»Abwägung«: Herausforderung für eine Theorie der Praxis [1 ed.] 9783428543564, 9783428143566

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»Abwägung«: Herausforderung für eine Theorie der Praxis [1 ed.]
 9783428543564, 9783428143566

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Schriften zur Rechtstheorie Band 272

„Abwägung“ Herausforderung für eine Theorie der Praxis

Herausgegeben von Friedrich Müller Philippe Mastronardi

Duncker & Humblot · Berlin

MÜLLER/MASTRONARDI (Hrsg.)

„Abwägung“

Schriften zur Rechtstheorie Band 272

„Abwägung“ Herausforderung für eine Theorie der Praxis

Herausgegeben von

Friedrich Müller Philippe Mastronardi

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-14356-6 (Print) ISBN 978-3-428-54356-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-84356-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort I. Abwägung ist zentral, da von Gerechtigkeit nicht zu trennen. Die Gerechtigkeit fordert uns immer und überfordert uns oft. Die Frage nach ihr ist das Gespenst, das wir nicht loswerden. Auch wenn die zuständigen Instanzen entschieden haben, das Verfahren korrekt war, die Entscheidung plausibel argumentiert ist und sich auf geltende Normtexte beruft, wenn es somit legal zugegangen ist – die Frage: „Aber ist all das auch wirklich gerecht?“ kann und wird dennoch gestellt werden. So kommen wir mit der Herausforderung dieser Sache niemals zu einem Ende. Immerhin aber kennen wir die Statue der Gerechtigkeit seit der Antike: die schöne Frau mit verbundenen Augen; die Waage erscheint schon im Totengericht des alten Ägypten. Justitias Gerät ist weder Federwaage noch römische Waage, bei denen es einfach um das Gewicht eines zu wiegenden Gegenstands geht. Es ist eine Balkenwaage, mit zwei Schalen für zwei Objekte, deren Gewicht gegeneinander zu bestimmen ist. Justitia wägt ab. Die Juristen wissen, dass solche Abwägung nicht erst beim Ergebnis der Entscheidungsarbeit einsetzt. Sie kann in jedem Stadium auftreten: „Güter“, Rechtspositionen, Interessen, geltende Vorschriften, gar „Prinzipien“ werden abgewogen, ohne dass hierfür eine verlässliche Methodik bestünde. Aus dem Ergebnis dieses hinter der Augenbinde her tastenden Vorgangs wird alsdann „gefolgert“, „abgeleitet“ – und aus der weiteren Argumentation dann das ausgesondert, vom weiteren Text das abgeschnitten, was als das leichtere Gewicht erschienen sein mag, was als „weniger erheblich“ deklassiert wurde. Abwägung ist ein unvermeidlicher Tummelplatz für intuitive, fachliche und institutionelle Vorverständnisse – eine weiche Materie mit hartem Ergebnis. Die ältere Lehre zur Abwägung nach Inkrafttreten des Grundgesetzes erblühte vor allem im Grundrechtsbereich. Sie nannte die Garantie des grundrechtlichen Wesensgehalts in Artikel 19 II GG bloß „relativ“. Im Ergebnis konnten so auf Grund behaupteter Überwertigkeit im Einzelfall Sachgehalt und normative Wirkung eines Grundrechts „restlos“ (P. Häberle) ausgelöscht werden. Die Doktrin war darüber hinaus zu spekulativen Figuren

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Vorwort

wie „Vorrang“, „Übergewicht“ „Höherwertigkeit“ oder „Zurücktreten“ verfassungsrechtlich normierter „Rechtsgüter“ getrieben worden; auch zu „Sittengesetz“, „Kunstwert“, „öffentliche Sicherheit“, „Interesse des Verkehrs“ als Höherwertigem, schließlich gar zum „Verfassungsganzen“, zum Grundgesetz als „Wertsystem“. In einem in concreto ungeklärt belassenen Sach-, Begriffs- und Assoziationsfeld wurde und wird „abwägend“ ein Wort gegen das andere gehalten, werden Übergewicht und minderes Gewicht affirmativ versichert statt sorgfältig argumentiert. All das blieb und bleibt nicht nur sträflich vage und unmethodisch. Es entbehrt bereits der normativen Basis im geltenden Recht. Abwägung als formaler Grundsatz kann sich nur auf formale Typik stützen, wo eine solche in bestimmten Fällen gegeben ist (Verfassung > Gesetz, ausdrücklich normierte Vorbehalte, statuierte Vorzugsregeln). Als autoritäre Verfügung über normierte Inhalte ist sie mit rechtsstaatlicher Methodik nicht mehr vereinbar. Was sie zu lösen versucht, ist durch rationale Konkurrenz- und Kollisionsmaßstäbe sowie durchgängig mit Hilfe einsichtig strukturierender Bereichsdogmatik besser zu bearbeiten. Nur durch methodisch erfragte und an den Normtexten plausibel orientierte Aussagen hätte der Praxis gezeigt werden können, wie denn die „abzuwägenden“ Größen rational umschrieben und intersubjektiv diskutierbar in ihrem „Gewicht“ abgeschätzt werden könnten. In dem Ausmaß, in dem das unterblieb, wurde und wird Abwägung zum Kompetenz- und Verfahrensproblem: wer hat die formale Zuständigkeit, mit den Spielräumen umzugehen, welche die Doktrin nicht zu strukturieren vermochte? Dass sie es nicht konnte, zeigt emblematisch die Formel des Bundesverfassungsgerichts (z. B. E 15, S. 288 ff., 297), es sei „eine wohlverstandene Abwägung“ vorzunehmen. Abwägung darf rationale Konkretisierung nicht ersetzen wollen, das wurde seit „Normstruktur und Normativität“ (1966) begründet und immer weiter entfaltet. Die nötigen Präzisierungen erwiesen sich ohne ein paradigmatisch neues Normverständnis und ohne Einbezug der Normbereichsanalyse als der Sache nach nicht zureichend. Solches Konkretisieren lässt Abwägung dann oft entbehrlich erscheinen. Sollte es im Einzelfall nicht zu vermeiden sein, so ist diese Tatsache klar auszusprechen und sind die noch rationalen von den bereits irrational wertenden Momenten des Entscheids in der Begründung von einander zu sondern. Zudem darf es nur auf verhältnismäßiges Begrenzen und allseitig schonenden Ausgleich hinauslaufen, nicht auf ein pauschales Fallenlassen einer im geltenden Recht gültig normierten Sachposition. Das normtheoretische Konzept kann Sachstrukturen der gesellschaftlichen Realität als Bestandteile des Normbereichs in seinem Bezug zum Normprogramm ausweisen, sie somit methodisch bearbeitbar machen. Damit wird auch der mehrdeutige Terminus „Wert“ entbehrlich.

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Robert Alexy hielt sich dagegen lieber an Werte und an Grundrechte als „Prinzipien“. Es gehe um eine „Rehabilitierung der vielgeschmähten Werttheorie“ des Bundesverfassungsgerichts. Dabei werden ferner eine Rechtsnorm als „semantischer Gegenstand“ und die Semantik als nur logische bestimmt. Somit könnten sie äußerlich, bloß additiv, mit juristischer Argumentation verbunden werden. Das verfehlt aber die Aufgabe der juristischen Methodik als einer Technik begründeter Zurechnung; auch verkürzt es dramatisch die Sicht auf die Norm. Einer der Gründe für diese Schieflage ist darin zu sehen, dass dort, neben Abenteuerausflügen in die Philosophie als für das Recht begründender Instanz, vom methodologischen Selbstverständnis der juristischen Literatur ausgegangen wird, statt juristische Praxis aus ihrem tatsächlichen Vorgehen zu begreifen und schrittweise zu theoretisieren. Tut man das, so wird es möglich, juristisches Argumentieren als eine semantische Praxis integral zu untersuchen. Dagegen fehlt es der Prinzipienlehre an einer Rechtsnormtheorie und bleibt der unterstellte Begriff der „Sprachregel“ weiterhin platonistisch. Eine dem „Prinzip“ entgegengesetzte „Regel“ kann nämlich nur um den Preis ihrer überholten platonistischen Fassung behauptet werden. Die Regel und die Frage ihrer praktischen Durchsetzbarkeit werden als Teil der semantischen Praxis im Sprachspiel Recht gar nicht erst erkennbar. Das reißt schmerzhafte Lücken in die Begründung der Falllösung. Diese Lücken sollen dann durch eine vorgeblich objektive Wertordnung ausgefüllt werden. Die Norm sei dabei strikt von ihren Gründen, von den ihre Zurechnung zum geltenden Recht tragenden Argumenten zu trennen. Doch lassen sich in der Entscheidung des Rechtsalltags, weit weg vom Schreibtisch des Theoretikers, solche objektiv vorgegebenen Regeln nicht nachweisen; juristische Textarbeit ist viel komplexer. Daher wird, per Handstreich, der rechtliche Diskurs dem moralischen als dessen bloßer „Sonderfall“ untergeordnet. Der Altpositivismus, der sich in der Vorgehensweise dieser Position letztlich ungestört fortsetzt, soll ausgerechnet durch usurpierendes Moralisieren des Rechts überwunden werden – durch eine „irreführende, weil von Konnotationen des Naturrechts noch nicht gänzlich befreite Subordinierung des Rechts unter die Moral“ (Jürgen Habermas). Die Prinzipienlehre bleibt nicht nur rechtspositivisch, sondern auch sprachpositivistisch. „Prinzipien“ sind auch nur Texte, mit allem, was daraus folgt. Desgleichen sind nur Texte die Erläuterungen und Begründungen der bearbeitenden Juristen [der Prinzipienreiter] im konkreten Fall dazu, ob, warum und wie solche Prinzipien einzuführen, gar „anzuwenden“ oder eben auch „abzuwägen“ seien. Und soweit „Prinzipien“ keine Normtexte sind, sind sie zusätzlich nicht durch Verfahren der Verfassunggebung und/oder der demokratischen Mei-

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nungs- und Willensbildung sowie der förmlichen Gesetzgebung hindurch gegangen. Das gibt ihnen grundsätzlich einen prekären und gegenüber den Verfassungs- und den demokratisch erzeugten Gesetzes-Normtexten einen minderen Status. Sie sind nur Argumente. Nicht sind sie legitimierende, dem Legalen überlegene „Quellen“ von Recht; sie sind dann sogar nur nicht-normtextgestützte Gesichtspunkte. Metaphorisch gesagt, erscheinen die Vagheits-Exzesse der älteren Praxis und Lehre als ein Sich-im-Kreis-Drehen, die späteren Anstrengungen der Prinzipiendoktrin als (rechts- wie sprachtheoretisch) rückwärts drehende Spiralen. Aus diesen Figuren wie auch aus sonstigen Mäandern der Wissenschaftsund Praxisgeschichte brechen die Beiträge dieses Bandes konstruktiv aus.

II. Florian Windisch bricht mit der Prinzipienlehre, indem er eine eigene Methodenlehre der Abwägung entwirft. Diese erhebt den Anspruch, Rechtskonflikte, welche aus widersprechenden, aber prima vista je rechtlich geschützten Interessen entstehen, auf rechtsstaatlich transparente Weise zu entscheiden. Die Rationalitätslücke, welche von Robert Alexys Prinzipienlehre nur formal zugedeckt wird, soll geschlossen werden. Urteile, welche einen Interessen- und Normenkonflikt entscheiden müssen, sollen ebenso methodisch stringent angeleitet werden können wie solche, die sich durch Subsumtion eines Falls unter eine Norm darstellen lassen. Der Autor ortet den Mangel in der herkömmlichen Abwägungslehre bereits in deren positivistischem Normkonzept. Wer davon ausgeht, dass das Gericht bereits vorgegebene Normen „anwendet“, gerät in methodische Schwierigkeiten, wenn er auf einen Normenkonflikt stößt, in welchem er zwei sich widersprechende Normen gleichzeitig anwenden sollte, dies aber aus logischen Gründen nicht kann. Er sieht sich gezwungen, eine der beiden Normen abzuwerten und der anderen einen Vorrang zu verleihen – ohne dafür eine demokratisch-rechtsstaatliche Legitimation zu haben. Von Verfassung und Gesetz gleichrangig gesetzte Normen müssen dann vom Rechtsanwender in eine außerrechtlich geschaffene Hierarchie gebracht werden: eine extrakonstitutionelle Notlösung, die vermeidbar wäre. Vermeidbar ist sie, wenn das Konzept der Strukturierenden Rechtslehre zugrunde gelegt wird.

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Erforderlich ist dazu der Verzicht auf die Annahme, der in Verfassung und Gesetz vorfindliche, politisch beschlossene Text sei bereits die Norm, welche bloß noch anzuwenden sei. Der Normtext ist bloß der verbindliche Ausgangspunkt, von dem aus mit Blick auf den zu entscheidenden Fall die normorientierten und sachbezogenen Argumente zur Begründung einer Entscheidungsnorm entwickelt werden müssen. Die Strukturierende Rechtslehre hat diese Methodik für jene typischen Fälle, in denen ein Sachverhalt einer Norm zugerechnet werden kann, in differenzierter Weise expliziert. In all jenen Fällen, in denen am Ende des Entscheidungsprozesses eine logische Subsumtion des Falles unter die Entscheidungsnorm möglich ist, schließt sich der Autor dieser Methodik an. Er erweitert das Instrumentarium der Strukturierenden Rechtslehre jedoch für den Bereich der Abwägung. Wenn die Normen nicht vorgegeben sind, sondern erst im methodisch angeleiteten Prozess der Herstellung einer Entscheidungsnorm geschaffen werden müssen, stellt sich das Abwägungsproblem ganz anders dar als es die Prinzipienlehre von Alexy haben will. Denn dann gibt es keine vorgegebenen, sich widersprechenden Prinzipien, die zueinander in ein gewichtetes Verhältnis zu bringen wären. Der Normenkonflikt ist nicht mehr pauschal vorgegeben, sondern stellt einen differenzierten Schritt innerhalb des Prozesses der Herstellung der Entscheidungsnorm dar. Der Abwägungsprozess lässt sich methodisch strukturieren. Die wichtigste Abgrenzung zum Abwägen nach Alexy ist, dass dieses von einer Wertungsfrage zu einer Gerechtigkeitsfrage gemacht wird. Die herkömmliche Abwägungslehre versteht Prinzipien als Normen der Wertdimension. Sie will widersprüchliche Werte gewichten – was ohne einen gemeinsamen Nenner, der typischerweise fehlt, nicht zulässig ist. Sie behandelt die Rechtsfrage der Kollision von rechtlich geschützten Interessen als eine Frage von Nutzen und Schaden, ohne diese Frage in den Kontext einer Kollision unter Subjekten als Trägern von Rechten und Pflichten zu stellen. Damit unterschlägt sie den Gerechtigkeitscharakter der Abwägungsfrage. Statt widersprechende Werte zu gewichten, schlägt der Autor nun vor, eine legitime Relation zwischen zwei je durch bestimmte Normen gerechtfertigten Interessen herzustellen. Jedes Interesse soll in dem ihm normativ zukommenden Maß geschützt werden. Dieser Ansatz hat folgende Konsequenzen. Nicht Prinzipien werden gewichtet, sondern rechtserhebliche Interessen. Die normative Frage, welche den Entscheid anleitet, ist nicht eine Wertfrage (welcher Wert ist höher zu gewichten), sondern eine Frage der gerechten Verteilung von Werten: Werden die Interessen in ihren rechtlich schützenswerten Qualitäten angemessener berücksichtigt, wenn die eine oder wenn die andere Entscheidung getroffen wird? Als Rechtsgrundlage für diese Entscheidung dienen nicht unmittelbar die konfligierenden Prinzipien,

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sondern es muss auf ihrer Grundlage erst noch eine Relationsnorm geschaffen werden, welche die Kollision zwischen den beiden prima vista legitimen Interessen zu entscheiden gestattet. Die Herstellung dieser Kollisionsoder Relationsnorm aus den einschlägigen Normtexten folgt grundsätzlich den Kriterien der Strukturierenden Rechtslehre. Nur hat die Entscheidungsnorm bei der Abwägung eben den Charakter einer Relationsnorm, also einer Norm, welche die rechtlich angemessene Relation zwischen den konfligierenden Interessen herstellt. Der Autor gibt für den zu verfolgenden Prozess der Abwägung eine strukturierte Anleitung mit zwei Stufen der Konkretisierung. In der ersten Stufe ist zu bestimmen, auf welche Rechtsgrundlagen sich die konfligierenden Interessen je berufen können. Hier geht es um die Zurechnung eines Sachverhalts zu einer Norm. In der zweiten Stufe geht es dann darum, die Norm zu bestimmen, welche den Konflikt unter den je in der ersten Stufe als schützenswert beurteilten Interessen entscheidet. Hier werden den einzelnen Interessen je ihre Werte zugemessen. Während die Zurechnung von Sachverhalten zu einer Norm der bekannten Methodik entspricht, wird mit der Zumessung vergleichbarer Werte eine neue Dimension des Vorgehens eröffnet: Analog zu Normprogramm und Normbereich soll hier für jedes postulierte Interesse – ausgehend von den einschlägigen Normtexten – je ein Wertprogramm und ein Wertbereich ermittelt werden. Mittels teleologischer Interpretation der kollidierenden Schutznormen wird der Wert oder das Schutzgut ermittelt, auf die sich die konfligierenden Interessen berufen können. Gefragt wird nach den konkreten legitimen Zwecken der jeweiligen Vorschriften. So lässt sich für jedes geltend gemachte Interesse ein eigenes Wertprogramm erstellen, also der rechtsverbindliche Maßstab für die Bewertung des Interesses. Mittels einer Wertbereichsanalyse sind sodann die Wirkungszusammenhänge des Sachbereichs zu ermitteln, die aus der Sicht des Wertprogramms für das jeweilige Interesse relevant sind. Auf diese Weise lässt sich der Normwert bestimmen, d.h. die Frage beantworten, wie wichtig das konkrete Interesse vor dem Horizont von Wertprogramm und Wertbereich erscheint. Erst nach dieser Wertzumessung ist die von Alexy pauschal verwendete Gewichtsformel aussagekräftig. Das rechtlich differenzierte Gewicht der konfligierenden Interessen ist gewiss nach Beeinträchtigungsintensität und Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigung zu differenzieren. Den entgegenstehenden Interessen darf aber erst im Lichte der ihnen zurechenbaren Wertprogramme und Wertbereiche sowie der differenzierten relativen Beeinträchtigung ein Gewicht zugemessen werden. Daraus folgt dann der logische Schluss der Abwägung – analog der Subsumtion, nur wird hier statt unter eine positive Norm unter eine Relationsnorm subsumiert.

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Grundlegend für die neue Methodik ist denn auch die Unterscheidung von zwei Typen von Normen. Der Autor unterscheidet zwei Normstrukturen: die positive Anordnung und die relative Anordnung. Genauer handelt es sich um unterschiedliche Elemente im Normprogramm einer Vorschrift. Die positive Anordnung verlangt die Zurechnung eines bestimmten Sachverhalts zur entsprechenden Norm, also die Subsumtion. Die relative Anordnung hingegen verlangt die Herstellung einer intersubjektiven Relation, also ein gerechtes Verhältnis zwischen zwei legitimen Positionen. Typische Beispiele relativer Normen sind die Rechtsgleichheit oder das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Während die positive Anordnung auf generell-abstrakter Ebene bereits eine Entscheidung der Frage nach der richtigen Wertzumessung, also die Abwägung zwischen allenfalls entgegenstehenden Interessen, legislativ vorgenommen hat, ist diese Abwägung bei den relativen Anordnungen noch von der Rechtsanwendung vorzunehmen. Diese hat dort, wo die Zurechnung eines Falles zu einer positiven Anordnung nicht abschließend möglich ist, die relative Dimension des Falles zu konkretisieren. Hier muss durch Zumessung von Normwerten und durch Wertvergleich jene relative Kollisionsnorm hergestellt werden, welche die Verteilung von Nutzen und Schaden vornimmt. In der vom Autor vorgeschlagenen Methodik sind Prinzipien ebenso rechtsverbindlich wie positive Normen; sie enthalten bloß mehr relative Normprogrammelemente als jene. Die Abwägung (oder Zumessung), die sie erfordern, untersteht aber in gleicher Weise dem Legalitätsprinzip wie die Subsumtion (oder Zurechnung). Prinzipien sind auch nicht abstrakter als andere Normen. Sie erfordern bloß jene zweite Stufe der Konkretisierung, welche die Frage der richtigen Verteilung der konfligierenden Werte durch Herstellen einer Entscheidungsnorm in der Form einer Relationsnorm beantwortet. Die vorgeschlagene Methodik gestattet, relative Anordnungen ebenso rechtsstaatlich konform zu konkretisieren wie positive. Sie entzieht damit der herkömmlichen Abwägungslehre die Legitimation. Es ist nicht mehr nötig, Subsumtion und Abwägung voneinander zu trennen und daher nicht mehr zulässig, Abwägungsfragen von der Bindung an rechtsstaatlich-demokratische Normen zu lösen und einer ungebunden Topik zu öffnen. Letztlich geht es beim Streit um die Abwägung um eine Frage der Gewaltenteilung: Wann und wie weit ist es zulässig, die Gerichte zu ermächtigen, selbst Normen zu setzen? Wenn es gelingt, Abwägung methodisch sauber zu strukturieren, wird sie zu einer normalen Form von Normkonkretisierung. Die Konstruktion eines „Sonderfalls“ Abwägung erweist sich als illegal. Das wäre an sich Aussage genug. Der Autor begnügt sich allerdings nicht mit der theoretischen Grundlegung seines Ansatzes. Er zeigt auch auf, welche dogmatischen Konsequenzen dieser für den Grundsatz der Verhältnis-

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mäßigkeit und für weitere Anwendungsfälle hat. Die Prüfung des öffentlichen Interesses wird zu einer qualifizierten Überprüfung der Teleologie der gesetzlichen Grundlage, in deren Rahmen auch die Frage der Geeignetheit zu beantworten ist. Ob eine Maßnahme geeignet ist, den qualifizierten Zweck der gesetzlichen Norm zu erfüllen, ist im Rahmen der Normbereichsanalyse einer Konkretisierung erster Stufe (der Zurechnung der Maßnahme zum qualifizierten Zweck der positiven Anordnung) zu prüfen. Die Fragen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn hingegen fallen in die Konkretisierung zweiter Stufe und erfordern eine vergleichende Wertzumessung. Sie verschmelzen aber nicht. Die Erforderlichkeit ist eine Frage des intra-parteilichen Vergleichs. Die Frage, ob eine weniger eingreifende Maßnahme den Zweck der Norm noch erfüllen kann (also der Überschuss-Test), ist je innerhalb der Gruppe der von der Maßnahme Belasteten bzw. Begünstigten zu prüfen. Bei den einen geht es um den Vergleich der Eingriffsintensität, bei den andern um den gleichen Grad der Zweckerfüllung. Erst die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn bringt demgegenüber den interparteilichen Vergleich. Hier gilt es, etwa im Grundrechtsfall, die Beeinträchtigung der von der Maßnahme betroffenen Person mit der Beeinträchtigung anderer Personen zu vergleichen, die durch die Grundrechtsausübung gefährdet oder gestört werden (z. B. geht es bei der Video-Überwachung um den Konflikt zwischen dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung der Passanten und dem Interesse Dritter an Schutzmaßnahmen vor Gewaltverbrechen im öffentlichen Raum). Beide Beeinträchtigungen sind nach Maßgabe der für sie erarbeiteten Wertprogramme zu gewichten und mit der gegenüberstehenden Beeinträchtigung zu vergleichen, wobei die Wertbereichsanalysen, insbesondere die Tiefe und Wahrscheinlichkeit der beiden Beeinträchtigungen, die Entscheidung maßgeblich prägen werden. Schließlich weist der Autor auf die Entwicklungsfähigkeit seines Konzepts hin: Über den Bereich der Eingriffsverwaltung hinaus, zu dem die von ihm ausgewählten Beispiele aus dem Grundrechtsbereich und der Verhältnismäßigkeitsfrage gehören, sollte sich die neue Methodik auch im Bereich der Leistungsverwaltung bewähren können. Dort handelt es sich bei der Abwägung freilich nicht um Kollisionskonflikte, sondern um Distributionskonflikte, also um die Verteilung gleicher Chancen der Teilhabe an öffentlichen Leistungen. Auch hier fordert die Gleichberechtigung, dass eine Relationsnorm konstruiert werde, welche die Normenkollision unter mehreren unterstützungswürdigen Interessen regelt. Auch im Distributionskonflikt ist durch vergleichende Wertzumessung eine Relationsnorm zu entwickeln, welche die Frage der richtigen Verteilung beantwortet. Insgesamt erweist sich im Beitrag von Florian Windisch die Einheit von Methodik und Verfassungsrecht: Methodenlehre ist nicht bloß juristische

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Kunstlehre, sondern konkretisierte Verfassung des demokratischen Rechtsstaats. Der Pluralismus der Grundsätze, der jede freiheitliche Rechtsordnung prägt, muss sich in der konkreten Einzelentscheidung spiegeln können. Dies erfordert die Erarbeitung einer Relationsnorm, welche die Grundsätze in gerechter Weise auf den Fall hin konkretisiert. Die herkömmliche Abwägungsdogmatik hingegen nimmt eine Komplexitätsreduktion vor, welche die normativ angelegte Spannung unter gleichwertigen Normen auf eine lineare Ableitung aus einer künstlichen Vorrangregel verkürzt. Sie verletzt damit die Verfassung. Nicht die Normen sind zu gewichten, sondern die Interessen. Abwägung ist eine Gerechtigkeitsfrage. III. Friedemann Vogel und Ralph Christensen begründen ihre Kritik an der Prinzipienlehre von Robert Alexy mit einer linguistischen Argumentation. Die Unterscheidung von „Regel“ und „Prinzip“ in der herkömmlichen Abwägungslehre setzt voraus, dass es Regeln gebe, welche jeder Semantik vorgegeben seien. Nur dann kann es Normen geben, welche nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können – im Gegensatz zu Prinzipien, welche abstufbar und abwägbar sind. Dieser Regelbegriff setzt ein Sprachverständnis voraus, nach welchem Sprache eine Summe von vorgegebenen Regeln bildet, die beim Sprechen nur angewendet werden müssen. Rechtsregeln sind nach diesem Verständnis klar definierte Ordnungen, während Prinzipien nur Optimierungsgebote darstellen, denen der Mangel der Vagheit anhaftet. Tatsächlich, so die beiden Autoren, muss man sich von der Vorstellung vorgegebener Regeln, welche die Sprache steuern, verabschieden. Um Regeln zu verstehen, muss man schon sprechen können. Sie sind also nachträglich. Sie werden durch Kommunikation erst hergestellt. Und dabei sind Mehrdeutigkeit und Vagheit Formen der Beschreibung von Konfliktkonstellationen im semantischen Streit. Damit gibt es keinen Dualismus von Regel und Prinzip. Vagheit ist kein „Defekt“ der Sprache, sondern ein Element des konstruktiven Prozesses, in dem Bedeutung erst hergestellt wird – ein zentraler Faktor aller menschlichen Kommunikation. Sie gehört damit auch zur Konstruktion von Rechtsnormen – welche die beiden Autoren ebenso wie der erste Autor dieses Bandes im Sinne der Strukturierenden Rechtslehre verstehen. Mit dem Zusammenbruch des Dualismus von Regel und Prinzip entfällt auch die Unterscheidung von Subsumtion und „Abwägung“ im Sinne der Prinzipienlehre Alexys. Das Thema wird ersetzt durch die Frage des Umgangs mit sprachlicher Vagheit. Statt diese durch „Abwägung“ von Prinzi-

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pien zu reduzieren, bietet sich für die beiden Autoren eine empirische Methode zur Aufdeckung und argumentativen Verwendung von sprachlichen Vagheits-Indikatoren an: die juristische Korpuspragmatik – die computergestützte diskurslinguistische Analyse von sprachlichen Mustern. Mit den Mitteln der Korpuslinguistik kann man die Bedeutung eines Wortes untersuchen, indem man die Wörter betrachtet, die in der Umgebung dieses Wortes auftauchen. Ebenso betrachtet man die Umgebung der Wörter, die in der Umgebung aufgetaucht sind. So ergeben sich allmählich Strukturen. Der Sinn eines Wortes ergibt sich so aus dem es umgebenden Kontext. Natürlich kann man die Umgebung nie abschließend beschreiben. Der totale Kontext ist nicht verfügbar. Aber man kann die Umgebung eines Wortes relativ zu einem bestimmten Korpus beschreiben, etwa das Wort „Menschenwürde“ im Korpus der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen. Dann kann man damit die Umgebung des Wortes „Menschenwürde“ in einem Medienkorpus vergleichen. Wir finden dabei niemals die Bedeutung heraus, aber doch sehr viele Bedeutungen, die man jetzt auf guter Grundlage diskutieren kann. Rein empirisch kann man die Bedeutung eines Textes gewiss nicht sinnvoll beschreiben. Die Datenmasse einer linguistischen Korpusanalyse kann ohne gute Vorbereitung jede Frage erschlagen. Es bedarf also für sinnvolle Analysen einer strukturierenden Vorbereitung. Die in den Kontexten gefundenen Belege für eine bestimmte Lesart müssen argumentativ bewertet werden. Die normative Dimension der Sprache wird damit nicht geleugnet. Das Neue an der Korpuslinguistik ist, dass man mit dem Computer in der Sprachwissenschaft empirisch arbeiten kann. Die Kookkurrenzanalyse sucht nach Ausdrücken, die in einem bestimmten Kontextintervall statistisch signifikant häufig zusammen mit dem Ausdruck auftreten, dessen Bedeutung verstanden werden soll. Sie geht davon aus, dass die Bedeutung eines Wortes durch die Wendungen bestimmt wird, die in seiner Umgebung erscheinen. Dies kann man heute, bezogen auf Textkorpora, mit dem Computer auswerten. Aber natürlich gibt es auch hier Grenzen. Denn es wird schnell ein Komplexitätsniveau erreicht, das zwar dem holistischen Charakter der Sprache besser gerecht wird, aber praktisch nicht mehr abgearbeitet werden kann. Wenn man in einer Liste von Kollokationen die neu hinzukommenden Wörter mit ihren Kollokationen auswerten würde, würde sich dadurch die Zahl der Wörter des jeweiligen Wortfeldes expotentiell erhöhen, aber es würde auch die Häufigkeit des gemeinsamen Auftretens von Wörtern signifikanter werden. Die Unterstützung durch zunehmend intelligenter werdende Suchmechanismen und wörterbuchgestützte Informationsretrieval wird der Linguistik nützen. Aber die maschinelle Auswertung von Quellenkorpora kann niemals die Quellenexegese durch Fachwissenschaftler

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ersetzen. Im Zentrum dieser Arbeit wird immer die textsemantische und hermeneutische Kompetenz eines Individuums stehen. Der Informationszuwachs, den die neuen Medien liefern, wäre ohne diese Kompetenz eine bloße Addition und würde nicht zu einem Erkenntniszuwachs führen. Das Wissen bedarf einer qualitativen Vernetzung, die in sich geordnet und strukturiert ist. Technische Informationszugänge liefern keine Semantik oder interpretiertes Wissen, nur tote Mengen von Zeichen. Es gibt also tatsächlich ein Risiko der neuen Medien, nämlich dass mit Hilfe von Textmassen ausladend wenig gesagt wird und dabei die entscheidende Leistung der Verarbeitung von Informationen vergessen wird. Aber dieses Risiko bestand schon bei allen Medienrevolutionen und bisher ist es immer nach einiger Zeit gelungen, die Chancen des neuen Mediums zu nutzen. Man kann auf der Grundlage von Korpora und genauerer Analysen die Vielfalt und Vernetztheit der jeweiligen Sprache besser sichtbar machen. Früher war man bei der Analyse der Sprache auf Introspektion angewiesen und es gab als Grundlage für die Sprachbeschreibung nur wenige Gebrauchsbeispiele. Heute wird über den Computer eine große Zahl von Gebrauchsbeispielen erfasst. Damit sieht man viel deutlicher, was tatsächlich in der Sprache geschieht. Auch in der Sprache des Rechts. Tatsächlich beschreiben Juristen Begriffe, indem sie die Worte betrachten, die in ihrer Umgebung auftreten. Beim Begriff „Versammlung“ sind dies etwa Personenmehrheit, kommunikativer Zweck usw. Diese Beschreibungen werden aufgenommen und eventuell fallbezogen weiterentwickelt. Allerdings sind Juristen bei diesen Beschreibungen häufig zu stark von Einzelfällen beeindruckt und vergessen den Zusammenhang. Das ist die Gefahr des Impressionismus. Die Korpuslinguistik kann durch methodisch geleitete Suchanfragen diesen Impressionismus korrigieren. Damit wird der tatsächliche Zusammenhang juristischer Debatten ohne voreilige Parteinahme sichtbar. Die eigentliche Stellungnahme, ob diese Weiterentwicklung wünschenswert ist oder nicht, wird damit nicht vorabentschieden. Aber niemand kann dann noch behaupten, er sei die herrschende Meinung, oder den Gerichten eine Meinung unterstellen, die sie gar nicht vertreten. Die leicht zugänglichen Instrumente der Korpusanalyse verschaffen der juristischen Diskussion also eine sicherere Grundlage. Der normative Geltungsanspruch von Wertungen aus Gerechtigkeit, Rechtsidee usw. wird ergänzt durch die empirische Messung seiner faktischen Geltung in der juristischen Diskussion. Auch die Korpuslinguistik kann natürlich die Begriffe des Rechts nicht definieren. Aber sie führt zu einer besseren Grundlage für vorläufige Umschreibungen der gesetzlichen Begriffe, die dann am Fall zu diskutieren sind. Die Methoden der Korpuslinguistik explizieren dabei nur in systematischer Weise, was Juristen schon immer getan haben. Aber sie verschaffen der Einschätzung juristischen Handelns eine empirische Grundlage in der

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Sprache. Korpuslinguistik mag in einigen Jahren, wie heute schon in den USA, Teil der Entscheidungsarbeit von Gerichten in Europa sein. Diese Entwicklung führt nicht dazu, dass wir den Gesetzespositivismus durch einen Richterpositivismus ersetzen. Das Recht ist weder im Gesetz, noch in der Wissenschaft oder bei den Gerichten vorgegeben. Es muss immer diskutiert werden. Aber diese Diskussion hat Anschlusszwänge in dem, was wir bisher schon für Recht gehalten haben. Diese Anschlusszwänge macht die Korpuslinguistik sichtbar. Heidelberg und Luzern, im Januar 2014 Friedrich Müller (I.) und Philippe Mastronardi (II. und III.)

Inhaltsverzeichnis „Abwägung“ als Relationsnorm-Konstruktion Konstruktive Überlegungen zur Abwägung im Kontext der Strukturierenden Rechtslehre Florian Windisch

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I.

Rechtsanwendung als Rechtsnormkonstruktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Das Problem der „Abwägung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erste Annäherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Oberflächliche Problemanalysen und unterkomplexe Lösungen. . . . . . . . a) Pauschale Dezision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Formale Replikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vertiefende Problemanalyse in strukturierender Perspektive . . . . . . . . . . . a) Positive und relative Normprogrammelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konkretisierung erster und zweiter Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 23 27 27 30 38 40 45

III. „Abwägung“ als Relationsnorm-Konstruktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vom Interessenkonflikt zum Rechtskonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Relationierung der Rechtspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wertprogrammgesteuerte Wertzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erstellung von Wertprogramm und Wertbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bestimmung der Normwerte in doppelter Bewertung. . . . . . . . . . . . . . 4. Die Abwägung als Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47 48 52 54 54 61 64 65

IV. Dogmatische Konsequenzen am Beispiel des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.

Die Strukturierende Rechtslehre und die Abwägung: Zur Anschlussfähigkeit des Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Abwägung in der Strukturierenden Rechtslehre bisher . . . . . . . . . . . . 2. Stellung zur vorgeschlagenen Weiterentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Jenseits des Kollisions-Konflikts: Zur Entwicklungsfähigkeit des Konzepts

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VII. Juristische Methodik im demokratischen Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Die Sprache des Gesetzes ist nicht Eigentum der Juristen Von der Prinzipienspekulation zur empirischen Analyse der Abwägung Friedemann Vogel und Ralph Christensen

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I.

Was heißt Abwägung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konduktives Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abwägung von Prinzipien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abwägung als lokale Ausarbeitung der Semantik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Theorie der Abwägung: Von der Gesetzessemantik zu den Rechtsprinzipien 1. Der platonistische Regelbegriff der Juristensemantik. . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die gesetzespositivistische Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Rückzug von der Semantik zu den Rechtsprinzipien. . . . . . . . . . . c) Mit Vagheit von der Sprache zum Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Prinzipienbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Regelaversität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Beziehung zur Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Flucht in die Ideale scheitert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die produktive Rolle der Vagheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vagheit als zentrale Eigenschaft sprachlicher Äußerungen . . . . . . . . . b) Vagheit als Topos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vagheit als kommunikativer Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92 93 93 94 96 98 99 101 102 104 104 111 113

III. Empirie juristischer Korpuspragmatik: Die Praxis der Gerichte aus rechtslinguistischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Juristische Korpuspragmatik am Beispiel der MENSCHENWÜRDE . . . a) Recht als Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) (Musterhafte) Rechtssprache als Sedimente juristischer Dogmatik. . . c) Dogmatische Spuren zur „Menschenwürde“ in der Rechtssprache. . . 2. Der Frage „Abwägung“ vor Gericht korpuslinguistisch gefolgt . . . . . . . . a) Philosophische Prinzipienlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konduktives Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) „Abwägung“ als Kern- und Randbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „Abwägung“ als Prüfung ‚der‘ Verhältnismäßigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Zur Theorie der Praxis gerichtlicher Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wie wägen Gerichte ab? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wie vollzieht sich die lokale Ausarbeitung der Semantik? . . . . . . . . . . . . 3. Die Verkettung von Präjudizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

124 124 125 126

V.

Fazit, oder: Was bleibt, ist semantische Elaboration im Einzelfall. . . . . . . . . 129

„Abwägung“ als Relationsnorm-Konstruktion Konstruktive Überlegungen zur Abwägung im Kontext der Strukturierenden Rechtslehre Florian Windisch Die Abwägung dominiert das methodische Selbstverständnis von Juristinnen und Juristen wohl ebenso wie, etwa im öffentlichen Recht, die Verhältnismäßigkeit, das Willkürverbot oder die Baubewilligung das dogmatische. Weiß man nicht mehr weiter, so meint man in aller Regel, an den Punkt gelangt zu sein, wo abzuwägen sei. Dabei greift die methodische Dominanz auf die Dogmatik über. Jeder interessantere Fall einer Baubewilligung oder des Willkürverbots, so scheint es, läuft am Ende auf eine Abwägung hinaus. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt gar als das Paradebeispiel der Abwägung. Diese Omnipräsenz sogar in den dogmatischen All-Stars kontrastiert allerdings mit dem theoretischen Know-how, mit welchem die Abwägung praktisch werden soll. Wer abwägt, tut oft nicht mehr, als ein theoretisches Loch mit etwas Füllmaterial zu stopfen, von dem man eigentlich nicht genau weiß, woraus es besteht. Mit Theorie hat das nicht mehr viel zu tun. Erst recht nicht mit einer, die der Praxis dienen soll. Mit den nachfolgenden Überlegungen wird daher der Versuch unternommen, die Abwägung (oder was dafür gehalten wird) vor dem Zielhorizont einer nachvollziehbaren rechtsgebundenen Methodik zu strukturieren. Diese Aufgabe strebt nach mehr als einer theoretischen Therapie. Es geht um nichts weniger als den Anforderungen von Demokratie und Rechtsstaat, an denen sich die abwägenden Juristinnen und Juristen doch orientieren sollten, Genüge zu tun. Um hierfür von Beginn an auf die richtige Spur zu kommen, beginnt der Weg bei der allgemein gestellten Frage nach den Grundvoraussetzungen einer aussichtsreichen juristischen Methodik. Von dort aus kann das Problem der Abwägung dann schrittweise angegangen, strukturiert und weitergedacht werden. Im Ergebnis resultiert ein Vorschlag, die „Abwägung“ auf der Grundlage der normentheoretischen Voraussetzungen der Strukturierenden Rechtslehre als Relationsnorm-Konstruktion zu begreifen.

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Florian Windisch

I. Rechtsanwendung als Rechtsnormkonstruktion Das Verständnis von Rechtsanwendung, welches jedenfalls ihre Praxis nach wie vor dominiert, ist eben dasjenige einer Rechts„anwendung“: Man unterstellt, dass das Recht im Normalfall schon da sei und nur noch aufgedeckt und zum Einsatz gebracht werden müsse. Sicherlich sieht man, dass diese Detektivarbeit nicht immer einfach ist, die Sprache der anzuwendenden Rechtsnormen sei oft mehrdeutig und vage. Aber dafür gebe es doch die bekannten juristischen Auslegungshilfen, mit welchen die passende Bedeutung der Rechtsnorm schon freigelegt werde. Für schwierige Fälle, für Fälle, in denen das Recht keine Lösung bereithalte, weil echte Gesetzeslücken bestünden, enthalte das Methoden-Set neben den klassischen Kanones der Auslegung auch noch rechtspolitische, ethische und Praktikabilitätsstandards. Gerade hier sei die Abwägung auch stets mit im Spiel. Eine erfolgsversprechende Strategie ist freilich immer auch, das Auslegungsergebnis an der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu orientieren. Und das System ist geschlossen. Mit dieser Grundauffassung von Rechtsanwendung macht man es sich allerdings etwas leicht. Indem man den Normalfall der Rechtsanwendung bloß als Aktualisierung eines bereits Vorgegebenen definiert, identifiziert man das juristische Kerngeschäft mit einer Bahnwärter-Tätigkeit: Man stellt ein paar Weichen und gibt das Signal für die Durchfahrt. Dieses Bild setzt jedoch einen funktionierenden Fahrplan voraus, den es im Recht nicht gibt. Tatsächlich kann sich die Sprache des Rechts nicht einmal auf ein bestehendes Schienennetz verlassen. Entsprechend fragwürdig sind demnach auch die Strategien für den Umgang mit Abweichungen von dieser Grundvorstellung. Das Hauptproblem daran ist, dass der durchwegs produktive Charakter der Rechtsarbeit verkannt wird, der Juristinnen und Juristen von Bahnwärtern zu Gleisarbeitern macht. Um dies sehen zu können, bedarf es jedoch einer tiefer gehenden, kritisch-analytischen Reflexion juristischer Praxis, welche sich nicht die möglichst bequeme Passfähigkeit mit der herrschenden Praxis zum Ziel setzt, sondern welche die Praxis ungeachtet ihrer Tendenzen gerade deswegen möglichst realistisch untersucht, um ihr Orientierungshilfe geben und sie wo nötig kritisieren zu können. Für diese Art theoretischer Praxis-Reflexion setzt sich die von Friedrich Müller begründete Strukturierende Rechtslehre1 ein. Es ist ihr Verdienst, die 1 Namensgebend Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 21994, 1. Aufl. 1984; aufbauend auf ders., Normstruktur und Normativität, Berlin 1966. Vgl. heute v. a. Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 102009. Eingehender zum ganzen Theoriezusammenhang m. w. H. Florian Windisch, Jurisprudenz und Ethik, Berlin 2010, S. 32–88, insb. S. 33–75.

„Abwägung“ als Relationsnorm-Konstruktion

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juristisch operable Begründung dafür geliefert zu haben, weshalb Rechtsanwendung nicht ein quasi-automatischer Vorgang ist, sondern zu verantwortendes tätiges Handeln. Sie hat außerdem den Zusammenhang zwischen geltendem Recht und Wirklichkeit auf nachvollziehbare Weise einsichtig gemacht und das konkretisierende „Hin- und Herwandern zwischen Sachverhalt und Norm“2 präzisierend analysiert und es einer praktikablen juristischen Methodik zugeführt, welche den Anforderungen von Demokratie und Rechtsstaat gerecht wird3. Nach dem Verständnis der Strukturierenden Rechtslehre bedeutet das Auf-den-Begriff-Bringen juristischer Praxis nicht die affirmative Wiedergabe selbstgefälligen Tuns und herrschender Meinungen, sondern die kritische, auch selbstkritische Aufschlüsselung des juristischen Urteilens.4 Die Strukturierende Rechtslehre will den juristischen Rechtserzeugungsprozess auf realistische, aber verallgemeinerungsfähige Weise5 kontrollierbar und arbeitsfähig6 machen. In diesem, anspruchsvollen Sinn des Wortes geht es ihr darum, die juristische Argumentation zu strukturieren7. Das Konzept strukturierter Argumentation, das hier anklingt, impliziert zweierlei: Zum einen geht es davon aus, dass der Fall nicht vorentschieden ist (lex ante casum), sondern die Entscheidung im konkreten Fall erst kreiert wird (lex in casu). Rechtsanwendung ist also genau genommen nicht Anwendung, sondern produktive Rechtserzeugung. Rechtsanwendung ist Normkonstruktion.8 Rechtslinguistisch gewendet: Die Semantik des Rechts 2 Bei Karl Engisch genau: „Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt“: Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, Heidelberg 31963, S. 15. Dazu Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 2 1994, S. 335 f., m. w. H. 3 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 102009, S. 550 f., Rz. 538. Zur theoriemethodischen Rückbindung der juristischen Methodik an normative Verfassungsvorgaben und deren Verteidigung Florian Windisch, Jurisprudenz und Ethik, Berlin 2010, S. 68–71, m. w. H. 4 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 102009, S. 549–551, Rz. 536–538. Zur Abgrenzung der Strukturierenden Rechtslehre allerdings zum kritischen Rationalismus als wissenschaftstheoretischer Gesamtrahmen ebd., S. 566–573, Rz. 566–578. 5 Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 21994, S. 386 u. ö. 6 Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 21994, S. 313 u. ö. 7 Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 21994, S. 313/431 f.; Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 102009, S. 556–561, Rz. 548–555, ebd., S. 556, Rz. 548, auch die Auszeichnung als „technischen Term“. Zum Struktur-Begriff der Strukturierenden Rechtslehre allgemein Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 21994, S. 250. Der hier gemeinte Begriff von Strukturierung steht somit in einer Linie mit dem in dieser Studie verwendeten Begriff der Verfassung; dazu sogleich Kapitel II. 1., insb. Fn. 19. 8 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I (102009), S. 259–284, insb. S. 275–284.

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muss jedes Mal lokal ausgearbeitet werden.9 Diese erkenntnistheoretische Prämisse verbindet sich zum andern mit den normativen Vorgaben von Demokratie und Rechtsstaat. Die Notwendigkeit einer auch normativen Perspektive ergibt sich schon aus der erkenntnistheoretischen Prämisse. In dem Maße, in welchem die Semantik der Entscheidung noch auszuarbeiten ist, ist sie auch zu verantworten.10 Stellt man die Analyse der „Rechtsanwendung“ unter diese Grundsätze, so lässt sie sich als methodisch geleitete Textarbeit begreifen. Die wichtigsten Zusammenhänge lassen sich in einem Strukturmodell der Normkonstruktion darstellen:11 Ausgehend vom Sachverhalt greifen durch Ausbildung und Übung geschulte Juristinnen und Juristen aus der Textmenge des geltenden Rechts Normtexte heraus, die als einschlägig infrage kommen. Da diese Texte als solche noch nichts sagen und noch nicht klar ist, was genau sie im konkreten Fall fordern, bedarf es der Interpretation anhand der bekannten juristischen Auslegungselemente. Auf diese Weise wird das Normprogramm erstellt, sozusagen der sich mit den Argumenten des Auslegungsprozesses verbindende „Rechtsbefehl“. Weil mit dem Normprogramm allein aber noch nicht viel anzufangen ist, muss auch der Sachverhalt, die Seite der „Wirklichkeit“, verarbeitet werden. Schon durch das Herausgreifen der infrage kommenden Normtexthypothesen kann vom Sachverhalt ausgehend ein ganzer Bereich möglicherweise relevanter Wirkungszusammenhänge definiert werden, der Sachbereich oder evtl. auch Fallbereich. Entscheidend ist dann, welchen Teilbereich das zuvor erarbeitete Normprogramm aus dem Sachbereich als relevant bestimmt. Erst dieser vom Normprogramm her bestimmte und mit ihm vereinbare Wirklichkeitsbereich bildet den Normbereich, der im Wege einer Normbereichsanalyse zu untersuchen ist. Normprogramm und Normbereich zusammen können dann als die im konkreten Fall herausgearbeiteten (und nicht schon zuvor vorhandenen) Bestandteile der Rechtsnorm bezeichnet werden („In einem Fall wie diesem gilt . . .“), von der es zum konkreten 9 Friedemann Vogel/Ralph Christensen, Die Sprache des Gesetzes ist nicht Eigentum der Juristen, in diesem Band. 10 Vgl. den ähnlichen Gedanken unter dem Titel „Meta-Demokratie“ in der anglo-amerikanischen Debatte: Jane Schacter, Metademocracy, in: Harvard Law Review 108 (1995), Nr. 3, S. 593–663. 11 Zum Folgenden mit sämtlichen Nachweisen und m. w. H. ausführlich Florian Windisch, Jurisprudenz und Ethik, Berlin 2010, S. 63–68. Vgl. mit grafischer Darstellung Philippe Mastronardi/Florian Windisch, Vernünftig wissenschaftlich entscheiden. Zur Verfassung des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses, Berlin 2013, insb. S. 77–80, Abbildung auf S. 79; dies., Der juristische Diskurs als Modell des interrationalen Diskurses, in: F. Lorandi/D. Staehelin (Hrsg.), Innovatives Recht, S. 3–23, 13–15, Abbildung auf S. 15.

„Abwägung“ als Relationsnorm-Konstruktion

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Rechtsurteil (auch Entscheidungsnorm, Urteilstenor: „In diesem Fall gilt . . .“) nur noch ein letzter logischer Schritt ist. In diesem Modell finden alle methodischen Probleme der Rechtsanwendung legitimationsfähig Platz, ohne dass mit sprachtheoretischen Aporien operiert werden muss. Die Auslegung, die keineswegs das Ganze der Normkonkretisierung darstellt, fungiert nicht als Förderband zu einer vorsprachlich verfügbaren lex ante casum, sondern als Lieferantin rechtserheblicher Kontexte, mit deren Hilfe Argumente für das geltende Normprogramm entwickelt werden.12 Elemente der Wirklichkeit werden weder außen vor gelassen noch einfach einverleibt, sondern unter dem Regime des Normprogramms für eine problembezogene Normbereichsanalyse zugänglich gemacht. Um diese normtheoretischen Grundlagen kommt auch kein Konzept der Abwägung herum. Ein plausibles Abwägungskonzept muss zeigen können, wie es mit diesen Voraussetzungen korrespondiert, ohne sie wieder einzuebnen. Zu diesem Zweck sei das Problem der „Abwägung“ zunächst schrittweise erörtert. II. Das Problem der „Abwägung“ Dass Juristinnen und Juristen abwägen, ist eine Plattitüde. Sie müssen Interessenkonflikte entscheiden, und diese Entscheidungen laufen an irgendeiner Stelle darauf hinaus, die konfligierenden Interessen der Streitparteien zueinander ins Verhältnis zu setzen und nach Maßgabe des richtigen Verhältnisses zwischen ihnen zu entscheiden. Würde in der Rechtswissenschaft nicht abgewogen, dann wäre Justitia entweder arbeitslos oder eine blinde Amazone. 1. Erste Annäherung

Es gilt allerdings zu unterscheiden. Gerade wurde das Abwägungsproblem so umfassend dargestellt, dass sich die Rechtsanwendung quasi in ihm auflöst: Rechtsanwenden insgesamt ist Abwägen. Noch keineswegs ausgemacht ist damit jedoch, ob und gegebenenfalls wie weit die juristische Tätigkeit darin besteht, die „nackten“ Interessen der Streitparteien auf die Waagschale zu legen und im gegenseitigen Verhältnis „direkt“ zu gewichten. Man könnte hier von Abwägung im engeren Sinne sprechen. Dieser Art juristischer Tätigkeit wird üblicherweise die Subsumtion, das Subsumie12 Ralph Christensen/Hans Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001, S. 361 f.

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ren gegenübergestellt, sei es komplementär oder alternativ.13 Neben den weiteren, auf die Gesamtsituation der Rechtsentscheidung bezogenen Abwägungsbegriff und den engeren, auf die Art der Rechtsanwendung bezogenen tritt zudem noch ein Verständnis von Abwägung, welches sich ganz allgemein auf die Gewichtung von Argumenten richtet.14 Sich klar zu machen, in welchem Sinn man gerade über die Abwägung spricht, ist nicht unwichtig, damit man in der verzweigten Diskussion nicht aneinander vorbei redet. Der Fokus der nachstehenden Überlegungen liegt auf dem, was zuvor mit Abwägung im engeren Sinn angesprochen wurde. Auf das Abgrenzungsattribut „im engeren Sinne“ wird dabei verzichtet. Eine solche Situation der Abwägung liegt paradigmatisch bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in einem klassischen Grundrechtsfall vor, und nicht von ungefähr setzen die meisten Beiträge zur Abwägungsdiskussion bei der Verhältnismäßigkeit an15. Auch um den 13 Allen voran Robert Alexy, On Balancing and Subsumption, in: Ratio Juris 16 (2003), Nr. 4, S. 433–449; als Vorhut aus derselben Schule, die Abwägung etwas näher zur Subsumtion hin rückend, Hege Stück, Subsumtion und Abwägung, in: ARSP 84 (1998), S. 405–419. Dagegen etwa Juan Antonio García Amado, Abwägung versus normative Auslegung?, in: Rechtstheorie 40 (2009), Nr. 1, S. 1–42. 14 In diesem Sinn z. B. Eveline Feteris, The Rational Reconstruction of Weighing and Balancing on the Basis of Teleological-Evaluative Considerations in the Justification of Judicial Decisions, in: Ratio Juris 21 (2008), Nr. 4, S. 481–495. Feteris geht es als Argumentationstheoretikerin um die Abwägung zwischen einer grammatischen und einer damit in Konflikt stehenden teleologischen Lesart eines Normtextes. – Zur „Abwägung“ zwischen konfligierenden Auslegungsvarianten und zum Konzept der doppelten Bewertung: Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 102009, S. 482–497, Rz. 429–457; Ralph Christensen/Hans Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001, S. 375–379, insb. klärend zum Scheinproblem der „Kollisionslücke“ Hans Kudlich/Ralph Christensen, Die Lücken-Lüge, in: JZ 64 (2009), Nr. 19, S. 943–949, 946 f. 15 Um nur die beiden prominentesten zu nennen: Bernhard Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, Berlin 1976, S. 15 f.; und Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 100–104 und durchgehend. Ebenso der kritische Beitrag Walter Leisner, Der Abwägungsstaat, Berlin 1997. In dieselbe Richtung entwickelt sich auch die globale konstitutionelle Debatte: Zur Illustration etwa die internationale Konferenz „Rights, Balancing and Proportionality“, dokumentiert in Law & Ethics of Human Rights 4 (2010), Nr. 1/2; oder die ICON-Debatte zwischen Stavros Tsakyrakis und Madhav Khosla, Proportionality: An assault on human rights?, in: International Journal of Constitutional Law 7 (2009), Nr. 3, S. 468–493 – 8 (2010), Nr. 2, S. 298–306 – 8 (2010), Nr. 2, S. 307–310 – 10 (2012), Nr. 3, S. 687–708 (nachträgliche Anmerkung von Matthias Klatt und Moritz Meister). Insb. zum Verhältnis von anglo-amerikanischem „balancing“ und Verhältnismäßigkeit Moshe Cohen-Eliya/Iddo Porat, American balancing and German proportionality, in: International Journal of Constitutional Law 8 (2010), Nr. 2, S. 263–286. Vgl. zur internationalen Entwicklung auch Johannes Saurer, Die Globalisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, in: Der Staat 51 (2012), Nr. 1, S. 3–33. Vgl. auch

„Abwägung“ als Relationsnorm-Konstruktion

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rechtstheoretischen Gedanken einen passenden rechtsdogmatischen Anschlusskontext zu geben, ist das Folgende darauf konzentriert. Zwar richtet sich das Vorliegende in allgemeiner Absicht auf das Abwägungsproblem. Hier muss jedoch, zumal in der erst ansatzweisen Durchführung des Konzepts, die Schwerpunktsetzung auf die klassische Verhältnismäßigkeitsproblematik genügen.16 Den Gegenstand der Problematik präzisiert zu haben, macht das Problem als solches freilich nicht leichter. Zwischen konfligierenden Interessen richtig abzuwägen, ist nämlich voraussetzungsreich. Es setzt voraus, dass man die Gewichte der Einzelinteressen bereits kennt. Nur wer weiß, wie schwer die Interessen jeweils wiegen, kann sie gegeneinander abwägen. Das ist schwierig, weil man Interessen nicht einfach auf die Waage legen kann wie Gemüse. Hinzu kommt, dass die Interessen bereits über eine Umrechnungstabelle auf ein Einheitsmaß zurückgeführt worden sein müssen. Wer Sellerie gegen Brokkoli abwägen will, muss den Wert von Sellerie im Verhältnis zu Brokkoli kennen. Erst unter dieser Voraussetzung kann man beides auf dieselbe Waage legen und entscheiden, ob das eine oder das andere mehr Wert hat. Die Abwägung hat den Blickwinkel einer Retrospektive. In ihr haben die Dinge bereits ihren angemessenen Platz, den man im Vorhinein nicht sah. Sie hat daher auch etwas von einer Superstory. Im Widerspruch der Einzelgeschichten ist sie das übergeordnete Narrativ, in dem sie zusammengeführt und zu Ende erzählt werden, und es fragt sich, wie eine solche Superstory an die Einzelgeschichten Anschluss findet, zumal ihr das Kunststück gelingen muss, den divergierenden Drehbüchern eine gemeinsame Storyline zu geben. Wirklich problematisch wird ein Gegenstand jedoch erst im Lichte normativer Kriterien. Die Abwägung wird gerne unter dem Titel ihrer Rationalität problematisiert,17 womit meistens die Frage gemeint ist, wie man den Matthias Klatt/Moritz Meister, Verhältnismäßigkeit als universelles Verfassungsprinzip, in: Der Staat 51 (2012), Nr. 2, S. 159–188. 16 Ansätze der Weiterentwicklungsfähigkeit des Konzepts werden später in VI. demonstriert. 17 Z. B. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 143–154; ders., Constitutional Rights, Balancing, and Rationality, in: Ratio Juris 16 (2003), Nr. 2, S. 131–140; ders., On Balancing and Subsumption, in: Ratio Juris 16 (2003), Nr. 4, S. 433–449, 436–448; ders., Die Konstruktion der Grundrechte, in: L. Clérico/J.-R. Sieckmann (Hrsg.), Grundrechte, Prinzipien und Argumentation, BadenBaden 2009, S. 9–19, 12–19, m. w. H.; vgl. auch ders., The Reasonableness of Law, in: G. Bongiovanni et al. (Hrsg.), Reasonableness and Law, Dordrecht et al. 2009, S. 5–15. Ferner Jan-R. Sieckmann, Zur Begründung von Abwägungsurteilen, in: Rechtstheorie 26 (1995), Nr. 1, S. 45–69, insb. 53–69; Nils Jansen, Die normativen Grundlagen rationalen Abwägens im Recht, in: J.-R. Sieckmann (Hrsg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte, Baden-Baden 2007, S. 39–57, m. w. H.

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Vorgang der Abwägung methodisch nachvollziehbar machen kann. Soweit diese Frage nicht positiv beantwortet wird, die Notwendigkeit abzuwägen aber, faute de mieux, trotzdem anerkannt wird, zählt auch die Anschlussfrage dazu, auf welche Weise die verbleibende Rationalitätslücke anders, insbesondere institutionell, überbrückt werden kann. Was dabei aber gerne vernachlässigt wird, ist die nähere Explikation des normativen Hintergrundes, um dessentwillen die „Rationalität“ überhaupt bemüht wird und an dem sie zu messen ist. Denn Rationalität „als solche“ ist sinnlos. In der modernen Verfassungsordnung liegt der Sinn möglichst weit gehender methodischer Strukturierung in den Bindungsforderungen des demokratischen Rechtsstaats. Demokratie und Rechtsstaat sind die gleichursprünglichen Strukturprinzipien, nach welchen sich nicht nur alle institutionellen, sondern auch alle methodischen Strukturierungen des Rechtsprozesses ausrichten müssen. In Bezug auf die Abwägung besteht die Hauptforderung demnach darin, alle relevanten Interessen gleichermaßen am demokratischen Recht zu messen. Für den Nachweis dieser Maß-Nahme bedarf es einer Begründung vom Niveau der Vertretbarkeit18. Insgesamt kann man in diesem Sinn auch sagen, es gehe darum, die Abwägung zu verfassen19. Das Abwägungsproblem soll nachfolgend unter dem Blickwinkel seiner methodischen Verfassung erörtert werden. Es wird dafür argumentiert, dass die Abwägung durchaus zum juristischen Geschäft gehört, und zwar in der Tat in etwa im selben Maß, wie es von der Subsumtion gesagt werden kann. Dabei lassen sich Abwägung und Subsumtion zwar unterscheiden und nicht durcheinander ersetzen, aber auch nicht voneinander trennen. Und genauso wenig, wie die Subsumtion das eigentliche Problem der „Subsumtion“ darstellt, ist die Abwägung das eigentliche Problem der „Abwägung“ (oder was dafür gehalten wird). Vielmehr besteht die Hauptaufgabe bei der „Abwägung“ darin, die konfligierenden Interessen in methodisch disziplinierter Weise der Abwägung zuzuführen, d.h. ihnen in einem Arbeitsprozess der Relationierung relevanter Rechtsnormen rechtsgebundene Werte zuzumessen.

18 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 2009, S. 34, Rz. 2, und durchgehend. Zur Vertretbarkeit Jan C. Schuhr, Zur Vertretbarkeit einer rechtlichen Aussage, in: JZ 63 (2008), Nr. 12, S. 603–611. 19 Im Sinne von Philippe Mastronardi, Verfassungslehre, Bern et al. 2007, etwa S. 137–142, Rz. 417–435; und Florian Windisch, Jurisprudenz und Ethik, Berlin 2010, etwa S. 333–335/427–429. Zu Letzterem, den Gesamtkontext ignorierend, die „Rezension“ von Karl Eckhart Heinz, in: ARSP 97 (2011), Nr. 4, S. 585–587.

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„Abwägung“ als Relationsnorm-Konstruktion

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2. Oberflächliche Problemanalysen und unterkomplexe Lösungen

Ein hinreichend komplexer Lösungsansatz des Abwägungsproblems eröffnet sich jedoch erst, wenn man von den gängigen Pauschaltotalismen und Oberflächenformalismen Abstand nimmt und die Abwägung schon als Problem in angemessener Tiefe zu strukturieren versucht. Auf dem Weg dorthin gilt es daher zunächst zu erörtern, aus welchen Gründen sowohl pauschale als auch formale Problemanalysen und Lösungsansätze zu kurz greifen. a) Pauschale Dezision Unter demokratisch-rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zum Scheitern verurteilt ist die Abwägung vom Zuschnitt des Pauschalurteils. Wer den Interessenkonflikt gewissermaßen auf einen Schlag entscheidet und die Verhältnismäßigkeitsprüfung von einer Totalperspektive aus vornimmt, versagt in der Aufgabe, den Konflikt verhältnismäßig zu lösen. Der Grund für das Versagen des Pauschalurteils ist sicherlich einmal seine „intuitionistische Form“20. Zwar weisen uns die Intuitionen in Situationen rationaler Leere zum Glück hin und wieder auch den richtigen Weg. Im demokratischen Rechtsstaat sollte die Entscheidung aber kein Glücksfall sein, sondern sie sollte die involvierten Interessen an rechtlichen Maßstäben messen. Schiebt sich die Intuition nun vor das Recht, dann fehlt es der Entscheidung schon von vornherein an der nötigen Rechtsgebundenheit. In diese Richtung geht aber die gängige Dogmatik zur Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, welche nach dem „überwiegenden Interesse“ fragt.21 Dass das eine oder andere Interesse überwiegt, besagt nämlich nur, dass man sich für das eine oder andere entschieden hat. Aber aus welchen Gründen? Carl Schmitt würde sich ins Fäustchen lachen.22 20 Alexander Somek, Eine egalitäre Alternative zur Güterabwägung, in: B. Schilcher et al. (Hrsg.), Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, Wien 2000, S. 193–220, 193–195; ders., Abwägungsregeln, in: C. Hiebaum/P. Koller (Hrsg.), Politische Ziele und juristische Argumentation, Stuttgart 2003, S. 113–141, 113–115. Vgl. auch Bernhard Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, Tübingen 2001, S. 445–465, 460–462. 21 Stellvertretend etwa Ulrich Häfelin et al., Allgemeines Verwaltungsrecht, Zürich/St. Gallen 62010, S. 138, Rz. 615. Entsprechende bundesgerichtliche Rhetorik in jüngerer Zeit etwa BGE 136 II 359, S. 369, E. 9; oder BGE 137 I 8, S. 13 f., E. 2.6. Vgl. auch die synonyme Rede vom „Vorgehen“ eines Interesses, etwa BGE 136 I 87, S. 97 f., E. 4.4. – Die in dieser Studie vereinzelten dogmatischen Verweise beziehen sich vorwiegend aufs schweizerische Recht. Zur übergreifenden konstitutionellen Entwicklung der Abwägungs- bzw. Verhältnismäßigkeitsproblematik bereits die Anmerkung in Fn. 15.

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Die Tatsache, dass die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nach heutiger Auffassung nur einen Teil der Verhältnismäßigkeitsprüfung ausmacht, verbessert die Lage nicht wesentlich. Zwar trifft das Geeignetheitskriterium einen wichtigen Teil der empirischen Dimension des Abwägungsproblems, und das Erforderlichkeitskriterium vertieft es immerhin um die Frage alternativer Zielerreichung (auf einer Seite); in der pauschalen Suche nach dem überwiegenden Interesse bleiben solche Aspekte diffus. Mit der Einräumung der Blackbox der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zur Vervollständigung der Verhältnismäßigkeitsprüfung bleibt diese jedoch insgesamt vom Pauschalismus infiziert. – Auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn einfach zu verzichten, ist allerdings keine Alternative. Das wäre nur die Kultivierung eines blinden Flecks, und gegenüber der gängigen Lehre wäre an Rationalität nichts gewonnen. Die schwache methodische Disziplinierung der Abwägung durch institutionelle Vorkehren flankieren zu wollen, ist danach einleuchtend. Von der methodischen auf die institutionelle Ebene zu wechseln, löst das Problem jedoch nicht. Die institutionellen Vorschläge gehen meist da hin, die zu große Entscheidungsfreiheit rechtsanwendender Behörden, insbesondere von Verfassungsgerichten, durch die Einschränkung von Entscheidungsbefugnissen und Entscheidungsspielräumen zu begrenzen. In aller Regel soll das Abwägungsproblem von der Judikative und der Exekutive auf die Legislative verschoben werden.23 Nur, nach welchen Maßstäben – das Abwägungsproblem bleibt ja prinzipiell dasselbe24 – soll die Legislative entscheiden? 22

Schmitt glaubte ja schon lange zu wissen, dass die Dezision die Grundlage der Normativität sei: „Von dem Inhalt der zugrundeliegenden Norm aus betrachtet ist jenes konstitutive, spezifische Entscheidungsmoment etwas Neues und Fremdes. Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren. Die rechtliche Kraft der Dezision ist etwas anderes als das Resultat der Begründung. Es wird nicht mit Hilfe einer Norm zugerechnet, sondern umgekehrt; erst von einem Zurechnungspunkt aus bestimmt sich, was eine Norm und was normative Richtigkeit ist.“ Carl Schmitt, Politische Theologie, München/Leipzig 21934, S. 42 f. 23 In diese Richtung gehen etwa die Überlegungen in Bernhard Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, Tübingen 2001, S. 4660–462. Vgl. zur vorliegend gemachten Feststellung Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 199: „Damit verschiebt sich Güterahwägung von einem Problem rechtsstaatlicher Methodik weitgehend auf die Kompetenz- und Verfahrensseite; auf die Frage, welche staatlichen Instanzen den so weit eröffneten Spielraum von Beurteilung und Kontrolle für sich in Anspruch nehmen dürfen. Von der demokratischen Legitimation her verlagert sich das Schwergewicht der Verantwortung für Güterahwägungen auf den Gesetzgeber. Dementsprechend hat die wissenschaftliche Debatte zur Abwägung auch zumeist optiert.“ 24 Vgl. Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 214 f.: „[Die] Berufung auf die Legislative erleichtert die Aufgabe der Entzerrung nicht entscheidend. Das Verschieben der Mühe, normative Konflikte zu lösen, auf den de-

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An dieser Stelle offenbart sich dann häufig ein unzureichendes Verständnis verfassungsstaatlicher Demokratie, nach welchem legislative Macht gar nicht oder in geringerem Maße rechtfertigungsbedürftig sei als judikative oder exekutive. Angestoßen von einem unbefriedigenden Ergebnis auf der Ebene juristischer Methodik wird die verfassungstheoretische Idee der Volkssouveränität so monopolar verarmt. Als wäre Demokratie ohne Rechtsstaat immer noch Demokratie25. Die Vereinseitigung der Volkssouveränität richtet sie aber gegen diese selbst, weil sie dem demokratischen Pluralismus die Luft zum Atmen nimmt. In der Demokratie geht es nicht darum zu bestimmen, welches Prinzip den Pluralismus entscheidet, sondern darum, wie die Entscheidung angesichts der Pluralität von Prinzipien zu bestimmen ist. Monistische Entscheidungen fallen damit außer Betracht. Die Ergänzung der methodischen Ebene durch die institutionelle Ebene ist durchaus angebracht. Von der institutionellen Ebene aus wird man das methodische Problem der Abwägung aber nicht lösen können. Die kurze verfassungstheoretische Vertiefung hat allerdings auch aufgezeigt, wo das eigentliche Problem der Abwägung liegt. Natürlich disqualifiziert sich die intuitionistische Pauschalabwägung schon durch ihre rechtliche Ungebundenheit. Dahinter stehen aber nicht nur der Schutz von berechtigtem Vertrauen und die Wahrung von Rechtssicherheit. Hinzu tritt die Idee eines demokratischen Pluralismus, der sich in methodischer Hinsicht als ein Pluralismus von Prinzipien wiederspiegelt.26 Die anspruchsvollste Aufgabe des demokratischen Rechts ist damit, an gleichrangigen Prinzipien zu messende Interessenkonflikte zu entscheiden. Rechtlicher Maßstäblichkeit entledigt, neigt man in der Pauschalabwägung dagegen besonders dazu, die prinzimokratisch berufenen Gesetzgeber bringt jedenfalls für den Verfassungsrechtler nur einen Aufschub. [. . .] Die Rechtsfrage wird durch das Einschalten des Gesetzgebers inhaltlich aber nicht geändert. Das Problem ist dann eben, wie sich die Legislative an der Verfassung zu orientieren hat.“ (Verweis auf BVerfGE 41, S. 29 ff., 50). 25 Zu Demokratie, Rechtsstaat und deren gegenseitigem Verhältnis Philippe Mastronardi, Verfassungslehre, Bern et al. 2007, S. 252–292, Rz. 774–886; Jörg Paul Müller, Diskurstheoretische Begründung des Rechtsstaates?, in: R. J. Schweizer/ F. Windisch (Hrsg.), Integratives Rechtsdenken, Zürich/St. Gallen, S. 65–76, 66–74, m. w. H.; Florian Windisch, Jurisprudenz und Ethik, Berlin 2010, S. 350–383, insb. 357–381. 26 Damit verbunden ist durchaus auch ein egalitärer Grundgedanke, von dem aus Alexander Somek die heutige Abwägungsdoktrin zu Recht kritisiert: Alexander Somek, Eine egalitäre Alternative zur Güterabwägung, in: B. Schilcher et al. (Hrsg.), Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, Wien 2000, S. 193–220, insb. 214–216, Somek möchte im Gegensatz zur herrschenden Lehre „auf die elementare Ebene gegenseitiger Anerkennung“, eine „egalitäre Tiefenstruktur“ rekurrieren (ebd., S. 215). Dies wird mit dem nachfolgend entwickelten Konzept ebenfalls angestrebt. Inwiefern dieses Ziel im Einzelnen erreicht wird, ist an anderer Stelle noch auszuführen.

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pielle Vielfalt der Demokratie zu reduzieren und von einem einzigen Prinzip her zu totalisieren.27 Genau dann aber verfehlt man das Ziel der Abwägung.28 Das demokratische Recht ist kein hierarchisches System vorgegebener Entscheidungen, sondern ein offenes Geflecht pluralistischer Grundsätze, in welchem die Interessenkonflikte unter Berücksichtigung aller rechtsrelevanten Umstände jedes Mal aufs Neue differenziert zu entscheiden sind. An diesem „Nullpunkt juristischer Dogmatik“29 kommt man nicht vorbei. Die Aufgabe juristischer Methodik wäre nun, von dort aus auch das Abwägungsproblem demokratisch zu strukturieren. Totalisiert man ihn aber, dann annulliert er die Chancen methodisch fortgeführter Demokratie. b) Formale Replikation Angesichts der offensichtlichen Unhaltbarkeit der Pauschalabwägung ist die Suche nach besseren Konzepten beliebt.30 Der einflussreichste Vor27 Das lässt sich nirgendwo besser illustrieren als am Dezisionismus Schmitts, der am Ende in einen naiven Totalitarismus mündet. Wie, statt rechtsgebunden, zu entscheiden sei, erläutert Schmitt uns so: „Eine richterliche Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte. ‚Ein anderer Richter‘ bedeutet hier den empirischen Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen.“: Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, München 21969, S. 71. Was in diesem Zusammenhang unter einem „modernen rechtsgelehrten Juristen“ zu verstehen sei, zeichnet sich dann ab in ders., Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934, S. 65: Schmitt denkt an einen Juristen, „den die nationalsozialistische Bewegung in Deutschland eingeführt hat. [. . .] Dem neuen ständischen Gebilde der deutschen Juristen soll jeder deutsche Volksgenosse angehören, der sich in seiner beruflichen Arbeit mit der Anwendung oder Weiterbildung des deutschen Rechts im öffentlichen Leben, in Staat, Wirtschaft und Selbstverwaltung, befaßt und der auf solche Weise im deutschen Rechtsleben verwurzelt ist. Auf diesen neuen Begriffen von Recht, Jurist und Rechtsstand beruht soweit der Nationalsozialistische Deutsche Juristenbund, also der im besonderen Sinne mit dem deutschen Recht befaßte Teil der nationalsozialistischen Bewegung, wie auch die im Herbst 1933 gegründete Akademie für Deutsches Recht.“ Zur entsprechenden Kritik an Schmitts dezisionistischer Pervertierung der Rechtsidee in größerem juristisch-ethischem Kontext Florian Windisch, Jurisprudenz und Ethik, Berlin 2010, S. 56–58, m. w. H. 28 Freilich neigt man nur dazu, und es könnte, wie gesagt, auch sein, dass man Glück hat mit seiner Intuition. Unter methodischen Gesichtspunkten verliert eine Entscheidung deshalb erst dann ihre Legitimation, wenn man sie nicht vertretbar begründen kann. 29 Matthias Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: O. Depenheuer et al. (Hrsg.), Staat im Wort, Heidelberg 2007, S. 253–275, 268 f. 30 Z. B. klassisch Bernhard Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, Berlin 1976; philosophisch Wolfgang Enderlein, Abwägung in Recht und Moral, Freiburg i. Br./

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schlag zur methodischen Rekonstruktion rechtlicher Abwägung kommt heute von Robert Alexy31, unter Zugrundelegung der so genannten „Prinzipientheorie“32. Die Dominanz dieses Theoriezusammenhangs ist so stark, München 1992; postmodern-liberal Karl-Heinz Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, Tübingen 2004; bzw. schon ders., „Abwägung“ – Ein neues Paradigma des Verwaltungsrechts, Berlin 1984; und ders., „Abwägung“ – ein neues Rechtsparadigma?, in: ARSP 69 (1983), S. 463–483; in postpositivistischer Absicht die bereits in Fn. 20 erwähnten Arbeiten Someks; aus der Schule Larenz/Canaris Thomas Riehm, Abwägungsentscheidungen in der praktischen Rechtsanwendung, München 2006; mit numerischem Interesse Ekkehard Hoffmann, Abwägung im Recht, Tübingen 2007. Erwähnenswert auch Wilfried Erbgut et al. (Hrsg.), Abwägung im Recht, Köln et al. 1996. Insb. zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz etwa die Übersicht in Barbara Remmert, Verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Grundlagen des Übermaßverbotes, Heidelberg 1995, S. 1, Fn. 2; sowie m. w. H. über die Grenzen des deutschen Rechtsraums hinaus Johannes Saurer, Die Globalisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, in: Der Staat 51 (2012), Nr. 1, S. 3–33. Aus globaler Sicht hervorzuheben die Arbeiten von Aharon Barak und Moshe Cohen-Eliya/Iddo Porat: hier nur beispielsweise Aharon Barak, Proportionality, Cambridge/New York 2012; bzw. kurz ders., Proportionality and Principled Balancing, in: Law & Ethics of Human Rights 4 (2010), Nr. 1, S. 1–18; und Moshe CohenEliya/Iddo Porat, Proportionality and the Culture of Justification, in: The American Journal of Comparative Law 59 (2011), S. 463–490. Dazu bereits die Anmerkung in Fn. 15. 31 In den Grundzügen: Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985; ders., Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 61 (2002), S. 7–33; ders., Die Gewichtsformel, in: J. Jickeli et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein, Berlin 2003, S. 771–792; ders., On Balancing and Subsumption, in: Ratio Juris 16 (2003), Nr. 4, S. 433–449; ders., Abwägung, Verfassungsgerichtsbarkeit und Repräsentation, in: M. Becker/R. Zimmerling (Hrsg.), Politik und Recht, Wiesbaden 2006, S. 250–258; ders., Ideales Sollen, in: L. Clérico/J.-R. Sieckmann (Hrsg.), Grundrechte, Prinzipien und Argumentation, Baden-Baden 2009, S. 21–38; ders., Grundrechte und Verhältnismäßigkeit, in: U. Schliesky et al. (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa, Heidelberg 2011, S. 3–15. Dazu insb. Agustin José Menéndez/Erik Oddvar Eriksen (Hrsg.), Arguing Fundamental Rights, Dordrecht 2006; George Pavlakos (Hrsg.), Law, Rights and Discourse, Oxford/Portland 2007, insb. Kap. III; Laura Clérico/Jan-R. Sieckmann (Hrsg.), Grundrechte, Prinzipien und Argumentation, Baden-Baden 2009; Matthias Klatt (Hrsg.), Institutionalized Reason, Oxford 2012; vgl. auch Jan-R. Sieckmann (Hrsg.), Legal Reasoning, Stuttgart 2010. Zur Exportstärke des Theoriezusammenhangs Matthias Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: O. Depenheuer et al. (Hrsg.), Staat im Wort, Heidelberg 2007, S. 253–275, 253 f. Zur Anhängerschaft m. w. H. ebd., S. 253, Fn. 2. 32 Im Anschluss an Dworkins (etwas anders gelagerter) Unterscheidung von Regeln und Prinzipien, zuerst Ronald Dworkin, The Model of Rules, in: The University of Chicago Law Review 35 (1967), Nr. 1, S. 14–46, insb. 22–29. Vertiefung der Alexy’schen Variante über die in Fn. 31 erwähnte Literatur hinaus in Jan-R. Sieckmann (Hrsg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte, Baden Baden 2007; ders., Recht als normatives System, Baden-Baden 2009; Martin Borowski, Grund-

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dass es heute offenbar genügt, von „der“ Abwägungslehre zu sprechen,33 um sich auf ihn zu beziehen. Angesichts seiner behaupteten Leistungsfähigkeit ist dies auch nicht verwunderlich. Alexy meinte unlängst etwa: „Eine Struktur des Grundrechtsdiskurses, die Anspruch auf mehr Rationalität erheben kann, ist nicht möglich.“34 Dabei bleibt die Alexy’sche Prinzipien- und Abwägungskonzeption natürlich nicht unwidersprochen, und die Kritik macht deutlich, dass die Konzeption an entscheidenden Punkten mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat35. Das Nachfolgende soll sich jerechte als Prinzipien, Baden-Baden 22007; ders., (Hrsg.), On the Nature of Legal Principles, Stuttgart 2010. Zu den verschiedenen Aspekten der Alexyschen Prinzipientheorie Ralf Poscher, The Principles Theory, in: M. Klatt (Hrsg.), Institutionalized Reason, Oxford 2012, S. 218–247. Zu Dworkins Konzept nur Joseph Raz, Legal Principles and the Limits of Law, in: The Yale Law Journal 81 (1972), Nr. 5, S. 823–854. Vergleichend Alexander Heinold, Die Prinzipientheorie bei Ronald Dworkin und Robert Alexy, Berlin 2011. 33 Matthias Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: O. Depenheuer et al. (Hrsg.), Staat im Wort, Heidelberg 2007, S. 253–275. Zu „der“ Prinzipientheorie Ralf Poscher, The Principles Theory, in: M. Klatt (Hrsg.), Institutionalized Reason, Oxford 2012, S. 218–247, m. w. H. 34 Robert Alexy, Grundrechte und Verhältnismäßigkeit, in: U. Schliesky et al. (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa, Heidelberg 2011, S. 3–15, 15. Die Aussage muss natürlich nicht als Selbstqualifizierung gelesen werden. Sie muss sich diese Lesart aber gefallen lassen. 35 Hervorgehoben seien die prominente Kritik von Jürgen Habermas und die gehaltvolle von Matthias Jestaedt: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 41994, S. 309–317; ders., Replik auf Beiträge zu einem Symposion der Cardozo Law School, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt am Main 1996, S. 309–398, 366–370; Matthias Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: O. Depenheuer et al. (Hrsg.), Staat im Wort, Heidelberg 2007, S. 253–275, insb. 260–274, ganz besonders zum Applikationismus der Alexy’schen Prinzipientheorie S. 272–274, wo die Probleme dieses Theoriezusammenhangs eigentlich beginnen. Einen Überblick bis 2007 verschafft Jestaedt ebd., S. 254, Fn. 5. Darüber hinaus Ralf Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, in: J.-R. Sieckmann (Hrsg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte, Baden-Baden 2007, S. 59–79; ders., Theorie eines Phantoms, in: Rechtswissenschaft 2010, Nr. 4, S. 349–372; Kai Möller, Balancing and the structure of constitutional rights, in: International Journal of Constitutional Law 5 (2007), Nr. 3, S. 453–468; Jan Henrik Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, in JZ 63 (2008), Nr. 15/16, S. 756–763 (Replik von Jan-R. Sieckmann in JZ 64 (2009), Nr. 1, S. 557–559; Duplik Klements in JZ 64 (2009), Nr. 11, S. 560–562). Zudem die kritischen Beiträge in der bereits in Fn. 31 angeführten Sekundärliteratur, insb. Matthias Klatt (Hrsg.), Institutionalized Reason, Oxford 2012, Kap. 2. – Kürzere und längere Antworten Alexys in Robert Alexy, Die Gewichtsformel, in: J. Jickeli et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein, Berlin 2003, S. 771–792, 773–777; ders., Constitutional Rights, Balancing, and Rationality, in: Ratio Juris 16 (2003), Nr. 2, S. 131–140, 136–140; ders., Die Konstruktion der Grundrechte, in: L. Clérico/J.-R. Sieckmann (Hrsg.), Grundrechte, Prinzipien und Argumentation, Baden-Baden 2009, S. 9–19, 12–19; ders., Thirteen

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doch nicht in einer – weiteren – Kritik an der Abwägungslehre Alexys verlieren. Es soll nur gezeigt werden, dass sie trotz einiger zutreffender (aber auch unzutreffender) analytischer Unterscheidungen eben an der analytischen Oberfläche verbleibt und dort aufhört, wo es interessant zu werden beginnt. Auch „die“ formalistische Abwägungslehre Alexys bleibt hinter den normativen Anforderungen einer demokratischen Verfassungsordnung zurück. In der Alexy’schen Abwägungslehre stellt sich das Abwägungsproblem im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn36 als eine Kollision von Prinzipien dar, welche durch Auffinden einer Kollisionsnorm zu entscheiden sei. Anders als bei Regeln handle es sich bei Prinzipien (als Paradebeispiel die klassischen Grundrechte) nun nicht um strikte Festsetzungen,37 welche sich durch Subsumtion anwenden ließen38. Bei Prinzipien Replies, in: G. Pavlakos (Hrsg.), Law, Rights and Discourse, Oxford/Portland 2007, S. 333–366, 340–352/362–366; ders., Ideales Sollen, in: L. Clérico/J.-R. Sieckmann (Hrsg.), Grundrechte, Prinzipien und Argumentation, Baden-Baden 2009, S. 21–38; ders., Grundrechte und Verhältnismäßigkeit, in: U. Schliesky et al. (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa, Heidelberg 2011, S. 3–15, 9–15. 36 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 100–104; ders., Die Gewichtsformel, in: J. Jickeli et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein, Berlin 2003, S. 771–792, 772–777; ders. Grundrechte und Verhältnismäßigkeit, in: U. Schliesky et al. (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa, Heidelberg 2011, S. 3–15, 5–8. Alexy meint, die beiden ersten Teilkriterien der Verhältnismäßigkeit der Pareto-Optimalität zuordnen und die Verhältnismäßigkeit i. e. S. insofern als Abwägungsproblem davon absetzen zu können: z. B. ebd., S. 4–6. Das ist bereits insofern fragwürdig, als das in der Wohlfahrtsökonomik geborene Pareto-Kriterium keinen Teil-, sondern einen Totalanspruch erhebt: Pareto-Optimalität unterstellt eigentlich bereits einen Zustand richtiger Abwägung im Ganzen (vgl. daher etwa auch das als Alternative anklingende Optimierungskonzept in Jan-R. Sieckmann, Balancing, Optimisation, and Alexy’s Weight Formula, in: ders. (Hrsg.), Legal Reasoning, Stuttgart 2010, S. 101–118). Gründlich kritisch zum Pareto-Kriterium Peter Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, Bern et al. 42008, S. 203–206. Das in dieser Studie verfolgte „Abwägungskonzept“ zielt demgegenüber auf eine (nicht auf Optimalitätsaspekte abstellende) Integration der rechtlich maßgeblichen Bewertungskriterien. 37 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 76. 38 Robert Alexy, On Balancing and Subsumption, in: Ratio Juris 16 (2003), Nr. 4, S. 433–449, 433–435; vgl. auch die Nachweise in Hege Stück, Subsumtion und Abwägung, in: ARSP 84 (1998), S. 405–419, 405, Fn. 2. Deutlich Jan-R. Sieckmann, Regelmodell und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, Baden-Baden 1990, S. 18 f.; und Nils Jansen, Die normativen Grundlagen rationalen Abwägens im Recht, in: J.-R. Sieckmann (Hrsg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte, Baden-Baden 2007, S. 39–57, 39. Dazu auch Matthias Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: O. Depenheuer et al. (Hrsg.), Staat im Wort, Heidelberg 2007, S. 253–275, 272. Zum Regelkonflikt in der Sicht Alexys Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 77 f./88–90.

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handle es sich um Optimierungsgebote, die nach größtmöglicher Erfüllung verlangten, der jeweils richtige Grad der Erfüllung aber anhand gegenläufiger Prinzipien zu bestimmen sei.39 Die Prinzipienkollision sei demnach durch eine Abwägung der gegenläufigen Prinzipien zu lösen, in welcher die Kollisionsnorm besage, welches Prinzip im konkreten Fall vorgehe.40 Dabei gelte das Abwägungsgesetz, wonach die Wichtigkeit der Erfüllung des vorrangigen Prinzips umso größer sein müsse, je größer die Beeinträchtigung des anderen Prinzips sei.41 Diese Grundgedanken wurden später weiter ausdifferenziert und in einer Gewichtsformel abgebildet, welche das Verhältnis der kollidierenden Prinzipien durch das abstrakte Gewicht der jeweiligen Prinzipien sowie die jeweilige Intensität und die Wahrscheinlichkeit ihrer Beeinträchtigung parametrisiert.42 Dem Prinzip, dessen Faktoren nach Einsetzen der Werte das höhere Produkt erziele, sei dann der Vorrang zu gewähren.43 Hierzu festzuhalten ist zunächst, dass all diese Zusammenhänge auf den ersten Blick ganz plausibel daherkommen: Jede Juristin und jeder Jurist wird sich daran erinnern, dass es in der Rechtsanwendung sowohl zu subsumieren als auch abzuwägen gilt, und dass bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung Letzteres mit im Spiel ist. Auch die Vorstellung von einer Kollision gibt eine passende Beschreibung ab für die Situation sich widersprechender Interessen. Zudem weiß man auch, dass ein Interesse das andere überwiegen muss, um Vorrang zu genießen. Schon von den Teilkriterien der Geeignetheit und der Erforderlichkeit her dürfte zudem klar sein, dass in der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Intensität der Beeinträchtigungen sowie die mit ihnen verbundenen Wahrscheinlichkeiten eine Rolle spielen. Als selbstverständlich dürfte schließlich auch vorausgesetzt werden können, dass die Ranghöhen der infrage kommenden Referenznormen von Bedeutung sind. Die Abwägungslehre Alexys scheint also zunächst einmal etwas formal zu explizieren, was Juristinnen und Juristen ohnehin schon wissen. 39

Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 75 f./87–90. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 78–87/143–154. 41 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 146. Die Rede ist hier vom sog. ersten Abwägungsgesetz; zur Differenzierung zwischen erstem und zweitem Abwägungsgesetz und zu Letzterem ders., Die Gewichtsformel, in: J. Jickeli et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein, Berlin 2003, S. 771–792, 789 f. 42 Robert Alexy, Die Gewichtsformel, in: J. Jickeli et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein, Berlin 2003, S. 771–792, insb. 783–791. 43 Robert Alexy, Die Gewichtsformel, in: J. Jickeli et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein, Berlin 2003, S. 771–792, 790. Zur Möglichkeit eines „Patts“ und den rechtlichen Konsequenzen in der Sicht Alexys ders., Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 61 (2002), S. 7–33, 22–26. 40

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Gerade dies hat ihr vielerorts auch Kritik eingehandelt44. Nun ist daran, eine sinnvolle Praxis näher zu explizieren, grundsätzlich nichts auszusetzen. Tatsächlich bleibt der Rechtstheorie wohl gar nicht viel anderes übrig, als eben dies zu tun.45 Und wenn man die lokale Ausarbeitung der Semantik ernst nimmt, wird man von einem Abwägungskonzept auch nicht erwarten dürfen, im Vorhinein schon alles entschieden zu haben. Es sollte aber doch etwas mehr dabei herauskommen als genau das, was man zuvor schon hatte. Ob hiervon in der Alexy’schen Prinzipien- und Abwägungstheorie etwas zu finden ist, ist allerdings fraglich. Im Grunde haftet ihr dieselbe Retrospektivität46 an, die es gerade als nötig erscheinen lassen hatte, die Abwägung näher zu untersuchen: Wenn man bereits abgewogen hat, macht die Konzeption einigermaßen plausibel, was man getan hat. Z. B. wird man in etwa herausfinden können, als wie wichtig man das eine oder andere Interesse gewertet hat. – Wie aber, das ist die entscheidende Frage, soll man diese Gewichtung vornehmen?47 Die Alexy’sche Abwägungslehre ist wie eine gegliederte Liste von Dingen, die einem in der Blackbox begegnen können. Wie man durch sie hindurch kommt, steht aber nicht darauf.48 Zur 44

Somek etwa konstatiert „eine analytisch behutsame Formalisierung des moralischen Intuitionismus“: Alexander Somek, Eine egalitäre Alternative zur Güterabwägung, in: B. Schilcher et al. (Hrsg.), Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, Wien 2000, S. 193–220, 194; Jestaedt greift diesen Gedanken auf und spricht von einer „aseptischen Klarheit eines intellektuellen Glasperlenspiels“: Matthias Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: O. Depenheuer et al. (Hrsg.), Staat im Wort, Heidelberg 2007, S. 253–275, 267; vgl. auch Jan Henrik Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, in JZ 63 (2008), Nr. 15/16, S. 756–763, insb. 756. 45 Vgl. Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 10 2009, S. 550 f., Rz. 537; und Ralph Christensen/Hans Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001, S. 269–280, mit Hinweisen auf Gilbert Ryle und Robert Brandom. Die juristische Praxis lässt sich philosophisch nicht beherrschen, sondern nur reflexiv aufstufen: Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 102009, S. 267, Rz. 256 – Anders übrigens Alexys moralphilosophisches Diktat der Rechtswissenschaft: Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt am Main 21991. Dazu und als Gegenentwurf einer gleichberechtigten Integration von Rechtswissenschaft und Ethik Florian Windisch, Jurisprudenz und Ethik, Berlin 2010, zur Kritik an Alexys Theorie juristischer Argumentation S. 159–169. 46 Vgl. Jan Henrik Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, in JZ 63 (2008), Nr. 15/16, S. 756–763, 756. 47 Eine Reihe weiterer wichtiger Fragen, auf welche die Konzeption keine Antwort gibt, hat Jestaedt formuliert: Matthias Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: O. Depenheuer et al. (Hrsg.), Staat im Wort, Heidelberg 2007, S. 253–275, 266. 48 Alexy ist sich dessen bewusst: Robert Alexy, On Balancing and Subsumption, in: Ratio Juris 16 (2003), Nr. 4, S. 433–449, 448; ders., Grundrechte und Verhältnismäßigkeit, in: U. Schliesky et al. (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune,

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methodischen Orientierung im Lichte von Demokratie und Rechtsstaat reicht das nicht hin. Man sollte immerhin meinen können, dass die Alexy’sche Analyse doch schon einmal mehr sei, als wenn man sie nicht hätte. Doch auch das ist zweifelhaft. Denn, erstens, birgt sie die Gefahr, mit ihrer formalistischen Oberflächensystematik eine Rationalität zu unterstellen, die nicht vorhanden ist. Ohne weitere normative Orientierung könnte unter der formal-analytischen Oberfläche auch die Totalität der Pauschalabwägung transportiert werden,49 die dort wenigstens offen zutage tritt. Zweitens ist die Analyse teilweise auch als solche verfehlt, und in diesem Maße leitet sie sogar direkt von einer rechtsgebundenen Abwägungsmethodik ab. Das Zweite sei kurz ausgeführt. Der Kern des Problems liegt hier in der Prinzipientheorie. Matthias Jestaedt hat gezeigt, dass Alexys Prinzipienbegriff einer Tautologie entspringt,50 und Ralf Poscher hat nachgewiesen, dass es sich bei Alexys Prinzipien doch wieder nur um Regeln handelt51. Es drängt sich damit schon der Verdacht auf, die Alexy’schen Prinzipien seien im Reagenzglas erzeugt worden, um eine Funktion zu erfüllen, die das Recht eigentlich nicht hat.52 Ein weiterer Punkt, welcher die Künstlichkeit des Alexy’schen PrinzipienStaat und Europa, Heidelberg 2011, S. 3–15, 15; vgl. zum formalistischen Selbstverständnis des Theoriekontexts auch Jan-R. Sieckmann, Balancing, Optimisation, and Alexy’s Weight Formula, in: ders. (Hrsg.), Legal Reasoning, Stuttgart 2010, S. 101–118, 114–116. Er meint aber dennoch, von hinreichender Rationalität ausgehen zu können. „Eine Struktur des Grundrechtsdiskurses, die Anspruch auf mehr Rationalität erheben kann“, sei ja „nicht möglich“ (Beleg oben, Fn. 34). 49 Vgl. Matthias Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: O. Depenheuer et al. (Hrsg.), Staat im Wort, Heidelberg 2007, S. 253–275, 267. 50 Matthias Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: O. Depenheuer et al. (Hrsg.), Staat im Wort, Heidelberg 2007, S. 253–275, 261–263. 51 Ralf Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, in: J.-R. Sieckmann (Hrsg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte, BadenBaden 2007, S. 59–79, 65–70, m. w. H. auf Zugeständnisse seitens der Prinzipienlehre auf S. 68 f.; vgl. auch Jan Henrik Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, in JZ 63 (2008), Nr. 15/16, S. 756–763, 762 f. Replik: Robert Alexy, Ideales Sollen, in: L. Clérico/J.-R. Sieckmann (Hrsg.), Grundrechte, Prinzipien und Argumentation, Baden-Baden 2009, S. 21–38, 21–32. Danach wieder Ralf Poscher, Theorie eines Phantoms, in: Rechtswissenschaft 2010, Nr. 4, S. 349–372. 52 Inzwischen gibt es für diesen Verdacht auch empirische Plausibilität: Friedemann Vogel/Ralph Christensen, Korpusgestützte Analyse der Verfassungsrechtsprechung: Eine Abwägung von Prinzipien findet nicht statt, in: Rechtstheorie 44 (2013), Nr. 1, S. 29–60; vgl. auch dies., Die Sprache des Gesetzes ist nicht Eigentum der Juristen, in diesem Band.

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begriffs vor Augen führt, ist ihre seltsame Qualität, jedenfalls bei gleichem abstraktem Gewicht (laut Alexy der Normalfall der Abwägung53), „im Abstrakten“ gleichwertig zu sein, „im Konkreten“ jedoch als vor- und nachrangig bewertet werden zu können.54 Hier stimmt etwas nicht. Denn entweder bleiben die Gewichts- und damit Rangverhältnisse von Prinzipien „im Abstrakten“ und „Konkreten“ dieselben, oder die Prinzipien werden auf dem Weg in die Konkretion nicht konkretisiert, sondern modifiziert.55 Und hier wird das Ganze praktisch relevant. Denn die Prinzipientheorie ist kaum anders zu verstehen, als dass sie Letzteres bezweckt: Die Kollisionsnorm soll darüber entscheiden, welches Prinzip im konkreten Fall den Vorrang erhält. Das heißt aber, dass die (rechtlich geltenden) Prinzipien aus ihrer Rechtsstellung herausgerissen und selbst zum Gegenstand der Abwägung gemacht werden. Das ist nicht die Einräumung einer Pauschalabwägung im Rahmen des Rechts, sondern Pauschalabwägung über das Recht hinweg. Die Optimierungsrhetorik tut noch das Ihre. Am Ende löst sich die ganze Grundrechtsdogmatik in einem situativen Kosten-Nutzen-Kalkül auf. Die Konsequenzen mögen etwas überzeichnet sein. Man muss der Prinzipientheorie wohl nicht unterstellen, sie wolle sich utilitaristisch über das Legalitätsprinzip hinwegsetzen. Der Fehler wird eher in einer unsorgfältigen Analyse zu suchen sein: Abzuwägen sind nicht die Normen (oder eben „Prinzipien“). Zu gewichten und abzuwägen sind die fraglichen, auf sie bezogenen – an ihnen zu messenden – Interessen.56 Steht die Verhältnismäßigkeit einer Fernhaltemaßnahme infrage, so ist nicht das Achtungsgebot der Bewegungsfreiheit selbst oder das daraus abgeleitete Recht gegen das entgegenstehende öffentliche Interesse abzuwägen, sondern das konkrete Interesse an der Aufhebung der Maßnahme. Als Maßstab der Bewertung dieses Interesses bleibt die Bewegungsfreiheit unverbrüchlich. Dasselbe gilt für die Grundsätze, an welchen im konkreten Fall die Bedeutung des entgegenstehenden öffentlichen Interesses an der Fernhaltung zu messen ist.

Dennoch sind die Prinzipientheorie und ihre Formalisierungen so unglücklich angelegt, dass die Sorge um die Wahrung der Gesetzesbindung57 nicht unbegründet ist. 53

Robert Alexy, Die Gewichtsformel, in: J. Jickeli et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein, Berlin 2003, S. 771–792, 788. 54 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 80 u. ö. 55 Vgl. in allgemeinerer Hinsicht Florian Windisch, Eine Kampfmethode der Gerechtigkeit, in: R. J. Schweizer/ders. (Hrsg.), Integratives Rechtsdenken, Zürich/ St. Gallen 2011, S. 213–228, 224 f. Illustrativ zum Umgang mit Konkretisierung und Abstrahierung in theoriemethodologischem Kontext ders., Jurisprudenz und Ethik, Berlin 2010, S. 187–195; vgl. auch ebd., S. 463–465. 56 Dabei wird der entscheidende Unterschied zwischen Bewertungsgegenstand und Bewertungskriterium eigentlich gesehen: Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 129–133.

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Insgesamt fällt auch das Urteil über die Alexy’sche Abwägungslehre enttäuschend aus. Sieht man einmal über die unzutreffenden Analysen mit ihren potenziell verheerenden Folgen hinweg, so bleibt im Grunde nur noch ein formaler Apparat zurück, welcher der bisherigen Orientierungslosigkeit den Anschein hinreichender Rationalität verleiht. Es wird zwar noch einmal logisch reformuliert, was geschehen ist, wenn man abgewogen hat. Wie die fraglichen Interessen aber zu gewichten sind, um sie überhaupt abwägen zu können, bleibt vollkommen im Dunkeln. Im Vergleich zur herkömmlichen Dogmatik zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bringt diese Abwägungslehre daher nichts. In der gegenwärtigen rechtstheoretischen Debatte und – mit dem dankbar bestätigenden Effekt formaler Erklärungsmuster auch in der Praxis – wirkt sie als Reflexionsbremse. 3. Vertiefende Problemanalyse in strukturierender Perspektive

Wer die Abwägung pauschal vornimmt oder sich dabei an formalen Gesichtspunkten „orientiert“, wird es schwer haben, den normativen Anforderungen einer demokratischen Verfassungsordnung zu genügen. Die Gefahr, ins Totale abzudriften und den Interessenkonflikt am Ende von einem einzigen Prinzip her durchzuordnen, ist bei beidem akut. Will man der rechtlich geschützten Prinzipienvielfalt gerecht werden, dann wird man sich auf sie einlassen und den Interessenkonflikt in ihr austragen müssen. Methodisch bedeutet dies, dass die Entscheidung über die in der Abwägung tragenden Gewichte in der Argumentation herzustellen ist – in einer strukturierten Argumentation, welche die Prinzipien je zu ihrem Recht kommen lässt.58 Zu diesem Zweck ist nun an die Strukturierende Rechtslehre anzuknüpfen. Beim zuvor vorgestellten Modell der Rechtsnormkonkretisierung der Strukturierenden Rechtslehre handelt es sich um ein Grundmodell. Es er57 Vgl., mit etwas anderem Ansatz, Jan Henrik Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, in JZ 63 (2008), Nr. 15/16, S. 756–763, 759 f. 58 „Strukturieren“ und „Argumentieren“ sind Begriffe, mit denen freilich auch in der Schule Alexys operiert wird: z. B. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 71 et passim; und ders., Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt am Main 21991. Zudem nur schon, was die Titulierung betrifft, etwa ders., On Balancing and Subsumption, in: Ratio Juris 16 (2003), Nr. 4, S. 433–449; Nils Jansen, Die Struktur der Gerechtigkeit, Baden-Baden 1998; oder Laura Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, Baden-Baden 2001. Vgl. zum Strukturansatz der Prinzipientheorie auch Jan Henrik Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, in JZ 63 (2008), Nr. 15/16, S. 756–763, 757. Es dürfte jedoch klar geworden sein, dass mit den im Sinne der Strukturierenden Rechtslehre verwendeten Begriffen weder formal-analytische Reformulierungen noch total-philosophische Supernormierungen verfolgt werden, sondern gleichermaßen tiefer Gehendes wie näher Liegendes gemeint ist.

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läutert den Gesamtprozess rechtsgebundener Zuschreibung von Sprach- und Realdaten. In dieser Form eignet es sich bereits hervorragend zur kritischen Rekonstruktion dessen, was herkömmlich als „Subsumtion“ mißverstanden wird. An dieser Stelle wird nun vorgeschlagen, das Modell zur noch besseren Erfassung auch der „Abwägung“ zu erweitern. Wenn es gelingen sollte, das Konkretisierungsmodell unter Beibehaltung seiner grundlegenden Strukturierungen in Bezug auf die „Abwägung“ noch weiter auszudifferenzieren, dann wäre ein wichtiger Schritt in die Richtung ihrer Verfassung getan. Der Erweiterungsvorschlag setzt an zwei Punkten an. Er betrifft einerseits die Normprogrammstruktur, die bei näherer Betrachtung Elemente unterschiedliche Anordnungstypen aufweisen kann. Dies dürfte auch der Grund für die herkömmliche, methodisch und theoretisch unterbelichtete Spaltung der Rechtsanwendung in „Subsumtion“ und „Abwägung“ (oder gar „Regeln“ und „Prinzipien“) sein. Hier sind aber zunächst einmal keine großen rechtsphilosophischen Universalwahrheiten am Werk, sondern nur eine genauere Analyse rechtlicher Vorgaben. Diese Vorgaben verlangen, die konkretisierende Zuschreibung teils als Zurechnung, teils als Zumessung vorzunehmen. Beides bleibt aber stets miteinander verbunden. Die Erweiterung betrifft andererseits die Stufung des Konkretisierungsprozesses in zwei Stufen. Diese Stufung adressiert das Problem der Normenkollision, welches in der Strukturierenden Rechtslehre bisher eher im Rahmen der systematischen Auslegung behandelt wurde und noch Raum für weitergehende methodische Vertiefung lässt.59 Die Normenkollision lässt sich dann durch einen Widerspruch von Rechtspositionen auf der ersten Konkretisierungsstufe beschreiben, den es auf der zweiten Konkretisierungsstufe zu lösen gilt. Diese Aufgabe stellt sich als weitaus komplexer dar als die Suche nach einer als Vorrangregel begriffenen Kollisionsnorm (wie man sie sich etwa in der Abwägungslehre Alexys vorstellt). In der „Abwägung“ bedarf es der Konstruktion einer Relationsnorm, welche die fraglichen Interessen unter Rückbindung an die ihnen zugrunde liegenden Rechtsnormen nach Maßgabe des geltenden Relationsprogramms ins Verhältnis setzt. Für die Zwecke der demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung entscheidend ist dabei die methodische Steuerung dieses Prozesses durch die normgebundenen Norm- bzw. Wertprogramme. Der Gedanke, die Normenkollision als eigenes methodisches Problem der Rechtskonkretisierung auszuarbeiten und als Folge davon ein zweistufiges Strukturmodell zu rekonstruieren, hängt freilich eng mit dem ersten Erwei59 Zum Verhältnis dieser Vertiefung zu den Ausführungen in der Strukturierenden Rechtslehre bisher, insb. in Müllers „Einheit der Verfassung“ dann eingehender unten Kapitel V.

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terungsvorschlag der Differenzierung unterschiedlicher Anordnungstypen zusammen. Angeregt ist er nicht zuletzt durch einen beherzteren Blick auf die „Abwägung“. Beide Erweiterungsvorschläge sind jedoch im Sinne der sprach- und normentheoretischen Grundlagen der Strukturierenden Rechtslehre gemeint. Zur Vorbereitung des Modellentwurfs strukturierter Rechtsnormrelationierung als Entwurf eines demokratisch-rechtsstaatlich verfassten „Abwägungsmodells“ seien nachfolgend zunächst die beiden genannten Ansatzpunkte zur Erweiterung des Grundmodells der Strukturierenden Rechtslehre ausgeführt. Die Ausführungen werfen auch ein etwas anderes Licht auf die herkömmliche Gegenüberstellung von „Subsumtion“ und „Abwägung“. a) Positive und relative Normprogrammelemente Will man der „Abwägung“ näher kommen, ist eine Abgrenzung hilfreich. Was sie, jedenfalls in der Hauptsache, nicht charakterisiert, ist die herkömmlich mit dem Stichwort „Subsumtion“ bezeichnete Tätigkeit. Richtig verstanden handelt es sich bei dieser Tätigkeit um die im konkreten Fall vorzunehmende Prüfung, ob sich Bestandteile des Sachverhalts einer positiven Anordnung des einschlägigen Normtextes, genauer seines Normprogramms und dadurch gesteuerten Normbereichs, zurechnen lassen. Eine positive Anordnung fordert direkt eine durch objekt- oder subjektbezogene Kriterien definierte Situation ein.60 Ein Beispiel hierfür gibt eine einfache Polizeivorschrift ab, die es verbietet, in einem bestimmten hygienisch oder ökologisch sensiblen Gebiet Hunde mitzuführen. Lässt sich dieser oder jener konkrete Sachverhalt der positiven Anordnung zurechnen?

Lässt sich der Sachverhalt der rechtlichen Anordnung nicht zurechnen, so ist zu bestimmen, wie die Geschehnisse im Lichte der positiven Anordnung entsprechend zu korrigieren sind. Mithilfe des analytischen Instrumentariums der Strukturierenden Rechtslehre lässt sich sagen, dass die Zurechnungskontrolle und -korrektur im Wege eines argumentativen Semantisierungsprozesses durchgeführt wird, in welchem dem einschlägigen Normtext eine konkrete Bedeutung zugeschrieben wird. Die juristische Herausforde60 Das Prädikat „positiv“ wird hier natürlich nicht als Antonym zu „negativ“ verwendet, sondern, wie gleich ausgeführt, zu „relativ“. Die Positivität von „positiv“ geht in dieselbe Richtung wie die Verwendung von „positivem Recht“. Es geht um die Auszeichnung einer fortgeschrittenen Stufe im rechtlichen Entscheidungsprozess, in welchem eine intersubjektive Relation bereits in irgendeiner Weise durch subjektoder objektbezogene Kriterien positiviert wurde.

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rung besteht darin, diese Bedeutungsgebung mithilfe der überlieferten Auslegungselemente und Normbereichsanalysen methodisch korrekt durchzuführen. Die Subsumtion ist der letzte Schritt in diesem Vorgehen. Sie ist der logische Schluss, in dem die zuvor erarbeiteten Ergebnisse zusammengeführt werden. Bei der „Subsumtion“ wird der Interessenkonflikt also dadurch entschieden, dass einer positiven Anordnung, der im konkreten Fall eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben wird, Nachachtung verschafft wird. Die zugrunde liegende Idee ist, dass der Interessenkonflikt bereits und gerade dadurch richtig gelöst werde, dass die positive Anordnung im konkreten Fall befolgt wird. Die Abwägung der involvierten Interessen ist somit in der Anordnung impliziert. Das Verhältnis der Interessen sei genau dann als richtig abgewogen zu betrachten, wenn sich der Sachverhalt der Anordnung zurechnen lässt. Gemäß der soeben beispielsweise herangezogenen Vorschrift werden die Interessen der Hunde Haltenden im Verhältnis etwa zum öffentlichen Interesse an Hygiene oder Naturschutz genau dann als richtig abgewogen unterstellt, wenn sie ihre Hunde in dem bestimmten hygienisch oder ökologisch sensiblen Gebiet nicht bzw. in anderen, weniger sensiblen Gegenden ausführen.

Nimmt man nun bei der Rekonstruktion der „Abwägung“ die Rechtsbindung ernst, so dürfte klar sein, dass auch der „Abwägung“ eine rechtliche Vorschrift zugrunde liegen muss. Auch das „Abwägen“ setzt einen rechtsverbindlich anordnenden Text voraus. Im Gegensatz zur „Subsumtion“ rückt bei der „Abwägung“ aber in den Hintergrund, was dort eine „positive Anordnung“ genannt wurde. Bei der „Abwägung“ steht eine relative Anordnung im Vordergrund. Die zu verwirklichende Situation wird hier indirekt durch eine intersubjektive Relation eingefordert, deren Gehalt nicht positiv vorgeordnet ist. Anders als bei der positiven Anordnung der „Subsumtion“ wird diese vorgeschriebene Relation nicht abschließend durch objekt- oder subjektbezogene Kriterien ausgeführt. Die Anordnung bleibt immer ein entscheidendes stückweit auf die intersubjektive Relation als solche beschränkt. In diesem Sinn und insoweit bleibt die Anordnung eine indirekte. Paradebeispiel hierfür bildet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die rechtlichen Anordnungen zielen hier auf Situationen ab, die in erster Linie durch die Relation zwischen den Betroffenen definiert ist. Welche positiv definierbaren objekt- oder subjektbezogen Situationen daraus resultieren, bleibt hintergründig. Weitere Beispiele relativer Vorschriften sind Ermessensvorschriften. Wenn z. B. die Regressrechte bei der Solidarhaftung nach richterlichem Ermessen zu verteilen sind,61 beschränkt sich auch diese Anordnung insoweit darauf, die Rechte der einzelnen solidarisch Haftenden ins richtige intersubjektive Verhältnis zu setzen. 61

Vgl. z. B. Art. 50 Abs. 1 und 2 des schweizerischen Obligationenrechts.

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Allerdings hat nicht jede Vergleichs- und Verteilungsvorschrift diesen relativen Anordnungscharakter. Eine Regressregelung, die z. B. das Rückgriffsrecht von Anstiftern, Urhebern und Gehilfen auf je einen bestimmten Anteil der Gesamthaftungssumme positiv festlegen würde, wäre insoweit nicht als relative Anordnung zu qualifizieren.

Während bei der „Subsumtion“ das Normprogramm also von einer im erläuterten Sinn positiven Anordnung dominiert wird, steht bei der „Abwägung“ die erläuterte relative Anordnung im Vordergrund. Man kann auch sagen, im einen Fall sei von direkt anordnenden, im anderen von indirekt anordnenden Vorschriften auszugehen. Vielleicht ist auch die Bezeichnung propositionale und proportionale oder relationale Anordnung hilfreich. Dabei gilt es aber zu bedenken, dass sich der „propositionale“ Gehalt der propositionalen Anordnung weder auf sämtliche noch nur auf deskriptive Inhalte beziehen dürfte. Das als juristisch-technischer Term zu verstehende Prädikat würde sich auf alle denkbaren deskriptiven und normativen Inhalte erstrecken, solange sie nicht die erläuterte proportionale/relationale Struktur aufweisen. Zu den positiven/propositionalen/direkt anordnenden Vorschriften sind insbesondere auch solche zu zählen, die zwar sehr abstrakte, aber dennoch nicht-relationale Anordnungen treffen. Für die Unterscheidung maßgeblich ist nicht der Abstraktionsgrad, sondern die Anordnungsstruktur. Nicht als relative, sondern als positive Vorschriften sind z. B. abstrakte Staatsziele zu qualifizieren, welche die Unabhängigkeit und Sicherheit des Landes, kulturelle Vielfalt oder die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen bezwecken. Staatsziele wie die Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern sowie eine gerechte internationale Ordnung weisen demgegenüber eine relative Struktur auf.62 Für die konkrete Rechtsarbeit weitaus relevanter als die vornehmlich an die rechtssetzenden Instanzen gerichteten Staatsziele sind die Grundrechte. Während das Rechtsgleichheitsgebot relative Anordnungen trifft, weisen die meisten klassischen Freiheitsrechte in ihrer Grundforderung, nach persönlicher Freiheit, Privatsphäre, Schutz des Familienlebens, Religionsfreiheit usw., positive Gehalte auf. Was persönliche Freiheit, Privatsphäre usw. im konkreten Fall bedeutet und ob sie eingeschränkt wird, ist im Wege eines – wenn auch oft komplexen – „subsumierenden“ Vorgehens zu erarbeiten, in dem zu überprüfen ist, ob sich die behauptete Schutzsphäre dem positiv definierten Schutzbereich der grundrechtlichen Anordnung zurechnen lässt. Erst die darauf folgende Verhältnismäßigkeitsprüfung hat eine relationale Struktur.

Demgegenüber zählen auch solche Regelungen zu den relativen/proportionalen/relationalen/indirekt anordnenden Vorschriften, deren relationale Struktur aufgrund ihrer abstrakten oder propositionsähnlichen Formulierung nicht augenfällig ist. 62 Vgl. etwa die verschiedenen in Art. 2 der schweizerischen Bundesverfassung (nachfolgend BV) formulierten Zwecksetzungen.

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Außer dem bereits genannten Rechtsgleichheitsgebot enthalten z. B. auch die Normprogramme des Willkürverbots relative Anordnungen. Auch das Willkürverbot fordert intersubjektive Relationen ein, ohne sie durch objektive oder subjektive Kriterien abschließend positiv zu definieren.

Nun fragt sich freilich, ob sich an die verschiedenen Anordnungstypen auch verschiedene Rechtsanwendungsarten anschließen müssen. In der laufenden Debatte über die „Abwägung“ ist besonders von Interesse, ob nicht auch relative Vorschriften durch „Subsumtion“, d.h. durch Zurechnungsprüfung in hinreichender Weise konkretisiert werden können. „Reine“ relative Anordnungen gibt es sicherlich nicht, sondern immer nur mehr oder weniger stark relativ ausgeprägte positiv-relative Mischformen. Jede Vorschrift, die vornehmlich eine bestimmte intersubjektive Relation einfordert, ist in einem ganzen Geflecht von positiven Anordnungen verflochten, nicht nur hinsichtlich ihrer formellen Anwendungsbedingungen, sondern durchaus auch in anderen Bestandteilen des Normprogramms, das sie dominiert. An der Stelle aber, an der es um die Konkretisierung des angeordneten Interessenverhältnisses geht, helfen die positiven Vorordnungen nur noch indirekt weiter. Außer der relativen Anordnung gibt es nichts mehr, auf dessen Übereinstimmung hin der Sachverhalt überprüft werden könnte. Bis auf diejenige der Interessenrelation sind alle Bedeutungen klar. Die „Subsumtion“ lässt die Rechtsanwendenden an der entscheidenden Stelle mit der relativen Vorgabe allein. Man denke z. B. an die verbreiteten Generalklauseln in Polizeigesetzen, welche die Polizeibehörden dazu anhält, zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die „erforderlichen“ oder „notwendigen Maßnahmen“ zu treffen. Diese Vorschriften werden oft durch einen Katalog von Mustermaßnahmen ergänzt, wonach „insbesondere“, „namentlich“ o. ä. zu diesen und jenen Mitteln, etwa Identitätskontrollen, Verwarnungen, Ersatzvornahmen und schärfere Zwangsmittel, gegriffen werden könne. Während die Voraussetzung der Gefahr oder Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Beispielmaßnahmen positiv-propositional konkretisiert werden können und zu konkretisieren sind, muss die Frage, welche Maßnahme nun notwendig oder erforderlich ist, in erster Linie zwischen dem Interesse an öffentlicher Sicherheit und Ordnung und dem entgegenstehenden Interesse „abwägend“ konkretisiert werden: Es ist die unter Berücksichtigung des entgegenstehenden Interesses notwendige/erforderliche Maßnahme zum Zweck der Wahrung öffentlicher Sicherheit und Ordnung zu treffen. Der Beispielkatalog möglicher Maßnahmen hilft hier nur indirekt weiter. Die relationale Lesart der Notwendigkeits- und Erforderlichkeitsvorschrift muss sich freilich in der Interpretation bewähren. Wäre unter „notwendig“ oder „erforderlich“ nur die eindimensionale Förderung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu verstehen, hätten wir es nicht mit einem „Abwägungsgebot“ zu tun. In den allermeisten Fällen solcher Vorschriften wird jedoch eine Bedeutung vorzuziehen sein, die dem polizeirechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ent-

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spricht. An diesem Punkt rückt die positive Übereinstimmungsprüfung in den Hintergrund.

Dass sich dann auch bei der „Abwägung“ Auslegung und Normbereichsanalyse als Konkretisierungshilfen empfehlen, spricht keineswegs dagegen. Weil es sich, wie wiederholt betont, auch bei der „Abwägung“ um einen rechtsgebundenen Vorgang handeln muss, drängt sich diese Einsicht vielmehr auf. Die Art und Weise des Rückgriffs auf Auslegungs- und Normbereichselemente folgt hier jedoch nicht der Struktur der „Subsumtion“, sondern eben derjenigen der „Abwägung“. Dies wird im nächsten Hauptteil (III.) vertieft werden. Angemerkt sei ferner, dass ebenso wenig, wie „Abwägung“ durch „Subsumtion“ ersetzt werden kann, diese durch jene ersetzt werden darf. Positive Anordnungen ohne rechtsgültiges „Abwägungsgebot“ durch „Abwägen“ zu „konkretisieren“, hieße eben, den Boden des Rechts zu verlassen und sich in Verletzung des Legalitätsprinzips über die positiven Vorgaben hinwegzusetzen. Das Charakteristische der positiven Vorschrift besteht darin, dass die Lösung des Interessenkonflikts legislativ bereits einen Schritt weiter in eine Zurechnungsprüfung objekt- und subjektbezogener Kriterien übergeführt worden ist. Wer hier anstelle der Konkretisierung dieser Kriterien „abwägt“, geht diesen Schritt wieder zurück und schwingt sich zur alternativen Rechtssetzungsinstanz auf. Was im Fall der relativen Anordnung geboten ist, ist im Fall einer positiven Anordnung unzulässig. Die Verteilung der juristischen Aufgabe der Normkonkretisierung auf „Subsumtion“ und „Abwägung“ dürfte auch aus einer allgemeinen Sichtweise nahe liegen, in der das Recht sowohl für Rechtssicherheit als auch für Einzelfallgerechtigkeit sorgen soll. Auch wenn die Zuordnung nicht absolut gelten mag, so steht die „subsumierende“ Rechtsanwendung tendenziell für die Rechtssicherheit und die „abwägende“ tendenziell für die Einzelfallgerechtigkeit. Während die Lösung des Interessenkonflikts durch die positiven Anordnungen bereits durch objekt- und subjektbezogene Kriterien vorstrukturiert ist, fällt die Konfliktlösung bei der relativen Anordnung sozusagen auf den nackten Konflikt zurück. Es ist wohl kein Zufall, dass rechtliche Entscheidungen im demokratischen Rechtsstaat im Normalfall immer beides verlangen.63 Wir finden im geltenden Recht also zwei verschiedene Typen von Vorschriften, die nach verschiedenen Arten von Rechtsanwendung verlangen: Positive Vorschriften sind im Wege einer Zurechnungskontrolle und -kor63 Man muss sich dafür übrigens nicht auf die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts berufen. In der Schweiz z. B. bindet Art. 5 Abs. 2 BV sämtliches staatliche Handeln und Art. 36 Abs. 3 BV insbesondere Grundrechtseinschränkungen an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

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rektur zu konkretisieren, relative Vorschriften im Wege der „Abwägung“, die zwischen den betroffenen Interessen nach Maßgabe der angeordneten intersubjektiven Relation „abwägt“. Was das genau bedeutet, wird nachfolgend zu erörtern sein. Hier ging es vorerst darum darzutun, dass die Relevanz von „Subsumtion“ und „Abwägung“ in der jeweiligen – je konkret zu bestimmenden – Normprogrammstruktur angelegt ist und dass im Fall relativer Normprogrammelemente anders vorzugehen ist als im Wege subjektund objektbezogener Zurechnung.

2. Konkretisierung erster und zweiter Stufe Um das nachfolgende „Abwägungsmodell“ nachvollziehen zu können, ist zudem die Differenzierung zwischen Konkretisierung erster und Konkretisierung zweiter Stufe bedeutsam. Die Konkretisierung erster Stufe erstreckt sich auf diejenigen Konkretisierungen positiver Anordnungen, die von bestimmten Normtexten ausgehend unmittelbar auf den Rechtsstreit bezogen werden können. D.h., der Sachverhalt kann den Anwendungsbedingungen der einschlägigen Normtexte durch Konkretisierung subjekt- oder objektbezogener Kriterien „direkt“ zugeschrieben werden, ohne dass andere Normtexte sie ersetzen können. Nicht gesagt ist damit, dass andere Normtexte nicht zur Interpretation der grundlegenden Normtexte herangezogen werden können. Im Gegenteil, mittels (unter anderem) systematischer Auslegung gewinnt ein Normprogramm erster Stufe gerade an Kontur. Durch systematische Auslegung werden die einschlägigen Normtexte allerdings nicht verdrängt, sondern bereichert. Führt die „systematische Auslegung“ hingegen dazu, dass der fragliche Normtext in einen Widerspruch zu einem anderen Normtext gerät, dann handelt es sich nicht um eine vermittelnde Lesart des ersten Normtextes, sondern um den Aufweis eines zweiten, kollidierenden Normtextes. Für diesen kollidierenden Normtext ist auf der ersten Stufe der Konkretisierung ein eigenes Normprogramm auszuarbeiten. In der Konkretisierung erster Stufe geht es, wenn man so will, um die unmittelbare Anwendung des (nicht im streng verwaltungsrechtlichen Sinn zu verstehenden) Legalitätsprinzips. Dieses Herangehen an den Rechtsstreit hat zur Folge, dass mehrere Konkretisierungen erster Stufe durchzuführen sein können, weil im konkreten Fall mehrere, kollidierende Rechtsgrundlagen zu beachten sind. In einem klassischen polizeirechtlichen Fall z. B. gilt eine Vorschrift des kommunalen Polizeireglements als gesetzliche Grundlage für eine Videoüberwachung auf öffentlichem Grund. Im gleichen Fall kann aber auch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung als Rechtsgrundlage betrachtet werden. Beide zu-

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grunde liegenden Normtexte beziehen sich im erläuterten Sinn „direkt“ auf den konkreten Fall und können durch andere Normtexte zwar im Rahmen der Konkretisierung interpretiert, aber nicht durch sie ersetzt werden, auch nicht durch einander. Von beiden Rechtsgrundlagen ausgehend, ist je ein Normprogramm auszuarbeiten.

Die Konkretisierung zweiter Stufe bezieht sich demgegenüber auf Rechtsanwendungsfragen, die sich stellen, wenn Konkretisierungen erster Stufe zu Kollisionen führen. Das ist immer dann der Fall, wenn aufgrund verschiedener einschlägiger Normtexte widersprüchliche Normprogramme und im Ergebnis widersprüchliche Rechtsnormen zu konkretisieren sind. Die Aufgabe der Konkretisierung zweiter Stufe besteht daher in der Auflösung der Kollision. Der Konflikt der Streitparteien verlagert sich hier von der Frage, ob die strittige Norm im konkreten Fall (mit ihrer bestimmten Bedeutung) überhaupt zur Anwendung kommt, auf die Frage, ob und wie weit sie sich gegenüber einer anderen behaupten kann. Geht es bei der Konkretisierung erster Stufe zunächst darum, die Rechtsgrundlagen für die verschiedenen involvierten Interessen nachzuweisen, sie überhaupt ins Recht zu setzen, so geht es bei der Konkretisierung zweiter Stufe um die Generierung einer Kollisionsnorm, welche die durch die Konkretisierung erster Stufe nunmehr verrechtlichte Interessenkollision entscheidet. Auch hierfür braucht es wieder eine Rechtsgrundlage. So gesehen, haben wir es beim Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit einer Kollisionsnorm zu tun. Jedenfalls im zuvor angedeuteten Grundrechtsfall fällt es unter sein Regime, die Kollision zwischen dem polizeilich begründeten Interesse an der Videoüberwachung und dem grundrechtlichen geschützten Interesse an deren Verhinderung aufzulösen.

Die Struktur der Konkretisierung zweiter Stufe folgt im Grundsatz derjenigen der Struktur der Konkretisierung erster Stufe. D.h., auch hier sind Normtexthypothesen durch Auslegung zu Normprogrammen zu verarbeiten und ist der Sachverhalt über einen Sachbereich zum Normbereich zu konkretisieren. Normprogramm und Normbereich lassen sich hier als Kollisions(norm)programm und Kollisions(norm)bereich definieren. Aufgrund der vorausgesetzten Konkretisierung erster Stufe nimmt sich die Konkretisierung zweiter Stufe in der Regel komplexer aus als diejenige erster Stufe. Bei einfach kodierten Kollisionsprogrammen kann sie jedoch auch trivial ausfallen. Mit der Komplexität der Konkretisierungen unter dem Regime des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Grundrechtsfällen, kontrastieren z. B. die in Bundesstaaten üblichen Vorrangregeln bzgl. Bundes- und gliedstaatlichem Recht wie der Vorrang des Bundesrechts64 oder das in der Schweiz verfassungsrechtlich verankerte Maßgeblichkeitsgebot zugunsten von Bundesgesetzen65. 64 65

Z. B. Art. 49 Abs. 1 BV. Art. 190 BV.

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Die Charakterisierungen der Konkretisierung erster Stufe als Konkretisierung direkt auf den Fall bezogener positiver Anordnungen dürften bereits angedeutet haben, dass die positive und relative Anordnungsstruktur von Normprogrammen einerseits und die Konkretisierungsstufe andererseits in einer bestimmten Beziehung zueinander stehen. In der Tat wird, jedenfalls in der vorliegend thematisierten Fallkonstellation einer klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung, davon ausgegangen werden dürfen, dass sich Konkretisierungen erster Stufe auf im Wesentlichen positive Anordnungen beziehen. Denn mit ihrer proportionalen Struktur setzen relative Anordnungen immer bereits eine durch gegenläufige subjekt- oder objektbezogene Kriterien definierte Kollision voraus. Um „ins Recht“ zu kommen, braucht man immer zuerst eine zurechenbare Rechtsposition, auf die man sich berufen kann.66 Rechtstechnisch verbindet sich die Konkretisierung zweiter Stufe hingegen nicht zwingend, wie man vielleicht meinen könnte, mit relativen Anordnungen. Statt Normenkollisionen relational zu lösen, können die kollidierenden Normen auch hierarchisch zu positionieren sein. Hierfür können wieder die vorherigen Beispiele der Verhältnismäßigkeit einerseits und etwa bundesstaatlicher Vorrangregeln andererseits herangezogen werden. Während der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach einer Relationierung der prima facie berechtigten Interessen verlangt, werden die bundes- bzw. gliedstaatlich berechtigten Interessen, jedenfalls im Falle des Vorrangs des Bundesrechts, hierarchisch positioniert.

Über die „Abwägung“, die es hier bei Vorliegen eines relativen Normprogramms durchzuführen gilt, kann aber bereits gesagt werden, dass sie sich in der Konkretisierung zweiter Stufe abspielen wird und dabei auch die vorausgesetzten Konkretisierungen erster Stufe berücksichtigt werden müssen. III. „Abwägung“ als Relationsnorm-Konstruktion Dass Juristinnen und Juristen ihre eigene Tätigkeit nicht richtig beschreiben, ist nichts Neues. Allzu lang sprach man etwa davon, das Lösen von Rechtsproblemen bestünde im Auffinden einer dem Fall vorgegebenen Rechtsnorm, und bis vor Kurzem gab man noch nicht zu, dass die Wirklichkeit für das Recht nicht einfach einen externen Konterpart darstellt, sondern integral mit ihm verknüpft ist. In Bezug auf das „Abwägen“ verhält es sich ähnlich. Der ungeheure theoretische Anspruch der „Abwägung“ scheint ihrer tiefer gehenden Rekonstruktion ebenso im Weg zu stehen wie ihre Effektivität in der Praxis. So arbeitet sich die Kritik eher an der grundsätz66 Diese funktionale Zuordnung ist nicht absolut zu verstehen. Denn, wie oben bereits bemerkt wurde, tragen auch positive Anordnungen den Anspruch auf richtige Relationierung mit sich. Nur hat sich dieser dort subjekt- und objektbezogen sedimentiert.

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lichen Unhaltbarkeit der „Abwägung“ oder an der richtigen institutionellen Kontrolle des notwendigen Übels ab, und wohlgesonnenere Positionen beschränken sich auf logische Oberflächenanalysen. Die Oberflächlichkeit, mit welcher die praktisch omnipräsente „Abwägung“ bis heute durchdrungen ist, deutet auf eine Diskrepanz zwischen praktischem Know-how und theoretischem Know-that hin. Wenn die Theorie der Praxis jedoch nicht hinterher hinken, sondern der Praxis Orientierungshilfe leisten und ihr kritischer Maßstab sein will, muss die Distanz zwischen erfolgreicher Praxis und theoretischer Reflexion verringert werden. Der nachfolgende, auf den vorstehenden Überlegungen zur Strukturierung des Abwägungsproblems beruhende Modellentwurf stellt nun einen Versuch dar, einen Beitrag hierzu zu leisten. – Was genau tut Justitia, wenn sie vorgibt „abzuwägen“? 1. Vom Interessenkonflikt zum Rechtskonflikt

Ausgangs- und Kristallisationspunkt der Abwägung ist der Interessenkonflikt. Auf dem Spiel stehen bei der Abwägung danach Interessen. Bei Interessen handelt es sich eigentlich eher um Willenszustände (man hat ein Interesse an etwas) als um die Inhalte, auf welche sich die Willenszustände beziehen. Zieht man außerdem in Betracht, dass die Interesseninhalte aus der Sicht der Interessierten immer einem Ziel oder Zweck dient, so könnten sie vielleicht am besten als Mittel oder Maßnahmen verstanden werden. Dem eingespielten Sprachgebrauch zuliebe soll der Interessenbegriff in der vorgetragenen Argumentation aber vorerst auch für die Interessen- bzw. Abwägungsinhalte gelten. Man spricht auch von Güter- oder Rechtsgüterabwägung und rekurriert damit darauf, dass die zu realisierenden Interessen für die Betroffenen von bestimmtem Wert sind und mit der Interessenrealisierung somit bestimmte Güter, sofern rechtlich geschützt: Rechtsgüter, gefördert werden. Im Unterschied zu den konkreten Interessen haben die entsprechenden Güter eine abstraktere Form. Sie sind in diesem Kontext synonym mit (ebenso abstrakt verstandenen) Werten. Empfehlenswert ist, jedenfalls die konkreten Interessen von den dahinter stehenden Zielen/Zwecken und Gütern/Werten zu unterscheiden. Zu vermerken ist auch, dass sich Interessen, Zwecke, Güter usw. immer auf bestimmte einzelne Subjekte beziehen, wobei es sich bei diesen Einzelsubjekten sowohl um Individual- als auch Kollektivsubjekte handeln kann. Beispiel bezogen auf ein Individualsubjekt: Jemand möchte sich auf öffentlichem Grund aufhalten, ohne dabei von Überwachungskameras gefilmt zu werden (Ziel, Zweck) und hat daher ein Interesse daran, dass keine Überwachungskameras in

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Betrieb genommen werden (Interesse). Dahinter steht das für sie wichtige Gut (auch Wert) der informationellen Selbstbestimmung. Insoweit diese Konkretisierung der informationellen Selbstbestimmung rechtlich, z. B. grundrechtlich geschützt wird, kann auch von einem Rechtsgut gesprochen werden. Beispiel bezogen auf ein Kollektivsubjekt: Durch Aufnahme einer neuen Vorschrift ins Polizeireglement will eine Gemeinde bestimmte öffentliche Plätze durch Einrichtung von Überwachungskameras (Interesse) besser vor Ordnungswidrigkeiten und Straftaten schützen, zumindest eine effektivere Strafverfolgung gewährleisten (Ziel, Zweck). Sie will damit dem Rechtsgut/Wert der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erhöhten Schutz zukommen lassen.

Das Charakteristische des Interessenkonflikts, wie er sich typischerweise bei Verhältnismäßigkeitsfragen darstellt, besteht sodann darin, dass sich die Ziele verschiedener Subjekte so durchkreuzen, dass das jeweilige Interesse des einen demjenigen des andern im Wege steht. Die Realisierung des Interesses des einen Subjekts geht auf Kosten der Interessenrealisierung des anderen und umgekehrt. Sofern die beiden vorgenannten Beispiele koinzidieren, steht das Interesse des Individualsubjekts, die Installation der Videokameras zu verhindern, in Konflikt mit dem von der Gemeinde der Rechtsgemeinschaft zugedachten Interesse, die Überwachung einzurichten.

Dabei können noch zwei Unterkonstellationen des Interessenkonflikts, wie er sich in den typischen Anwendungsfällen der Verhältnismäßigkeitsprüfung stellt, unterschieden werden. Dies wird nachvollziehbar, wenn man sich vor Augen führt, dass solche Konflikte zum einen darauf beruhen können, dass die eine Partei die andere durch ihre eigene Interessenverfolgung direkt beeinträchtigt. Zum andern kann er darauf beruhen, dass die eine Partei die andere in weniger direkter Weise dadurch beeinträchtigt, dass sie durch ihre eigene Interessenverfolgung eine Unterstützung vorenthält. Man könnte das Erste als Rücksicht-Konstellation und das Zweite als Solidaritäts-Konstellation bezeichnen.67 Bringt eine Person etwa mit wirtschaftlichen Motiven eine Ware mit Gefahrenpotenzial für Konsumentinnen oder Dritte in Verkehr, so beeinträchtigt dieses wirtschaftlich motivierte Interesse das, etwa gesundheitlich begründete, Interesse der Konsumentinnen oder Dritten direkt (Rücksicht-Konstellation). Auch im Fall der Videoüberwachung hat eine Privatperson ein Interesse, nicht an ihrer freien Lebensgestaltung gehindert zu werden. Fragt man auf der anderen Seite aber danach, worauf das Interesse an der Videoüberwachung gründet, so gelangt man im Wesentlichen zur Absicht, zugunsten möglicher Opfer von Gewalt67 Dabei spielen beide Unterkonstellationen noch im Rahmen dessen, was später zusammenfassend als Kollisions-Konflikt betrachtet wird. Davon kann insgesamt wieder der Distributions-Konflikt unterschieden werden, welcher aber nicht mehr den typischen Anwendungsfall der Verhältnismäßigkeit darstellt. Dazu dann unten Kapitel VI.

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delikten eine verbesserte Strafverfolgung zu gewährleisten. Die sozusagen „kollateral“ überwachte Person beeinträchtigt mit ihrem Interesse gegen die Videoüberwachung das potenzielle Gewaltopfer also nicht direkt. Das tut der Gewalttäter. Mit dem gegen die Videoüberwachung gerichteten Interesse beeinträchtigt man das mögliche Gewaltopfer jedoch indirekt dadurch, dass man ihm bei der Bewältigung der „externen“ Beeinträchtigung die Unterstützung durch das fragliche Mittel verweigert (Solidaritäts-Konstellation).

Es wird sich noch zeigen, dass die Unterscheidung bei der methodischen Bewertung der involvierten Interessen eine Rolle spielt. Angemerkt sei noch, dass die im Rechtsstreit formulierten Interessen immer schon ein Stück weit korrigiert sein dürften, weil, wer Recht bekommen will, gehalten ist, seine Interessen rechtlich anschlussfähig zu machen. Für die rechtliche „Abwägung“ relevant sind die in diesem Sinne fraglichen, postulierten Interessen. Was die Streitparteien „wirklich“ wollen, steht hier nicht im Vordergrund. Die „eigentlichen“ Interessen sind nur im Maße ihrer ausdrücklichen Manifestierung rechtsinteressant. Rechtsrelevant sind sie schließlich nur im Umfang ihrer konkreten rechtlichen Berechtigung. Der eingespielte juristische Sprachgebrauch ist hier weniger präzise. Hinzu kommt, dass die postulierten konkreten Interessen der Betroffenen leicht mit dem generellen prozessrechtlichen Interesse, Recht zu bekommen, verwechselt werden. Die überschießende Rede von „Interessen“, „Interessenkonflikt“ und „Interessenabwägung“ hindert aber nicht daran, der „Abwägung“ auf den Grund zu gehen. Es sollte nur klar geworden sein, dass es bei der „Abwägung“ darum geht zu bestimmen, ob und wie weit konkrete (postulierte) Interessen im Sinne instrumenteller Zweck-Mittel im Lichte bestimmter Güter oder Werte realisiert werden dürfen. Der Interessenkonflikt wirft die Frage auf, ob und wie weit ein solches Interesse eines Subjekts angesichts eines gegenläufigen Interesses eines anderen Subjekts zu schützen ist. Es sei noch einmal daran erinnert, dass sich bei der „Subsumtion“ genau dieselbe Frage stellt. Anders als bei der „Subsumtion“ ist für die Beantwortung dieser Frage nun nicht eine Proposition, sondern nur eine Proportion maßgebend. Das Interesse eines Subjekts soll schlicht so weit realisiert werden dürfen, wie es mit dem Interesse eines anderen Subjekts im rechten, von der intersubjektiven Relation vorgegebenen Verhältnis steht. An diesem Punkt eines „Abwägungskonzepts“ entscheidet sich nun, ob man die „Abwägung“ aus der Totalperspektive vollzieht oder ob man Grundsätzen demokratisch-rechtsstaatlicher Methodik folgt und den buchstäblich maßgeblichen „Zwischenschritt“ behutsam geht. Wer totalitär vorgeht, versucht jetzt, das Interesse des einen Subjekts im Verhältnis zum Interesse des anderen entsprechend ihren Gewichten „abzugleichen“, „aus-

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zugleichen“, eben „abzuwägen“. Wer jedoch methodisch vorgehen will, sieht, dass die Gewichte der einzelnen Interessen nicht schon vorgegeben sind. Sie müssen ihnen erst gegeben werden. Und diese Gewichts-, genauer: Wertzumessung ist nicht aus einer Perspektive auf das Ganze, sondern differenziert, für jedes zur Diskussion stehende subjektive Interesse einzeln vorzunehmen. Die Rede von der Rechtsanwendung als „wertende“ oder „bewertende“ Tätigkeit hat hier einen wörtlichen Sinn: Um mehrere Interessen gegeneinander abwägen zu können, muss man den Interessen zuvor jeweils einen Wert zugemessen haben.68 Eine solche interessenbezogene Wertzumessung nimmt man auch dann vor, wenn man totalitär „abwägt“. Auch wenn man sich diesen Schritt nicht bewusst macht oder ihn verdeckt, hat man ihn gemacht. Denn, was vor der Abwägung klar war, waren höchstens die Werte, welche die Streitparteien den Interessen je subjektiv gaben. Die für die Abwägung maßgeblichen Rechtswerte dieser Interessen waren jedoch noch unbestimmt. Weil die Abwägung diese Rechtswerte aber voraussetzt, müssen sie ihnen dazwischen irgendwo zugemessen worden sein. Diese kritische Analyse der „Abwägung“ korrespondiert mit dem Befund bei der „Subsumtion“, dass das zu Subsumierende nicht einfach vorliegt, sondern in einem Prozess methodischer Zurechnung zuerst herauszuarbeiten ist. Im gleichen Sinn stehen auch bei der „Abwägung“ die Gewichte nicht schon im Vorhinein fest, sondern es gilt, sie den fraglichen Interessen in methodisch sorgfältiger Weise erst zuzumessen. Die Abwägung als solche ist dann – wie die Subsumtion – nur noch eine logische Trivialität. Dass die Rechtswerte der fraglichen Interessen nicht schon von Anfang an feststehen, heißt freilich nicht, dass die Interessen bis zu ihrer rechtlichen Bewertung rechtlich „wertlos“ sind. Sobald sie den Anwendungsbedingungen der relativen Anordnung als Gegenstände der konkreten Abwägung zugeschrieben werden, werden sie bereits als prima facie rechtlich wertvoll, als rechtserheblich anerkannt. Diese Rechtserheblichkeit setzt allerdings einiges voraus. Sie spricht die erläuterte Konkretisierung erster Stufe an, welche der Wertzumessung im Rahmen der Konkretisierung zweiter Stufe vorausgehen muss. Bevor die 68 Mit „Wert“ oder „Normwert“ wird in diesem Zusammenhang nicht auf eine ominöse philosophische Entität rekurriert. Es handelt sich hier um rechtstechnische Terme im Rahmen des als Zumessungsprozess analysierten rechtlichen „Abwägens“. Die Werte werden hier nicht vorausgesetzt, sondern bestimmt. Mit ihrer Bestimmung wird auch keine generelle Aussage über „den“ Wert „des“ daran anknüpfenden Ziels oder (jetzt abstrakt verstandenen) Rechtsguts oder eben Rechtswerts getroffen. Es geht hier lediglich darum, die im konkreten Fall methodisch zumessbaren Normwerte zu bestimmen, soweit dies zur Beachtung der relativen Anordnung eines Relationsnormprogramms nötig ist.

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Interessen bewertet werden können, brauchen sie einen Referenzrahmen. Das bedeutet, dass den Interessen Rechtsgrundlagen zugrunde gelegt werden müssen. Die Interessen der Streitparteien müssen rechtlich geltenden Normtexten zugerechnet und schließlich von einer im konkreten Fall auf erster Stufe konkretisierten Rechtsnorm getragen werden können. In einer Situation der „Abwägung“ werden die als Rechtsgrundlagen herangezogenen Normtexte widersprüchliche Rechtsnormen erster Stufe kreieren lassen, kurz: werden bereits ihre Normprogramme miteinander kollidieren. Im Beispielfall der Videoüberwachung könnte die eine Partei etwa den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung geltend machen, die andere die demokratisch legitimierte, in verfassungsrechtlicher Sicht auch kompetenz- und zuständigkeitsgemäße Rechtsgrundlage des geltenden Polizeirechts. Beide Parteien haben auf einer ersten Konkretisierungsstufe Recht, obwohl sich die herangezogenen Rechtsgrundlagen widersprechen.

Die rechtstechnische Ausgangssituation der „Abwägung“ ist demnach eine Normprogrammkollision erster Konkretisierungsstufe. Sie läuft auf einen Konflikt von Rechtspositionen hinaus, welcher den Streit vorerst unentschieden lässt. Die Parteien haben sich im Recht zuerst einmal positioniert.

2. Relationierung der Rechtspositionen

Die Rechtspositionen sind in der „Abwägung“ zu relationieren. Die prima facie berechtigten Interessen sollen nun auf einer zweiten Stufe der Rechtsnormkonkretisierung der einschlägigen relativen Anordnung entsprechend zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Für die klassische Verhältnismäßigkeitskonstellation lassen sich die Abläufe in der Relationierung im Einzelnen mit folgenden Textstufen beschreiben: Im Unterschied zur Konkretisierung erster Stufe bildet nicht nur der Sachverhalt, sondern auch die damit verbundene Konstellation der Normenkollision die Ausgangslage, weshalb sich die auf der zweiten Konkretisierungsstufe zu erarbeitende Rechtsnorm zugleich als Kollisionsnorm darstellt. Da im vorliegenden Kontext zudem definitionsgemäß nicht von einem positiven, sondern von einem relativen Kollisionsprogramm auszugehen ist, kann sie präziser auch als Relationsnorm charakterisiert werden. Das Kollisions(norm)programm, welches hier die Form eines Relations(norm)programms hat, umfasst zwei Teile. Der erste Teil besteht im Relations(norm)programm im engeren Sinn. Dieser Teil des Relationsprogramms bildet die Grundlage der „Abwägung“. Ohne ihn läge kein „Abwägungsgebot“ vor. Soweit es aber vorliegt, umfasst das Relations(norm)programm im weiteren Sinn zudem alle diejenigen normativen Vorgaben, anhand derer die infrage stehenden Interessen unter dem Regime des Rela-

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tionsprogramms im engeren Sinn zu bewerten sind. Dem Relations(norm)programm steht zudem ein Relations(norm)bereich gegenüber, der – wie aus dem Grundmodell der Rechtsnormkonstruktion bekannt – vom Normprogramm (hier: Relationsnormprogramm) definierte Ausschnitt des Sachbereichs. Entsprechend dem engeren und weiteren Sinn des Relations(norm)programms umfasst der Relations(norm)bereich zum einen einen Relations(norm)bereich im engeren Sinn, zum andern die von den normativen Bewertungsgrundlagen definierten Bereiche. Wie in der Konkretisierung erster Stufe bildet sich die Relationsnorm dann aus ihrem Normprogramm und ihrem Normbereich. Dreh- und Angelpunkt dieses Relationierungsprozesses ist das Relationsprogramm im engeren Sinn. Auch dieses liegt allerdings nicht einfach „vor“. Auch die Anwendungsbedingungen (Relationierungsgegenstand), das Relationierungsgebot als solches (Relationierungsgebot) und das von ihm geforderte Verhältnis der Normwerte (Normwertverhältnis) des Relationsprogramms im engeren Sinn sind Rechtsfragen, deren Antworten nicht vorausgesetzt werden können. Die Rechtsbindung der „Abwägung“ kann nur gewahrt werden, wenn schon ihre Rahmenbedingungen methodisch korrekt bestimmt werden. Erneut ist die Semantik lokal auszuarbeiten. Ob ein sich hypothetisch anbietender Relationsnormtext korrekterweise überhaupt für die Lösung der Normenkollision herangezogen werden darf, ist sorgfältig zu prüfen. Im Beispielfall der Videoüberwachung kommt klarerweise der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum Zug. Hinter der eingespielten Grundrechtsdogmatik steht allerdings eine methodisch vertretbare (im vorliegenden Fall einfache) Begründung. Der Fall liegt aber nicht immer so einfach. Wie steht es z. B. bei einer Verletzung der Rechtsgleichheit durch einen ansonsten einwandfreien Erlass? In der Schweiz etwa gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei „Einschränkung von Grundrechten“69, wobei auch die Rechtsgleichheit im Katalog der Grundrechte aufgeführt ist70. Ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch auf Kollisionen der Rechtsgleichheit anwendbar?71 Einfach ist die methodische Begründung jedenfalls nicht mehr.

Als Hilfsmittel kommen hier wieder die bekannten Auslegungselemente zum Einsatz. Das Relationierungsgebot, d.h., dass – unter der Voraussetzung der Einschlägigkeit der Anwendungsbedingungen eines Relationsnormtextes im konkreten Fall – nicht subjektive und objektive Kriterien, sondern eine intersubjektive Relation zu konkretisieren ist, als solches so69

Art. 36 BV, Überschrift. Art. 8 BV. 71 Dazu etwa René Wiederkehr, Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen, in: Aktuelle Juristische Praxis 17 (2008), Nr. 4, S. 394–412, m. w. H. 70

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wie das mit ihm einhergehende spezifisch gebotene Wertverhältnis sind ebenfalls zu begründen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bietet hier ein gutes Übungsbeispiel. Dass er in einem bestimmten Fall überhaupt eine relative Anordnung trifft, also ein Relationierungsgebot aufstellt, mag sich noch einigermaßen rasch plausibel machen lassen. Schon schwieriger ist hingegen die Frage zu beantworten, genau welches Wertverhältnis er eigentlich vorschreibt.

Konkreten Anschluss an die Wirklichkeit finden diese beiden letzten Elemente dann erst in der Bewertung der zur Diskussion stehenden Interessen. 3. Wertprogrammgesteuerte Wertzumessung

Kommt man aufgrund sorgfältiger Auslegung zum Schluss, dass die Normenkollision unter das Regime einer Relationsnorm fällt, so ist der Rechtsstreit im Wesentlichen dadurch zu lösen, dass den postulierten Interessen Normwerte zuzumessen sind. Die Aufgabe besteht im nächsten Schritt darin, auf die Interessen bezogene Bewertungs- oder kurz Wertprogramme auszuarbeiten, nach deren Maßgabe die Werte zuzumessen sind. Die Rede ist nun vom weiteren Bestandteil des Relationsprogramms im weiteren Sinn und seiner Durchführung im Gesamtzusammenhang der Normkonkretisierung. a) Erstellung von Wertprogramm und Wertbereich Wie kommt man zu diesen Wertprogrammen? Wenn man an diesen Punkt der Konkretisierung zweiter Stufe steht, hat man sie im Grunde schon entworfen. Sie stecken in den die strittigen Interessen als rechtserheblich stützenden Normprogrammen. Weil sie beim „subsumierenden“ Vorgehen jedoch nur dienende Funktion haben, mögen sie vorerst noch im Hintergrund geblieben sein. Wenn es aber darum geht, der relativen Anordnung des intersubjektiven Verhältnisses Inhalt zu geben, rücken sie in den Vordergrund. Die Bewertungs- oder Wertprogramme sind das Ergebnis korrekter teleologischer Interpretation. Das kontroverse, gleichermaßen hochgelobte wie geschmähte teleologische Auslegungselement hat hier sogar seine eigentliche Funktion. Bekanntermaßen „Sinn und Zweck“ einer Vorschrift nachgehend, betrifft es die Frage, wozu eine fragliche Vorschrift gut sein soll. Aus der Beantwortung dieser Frage soll man dann weitere Rückschlüsse auf die Bedeutung der konkreten Anordnung ziehen können. Weil die Interpretation der positiven Anordnung eines Normprogramms mittels des teleologischen Elements einen „Umweg“ über den Zweck nimmt („Die Vorschrift soll für dieses und jenes gut sein, deshalb muss gelten . . .“), kann man insofern von einem indirekten Element sprechen. Bei der Bestimmung

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eines Wertprogramms besteht das Auslegungsziel aber in der Zweckbestimmung selbst. Der Zwischenschritt hat hier eine eigene Funktion. Am besten klar machen kann man sich dies anhand eines konkreten Rechtsproblems. Im klassischen Grundrechtsfall, etwa eines polizeilichen Eingriffs in ein Freiheitsrecht, müssen, bevor man zum Kernproblem der Wertzumessung vordringen kann, die als rechtserheblich qualifizierbaren Interessen und Ziele bestimmt worden sein. Auf der einen Seite besteht das Interesse im konkretisierten öffentlichen Interesse, auf der anderen Seite in der konkretisierten grundrechtlich geschützten Freiheit. Damit die vorgebrachten Interessen wirklich als rechtserheblich gelten dürfen, müssen sie sich in der Konkretisierung erster Stufe der Polizeivorschrift bzw. dem grundrechtlichen Schutzbereich zugerechnet haben lassen. Bei dieser Zurechnung half (unter anderem) das teleologische Element bereits über den „Umweg“ des Zwecks der Polizeivorschrift bzw. des Grundrechts dabei, das zur jeweiligen Vorschrift gehörige Normprogramm zu definieren. Im Wege genau derselben teleologischen Interpretation gilt es aber auch, die normativen Vorgaben zu bestimmen, an denen sich die Bewertungen der Interessen ausrichten müssen. Das jeweilige Wertprogramm ist mithilfe der Zweckkontexte zu definieren, die sich durch methodisch korrekte Zuschreibung als rechtlich relevant ausweisen lassen. Und für diese Aufgabe steht die teleologische Interpretation. Zusätzlich zur „Zwischenfrage“, was die Polizeivorschrift bzw. grundrechtliche Freiheit genau fordert bzw. erlaubt (Normprogramm) erhält die „Zwischenfrage“, genau wozu sie dies tut (Wertprogramm), eine eigene Bedeutung. Von ihrer Beantwortung wird es maßgeblich abhängen, welche Rechtswerte den vertretenen Interessen im konkreten Fall zuzumessen sind. Rechtlich maßgeblich sind nur, aber alle die Wertgesichtspunkte, die sich durch methodisch korrekte teleologische Auslegung den fraglichen Interessen zuschreiben lassen. Angesichts dieser Bedeutsamkeit der teleologischen Interpretation für die „Abwägung“ bedarf sie einer tiefer gehenden Strukturierung, als sie ihr heute zugedacht wird. Der Zweckhorizont einer Anordnung ist mindestens hinsichtlich zweier Aspekte zu vertiefen: hinsichtlich der relevanten Subjektdefinition und der Kontextualisierung des relevanten Zweckgefüges. In dieser Studie können dazu nur Andeutungen gemacht werden. Es wurde bereits gesagt, dass Interessen-, Zweck- oder Wertgesichtspunkte immer nur in Bezug auf bestimmte einzelne Subjekte Sinn machen. Etwas ist immer nur für jemanden sinnvoll, wertvoll, wichtig usw., sei dieses Subjekt ein Individual- oder Kollektivsubjekt. Die Subjektdefinition ist demnach unverzichtbarer Bestandteil einer nachvollziehbaren Definition des Wertprogramms. Den vorherigen Ausführungen zur Rechtsgebundenheit der Wertzumessung folgend, sind dabei nicht etwa die tatsächlichen Charakte-

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ristika der Streitparteien entscheidend, sondern die rechtlich relevanten der rechtserheblichen Subjekte. Die Frage ist, wem – mit welcher rechtlich zuzumutenden Belastbarkeit – die Vorschrift im konkreten Fall dienen soll. In der Grundrechtsdogmatik ist diese Frage unter den Stichworten „öffentliches Interesse“ und „persönlicher Schutzbereich“ immerhin bei der Normprogrammdefinition angelegt. Bei der Wertprogrammbestimmung ist sie von nicht geringerer Bedeutung. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung steht allen Menschen zu. Als Referenzsubjekt des Interesses, von Videoüberwachung verschont zu bleiben, kommt somit prima facie jedes denkbare Rechtssubjekt infrage. Bei der späteren Bewertung des Interesses wären dementsprechend sämtliche Subjektkonstruktionen zu erwägen, die unter den objektiven Umständen des konkreten Falls rechtlich zulässig sind. Ins Gewicht fallen würden freilich die sensibelsten, d.h. die am stärksten in ihrer informationellen Selbstbestimmung betroffenen. Allerdings spielen hier auch prozessrechtliche Vorgaben mit hinein, welche die Beschwerdegründe an subjektive Merkmale einer Person wie jener der Beschwerdeführerin binden können. Unterliegt die Beschwerde z. B. der Voraussetzung eines persönlichen Rechtsschutzinteresses, so darf, sofern die Beschwerdeführerin selbst nicht blind ist, die Subjektdefinition nicht auf Blinde ausgedehnt werden. Blinde müssten sich selber beschweren. Fragt man auf der anderen Seite danach, wem die Videoüberwachung dienen soll, so führt dies zunächst zum diffusen Subjekt der „Öffentlichkeit“ oder der „Rechtsgemeinschaft“ im Ganzen. Infrage kommt damit prima facie ebenfalls jede und jeder, der und dem im Rahmen der Rechtsordnung Rechtssubjektivität zukommt. Die Voraussetzung des öffentlichen Interesses verlangt ja gerade, dass die Polizeivorschrift im gleichmäßigen Interesse aller liege. Soweit möglich, sind dann auch auf der Seite des öffentlichen Interesses konkretere Typen von Rechtssubjekten zu definieren. Ins Auge springen auch hier v. a. diejenigen, denen die angestrebte Maßnahme besonders dient. Im Fall der Videoüberwachung wäre z. B. besonders an potenzielle Opfer von Sexualdelikten zu denken. Zusätzlich zu den Opfern müsste die Subjektdefinition aber auch für alle weiteren Rechtssubjekte offen bleiben, wenn es z. B. um das öffentliche Interesse an effektiver Strafverfolgung geht. Letzteres könnte z. B. soweit systematisch-teleologisch begründet werden, wie die Strafverfolgung von Offizialdelikten zur Diskussion stehen.

Außer auf den konkreten Subjektbezug des Bewertungsmaßstabs ist auch auf den konkreten Zweckbezug des verfolgten Interesses hinzuweisen. Es genügt demokratisch-rechtsstaatlichen Maßstäben nicht, etwa aufseiten des öffentlichen Interesses die „Sicherheit und Ordnung“ anzurufen oder auf der anderen Seite die allgemeine Freiheitssphäre des Grundrechts zu benennen. Die allgemeinen Wertehorizonte, die sich mit den einschlägigen Vorschriften verbinden, müssen für den vorliegenden Fall konkretisiert werden. Gefragt ist nach den konkreten legitimen Zwecken der jeweiligen Vorschriften. Mit dieser zusätzlichen Größe gewinnt der Werthorizont zu-

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sätzlich an Operabilität und erhält die Struktur „Subjekt – Interesse – Zweck – Rechtsgut“. Hinzu kommt, dass Zwecke und Werte (im Sinne von Gütern) niemals allein stehen. Die konkreten Interessen sind immer in einen weiteren Zusammenhang von Zwecken und Gütern/Werten verflochten, die miteinander korrelieren. Der Wert (im Sinne von Gewicht) eines Interesses bemisst sich daher nicht am isolierten konkreten Zweck und dem diesem Zweck zugrunde liegenden Rechtsgut allein, sondern am ganzen Nexus von Zwecken und Rechtsgütern. Auch zur Erschließung des weiteren Zweck- und Rechtsgüternexus bietet die teleologische Interpretation Hand. Gefragt sind hier besonders die systematischen Zusammenhänge der konkreten Zwecke mit weiter gehenden Zwecken sowie die Zusammenhänge der mit den Zwecken korrespondierenden Rechtsgüter mit weiter gehenden Rechtsgütern. Die vollständige Struktur eines Wertprogramms lautet demnach „Subjekt – Interesse – Zwecknexus – Rechtsgüternexus“. Bezogen auf das potenzielle Opfer eines Sexualdelikts lässt sich als konkreter Zweck der Videoüberwachung etwa in erster Linie die Vermeidung der Straftat erblicken (Prävention). Für ein solches Opfer steht dabei aber vieles mehr auf dem Spiel, z. B. die sexuelle Integrität sowie die physische und psychische Unversehrtheit mit allen Konsequenzen der Aufarbeitung und Verarbeitung des Delikts. Mit dem Interesse an effektiver Strafverfolgung verknüpft wären z. B. ebenfalls das Interesse an Prävention, nämlich insofern die effektive Strafverfolgung wenigstens in Zukunft größere Präventionswirkung entfalten könnte, sowie das Vertrauen in die Strafverfolgung. Ob man an bestimmten Orten von videotechnischer Aufzeichnung verschont bleibt, hängt z. B. eng damit zusammen, ob und unter welchen Bedingungen man sich an diese Orte begibt. Je nach Lage, Anlage und Alternativen zu den überwachten Orten könnte sich dies in bestimmtem Maße auch hemmend auf das Interaktions- und Kommunikationsverhalten in der Öffentlichkeit auswirken, was auch die Intensität demokratischer Partizipation berühren kann.

Außerdem ist bei der Bestimmung des Wertprogramms auch darauf zu achten, ob eine Rücksichtnahme-Konstellation oder eine Solidaritäts-Konstellation vorliegt. Dies hat nämlich Konsequenzen. In der RücksichtnahmeKonstellation ist die Person, welche eine Grundrechtsverletzung behauptet, vollumfänglich dafür verantwortlich, wie weit sie mit ihrer Interessensverfolgung eine andere Person beeinträchtigt. Theoretisch könnte sie die Beeinträchtigung der anderen Person völlig beenden. In der Solidaritäts-Konstellation kommt die Beeinträchtigung der anderen Person demgegenüber nicht von der grundrechtstragenden Gegenpartei, sondern gewissermaßen von außen. Die Grundrechtsträgerin ist nur dafür verantwortlich, wie weit sie ihrem Mitglied der Solidargemeinschaft bei der Bewältigung dieser externen Beeinträchtigung zu Hilfe kommt oder nicht. Das heißt, dass im Fall

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der Solidaritäts-Konstellation auf der Seite der Solidaritätsbedürftigen das Wertprogramm entsprechend der Zwecksetzung nur zugrunde gelegt werden kann, was die andere Person imstande ist, gegen die externe Beeinträchtigung zu tun. Der Grundrechtsträgerin ist nicht die ganze Last der externen Beeinträchtigung aufzubürden, sondern nur (aber auch) so viel, wie sie dagegen tun kann. In der Rücksichtnahme-Konstellation hat die Grundrechtsträgerin hingegen die gesamte Beeinträchtigung ihres Gegenübers zu verantworten. Methodisch bedeutet das eine unterschiedliche Definition des Wertprogramms auf der Seite der Person, deren Rechtspositionen mit denjenigen der Grundrechtsträgerin kollidieren. Bei einer Rücksichtnahmekonstellation kann das Wertprogramm dieser Person, die Grundlage also für die Bewertung, wie schwer die Beeinträchtigung für sie wiegt, ganz unter dem Gesichtswinkel der Beeinträchtigung durch die Grundrechtsträgerin bestimmt werden. In der Solidaritätskonstellation muss die Gesamtbeeinträchtigung der in erster Linie extern beeinträchtigten Person durch das spezifische, zweckbezogene „Solidaritätspotenzial“ gefiltert werden. Das Inverkehrbringen einer gefährlichen Ware wurde bereits als Beispiel für eine Rücksichtnahme-Konstellation erwähnt. Bei der Frage, genau was als Gegenstand der Gewichtung auf der Seite derjenigen, welche der gefährlichen Ware ausgesetzt sind, heranzuziehen ist, dürfte die Antwort klar sein: Es ist das gesamte Gefahrenpotenzial, welches durch das Inverkehrbringen der Ware gefahrenwirksam wird. Weniger klar dürfte die Antwort in einer Solidaritäts-Konstellation wie derjenigen der Videoüberwachung sein. Was ist hier aufseiten der Personen zu gewichten, welche durch die Überwachung geschützt werden sollen? Wenn man sich z. B. auf das Opfer eines Gewaltdelikts bezieht: Wäre es die gesamte durch das Delikt zugefügte Beeinträchtigung? Oder die effektive Hilfestellung, welche ein Gewaltopfer durch die Videoüberwachung erhielte? Oder geht es um die insgesamt mögliche Hilfestellung, welche dem Opfer im Rahmen des positiv zurechenbaren Zwecks gegeben werden könnte? – Von rechtlicher Relevanz ist ausschließlich das letzte.

Es versteht sich, dass dann für jedes der beanspruchten Interessen ein separates Wertprogramm erstellt werden muss. Je nach Fallkonstellation – insbesondere in abstrakteren Konstellationen – sind pro konkretem Interesse zudem mehrere Subjekt-Zwecknexus-Rechtsgüternexus-Kontexte, d.h. Wertprogrammvarianten denkbar. Das ist immer dann der Fall, wenn auf der Grundlage eines Normtexts ein konkretes Interesse von unterschiedlichen Subjekten ausgehen und oder unterschiedlichen, parallelen (d.h. nicht direkt korrelierenden) Zwecken dienen kann. Das entsprechende Wertprogramm umfasst dann mehrere Zweckstränge zugleich. Darüber hinaus sind pro konkretem Interesse sogar mehrere Wertprogramme denkbar. Dies ist dann der

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Fall, wenn ein konkretes Interesse verschiedenen Rechtsgrundlagen derselben Regelungsstufe zugeschrieben werden kann. Auf der Seite des Grundrechtsschutzes ist man damit unter dem Stichwort Grundrechtskonkurrenz vertraut. Auch auf der Seite des öffentlichen Interesses sind solche „Konkurrenzen“ aber nicht unüblich. Aufseiten des öffentlichen Interesses an der Videoüberwachung wäre z. B. auch an die schutzwürdigen Interessen v. a. von Kindern und betagteren Menschen zu denken (Variation des Subjekts). Straftatprävention und effektive Strafverfolgung können bereits für sich als parallele Zweckvarianten betrachtet werden (Variation des Zwecks). Eine weitere gesetzliche Grundlage für die Videoüberwachung zu finden als diejenige des Gemeindereglements, dürfte dagegen schwierig sein. „Konkurrenzen“ von Rechtsgrundlagen aufseiten des öffentlichen Interesses kommen im Polizeirecht aber z. B. immer wieder vor, wenn neben einer allgemeinen Polizeigesetzgebung auch eine spezialpolizeiliche besteht. Ein Beispiel für eine Grundrechtskonkurrenz ist etwa, wenn eine Journalistin polizeilich daran gehindert wird, zu einer Demonstration zu gelangen, um über die dortigen Geschehnisse zu berichten. Sie könnte sich sowohl auf die Bewegungsfreiheit als auch auf die Pressefreiheit berufen (Variation der Rechtsgrundlage). Insofern hier aber auch der Zweck der freien Bewegung mit der journalistischen Tätigkeit korreliert wäre und umgekehrt, käme es auf die Auswahl der Rechtsgrundlage nicht an. Um die polizeiliche Fernhaltemaßnahme allerdings aufgrund eines anderen Zwecks infrage stellen zu können, z. B., weil die Journalistin selbst als Demonstrantin an der Kundgebung teilnehmen will (Variation des Zwecks), bedürfte es einer weiteren (zurechenbaren) Rechtsgrundlage.

In solchen Fällen ist wichtig, dass man bei der darauf gründenden Bewertung nicht zwischen den verschiedenen Wertprogrammen und Wertprogrammvarianten hin- und herspringt, sondern die Programme und Programmvarianten der Bewertung je einzeln zugrunde legt. Diese Konstanzbedingung gilt natürlich auch zwischen den für die Abwägung relevanten Bewertungen. Wertprogramme und Wertprogrammvarianten müssen einander immer allein gegenübergestellt und dürfen nicht etwa auf der einen oder anderen Seite kumuliert werden. In der Konsequenz heißt das, dass jedes Wertprogramm und dessen Varianten auf der einen Seite mit jedem Wertprogramm und dessen Varianten auf der anderen Seite einzeln konfrontiert werden müssen. Die Zusammenhänge zwischen den Zwecken und Werten sind nur innerhalb eines Wertprogramms bzw. einer Variante davon wertbegründend, nicht darüber hinaus. Im Beispiel der Videoüberwachung können auf der Seite des öffentlichen Interesses, abhängig von den möglicherweise betroffenen Subjekten und infrage kommenden Zwecken, mehrere Wertprogrammvarianten bestimmt werden: mindestens bzgl. des präventiven Schutzes von Straftatopfern und bzgl. der effektiven Strafverfolgung. Diese beiden Werthorizonte müssen dem (angenommen: einen) Werthorizont auf der Seite des Grundrechts je einzeln gegenübergestellt werden. Zwar

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darf keiner der methodisch bestimmbaren Zwecknexus-Wertnexus-Kontexte außer Betracht fallen, sie dürfen in ihrer Bedeutung aber auch nicht kumuliert werden. Im Beispiel der ferngehaltenen Journalistin dürften auf der Seite des Grundrechtsschutzes die Bewegungsfreiheit und die Pressefreiheit nur so weit kumuliert ins Gewicht fallen, wie sie methodisch auf dieselbe Wertprogrammvariante zurückgeführt werden können und begründbar miteinander korrelieren. Wollte die Journalistin auch ihr Recht als Demonstrantin geltend machen, so dürften sich die Werthorizonte der Pressefreiheit einerseits und der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit/Demonstrationsfreiheit andererseits nur wenig überschneiden. Weil sie unterschiedliche Wertprogramme begründen, müssten sie dem entgegenstehenden öffentlichen Interesse auf jeden Fall einzeln gegenübergestellt werden.

Man kann ein Wertprogramm als die Summe aller für die Bewertung eines zur Abwägung stehenden Interesses maßgeblichen Gesichtspunkte betrachten, die ausgehend von der das fragliche Interesse anerkennenden Rechtsgrundlage durch teleologische Auslegung ermittelt werden können. Es ist die Antwort auf die Frage, unter welchen rechtsverbindlichen Aspekten ein fragliches Interesse wem wozu dienen soll, und bildet den Maßstab für die Bewertung dieses Interesses. Das Wertprogramm ist der rechtsverbindliche Maßstab, anhand dessen festzulegen ist, wie wichtig ein konkretes Interesse für das relevante Subjekt ist und ein wie hoher Wert dem Interesse dementsprechend zuzumessen ist. Um einem Interesse aufgrund des Wertprogramms einen Normwert zumessen zu können, muss neben dem Wertprogramm der Bewertungs- oder Wertbereich erstellt werden. Wie das Wertprogramm im Normprogramm der zugrunde liegenden positiven Rechtsnorm steckt, steckt der Wertbereich in ihrem Normbereich. Er kann als der Ausschnitt aller Wirkungszusammenhänge des Sachbereichs betrachtet werden, der aufgrund des Wertprogramms für die Bewertung des Interesses als relevant gelten darf und muss. Die von ihm abgedeckten Wirkungszusammenhänge unterliegen einer mit allen verfügbaren wissenschaftlichen Mitteln durchzuführenden Wertbereichsanalyse. Angenommen, zur Diskussion stehe, ob die Daten der Videoaufzeichnung 30 oder 100 Tage aufgezeichnet werden sollen.72 Aus der Sicht der auf die effektive Strafverfolgung von Sexualdelinquenten bezogenen Wertprogrammvariante relevant wären z. B. psychologische Forschungen dazu, wie sehr die Traumatisierung das Opfer daran hindert, Strafanzeige zu erstatten. Aus der Sicht des auf informationelle Selbstbestimmung ausgerichteten Wertprogramms wäre dagegen etwa zu untersuchen, welche Möglichkeiten ein infrage kommendes Rechtssubjekt unter welchen Erschwernissen hat, die überwachten Plätze zu meiden und die grundrechtlich geschützten Freiheiten auf andere Weise 72

Vgl. BGE 133 I 77.

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auszuüben. Hier wären städtebauliche, soziologische, psychologische, ökonomische und weitere Analysen nötig.

b) Bestimmung der Normwerte in doppelter Bewertung Auf der Grundlage von Wertprogramm und Wertbereich ist schließlich der einem Interesse zuzumessende Rechts- oder Normwert zu bestimmen. Das Wertprogramm definiert hierfür über die teleologische Auslegung den rechtlichen Maßstab, und der Wertbereich liefert über die Wertbereichsanalyse die darauf zugeschnittenen Wirkungszusammenhänge. Hiervon ausgehend ist jetzt für jedes Wertprogramm und jede Wertprogrammvariante zu entscheiden, wie wichtig das konkrete Interesse vor dem herausgearbeiteten Zweck-Rechtsgüter-Horizont ist. Im Hinblick auf die angeordnete Aufgabe der Abwägung kann der Normwert durchaus in einer relativen Höhe ausgedrückt werden. Das konkrete Interesse kann vor dem relevanten Wertehorizont etwa – wie im Vorschlag Alexys – als wenig, mittel oder sehr wichtig zu bewerten sein.73 Dieses Vorgehen ist für jedes einzelne Wertprogramm und alle einzelnen Varianten davon vorzunehmen. Zur besseren Argumentationsfähigkeit und methodischen Kontrolle dieses Vorgangs sind dazu noch folgende weitergehende Hinweise angebracht: Hierbei kann noch einmal Bezug genommen werden auf Alexys so genannte Gewichtsformel, in welcher, vom „abstrakten Gewicht“ der „Prinzipien“ einmal abgesehen, neben der Intensität auch die Sicherheit im Sinne der Wahrscheinlichkeit eine Rolle spielt. Bei Alexy bleiben diese beiden Gesichtspunkte freilich (wie zu konkretisierende?) Faktoren einer Formel. Anschließend an die in der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Argumentationsmethode der doppelten Bewertung von Auslegungsvarianten ließe sich hier allerdings auch ein konstruktives Alternativkonzept ausarbeiten. Man könnte auch die wertprogrammgesteuerte Bewertung von rechtserheblichen Interessen als doppelte Bewertung durchführen. Zum einen ginge es darum, jeweils zu bestimmen, wie groß die Beeinträchtigungsintensität ist. Zur Strukturierung der Argumentation bieten sich drei plus zwei Beeinträchtigungsintensitäten an: Im Zentrum stehen die drei bekannten Stufen geringer, mittlerer und großer Beeinträchtigungsintensität. Am einen Ende käme zudem noch die unerhebliche Beeinträchtigung und am anderen Ende die völlige Unterdrückung der Rechtsposition hinzu. Bei einer unerheblichen Beeinträchtigung gibt es mindestens eine mindestens 73 Unter den dargelegten Voraussetzungen ist Alexys Gedanke einer „triadischen Skalierung“ nun hilfreich: vgl. Robert Alexy, Die Gewichtsformel, in: J. Jickeli et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein, Berlin 2003, S. 771–792, 777–783.

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gleich gute Alternative zum fraglichen Interesse. Bei einer geringen Beeinträchtigung gibt es zwar keine gleich gute Alternative, mit geringem Zusatzaufwand lässt sich aber dennoch eine gleichwertige Alternative finden. Bei mittlerer Beeinträchtigungsintensität ist der Zusatzaufwand nicht mehr gering, er lässt sich jedoch noch ohne größere strukturelle Beeinträchtigungen verkraften. Bei tief gehenden Beeinträchtigungen bleibt eine alternative Zweckerfüllung zwar immer noch möglich, doch erfordert sie großen Zusatzaufwand. Bei der völligen Unterdrückung ist die Zweckerfüllung überhaupt nicht mehr möglich, auch mit großem Aufwand gibt es keine Alternativen. Mit dem Gesichtspunkt der völligen Unterdrückung ließe sich beispielsweise auch das strukturieren, was bei der Kerngehaltsgarantie bzw. Wesensgehaltsgarantie zum Thema gemacht wird. Wie gewichtig eine Beeinträchtigung tatsächlich ist, hängt aber immer auch davon ab, wie wahrscheinlich die Beeinträchtigung (mit dieser oder jener Beeinträchtigungsintensität) ist.74 Zum andern ginge es also darum, die Wahrscheinlichkeit der jeweiligen Beeinträchtigung zu bestimmen. Hier bieten sich wieder drei Wahrscheinlichkeitsgrade an, mit denen argumentiert werden könnte: hohe Wahrscheinlichkeit/an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit/Möglichkeit: Die Belastung ist sehr wahrscheinlich/ihre Wahrscheinlichkeit grenzt an Sicherheit, wenn kaum denkbar ist, dass sie nicht eintritt. Sie ist wahrscheinlich, wenn zwar nicht sicher ist, ob sie eintritt, sie aber auch nicht unwahrscheinlich ist, Und sie ist unwahrscheinlich oder nur möglich, wenn sie zwar nicht ausgeschlossen ist, aber davon ausgegangen werden kann, dass sie unter den momentan gegebenen Umständen kaum eintritt. Auch bei der Frage der Wahrscheinlichkeit kann überlegt werden, ob auch die beiden Endstufen der „Wahrscheinlichkeit“ eine Rolle spielen. Von einer Art Sicherheit könnte man allerdings nur in Fällen sich bereits ereigneter Beeinträchtigungen reden. Die völlige Ausgeschlossenheit einer Beeinträchtigung mit in dieses Spektrum aufzunehmen, macht dagegen keinen Sinn. Eine „ausgeschlossene Beeinträchtigung“ würde schon gar nicht das Normprogramm erster Stufe passieren. Es wäre kein Schutzbereich betroffen, keine Rechtsposition in Stellung zu bringen. Abgrenzend zu Alexy ist hervorzuheben, dass es sich bei der doppelten Bewertung unter der Vorgabe des Wertprogramms nicht um eine formale Rekonstruktion der (wie gesteuerten?) Gewichtung von „Prinzipien“ (Interessen) handelt, sondern um eine Arbeitsstruktur zur Entwicklung und Überprüfung von Argumenten. Die Methode der doppelten Bewertung soll nicht erklären, was man gemacht hat. Sie soll die Argumentation produktiv 74 Vgl. hierzu Robert Alexy, Die Gewichtsformel, in: J. Jickeli et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein, Berlin 2003, S. 771–792, 789–791.

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in Gang bringen, sie kritisch irritieren und nachvollziehbar machen. Normativ angeleitet wird diese Argumentation von den zuvor erarbeiteten Wertprogrammen. Zudem liegt Alexy falsch, wenn er meint, die Intensität der Beeinträchtigung (erster Aspekt) betreffe keine „epistemischen“ Gesichtspunkte (sondern nur die „materielle Wichtigkeit“), während die Wahrscheinlichkeit/Sicherheit eine rein epistemische Frage darstelle.75 Wer versteht, dass die Gewichtung als wertprogrammgesteuerte Wertzumessung zwingend auch über die Achse Norm/Wirklichkeit laufen muss, versteht auch, dass beide Bewertungsaspekte Aspekte der Wertbereichsanalyse sind. Weder lässt sich die Eingriffsintensität vom Wertbereich, noch lässt sich die Eingriffswahrscheinlichkeit vom Wertprogramm isolieren. Wie im bisherigen Modell der Strukturierenden Rechtslehre werden so „Recht“ und „Wirklichkeit“ in einem methodisch strukturierten Vorgehen zueinander ins Verhältnis gesetzt und zur rechtsgesteuerten Grundlage eines Entscheidungsschritts verarbeitet. Aufgrund einer sorgfältigen Wertbereichsanalyse könnte man demnach vielleicht zum Schluss kommen, dass Opfer schwererer Sexualdelikte noch Wochen nach dem traumatisierenden Ereignis unweigerlich zu Introversion, Ängstlichkeit gegenüber Fremden und Scham neigen. Liegen die übrigen Umstände so, dass die Strafverfolgung von Sexualstraftätern auch nicht auf andere Weise sichergestellt werden kann, so wäre die Wichtigkeit der Videoüberwachung insgesamt wohl als eher hoch zu bewerten. Vorauszusetzen ist natürlich, dass die Gefahr von Sexualdelikten an den vorgesehenen Orten tatsächlich in erhöhtem Maße besteht. Daneben wären prima facie auch die Bewertungen anhand der übrigen Wertprogrammvarianten vorzunehmen. Sie würden aber vermutlich zu keinem höheren Normwert führen. Auf der anderen Seite könnten die infrage kommenden Rechtssubjekte, deren informationelle Selbstbestimmung auf dem Spiel steht, v. a., wenn die Videoüberwachung z. B. durch Hinweistafeln deutlich signalisiert ist, ihre informationelle Selbstbestimmung weiterhin kalkulieren. Sofern die Videoüberwachung nicht als solche, sondern nur die Länge der Aufzeichnungsfrist des Datenmaterials zur Diskussion steht, könnte die Wichtigkeit einer nur kurzfristigen Datenaufzeichnung vor dem Zweck-Rechtsgüternexus der informationellen Selbstbestimmung vielleicht insgesamt als eher gering oder mittel zu bewerten sein. – Die Argumentation anhand der vorgeschlagenen Strukturelemente kann hier mangels Platz und konkreten Fallmaterials freilich nicht im Einzelnen durchgeführt werden.

75 Robert Alexy, Die Gewichtsformel, in: J. Jickeli et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein, Berlin 2003, S. 771–792, 789. Zu den theorieimmanenten Hintergründen für diesen Fehlblick Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 102009, S. 261 f., Rz. 254 f.

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Florian Windisch 4. Die Abwägung als Epilog

Und wo bleibt die Abwägung? Muss man die Bewertungen nicht irgendwo aus einer vergleichenden Gesamtperspektive vornehmen? Nimmt man das geltende Recht als verbindlichen Referenzrahmen der „Abwägung“ ernst, dann löst sich die „Abwägung“ „zwischen“ den konfligierenden oder konkurrierenden Interessen in der einzelweisen Bewertung gewissermaßen auf. Unter der Voraussetzung des zu den Bewertungen hinzutretenden Abwägungsverhältnisses, das angibt, ob die Werthöhen im gegenseitigen Verhältnis gleich oder in die eine oder andere Richtung höher oder tiefer liegen müssen, ist die Aufgabe der „Abwägung“ im Wesentlichen erfüllt, wenn man den Interessen die auf ihre Wertprogramme bezogenen Werte zumisst. Die Abwägung als solche ist nur noch eine logische Schlussfolgerung. Im Sinne eines vergleichenden Gesamtblicks mehr zu tun, hieße, die rechtsverbindliche Perspektive des verfassten Pluralismus durch eine rechtsgelöste Pauschalperspektive auszutauschen. Demgegenüber darf davon ausgegangen werden, dass die methodisch zugemessenen relativen Normwerte einem Einheitsmaß zugeführt worden sind. Das Recht muss die Konkordanztabelle sein, welche die strittigen Interessen miteinander vergleichbar macht. Es ist der Integrator, welcher die unvereinbaren Ansprüche einer gemeinsamen Bewertungsgrundlage zuführt. Das Recht kann die Integrationsfunktion aber nur dann erfüllen, wenn es nicht als Rekurs auf Vorgefertigtes, sondern als rechtfertigender Diskurs begriffen wird, welcher der Entscheidung zwar einen verbindlichen Rahmen gibt, an allen entscheidenden Stellen aber offen bleibt für die Argumente, die es – für den Moment – erst konstituiert. Eine transparente Methodik der „Abwägung“ hat deswegen einen viel tieferen Sinn, als nur, die einzelnen Schritte der „Abwägung“ nachvollziehbar zu machen. Erst aufgrund einer juristischen Methodik, welche die Ansprüche der Streitparteien gleichmäßig ins Recht überführt, kann das Recht seine integrierende Funktion entfalten. Das Bild der Justitia ist also anders zu lesen. Justitia gewährt uns nicht einen Einblick in ihr eigentliches Schaffen, sondern präsentiert nur dessen spektakuläres Ergebnis. In dem, was gemeinhin als „Abwägung“ betrachtet wird, ist die Abwägung nicht mehr als die Zusammenfassung dessen, was zuvor getan wurde. Sie ist der letzte Schritt in einem Argumentationsprozess, in dem als rechtserheblich qualifizierten Interessen Normwerte zugemessen werden. Auf der Grundlage des von der relativen Anordnung vorgeschriebenen Interessenverhältnisses ist die Abwägung nur noch der logische Schluss zur Beendigung des Vorgangs. Wie die Subsumtion ist die Abwägung der Epilog in einer Episode der juristischen Superstory. Blickt man nur darauf, dann versteht man den Zusammenhang mit den Einzel-

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geschichten kaum, und sie erscheint uns als eine einzige juristische Anmaßung. Betrachtet man die Dinge aber richtig herum, so wird deutlich, dass der Weg zur Abwägung zugleich den Übergang der Einzelgeschichten zum Gesamtkontext bildet. Wenn es gelingt, diesen Weg mit methodischen Mitteln nachzugehen, hat auch die „Abwägung“ (als im Wesentlichen zumessende Tätigkeit) wie die „Subsumtion“ (als im Wesentlichen zurechnende Tätigkeit) eine Chance, als zwar anspruchsvolle, aber vertretbare Weise der Normkonkretisierung praktiziert und begriffen werden zu können.

5. Zusammenfassung

„Abwägung“, in der skizzierten (Ver-)Fassung wertprogrammgesteuerter Wertzumessung, ist brave Rechtsanwendung. Im ersten Schritt wird der Interessenkonflikt ins Recht gesetzt, indem den postulierten Interessen, soweit möglich, positive Schutznormen zugerechnet werden. Im Interessengewirr des Pluralismus werden somit zunächst einmal diejenigen Interessen selegiert, welche nach geltendem Recht Schutz verdienen. Die Übersetzung des Interessenkonflikts ins Recht aktualisiert zugleich eine Kollision gegenläufiger Rechtspositionen. Im nächsten Schritt ist zu prüfen, ob für die Relationierung der Positionen eine Rechtsgrundlage begründet werden kann. Ist dies wie etwa bei allen Anwendungsfällen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes der Fall, so besteht die Aufgabe, die Hauptaufgabe relationaler Rechtsanwendung, ferner darin, den fraglichen Interessen Normwerte zuzumessen, anhand derer die Abwägung nach Maßgabe des rechtlich geforderten Normwertverhältnisses am Ende vorgenommen werden kann. Nachdem den Interessen im ersten Schritt also ein grundsätzlicher Schutz zugesprochen wurde, müssen sie nun bewertet werden. Damit die Normwertbestimmung die Rechtmäßigkeit wahren kann, muss sie auf methodisch korrekt erstellten Wertprogrammen beruhen und sich auf Wertbereichsanalysen abstützen lassen. Der Vergleich der Normwerte unter den Vorgaben des angeordneten Normwertverhältnisses (die eigentliche Abwägung) ist der letzte, nur noch logische Schritt in diesem Prozess. Im Unterschied zur Prinzipientheorie Alexys wird der Konflikt im Pluralismus also nicht durch die (wie vorzunehmende?) Gewichtung der Prinzipien entschieden, sondern die Prinzipien werden, soweit ihnen ein berechtigter Platz im Pluralismus zugeschrieben werden kann, als Grundlage für die Bewertung der auf sie bezogenen Interessen verwendet. Entscheidend ist damit nicht, wessen Prinzip (nach welcher Maßgabe?) „überwiegt“, sondern wie weit man den Prinzipien-Pluralismus im einseitigen Interesse strapaziert. Zudem werden die Parameter der „Abwägung“ nicht einfach formalisiert und der Intuition der Entscheidenden überlassen, sondern operationa-

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lisiert und in einem methodischen Argumentationsprozess verortet. Die Kollisionsnorm wird nicht einfach als logischer Distributor vorausgesetzt, sondern als praktische Relationsnorm erarbeitet. Möglich wird dies erst, wenn man die Produktivität der Rechtsarbeit anerkennt und die daraus resultierenden normativen Anforderungen an juristische Methodik ernst nimmt. – Nimmt man sie ernst, dann können rechtstheoretische Rekonstruktionen mehr leisten als eine Affirmation herrschender Praxis. Sie entwickeln kritisches Potenzial. IV. Dogmatische Konsequenzen am Beispiel des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Mit dem vorgestellten Modellentwurf zeichnen sich bereits dogmatische Konsequenzen beim Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ab. Neben dem grundsätzlichen Perspektivenwechsel vom „überwiegenden Interesse“ zur rechtsgebundenen Wertzumessung ist auch eine Korrektur der herrschenden, dreigegliederten Dogmatik zu überlegen: Im Licht des vorgestellten Modellentwurfs betreffen die in der herkömmlichen Lehre eigenartig unverbunden nebeneinander liegenden Teilkriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne je bestimmte Aspekte einer integrierten Rechtmäßigkeitskontrolle, welche sich über die beiden Konkretisierungsstufen erstreckt. Sämtliche normativen Gesichtspunkte wären an die Wertprogramme zurückzubinden und zu operationalisieren. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn, bis heute das De-facto-Hinterzimmer obskurer „Abwägung“, dürfte ihre Diskretion verlieren, und auch die Erforderlichkeit erhält mit dem methodischen Instrumentarium gebundener Wertzumessung mehr Struktur. Die Frage der Geeignetheit wird zu einer positiv ansetzenden Vorfrage im Rahmen der Überprüfung der grundsätzlichen Berechtigung der postulierten Interessen auf erster Konkretisierungsstufe. Im Einzelnen lassen sich die Prüfschritte folgendermaßen rekonstruieren. Ausgehend von dem faktischen Konflikt zwischen den Streitparteien geht es zunächst darum, deren Interessen, soweit relevant und berechtigt, im Recht zu positionieren. Auf der einen Seite kann dies durch eine sorgfältige Konkretisierung des betroffenen grundrechtlichen Schutzbereichs geschehen, eine oft keineswegs triviale Aufgabe, welche besonders eine eingehende Normbereichsanalyse impliziert. Auf der anderen Seite bildet zunächst die gesetzliche Grundlage der eingreifenden Maßnahme das Eingangstor ins Recht. Freilich kann es sich auch hier bereits auf erster Konkretisierungsstufe um einen schwierigen Fall handeln. Angenommen aber, eine gesetzliche Grundlage kann begründet werden, so ist noch zu prüfen, in welcher Lesart oder in welchen Lesarten ihre Te-

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leologie als öffentliches Interesse bzw. legitimer Zweck verwendet werden kann. Dasselbe sollte natürlich auch für das dieser Position gegenüber stehende Grundrecht gelten. Weil man aber grundsätzlich davon ausgehen darf, dass Grundrechte diese Qualifizierung vollumfänglich erfüllen, spielt dies hier kaum eine Rolle. Aus demselben Grund darf man auch von einem öffentlichen Interesse bzw. legitimen Zweck ausgehen, wenn die gesetzliche Grundlage methodisch nachweisbar dem Schutz eines Grundrechts dient. Die Teleologie der Rechtsposition knüpft sich dann an den Zweckhorizont des entsprechenden Grundrechts. Verstehen sollte man nun, dass das herkömmlich der Verhältnismäßigkeitsdogmatik zugeordnete Geeignetheitskriterium bereits hier zu verorten ist. Ob die fragliche Maßnahme – im Dienste des öffentlichen Interesses – „wirklich“ geeignet ist, das öffentliche Interesse bzw. den legitimen Zweck zu fördern, kann nicht erst nach der Überprüfung eben dieses öffentlichen Interesses gefragt werden. Die Frage ist mit dieser Überprüfung identisch. Fördert die Maßnahme nicht das „eigentlich verfolgte“ öffentliche Interesse, dann liegt sie auch außerhalb dessen Normprogramms. Liegt sie außerhalb des Normprogramms des öffentlichen Interesses, dann leistet sie auch keinen rechtsgenügenden Beitrag zu dessen Förderung. Die Geeignetheitsprüfung besteht also im Wesentlichen in der durch das öffentliche Interesse qualifizierten Normbereichsanalyse der Konkretisierung erster Stufe. Dass die herkömmliche Dogmatik davon auszugehen scheint, das öffentliche Interesse ohne diese Normbereichsanalyse voraussetzen zu können, liegt wohl am immer noch verbreiteten erkenntnispositivistischen Normverständnis. Bleibt für die Verhältnismäßigkeitsprüfung also nur noch das Erforderlichkeitskriterium und die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn. Hier fragt sich vorab, ob das vorgeschlagene Wertzumessungs-Konzept an der traditionellen Unterscheidung zwischen Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne festhält oder ob daraus eine Art einstufige „Abwägung“ folgt. Es hält daran fest. Gegenüber der herkömmlichen Dogmatik kann mit dem Konzept allerdings besser gezeigt werden, weshalb dies nötig ist und wo die Unterschiede liegen. Innerhalb der Anwendung der beiden Teilkriterien kommt die vergleichende Wertzumessung beides Mal zum Einsatz. Methodisch liegt der wesentliche Unterschied zwischen der Erforderlichkeitsprüfung und der Verhältnismäßigkeitsprüfung darin, dass beim Ersten ein intra-parteilicher Vergleich vorzunehmen ist, beim Zweiten dagegen ein interparteilicher. Wenn man mit dem Erforderlichkeitskriterium danach fragt, ob die vorgesehene Schutzwirkung im öffentlichen Interesse in einer Weise erreicht werden kann, welche die von der Maßnahme Betroffene weniger stark beeinträchtigt als vorgesehen, so kann man an zwei Punkten ansetzen. Einer-

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seits kann man danach fragen, ob die fragliche Maßnahme als solche abtrennbare Bestandteile umfasst, auf welche mit Blick auf die effektive Schutzwirkung im begründeten öffentlichen Interesse verzichtet werden kann. Diesen Überschuss-Test kann man wieder in einen Alia- und einen Nimia-Test unterteilen. Beim Alia-Test werden sachfremde Anknüpfungen (Alia) ausgeschieden, welche ohne Effektivitätsverlust aus der Maßnahme ausgeschieden werden können. Beim Nimia-Test werden abtrennbare Übermengen (Nimia: in zahlenmäßiger, räumlicher, zeitlicher, akustischer, optischer oder sonstiger Hinsicht) der Maßnahme abgeschöpft, auf welche ebenfalls ohne Verlust verzichtet werden kann. Andererseits kann man danach fragen, ob nicht eine grundsätzlich andere Maßnahme als die vorgesehene, möglicherweise auch mit der Konsequenz, andere Personen damit zu treffen, bei gleicher Schutzeffektivität weniger beeinträchtigend ist. Nur hier kann man im Grunde von einem echten Alternativen-Test sprechen. In allen Varianten der Erforderlichkeitsprüfung knüpft sich die Methodik vergleichender Wertzumessung in folgender Weise an die Prüfung des öffentlichen Interesses bzw. legitimen Zwecks: 1. Bei jeder erwogenen Reduzierung (Alia- und Nimia-Test) oder Alternierung (Alternativen-Test) der ursprünglich vorgesehenen Maßnahme ist zunächst zu kontrollieren, ob die neue bzw. neu justierte Maßnahme überhaupt noch gesetzmäßig ist und im relevanten öffentlichen Interesse liegt. 2. Dann ist zu kontrollieren, ob die reduzierte oder Alternativ-Maßnahme von mindestens gleicher Schutzeffektivität ist wie die ursprüngliche. 3. Die reduzierte oder Alternativ-Maßnahme kommt außerdem nur dann in Betracht, wenn sich ausweisen lässt, dass sie für die von ihr Betroffene oder Betroffenen weniger stark beeinträchtigend ist als die ursprüngliche Maßnahme. Beim ersten Prüfschritt (1.) muss also erst einmal wieder die Zurechnungsprüfung der Konkretisierung erster Stufe wiederholt werden. In den meisten Fällen dürfte dies keinerlei Schwierigkeiten bereiten. Besonders mit Blick auf den Alternativen-Test, in welchem grundverschiedene Alternativ-Maßnahmen erwogen werden können, sollte jedoch nicht vergessen gehen, dass auch jede neue Maßnahme an das Legalitätsprinzip und das Erfordernis des öffentlichen Interesses bzw. des legitimen Zwecks gebunden bleibt. Beim zweiten Prüfschritt (2.) ist dann ein erstes Mal eine vergleichende Wertzumessung („Abwägung“) vorzunehmen. Sie bezieht sich auf die Schutzeffektivität der Maßnahme und vergleicht somit die Beeinträchtigung der zu schützenden Personen unter der Annahme der ursprünglichen Maß-

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nahme mit derjenigen unter der Annahme der neuen oder neu justierten. Jede neue oder neu justierte Maßnahme muss dazu führen, dass die zu schützenden Personen einem mindestens gleich geringen „Rest“ an Beeinträchtigung ausgesetzt bleiben, also mindestens gleich gut geschützt werden, wie durch die ursprüngliche Maßnahme. Je nach infrage kommender Reduzierung oder Alternierung der Maßnahme kann auch dieser Prüfschritt alles andere als trivial ausfallen. Während die beiden vorgenannten Prüfschritte in der eingeschleiften Dogmatik oft aus dem Bewusstsein fallen, steht der dritte Prüfschritt (3.) repräsentativ für das Erforderlichkeitskriterium: Ist die erwogene Variante der vorgesehenen Maßnahme milder? Im Gegensatz zum zweiten Prüfschritt nimmt man hier nun wieder die von der Maßnahme belasteten Personen in den Blick und vergleicht deren Beeinträchtigungen durch die erwogene Maßnahme mit der Beeinträchtigung durch die ursprüngliche. Auch hier kommt die vergleichende Wertzumessung voll zum Einsatz. Dass dabei auch hier in vielen Fällen dieselbe Person gewissermaßen „mit sich selbst“ zu vergleichen ist, spricht keineswegs dagegen. Jedes Mal ist die Beeinträchtigung einer Person in einer bestimmten Situation mit der Beeinträchtigung einer Person in einer anderen Situation nach Maßgabe eines bestimmten Wertprogramms zu bewerten und beides miteinander zu vergleichen. Anzumerken ist, dass es besonders in diesem Prüfschritt auch angebracht sein kann, nicht nur dieselbe Person in verschiedenen Situationen als Bewertungssubjekt heranzuziehen, sondern auch verschiedene Personen. Auch hierfür dürfte der Grund wieder vor allem der Alternativen-Test sein, in welchem nicht nur eine Reduktion der ursprünglichen Maßnahme, sondern auch das Austauschen der gesamten Maßnahme durch eine grundsätzlich andere infrage kommt, wodurch auch grundsätzlich andere Personen oder Personenkreise betroffen sein können. Was der Erforderlichkeitsprüfung in jeder Hinsicht jedoch eigen bleibt, ist, was zuvor als die Intra-Parteilichkeit der Vergleiche bezeichnet worden ist. Selbst wenn aufgrund einer Erwägung des Alternativen-Tests im dritten Prüfschritt die Situation wirklich verschiedener Personen miteinander zu vergleichen sind, so bleiben diese Personen im jeweiligen Vergleich doch auf derselben Seite, hier auf der Seite der durch die Maßnahme Belasteten. Im zweiten Prüfschritt bleibt der Vergleich auf der Seite der von der Maßnahme zu Schützenden. Der inter-parteiliche Vergleich zwischen der durch die Maßnahme Belasteten und der durch sie Begünstigten findet hingegen erst im Rahmen der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne statt. Mit diesem Vorwissen lässt sich auch die Grunddifferenz zwischen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne sowie das

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notwendige Zusammenspiel zwischen den beiden Teilkriterien besser verstehen. Die Intra-Parteilichkeit der Erforderlichkeitsprüfung verdeutlicht, dass die Erforderlichkeit die Akzeptabilität des inter-parteilichen Verhältnisses voraussetzt. In der Gesamtaufgabe, den unvermeidlichen Konflikt zwischen den prima facie berechtigten Positionen fair zu lösen, übernimmt sie unter dieser Voraussetzung vor allem die Teilfunktion, den Konflikt auf das „Unvermeidliche“ zuzuspitzen. Ersetzen kann sie inter-parteiliche Überprüfung hingegen nicht. Umgekehrt wird auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne die Erforderlichkeit der Maßnahme voraussetzen müssen. Die Erforderlichkeit gibt ihr einen Ansatzpunkt vor, von welchem aus das interparteiliche Verhältnis begriffen werden kann. Ohne diesen Ansatzpunkt wäre die Verhältnismäßigkeit (bzw. Nicht-Unverhältnismäßigkeit) der Maßnahme der Arbitrarität der Maßnahmenwahl ausgeliefert. Man müsste sich auch mit „verhältnismäßigen“ zu groben Maßnahmen zufrieden geben, welche ihre Grobheit „ausgeglichen“ auf die Beteiligten verteilen. Hat man die Erforderlichkeitsprüfung jedoch sorgfältig durchgeführt und kommt man zum Schluss, die Maßnahme sei erforderlich, so kann mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinn auch der inter-parteiliche Vergleich zielgerichtet vorgenommen werden. Es gilt, die Beeinträchtigung der von der Schutzmaßnahme betroffenen Person mit der Beeinträchtigung derjenigen zu vergleichen, welche durch die Freiheitsausübung dieser Person rechtsrelevant gefährdet oder gestört wird. Die Verhältnismäßigkeit ist gewahrt, wenn die relevante Beeinträchtigung der von der Maßnahme Betroffenen höchstens gleich groß ist wie die relevante Beeinträchtigung der von ihr zu Schützenden. Verletzt ist sie, wenn jene Beeinträchtigung größer ist als diese. Methodisch kommt hier die vergleichende Wertzumessung, wie sie zuvor vorgestellt wurde, paradigmatisch zur Anwendung. Beide Beeinträchtigungen bzw. ihre Varianten sind jeweils nach Maßgabe der entsprechend ausgearbeiteten Wertprogramme zu gewichten und mit der je gegenüberstehenden Beeinträchtigung zu vergleichen. Entscheidend werden dabei zumeist die programmgesteuerten Wertbereichsanalysen sein, in welchen die jeweiligen Beeinträchtigungstiefen und Beeinträchtigungswahrscheinlichkeiten zu bestimmen sind. Wenn man übrigens zuvor die Erforderlichkeitsprüfung wirklich sorgfältig durchgeführt hat, dann hat man bereits auch schon einiges an Vorarbeit für die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne geleistet. Insofern der dritte Prüfschritt der Erforderlichkeit nämlich die Beeinträchtigung der von der Maßnahme Betroffenen mit einer möglichen milderen Maßnahme vergleicht, muss für die entsprechende Person bereits dort eine spezifische Wertzumessung vorgenommen werden. Wie festgehalten, beschränkt sich diese Wertzumessung auf die Seite der von der Maßnahme Betroffenen.

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Und der Fokus ist in der Erforderlichkeitsprüfung nicht inter-, sondern nur intraparteilich. Ansonsten ist dieser Prüfschritt mit der einen Hälfte der Überprüfung der Erforderlichkeit im engeren Sinn jedoch identisch. Nichts mit der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn hat dagegen der zweite Prüfschritt der Erforderlichkeitsprüfung zu tun, in welchem das Niveau der Schutzeffektivität der Maßnahme kontrolliert wird. Für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn ist es irrelevant, wie effektiv die gewählte Maßnahme zum Schutz des öffentlichen Interesses ist. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit spielt die Schutzeffektivität überhaupt nur insoweit eine Rolle, dass sie dem Erforderlichkeitskriterium standhält, also mindestens das Niveau der ursprünglichen gesetzlich vorgesehenen Maßnahme beibehält. Eine strukturierende Verhältnismäßigkeitsdogmatik macht schließlich auch deutlich, was mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz tatsächlich überprüft werden soll: die Nicht-Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme in Bezug auf die von ihr Betroffenen. Auch wenn mit dem zugrunde liegenden Gleichberechtigungsgrundsatz die Gleichmäßigkeit den normativen Horizont der Verhältnismäßigkeit bildet, beschränkt sich die verfassungsrechtlich begründbare Verhältnismäßigkeitsprüfung doch auf diese einseitige Kontrolle. Für eine weitergehende Gleichmäßigkeitsprüfung, welche etwa auch danach fragen würde, ob auf der anderen Seite der Schutz des öffentlichen Interesses genügend hoch ist, damit aus dieser Sicht das Verhältnis zwischen der Freiheitsausübung und den mit dieser konfligierenden öffentlichen Interessen ausgeglichen (zumindest nicht unausgeglichen) ist, bleibt in der klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung kein Raum. Solche Fragen sind eigens etwa unter dem Titel der Schutzpflichten zu klären. Auch die hier benötigte „Abwägungsmethode“ dürfte jedoch derselben Struktur folgen wie sie am Beispiel der Verhältnismäßigkeitsdogmatik exemplifiziert werden konnte.

V. Die Strukturierende Rechtslehre und die Abwägung: Zur Anschlussfähigkeit des Konzepts Das vorstehend entwickelte „Abwägungs“-Konzept basiert auf dem Grundmodell der Rechtsnormkonstruktion der Strukturierenden Rechtslehre. Es ist als differenzierende Fortführung eben dieser Grundannahmen strukturierender Rechts(norm)theorie und Methodik gedacht und soll von deren Geist belebt sein. Nimmt man es auf sich, die „Abwägung“ im Kontext der Strukturierenden Rechtslehre zu rekonstruieren, so steht man jedoch auch vor der Herausforderung darzutun, wie sich dies mit ihren bisher eher skeptischen Ausführungen zur „Abwägung“ ins Benehmen setzen lässt. Von der

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Echtheit dieser Herausforderung zeugen beispielsweise folgende kritischen Bemerkungen: [Die Praxis der Güterabwägung] verringert die Rechtssicherheit. [Sie] verführt [. . .] zu subjektiven Werturteilen einer Einzelfallgerechtigkeit, die kaum noch rechtsstaatlich verallgemeinert werden kann, die sich allenfalls auf dem Weg über den informellen Konformismus der Instanzgerichte gegenüber höchstrichterlicher Rechtsprechung nach typischen Fallgruppen ordnen läßt. Abwägung bietet ein bequemes sprachliches Muster an, das über die beteiligten Normtexte und die sie konkretisierenden Sprachdaten wie auch über ein regelhaftes Berücksichtigen der fraglichen Normbereiche allzu rasch hinwegzugehen pflegt. [. . .] Steht [. . .], wie in der Regel, Abwägung an der Stelle einer sorgfältigen Konkretisierung, so wird mit einer Mischung aus Sachaspekten, sprachlicher Suggestion und unerklärtem Vorverständnis sowie im rechtspolitischen Vorgriff auf das aus welchem Grund auch immer erwünschte Ergebnis die angebliche Höherwertigkeit einer oder einiger der beteiligten Normen mehr behauptet als einsichtig gemacht. Oft wird nur ein in seinem Begriffs- und Assoziationsfeld ungeklärt belassenes Wort gegen ein anderes gehalten, wird das Übergewicht des einen über das andere affirmativ versichert.76

Die Worte sind deutlich. Im Folgenden seien daher einige Kontexte der bisherigen Kritik der Strukturierenden Rechtslehre zur „Abwägung“ herausgegriffen, die entsprechenden Kritiken näher expliziert und die Gegenvorschläge dargelegt. Damit kann gezeigt werden, dass sich das Konzept der Relationsnorm-Konstruktion – mit vielleicht der einen oder anderen Akzentverschiebung – durchaus produktiv auch an die bisherigen Argumente der Strukturierenden Rechtslehre zur „Abwägung“ anschließen lässt.77 1. Die Abwägung in der Strukturierenden Rechtslehre bisher

In der Tat kann die bisherige Haltung der Strukturierenden Rechtslehre zur „Abwägung“ kaum anders als skeptisch oder gar ablehnend bezeichnet werden.78 Wie gewohnt, handelt es sich bei dieser Haltung nicht um eine Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 199. Nicht weiter eingegangen werden kann hier auf die (allerdings immer noch sehr formal verbleibenden, nach eigener Aussage „analytisch-argumentationstheoretisch“ ansetzenden) Untersuchungen von Lothar Fohmann, die seinerzeit ebenfalls in Anlehnung an die Strukturierende Rechtslehre unternommen wurden: Lothar H. Fohmann, Konkurrenzen und Kollisionen im Verfassungsrecht. Studien zur Operationalisierung spezifischer Rechtsanwendungsmethoden und zur Konstruktion einer rechtsorientierten Argumentationstheorie, Berlin 1978; kurz ders., Konkurrenzen und Kollisionen im Grundrechtsbereich, in: EuGRZ 12 (1985), Nr. 3, S. 49–62. Hinweis auf den eigenen Ansatz etwa in letzterer Übersicht, S. 61; Erläuterung im Werk von 1978, insb. S. 1–14. 78 Z. B. Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 21994, insb. S. 207– 216; Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 102009, 76 77

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Voraussetzung. Sie gründet auf differenzierten Analysen dessen, wie die „Abwägung“ ihrerseits bisher in Judikatur und Literatur proklamiert wurde. Abgesehen von der bereits besprochenen Abwägungslehre Alexys, welche von der Strukturierenden Rechtslehre schon aus grundsätzlichen sprachtheoretischen Überlegungen zurückgewiesen wird,79 ist die „Abwägung“ vor allem im Kontext grundrechtlicher Güter- oder Wertabwägung untersucht worden. Im Vordergrund stehen hier die Probleme im Zusammenhang mit der Deutung der Grundrechte als Güter oder Werte, welche gegeneinander abzuwägen seien,80 insbesondere durch Ableitung aus einem einheitlich vorgegebenen Wertesystem81. Problematisiert wurde dabei auch das Konzept der praktischen Konkordanz82 und der Stellenwert durch die „Abwägung“ eingesetzter verfassungspolitischer Elemente83. In Kurzform lässt sich die in diesen Kontexten herausgearbeitete Kritik etwa wie folgt zusammenfassen: In der Art und Weise, wie durch „Abwägung“ von Gütern oder Werten rechtliche Entscheidungen deduziert werden bzw. werden sollen, werde von einem weder real noch normativ vorhandenen homogenen Ganzen der Rechtsordnung ausgegangen.84 In Ermangelung dieser harmonischen Einheit der Rechtsordnung könne das Prinzip der Güterabwägung jedoch „keine inhaltlichen Maßstäbe zur Verfügung stellen, S. 79–82, Rz. 65 f./S. 109–111, Rz. 71 f./S. 155–160, Rz. 132–139/S. 404 f., Rz. 392/S. 430–433, Rz. 425–428; Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, insb. S. 196–199. 79 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 10 2009, S. 161 f., Rz. 140 f. 80 Z. B. Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 21994, insb. S. 208–216; Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 10 2009, S. 109–111, Rz. 71 f. 81 Insb. Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 196–199. Vgl. auch Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 10 2009, S. 79–82, Rz. 65 f. 82 Z. B. Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 10 2009, insb. S. 404 f., Rz. 392; Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, insb. S. 198 f./219 f. 83 Z. B. Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 10 2009, S. 430–433, Rz. 425–428. Als spezielle Variante verfassungs- oder rechtspolitischer Argumentation wird in diesem Zusammenhang auch Martin Krieles vernunftrechtlich ansetzende Theorie der Rechtsgewinnung, nach welcher das relativ fundamentalere Interesse vorrangig sei, diskutiert. – Dazu nur noch der Verweis auf die weitergehende Kritik ebd., S. 155–160, Rz. 132–139. 84 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 10 2009, S. 80 f., Rz. 66; vgl. auch ebd., S. 109 f., Rz. 71. Vgl. auch ebd., S. 111, Rz. 72, m. w. H.: „Verfassungsinterpretation überschreitet ihre Grenzen, wenn sie eine normativ im einzelnen nicht greifbare Totalität einer vorausgesetzten Wertordnung an die Stelle der Ermittlung der sachlichen Reichweite eines Grundrechts setzt.“

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die rechtsstaatlichen Anforderungen an Normklarheit, Methoden- und Rechtssicherheit genügten.“85 Dies gelte insbesondere für eine Technik der Bestimmung von Grundrechtsgrenzen.86 „Abwägung“ sei so gesehen „nichts mehr als eine delegierende Metapher“87. Insofern diese Metapher zugleich das Schlupfloch für verfassungs- oder rechtspolitische Ausflüchte bildet, werde normtextorientierte Arbeitsweise durch subjektives politisches Gutdünken ersetzt.88 Auch sei das Prinzip der praktischen Konkordanz falsch verstanden, wenn es fordern sollte, „die beteiligten Normen im Sinn strikten Ausgleichs gegenseitig zu begrenzen.“ Beim Vorliegen eines Normenkonflikts sehe die Lösung in der Regel nicht so aus, „daß die beteiligten Normen in ausgewogener Balance gleich stark beschnitten werden, gleich stark wirksam sein können.“89 Rechtsstaatlich begründete praktische Konkordanz werde allerdings dann verletzt, wenn man im Konfliktfall eine einschlägige Vorschrift pauschal hinter eine andere zurücktreten lasse.90 Genau diesem Vorgehen leiste die „Abwägung“ „mit der fragwürdigen Annahme von Argumenten wie Vorrang oder Höherwertigkeit verfassungsrechtlicher Interessen oder Schutzgüter“ jedoch Vorschub.91 Um solche Fehler und mit ihnen Rechtsbrüche zu vermeiden, sei nach den Regeln kunstgerechter und vor allem verfassungsrechtlich abgestützter Methodik vorzugehen. In den Fallkonstellationen, in welchen ansonsten „abgewogen“ werde, bedürfe es vor allem einer strukturierten Analyse der 85 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 2009, S. 110, Rz. 72. Vgl. auch ebd., S. 260, Rz. 252, wo Abwägung und Wertverwirklichung als methodisch fragwürdige und rechtsstaatlich bedenkliche Verfahren bezeichnet werden. 86 Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 196 f. 87 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 10 2009, S. 80, Rz. 66. 88 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 10 2009, S. 430 f., Rz. 425. 89 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 10 2009, S. 404, Rz. 392. 90 Vgl. Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 10 2009, S. 404 f., Rz. 392: „Die vom Prinzip praktischer Konkordanz geforderte Optimierung aller beteiligten Normen und Schutzgüter kann das Ziel nicht positiv, sondern nur negativ benennen. Die Konkretisierung soll nicht, im Sinn von Abwägung, der einen Norm pauschal den Vorrang zuerkennen, die andre pauschal zurücktreten lassen. Sie darf nicht die eine ganz auf Kosten der andern aktualisieren, da ja nach dem Ergebnis der Konkretisierung auch die andre Norm den Fall in Form einer Rechts- und Entscheidungsnorm mitregiert.“ Vgl. auch Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 209/212/214. 91 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 10 2009, S. 405, Rz. 392; vgl. auch ebd., S. 110, Rz. 72.

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Sachgesichtspunkte.92 Besonders bei Grundrechtskonflikten, welche methodisch in den Kontext systematischer Auslegung gestellt werden,93 führe eine vertiefte Normbereichsanalyse und eine darauf gestützte Tatbestandsabgrenzung vielfach zur Aufdeckung eines nur scheinbaren Konflikts.94 Verfassungspolitische Elemente hingegen könnten zwar hilfreiche Aspekte liefern, diese dürften aber nur zu Vergleichs-, Abgrenzungs- und Klarstellungszwecken eingeführt, nicht dagegen als quasi-normativ unterschoben werden.“95 Mit anderen Worten verlangten „Abwägungsprobleme“ also nichts anderes als sonstige Rechtsprobleme: sorgfältige Rechtsarbeit unter Rückgriff auf alle Konkretisierungselemente juristischer Methodik.96 Um ein Bild davon zu erhalten, wie diese konstruktiven Gedanken zu den Problemen, die herkömmlich unter dem Stichwort „Abwägung“ abgehandelt werden, praktisch Fuß fassen sollen, bietet es sich etwa an, einige Ausführungen in Friedrich Müllers „Einheit der Verfassung“97 etwas genauer zu betrachten. Im Rahmen der eingehenden Kritik des juristischen Holismus wird auch aufgezeigt, wie die vielzitierte Normenkollision, welche mit Vorteil zurückhaltender und allgemeiner als Normenkonflikt bezeichnet wird98 und zu deren Lösung regelmäßig undifferenzierte Totalreferenzen gebraucht werden, in einer strukturierenden Perspektive methodisch bewältigt werden kann. Es wird angedeutet, wie in Fällen konfligierender grundrechtlicher Positionen im Sinne eines „Verfahrens ausgleichender Konfliktlösung“99 nach geltendem Recht vorzugehen sei.100 Zunächst wird der Konflikt dadurch erläutert, dass sich die Normbereiche verschiedener Vorschriften in einem Fall mindestens teilweise überschnei92 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 2009, S. 81, Rz. 66. 93 Insb. Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 195–216. Vgl. auch Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 10 2009, S. 82, Rz. 66; ebd., S. 405, Fn. 482; Hans Kudlich/Ralph Christensen, Die Lücken-Lüge, in: JZ 64 (2009), Nr. 19, S. 943–949, 946 f. 94 Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 199 f. Vgl. etwa auch Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 21994, S. 212; Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 102009, S. 430, Rz. 425. 95 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 10 2009, S. 430, Rz. 425. 96 Vgl. z. B. Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 102009, S. 404 f., Rz. 392. 97 Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 195–216. 98 Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 195 f. 99 Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 215. 100 Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, v. a. S. 195–216, insb. S. 201–212.

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den und sich die jeweils dazugehörigen Normprogramme in diesem Schnittfeld widersprechen.101 Dieser Widerspruch dürfe jedoch nicht vorschnell angenommen werden. Der Konflikt sei einerseits, statt dass man bei allgemein gehaltenen General- und Gemeinwohl-Klauseln Zuflucht nehme, unter Berücksichtigung von Normklarheit und Tatbestandsbestimmtheit im konkreten Fall nachvollziehbar auszuweisen.102 Andererseits werde eine Grundrechtskonstellation dadurch allzu rasch als Konflikt gedeutet, dass die relevanten grundrechtlichen Normbereiche nicht mit hinreichender Sorgfalt herausgearbeitet werden. Nicht selten werde so abgewogen, obwohl ein normativer Konflikt gar nicht auszumachen sei.103 Statt die widersprechenden Anordnungen durch Referenz auf ein Sinntotales pauschal abzuwägen, seien „die nachweislich widerstreitenden Normen dann als positives Recht ernst zu nehmen“104. Daran schließt sich zunächst der Hinweis an, die Rangstufe der involvierten Normen zu beachten. Denn den Konflikt in der beabsichtigten Weise fortzuführen, sei nur zulässig, wenn er Normen betreffe, welche gleichrangig verfassungsrechtlich abgestützt seien, also zwischen verschiedenen Verfassungsnormen oder zwischen einem Grundrecht und einer verfassungsrechtlich einwandfreien Gesetzesnorm, die einen zulässigen Vorbehalt dazu begründet.105 In einem ersten Versuch der Konfliktlösung sei sodann zunächst nach Konfliktlösungsmechanismen des geltenden Rechts zu fragen, welche bestimmte positiv gekennzeichnete Konfliktlagen in spezifischer Weise auflösen, so etwa das Recht der Erziehungsberechtigten über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen oder das Verbot, eine Lehrperson gegen ihren Willen zum Religionsunterricht zu verpflichten (Art. 7 Abs. 2 bzw. Abs. 3 Satz 3 GG).106 Bleibe der Konflikt auch nach diesem Versuch bestehen, so sei im weiteren Vorgehen vor allem darauf zu achten, dass die konfligierenden Normen unter Zuhilfenahme aller methodischen Elemente vollständig berücksichtigt werden.107 Die negative Lesart der praktischen Konkordanz, dass 101 Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 196; vgl. auch ebd., S. 201, Ziff. (1), wo abgrenzend zum „methodologischen“ Konflikt hierfür der technische Term des „normativen“ Konflikts verwendet wird. Dazu sogleich Fn. 113. 102 Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 202, Ziff. (2). 103 Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 202 f., Ziff. (3). 104 Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 196. 105 Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 204–206, Ziff. (4). 106 Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 206 f., Ziff. (5). 107 Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 208, Ziff. (6).

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keine der involvierten Normen pauschal hinter die andere zurücktreten dürfe, führt ferner zu der positivrechtlich abgestützten Forderung nach der Wahrung des Wesensgehalts der Grundrechte.108 Als „in Konfliktlagen inhaltlich wichtigste Norm“ komme schließlich das Übermaßverbot, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, zum Einsatz. Dabei gehe es nicht darum, die konfligierenden Normen zu harmonisieren, sondern darum, sie zu „entzerren“. Betont wird die Spezifität dieser Konkretisierungsarbeit, die sich ausschließlich auf die nicht anders als gegenläufig interpretierbaren Aspekte im Überschneidungsbereich der Normen in diesem (und nur in diesem) Fall beschränke.109 Die eigentlichen Argumente seien dann aus dem so definierten Überschneidungsbereich zu gewinnen. Soweit für die Steuerung der Analyse der hier entscheidenden Realdaten direkt normtextbezogene Elemente nicht mehr verfügbar seien, könnten verfassungspolitisch orientierte Folgenabschätzungen und -bewertungen zwar maßgeblich beitragen. Sie müssten sich jedoch an die jeweiligen Normprogramme halten und entstammten somit den durch diese begrenzten Normbereichen.110 2. Stellung zur vorgeschlagenen Weiterentwicklung

Es sollte deutlich geworden sein, dass sich die bisherige Skepsis gegenüber der Abwägung in der Strukturierenden Rechtslehre gegen Vorgehensweisen richtet, welche rechtsstaatlich gebotene methodische Klarheit und Nachvollziehbarkeit durch pauschale, unstrukturierte Hinwegsetzungen über das positive Recht ersetzen wollen. Das Problem, für welches die „Abwägung“ sich anschickt eine Lösung anzubieten, nämlich Interessen unter der Vorgabe des geltenden Rechts konkret bewerten zu müssen, wird indessen an keiner Stelle verneint. Doch wird die Aufgabe, wie dies zu leisten sei, immer klar benannt: Die Rechtsarbeit solle das Normprogramm mit den bewährten Mitteln differenzierter Methodik normtextorientiert erstellen und sich an die normprogrammatischen Grenzen halten, die dadurch gesteuerten Normbereiche sorgfältig analysieren und die in diesem Prozess zu erarbeitende Rechtsnorm nachvollziehbar ausarbeiten. Mit dem normativen und methodischen Grundanliegen des in dieser Studie vorgeschlagenen Konzepts liegt dies auf einer Linie. Dies gilt auch, soweit die Diskussionen um die praktische Konkordanz betroffen sind. Das Anliegen, im Falle eines Konflikts von Rechtspositionen, welcher im Wege einer Relationierung dieser Positionen zu lösen ist, 108 109 110

Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 209 f., Ziff. (7). Vgl. auch Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 214. Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 211 f., Ziff. (8).

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jeder Position nach Maßgabe ihres Wertprogramms gerecht zu werden, impliziert in jeder Hinsicht das Bemühen, keine Position („Norm“) pauschal hinter die andere zurücktreten zu lassen. Dabei wird auch nicht der Fehler begangen, die Relationierung aus einem inexistenten Ganzen nach Art eines Werte- oder Gütersystems zu deduzieren. Indem die Relationierung in der Weise, eben strukturiert, vorgenommen wird, dass die fraglichen Interessen nach Maßgabe der methodisch sorgfältig zu erarbeitenden rechtlich verbindlichen Bewertungsprogramme gewichtet werden, wird eine intuitive Totalbewertung gerade vermieden. Die die differenten Wertprogramme verbindende Rechtsgeltung ist nichts anderes, als die juristischer Methodik anstehende Verbindlichkeit verfassungsrechtlicher Positivität. An diese Vorgabe knüpft sich auch das Relationierungsgebot selbst. Es handelt sich um eine methodisch nachvollziehbare Anordnung geltenden Verfassungsrechts, welche in jedem konkreten Anwendungsfall nachvollzogen werden können muss. In den Fällen, in denen dies nicht möglich sein sollte, beansprucht das vorgeschlagene Konzept keine Gültigkeit. Es macht keinen verfassungspolitischen Appell, sondern expliziert eine verfassungsrechtliche Forderung. Denn hierüber kann es keinen Zweifel geben: „Das Verfahren der Konfliktlösung ist gebunden, ist normorientierte Rechtsarbeit.“111 Mit Blick auf die Musterkonstellation des Grundrechtskonflikts findet im Vergleich mit den bisherigen Ausführungen der Strukturierenden Rechtslehre gleichwohl eine Akzentverschiebung statt. In Gegenüberstellung zu bisherigen „Abwägungs“-Konzepten betonen die konstruktiven Ausführungen der Strukturierenden Rechtslehre bis heute besonders die Notwendigkeit all dessen, was außer der Zumessung von Normwerten unverzichtbarer Bestandteil rechtsgebundener Konkretisierungsarbeit bleibt, worüber die gängigen „Abwägungen“ aber so gerne hinwegsehen. Betont wird in diesem Sinne besonders die sorgfältig durchzuführende Normbereichsanalyse auf erster Konkretisierungsstufe,112 aber etwa auch die Beachtung von Tatbestandsbestimmtheit, Normrangverhältnis oder positiven verfassungsrechtlichen Konfliktentscheidungen. Insofern richtet sich die bisherige Argumentation Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 211. Dies hat Alexy bei der Ausarbeitung seiner Abwägungslehre dazu veranlasst, den Arbeitsschritt der Normbereichsanalyse mit seiner Konzeption im Ganzen zu konfrontieren, um damit Fragen zu stellen, welche entweder das Konzept der Normbereichsanalyse verfehlen oder nur von seiner eigenen Lehre beantwortet werden: Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 152–154. Alexys Auseinandersetzung mit der Strukturierenden Rechtslehre bleibt allzu oberflächlich: „Nicht tragfähig ist der Einwand, daß bei Güterabwägungen letzthin nur ein Wort gegen ein anderes Wort gehalten werde. Es wird ein Prinzip gegen ein anderes Prinzip gesetzt [. . .].“ (ebd., S. 152). 111 112

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besonders gegen Ansätze, welche sich durch einebnende „Abwägung“ schon über diese fundamentalen Konkretisierungsschritte hinwegsetzen. Dies ist nicht nur vor dem Hintergrund der Entwicklungsgeschichte der Strukturierenden Rechtslehre verständlich. Wie die vielen eingehenden Rechtsprechungsanalysen nachweisen, ist das Ausmaß der praktischen wie theoretischen Verirrung in diesen Punkten tatsächlich besonders groß. Das in dieser Studie Vorgeschlagene zielt nun darauf ab, im Gesamtrahmen des strukturierenden Ansatzes auch den Teil des Konkretisierungsprozesses zu erfassen, welcher über die selbstverständlich weiterhin vorauszusetzenden Konkretisierungsschritte hinausgeht. Im Fokus steht hier der Abschnitt des Gesamtkonkretisierungsprozesses, in welchem prinzipiell zurechnende Konkretisierungsarbeit durch zumessende Konkretisierungsarbeit ergänzt werden muss, um der verfassungsrechtlich gebotenen Aufgabe, allen involvierten Rechtspositionen gerecht zu werden, entsprechen zu können. Auch wenn die Bedeutung der übrigen, in der Strukturierenden Rechtslehre bisher vor allem betonten Arbeitsschritte in keiner Weise gemindert werden soll, so führt dies doch auch zu einer erweiterten bzw. weiter differenzierten Gesamtsicht auf den Konkretisierungsprozess: Normprogramme können positiv oder relativ strukturiert sein, die Konkretisierung erstreckt sich grundsätzlich über zwei Stufen, die charakteristische Tätigkeit der Rechtsarbeit, die Zuschreibung von Rechts- und Entscheidungsnormen zu Normtexten, lässt sich grundsätzlich nach den Handlungsformen der Zurechnung und der Zumessung differenzieren. Die kurze Darstellung der bisherigen Ausführungen zur Lösung grundrechtlicher Konfliktlagen sollte deutlich gemacht haben, dass all dies in der bisherigen Konzeption bereits angelegt, jedenfalls verträglich mit ihr ist. Mit den – inhaltlich und terminologisch sicherlich noch verbesserungsfähigen – vorgeschlagenen Erweiterungen dürfte es nun noch besser möglich sein, die einzelnen Arbeitsvorgänge zu strukturieren, über welche sich ansonsten der Schatten der „Abwägung“ legt. Eine letzte Bemerkung in diesem Zusammenhang sei vielleicht noch auf die jedenfalls teilweise mindestens präzisierungsbedürftige Einordnung der Lösung von Normenkonflikten in die systematische Auslegung angebracht. In der Sicht der vorgeschlagenen Weiterentwicklung ist die Grenze systematischer Auslegung erreicht, wenn die Interpretation verschiedener Normtexte unter Zuhilfenahme aller Auslegungselemente keine widerspruchsfreie Gesamtlesart mehr zulässt, wenn also die entsprechenden Normprogramme miteinander in Konflikt stehen. Es mag möglicherweise dann noch von systematischer Auslegung gesprochen werden können, wenn dieser Normenkonflikt auf zweiter Konkretisierungsstufe positiv aufgelöst werden kann. Doch sollte man sich dabei bewusst machen, dass man hierbei nicht mehr

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an der Bestimmung eines Normprogramms (auf erster Konkretisierungsstufe) arbeitet, sondern bereits an der Lösung eines Norm(programm)konflikts (auf zweiter Konkretisierungsstufe). Steht die Lösung eines Normenkonflikts allerdings unter dem Regime einer Relationsnorm, kann wohl nicht mehr von systematischer Auslegung gesprochen werden. Hier haben die beteiligten Positionen ihr „eigenes Recht“, welches mit dem der anderen nicht systematisch in eins gesetzt werden kann, sondern sich problembezogen mit dieser auseinandersetzen muss. Wir haben es hier mit einem Arbeitsschritt eigener Art zu tun. VI. Jenseits des Kollisions-Konflikts: Zur Entwicklungsfähigkeit des Konzepts Mit dem Vorstehenden wurde versucht, die „Abwägung“ unter den normund verfassungstheoretischen Voraussetzungen der Strukturierenden Rechtslehre als Relationsnorm-Konstruktion aufzuschlüsseln. Dabei sind die Überlegungen bewusst von der typischen Verhältnismäßigkeits-Konstellation ausgegangen, in welcher ein in der Regel grundrechtlich geschütztes Freiheitsrecht zum Schutz eines öffentlichen Interesses eingeschränkt wird. Hier wird gemeinhin der Hauptort der Abwägungsproblematik gesehen. Die in dieser Studie vorgetragenen allgemeinen Ausführungen zur „Abwägung“ zielen allerdings auf einen weiteren Anwendungskontext, der auch für weitere Fall-Grundkonstellationen ausgearbeitet werden kann. Nachfolgend soll zur Plausibilisierung der weiteren Entwicklungsfähigkeit des Konzepts der Eingriffskonstellation insgesamt daher die Leistungs-Konstellation gegenübergestellt werden und angedeutet werden, wie sich dadurch zwar eben die Konstellationen etwas verlagern, aber die methodischen Grundstrukturen unverändert bleiben. Über Andeutungen kann an dieser Stelle freilich nicht hinausgegangen werden. Als Leitbeispiel sei der Fall herangezogen, in welchem eine Person aufgrund eines gesetzlich anerkannten benachteiligenden Merkmals, z. B. einer Behinderung oder des Geschlechts, in einer bestimmten Weise unterstützt werden soll. Ist die zugedachte Unterstützung angemessen? Oder zu klein oder zu groß?

In solchen Konstellationen der Leistungsverwaltung wird die Angemessenheit der Unterstützungsleistung gerne ebenfalls unter dem Titel der Verhältnismäßigkeit geprüft. Unter der Voraussetzung einer grundsätzlichen Anerkennung der Unterstützungswürdigkeit und der Zusprache einer bestimmten darauf begründeten Unterstützungsleistung wird noch überprüft, ob die zugesprochene Leistung wirklich verhältnismäßig in dem Sinne ist, dass sie das Steuer- oder sonstige Finanzierungssubstrat nicht über die Maßen strapaziert, das heißt, ob noch Einsparungsmöglichkeiten bestehen. So

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wird das Interesse der unterstützten Person gegen das Interesse der finanzierenden Allgemeinheit abgewogen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz reduziert sich damit, vermutlich aufgrund einer Analogie zum Erforderlichkeitskriterium, auf eine Art Sparprinzip. Mit den vorgetragenen analytischen Mitteln kann plausibel gemacht werden, dass diese Sichtweise verkehrt ist. Um dies klar sehen zu können, muss man noch verstehen, dass es sich bei solchen Leistungskonstellationen nicht um Kollisionskonflikte, sondern um Distributionskonflikte handelt. Während im typischen Kollisionskonflikt wie dem der Eingriffsverwaltung sich unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit die Frage stellt, ob die (eingeschränkten) Rechte der einen Person nicht in einem unausgeglichenen Verhältnis stehen zu denen einer anderen, deren Rechte mit denen der ersten kollidieren, hat der Konflikt hier eine andere Struktur. Die Unterstützung der unterstützungswürdigen Person gründet nicht darin, dass diese die Rechte einer anderen Person gefährdet. Sie gründet darin, dass die zu unterstützende Person dieselben Rechte wie eine andere Person ihrer Solidargemeinschaft erst dann in gleichberechtigter Weise ausüben kann, wenn sie eine angemessene Unterstützung erhält. Auch hier haben wir einen Konflikt, einen Konflikt allerdings nicht aufgrund einer Kollision von Interessen, sondern aufgrund von strittiger Verteilung gleicher Chancen. In dieser Konstellation ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz damit nicht das passende Kriterium bzw. nicht der passende methodische Ansatz der „Abwägung“. Durch die Gegenüberstellung von Kollisionskonflikt und Distributionskonflikt wird vielmehr deutlich, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur eine auf die Eingriffskonstellation bezogene Ausprägung des Gleichberechtigungsgedankens ist, welcher sich aus dem Gleichheitssatz bzw. der Rechtsgleichheit verallgemeinern lässt. In der Leistungskonstellation erhält er dann die Funktion der Chancengleichheit. Zu fragen ist daher nicht wie „verhältnismäßig“ die Unterstützungsleistung für die Finanzierenden des Leistungssubstrats ist. Abgesehen davon, dass sich diese Frage gar nicht operationalisieren lässt, trifft sie auch das Problem nicht. Zu fragen ist, ob die zu unterstützende Person mit der zugesprochenen Leistung die gleichen Chancen hat, ihre berechtigten Interessen, und das heißt, die ihr rechtlich zugedachten Freiheiten, zu realisieren, wie eine andere Person. Methodisch führt dies dann wieder zur Konstruktion einer Relationsnorm. Denn auch im Distributionskonflikt müssen Rechtspositionen zueinander in Beziehung gesetzt werden: die positiven Zugeständnisse/Zusprachen realer Freiheitschancen. Und solange das grundsätzliche Anknüpfungsmerkmal der Unterstützung mit dem Gleichheitssatz verbunden werden kann, liegt auch ein relationales Normprogramm vor, unter dessen Regime eine entsprechende Relationsnorm zu konkretisieren ist.

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Ausgangspunkt ist zunächst das positive Anknüpfungsmerkmal, der Unterstützungsgrund, aufgrund dessen eine Person als unterstützungswürdig anzuerkennen ist. Dieses Merkmal verbindet sich in der Regel mit einer ebenso positiv definierten Reichweite, für welche die Leistung zu gewähren sei. Unterstützungsgrund und Unterstützungsreichweite können vielleicht als das Unterstützungsprogramm bezeichnet werden. Die Überprüfung ihrer Einschlägigkeit bewegt sich auf der ersten Konkretisierungsstufe. Kann man die Einschlägigkeit bejahen, so stellt sich im Übergang zur zweiten Konkretisierungsstufe zudem die Anschlussfrage, ob im konkreten Fall auch der Gleichheitssatz bzw. die Rechtsgleichheit Geltung hat. Trifft auch dies zu, so liegt ein Anwendungsfall der „Abwägung“ in der Leistungskonstellation vor. Aufgrund ihrer strukturellen Mobilitätseinschränkung (Unterstützungsgrund) hat beispielsweise eine Gehbehinderte hinsichtlich des Erhalts ihrer Arbeitsfähigkeit (Unterstützungsreichweite) einen grundsätzlichen Anspruch auf Hilfsleistung. Kann durch korrekte methodische Zurechnung zudem der Gleichheitssatz bzw. die Rechtsgleichheit als im konkreten Fall einschlägig betrachtet werden, so geht der Rechtsanspruch der Behinderten da hin, mit Blick auf den Erhalt der Arbeitsfähigkeit in Bezug auf ihre Mobilität so unterstützt zu werden, dass sie dieselben Chancen hat wie eine Person, welche nicht an der rechtsrelevanten Mobilitätseinschränkung leidet.

Auch im Distributionskonflikt findet sich rechtsmethodisch gesehen, jedenfalls potenziell, eine Normenkollision. Sie besteht, wenn die auf der Grundlage des spezifischen Unterstützungsprogramms konkretisierte Relationsnorm mit einer außerdem einschlägigen positiven Unterstützungsregelung, wie sie z. B. in Hilfsmittellisten vorgesehen sind oder ihrerseits aus Ermessensvorschriften abgeleitet werden, in Widerspruch gerät. Im Unterschied zum Kollisionskonflikt ist die Normenkollision im Distributionskonflikt allerdings nicht nur konfliktbegründend, sondern zugleich auch konfliktentscheidend. Denn am Ende, jedenfalls sofern die Chancengleichheit tatsächlich verletzt ist, ist es die Relationsnorm selbst, welche mit einer anderen Rechtsnorm (die positiv eine geringere oder größere Unterstützungsleistung fordert) in Konflikt steht. Sofern die Relationsnorm am materiellen Konflikt beteiligt ist, wird er durch diese nicht nur definiert, sondern zugleich auch entschieden. Angenommen, im vorherigen Beispiel wird der Gehbehinderten, aufgrund einer positiven Hilfsmittelregelung oder einer Ermessensklausel, eine bestimmte Unterstützungsleistung zugesprochen. Sie ist jedoch der Auffassung, diese Unterstützungsleistung sei zu gering, weil sie ihr in Bezug auf die positiv anerkannte Unterstützungsreichweite noch nicht dieselben Chancen gebe, wie eine nicht-behinderte Person sie habe. – Sie behauptet damit, die zugesprochene Leistung bzw. die ihr zugrunde liegende Rechtsnorm kollidiere mit der Relationsnorm. Trifft dies zu, dann ist die Leistung tatsächlich zu gering. Trifft dies nicht zu, dann kann die Leistung mangels Verstoßes gegen die Relationsnorm nicht als zu gering

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bezeichnet werden. Alles hängt also daran, ob die positive Grundlage für die zugesprochene bzw. abgesprochene Leistung mit der Relationsnorm kollidiert.

Im Kollisionskonflikt liegen die Dinge insofern anders, als der materielle Konflikt bereits durch die Kollision zweier positiver Normen entsteht und die Relationsnorm quasi als entscheidende Dritte hinzutritt. Eine entsprechende Spannung oder eben ein entsprechender materieller Konflikt zwischen positiven Rechtslagen liegt zwar auch im Distributionskonflikt vor: eben zwischen den rechtlich gewährleisteten Chancenpositionen der zu vergleichenden Personen. Nur handelt es sich dabei nicht um eine Kollision von Normprogrammen. Die Normprogrammkollision ergibt sich (möglicherweise) erst durch die Konstruktion einer Relationsnorm, welche die aufeinander bezogenen Chancenpositionen unter dem Aspekt gleichmäßiger Verteilung prüft. Eine (methodische) Kollision (widersprechender Normprogramme) kann also nur zwischen der Relationsnorm und einer ihr widersprechenden Chancenposition entstehen. Zwischen den verschiedenen Chancenpositionen selbst kann man (bei entsprechender Relationsnorm) jedoch nicht von einer Kollision, sondern nur von einem Konflikt sprechen.113 Im verwendeten Beispiel des Distributionskonflikts besteht der materielle Konflikt, jedenfalls behauptungsweise, etwa zwischen der behinderten und einer nichtbehinderten Person. Die Rechts- bzw. Chancenpositionen der beiden kollidieren jedoch nicht miteinander, wie es etwa die Rechtspositionen in den oben verwendeten Beispielen der Eingriffskonstellation tun. Die beiden Positionen begrenzen sich nicht gegenseitig. Dennoch stehen sie, sofern der Gleichheitssatz bzw. die Rechtsgleichheit verletzt ist, miteinander in Konflikt – insofern die eine oder an113

An dieser Stelle bietet es sich auch an, zwischen den verschiedenen Gebrauchsweisen von „Konflikt“ zu unterscheiden. Zunächst sei nochmals auf die bisherige Gebrauchsweise in der Strukturierenden Rechtslehre verwiesen, die zwischen einem normativen und einem methodologischen Konflikt differenziert. Der normative Konflikt bezeichnet hier, was allgemein als Normenkonflikt oder auch Normenkollision gemeint ist, wohingegen der methodologische Konflikt den Konflikt zwischen widersprüchlichen Bedeutungsvarianten aufgrund unterschiedlicher Verwendungen von Konkretisierungselementen bezeichnen soll: Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 22007, S. 201, m. w. H. Aus der erweiterten Perspektive dieser Studie scheint es angebracht, noch etwas weiter zu gehen und damit etwas anders anzusetzen: Da sind zunächst die faktischen Konflikte zwischen den Streitparteien, die freilich nur im Umfang ihrer Rechtserheblichkeit von (rechtlicher) Relevanz sind. Rechtskonflikte lassen sich sodann in materielle und methodische gliedern. Die materiellen Rechtskonflikte betreffen die Unvereinbarkeit von Rechtspositionen, die nach dem Bisherigen als Kollisionskonflikte oder Distributionskonflikte ausgeprägt sein können. Die methodischen Konflikte beziehen sich hingegen auf die arbeitstechnische Stellung im Konkretisierungsprozess. Auf der ersten Konkretisierungsstufe wären danach die Konflikte zwischen verschiedenen Auslegungsvarianten angesiedelt (sc. die bisherigen methodologischen Konflikte), auf der zweiten Konkretisierungsstufe die auf Normprogrammkollisionen gründenden Normenkonflikte (sc. die bisherigen normativen Konflikte).

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dere Position nämlich mit größeren Freiheitschancen verbunden ist als die jeweils andere.

In ganz analoger Weise wie im Kollisionskonflikt ist im Distributionskonflikt hingegen die Konstruktion der Relationsnorm als vergleichende Wertzumessung durchzuführen. Auch im Distributionskonflikt müssen die Normwerte der einander gegenüberstehenden Interessen (an einer gleichmäßigen Chancenverteilung) auf der Grundlage eines gültigen Wertprogramms zugemessen werden. Die Frage, ob die Chancen, dieselbe Freiheit auszuüben, zwischen zwei Personen gleichmäßig verteilt sind, heißt, jeweils zu fragen, wie stark die anderen berechtigten Interessen der jeweiligen Person dadurch beeinträchtigt werden. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Ausübung von Freiheiten für niemanden kostenlos ist. Etwas zu tun, bedeutet immer, auf etwas anderes zu verzichten („Opportunitätskosten“). Diese „Zwietracht“ liegt hier anders als im Kollisionskonflikt nicht primär zwischen den Personen, sondern in ihnen selbst. Das interpersonelle Gebot der Chancengleichheit verlangt aber, dass diese internen Kämpfe für alle gleich schwer zu führen sind. Damit läuft die Bewertung der Chancen der zu vergleichenden Personen auf die Frage hinaus, wie schwer sie es jeweils haben, die vom Anknüpfungsmerkmal des grundsätzlichen Unterstützungsanspruchs betroffenen Rechte (teleologische Auslegung) auszuüben. Das spezifische (Chancen-)Wertprogramm verbindet sich steuernd natürlich auch hier wieder mit dem je entsprechenden (Chancen-)Wertbereich. Auch hier können die jeweiligen Beeinträchtigungen dann z. B. wieder als gering, mittel und groß unterschieden werden. Und auch hier bietet sich wieder eine doppelte, nach Beeinträchtigungsintensität und Beeinträchtigungswahrscheinlichkeit unterschiedene Bewertung an. Welche Person man zum Vergleich und letztlich für die Abwägung mit der Situation der leistungsbeanspruchenden Person heranzieht, spielt im Grunde keine Rolle. Aus Gründen methodischer Nachvollziehbarkeit sollte die Vergleichsperson jedoch der Leistungsempfängerin möglichst ähnlich sein. Es bietet sich daher an zu fragen, wie groß die Chancen der anerkanntermaßen benachteiligten Person wären, wenn sie in der fraglichen Weise unterstützt würde, und wie groß die Chancen „derselben“ Person wären, wenn sie die positiv zugesprochene Unterstützung zwar nicht erhielte, zugleich aber auch nicht durch das Unterstützung begründende benachteiligende Merkmal belastet wäre. Die Schwierigkeit der Gehbehinderten, ihre Arbeitsfähigkeit mit der zugesprochenen Mobilitätshilfe zu erhalten, wäre also damit zu vergleichen, wie schwer es dieselbe Person hätte, ihre Arbeitsfähigkeit zu erhalten, wenn sie zwar nicht das Hilfsmittel, aber auch nicht die Behinderung hätte.

„Abwägung“ als Relationsnorm-Konstruktion

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In den vielen Fällen der Geschlechtergleichstellung wäre, sofern die zuvor genannten Voraussetzungen vorliegen, die Situation der durch Gleichstellungsmaßnahmen unterstützten Frauen mit derjenigen der Männer im selben Kontext zu vergleichen. – Ist es für die unterstützten Frauen im spezifischen Bereich (bereits) gleich leicht, ihre Chancen zu realisieren?

Eine solche strukturierende Methodologie des Distributionskonflikts hat nicht nur die Aussicht, operationalisiert werden zu können. Sie konzentriert sich auch an jeder Stelle ihrer Vorgehensweise auf ihr Ziel: die solidarische Gleichberechtigung zwischen Rechtsgenossinnen und Rechtsgenossen, deren Chancen auf Freiheit, zumindest im Rahmen der zugestandenen Reichweite, nicht von Merkmalen abhängen dürfen, welche für die Gleichberechtigung keine Rolle spielen. VII. Juristische Methodik im demokratischen Rechtsstaat Als kritischer Problemhorizont der „Abwägung“ wurden in dieser Studie die demokratische Verfassungsordnung und damit die Strukturprinzipien Demokratie und Rechtsstaat projektiert. Mit dem Konzept der „Abwägung“ als Rechtsnorm-Konstruktion wird versucht, den rechtsstaatlichen Forderungen nach methodischer Klarheit, Nachvollziehbarkeit und Begründbarkeit gerecht zu werden. Dabei genügt es nicht, einen analytischen Apparat erhöhter Differenziertheit bereitzustellen. Entscheidend ist, dass auch die in der „Abwägung“ buchstäblichen Werturteile an die Vorgaben des geltenden Rechts gebunden werden. Erst die Anbindung des Entscheidungsprozesses ans geltende Recht eröffnet auch die Chance auf wirkliche Demokratie. Wo allenfalls noch abstrakte Normtexte Glieder einer demokratischen Legitimationskette erkennen lassen, die konkreten Entscheidungen jedoch diskret vom demokratischen Gesamtprozess gelöst werden, ist Demokratie, im Sinne einer autonomen, sich selbst bestimmenden Rechtsgemeinschaft,114 nicht real. Juristische Methodik ist daher nicht nur Rechtstechnik. Sie ist fortgesetzte Verfassung des demokratischen Rechtsstaats. Der demokratische Rechtsstaat ist aber nicht nur ein verfassungstheoretisches Ideal, auf welches sich juristische Methodik ausrichten muss. Er ist auch selbst ein methodisches Prinzip. Weil Entscheidungen nicht vorentschieden sind, muss der Pluralismus auch unterhalb der Schwelle legislativer Normtextproduktion wirksam werden. Damit er auch postlegislativ keiner Totalität zum Opfer fällt, ist die Rechtsanwendung so zu verfassen, dass die Idee einer fairen Entscheidung unter Gleichberechtigten durch an114 So etwa, wie es Joshua Cohen formuliert: Joshua Cohen, Reflections on Deliberative Democracy, in: ders., Philosophy, Politics, Democracy, Cambridge (Mass.)/ London 2009, S. 327–347, 335 f.

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gemessene Kriterien zum Tragen kommt. Zu orientieren sind diese Kriterien an der Idee der Gerechtigkeit:115 Im Pluralismus von Gleichberechtigten sind im Konfliktfall Entscheidungen zu treffen, welche die Prinzipien je zu ihrem Recht kommen lassen. Nicht die eigensinnigen Interessen entscheiden, wie die Prinzipien zu ordnen sind, sondern an den Sinnhorizonten der geltenden Prinzipien bemisst sich, welche Bedeutung den Interessen zukommt. Die Gleichrangigkeit der Prinzipien vorausgesetzt, haben sie dasselbe Recht auf Verwirklichung. Wie wichtig konkrete Interessen für ihre Verwirklichung sind und wie sehr sie der Verwirklichung anderer Prinzipien dabei im Wege stehen – dafür liefert das Recht die normativen Anhaltspunkte, und zu entscheiden ist darüber in der Argumentation. Das ist nichts anderes als eine methodologisch gewendete Definition rechtsstaatlich verfasster Demokratie. Dabei sollte im vorstehenden Versuch der Ausarbeitung dieser Gedanken deutlich geworden sein, dass sich konkrete Rechtsarbeit nicht auf großen Worten ausruhen kann. Wenn Demokratie, Rechtsstaat und Gerechtigkeit nicht bloße Worte bleiben, sondern als theoretische Konzepte praktisch werden sollen, dann ist juristische Methodik gefordert. Es muss ihr gelingen, Großes in Kleinarbeit umzusetzen und Rechtsprobleme im konkreten Fall rechtsgebunden zu lösen. In diesem Sinne will das Konzept der Relationsnorm-Konstruktion nichts Großes. Aber vielleicht wird damit der Abstand zwischen der überdimensionierten „Abwägungs“-Praxis und ihrer theoretischen (V)Erfassung etwas kleiner.

115 Vgl. das Konzept der Pluralistischen Grundsätzlichkeit von Philippe Mastronardi, dessen Grundgedanken mit dem in dieser Studie vorgestellten Konzept quasi in die juristische Methodik reimportiert werden: z. B. Philippe Mastronardi, Angewandte Rechtstheorie, Bern et al. 2009, S. 238–262, Rz. 567–628. Allgemein zu Mastronardis Ansatz Ralph Christensen, Rechtstheorie im Übergang, in: R. J. Schweizer/F. Windisch (Hrsg.), Integratives Rechtsdenken, Zürich/St. Gallen 2011, S. 3–17. Zu Genealogie, Gehalt und Verwendungsweisen sowie kritische Würdigung der Pluralistischen Grundsätzlichkeit Florian Windisch, Eine Kampfmethode der Gerechtigkeit, im selben Band, S. 213–228; und Philippe Mastronardi, Elemente einer integrativen wissenschaftlichen Entscheidungslehre, ebenfalls im selben Band, S. 231–285, insb. 277–284.

Die Sprache des Gesetzes ist nicht Eigentum der Juristen Von der Prinzipienspekulation zur empirischen Analyse der Abwägung Friedemann Vogel und Ralph Christensen „Abwägung“ und „Prinzipien“ gelten in der Rechtstheorie als Schlüsselworte für das Verständnis der Jurisprudenz vornehmlich im Verfassungsrecht. Die Standards der juristischen Methodik werden zunehmend von diesen Begriffen verdrängt. Dies gilt vor allem für den Bereich der Grundrechte. Im Falle ihrer Kollision werden sie im Wege der praktischen Konkordanz gegeneinander „abgewogen“. Sogar von Art. 1 GG, der dem Wortlaut des Grundgesetzes nach unantastbar ist, wird behauptet, dass ihn die Gerichte im Wege einer verdeckten Operation durch „Abwägung“ einschränkten. Bevor man sich also von der juristischen Methodik verabschiedet, sollte man den Begriff Abwägung zunächst klären. Es wird sich dabei zeigen, dass die Unklarheit bei der Theorie liegt und nicht bei den Gerichten. I. Was heißt Abwägung? Das Wort „Abwägung“ kann in mehrfacher Weise verwendet werden. Der Ausdruck wird in der Logik und philosophischen Argumentationstheorie für das heftig diskutierte ›konduktive Argument‹ gebraucht. In der Rechtstheorie wird das Wort „Abwägung“ für einen ›von der Semantik des Gesetzes getrennten Ausgleich von Prinzipien‹ verwendet. Schließlich erscheint das Wort bei den Gerichten, wenn sie den durch die ›Verarbeitung von Einwänden angetriebenen Prozess der lokalen Ausarbeitung der Semantik‹ benennen. Wenn das Wort „Abwägung“ auftaucht, ist also darauf zu achten, mit welcher Operation diese Figur eingelöst werden soll. 1. Konduktives Argument

Ob es neben dem deduktiven, induktiven und abduktiven Argument noch ein konduktives Argument gibt, wird seit einigen Jahren in der philosophischen Argumentationstheorie und Logik diskutiert. Ergebnis dieser Debatte

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ist vorläufig, dass man ein konduktives Argument dann für möglich hält, wenn es in der Diskussion gelinge, die unterschiedlichen Rahmen der am Streit beteiligten Personen so in Beziehung zu setzen, dass eine Hierarchie entstehe. Das konduktive Argument zieht also die Folgerung aus einer vorangegangenen Rahmenhierarchisierung. Diesem Ergebnis ging aber eine Entwicklung voraus. Es wurde darum gestritten, ob sich aus der Abwägung wirklich eine Technik machen lasse, weil man dabei auf das Problem heterogener Argumente stoße. Diese kommen aus verschiedenen Kontexten und seien deswegen nicht vergleichbar. Bevor eine Abwägung stattfinden könnte, müssten diese Argumente erst vergleichbar gemacht werden. Wie will man aber das Persönlichkeitsrecht gegen das Interesse der Gemeinschaft an der Strafverfolgung oder die Religionsfreiheit einer gesellschaftlichen Gruppe gegen die Kunst- oder Pressefreiheit einer Zeitungskarikatur abwägen? Wenn es „Abwägung“ als ›Technik‹ geben sollte, müsste sie sich als implizite Kompetenz im sprachlichen Handeln pragmatisch rekonstruieren lassen. Ansatzpunkt könnte dabei die Pro- und Kontra-Argumentation sein, wie sie sowohl im Recht, als auch in anderen Lebenszusammenhängen vorkommt. Sollen also die Strafverfolgungsorgane ein Tagebuch verwerten können? Man könnte im Sinne einer Pro- und Kontra-Argumentation zunächst alle Argumente, die dafür sprechen, und alle Argumente, die dagegen sprechen, sammeln, dann numerisch gewichten und schließlich das Ergebnis errechnen. Diese Vorstellung geht aber an der Realität von Argumentation und den Kompetenzen, die dabei entfaltet werden, vorbei. Dies sieht man bei genauer Betrachtung von Argumentationsprozessen sofort. Für eine Verwertung kann vorgebracht werden, dass in vielen Fällen mit der Verwertung des Tagebuchs die Motive und der Ablauf der Tat besser verstanden werden können. Die Strafverfolgung würde also effektiver. Gegen die Verwertung könnte sprechen, dass die Persönlichkeitsentwicklung ein Medium zur Selbstreflexion braucht, welches dem Zugriff Dritter entzogen ist. Mit einem Pro- und einem Kontra-Argument steht es jetzt Eins zu Eins. Aber was dieses Ergebnis für das Ziel der Argumentation besagt, ist vollkommen ungewiss, denn die beiden Argumente sind auf vollkommen verschiedene Kontexte bezogen. Das erste Argument ordnet das Problem aus der Sicht der Strafrechtspflege, das zweite Argument ordnet das Problem aus der Sicht der Persönlichkeitsentwicklung. Die beiden spielentscheidenden Tore sind also auf verschiedenen Spielfeldern erzielt worden. Eine „Abwägung“ im Sinne des konduktiven Arguments stößt also auf das Problem der Heterogenität der argumentationsgenerierenden Kontexte. Man könnte nun auf dieses Problem reagieren, indem man das relative Gewicht der Kontexte fixierte und diese Gewichtung in die einzelnen Kontexte hinein fortsetzte. Dann ließe sich tatsächlich ein ‚Wägevorgang‘

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durchführen. Hierzu brauchte man einen Geist des Vergleichs. Aber wie soll man die Prioritäten bilden? Man ist geneigt, dabei an Fälle zu denken, wo diese Prioritätenbildung einmal gelingt. Der Vergleich im Prozess ist dabei ein Beispiel. Hier gelingt es den Parteien, die Verschiedenheit ihrer Rahmungen in einem gemeinsamen übergeordneten Rahmen aufzuheben. Wenn der Vergleich nicht gelingt, fehlt ein gemeinsamer Rahmen. Wie lassen sich jetzt noch Prioritäten bilden? Damit stoßen wir auf ein grundlegendes Problem des Versuchs, Argumentation mit dem Bild des Abwägens zu beschreiben. Diese grundsätzliche Schwierigkeit liegt in der quantitativen Metaphorik. In Argumentation geht es um Qualitäten. Sollen diese quantitativ untereinander vergleichen werden, bräuchte man eine gemeinsame Qualität als Grundlage. Die philosophische Argumentationstheorie hat in mehreren Diskussionsschritten auf dieses Problem reagiert. Zunächst wurde vorgeschlagen, die nicht einlösbare Gewichtsmetaphorik durch eine Kraftmetaphorik zu ersetzen1 und die Pro-et-Contra-Debatte als eine Art Tauziehen aufzufassen. Damit kommt es schon eher auf die beteiligten Personen mit ihren Positionen und ihren Einfällen an. Dadurch entfernt man sich einen Schritt vom Scheinobjektivismus eines Waagschalen-Abwägens von Gewichten. Weiterhin hat man versucht, die Struktur eines nicht-deduktiven Argumentationsmusters anhand holzschnittartiger Fälle zu erarbeiten, in denen eine Gewichtung unproblematisch möglich ist.2 Daran anschließend wurde vorgeschlagen, Argumenten Ziffern zuzuordnen, die ein Errechnen der Folgerung ermöglichen sollten.3 Bei der Zuordnung von Zahlen zu Argumenten muss man allerdings intuitiv vorgehen, weil man dazu über keinen Maßstab verfügt. Dieser naive Versuch einer Anlehnung an die mathematische Entscheidungstheorie hat sich damit als willkürlich herausgestellt und ist mittlerweile aufgegeben.4 1

Naess, A., Kommunikation und Argumentation, Kronberg/Ts. 1975. Grundlegend Wohlrapp, H., Der Begriff des Arguments, Würzburg 2008, S. 316 ff.; Goviers, T., A Practical Study of Argument, 3. Aufl., Belmont/California 1992, S. 312 ff. 2 Govier, T., A Practical Study of Argument, 3. Aufl., Belmont/California 1992, Kap. 4. Vgl. zur Kritik Wohlrapp, H., Über nicht-deduktive Argumente, in: Klein, P. (Hrsg.), Praktische Logik, Göttingen 1996, S. 217 ff. 3 Schmidt-Faber, W., Argument und Scheinargument, München 1986 sowie Luhmer, Ch., Praktische Argumentationstheorie, Baunschweig 1991. Grundlegende Kritik bei Wohlrapp, H., Heterogenität als argumentationstheoretisches Problem, in: Paschen, H./Wigger, L. (Hrsg.), Schulautonomie als Entscheidungsproblem. Zur Abwägung heterogener Argumente, Weinheim 1996, S. 43 ff. 4 Wohlrapp, H., Heterogenität als argumentationstheoretisches Problem, in: Paschen, H./Wigger, L. (Hrsg.), Schulautonomie als Entscheidungsproblem. Zur Abwägung heterogener Argumente, Weinheim 1996, S. 45 ff.

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Abwägung ist also nur dann ein Verfahren, wenn es den Beteiligten gelingt, ein Medium des Vergleichs zu etablieren, also einen Rahmen zu finden, der die beiden unterschiedlichen Rahmen beider Seiten erfasst. Dies wird natürlich häufig vorkommen in Schiedsgerichtsverfahren und im Vergleich. Ansonsten muss der Richter entscheiden. Wie kann er dann noch legitimieren, dass er den Parteien einen Rahmen aufzwingt, den sie selbst nicht gefunden haben? Hier bieten sich zwei Wege an: Einmal dadurch, dass er einen von den Parteien über die Prinzipien der Rechtsordnung und ihre eigene Kommunikation schon immer vorausgesetzten Rahmen aufdeckt. Zum anderen dadurch, dass er den vermittelnden Rahmen möglichst an allen vorgetragenen Argumenten der Parteien überprüft und dann eine Semantik lokal ausarbeitet, die er mit dem Gesetz demokratisch legitimiert. Abkürzend könnte man von einem Prinzipienaufdeckungsmodell oder einem Semantikausarbeitungsmodell sprechen, wobei das erste sich auf die Einheit der Rechtsordnung und das zweite sich auf lokal vorgetragene Einwände verlässt. 2. Abwägung von Prinzipien

Die Bedeutungsvariante von „Abwägung“ als Prinzipienaufdeckung wird in der Rechtstheorie von Alexy und seiner Schule vertreten: „Abwägung“ als ›Ausgleich zwischen Prinzipien‹. Auch in der Rechtstheorie war dieser Begriff allerdings immer umstritten. Das Problem der fehlenden Technik wurde klar gesehen: „Gegen das Konzept der Abwägung ist immer wieder eingewandt worden, dass es keine Methode darstelle, die eine rationale Kontrolle ermögliche. Wert und Prinzipien regeln ihre Anwendung nicht selbst, also bleibe die Abwägung dem Belieben des Abwägenden überlassen. Wo die Abwägung beginne, höre die Kontrolle durch Normen und Methoden auf. Es öffne sich der Raum für richterlichen Subjektivismus und Dezisionismus. Diese Einwände treffen zu, soweit mit ihnen gesagt wird, dass die Abwägung kein Verfahren ist, das in jedem Fall zwingend zu genau einem Ergebnis führt. Sie treffen aber nicht zu, soweit hieraus der Schluss gezogen wird, dass die Abwägung kein rationales oder ein irrationales Verfahren ist.“5

Das klingt zunächst gut. Denn tatsächlich wollen wir vom Richter nicht wissen, ob er Strafverfolgung lieber mag als das Recht der Persönlichkeit oder umgekehrt. Statt einer Dezision bräuchten wir also Argumente: „Einem derartigen Dezisionsmodell der Abwägung kann jedoch ein Begründungsmodell gegenübergestellt werden. In beiden Modellen ist das Ergebnis der Abwägung ein bedingter Präferenzsatz. Im Dezisionsmodell ist die Festsetzung des Präferenzsatzes das Ergebnis eines rational nicht kontrollierbaren psychischen Vor5

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ganges. Das Begründungsmodell unterscheidet demgegenüber zwischen dem psychischen Vorgang, der zur Festsetzung des Präferenzsatzes führt, und dessen Begründung.“6

Auch das klingt wieder vielversprechend. Aber das Wichtige an diesem Begründungsmodell ist, dass es nicht von der Semantik des Gesetzes und der Argumentation der Beteiligten abhängt: „Allerdings scheiden semantische Argumente aus, wenn mit der Feststellung der Kollision über die Anwendbarkeit der infrage kommenden Grundrechtsbestimmungen vom Wortlaut her bereits entschieden ist.“7 Hier meldet sich wieder der Wunsch nach einem den ‚Wechselfällen der Sprache‘ entzogenen Recht. Die Bedeutung lasse sich nicht unmittelbar aus den Gesetzesbegriffen gewinnen. Dafür wird das Problem an eine zweite Rechtsquelle weitergereicht. Die fehlende Bedeutung wird zur ‚Lücke‘. Wenn das Gesetz keine vorgegebene Bedeutung habe, so müssten andere Maßstäbe in die Bresche springen. 3. Abwägung als lokale Ausarbeitung der Semantik

Die dritte Bedeutungsvariante von „Abwägung“ verwendet diese Bezeichnung weder als konduktives Argument, noch als Ausgleich von Prinzipien. Bezeichnet wird damit ein ›von der Verarbeitung von Einwänden vorangetriebener Vorgang der lokalen Ausarbeitung der Semantik von Rechtsbegriffen‹: „Geht man mit einer linguistisch aufgeklärten Methoden- und Argumentationslehre davon aus, dass der Normtext (. . .) noch nicht die Norm ist, weil diese sich erst aus der Konkretisierung im Einzelfall ergibt, kennt das Grundgesetz keine einzige Norm, die auf axiomatisch voraus-gesetzten und außer Diskussion gestellten Prämissen beruht.“8

Bevor man subsumieren kann, muss die Semantik feststehen. Man sieht das am Beispiel des umstrittenen Begriffs der „Menschenwürde“: Es ist hier zwischen der Garantie der Menschenwürde als Verfassungssatz und dessen Konkretisierung im Fall zu unterscheiden.9 Die meisten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts betonen einerseits die Absolutheit der Würdegarantie, und andererseits nehmen sie eine Differenzierung nach berührten 6

Alexy, R., Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1994, S. 144. Alexy, R., Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1994, S. 143. 8 Rolf Gröschner/Oliver W. Lembcke, Dignitas absoluta. Ein kritischer Kommentar zum Absolutheitsanspruch der Würde, in: dies. (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, Tübingen 2009, S. 14. 9 Matthias Herdegen, Die Garantie der Menschenwürde: Absolut und doch differenziert?, in: Rolf Gröschner/Oliver W. Lembcke, Das Dogma der Unantastbarkeit, Tübingen 2009, S. 97. 7

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Rechtsgütern10 oder der Täter- bzw. Opferrolle11 vor. Man darf also die Absolutheit der Menschenwürde nicht mit dem Fehlen von Differenzierungen gleichsetzen:12 „Eine situationsbezogene Differenzierung bedeutet nicht, dass ein an sich bestehender Achtungsanspruch mit kollidierenden Verfassungsbelangen wie dem Schutz von Leib und Leben abgewogen wird. Vielmehr erschließt sich der Achtungsanspruch des Einzelnen in einer konkreten Situation aus dem verfassungsrechtlichen Leitbild des Menschen als Person in seiner Verantwortung für autonomes Handeln und auch seiner Schutzbedürftigkeit etwa bei Krankheit, Behinderung oder Bedrohung durch Dritte. Dies meint auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wenn sie eine Verletzung der Menschenwürde immer von der ‚Ansehung des konkreten Falls‘ abhängig macht. Der einmal ermittelte Achtungsanspruch kraft menschlicher Würde unterliegt keiner weiteren Abwägung mit Grundrechten und anderen Verfassungsbelangen. So findet auch ein Grundrecht mit einem besonderen Stellenwert in der verfassungsrechtlichen Wertordnung wie die Meinungsfreiheit absolute Schranken im Würdeanspruch des Einzelnen.“13

II. Theorie der Abwägung: Von der Gesetzessemantik zu den Rechtsprinzipien In der Jurisprudenz wird die Abwägung entweder von vornherein abgelehnt oder mittels einer philosophischen Fundierung emphatisch bejaht. Was zwischen diesen Extremen fehlt, ist eine Analyse der gerichtlichen Praxis der Abwägung. Aber natürlich braucht man auch dazu zunächst eine Theorie.

10 BVerfG 109, S. 279 ff., 313 ff.; Manfred Baldus, Der Kernbereich privater Lebensgestaltung – Absolut geschützt, aber abwägungsoffen, in: JZ 2008, S. 218 ff. 11 BVerfGE 115, S. 118 ff., 160 ff. 12 Vgl. in diesem Sinne auch Matthias Herdegen, Die Garantie der Menschenwürde: Absolut und doch differenziert?, in: Rolf Gröschner/Oliver W. Lembcke, Das Dogma der Unantastbarkeit, Tübingen 2009, S. 95. 13 Matthias Herdegen, Die Garantie der Menschenwürde: Absolut und doch differenziert?, in: Rolf Gröschner/Oliver W. Lembcke, Das Dogma der Unantastbarkeit, Tübingen 2009, S. 98. „Die Deutung die Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts (. . .) dränge zu einer Konkretisierung der Würdegarantie, die für eine situationsbezogene Gesamtwürdigung der berührten Belange im Lichte der grundgesetzlichen Wertordnung offen ist. Der so ermittelte Würdeanspruch gilt dann absolut und unterliegt keiner Abwägung mit anderen Verfassungsbelangen.“ (Matthias Herdegen, Die Garantie der Menschenwürde: Absolut und doch differenziert?, in: Rolf Gröschner/Oliver W. Lembcke, Das Dogma der Unantastbarkeit, Tübingen 2009, S. 109.)

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1. Der platonistische Regelbegriff der Juristensemantik

Es war ein alter Traum, die Welt des Rechts mittels ‚der‘ Begriffe zu beherrschen. Das Wuchern der Ausnahmen von ‚unbestimmten‘ oder ‚vagen Begriffen‘ und mehr noch das in ihrer Systematisierung liegende Eingeständnis, dass sie eher die Regel sind, perforieren unvermeidlich die juristische Idee vom Normalfall sprachlichen Funktionierens. Die Praxis hat an diese Stelle die Verkettung von Präjudizien gesetzt (siehe unten). Die Theorie hat zum Teil versucht, der Vorstellung eines die Welt beherrschenden, also überweltlich ontologisierten Begriffes mit logischen oder philosophischen Mitteln aufzuhelfen. a) Die gesetzespositivistische Semantik In der deutschen Jurisprudenz gibt es eine spezielle „Juristensemantik“, welche von Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann ausgearbeitet wurde und in der Schule von Robert Alexy übernommen wird. Sprache ist dort als Summe von vorgegebenen Regeln verstanden. Im Ernstfall eines streitigen Begriffs sind diese dann natürlich ungreifbar oder „vage“ und werden durch abstrakte Prinzipien ersetzt, die dann im Rahmen einer philosophischen Theorie gegeneinander ‚abgewogen‘ werden sollen. Vagheit ist in diesem Rahmen ein Mittel, von der Sprache, zu der jeder Sprecher Zugang hat, zur Rechtswissenschaft zu gelangen, zu der nur noch Spezialisten Zugang haben. Das Theorem führt damit zur Entmündigung der im wirklichen Verfahren beteiligten Sprecher. Als „Semantik“ wird die vorgängige Existenz einer Regel angenommen, mit der sich jeder Gebrauch beurteilen lassen soll. Daher postuliert die herkömmliche Lehre eine „Externalität der Sprache für das Recht“.14 Das heißt, die Sprache operiert als ontisch gedachte Rechtfertigungsinstanz über den juristischen Argumenten. Die Semantik von Koch/Alexy wird aus dem Entscheidungsvorgang ausgeklammert und als Steuerungs- und Kontrollinstanz gesetzt. Man glaubt an die „Steuerungsfähigkeit der Sprache“15 und des näheren an die „Steuerungskraft der Semantik“.16 Damit ist auch schon 14

Klatt, M., Theorie der Wortlautgrenze. Semantische Normativität in der juristischen Argumentation, Baden-Baden 2004, S. 282, sowie Alexy, R., Theorie der juristischen Argumentation, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1996. Ausführlich gegen Alexys Ansatz Christensen, R./Kudlich, H., Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001, S. 58 ff. 15 Klatt, M., Theorie der Wortlautgrenze. Semantische Normativität in der juristischen Argumentation, Baden-Baden 2004, S. 30. Grundsätzlich dagegen Christensen, R./Kudlich, H., Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001, S. 128 ff.

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das Verhältnis des ‚semantischen‘ Arguments zum juristischen geklärt. Denn das Gericht müsse für jedes Argument, das es vorbringt, ausweisen, dass es der Regel entspreche. Vor jeder juristischen Interpretation läge also eine externe ‚sprachliche‘. Diese Vorstellung geht jedoch nicht nur an der Realität sprachlicher Praxis17 vorbei, sondern lässt sich in der Praxis der Gerichte auch nicht beobachten18. Den Gerichten fehlte der Nachweis, dass ihre Wortgebrauchsregel genau diejenige ist, die tatsächlich ‚gilt‘. b) Der Rückzug von der Semantik zu den Rechtsprinzipien „Regeln“ im Sinne von Koch und Alexy sind „Normen, die stets nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können“,19 sie sind also „definitive Gebote“.20 Prinzipien dagegen seien abstufbar und vor allem abwägbar.21 Das ‚semantische‘ Argument gilt dabei als Aufweis einer Regel. Es funktioniert als Möchtegern-Feststellung über die natürliche Sprache oder den Fachsprachgebrauch. Festzustellen seien diese Regeln dann über die Besinnung auf die eigene Sprachkompetenz oder durch Nachschlagen in Wörterbüchern. Das kann natürlich weder methodisch noch praktisch funktionieren. Der Sprachphilosoph Friedrich Waismann beschreibt dieses Problem folgendermaßen: „Ein Ausdruck ist dann definiert, wenn die Situation beschrieben ist, in die er gebracht werden soll. Nehmen wir für einen Augenblick an, wir könnten Situationen vollständig und ohne etwas auszulassen beschreiben (wie beim Schachspiel), dann ließe sich eine erschöpfende Liste all der Bedingungen aufstellen, unter denen der Ausdruck zu gebrauchen ist: wir würden mit anderen Worten eine vollständige Definition konstruieren, das heißt ein Denkmodell, das ein für allemal sämtliche Fragen eines möglichen Gebrauchs vorweg nimmt und entscheidet. Da wir aber in Wahrheit nie die Möglichkeit eines unvorhergesehen auftauchenden Faktors ausschließen können, gelangen wir nie zur absoluten Sicherheit.“22 16 Klatt, M., Theorie der Wortlautgrenze. Semantische Normativität in der juristischen Argumentation, Baden-Baden 2004, S. 21: „Es kann in einer intersubjektiv gültigen Weise zwischen einem korrekten und einem inkorrekten Gebrauch von sprachlichen Ausdrücken unterschieden werden.“ 17 Vgl. dazu Vogel, F., Linguistik rechtlicher Normgenese, Walter de Gruyter, 2012. 18 Vgl. dazu Kudlich, H./Christensen, R., Die Methodik des BGH in Strafsachen, Köln, München 2009, S. 27. 19 Alexy, R., Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1994, S. 76. 20 Alexy, R., Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg, München 1994, S. 120. 21 Poscher, R., Theorie eines Phantoms, Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, in: RW 2010, S. 349 ff. 22 Waismann, F., Verifizierbarkeit, in: Bubner, R. (Hrsg.), Sprache und Analysis – Texte zur englischen Philosophie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1968, S. 154 ff., 160 f.

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Jede neue Fallkonstellation kann also die Regel eines Sprachgebrauchs verschieben. Daher kann eine Sprache oder ein Text nicht als geschlossenes System feststehender Merkmale betrachtet werden: durch jede Interpretation kann das vorhandene Zeichenmaterial neu und anders differenziert werden, wird Bedeutung eines Ausdrucks neu kontextualisiert und dient selbst als exemplarische Grundlage für spätere Interpretationsakte (Transkription). Das zentrale Problem ist damit die praktische Frage der Regelbeschreibung. Die Vorstellung von Kommunikation als Tätigkeit, die sich darauf beschränkt, offenbar fertige Absichten mit Hilfe eines vorgegebenen Codes zu transportieren, erweist sich in der Praxis als nicht einlösbar. Die Regelsemantik neigt dazu, „die System- und Regelhaftigkeit ihres Phänomenbereichs zu axiomatisieren und Universalien auch dort zu postulieren, wo tatsächlich nur historische oder gesellschaftsformativ bedingte Formen des (Sprech-)Handelns vorliegen. Für eine Analyse des realen Sprachgebrauchs taugen ihre formulierten Gesetzmäßigkeiten nicht, denn diese erlauben nur Hinweise dieses Typs: ‚Da eine Person A x erfragt, weiß sie x nicht – vorausgesetzt, es liegen Normalbedingungen der Rede vor.‘ Und ob solche Normalbedingungen in einem gegebenen Fall vorliegen oder nicht, wird (. . .) zur kontingenten Angelegenheit erklärt; Systematisierungsmüll (. . .).“23

Bedeutungsbeschreibungen liefern nichts anderes als Gebrauchsbeispiele für den fraglichen Ausdruck. Durch ihre lexikographische Festschreibung zum Wortbestand der Sprache mögen sie zwar paradigmatisch bei Zweifeln an der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke oder im Streit darum eingesetzt werden. Eine ‚an und für sich‘ eindeutig feststellbare Regel aber, die solche Zweifel ein für allemal ausräumen oder solchen Streit unwiderruflich schlichten könnte, liefern die Bedeutungsbeschreibungen nicht. In der Sprachwissenschaft ist heute anerkannt, dass sich eine funktionierende Sprache nur als Gesamtheit, dass ein einzelnes Element sich nur vor dem Hintergrund eines heuristisch angenommenen Systems beschreiben lässt. Die Bedeutung eines einzelnen Wortes verweist auf die entwicklungsoffene Gesamtheit aller anderen und kann nur im Zusammenhang gemeinsamer Überzeugungssysteme bestimmt werden.24 Der Holismus ist dabei keine 23

Gloy, W., Unbehagen an der Linguistik, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, Osnabrück 1984, S. 97 ff., 104 f. 24 Der so genannte Holismus der heutigen Sprachwissenschaft ist keineswegs eine radikale Neuerung. Besonders in der deutschen von Humboldt herkommenden Tradition war er immer anerkannt: „Es gibt nichts einzelnes in der Sprache, jedes ihrer Elemente kündigt sich nur als Teil eines Ganzen an.“ Wilhelm von Humboldt, Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung. Schriften zur Sprachphilosophie. Werke in fünf Bänden, Bd. III, S. 10. Der neuerliche Akzent auf diesen Holismus knüpft vor allem an die Sprachphilosophie Donald Davidsons an: Vgl. dazu Schaedler-Om, M., Der soziale

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Einbahnstraße. Es ist nicht nur so, dass sich Bedeutung nur aus dem ganzen Lebenszusammenhang heraus erschließt, in denen der Gebrauch der Wörter seinen Sinn und seinen Zweck hat, dass also „die Gesamtheit der Zwecke und Handlungen (. . .) die Bedeutung bestimmt“.25 Sondern „die Möglichkeit alternativer Interpretationen ist sehr groß, weil jede Änderung der Bedeutung eines Teils die Änderung des Ganzen nach sich zieht“.26 Das heißt, eine Sprachregel ist nicht vorgängig, sondern nachgängig, nur in der Retrospektive beschreibbar. Sie ist ein vorläufiger Versuch, gelungene Kommunikationsakte unter normativer Bewertung zu verketten. c) Mit Vagheit von der Sprache zum Rechtsbegriff In der Diskurstheorie des Rechts wird dieses Problem der Regelformulierung unter dem verkürzenden Stichwort „Defeasibility“ rubriziert.27 Nachdem es erwähnt wurde, wird es sogleich beiseitegeschoben mit folgender Formulierung: „Im Vorgriff auf den noch zu entwickelnden Begriff des tatsächlichen Diskurses besteht eine diskurstheoretische Möglichkeit zu erklären, warum Regeln defeasible sind, also die Ausnahmen zu Regeln nicht aufzählbar sind, darin, dass uns nur der tatsächliche Diskurs mit beschränkten Erkenntnismöglichkeiten dessen, was richtig ist, zur Verfügung steht. Diese Überlegung zeigt, dass Regeln nur dann endgültige konkrete Handlungsanweisungen beinhalten können, wenn die Voraussetzungen des in allen Hinsichten idealen Diskurses vorlägen, wenn wir also etwa unendlich viel Zeit hätten und alles wüssten.“28

Diese Erklärung könnte auch die Fortexistenz der in der Neuzeit ausgestorbenen Wissenschaft der Angelogie begründen, als Vorgriff auf das Jüngste Gericht. Tatsächlich muss man sich von der Vorstellung vorgegebener Regeln, welche das Sprechen steuern, verabschieden. Regeln sind ein nachträgliches methodisches Hilfskonstrukt des Sprachbeobachters. Wenn es die Regel nicht gibt, sollte auch niemand in ihrem Namen sprechen. Die von Koch und Alexy behauptete Wortgebrauchsregel ist entweder nicht nötig, weil die Bedeutung bekannt oder unstreitig ist, oder aber, wenn sie benötigt wird, wegen Defeasibility nicht verfügbar. Dagegen werden von der Theorie der juristischen Semantik Vorkehrungen im Begriff von „Bedeutung“ getroffen. Das ist die Rolle der Begriffe „Vagheit“ und Charakter sprachlicher Bedeutung und propositionaler Einstellungen, Würzburg 1997, S. 35 ff., sowie umfassend Mayer, V., Semantischer Holismus, Berlin 1997. 25 Mayer, V., Semantischer Holismus, Berlin 1997, S. 221. 26 Mayer, V., Semantischer Holismus, Berlin 1997, S. 197. 27 Vgl. dazu Becker, C., Begründen und Entscheiden, Baden-Baden 2008, S. 135. 28 Becker, C., ebd., S. 135, Fn. 475.

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„Mehrdeutigkeit“29. Dem liegt noch immer die frühe analytische Auffassung von Sprache zugrunde, nach der Bedeutung eine mitgebrachte Eigenschaft von jeweils einzelnen Wörtern sei. Wegen des Fehlens der Anwendungsregel zur Sprachregel kommt man mit diesen unterkomplexen Voraussetzungen meist zu dem Schluss, dass Unbestimmtheit oder Mehrdeutigkeit vorliegt. Die fehlende Bedeutung wird dann durch andere sprachliche Maßnahmen hergestellt, die als Präzisierung begriffen werden sollen. Vor dieser Präzisierung hat man aber die fraglichen Ausdrücke von ihrem Kontext und ihrer Verwendungssituation isoliert. Das heißt, die Entstehung des Problems von Mehrdeutigkeit und Vagheit setzt bereits voraus, dass juristische Semantik von der Praxis natürlicher Sprache – Pragmatik – aktiv getrennt wird. „Pragmatik“ heißt nämlich, sich Bedeutung aus den Beziehungen bzw. Kontexten zu erschließen, in denen eine Äußerung steht und diese wiederum mit entsprechenden Überzeugungen in Einklang zu bringen. Wenn man an den Begriffen „Vagheit“ und „Mehrdeutigkeit“ festhalten will, muss man sie anders fassen. Sie hängen von dem Zweck ab, zu dem Ausdrücke in der Verständigung verwendet werden, und damit von den Personen und Umständen, die dabei eine Rolle spielen. Vagheit und Mehrdeutigkeit können allein pragmatisch begründet werden. Es ist ja nicht etwa eine Verwaschenheit des Wortlauts, die den Streit provoziert hat, sondern eine Störung im gesellschaftlichen Zusammenleben. Der Normtext weist also nicht ein ‚zu wenig‘, sondern ein ‚zu viel‘ an Klarheit auf. Es gibt mehrere vollkommen verständliche, aber sich gegenseitig ausschließende Lesarten. Mehrdeutigkeit und Vagheit sind damit keine absoluten Eigenschaften der Bedeutung. Sie sind Formen, mit denen man Konfliktkonstellationen im semantischen Streit beschreiben kann, und somit geht es letztlich um Pragmatik und nicht um Erkenntnisprobleme. Die Pragmatik der Sprache soll aber abgeschnitten werden zugunsten von Spekulationen über absolute Prinzipien und den Rechtsbegriff. Die Rechtstheorie von Koch/Alexy verwendet einen Regelbegriff, der platonistisch und vorsprachlich ist. Um Regeln zu verstehen, muss man schon sprechen können. Sie sind also nachträglich. Die tatsächliche Objektivität der Sprache liegt in ihren Verwendungsbeispielen, welche man mittlerweile auch computerlinguistisch erfassen kann. Diese Objektivität bildet auch das demokratische Moment im Recht, weil die Sprecher zu Wort kommen. Wenn man die Vielfalt der tatsächlichen Sprache durch Prinzipien er29 Vgl. dazu grundlegend Koch, H.-J., Das Frankfurter Projekt zur juristischen Argumentation: Zur Rehabilitation des deduktiven Begründens juristischer Entscheidungen, in: ARSP, Beiheft Nr. 14, 1978, S. 59 ff. sowie Rüßmann, H., Möglichkeiten und Grenzen der Gesetzesbindung, in: Alexy, R./Koch, H.-J./Kuhlen, L./Rüßmann, H. (Hrsg.), Elemente einer juristischen Begründungslehre, Baden-Baden 2003, S. 135 ff.

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setzt, welche juristische Wissenschaftler in Heimarbeit hergestellt haben, wird dieses demokratische Element gerade übergangen. 2. Der Prinzipienbegriff

Was sind nun „Prinzipien“, die als drittes bzw. Vergleichsmedium zwischen qualitativ verschiedenen Rechtsgütern wirken sollen? Natürlich sind die Verwendungsweisen für dieses Wort vielfältig. Hier interessieren uns zunächst nur zwei Verwendungsweisen: ein allgemeiner in der Philosophie und Wissenschaft geläufiger Gebrauch und ein spezieller im Anschluss an die Rechtstheorie von Alexy ausgearbeiteten Gebrauch. Der allgemeine Gebrauch knüpft an das lateinische Wort ‚principium‘ als ›erste Stelle, Anfang Grundlage‹ usw. an. Danach sind Prinzipien diejenigen Elemente einer Theorie, welche am Anfang stehen und besonders grundlegend sind. Daher wird von Prinzipien verlangt, dass sie die „inhaltliche oder methodische Grundlage eines theoretischen oder praktischen Begründungszusammenhangs darstellen. Prinzip ist daher, je nach Anwendungsbereich, ein Synonym für ›Grundsatz, Grundnorm oder Grundregel‹.30 In diesem Sinn wird das Wort „Prinzip“ etwa auch von Esser31 verwendet. Ein ganz spezieller Sinn wird diesem Wort allerdings in der Theorie von Robert Alexy gegeben.32 Regeln ordnen danach eine Rechtsfolge definitiv an, während Prinzipien ihre Rechtsfolgen nur prima facie vorsehen. Dieser Unterschied zeige sich besonders in ihrem Kollisionsverhalten. Während bei Regelkollisionen eine Ausnahme in die Regel eingefügt werde oder eine Regel für nichtig erklärt werden müsse, bleibe die Geltung von Prinzipien im Kollisionsfall unberührt.33 Danach seien Prinzipien durch den Ge30 Vgl. dazu Kambartel, F., Stichwort Prinzip, in: Mittelstraß, J., Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Weimar 2004, Bd. 3. 31 Esser, J., Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1. Aufl., Tübingen 1956; mit etwas anderer Bedeutung wird das Wort auch innerhalb der Wertungsjurisprudenz verwendet: Larenz, K., Wegweiser zu richterlicher Rechtschöpfung, in: Bötticher, A. (Hrsg.), Festschrift für Arthur Nikisch, Tübingen 1958, S. 275 ff., 299 ff.; ders., Richtiges Recht, München 1979. Zur Diskussion über diesen Begriff im deutschen Zivilrecht vgl. Paulick, Bericht über die Tagung deutscher Zivilrechtslehre in Bad Schlangenbad am 16. und 17. Oktober 1953, in: AcP 1954, S. 167 ff., 176 ff. 32 Vgl. Alexy, R., Zum Begriff des Rechtsprinzips, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, Studien zur Rechtstheorie, Frankfurt am Main 1996, S. 177 ff.; ders., Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1994; ders., Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, in: MacCormick u. a., Geltungs- und Erkenntnisbedingungen im modernen Rechtsdenken, ARSP, Beiheft 25, Stuttgart 1985, S. 13 ff.; ders., Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, in: ders./.Koch, H. J./Rüßmann, H., Elemente einer juristischen Begründungslehre, Baden-Baden 2003, S. 217 ff.

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gensatz zum Begriff der Regel definiert und erlaubten als Optimierungsgebot die Abwägung heterogener Rechtspositionen. Alexys Prinzipientheorie beinhaltet eine sehr starke Behauptung über die Seinsweise des Rechts: Danach gibt es zwei getrennte Reiche, einmal das Reich der Regeln, welche normale methodische Arbeit erfordern und dann das zweite davon getrennte Reich der Prinzipien, welche immer im Wege der „Abwägung“ zu behandeln sind: „Prinzipien sind Normen, die gebieten, dass etwas relativ auf die faktischen und die rechtlichen Möglichkeiten in möglichst hohem Maß realisiert wird. Prinzipien sind demnach Optimierungsgebote, die dadurch charakterisiert sind, dass das gebotene Maß ihrer Erfüllung nicht nur von den tatsächlichen, sondern auch von den rechtlichen Möglichkeiten abhängt. Der Bereich der rechtlichen Möglichkeiten wird wesentlich durch gegenläufige Prinzipien bestimmt.“34 Der hier vorausgesetzte Regelbegriff ist natürlich nicht sinnvoll, denn auch jede rechtliche Regel ist in ihrem Möglichkeitsbereich durch gegenläufige Regeln bestimmt.35 Das nennt man gemeinhin systematische Auslegung. a) Die Regelaversität Linguistisch lässt sich der Wert eines Zeichens immer nur in Abgrenzung zu allen anderen Zeichen bestimmen. Der von Alexy und seiner Schule vorausgesetzte Regelbegriff verfehlt damit die Realität der Sprache vollkommen. Es handelt sich um Platonismus vor dem linguistic turn. Alles, was an einem Gesetz sprachlich relevant ist, wird damit in das abstrakte Reich der Prinzipien verlagert. Dort allerdings sollen nicht mehr die normalen Instru33 Vgl. dazu Poscher, R., Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, in: RW 2010, S. 349 ff.; vgl. als Überblick ergänzend Sieckmann, J.-R., Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, Baden-Baden 1990; ders., Recht als normatives System. Die Prinzipientheorie des Rechts, Baden-Baden 2009. Vgl. dazu Alexy, R., Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1994, S. 88 ff.; Sieckmann, J.-R., Recht als normatives System. Die Prinzipientheorie des Rechts, Baden-Baden 2009, S. 67 ff. 34 Alexy, R., Juristische Begründung, System und Kohärenz, in: Behrens, U., Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, Symposium zum 80. Geburtstag von Frank Wieacker, Göttingen 1990, S. 101 ff.; Alexy, R., Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1994, S. 75 f. 35 Zur Kritik an diesem Regelbegriff vgl. Christensen, R./Kudlich, H., Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis, Berlin 2008, S. 80 ff. Speziell zur Kritik am regelplatonistischen Begriff der Sprachregel bei Alexy: Christensen, R./Kudlich, H., Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001, S. 60 ff., 73 ff. sowie zum Regelbegriff in der Prinzipientheorie generell Poscher, R., Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnisse der Prinzipientheorie, in: Sieckmann, J.-R. (Hrsg.), Prinzipientheorie der Grundrechte, Baden-Baden 2007, S. 59 ff., 70 ff.

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mente zur Ermittlung der sprachlichen Bedeutung gelten, wie die Frage nach Zusammenhang, Entstehung und Zweck. Vielmehr wird das Ganze in die Philosophie verlagert, und als einzige Methode steht uns „Abwägung“ zur Verfügung. Damit verschwindet die ganze sprachliche Realität des Gesetzes im Abgrund zwischen einem sinnlosen Begriff der Regel und einem philosophischen Begriff des Prinzips. Dieser wird von Alexy an den Grundrechten als ‚Optimierungsgebot‘ und, nachdem dies scheitert, als ‚ideales Sollen‘ bestimmt: „Der Prinzipienbegriff der Prinzipientheorie darf also nicht mit dem traditionellen Begriff des Rechtsprinzips verwechselt werden, der weder einem normativen Dualismus, noch der Idee eines ‚idealen Sollens‘, noch dem Monismus der Optimierung verpflichtet ist. Dass nur selten wahrgenommen wird, wie anspruchsvoll die Annahme von Prinzipien im Sinne der Prinzipientheorie ist, beruht wohl wesentlich auf einer Äquivokation, in der die Prinzipien im Sinne der Prinzipientheorie mit denen unserer traditionellen Rede von Rechtsprinzipien gleichgesetzt werden.“36

Entwickelt wurde die Prinzipientheorie vor allem auf dem Gebiet der Grundrechtstheorie.37 Dieser Prinzipienbegriff ist gegenüber dem geläufigen Sprachgebrauch eine massive Einengung. Denn viele Prinzipien wie etwa „Treu und Glauben“ im Zivilrecht bzw. der Gleichheitssatz im Verfassungsrecht lassen sich nicht mit diesen Vorstellungen vereinbaren.38 Allerdings wäre man bereit, diese Nachteile zu akzeptieren, wenn man dadurch eine Operationalisierung für den Vorgang der Abwägung gewinnen könnte. Voraussetzung dazu wäre, dass man die Existenz von Prinzipien als Gegenstand der Abwägung im Sinne einer eigenständigen juristischen Seiensweise aufweisen könnte. 36 Poscher, R., Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, in: Rechtswissenschaft 2010, S. 349 ff., 351. 37 Vgl. dazu Borowski, M., Grundrechte als Prinzipien, 2. Aufl., Baden-Baden 2007; ders., Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, Tübingen 2006; Sieckmann, J.-R., Modelle des Eigentumsschutzes, Baden-Baden 1998; Pietsch, J., Das Schrankenregime der EU-Grundrechtscharta. Dogmatik und Bewertung auf der Grundlage einer Prinzipientheorie der Rechte. Baden-Baden 2006. Zur Kritik der Leistungsfähigkeit dieser Theorie im Rahmen der Grundrechtsdogmatik vgl. Poscher, R., Grundrechte als Abwehrrechte, Tübingen 2004, S. 82 ff.; Jestaedt, M., Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Tübingen 1999, S. 222 ff.; Cremer, W., Freiheitsgrundrechte, Tübingen 2003, S. 218 ff.; Klement, J. H., Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, in: JZ 2008, S. 756 ff., 760; Rusteberg, B., Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, Tübingen 2009, S. 158 ff. 38 Vgl. dazu Poscher, R., Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, in: Rechtswissenschaft 2010, S. 349 ff., 370; Somek, A., Eine egalitäre Alternative zur Güteabwägung, in: Schilcher, B./Koller, P./Funk, B.-C. (Hrsg.), Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, Wien 2000, S. 193 ff.

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Der Begriff des Prinzips wird durch negative Merkmale definiert.39 Das Prinzip ist schon bei Larenz und Dworkin dadurch gekennzeichnet, dass nicht subsumiert werden kann. Es ist damit regelavers.40 Bei Alexy kommen zu diesem negativen Aspekt noch die positiven Aspekte des Gewichts41 und der „Mehr-oder-Weniger-Charakter“.42 Die Rolle des Prinzips liege also darin, eine Brücke vom positiven Recht zur Welt der Werte zu schlagen.43 Alexy versteht sich als Kritiker des Positivismus.44 Neben den Gegensatz zur Regel tritt damit die Nähe zur Moral. b) Die Beziehung zur Moral Aufgewiesen werden soll die Existenz von Prinzipien an den so genannten „Optimierungsgeboten“, als welche insbesondere die Grundrechte zu verstehen seien: „Optimierung in diesem Sinne bedeutet die Relativierung einer Rechtsfolge einer Norm auf die tatsächlichen rechtlichen Möglichkeiten, die wiederum die von Dworkin angesprochene Dimension des Gewichts präzisiert. In der präzisierenden Rekonstruktion der Prinzipien Dworkins als Optimierungsgebote lag die analytische Leistung der frühen Prinzipientheorie.“45

Aber schon bald hat man in der Theorie selbst bemerkt, dass Optimierungsgebote strikt erfüllbar sind und damit als Regel angesehen werden müssen: 39 Vgl. Larenz, K., Richtiges Recht, München 1979, S. 23 ff., 174 f.; Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl., Berlin 1991, S. 474 ff.; Dworkin, R., Taking Rights seriously, 5. Aufl., London 1987; ders., Bürgerrechte ernst genommen, Frankfurt am Main 1984. 40 Vgl. dazu Seinicke, R., Rechtsprinzipien: Konsens oder Konflikt?, in: Schramm, E./Frey, W./Kähler, L./Müller-Mall, S./Wapler, F. (Hrsg.), Konflikte im Rechte, Recht der Konflikte, Baden-Baden 2010, S. 187 ff., 190 ff. 41 Vgl. dazu Seinicke, R., Rechtsprinzipien: Konsens oder Konflikt?, in: Schramm, E./Frey, W./Kähler, L./Müller-Mall, S./Wapler, F. (Hrsg.), Konflikte im Rechte, Recht der Konflikte, Baden-Baden 2010, S. 193; Alexy, R., Zum Begriff des Rechtsprinzips, in: ders., Recht – Vernunft – Diskurs. Studien zur Rechtstheorie, Frankfurt am Main 1995, S. 177 ff., 182 ff.; ders., Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1994, S. 71 ff. 42 Vgl. dazu Alexy, R., ebd. 43 Vgl. dazu Seinicke, R., Rechtsprinzipien: Konsens oder Konflikt?, in: Schramm, E./Frey, W./Kähler, L./Müller-Mall, S./Wapler, F. (Hrsg.), Konflikte im Rechte, Recht der Konflikte, Baden-Baden 2010, S. 193. 44 Vgl. dazu Alexy, R., On the Concept and the Nature of Law, in: ratio juris 2008, S. 281 ff. 45 Poscher, R., Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, in: Rechtswissenschaft 2010, S. 349 ff., 352.

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„Damit bleibt jedoch das Problem, dass Optimierungsgebote (. . .) gerade die für Regeln im engeren Sinne charakteristischen Merkmale der strikten Geltung bzw. definitiven Erfüllbarkeit aufweisen.“46

So verliert die Theorie ihren Gegenstand. Vor allem aber bricht dann der gesamte Dualismus einer hinter den Regeln liegenden zweiten Welt der Prinzipien zusammen. Deswegen war offenbar ein Rückzug auf eine weitere Hinterwelt geboten: aus den Prinzipien wurde ein „ideales Sollen“.47 Zwar seien Optimierungsgebote keine Prinzipien, aber es seien darin Prinzipien am Werk. Dies seien die Abwägungsgegenstände als „ideales Sollen“ oder „Ideale“.48 c) Die Flucht in die Ideale scheitert Der Rettungsversuch ist aber aus mehreren Gründen missglückt. Regeln sind in den meisten Fällen nicht reflexiv, das heißt, optimiert werden nicht Gebote, sondern empirische Sachverhalte: „Die Gesundheit kann man etwa durch medizinische Behandlung oder Fitnessprogramme optimieren; das Gebot, die Gesundheit zu erhalten oder wiederherzustellen, lässt sich hingegen vielleicht dadurch optimieren, dass man an gesundheitsschädliches Verhalten Sanktionen wie etwa erhöhte Krankenversicherungsprämien oder eine schlechtere medizinische Versorgung knüpft – durch Kneipp’sche Anwendungen lässt sich die Effektivität des Gebots, gesund zu leben, jedoch nicht beeinflussen. Die Optimierung eines Gebots ist etwas grundsätzlich anderes, als die Optimierung eines faktischen Sachverhalts. Wird dies übersehen, führt dies zu Kategorienfehlern.“49

Aber auch wenn man an die wenigen reflexiven Gebote denkt – das rein rechtserzeugte Eigentumsgrundrecht könnte dafür Beispiele liefern –, wird 46 Vgl. dazu Sieckmann, J.-R., Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, Baden-Baden 1990, S. 65. 47 Vgl. dazu Alexy, R., Zur Struktur von Rechtsprinzipien, in: Schilcher, B./Koller, P./Funk, B.-C. (Hrsg.), Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, Wien 2000, S. 31 ff., 38 f. 48 Vgl. dazu Alexy, R., ebd., S. 38; sowie Alexy, R., Ideales Sollen, in: Clérico, L./Sieckmann, J.-R. (Hrsg.), Grundrechte, Prinzipien und Argumentation, Baden-Baden 2009, S. 21 ff.; vgl. dazu Poscher, R., Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, in: Rechtswissenschaft 2010, S. 349 ff., 353: „Die Entwicklung der Prinzipientheorie nährt den Verdacht, dass es die Kritik mit einem Hydra-artigen Phänomen zu tun hat. Für jeden Kandidaten des Prinzipienbegriffs, den die Kritik zurückweist, sprießen gleich mehrere neue hervor.“ Vgl. zu weiteren Kandidaten Ressing, M., Prinzipien als Normen mit zwei Geltungsebenen, in: ARSP 2009, S. 28 ff.; Jansen, N., Die Struktur der Gerechtigkeit, Baden-Baden 1998, S. 101; „pro tanto-Sollen“ Sieckmann, J.-R., Zur Analyse von Normkonflikten und Normabwägungen, in: Meggle, G. (Hrsg.), Anlyomen 2. proceedings of the 2nd Conferenc „Prespectives in Analytical Philosophy“, Bd. III, Frankfurt am Main 1994, S. 394 ff. „Unendlich iterierte Geltungsgebote“. 49 Poscher, R., Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, in: Rechtswissenschaft 2010, S. 349 ff., 353.

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die Theorie vom „idealen Sollen“ nicht sinnvoll. Denn dies zeigt lediglich, dass sich durch die Regel des Optimierungsgebots auch normative Gegenstände optimieren lassen. Es belegt damit im Gegenteil, dass diese reflexiven Gebote zur Erklärung der normalen Regeln der Optimierung nichts beitragen können. Die Rekonstruktion mittels eines „idealen Sollens“ bildet also die Optimierungsgebote nicht ab. Nach Alexy braucht man das ideale Sollen, um Optimierungsgebote vollständig verstehen zu können,50 nämlich ihre Normativität und dann ihr Kollisionsverhalten. Aus seiner Sicht haben Optimierungsgebote folgende Notation: „OOpt p“. Dabei ist O der Gebotsoperator und p das Unterlassen des Grundrechtseingriffs. Auffällig ist die Verdopplung des Gebotsoperators: „Die Normativität des als Optimierungsgebot verstandenen Grundrechts wird durch den Gebotsoperator O nicht nur ausreichend, sondern auch einzig zutreffend zum Ausdruck gebracht. Eine Verdopplung des Operators wäre nicht redundant, sondern würde den Grundrechten einen Gegenstand geben, der ihnen nicht entspricht. Art. 2 Abs. 2 GG verlangt nicht, das Gebot zu optimieren, Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit zu unterlassen, sondern richtet sich unmittelbar auf das Unterlassen staatlicher Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit. Zur Erklärung der Normativität von Optimierungsgeboten bedarf es keiner weiteren normativen Entitäten.“51

Dies gilt sogar für den seltenen Fall, dass man nicht einen empirischen Umstand, sondern ein Gebot optimieren will. Das zeigt sich, sobald man den normativen Operator durch einen deskriptiven ersetzt.52 Auch das Kollisionsverhalten von Optimierungsgeboten ist in keiner Weise rätselhaft, so dass man zur Erklärung ein „ideales Sollen“ bräuchte. Auch die Kollision macht aus Geboten nicht reflexive Gebote, so dass man weiterhin mit einem Sollens-Operator auskommt: „Auch wenn der Kollisionstatbestand eine relative Gewichtung in Form einer Optimierung verlangt, zeigen die Normen keine Eigenschaften, zu deren Erklärung die Annahme eines „idealen Sollens“ oder sonstiger zusätzlicher normativer Entitäten etwas beitragen müsste oder auch nur könnte.“53 Wenn Alexy Prinzipien als Gegenstand einer vergleichenden Gewichtung verwendet, muss dieser Ansatz insgesamt scheitern. Zunächst beruht er darauf, dass man normale Normtexte mit Hilfe eines platonistischen Regel50 Alexy, R., Ideales Sollen, in: Clérico, L./Sieckmann, J.-R. (Hrsg.), Grundrechte, Prinzipien und Argumentation, Baden-Baden 2009, S. 30. 51 Poscher, R., Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, in: Rechtswissenschaft 2010, S. 349 ff., 363. 52 Poscher, R., Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, in: Rechtswissenschaft 2010, S. 349 ff., 363 f. 53 Poscher, R., Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, in: Rechtswissenschaft 2010, S. 349 ff., 366.

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begriffs zu sinnlosen Zeichen verstümmelt hat. Nach der Ausschaltung der nach den Regeln der Kunst zu verwendenden juristischen Methodik zur Bewältigung von Normkollisionen54, soll dann eine „Abwägung“ im Sinne einer Prinzipiendeduktion erfolgen, wobei es diese Prinzipien weder gibt (Optimierungsgebote sind Regeln), noch die Alternative des „idealen Sollens“ zur Erklärung irgendetwas beitragen könnte. Nach dem Zusammenbruch des Dualismus von Regel und Prinzip ist klar, dass diese Theorie zur Erklärung der Abwägung nicht verwendet werden kann. Die Phlogiston-Theorie entstammte der Prinzipienchemie, welche selbst aus der Alchemie erwachsen ist. Der prinzipientheoretische Ansatz in der Chemie scheiterte an der Forderung, die chemischen Elemente sollten sich empirisch direkt aufweisen lassen. Heute ist Phlogiston vergessen.55 Genauso ist es mit der Abwägungstheorie der Prinzipienlehre. Sie funktioniert nicht und sie erklärt nichts. Deswegen ist sie durch ein anderes produktives Verständnis von sprachlicher Vagheit und durch praktisch-empirische Untersuchungen der Abwägungstätigkeit in Gerichtsentscheidungen zu ersetzen. 3. Die produktive Rolle der Vagheit

›Vagheit‹ ist keine Gefahr für die menschliche Sprache, auch nicht für die juristische Textarbeit mit Normen. Im Gegenteil: ›Vagheit‹ ist nicht wegzudenken aus unserem kognitiven Haushalt und eine Grundlage menschlicher Lernfähigkeit [a)], ist aber auch Topos in der juristischen, fallbezogenen Auseinandersetzung [b)] und gehört zum kommunikativen Alltag [c)]. a) Vagheit als zentrale Eigenschaft sprachlicher Äußerungen In der Sprachphilosophie tummeln sich zahlreiche Ansätze zur Beschreibung von „Vagheit“. Häufig ausgehend von Sorites-Problemen wird Vagheit als Unschärfe- bzw. Grenzproblem bei der Extensionsbestimmung gesehen, die durch formal-wahrheitslogische Argumente ‚korrigiert‘ werden soll, und dies unabhängig von Kontext oder gar Rezipienten.56 Vagheit ist 54 Vgl. zum Nachweis, dass die Prinzipientheorie die normalen Standards juristischer Methodik überspielt: Rusteberg, B., Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, Tübingen 2009, S. 158 ff. 55 Vgl. dazu Ströker, E., Theoriewandel in der Wissenschaftsgeschichte. Chemie im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1982, S. 78 ff.; Musgrave, A., Why Did Oxygen Supplant Phlogiston?, in: Howson, C. (Hrsg.), Method and Appraisal in the Physical Sciences, Cambridge 1976, S. 181 ff. 56 Vgl. die versammelten Beiträge in: Walter, S. (Hrsg.), Vagheit, Paderborn 2005.

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hierbei in aller Regel etwas ‚negatives‘, ‚unerwünschtes‘, das einem implizit präsupponierten Ideal von ‚der‘ Sprache zuwiderlaufe (so bereits bei Frege, Pierce und Russel)57. Dieses angenommene Ideal von Sprache ist linguistisch betrachtet jedoch eine Illusion58. Sprache ist kein kontextabstrahierbares (lat. abstrahere: ‚abziehen‘, ‚wegreißen‘) Objekt, das allein mit der richtigen Logik in die gewünschte Form gebracht oder mit Hilfe anderer Werkzeuge ‚abgezählt‘ werden könnte. Genau genommen gibt es ‚Sprache an sich‘ nicht (auch wenn Sprachwissenschaftler zuweilen heuristisch vom „System“ der Sprache sprechen), sondern nur Sprecher-Schreiber und Hörer-Leser, also Kommunikanten und sprachliche Zeichen in Funktion. Vagheit ist, wie schon M. Black 1937 betonte, kein „Defekt der Sprache“59, sondern hat elementar etwas mit sprachlichem Handeln, mit Pragmatik und mit sprachlichen Verstehensbzw. Konstruktionsprozessen zu tun. Um diese nachvollziehen zu können, bedarf es einiger semiotischer und psycholinguistischer Grundlagen60: Sprachrezeption ist ein komplexer konstruktiver Prozess, bei dem – vereinfacht formuliert – Ausdrucksmuster der Perzeption (Buchstaben, Wörter, Sätze, Bilder usw.) gemeinsam mit weiteren Sinnesreizen der aktuellen Wahrnehmungssituation (z. B. para- und nonverbale Reize) korreliert werden mit kognitiven Konzepten bzw. Wissensrahmen (Frames, Scripts usw.).61 Dieser Prozess verläuft fortwährend wechselseitig rekursiv, d.h. 57 Vgl. Dönninghaus, S., Die Vagheit der Sprache. Begriffsgeschichte und Funktionsbeschreibung anhand der tschechischen Wissenschaftssprache, Wiesbaden 2005, S. 24 ff. 58 In der Linguistik wird „Vagheit“ im Umfeld von Polysemie, Homonymie, Ambiguität, Unbestimmtheit, Unterbestimmtheit, Vieldeutigkeit, Stereotypie usw. diskutiert, stellt jedoch im Vergleich zur Sprachphilosophie kein fest umrissenes, gar definitorisch etabliertes Konzept dar; vgl. dazu Fries, N., Ambiguität und Vagheit. Einführung und kommentierte Bibliographie. Tübingen 1980, S. 3 und Wichter, S., Signifikantgleiche Zeichen. Tübingen 1988, S. 14. S. Dönninghaus (a. a. O., S. 99) spricht zwar von einer „Vagheitslinguistik“ als Teildisziplin an der Grenze von Linguistik und Sprachphilosophie, sieht aber ebenfalls einen „Treibsand Vagheit“ – der „Vagheitsbegriff [sei] selbst vage“ (579). Die terminologische Offenheit des Ausdrucks Vagheit heißt jedoch nicht, dass in der Sprachwissenschaft nicht fortwährend über das Konzept ›Vagheit‹ verhandelt würde. Genau genommen beschäftigt die gesamte (empirische) linguistische Pragmatik Probleme des ‚vagen Sprachgebrauchs‘, nämlich im Kontext von Verstehen und Missverstehen sprachlicher Äußerungen. 59 Black, M., Vagueness. An Exercise in Logical Analysis. In PhilosSci IV, 1937, S. 429. (wiederabgedruckt in: Black, M. (1949), Language and Philosophy, Studies in Method, Ithaca (N.Y.), S. 23–58). 60 Die folgenden Ausführungen können lediglich kursorisch die wichtigsten Prozesse anreißen. Für nähere Details mit zahlreichen Nachweisen: Vogel, F., Linguistik rechtlicher Normgenese. Theorie der Rechtsnormdiskursivität am Beispiel der Online-Durchsuchung, Berlin/New York 2012.

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vorhandene Wissensrahmen sind die Voraussetzung zur Erkennung und Einordnung perzeptiver (Sprach-)Muster (top-down-Prozess) und (neue) Eingangsreize der Perzeption aktualisieren ihrerseits wieder bisherige Konzeptkonfigurationen (buttom-up-Prozess). Dabei ist es theoretisch unerheblich – und auch praktisch unmöglich –, allen Perzeptionsreizen ein ‚bestimmtes‘ Konzept, allen Ausdrücken eine bestimmte, begrenzte Bedeutung, zuzuordnen. Vielmehr werden die Informationen kognitiv schrittweise strukturiert und mit Vorwissen angereichert. Unser Sprach- und Weltwissen, heißt das, ist prototypisch und hierarchisch organisiert und wird kontextsensitiv abgerufen. So reicht allein das Wort Restaurantbesuch, um in unserem Kopf ein komplexes Wissen (ein sog. „Script“62) über den Ablauf, die beteiligten Gegenstände, typische Akteure und Umgebungsvariablen zu aktivieren. Dieses kognitive Verknüpfen von einzelnen Konzepten zu einem situativ ‚stimmigen‘ Bild nennt man in der Psycholinguistik auch „mentales Modell“, denn es erlaubt uns im Verstehensprozess offene Variablen bzw. Nicht-Expliziertes mit Vorannahmen zu ergänzen (Inferenztheorie63), also ‚Sinnloses‘ sinnvoll zu machen64. Daraus folgt auch, dass zwischen Sprache und Lebenswelt kein direkter ontischer Zusammenhang besteht, sprachliche Abbildtheorien also fehlgehen. Die Sachverhalte und Objekte unserer Lebenswelt sind vielmehr immer abhängig von ihrer jeweiligen sprachlichen Perspektivierung. Deshalb kann eine ‚Online-Durchsuchung‘ im Rahmen der juristischen und öffentlichen Debatte um computergestützte Eingriffe in Art. 2 Abs. 1 GG sowohl Bundestrojaner, staatliches Hacken, Schnüffelei und Ausspähung (Kritiker) als auch Remote Forensic Software oder (am Anfang der Debatte) Durchsuchung (nach §§ 112 ff. StPO) sein. Odgen und Richards65 halten diesen Zusammenhang im semiotischen Dreieck fest: 61 Vgl. dazu im Überblick: Christmann, U./Groeben, N., Die Rezeption schriftlicher Texte, in: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, hrsg. von H. Günther/O. Ludwig, Berlin/New York 1996, S. 1536–1545, sowie Artelt, C., McElvany, N., Christmann, U., Richter, T., Groeben, N., Köster, J., Schneider, W., Stanat, P., Ostermeier, Ch., Schiefele, U., Valtin, R. & Ring, K., Förderung von Lesekompetenz. Expertise, hrsg. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2007 [WWW-document], http://www.bmbf.de/pub/bildungsreform_band_siebzehn. pdf (04.05.2009). 62 Schank, R./Abelson, R., Scripts, plans, goals, and understanding: An inquiry into human knowledge structures, Hillsdale, NJ 1977. 63 Pohl, I., Textsemantisierung: Inferenzen über Inferenzen, in: Methodologische Aspekte der Semantikforschung, hrsg. von Inge Pohl, Frankfurt am Main 1997, S. 337–364. 64 Hörmann, H., Der Vorgang des Verstehens. In Sprache und Verstehen, hrsg. von Kühlwein, W./Raasch, K., Bd. 1, Tübingen 1980, S. 17–29. 65 Ogden, C. K./Richards, I. A., The Meaning of Meaning, New York 1923.

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Wissensrahmen/Kognitive Konzepte (Kohärenzverhältnisse)

Reflexive Form-InhaltRelationen

Sprachliche Muster (Kohäsionsverhältnisse)

Sachverhalte / Referenzobjekte

Modifiziertes semiotisches Dreieck (in Anlehnung an Ogden & Richards 1923)

Da jeder Rezipient einen eigenen Kopf hat und eine Rezeptionssituation nie der anderen gleicht, werden alle Rezipienten den Gesetzesausdruck Würde – in Abhängigkeit von ihrem bisherigen Vorwissen – theoretisch immer unterschiedlichen, individuellen Konzepten zuordnen. Sie interpretieren ihn unterschiedlich. In der Praxis jedoch teilen sich Rezipienten eines gleichen Kulturkreises, ähnlicher sozialer Herkunft oder gleicher institutioneller Ausbildung zahlreiche Ausdrucks-Konzept-Korrelationen, Kommunikanten greifen in diesem Sinne also auf implizite Sprachkonventionen zurück und kommen – je nach Situation bzw. Fall – zu ähnlichen Interpretationshypothesen. Kommunikation ist insofern keine ‚1 : 1-Übertragung‘ von Informationen, sondern die schrittweise Ko(n)textualisierung des Sprach- und Weltwissens zwischen Aktanten. Sprachliche Indikatoren für derartige Vermittlungsversuche sind im Dialog etwa Rückfrage- und Bestätigungsschleifen (Was meinst Du mit X?). „Es ist ein weitverbreitetes sprach- und kommunikationstheoretisches Missverständnis, dass die Funktion sprachlicher Äußerungen darin bestehe, einen zu kommunizierenden Inhalt möglichst vollständig in eine sprachliche Ausdrucksgestalt zu fassen.“

Sprachliche Zeichen bilden lediglich „Anhalts- und Markierungspunkte [. . .], die es dem Rezipienten erlauben, unter Bezugnahme auf sein gesamtes, für das Verstehen dieser kommunikativen Äußerung relevantes Wissen die Bedeutung dieser Äußerung zu (re-)konstruieren.“66 66 Busse, D., Semantisches Wissen und sprachliche Informationen. Zur Abgrenzung und Typologie von Faktoren des Sprachverstehens, in: Methodologische Aspekte der Semantikforschung, hrsg. von Inge Pohl, Frankfurt am Main 1997, S. 23.

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Man kann sich diesen konstruktiven Vermittlungsprozess auch vorstellen als den Versuch zweier Seiteninstrumente, mit ihrem jeweils ganz eigenen Klang- und Resonanzraum sich gegenseitig ‚in Stimmung‘ zu versetzen. Vagheit wäre in diesem Bild tendenziell überwiegende Disharmonie, doch zugleich fortwährende Versuche gegenseitigen Verständnisses bzw. ‚richtiges‘ Interpretieren als gemeinsames Klingen in einem situativ angemessenen, harmonischen Klangrahmen. Ziel menschlicher Kommunikation ist nicht der Gleichklang, nicht das Aufoktroyieren einer Klangfarbe auf ein fremdes Instrument, denn Kommunikation ist auf Kooperation angelegt67. Die Durchsetzung oder ‚Feststellung‘ eines Wortgebrauchs darf auch nicht das Ziel sein, da sie jedem demokratischen Grundverständnis (auch in einem noch so naiven Verständnis) zuwiderliefe. Damit wird klar, dass Vagheit ein zentraler Faktor aller menschlichen Kommunikation ist. Vagheit lässt sich nicht außersprachlich tilgen, auch nicht etwa durch logische Argumente, denn letztere bedürfen selbst der Versprachlichung bzw. ihre zugrundeliegenden praxissterilen Konventionen gelten nur für einen sehr engen Sprachkreis der Eingeschworenen. Sprachwissenschaftler lehnen daher Ansätze der (formalen) Sprachphilosophie als (sprach-)praxisfern68 und „nutzlos“ ab. Selbst dort, wo der Fokus stärker auf die Sprachsystematik (nämlich eine Systematik sprachlicher Vagheitsindikatoren) abhebt – wie bei S. Dönninghaus – ist Vagheit ohne Kontext und sprachhandelnde Akteure nicht zu haben. Kurz: Formallogische semantische Ansätze übersehen häufig den „Nutzen [von Vagheit] als eine pragmatische Kommunikationsstrategie“69. „[. . .] die jeweiligen Kommunikationsbedürfnisse [entscheiden] über den Präzisionsgrad sprachlicher Äußerungen [. . .] und der sprachliche Kotext, der situative Kontext sowie das Wissen der Kommunikationsteilnehmer [tragen] zur Spezifizierung und Reduzierung von Vagheit [bei]. [. . .] Die Gradwanderung zwischen vagheitsbedingter Unverständlichkeit sprachlicher Äußerungen auf der einen und irrelevanter sprachlicher Präzision und Exaktheit auf der anderen Seite wird durch die Faktoren ‚Relevanz‘ und ‚Aufmerksamkeit‘ gesteuert. Ein verlässliches Instrument, Vagheitsgrade zu bestimmen, ist letztlich nur der kommunizierende Sprecher-Hörer.“

Vagheit lässt sich nur sprachlich bearbeiten, nämlich im Hinblick auf eine konkrete Situation, konkrete Akteure, einen konkreten Sachverhalt, oder wie Juristen eher sagen würden: auf einen konkreten Fall. 67 Grice, P., Logik und Konversation, in: Meggle, Georg (Hrsg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung, Frankfurt am Main 1997, 243–265. 68 Wolski, W., Schlechtbestimmtheit und Vagheit – Tendenzen und Perspektiven. Methodologische Untersuchungen zur Semantik, Tübingen 1980, S. 345 f. 69 Dönninghaus, S., a. a. O., S. 578 f.

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Im juristischen Kontext bedarf diese Skizze allerdings einiger weiterer Konkretisierungen: Die empirische Rechtslinguistik – die wir hier interdisziplinär: juristischlinguistisch vertreten –, geht davon aus, dass die Arbeit im Recht eine institutionalisierte Form der Fachkommunikation ist, die sich in einem ganz speziellen Umgang mit Texten manifestiert70. Dabei werden Rechtsnormen nicht aus einem Text – gleich einer konstanten Essenz – herausdestilliert, sondern nach bestimmen Regeln, mittels sprachlicher Handlungen und im Hinblick auf einen konkreten, juristisch zu bewerteten Sachverhalt von juristischen Fachexperten erst konstituiert, „zubereitet“71. Oder anders formuliert: eine Rechtsnorm wird nicht aus einem Normtext ‚herausgeholt‘ und über einen ‚gegebenen‘ Fall „subsumiert“, sondern ist Ergebnis eines komplexen Interpretations- und Konkretisierungsprozesses, in dem u. a. Normtextelemente, dogmatische Elemente (höchstrichterliche Entscheidungen, Kommentarliteratur usw.) und versprachlichte Elemente aus der Lebenswelt miteinander zu einem begründbaren Arrangement verknüpft werden72. Diese juristische Textarbeit unterscheidet sich also ganz grundlegend von der Textarbeit anderer Disziplinen oder des alltäglichen Sprachgebrauchs, denn sie setzt ein umfassendes rechtsinstitutionelles Fachwissen voraus: (a) über Normkonzepte, also komplexe Rechtsbegriffe und -materialien, um lebensweltliche Sachverhalte des Alltags in ihrer juristischen Relevanz zu perspektivieren, gleichsam zu ‚übersetzen‘ (mit all den damit verbundenen Problemen der Transformation); (b) über juristische Fachorganisation, Hierarchien und Abläufe, also nicht nur Kenntnisse über allgemeine fachinterne Handlungsabläufe und Kommunikationsroutinen, sondern auch über die internen und häufig impliziten Disziplinen (im foucaultschen Sinne73) des Faches: Normhierarchien74 und Autoritäten75; 70 Busse, D., Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution, Tübingen 1992. 71 Jeand’Heur, B., Die neuere Fachsprache der juristischen Wissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Verfassungsrecht und Rechtsmethodik. In Fachsprache: ein internachtionales Handbuch der Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 1, hrsg. von Hugo Steger/Herbert E. Wiegand, Berlin 1998, S. 1292. 72 Müller, F./Christensen, R., Juristische Methodik, Bd. I, Berlin 102009, 294 ff. 73 Foucault, M., Analytik der Macht, hrsg. von Daniel Defert/Francois Ewald unter Mitarbeit von Jaques Lagrange, Frankfurt am Main 2005, S. 208 f. 74 Zum Wissen über Normhierarchien zählen fachinterne Ideologeme bzw. Dogmen wie die der ganzheitlichen Rechtsordnung, der „inneren Einheit“ der Rechtsnormen bzw. „Normenhierarchie“, der Larenzschen Rechtsprinzipien, der Rechts-

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(c) über den juristischen Fachsprachgebrauch, d.h. Wissen über spezifische sprachliche Muster, mittels derer juristisches Normwissen auf Ausdrucksebene für Juristen erkennbar und bearbeitbar (rezipierbar) wird76. Das spezialisierte Fach(sprach)wissen in der Jurisprudenz hat mindestens dreierlei Funktionen: „erstens dient es dem Versuch, juristische Interpretationsarbeit als Entscheidungsarbeit valide und reliabel zu organisieren. Die juristische Sprache ist zweitens das Medium transformierter Alltagswelt, d.h. mit ihrer Hilfe reduziert der Rechtsarbeiter die alltagsweltliche Komplexität auf ‚rechtsrelevante‘, also in juristischen Kategorien verarbeitbare Ausschnitte. Drittens dient das Fachwissen sowie das Fachsprachwissen im Besonderen auch der binnendisziplinären Identität: Wer die Sprache und die ‚Denke‘ der Jurisprudenz nicht beherrscht, hat vor Gericht schlechte Karten.“77 Was bedeutet nun Vagheit vor diesem juristischen Arbeits- und Wissenshintergrund? Auch in der Rechtsarbeit lässt sich sprachliche Vagheit nicht neutralisieren, sondern nur im Hinblick auf ein konkretes Ziel bearbeiten: nämlich situativ mit Blick auf den Normtext, die juristische Dogmatik, den lebensweltlichen (ihrerseits versprachlichten) Eingangsdaten und den Einstaatsprinzipien, der Rechtsquellen (d.h. Kenntnis der Lehre von der nach ihrem ‚Geltungsrang‘ hierarchisch gereihten Ordnung unterschiedlicher Rechtsnormtexte und Rechtsnormen), Rechtsbegriffstypen (Annahme ‚bestimmter‘ vs. ‚unbestimmter‘ Rechtsbegriffe), die Kanones der Auslegung als „Argumente für eine Vermehrung oder Reduzierung von gesetzlichen Begriffen, indem der Begriff in einen bestimmten Kontext gestellt wird.“ (Kudlich, H./Christensen, R., Die Kanones der Auslegung als Hilfsmittel für die Entscheidung von Bedeutungskonflikten, in: Juristische Arbeitsblätter 2004, S. 83), Verweisungstechniken als ‚fachgerechte‘ Verknüpfung unterschiedlicher Rechtsnormgefüge u. a. 75 Das Wissen um Autoritäten umfasst sämtliche Konzepte, die Auskunft darüber geben, wer oder was mit welcher Legitimation Rechtsnormgefüge zu (re)konfigurieren vermag. Hierzu zählen insb. Konzepte zu juristischen Institutionen, ihren Vertretern (Akteuren) und deren Akzeptanz innerhalb der Jurisprudenz sowie zur Selbstreferenzialität (Verweisungsmöglichkeiten) juristischer Normkonzepte innerhalb der als „juristisch“, also rechtsinstitutionell markierten Wissensrahmen. 76 Hierzu zählen u. a. Abkürzungen (BVerfGE, h. M. u. ä.), terminologischer Fachwortschatz, rechtssprachliche Mehrworteinheiten bzw. feststehende ‚Redewendungen‘ (wie Treu und Glauben, öffentliche Belange, gegen die guten Sitten usw.), Textaufbau- und Textsortenwissen als rechtskonstituierende Formelemente (vgl. Jeand’Heur, B., a. a. O., S. 1289; z. B. Textaufbau von Urteilen), syntagmatische und grammatische Strukturen (Nominalstil, Indikativ Präsens mit deontischer Funktion u. ä.), komplexe intertextuelle Verweisungsstrukturen sowie nicht zuletzt paraund nonverbale Ausdrucksformen (Talare, Mimik, Gestik vor Gericht u. ä.). 77 Vogel, F., Das Recht im Text. Rechtssprachlicher Usus in korpuslinguistischer Perspektive, in: Ekkehard Felder/Marcus Müller/Friedemann Vogel (Hrsg.): Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen von Texten und Gesprächen, Berlin/New York 2012, S. 317.

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wänden der gegnerischen Anwaltschaft so zu argumentieren, dass die eigene Zubereitung des Falls als die einzig mögliche erscheint. Die Menschenwürde etwa ist nicht lediglich „vage“, sondern genauso vage wie präzise, wie sie der Jurist fallspezifisch – also im Hinblick auf die beteiligten Akteure: Anklagende, Verteidigende, Entscheidende mit Argumenten überzeugend, oder: ‚bedarfsgerecht‘ – konkretisieren kann. Folgt ihm nur eine Person (im Idealfall: der Richter) in der Argumentation seiner Würde-Interpretation, so ist die Vagheit der Würde zumindest dieser Person gegenüber hinreichend relativiert. b) Vagheit als Topos Dieses linguistische Beschreibungsmodell für das Phänomen der ‚Vagheit‘ lässt sich auch empirisch untermauern. Zu diesem Zweck wurde die Verwendung des Ausdrucks vage bzw. Vagheit sowohl in einem alltagssprachnahen als auch in einem juristischen Fachkorpus untersucht. Eine Kookkurrenzanalyse78 zur statistischen Auswertung typischer Kotextmuster und damit Sprachgebrauchsmuster zu Vagheit im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (mit über 5 Milliarden Wortformen)79 zeigt folgende hochsignifikanten Ergebnisse: (a) noch [vage], bislang [vage]; (b) [vage] formuliert, Formulierungen, Versprechungen, Versprechen, Absichtserklärungen, Formulierung, Hinweise, Zusagen, Angaben, Beschreibung, formulierten, Hinweis, Andeutung, Zusage, Aussagen; (c) [vage] Hoffnungen, Vorstellungen, Aussicht, Ahnung, Erinnerung, Verdacht, Idee, Gefühl. Das heißt: Der Ausdruck Vagheit (a) markiert in der Alltagssprache situative Erwartungen gegenüber noch zu Explizierendem;

78 Eine Kookkurrenzanalyse ist ein computergestützter Algorithmus der Computer- bzw. Korpuslinguistik, der zu einem bestimmten Ausdruck und in einem bestimmten Wortintervall (z. B. 5 Wörter rechts und links zum Suchwort) alle KotextWörter (= sog. Kookkurrenzpartner) sichtet, gruppiert und zählt. Mit Hilfe von statistischen Signifikanztests lassen sich anschließend diejenigen Wörter herausfiltern, die häufiger als zu einem bestimmten Wahrscheinlichkeitsniveau erwartet im Textumfeld des Suchausdrucks auftreten. 79 Das Korpus besteht zu großen Teilen aus Medientexten, ferner literarischen Texten u. ä.; vgl. http://www.ids-mannheim.de/kl/projekte/korpora/ (28.12.2011).

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(b) qualifiziert einen sprachlichen Ausdruck als situativ inadäquat; (c) referiert auf ein nicht ‚adäquat artikulierbares‘ gedankliches Konzept. Der Ausdruck Vagheit ist im Alltagssprachgebrauch ein diskursives Symptom an der Ausdrucksoberfläche für das praktische ›‚Unbehagen‘ gegenüber sprachlicher ‚Leistungsfähigkeit‘ zur rezipientenadäquaten Explikation einer kommunikativen Absicht‹80. Im Rechtsdiskurs findet sich ein ähnlicher, wenngleich institutionell leicht variierender Gebrauch des Ausdrucks Vagheit bzw. vage81: Insgesamt finden sich 106 Belege dieses Ausdrucks, davon der häufigste Gebrauch als Adjektiv oder Adverb, weitaus seltener als Substantiv.

Vage tritt vor allem im Kontext strafprozessualer und verfassungsrechtlicher, feststehender Mehrworteinheiten auf und ist dort ausdrucksseitiger sprachlicher Marker für eine ›zusätzliche Begründungsbedürftigkeit‹ von 80

Sucht man mit Hilfe statistischer Verfahren nach gebrauchsverwandten Wörtern (vgl. Belica, C., Semantische Nähe als Ähnlichkeit von Kookkurrenzprofilen, 2008. [WWW-document] http://corpora.ids-mannheim.de/SemProx.pdf (18.02. 2009)) zu vage bzw. Vagheit so findet sich hierzu passender Weise der Ausdruck unausgesprochen, der die diskursive ‚Bedeutung‘ von Vagheit zumindest in einer Nuance auf den Punkt bringt. 81 Der Untersuchung zugrunde liegt ein Textkorpus aus allen 4238 deutschsprachigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Zeitraum von 1998 bis zum 15.06.2010. Das Korpus umfasst damit rund 8,45 Millionen fortlaufende Wortformen (Token), ungefiltert und nicht annotiert.

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Verdachtsgraden (etwa im Hinblick auf Art. 13 GG bzw. §§ 102 ff. StPO). Genauer akzentuiert der Ausdruck einen Beschreibungs- oder Begründungssachverhalt als ‚ungenügend‘ im Hinblick auf einen nur selten explizierten bzw. selbst bedeutungsoffenen Maßstab: Der Verdacht muss auf konkreten Tatsachen beruhen; vage Anhaltspunkte oder bloße Vermutungen reichen nicht aus // Vagheit des Auffindeverdachts // Das Gewicht des Eingriffs verlangt als Durchsuchungsvoraussetzung Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich sachlich zureichende plausible Gründe für eine Durchsuchung nicht mehr finden lassen (vgl. BVerfGE 44, 353 [. . .] // Beschwerdeführer haben hier nur vage geltend gemacht // Zu pauschal und vage sind auch die Beanstandungen.

Ferner tritt vage häufig auf in Kombination mit verstärkenden Partikeln so/nur/bloß [vage] bzw. mit gebrauchsähnlichen Ausdrücken wie pauschal/ unsubstantiiert [und vage] usw. Letzteres weist darauf hin, dass der Ausdruck vage (mutmaßlich ebenso wie Ausdrücke wie tatsächlich, hinreichend, konkret usw.) das optische – nicht semantische! – Gewicht einer Begründungspflicht erhöhen soll und damit ein weiterer sprachlicher Indikator für die juristische Hermeneutik darstellt. Man könnte damit auch sagen, dass die juristische Qualifizierung eines Textes oder einer sprachlichen Äußerung als vage einen verdeckten Topos realisiert, der mindestens zweierlei Funktionen hat: zum einen soll damit die als vage klassifizierte Aussage zurückgewiesen, zum anderen Raum für die eigene Interpretationshypothese geschaffen werden. c) Vagheit als kommunikativer Alltag Linguistisches Fazit: Die Suche nach der ‚immer-präzisen‘ Sprache führt in die Irre und letztlich zu „Sterilität des Denkens“82. Vagheit ist weder negativ noch positiv zu bewerten; sie ist lediglich Ausdruck divergierender Sprachgebrauchs- und Kommunikationsregeln im konkreten Kommunikationsakt. „‚Unexakt‘ [. . .] bedeutet nicht ‚unbrauchbar‘“ schrieb Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen (PhU, § 88). Im mündlichen Dialog kann sprachliche Vagheit ausgeräumt, das heißt, durch Rückversicherungsschleifen zwischen den Kommunikanten in ein situativ angemessenes Verhältnis gebracht werden. Im von der Schriftsprache dominierten Rechtsdiskurs gibt es diese Möglichkeit in der Praxis nur sehr selten83, wes82 Schaff, A., Unscharfe Ausdrücke und die Grenzen ihrer Präzisierung, in: Essays über die Philosophie der Sprache, hrsg. von Adam Schaff, Frankfurt am Main 1968/ 21969, S. 83.

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halb hier der Wunsch nach größtmöglicher „Präzision“ im Normtext verständlich, doch in einem sprachreflektierten Modell letztlich nicht befriedigt werden kann. Umso wichtiger wird eine juristische Methodologie zur argumentativen Verwendung und Aufdeckung von sprachlichen ‚Vagheits‘-Indikatoren sowohl auf lexikalischer, als auch auf grammatischer Ebene. III. Empirie juristischer Korpuspragmatik: Die Praxis der Gerichte aus rechtslinguistischer Perspektive Welche Rolle die verschiedenen Lesarten von „Abwägung“ in der juristischen Praxis tatsächlich spielen, kann mit Hilfe computergestützter rechtslinguistischer Verfahren im Paradigma der juristischen Korpuspragmatik empirisch eruiert werden. Hierfür werden zunächst kurz Prämissen, Methoden und Datengrundlage des Verfahrens84 am Beispiel der WÜRDE DES MENSCHEN85 illustriert und anschließend auf die Frage der ›Abwägung‹ angewandt. 1. Juristische Korpuspragmatik am Beispiel der MENSCHENWÜRDE

a) Recht als Text Wenn wir von „Recht“ sprechen, meinen wir kein abstraktes, ontisch zu fassendes Objekt, sondern ein (fach-)sprachlich konstituiertes Textgeflecht, in dem die verschiedenen Akteure durch Rückgriff auf spezifische sprachliche Perspektivierungen ihre Sicht auf die Welt – und das schließt sowohl die Lebens- als auch die Normwelt mit ein – gegenüber anderen Positionen durchzusetzen. Mit anderen Worten: Das Recht manifestiert sich in einem 83 Dies selbst, wenn es doch eigentlich angebracht und möglich wäre (vgl. dazu die Studien zur Normgenese in Vogel, F., Linguistik rechtlicher Normgenese. Theorie der Rechtsnormdiskursivität am Beispiel der Online-Durchsuchung, Berlin/New York 2012. 84 Für die ausführlichere Darstellung einer Pilotstudie zur Eruierung von Möglichkeiten und Grenzen computergestützter Analysen für die Untersuchung juristischer Semantik vgl. Vogel, F., Das Recht im Text. Rechtssprachlicher Usus in korpuslinguistischer Perspektive, in: Ekkehard Felder/Marcus Müller/Friedemann Vogel (Hrsg.), Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen von Texten und Gesprächen, Berlin/New York 2012, S. 314–353. 85 Zum besseren Nachvollzug der hermeneutischen Arbeit gilt folgende Notation: Belege der Textoberfläche werden kursiv (Fokus auf Ausdrucksebene) gesetzt; Konzepte bzw. Attribute als Hypothesenkonzentrate der Interpretationsarbeit werden in eckige Klammern bzw. einfachen Anführungszeichen gesetzt (›Würde als immaterielles Gut‹; ‚menschliche‘ Akteure); Sachverhalte bzw. Referenzobjekte als induktiv-deduktiv gewonnene heuristische Analysekategorien werden in Majuskeln gesetzt (WÜRDE, UNANTASTBARKEIT usw.).

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Textuniversum, in dem unterschiedliche Diskursakteure um Prädikationen, um Wissen (oder Ideologien) und Macht, um sprachlich manifestierte Autorität und Dominanz ringen. b) (Musterhafte) Rechtssprache als Sedimente juristischer Dogmatik Die Diskurslinguistik wendet bislang überwiegend qualitative Methoden an und vermag damit insbesondere zu einzelnen semantischen Kämpfen in der Jurisprudenz nachvollziehbare Ergebnisse zu zeitigen. Sie beschränkt sich dabei allerdings in der Regel auf wenige hundert Texte und fokussiert die Aushandlungsprozesse auf Mikroebene. Ergänzt man diese bewährten qualitativen mit quantitativen, computergestützten Verfahren der Korpuslinguistik, erhält man neue Zugänge auch zu Makrostrukturen juristischer Diskurse. Die Korpuslinguistik ist eine Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die seit den späten 80er Jahren nicht nur methodisch, sondern auch in der Theorie neue Wege empirischer Sprachforschung eingeschlagen hat. Vertreter dieser Teildisziplin grenzen sich von der linguistischen Lehnstuhlmethode generativer Grammatikforschung und ihrem Vertrauen in die Kompetenz-Kompetenz der analytischen Introspektion ab, und betonen ihrerseits die sprachliche Performanz in großen Datenmassen, also Textkorpora mit mehreren tausend Texten und Millionen bis Milliarden Wortformen. Zur Untersuchung solch umfassender Datenmengen wurden und werden spezielle Software und Algorithmen entwickelt, die vor allem einem Zweck dienen: der automatischen Berechnung und Identifizierung jener sprachlichen Muster86, die in einer einzeltextorientierten und intuitiv geleiteten Untersuchung gerade nicht oder nur zufällig aufgefunden werden könnten. 86

Unter „rekurrenten Sprachmustern“ verstehe ich sprachliche Sachverhaltszuschreibungen unterschiedlicher Größe auf der Ausdrucksebene, die in bestimmten Sprachausschnitten überzufällig häufig auftreten und daher als „typisch“ für diese gelten können (vgl. Bubenhofer, N., Diskurse berechnen? Wege zu einer korpuslinguistischen Diskursanalyse, in: Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene, hrsg. von Ingo Warnke/Jürgen Spitzmüller, Berlin/New York 2008, S. 408 f.). Typikalität in diesem Sinne lässt sich auch als rekurrente Ko(n)textualisierung von Sprachphänomenen beschreiben. Damit ist gemeint, – dass sprachliche Phänomene in (Rechts-)Diskursen iterativ in Verbindung mit anderen Sprachphänomenen auftreten, damit ‚kohäsiv‘ korrelieren (Kotexte) und dadurch kohärenzbildend stereotypisieren; – dass diese kotextuellen Muster in den spezifischen Sprach-Kontexten der Juristen (im Sinne des oben beschriebenen Fach(sprach)wissens) als Kontextualisierungshinweise zur Verfügung stehen und damit

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Die verschiedenen Hilfsmittel, die hier vorzustellen den Rahmen sprengte87, können damit rekurrente (also statistisch sich signifikant wiederholende) Ko(n)textstrukturen und damit Verknüpfungen im Textuniversum sichtbar machen. Korpuslinguistische Instrumente erlauben einen effektiven Zugang zu großen Rechtstextkorpora und damit Einsichten in den rechtssprachlichen Usus juristischer Diskurse. – Diese These mag überraschen: Der Fokus auf detaillierte textbasierte Konkretisierungsakte im juristischen Alltag scheint sich auf den ersten Blick nicht zu vertragen mit einer Analyseperspektive, die ihre Untersuchungsgegenstände im Ansatz gerade text- und falltranszendierend (nämlich korpusfokussiert) angeht. Der Widerspruch relativiert sich allerdings, berücksichtigt man die folgenden (methodischen) Überlegungen: Danach liegt das besondere Potential einer „juristischen Korpuspragmatik“ (a) in der korpusgeleiteten Ko(n)text-Disambiguierung juristischer Rechtsausdrücke, in der der wittgensteinsche Grundsatz, „die Bedeutung eines Wortes“ – und damit auch jeglicher Normtextteile – sei „sein [regelhafter] Gebrauch in der Sprache“88 ernst genommen und die Performanz juristischer Textarbeit in den Fokus gerückt wird; (b) im transparenten Nachvollzug von juristischen Sachverhalts- bzw. Normkonstitutionen durch eine semiautomatische Strukturierung der Daten; sowie schließlich (c) in einer Vermittlung von quantitativer (makrosystematischer) und qualitativer (mikrosystematischer) Analyse und damit Relativierung von Einzeltextbelegen mit systematisch wiederkehrenden Sprachmustern über eine größere Textmenge hinweg.

– potentiell rekursiv wissenskonstitutiv sind in dem Sinne, dass sie stereotype Fachkonzepte bilden bzw. abrufen können. Sprachmuster in diesem Sinne können in unterschiedlichster Form auftreten, etwa als: – hochfrequente einzelne Ausdrücke (qualitativ auch als Schlagwörter bekannt); – einzelne Ausdrücke im Verbund von Mehrworteinheiten (MWE) bzw. Syntagmen wie explizite Zuschreibungen (X-AKTEUR(E) ist/sind Y-ATTRIBUT), feststehende Redewendungen oder usuelle Wortverbindungen (z. B. Ohren putzen/waschen vs. Zähne putzen/*waschen), Formeln (im Namen des Volkes) u. v. a.; – grammatische Muster wie [best. Art.] + Würde des Menschen, Nominalstil oder häufige Konnektoren, sowie schließlich auch – komplexe Kotextmuster bzw. Kookkurrenznetze als statistisch signifikantes, gemeinsames Auftreten von einzelnen Ausdrücken innerhalb eines bestimmten Ausdrucksintervalls (z. B. Menschenwürde [+3 Wörter] Sozialstaatsprinzip). 87 Vgl. dazu Baker, P., Using Corpora in Discourse Analysis, London 2006. 88 Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 2003, 40.

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Mit anderen Worten: Die computergestützte diskurslinguistische Analyse von sprachlichen Mustern in juristischen Textkorpora macht normkonzeptuelle Sedimente der juristischen Dogmatik sichtbar. Dies soll im Folgenden am Beispiel der Menschenwürde illustriert werden. c) Dogmatische Spuren zur „Menschenwürde“ in der Rechtssprache Das leitende Erkenntnisinteresse der Untersuchung89 lässt sich in 2 Fragen zusammenfassen: (a) In welchen (ausdrucksseitigen) rekurrenten sprachlichen Formationen treten die in Art. 1 Abs. 1 GG festgeschriebenen Ausdrücke Würde [des Menschen] bzw. Menschenwürde im Korpus auf? Und: (b) Inwiefern lassen die damit eruierten sprachlichen Muster eine kontextuelle Konkretisierung des diskursiven Gebrauchs zu und damit auf die makrosystematische ‚Bedeutung‘ bzw. diskursive Sedimentierung dieses ersten Grundrechts schließen? Der Untersuchung zugrunde liegt ein Textkorpus aus allen 4238 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Zeitraum von 1998 bis zum 15.06.201090. Das Korpus umfasst damit rund 8,45 Millionen ungefilterte (‚originiale‘) fortlaufende Wortformen (Token). Um bei Anwendung automatischer Suchroutinen und Berechnung von Kotextmustern sämtliche Flexionsformen berücksichtigen zu können, wurde das Korpus mit Hilfe des „TreeTagger“ (Part-of-Speech-Tagger)91 lemmatisiert und Wortart-annotiert. Analysen und Berechnungen erfolgten mit der Software AntConc92. Die Analyse setzt semasiologisch93 an denjenigen Ausdrücken an, die im Grundgesetz (Normtext), wenn nicht die entscheidende, so zumindest eine referentielle Basis für Konkretisierungen dessen dienen, was Juristen mit 89 Teile dieses empirischen Kapitels finden ihren Ursprung ausführlich in: Vogel, F., Das Recht im Text. Rechtssprachlicher Usus in korpuslinguistischer Perspektive, in: Ekkehard Felder/Marcus Müller/Friedemann Vogel (Hrsg.), Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen von Texten und Gesprächen, S. 314–353, Berlin/New York 2012. 90 Die Texte wurden automatisch mit Hilfe eines sog. Webspiders aus dem Onlinearchiv des BVerfG heruntergeladen und für die weitere Transformation in ein Unicode-basiertes (html-scriptsprachenfreies) txt-Format übertragen. 91 http://www.ims.uni-stuttgart.de/projekte/corplex/TreeTagger/ (28.12.2011). 92 http://www.antlab.sci.waseda.ac.jp/ (02.05.2012) – Inzwischen hat Friedemann Vogel eine eigene, speziell für linguistische Diskurs- und Imageanalysen konzipierte Software entwickelt und für die wissenschaftliche Nutzung kostenlos zur Verfügung gestellt (vgl. http://www.lda-toolkit.friedemann-vogel.de, 02.05.2012). 93 Das heißt perspektivisch vom Ausdruck zu seinen konkreten Bedeutungen im Kotext.

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Würde oder Menschenwürde bezeichnen94. Um diese Ausdrücke in ihrem ambigen wie invarianten Gebrauch sichtbar zu machen, wurde systematisch die sprachliche Umgebung zu den beiden Ausgangsausdrücken durchsucht, sortiert und kategorisiert. Genauer: Es wurden mittels Kookkurrenz- und Clusteranalysen statistisch signifikante Kookkurrenzpartner, Komposita sowie Mehrworteinheiten zu Würde bzw. Menschenwürde ermittelt und mittels gezielter Suchanfragen, KWIC- und Volltextanalysen konkretisiert und nach ähnlichen Ko(n)texten gruppiert. Hierzu einige Illustrationen: (a) Kookkurrenzpartner (Auswahl an Autosemantika, d.h. ‚Inhaltswörtern‘), also Ausdrücke, die in einem bestimmten Kotextintervall statistisch signifikant häufig zusammen mit den Ausdrücken Würde oder Menschenwürde (im Untersuchungskorpus) auftreten: Abs, Art, GG, BVerfGE, Schutz, verletzen, Beschwerdeführer, Verletzung, Mensch, Grundrecht, Opfer, Persönlichkeitsrecht, verfassungsrechtlich, Person, Recht, Angriff, Satz, Achtung, Persönlichkeit, Gewalt, Weise, Meinungsfreiheit, alle, allgemein, schützen, Staat, öffentlich, Bundesverfassungsgericht, stellen, StGB, Entscheidung, staatlich, Beschluss, ob, frei, Äußerung, Frage, jed, Grundsatz, Senat, Gericht, sozial, Anspruch, Abwägung, Grundgesetz, Fall, Freiheit, verstoßen, absolut, Verstoß, kommen, Voraussetzung, unantastbar, Verurteilte, jedoch, annehmen, bestehen, Verbindung, Achtungsanspruch, nationalsozialistisch, Beschwerdeführerin, menschlich, Leben, Kernbereich, Rechtsprechung, grundsätzlich usw.

(b) Komposita, die die Zeichenkette Würde beinhalten: Menschenwürde, Menschenwürdegarantie, Menschenwürdegehalt, Menschenwürdeverletzung, Menschenwürdeverstoß u. a. (c) Sortierte KWIC(= Keyword in Kontext)-Analysen:

94 Der damit referierte ‚Gegenstand‘ wird im Folgenden (kategorisch) als WÜRDE formalisiert.

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(d) Cluster bzw. statistisch häufige Mehrworteinheiten, die die Zeichenkette Würde bzw. Menschenwürde beinhalten (Auswahl): f

Cluster/Mehrworteinheit

55

Würde des Menschen

49

Schutz der Menschenwürde

44

Verletzung der Menschenwürde

39

auf die Menschenwürde

37

Würde der Opfer

36

menschenwürdigen Existenzminimums

30

eines menschenwürdigen Existenzminimums

29

gegen die Menschenwürde

26

Angriff auf die Menschenwürde

26

Die Menschenwürde

22

eine Verletzung der Menschenwürde

17

Achtung der Menschenwürde

16

Bürgerrecht und Menschenwürde

16

der Würde der Opfer

16

für ein menschenwürdiges Dasein

14

Menschenwürde e.V.

13

Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges

12

Garantie der Menschenwürde

12

Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums

Das Ergebnis der Studie ist für Juristen keine Überraschung, sondern Inhalt des verfassungsrechtlichen Examenswissens: – Würde erscheint in zahlreichen, fest gefügten sprachlichen Mustern, die das, was WÜRDE ist oder sein soll, wie folgt konkretisieren: – WÜRDE wird als etwas ›Abstraktes‹, negativ über die ›Art und Umfang‹ ihrer konkreten, einzelfallbezogenen Verletzung von bestimmten Akteuren (›Träger von WÜRDE‹) konstituiert als Antwort auf eine Geschichte

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gewordene Bedrohung und Zerstörung der Menschenwürde (NS-Zeit) (= Diskursiver Boden); – WÜRDE ›hat man nicht‹, WÜRDE wird einem im Falle der Verletzung vom Gericht über die Konkretisierung der Verletzung selbst erst zugeschrieben; – WÜRDE wird im verfassungsrechtlichen Dogma verhandelt als ›letztmögliche Quelle für normative Legitimität‹ in einem als ganzheitlich gedachten Rechtssystem, das heißt, der Verweis auf die Menschenwürde dient als größtmöglicher Geltungsanspruch (Topos) widerstreitender Akteure; – WÜRDE ist apologetischer Wert (schon erkennbar im bestimmten Artikel: die Menschenwürde, der ›lebenden wie toten Menschen‹ zukommt, ›weil sie kognitiv bewusste und im sozialen Kollektiv (bzw. kollektiven Gedächtnis) integrierte Menschen sind oder waren‹; – WÜRDE ist ›etwas, das ›staatlich vor X = Gefahr geschützt werden muss‹ (Perspektive des Imperativs) und – WÜRDE ist ›Anspruch des Individuums gegenüber dem Kollektiv‹ (Perspektive des individuellen Anspruchs); – In den einzelnen Fallkonstellationen scheint WÜRDE schließlich so etwas zu sein wie ›körperlich-physische sowie (mit großen Abstrichen) geistig-psychische Integrität des Betroffenen‹. Wenngleich die Ergebnisse ‚nichts neues‘ zeigen mögen, sie zeigen, dass korpuspragmatische, auf der semiautomatischen Strukturierung von Massendaten basierende Analysen einen geeigneten, nachvollziehbaren und transparenten Zugriff auf ‚die‘ Rechtssprache erlauben.

2. Der Frage „Abwägung“ vor Gericht korpuslinguistisch gefolgt

Die bereits skizzierten drei Lesarten der „Abwägung“ werden nachfolgend empirisch überprüft, das heißt, es werden sprachliche Indikatoren für die jeweiligen Lesarten statistisch gesucht und über eine Strukturierung von Massendaten interpretiert. Die Untersuchung basiert dabei ebenfalls auf dem oben (S. 117) skizzierten Korpus aus 4238 Entscheidungstexten der Verfassungsrechtsprechung. a) Philosophische Prinzipienlehre Spielte die Variante der „Abwägung“ als ›Prinzip‹ im Sinne der Prinzipientheorie eine Rolle in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-

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gerichts, wären auf der Textoberfläche (Ausdrucksebene) allgemein Ausdrücke wie philosophisches Prinzip, Prinzip nach X, Philosophie u. ä. zu erwarten. Als abschließender Schlussstein müssten ferner Ausdrücke belegt sein wie Rechtsidee, Gerechtigkeit, Rechtsbegriff und in deren Kotext zur Einführung Wörter wie Diskurs oder Diskurstheorie in speziellem Gebrauch. – Der Ausdruck Prinzip ist im Korpus insgesamt 703-mal belegt, davon lediglich 4-mal im Kotext der Menschenwürde und nie als Teil von Mehrworteinheiten in der Kombination mit Philosophie, nach X (= Theoretiker) u. ä. Häufige Komposita, Cluster und Kookurrenzpartner (Rechtsstaatsprinzip, Konstitutionsprinzip, Rechtsstaat, Grundsatz u. ä.) zeigen keine Nähe des Ausdrucks zu philosophischer Prinzipienlehre; Prinzip bedeutet – auch in den 4 Fällen des Menschenwürde-Bezugs – vielmehr einen jeweils zu konkretisierenden allgemeinen ›Grundsatz‹ (z. B. [sind] sämtliche Grundrechte Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde). – Der Ausdruck Rechtsidee ist im Korpus nicht belegt. – Gerechtigkeit (einschl. Komposita) findet sich in einer Häufigkeit von 100, insbesondere im Kontext des Willkürverbots des Rechts- und Sozialstaatsprinzips sowie als Indikator für weitergehende Begründungspflichten (vgl. etwa: X [sei] mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise nicht mehr vereinbar [. . .], wenn also bezogen auf den jeweils in Rede stehenden Sachbereich und seine Eigenart ein vernünftiger, einleuchtender Grund für die Regelung fehlt). Gerechtigkeit spielt jedoch als Schlussstein für die Entscheidung des Konflikts von Prinzipien keine Rolle. Im Kotext der Menschenwürde finden sich zudem keine Belege. – Rechtsbegriff ist insgesamt 140-mal belegt, davon überwiegend im Bigramm (Zweiworteinheit) unbestimmter Rechtsbegriff und damit in der Funktion einer Anzeige von Konkretisierungsbedarf. Im Kotext von Menschenwürde ist der Ausdruck nicht belegt. – Diskurs findet sich generell in 14 Belegen, überwiegend quasisynonym mit dem Ausdruck Debatte oder Auseinandersetzung und damit fern jeglicher Prinzipienlehre. Der Ausdrücke Diskurstheorie und Alexy sind nicht belegt. Auf Basis unserer Korpusanalysen lassen sich damit keine Indizien für eine praktische Relevanz der oben dargestellten Lesart der „Abwägung“ finden.

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b) Konduktives Argument Vollzieht das Bundesverfassungsgericht eine „Abwägung“ im Sinne des ›konduktiven Arguments‹? – Bei einer ersten Prüfung über den Ausdruck Schrankensystematik oder qualifizierter Gesetzesvorbehalt finden sich keine Belege, die auf eine entsprechende Praxis hinwiesen. Anders jedoch sieht es aus mit dem Ausdruck Rang (351-mal belegt, einschließlich Komposita), über den eine für-und-wider-Argumentation indiziert wird. Dies allerdings nur als Einstieg für eine Argumentation, denn die entscheidende Abgrenzung muss für das Gericht fallbezogen durch lokale semantische Elaboration erfolgen. Die Abwägung definiert hier nur das Feld für die konkrete Argumentation im Verfahren. Der qualifizierte Gesetzesvorbehalt, der nach dem zweiten Satz dieser Vorschrift durch Gesetz für bestimmte Fälle eine Einschränkung des Grundrechts erlaubt, ändert nichts daran, dass das Grundrecht, das die Staatsangehörigkeit und den Verbleib in der eigenen Rechtsordnung garantiert, einen hohen Rang hat; der Freiheit der Person ein höherer Rang als Vermögenswerten zukomme.

Im Kotext der Menschenwürde wiederum spielt dieses Denkmuster keine Rolle (lediglich 3 Belege im Sinne der ‚Unabwägbarkeit‘). c) „Abwägung“ als Kern- und Randbereich Die bisherige Prüfung hat ergeben, dass weder Prinzipienlehre noch Schrankensystematik der Grundrechte der Universalschlüssel für die Bearbeitung streitiger Konflikte ist. Als weitere Kandidaten kämen noch in Betracht: die Unterscheidung von Kern- und Randbereich des Grundrechts sowie das Anknüpfen an die Eingriffsintensität. Die Ausdrücke Kernbereich (544-mal belegt), Randbereich (23) und Eingriffsintensität (93) verweisen auf eine durchaus häufige Anwendung dieses Abwägungs-Denkmusters. Es führt angesichts der absoluten Anzahl von (als solchen explizierten) Abwägungs-Kotexten (mit 2284 Belegen) jedoch keine Alleinherrschaft. Im Kotext der Menschenwürde spielt sie offenbar (bei insg. 10 Belegen) überhaupt keine Rolle. 3. „Abwägung“ als Prüfung ‚der‘ Verhältnismäßigkeit

Im Kotext der Abwägung findet sich schließlich auch sehr häufig die Denkfigur der ›Verhältnismäßigkeitsprüfung‹. Im Gesamtkorpus tritt die Zeichenfolge verhältnismäßig insgesamt 3.854 Mal auf, davon allerdings nur 4 Mal im Kotext der Menschenwürde. Die Verteilung des Ausdrucks auf die einzelnen Entscheidungstexte ist zudem sehr ungleichmäßig: über 3.000 (von

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4.238) Texte enthalten keinen Beleg von verhältnismäßig und nur 12 Texte enthalten jeweils mehr als 20 Belege (siehe Schaubild). Damit spielt die mit dem Ausdruck Verhältnismäßigkeit verbundene Denkfigur nur eine rudimentäre bzw. im Hinblick auf den Rechtsbereich hoch spezialisierte Rolle. Der Hinweis auf Verhältnismäßigkeit verweist dabei weder auf ein ›Prinzip‹ noch auf eine numerische Gewichtung von Argumenten (auch wenn dies metaphorisch häufig formuliert wird95), sondern ruft lediglich den verfassungsrechtlichen Grundsatz auf, dass die Argumente aus der Perspektive a) der staatlichen Fürsorgepflicht und b) aus den Abwehrrechten des Einzelnen kontrastiv und vor allem mit Bezug auf den infragestehenden Normtext konkret ausgehandelt werden müssen. Das zeigt sich bereits in der wiederkehrenden Textstruktur: (1) Nennung des ‚Schlüsselwortes‘ verhältnismäßig* zur Aktivierung der juristischen Fachsemantik im Hinblick auf eine argumentative Auseinandersetzung um den ‚angemessenen‘ Ausgleich widerstreitender Interessen. (2) Explikation bzw. Konkretisierung zu einem abstrakten ‚Grundsatz‘ (in der Regel mit zahlreichen Selbstzitaten des Gerichts), welche verfassungsrechtlichen Aspekte im Rahmen einer ›Verhältnismäßigkeitsprüfung‹ zu berücksichtigen seien usw. (3) Konkrete Aushandlung mit Einarbeitung bzw. Gewichtung der beteiligten Positionen und ihrer Argumente (im konkreten Fall).

Anzahl der Texte mit x Belegen des Ausdrucks verhältnismäßig

10000

1000

100

10

1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 25 28 29 32 48 66 Anzahl der Ausdrucksbelege verhältnismäßig pro Text

95

Es seien diese und jene Argumente gewichtiger oder zu gewichten usw.

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IV. Zur Theorie der Praxis gerichtlicher Abwägung Abwägung ist kein rätselhafter Vorgang, der als Fundament eine philosophische Hinterwelt braucht. Der Vorgang vollzieht sich ganz offen in der Sprache. Man muss nur im Diesseits bleiben, um die sprachlichen Strategien linguistisch und rhetorisch zu beschreiben. 1. Wie wägen Gerichte ab?

Das Bundesverfassungsgericht geht, wenn es eine Abwägung bei anderen Grundrechten durchführt, in zwei Stufen vor: Zunächst ist die abstrakte Wertigkeit der beiden jeweils beeinträchtigten Rechtsgüter zu vergleichen, über deren Rang zu entscheiden ist. Die Kollisionen können sich etwa zwischen Rechtsgütern von Verfassungsrang und einfachgesetzlichen Rechtsgütern ergeben. Die Lektüre der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Kunstfreiheit bieten hier Anschauungsmaterial in Hülle und Fülle. Schwieriger ist es schon, auf der Ebene der Verfassung selbst Rangunterschiede zu begründen. Diese wären etwa zwischen Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt und solchen ohne Schranken zu machen. Oder zwischen zwei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt, wenn das eine leichter einzuschränken ist als das andere. So ist etwa Artikel 12 I GG (Berufsfreiheit), der mit einfachem Regelungsvorbehalt leichter eingeschränkt werden kann, bedeutsamer als Artikel 5 I GG mit qualifiziertem Schrankenvorbehalt. Mit dem Vergleich der abstrakten Wertigkeit der betroffenen Rechtsgüter ist aber nur der erste vorbereitende Schritt getan. Auch kann auf dieser Ebene eine Situation entstehen, die nicht intuitiv plausibel ist. So wäre etwa Leben mit einem Gesetzesvorbehalt weniger bedeutsam als Religion ohne Gesetzesvorbehalt. Der zweite, entscheidende Schritt liegt daher im Vergleich der konkreten Eingriffsintensität. Hier beginnt die lokale semantische Elaboration. Im Vordergrund steht hier der Einzelfall und nur einige wenige nicht regelmäßig wiederkehrende Topoi können unterschieden werden. Hier wird etwa geklärt, auf welcher Seite der Eingriff schwerwiegender ist: „Die bis zur rechtskräftigen Verurteilung zugunsten des Angeklagten sprechende Unschuldsvermutung gebietet eine zurückhaltende, mindestens aber eine ausgewogene Berichterstattung durch die Medien. Außerdem ist eine mögliche Prangerwirkung zu berücksichtigen, die durch eine identifizierende Medienberichterstattung bewirkt wird. Die besondere Schwere einer angeklagten Tat und ihre als besonders verwerflich empfundene Begehungsweise kann im Einzelfall nicht nur ein gesteigertes Informationsinteresse der Öffentlichkeit, sondern auch die Gefahr begründen, dass der Angeklagte eine Stigmatisierung erfährt, die ein Freispruch möglicherweise nicht mehr zu beseitigen vermag.“96 96

BVerfG, in: NJW 2009, S. 350.

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Für die Bearbeitung dieser Frage dient die metaphorische Unterscheidung von Peripherie und Kernbereich, wobei natürlich jeder Eingriff in den Kernbereich schwerer wiegt. Ein solcher Eingriff liegt dann vor, wenn die fragliche Handlungsmodalität nicht ersetzbar ist, ohne dass die Freiheitsgarantie entfällt. Wenn es dagegen um eine ersetzbare, das heißt, um eine funktional gleichwertige Handlungsmodalität geht, so wird nur die Peripherie betroffen. Die Seite mit dem Kernbereichseingriff hat dann im Ergebnis Vorrang. Es handelt sich also um das Gedankenexperiment des Wegdenkens: Bleibt von der Freiheitsgarantie noch etwas Sinnvolles übrig oder bricht sie als Ganzes zusammen, wie zum Beispiel eine Pressefreiheit ohne Informantenschutz? Daneben gibt es aber noch weitere Gesichtspunkte: Etwa die Frage, ob eine der beiden Seiten Handlungsalternativen hat oder mit dem Rücken zur Wand steht: „Der Einsatz von Wasserwerfern stellt kein Verstoß gegen die Menschenwürde dar, zumindest dann nicht, wenn sich der Betroffene dem Einsatz hätte entziehen können.“97

Weiterhin die Unterscheidung, auf welcher Seite der geschaffene Zustand leicht revisibel ist und wo er nur schwer wieder rückgängig gemacht werden kann. Insgesamt wird vom Gericht die Abwägung nicht als black box behandelt, aus der nichts weiter herausspringt, als eine subjektive Präferenz. Vielmehr geht es um die Bilanzierung und Verarbeitung der von beiden Seiten vorgebrachten Einwände. 2. Wie vollzieht sich die lokale Ausarbeitung der Semantik?

Dies zeigt sich am Beispiel der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Tagebuch. Darin hält das Gericht eine Verwertung von Tagebuchaufzeichnungen im Strafverfahren unter gewissen Voraussetzungen für möglich. Es hat dies in einer 4:4-Entscheidung dann zugelassen, wenn das fragliche Textstück der Privatsphäre und nicht der Intimsphäre zuzuordnen ist.98 Dabei nimmt das Gericht zwischen Intimsphäre und Privatsphäre keine begriffliche Abgrenzung vor, sondern arbeitet die streitige Semantik lokal aus: „Die Zuordnung eines Sachverhalts zum unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung oder zu jenem Bereich des privaten Lebens, der unter bestimmten Vo97

BVerfG, in: NVwZ 1999, S. 290 ff., 293. Wegen der Stimmengleichheit konnte das Gericht nicht feststellen, dass die Verwertung gegen das Grundgesetz verstößt. BVerfG 80, S. 367 ff., 376; vgl. dazu auch Rolf Gröschner/Oliver W. Lembcke, Dignitas absoluta. Ein kritischer Kommentar zum Absolutheitsanspruch der Würde, in: dies. (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, Tübingen 2009, S. 1 ff., 11. 98

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raussetzungen dem staatlichen Zugriff offen steht, hängt daher nicht davon ab, ob eine soziale Bedeutung oder Beziehung überhaupt besteht, sondern welcher Art und wie intensiv sie ist. Dies lässt sich nicht abstrakt beschreiben; es kann befriedigend nur unter Berücksichtigung der Besonderheiten des einzelnen Falls beantwortet werden.“99

Dabei werden Argumente, welche von den Verfahrensbeteiligten vorgetragen wurden, entweder widerlegt oder integriert. So erscheint etwa auf Seiten des Betroffenen der Wille zur Geheimhaltung und auf Seiten der Strafverfolgungsorgane das Interesse am Beweis der Straftat. Dabei formuliert das Gericht: „Es kommt zunächst darauf an, ob der Betroffene einen Lebenssachverhalt geheim halten will oder nicht. Denn dort, wo der Betroffene auf Geheimhaltung selbst keinen Wert legt, ist der Kernbereich schon wegen dieses Umstands in aller Regel nicht berührt. Andererseits lässt sich der Kernbereich des Persönlichkeitsrechts nicht in der Weise bestimmen, dass es allein auf den Willen des Betroffenen zur Geheimhaltung ankommt.“100

Diese lokal gebundene Argumentation ist natürlich für ein philosophisch begriffliches Interesse unbefriedigend. Aber es ist die einzig mögliche Art damit umzugehen. Eine prinzipielle Fixierung der Semantik würde sich selbst dekonstruieren. Deswegen bedarf es des lokalen Bezugs: „Ob ein Sachverhalt dem Kernbereich zugeordnet werden kann, hängt ferner davon ab, ob er nach seinem Inhalt höchstpersönlichen Charakters ist und in welcher Art und Intensität er aus sich heraus die Sphäre anderer oder die Belange der Gemeinschaft berührt.“101

Die Persönlichkeitssphäre und die Strafverfolgungsbelange der Gemeinschaft sind die beiden Pole, welche hier im Wege der Argumentation semantisch ausgearbeitet werden. 3. Die Verkettung von Präjudizien

Die Verfassung bietet also einen Vergleichsrahmen für kollidierende Positionen. Aber jede Entscheidung bedarf der lokalen Ausarbeitung der Semantik aufgrund der im Verfahren vorgebrachten Argumente. Für deren Validierung gibt es die Instanzen der juristischen Methodik und den Relevanzhorizont der Vorentscheidungen. Ein einzelnes Problem auszuarbeiten ist nur möglich vor dem Horizont des Ganzen. Gleichzeitig kann keiner über das Ganze des Rechts verfügen. Zur Auflösung dieses Paradoxes dienen dem Gericht die Präjudizien. 99

BVerfGE 80, S. 367 ff., 374. Ebd. 101 Ebd. 100

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Man kann die Situation des Gerichts, welche nach der Bedeutung eines grundrechtlichen Leitbegriffs sucht, mit der eines Sprachwissenschaftlers, der ein Wörterbuch erstellt, vergleichen. Beide sammeln gelungene Gebrauchsbeispiele. Der Jurist macht dies mit Hilfe der Auslegungsregeln. Beispiele die ihm ohne Nachdenken einfallen, ordnet er der grammatischen Auslegung zu. Um weitere zu finden hat er als Suchstrategien die Systematik, Entstehungsgeschichte, Vorläufernormen und Zweck. Über die Kommentare findet er Vorentscheidungen und wissenschaftliche Stellungsnahmen die diese Suchstrategien schon angewendet haben. Der Sprachwissenschaftler dagegen entwickelt einen Thesaurus je nach dem Zweck seines Wörterbuchs, um die zu Grunde gelegten Corpora auszuwerten. Obwohl auf den ersten Blick verschieden, machen doch beide das gleiche: Sie verknüpfen gelungene Gebrauchsbeispiele. Man kann das hehre Ideal der Gesetzesbindung nüchtern als Intertextualitätsproblem reformulieren. Präjudizien sind zu verstehen „als Exempel richtigen fachsprachlichen Gebrauchs der einschlägigen Begriffe“.102 Sie sind „Verweise auf die semantische Gleichbehandlung und damit die ‚Richtigkeit‘ eines Rechtsbegriffs. Diese Bestimmung der Bedeutung durch die Bezugnahme auf erhebliche Sprachverwender ist auch genau das Verfahren, das gute Wörterbücher anwenden: Sie erläutern einen Begriff durch die Heranziehung beispielhafter Verwendungen.“103

Präjudizien sind kein Gegensatz zum Gesetz, sondern ein Weg, die Gesetzesbindung praktisch zu machen. In der fallorientierten Arbeit der Gerichte zeigt sich ein Verhältnis von Immanenz und Transzendenz, welches Normativität konstituiert.104 Die Anwendung greift nicht direkt auf die Norm zu. Vielmehr wird diese erst eingesetzt. „Die Norm wird dadurch erneuert, dass der neue Fall in sie eingetragen wird. Sie tritt dem Fall nicht als gegebene Größe gegenüber. Der Eintrag macht sie zu einer neuen, immanenten Größe.“105 Dies kann aber nur die eine Seite der Medaille sein. Zwar ist 102 Martin Morlok, Neue Erkenntnisse und Entwicklungen aus sprach- und rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Bernhard Ehrenzeller/Peter Gomez/Markus Kotzur/Daniel Thürer/Klaus A. Vallender (Hrsg.), Präjudiz und Sprache, Zürich/St. Gallen 2008, S. 72. 103 Martin Morlok, Neue Erkenntnisse und Entwicklungen aus sprach- und rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Bernhard Ehrenzeller/Peter Gomez/Markus Kotzur/Daniel Thürer/Klaus A. Vallender (Hrsg.), Präjudiz und Sprache, Zürich/St. Gallen 2008, S. 73. 104 Grundlegend Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt am Main 1991; Georg W. Bertram, Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekonstruktion, in: Andreas Kern/Christoph Menke, Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt am Main 2002, S. 289 ff., hier v. a. S. 296 ff.

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damit das Verhältnis von Norm und Fall grundsätzlich als ein internes markiert. Bliebe es aber dabei, so fielen allerdings Norm und Anwendung amorph in sich zusammen. „Im Sinne der Immanenz gibt es keinen Abstand zwischen Norm und Anwendung. Es ist unmöglich, zwischen die Norm und ihre Anwendung zu treten und zu überprüfen, ob das eine auf das andere passt oder umgekehrt.“106 Das Normativität allein ausmachende, interne Verhältnis von Anwendungsfall und Normauszeichnung hat sich seiner selbst gewahr zu werden. Die Blindheit des Normativen in der Anwendung ist also durch Beobachtung der darin liegenden Beobachtung von Handlungen als normativ gehaltvoll aufzuheben. Genau hier kommt die Transzendenz der Norm ins Spiel. Wenn die Norm angewendet wird, verschwindet sie im Fall. Aber wenn man ihre Anwendung als geglückt und vorbildlich beobachtet, wird sie als Anwendung eines anderen wieder vom Fall abgehoben.107 Ohne Präjudizien lässt sich also Recht nicht finden.108 Empirische Untersuchungen in Form von Inhaltsanalysen gerichtlicher Begründungen zeigen, dass Präjudizien für den Richter die wichtigste Entscheidungsgrundlage sind.109 Der Verweis auf frühere Rechtsprechung wird etwa in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt 1199-mal verwendet und damit zehnmal so häufig wie die Systematik des Gesetzes.110 Auch das BVerfG zitiert sich in unserem hier vorliegenden Korpus (vgl. unten) mit 28.879 Belegen fast fünfmal häufiger selbst, als es nach etwaigen Prinzipien „auslegte“ (6.177)111. „Falls eine Gerichtsentscheidung eine einschlä105 Georg W. Bertram, Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekonstruktion, in: Andreas Kern/Christoph Menke (Hrsg.), Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt am Main 2002, S. 296. 106 Georg W. Bertram, Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekonstruktion, in: Andreas Kern/Christoph Menke (Hrsg.), Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt am Main 2002, S. 296. 107 Georg W. Bertram, Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekonstruktion, in: Andreas Kern/Christoph Menke (Hrsg.), Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt am Main 2002, S. 297. 108 Martin Morlok, Der Text hinter dem Text, in: Alexander Blankennagel/Ingolf Pernice/Helmut Schulze-Fielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt, Tübingen 2004, S. 133. 109 Hans Kudlich/Ralph Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, Köln/München 2009, S. 37 ff. 110 Vgl. Mariele Dederichs, Die Methodik des EuGH, Baden-Baden 2004, S. 106. 111 Im Ko(n)text [–20/+20] der Menschenwürde ist das Verhältnis noch deutlicher, insofern das BVerfG sich 38 Mal selbst zitiert, hingegen nur ein einziges Mal auslegt.

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gige Rechtsgrundlage nicht nennt, wird dies von der Fachgemeinschaft durchaus als fehlerhaft vermerkt. Falls keine Hinweise auf entsprechende frühere Urteile sich finden, ist dies entweder der großen Selbstverständlichkeit der Entscheidung geschuldet oder aber der Tatsache, dass das Gericht in einer Rechtsfrage noch Neuland betreten hat.“112 In der weit überwiegenden Anzahl der Entscheidungen besteht das systematische Argument also im Verweis des Gerichts auf seine eigene Rechtsprechung. Das heißt, die Systematik wird vollzogen als Beobachtung zweiter Ordnung. Ein pragmatischer Bedeutungsbegriff macht diese Entwicklung der Systematik zur Systematik zweiter Ordnung in ihrer Notwendigkeit verständlich. Entschieden werden kann nur Unentscheidbares. Daran ändern auch die Präjudizien nichts. Aber möglich ist eine Entscheidung von Unentscheidbarem nur, weil es bereits Entschiedenes gibt. Der Richter vollzieht den Sprung zur Entscheidung an einer Kette von Lesarten entlang. Die begriffliche Umschreibung der grundrechtlichen Leitbegriffe ist beim Bundesverfassungsgericht nicht das Ende eines Klassifikationsprozesses, sondern der Beginn einer Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Einwänden. Hier arbeitet nicht Prokrustes mit Streckbett und Hackbeil. Es ist nicht der unbedingte Wille zur Identifikation, der jeden Fall als identisch behandeln will. Es ist vielmehr das Bewusstsein für das Nicht-Identische, was entlang einer Kette von Fällen die Regel verschiebt. V. Fazit, oder: Was bleibt, ist semantische Elaboration im Einzelfall Die Korpusstudie auf Basis unseres sehr großen Textkorpus aus Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zeigt, dass „Abwägung“ im Sinne der ›Philosophischen Prinzipienlehre‹ sowie im Sinne des ›konduktiven Arguments‹ sowohl im Kontext der Menschenwürde als auch generell keine Rolle spielen. Für „Abwägung“ in der Denk-Perspektive von ›Kern- und Randbereich‹ finden sich in der Verfassungsrechtsprechung durchaus Indizien, allerdings im Verhältnis zum gesamten Wortgebrauch Abwägung sowie im hier untersuchten Kotext der Menschenwürde nur in sehr geringem Umfang oder gar nicht. Damit bleibt im Umkehrschluss allein die lokale Ausarbeitung der Semantik als tatsächliche Rechtspraxis der „Abwägung“ übrig.

112 Martin Morlok, Der Text hinter dem Text, in: Alexander Blankennagel/Ingolf Pernice/Helmut Schulze-Fielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt, Tübingen 2004, S. 109.