieder in: GB, S. 175–242] [= SP]. Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist, in: GB, S. 243–317 [erstmals in: Das Innere Reich 4 (1937), H. 1, S. 654–697]. Das Tagebuch einer Alternden, in: NR 51 (1940), H. 3, S. 146–151. Terzinen an die Nacht. Ein Marionettenspiel, in: NR 50 (1939), H. 11, S. 374–384. Ueber August Halm, in: Der Bund. Ein Blatt der deutschen Jugendbewegung 3 (1921), H. 1/2, S. 21–24. Übertragungen. Michelangelo: Dichtungen, Frankfurt/M 1931 [wieder in: GÜ, S. 295– 334]. Übertragungen aus der Elektra des Sophokles, in: Werke und Tage. Fs. für Rudolf Alexander Schröder, hrsg. v. Ernst L. Hauswedell u. Kurt Ihlenfeld, Berlin/Hamburg 1938, S. 88–91. Übertragungen aus Calderon. Der wundertätige Magus, Das Leben ist Traum, in: NR 47 (1936), H. 5, S. 449–463. Übertragungen aus Calderón. Das Leben ist Traum, in: RF 56 (1942), S. 33–48. Die verkindlichten Gatten, in: NR 64 (1953), H. 4, S. 516–529. Der Vers im Drama, in: DW, S. 147–158 [erstmals in: Blätter des Hessischen Landestheaters in Darmstadt, Spielzeit 1939/40, H. 9, S. 85–96]. Wilhelm Meister, in: EN, S. 81–186.

560

Anhang

A.3.1.2 Primärliteratur anderer Autoren Anonym: Die Erstaufführung von Calderons „Das Leben ist Traum“, in: Welt-NeuigkeitsBlatt (Wiener Ausgabe), Nr. 245 vom 17.10.1942. — : Rez. zu Kommerell: Beiträge zu einem deutschen Calderon, in: Frankfurter Hefte 4 (1949), H. 3, S. 277. — : Rez. zu Kommerell: Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern, in: Bonniers Litterära Magsin 9 (1940), S. 744. — : Wochenspielplan, in: DAZ (Berlin), Nr. 88 vom 20.02.1943. Aristoteles: Opera, ex rec. Immanuelis Bekkeri, ed. Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd. 1: Berlin 1831. — : Poetik. Mit Einleitung, Text und Adnotation Critica, Exegetischem Kommentar, Kritischem Anhang und Indices Nominum, Rerum, Locourum v. Alfred Gudeman, Berlin/Leipzig 1934. — : Poetik, übers. u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. — : Über die Dichtkunst, neu übers. u. mit Einleitung v. Alfred Gudeman, Leipzig 1921. Barth, Emil: Rez. zu Kommerell: Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern, in: NR 51 (1940), H. 12, S. 634–635. Barth, Karl: Gesamtausgabe V, Bd. 1: Karl Barth – Rudolf Bultmann. Briefwechsel 1911–1966, hrsg. v. Bernd Jaspert, 2. rev. u. erw. Aufl., Zürich 1994. Becker, Oskar: Rez. zu Kurt Reidemeister: Das exakte Denken der Griechen. Beiträge zur Deutung von Euklid, Plato, Aristoteles, in: Philosophische Studien 2 (1950/51), S. 432–434. Benjamin, Walter: Briefe, Bd. 2, hrsg. v. Gershom Scholem u. Theodor W. Adorno, Frankfurt/M 1978. — : Der eingetunkte Zauberstab. Zu Max Kommerells „Jean Paul“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III: Kritiken und Rezensionen, hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M 31989, S. 409–417 [erstmals in: Frankfurter Zeitung 1934]. — : Gesammelte Briefe V: 1935–1937, hrsg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Frankfurt/M 1999. — : Goethes Wahlverwandtschaften, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I/1: Abhandlungen, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M 31990, S. 123–201. — : Hundert Jahre Schrifttum um Goethe, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III: Kritiken und Rezensionen, hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M 31989, S. 326–340. — : Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928], Frankfurt/M 1963. — : Wider ein Meisterwerk. Zu Max Kommerells „Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III: Kritiken und Rezensionen, hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M 31989, S. 252–259 [erstmals in: Die Literarische Welt 1930]. — : Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin: „Dichtermut“ – „Blödigkeit“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II/1, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M 21990, S. 105–126. Berend, Eduard: Rez. zu Kommerell: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau, in: Euphorion 27 (1926), S. 139. Bianquis, Geneviève: Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Revue germanique 27 (1936), H. 2, S. 188–189. Blüher, Hans: Die Rolle des Eros in der männlichen Gesellschaft [Bd. 1], Jena 1917.

A.3 Bibliographie

561

— : Die Rolle des Eros in der männlichen Gesellschaft. Eine Theorie der menschlichen Staatsbildung nach Wesen und Wert, 2. Bd.: Familie und Männerbund, Jena 1919. — : Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, 2 Bde, Berlin 1912. — : Werke und Tage. Geschichte eines Denkers. Autobiographie, München 1953. Böckmann, Paul: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 48 (1929), S. 189–195. Böhm, Hans: Rez. zu Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung, in: Die Literatur 42 (1939/40), S. 468–469. Böhm, Wilhelm: Faust, der Nichtfaustische, Halle/S 1937. Bollnow, Otto Friedrich: Rez. zu Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, in: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde 43 (1940/41), S. 419–420. Brewer, Edward V.: Rez. zu Kommerell: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau, in: The Germanic Review 2 (1927), S. 85–87. — : Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: The Germanic Review 12 (1937), S. 286–287. Brun, Louis: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Revue germanique 20 (1929), H. 4, S. 393–395. Bultmann, Rudolf: Autobiographische Bemerkungen, in: Karl Barth: Gesamtausgabe, V. Briefe: Karl Barth – Rudolf Bultmann. Briefwechsel 1911–1966, hrsg. v. Bernd Jaspert, 2. rev. u. erw. Aufl., Zürich 1994, S. 302–313. — : Die Frage der natürlichen Offenbarung, in: Beiträge zur Evangelischen Theologie 7 (1941), S. 1–16. — : Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1 [1933], Tübingen 91993. — : Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2 [1952], 6. unveränd. Nachdruck der 5. erw. Aufl., Tübingen 1993. — : Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 3 [1961], Tübingen 41993. — : Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 4 [1965], 5. unveränd. Nachdruck der 4. erw. Aufl., Tübingen 1993. — : Nachlaßverzeichnis, bearb. v. Harry Waßmann, Jakob Matthias Osthof u. AnnaElisabeth Bruckhaus, Wiesbaden 2001. — : Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: Kerygma und Mythos I (1948), H. 1, S. 15–53 [erstmals in: Beiträge zur Evangelischen Theologie 7 (1941), S. 17–64]. — : Polis und Hades in der Antigone des Sophokles, in: ders.: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2 [1952], 6. unveränd. Nachdruck der 5. erw. Aufl., Tübingen 1993, S. 20–31. — : Das Problem der Hermeneutik, in: ders.: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2 [1952], 6. unveränd. Nachdruck der 5. erw. Aufl., Tübingen 1993, S. 211–235. — : Theologie als Kritik. Ausgewählte Rezensionen und Forschungsberichte, hrsg. v. Matthias Dreher u. Klaus W. Müller, Tübingen 2002. — : Theologie als Wissenschaft, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 81 (1984), H. 4, S. 447–469. — : Zum Problem der Entmythologisierung, in: ders.: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 4 [1965], 5. unveränd. Nachdruck der 4. erw. Aufl., Tübingen 1993, S. 128–137 [erstmals in: Kerygma und Mythos VI (1963), H. 1, S. 20–27]. Buonarroti, Michelangelo: Die Dichtungen, hrsg. u. mit einem krit. Apparate vers. v. Carl Frey, Berlin 1897. Burger, Heinz Otto: Gedicht und Gedanke. Auslegungen deutscher Gedichte, Halle/S 1942.

562

Anhang

Burmeister, Wilhelm/ Scurla, Herbert: Geist der Zeit. Ein Vorwort, in: Geist der Zeit, Wesen und Gestalt der Völker, Organ des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (N. F. „Hochschule und Ausland“) 15 (1937), H. 4, S. 233–239. Calderón de la Barca, Don Pedro: Autos sacramentales completos, hrsg. v. Ignacio Arellano, Bd. 41: Memorias de apariencias y otros documentos sobre los autos de Calderón de la Barca, hrsg. v. Lara Escudero u. Rafael Zafra, Kassel 2003. — : Las Comedias en cuarto tomos, hrsg. v. Juan Jorge Keil, Leipzig 1827–1830. — : La vida es sueño, in: Klassische Bühnendichtungen der Spanier, hrsg. v. Max Krenkel, Bd. 1: Leipzig 1881. Carossa, Hans: Briefe II, 1919–1936, hrsg. v. Eva Kampmann-Carossa, Frankfurt/M 1978. Cartwright, William: The Plays and Poems, hrsg. mit Einl. u. Anm. v. G. Blakemore Evans, Madison 1951. Cronheim, Fritz: Max Kommerell: Zwei Reden. Rez. zu Kommerell: Hugo von Hofmannsthal und Jugend ohne Goethe, in: Die Hilfe. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und geistige Bewegung 37 (1931), H. 14, S. 338–339. — : Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Die Hilfe. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und geistige Bewegung 40 (1934), H. 6, S. 144. Curtius, Ernst Robert: Büchertagebuch, mit einem Nachwort hrsg. v. Max Rychner, Bern/ München 1960. — : Calderón und die Malerei, in: RF 50 (1936), H. 2, S. 89–136 [= CUM]. — : Calderóns Kunsttheorie und die ‚artes liberales‘, in: ders.: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 111993, S. 543–553 [= CUK]. — : Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 111993. — : George, Hofmannsthal und Calderón, in: Die Wandlung 2 (1947), H. 5, S. 401–423 [wieder in: ders.: Kritische Essays zur europäischen Literatur, 2. erw. Aufl. Bern 1954, S. 128–151 und in: Hugo von Hofmannsthal, hrsg. v. Sibylle Bauer, Darmstadt 1968, S. 1–24] [= CUG]. — : Hofmannsthal und Calderon, in: Corolla. Fs. für Ludwig Curtius, Stuttgart 1937, S. 20–28 [= CUH]. — : Hofmannsthals deutsche Sendung, in: Neue Schweizer Rundschau 12 (1929), H. 8, S. 583–588. — : Hofmannsthal und die Romanität, in: NR 40 (1929), H. 11, S. 654–659. Derleth, Kurt: Vorwort, in: Deutschunterricht im Ausland 1938/39, H. 9 [Mai/Juni 1939], S. 1. Dirlmeier, Franz: Κάθαρσίς παθημάτωυ, in: Hermes. Zeitschrift für klassische Philologie 75 (1940), S. 81–92. Ebbinghaus, Julius: Die Eigenart der deutschen Philosophie. Festrede zur Feier der Reichsgründung und der nationalen Erhebung am 30. Januar 1941, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Schriften zur Theoretischen Philosophie und zur Philosophiegeschichte 1924–1972, hrsg. v. Hariolf Oberer u. Georg Geismann, Bonn 1990, S. 489–495 [erstmals in: Mitteilungen des Universitätsbundes Marburg 21 (1941), H. 1, S. 5–11]. — : Die Einheit der Wissenschaft, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Schriften zur Theoretischen Philosophie und zur Philosophiegeschichte 1924–1972, hrsg. v. Hariolf Oberer u. Georg Geismann, Bonn 1990, S. 481–487 [erstmals in: Rostocker Anzeiger 58, Nr. 152 vom 02.07.1938, 1. Beiblatt, S. 1–2]. — : Die Grundlage der Hegelschen Philosophie 1793–1803, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Studien zum Deutschen Idealismus. Schriften 1909–1924, in Verb.

A.3 Bibliographie

563

mit Georg Geismann u. Hariolf Oberer hrsg. v. Karlfriedrich Herb, Stephan Nachtsheim u. Udo Rameil, Bonn 1994, S. 145–342. — : Kantinterpretation und Kantkritik, in: DVjs 2 (1924), H. 1, S. 80–115 [überarbeitete Fassung in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Schriften zur Theoretischen Philosophie und zur Philosophiegeschichte 1924–1972, hrsg. v. Hariolf Oberer u. Georg Geismann, Bonn 1990, S. 3–38]. — : Nachruf auf Max Kommerell, in: Kölner Universitätszeitung 2 (1947), H. 2, S. 29– 30. — : o. T., in: Philosophie in Selbstdarstellungen, hrsg. v. Ludwig J. Pongratz, Bd. III: Hamburg 1977, S. 1–59. — : Relativer und absoluter Idealismus. Historisch-systematische Untersuchung über den Weg von Kant zu Hegel, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Studien zum Deutschen Idealismus. Schriften 1909–1924, in Verb. mit Georg Geismann u. Hariolf Oberer hrsg. v. Karlfriedrich Herb, Stephan Nachtsheim u. Udo Rameil, Bonn 1994, S. 3–73. — : Zu Deutschlands Schicksalswende, 2. verm. Aufl., Frankfurt/M 1947. Epting, Karl: Deutschland-Frankreich, in: Deutschland – Frankreich. Vierteljahresschrift des deutschen Instituts Paris 1 (1942), H. 1, S. 3–13. Fahrner, Rudolf: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 52 (1931), H. 3/4, Sp. 92–98. F[echter], P[aul]: Max Kommerell gestorben, in: DAZ (Berlin), Nr. 210 vom 01.08.1944. Fechter, Paul: Calderons ‚Leben ein Traum‘, in: DAZ (Berlin), Nr. 98 vom 26.02.1943. — : Der Roman der Seelen. Rez. zu Kommerell: Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern, in: DAZ (Reichsausgabe), Nr. 491/492 vom 13.10.1940. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv, mit einer Einl. hrsg. v. Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle, Frankfurt/M 31994. Friedrich, Hugo: Der fremde Calderón, Freiburg/B 1955. Gadamer, Hans-Georg: Gedenkrede auf Max Kommerell. Gehalten in der Aula der Universität Marburg am 5. August 1944, in: Max Kommerell: Dichterische Welterfahrung. Essays, hrsg. v. Hans-Georg Gadamer, Frankfurt/M 1952, S. 205–227. — : Gerhard Krüger, in: Lebensbilder in Hessen 1 (1977), S. 299–307. — : Gesammelte Werke, Bd. 1: Hermeneutik I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990. — : Hölderlin und die Antike, in: Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100. Todestag 7. Juni 1943, hrsg. v. Paul Kluckhohn, Tübingen 1943, S. 50–69. — : Hölderlin und George, in: Hölderlin-Jahrbuch 15 (1967/68), S. 75–91. — : Max Kommerell, in: Das neue Forum 6 (1953), S. 81–83. — : Nachwort des Herausgebers, in: Max Kommerell: Dichterische Welterfahrung. Essays, hrsg. v. Hans-Georg Gadamer, Frankfurt/M 1952, S. 228–229. — : Schein und Sein. Zum Tode von Karl Reinhardt 1958, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 6: Griechische Philosophie II, Tübingen 1985, S. 278–291 [erstmals in: NR 69 (1958), H. 1, S. 161–168]. George, Stefan: Werke. Ausgabe in zwei Bänden, Stuttgart 1984. — : Sämtliche Werke in 18 Bänden, bearb. v. Georg Peter Landmann u. Ute Oelmann, Bd. XIII/XIV: Baudelaire, Die Blumen des Bösen: Umdichtungen, Stuttgart 1983. — : Sämtliche Werke in 18 Bänden, bearb. v. Georg Peter Landmann u. Ute Oelmann, Bd. X/XI: Dante, Die Göttliche Komödie: Übertragungen, Stuttgart 1988.

564

Anhang

Goffin, R. Cullis: The Life and Poems of William Cartwright, Cambridge 1918. Gohlke, Paul: Rez. zu Kurt Reidemeister: Das System des Aristoteles, in: Kant-Studien 43 (1943), S. 331. Gries, Johann Dietrich: Schauspiele von Calderón de la Barca, 9 Bde, Berlin 21840. Günther, Joachim: Von Faust zu Empedokles. Rez. zu Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung, in: Das Reich (Berlin), Nr. 34 vom 24.08.1941. Gürster, Eugen: Pedro Calderon de la Barca. Ausgewählte Schauspiele, München 1928. Gundolf, Friedrich: Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 1911. — : Shakespeare. Sein Wesen und Werk, 2 Bde, Berlin 1928. Halm, August: Harmonielehre, Leipzig 1905. — : Selbstkritik, in: Die Freie Schulgemeinde. Blatt des Bundes für Freie Schulgemeinden 10 (1919), H. 1, S. 13–19. — : Von den zwei Kulturen der Musik [1904], 3. Aufl., mit einer Einf. v. Gustav Wyneken, Stuttgart 1947. Heidegger, Martin: Andenken, in: Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100. Todestag 7. Juni 1943, hrsg. v. Paul Kluckhohn, Tübingen 1943, S. 267–324. — : Andenken an den Dichter, in: ders.: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt/M 1943, S. 5–32. — : Gesamtausgabe, II. Abt.: Vorlesungen 1923–1944, Bd. 39: Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein, hrsg. v. Susanne Ziegler, Frankfurt/M 1980. — : Hölderlin und das Wesen der Dichtung, in: ders.: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtungen, Frankfurt/M 1943, S. 33–50 [erstmals in: Das Innere Reich. Zeitschrift für Dichtung, Kunst und deutsches Leben 3 (1936/37), H. 9, S. 1065–1078]. — : Hölderlins Hymne „Wie wenn am Feiertage...“, Halle/S 1941. — : Max Kommerell (gestorben am Abend des 25. Juli 1944), in: ders.: Gesamtausgabe, I. Abt.: Veröffentlichte Schriften 1910–1976, Bd. 16: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910–1976, hrsg. v. Hermann Heidegger, Frankfurt/M 2000, S. 364 [wieder in: Zeller, Bernhard (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten: 1933–1945, Bd. 1: Stuttgart 1983, S. 362]. — : Sein und Zeit, 15., an Hand der Gesamtausgabe durchges. Aufl., Tübingen 1984. — : Übungen für Anfänger. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Wintersemester 1936/37. Seminar-Mitschrift von Wilhelm Hallwachs, hrsg. v. Ulrich von Bülow, Marbach/N 2005. Heiseler, Bernt von: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Eckart. Blätter für evangelische Geisteskultur 6 (1930), H. 3, S. 135. — : Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Süddeutsche Monatshefte 81 (1934), H. 4, S. 255. — / Zeheter, Anton: Briefwechsel. Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Jean-Paul-Blätter 9 (1934), H. 2, S. 52–58. Hensel, Paul: Rez. zu Kommerell: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau, in: Kant-Studien 31 (1926), S. 406–407. Höckner, Hilmar: August Halm und die Musik in der freien Schulgemeinde Wickersdorf, Berlin 1927. Hofmannsthal, Hugo von: Nachlese der Gedichte, Berlin 1934. — : Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Rudolf Hirsch u. a., Bd. XVI.1, Dramen 14.1, hrsg. v. Werner Bellmann, Frankfurt/M 1990. — : Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Rudolf Hirsch u. a., Bd. XVI.2, Dramen 14.2, hrsg. v. Werner Bellmann, Frankfurt/M 2000. — : Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Rudolf Hirsch u. a., Bd. XIX, Dramen 17, aus dem Nachlaß hrsg. v. Ellen Ritter, Frankfurt/M 1994 [= HPH].

A.3 Bibliographie

565

Holzmann, Ernst: Ein Calderon-Abend im Burgtheater. Neueinstudierung des Schauspiels „Das Leben ist Traum“, in: Wiener Neueste Nachrichten, Nr. 7009 vom 19.10.1942. Jancke, Oskar: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Die Tat. Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit 21 (1929), H. 5, S. 388. Jappe, Hajo: Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 56 (1935), H. 1/2, Sp. 101–104. Kayka, Ernst: Kleist und die Romantik. Ein Versuch, Berlin 1906 (Forschungen zur neueren Literaturgeschichte 31). Kast, Emil: Rez. zu Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 62 (1941), Sp. 302f. — : Rez. zu Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 36 (1942), S. 124–125. Kindermann, Heinz: Rez. zu Kommerell: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau, in: Die Neueren Sprachen 35 (1927), S. 158–159. Koch, Franz/ Fricke, Gerhard/ Lugowski, Klemens (Hgg.): Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, 5 Bde, Stuttgart/Berlin 1941. Korff, Hermann August: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in: Zeitschrift für Deutschkunde 43 (1929), S. 355. Kraus, Fritz: Am Ende des Traumes. Rez. zu Kommerell: Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 34 vom 06.10.1940. Krauss, Werner: Briefe 1922 bis 1976, hrsg. v. Peter Jehle, Frankfurt/M 2002. — : Calderón – Dichter des spanischen Volkes, in: Pedro Calderón de la Barca: Das Leben ein Traum. Illustrationen von Josef Hegenbarth. In der Übertragung von Johann Diederich Gries, mit einem Nachwort „Josef Hegenbarth“ hrsg. v. Fritz Löffler, Leipzig 1964, S. 201–220. [= KDV] — : Calderón – Dichter des spanischen Volkes, in: Pedro Calderón de la Barca: Das große Welttheater. Dramen, aus dem Spanischen in den Übertragungen von Joseph von Eichendorff und Johann Diederich Gries [Das große Welttheater, Das Leben ein Traum, Der Richter von Zalamea, Die Dame Kobold], Leipzig 1965, S. 343–364. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M 111991. Lesky, Albin: Rez. zu Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, in: Gnomon 17 (1941), S. 241–248. Ludwig, Albert: Rez. zu Kommerell: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 150 (1926), S. 282–283. Loerke, Oskar: Einladung zu Jean Paul. Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: NR 45 (1934), H. 5, S. 513–527. Martini, Fritz: Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Deutsche Literaturzeitung. Wochenschrift für Kritik der internationalen Wissenschaft, 3. Folge, 6 (1935), H. 36, Sp. 1560–1563. Milch, Werner: Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde 37 (1935), H. 6, S. 318–319. Müller, Wolfgang: Rez. zu Kommerell: Lampenschirm aus den drei Taschentüchern, in: Das Reich, Nr. 24 vom 03.11.1940. — : Vom Nutzen der Interpretation. Rez. zu Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung, in: NR 53 (1942), H. 1, S. 48–49. Murasaki, Shikibu: Genji monogateri. Die Geschichte vom Prinzen Genji, übers. v. Oscar Benl, 2 Bde, Zürich 1966. Muth, Karl: Rez. zu Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in:

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Anhang

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A.3 Bibliographie

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— : Rez. zu Martin Heidegger: Was ist Metaphysik?, 4. Aufl., in: Kant-Studien 43 (1943), S. 497. — : Das System des Aristoteles, Leipzig/Berlin 1943. — : Der totale Staat im Spiegel der Selbsterfahrung, in: Die Wandlung 2 (1947), H. 3, S. 214–220 [als ‚Zum Erlebnis von Lüge und Wahrheit‘ wieder in: ders.: Über Freiheit und Wahrheit, Berlin 1947, S. 31–43]. — : Über die Freiheit der Wissenschaft, in: Die Wandlung 1 (1945/46), H. 8, S. 711–715 [wieder in: ders.: Über Freiheit und Wahrheit, Berlin 1947, S. 7–18]. — : Über Freiheit und Wahrheit, Berlin 1947. — : Über Max Kommerells nachgelassenes Romanfragment, in: Max Kommerell: Essays, Notizen, Poetische Fragmente, hrsg. v. Inge Jens, Olten/Freiburg/B 1969, S. 253–276. — : Die Unsachlichkeit der Existenzphilosophie. Vier kritische Aufsätze [1954], 2. erw. Aufl., Berlin/Göttingen/Heidelberg 1970. — : Von dem Schönen. Essays, Gedichte, Hamburg 1947. Reindl, L. E.: Calderons Lebenstraumspiel. Zur Aufführung im Berliner Staatstheater, in: Das Reich. Deutsche Wochenzeitung, Nr. 10 vom 07.03.1943. Reinhardt, Karl: Antigone. Mit griechischem Text [1943], übers. u. eingel. v. Karl Reinhardt, Göttingen 61982. — : Die Krise des Helden und andere Beiträge zur Literatur und Geistesgeschichte, München 1962. — : Nietzsches Klage der Ariadne, Frankfurt/M 1936 (Wissenschaft und Gegenwart 8). — : Das Parisurteil, Frankfurt/M 1938 (Wissenschaft und Gegenwart 11). — : Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie [1916], Frankfurt/M 31977. — : Platons Mythen, Bonn 1927. — : Sophokles, Frankfurt/M 1933 [= RSO]. — : Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung, hrsg. v. Carl Becker, Göttingen 1960. — : Vermächtnis der Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung, hrsg. v. Carl Becker, 2. durchges. u. erw. Aufl., Göttingen 1966. Riezler, Kurt: Parmenides, Frankfurt/M 1934. Schalk, Fritz: Calderón: Das Leben ist Traum, in: Die Tribüne. Halbmonatsschrift der Bühnen der Stadt Köln 26 (1956/57), S. 1–4. — : Nachwort, in: Pedro Calderón de la Barca: Das große Welttheater. In der Nachdichtung von Joseph von Eichendorff, Stuttgart 1954, S. 50–55. — : Pedro Calderón de la Barca. Das Leben ein Traum, in: ders.: Spanische Geisteswelt. Vom maurischen bis zum modernen Spanien, Baden-Baden 1957, S. 183–189. Schlechta, Karl: Porträt Kommerells, in: Das neue Forum 6 (1953), S. 89. Schleypen, Georg: Rez. zu Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 36 (1942), S. 115–117. Scholz, Heinrich: Rez. zu Kurt Reidemeister: Mathematik und Logik bei Plato, in: Deutsche Literaturzeitung 64 (1943), Sp. 655–658. Schwietering, Julius: Philologische Schriften, hrsg. v. Friedrich Ohly u. Max Wehrli, München 1969. Shi, Nai An: Die Räuber vom Liang Schan Moor. Erster Teil [1930], mit sechzig Holzschnitten aus dem Chines. übertr. v. Franz Kuhn, Ulm 1975. Siebert, Wernher: Jean Paul heute – wir heute. Rez. zu Kommerell: Jean Paul, in: Geistige Arbeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt 1 (1934), H. 24, S. 8.

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Anhang

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A.3 Bibliographie

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— : Der Kampf für die Jugend. Gesammelte Aufsätze, Jena 1920. — : Rede auf dem Hohen Meißner am Morgen des 12. Oktobers, in: Freideutscher Jugendtag 1913. Reden von Gottfried Traub, Knud Ahlborn, Gustav Wyneken und Ferdinand Avenarius, hrsg. v. Gustav Mittelstraß u. Christian Schneehagen, Hamburg 1913, S. 16–20. — : Schule und Jugendkultur, Jena 21914. — : Was ist „Jugendkultur“?. Öffentlicher Vortrag, München 1914. — : Weltanschauung, München 1940. — : Wickersdorf, Lauenburg/E 1922. Zimmer, Heinrich: Ewiges Indien. Leitmotive indischen Daseins, Potsdam/Zürich 1930. — : Gesammelte Werke, 5 Bde, Zürich 1951ff. — : Kunstform und Yoga im indischen Kultbild [1926], hrsg. v. Friedrich Wilhelm, Frankfurt/M 1987. — : Maya, der indische Mythos, Stuttgart/Berlin 1936. — : Notizen zu einem Lebenslauf, in: Die indische Weltmutter. Aufsätze, hrsg. u. eingel. v. Friedrich Wilhelm, Frankfurt/M 1980, S. 233–254. — : Philosophie und Religion Indiens, hrsg. v. Joseph Campbell, Frankfurt/M 1961. — : Studien zur Geschichte der Gotras, Leipzig 1914.

A.3.2 Sekundärliteratur Adam, Wolfgang: Winckelmann in Triest. Max Kommerells Winckelmann-Mythos in den ‚Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt‘, in: GeGe 31/32 (2007), S. 51–63. Agamben, Giorgio: Kommerell, or On Gesture, in: ders.: Potentialities. Collected Essays in Philosophy, übers. u. hrsg. v. Daniel Heller-Roazen, Stanford 1999, S. 77–85 [erstmals als ders.: Kommerell, o del gesto, in: ders. (Hg.): Il poeta e l’indicibile. Saggi di letteratura tedesca a cura di Giorgio Agamben, Genova 1991, S. VII–XV]. — : Noten zur Geste, in: Postmoderne und Politik, hrsg. v. Jutta Georg-Lauer, Tübingen 1992, S. 97–107. Albert, Claudia: Abstand, nicht Widerstand: Max Kommerell, in: Deutsche Klassiker im Nationalsozialismus: Schiller, Kleist, Hölderlin, hrsg. v. Claudia Albert, Stuttgart 1994, S. 249–253. — : Heideggers Hölderlin-Deutung und ihre Rezeption, in: Deutsche Klassiker im Nationalsozialismus: Schiller, Kleist, Hölderlin, hrsg. v. Claudia Albert, Stuttgart 1994, S. 209–216. — : Umrisse eines „deutschen Calderón“. Max Kommerells Beitrag im Kontext der Rezeptionsgeschichte, in: JbDSG 38 (1994), S. 364–378. — : Die Welt als Zeichen. Kommerells Calderón, in: Max Kommerell. Leben, Werk, Aktualität, hrsg. v. Walter Busch u. Gerhart Pickerodt, Göttingen 2003, S. 234–248. Allemann, Beda: Hölderlin und Heidegger, 2. erw. Aufl., Zürich 1956. Alphei, Hartmut/ Herrmann, Ulrich: 100 Jahre Wickersdorf. Eine kritische Vergegenwärtigung des Wollens und Wirkens von Gustav Wyneken und der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung N. F. 3 (2006), S. 12–22. Alpers, Klaus: Karl Reinhardt, in: Philologica Hamburgensia II. Altphilologen in Hamburg vom 17. bis 20. Jahrhundert, hrsg. v. Klaus Alpers, Eva Horváth u. Hans Kurig, Herzberg 1990, S. 82–84.

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Anhang

Alquist, Peter (d. i. Helmut Strebel): Synoptische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Max Kommerell. Auf der Grundlage des Erreichbaren Ende 1966 zusammengestellt von Peter Alquist, in: Max Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–44, Olten 1967, S. 470–491. Alt, Peter-André: Benjamin und die Germanistik. Aspekte einer Rezeption, in: Das Selbstverständnis der Germanistik. Aktuelle Diskussionen, hrsg. v. Norbert Oellers, Bd. 1: Germanistik und Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie, Tübingen 1988, S. 133–146. — : Franz Kafka: Der ewige Sohn. Eine Biographie, München 2005. — : Hofmannsthal und die „Blätter für die Kunst“, in: Wahrnehmungen im Poetischen All. Fs. Alfred Behrmann, hrsg. v. Klaus Deterding, Heidelberg 1993, S. 30–49. — : Mode ohne Methode? Überlegungen zu einer Theorie der literaturwissenschaftlichen Biographik, in: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, hrsg. v. Christian Klein, Stuttgart/Weimar 2002, S. 23–39. — : Das Problem der inneren Form. Zur Hölderlin-Rezeption Benjamins und Adornos, in: DVjs 61 (1987), S. 531–562. — : Die Verheißungen der Philologie, Göttingen 2007. — : Zwischen Wissenschaft und Dichterverehrung. Friedrich Gundolf in seinen Briefen und Briefwechseln, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 106 (1987), S. 251–281. Alth, Minna von (Hg.): Burgtheater 1776–1976. Aufführungen und Besetzungen von zweihundert Jahren, 2 Bde, Wien 1979. Andres, Jan/ Braungart, Wolfgang/ Kauffmann, Kai (Hgg.): „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900, Frankfurt/M u. a. 2007. Apel, Friedmar/ Kopetzki, Annette: Literarische Übersetzung, 2. neu bearb. Aufl., Stuttgart/Weimar 2003. Arrighetti, Anna Maria: Friedrich Gundolf, Max Kommerell und die Verbindlichkeit des dichterischen Wortes bei Goethe, in: Goethe-Jahrbuch 125 (2008), S. 80–94. — : Der Sinn für das Mythische in den Geschichtskonzeptionen von Friedrich Gundolf und von Ernst Bertram, in: Nachleben der Antike – Formen ihrer Aneignung. Fs. für Klaus Ley, hrsg. v. Bettina Bosold-DasGupta, Charlotte Krauß u. Christine MundtEspín, Berlin 2006, S. 443–459. Artzy, Rafael: [Nachruf auf] Kurt Reidemeister, in: Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung 74 (1972), H. 3, S. 96–104. Asal, Sonja: Der Leipziger Karton. Das Marbacher Literaturarchiv präsentiert neu entdeckte Briefe an Hans-Georg Gadamer, in: SZ, Nr. 74 vom 29.03.2005. B., O.: Dichter und Gelehrter. Rez. zu Kommerell: Gedichte, Gespräche, Übertragungen, in: Der Bund (Bern), Nr. 204 vom 02.09.2973. Bachmann, Friedrich/ Behnke, Heinrich/ Franz, Wolfgang: In memoriam Kurt Reidemeister, in: Mathematische Annalen 199 (1972), H. 1, S. 1–11. Bäumler, Ruth/ Bender, Eva M./ Weissrock, Katharina: Karl Viëtor. Zum näheren Verständnis eines Gießener Germanisten, in: Germanistik in Gießen 1925–1945, hrsg. v. Hans Ramge u. Conrad Wiedemann, Gießen 1982, S. 71–86. Bahner, Werner (Hg.): Beiträge zur französischen Aufklärung und zur spanischen Literatur. Werner Krauss zum 70. Geburtstag, Berlin 1971. — (Hg.): Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag. Werner Krauss zum 60. Geburtstag, Berlin 1961. Barck, Karlheinz: Werner Krauss im Widerstand und vor dem Reichskriegsgericht, in: Lendemains 18 (1993), Sonderheft 69/70: Zum deutsch-französischen Verhältnis. Werner Krauss, S. 140–160.

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— : „Existentiale“ Interpretation bei Rudolf Bultmann und Martin Heidegger, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 103 (2006), H. 4, S. 533–568. Jäger, Lorenz: Der Literaturwissenschaft die Glieder lösen. Schnittpunkte in den Lebenslinien von zwei Wunderkindern: Zum hundersten Geburtstag von Richard Alewyn und Max Kommerell, in: FAZ, Nr. 46 vom 23.02.2002. Jaeger, Werner: Gedenkworte für Karl Reinhardt, in: Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste. Reden und Gedenkworte 3 (1958/59), S. 23–30. Jaffé, Aniela (Hg.): Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung, Olten/Freiburg/B 1971, S. 385–398. Jansen, Christian: Im Kampf um die geistig-ideologische Führungsrolle in Universität und Gesellschaft. Die zwischen 1910 und 1925 in Deutschland lehrenden germanistischen Hochschullehrer im politisch-wissenschaftlichen Spektrum, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, hrsg. v. Christoph König u. Eberhard Lämmert, Frankfurt/M 1993, S. 385–399. Jantzen, Hinrich: Namen und Werke. Biographien und Beiträge zur Soziologie der Jugendbewegung, 5 Bde, Frankfurt/M 1972ff. Jens, Inge: Calderon und Kommerell. Zur Neuauflage einer bemerkenswerten Interpretation, in: FAZ, Nr. 233 vom 08.10.1974. — : Eine Einführung, in: Max Kommerell: Essays, Notizen, Poetische Fragmente, aus dem Nachlaß hrsg. v. Inge Jens, Freiburg/B 1969, S. 7–33. — : Über Max Kommerell, in: Max Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–44, aus dem Nachlaß hrsg. v. Inge Jens, Olten 1967, S. 7–41. Jolly, Margaretta (Hg.): Encyclopedia of life writing. Autobiographical and biographical forms, 2 Bde, London 2001. Jüngel, Eberhard: Einleitung, in: Rudolf Bultmann: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung. Nachdruck der 1941 erschien. Fassung hrsg. v. Eberhard Jüngel, München 1985, S. 7–9. Kaiser, Gerhard: Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus, Berlin 2008. Kalow, Gert: Den König fallen sehen... Kommerells Calderón-Nachdichtung „Die Tochter der Luft“ im Mannheimer Nationaltheater, in: FAZ, Nr. 228 vom 02.10.1958. Karlauf, Thomas: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie, München 2007. Kaube, Jürgen: Es muss ohne intellektuelle Opfer gehen, in: FAZ, Nr. 171 vom 27.07.2009. — : Die kurze und die lange Frist. Blick in die Leipziger Kiste: Der Nachlaß des Philosophen Hans-Georg Gadamer wurde in Marbach präsentiert, in: FAZ, Nr. 71 vom 26.03.2005. — : Die Marburger Epoche der Universitätsgeschichte, in: FAZ, Nr. 241 vom 15.10.2008. — : Soziologische Anmerkungen zur Biographie in der Wissenschaftsgeschichte, in: GeGe 27/28 (2005), S. 5–12. Kauffmann, Kai: „Liebstes Spiel und tiefster Ernst“. Die Bedeutung des Spielbegriffs im Werk von Max Kommerell, in: Begrenzte Natur und Unendlichkeit der Idee. Literatur und Bildende Kunst in Klassizismus und Romantik, hrsg. v. Jutta Müller-Tamm u. Cornelia Ortlieb, Freiburg/B 2004, S. 341–359. Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Tübingen/Basel 201992. Kerényi, Karl: Walter F. Otto zum achtzigsten Geburtstag. Rede, gehalten a. d. Universität Tübingen den 22. Juni 1954, in: Paideuma 6 (1954), H. 1, S. 1–5. Kilcher, Andreas: Rez. zu Walter Busch/ Gerhart Pickerodt (Hgg.): Max Kommerell.

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Anhang

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A.3 Bibliographie

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— : Das Goethe-Bild Ernst Beutlers, in: Ernst Beutler 1885–1960, hrsg. v. Christoph Perels, Frankfurt/M 1985, S. 73–96. — : Verweigerte Anpassung. Konstanten und Wandlungen des Klassik-Bildes im literaturwissenschaftlichen Werk Max Kommerells, in: ders.: Gesammelte Aufsätze und Vorträge zur Klassik- und Romantikrezeption in Deutschland, Frankfurt/M 2001, S. 303–314. Massalongo, Milena: Versuch zu einem kritischen Vergleich zwischen Kommerells und Benjamins Sprachgebärde, in: Max Kommerell. Leben, Werk, Aktualität, hrsg. v. Walter Busch u. Gerhart Pickerodt, Göttingen 2003, S. 118–161. Marat, Eva Maria: Chronologie der Calderón-Aufführungen auf dem Wiener Burgtheater, in: Maske und Kothurn 24 (1978), S. 339–348. Markner, Reinhard/ Weber, Thomas (Hgg.): Literatur über Walter Benjamin. Kommentierte Bibliographie 1983–1992, Hamburg 1993. Marquard, Odo: Der Schritt in die Kunst. Über Schiller und Heidegger, in: Martin Heidegger: Übungen für Anfänger. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Wintersemester 1936/37. Seminar-Mitschrift von Wilhelm Hallwachs, hrsg. v. Ulrich von Bülow, Marbach/N 2005, S. 191–206. Mattenklott, Gert: Max Kommerell [Einleitung zum Text „Faust Zweiter Teil: zum Verständnis der Form“ (1937)], in: Grundlagen der Literaturwissenschaft. Exemplarische Texte, hrsg. v. Bernhard J. Dotzler, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 137–139. — : Max Kommerell. Versuch eines Portraits, in: Storck, Joachim W./ Mattenklott, Gert: Über Max Kommerell. Zwei Vorträge, Marburg 1986, S. 11–27 [in abgeänderte Form wieder in: Merkur 40 (1986), S. 541–554 und in: Blanche Kommerell (Hg.): Max Kommerell: Spurensuche, Gießen 1993, S. 9–35]. Maurer, Michael: Die Biographie – Tradition, Gattung, Formen, in: ders.: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815), Göttingen 1996, S. 67–120. Mayer, Hans: Die Innenwelt und ihr Preis. Rez. zu Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, in: Der Spiegel 21 (1967), Nr. 49, S. 186–188. Mehring, Reinhard: Carl Schmitts nachgelassene Hitler-Reflexionen im Lichte von Max Kommerells Schiller-Deutung, in: Leviathan 33 (2005), H. 2, S. 216–239. Metzger, Erika Alma: Max Kommerell. Klopstock and Leadership in German Classicism, in: dies.: Klopstock and the Stefan George Kreis, Ithaca/New York State 1961, S. 72–91. Michels, Eckhard: Das Deutsche Institut in Paris 1940–1944. Ein Beitrag zu den deutschfranzösischen Kulturbeziehungen und zur auswärtigen Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1993. — : Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut. Sprach- und auswärtige Kulturpolitik 1923–1960, München 2005. Mohler, Armin/ Weißmann, Karlheinz (Hgg.): Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, 6. völlig überarb. u. erw. Aufl., Graz 2005. Momigliano, Arnaldo: Introduction to a Discussion of Karl Reinhardt [1975], in: ders.: Studies in modern Scholarship, hrsg. v. G. W. Bowersock u. T. J. Cornell, Berkeley 1994, S. 179–186. Monhoff, Sascha: Rez. zu Matthias Weichelt: Max Kommerells lyriktheoretischer Ansatz und die Krisen der Moderne, in: George-Jahrbuch 7 (2008/09), S. 214–216. Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960, Göttingen 2007. Müller, Alexander: Forschungsbibliographie zu Max Kommerell, in: Max Kommerell.

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Anhang

Zernack, Julia: Andreas Heusler, in: IGL 2, S. 738–741. Zimmermann, Christian von (Hg.): Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionalbiographischer Dichterdarstellungen im Roman, Drama und Film seit 1970, Tübingen 2000. — : Rez. zu Irmela von der Lühe/ Anita Runge (Hgg.): Biographisches Erzählen, und zu Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 13 (2003), H. 3, S. 736–740. — : Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830–1940), Berlin/New York 2006. — (Hg.): (Auto)Biographik in der Wissenschafts- und Technikgeschichte, Heidelberg 2004. — / Zimmermann, Nina von (Hgg.): Frauenbiographik. Lebensbeschreibungen und Porträts, Tübingen 2005. Zöfel, Gerhard: Die Überwindung der Mythologie: Hermeneutische Probleme bei Max Kommerell, in: ders.: Die Wirkung des Dichters. Mythologie und Hermeneutik in der Literaturwissenschaft um Stefan George, Frankfurt/M u. a. 1987, S. 254–262.

A.3.3 Internetquellen Baßler, Moritz: Rez. zu Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, in: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/bassl2.html [14.08.2010]. http://gtb.lbg.ac.at/ [14.08.2010]. http://www.hawaii.edu/biograph/ [14.08.2010]. http://www.uni-marburg.de/bis/ueber_uns/ub/sondsam/kommerell [14.08.2010]. http://www.zentrum-fuer-biographik.de/ [14.08.2010]. Klein, Christian: Zwischen Held und Otto Normalverbraucher. Das Bild vom Menschen in biographischen Texten. Rez. zu Christian von Zimmermann: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830–1940), in: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=2596 [14.08.2010].

A.4 Personenregister

Abetz, Otto 431 Aischylos 91, 335 Alewyn, Richard 88, 330f., 555, 575, 579, 591 Alt, Johannes 353 Anakreon 335 Anaximander von Milet 498 Andrée, Karl Erich 495 Anton, Johann 52, 54f., 60–63, 174, 239, 465 Anz, Wilhelm 533 Apuleius von Madauros 293, 334 Ariost, Ludovico 333 Aristophanes 317, 320, 484 Aristoteles 25, 103, 124, 126, 251, 261, 290, 300, 304, 318f., 332, 334, 338, 364, 372–394, 403ff., 409f., 420, 422, 436, 497f., 529, 554, 559ff., 564–567, 573, 577 Arnim, Achim von 196 Auerbach, Erich 248, 330, 522, 576, 590 Augustinus von Hippo 334, 515 Bacon, Francis 335 Baeumler, Alfred 352f., 360, 417 Balzac, Honoré de 284, 335 Barth, Karl 519, 521, 536, 560, 581 Bauch, Bruno 124 Baudelaire, Charles 229, 334, 499, 563 Beißner, Friedrich 453 Benjamin, Walter 48, 66, 114–122, 342, 358, 560, 570, 572, 581–586, 588, 591 Berend, Eduard 69, 560 Bergsträsser, Arnold 85, 88 Bersin, Theodor 423 Berthold, Luise 364, 418, 573 Bertram, Ernst 51, 55, 259, 262, 361ff., 411, 555, 557, 570, 575 Beutler, Ernst 6, 208, 262, 583 Blake, William 335 Blaschke, Wilhelm 491, 495 Blüher, Hans 24, 31, 37, 42, 43, 115, 560, 585 Boccaccio, Giovanni 334f.

Bodmer, Heinrich 428 Böckmann, Paul 113, 351, 353, 364f., 367, 467, 561 Boehringer, Robert 56, 60, 61, 571 Bollnow, Otto Friedrich 377–381, 561 Bondi, Georg 57, 82f., 89, 105 Bonhoeffer, Dietrich 519 Borchardt, Rudolf 140 Borcherdt, Hans Heinrich 354, 365, 415, 416, 421, 580 Bossuet, Jacques Bénigne 334 Brecht, Walther 140, 354, 580 Bremer, Karl Heinz 431 Brentano, Clemens 197, 296, 332 Bultmann, Heilke 509 Bultmann, Rudolf 1, 8, 25f., 54, 310, 367f., 418, 479ff., 491, 497, 508f., 512, 515– 543, 548, 555f., 560f., 575f., 579, 581, 584, 590 Burckhardt, Karl Jakob 538 Burdach, Karl Friedrich 124 Burdach, Konrad 217, 375 Burger, Heinz Otto 426f., 448, 559, 561 Buttlar, Herbert von 457 Cäsar, Gaius Julius 98 Calderón de la Barca, Pedro 24f., 93, 114f., 131, 133, 136f., 153–177, 182f., 191, 193, 214, 220f., 224–305, 312, 315, 319, 323, 331ff., 336, 348, 373, 409, 452, 508, 542, 546, 554–569, 572, 579, 583f., 588ff. Camões, Luís Vaz de 262 Carossa, Hans 8, 154, 232, 289, 526, 562 Cartwright, William 321f., 562, 564 Cervantes, Miguel de 25, 226, 258, 260, 305–313, 315, 317, 330, 332ff., 336, 409, 486 Chaucer, Geoffrey 334f. Cicero, Marcus Tullius 296 Claudian 334 Corneille, Pierre 154, 157, 252, 316–319, 332, 372, 377–383, 390

594

Anhang

Curtius, Ernst Robert 8, 25f., 74, 76, 98, 204f., 225, 248, 269–313, 320f., 330, 334ff., 348, 408, 484, 498, 508, 548, 554f., 557, 562, 576, 581, 589ff. Curtius, Ilse 204f., 270–275, 277, 555, 557 Cysarz, Herbert 429 Dante Alighieri 52, 88, 189, 228, 239, 297, 332, 335, 397, 563 Dehmel, Richard 151, 499 Defoe, Daniel 335 Demosthenes 334 Dessoir, Max 358 Deutschbein, Max 252, 364 Dickens, Charles 335 Diderot, Denis 334f. Diederichs, Eugen 32 Dilthey, Wilhelm 20, 71, 433, 439, 585 Diodor 160 Dönhoff, Marion Gräfin 8, 576 Donne, John 334 Ebbinghaus, Carl Hermann 208, 333, 481ff., 485ff., 555 Ebbinghaus, Julius 25, 88, 243, 252ff., 263, 313, 479–494, 497, 508f., 512f., 515, 523, 532f., 539, 548, 555f., 562, 577 Eckermann, Johann Peter 219f. Ehl, Elfriede 154, 211, 215, 480, 492, 524, 538f., 556, 574 Eichendorff, Joseph von 255, 265f., 565, 567 Eichler, Else 53, 63 Elze, Walter 52 Elster, Ernst 54, 66, 418, 580 Emerson, Ralph Waldo 334 Empedokles 43, 288, 334, 395, 402, 443f., 456, 463, 467, 470, 472, 558, 564 Epting, Karl 430ff., 563 Eudemos von Rhodos 126 Euklid von Alexandria 236, 497f., 560, 566 Euripides 91, 154, 332, 334f., 486 Fahrner, Rudolf 113, 348, 563, 572 Fechter, Paul 191, 235, 245, 563, 591 Fénelon, François 334f. Fielding, Henry 334f. Flaubert, Gustave 284 Förster-Nietzsche, Elisabeth 124 Fontane, Theodor 505 Fouqué, Friedrich de la Motte 197 Freud, Sigmund 34, 200 Fricke, Gerhard 98, 204, 348ff., 356, 364– 367, 419f., 424, 426, 565, 587

Friedländer, Paul 533 Friedrich, Hugo 267f., 277, 296, 397, 471, 563, 568 Fronto, Marcus Cornelius 334f. Gadamer, Frida 462 Gadamer, Hans-Georg 6, 8, 11, 25f., 74, 84f., 88, 92, 123, 126f., 133, 154, 166, 168, 245, 248, 250, 252, 272, 298, 317ff., 339, 349f., 355, 363f., 366, 368, 372– 376, 394, 397, 412, 429, 431, 437f., 440, 443f., 452f., 462–477, 482, 509, 525f., 531f., 534, 537, 548, 555, 557, 563, 570, 572f., 575, 579, 584 Gehlen, Arnold 429 Gelzer, Matthias 73, 366, 416, 590 George, Stefan 5f., 8,11, 26, 31, 35f., 45f., 50–65, 73, 75f., 89, 98, 106, 116f., 119, 124, 131, 135ff., 156, 159, 164, 173ff., 182, 189, 193, 207, 218, 228f., 235, 239, 269, 277, 282ff., 286, 308, 339, 342, 352, 360, 378, 387, 392, 396, 438, 442, 458, 462, 472f., 480f., 485, 488, 499, 514, 516, 524, 526, 554, 562f., 571f., 574f., 577, 579, 580–592 Gerold, Karl-Gustav 51, 74, 128, 225, 274, 375, 401, 480, 575 Gide, André 269 Glunz, Hans Hermann 85, 88, 183, 355f., 555 Goebbels, Joseph 453 Goethe, Johann Wolfgang 2, 4, 6, 8f., 11, 20, 24f., 29, 45, 52, 57, 60, 72, 75, 80, 85, 88, 92f., 103, 105ff., 116, 118f., 124, 126, 132ff., 164, 184, 195, 199, 204– 225, 231, 249, 268, 272, 290, 297, 320, 324, 330, 335, 343f., 348, 355, 362, 387, 392, 395f., 403f., 409f., 429f., 432–435, 439, 454f., 463, 465, 467, 471f., 486, 488f., 492, 511, 536–540, 542, 546, 554, 556–560, 562, 566, 570, 576, 578, 580, 582 Götze, Alfred August 365, 370f., 409, 571 Gogarten, Friedrich 517, 575 Gogol, Nikolai Wassiljewitsch 159, 320, 330, 332, 335 Goldoni, Carlo 314 González Vicen, Felipe 248 Gottsched, Johann Christoph 389 Gozzi, Carlo 317 Gracián, Baltasar 250, 258, 262, 294 Grassi, Ernesto 75, 471, 566 Gries, Johann Dietrich 230f., 233–237, 249, 255f., 265, 277, 564f.

A.4 Personenregister Gründgens, Gustav 244 Guardini, Romano 467, 471, 476 Gudeman, Alfred 376, 560 Gürster, Eugen 264f., 554 Gumbel, Hermann 350, 365, 417, 422 Gundolf, Friedrich 11, 43, 51, 53f., 56f., 177, 197, 229f., 269, 432, 514, 564, 570, 572, 575, 584 Halm, August 24, 26, 31, 44–49, 115, 409, 559, 564, 568, 587 Hamann, Johann Georg 106f. Hammer-Purgstall, Joseph von 320 Harmjanz, Heinrich 413ff., 421 Hartmann, Nicolai 248, 532 Hebbel, Friedrich 202 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 441, 482, 484, 563 Heidegger, Martin 8, 25f., 93, 232, 248f., 399, 403, 418, 437–477, 479, 491, 498, 513f., 520–523, 530ff., 537, 548, 555, 564, 567, 569, 572f., 575, 579, 583, 588f. Heiler, Friedrich 252f. Heiseler, Bernt von 111f., 564 Heliodoros von Emesa 260 Helm, Karl 70, 364 Henko, Emil 43, 52 Heraklit von Ephesos 283 Herodot von Halikarnassos 158ff., 332f. Heselhaus, Klemens 411, 503, 546 Heusler, Andreas 58f., 71, 341f., 344, 353, 356f., 400, 523, 555, 591f. Hildebrandt, Kurt 61, 349f., 467, 577 Hitler, Adolf 5, 344, 353, 403, 583 Hölderlin, Friedrich 5, 18, 20, 24f., 57, 75f., 90, 105f., 114, 116, 118, 199, 202f., 206, 225, 343, 353, 355, 395f., 401, 403, 430, 437–477, 483, 488, 491, 498, 525, 538, 548, 556ff., 560, 563f., 566, 568ff., 572, 575, 581, 585, 587ff. Hölscher, Uvo 73f., 577, 590 Hofmannsthal, Gerty von 137, 141f., 146 Hofmannsthal, Hugo von 24f., 62, 76, 85, 131–164, 180–183, 192f., 207, 214, 221, 224f., 247, 277, 279–287, 297, 340f., 396, 534, 538, 546, 554, 558, 562, 564, 570, 580, 585f., 588ff. Homberger, Heinrich 400 Homer 88, 93, 102, 333, 486, 504 Hugo, Victor 284 Husserl, Edmund 482, 497

595

Ibsen, Henrik 335 Immermann, Carl Leberecht 330, 334, 335, 558 Isidor von Sevilla 334 Irenäus von Lyon 334 James, Henry 334f. Jaspers, Karl 133, 496 Jean Paul 8, 18, 24f., 54, 65–70, 72, 81f., 84, 89, 91–98, 105–114, 120ff., 125, 128f., 132f., 155ff., 160, 170, 184, 192, 198, 203, 206, 223, 225, 292, 311, 315, 319, 340, 343, 351ff., 359ff., 409, 463, 465, 554, 557f., 560ff., 564f., 568, 574, 587 Joyce, James 334f. Jünger, Ernst 431, 440, 583 Jünger, Friedrich Georg 440, 470, 583 Jung, Carl Gustav 34, 131, 159, 200, 296, 332, 579 Kalthoff, Wilhelm 263 Kant, Immanuel 39, 69, 107, 198, 238, 482ff., 493, 498, 512f., 563f., 566ff., 577 Kantorowicz, Ernst 131, 351, 423, 573 Kappus, Walter 32 Kaschnitz, Marie-Luise 509, 533, 535 Kauffmann, Hans 362, 369, 370f. Kayka, Ernst 24, 26, 29, 31–37, 39f., 43, 45, 50, 70, 76, 153, 159, 162, 165, 196ff., 204, 272, 354, 394, 439, 516, 555, 565 Kayser, Wolfgang 219, 363ff., 367, 422, 424, 546, 579, 582, 588, 590 Keil, Johann Georg 160, 235, 562 Kerber-Carossa, Hedwig 154, 174, 430, 524 Kierkegaard, Søren 85, 525 Kindermann, Heinz 69, 351, 565 Klages, Ludwig 472 Kleist, Heinrich von 25, 31, 71f., 114, 195– 207, 210, 214, 221, 224f., 306, 316, 320, 332, 354, 360, 362, 395f., 401ff., 453, 463, 557, 559, 565, 569, 575, 582 Klopstock, Friedrich Gottlieb 52, 58, 105f., 343, 463, 557, 559, 583 Klostermann, Helene 440 Klostermann, Vittorio 65, 80–84, 87, 89f., 94f., 101, 104f., 122f., 126–129, 134, 160f., 183, 206, 239, 348f., 375f., 395–399, 403, 440, 443, 448, 453, 455, 470ff., 490, 501f., 543, 555 Kluckhohn, Paul 453f., 462, 467, 470, 476, 563f., 586 Koch, Franz 204, 356, 359f., 426, 429, 565, 578

596

Anhang

Kommerell, Erika geb. Franck 76f., 173f., 260, 263, 272–275, 282, 321, 362, 440, 445, 474, 509f., 534f. Kommerell, Eugen (sen.) 310 Kommerell, Eugen (jun.) 523 Kommerell, Eva geb. Otto 16, 75f., 78f., 320f. Kommerell, Hedwig 53, 344 Korff, August Wilhelm 113, 354, 524, 565 Krauss, Werner 8, 25f., 115, 122, 235, 247– 259, 263, 265–268, 277, 283, 289, 291, 301, 317, 336, 425, 485, 496, 547f., 555, 565, 570, 574ff., 587, 590 Krenkel, Max 235f., 562 Kretschmer, Ernst 252f. Krieck, Ernst 351ff. Krüger, Gerhard 88, 350, 444, 470, 473f., 532, 555, 563, 576 La Fontaine, Jean de 335 Landmann, Edith 57, 61, 581 Langlotz, Ernst 356ff., 360ff., 368, 400, 420 Leibniz, Gottfried Wilhelm 474 Lessing, Gotthold Ephraim 20, 25, 202f., 229, 251f., 261, 290, 300, 304, 318f., 338, 364, 372–394, 403ff., 409, 420, 422, 436, 439, 483, 554, 559, 561, 565, 567, 573, 577, 585 Liebermann, Max 123, 346 Lipps, Hans 133, 250, 397 Livius, Titus 335 Löwenthal, Leo 121 Löwith, Karl 84, 85, 88, 127, 473, 532 Lommatzsch, Erhard 343 Lope de Vega y Carpio, Félix Arturo 154, 258, 266, 276, 335 Lugowski, Clemens 364f., 367, 426, 565 Mallarmé, Stéphane 494, 498ff., 566 Marc Aurel 291 Marlitt, Eugenie 335 Marlowe, Christopher 335 Martini, Fritz 29, 111, 565, 578 May, Karl 335 May, Kurt 364f., 367, 415f., 421, 423, 575 Mayer, Theodor 423, 424, 488 Maync, Harry 364, 372, 374, 418, 534, 580 Mehnert, Frank 56, 61, 62, 80 Mell, Max 137–141, 150, 585 Mereschkowski, Dmitri Sergejewitsch 335 Mielert, Harry 485 Mitzka, Walther 364, 369, 418, 585 Molière 157, 314, 316f., 319, 335, 484, 534 Mommsen, Wilhelm 364

Montaigne, Michel de 314, 484 Müller, Franz Walter 262f. Müller, Günther 351 Murasaki, Shikibu 323, 324, 325, 326, 396, 565, 586 Muschg, Walter 353, 585 Nadler, Josef 140, 351 Natorp, Paul 535 Naumann, Hans 59, 77, 98, 340ff., 344, 348, 355f., 416 Nelis, Heinrich 367, 417, 422 Nestroy, Johann Nepomuk 317 Nietzsche, Friedrich 42, 57, 73, 75, 79, 80, 85, 88, 90, 92, 114, 120, 124f., 150, 238, 334f., 442, 475, 533, 566ff., 573, 589 Nonnos von Panopolis 334 Novalis 20, 209, 426f., 439, 448, 538, 559, 585 Obenauer, Karl Justus 349f., 356, 358f., 368f., 585 Otto, Margarete 76 Otto, Walter F. 8, 25f., 65, 72f., 75–105, 114, 116, 123f., 127ff., 133f., 339ff., 345, 350ff., 423, 458, 467, 471f., 476, 504, 516, 547, 554f., 566, 579, 582, 585, 588 Parmenides von Elea 73, 82, 123, 498, 567 Pascal, Blaise 484, 504 Petersen, Julius 97 Petrarca, Francesco 56 Pindar 52, 288, 534 Platon 74, 77, 80, 85, 88, 126, 187, 283, 292, 294, 444, 463, 470, 473, 497f., 501, 521, 533f., 560, 566ff. Plautus, Titus Maccius 317, 484 Plinius Secundus Maior, Gaius 159, 333 Pongs, Hermann 364f., 367 Proust, Marcel 159, 269, 330, 332, 486 Pyritz, Hans 20, 338, 354, 537, 559, 577, 584 Quevedo y Villegas, Francisco Gómez de 262f., 334 Quintilianus, Marcus Fabius 334f. Rabelais, François 486 Racine, Jean Baptiste 154, 157, 318, 332, 486, 525 Rahn, Emma 36, 46, 54, 409, 545

A.4 Personenregister Rahn, Rudolf 32, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 51, 52, 545, 566 Rauch, Christian 370 Reidemeister, Kurt 25f., 479f., 489ff., 494– 516, 532ff., 548, 555f., 560, 564, 566ff., 570, 574, 586, 588, 590 Reinhardt, Elly 76, 97, 101, 105, 231, 325f., 333, 555 Reinhardt, Karl 8, 25f., 65, 72–103, 114, 116, 123ff., 128, 133f., 154, 156, 158f., 176, 227ff., 231f., 241, 252, 262f., 270, 272f., 284f., 289, 323, 329, 333f., 339, 346, 350f., 362, 366, 373f., 416, 423, 443, 458, 470f., 475, 480, 483, 504, 506, 509, 516, 521, 524, 533f., 547, 554f., 563, 567ff., 577–580, 583, 585, 587, 590 Reiniger, Robert 124 Rehm, Walther 351, 353ff., 364–367, 369, 371f., 412–422, 425, 436, 468, 559, 566, 577, 584, 587 Rey, Hannelore 215, 556 Rickert, Heinrich 482 Riezler, Kurt 66, 77, 82ff., 90, 114, 122ff., 345f., 351, 368, 416, 422f., 436, 469, 495, 547, 556, 567, 574 Rilke, Rainer Maria 24f., 137, 173, 330, 461, 466, 471, 479, 480f., 485, 494, 499, 504f., 523–529, 542, 559, 587 Rimbaud, Arthur 499 Ritterbusch, Paul 349, 426, 576 Rittmeister, John 252 Rothacker, Erich 356 Rousseau, Jean Jacques 54, 66f., 69, 72, 106f., 483, 554, 558, 560f., 564f. Ruprecht, Annemarie 215, 310, 556 Rust, Bernhard 429 Sachs, Hans 146 Schadewaldt, Wolfgang 73, 84f., 238f., 568, 587 Schaeder, Hans Heinrich 140 Schalk, Fritz 25f., 225, 247, 259–267, 277f., 294, 314, 317, 336, 339, 362f., 373, 425, 435, 548, 556f., 567 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 209, 441, 484 Schiller, Friedrich 10, 45, 57, 85, 88, 105ff., 114, 132, 143, 177, 199, 202f., 206, 209, 299, 304, 309, 332f., 343, 348, 352f., 360, 388, 395–407, 409f., 440f., 488, 511, 522, 554, 557, 559, 569, 575, 583f.

597

Schlechta, Karl 5, 26, 60, 66, 88, 114, 122, 124–128, 158, 183, 252, 270, 273, 335, 442, 448, 475, 547, 567 Schlegel, August Wilhelm 230 Schlegel, Friedrich 320 Schmidt, Erich 97, 196 Schmitt, Carl 431 Schöffler, Herbert 85, 88, 331 Scholem, Gershom 117, 560 Scholz, Wilhelm von 154, 247, 589 Schröder, Rudolf Alexander 8, 26, 137, 140ff., 151, 187ff., 226, 238, 303, 373, 509, 559 Schürr, Friedrich 364 Schultz, Franz 77, 340–343, 356ff., 367, 416, 422, 442, 589 Schulz, Günter 6, 59, 154, 176, 588 Schulze-Boysen, Harro 252 Schwietering, Julius 128, 416, 435, 556, 567, 576 Seneca, Lucius Annaeus 154, 157, 332, 504 Shakespeare, William 45, 48, 88, 92ff., 98, 132, 229f., 292, 317, 319ff., 335, 484, 533, 564 Shi, Nai An 327, 567 Sieburg, Friedrich 431 Six, Franz Alfred 430 Snell, Bruno 73f., 507, 556, 568 Snell, Herta 507, 556 Sokrates 42, 80, 187, 346 Sophokles 25, 52, 65, 81, 84f., 88ff., 93, 99–101, 128, 154, 187, 226, 238f., 332, 521, 554, 559, 561, 567f. Spenser, Edmund 320 Spranger, Eduard 429 Sprenger, Jakob 346, 413, 417 Spitteler, Carl 24, 31–36, 45, 568 Staiger, Emil 411, 503, 532, 546, 586 Stauffenberg, Alexander von 52, 586 Stauffenberg, Berthold von 52, 586 Stauffenberg, Claus von 5, 52, 586 Sternberger, Dolf 298, 496 Steiner, Herbert 151, 217f., 323, 435, 556f. Steinmeyer, Kurt 509, 533f. Stendhal 157 Sterne, Laurence 484, 486 Stifter, Adalbert 182, 308, 310, 340 Stock, Ulrich 253f. Straton von Lampsakos 126 Strebel, Grete 31 Strebel, Helmut 6, 62 Strebel, Jul geb. Kommerell 31, 34f., 43, 46, 50, 52ff., 56, 60, 63, 76, 345

598

Anhang

Strebel, Siegfried 31 Strebel, Treumund 31 Suhrkamp, Peter 8, 138f., 141, 144f., 150 Swift, Jonathan 486 Taeger, Fritz 364–368, 370, 394, 412–418, 420–424, 482, 485, 533 Taube, Otto von 151 Terenz, Publius 317, 484 Thackeray, William Makepeace 319 Theophrastos von Eresos 126 Thormaehlen, Ludwig 61, 76, 589 Unger, Rudolf 69, 568 Vaihinger, Hans 238, 376, 568 Valéry, Paul 335, 499, 501, 509 Vergil 335 Verlaine, Paul 499 Viëtor, Karl 351, 353f., 361, 570, 591 Volhard, Ewald 52, 54 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz 537 Voltaire 154, 332 Vossler, Karl 248, 267f., 277, 568, 576 Wagner, Gisela 442f., 568 Walzel, Oskar 269, 328, 347f., 361 Weber, Alfred 496 Weber, Max 50, 67, 585 Weisgerber, Leo 364 Weizsäcker, Olympia von 133, 556 Weizsäcker, Viktor von 133f., 548, 568, 571, 576f. Wertheimer, Max 124

Wiese, Benno von 110, 113, 348, 351, 353, 364f., 367, 419f., 568, 586 Wilamowitz-Moellendorf, Tycho von 99 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von 73, 88, 92, 99, 102f., 590 Woerner, Roman 226 Wolf, Erich 467 Wolf, Erik 397 Wolf, Ernst 507 Wolf, Karl Lothar 349f. Wolff, Christian 489 Wolff, Ludwig 364, 369, 413, 416, 418f., 423, 534f., 556, 590 Wolfram von Eschenbach 335 Wolters, Friedrich 26, 52–58, 60, 62, 64, 66, 72, 77, 177, 349f., 575 Wordsworth, William 322, 568 Wyneken, Gustav 24, 26, 31, 32, 37–45, 74, 115, 564, 568, 569, 581 Yeats, William Butler 333 Zeheter, Anton 111, 564 Zimmer, Christiane 76, 132, 134, 138, 153, 155f., 158, 165, 319, 331, 334, 345, 411, 556 Zimmer, Heinrich 8, 25f., 76, 97, 131–134, 137–165, 173, 180, 183–188, 192f., 195f., 198ff., 204f., 208f., 211, 214, 217, 221, 223f., 235, 262, 272, 274, 286, 298, 314, 319f., 325, 327f., 330– 333, 344f., 347, 361f., 372ff., 405, 412, 450, 516, 548, 556, 568f., 573, 585 Zinkernagel, Franz 353